Passive Dienstleistungsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht [1 ed.] 9783428469017, 9783428069019


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German Pages 244 Year 1990

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Passive Dienstleistungsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht [1 ed.]
 9783428469017, 9783428069019

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STEFAN VÖLKER

Passive Dienstleistungsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht

Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht Herausgegeben von Thomas Oppermann in Gemeinschaft mit Heinz·Dieter Assmann, Hans v. Mangoldt Wernhard Möschel, Wolfgang Graf Vitzthum sämtlich in Tübingen

Band 21

Passive Dienstleistungsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht

Von Dr. Stefan Völker

DUßcker & Humblot . Berliß

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Völker, Stefan: Passive Dienstleistungspflicht im Europäischen Gemeinschaftsrecht / von Stefan Völker. - Berlin: Duncker u. Humblot, 1990 (Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht; Bd. 21) Zug!.: Tübingen, Univ., Diss., 1989 ISBN 3-428-06901-3 NE:GT

D 21 Alle Rechte vorbehalten © 1990 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0720-7654 ISBN 3-428-06901-3

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im SS 1990 von der Juristischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen als Dissertation angenommen. Sie wurde für die Drucklegung auf den Stand von Dezember 1989 gebracht, wobei einige spätere Entwicklungen noch berücksichtigt wurden. Mein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Thomas Oppermann, der die Anregung zur Thematik dieser Arbeit gab und sie betreute, sowie dem Zweitgutachter Herrn Prof. Dr. Heinz Dieter Assmann. Diesen Herren und den übrigen Herausgebern der Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht danke ich zudem für die Aufnahme meiner Arbeit in diese Reihe. Dank gebührt auch der Reinhold-und-Maria-Teufel-Stiftung, die durch die Verleihung ihres Preises einen wesentlichen Beitrag zur Drucklegung dieser Arbeit leistete. Für hilfreiche Hinweise und vielfältige Unterstützung bin ich insbesondere Frau Marion Weyand und Herrn Dr. Claus Dieter Classen zu herzlichem Dank verpflichtet. Düsseldorf, im März 1990

Stefan Völker

Inhaltsverzeichnis Einleitung A. Das frühere "Schattendasein" der Dienstleistungsfreiheit ...................... B. Ziele der Untersuchung ..........................................................

1. Kapitel Das Dienstleistungskapitel vor dem wirtschaftlichen Hintergrund der wachsenden Bedeutung des tertiären Sektors

21 21

24

28

A. Die "stille Revolution" der Dienstleistungen ...................................

28

B. Der wachsende Anteil des tertiären Sektors an Wirtschaft und Handel ......

30

I. Wirtschaftliche Bedeutung im Rahmen Deutschlands .................... 1. Binnenmarkt ............................................................. 2. Außenhandel ....... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Wirtschaftliche Bedeutung im Rahmen der EG .......................... 1. Binnenmarkt ............................................................. 2. Außenhandel ......... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30 30 30 31 31 35

III. Weltwirtschaftliche Bedeutung ............................................ 1. Skizze der wirtschaftlichen Entwicklung .............................. 2. Eine Welthandelsordnung für Dienstleistungen? ......................

36 36 37

2. Kapitel Die Dienstleistungsfreiheit als Teil der Freizügigkeitsregelungen des EWGV - Ihr Beitrag zur Verwirklichung des Binnenmarktes und eines "Europas der Bürger"

39

A. Die Dienstleistungsfreiheit vor dem Hintergrund der Verwirklichung des Binnenmarktes ....................................................................

39

I. Stellung und Funktion der Dienstleistungsfreiheit im EWGV ...........

39

H. Die Bedeutung der Dienstleistungsfreiheit für die Verwirklichung des Binnenmarktes.............. ............................................ .... III. Ausblick: Die weitere Entwicklung aus der Perspektive des "Halbzeitstands" bei der Verwirklichung des Binnenmarktes......................

43

B. Die passive Dienstleistungsfreiheit und das "Europa der Bürger" ............

44

I. Aktivitäten und Initiativen in der Gemeinschaft .......................... H. Passive Dienstleistungsfreiheit im "Europa der Bürger" .................

44 50

40

10

Inhaltsverzeichnis 3. Kapitel Die Grundlagen der passiven DienstIeistungsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht

53

A. Passive Dienstleistungsfreiheit in den drei Gemeinschaftsverträgen (EGKSV, EWGV und EAGV) ..............................................................

53

I. Das Verhältnis der drei Verträge zueinander .............................

53

II. Passive Dienstleistungsfreiheit in EGKSV und EAGV ........... ..... .. 1. EGKSV .................................................................. 2. EAGV ...................................................................

54 54 54

B. Die Varianten des grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehrs und seine drei Grundtypen ..................................................................

54

I. Der Variantenreichtum des grenzüberschreitenden Dienstleistungsver-

kehrs ........... ............ ................ ................................. II. Die drei Grundtypen: Abgrenzung und Begriffsbestimmung ............ 1. Allgemeines ............ .. ...................... . ........................ 2. Grundtyp I: Der Dienstleistungserbringer begibt sich vorübergehend in das Land des Dienstleistungsempfängers (aktive Dienstleistungsfreiheit) .................................................................. 3. Grundtyp 2: Weder Dienstleistungserbringer noch Dienstleistungsempfänger nehmen einen Ortswechsel vor (sog. Korrespondenzdienstleistung) ....................................... .. ........................ 4. Grundtyp 3: Der Dienstleistungsempfänger begibt sich zur Inanspruchnahme der Dienstleistung vorübergehend in das Land des Dienstleistungserbringers (passive Dienstleistungsfreiheit) ..................

54 57 57 58 59 61

C. Die Diskussion um die Anerkennung der passiven Dienstleistungsfreiheit vor dem Urteil ,,Luisi und Carbone" ................................................

62

I. Das EuGH-Verfahren "Watson und Beiman" ...................... . .....

62

11. Die Diskussion in der Literatur ............................................ 1. Gegner .... ..... .......................................................... 2. Befürworter ................ .. ................... . ........................

64 64 66

III. Die Behandlung des passiven Dienstleistungsverkehrs in der Gemeinschaftspraxis .. .............. .... .............. .. .................... . ....... 1. Der EWG-Vertrag ......... .. ............ ................................ 2. Das Allgemeine Programm von 1961 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Passive Dienstleistungsfreiheit im Sekundärrecht .....................

69 69 69 72

D. Die Anerkennung der passiven Dienstleistungsfreiheit durch den EuGH im Urteil "Luisi und Carbone" und dessen Rezeption im Schrifttum .... .........

73

I. Verfahren und Urteil .......... ....... ...................................... 1. Der Sachverhalt ...................................................... . ..

2. Stellungnahme der italienischen Regierung ........................ . .. 3. Schlußanträge des Generalanwalts ............ ... ......... . ........... . 4. Das Urteil ................ ... ................. .. ........................ .

73 73 74 75 76

Inhaltsverzeichnis

11

II. Die Rezeption des Urteils im Schrifttum .................................

77

E. Die weitere Entwicklung in der Rechtsprechung ...............................

78

I. Die Urteile des EuGH vom 27. 9. und 5. 10. 1988 ......................

78

II. Die Schlußanträge von GA Lenz vom 6. 12. 1988 in der Rechtssache 186/87 (Cowan) ...................... .. .................................... 1. Die frühere Stellungnahme des Generalanwalts zur passiven Dienstleistungsfreiheit ............................................................ 2. Der dem Vorabentscheidungsverfahren Rs. 186/87 zugrundeliegende Sachverhalt ... . ........ . ......... . ..................................... .. 3. Die Stellungnahme des Generalanwalts ...............................

79 80

III. Das Urteil des EuGH vom 2. 2. 1989 in der Rechtssuche 186/87 (Cowan)

83

4. Kapitel Dienstleistungen im Sinne der passiven Dienstleistungsfreiheit

79 79

85

A. Volkswirtschaftlicher und gemeinschaftsrechtlicher Dienstleistungsbegriff ...

85

B. Der Begriff der Dienstleistung in Art. 59 und 60 EWGV im Hinblick auf die passive Dienstleistungsfreiheit ............ . ......................................

85

I. Der Wortlaut von Art. 60 und seine Konkretisierung in der Judikatur des EuGH ....................................................................... II. Di~ Reichwei~.e der Dienstleistungsfreiheit im Hinblick auf einzelne Leistungsvorgange .... .... .. ................................................

87 89

III. Das Element der Grenzüberschreitung ................................. .. . 1. Funktion und Erscheinungsformen der Grenzüberschreitung ......... 2. Das "Steymann"-Urteil des EuGH vom 5. 10. 1988 ................ .. a) Sachverhalt................... . ...................................... b) Verfahren und Stellungnahmen der Beteiligten................... c) Das Urteil des Gerichtshofs .......................... .... .......... d) Stellungnahme ..... .. ....... ..... ...................................

90 90 90 91 92 93 94

IV. Die Entgeltlichkeit der Leistung... .. ...................................... 1. Der Erwerbszweck und die Beteiligung am Wirtschaftsleben ........ 2. Die Art der gewährten Vergütung ..................................... 3. Der Adressat des Entgeltlichkeitserfordernisses bei der passiven Dienstleistungsfreiheit .................................................. 4. Die "in der Regel" entgeltliche Dienstleistung .. ... ................... 5. Sportliche und kulturelle Tätigkeiten als entgeltliche Dienstleistungen 6. Verzicht auf das Erfordernis der Entgeltlichkeit? ....... . ............ .

96 96 97 97 98 99 100

V. Staatliche Leistungen .................................................... ... 1. Entgeltliche staatliche Leistungen ........................ ... ....... . ... 2. Unentgeltliche staatliche Leistungen, insbesondere Sozialleistungen

101 10 1 103

VI. Das Element der selbständigen Tätigkeit ....... .. ... ... ..... ..... ........

105

12

Inhaltsverzeichnis 5. Kapitel Bildungsleistungen als Dienstleistungen im Sinne der passiven Dienstleistungsfreiheit

106

A. Staatliche Bildungseinrichtungen .......... ... ......... .. ........................

106

I. Die fragmentarische gemeinschaftsrechtliche und die grundsätzlich mitgliedstaatliche Zuständigkeit im Bildungsbereich .... .. ..................

106

11. Die bildungspolitischen Aktivitäten der EG ..............................

107

III.

Ausbil~~ngsrechte von Wanderarbeitnehmem, Selbständigen und deren Angehongen ................................................................

111

IV. Die Schaffung neuer Ausbildungsrechte durch den EuGH ..............

112

l. Die "Gravier"-Entscheidung vom 13. 2. 1985 ................ . .......

112

2. Die Folgerechtsprechung .......................... ... ......... ... ......

114

a) Bestätigung und Präzisierung durch die Urteile "Barra" und "Blaizot" ......... .. .................................................

114

b) Eingrenzung durch die Urteile ,,Lair" und "Brown" .............

115

3. Die Besonderheiten dieser Rechtsprechung ...........................

115

V. Anspruch auf Zulassung zu staatlichen Bildungseinrichtungen aus der passiven Dienstleistungsfreiheit? ....................... ... . ... . . .. . .......

117

l. Das Problem ........................................................... . .

117

2. Das Schweigen des EuGH im "Gravier"-Urteil .......................

117

3. Das Fehlen des Merkmals der regelmäßigen Entgeltlichkeit bei staatlichen Bildungsleistungen ..............................................

118

4. Die Klärung durch das Urteil "Humbel und Edel" vom 27. 9. 1988

120

B. Private Bildungseinrichtungen .. . ......... .. .... ... .... .. ........................

121

I. Die wirtschaftliche Bedeutung des privaten Bildungssektors ............

121

11. Private Bildungsleistungen als Dienstleistungen i.S.d. Gemeinschaftsrechts ......................................... ,..................... .... .....

122

C. Mischformen: Bildungseinrichtungen in privater Trägerschaft mit staatlicher Beteiligung ........................................................................

125

D. Das Merkmal der Grenzüberschreitung bei längerfristigen Bildungsleistungen

126

6. Kapitel Der Inhalt der passiven Dienstleistungsfreiheit

129

A. Die unmittelbare Anwendbarkeit der Art. 59, 60 EWGV .....................

129

B. Das Diskriminierungsverbot im Rahmen der passiven Dienstleistungsfreiheit

129

I. Das Allgemeine Diskriminierungsverbot (Art. 7 EWGV) und sein Ver-

hältnis zur passiven Dienstleistungsfreiheit .......... ... ......... . ........

130

Inhaltsverzeichnis

13

H. Das Diskriminierungsverbot der Art. 59, 60 Abs. 3 EWGV im Rahmen der passiven Dienstleistungsfreiheit ...... ... ....... .. ........ .... .... ... .. 1. Der Grundsatz der Inländergleichbehandlung .. ... . ..... .... ..... ... .. 2. Art. 65 EWGV ............ ..... .. ... ..... .. ...... . .. . ...... .. ....... ... .

l32 l32 134

3. Die "Drittwirkung" des Diskriminierungsverbots . . .. . . ..... ..... ..... 4. Das Problem der Inländerdiskriminierung . ....... . ........ .... ..... ...

l34 l36

C. Die Aufhebung sonstiger Beschränkungen des passiven Dienstleistungsverkehrs ........... . .... . ...... .. ........ . .... ... ... . ........ ... .......... .... .... .

139

I. Zur Dienstleistungsfreiheit im allgemeinen ...............................

139

11. Beschränkungen im Rahmen des passiven Dienstleistungsverkehrs . . . .. 1. Beschränkungen durch den Gaststaat ..... . ........ . ....... . ........... 2. Beschränkungen durch den Heimatstaat . .. ........... . ....... .. .......

142 142 144

D. Aufhebung von Beschränkungen des mit dem Dienstleistungsverkehr verbundenen Zahlungsverkehrs .. . . ... ........ ... .......... ... ... ..... .... ... ...... ... . .

145

I. Die Bedeutung des freien Zahlungsverkehrs für den freien Dienstleistungsverkehr .................. . .. . ............... . ............ . .........

145

Ir. Die Anwendung von Art. 106 Abs. 1 auf den mit dem passiven Dienstleistungsverkehr verbundenen Zahlungsverkehr durch den EuGH im Urteil "Luisi und Carbone" ..... . .... ... ..... . . . ..... .... ...... . .. .. . . ..... 1. Das Problem... ... ................. .. ............. .. . . ................... 2. Stellungnahmen der Beteiligten . ......... .. ...... .... ....... . .......... 3. Schlußanträge des Generalanwalts . . ..... ... ..... .. ...... . .... . . . .... . . 4. Das Urteil des EuGH . . ........ ... ........ .. ....... . ......... . ....... .. . . a) Rechtliche Qualifikation der Zahlungsvorgänge ..... . ..... . ... .. . b) Abgrenzung zum Kapitalverkehr ........... .. ....... ... . . ..... .. . . c) Kontrollmöglichkeiten des Heimatlandes .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

146 147 147 148 149 149 150 151

III. Zur Frage, welche Zahlungen sich i.S.v. Art. 106 Abs. 1 auf den passiven Dienstleistungsverkehr "beziehen" ..................................... .. .

152

IV. Zum tatsächlichen Stand der Liberalisierung ... . ... . ..... .... ..... . . .... .

153

E. Soziale Ansprüche des passiven Dienstleistungsempfängers im Gastland? ...

153

7. Kapitel Die aufenthaltsrechtlichen Begleitrechte des passiven Dienstleistungsempfängers und ihre Eingrenzung durch das Element der Finalität

156

A. Die Regelung im Gemeinschaftsrecht .......... . . . ..............................

156

l. Die Regelung im EWGV . .. .................... ........ ............... .. . .

156

11. Das Prinzip der "enumerativen" Aufenthaltsrechte im Gemeinschaftsrecht

156

III. Die Richtlinienvorschläge der Kommission für ein allgemeines Aufenthaltsrecht . .... . .. . .. . ......... .... .......... . . . ....... .. ... ...... ...... . .....

159

14

Inhaltsverzeichnis I. Der frühere Vorschlag für ein allgemeines Aufenthaltsrecht ......... 2. Die neuen Vorschläge vom 26. 6. 1989 ...............................

159 160

IV. Die sekundärrechtliche Regelung in RL 73/148 .......................... l. Einreise .................................................................. 2. Aufenthalt und Ausreise................................................

161 162 164

B. Das Verhältnis des Gemeinschaftsrechts zu anderen bi- und multilateralen Abkommen ..................................... ...... ......................... ....

165

c.

Die Begrenzung des Aufenthaltsrechts bei der passiven Dienstleistungsfreiheit

166

I. Kein gemeinschaftsrechtliches Verbleiberecht des passiven Dienstleistungsempfängers ........................................................

166

H. Begrenzung des Aufenthaltsrechts durch die Dauer der in Anspruch genommenen Dienstleistungen ............................................

167

III. Die Eingrenzung des Aufenthaltsrechts durch das Element der Finalität ...

168

IV. Die Begrenzung der Aufenthaltsdauer durch das Element der Grenzüberschreitung als äußerster Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

171

D. Kontrollmöglichkeiten der Mitgliedstaaten .....................................

172

E. Exkurs: Die ausländerrechtliche Rechtsstellung des EG-angehörigen passiven Dienstleistungsempfangers in der Bundesrepublik Deutschland ...............

174

I. Einreise und Aufenthalt....................................................

174

H. Verbleiberecht des passiven Dienstleistungsempfangers? ................

175

8. Kapitel Einschränkungen des Anwendungsbereichs der passiven Dienstleistungsfreiheit durch die "Subsidiarität" des Dienstleistungskapitels und durch Ausnahmeregelungen

178

A. Die "Subsidiarität": Das Dienstleistungskapitel als bloße ,,Auffangvorschrift"?

178

I. Das Verhältnis von Dienstleistungsfreiheit und Niederlassungsrecht ... l. Gemeinsamkeiten ....................................................... 2. Strukturelle und funktionale Unterschiede............................. 3. Die Abgrenzung der Niederlassungsfreiheit von der aktiven Dienstleistungsfreiheit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Niederlassungsfreiheit und passive Dienstleistungsfreiheit ...........

179 179 180

II. Abgrenzung zur Freizügigkeit der Arbeitnehmer .........................

183

III. Abgrenzung von Vorgängen, die den Kapitalverkehrsvorschriften unterfallen ........................................................................ l. Der Kapitalverkehr ...................................................... 2. Dienstleistungen der Banken ........................................... 3. Dienstleistungen der Versicherungen ..................................

183 183 184 185

IV. Dienstleistungen, die dem Verkehrskapitel unterfallen ...................

186

181 182

Inhaltsverzeichnis

15

1. Die Liberalisierung des Verkehrssektors als Problem des aktiven Dienstleistungsverkehrs .................................................

186

2. Verkehrsdienstleistungen im Rahmen der passiven Dienstleistungsfreiheit ...................................................................

189

V. Dienstleistungen und Warenverkehr .......................................

190

1. Abgrenzung im Hinblick auf aktive und Korrespondenzdienstleistungen .......................................................................

190

2. Passive Dienstleistungsfreiheit .........................................

190

VI. Dienstleistungen im Agrarsektor ................................... ... ....

190

B. Beschränkungen bei Ausübung öffentlicher Gewalt oder aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit oder aufgrund einer speziellen Ausnahmeregelung ............ ... ................................... .. .......

191

I. Mit Ausübung öffentlicher Gewalt verbundene Tätigkeiten .............

191

11. Der Ordre-public-Vorbehalt: Öffentliche Ordnung, Sicherheit und Gesundheit .....................................................................

193

111. Spezielle Ausnahmeregelungen nach Art. 55 Abs. 2 i. V .m. Art. 66 EWGV

196

9. Kapitel Der persönliche und räumliche Geltungsbereich der passiven Dienstleistungsfreiheit

197

A. Der persönliche Geltungsbereich .... . ...........................................

197

I. Allgemeine Grundsätze ....................................................

197

1. Staatsangehörige von Mitgliedstaaten ..................................

197

a) Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates ................ .. .......

197

b) Ansässigkeit in einem Mitgliedstaat ......................... .... ..

198

2. Gesellschaften in den Mitgliedstaaten .................................

199

3. Staatsangehörige von Drittstaaten ......................................

201

11. Touristen ....................................................................

202

I. Die heutige wirtschaftliche Bedeutung des Tourismus ...............

202

2. Der Begriff des "Touristen" als passivem Dienstleistungsempfanger . . .

204

3. Die gemeinschaftsrechtlichen Vorteile für Touristen .................

206

111. Geschäftsreisende ...........................................................

207

IV. Personen, die in sonstigen Fällen primär aus Anlaß der Inanspruchnahme sonstiger bestimmter Dienstleistungen in einen anderen Mitgliedstaat reisen (z.B. Patienten, Kunden etc.) .......................................

208

V. Angehörige des passiven Dienstleistungsempfängers ....................

208

VI. Nutznießer der aktiven Dienstleistungsfreiheit (aktive Dienstleistungserbringer) ...................................................................

209

16

Inhaltsverzeichnis

B. Der räumliche Geltungsbereich der passiven Dienstleistungsfreiheit ..........

209

I. Alte Mitgliedstaaten (bis 1980) .............. ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundsätze ............................................................... 2. Sonderfragen ............................................................ a) Westberlin und DDR ............................................... b) Französische überseeische Departements; A1gerien .............. c) Kleinstaaten ......................................................... d) Grönland ............................................................ e) Sonstige .............................................................

209 210 210 211 211 211 211 212

11. Neue Mitgliedstaaten (ab 1981) ........................................... 1. Griechenland ............................................................ 2. Portugal und Spanien ...................................................

212 212 213

111. Beitritt....................................................................... 213 IV. Passive Dienstleistungsfreiheit im Verhältnis zu Drittstaaten, insbesondere zu assoziierten Ländern ................ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 10. Kapitel Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse

217

Literaturverzeichnis

222

Abkürzungsverzeichnis ABI. AfP AKP-Staaten A.P. APUZ AufenthG / EWG AVB BB BBiG BBPS-Bearb. Beil.

BFH

BGB BGBI. Bull.EG BVerfG BVerfGE BVerwG BVerwGE C

CDE CE CEE CMLRev DCSI DÖV DVBI. EA EAGV EC EEA EEC EG EGBGB EGKS EGKSV 2 Völker

= Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften = Archiv für Presserecht = Afrikanische, karibische und pazifische Staaten = Allgemeines Programm = Aus Politik und Zeitgeschichte = Aufenthaltsgesetz / EWG = Allgemeine Versicherungsbedingungen = Der Betriebsberater = Berufsbildungsgesetz = Beutler / Bieber / Pipkom / Streil: Die Europäische Gemeinschaft - Rechtsordnung und Politik = Beilage Bundesfinanzhof = Bürgerliches Gesetzbuch = Bundesgesetzblatt = Bulletin der Europäischen Gemeinschaften Bundesverfassungsgericht = Amtliche Entscheidungssammlung des BVerfG = Bundesverwaltungsgericht = Amtliche Entscheidungssammlung des BVerwG = Communicatio (Teil des Amtsblatts der EG) = Cahiers de droit europeen = Communaute(s) Europeenne(s) = Communaute Economique Europeenne = Common Market Law Review = Diritto Communitario e degli Scambi Intemazionali = Die Öffentliche Verwaltung = Deutsches Verwaltungsblatt = Europa-Archiv Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft European Community( -ies) European Free Trade Association European Economic Community = Europäische Gemeinschaft(en) = Einführungsgesetz .zum BGB = Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl = Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl

Abkürzungsverzeichnis

18 ELRev EP EuGH EuGHE EuGRZ EuR Euratom Eurostat EWG EWGV FS GA

= = = =

GATT

GBTE-Bearb. GG GRUR Int.

GS HER ICLQ IPR JA JCMS JDI JuS JWT JWTL JZ KOM KSE L

MDR MS NJW NVwZ OECD QMT-Bearb. RabelsZ RevMC RGW RIW RL Rs. RTDE SaBl.

= =

= = =

= = = = = = =

= =

= = =

= = =

= =

European Law Review Europäisches Parlament Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Amtliche Entscheidungssammlung des EuGH Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europarecht Europäische Atomgemeinschaft Statistisches Amt der Europäischen Gemeinschaften Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag zur Gründung der EWG Festschrift Generalanwalt General Agreement on Tariffs and Trade Groeben / Boeckh / Thiesing / Ehlermann (Hrsg.), EWG-Vertrag Grundgesetz Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht - Auslands- und internationaler Teil Gedächtnisschrift Handbuch des Europäischen Rechts International and Comparative Law Quarterly Internationales Privatrecht Juristische Arbeitsblätter Journal of Common Market Studies Journal de droit international (Clunet) Juristische Schulung Journal of World Trade Journal of World Trade Law Juristenzeitung Dokumente der Kommission der EG Kölner Schriften zum Europarecht Legislatio (Teil des Amtsblatts der EG) Monatsschrift für Deutsches Recht Mitgliedstaat(en) Neue Juristische Wochenschrift Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Organisation for Economic Co-operation and Development Quadri / Monaco / Trabucchi (Hrsg.), Commentario CEE Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Revue du Marche Commun Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe Recht der internationalen Wirtschaft Richtlinie(n) Rechtssache Revue trimestrielle de droit europeen Sammelblatt für Rechtsvorschriften des Bundes und der Länder

Abkürzungsverzeichnis SEW VJIL

va

WEGS-Bearb. WissR WiVer WZG YBEL ZaöRV ZAR ZRP ZUM ZVersWiss

= = = = =

= =

19

Sociaal Economische Wetgeving Virginia Journal of International Law Verordnung(en) Wohlfarth / Everling / Glaesner / Sprung, EWG-Kommentar Wissenschaftsrecht Wirtschaft und Verwaltung. Vierteljahresbeilage zum Gewerbearchiv Warenzeichengesetz Yearbook of European Law Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für Ausländerrecht Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht / Film und Recht Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft

Einleitung A. Das frühere "Schattendasein" der Dienstleistungsfreiheit Die Dienstleistungsfreiheit war lange Zeit ein wenig beachtetes und in seiner Bedeutung deutlich unterbewertetes Kapitel des Gemeinschaftsrechts. Bis vor kurzem führte sie auch in der wissenschaftlichen Betrachtung eine Art "Schattendasein" 1 und wurde in "stiefmütterlicher" Weise 2 häufig nur am Rande und gewissermaßen als Anhängsel der Niederlassungsfreiheit betrachtet. Die mannigfaltigen Ursachen hierfür sind teils praktischer Natur, ergeben sich aber auch aus der Systematik des EWGV3: a) Man maß der Dienstleistungsfreiheit von jeher als "Auffangvorschrift", die nach ihrer ursprünglichen Konzeption lediglich die Regelung eines Sammelsuriums vorübergehender Vorgänge betreffen sollte, längst keine so große praktische Bedeutung bei wie den anderen Grundfreiheiten des Vertrages. Teilweise wird die Bedeutung des Dienstleistungssektors insgesamt stark unterschätzt 4 • Zudem sind wichtige Bereiche des Dienstleistungssektors im volkswirtschaftlichen Sinn vom Anwendungsbereich des gemeinschaftsrechtlichen Dienstleistungskapitels ausgeschlossen 5. b) Wegen der Vielfalt und Komplexität der Handelshemmnisse und Marktzugangsschranken im Bereich der Dienstleistungen gestaltet sich die Verwirklichung der Dienstleistungsfreiheit zudem langwieriger als etwa die des Warenverkehrs. Dies liegt zum einen an der schier grenzenlosen Vielfalt des Phänomens "Dienstleistung" und an seiner eigentümlichen Natur als "unsichtbares" und häufig ephemeres Produkt: Im Gegensatz zu Waren ist es wesentlich stärker an individuelle "Träger" (Erbringer und Empfänger) gebunden, von seinem rechtlichen und wirtschaftlichen Umfeld abhängiger und einer Standardisierung daher weit weniger zugänglich. Zum anderen war auch das Interesse gewisser nationaler Dienstleistungsbranchen (etwa der Banken und Versicherungen) an einer Öffnung der Märkte wegen der damit verbundenen weittragenden Wirkungen nicht immer sonderlich ausgeprägt. - Diesen Problemen 1

2

3 4

Seidel, Die Dienstleistungsfreiheit in der neuesten Rechtsentwicklung, S. 1l3. GBTE-Troberg, Vorb. zu Art. 59-66, Rz. 1. Dazu Roth, EuR 1986, S. 340/341 ff. Etwa Fikentscher, Wirtschaftsrecht, Band I, 1983, S. 559: "Die Regelung des freien

Dienstleistungsverkehrs ist kürzer, da auch die sachliche Bedeutung hinter der des Warenverkehrs zurücksteht." (ähnlich S. 561 a.E.). 5 Dazu näher u. 4. Kapitel A.

22

Einleitung begegnet man nicht nur auf Gemeinschaftsebene, sondern weltweit im Bereich des internationalen Dienstleistungshandels.

c) Traditionelle Dienstleistungen gewerblicher oder handwerklicher Art hatten und haben häufig nur einen "lokalen Radius" 6, weshalb grenzüberschreitender Verkehr für sie bisher eher die Ausnahme war und allenfalls in Form einer dauerhaften Niederlassung im Ausland in Betracht kam. d) Auch die wenig glückliche und unübersichtliche Formulierung der Art. 59 und 60 EWGV mit ihren zahlreichen Ausnahmeregelungen, trug das Ihre dazu bei, die potentielle Bedeutung des Dienstleistungskapitels zu verschleiern. Weder enthält sie eine gelungene Definition der "Dienstleistungen" im Gemeinschaftsrecht, noch läßt sie klar erkennen, wer im einzelnen Berechtigter der Dienstleistungsfreiheit sein und auf welche grenzüberschreitenden Vorgänge sich das Kapitel beziehen solF. Der Verweis in Art. 66 EWGY auf Vorschriften des Niederlassungsrechts (Art. 55 - 58) tat ein Übriges, das Dienstleistungskapitel als unbedeutende Annexregelung erscheinen zu lassen. e) Eine Rolle mag schließlich in psychologischer Hinsicht auch gespielt haben, daß der abstrakte und heterogene Begriff der "Dienstleistung" allgemein schwer faßbar und nicht besonders eingängig erscheint und dem traditionellen juristischen Sprachgebrauch nicht so geläufig ist wie etwa derjenige der "Niederlassung" 8. Weder in den nationalen Rechtsordnungen noch in der (insoweit außerordentlich schillernden) wirtschaftswissenschaftlichen Terminologie 9 findet sich eine vergleichbare Begriffsbildung wie im Gemeinschaftsrecht, da dieses in eigenständiger Weise den Zielen und der Systematik des EWG-Vertrages Rechnung zu tragen sucht. Die Regelung der Dienstleistungsfreiheit durch sekundäres Gemeinschaftsrecht und ihre Behandlung in der Wissenschaft erfolgten früher zumeist im Zusammenhang mit den Fragestellungen zur Niederlassungsfreiheit, weil die beiden Kapitel nach der ursprünglichen Intention der Väter des EWG-Vertrages in ihrem Zusammenwirken - als Gegenstück zur Freizügigkeit der Arbeitnehmer - vornehmlich die Freizügigkeit der selbständig Tätigen verwirklichen sollten. Die Behand6

Roth, EuR 1986, S. 340/343.

Kritisch zu diesen Vorschriften auch R. Schmidt, Dienstleistungsfreiheit für Versicherungsuntemehmen im Gemeinsamen Markt, S. 101/102 f., nach dessen Auffassung das ökonomische Phänomen Dienstleistung zum Zeitpunkt der Vertragsentstehung noch nicht ausreichend geklärt war. Zudem seien die damaligen Vorstellungen auch nur unvollkommen in juristische Kategorien transponiert worden. 8 Der Begriff des "Dienstes" im deutschen Dienstvertragsrecht (§§ 611 ff. BGB) ist z. B. nach Inhalt und Funktion vom gemeinschaftsrechtlichen Dienstleistungsbegriff sehr verschieden. Demgegenüber weist der Begriff der "Dienstleistung" im IPR (Art. 29 EGBGB) und im Markenrecht (v gl. u.a. § 1 Abs. 2 WZG) größere Ähnlichkeiten mit dem volkswirtschaftlichen und dem gemeinschaftsrechtlichen Dienstleistungsbegriff auf, findet dafür aber nur auf diesen speziellen Rechtsgebieten Anwendung. 9 Näher u. 4. Kapitel A. 7

A. Das frühere "Schattendasein"

23

lung der Dienstleistungsfreiheit in der Praxis der Gemeinschaftsorgane und in der Literatur bezog sich daher lange Zeit fast ausschließlich auf die "aktive Dienstleistungsfreiheit" , bei der sich der Erbringer der Dienstleistung in das Land des Empfängers begibt. Dabei wurde selten genügend berücksichtigt, daß sich die dogmatische Struktur und die wirtschaftliche Funktion der Dienstleistungsfreiheit bei näherer Betrachtung wesentlich stärker von jener der Niederlassungsfreiheit unterscheiden als ursprünglich angenommen. Nicht zuletzt durch die prinzipielle Anerkennung der sog. "passiven Dienstleistungsfreiheit" durch den EuGH, bei der sich der Empfänger zum Erbringer der Leistung begibt, und der "Korrespondenzdienstleistung", bei der nur die Dienstleistung selbst die Grenze überschreitet, hat das Dienstleistungskapitel neue Dimensionen erhalten, die über die ursprüngliche Zielsetzung der Art. 59 ff. EWGV weit hinausreichen und völlig neue Fragen aufwerfen 10. Aber auch durch andere Urteile des EuGH 11 und durch die Aktivitäten der Kommission und des Rates 12 hat die Dienstleistungsfreiheit Aufmerksamkeit erregt. Insgesamt gesehen ist der Anwendungsbereich der Dienstleistungsvorschriften von der Praxis in dynamischer Weise weit über ihre ursprüngliche Konzeption hinaus ausgeweitet und aufgewertet worden 13, namentlich etwa durch die unmittelbare Anwendbarkeit des Diskriminierungsverbots und die Ausdehnung des Begriffs der Beschränkungen auch auf bestimmte nichtdiskriminierende Gewerbe- und Berufsausübungsregeln durch die Rechtsprechung des EuGH 14. Auch die nationalen Dienstleistungsmonopole (z. B. Post und Fernmeldewesen, Arbeitsvermittlung), die jahrzehntelang unerschütterlich schienen, können sich dem Sog gemeinschaftsrechtlicher Liberalisierung immer weniger entziehen 15. Auch im Schrifttum ist die Dienstleistungsfreiheit erst in jüngster Zeit - sei es im Rahmen umfangreicher Gesamtstudien zur Freizügigkeit 16, sei es als eigenNäher zu dieser Terminologie u. 3. Kapitel B 11.1. In neuerer Zeit etwa durch die Versicherungsurteile vom 4. 12. 1986, EuGH Rs. 205/84 (Kommission / Bundesrepublik Deutschland), EuGHE 1986,3755; Rs. 220/83 (Kommission / Frankreich), EuGHE 1986, 3663; Rs. 252/83 (Kommission / Dänemark), EuGHE 1986,3713; Rs. 206/84 (Kommission/lrland), EuGHE 1986,3817, das Urteil vom 25. 2. 1988 gegen die Bundesrepublik Deutschland betreffend den freien Dienstleistungsverkehr der Rechtsanwälte (EuR 1988, S. 179 ff. m.Anm. Zuck) und die Rechtsprechung zum Rundfunkrecht (u. 4. Kapitel B 1.). 12 Einen umfassenden, wenn auch nicht mehr ganz aktuellen Überblick über geplante und verwirklichte Maßnahmen, insbesondere im Bank-, Versicherungs- und Verkehrswesen sowie im Hinblick auf den Kapitalverkehr und neue Technologien gibt die Kommission in: Ein Gemeinsamer Markt für Dienstleistungen, 1989 (Stand: März 1989). 13 Vgl. z. B. Everling, FS v.d.Groeben, 1987, S. 111 /120 ff. 14 EuGH Rs. 279/80 (Webb), EuGHE 1981,3305/3324 f. (vgl. 6. Kapitel C). 15 Eingehend hierzu die Studie Müllers, Dienstleistungsmonopole im System des EWGV, 1988. Speziell zur Personalberatung Emmerich, BB Beil. 3/1989, S. 9 ff.; Wägenbaur, BB Beil. 3/1989, S. 15 ff. 16 Z.B. Lasok, The Professions and Services in the EEC, 1986 (abgekürzt zitiert als "Lasok, Professions"). 10 11

24

Einleitung

ständiger Gegenstand zahlreicher Einzelstudien zu bestimmten Facetten des Dienstleistungssektors 17 und auf wissenschaftlichen Tagungen 18 - wesentlich stärker ins Blickfeld wissenschaftlicher Betrachtung gerückt. Dabei zeigt sich immer wieder, daß noch zahlreiche Einzelfragen einer genaueren Klärung bedürfen: "Im Gegensatz zum freien Warenverkehr wie auch zur Freizügigkeit der Personen liegt zum freien Dienstleistungsverkehr noch keine so ausführliche Rechtsprechung vor, daß von einem geschlossenen System des freien Dienstleistungsverkehrs die Rede sein könnte." 19

B. Ziele der Untersuchung Nicht zuletzt, weil die wirtschaftliche Bedeutung des Dienstleistungsaustauschs im nationalen und europäischen wie auch im internationalen Bereich in den letzten Jahrzehnten immer stärker zugenommen hat 20 und ein weiteres Anwachsen auch künftig zu erwarten ist, erscheint es lohnend, diesem Kapitel des Gemeinschaftsrechts größere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Dies gilt zum einen im Hinblick auf die wirtschaftliche Bedeutung der Dienstleistungsfreiheit als wesentlichem Element in der angestrebten Verwirklichung des Binnenmarktes bis 1992. Aber auch bei der Schaffung eines "Europas der Bürger", das Einzelpersonen das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem europäischen Ganzen vermitteln und die unmittelbare Wahrnehmung von Freiheits- und Freizügigkeitsrechten ermögli17 Etwa durch die Arbeiten von Jarass, EuR 1986, S. 75 ff.; Roth, EuR 1986, S. 340 ff., 1987, S. 7 ff. CMLRev 1988, S. 35 ff.; Bleckmann, EuR 1987, S. 28 ff.; Seidel, Die Dienstleistungsfreiheit in der neuesten Rechtsentwicklung, 1987, und ZVersWiss 1987, S. 175 ff. und die zahlreichen neueren Beiträge zu Einzelaspekten der Dienstleistungsfreiheit, vor allem zu Rundfunkdienstleistungen (u. 4. Kapitel B 11.), Versicherungsdienstleistungen (u. 8. Kapitel A 111.3.) und Finanzdienstleistungen (u. 8. Kapitel A 111.2.); vgl. auch Klein, DÖV 1988, S. 244/249 f. 18 So war z. B. das X. Wissenschaftliche Kolloquium der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Europarecht am 9. /10. 10. 1986 in Bad Ems mit Beiträgen von Bleckmann, Roth (beide a. a. O. - Fn. 17 - publiziert) und Randelzhojer Fragen des Dienstleistungsrechts gewidmet (Tagungsbericht Goerlich in DVBl. 1986, S. 1192 ff.). Dem Dienstleistungssektor galten auch die 51. Mitgliederversammlung der Arbeitsgemeinschaft wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute im Mai 1988 (dazu 1. Kapitel A mit Fn. 5) und kürzlich die interdisziplinäre Tagung "Freiheit des Dienstleistungsverkehrs und Vollendung des Binnenmarktes" des Arbeitskreises Europäische Integration vom 11. 13. 1. 1989 in Oberems, mit Referaten von Reich (Die Freiheit des Dienstleistungsverkehrs als Grundfreiheit), Müller-Grajf (Grundformen und Nebenformen der Erbringung grenzüberschreitender Dienstleistungen), Simmert (Banken sektor), Fahr (Versicherungen), Lukes (Verkehr), Kuhnt (Elektrizitätswirtschaft), Sieveking (Bildung, Bildungseinrichtungen und Bildungsförderungssysteme) und Scherer (Dienstleistungsmonopole und Freiheit des Dienstleistungsverkehrs am Beispiel der Telekommunikation); vgl. Tagungsberichte Stadler, JZ 1989, S. 285 f. und Europäische Integration 1989 Nr. 16, S. 21 ff. 19 So jüngst GA Lenz in seinen Schlußanträgen zur Ri;. 186/87 (Cowan) vom 6. 12. 1988 (dazu näher 3. Kapitel E 11.3.), Ziff. 6. 20 Näher u. I. Kapitel.

B. Ziele der Untersuchung

25

chen soll, spielt gerade die "passive" Dienstleistungsfreiheit, also die Möglichkeit, als Angehöriger der Gemeinschaft in einem anderen Mitgliedstaat ungehindert Dienstleistungen in Anspruch nehmen zu können, eine bedeutsame Rolle. Während bislang bei der Betrachtung der Dienstleistungsfreiheit der Dienstleistungserbringer und seine Berechtigung, in einem anderen Mitgliedstaat eine Dienstleistung zu erbringen, im Vordergrund standen, fand die Frage, inwieweit ein Dienstleistungsempfänger bei der Inanspruchnahme von Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat sich auf die Dienstleistungsfreiheit berufen kann, bis vor kurzem wenig Beachtung. Erst durch das bekannte Urteil des EuGH vom 31. 12. 1984 21 erhielt die Diskussion um das Phänomen "passive Dienstleistungsfreiheit" neue Impulse. Durch die Anerkennung der passiven Dienstleistungsfreiheit als Bestandteil der Dienstleistungsfreiheit in diesem Urteil wurde eine Vielzahl von Fragen aufgeworfen. Eine Reihe von Problemen ergibt sich bereits daraus, daß das Dienstleistungskapitel vor allem im Hinblick auf die "aktive Dienstleistungsfreiheit", also auf die Möglichkeit des Erbringers einer Dienstleistung (den "aktiven" Beteiligten des Dienstleistungsvorgangs), diese in einem anderen Mitgliedstaat zu erbringen, konzipiert wurde. Daher ist bislang nicht abschließend geklärt, inwieweit etwa der herkömmliche gemeinschaftsrechtliche Dienstleistungsbegriff für die passive Dienstleistungsfreiheit, also für den Fall des gebietsfremden Dienstleistungsempfängers übernommen werden kann. Wie steht es bei ihm um die Elemente der Grenzüberschreitung und der Entgeltlichkeit bzw. des Erwerbszwecks? Fallen auch staatliche Bildungsleistungen unter das Dienstleistungskapitel? Ähnliches gilt für die Subsidiaritätsvorschriften des Dienstleistungskapitels und die Wirkung des Diskriminierungsverbots. Weiterhin ist noch nicht abschließend geklärt, für welchen Personenkreis die passive Dienstleistungsfreiheit überhaupt zur Anwendung kommen kann. Gilt sie für alle Touristen, alle Rentner, die in einem anderen Mitgliedstaat ihren Lebensabend verbringen wollen, alle Schüler und Studenten, letztlich für alle Gemeinschafts bürger, die einen anderen Mitgliedstaat besuchen? Damit stellt sich die grundsätzliche und gemeinschaftspolitisch besonders sensible Frage, in welchem Umfang und mit welchen Grenzen sich aus der gemeinschaftsrechtlich garantierten "passiven" Dienstleistungsfreiheit für den gebietsfremden Dienstleistungsempfänger ein (zeitlich unbegrenztes?) Aufenthaltsrecht zur Entgegennahme der Dienstleistung ergibt. Diese Frage, die Seidel als "das wahrscheinlich heikelste Problem des Gemeinschaftsrechts und der Integration im Rahmen der Gemeinschaft" bezeichnet hat 22 , erscheint umso brisanter, als praktisch jeder Auslandsaufenthalt zwangsläufig mit der Inanspruchnahme von Dienstleistungen verbunden ist und sich so bei einem sehr weiten Verständnis durch die Berufung auf die passive Dienstleistungsfreiheit theoretisch jederzeit

21

22

EuGH Rs. 286/82 (,,Luisi und Carbone"), EuGHE 1984,377/401 ff. Die Dienstleistungsfreiheit in der neuesten Rechtsentwicklung, S. 113/124.

Einleitung

26

ein Aufenthaltsrecht beliebigen Umfangs herleiten ließe. Sie wurde bislang in der Literatur wenig erörtert. Eine gewisse Eingrenzung der passiven Dienstleistungsfreiheit wurde erst in jüngster Zeit durch die Urteile des EuGH vom 27.9. 1988 23 und vom 5. 10. 1988 24 erreicht. Im erstgenannten Urteil wurde festgestellt, daß staatliche Bildungsleistungen grundsätzlich nicht als Dienstleistungen i.S.v. Art. 60 EWGV anzusehen sind, wodurch in diesem Bereich vor allem die Berufung auf die passive Dienstleistungsfreiheit durch ausländische Schüler und Studenten ausgeschlossen wurde. Das zweite Urteil stellte klar, daß die passive Dienstleistungsfreiheit nicht für zeitlich unbegrenzte Aufenthalte in einem anderen Mitgliedstaat in Anspruch genommen werden kann. - Die Diskussion wurde zuletzt durch die grundsätzliche Stellungnahme von GA Lenz zur Reichweite der passiven Dienstleistungsfreiheit in seinen Schlußanträgen vom 6. 12. 1988 und die Entscheidung des EuGH vom 2.2. 1989 in der Rs. 186/87 (Cowan)25 fortgeführt. Durch die systematische Untersuchung dieses Teilbereichs der Dienstleistungsfreiheit - unter steter Berücksichtigung der Dienstleistungsfreiheit als Ganzem und ihres Zusammenhangs mit den anderen Freiheiten des Vertrages - soll ein Versuch der Klärung der genannten Fragen unternommen und gleichzeitig ein Beitrag zur besseren dogmatischen Durchdringung des gesamten Dienstleistungskapitels und der gemeinschaftsrechtlichen Freizügigkeitsregelungen 26 überhaupt geleistet werden. Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen die Art. 59 ff. des EWG-Vertrages, die praktisch bei weitem bedeutendste Regelung des Dienstleistungsverkehrs im Europäischen Gemeinschaftsrecht. Im Bereich des EAGV und des EGKSV fehlen Regelungen vergleichbarer Tragweite. In ihrem Anwendungsbereich spielen Dienstleistungen und insbesondere der passive Dienstleistungsverkehr im hier verstandenen Sinne keine große Rolle. Die Besonderheiten dieser Verträge werden daher in kurzer Form behandelt. Das Schrifttum zum europäischen Wirtschaftsrecht und insbesondere zu den "vier Freiheiten" des Vertrages sowie zur Verwirklichung des Binnenmarktes 27 Rs. 263/86 (Humbel und Edel), noch nicht veröffentlicht. Näher u. 5. Kapitel A V.4. Rs. 196/87 (Steymann), nocht nicht veröffentlicht. Dazu u. 4. Kapitel B 111.2. 25 NJW 1989, S. 2183 f. Dazu näher u. 3. Kapitel E 11. und III. 26 Unter "Freizügigkeit" wird im folgenden nicht nur die Freizügigkeit der Arbeitnehmer i.e.S., sondern als Oberbegriff der Gesamtkomplex der in den Art. 48-66 EWGV enthaltenen personenbezogenen Freizügigkeitsregelungen verstanden, soweit sie die Freiheit des Personenverkehrs ermöglichen sollen. So bereits Bülow, Die Rechtsstellung des Einzelnen in der EWG, S. 81/83. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 637, spricht neben der Freizügigkeit der Arbeitnehmer ebenfalls von der Freizügigkeit der Selbständigen. Auch das AufenthG / EWG verwendet den Freizügigkeitsbegriff in diesem umfassenden Sinn (z. B. in § 1). 27 Einen guten Überblick über das Schrifttum der letzten Jahre gibt Seidel, Integration 1988, S. 167 ff., insbesondere 179 ff. 23

24

B. Ziele der Untersuchung

27

ist mittlerweile nahezu uferlos. Deshalb und wegen der zahlreichen Berührungspunkte der Dienstleistungsfreiheit mit anderen Bereichen des Gemeinschaftsrechts mußte eine Auswahl getroffen werden, die bei Randfragen vornehmlich Grundlegendes, Exemplarisches und Aktuelles berücksichtigen will, in den "Kernbereichen" der Arbeit, insbesondere was unmittelbare Stellungnahmen zur passiven Dienstleistungsfreiheit selbst anbelangt, jedoch um möglichste Vollständigkeit bemüht ist.

1. Kapitel

Das Dienstleistungskapitel vor dem wirtschaftlichen Hintergrund der wachsenden Bedeutung des tertiären Sektors A. Die ,,stille Revolution" der Dienstleistungen Die rapide Ausdehnung des Dienstleistungssektors kann als das markanteste Charakteristikum der westlichen Wirtschaftsentwicklung im letzten Drittel unseres Jahrhunderts bezeichnet werden. Entsprechend hat sich die ökonomische Struktur fast sämtlicher westlicher Industrieländer vor allem in den letzten 15 bis 20 Jahren deutlich zugunsten des tertiären Sektors gewandelt. Die Ursachen für diese "stille Revolution" sind vielschichtig: Am einen Ende der Skala ermöglichen sprunghafte Fortschritte in der Grundlagen- und angewandten Forschung, technische Innovationen und modeme Produktionsverfahren neue, vor kurzem noch kaum vorstellbare Leistungsangebote, etwa im Bereich der Telekommunikation. Am anderen Ende sind - teilweise nur individual- und massenpsychologisch erklärbare - Wandlungen des Nachfrageverhaltens in einer modemen Konsumund Freizeitgesellschaft zu verzeichnen, die beispielsweise zum lebhaften Florieren der Touristikbranche beigetragen haben. Festzuhalten ist auch, daß die herkömmliche Grenze zwischen Warenproduktion und Dienstleistungen zunehmend verschwimmt. Die "Servicekomponente" bei Auswahl und Vertrieb, Installation und Betrieb technisch hochentwickelter Industrieerzeugnisse ist heute ungleich stärker ausgeprägt als früher. Dabei ist eine zunehmende Tendenz bei Großunternehmen feststellbar, gewisse Dienstleistungen (Marketing, Beratung, Service) von spezialisierten Fremdfirmen durchführen zu lassen 1. Obgleich diese außerordentlich komplexe Entwicklung noch in vollem Gange ist, sind ihre spürbaren Folgen, die tiefgreifenden Veränderungen und Erschütterungen für den Einzelnen wie für die Gesamtwirtschaft z. T. bereits zu Gemeinplätzen geworden: Neue "High-Tech"-Branchen schießen in kürzester Zeit aus dem Boden, während traditionelle Industrien stagnieren oder gar schrumpfen. Viele Lebens- und Arbeitsbereiche haben ein völlig neues Gesicht erhalten. Manche alte Berufsbilder sind im Verschwinden, viele neue im Entstehen begriffen 2 • 1

0 ' Conghaile / Di Martino (Hrsg.), New Technology and the Quality of Life, S. 12.

A. Die "stille Revolution" der Dienstleistungen

29

Auf die Frage, ob man diese ambivalenten, teils segensreichen, teils problembelasteten Tendenzen insgesamt begrußen, die Dienstleistungen gar als "Hoffnung des 20. Jahrhunderts" feiern kann, läßt sich keine eindeutige Antwort geben 3 • Ihre Untersuchung im Bereich der Wirtschaftswissenschaften war bis vor wenigen Jahren "a history of neglect"4. Erst seit Anfang der achtziger Jahre wird die Entwicklung des tertiären Sektors und des Dienstleistungshandels mit wachsendem Interesse verfolgt und nunmehr lebhaft diskutiert 5. Dabei wird zum einen auf die Möglichkeit der Erschließung neuer Beschäftigungsformen und -potentiale im Dienstleistungsbereich hingewiesen 6 , allerdings mit der kaum vermeidbaren Folge eines Wandels der Arbeitsbedingungen, insbesondere der Arbeitszeitgestaltung. Zum anderen werden aber auch die Auswüchse einer "tertiären Scheinwelt" kritisiert, die Dienstleistungen mit "Leerlaufcharakter" (politische Werbung), "self-justifying services" (Sekten), redundante Dienstleistungen (Teile der Bürokratie) und kontraproduktive Dienstleistungen (Militär und Waffenhandel) hervorbringe, die sämtlich nur geringe oder keine wohlfahrtssteigernde Wirkung aufwiesen. Trotz dieser negativen Aspekte bleibt festzuhalten, daß dem breitgefächerten und innovativen "tertiären Sektor" Dienstleistungen bereits die Gegenwart und in noch höherem Maße die Zukunft gehören dürfte.

2 Weiterführend zu den Auswirkungen des Dienstleistungs-Booms und neuer Technologien auf einzelne Lebens- und Arbeitsbereiche die ausführliche Länderbibliographie von O'Conghaile und Di Martino (Hrsg.), New Technology and the QuaJity of Life. The service sector in Europe, 1986 (zur Bundesrepublik Deutschland insbesondere S. 47 ff.). 3 Lesenswert die kritischen Überlegungen Shelps, Beyond IndustriaJization, S. 4 ff., 68 ff., pass., der in negativer Hinsicht u.a. auf die Gefahr einer Vernachlässigung des Waren sektors und die damit verbundene Abhängigkeit von Waren importen in einer Dienstleistungsgesellschaft hinweist, in positiver Hinsicht die beschäftigungsstimulierende Wirkung eines dynamischen Dienstleistungssektors aufzeigt. 4 Shelp, Beyond IndustriaJization, S. 80. 5 So etwa jüngst auf der 51. Mitgliederversammlung der Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswisschenschaftlicher Forschungsinstitute am 5. /6. Mai 1988 in Bonn, die dem Themenbereich "Dienstleistungen im Strukturwandel" gewidmet war. Dem Tagungsbericht Schreyers (Ifo-Schnelldienst 20/1988, S. 17 ff.) sind die im folgenden berichteten Argumente der wirtschafts wissenschaftlichen Diskussion entnommen. 6 Dabei besteht die Tendenz zum Abbau ungelernter Arbeitskräfte und eine wachsende Nachfrage nach hochqualifizierten und flexiblen Arbeitnehmern, vgl. 0' Conghaile / Di Martino (Hrsg.), New Technology and the Quality of Life, S. 14 f.

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1.. Kap.: Wirtschaftlicher Hintergrund

B. Der wachsende Anteil des tertiären Sektors an Wirtschaft und Handel I. Wirtschaftliche Bedeutung im Rahmen Deutschlands

1. Binnenmarkt Auch die Bundesrepublik Deutschland nimmt an der oben skizzierten Entwicklung teiF. Allerdings ist die Expansion des tertiären Sektors hierzulande nicht so ausgeprägt wie in vielen anderen Staaten. 1986 lag der Anteil des Dienstleistungssektors am Bruttosozialprodukt bei 56,7 %8. Mit dieser Quote liegt sie im Rahmen der EG im unteren Mittelfeld und bleibt vor allem gegenüber den USA deutlich zurück, was aber zum Teil auf Probleme der statistischen Erfassung zurückzuführen ist 9 • 2. Außenhandel Im Bereich des Außenhandels liegt die Einfuhr von Dienstleistungen in die Bundesrepublik auffallend höher als ihre entsprechenden Exporte. 1985 importierte sie Dienstleistungen im Wert von 53,83 Mrd. US-$, wobei die entsprechenden Exporte bei 49,5 Mrd. US-$ lagen. Im selben Jahr belief sich der gesamte Güterexport auf 173,58 Mrd. US-$ und das Bruttoinlandsprodukt auf 624,97 Mrd. US-$ 10. Die Bundesrepublik nimmt damit als Nachfragerin von Dienstleistungen eine internationale Spitzenposition ein. Im Gegensatz zu anderen Industrieländern, in denen z.T. beträchtliche Anteilsverschiebungen auftraten, blieben ihre Marktanteile beim Export in den meisten Bereichen ohne große Veränderungen. Die Dienstleistungsexporte machten 1986 einen Anteil von 7,6 % (1975: 5,5 %) am Bruttoinlandsprodukt und 22,6 % des gesamten Exports aus 11. 7 Eingehend hierzu (wenn auch nicht mehr ganz aufneuestern Stand) die grundlegende Untersuchung Petersens u.a., Der internationale Handel mit Dienstleistungen, 1984, insbesondere S. 90 ff. 8 Eurostat, Statistische Grundzahlen der Gemeinschaft, 26. Aufl. 1989, S. 41. - Die im folgenden angegebenen Daten sind angesichts der beträchtlichen Schwierigkeiten der Wirtschaftswissenschaften, den tertiären Sektor begrifflich, analytisch und statistisch zu erfassen, mit Zurückhaltung aufzunehmen und als Annäherungswerte zu verstehen. Sie basieren mitunter auf lückenhaftem Datenmaterial und auf Berechnungsmethoden, über die noch keine völlige Einigkeit erzielt wurde, vgl. Petersen u.a., Der internationale Handel mit Dienstleistungen, insbes. S. 17 f. und 24 ff. und Schultz, Dienstleistungen und GATI, S. 152/154 f. Die Kommission entwickelt daher gegenwärtig ein neues System zur umfassenden und einheitlichen statistischen Erfassung des Dienstleistungssektors auf Gemeinschaftsebene (Auskunft der Kommission vom 7. 3. 1989, ABI. 1989 C 151/20). 9 Vgl. Petersen u.a., Der internationale Handel mit Dienstleistungen, insbesondere S. 123 ff. 10 Vgl. die Tabelle bei Schultz, Dienstleistungen und GA TI, S. 152/158 f., der diese Daten der Balance of Payments und International Financial Statistics des IWF entnahm (dort auch die entsprechenden Angaben für andere Industrie- und Schwellenländer).

B. Der wachsende Anteil des tertiären Sektors

31

Die Dienstleistungseinnahmen der Bundesrepublik insgesamt und in den meisten Teilbereichen wurden zwischen 1970 und 1980 etwa im Rhythmus des internationalen Durchschnittswachstums gesteigert 12. Zwischen 1971 und 1986 lag das durchschnittliche jährliche Wachstum der deutschen Dienstleistungsexporte ohne Kapitalerträge bei 11,9 % (mit Kapitalerträgen bei 14,7 %). Bei den Warenexporten lag die Zuwachsrate bei durchschnittlich 11,5 % 13. Ähnlich wie in Japan ist der Anteil der Dienstleistungsexporte im Verhältnis zur Warenausfuhr vergleichsweise gering, im Gegensatz etwa zu den USA, wo der Anteil der Dienstleistungsausfuhren am gesamten Güterexport 1985 bei 67 % lag l4 • Während der Schwerpunkt der Dienstleistungsexporte in anderen europäischen Staaten im Bereich internationaler Finanztransaktionen (Großbritannien, Belgien, Luxemburg), im Transportwesen (Niederlande, Dänemark) oder im Tourismus (Griechenland, Portugal, Spanien) liegt 15, fällt der größte Teil der deutschen Dienstleistungsausfuhren in anderen, auf die Industrieproduktion bezogenen Feldern an (z. B. Versicherungs-, Bau- und Montageleistungen, Arbeitsentgelte, Provisionen, Lizenzen und Patenten, Werbe- und Messekosten). Hier ist die Bundesrepublik gemeinschaftsweit führend 16.

11. Wirtschaftliche Bedeutung im Rahmen der EG

J. Binnenmarkt

Auch auf Gemeinschaftsebene nimmt der Dienstleistungsbereich - mit unterschiedlichen Entwicklungstendenzen in einzelnen Mitgliedstaaten und Dienstleistungsbereichen - eine immer dominierendere Stellung ein 17. Traditionelle Dienstleistungsbranchen (z. B. Touristik) profitieren davon ebenso wie neue Industriezweige (z. B. neue Formen der Telekommunikation). Das Expansionstempo der Dienstleistungen lag insgesamt auch auf Gemeinschaftsebene höher als im Warensektor. Zwischen 1973 und 1982 entstanden hier gemeinschaftsweit mehr als 5 Millionen neue Arbeitsplätze 18. 1987 waren im Bereich des tertiären Sektors Sperber, Wirtschaftsdienst 1988/ III, S. 161 (Tabelle 4). Petersen u.a., Der internationale Handel mit Dienstleistungen, S. 54 f. pass. 13 Sperber, Wirtschaftsdienst 1988/ III, S. 157/159; dort auch die entsprechenden Werte für die anderen EG-Staaten. Spitzenreiter bei den Dienstleistungsexporten ohne Kapitalerträge war Frankreich (durchschnittliche Zuwachsrate 1971-1986: 14,0%). Rechnet man die Kapitalerträge hinzu, lagen Großbritannien (19,4%), Dänemark (20,7%), Belgien / Luxemburg (21,6%) und Spanien (22,3%) an der Spitze. 14 Schultz, Dienstleistungen und GATT, S. 152/158 f. 15 Sperber, Wirtschaftsdienst 1988/ II1, S. 161 f. 16 Sperber, Wirtschaftsdienst 1988/ III, S. 162. 17 Vgl. im einzelnen Petersen u.a., Der internationale Handel mit Dienstleistungen, S. 65 ff. 18 EG-Kommission, Weißbuch zur Vollendung des Binnenmarkts, Ziff. 97. In Japan waren es 6,7 Millionen und in den USA sogar 13,4 Millionen. II

12

32

1. Kap.: Wirtschaftlicher Hintergrund

59,1 % der zivilen Angestellten beschäftigt, wobei der Anteil in den Mitgliedstaaten von 42,9 % in Portugal bis 68,5 % in Belgien reichte 19. 1958 waren es im damaligen Europa der Sechs noch knapp 40 % gewesen 20 , 1970 im Durchschnitt erst 44 % in den Staaten der heutigen Zwölfergemeinschaft 21 . Der relative Anteil der in Industrie und Landwirtschaft Beschäftigten ging entsprechend stark zurück, wobei in beiden Bereichen auch in absoluten Zahlen ein Rückgang zu verzeichnen war. 1967 betrug der Anteil des Dienstleistungssektors am Bruttosozialprodukt der Gemeinschaft noch 42 %. 1985 waren es bereits 58 %22. Damit hat der tertiäre Sektor die in früheren Zeiten führende Industrie mittlerweile bei weitem überflügelt. Dabei ist bei diesen Angaben noch nicht einmal der Zuwachs bei den sog. "verborgenen" Dienstleistungen in der industriellen Warenproduktion berücksichtigt, wozu insbesondere innerbetriebliche Ausbildungs- und Informationsleistungen, Bewirtungs-, Verpackungs-, Verlade- und Transportdienste zählen, die sich in den letzten Jahren ebenfalls stark ausgeweitet haben 23 . Dieser Trend dürfte sich künftig eher noch verstärken: Zahlreiche zukunftsträchtige Wachstumsindustrien 24 sind in diesem Bereich angesiedelt, namentlich die besonders wichtigen und wachstumsintensiven Branchen Banken und Versicherungen, daneben aber auch Werbung, Unternehmensberatung, Datenverarbeitung, computergesteuerte Expertensysteme, Forschung und Entwicklung, Finanzberatung und der in einem komplexen Wirtschaftsgefüge besonders bedeutsame Verteilungssektor, der die Vermittlung und Distribution von Wirtschaftsgütern übernimmt (insbes. Groß-, Zwischen- und Einzelhandel)25. Für die künftige Entwicklung besonders bedeutsam sind die vielfältigen Formen der Informationsübermittlung, insbesondere die neuen audiovisuellen Kommunikationstechnologien. Vor allem der letztgenannte Bereich dürfte für die wirtschaftliche Entwicklung von entscheidender Bedeutung sein. Der EG-Kom19 Eurostat, Statistische Grundzahlen der Gemeinschaft, 26. Aufl. 1989, S. 117. Die Bundesrepublik nimmt mit 54,2% eine MittelsteIlung ein. Demgegenüber lag der Anteil in den USA bereits bei 69,9%. Näher zur "Tertiarisierung" der USA im Verhältnis zu Bundesrepublik der Bericht Schreyers, Ifo-Schnelldienst 20/88, S. 17/20. 20 EG-Kommission (Hrsg.), Diagramme der Europäischen Gemeinschaft, Stichwort Europa Nr. 1 - 2 / 1988, S. 18. 21 Sperber, Wirtschaftsdienst 1988/ III, S. 157. 22 Sperber, Wirtschaftsdienst 1988/III, S. 157. Auffallend ist demgegenüber der relativ geringe, wenn auch tendenziell zunehmende Anteil der Dienstleistungen am japanischen Bruttosozialprodukt, der 1980 erst bei rund einem Fünftel lag (Petersen u.a., Der internationale Handel mit Dienstleistungen, S. 51). 23 Sperber, Wirtschaftsdienst 1988/ III, S. 157. 24 Vgl. die Tabelle zur Entwicklung der Wertschöpfung und Beschäftigtenzahl in verschiedenen Produktionsbereichen der EG bei Sperber, Wirtschaftsdienst 1988 / III, S. 157/159 (Tabelle 3). 25 Auf die Bedeutung des Verteilungssektors wies bereits 1967 Deneffe hin, vgl. EGKommission (Hrsg.), Die wirtschaftlichen Aspekte der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, S. 99 ff.

B. Der wachsende Anteil des tertiären Sektors

33

mission zufolge stellt der Bereich Informationsverarbeitung und Kommunikation

bereits heute einen Weltmarkt von jährlich mehr als 500 Mrd. ECU dar. Der Weltmarkt für Telekommunikationseinrichtungen soll sich 1986 auf nahezu 90 Mrd. ECU belaufen haben, wovon 17,5 Mrd. ECU auf den Gemeinschaftsmarkt entfielen. Gegenwärtig gibt es im Telekommunikationssektor insgesamt (Produktion und Dienstleistungen) 1,3 Mio. Arbeitsplätze in der Gemeinschaft. Nach Schätzungen der Kommission könnte der Anteil des Telekommunikationssektors am gemeinschaftlichen Bruttosozialprodukt bis zur Jahrtausendwende von heute 3 % auf ca. 7 % zunehmen. In diesem Zeitraum werden in der Gemeinschaft rund 500 Mrd. ECU in diesem Bereich investiert werden. Um das Jahr 2000 werden somit ca. zwei Drittel des Inlandsprodukts der Industriestaaten in stark informationsorientierten Aktivitäten entstehen. Bis zu 60 Millionen Arbeitsplätze in der Gemeinschaft werden bis dahin mehr oder weniger von Telematiktechniken, dem "Nervensystem" der modernen Gesellschaft, abhängig sein, was auch auf Standortwahl und Investitionstätigkeit der Unternehmen in anderen Wirtschaftsbranchen Auswirkungen haben wird 26. Diese Prognosen zeichnen den Weg zur "postindustriellen Informationsgesellschaft" vor 27 • Dabei wird sich die Gemeinschaft auch auf dem Weltmarkt für Telekommunikations- und Informationstechnologien behaupten müssen, dessen Entwicklung Investitionen eines Ausmaßes erfordert, die von den Wirtschaften der einzelnen Mitgliedstaaten kaum noch erbracht werden können, da ihre Amortisierung gegenwärtig einen Weltmarktanteil von ca. 8 % erfordert 28 • Daneben können sich aus der Verwirklichung des Binnenmarkts für Telekommunikationsdienstleistungen auch beträchtliche binnenwirtschaftliche Vorteile ergeben 29. Darüber hinaus spielt die Dienstleistungsbranche eine Schlüsselrolle für die Entwicklung der anderen Wirtschaftszweige 30 • Insbesondere der zentrale Bereich 26 Angaben und Schätzungen der EG-Kommission in: Auf dem Wege zu einer dynamischen europäischen Volkswirtschaft. GTÜnbuch über die Entwicklung des Gemeinsamen Marktes für Telekommunikationsdienstleistungen und Telekommunikationsgeräte, KOM (87) 290 endg. vom 30.6. 1987 (GTÜnbuch Telekommunikation), Einführung, S. 2 f. Vgl. zu diesen Fragen auch GTÜnbuch der Kommission, Fernsehen ohne Grenzen vom 14.6. 1984, KOM (84) 300 endg.; Weißbuch der Kommission zur Vollendung des Binnenmarktes, Ziff. 113 ff. 27 Im Bereich der Volkswirtschaften werden die Informationsdienstleistungen (Telekommunikation, Datenverarbeitung, Unterhaltungselektronik, Rundfunk und Fernsehen etc.) abweichend vom traditionellen Drei-Sektoren-Modell bereits z.T. als "quartärer Sektor" aufgefaßt (vgl. Bericht Schreyer, Ifo-Schnelldienst 20/88, S. 17/19). - Zum Weltmarkt der Informationsverarbeitung und -übertragung Mitte der achtziger Jahre EGKommission (Hrsg.), Telekommunikation: Die neuen Autobahnen des großen europäischen Marktes, Stichwort Europa Nr. 15/1988, Schaubild S. 11. 28 Kein Mitgliedstaat hat gegenwärtig einen Anteil von mehr als 6% am Telekommunikations-Weltmarkt. Die USA erreichen demgegenüber mehr als 35%, Japan 11%, vgl. EG-Kommission (Hrsg.), Telekommunikation: Die neuen Autobahnen des großen europäischen Marktes, Stichwort Europa Nr. 15/1988, S. 5. 29 Dazu EG-Kommission (Hrsg.), The Benefits of Completing the Internal Market for Telecommunication Services in the Community, 1988.

3 Völker

1. Kap.: Wirtschaftlicher Hintergrund

34

finanzieller Dienstleistungen (z. B. Kredit-und Bankenwesen, Versicherungen, Börsen- und Wertpapierhandel), der gegenwärtig rund 7 % des Bruttoinlandsprodukts der Gemeinschaft ausmacht 31 , übt für andere Wirtschaftsbranchen eine "Drehscheibenfunktion" aus. Zudem wird die fortgesetzte Ausweitung des verhältnismäßig personalintensiven Dienstleistungssektors eine deutliche und positive Ausstrahlungswirkung auf den Arbeitsmarkt haben. Vor allem im Bereich produktionsorientierter Dienstleistungen und bei den sog. "Humandienstleistungen" (etwa im Sozial-, Alten- und Gesundheitswesen) bestehen noch ungenutzte Beschäftigungspotentiale 32. In der Gesamtbetrachtung wird zunehmend deutlich, daß bereits gegenwärtig dem passiven Dienstleistungsverkehr (und in absehbarer Zeit den sog. Korrespondenzdienstleistungen 33, namentlich der Telekommunikation) eine wirtschaftlich nahezu ebenso große Bedeutung zukommt wie dem aktiven Dienstleistungsverkehr. Der grenzüberschreitende Konsum von Leistungen etwa im Fremdenverkehrssektor, der einen wesentlichen Anwendungsbereich der passiven Dienstleistungsfreiheit darstellt, erreichte innerhalb der EG bereits Anfang der achtziger Jahre ein Volumen von 90 Mrd. ECU34. Demgegenüber erreichte die Freizügigkeit der Selbständigen, auf die sich die Niederlassungsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit (vornehmlich in ihrer "aktiven" Variante) beziehen, auf Gemeinschaftsebene nie dieselbe faktische Bedeutung wie etwa die Wanderungsbewegungen unselbständig Beschäftigter 35 . So haben beispielsweise nur 2000 Ärzte innerhalb der Gemeinschaft ihren Heimatstaat zugunsten eines anderen Mitgliedstaates verlassen 36. Dennoch sollte im Hinblick auf das Leistungspotential der Selbständigen und ihre Rolle im gesellschaftlichen und politischen Leben die tatsächliche und psychologische Bedeutung der Freizügigkeit auch in diesem Bereich nicht unterschätzt werden 37. Cecchini-Bericht, S. 61 ff. EG-Kommission (Hrsg.), Auf dem Weg zu einem großen Binnenmarkt der finanziellen Dienstleistungen, Stichwort Europa Nr. 17/1988, S. 3. 32 Vgl. Bericht Schreyer, Ifo-Schnelldienst 20/88, S. 17 und 21 f. Dort wird allerdings auch darauf hingewiesen, daß der hohe Lohnkostenanteil bei der Produktion von Dienstleistungen dazu führt, bei Maßnahmen zur Produktivitätserhöhung direkt beim Produktionsfaktor Arbeit anzusetzen. 33 Näher zu diesen Begriffen 3. Kapitel B 11. 34 Dazu u. 9. Kapitel A 11.1. 35 Allerdings ist in den letzten Jahren die Zahl der ausländischen Arbeitnehmer auch aus den Ländern der EG - rückläufig (Grabitz-Randelzhojer, vor Art. 48, Rz. 5; vgl. auch Plender, International Immigration Law, S. 39 f., der den Rückgang innergemeinschaftlicher Wanderungsbewegungen sogar z.T. als Folge des Gemeinschaftsrechts sieht, weil dieses für Unternehmer die Anwerbung von Arbeitskräften aus Drittländern attraktiver erscheinen lasse). Näher zur langfristigen Entwicklung der Wanderungsbewegungen abhängig Beschäftigter innerhalb der EG Straubhaar, JCMS 1988, S. 45/49 ff., der zu der skeptischen Schlußfolgerung gelangt "that the formation of the Common Labour Market has not significantly stimulated labour migration among the EC member countries" (S. 55). 36 Vgl. Oppermann, Europarecht, Rz. 1483. 30

31

B. Der wachsende Anteil des tertiären Sektors

35

2. Außenhandel Angesichts der imposanten Entwicklung innerhalb der nationalen Volkswirtschaften ist umso bemerkenswerter, daß im Bereich des Dienstleistungshandels der EG-Länder noch ein deutlicher "Rückstau"38 besteht, der durch das (wirtschaftswissenschaftlich noch ungeklärte) Zusammenspiel einer Vielzahl von Einflußfaktoren bedingt ist. Dies gilt sowohl für den Handel zwischen den Mitgliedstaaten als auch für den EG-Außenhandel. Im europäischen Durchschnitt betrug der Anteil der Dienstleistungsexporte an den Gesamtexporten 1986 nur 33 % (1970: 29 %)39, also wenig mehr als die Hälfte des Anteils der Dienstleistungen an der Binnenproduktion. Sie lagen damit bei nur 11 % des gesamten Bruttoinlandsproduktes 4O , was sich nur teilweise daraus erklären läßt, daß gewisse Teile des internationalen Dienstleistungshandels in der Regel über ausländische Niederlassungen "lokal" abgewickelt werden 41. Zudem lag der Schwerpunkt in der Dynamik des Dienstleistungshandels im Bereich der Finanz- und Sachinvestitionen (Dienstleistung "Kapitalüberlassung"), während die Zunahme in den übrigen Dienstleistungsbereichen sogar hinter derjenigen der Waren ausfuhren leicht zurückblieb 42 . Dieses gerade für export- und zukunftsorientierte Volkswirtschaften besorgniserregende Defizit dürfte nicht zuletzt auf die besonders im tertiären Sektor noch bestehende Vielfalt nichttarifärer Handelshemmnisse und Marktzutrittsschranken im europäischen wie im internationalen Bereich zurückzuführen sein. Sie machen ihn für die in neuerer Zeit wieder verstärkt feststellbaren protektionistischen Tendenzen mancher Staaten besonders anfällig. Die Verringerung und Beseitigung dieser Schranken würde sich nach heutiger Auffassung unstreitig deutlich produktivitätsfördernd auswirken und den Wettbewerb auch innerhalb der EG beleben 43.

37

Oppermann, Europarecht, Rz. 1545.

38 Dazu namentlich Sperber, Wirtschaftsdienst 1988/ III, S. 157 ff.

39 Spitzenreiter in der EG ist gegenwärtig Großbritannien, wo die Dienstleistungsausfuhren einen Anteil von 20% des Bruttoinlandsprodukts ausmachen (vgl. die Tabelle über Umfang und Struktur der Dienstleistungsexporte der Gemeinschaftsländer bei Sperber, Wirtschaftsdienst 1988/III, S. 157/161 und dessen Angaben zur Verteilung des Exports auf einzelne Dienstleistungssektoren auf S. 161 f.). 40 Sperber, Wirtschaftsdienst 1988/ III, S. 157/158. 41 Beispiel: Banken. Vgl. Sperber, Wirtschaftsdienst 1988/III, S. 157 f., der auch noch auf andere statistik- bzw. bilanzierungsbedingte Verzerrungen hinweist. 42 Darüber kann auch die Tatsache nicht hinwegtäuschen, daß die Gemeinschaft 1986 mit einem Exportvolumen von rund 380 Milliarden US-$ noch rund drei Viertel des internationalen Dienstleistungsaustauschs erbrachte. Im gleichen Jahr betrugen die Warenexporte der Mitgliedstaaten insgesamt etwa 790 Milliarden US-$ = ca. 40% des Weltwarenhandels, wovon jedoch mehr als die Hälfte auf den EG-Binnenhandel entfiel (Sperber, Wirtschaftsdienst 1988/ III, S. 157/159). 43 Allerdings mit der unbestreitbaren Gefahr eines weiteren Zurückfaliens der europäischen Randregionen, vgl. Sperber, Wirtschaftsdienst 1988 / III, S. 157/161.

3*

36

1. Kap.: Wirtschaftlicher Hintergrund

III. Weltwirtschaftliehe Bedeutung

1. Skizze der wirtschaftlichen Entwicklung Die wachsende Bedeutung des tertiären Sektors in den meisten Volkswirtschaften führte im Zusammenspiel mit deren zunehmender außenwirtschaftlicher Verflechung zwangsläufig zu einer Zunahme des internationalen Dienstleistungsverkehrs, die aber noch nicht der Entwicklung im Binnenbereich gleichkommt. Nur etwa 8 -10 % aller erzeugten Dienstleistungen werden grenzüberschreitend gehandelt 44 • Allerdings ist die Entwicklung außerordentlich diffus, und es lassen sich für einzelne Staaten und Staatengruppen einerseits sowie in den verschiedenen Dienstleistungsbereichen andererseits stark divergierende Entwicklungstendenzen feststellen, die hier nicht im einzelnen nachgezeichnet werden können 45. Insgesamt gesehen ist seit Mitte der siebziger Jahre beim Dienstleistungsaustausch ein stärkeres Anwachsen feststellbar als beim Warenverkehr. Dabei war innerhalb der Gruppe der Industriestaaten bei den USA und Großbritannien bis in die frühen achtziger Jahre eher ein Schrumpfen der Marktanteile zu verzeichnen, während Frankreich, Belgien / Luxemburg und Japan an Terrain gewannen. 1981 machten Dienstleistungen einen Anteil von 29,4 % am gesamten Welthandel mit Waren und Dienstleistungen aus, wobei den Kapitalerträgen offenbar die wesentlichste Bedeutung zukam 46. Nicht zuletzt bei den Dienstleistungen macht sich auch der Abstand zwischen Industrieländern und Entwicklungsländern bemerkbar, in denen der Anteil des tertiären Sektors am Bruttosozialprodukt und die Einnahmen aus dem Handel mit Dienstleistungen in der Regel niedriger sind, wobei aber im Bereich des Außenhandels Aufholtendenzen der Entwicklungsländer feststellbar sind 47 • Gegenwärtig stammen gut drei Viertel der Dienstleistungsausfuhren aus Industrieländern, wobei die USA mit einem Anteil von rund 10 % Spitzenreiter sind 48 • Vgl. Schultz, Dienstleistungen und GAlT, S. 152/156. Näher Petersen u.a., Der internationale Handel mit Dienstleistungen. Namentlich der Anteil der Dienstleistungen an der Gesamtausfuhr von Gütern und Diensten ist in den einzelnen Staaten sehr unterschiedlich, ohne daß sich ein durchgehender Zusammenhang zwischen dem technischen Entwicklungsstand einer Gesellschaft und ihren Dienstleistungsexporten erkennen ließe (vgl. die Tabelle bei Schultz, Dienstleistungen und GAlT, S. 152/162 f.) 46 Näher Petersen u.a., Der internationale Handel mit Dienstleistungen, S. 16.,43 ff., dort auch zur globalen Struktur des internationalen Dienstleistungsverkehrs und zur Entwicklung in einzelnen Staaten (insbesondere die Tabellen auf S. 52 f.). - Nach Schultz, Dienstleistungen und GAlT, dürfte der Anteil des Dienstleistungsexports bei gegenwärtig etwa 25 - 30% des gesamten Welthandels liegen. 47 Näher Petersen u.a., Der internationale Handel mit Dienstleistungen, S. 43 ff.; vgl. auch Berr I Reboud, RevMC 1985, S. 264/266. - Zur Entwicklung in den Ostblockstaaten, in denen der Dienstleistungssektor noch relativ schwach ausgeprägt ist, insbesondere Shelp, Beyond Industrialization, S. 41 ff. In der UdSSR lag der Anteil der Beschäftigten im Dienstleistungssektor 1985 bei wenig über 40% (vgl. EG-Kommission [Hrsg.], Diagramme der Europäischen Gemeinschaft, Stichwort Europa Nr. 1-2/1988, S. 18. 44

45

B. Der wachsende Anteil des tertiären Sektors

37

Im Rahmen der internationalen Arbeitsteilung wird eine verstärkte Ausrichtung der (häufig rohstoffarmen) Industrieländer auf den Dienstleistungsbereich für notwendig und sinnvoll gehalten 49 • Gerade für die EG als heute größter Handelsmacht der Welt 50 wird es wichtig sein, sich auch in diesem Bereich zu behaupten.

2. Eine Welthandelsordnung für Dienstleistungen? Obgleich der tertiäre Sektor den Bereich der Warenproduktion in vielen wichtigen Industrieländern längst überflügelt hat und auch den Handel immer stärker prägt, gibt es bislang auf internationaler Ebene noch keinen rechtlichen Ordnungsrahmen für den Handel mit Dienstleistungen 51 • Neben einer Anzahl von bilateralen Abkommen 52 gab es noch einige spärliche Bemühungen um multilaterale Regelungen. Die Aktivitäten etwa der OECD in dieser Richtung in den siebziger Jahren waren jedoch wenig erfolgreich 53. Die Ausweitung des internationalen Dienstleistungsverkehrs führte schließlich zum gegenwärtigen Versuch, eine multilaterale Regelung im Rahmen von GATI zu erreichen, das sich bislang nur in sehr eingeschränktem Umfang auf Dienstleistungen bezieht 54. Nicht zuletzt auf intensive Bemühungen der USA um eine solche Regelung seit Mitte der siebziger Jahre und verstärkt seit Beginn der achtziger Jahre 55 ist es zurückzuführen, daß im Rahmen der Uruguay-Runde des GATI, die gerade ihre Halbzeit erreicht hat, u.a. über eine umfassende Rahmenordnung für den grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehr verhandelt wird 56. An dieser Runde ist auch die EG mit eigenen Vorschlägen beteiligt 57.

Schultz, Dienstleistungen und GATI, S. 152/156. Petersen u.a., Der internationale Handel mit Dienstleistungen, S. 184, 205. 50 UNO-Statistiken zufolge lag der Anteil der Gemeinschaft am Welthandel 1986 bei 19% gegenüber 17% für die USA und 10% für Japan. Im selben Jahr gingen bereits 31,5% der EG-Ausfuhren in die dritte Welt (EG-Kommission [Hrsg.l, Die EG in der Welt, Stichwort Europa Nr. 16/1988, S. 2, 5). 51 Zu den Ursachen für dieses Manko Senti, Außenwirtschaft 1988, S. 367/368. 52 Vgl. Shelp, Beyond Industrialization, S. 155 ff. 53 Eingehend Shelp, Beyond Industrialization, S. 127 ff. 54 Bereits in der Tokio-Runde wurden Einzelaspekte des Dienstleistungssektors am Rande behandelt und z.T. in den verabschiedeten Kodizes mitberücksichtigt, vgl. Schultz, Dienstleistungen und GATI, S. 152/161 m. w.N.; Shelp, Beyond Industrialization, S. 150 ff. 55 Dazu Malmgren, The World Economy 1985, S. 11 ff. 56 Die Absicht, über diesen Bereich zu verhandeln, wurde bereits in der Ministererklärung von Punta deI Este vom 20.9. 1986 in einem eigenen Abschnitt hervorgehoben (Erklärung z. B. abgedruckt in CMLRev 1988, S. 108 ff., der die Dienstleistungen betreffende Teil auf S. 115). Näher zu diesem Aspekt der Verhandlungen Schultz, Dienstleistungen und GATI, 1987; Randhawa, JWTL 1987 Nr. 4, S. 163 ff.; Bellis / Vermulst / Musquar, JWT 1988 Nr. I, S. 47/61 ff.; Jackson, The World Economy 1988, S. 187 ff.; Hailbronner / Bierwagen, JA 1988, S. 318/328 f., Simmonds, CMLRev 1988, S. 95 ff., insbes. S. 105 f.; Nayyar, JWT 1988 Nr. 5, S. 35 ff.; Nicolaides, JWT 1989 Nr.l, S. 125 ff., jeweils m. w.N. 48 49

38

1. Kap.: Wirtschaftlicher Hintergrund

Die zu lösenden Probleme einer solchen Vereinbarung liegen vornehmlich im Bereich des aktiven Dienstleistungsverkehrs und der Korrespondenzdienstleistungen, wenn also das Produkt selbst bzw. sein Erbringer die Grenze überschreiten und dabei auf Handelshemmnisse treffen. Hier stehen sich gegenwärtig die unterschiedlichen Vorstellungen der Industriestaaten und der Entwicklungsländer gegenüber. Letztere befürchten bei einer Marktöffnung Wettbewerbsvorteile für die Industriestaaten, einen erhöhten Importdruck, die Bedrohung ihres nationalen Dienstleistungspotentials und eine Überfremdung wichtiger Branchen wie Banken, Versicherungen und Nachrichtenwesen 58 • Weitere Probleme ergeben sich aus dem Zusammenhang der Dienstleistungsverhandlungen mit anderen Gegenständen der Verhandlungs runde, namentlich der geplanten Vereinbarung über den Schutz geistigen Eigentums. Da die spezifischen Schwierigkeiten des Dienstleistungssektors vielfach anders gelagert sind als beim Warenverkehr, wird die Regelung jedenfalls anders aussehen müssen als dort. Angesichts seiner Heterogenität wird es sich kaum vermeiden lassen, für einzelne Bereiche, insbesondere für die Finanzdienstleistungen (Banken, Versicherungen) besondere Regelungen zu finden. Ob überhaupt eine Einigung zustandekommen wird und welchen Inhalt materieller und verfahrensrechtlicher Art sie haben wird, läßt sich gegenwärtig noch nicht absehen. Gerade das Scheitern der konfliktgeladenen "Halbzeitkonferenz" in Montreal vom 5. -9. Dezember 1988 hat gezeigt, daß in vielen Verhandlungs bereichen der Uruguay-Runde noch große Differenzen bestehen, was dazu führte, daß letztlich nur eine Fortführung der Verhandlungen für April 1989 in Genf vereinbart wurde. Vor allem die USA verfolgen eine außerordentlich harte Verhandlungsstrategie und haben insbesondere im Bereich der Agrarsubventionen einen Konfrontationskurs zur EG eingeschlagen, was entscheidend zum Scheitern der Konferenz beitrug. Immerhin hatte man sich im Verlauf der Gespräche im Bereich der Dienstleistungen auf ein Programm für den weiteren Fortgang der Verhandlungen geeinigt, dem nun auch die Entwicklungsländer zustimmten. Seine Verabschiedung erfolgte erst beim Treffen in Genf vom 5.-8. 4. 1989, bei dem dann doch eine umfassende Einigung für den weiteren Verlauf in allen Bereichen erzielt wurde 59. Dennoch ist aus heutiger Sicht keineswegs auszuschließen, daß am Ende der Gesamtrunde nur eine regionale oder sektorale Vereinbarung über Dienstleistungen zwischen einer relativ kleinen Gruppe von Industriestaaten stehen könnte, deren Interessen insoweit ohnehin ähnlich gelagert sind. 57

Die Leitlinien der EG-Vorschläge wurden bereits am 26. 11. 1987 bekanntgegeben

(Agence Europe, 27. 11. 1987, NT. 4668); vgl. auch Bellis I Vermulst I Musquar, JWT 1988, S. 47/62 ff. 58 Vgl. Nayyar, JWT 1988, S. 35 f. und Schultz, Dienstleistungen und GATT, S. 152/ 164 ff., der andererseits auch die zu erwartenden wirtschaftlichen Vorteile für die Ent-

wicklungsländer betont. 59 Text des Verhandlungsprogramms für Dienstleistungen in GATT-Newsletter NT. 61 (Mai 1989), S. 15 f.

2. Kapitel

Die Dienstleistungsfreiheit als Teil der Freizügigkeitsregelungen des EWGV - Ihr Beitrag zur Verwirklichung des Binnenmarktes und eines "Europas der Bürger" A. Die Dienstleistungsfreiheit vor dem Hintergrund der Verwirklichung des Binnenmarktes I. Stellung und Funktion der Dienstleistungsfreiheit im EWGV

Die Dienstleistungsfreiheit (Art. 59-66 EWGV) ist neben der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, der Niederlassungsfreiheit und der Freiheit des Kapitalverkehrs eine der vier Grundfreiheiten des EWGV, die von lpsen im Verein mit der Zollunion treffend als "Magna Charta" der Gemeinschaften bezeichnet worden sind I. Ihre Aufgabe ist es, in Verbindung mit den anderen Grundfreiheiten (vgl. Art. 3 c) EWGV), der Freiheit des Kapital- und Geldverkehrs, der Beseitigung technischer Handelshemmnisse und einer allmählichen Annäherung der Wirtschaftspolitik zur Schaffung eines großen einheitlichen Wirtschaftsraums 2 mit zumindest binnenmarktsähnlichen Verhältnissen im Bereich der EG entscheidend beizutragen. Hauptaufgabe der Dienstleistungsfreiheit ist also in erster Linie die Förderung einer marktwirtschaftlich orientierten gesamtwirtschaftlichen Entwicklung im Rahmen des liberalen Wirtschaftsmodells des EWGV. Während die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und das Niederlassungsrecht vor allem die freie Standortwahl für eine möglichst rentable wirtschaftliche Betätigung ermöglichen und damit längerfristig einer hohen Mobilität und optimalen Allokation der Produktionsfaktoren dienen sollen, bezweckt die Dienstleistungsfreiheit in ihrer wirtschaftlichen Funktion ebenso wie der freie Warenverkehr den möglichst ungehinderten Aus1 Ipsen, Der deutsche Jurist und das europäische Gemeinschaftsrecht, Schluß vortrag des 45. Deutschen Juristentages, Band 11, S. L 5/18. 2 1987 belief sich das Bruttoinlandsprodukt der Gemeinschaft zu Marktpreisen auf immerhin 3721,2 Milliarden ECU, wovon der höchste Einzelanteil (969,5 Mia. ECU) auf die Volkswirtschaft der Bundesrepublik Deutschland entfiel (Eurostat, Statistische Grundzahlen der Gemeinschaft, 26. Ausgabe 1989, S. 37). Nach dem Beitritt Spaniens und Portugals hat die Gemeinschaft mittlerweile über 320 Millionen Einwohner (EGKommission [Hrsg.], Diagramme der Europäischen Gemeinschaft, Stichwort Europa Nr. 1-2/1988, S. 3).

2. Kap.: Die Dienstleistungsfreiheit im EWGV

40

tausch von Produkten. Ziel ist ein möglichst unverfälschter Wettbewerb unter Beseitigung noch bestehender Preisgefälle bei einzelnen Produkten.

11. Die Bedeutung der Dienstleistungsfreiheit für die Verwirklichung des Binnenmarktes

Die Dienstleistungsfreiheit leistet einen bedeutenden Beitrag zur angestrebten Verwirklichung des Binnenmarktes bis zum Jahr 1992, ein Ziel, dessen Verwirklichung mit Einführung des Art. 8a EWGV3 und seiner Begleitvorschriften durch die Einheitliche Europäische Akte 1986 4 nach Phasen der Stagnation und der "Europaverdrossenheit"5 der siebziger Jahre nunmehr in greifbare Nähe gerückt ist. In dieser Bestimmung wird auch ausdrücklich der freie Verkehr von Dienstleistungen in den zu schaffenden Binnenmarkt (Raum ohne Binnengrenzen), das "Herzstück" der Integration, einbezogen. Auch die Dienstleistungsfreiheit wurde damit Teil des in den letzten Jahren neubelebten umfassenden Konzepts einer Realisierung des Binnenmarktes, das vor allem durch den im Weißbuch der Kommission vom Juni 1985 6 niedergelegten Plan neue Schubkraft erlangt und zu einer spürbaren "relance europeenne" geführt hat. Die Verwirklichung des Binnenmarktes soll sich insgesamt nicht mehr wie früher als "Sammelsurium technokratischer Einzelmaßnahrnen präsentieren, sondern als makroökonomischer Rahmen für die fälligen Strukturanpassungen zur Wiederherstellung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit"1, der innerhalb des neuen Zeitplans 8 durch einen umfassenden Abbau physischer, technischer 9 und Näher zu dieser Vorschrift Ehlermann, CMLRev 1987, S. 361/363 ff. AB!. 1987 L 169/l; BGB!. 1986 11, S. 1102; in Kraft seit 31. 7. 1987 (Bek. v. 31. 7. 1987, BGB!. 1987 11, S.451). Zur EEA gibt es mittlerweile ein reichhaltiges Schrifttum. Beispielhaft seien genannt Forwood I Clough, ELRev 1986, S. 383 ff.; Glaesner, unter anderem in YBEL 1986, S. 283 ff. und in: Schwarze (Hrsg.), Der Gemeinsame Markt. Bestand und Zukunft in wirtschaftsrechtlicher Perspektive, 1987, S. 9 ff.; Hrbek I Läufer, EA 1986, S. 173 ff.; Ehlermann, CMLRev 1987, S. 361 ff.; Bosco, CDE 1987, S. 353 ff.; Edward, CMLRev 1987, S. 19 ff.; Oppermann, Europäische Wirtschaftsverfassung nach der EEA, in: Müller-Graffl Zuleeg (Hrsg.), Staat und Wirtschaft in der EG (Bömer-Kolloquium), 1987, S. 53 ff.; de Ruyt, L'Acte Unique Europeen, 1987; Magiera, Die Einheitliche Europäische Akte und die Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaft zur Europäischen Union, FS Geck, 1989, S. 507 ff. - Sehr kritisch zur EEA namentlich Pescatore, u.a. in EuR 1986, S. 153 ff. und CMLRev 1987, S. 9 ff. 5 Winkel, NJW 1975, S. 1057. 6 Vollendung des Binnenmarktes - Weißbuch der Kommission an den Europäischen Rat vom Juni 1985, KOM (85) 310 (zur Dienstleistungsfreiheit insbesondere Ziff. 95 ff.); hierzu z. B. Beuter I Pelkmans, Jahrbuch der Europäischen Integration 1985 (1986), S. 149 ff. 7 von Moltke, Jahrbuch der Europäischen Integration 1984 (1985), S. 143. 8 Vg!. den (z.T. überholten) Zeitplan 1985-1992 im Anhang zum Weißbuch, insbes. Abschnitt 4 (Dienstleistungen) und zum gegenwärtigen Stand den Halbzeitbericht der Kommission vom November 1988, KOM (88) 650 endg. 3

4

A. Verwirklichung des Binnenmarktes

41

steuerlicher Schranken verwirklicht und durch eine zunehmende Konvergenz flankierender politischer Maßnahmen ergänzt werden soll 10. Eine engere Kooperation soll dabei insbesondere im Bereich der Wirtschafts- und Währungspolitik, aber auch der Forschungs- und Umweltpolitik 11 erreicht werden. Hinzu kommt die Einführung eines weiteren Titels in den EWGV, der in vorsichtiger Weise die regionalpolitische Stärkung des "Wirtschaftlichen und Sozialen Zusammenhalts" zum Gemeinschaftsziel erhebt 12. Eine häufig notwendige, gelegentlich auch fragwürdige Ergänzung dieser Aktivitäten der gemeinschaftlichen Legislativ- und Exekutivorgane zur Verwirklichung des Binnenmarktes bildet die integrationsfreundliche und einer "dynamischen" Vertragsauslegung verpflichtete Rechtsprechung des EuGH im Bereich des freien Personenverkehrs und nicht zuletzt auch zur Dienstleistungsfreiheit. Sie leistete in einer zahlenmäßig relativ kleinen, inhaltlich aber häufig bedeutsamen Reihe von Urteilen eigenständige Beiträge zur Liberalisierung in diesem Bereich 13. Als ein "Paradebeispiel" kann die grundsätzliche Anerkennung der passiven Dienstleistungsfreiheit im Urteil "Luisi und Carbone" 14 genannt werden. Der sog. "Cecchini-Bericht" vom Februar 1988 15 zeigt die wirtschaftlichen Chancen auf, die eine Verwirklichung des Binnenmarktes in den neunziger Jahren mit sich brächte. Er verdeutlicht in einem eigenen Kapitel die zentrale Rolle des 9 Zur neuen Konzeption der EG in diesem Bereich neuestens EG-Kommission (Hrsg.), Die Beseitigung der technischen Handelshemmnisse, Stichwort Europa Nr. 18/1988, S. 5 ff. 10 Einen Überblick über die zahlreichen "flankierenden Politiken" der EG (z. B. Umwelt- und Katastrophenschutz, Regionalpolitik, Krankheits- und Seuchenbekämpfung etc.) gibt das Arbeitsprogramm der Kommission für 1988, Bull.EG Beilage 1/1988, S. 38 ff. 11 Beide Bereiche sind durch die EEA in den EWGV einbezogen worden (Art. 130f ff. und 130r ff.). 12 Neuer Titel V. im Dritten Teil des EWGV (Art. 130a ff.). Dazu Oppermann, Europäische Wirtschaftsverfassung nach der EEA, in: Müller-Graff /Zuleeg (Hrsg.), Staat und Wirtschaft in der EG (Bömer-Kolloquium), 1987, S. 53/66 ff. 13 Seit Gründung der EWG ergingen im Bereich der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit bis Ende 1988 lediglich 74 Urteile (allerdings mit steigender Tendenz). Demgegenüber ergingen 331 Urteile im Bereich Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die vornehmlich der Auslegung und Entfaltung der umfangreichen sekundärrechtlichen Regelungen dienten, und 429 Entscheidungen im Bereich freier Warenverkehr / Zollunion (vgl. EG-Kommission (Hrsg.), 22. Gesamtbericht 1988, Anhang zu Kapitel IV, S. 469). 14 Rs. 286/82 und 26/83, EuGHE 1984, 377. Dazu vor allem S. 67 ff. 15 Paolo Cecchini, Europa '92: Der Vorteil des Binnenmarkts, deutsche Fassung Baden-Baden 1988. Kritisch hierzu etwa Seidel, Integration 1988, S. 167/175 ff., der eine aktuelle Übersicht über die wissenschaftliche Diskussion zur Verwirklichung des Binnenmarktes (insbesondere in ordnungs-, finanz- und währungspolitischer Hinsicht) bietet. - Eine noch ausführlichere Analyse bietet die mehrbändige, von der Kommission herausgegebene Reihe ,,Research on the ,Cost of Non-Europe"', welche die volkswirtschaftlichen Auswirkungen einer Verwirklichung des Binnenmarktes durch Beseitigung noch bestehender Handelshemrnnisse und Marktzugangsschranken für einzelne Sektoren analysiert.

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2. Kap.: Die Dienstleistungsfreiheit im EWGV

Dienstleistungssektors in der europäischen Wirtschaft und für die Verwirklichung des Binnenmarktes und zeigt in einer eingehenden Analyse eindrucksvoll auf, weIche enormen Kostenvorteile durch eine weitergehende Beseitigung der Handeishemmnisse gerade im Dienstleistungssektor erzielt werden könnten, was zu bedeutenden Einsparungen für die Unternehmen und letztlich auch zu Preissenkungen für die Verbraucher führen würde l6 • Daher wird nunmehr auch dem Dienstleistungssektor, früher "Aschenputtel des Binnenmarkts" 17, die seinem wirtschaftlichen Potential entsprechende Aufmerksamkeit gewidmet 18. Bereits in einer Studie der Kommission aus dem Jahr 1984 waren die Vorteile einer Liberalisierung verschiedener Dienstleistungsbranchen (namentlich Versicherungen, Banken, Bau-, Hotel- und Gaststättengewerbe, Informationsdienstleistungen, Rundfunk) aufgezeigt worden. 19 Im Halbzeitbericht der Kommission zur Verwirklichung des Binnenmarktes vom 17. November 1988 20 konnten mittlerweile bei der Liberalisierung im tertiären Sektor bedeutende Fortschritte (insbesondere im Hinblick auf die Finanzdienstleistungen) vermeldet werden 21. Auch die passive Dienstleistungsfreiheit trägt zur Verwirklichung des Binnenmarkts bei. Nicht nur der Erzeuger, sondern auch der - private oder gewerbliche - Nachfrager von Dienstleistungen muß in einem einheitlichen Wirtschaftsraum ungehinderten Zutritt zu anderen Mitgliedstaaten haben, um sich vor Ort über das Leistungsangebot zu informieren, die ihm geeignet erscheinende Leistung auszuwählen, in Anspruch zu nehmen und zu bezahlen. Durch die passive Dienstleistungsfreiheit ist ihm die Möglichkeit gegeben, zu diesem Zweck in einen anderen Mitgliedstaat ungehindert einzureisen, sich dort frei zu bewegen und wieder auszureisen, ohne sich dabei auf ein anderes Freizügigkeitsrecht des 16 Vgl. speziell zum Dienstleistungssektor vor allem die Tabellen 6.1 und 6.2 auf S. 65. - Insgesamt gesehen verspricht sich der Bericht von der Schaffung des Binnenmarktes neben einer deutlichen Zunahme der Wirtschaftstätigkeit und einer Dämpfung der Inflation auch eine Entlastung der öffentlichen Haushalte, eine Verbesserung der außenwirtschaftlichen Position und die Schaffung neuer Arbeitsplätze (vgl. im einzelnen S. 131). Die Kommission rechnet sogar mit Einsparungen für die Unternehmen in Höhe von rund 200 Milliarden ECU und mittelfristig mit der Schaffung von 2 - 5 Millionen neuen Arbeitsplätzen sowie einem Wirtschaftswachstum von 5 -7% (EG-Kommission [Hrsg.], Der große europäische Markt: die große Chance für Wirtschaft und Beschäftigung, Stichwort Europa Nr. 14/1988, S. 3 ff.). 17 EG-Kommission, Vollendung des Binnenmarktes: Ein Raum ohne Binnengrenzen. Bericht über den Stand der Arbeiten gern. Art. 8b EWGV, KOM (88) 650. 18 EG-Kommission (Hrsg.), Weißbuch zur Vollendung des Binnenmarkts, insbes. Ziff. 95. 19 EG-Kommission (Hrsg.), La perception du secteur prive des services. Des interets communautaires pour une liberalisation du commerce international des services. 20 KOM (88) 650 endg. 21 Vgl. vor allem den umfassenden Überblick über geplante und bereits verwirklichte Maßnahmen im Dienstleistungssektor in: EG-Kommission (Hrsg.), Ein Gemeinsamer Markt für Dienstleistungen, 1989 (Stand: März 1989) und den 4. Bericht zur Durchführung des Weißbuchs vom 20.6. 1989, KOM (89) 311 endg., S. 22 ff.

A. Verwirklichung des Binnenmarktes

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EWGV berufen zu müssen 22. Durch sie kann er auch die zur Bezahlung der in Anspruch genommenen Dienstleistungen erforderlichen Zahlungsmittel ohne Beschränkung aus- bzw. einführen 23. III. Ausblick: Die weitere Entwicklung aus der Perspektive des "Halbzeitstands" bei der Verwirklichung des Binnenmarktes

Die Komplexität der mit der Verwirklichung des Binnenmarkts verbundenen (teils technischen, teils grundsätzlichen 24) Probleme und die unvermeidlichen Divergenzen zwischen den Mitgliedstaaten fordern allerdings ihren Tribut in Form zeitlicher Verzögerungen. Wie gewohnt hinkt die Realität dem in den europäischen Vorhaben gezeichneten großartigen Bild in einigem Abstand hinterher. So verlief die Verwirklichung des im Weißbuch vorgezeichneten Programms anfangs eher schleppend 25, was zum einen an der zögerlichen Behandlung vieler Kommissionsvorschläge durch den Rat, zum anderen an den komplizierten Verfahrensvorschriften für gewisse Rechtsakte lag, die durch die EEA eingefügt wurden. Immerhin lagen bis zur "Halbzeit" Ende 1988 90% der für notwendig erachteten 279 Rechtsakte bereits in Form konkreter Vorschläge vor und auch das Tempo des Rates scheint zuzunehmen: Am 31. 5.1989 hatte der Rat 127 Vorschläge verabschiedet. Rechnet man die Bereiche hinzu, in denen bereits in Form eines "gemeinsamen Standpunktes" eine politische Einigung erzielt wurde, kommt man auf ein bewältigtes Pensum von mehr als der Hälfte des Gesamtprogramms 26 • Das gegenüber früheren Jahren geschicktere und flexiblere Vorgehen der Kommission und die enorme psychologische Ausstrahlungswirkung des Zieldatums 1992 27 läßt gegenwärtig ohne übertriebenen Optimismus hoffen, daß bis dahin ein Großteil der angestrebten Ziele erreicht werden kann, so daß nach gegenwärtigem Stand der Dinge zwar mit einer Überschreitung des gesteckten zeitlichen Rahmens, nicht aber mit einem Scheitern des Gesamtprojekts zu rechnen ist 28 • Seine Vollendung und die künftige Entwicklung der GeNäher u. 7. Kapitel. Näher u. 6. Kapitel D. 24 Etwa die fortschreitende Ausweitung der Gemeinschaftskompetenzen bei gleichzeitiger Einengung nationaler Zuständigkeiten, vgl. Seidel, EA 1987, S. 553 ff. 25 Vgl. Krämer, Rechtliche Aspekte und Probleme der Vollendung des EG-Binnenmarktes, S. 66 f. und die ersten beiden Berichte der Kommission über die Durchführung des Weißbuchs vom 26. 5. 1985, KOM (86) 300 endg. und vom 19.5. 1987, KOM (87) 203 endg. 26 4. Bericht der Kommission vom 20. 6. 1989 über die Durchführung des Weißbuchs zur Vollendung des Binnenmarkts, KOM (89) 311 endg. Zur - recht zögerlichen Umsetzung durch die Mitgliedstaaten vgl. KOM (89) 422 endg. vom 7.9. 1989. 27 Zur rechtlichen Bedeutung der vertraglichen Fixierung dieser Frist in Art. 8a EWGV Krämer, Rechtliche Aspekte und Probleme der Vollendung des EG-Binnenmarktes, S. 4 ff., der im Hinblick auf die Erklärung der Konferenz zu Art. 8a eine rechtliche Bindungswirkung bzw. eine "automatische" rechtliche Wirkung des Fristablaufs verneint. 28 Wallace, EA 1988, S. 583 ff. 22 23

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2. Kap.: Die Dienstleistungsfreiheit im EWGV

meinschaft werden jedenfalls weiterhin vom diffizilen und mühseligen Ausgleich nationaler und europäischer Interessen geprägt sein, wobei es, um eine prägnante Formulierung Hans von der Groebens aufzugreifen, vor allem auf die Wahrung des stets gefährdeten "prekären Gleichgewichts zwischen dem Gemeinsamen Markt und den nationalen Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen" ankommen wird. Weitergehende Bemühungen um eine verstärkte Integration auch auf institutioneller Ebene fanden im kühnen Verfassungsentwurf des Europäischen Parlaments vom 14.2. 1984 29 ihren deutlichsten Ausdruck. Von alledem fand allerdings nur ein recht geringer Teil in das Reformwerk der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 Eingang 30• Ob, wann und in welchen Formen das bereits in der Stuttgarter "Feierlichen Deklaration zur Europäischen Union" vom 19.6. 1983 31 beschworene und nunmehr in der EEA festgeschriebene 32 Fernziel einer - inhaltlich noch weitgehend unbestimmten - "europäischen Union" 33 erreicht werden wird, ist augenblicklich noch völlig unabsehbar.

B. Die passive Dienstleistungsfreiheit und das "Europa der Bürger" I. Aktivitäten und Initiativen in der Gemeinschaft

Neben dieser - dem vorwiegend ökonomischen Blickwinkel des EWGV entsprechenden - wirtschaftlichen Betrachtungsweise sind in den vergangenen Jahren auch die menschlichen und sozialen Dimensionen des Zusammenwachsens der Mitgliedstaaten mehr und mehr in das Blickfeld europarechtlicher Bemühungen getreten 34 • Namentlich die beiden Berichte des 1984 vom Europäischen Rat 29 Entwurf eines Vertrages zur Gründung der Europäischen Union, ABI. 1984 C 77 / 33 (mit einer ausschließlichen Zuständigkeit der Union zur Vollendung und Sicherung des freien Dienstleistungsverkehrs in Art. 47 Abs. 1); dazu Capotortil Hilf / Jacobs / Jacque, Le Traite d'Union Europeen. Commentaire du projet adopte par le Parlement Europeen, 1985.; Everling, Integration 1984 Nr. 1, S. 12ff = Ausgewählte Aufsätze, S. 129 ff. (zum Vorentwurf vom 14.9. 1983); BBPS-Bieber, S. 557. Zur neueren Entwicklung der institutionellen und der Verfassungs-Diskussion Ipsen, EuR 1987, S. 195 ff., insbes. S. 200 ff. und Läufer, EA 1988, S. 679 ff. 30 VgI. Sidjanski, Revue d'Integration Europeen 1987, S. 109 ff. 31 EA 1983, S. D 420 ff. Dazu Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht in Einzelstudien, S. 53 ff. 32 Art. 1 EEA. 33 Zur Entwicklung dieses Gedankens in der gemeinschaftsrechtlichen Diskussion etwa Jacque, Vers L'Union Europeen, 1985; von der Groeben, Legitimationsprobleme der Europäischen Gemeinschaft, 1987, insbes. S. 117 ff. und die Beiträge in Schwarze / Bieber (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa, 1984, sowie die dort im Anhang abgedruckten Dokumente. 34 Zu den Anfangen dieser Entwicklung in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren EG-Kommission, Bull.EG, Beil~ge 7/1975 und Bieber, EuGRZ 1978, S. 203 ff.; zur weiteren Entwicklung Magiera, DOV 1987, S. 223 f.

B. Europa der Bürger

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in Fontainebleau eingesetzten ad-hoc-Ausschusses "Europa der Bürger" (nach seinem Vorsitzenden "Adonnino-Ausschuß" genannt) 35, lieferten wertvolle Anregungen und Vorschläge für Tätigkeiten, welche die Gemeinschaft "menschlicher und bürgernäher" machen sollen. Obgleich diese Überlegungen allgemeinen Beifall fanden und die Kommission ihre Verwirklichung in vielen Bereichen energisch vorantreibt 36 , wurde die Gelegenheit einer vertraglichen Institutionalisierung des "Europas der Bürger" im Rahmen der EEA allerdings verpaßt. Nicht zuletzt die gemeinschaftlichen Regelungen über den freien Personenverkehr werden heute mehr und mehr in ihrem Zusammenhang mit den Ansätzen zu einer gemeinschaftlichen Sozialpolitik 37 , einem gemeinschaftsweiten Ausbau des Umwelt- und Verbraucherschutzes, den kulturellen Aspekten Europas und einem Bündel anderer, z.T. über die bestehenden Handlungsermächtigungen des EWGV hinausgehenden Gemeinschaftsaktivitäten gesehen. Sie sind Ausdruck einer neuen "Gemeinschaftsphilosophie", die gegenwärtig - unter den integrationspolitischen Leitbegriffen "europäischer Wirtschafts- und Sozialraum" und insbesondere "Europa der Bürger" 38 schlagwortartig zusammengefaßt - allmählich festere Konturen gewinnt 39 • Der Kern ihrer Motivation wurde kürzlich von Magiera prägnant zusammengefaßt: "Eine Gemeinschaft, deren Mitgliedstaaten sich untereinander immer enger zusammenschließen und der sie immer mehr Kompetenzen übertragen, kann sich deshalb auf Dauer nicht damit zufriedengeben, akzeptable Leistungen für den Bürger zu erbringen; sie muß vielmehr den Bürger selbst in den Integrationsprozeß einbeziehen, damit er die Gemeinschaft nicht nur als eine gute, sondern auch als seine Sache betrachtet." - Auch vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen ist die Anerkennung der passiven Dienstleistungsfreiheit durch den EuGH zu sehen und eine Bewertung ihrer Reichweite und inhaltlichen Ausgestaltung vorzunehmen. 35 Bull.EG, Beil. 7/1985. Der erste Bericht vom März 1985 führte konkrete Maßnahmen auf, durch die der einzelne Bürger beruflich und privat die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht in anderen Mitgliedstaaten besser in Anspruch nehmen könnte. Der zweite Bericht vom Juni 1985 befaßte sich mit neuen politischen, kulturellen und sozialen Dimensionen für die Gemeinschaft. 36 Vgl. zur bisherigen Verwirklichung der Vorschläge ABI. 1988 C 325/46 f. (Antwort der Kommission vom 8. 11. 1988 auf eine entsprechende Anfrage). 37 Welche Bedeutung man auch der Koordinierung der einzel staatlichen Sozialpolitiken insbesondere im Rahmen der Art. 117 EWGV beimißt, verdeutlicht die Einführung der neuen Art. 118a und 118 b durch die EEA, wodurch auch die Verbesserung der Arbeitsumwelt und der Dialog zwischen den Sozialpartnern in das Tätigkeitsfeld der EG einbezogen wurden. 38 Ansätze hierzu bereits bei Grabitz, Europäisches Bürgerrecht zwischen Marktbürgerschaft und Staatsbürgerschaft, 1970; neuere Stellungnahmen bei BBPS-Streil, S. 302 ff.; Magiera, DÖV 1987, S. 221ff; Oppermann, Europarecht, Rz. 1463 ff. pass.; ders., Vom Marktbürger zum EG-Bürger?, in: Nicolaysen/Quaritsch (Hrsg.), Lüneburger Symposion für Hans Peter Ipsen, 1988, S. 87 ff. 39 Neuere Übersichten in EG-Kommission (Hrsg.), 20. Gesamtbericht 1986, S. 136 ff.; 21. Gesamtbericht 1987, S. 129 ff.; 22. Gesamtbericht 1988, S. 140 ff. und die Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament zum "Europa der Bürger" vom 7.7. 1988, KOM (88) 331 endg., Bull.EG Beilage 2/1988.

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2. Kap.: Die Dienstleistungsfreiheit im EWGV

Einige der in diese Richtung zielenden Pläne wurden bereits verwirklicht: Die Direktwahl des Europäischen Parlaments 4O, die besondere Kennzeichnung der gemeinschaftlichen Binnengrenzen 41, die Einführung eines europäischen Passes 42 und Führerscheins 43. Der symbolischen Repräsentation europäischer Einheit 44 dienen im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft u. a. die Einführung einer Europahymne 45 , einer Europafahne 46 und eines Europatags 47 • 40 Beschluß und Akt des Rates vom 20. 9. 1976 zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten der Versammlung (ABI. 1976 L 278/1). Im Gegensatz zum geplanten EG-weiten Kommunalwahlrecht für Ausländer gab es für die Gewährung dieses politischen Rechts eine ausdrückliche Ermächtigung im EWGV (Art. 138 Abs. 3 EWGV). Es bleibt den Mitgliedstaaten nach wie vor überlassen, ob sie ausländische EG-Angehörige an den Direktwahlen teilnehmen lassen (dazu Evans, ICLQ 1981, S. 20/ 36). - Für die Bundesrepublik Deutschland gilt das Europawahlgesetz vom 16. 6. 1978, BGB!. I, S.709 = HER I A 17/20 i.V. m. der Europawahlordnung vom 27.7. 1988, Saßl. 1988, S. 1683. Ausländische EG-Angehörige sind in der Bundesrepublik nach wie vor nicht wahlberechtigt. 41 Vgl. Van der Woude / Mead, CMLRev 1988, S. 117/133 und 120 Fn. 13. 42 Entschließungen der Vertreter der Mitgliedstaaten zur Schaffung eines einheitlichen Passes vom 23.6.1981 (ABI. 1981 C 241/1; ergänzt durch Entschließung vom 30. 6. 1982, ABI. 1982 C 179/1). In der Präambel wird das Bestreben hervorgehoben, "den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten auf jede erdenkliche Weise verstärkt das Gefühl zu geben, daß sie ein und derselben Gemeinschaft angehören". Der Paß sollte ursprünglich ab 1. 1. 1985 ausgestellt werden, wurde aber nur von Dänemark, Irland und Luxemburg fristgerecht eingeführt (vgl. Göldner, Politische Symbole der europäischen Integration, 1988, S. 219). Mittlerweile ist der Paß in allen Mitgliedstaaten mit Ausnahme Großbritanniens, das Anfang 1989 folgen soll, eingeführt. Näher zum Ganzen Denza, RevMC 1982, S. 489 ff.; Stigi, VJIL 1987, S. 369/383 ff.; Göldner, Politische Symbole der europäischen Integration, 1988, S. 208 ff. und und KOM (88) 331 endg., Ziff. 2.2.2 (S. 5 f.). - Zur Gültigkeitsdauer und den Gebühren Auskunft der Kommission vom 9. 9.1988, ABI. 1989 C 111/5. 43 Ratsentschließung vom 4. 12. 1980 bezüglich der Einführung eines Gemeinschaftsmodells eines Führerscheins und der gegenseitigen Anerkennung der nationalen Führerscheine, ABI. 1980 L 375/1; dazu Grabitz-Frohnmeyer, Art. 74 Rz. 54. - Italien (Rs. 419/85, Urt. v. 7.5.1987) und Belgien (Rs. 9/86, Urt. v. 12.3. 1987) wurden wegen nicht rechtzeitiger Durchführung der RL verurteilt. Die übrigen Mitgliedstaaten haben sie durchgeführt (Fünfter Jahresbericht der Kommission über die Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts 1987, KOM (88) 425 endg., ABI. 1988 C 310, S. 1 ff., S. 109). - Zu einem weitergehenden Modell nunmehr der Vorschlag der Kommission in KOM (88) 705 endg., ABI. 1989 C 48/1. 44 Dazu ausführlich Göldner, Politische Symbole der europäischen Integration, 1988, der auch die entsprechenden Entwicklungen im Rahmen des Europarates darstellt, die häufig Vorläufer der gemeinschaftlichen Initiativen waren, und Bull.EG, Beilage 2/ 1988, S. 8 ff. 45 Ludwig van Beethovens Vertonung von Friedrich Schillers "Ode an die Freude" (4. Satz der 9. Symphonie), seit 1972 Europahymne des Europarats, ist nunmehr auch die offizielle Hymne der Europäischen Gemeinschaft. Thre amtliche Premiere fand am 29.5. 1986 anläßlich der Einweihung der Europafahne in Brüssel statt. Näher Göldner, Politische Symbole der europäischen Integration, 1988, S. 128 ff., insbes. 141 f. und und KOM (88) 331 endg., Ziff. 2.2.1 (S. 5 f.) 46 Am 21. 4. 1986 stimmte der Rat einer Entschließung des EP vom 11. 4. 1983 zu, die 1955 durch die Parlamentarische Versammlung des Europarates eingeführte Europafahne, die auf blauem Tuch einen Kranz von 12 goldenen Sternen aufweist, zur Fahne der Europäischen Gemeinschaft zu machen, vgl. Göldner, Politische Symbole der euro-

B. Europa der Bürger

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Andere Maßnahmen sind z. T. konkret geplant, wurden teils aber auch nur vorgeschlagen und befinden sich derzeit noch (mit unterschiedlichen Verwirklichungschancen) in der Diskussion: Die Verringerung bzw. völlige Abschaffung sämtlicher Kontrollen an den EG-Binnengrenzen 48 ; die Schaffung einer eigenen "EG-Staatsangehörigkeit" oder "Unionsbürgerschaft" 49; die Gewährung eines allgemeinen, von einer Erwerbstätigkeit unabhängigen Aufenthaltsrechts für alle EG-Bürger 50; die Ausgabe gemeinschaftsweit gültiger Briefmarken 51 • All diese Aktivitäten gelten vornehmlich der Bildung eines "europäischen Bewußtseins" in der Bevölkerung der Mitgliedstaaten, das über die Beeinflussung des täglichen Lebens durch die Gemeinschaft sensibilisiert werden soll. Daneben möchte man auch ein lebendigeres Bewußtsein des gemeinsamen christlich-abendländischen Kulturerbes wecken 52, was durch eine Vielfalt von Maßnahmen 53 wie z. B. das päischen Integration, 1988, S. 33 ff. (zur Vorgeschichte im Europarat), S. 90 ff. (zur Entwicklung in der EG), S. 125 (zur endgültigen Zustimmung des Rates) und KOM (88) 331 endg., Ziff. 2.2.1 (S. 5 f.), sowie Bieber, die Flagge der EG, FS Geck, 1989, S. 59 ff. 47 Der 9. Mai ist in Erinnerung an die historische Erklärung Robert Schumanns vom 9. 5. 1950 der Europatag der Europäischen Gemeinschaft. Er ist bislang Feiertag der Bediensteten des Rates und der Kommission (ABI. 1984 C 127/5). Näher Göldner, Politische Symbole der Europäischen Intgration, 1988, S. 153 ff. Vgl. auch EG-Kommission (Hrsg.), Europäische Identität: im Symbol, im Sport ... [sic] , Stichwort Europa Nr. 6/1987, S. 4 f. 48 Dazu näher 7. Kapitel A IV. 49 Vgl. bereits Grabitz , Europäisches Bürgerrecht, 1971, S. 111 f. (mit dem Gedanken eines "europäischen Indigenats"), und neuestens die zurückhaltende Bestandsaufnahme Oppermanns, Sinn und Grenzen einer EG-Angehörigkeit, in: FS Doehring, 1989, S. 713 ff. der für die voraussehbare Zukunft eine ,,EG-Angehörigkeit" oder ähnliches allenfalls als "gemeinschaftsrechtliche Zusammenfassung eines weiter vorangetriebenen ,Europäischen Status' der Einzelperson über den nationalen Staatsangehörigkeiten" für denkbar hält. 50 Dazu näher u. 7. Kapitel A III. 51 Bislang gibt es lediglich seit 1960 die in vielen europäischen Staaten ausgegebenen ,,Europamarken" mit europäischen Motiven im Rahmen der CEPT (Conference Europeenne des administrations des Postes et des Telecommunications). Die Einführung gemeinschafts weit gültiger Briefmarken mit identischer Gestaltung ist nach Auffassung der Kommisssion derzeit nicht möglich (Antwort der Kommission auf Anfragen vom 13.2.1987 und 22. 4.1988, ABI. 1987 C 143/24 f., ABI. 1988 C 244/44). Näher Göldner, Politische Symbole der europäischen Integration, 1988, S. 225 ff., insbes. S. 230 ff. und und KOM (88) 331 endg., Ziff. 2.2.3 (S. 7), sowie Auskünfte der Kommission vom 20. 9. 1988 (ABI. 1989 C 77 /26) und vom 5. 1. 1989 (ABI. 1989 C 145/43) zur gemeinsamen Ausgabe von Briefmarken anläßlich wichtiger europäischer Ereignisse. 52 Die Kommission spricht etwas vollmundig von der Schaffung eines "europäischen Kulturraumes" (z. B. 21. Gesamtbericht 1987, Ziff. 706). 53 Aktuelle allgemeine Übersichten über die vielgestaltigen und recht heterogenen Aktionen der Gemeinschaft im kulturellen Bereich in Bull.EG, Beilage 4/1987 (Neue Impulse für die Aktion der Europäischen Gemeinschaft im kulturellen Bereich), insbesondere auch zu dem geplanten Rahmenprogramm 1988 - 1992 (S. 9 ff.) und und KOM (88) 331 endg., Ziff. 2.4 (S. 11 ff.). Im Mai 1988 wurden vom Rat und den im Rat vereinigten, für Kulturfragen zuständigen Ministern Schlußfolgerungen über ein Mehrjahresprogramm für vorrangige Aktionen im Kulturbereich angenommen (näher Bull.EG Nr. 5/ 1988, Ziff. 2. 1. 92 [So 43 f.]).

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2. Kap.: Die Dienstleistungsfreiheit im EWGV

"Europäische Film- und Fernsehjahr 1988"54 und die jährliche Benennung einer "Kulturstadt Europas"55 erreicht werden soll 56. Die Kompetenz der EG, auch im kulturellen Bereich in gewissem Umfang tätig zu werden, ist dabei keineswegs unbestritten, zumal durch die EEA keine entsprechende Ermächtigungsnorm in den EWGV aufgenommen wurde 57 . In einem "Europa der Bürger" gilt es auch, der Tatsache Rechnung zu tragen, daß viele Wanderarbeitnehmer (und auch Selbständige) zum Teil schonjahrzehntelang und mittlerweile in der dritten Generation in anderen Mitgliedstaaten mit ihrer Familie seßhaft sind 58. Die menschlichen und sozialen Konsequenzen dieser Entwicklung 59 waren bei Schaffung der Römischen Verträge kaum abzusehen. Erst seit Anfang der siebziger Jahre ergab sich immer dringlicher die Notwendigkeit, diesen "permanenten Gästen" neben einer vornehmlich wirtschaftlichen 54 Entschließung des Rates und der im Rat vereinigten, für Kulturfragen zuständigen Minister vom 13. 11. 1986 über das europäische Film- und Fernsehjahr (1988), ABI. 1986 C 320/4 (dort auch drei weitere Entschließungen zum Kulturbereich); hierzu EGKommission (Hrsg.), Die Europäische Gemeinschaft und die Kultur, Stichwort Europa Nr. 10/1988, S. 7 f. 55 Entschließung der im Rat vereinigten für Kulturfragen zuständigen Minister vom 13.6. 1985 für die alljährliche Benennung einer "Kulturstadt Europas", ABI. 1985 C 153/2; vgl. auch EG-Kommission [Hrsg.], 21. Gesamtbericht 1988, Ziff. 710 und Bull.EG 1988 Nr. 5, Ziff. 2. 1. 93 (S. 44). Benannt wurden für 1986 Florenz, 1987 Amsterdam, 1988 Berlin, 1989 Paris, 1990 Glasgow, 1992 Madrid und 1993 Antwerpen. Für 1991 ist noch keine Stadt benannt worden. 56 Ihren organisatorischen Ausdruck finden diese Maßnahmen darin, daß die Generaldirektion X der EG-Kommission nunmehr den Titel "Information, Kommunikation und Kultur" trägt (Organisationsplan der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, September 1988, S. 59 f.). 57 Vgl. Voge/aar I Wermuth, SEW 1988, S. 321/328 ff.; de Wirte, The Scope ofCommunity Powers in Education and Culture in the Light of Subsequent Practice, 1988. Kritisch zu den expansiven Tendenzen der Gemeinschaft u.a. Ipsen, Der "Kulturbereich" im Zugriff der Europäischen Gemeinschaft, FS Geck, 1989, S. 339 ff. - Zur Einbeziehung kultureller Tätigkeiten in die Dienstleistungsfreiheit u. 4. Kapitel IV.5. und speziell zum Bildungssektor 5. Kapitel. 58 Mittlerweile wohnen mehr als 5 Millionen EG-Angehörige in anderen Mitgliedstaaten (EG-Kommission [Hrsg.], Das Europa der Bürger, Stichwort Europa Nr. 3/1986, S. 7). Das sind ca. 40% der insgesamt 12,6 Millionen ausländischer Arbeitnehmer nebst Familienangehörigen, die derzeit in den Mitgliedstaaten leben (vgl. Wellner I Schmich, Europa auf dem Wege zur Sozialunion, S. 107 und die Tabelle auf S. 111). - Die Wanderbewegungen kamen seit Mitte der siebziger Jahre infolge der wachsenden Arbeitslosigkeit im wesentlichen zum Stillstand, während der durchschnittliche Aufenthalt gleichzeitig immer länger wurde und nunmehr zunehmend auf Dauer ausgerichtet ist (EG-Kommission [Hrsg.], Die Zuwanderer in der Europäischen Gemeinschaft, Stichwort Europa Nr. 13/1985, S.3 und ausführlich Feithen, Arbeitskräftewanderungen in der Europäischen Gemeinschaft, 1985). Vgl. zu einzelnen Nationalitäten in der Bundesrepublik Deutschland Lichtenberg, Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der EG, S. 117/ 119 f. und zur Verteilung der Ausländer auf die MS die Tabellen in Bull.EG, Beil. 7/ 1986, S. 22 ff. 59 Z.B. eine wachsende Fremdenfeindlichkeit in manchen Mitgliedstaaten, vgl. Thränhardt, Die europäische Dimension der allgemeinen Ausländerpolitik in den Mitgliedstaaten der EG, insbes. S. 13 ff., 22 f. m. w.N.

B. Europa der Bürger

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Gleichberechtigung als "Marktbürger"60 auch eine schrittweise zu verwirklichende gesellschaftliche und politische Gleichberechtigung als - auch grundrechtlich geschütztem 61 - ,,EG-Bürger" zu gewähren 62. Bis heute stehen auf Gemeinschaftsebene einer durch das Sekundärrecht und die Rechtsprechung des EuGH63 relativ weit fortgeschrittenen Integration auf arbeits- und sozialrechtlicher Ebene 64 (beispielsweise im Hinblick auf die Gleichbehandlung von Mann und Frau im Berufsleben) bislang kaum konkrete Fortschritte im allgemeinpolitischen und ak tivbürgerlichen Bereich gegenüber 65 - man denke nur an die jahrelangen Kontroversen um das aktive und passive Wahlrecht für gebietsfremde EG-Angehörige auf kommunaler Ebene 66 , das Problem des Zugangs von Ausländern zu 60 Begriff Ipsens, erstmals in der deutschsprachigen Literatur in Ipsen / Nicolaysen, NJW 1964,339/340 (mit Fn. 2), später vor allem in Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 187, 252 ff., 742 ff., 997 f. pass. 61 Seit EuGH Rs. 29/69 (Stauder), EuGHE 1969,419/425 ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs anerkannt, daß die Grundrechte zu den allgemeinen Grundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung gehören (Überblick zur Rspr. des EuGH bei Pescatore, EuR 1979, S. 1 ff.; Schweitzer-Hummer, Europarecht, S. 186 ff.). Vgl. auch Meessen, EA 1978, S. 641 ff.; Stadler, S. 129 ff. pass. und aus der "common law"-Perspektive Hartley, The Foundations ofEuropean Community Law, 1988, S. 132 ff. Zusammenfassender Überblick zu Entwicklung und gegenwärtigem Stand der europäischen Grundrechtsdiskussion bei GBTE-Beutler, Anhang C (S. 1461 ff.); Stern, Staatsrecht, Band III/ 1,1988, § 62 III 9 (S. 292 ff.) und Weber, JZ 1989, S. 965 ff., jeweils m.w.N.Mittlerweile hat auch das BVerfG den gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutz in seiner bekannten Entscheidung vom 22. 10. 1986 anerkannt (BVerfGE 73, 339; weitgehend zustimmend etwa Ipsen, EuR 1987, S. 1 ff.; kritisch hinsichtlich der Ausklammerung des sekundären Gemeinschaftsrechts Vedder, NJW 1987, S. 526/529). 62 Vgl. z. B. Durand, European Citizenship, ELRev 1979, S. 3ff; eine eher skeptische Bilanz zog 1976 noch Plender, "An Incipient Form of European Citizenship" [sic], in: Jacobs (Hrsg.), European Law and the Individual, 1976, S. 39 ff. - Demgegenüber gelangt Oppermann, Vom Marktbürger zum EG-Bürger?, in: Nicolaysen / Quaritsch (Hrsg.), Lüneburger Symposion für Hans Peter Ipsen, 1988, S. 87 ff., insbes. S. 90 ff. aus der Perspektive der späten achtziger Jahre zu einer positiveren Wertung der Gesamtentwicklung. 63 Beispiel hierfür ist etwa die Ausdehnung des Anwendungsbereichs des allgemeinen Diskriminierungsverbots (Art. 7 EWGV) auf Personen, die nicht am Erwerbsleben beteiligt sind (EuGH Rs. 293/83 [Gravier], EuGHE 1985, 606: keine diskriminierenden Studiengebühren für gebietsfremde EG-Angehörige in Belgien. 64 Aktueller Überblick bei Wellner / Schmich, Europa auf dem Wege zur Sozialunion, 1988 und Oppermann, Europarecht, Rz. 1546 ff. Zur wichtigen Rolle des EuGH bei der Schaffung eines "Gemeinschaftssozialrechts" Schulte, EuR 1982, S. 357 ff. und Klang, Soziale Sicherheit und Freizügigkeit im EWGV, S. 39 ff. pass. 65 Eine nach wie vor treffende kritische Bestandsaufnahme dieses von ihm als "atavistisch" bezeichneten Defizits erfolgte durch Grabitz, Europäisches Bürgerrecht, 1970, insbes. S. 48 ff., 88 ff., der die schwindende Legitimationsbasis nationalstaatlicher Ordnungen auf europäischer Ebene konstatiert und für eine Erweiterung des marktbürgeriichen Status zu einem Bürgerrecht Europas plädiert, das die volle rechtliche Gleichstellung zumindest der Marktbürger mit Inländern sichern sollte (S. 110 ff.). Dieser Kritik zustimmend Dolde, Die politischen Rechte der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, 1972, S. 37 (Fn. 32). Ähnlich jüngst Zuleeg, NJW 1987, S. 2193/2198. Eher skeptisch und im Hinblick auf den gegenwärtigen Integrationsstand zurückhaltend dagegen Hailbronner, Freizügigkeit der Arbeitnehmer in Europa, 1986, S. 23 f. 4 Völker

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2. Kap.: Die Dienstleistungsfreiheit im EWGV

öffentlichen Ämtern oder an die Frage der Gewährung eines verfassungsrechtlich geschützten Versammlungs- und Vereinigungsrechts an Ausländer. Hier wird besonders spürbar, daß Art. 7 EWGV und die speziellen Freizügigkeitsregelungen eben doch keine völlige Gleichstellung gebietsfremder EG-Angehöriger mit den Einheimischen bezwecken und in vielen Lebensbereichen Differenzierungen nach der Staatsangehörigkeit durchaus noch zulassen.

11. Passive DienstIeistungsfreiheit im "Euro pa der Bürger" Als ein Mosaikstein in diesem Bild einer umfassender verstandenen Integration ist auch das "neue" Recht des privaten EG-Bürgers zu sehen, als Konsument im Rahmen der passiven Dienstleistungsfreiheit in einem anderen Mitgliedstaat ungehindert Leistungen in Anspruch zu nehmen. Diese Möglichkeit bildet einen wertvollen Beitrag zur Schaffung eines "Europas der Bürger". Der die Grenze überschreitende Gemeinschaftsbürger, der sich auf die passive Dienstleistungsfreiheit berufen kann, macht von einem Recht Gebrauch, das - im Gegensatz zu allen anderen Freizügigkeitsrechten des Europäischen Gemeinschaftsrechts - im Hinblick auf seine Person keine Erwerbstätigkeit voraussetzt und damit auch die Verfolgung ideeller Ziele schützt. Nicht nur der "homo faber", der "homo oeconomicus", sondern auch der "homo ludens" profitiert von ihr. Nicht nur der Geschäftsmann, sondern auch der Tourist kann sich auf sie berufen. Damit ist sie - im Sinne eines "Europa der Bürger" - in besonderem Maße 66 Zur früheren Entwicklung auf europäischer Ebene Evans, ICLQ 1981, S. 20/36 ff. - Am 24. 6. 1988 legte die Kommission den Vorschlag einer Richtlinie des Rates über das Wahlrecht der Staatsangehörigen der MS bei den Kommunalwahlen im Aufenthaltsstaat (KOM (88) 371 endg. v. 11. 7. 1988, Bull.EG, Beilage 2/1988, S. 29 ff. [Wortlaut auf S. 40 ff.] und Bull.EG 6/1988, S. 28 f.) vor, deren Zielsetzung das aktive und passive Kommunalwahlrecht für alle EG-Bürger in allen Mitgliedstaaten ist (Ausnahme: Wahl zum Bürgermeister). Zu diesem Entwurf und seiner Vorgeschichte Magiera, EA 1988, S. 475 ff.; EG-Kommission (Hrsg.), Für alle Bürger Europas das Wahlrecht bei Kommunalwahlen, Stichwort Europa, Nr. 19/1988.; de Lobkowicz, RevMC 1988, S. 602 ff. und DÖV 1989, S. 519 ff. - Die verfassungsrechtliche Diskussion dieser Frage war und ist in der Bundesrepublik Deutschland sehr lebhaft, vgl. u.a. Sasse, Kommunalwahlrecht für Ausländer?, 1974, insbes. S. 54 ff.; Quaritsch, DÖV 1983, S. I ff.; Zuleeg, Die Vereinbarkeit des Kommunalwahlrechts für Ausländer mit dem deutschen Verfassungsrecht, in: Ders. (Hrsg.), Ausländerrecht und Ausländerpolitik in Europa, 1987, S. 153 ff. und ZAR 1988, S. 13 ff. m. w.N.; Papier, APUZ 1988, B 24, S. 41 ff. Die Einführung eines Kommunalwahlrechts für gewisse Ausländergruppen in Hamburg und SchleswigHolstein Anfang 1989 löste eine noch heftigere Diskussion aus, vgl. u.a. lahn / Riedei, NVwZ 1989, S. 716 ff.; Kämper, ZRP 1989, S.96ff; Karpen, NJW 1989, 1012 ff.; Rittstieg, NJW 1989, S. 1018 f.; Bryde, JZ 1989, S. 257ff; Huber, DÖV 1989, S. 531 ff. Am 12. 10. 1989 setzte das BVerfG im Wege der einstweiligen Anordnung die hamburgische Regelung bis zur endgültigen Entscheidung über ihre Verfassungsmäßigkeit außer Vollzug (NJW 1989, S. 3147 - Normenkontrollantrag der CDU / CSU Bundestagsfraktion). - Einige MS haben ein Kommunalwahlrecht bereits allgemein (Irland" Dänemark, Niederlande) oder für gewisse Ausländergruppen (Portugal, Vereinigtes Königreich) eingeführt.

B. Europa der Bürger

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geeignet, der Entfaltung der Persönlichkeit des Einzelnen zu dienen. Sie kommt auch dem Privatmann und "Normalverbraucher" in einer Vielzahl von Lebenslagen unmittelbar zugute. Die Anerkennung der passiven Dienstleistungsfreiheit führt zudem - ähnlich wie beim Warenverkehr - zu einem verstärkt "konsumentenorientierten" Verständnis des Gemeinschaftsrechts insgesamt. Sie fördert im Rahmen der Verwirklichung des Binnenmarktes die Wahlmöglichkeiten und Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers und damit auch den Wettbewerb von Erbringern gleichartiger Dienstleistungen über die nationalen Grenzen hinweg 67 , was den Bedürfnissen einer modernen, konsumorientierten "Freizeitgesellschaft" entspricht. - Der theoretisch denkbare persönliche Anwendungsbereich der passiven Dienstleistungsfreiheit reicht von Touristen über Geschäftsreisende und Patienten bis hin zu Schülern und Studenten und umfaßt potentiell das ganze Spektrum verschiedenartigster Dienstleistungen, die von diesen und anderen Verkehrskreisen in Anspruch genommen werden. Gerade aus dieser Perspektive wäre es zu einseitig, die personenbezogenen Rechte, die sich aus der passiven Dienstleistungsfreiheit ergeben, lediglich als eine Art Reflexwirkung der eigentlich angestrebten Liberalisierung des Produktverkehrs zu sehen. Namentlich Seidel, der - mit Recht - Parallelen zwischen Dienstleistungs- und Warenverkehr zieht, betrachtet in m.E. zu einseitiger Weise die sog. Korrespondenzdienstleistung, bei der lediglich die Dienstleistung selbst die Grenze überschreitet, als "Grundtypus" der Dienstleistungsfreiheit. Aktive und passive Dienstleistungsfreiheit sind für ihn lediglich "Nebenformen", bei denen im Interesse eines ungehinderten Produktverkehrs als Annexrecht auch Personenverkehr ermöglicht wird, der aber ähnlich wie beim Warenverkehr weder begriffswesentlich noch das eigentliche Regelungsziel sei 68. Dabei übersieht Seidel m.E., daß jedenfalls beim passiven Dienstleistungsverkehr - im Gegensatz zum Warenverkehr - gerade das Recht des passiven Dienstleistungsempfangers, sich in dieser Eigenschaft in einen anderen MitgliedReich, Förderung und Schutz diffuser Interessen durch die EG, 1987, S. 78,84. Die Dienstleistungsfreiheit in der neuesten Rechtsentwicklung, S. 113 ff., insbesondere 117 ff.: ,,[ ... ]es geht nicht um die Freiheit des Personenverkehrs und damit auch nicht um persönliche Freiheitsgewährleistungen, sondern um die Herstellung eines von Hemmnissen freien Austausches und ,Verkehrs' von Dienstleistungen über die innergemeinschaftlichen Grenzen." (S. 117). "Bei richtigem Verständnis der Funktion, die der Freiheit des grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehrs zufällt, sind die beiden Nebenformen, in denen die Freiheit des grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehrs in Anspruch genommen werden kann, Erweiterungen der Freiheitsgarantie, durch die eine effektive Inanspruchnahme der Freiheit des Dienstleistungsverkehrs erst möglich wird. Wenn die grenzüberschreitende Erbringung einer Dienstleistung es erfordert, soll sich der Dienstleistungserbringer in das Land der Erbringung der Dienstleistung begeben dürfen. Ebenso soll sich der Dienstleistungsnehmer in das Land des Dienstleistungsgebers begeben dürfen, wenn die Erbringung der Dienstleistung seinen Ortswechsel erfordert. Im Bereich des grenzüberschreitenden Warenaustausches gelten im Grunde genommen die gleichen Besonderheiten [.. .]" (S. 121). Auf gleicher Linie liegen die Ausführungen in ZVersWiss 1987, S. 175 ff., insbes. S. 180 ff. 67

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2. Kap.: Die Dienstleistungsfreiheit im EWGV

staat zu begeben, häufig den eigentlichen Wert dieser Freiheit ausmacht. Die wesentliche Bedeutung gerade der passiven Dienstleistungsfreiheit für den einzelnen liegt nicht zuletzt in der mit ihr verbundenen persönlichen Freiheitsgewährleistung und nicht nur in einer rein ökonomisch motivierten Inanspruchnahme von Wirtschaftsgütem 69 : Dem Touristen, der nach Venedig reist, geht es weniger um Hotel und Service, als darum, Venedig zu erleben 70. Dem Patienten, der ein Sanatorium in einem anderen Mitgliedstaat aufsucht, ist es vielleicht weniger um die besondere Qualität der dortigen ärztlichen Behandlung zu tun als um die besondere Luft eines bestimmten Kurorts. Die in Anspruch genommenen Dienstleistungen bilden also - legitimerweise - keineswegs immer den einzigen Anlaß und die einzige Motivation eines Auslandsaufenthalts, welcher der passiven Dienstleistungsfreiheit unterliegt. Diese für die rechtliche Bewertung und dogmatische Einordnung zu berücksichtigende Interessenlage der Beteiligten kann im Einzelfall also durchaus anders sein als etwa beim Warenverkehr und bei den anderen Varianten der Dienstleistungsfreiheit. Namentlich das mit der passiven Dienstleistungsfreiheit verbundene Recht des Dienstleistungsempfängers auf Einreise und Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat hat für diesen eine wesentlich größere Bedeutung als das Recht eines Verkäufers, die Ware im Rahmen des freien Warenverkehrs beim Transport in einen anderen Mitgliedstaat zu begleiten und dort zu installieren 71.

69 Diesen Aspekt betonte in allgemeinerem Zusammenhang jüngst auch Lenz, ZRP 1988, S. 449/453: "Die Wertvorstellung des Gemeinschaftsrechts ist wesentlich geprägt von Freiheitsrechten des einzelnen, die es ihm erlauben, seine berufliche Tätigkeit auch in anderen Mitgliedstaaten auszuüben und aus diesen Waren und Dienstleistungen [... ] an jedem Ort in der Gemeinschaft entgegenzunehmen." Lenz weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß z. B. auch der ursprünglich wirtschafts- und wenbewerbspolitisch motivierte Grundsatz der Lohngleichheit mittlerweile vom Gerichtshof zu einem allgemeinen Rechtsgrundsatz des Verbots geschlechtsspezifischer Diskriminierungen im Arbeitsleben weiterentwickelt wurde. Auch hier zeigen sich persönlichkeitsrechtliche Entwicklungen im Gemeinschaftsrecht. 70 Auf diesen Gesichtspunkt wies bereits Bogdan, JWTL 1977, S. 468/473 hin: "For a tourist, the various services he consumes in the visited country are normally not the purpose of his joumey but are only incidental. Most tourists travelling to Rome have other motives than to stay at a Rome hotel or be transported in a Rome taxi. There may, of course, be exceptions: persons may cross the national borders in order to see a particular theatre performance (which is undoubtedly a service) or in order to have their hair done by a famous hairdresser." 71 Ähnlich Magiera, DÖV 1987, S.221/223: "Dennoch läßt sich die Freiheit des Personenverkehrs nicht in einfacher Parallele zur Freiheit des Warenverkehrs [... ] lediglich als grenzüberschreitender ,Faktor Arbeit' verstehen. Über den Menschen als bloße Wirtschaftskraft hinaus erfassen die Vertragsbestimmungen vielmehr auch seine weitergehende Persönlichkeit."

3. Kapitel

Die Grundlagen der passiven Dienstleistungsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht A. Passive Dienstleistungsfreiheit in den drei Gemeinschaftsverträgen (EGKSV, EWGV und EAGV) I. Das Verhältnis der drei Verträge zueinander Der "Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl" (EGKSV) wurde bereits am 18.5. 1951 in Paris unterzeichnet und trat am 23. 7. 1952 in Kraft. Der "Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft" (EAGV) wurde am 25.3. 1957 zusammen mit dem EWGV unterzeichnet und trat wie dieser am 1. 1. 1958 in Kraft. EKGSV und Euratom betreffen im Gegensatz zum EWGV sachlich scharf umgrenzte Teilaspekte gemeinschaftlicher Integration auf den in ihren Titeln genannten Sektoren (Kohle und Stahl bzw. friedliche Nutzung der Kernenergie). Alle drei Gemeinschaften haben mittlerweile gemeinsame Organe 1 und werden im allgemeinen Sprachgebrauch häufig einheitlich als ,,Europäische Gemeinschaft" bezeichnet 2 , obgleich sie weiterhin eigenständige völkerrechtliche Rechtspersönlichkeiten sind und bedeutende strukturelle Unterschiede aufweisen. Für das Verhältnis der Verträge untereinander trifft Art. 232 EWGV eine Regelung. Danach bleiben EGKSV und EAGV vom EWG-Vertrag unberührt, bilden also zwei eigenständige spezielle Regelungsbereiche. Daneben gilt das primäre und sekundäre Recht der EWG nach der EG-Praxis und ganz überwiegender Auffassung in der Literatur subsidiär auch für die in den beiden anderen Verträgen geregelten Bereiche, soweit diese keine abschließende Sonderregelung enthalten 3 • Da weder EGKSV noch EAGV eine allgemeine Regelung des Dienstleistungsverkehrs enthalten, findet hinsichtlich des Dienstleistungsverkehrs vorbehaltlich einiger Besonderheiten auch im Anwendungsbereich dieser Verträge grundsätzlich das Recht der EWG, also auch die passive Dienstleistungsfreiheit Anwendung. 1 Abkommen über gemeinsame Organe für die europäischen Gemeinschaften vom 25.3.1957, BGBL 1957 II, S. 1156 und Vertrag zur Einsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen Kommission der Europäischen Gemeinschaften vom 8.4. 1965, BGBL 1965 11, S. 1454, mit späteren Änderungen. 2 Dazu Schweitzer / Hummer, Europarecht, S. 45 mit Fn. 59. 3 Statt vieler: GBTE-Petersmann, Art. 232, Rz. 6 ff.; Grabitz-Vedder, Art. 232, Rz. 8 ff., jeweils m. w.N.

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3. Kap.: Grundlagen

11. Passive Dienstleistungsfreiheit in EGKSV und EAGV J. EGKSV

Der EGKSV enthält im Hinblick auf die Dienstleistungsfreiheit keine vom EWGV abweichenden Regelungen. Daher sind die Vorschriften über die Dienstleistungsfreiheit, also auch die passive Dienstleistungsfreiheit grundsätzlich auch im Bereich des Kohle- und Stahlsektors anwendbar 4 • 2. EAGV Im Gegensatz zum EGKSV finden sich im EAGV bezüglich bestimmter Dienstleistungen besondere Regelungen, die nach Funktion und Systematik den besonderen Zielsetzungen von Euratom Rechnung tragen und von der Regelung des EWGV teilweise abweichen 5. Dies gilt vor allem für den Bereich der Forschung und des Informationsaustausches (vgl. insbes. Art. 10 und 15 EAGV), Lohnveredelungsverträge im Nuklearbereich (Art. 75), die Versicherung von Nuklearrisiken (98 EAGV6) und die Beteiligung am Bau von Atomanlagen (Art. 97 EAGV). Im Hinblick auf diese Tätigkeiten findet das Dienstleistungskapitel des EWGV keine Anwendung.

B. Die Varianten des grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehrs und seine drei Grundtypen I. Der Variantenreichtum des grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehrs

Bei der Erbringung grenzüberschreitender Dienstleistungen ist im Hinblick auf die Form der Grenzüberschreitung bzw. ,,Auslandsberührung" eine Fülle von Varianten denkbar, die im Prinzip alle der Dienstleistungsfreiheit des EWGV unterfallen, soweit man ein extensives, dem Zweck der Vorschriften und der Rechtsprechung des EuGH entsprechendes Verständnis zugrundelegt 7 : 4 So zur Dienstleistungsfreiheit im allgemeinen Troberg in HER, Vorb. zu Art. 5966, Rz. 13; Grabitz-RandelzhoJer, Art. 59 Rz. 6. 5 GBTE-Troberg, Vorb. zu Art. 59-66, Rz. 13. 6 Dazu Bauer / MosthaJ / Menges in HER, Kommentierung zu Art. 98 EAGV (III A 50, S. 15 ff.) 7 Dazu Burrows, Free Movement in European Community Law, S. 215 f. Bezeichnend für das heutige weite Verständnis ist die jüngste Stellungnahme von GA Lenz in seinen Schlußanträgen vom 6. 12. 1988 in der Rs. 186/87 (Cowan - noch nicht veröffentlicht; näher u. 3. Kapitel EIl.), insbesondere in Ziff. 14 a.E., wo es im Hinblick auf mögliche Leistungsorte heißt: ,,[ ... ] Das kann der Ort sein, an dem der Leistungsempfänger ansässig ist, muß es aber nicht. Der Leistungsempfänger kann die Dienstleistung auch durchaus an einem anderen Ort in Empfang nehmen. Erforderlich ist nur, daß

B. Die Varianten des Dienstleistungsverkehrs

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a) Zur Erbringung der Dienstleistung kann sich entweder der Dienstleistungserbringer in den Mitgliedstaat, in dem der Dienstleistungsempfänger ansässig ist oder dieser in den Mitgliedstaat, in dem der Dienstleistungserbringer ansässig ist, begeben: Der französische Patient begibt sich zum deutschen Arzt oder umgekehrt. b) Weiterhin können sich beide Beteiligten zur Erbringung der Dienstleistung vorübergehend in einem dritten Mitgliedstaat treffen: Französischer Arzt und deutscher Patient treffen sich in einem belgischen Kurort. c) In Betracht kommt auch, daß sich der Dienstleistungserbringer oder Dienstleistungsempfänger oder beide bereits in einem dritten Mitgliedstaat niedergelassen haben und der eine Partner zum anderen kommt: Der deutsche Patient lebt in Italien und wird dort vom französischen Arzt behandelt oder umgekehrt. d) Weitere Spielarten sind denkbar, wenn zwar Dienstleistungsempfänger und Dienstleistungserbringer in ein und demselben Mitgliedstaat ansässig sind, die Substanz der Leistung aber aus einem anderen Mitgliedstaat stammt oder dort erbracht wird: Ein Journalist möchte für eine inländische Zeitung in einem ausländischen EG-Staat eine Reportage durchführen 8 • Ein Deutscher beauftragt einen anderen Deutschen, den Garten seines Wochenendhauses in Dänemark vorübergehend (gegen Entgelt) zu pflegen 9. Ein Versicherungsvertrag zwischen Inländern wird über ein im Ausland belegenes Risiko geschlossen 10. e) Weiterhin kann sich der Leistungsvorgang über verschiedene Mitgliedstaaten erstrecken: Eine französische Wäscherei holt die Wäsche in der Bundesrepublik Deutschland von Haus zu Haus ab, wäscht sie in Frankreich und bringt sie anschließend zum Auftraggeber zurück 11. f) Denkbar ist auch, daß der Angehörige eines Mitgliedstaats im EG-Ausland

ansässig ist und sich zur Entgegennahme einer Leistung in einen anderen

Dienstleistungserbringer und Dienstleistungsempfänger nicht am gleichen Ort ansässig sind." (Hervorhebung durch den Ven.). 8 Dieses Beispiel findet sich bei Maestripieri, La !ibre circulation des personnes et des services dans la CEE, S. 45 und bei Troberg in HER, Art. 59 Rz. 7; die Anwendbarkeit des Art. 59 auf diese Variante bejahen auch Geck / Oehler, JuS 1983, S. 129/134 (im Zusammenhang mit der Berichterstattung über grenzüberschreitende Demonstrationen) und Schöne, Dienstleistungsfreiheit und deutsche Wirtschaftsaufsicht, 1989, S. 74 ff. 9 Beispiel von Burrows, Free Movement in European Community Law, S. 215. 10 Beispiel von Wägenbaur, La libre circulation des personnes et des services, S. 13, später u.a. aufgegriffen von Schlappa, Die Kontrolle von Allgemeinen Versicherungsbedingungen im deutschen Versicherungsaufsichtsrecht und der freie Dienstleistungsverkehr im EG-Recht, S. 37; Schöne, RIW 1989, S. 450/452. - Die Probleme, die auftreten können, wenn das versicherte Risiko in einem anderen Staat als dem des Dienstleistungsempfängers (Versicherungsnehmers) belegen ist, wurden vom EuGH noch nicht behandelt (ausdrücklich offengelassen in dem Versicherungsurteil gegen die Bundesrepub!ik Deutschland, Rs. 205/84, EuGHE 1986,3793/3801 [Ziff. 23]). 11 Beispiel von Burrows, Free Movement in Community Law, S. 216.

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3. Kap.: Grundlagen

Mitgliedstaat begibt: Der in Österreich ansässige Deutsche läßt sich in Frankreich von einem französischen Arzt behandeln 12. g) Weitere Varianten sind bei Dreiecksverhältnissen denkbar, wenn etwa Auftraggeber und Leistungsempfanger verschieden sind 13: Ein Deutscher beauftragt einen französischen Arzt mit der Behandlung seines deutschen Sohnes in der Bundesrepublik Deutschland oder auch in Belgien. Ein deutscher Arzt zieht bei der Behandlung eines Patienten einen französischen Arzt hinzu, der sich zu diesem Zweck in die deutsche Klinik begibt. Ein wohlhabender Franzose beauftragt einen deutschen Spezialisten mit der Behandlung seiner in der Bundesrepublik Deutschland lebenden deutschen Schwiegertochter 14. Eine in Italien ansässige Versicherungsgesellschaft erbringt aufgrund dort abgeschlossener Versicherungsverträge Leistungen in Frankreich 15. h) Schließlich kann die Dienstleistung ohne einen Orts wechsel der Beteiligten erfolgen, wenn lediglich die Verkörperung der Dienstleistung vom Mitgliedstaat des Dienstleistungserbringers in den Mitgliedstaat des Dienstleistungsempfängers gesandt wird (z. B. ein juristisches oder medizinisches Gutachten, ein Bauplan oder dgl.) oder in nicht verkörperter Weise die Grenze überschreitet (Rundfunk- und Fernsehsendungen, auch soweit sie durch Richtfunk, über Kabel oder Satellit in einen anderen Mitgliedstaat übertragen bzw. eingespeist werden 16; andere Formen der Telekommunikation). Dabei ist zum einen denkbar, daß die Beteiligten Inländer sind: Ein französischer Architekt liefert einem italienischen Unternehmen einen Bauplan für ein in Italien zu errichtendes Gebäude. Es kann sich aber auch in dieser Variante um ausländische Beteiligte handeln: Ein in Belgien niedergelassener französischer Architekt liefert der deutschen Niederlassung eines italienischen Unternehmens einen Bauplan. Dabei ist zu beachten, daß nicht alle Dienstleistungen in allen Varianten der Dienstleistungsfreiheit erbracht werden können. Manche Dienstleistungen sind z. B. ihrem Wesen nach orts-, sach- oder grundstücksgebunden, etwa im Bereich der Landwirtschaft 17: Hier kann nur der Erbringer zum Empfänger der Leistung 12 Beispiel: Ein in Österreich lebender Deutscher begibt sich für eine fachärztliche Behandlung nach Frankreich. 13 Bleckmann, EuR 1987, S. 28/29. 14 Gegen die Anwendung des Dienstleistungskapitels auf diesen Fall Schöne, RIW 1989, S. 450/452, Fn. 27, mit dem Argument, die Leistung werde hier nicht grenzüberschreitend erbracht. Dabei wird m.E. übersehen, daß unter Berücksichtigung der EuGHRechtsprechung im sog. Kabelregeling-Urteil vom 26.4. 1988 (Rs. 352/85) zwei Leistungsverhältnisse zu unterscheiden sind, nämlich im konkreten Beispiel das Verhältnis Auftraggeber-Arzt und das Verhältnis Arzt-Patient. Im erstgenannten Verhältnis ist der Auftraggeber Dienstleistungsempfanger, der für die Leistung eine (grenzüberschreitende) Zahlung erbringt, weshalb dieses Verhältnis dem Dienstleistungskapitel unterfällt. 15 Beispiel von Bleckmann, a. a. O. (Fn. 13). 16 Grünbuch der Kommission "Fernsehen ohne Grenzen", 1984, S. 113 f. 17 Einige Beispiele bei Troberg, in HER, Vorb. zu Art. 59-66, Rz. 8.

B. Die Varianten des Dienstleistungsverkehrs

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kommen. Viele Dienstleistungen sind gewissermaßen "personengebunden": Ein in Italien ansässiger Friseur kann einen in Frankreich wohnenden Kunden nur bedienen, wenn einer der Beteiligten seinen Standort wechselt. Hier kann die Dienstleistung nicht (wie etwa beim Rundfunk oder bei einem Gutachten) über die Grenze geschickt werden. Für die Anwendbarkeit des Dienstleistungskapitels auf eine bestimmte Art von Dienstleistungen ist es jedoch nicht erforderlich, daß sie theoretisch in allen drei Grundformen erbringbar sein muBl8. Für eine solche Einschränkung gäbe es keinen sachlichen Grund. Zudem würde sie unerträgliche Lücken im System des Gemeinsamen Marktes schaffen. 11. Die drei Grundtypen: Abgrenzung und Begriffsbestimmung 1. Allgemeines

Im folgenden soll auf die drei - in der Lebenswirklichkeit wohl auch am häufigsten vorkommenden - Grundtypen 19 der Grenzüberschreitung eingegangen werden, bei denen jeweils verschiedene Spielarten von Beschränkungen in Betracht kommen: Ortswechsel des Dienstleistungserbringers, des Dienstleistungsempfangers und grenzüberschreitende Leistung ohne Orts wechsel der Beteiligten. Die übrigen Varianten stellen Gemengelagen dieser Grundtypen ohne nennenswerte Besonderheiten dar, bei denen sich z. B. in Fall b) und c) ein Beteiligter auf die passive, der andere auf die aktive Dienstleistungsfreiheit oder auf die Niederlassungsfreiheit berufen kann. Eine Ausnahme bildet lediglich Fall d), weil hier beide Partner im selben Staat ansässig sind, was nicht dem Wortlaut Seidel, ZVersWiss 1987, S. 175, 185 f. Diese Grundeinteilung ist heute allgemein akzeptiert. Sie wurde bereits 1958 von Ehring vertreten (in: v.d.Groeben / v.Boeckh, Kommentar zum EWGV, l. Aufl. 1958, Vorb. zu Art. 59 ff., Anm. 2). - Diese Auffassung wurde von Troberg in der 2. und 3. Auflage des Kommentars 1974 und 1983 beibehalten Ueweils Vorb. zu Art. 59 ff., Anm. 4). -Everling (BB 1958, S. 817 ff.) sah zwar noch 1958 allein die aktive Dienstleistungsfreiheit als Regelungsbereich der Art. 59 ff. an, folgte aber wenig später ebenfalls der Dreiteilung Ehrings (BB 1961, S. 1257/1260 f.). Die Dreiteilung wurde im Kommentar der Kommission zum A.P. 1961 übernommen (Dok II1/KOM (60) 92 endg. v. 28.7. 1960, S. 7,23) und setzte sich auch in der Literatur durch, vgl. z. B. Bode, Die Diskriminierungsverbote im EWGV, 1968, S. 181; Grabitz, Europäisches Bürgerrecht, 1971, S. 82; Maestripieri, La libre circulation des personnes et des services dans la CEE, 1971, S. 46 und CMLRev 1973, S. 150/152; Wägenbaur, La libre circulation des personnes et des services, S. 13 f.; Parry / Dinnage, EEC-Law, 1981, S. 267 f.; de Crayencour, Communaute europeen et libre circulation des professions liberales, 1982, S. 52; Wendling, RevMC 1982, S. 132/147; Gide / Loyrette / Nouel (Hrsg), Dictionnaire du Marche Commun, Etablissement et services, Anm. 14; Troberg, in HER, Vorb. zu Art. 59-66, Rz. 7, Art. 59, Rz. 3 ff.; Clarotti, JCMS 1984, S. 199/206; Grabitz-RandelzhoJer, Art. 60, Rz. 4; Bleckmann, Europarecht, S. 331 f.; Lasok, Professions, S. 7; Seidel, Die Dienstleistungsfreiheit in der neuesten Rechtsentwicklung, 1987, S. 113/115 und ZVersWiss 1987, S. 175 ff., insbes. S. 178; Dauses, EuR 1988, S. 378/381; Schöne, Dienstleistungsfreiheit in der EG und deutsche Wirtschaftsaufsicht, 1989, S. 68 ff.; Oppermann, Europarecht, Ziff. 1497. 18

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3. Kap.: Grundlagen

von Art. 59 Abs. 1 EWGV entspricht. Da aber auch hier der Leistungsvorgang über die Grenze eines Mitgliedstaates hinausweist, wird man das Dienstleistungskapitel im Interesse einer möglichst lückenlosen Erfassung aller grenzüberschreitenden Wirtschaftsvorgänge durch das Gemeinschaftsrecht analog auch auf diese Fälle anwenden müssen 20 • Die Entstehung des Dienstleistungskapitels und seine spätere Entwicklung in der Praxis erfolgten ganz überwiegend aus der Perspektive des ersten Falls, der "aktiven" Dienstleistungsfreiheit. Die beiden anderen Grundtypen des Dienstleistungsverkehrs waren - von Ausnahmen abgesehen - lange Zeit Randerscheinungen, die für die inhaltliche Bestimmung der Dienstleistungsfreiheit eine eher untergeordnete Rolle spielten. Wie im folgenden verschiedentlich deutlich werden wird, ist auch die bisherige Dogmatik der Dienstleistungsfreiheit vornehmlich auf die aktive Dienstleistungsfreiheit zugeschnitten. Der erste Fall ist z. B. ausdrücklich in Art. 60 Abs. 3 EWGV erwähnt, während der zweite und dritte Fall nicht ausdrücklich geregelt sind. Dennoch sollte man nach heutigem Stand der Entwicklung alle drei Formen als gleichberechtigt betrachten und jede nach ihrer Eigenart behandeln, ohne daß eine Variante für sich in Anspruch nehmen könnte, dem ganzen Kapitel als "Grundform" zugrundezuliegen 21 •

2. Grundtyp 1: Der Dienstleistungserbringer begibt sich vorübergehend in das Land des Dienstleistungsempjängers (aktive Dienstleistungsfreiheit) Dieser Fall stellt nach herkömmlicher Betrachtungsweise den "klassischen" Anwendungsfall des Dienstleistungskapitels, die "Grund- und Typform der Freiheit des Dienstleistungsverkehrs" dar 22 , wofür u. a. Art. 59 Abs. 1 und 60 Abs. 3 ihrem Wortlaut nach sprechen. Auch das Allgemeine Programm zur Aufhebung der Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs (A. P.)23 geht von dieser Variante als Regelfall aus und nennt in seinem Abschnitt I als Begünstigte der vorgesehenen Aufhebungen von Beschränkungen des Dienstleistungsverkehrs lediglich die Leistungserbringer.

20 GBTE-Troberg, Art. 59 Rz. 7; Burrows, Free Movement in European Community Law, S. 215. 21 Insoweit a .. Seidel, Die Dienstleistungsfreiheit in der neuesten Rechtsentwicklung, S. 113/120 f. undZVersWiss 1987, S. 175 ff., der im Hinblick auf die von ihm gezogenen Parallelen zum Warenverkehr die Korrespondenzdienstleistung als "Grundtypus", die aktive und die passive Dienstleistungsfreiheit dagegen lediglich als "Nebenformen" betrachtet. Früher wurde bekanntlich die aktive Dienstleistungsfreiheit als Archetypus betrachtet. 22 So die treffende Formulierung Seidels, Die Dienstleistungsfreiheit in der neuesten Rechtsentwicklung, S. 113/115, der diese Betrachtungsweise selbst zu Recht ablehnt. 23 ABl. 1963, S. 32.

B. Die Varianten des Dienstleistungsverkehrs

59

In dieser Konstellation kommt es vor allem darauf an, den ausländischen Erbringer von (insbesondere qualifizierten) Dienstleistungen gegenüber Anbietern gleicher oder wesentlich gleichartiger Dienstleistungen im Inland vor Diskriminierungen zu schützen. Ein weiteres Problem dieser Variante liegt in der oft schwierigen - Abgrenzung zwischen dem Anwendungsbereich des Niederlassungs und des Dienstleistungskapitels. 24 Im folgenden wird derjenige, der sich zur Erbringung einer Dienstleistung in einen anderen Mitgliedstaat begibt, als "aktiver Dienstleistungserbringer" bezeichnet. Der Empfänger einer solchen Dienstleistung wird "aktiver Dienstleistungsempfänger" genannt 25 • Die dabei erbrachte Dienstleistung wird als "aktive Dienstleistung", der Vorgang als "aktiver Dienstleistungsverkehr" und seine Liberalisierung durch den EWGV als "aktive Dienstleistungsfreiheit" charakterisiert. Diese Bezeichnungen erscheinen deshalb als zur Differenzierung geeignet, weil bei dieser Variante des Dienstleistungsverkehrs das für die Anwendbarkeit des Dienstleistungskapitels entscheidende Element der Grenzüberschreitung beim aktiven Teil des Vorgangs vorliegt 26 • 3. Grundtyp 2: Weder Dienstleistungserbringer noch Dienstleistungsempfänger nehmen einen Ortswechsel vor (sog. Korrespondenzdienstleistung)27

In derartigen Fällen scheint das Dienstleistungskapitel seinem Wortlaut nach nicht anwendbar, da es die Gebietsfremdheit des Dienstleistungserbringers oder Dienstleistungsempfangers zur Voraussetzung hat. Da aber das nach der Zielsetzung der Dienstleistungsfreiheit entscheidende Element der Grenzüberschreitung vorhanden ist, wendet die Praxis die Art. 59 ff. im Interesse der angestrebten möglichst umfassenden Liberalisierung des Dienstleistungssektors auch auf derartige Fälle an 28. Wichtigstes vom EuGH anerkanntes Beispiel für die Korrespondenzdienstleistung ist der grenzüberschreitende Rundfunk 29. Auch der immer Dazu u. 8. Kapitel A I. Z.T. werden im Schrifttum auch gleichbedeutend die Begriffe "Dienstleistungsnehmer" und "Dienstleistungsgeber" verwendet, z. B. von Seidel, Die Dienstleistungsfreiheit in der neuesten Rechtsentwicklung, S. 113 ff. 26 Auch im Bereich der Wirtschaftswissenschaften wird beim Außenhandel von aktiven und passiven Dienstleistungen gesprochen (vgl. Gabler Wirtscha[tslexikon, Stichwort "Dienstleistungen", u. 1.). 27 GBTE-Troberg, Vorb. zu Art. 59-66, Rz. 7. 28 BBPS-Streil, S. 317. 29 Hier ist z.T. noch streitig, für welche Arten von Sendungen und Formen von Übertragungen das Merkmal der Entgeltlichkeit zu bejahen ist. Dazu nunmehr EuGH Rs. 352/85, Urt. v. 26.4. 1988 (Bond van Adverteerders /Niederlande). - Allgemein zu diesem in letzter Zeit vieldiskutierten Bereich u.a. Seidel, Rundfunk, insbesondere Werbefunk und innergemeinschaftliche Dienstleistungsfreiheit, GS Sasse I, S. 351 ff.; Grünbuch der Kommission "Fernsehen ohne Grenzen", 1984, insbes. S. 105 ff.; Börner, 24 25

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3. Kap.: Grundlagen

wichtiger werdende Bereich der Telekommunikationsdienstleistungen fällt unter diese Variante. Für diesen Bereich hat die Kommission im Juni 1987 ein Grünbuch vorgelegt, in dem der Entwurf einer künftigen europäischen Telekommunikationspolitik vorgestellt wird 30• Auf der Grundlage dieses Grünbuchs hat der Rat im Juni 1988 eine Entschließung angenommen, die die großen Zielsetzungen einer Telekommunikationspolitik festlegt 31 • Eine wesentliche Besonderheit dieser Variante liegt darin, daß das Element der zeitlichen Beschränkung schwächer ausgeprägt ist als bei der aktiven oder passiven Dienstleistungsfreiheit. Die aktive Dienstleistungsfreiheit erfaßt nur einen vorübergehenden Orts wechsel, nicht aber einen Standortwechsel des Dienstleistungserbringers. Verfestigt sich dessen Beziehung zum Gastland bis zu einem gewissen Grad, liegt bekanntlich ein Fall der Niederlassungsfreiheit vor 32 • Auch bei der passiven Dienstleistungsfreiheit ist die Dauer des Aufenthaltsrechts, wie noch auszuführen sein wird, auf die Dauer der Inanspruchnahme einer bestimmten Dienstleistung bzw. die Erreichung eines Leistungsziels beschränkt 33. Der Empfang eines ausländischen Rundfunksenders kann sich dagegen über einen von vornherein unbestimmten und unbestimmbaren Zeitraum erstrecken, gegebenenfalls sogar auf viele Jahre hinaus, ohne daß dadurch die Anwendung des Dienstleistungskapitels auf diesen grenzüberschreitenden Vorgang ausgeschlossen würde 34. Hier zeigt sich deutlich, daß für die Anwendbarkeit ZUM 1985, S. 577 ff. (mit einer z.T. harschen Kritik des GTÜnbuchs); Roth, ZHR 1985, S. 679 ff.; Schwartz, Rundfunk und EWG-Vertrag, in: Schwarze (Hrsg.), Fernsehen ohne Grenzen, 1984, S. 45 ff.; ELRev 1986, S. 7 ff.; AtP 1987, S. 375/377 f.; Jarass, EuR 1986, S. 75 ff.; Lasok, Professions, S. 127 ff.; Bueckling, Fernsehen ohne Grenzen Fernsehen in Grenzen, 1986; EG-Kommission (Hrsg.), Auf dem Weg zu einem großen europäischen Markt der Audiovision, Stichwort Europa Nr. 4/1988; Heringer, Satellitendirektfernsehen, 1988, S. 110 ff.; Oppermann, Europarecht, Rz. 1508 ff. m. w.N. - Am 3. 10. 1989 erging nach langem Hin und Her die RL 89/552 des Rates zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit (ABI. 1989 L 298/23 mit Berichtigungen in ABI. 1989 L 331/51), die vor allem eine Förderung ..europäischer Werke" und eine Vereinheitlichung der Werberegelung anstrebt. Dazu und zur parallelen Konvention des Europarats Schwartz, EuR 1989, S. 1 ff. 30 KOM (87) 290 endg.; vgl. auch die Mitteilung der Kommission über die Verwirklichung des GTÜnbuchs, Bull.EG Nr. 2/1988, Ziff. 2. 1. 43 und Bull.EG Nr.6/1988, S. 47 ff. sowie EG-Kommission (Hrsg.), Ein gemeinsamer Markt für Dienstleistungen, 1988 (Stand: März 1988), S. 81 ff. zu den gegenwärtigen Arbeiten in diesem Bereich. - Zum GTÜnbuch neuestens Schulte-Braucks, Europäisches Telekommunikationsrecht für den gemeinsamen Telematikmarkt - das GTÜnbuch der EG-Kommission, in: Scherer, (Hrsg.), Telekommunikation und Wirtschaftsrecht, 1988, S. 1 ff. m. w.N. zu Schrifttum (S. 3, Fn. 2) und bisherigen Rechtsakten der EG (S. 2 Fn. 1). Vgl. auch die Beiträge in Scherer (Hrsg.), Nationale und europäische Perspektiven der Telekommunikation, 1987 und speziell für die Bundesrepublik Deutschland ders., Telekommunikationsrecht und Telekommunikationspolitik, 1985. 31 Vgl. Bull.EG Nr. 6/1988, S. 47 f. (Ziff. 2. 1. 77). 32 Zu dieser Abgrenzung näher u. 8. Kapitel A 1.3. 33 Dazu näher u. 7. Kapitel C.III. 34 Seidel, Die Dienstleistungsfreiheit in der neuesten Rechtsentwicklung, S. 113/125.

B. Die Varianten des Dienstleistungsverkehrs

61

der Art. 59 ff. nicht etwa die Dienstleistung selbst, sondern nur ein mit ihrer Erbringung verbundener Ortswechsel eines der Beteiligten zeitlich begrenzt sein muß35.

4. Grundtyp 3: Der Dienstleistungsempfänger begibt sich zur Inanspruchnahme der Dienstleistung vorübergehend in das Land des Dienstleistungserbringers (passive Dienstleistungsfreiheit) Unter dem Begriff "passiver Dienstleistungsverkehr" werden im folgenden - analog zur oben eingeführten Terminologie - diejenigen Formen des Dienstleistungsverkehrs verstanden, bei denen sich der Empfänger der Dienstleistung vorübergehend in das Land des Leistenden begibt. Ersterer wird dabei als "passiver Dienstleistungsempfänger", der einheimische Erbringer der Dienstleistung als "passiver Dienstleistungserbringer", bezeichnet. Soweit er sich bei der Entgegennahme der Dienstleistung auf die gemeinschaftsrechtliche Dienstleistungsfreiheit berufen kann, wird dieser Tatbestand als "passive Dienstleistungsfreiheit" charakterisiert 36. - Im Schrifttum wird auch - weniger aussagekräftig und treffend - von "negativer" Dienstleistungsfreiheit gesprochen 37, wobei nicht ersichtlich ist, was an der einen Form der Dienstleistungsfreiheit "positiv", an der anderen "negativ" sein soll. Während es bei "aktiven" Formen der Dienstleistungsfreiheit um Beschränkungen geht, die dem Dienstleistungserbringer auferlegt werden, liegt die Problematik der passiven Dienstleistungsfreiheit vor allem bei möglichen Beschränkungen, die dem Empfänger von Dienstleistungen als Gebietsfremdem auferlegt werden können oder die sich auf die Dienstleistung als solche beziehen. Wirtschaftlich gesehen zielen aber beide Varianten der Dienstleistungsfreiheit (im Gegensatz etwa zur Niederlassungsfreiheit oder zum Kapitalverkehr) auf die Liberalisierung des Austauschs von Produkten. Dennoch weist die "passive" Dienstleistungsfreiheit gegenüber der "aktiven" eine Reihe von Besonderheiten auf. Dies liegt zum einen daran, daß die tatsächliche Situation eine andere ist, wenn das grenzüberschreitende Element darin liegt, daß sich der Dienstleistungsempfänger in das Land des Dienstleistungserbringers begibt. Zum anderen ergeben sich Probleme daraus, daß das Dienstleistungskapitel ursprünglich nur mit Blick auf die aktive Dienstleistungsfreiheit konzipiert wurde und die Eigenheiten des passiven Dienst35 Seidel, ZVersWiss 1987, S. 175/186 f. 36 Diese terminologische Differenzierung zwischen aktiver und passiver Dienstleistungsfreiheit wurde im deutschen Sprachraum recht früh vorgenommen. Sie findet sich bereits bei Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 637 und in neuerer Zeit bei Oppermann, unter anderem in Europarecht, Ziff. 1499 ff. Eine vergleichbare Sprachregelung der verschiedenen Varianten der Dienstleistungsfreiheit ist dem Verf. in anderen Gemeinschaftssprachen nicht begegnet - es dürfte sich bislang um eine deutsche Besonderheit handeln. 37 Schweitzer / Hummer, Europarecht S. 268; Rochard, Freizügigkeit der Ärzte, S. 17.

62

3. Kap.: Grundlagen

leistungs verkehrs nicht berücksichtigt wurden. Schließlich weist die passive Dienstleistungsfreiheit gegenüber sämtlichen anderen Formen der Freizügigkeit die Besonderheit auf, daß der von ihr Begünstigte in seiner Eigenschaft als Dienstleistungsempfanger keiner Erwerbstätigkeit nachgeht oder nachzugehen braucht.

C. Die Diskussion um die Anerkennung der passiven Dienstleistungsfreiheit vor dem Urteil "Luisi und Carbone" I. Das EuGH-Verfahren "Watson und Beiman" Die Frage, ob der freie Dienstleistungsverkehr grundsätzlich auch die Freiheit des Dienstleistungsempfängers einschließt, sich zur Inanspruchnahme einer Dienstleistung in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, war lange Zeit umstritten. Zahlreiche Stimmen verneinten die Anwendbarkeit des Dienstleistungskapitels auf den passiven Dienstleistungsempfanger ganz oder weitgehend. Zu diesen gehörte namentlich GA Trabucchi in seinen Schlußanträgen vom 2. 6. 1976 zur Rechtssache "Watson und Belman"38, auf den sich anschließend viele Stimmen im Schrifttum beriefen 39. In diesem Verfahren ging es um die britische Staatsangehörige Lynne Watson, die bei dem italienischen Staatsangehörigen Alessandro Belman in Mailand wohnte, ohne den italienischen Meldevorschriften genügt zu haben. Beide Beteiligten wurden deshalb vor dem zuständigen Gericht, der Pretura Mailand, angeklagt, das dem EuGH ein Ersuchen um Vorabentscheidung vorlegte. Die Motive ihres Aufenthalts wurden im Verfahren nicht eindeutig geklärt. Die Pretura Mailand machte hierüber in ihrem Vorlagebeschluß keine Angaben. Frau Watson und Herr Beiman trugen im Verfahren vor dem EuGH vor, die Aufnahme oder genauer die Unterkunft und Verpflegung seien für die Mitarbeit und Hilfe gewährt worden, die Frau Watson insbesondere zur Pflege eines Kleinkindes in der Familie Belman leisten mußte 40 • 38 EuGH Rs. 118/75, EuGHE 1976, 1185/1201 ff. 39 Auch GA Capotorti schloß sich dieser Auffassung in seinen Schlußanträgen zur Rs. 66/77 (Kuyken), EuGHE 1977,2311/2325, an. Dieser Ansicht vor allem auf Touristen bezogen mit gleicher oder ähnlicher Begründung folgend Riegel, NJW 1978, S. 468/ 469 f. (allerdings unter grundsätzlicher Anerkennung der passiven Dienstleistungsfreiheit in eingeschränktem Umfang: "Die Einbeziehung von Leistungsempfängern kann sich nur auf Fälle beziehen, in denen der Empfanger einer konkreten Leistung sich zum Leistungserbringer begibt, weil ansonsten die Leistung nicht sinn- oder zweckvoll erbracht werden kann." [So 469]). Stadler, Berufsfreiheit in der EG, S. 10; BBPS-Streil, 1. Auflage 1979, S.265, 2. Auflage 1982, S.297; Parry / Dinnage, EEC-Law, 1981, S. 268 (ohne eigene Stellungnahme); Wohlfahrt, Die Freiheit des Personenverkehrs und der Vorbehalt der öffentlichen Ordnung, 1981, S.85/88; Geck/Oehler, JuS 1983, S. 129/133 und Fn. 23 (allerdings unter Anerkennung der passiven Dienstleistungsfreiheit für Personen, deren Aufenthalt gerade dem Zweck diene, eine Dienstleistung zu empfangen, was bei Touristen nicht der Fall sei). - A.A. als GA Trabucchi namentlich Bogdan, JWTL 1977, S. 468 ff. in seiner von diesem Urteil ausgehenden Analyse.

C. Die Diskussion vor dem Urteil "Luisi und Carbone"

63

In diesem Verfahren kam u.a. auch die Frage der Reichweite der passiven Dienstleistungsfreiheit zur Sprache. Die Kommission 41 vertrat insoweit die Auffassung, Frau Watson sei als Touristin nach Italien gekommen und deshalb als Empfängerin von Dienstleistungen anzusehen, für welche die Artikel 59 ff. EWGV gälten. Dem widersprachen die italienische und die britische Regierung 42 : Zwar beziehe sich Art. 59 EWGV auch auf den Empfänger einer Dienstleistung, doch sei damit nicht beabsichtigt, ihn als solchen zu schützen, sondern den Schutz des Dienstleistungserbringers zu ermöglichen, der sonst unvollständig wäre. Die Auffassung der Kommission werde im übrigen dadurch widerlegt, daß es Touristen gebe, die - wie die Campingreisenden oder die Anhalter - die Dienste des Aufnahmelandes nicht in Anspruch nähmen. Zudem wurde auf das Urteil "Walrave und Koch" 43 verwiesen, demzufolge der Vertrag nur für wirtschaftliche Tätigkeiten gelte. Zu einem ähnlichen Ergebnis führte die insoweit ausführlichere Stellungnahme des Generalanwalts: Das Dienstleistungskapitel schweige über den Empfänger von Dienstleistungen. Es treffe zwar zu, daß der Leistungsempfänger im Sekundärrecht zur Verwirklichung der Dienstleistungsfreiheit vorkomme,44. Dort würden die Mitgliedstaaten u.a. verpflichtet, die Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten aufzuheben, die sich als Empfänger einer Dienstleistung in einen anderen Mitgliedstaat begeben wollten. Durch eine weite Auslegung dieser Vorschrift würde das Recht auf Freizügigkeit aber praktisch auf alle Bürger der Mitgliedstaaten ausgedehnt, da jeder tatsächlich oder potentiell Empfänger von Dienstleistungen sei. Dies entspreche weder dem Wortlaut von Art. 59 noch dem System des Vertrages, der die Freizügigkeit für bestimmte Gruppen von Marktteilnehmern vorsehe. Die Tragweite einer solchen Ausdehnung würde dazu führen, die im Vertrag unternommene Bestimmung der Personengruppen, die in den Genuß des von ihm gewährleisteten Rechts auf Freizügigkeit kommen könnten, jeden Sinns zu berauben. Eine Freizügigkeit der Dienstleistungsempfänger könne man äußerstenfalls insoweit in Betracht ziehen, als sie sich "als ein unlöslich mit der Bewegungsmöglichkeit des Leistungserbringers verbundener Aspekt" darstelle. Wie diese letzte Formulierung zu verstehen sein könnte, läßt sich den weiteren Ausführungen nicht entnehmen. Jedenfalls lehnte GA Trabucchi die Anwendung des Dienstleistungskapitels auf Dienstleistungsempfänger grundsätzlich ab. Es sei allenfalls denkbar, daß eine gewohnheitsrechtliche Norm im Gemeinschaftsrecht entstanden sei, kraft derer alle Touristen ein Recht auf die gleiche Behandlung geltend machen könnten, welche die Staaten den Erbringern von Dienstleistungen angedeihen zu lassen verpflichtet EuGHE 1976, 1185/1189. EuGHE 1976, 1185/1193. 42 EuGHE 1976, II 85 /1195. 43 EuGH Rs. 36/74, EuGHE 1974, 1418. 44 Insbesondere in der RL 64/220 und später in der RL 73/148, dazu näher u. 7. 40 41

Kapitel A IV.

64

3. Kap.: Grundlagen

seien. Dies zu entscheiden überließ er dem Gericht, wobei er jedoch in diesem Fall vor einer fiktiven Berufung auf den Wortlaut des Vertrages warnte. Der EuGH schließlich bezog in seiner Entscheidung zur Frage der passiven Dienstleistungsfreiheit nicht ausdrücklich Stellung, verwies aber immerhin u.a. auf den Passus der Präambel zu RL 73/148, wo es heißt, der freie Dienstleistungsverkehr erfordere, daß dem Leistungserbringer und dem Leistungsempfänger "ein Aufenthaltsrecht entsprechend der Dauer der Dienstleistung" eingeräumt werde 45. 11. Die Diskussion in der Literatur

1. Gegner

Das Schrifttum bot vor der Entscheidung ,,Luisi und Carbone" ein uneinheitliches Bild. Vor allem im früheren Schrifttum wurde nicht selten nur die aktive Dienstleistungsfreiheit als Regelungsbereich der Art. 59 ff. gesehen und die beiden anderen Varianten nicht einmal erwähnt 46 • Soweit man diese Dreiteilung überhaupt erkannte, wurde die Anwendbarkeit des Dienstleistungskapitels auf den passiven Dienstleistungsverkehr teils bejaht, teils verneint, wobei nur selten auf die Problematik näher eingegangen wurde. Wichtige Anwendungsbereiche der passiven Dienstleistungsfreiheit, etwa der Fremdenverkehr, wurden überhaupt nicht im Zusammenhang mit dem Dienstleistungskapitel gesehen. Bühnemann 47 etwa erkannte 1967 nur die aktive Dienstleistungsfreiheit und die Korrespondenzdienstleistung als Regelungsgegenstand des Dienstleistungskapitels an. Van Geryen 48 beschränkte 1969 den Anwendungsbereich des Dienstleistungskapitels noch auf die aktive Dienstleistungsfreiheit. Petersen 49 befaßte sich 1982 mit der Frage, ob Zahlungen von Touristen als auf den Dienstleistungsverkehr bezogener Zahlungsverkehr i.S.v. Art. 106 Abs. I EWGV betrachtet werden können. Er verneinte dies mit dem Argument GA Trabucchis in der Rechtssache "Watson und Beiman", Touristen seien keine Dienstleistungsempfänger i. S. d. Gemeinschaftsrechts, insbesondere auch nicht i. S. d. RL 73/148, weil sonst letztlich alle Gemeinschaftsbürger den Regeln über den freien Personenverkehr unterfallen würden und insbesondere Art. 48 EWGV ausgehebelt würde 50. Er kam aber über die Annahme der UIunittelbaren EuGHE 1976, S. 1185/1198. Z.B. Kapteyn / VerLoren van Themaat, Introduction to the Law of the European Communities, 1973, S. 212 ff.; Lasok, The Law of the Economy in the European Communities, 1980, S. 143 ff. (allerdings wird der Dienstleistungsempfänger immerhin bei Darstellung der RL 73/148 auf S. 103 erwähnt). 47 Die Niederlassungsfreiheit von Versicherungsunternehmen im Gemeinsamen Markt, 1967, S. 27 f. 48 In Ganshofvan der Meersch (Hrsg.): Droit des Communautes europeennes, 1969, Ziff. 1856. 49 ELRev 1982, S. 167 ff. 45

46

C. Die Diskussion vor dem Urteil "Luisi und Carbone"

65

Anwendbarkeit von Art. 106 Abs. 3 EWGV hinsichtlich des touristischen Zahlungsverkehrs zum selben Ergebnis wie später der EuGH im Urteil "Luisi und Carbone" über Art. 106 Abs. I. Auch Hailbronner 51 vertrat noch Anfang 1984, als das Urteil "Luisi und Carbone" gerade erging, einen sehr restriktiven Standpunkt: Namentlich Touristen könnten nicht als Empfänger von Dienstleistungen angesehen werden. Zum einen verfolgten sie mit ihrem Aufenthalt keinen Erwerbszweck, zum anderen hätte ihre Qualifikation als Dienstleistungsempfänger zur Folge, daß praktisch alle Gemeinschaftsangehörigen Freizügigkeit genießen würden. Gemeint sei mit dem Begriff "Empfänger von Dienstleistungen" vor allem die Entgegennahme der Ausführung bestimmter Aufträge in einem anderen Mitgliedstaat der Gemeinschaft. Das erste Argument übersieht, daß auch beim passiven Dienstleistungsverkehr immerhin der Leistungserbringer einen Erwerbszweck verfolgen muß, so daß auch derartige Vorgänge zum Wirtschaftsleben im Sinne des Gemeinschaftsrechts zählen. Das zweite Argument berücksichtigt nicht die Möglichkeit, den Anwendungsbereich der passiven Dienstleistungsfreiheit durch ein Element der Finalität im Hinblick auf die in Anspruch genommenen Dienstleistungen einzugrenzen 52 • - In der 1. Auflage seines im Juli 1984 abgeschlossenen Handbuchs zum Ausländerrecht wird der Entscheidung "Luisi und Carbone" und der in ihr erfolgten Anerkennung der passiven Dienstleistungsfreiheit (auch für Touristen) dann in zurückhaltender Weise Rechnung getragen: "Die so verstandene Freizügigkeit muß allerdings strikt auf die Entgegennahme der Dienstleistung beschränkt bleiben und kann kein darüber hinausgehendes Aufenthaltsrecht und Anspruch auf soziale Leistungen beinhalten. Anderenfalls würden die gemeinschaftsrechtlich geregelten Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Dienstleistungsfreiheit gegenstandslos." 53. 50 Ebd., S. 179 f.: "The provisions of the Treaty concerning freedom to provide services only speak of those who provide services not of those who receive services. According to Council Directive 73/148 of May 21, 1973, the Member States must abolish restrictions on the movement and residence of therecipients of services too. If tourists are considered recipients of services, it follows that nearly everybody staying abroad will be covered by the rules of the free movement for recipients of services, incJuding the student and the pensioner who also receive services. This would mean that ArticJe 48 in particular concerning freedom of movement for workers would be bypassed." 51 Kommentierung des AufenthG/EWG in: Das Deutsche Bundesrecht, 516. Lieferung, (auf März 1984 datiert), S. 14. Die Entscheidung "Luisi und Carbone" war Hailbronner hier noch nicht bekannt. Im Text wird lediglich auf die Entscheidung des OVG Koblenz, NJW 1977, S. 511 f. verwiesen, die auch sonst im Schrifttum verschiedentlich Erwähnung findet. Diese Entscheidung differenziert jedoch lediglich zwischen Dienstleistungsempfangern und solchen Personen, die sich nur zu "Besuchszwecken" in einen anderen Mitgliedstaat begeben. 52 Dazu ausführlich u. 7. Kapitel C III. 53 Ausländerrecht, 1. Auf!. 1984, Ziff. 61. Vgl. auch Ziff. 780 und 822. In der 2. Auf!. 1989 wird die passive Dienstleistungsfreiheit in Rs. 952 f. und 964 behandelt (und anerkannt).

5 Völker

66

3. Kap.: Grundlagen

In einer 1985 erschienen Dissertation 54 will Rochard in einer kurzen Stellungnahme (ohne nähere Begründung) den Anwendungsbereich des Dienstleistungskapitels auf die aktive Dienstleistungsfreiheit beschränken und auf die anderen Fälle (systemwidrig) die Vorschriften des freien Kapital- bzw. Warenverkehrs anwenden. Die Entscheidung ,,Luisi und Carbone" wird nicht angesprochen und war offenbar bei Abschluß der Arbeit noch nicht bekannt.

2. Befürworter Aber auch vor dem Urteil "Luisi / Carbone" gab es bereits Stimmen in der Literatur, welche die grundsätzliche Anerkennung der passiven Dienstleistungsfreiheit befürworteten, häufig unter lapidarer Berufung auf das sekundäre Gemeinschaftsrecht, insbesondere RL 73/148. Bereits 1958 sprach sich Ehring für die Anwendbarkeit der Art. 59 ff. auf alle drei Grundtypen grenzüberschreitender Dienstleistungen aus 55 • Als weitere Befürworter aus der Folgezeit sind Bode 56 , Cerexhe 57 , Vignes 58 , Grabitz 59 , Ipsen fIJ , Maestripieri 61 , Much und Seche 62 , Bleckmann 63 , Bogdan 64 , Wendling 6 5, Kranz 66 54 Niederlassungsrecht, freier Dienstleistungsverkehr und europäische Integration am Beispiel der Freizügigkeit der Ärzte in der Europäischen Gemeinschaft, S. 16 f. (Tag der mündlichen Prüfung: 3. 12. 1985. Der genaue Stand der Arbeit wird nicht angegeben). 55 In: v.d.Groeben I v.Boeckh, Kommentar zum EWG-Vertrag, 1. Aufl. 1958, Art. 59 Anm. 3. Allerdings hielt er diese Anwendbarkeit hinsichtlich der passiven Dienstleistungsfreiheit für praktisch wenig bedeutsam, da in solchen Fällen lediglich devisenrechtliche Beschränkungen der Mitnahme von Zahlungsmitteln zu gewärtigen seien, für die Art. 106 Abs. 2 EWGV Anwendung fande (Anm. 5 zu Art. 60). - In den beiden Folgeauflagen des Werks folgte der neue Bearbeiter Troberg dieser Auffassung (2. Aufl., S. 517 f.; 3. Aufl., Art. 59 Rz. 7). 56 Die Diskriminierungsverbote im EWGV, 1968, S. 181, 194 f., 200 f. 57 Le Droit Europeenne. Vol. 2: La libre Circulation des Personnes et des Entreprises, 1969, Ziff. 17 (S. 14): Hier wird sogar ausdrücklich der Tourismus als Anwendungsfall genannt. 58 Services, in: Le Droit de la CEE, Band 3, S. 108/110: "Ce pourra encore etre le destinataire du service qui viendra chez le prestataire pour recevoir soins ou conseils ... " 59 Europäisches Bürgerrecht, 1971, S. 82 (mit kurzer Erwähnung der devisenrechtlichen Problematik), 86 (zur Beschränkung der Aufenthaltsberechtigung auf die Dauer der Entgegennahme der Leistung). fIJ Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 637. 61 CMLRev 1973, S. 150/160 f. 62 CDE 1975, S. 251/265. 63 Europarecht, 1. Aufl. 1976, S. 257 und sämtliche Folgeauflagen. 64 JWTL 1977, S. 468 ff. Bogdan ist einer der wenigen, die sich bereits vor dem Urteil "Luisi und Carbone" mit der passiven Dienstleistungsfreiheit als solcher ausführlicher auseinandersetzten. Er sah auch bereits Touristen als passive Dienstleistungsempfanger an und gestand ihnen für die Dauer der Entgegennahme von Leistungen ein (zeitlich nicht von vornherein beschränkbares) Aufenthaltsrecht zu. Näher zu seiner Stellungnahme u. 7. Kapitel C III. 65 RevMC 1982, S. 132/147.

C. Die Diskussion vor dem Urteil "Luisi und Carbone"

67

und in eingeschränktem Umfang auch Riegel 67 zu nennen. Die entsprechende Stellungnahme im "Dictionnaire du Marche Commun" 68 bezog 1982 ebenfalls den passiven Dienstleistungsverkehr ein. Einige ausführlichere Stellungnahmen sollen kurz dargestellt werden:

Tomuschat 69 wollte 1977 im Hinblick auf Touristen die passive Dienstleistungsfreiheit jedenfalls dann gelten lassen, wenn bereits vor Reiseantritt eine konkrete Rechtsbeziehung zwischen den Beteiligten besteht. Für den Fall einer räumlich und zeitlich unbestimmten Reise läßt er dies offen, weist aber darauf hin, daß die daraus entstehenden Probleme "sont d'une complexite extreme et n'admettent pas de reponse facile."70 Nicolaysen 71 erkannte 1979 in einer kurzen Stellungnahme denjenigen als Empfänger von Dienstleistungen im Sinne des Gemeinschaftsrechts an, für den die Inanspruchnahme einer gewissen Leistung ein wesentlicher Zweck seiner Reise sei und nennt als Beispiel einen Sanatoriumsaufenthalt. Davon abzugrenzen sei der bloße Besucher, der sich "nicht in spezifischen beruflichen oder gewerblichen Zusammenhängen in einem anderen Land aufhält". Steindorjfvertrat in zwei Aufsätzen, die beide 1983 erschienen, in einem Fall die Ablehnung der passiven Dienstleistungsfreiheit, im anderen, wenig später erschienenen ihre Anerkennung 72 • In diesem, die passive Dienstleistungsfreiheit ausführlicher behandelnden und bejahenden Aufsatz wird auch die Argumentation von GA Trabucchi in "Watson und Beiman" treffend kritisiert: ,,[... ] Den hiergegen von Generalanwalt Trabucchi erhobenen Bedenken ließe sich durch Begrenzung des Aufenthaltsrechts auf diejenigen Personen Rechnung tragen, 66 Die Ausübung öffentlicher Gewalt durch Private nach dem Europäischen Gemeinschaftsrecht (Manuskr. im August 1983 abgeschlossen), S. 79 (unter Berufung auf das A.P.), S. 85 pass. 67 NJW 1978, S. 468 ff. (vgl. bereits o. Fn. 39). 68 Stichwort "Etablissement et Services", Anm. 14 (Stand: 1982). 69 CDE 1977, S. 97 ff. 70 Ebd., S. 102. 71 Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1979, S. 117 unter Berufung auf OVG Rheinland-Pfalz, NJW 1977, S. 511. Ihm folgend Geck / Oehler, JuS 1983, S. 129/133 (dort im Hinblick auf grenzüberschreitende Demonstrationen). 72 In NJW 1983, S. 1231 (u. 2.) heißt es im Zusammenhang mit der Frage, ob staatliche Bildungsleistungen unter das Dienstleistungskapitel fallen, lapidar: [... ] Zweitens kann Dienstleistungsfreiheit Rechte nur für die Erbringer von Leistungen und nicht für deren Empfänger begründen. [... ]" - Anders in RIW 1983, S. 831 ff.: ,,zur Richtung der von der Dienstleistungsfreiheit profitierenden Leistungen steht heute fest, daß sowohl die Leistung in den Staat hinein wie die Inanspruchnahme der Leistung innerhalb eines Staats durch einen Ausländer von Beschränkungen befreit, also von Dienstleistungsfreiheit geschützt sind. Zur Inanspruchnahme durch Ausländer zählen beispielsweise das Aufsuchen eines Arztes, die stationäre Behandlung in einem Krankenhaus oder die Kur in einem Heilbad." (S. 832 f. [u. 3.]). Etwas weiter unten (noch u. 3.) wird sogar die passive Dienstleistungsfreiheit für den Tourismus bejaht und anerkannt, daß Erbringer und Empfänger von Dienstleistungen gleichermaßen Rechtsschutzansprüche geltend machen können (u. 6.).

5"

68

3. Kap.: Grundlagen

deren Aufenthalt vorwiegend der Inanspruchnahme von Dienstleistungen, z. B. Studium, dient. Im übrigen werden diese Bedenken nur darauf gegründet, daß Aufenthaltsrechte für die Empfänger von Dienstleistungen andere, namentlich für Arbeitnehmer geschaffene Aufenthaltsrechte überflüssig machen. Diese Begründung aber ist unhaltbar. Aufenthaltsrechte ergeben sich unmittelbar aus primärem Gemeinschaftsrecht, soweit sie für seine Freiheiten nötig sind. Es wäre absurd, sie für die Inanspruchnahme selbständiger Dienstleistungen zu verneinen, weil sie Arbeitnehmern zustehen. Ein argurnenturn e contrario aus Art. 60 Abs. 3 wäre ebenso unbegründet." 73 Auch Demaret und Ernst de La Graete 74 bejahten 1983 aufgrund der RL 73/ 148 grundsätzlich die passive Dienstleistungsfreiheit, legten dabei aber ein so enges Verständnis zugrunde, daß von ihr wenig übrigblieb: ,,[ ... ] pour beneficier [... ] du droit de sejourner dans un Etat membre, il ne suffit pas d'etre un consommateur de services dans cet Etat. [... ] Aujourd'hui, le droit d'entrer et de sejourner dans un Etat membre reste essentiellement reserve aux personnes [... ] qui souhaitent exercer ou exercent une activite economique dans cet Etat." 75. Nach dieser Auffassung müßte sich wohl auch ein passive Dienstleistungsempfänger i. S. d. Gemeinschaftsrechts im Gastland auf irgendeine Weise aktiv wirtschaftlich betätigen. Dennoch werden in unklarer Weise Studenten als Dienstleistungsempfänger i. S. d. Gemeinschaftsrechts anerkannt76 • Diese Auffassung übersieht, daß auch Leistungen, die unter Grenzüberschreitung des Empfängers erbracht werden, zum Wirtschaftsleben i. S. d. EWGV gehören, weil der passive Dienstleistungserbringer gewerblich tätig ist und für seine Tätigkeit ein Entgelt erhält 77. Abweichend von früheren Stellungnahmen 78 bekannte sich schließlich van Gerven in einer auf Januar 1984 (dem Erscheinungsmonat des Urteils "Luisi und Carbone") datierten Veröffentlichung 79 zu einer Einbeziehung des passiven Dienstleistungsempfängers in den Anwendungsbereich des Dienstleistungskapitels: "Article 59 speaks only of the elimination of restrictions on the right to provide services. But the idea of a Community-wide ,common market', on which much of the Treaty is based, implies that consumers, as weil as producers, have a right to obtain goods and services anywhere within the Community"80. Insgesamt bleibt festzuhalten, daß die einschlägigen Stellungnahmen vor dem Urteil "Luisi und Carbone" relativ spärlich und zumeist sehr kurz waren. Soweit 73 RIW 1983, S. 833 (u. 8.). 74 CDE 1983, S. 261/265 ff. 75 Ebd., S. 267 76 Ebd., S. 267, Fn. 30. 77 Dazu näher u. 4. Kapitel B IV. 78 O. Fn. 48. 79 Die Entscheidung "Luisi und Carbone" konnte ihm also noch nicht bekannt gewesen sein und wird auch nicht erwähnt. 80 Smit / Herzog-van Gerven, Art. 59,59.06, Supplement 1984, S. 80.

C. Die Diskussion vor dem Urteil "Luisi und Carbone"

69

die passive Dienstleistungsfreiheit überhaupt anerkannt wurde, geschah dies eher zurückhaltend und mit der spürbaren Besorgnis eines damit verbundenen Ausuferns gemeinschaftsrechtlicher Freizügigkeitsrechte.

III. Die Behandlung des passiven Dienstleistungsverkehrs in der Gemeinschaftspraxis

1. Der EWG-Vertrag

Wie bereits erwähnt, beziehen sich Art. 59 Abs. 1 und Art. 60 Abs. 3 EWGV eher auf den Dienstleistungsempfänger. Art. 59 Abs. 1 betrifft seinem Wortlaut nach lediglich die Aufhebung von Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs "für Angehörige der Mitgliedstaaten, die in einem anderen Staat der Gemeinschaft als demjenigen des Leistungsempfängers ansässig sind", also die Aufhebung von Beschränkungen in der Person des Leistungserbringers. Art. 60 Abs. 3 normiert ausdrücklich ein Aufenthaltsrecht nur für den Leistenden. Der Wortlaut dieser Vorschriften gibt mithin für die Frage, ob und in welchem Umfang der passive Dienstleistungsverkehr und die Korrespondenzdienstleistungen in ihren Regelungsbereich fallen, kaum Anhaltspunkte. 2. Das Allgemeine Programm von 1961

Am 18. 12. 1961 stellte der Rat gemäß Art. 63 Abs. 1 EWGV ein Allgemeines Programm (A. P.) zur Aufhebung der Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs auf 81 • Es entspricht nach Aufbau und Inhalt weitgehend dem gleichzeitig erlassenen Allgemeinen Programm zur Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit 82 (v g1. Art. 54 EWGV). Neben Abschnitt I, der die durch die Aufhebung der Beschränkungen Begünstigten bezeichnet, ist vor allem Abschnitt III von Bedeutung. Dort werden die aufzuhebenden Beschränkungen näher umschrieben. Mit Ablauf der Übergangszeit sind die A. P. durch die unmittelbare Anwendbarkeit der Art. 52 und 59 an sich rechtlich obsolet geworden. Sie können auch nicht als zwingende Interpretation des primären Gemeinschaftsrechts angesehen werden 83. Dennoch sind sie weiterhin nicht ohne praktische Bedeutung, da die in ihnen enthaltenen Aufzählungen diskriminierender Verhaltensweisen einen beispielhaften, für Kommission und Gerichtshof hilfreichen Katalog für verbotene 81 ABI. 1962, S. 32. Zur streitigen Frage der Rechtsnatur und Verpflichtungswirkung der Allgemeinen Programme z. B. Grabitz-Randelzhofer, Art. 54, Rz. 4 m. w.N. (selbst für bloße Bindung des Rates und der anderen Organe ohne rechtliche Außenwirkung). Nach h. M. sind sie jedenfalls für die Mitgliedstaaten nicht verbindlich, da sie nicht zu den in Art. 189 EWGV genannten Organakten gehören; so z. B. GBTE-Troberg, Art. 54 Rz. 3 ("Rechtsakt eigener Art"), m. w.N.; Grabitz-Randelzhofer, vor Art. 52 Rz. 23. 82 ABI. 1962, S. 36. 83 Steindorff, EuR 1981, S. 426/436.

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3. Kap.: Grundlagen

und zu beseitigende Diskriminierungen darstellen und auch ihre Definitionen, die häufig mit der Nomenklatur der RL übereinstimmen, nach wie vor Relevanz sind 84. Die A. P. werden vom Gerichtshof häufig als Argumentationshilfe beigezogen, nicht zuletzt auch im Urteil "Luisi und Carbone"85. Im Hinblick auf die hier behandelte Thematik enthält das A. P. einige aufschlußreiche Hinweise darauf, in welchem Umfang auch der Empfänger von Dienstleistungen bereits nach den damaligen Ratsvorstellungen in die Liberalisierung einbezogen werden sollte: Wie der EWGV geht auch das A. P. noch vom aktiven Dienstleistungsverkehr als Regelfall aus und nennt in seinem Abschnitt I als Begünstigte der vorgesehenen Aufhebungen von Beschränkungen des Dienstleistungsverkehrs lediglich die Leistungserbringer. Abschnitt 11. des A. P., der die nationalen Vorschriften über Einreise, Ausreise und Aufenthalt betrifft, stellt ebenfalls allein auf den Dienstleistungserbringer ab. Dagegen wird in dem besonders wichtigen Abschnitt III. des A. P., der die Aufhebung der dem freien Dienstleistungsverkehr entgegenstehenden Beschränkungen betrifft, auch der Empfänger von Dienstleistungen in mittelbarer Weise miteinbezogen. Wörtlich heißt es dort: "Vorbehaltlich der im Vertrag vorgesehenen Ausnahmen oder Sonderbestimmungen [... ] sind die nachstehenden Beschränkungen, unabhängig davon, ob der Leistungserbringer unmittelbar oder mittelbar auf dem Weg über den Leistungsempfänger oder über die Leistung von ihnen betroffen wird, [. .. ] aufzuheben." Zwar werden auch hier die Beschränkungen in erster Linie im Hinblick auf eine Betroffenheit des Leistungserbringers angesprochen. Gleichzeitig wird jedoch deutlich zum Ausdruck gebracht, daß auch Beschränkungen des Leistungsempfängers aufzuheben sind, jedenfalls, soweit sie unmittelbar oder mittelbar auch den Leistungserbringer betreffen, was aber in aller Regel der Fall sein dürfte: Fast alle Behinderungen des Dienstleistungsempfangers bei der Entgegennahme der Dienstleistung behindern notwendig auch den Dienstleistungserbringer bei deren Erbringung. Allerdings wird nicht zwischen aktivem und passivem Dienstleistungsverkehr differenziert, weshalb nicht klar wird, ob sich diese Ausführungen nur auf den aktiven oder auch auf den passiven Dienstleistungsempfänger beziehen sollen. Die meisten der anschließend im Unterabschnitt A. des III. Abschnitts des A. P. genannten aufzuhebenden Beschränkungen betreffen ebenfalls entweder ausschließlich oder in erster Linie den Erbringer von Dienstleistungen. Dies gilt z. B. für das Verbot der Erbringung gewisser Dienstleistungen allein für Ausländer oder für den Fall, daß die Erbringung der Dienstleistung allein für Ausländer 84 Grabitz-RandelzhoJer, vor Art. 52 Rz. 27; Lasok, Professions, S. 34 (,,[ ... ] guidelines to the legislative organs of the Community and aid to interpretation to the Court of Justice. [... ] checklist of progress. "); Everling, GS Constantinesco, S. 133/135 (= Ausgewählte Aufsätze, S. 105/107): "In der Praxis wurden die Programme wie Orientierungshilfen verstanden; rechtliche Folgerungen wurden nicht aus ihnen hergeleitet." 85 EuGHE 1984, 377 /402.

C. Die Diskussion vor dem Urteil ,,Luisi und Carbone"

71

von einer Genehmigung oder Bescheinigung (lit. b), einem vorherigen Aufenthalt oder einer beruflichen Probezeit (lit. d) abhängig gemacht oder durch steuerliche und andere Lasten oder durch die Erbringung einer Kaution oder dgl. in diskriminierender Weise erschwert wird 86 • Die im zweiten Teil des Unterabschnitts A genannten (ebenfalls aufzuhebenden) Beschränkungen sind dem Wortlaut nach ebenfalls auf die "normalerweise mit der Erbringung von Dienstleistungen verbundenen" Vorgänge zu beziehen. Hier geht es vor allem um diskriminierende Beschränkungen bei Abschluß und Abwicklung von Verträgen (lit. a), der Beteiligung an staatlichen Aufträgen (lit. b), Erwerb staatlicher Konzessionen (lit. c), Rechts- und Vermögenserwerb (lit. d), Erwerb und Nutzung von Immaterialgüterrechten (lit. e), Zugang zu Krediten und staatlichen Subventionen (lit. f. und g) !>owie um Rechtsschutz vor Gerichten und Verwaltungsbehörden (lit h). Obgleich sich einige derartige Beschränkungen auch auf die Person des gebietsfremden Dienstleistungsempfängers übertragen lassen (etwa lit. a, d, e, h), sind sie nach den Intentionen der Verfasser eindeutig auf den Dienstleistungserbringer bezogen. Dies beweist auch der Nachsatz zum zweiten Teil, der nochmals in allgemeiner Weise jede Form staatlicher Voraussetzungen oder Vorbedingungen für die Erbringung einer Dienstleistung als Beschränkung wertet. Auch Unterabschnitt B. des III. Abschnitts, der jedes "Verbot oder jede Behinderung des Orts wechsels des Gegenstands oder Trägers der Leistung oder der für eine Leistung verwendeten Werkzeuge, Maschinen, Apparate und sonstigen Hilfsmittel" als Beschränkung wertet, bezieht sich (neben dem Gegenstand der Leistung) wieder nur auf den Erbringer der Leistung. Dasselbe gilt für Unterabschnitt c., der jedes "Verbot oder jede Behinderung der Überweisung der zur Erbringung der Leistung erforderlichen finanziellen Mittel" in die anzustrebende Liberalisierung einbezieht. Neutraler und seinem Sinn nach in erster Linie auf den Dienstleistungsempfänger bezogen ist dagegen der abschließende Abschnitt D. formuliert. Ihm zufolge unterliegt grundsätzlich auch "jedes Verbot oder jede Behinderung von Zahlungen für Leistungen" der Liberalisierung, soweit der Dienstleistungsverkehr nur durch derartige Beschränkungen begrenzt ist. Hier werden immerhin ausdrücklich die möglichen Behinderungen berücksichtigt, die Zahlungen des Dienstleistungsempfangers entgegenstehen können, ein Problemkreis, der dann später auch in der Rechtsprechung des EuGH zur passiven Dienstleistungsfreiheit als auslösender Faktor wirkte 87 • Zusammenfassend betrachtet enthält das A. P. noch keinen ausdrücklichen Hinweis darauf, ob der gemeinschaftsrechtlich zu liberalisierende Dienstleistungsverkehr lediglich Fälle betrifft, in denen das grenzüberschreitende Element in einer grenzüberschreitenden Ortsveränderung des Dienstleistungserbringers 86 87

Ähnliches gilt auch für lit. c und g. EuGH Rs. 286/82 (Luisi und Carbone), EuGHE 1984, 377.

3. Kap.: Grundlagen

72

(oder der Dienstleistung selbst) besteht oder ob auch die Fälle einbezogen werden sollten, bei denen sich der Dienstleistungsempfänger in das Land des Dienstleistungserbringers begibt. Man war sich zwar der drei Grundtypen des grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehrs bewußt, betrachtete aber offenbar den aktiven Dienstleistungsverkehr als den bedeutsamsten und einer Regelung besonders bedürftig. Im Hinblick auf die Zielsetzung des Dienstleistungskapitels nach dem Willen seiner Schöpfer, möglichst alle nicht bereits von anderen Regelungen erfaßten oder durch Ausnahmeregelungen ausgeschlossenen Dienstleistungsvorgänge durch die Art. 59 ff. zu erfassen, und die korrespondierende Reichweite des A. P., das in der oben beschriebenen Weise auch den Leistungsempfanger in sein Liberalisierungsprogramm einbezieht, kann jedoch davon ausgegangen werden, daß es jedenfalls nicht Sinn und Zweck des Dienstleistungskapitels und des A. P. war, die Fälle der Grenzüberschreitung des Dienstleistungsempfangers von deren Anwendungsbereich ausdrücklich auszunehmen. Zum einen gibt es hierauf keinen Hinweis in den Motiven für beide Regelungskomplexe. Zum anderen hätte es, wäre ein Ausschluß dieser Fallgestaltungen beabsichtigt gewesen, im Hinblick auf die Systematik der Freizügigkeitsvorschriften nahegelegen, dies durch eine Ausschlußregelung (ähnlich der Art. 60 Abs. 1, 61, 55 und 56 Abs. 1 EWGV und entsprechender Vorbehalte im A. P.) klarzustellen.

3. Passive Dienstleistungsfreiheit im Sekundärrecht In späteren Rechtsakten des Sekundärrechts erfolgte eine stärkere Berücksichtigung der passiven Dienstleistungsfreiheit. Bereits in der auf Art. 56 Abs. 2 EWGV gestützten RL 64/221 vom 25. 2. 1964 88 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind, wird in der Präambel auch der grenzüberschreitende Dienstleistungsempfanger in die Regelungsmaterie miteinbezogen. Dementsprechend werden in Art. 1 auch solche Staatsangehörige eines Mitgliedstaats in deren Geltungsbereich einbezogen, die sich in einen anderen Mitgliedstaat begeben, "um Dienstleistungen entgegenzunehmen". Gemäß Abs. 2 wurden auch bestimmte nahe Familienangehörige des passiven Dienstleistungsempfängers begünstigt. Insbesondere durch die auf Art. 54 Abs. 2 und 63 Abs. 2 EWGV gestützte RL 73/148 EWG vom 21. 5. 1973 89 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen auf dem Gebiet der Niederlassung und des Dienstleistungsverkehrs wurde die passive Dienstleistungsfreiheit ausdrücklich anerkannt und aufenthaltsrechtlich verwirklicht. Bereits nach der Präambel erfordert es der freie Dienstleistungsverkehr, "daß dem Leistungserbringer und dem Leistungsempfänger ein 88 89

ABI. 1964, S. 850. Näher hierzu u. 8. Kapitel B II. ABI. 1973 L 172/14.

D. Die Anerkennung im Urteil "Luisi und Carbone"

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Aufenthaltsrecht entsprechend der Dauer der Dienstleistung gewährt wird". Dieses Recht sowie die freie Ein- und Ausreise wurden auch für den passiven Dienstleistungsempfänger durch die Bestimmungen der RL sekundärrechtlich näher ausgestaltet. - Da beide Richtlinien nicht zusätzlich auf Artikel 235 EWGV gestützt wurden, kann davon ausgegangen werden, daß auch der Rat spätestens seit 1964 die passive Dienstleistungsfreiheit als von Art. 59 ff. EWGV mitumfaßt ansah 90 •

D. Die Anerkennung der passiven Dienstleistungsfreiheit durch den EuGH im Urteil "Luisi und Carbone" und dessen Rezeption im Schrifttum I. Verfahren und Urteil

Der EuGH stellte schließlich in seinem Urteil ,,Luisi / Carbone" vom 31. 1. 1984 91 in einem Vorabentscheidungsverfahren klar, daß die passive Dienstleistungsfreiheit auch in den Anwendungsbereich der Art. 59 ff. fällt, daß sich also Angehörige eines Mitgliedstaats in einen anderen Mitgliedstaat begeben und dort bestimmte Dienstleistungen entgegennehmen können, ohne durch Beschränkungen - und zwar auch im Hinblick auf Zahlungen - daran gehindert zu werden. Namentlich sind nach dieser Entscheidung Touristen, sowie Personen, die eine medizinische Behandlung in Anspruch nehmen und solche, die Studienoder Geschäftsreisen unternehmen, als Empfänger von Dienstleistungen anzusehen, ohne daß jedoch durch den EuGH eine ausdrückliche Beschränkung der passiven Dienstleistungsfreiheit auf jene Personengruppen erfolgte. 1. Der Sachverhalt

Dem Verfahren lag im wesentlichen folgender Sachverhalt zugrunde: Zwei italienische Staatsangehörige hatten in den Jahren 1975 und 1976 größere Devisenbeträge aus Italien ausgeführt, um damit touristische Aufenthalte in der Bundesrepublik Deutschland und in Frankreich zu finanzieren. Bei Graziana Luisi handelte es sich in einem Fall um umgerechnet rund 25 Mio. Lire, in dem anderen um ca. 8,5 Mio. Lire, bei Giuseppe Carbone um knapp 14 Mio. Lire. Im Falle Luisi war der Aufenthalt in der Bundesrepublik zudem mit mehrfachen medizinischen Behandlungen verbunden. Da diese Devisenbeträge die seinerzeit in Italien 90 Bereits Bogdan, JWTL 1977, S. 468/470 führte dieses Argument an (allerdings nur im Hinblick auf RL 73/148). 91 Verb. Rs. 286/82 und 26/83, ,,Luisi und Carbone", EuGHE 1984, 377. Dazu insbesondere Hafke, EuR 1984, S. 398 ff.; Louis, CMLRev 1984, S. 635 ff.; Seche, CDE 1984, S. 706 ff.; Hailbronner, ZAR 1984, S. 176/177; Timmermans, SEW 1984, S. 750/ 754 ff.; Van der Woude / Mead, CMLRev 1988, S. 118/119 f. pass.

74

3. Kap.: Grundlagen

vorgeschriebenen Höchstbeträge für die Ausfuhr von Devisen zu Fremdenverkehrs-, Geschäfts- und Studienzwecken sowie für Zwecke der medizinischen Behandlung überschritten 92, waren beide Beteiligte vom Ministro deI Tesoro (Schatzminister) mit Geldbußen in Höhe des Unterschieds zwischen dem jeweiligen Gesamtbetrag der ausgeführten Devisen und dem zulässigen Höchstbetrag belegt worden. Die Kläger fochten diese Bescheide vor dem Tribunale Genua mit der Begründung an, die italienischen Rechtsvorschriften zur Beschränkung der Ausfuhr von Zahlungsmitteln in Form ausländischer Devisen sei mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar, soweit das Geld zu Fremdenverkehrszwecken oder zwecks einer medizinischen Behandlung ausgeführt worden sei. Das Gericht setzte die Verfahren aus und legte dem EuGH gemäß Art. 177 EWGV die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob derartige Beschränkungen des Devisenverkehrs in den vorliegenden Fällen mit dem Gemeinschaftsrecht zu vereinbaren seien 93.

2. Stellungnahme der italienischen Regierung Vor allem die italienische Regierung vertrat in diesem Verfahren unter Hinweis auf die Schlußanträge von GA Trabucchi in der Rechtssache 118/75 94 u. a. die Ansicht, die betreffenden Vorgänge fielen überhaupt nicht unter das Dienstleistungskapitel. Für die Anwendbarkeit der Art. 59 ff. EWGV sei es erforderlich, daß eine bestimmte Dienstleistung in Anspruch genommen werde. Dies sei nur der Fall, wenn zwischen den Beteiligten eine besondere Beziehung bestehe, die in ihren wesentlichen Bestandteilen - wie beteiligte Personen, Art und Dauer der Dienstleistung - "individualisiert" sein müsse. Angebot und Nachfrage müßten also von identifizierbaren Personen ausgehen, die eindeutig in verschiedenen Mitgliedstaaten ansässig seien. Eine Dienstleistung, die in einem Mitgliedstaat allen Verbrauchern unterschiedslos angeboten werde und von diesen nur in Anspruch genommen werden könne, wenn sie sich dorthin begäben, wo die Leistung erbracht werde, sei keine Dienstleistung im Sinne des Vertrages. Um Dienstleistungen im Sinne des Vertrages handele es sich somit auch nicht bei Leistungen in den Bereichen medizinische Behandlung, Ausbildung und Fremdenverkehr, da hier die Leistungen fast stets der Allgemeinheit und kaum je nur einem bestimmten Kunden angeboten würden 95 • 92 Laut Decreto ministeriale vom 2.5. 1974 (Gazzetta ufficiale della reppubblica italiana Nr. 114 vom 3.5. 1974) durften im fraglichen Zeitraum lediglich höchstens 500 000 lire jährlich "für Fremdenverkehrs-, Geschäfts- und Studienzwecke sowie für Zwecke der medizinischen Behandlung" ausgeführt werden. Darüber hinausgehende Devisentransfers stellten eine Zuwiderhandlung dar, die mit einer Verwaltungssanktion in Form einer Geldbuße bis zur fünffachen Höhe der ausgeführten Devisen geahndet werden konnte. Weitere Einzelheiten zur damaligen Rechtslage in Italien und zum Sachverhalt im Urteilstatbestand (S. 380 ff.) sowie im Schlußantrag des Generalanwalts Mancini (S. 409/4.11 ff.) 93 Zum "devisenrechtlichen" Aspekt der Entscheidung u. 6. Kapitel D II. 94 EuGHE 1976, 1185 (Watson); Schlußantrag, S. 1201. Dazu o. 3. Kapitel CL

D. Die Anerkennung im Urteil "Luisi und Carbone"

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3. Schlußanträge des Generalanwalts Generalanwalt Mancini wies in seiner Stellungnahme zunächst darauf hin, daß es sich im vorliegenden Verfahren um Fragen handele, die "auch wegen ihrer Neuheit von beträchtlicher Bedeutung" seien, zumal es keine Präzedenzfälle in der Judikatur des EuGH gebe. Im Hinblick auf die Frage, welche Dienstleistungsvorgänge unter die Art. 59 ff. EWGV fallen, nahm er einen weiteren Standpunkt ein als die italienische Regierung. Unter den Werten des Vertrages gebühre dem freien Dienstleistungsverkehr höchster Rang. Die Ansicht der italienischen Regierung laufe darauf hinaus, die gesamte wirtschaftliche Branche des Fremdenverkehrs von der Liberalisierung durch das Dienstleistungskapitel auszunehmen, was im übrigen wohl kaum namentlich den italienischen Interessen entspräche. Dasselbe gelte für den Ausbildungs- und den medizinischen Bereich. Es sei einem Arzt kaum zumutbar oder überhaupt möglich, sich als Leistungserbringer (ohne seine hochentwickelten Instrumente und fachkundigen Mitarbeiter) in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, nur damit die Behandlung unter die Vorschriften der Dienstleistungsfreiheit fiele. Im folgenden zitierte der Generalanwalt noch zur Untermauerung seiner Ansicht die einschlägigen Passagen des A. P., auf die bereits oben 96 eingegangen wurde. Weiterhin verwies GA Mancini auf die RL 63/340 des Rates vom 31. 5. 1963 zur Aufhebung aller Verbote oder Behinderungen von Zahlungen für Leistungen, wenn der Dienstleistungsverkehr nur durch Beschränkungen der damit verbundenen Zahlungen begrenzt ist 97 • Nach deren Art. 3 gelte die Aufhebung der Verbote oder Behinderungen von Leistungen "für die in den Artikeln 59 und 60 des Vertrages genannten Dienstleistungen", jedoch nicht "für die Ausgabe von Reisedevisen" . Daraus lasse sich e contrario schließen, daß nach Auffassung des Rates die Ausgabe von Reisedevisen (und damit die Ausfuhr von Devisen innerhalb der Gemeinschaft) in den Bereich des freien Dienstleistungsverkehrs falle, weil sonst diese Ausnahmebestimmung überflüssig gewesen wäre. Dasselbe ergebe sich aus der Betrachtung der RL 64/221 des Rates vom 25.2. 1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind 98 , sowie aus der RL 73/148 vom 21. 5. 1973 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Niederlassung und des Dienstleistungsverkehrs 99 • Beide RL verpflichteten näm95 Schriftsatz in der Rechtssache 286/82, eingereicht am 28. 1. 1983 (zitiert nach dem Urteilstatbestand, S. 388 f., und dem Schlußantrag des Generalanwalts Mancini, S.414). 96 97 98 99

C III.2.

ABI. 1963, S. 1609. ABI. 1964, S. 850. ABI. 1973 L 172/14.

76

3. Kap.: Grundlagen

lich die Mitgliedstaaten auch zur Aufhebung von Beschränkungen "für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten, die sich als Empfänger einer Dienstleistung in einen anderen Mitgliedstaat begeben wollen" 100. Schließlich verwies GA Mancini noch auf den Beitrittsvertrag mit Griechenland 101. Nach dessen Art. 54 blieben Transferbeschränkungen für den Fremdenverkehr unter bestimmten Voraussetzungen bis zum 31. 12. 1985 bestehen. Eine solche Ausnahmeregelung habe nur einen Sinn, wenn man davon ausgehe, daß diese Transferierungen zwischen den bisherigen Mitgliedstaaten tatsächlich liberalisiert seien. Aus alledem ergab sich für den Generalanwalt der Schluß, daß sich die Vertragsvorschriften des Dienstleistungskapitels - jedenfalls in den Bereichen Fremdenverkehr, medizinische Behandlung und Ausbildung - sowohl an den Erbringer als auch an den Empfänger von Dienstleistungen richteten, um in möglichst umfassender Weise einen ungehinderten Dienstleistungsverkehr zu ermöglichen.

4. Das Urteil Der EuGH schloß sich im Ergebnis im wesentlichen der Stellungnahme des Generalanwalts an und stellte in seiner Entscheidung fest, daß der in Art. 60 Abs. 3 nicht ausdrücklich geregelte Fall, daß sich der Dienstleistungsempfänger in das Land des Dienstleistungserbringers begibt, die notwendige Ergänzung zu dem ausdrücklich geregelten Fall sei, was dem Ziel entspreche, jede gegen Entgelt geleistete Tätigkeit, die nicht unter den freien Waren- und Kapitalverkehr und unter die Freizügigkeit der Personen fällt , zu liberalisieren. Zur Begründung verwies der EuGH auf Abschnitt 11 des Allgemeinen Programms zur Aufhebung der Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs (A. P.), das der Rat am 18. 12. 1961 aufgrund von Art. 63 EWGV beschlossen hatte 102 und auf die RL 64/221 des Rates vom 25. 2.1964 103 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind, die nach Art. 1 dieser RL unter anderem für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats gilt, die sich in einen anderen Mitgliedstaat der Gemein schaft begeben, "um Dienstleistungen entgegenzunehmen". Schließlich wurde noch die RL 73/148 des Rates vom 21. 5. 1973 zur Aufhebung der Reise und Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Niederlassung und des Dienstleistungsverkehrs 104 angeführt, die sowohl dem Dienstleistungserbringer als auch dem Dienst100 101 102 103

EuGHE 1984, 377/416 f. (Hervorhebung durch den Verf.). ABI. 1979 L 291/7. ABI. 1962, S. 32. ABI. 1964, S. 850.

D. Die Anerkennung im Urteil "Luisi und Carbone"

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leistungsempfänger ein Aufenthaltsrecht entsprechend der Dauer der Dienstleistung einräumt.

Darausfolge, daß der freie Dienstleistungsverkehr die Freiheit der Dienstleistungsempfänger einschließe, sich zur Inanspruchnahme einer Dienstleistung in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, ohne durch Beschränkungen - und zwar auch im Hinblick auf Zahlungen - daran gehindert zu werden, und daß Touristen, sowie Personen, die eine medizinische Behandlung in Anspruch nehmen, und solche, die Studien oder Geschäftsreisen unternehmen, als Empfänger von Dienstleistungen anzusehen seien 105. Bemerkenswert an dieser Formulierung des EuGH ist vor allem, daß sie über den zu entscheidenden Fall hinausgehend - auch Studien- und Geschäftsreisen dem passiven Dienstleistungsverkehr zurechnet. Offenbar wollte der EuGH klarstellen, daß der passiven Dienstleistungsfreiheit ein weites Verständnis zugrundezulegen ist, das möglichst lückenlos alle Vorgänge erfassen soll, bei denen sich der Empfänger einer Dienstleistung i. S. v. Art. 60 EWGV zum Zweck ihrer Entgegennahme in das Land des Dienstleistungserbringers begibt 106. 11. Die Rezeption des Urteils im Schrifttum Das Schrifttum ist dem EuGH gefolgt. Seit dem Urteil ,,Luisi und Carbone" wird die grundsätzliche Anerkennung der passiven Dienst leistungsfreiheit auch im Hinblick auf Touristen - allgemein bejaht 107 • - Allerdings wird hier und da die Reichweite und eigenständige Bedeutung der passiven Dienstleistungsfreiheit nach wie vor z.T. unterschätzt 108 oder verkannt 109. - Insbesondere BurABI. 1973 L 172/14. Leitsatz 1 der Entscheidung. 106 Timmermans, SEW 1984, S. 750/756 spricht daher geradezu von einer ",Dassonvilleformule' vor het dienstenverkeer". 107 Statt vieler: Grabitz-RandelzhoJer, Art. 60, Rz. 18, Oppermann, Europarecht, Rz. 1499 ff. und ausführlicher die oben in Fn. 91 Genannten. Das Urteil wird auch sonst im Schrifttum sehr häufig in unterschiedlichen Zusammenhängen erwähnt, vgl. z. B. Fastenrath, ZAR 1986, S. 51, Fn. 4.; Ti/mann, Wirtschaftsrecht, 1986, S. 292; Lasok, Professions, S. 7; Plender, International Immigration Law, 1988, S. 203; Gornig, NJW 1989, S. 1120/1124. -Magiera, DÖV 1987, S. 221 ff. scheint allerdings ein sehr weites Verständnis zugrundezulegen, wenn er auf S. 230 feststellt: "In der Gemeinschaft ist die allgemeine Reise- und Aufenthaltsfreiheit weitgehend verwirklicht; zumindest als Dienstleistungsempfänger und damit praktisch ausnahmslos können sich die Gemeinschaftsangehörigen in andere Mitgliedstaaten begeben und dort aufhalten." - Daß diese Formulierung etwas zu weitgehend ist, soll insbesondere u. im 7. Kapitel C III. gezeigt werden. 108 Cartou, Communautes Europeennes, 8. Auf!. 1986, behandelt die Dienstleistungsfreiheit in einem (im Verhältnis zum Gesamtumfang) äußerst knappen Abschnitt (Ziff. 259), ohne die passive Dienstleistungsfreiheit überhaupt zu erwähnen. Auch in einem eigenen Abschnitt über Tourismus wird nicht einmal das Urteil "Luisi und Carbone" zitiert. Auch Lasok / Bridge, Law and Institutions ofthe European Communities, 4. Aufl. 1987, S. 408, behandeln die Dienstleistungsfreiheit in 12 Zeilen, ohne die passive Dienst104

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3. Kap.: Grundlagen

rows sieht die passive Dienstleistungsfreiheit im direkten Widerspruch zum Urteil

"Luisi und Carbone" nicht als Bestandteil des EWGV, sondern lediglich als eine rein sekundärrechtliche Regelung (insbesondere der RL 73/148), die gewissermaßen als Anhängsel zu den eigentlich maßgeblichen Rechten des Leistungserbringers gewährt werde 110. Dieser Standpunkt kann allein schon deshalb nicht akzeptiert werden, weil das Interesse des Leistungsempfangers, selbst ein subjektives (und gegebenenfalls einklagbares) Recht auf Einreise, Auswahl eines geeigneten Dienstleistungserbringers (z. B. Hotel) und ungehinderte Entgegennahme und Bezahlung der Leistung zu haben, durch diese einseitige Berücksichtigung des Leistungserbringers ungebührlich vernachlässigt wird.

E. Die weitere Entwicklung in der Rechtsprechung I. Die Urteile des EuGH vom 27.9. und 5. 10. 1988 Inzwischen hat der EuGH in zwei neueren Urteilen vom 27. 9. 1988 111 und vom 5. 10. 1988 112 implizit die grundsätzliche Gültigkeit der passiven Dienstleistungsfreiheit bestätigt, auch wenn er ihre Anwendung in beiden Fällen aus leistungsfreiheit überhaupt zu erwähnen (Das Urteil "Luisi und Carbone" wird allerdings auf S. 410 f. in seinem devisenrechtlichen Aspekt im Zusammenhang mit dem Kapitalverkehr behandelt). 109 Druesne, Droit materiel et politiques de la Communaute europeenne, 1986, Ziff. 74, zitiert zwar das Urteil "Luisi und Carbone", vertritt aber in Ziff. 55 dennoch die Auffassung, Touristen unterfielen grundsätzlich nicht dem Anwendungsbereich des EWGV. - EtwaS unklar auch die Stellungnahme Bleckmanns, Europarecht, 4. Auflage (Stand Januar 1985), der selbst auf S. 332 die passive Dienstleistungsfreiheit ausdrücklich anerkennt, auf der nächsten Seite aber ohne Erwähnung des Urteils "Luisi und Carbone" unter (zumindest mißverständlicher) Berufung auf Rs. 118/75 feststellt, der EuGH sei "anscheinend" den Schlußanträgen seines Generalanwalts gefolgt und folgere aus der Freiheit des Dienstleistungsverkehrs die Aufenthaltsfreiheit von Touristen (so auch schon die 3. Auflage 1980, S. 302 f.). In diesem Verfahren hatte sich GA Trabucchi aber hinsichtlich der passiven Dienstleistungsfreiheit gerade negativ geäußert. - Dagegen gibt Bleckmann in EuR 1987, S. 28/29 nunmehr ein klares Bekenntnis zur passiven Dienstleistungsfreiheit ab. 110 Free Movement in European Community Law, S. 216: "This suggested interpretation does not cater for the case where anational of one member state travels to another member state in order to receive services from a person who is established in that other member state.Such a recipient is indeed entitled under Artic1e I (I) (b) of Directive 148/73 to travel or even to take up residence there for that purpose. However, it may be preferable to regard this provision as an ancillary to the rights of the provider of the service, i.e. on the principle that his clients should be allowed to come to hirn. Thus, where the provider is established in the member state where the service is rendered, it should be treated as one aspect of his right of establishment. [... ] On the other hand, if the provider of the service is established in a member state other than the one in which the service is provided, it might be regarded as an example of his rights to provide services." 111 Rs. 263/86 (Humbel und Edel), dazu näher u. 5. Kapitel A V.4. 112 Rs. 196/87 (Steymann), dazu näher u. 4. Kapitel B III.2.

E. Die weitere Entwicklung in der Rechtsprechung

79

unterschiedlichen Gründen ablehnte. Im Urteil vom 27.9. 1988 stellte er klar, daß staatliche Bildungsleistungen nicht als Dienstleistungen i. S. v. Art. 60 EWGV anzusehen sind und daß folglich im Hinblick auf ihre Inanspruchnahme durch Gebietsfremde eine Berufung auf die passive Dienstleistungsfreiheit ausscheidet. Im Urteil vom 5. 10. 1988 wurde festgestellt, daß die passive Dienstleistungsfreiheit nicht für den Fall gilt, daß sich ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats auf Dauer in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats begibt und dorthin seinen Hauptaufenthalt verlegt, um dort für ganz unbestimmte Zeit Dienstleistungen zu empfangen. Auf beide Urteile wird im entsprechenden Zusammenhang näher eingegangen. 11. Die Schlußanträge von GA Lenz vom 6. 12. 1988 in der Rechtssache 186/87 (Cowan)

1. Die frühere Stellungnahme des Generalanwalts zur passiven Dienstleistungsfreiheit Die bislang ausführlichste Stellungnahme eines Gemeinschaftsorgans zur passiven Dienstleistungsfreiheit sind die Schlußanträge von GA Lenz vom 6. 12. 1988 in der Rechtssache 186/87 (Ian William Cowan /Tresor public).113 Er hatte bereits einmal zuvor, nämlich in seinen Schlußanträgen vom 15.11. 1984 in der Rs. 251/83 (Haug-Adrion) 114, in kurzer Form zur passiven Dienstleistungsfreiheit Stellung bezogen. Dort verneinte er neun Monate nach Ergehen der Entscheidung "Luisi und Carbone" lapidar die passive Dienstleistungsfreiheit: ,,[ ... ] Dem Kläger kann auch nicht in der Ansicht gefolgt werden, die deutsche Regelung stelle einen Verstoß gegen Artikel 59 EWG-Vertrag dar. Diese Vorschrift regelt die Rechtsstellung von Dienstleistungserbringern. während der Kläger des Ausgangsverfahrens Dienstleistungsempfänger ist. [... ]" 115. Die wesentlich ausführlichere Auseinandersetzung des Generalanwalts mit dieser Frage im Verfahren Rs. 186/87 führte nunmehr zum gegenteiligen Ergebnis.

2. Der dem Vorabentscheidungsverfahren Rs. 186/87 zugrundeliegende Sachverhalt Der Antragsteller des Ausgangsverfahrens, fan William Cowan. ist Staatsangehöriger des Vereinigten Königreichs. Er wurde am 11. 6. 1982 während eines Schlußanträge noch nicht veröffentlicht. EuGHE 1984,4277 ff. - In der Sache ging es um einen deutschen EG-Beamten mit Wohnsitz in Belgien, der in der Bundesrepublik Deutschland ein Auto kaufte. Als er es für den verbleibenden Monat vor seiner Überführung nach Belgien bei einem deutschen Unternehmen versichern wollte, wurde ihm wegen des für die Überführung notwendigen Zollkennzeichens kein Schadensfreiheitsrabatt eingeräumt. Der EuGH verneinte letztlich das Vorliegen einer Diskriminierung. 115 Ebd., S. 4294, linke Spalte (Hervorhebungen im Original). 1 I3

114

3. Kap.: Grundlagen

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touristischen Aufenthalts in Paris am Ausgang einer Metrohaltestelle tätlich angegriffen, beraubt und verletzt. Am 26. 5. 1983 beantragte er vor einem beim Tribunal de Grande Instance in Paris angesiedelten zuständigen Ausschuß eine Entschädigung für den ihm entstandenen Schaden. Anspruchsgrundlage ist Art. 706-3 Code de Procedure Penale, der für bestimmte durch Straftaten verursachte Schäden, für die anderweitig kein ausreichender Ersatz zu erlangen ist, einen Entschädigungsanspruch gegen den Staat gewährt. Art. 706-15 Code de Procedure Penale beschränkt den Anwendungsbereich der Vorschrift auf "Personen, die die französische Staatsangehörigkeit besitzen oder Ausländer sind und entweder Angehörige eines Staates sind, der mit Frankreich für die Anwendung der genannten Bestimmungen ein Gegenseitigkeitsabkommen geschlossen hat, und die Voraussetzungen nach diesem Abkommen erfüllen oder Inhaber des als Fremdenkarte bezeichneten Ausweises sind". Der Antragsteller erfüllte diese Voraussetzungen nicht. Daher wurde ihm unter Berufung auf diese Norm eine Entschädigung verweigert, worin der Antragsteller eine gemeinschaftsrechtlich unzulässige Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit sah. Der zur Entscheidung berufene Ausschuß beim Tribunal de Grande Instance legte daher im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens dem Gerichtshof die Frage vor, ob Art. 706-15 Code de Procedure Penal mit dem insbesondere in Art. 7 EWGV geregelten gemeinschaftsrechtlichen Diskriminierungsverbot vereinbar sei.

3. Die Stellungnahme des Generalanwalts GA Lenz nahm dieses Verfahren zum Anlaß, in grundsätzlicher Weise zu Inhalt und Reichweite der passiven Dienstleistungsfreiheit Stellung zu beziehen: Es stelle sich die Frage, ob einem Gemeinschaftsbürger in seiner Eigenschaft als Tourist eine gemeinschaftsrechtlich privilegierte Stellung zukomme. Dies sei der Fall, wenn er aus seiner Position als Dienstleistungsempfanger Rechte herleiten könne, was wiederum voraussetze, daß ein Dienstleistungsempfanger selbständig Träger gemeinschaftsrechtlicher Rechte und Pflichten sein könne 116. Nach grundsätzlichen Ausführungen zum heutigen Bild der Dienstleistungsfreiheit 117 wendet sich der Generalanwalt speziell dem passiven Dienstleistungsempfanger zu: "Das Leitbild für den freien Dienstleistungsverkehr ist nach Artikel 59 EWG-Vertrag der Dienstleistungserbringer, der sich zur Erbringung seiner Leistung vorübergehend in einen anderen Mitgliedstaat begibt. Das kann der Ort sein, an dem der Leistungsempfanger ansässig ist, muß es aber nicht. Der Leistungsempfanger kann die Dienstleistung durchaus auch an einem anderen Ort in Empfang nehmen. Erforderlich ist nur, daß Dienstleistungserbringer und 116 117

Schlußanträge, Ziff. 10 f. Schlußanträge. Ziff. 12-16.

E. Die weitere Entwicklung in der Rechtsprechung

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Dienstleistungsempfanger nicht am gleichen Ort ansässig sind." 118 [ ••• ] "Auch wenn vornehmlich auf den Dienstleistungserbringer abgestellt wird, so kann das nicht bedeuten, daß der Dienstleistungsempfanger rechtlich keine Rolle spielt. Als notwendiger Beteiligter des Austauschverhältnisses ist auch er potentiell Nutznießer des gemeinschaftlichen freien Dienstleistungsverkehrs. Daß er die Leistung ausschließlich an seinem Wohnort in Empfang nehmen könnte, ergibt sich weder aus Art. 59 EWG-Vertrag noch aus dem sekundären Gemeinschaftsrecht. Wenn es also für die Annahme eines gemeinschaftsrechtlich relevanten Dienstleistungsaustausches ausreicht, daß Dienstleistungserbringer und Dienstleistungsempfanger in verschiedenen Mitgliedstaaten ansässig sind, ist nun zu prüfen, welche Folgerungen sich daraus für die Rechtsstellung des Dienstleistungsempfängers ergeben." 119 Im folgenden geht der Generalanwalt auf die Behandlung des Dienstleistungsempfangers in der bisherigen Gemeinschaftspraxis ein, insbesondere auf seine Erwähnung im A. P. zum Dienstleistungskapitel und in den RL 64/221 und 73/ 148 120 • Insbesondere die Gewährung eines Aufenthaltsrechts in RL 73/148 sieht er als besonders bedeutsam an: "Nach Umsetzung der Richtlinie in innerstaatliches Recht genießt seither ein Dienstleistungsempfänger ein originäres Aufenthaltsrecht in einem Mitgliedstaat, dem er nicht angehört. Er ist insofern Begünstigter des schon in Artikel 3 Buchstabe c EWG-Vertrag verankerten Grundrechts des freien Personenverkehrs. Diese gemeinschaftsrechtliche Position kann in unzulässiger Weise beschränkt werden, wobei eine Beschränkung durch eine mitgliedstaatliche Rechtsvorschrift wegen Gemeinschaftswidrigkeit unanwendbar wäre." 121 Diese Feststellung bildet den Ausgangspunkt für die weiteren Überlegungen des Generalanwalts dazu, inwieweit ein Tourist potentiell oder konkret als Dienstleistungsempfanger zu betrachten sei. Er geht dabei von der grundsätzlichen Anerkennung des Touristen als passivem Dienstleistungsempfanger durch die Entscheidung "Luisi und Carbone" 122 aus: "Es besteht kein Anlaß, hinter diese Rechtsprechung zurückzugehen." 123 Wer aber als "Tourist" im Sinne dieser Rechtsprechung angesehen werden könne, sei noch nicht geklärt. Eine positive gemeinschaftsrechtliche Umschreibung dieser Personengruppe hält der Generalanwalt kaum für möglich, da sich zahlreiche Überschneidungen zu anderen Gruppen von Dienstleistungsempfängern ergeben würden 124. Aufgabe könne es daher nur sein, den Begriff des Dienstleistungsempfängers selbst zu konkretisie118 119 120 121 122 123 124

Schlußanträge, Ziff. 14. Schlußanträge, Ziff. 17. Schlußanträge, Ziff. 18 f. Schlußanträge, Ziff. 21. EuGH verb. Rs. 286/82 und 26/83, EuGHE 1984, 377 ff. Schlußanträge, Ziff. 21. Schlußanträge, Ziff. 22 ff. Dazu näher u. 9. Kapitel A 11.2.

6 Völker

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3. Kap.: Grundlagen

ren. Hierfür ständen zwei Ansätze zur Verfügung: Eine generalisierende Exante-Beurteilung des Reiseverlaufs oder eine konkretere Ex-post-Betrachtung. 125 Im folgenden geht der Generalanwalt noch auf das Problem der Inanspruchnahme von Verkehrsdienstleistungen als Dienstleistungen i. S. d. Art. 59 ff. 126 und auf die Frage ein, ob die staatliche Entschädigungsleistung selbst als Dienstleistung i. S. v. Art. 60 EWGV zu betrachten sei, was er im Hinblick auf das fehlende Merkmal der Entgeltlichkeit verneint 127. Abschließend befaßt sich der Generalanwalt mit der Frage, ob Art. 706-15 Code de Procedure Penale gegen das gemeinschaftsrechtliche Diskriminierungsverbot in seiner Ausprägung durch Art. 7 und 59 EWGV verstoße 128. Ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot sei hier zu prüfen, weil nach den vorangegangenen Überlegungen ein Reisender als Dienstleistungsempfanger geschütztes Rechtssubjekt nach den einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften sei. Ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot sei auch in concreto zu bejahen: Durch die im Gastland gewährte Opferentschädigung werde zwar nicht der Zugang zum Zwecke des Empfangs von Dienstleistungen selbst, wohl aber die Ausübung der Freiheit beeinträchtigt. Der Gemeinschaftsbürger, der nicht einem privilegierten Personenkreis angehöre, erfahre nämlich einen verminderten Schutzstand hinsichtlich seiner höchstpersönlichen Rechtsgüter: "Der Gemeinschaftsbürger, der den gleichen Schutzstandard genießen möchte wie die Inländer, ist bei der streitigen Opferentschädigungsregelung gezwungen, eine Versicherung zur Abdeckung des Risikos abzuschließen. Die hierfür aufzuwendenden Mittel bedeuten eine Verminderung des frei zur Verfügung stehenden Budgets. Sie können durchaus als eine Behinderung des Aufenthaltsrechts verstanden werden." 129 Diese Ungleichbehandlung sei auch nicht etwa deshalb sachlich gerechtfertigt, weil die Mittel für die Opferentschädigung aus öffentlichen Mitteln aufgebracht würden. Die Opferentschädigung stelle keine Sozialleistung im klassischen Sinne, verstanden als ein von der Leistungsverwaltung gewährter Unterhalts beitrag, dar: "Die Tatsache allein, daß die Opferentschädigung aus öffentlichen Mitteln gewährt wird, reicht für die Qualifikation nicht aus. Sie ist als eine Kompensation eines erlittenen Schadens zu betrachten, die wir in Form von Schadensersatzansprüchen oder Entschädigungsansprüchen sowohl aus dem Zivilrecht als auch aus dem öffentlichen Recht kennen. Bei Entschädigungsansprüchen gegen die öffentliche Hand werden auch Mittel aus öffentlichen Haushalten aufgebracht, ohne daß die Leistungen zu Sozialleistungen würden. Daß der Staat nicht Ursache 125 Schlußanträge, Ziff. 28 -30. Näher zu dieser Differenzierung und ihrer Bewertung u. 7. Kapitel C III. 126 Schlußanträge, Ziff. 31 ff. (bejahend). Dazu u. 8. Kapitel A.IV.2. 127 Schlußanträge, Ziff. 35 -39. Dazu u. 4. Kapitel B V. 128 Schlußanträge, Ziff. 40 ff. 129 Schlußanträge, Ziff. 46.

E. Die weitere Entwicklung in der Rechtsprechung

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des Schadens war, steht der Betrachtungsweise nicht im Wege. Er hat mit der Schaffung eines Opferentschädigungsgesetzes eine garantenähnliche Stellung übernommen zur Kompensation des anderweitig nicht erstattungsfähigen Schadens, der aus der Verletzung von Rechtsgütern herrührt, die zu schützen zwar seine Aufgabe, die zu gewährleisten er jedoch nicht in der Lage war." 130 - Im Ergebnis bejaht GA Lenz daher einen Verstoß der betreffenden französischen Regelung gegen das Gemeinschaftsrecht, weil hierin eine unzulässige Behinderung des freien Dienstleistungsverkehrs i. S. v. Art. 59 EWGV zu sehen sei. An dieser Stellungnahme ist insgesamt vieles zu begrüßen, namentlich das ihr zugrundeliegende weite Verständnis des Dienstleistungskapitels, die grundsätzliche Anerkennung der passiven Dienstleistungsfreiheit als eigenständiger Rechtsposition und das aus ihr herzuleitende originäre Aufenthaltsrecht des passiven Dienstleistungsempfängers. Einzelne Kritikpunkte werden unten im jeweiligen Zusammenhang erörtert.

III. Das Urteil des EuGH vom 2.2.1989 in der Rechtssache 186/87 (Cowan)

In seiner Entscheidung vom 2. 2. 1989 131 folgte der EuGH im Ergebnis GA Lenz. Der EuGH bestätigte in dieser Entscheidung erneut, "daß der freie Dienstlei stungsverkehr die Freiheit der Leistungsempfänger einschließt, sich zur Inanspruchnahme einer Dienstleistung in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, ohne durch Beschränkungen daran gehindert zu werden und daß unter anderem Touristen als Leistungsempfänger anzusehen sind." I32 Im Gegensatz zum Anspruchsteller des Ausgangsverfahrens stellte der EuGH hier jedoch keine Verletzung der Art. 59, 60 EWGV fest. Insoweit folgte der EuGH mit Recht der Auffassung des Generalanwalts, die staatliche Entschädigungsleistung selbst sei keine Dienstleistung i. S. v. Art. 60 EWGV. Der EuGH nimmt zwar zu dieser Frage nicht ausdrücklich Stellung. Aus seinem Schweigen und der Begründung im übrigen ergibt sich jedoch, daß er im Einklang mit seiner früheren Rechtsprechung 133 bei staatlichen Leistungen dieser Art vom Fehlen des Merkmals der "Entgeltlichkeit" ausgeht. Wohl aber ist die Opferentschädigung Teil der staatlichen Rahmenbedingungen, die auch für einen Aufenthalt eines fremden Staatsangehörigen als passiver Dienstleistungsempfänger von Bedeutung sind. Deshalb bezieht der EuGH solche staatlichen Rahmenbedingungen mit Recht in den Anwendungsbereich des Schlußanträge, Ziff. 52. NJW 1989, S. 2183 f. - EuR 1989, S. 356 ff.; zu möglichen Konsequenzen für das deutsche Opferentschädigungsrecht Hackspiel, NJW 1989, S. 2166 ff. 132 Urteilsgründe Ziff. 15 (NJW 1989, S. 2183). 133 Insbesondere Rs. 236/86 (Humbel und Edel), Urt. v. 27.9. 1988, dazu u. 5. Kapitel A VA. 130 131

6*

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3. Kap.: Grundlagen

EWGV und insbesondere in das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 7 ein, die für den Aufenthalt eines passiven Dienstleistungsempfangers von Bedeutung sein können. Ebenso wie dieser bei seinem Aufenthalt den Schutz der Polizei und staatlicher Strafverfolgungsorgane beanspruchen kann, muß er auch die staatlichen Leistungen im Gefolge einer an ihm begangenen Straftat gleichberechtigt beanspruchen können. Da keine Diskriminierung oder Beschränkung in Bezug auf einen konkreten Dienstleistungsvorgang vorlag, konnte der EuGH auch nicht von einer Verletzung der konkreten Vorschriften der Art. 59 und 60 EWGV ausgehen.

4. Kapitel

Dienstleistungen im Sinne der passiven Dienstleistungsfreiheit A. Volkswirtschaftlicher und gemeinschaftsrechtlicher DienstleistungsbegritT Der gemeinschaftsrechtliche Begriff der Dienstleistung ergibt sich aus Stellung und Funktion des Dienstleistungskapitels im EWGV I. Er weicht daher naturgemäß von volkswirtschaftlichen Definitionsversuchen ab, die vornehmlich auf den wirtschaftlichen Charakter der jeweiligen Tätigkeit und ihre Wirkung abstellen 2 • In der neueren wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion ist angesichts der theoretisch unbegrenzten Vielfalt zu erfassender Lebenssachverhalte das Bemühen erkennbar, durch möglichst abstrakte und offene Formulierungen den Kreis der als "Dienstleistung" erfaßten Phänomene möglichst weit zu ziehen und für neue Erscheinungen offenzuhalten, gleichzeitig aber eine sinnvolle Abgrenzung zum Warenverkehr zu erreichen 3 • Dabei scheint das "Unsichtbare" und "Ephemere" der Dienstleistung nicht mehr im selben Maße wie früher als Wesensmerkmal und Abgrenzungskriterium zu dienen 4. Es lassen sich im wesentlichen zwei Ansätze unterscheiden 5: a) Zum einen werden Dienstleistungen in Abgrenzung zum Warenverkehr als Produktion nicht-materieller Güter definiert ("funktioneller Ansatz"). Der Hauptnachteil dieser Definition liegt darin, daß sie in materiellen Produkten verkörperte Leistungen ausschließt (z. B. in der Publizistik). b) Von anderen werden Dienstleistungen als der Restbestand dessen verstanden, was nach Ausblendung der Aktivitäten im Primärbereich (Land- und Forst1 Zur Entstehungsgeschichte des Dienstleistungskapitels etwa Everling, FS v. d. Groeben, 1987, S. 111/120f. 2 Hierauf wies schon früh Maestripieri hin, z. B. in La libre circulation des personnes et des services dans la CEE, 1971, S. 43; vgl. auch Clarotti, JCMS 1984, S. 199/205 f. 3 Teilweise wird auch die Frage aufgeworfen, ob eine Abgrenzung zum Warenverkehr für volkswirtschaftliche Fragestellungen überhaupt noch sinnvoll ist, vgl. Schultz, Dienstleistungen und GATI, S. 152 f. m. W.N. 4 Allerdings stellt das Gabler Wirtschaftslexikon (12. Aufl. 1988) nach wie vor darauf ab, "daß Produktion und Verbrauch zeitlich zusammenfallen. D.[ienstleistungen] gelten allgemein als nicht übertragbar, nicht lagerfähig und nicht transportierbar." (Stichwort "Dienstleistungen"). 5 Vgl. Petersen u.a., Der internationale Handel mit Dienstleistungen, S. 21 ff.; Schultz, Dienstleistungen und GA TI, S. 152; Shelp, Beyond Industrialization, S. 11 ff.

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4. Kap.: Begriff der Dienstleistungen

wirtschaft, Fischerei, Bergbau, Energie- und Wasserwirtschaft) und im Bereich des verarbeitenden Gewerbes übrigbleibt ("institutioneller Ansatz"). Eine Schwäche dieser Definition liegt darin, daß "Dienstleistungen" auch in den anderen Sektoren produziert werden. Zudem schlagen sich Fehler bei der Erfassung der anderen Bereiche auch in der Bewertung der "Restgröße" Dienstleistung nieder. Noch abstrakter ist der Definitionsversuch von T.P . Hili aus dem Jahr 1977, der in wirtschaftswissenschaftlichen Kreisen Anklang gefunden hat. Er läßt sich wie folgt zusammenfassen: "A service may be defined as a change in the condition of aperson, or of a good belonging to some economic unit, which is brought about as the result of the activity of some other economic unit, with the prior agreement of the former person or economic unit"6. Als Dienstleistung wird hier sehr allgemein jede beabsichtigte Zustandsveränderung einer Person oder Sache definiert, die mit Einwilligung des Berechtigten erfolgt. Durch solche Definitionen sollen im Bereich des Handels auch alle drei Grundtypen des grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehrs erfaßt werden 7, wobei die volkswirtschaftliche Abgrenzungsproblematik hier vor allem in der Unterscheidung zwischen grenzüberschreitenden (Export/Import) und als innerstaatlich zu wertenden Wirtschaftsvorgängen liegt. Als Dienstleistungen empfangende Teilnehmer am grenzüberschreitenden passiven Dienstleistungsverkehr im volkswirtschaftlichen Sinn werden u. a. Touristen, Studenten, Patienten, aber auch Militärpersonal, das in einem anderen Mitgliedstaat stationiert ist, verstanden 8. Begibt sich ein Leistungserbringer in einen anderen Staat, wird dies volkswirtschaftlich nur dann als grenzüberschreitende Dienstleistung verbucht, wenn er nicht länger als drei Monate dort verbleibt und von einer ausländischen Firma bezahlt wird 9 • Aus dieser kurzen Betrachtung läßt sich bereits feststellen, daß die in sich recht unterschiedlichen Ansätze zu volkswirtschaftlichen Definitionen der grenzüberschreitenden Dienstleistung naturgemäß einige Parallelen zum gemeinschaftsrechtlichen Dienstleistungsbegriff aufweisen. Sie dürften für die Auslegung des EWGV jedoch nur sehr bedingt fruchtbar zu machen sein, da die wirtschaftswissenschaftlichen Fragestellungen einen anderen Ausgangspunkt haben und entsprechend das Ziel der Begriffsbildung ein völlig anderes ist und zudem von differierenden ökonomischen Theorien abhängt, die den Begriffsbestimmungen zugrundeliegen 10. Etwa die Abgrenzung zwischen Dienstleistungen 6 T.P. Hili, On Goods and Services, Review of Income and Wealth, New Haven, Dezember 1977, S. 318. Zitiert nach Grubel, The World Economy 1987, S. 319 ff., Fn. 3, der die Theorie Hills näher darstellt und diskutiert. 7 Grubel, The World Economy 1987, S. 319 f. 8 Ebd., S. 319/320 f. mit Ausführungen dazu, inwieweit sich diese Vorgänge rechnerisch in den Zahlungsbilanzen der beteiligten Staaten niederschlagen. 9 Ebd., S. 322.

B. Der Begriff der Dienstleistung in Art. 59 und 60 EWGV

87

und Warenverkehr oder die Frage, ob eine Dienstleistung grenzüberschreitend ist, spielen aus wirtschaftswissenschaftlieher Sicht vornehmlich für das Problem eine Rolle, wie diese ökonomischen Vorgänge analytisch zu bewerten und statistisch zu verbuchen sind. In gemeinschaftsrechtlicher Betrachtung handelt es sich dagegen um die Bestimmung und Eingrenzung eines Tatbestandsmerkmals im Rahmen einer von rechtlichen, vertragssystematischen und -immanenten Wertungen getragenen Subsumtion mit dem Ziel der Feststellung, welche Vorgänge den Bestimmungen der Art. 59 ff. oder anderen Vertragsvorschriften unterfallen. So verwundert es nicht, daß der gemeinschaftsrechtliche Dienstleistungsbegriff anders und namentlich enger ist als volkswirtschaftliche Definitionsversuche. Dies ist nicht zuletzt eine Folge der "negativen" Definition in Art. 60 Abs. 1 EWGV, die im folgenden näher untersucht werden soll. B. Der Begriff der Dienstleistung in Art. 59 und 60 EWGV

im Hinblick auf die passive Dienstleistungsfreiheit

I. Der Wortlaut von Art. 60 und seine Konkretisierung in der Judikatur des EuGH

Aus Art. 60, der eine Legaldefinition des gemeinschaftsrechtlichen Dienstleistungsbegriffs enthält, ergibt sich, daß keineswegs alle Dienstleistungen im volkswirtschaftlichen Sinn auch Dienstleistungen im Sinne des EWGV sind. Hier wird besonders deutlich, daß mit dem gemeinschaftsrechtlichen Dienstleistungsbegriff bestimmte Zwecke verfolgt wurden, die in Zusammenhang mit den anderen "Grundfreiheiten" des EWGV und mit der Zielsetzung des gesamten Vertragswerks stehen. Nach Artikel 60 EWGV sind "Dienstleistungen" im Sinne des Vertrages Leistungen, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden, soweit sie nicht den Vorschriften über den freien Waren und Kapitalverkehr und über die Freizügigkeit der Personen unterliegen. Der Begriff der "Leistung" II wird nicht näher definiert und dürfte - im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs - weit zu verstehen sein, also als eine zielgerichtete Tätigkeit, die einen bestimmten Erfolg hat. Seine gemeinschaftsrechtliche Eingrenzung erfolgt vor allem durch das Merkmal der Entgeltlichkeit 12.

IO So im Ergebnis auch Schöne, Dienstleistungsfreiheit in der EG und deutsche Wirtschaftsaufsicht, 1989, S. 32 f. 11 Englisch "Services", französisch "prestations", italienisch "prestazioni" . .. Dienstleistungen" heißt im englischen wie im französischen Vertragstext "service", im italienischen "servizi". Der Begriff der "Leistungen" und der "Dienstleistungen" wird also im englischen Vertragstext nicht unterschieden. 12 Dazu u. IV.

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4. Kap.: Begriff der Dienstleistungen

In Abs. 2 werden beispielhaft als Dienstleistungen "insbesondere" gewerbliche, kaufmännische, handwerkliche und freiberufliche Tätigkeiten genannt, was vor allem für die aktive Dienstleistungsfreiheit von Bedeutung ist. Aus dem Wortlaut des Art. 60 Abs. 2 EWGV ergibt sich, daß nicht nur die dort enumerativ aufgeführten Arten von Dienstleistungen unter das Dienstleistungskapitel fallen sollen 13. Man wird im Hinblick auf den Liberalisierungszweck der gemeinschaftsrechtlichen Freizügigkeitsregelungen und die Verwendung des Begriffs "insbesondere" davon ausgehen können, daß grundsätzlich die grenzüberschreitende Ausübung und Inanspruchnahme aller selbständigen Erwerbstätigkeiten erfaßt werden soll 14. Daher spricht Art. 60 Abs.2 auch bewußt von Tätigkeiten, nicht von Berufen, da die Berufsbilder einzelner Tätigkeiten in den Mitgliedstaaten z.T. recht unterschiedlich sind 15. Seinen eigentümlichen Charakter gewinnt der gemeinschaftsrechtliche Dienstleistungsbegriff durch die genannte "Subsidiaritätsklausel" in Art. 60 Abs. I, die vom Anwendungsbereich der aktiven Dienstleistungsfreiheit vor allem sämtliche Tätigkeiten unselbständig Beschäftigter ausnimmt. Die Definition des Art. 60 EWGV zeigt insoweit deutlich, daß hier - wie im gesamten Dienstleistungskapitel - in erster Linie an die aktive Dienstleistungsfreiheit gedacht wurde, also an den Fall, daß der Erbringer von Dienstleistungen sich zum Zwecke der Leistungserbringung in das Land des Dienstleistungsempfängers begibt. Dementsprechend bezweckt die Definition der Dienstleistung in Art. 60 - einschließlich der Subsidiaritätsklauseln - sicherzustellen, daß die Erbringung gewisser Dienstleistungen von vornherein nicht unter die Art. 59 ff. fallen kann. Aufgrund dieser eher negativen Abgrenzung wurde der Begriff der Dienstleistung früher nicht ganz zu Unrecht als "heterogene Auffangposition ohne eigenen Charakter" 16 bezeichnet. Mit dem Dienstleistungskapitel wollte man den Restbestand wirtschaftlicher Austauschvorgänge erfassen, die nicht bereits durch die anderen Freiheiten des EWGV erfaßt wurden, um so sicherzustellen, daß sämtliche wirtschaftliche Betätigungen von der Freizügigkeit erfaßt werden. Die gewählte negative Abgrenzung dürfte z. T. aber auch auf die Schwierigkeiten zurückzuführen sein, die eine positive Umschreibung des Dienstleistungssektors mit sich bringt, wie die volkswirtschaftlichen Definitionsversuche zeigen. Die Rechtsprechung des EuGH konkretisiert von Fall zu Fall, was alles als Dienstleistung im Sinne von Art. 60 EWGV zu verstehen ist. Als Dienstleistungen wurden dabei von ihm insbesondere angesehen: Börsentermingeschäfte 17; private 13 14

Vgl. z. B. Smit / Herzog-van Gerven, Art. 60, 60.03. Troberg in HER, Vorb. zu Art. 59-66, Rz. 11; Art. 60, Rz. 4 mit Einzelbeispielen

in Rz. 5. 15 Näher Goldman, Droit Commercial Europeen, Ziff. 133; GBTE-Troberg, Art. 52 Rz. 13; Grabitz-Randelzhojer, Art. 52 Rz. 17 f. 16 Troberg in HER, Vorb. zu Art. 59-66, Rz. l./psen, EuR 1978, S. 199/225, charakterisiert die Art. 59 ff. als "Ergänzungsvorschriften" . 17 EuGH Rs. 15/78 (Koestler), EuGHE 1978, 1971.

B. Der Begriff der Dienstleistung in Art. 59 und 60 EWGV

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Bildungsleistungen 18; der grenzüberschreitende Rundfunk 19 (nicht aber der Handel mit den hierfür notwendigen Materialien), auch das Kabelfernsehen 20 , wobei sowohl Sender als auch Empfänger von der Dienstleistungsfreiheit profitieren 21. Unter den Dienstleistungsbegriff fällt dabei sowohl das eigentliche Programm als auch Werbesendungen 22 • - Für einzelne Güter ist noch nicht abschließend geklärt, unter welches Vertragskapitel sie fallen. Namentlich im Hinblick auf die Elektrizität besteht noch Unsicherheit, ob sie unter die Warenverkehrsvorschriften fällt oder als Korrespondenzdienstleistung zu betrachten ist 23 •

11. Die Reichweite der Dienstleistungsfreiheit im Hinblick auf einzelne Leistungsvorgänge Die Dienstleistungsfreiheit muß in sämtlichen Varianten im Interesse einer umfassenden Liberalisierung aller wirtschaftlichen Vorgänge grundsätzlich das gesamte Gefüge eines Leistungsvorgangs erfassen: Vertragsverhandlungen, Vertragsabschluß, Vertragsabwicklung. Darunter fallen bereits die vorbereitenden Handlungen: Kontaktgespräche, Marktstudien, Teilnahme an Messen und Ausstellungen, Einholung von Auskünften sowie die Verpflichtungen, die im Vorfeld des Vertragsabschlusses entstehen können (z. B. Beratungskosten, die unabhängig vom Abschluß eines Liefervertrages entstehen, Reiseunkosten, die Haftung für vorvertragliehe Sorgfaltspflichtverletzungen, nach deutschem Recht also etwa die culpa in contrahendo). Auch für diese Kontakte muß ein entsprechendes Recht auf Einreise und Aufenthalt bestehen (Reich charakterisiert dies treffend 18 EuGH Rs. 146/87 (Kommission / Griechenland), Urt. v. 15.3. 1988. Dazu u. 5. Kapitel B H. 19 Seit Rs. 155/73, EuGHE 1974, 409 ff. (Sacchi) S1. Rspr. Näher Grünbuch der Kommission ,,Fernsehen ohne Grenzen", 1984, insbes. S. 105 ff.; Schwartz, ELRev 1986, S.7 ff. 20 Z. B. EuGH Rs. 62/79 (Coditel), EuGHE 1980, 881 und neuestens EuGH Rs. 352/85 (De Vereniging Bond van Adverteerders u.a. / Niederlande), Urt. v. 26. 4. 1988, NJW 1989, S. 2189, wo zwischen zwei Dienstleistungsformen differenziert wird: Zu unterscheiden sei die Erbringung von Leistungen eines in einem Mitgliedstaat niedergelassenen Betreibers von Kabelnetzen an Sender in anderen Mitgliedstaaten (durch Einspeisung von Programmen) und die Dienstleistung dieser Sender an die Werbewirtschaft im Empfangsstaat (durch Sendung von Werbemitteilungen). Beides seien entgeltliche grenzüberschreitende Dienstleistungen i. S. v. Art. 60 EWGV. - Ein weiteres Vorabentscheidungsverfahren zu den niederländischen Werbebeschränkungen für das Kabelfernsehen wurde durch eine Anfrage des Raad van State vom 30. 8. 1989 eingeleitet (Rs. 288/89, ABI. 1989 C 293/8 f.). 21 Schwartz, ELRev 1986, S. 7/8 22 EuGH Rs. 52/79, EuGHE 1980, 833/855 (Debauve).; Schwartz, ELRev 1986, S. 7/16 rn. w. N.; Grünbuch der Kommission "Fernsehen ohne Grenzen", 1984, S. 106 ff.; kritisch zur Argumentation der Kommission im Hinblick auf die (problematische) Entgeltlichkeit der Programmsendungen u.a. Roth, ZHR 1985, S. 679/685 f. 23 Dazu Seidel, EuR 1988, S. 129 ff., insbes. 132 ff. (selbst für eine Anwendung des Dienstleistungskapitels).

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4. Kap.: Begriff der Dienstleistungen

als "potentielle Wahlfreiheit" der Dienstleistungsempfanger) 24. Auch für diese Verpflichtungen muß die Liberalisierung des mit dem Dienstleistungsverkehr verbundenen Zahlungsverkehrs gelten. Dasselbe trifft selbstverständlich für die eigentliche Leistungserbringung und deren Bezahlung zu, sollte aber grundsätzlich auch für die nach vertraglichen Beziehungen gelten: Auch Gewährleistungsund Nachbesserungsansprüche (etwa bei einem Architektenplan), die weitere Beratung eines Kunden, Ansprüche aus der Verletzung nachvertraglicher Sorgfalts-, Fürsorge- oder Geheimhaltungsverpflichtungen (im deutschen Recht z. B. die sog. culpa post contractum finitum) stehen noch in so engem Zusammenhang zum eigentlichen Leistungsvorgang, daß ihre Einbeziehung in die Dienstleistungsfreiheit gerechtfertigt ist, um eine ungehinderte und sinnvolle Abwicklung des Leistungsvorgangs selbst zu gewährleisten 25 . III. Das Element der Grenzüberschreitung

1. Funktion und Erscheinungsformen der Grenzüberschreitung Aus der Formulierung des Art. 59 Abs. 1 EWGV ("die in einem anderen Staat der Gemeinschaft als demjenigen des Leistungsempfängers ansässig sind") ergibt sich, daß sich das Dienstleistungskapitel nur auf grenzüberschreitende Vorgänge beziehen soll. Durch dieses Kriterium können als innerstaatlich zu qualifizierende Wirtschaftsvorgänge von den durch die Art. 59 ff. geregelten Dienstleistungen mit ,,Auslandsberührungen" unterschieden werden. Erforderlich für die Anwendbarkeit des Dienstleistungskapitels ist nach allgemeiner Auffassung grundsätzlich, daß Erbringer oder Empfänger der Dienstleistung einen grenzüberschreitenden Ortswechsel vornehmen oder die Erbringung oder Vergütung der Dienstleistung selbst einen grenzüberschreitenden Bezug aufweist. In der Formulierung des EuGH: "Es ist jedoch darauf hinzuweisen, daß die Vertragsbestimmungen über den freien Dienstleistungsverkehr nicht auf Betätigungen anwendbar sind, deren wesentliche Elemente sämtlich nicht über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen."26 Für das Vorliegen dieses Elements genügt es nach der Rechtsprechung des EuGH27, wenn der Leistungsempfanger zumindest noch vor Beendigung der vertraglichen Beziehungen seinen Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt hat. Bei der aktiven Dienstleistungsfreiheit liegt das Element der Grenzüberschreitung darin, daß sich der Dienstleistungserbringer vorübergehend in das Land des Dienstleistungsempfängers ergibt. Art. 60 Abs. 3 betont dies nochmals für den aktiven Dienstleistungsverkehr, indem er dem aktiven Dienstleistungserbringer 24 25 26 27

ZHR 153 (1989), S. 571/584. Vgl. Bleckmann. EuR 1987, S. 28/29 ff. EuGH Rs. 52/79 (Debauve), EuGHE 1980,833/855. Rs. 15/78 (Koestler), EuGHE 1978, 1971/1979.

B. Der Begriff der Dienstleistung in Art. 59 und 60 EWGV

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ein Recht auf vorübergehenden Aufenthalt und Ausübung seiner Tätigkeit im Land des aktiven Dienstleistungsempfangers gewährt. Allerdings darf aus dem Orts wechsel kein Standortwechsel werden, weil sonst das Niederlassungskapitel Anwendung findet. Bei der sogenannten Korrespondenzdienstleistung findet lediglich eine Grenzüberschreitung der Dienstleistung selbst statt (etwa beim Rundfunk), ohne daß einer der Beteiligten einen Ortswechsel vornimmt. In dieser Variante kann sich das Leistungsverhältnis auch über einen unbestimmten Zeitraum erstrecken, ohne daß das grenzüberschreitende Element wegfällt. Bei der passiven Dienstleistungsfreiheit besteht das Element der Grenzüberschreitung darin, daß sich der Dienstleistungsempfänger vorübergehend in den Mitgliedstaat begibt, in dem der Dienstleistungserbringer ansässig ist. Wie bei der aktiven Dienstleistungsfreiheit kann es sich auch hier nur um einen Ortswechsel, nicht aber um einen Standortwechsel handeln, weil sonst der Dienstleistungserbringer im selben Staat wie der Dienstleistungsempfänger ansässig wäre. Das Kriterium der Grenzüberschreitung ist gerade für die passive Dienstleistungsfreiheit von entscheidender Bedeutung, da es die letzte Grenze ihres (potentiell uferlosen) Anwendungsbereichs markiert.

2. Das "Steymann"-Urteil des EuGH vom 5. 10.1988 a) Sachverhalt Die Bedeutung des grenzüberschreitenden Elements wurde jüngst durch ein Urteil des EuGH vom 5. 10. 1988 28 bestätigt, in dem der EuGH - in gewohnter Kürze - zu dieser Frage Stellung nahm. Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der deutsche Staatsangehörige und gelernte Installateur Udo Steymann begab sich 1983 in die Niederlande, wo er zunächst für kurze Zeit in seinem Beruf tätig war. Anschließend schloß er sich dort der religiösen BhagwanSekte an. Diese Sekte sichert den Unterhalt ihrer Angehörigen durch den Betrieb verschiedener gewerblicher Unternehmungen, z. B. Diskotheken, Wäschereien u. a. Die Angehörigen der Sekte arbeiten in diesen Unternehmungen mit. Die Einnahmen fließen der Sekte zu, die diese Mittel verwaltet und ihrerseits die Mitglieder mit Nahrung, Kleidung, Unterkunft und unter gewissen Voraussetzungen auch mit etwas "Taschengeld" versorgt, wobei diese Leistungen laut Satzung der Gemeinschaft unabhängig von der geleisteten Arbeit erfolgen. Die Angehörigen der Sekte haben im übrigen ihr Leben in der Gemeinschaft und streng nach den religiösen Vorschriften ihres geistlichen Oberhaupts zu führen. Herr Steymann verrichtete auf dem Anwesen der Sekte Dienste als Installateur und im Haushalt. Ferner arbeitete er auch in verschiedenen Unternehmungen der Sekte 28

Rs. 196/87 (Steymann), NVwZ 1990,53.

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4. Kap.: Begriff der Dienstleistungen

mit. 1984 stellte er einen Antrag auf Aufenthaltserlaubnis als EG-Wanderarbeiter, der in mehreren Instanzen abgelehnt wurde. In letzter Instanz vor dem Raad van State trug er nunmehr vor, seine Aufenthaltsberechtigung ergebe sich aus der Tatsache, daß er Erbringer und Empfänger von Dienstleistungen im Sinne des Gemeinschaftsrechts sei. Er berief sich also gleichzeitig auf die aktive und die passive Dienstleistungsfreiheit als aktiver Dienstleistungserbringer und passiver Dienstleistungsempfänger. b) Verfahren und Stellungnahmen der Beteiligten Der Raad van State faßte am 3. 6.1987 einen Vorlagebeschluß an den EuGH, in dem u. a. gefragt wurde, ob es unter die Art. 59 f. EWGV falle, wenn sich jemand auf unbestimmte Zeit in einem anderen Mitgliedstaat niederlasse und dort seinen Hauptwohnsitz begründe, ohne daß sich aus der Natur der geleisteten oder empfangenen Dienstleistungen eine zeitliche Beschränkung des Aufenthalts ergebe. Der Raad van State vertrat dabei die Auffassung, der Betroffene erfülle nicht die Voraussetzungen für die Anerkennung als Arbeitnehmer im Sinne des Gemeinschaftsrechts, da das hierfür erforderliche vertraglich fixierte Gegenseitigkeitsverhältnis in Form einer Gegenleistung für eine konkrete Tätigkeit nicht gegeben sei. - Ferner wurde von ihm Auskunft darüber begehrt, inwieweit Tätigkeiten, die Mitglieder einer auf einer Religion oder einer anderen Form von Weltanschauung beruhenden Lebensgemeinschaft im Rahmen von Betätigungen einer solchen Gemeinschaft ausüben, als wirtschaftliche Betätigungen i. S. d. EWGV eingestuft werden können. Die niederländische Regierung trug vor, es handle sich bei den inneren Beziehungen einer religiösen Sekte nicht um Vorgänge, die Bestandteil des Wirtschaftslebens i.S.v. Art. 2 EWGV seien. Im Gegensatz zu genossenschaftlichen Vereinigungen oder Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit sei die religiöse Gemeinschaft als Ganzes nicht wirtschaftlich motiviert, sondern auf die Verwirklichung eines religiösen Lebensideals ausgerichtet. Entsprechend seien die im Rahmen einer religiösen Gemeinschaft erbrachten Leistungen nicht einmal Dienstleistungen im Sinne des Gemeinschaftsrechts, zumal es auch an der Entgeltlichkeit fehle. Ferner wurde unter Berufung auf das Urteil "Debauve"29 das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Elements verneint. Demgegenüber sah die Kommission die Tätigkeit der Mitglieder innerhalb der Unternehmungen der Sekte und die Leistungen der Sekte als Teil des Wirtschaftslebens an. Diese Beziehung könne als abhängige Beschäftigung i.S.v. Art. 48 EWGV qualifiziert werden, auch wenn das den Mitgliedern gewährte Entgelt unter dem staatlich vorgeschriebenen Existenzminimum bleibe. Hilfsweise sei der Betroffene als Niederlassungsberechtigter i.S.v. Art. 52 EWGV zu betrachten. 29 EuGH Rs. 52/79, EuGHE 1980,833/855 (Ziff. 9).

B. Der Begriff der Dienstleistung in Art. 59 und 60 EWGV

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Auch die Kommission verneinte die Anwendbarkeit des Dienstleistungskapitels, weil der angestrebte Aufenthalt zeitlich unbegrenzt sei und es daher an einem grenzüberschreitenden Element mangle. Der passive Dienstleistungsempfänger müsse sich in einen anderen Mitgliedstaat als den, in dem er ansässig sei, begeben. GA Darmon schlug vor, im Hinblick auf die Beteiligung am Wirtschaftsleben wie folgt zu entscheiden: "Eine in einem Mitgliedstaat von einem Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats im Rahmen oder im Dienste einer weltanschaulichen Gemeinschaft ausgeübte Berufstätigkeit kann von einem innerstaatlichen Gericht als wirtschaftliche Betätigung im Sinne des Vertrages angesehen werden, sofern sie die notwendige Gegenleistung für die Vergütung darstellt, die der Betroffene von dieser Gemeinschaft erhält, unabhängig von deren Natur." c) Das Urteil des Gerichtshofs Der Gerichtshof stellte zunächst fest, daß auch die Beziehungen zwischen einer religiösen Gemeinschaft und ihren Mitgliedern in den Anwendungsbereich des EWGV fielen, soweit sie als Teil des Wirtschaftslebens im Sinne von Art. 2 EWGV betrachtet werden könnten. Im Hinblick auf den vorliegenden Fall betonte der EuGH, der Betroffene habe in den gewerblichen Unternehmungen der Bhagwan-Sekte mitgearbeitet. Diese Mitarbeit stelle offenbar einen bedeutenden Bestandteil des Gemeinschaftslebens dar. Die Bhagwan-Sekte sorge ihrerseits für die materiellen Bedürfnisse ihrer Mitglieder einschließlich der Gewährung eines Taschengeldes, wobei diese Leistungen unabhängig von Art und Umfang der vom Mitglied geleisteten Arbeit gewährt würden. Soweit diese Arbeit dazu beitrage, die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Sekte zu sichern, könnten deren Leistung als eine Art indirekter bzw. mittelbarer Gegenleistung betrachtet werden. Der Gerichtshof betonte unter Bezugnahme auf seine Rechtsprechung im Urteil "Levin"30, es müsse sich jedoch um tatsächliche und echte Tätigkeiten handeln, wobei solche Tätigkeiten außer Betracht zu bleiben hätten, die einen so geringen Umfang hätten, daß sie sich als völlig untergeordnete und unwesentliche bloße Hilfs- und Nebentätigkeiten darstellten. Im Hinblick auf das Dienstleistungskapitel verneinte der Gerichtshof in Übereinstimmung mit der Kommission und der niederländischen Regierung die Anwendbarkeit der Art. 59 ff. im vorliegenden Fall. Es ergebe sich bereits aus dem Wortlaut des Art. 60 EWGV, daß eine auf Dauer oder jedenfalls ohne absehbare zeitliche Begrenzung ausgeübte Tätigkeit nicht als Dienstleistung im Sinne des Gemeinschaftsrechts betrachtet werden könne. Sie seien allenfalls über die Art. 48-51 bzw. 52-58 EWGV zu erfassen. Die Art. 59 und 60 EWGV erfaßten daher nicht den Fall, daß sich der Angehörige eines Mitgliedstaates in einen 30 Rs. 53/81, EuGHE 1982, 1035/1050.

4. Kap.: Begriff der Dienstleistungen

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anderen begebe, um dort auf unbestimmte Zeit Dienstleistungen zu erbringen oder entgegenzunehmen. Entsprechend lautet der Tenor des Urteils: ,,1. Artikel 2 EWG-Vertrag ist dahin auszulegen, daß Tätigkeiten, die von den Mitglie-

dern einer auf einer Religion oder einer anderen Form von Weltanschauung beruhenden Lebensgemeinschaft als Teil der gewerblichen Tätigkeiten dieser Gemeinschaft ausgeübt werden, wirtschaftliche Tätigkeiten sind, soweit die Leistungen, die diese Gemeinschaft ihren Mitgliedern erbringt, als mittelbare Gegenleistungen für eine reale und tatsächliche Arbeit betrachtet werden können.

2. Die Artikel 59 und 60 EWG-Vertrag gelten nicht für den Fall, daß ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats sich in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats begibt und dorthin seinen Hauptaufenthalt verlegt, um dort für unbestimmte Dauer Dienstleistungen zu erbringen oder zu empfangen." d) Stellungnahme Durch dieses Urteil wurde in erfreulicher Weise klargestellt, daß sich aus der Berufung auf die aktive und vor allem auf die passive Dienstleistungsfreiheit keine zeitlich und sachlich völlig unbestimmten Aufenthaltsrechte herleiten lassen. Bereits die Verwendung des Begriffs "Tätigkeit" in Art. 60 Abs. 2 deutet an, daß es sich bei diesen Varianten der Dienstleistungsfreiheit um jeweils zeitlich begrenzbare Vorgänge handeln muß, nicht aber um eine (prinzipiell zeitlich unbegrenzte) Ausübung eines Berufs oder eine zeitlich völlig unbestimmte Entgegennahme von Dienstleistungen verschiedenster Art ohne eine von vornherein bestehende Zwecksetzung des Aufenthalts 31 • Wechselt ein Erbringer von Dienstleistungen seinen Standort, läßt er sich also in einem Mitgliedstaat auf Dauer nieder, so fällt dieser Vorgang eben unter die Niederiassungsfreiheit. Der vorübergehende Aufenthalt des Dienstleistungserbringers in einem anderen Mitgliedstaat zum Zwecke der Erbringung der Dienstleistung wird durch Art. 60 Abs. 3 EWGV ermöglicht. Entscheidend für den Anwendungsbereich der passiven Dienstleistungsfreiheit ist dabei nach Auffassung des EuGH offenbar die zeitliche Dimension des (primär räumlich gedachten) Merkmals der Grenzüberschreitung. Beide Aspekte üben zusammen die Funktion aus, die Dienstleistungsfreiheit von rein innerstaatlichen Vorgängen einerseits und von der Niederiassungsfreiheit andererseits abzugrenzen. Ein Dienstleistungserbringer, der sich im Rahmen der aktiven Dienst1eistungsfreiheit auf Dauer im Gastland niederiäßt, wird zum Nutznießer des Niederlassungsrechts. Die aktive Dienstleistungsfreiheit setzt also im Gegensatz zur Niederlassungsfreiheit oder zur Korrespondenzdienstleistung eine vorübergehende, gewissermaßen "dynamische" Form der Grenzüberschreitung voraus, wäh31

Vgl. Grabitz-Randelzho/er, Art. 60, Rz. 2 f.

B. Der Begriff der Dienstleistung in Art. 59 und 60 EWGV

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rend dieses auslands berührende Element bei der Niederlassungsfreiheit seiner Natur nach längerfristig, also "statisch" ist und bei der Korrespondenzdienstleistung statisch sein kann (Beispiel: Rundfunk). In diesen Fällen besteht es letztlich nur noch in der fremden Staatsangehörigkeit des Niederlassungsberechtigten bzw. in der unterschiedlichen Staatsangehörigkeit der Partner der Korrespondenzdienstleistung. Im Hinblick auf die passive Dienstleistungsfreiheit liegt es nun nahe, die Elemente der Grenzüberschreitung und der zeitlichen Begrenzung wie bei der aktiven Variante ebenfalls "dynamisch" zu sehen. Ein Tourist begibt sich nur für einen bestimmten oder bestimmbaren Zeitraum in einen anderen Mitgliedstaat, um dort Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen, ohne sich dort jedoch niederzulassen. Wer sich auf unabsehbare Zeit in einem anderen Mitgliedstaat aufhält und seinen Wohnsitz im Gastland aufgibt, verliert seine Qualität als Gebietsfremder und wird in dem anderen Mitgliedstaat ansässig 32 • Das Element der Grenzüberschreitung geht verloren 33. Diese Rechtsprechung wurde in einem Vorabentscheidungs-Urteil vom 31. 5. 1989 bestätigt 34. Es ging um einen deutschen Staatsangehörigen, der in den Niederlanden lebte und wegen seiner Drogenabhängigkeit in einem besonderen Beschäftigungsverhältnis stand, dessen staatlich geregelter Hauptzweck in seiner Rehabilitation und gesellschaftlichen Wiedereingliederung bestand. Den Schlußanträgen von GA Jacobs folgend, verneinte der EuGH die Anwendbarkeit der Art. 48 ff. EWGV auf dieses Arbeitsverhältnis. Auch aus der passiven Dienstleistungsfreiheit konnte sich für den Kläger des Ausgangsverfahrens kein Aufenthaltsrecht ergeben, weil es zum einen an einer den Anlaß des Aufenthalts bildenden Dienstleistung fehlte und zum anderen ein Aufenthalt von langfristiger und zeitlich unbestimmter Dauer (seit 1980) vorlag. Der EuGH nahm zum Aspekt der Dienstleistungsfreiheit zwar nicht ausdrücklich Stellung, obgleich sich der Kläger des Ausgangsverfahrens u. a. auch hierauf ausdrücklich berufen hatte, da die Vorlagefrage dies nicht erforderlich machte. Es ist jedoch anzunehmen, daß er auch in diesem Punkt dem Generalanwalt gefolgt wäre, der eine Anwendbarkeit der passiven Dienstleistungsfreiheit mit 32 So namentlich Seidel, Die Dienstleistungsfreiheit in der neuesten Rechtsentwicklung, in: Schwarze (Hrsg.), Der Gemeinsame Markt. Bestand und Zukunft in wirtschaftsrechtlicher Perspektive, 1987, S. 113/122 f.: "Systematische Erwägungen sprechen indes dafür, daß auch diese Form der Verwirklichung der Freiheit des grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehrs auf den Fall begrenzt ist, daß sich der Dienstleistungsnehmer nur vorübergehend in ein anderes Land begibt, ein längerdauernder Aufenthalt dagegen dazu führt, daß aus dem Wirtschaftsvorgang zwischen einem gebietsansässigen Dienstleistungserbringer und einem gebietsfremden Dienstleistungsnehmer ein Leistungsaustausch zwischen zwei gebietsansässigen Wirtschaftspartnern wird." 33 Das so beschriebene Element der Grenzüberschreitung steht in engem Verhältnis zur Finalität des passiven Dienstleistungsverkehrs, die im Zusammenhang mit der Begrenzung seines Aufenthaltsrechts behandelt wird (u. 7. Kapitel C III.). 34 Rs. 344/87 (Bettray), noch nicht veröffentlicht.

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4. Kap.: Begriff der Dienstleistungen

den soeben angeführten Argumenten verneinte. Zudem sah der EuGH das Beschäftigungsverhältnis nicht als Teil des Wirtschaftslebens i.S.v. Art. 2 EWGV an, was nach ständiger Rechtsprechung Voraussetzung für die Anwendung (auch) des Dienstleistungskapitels ist. IV. Die Entgeltlichkeit der Leistung

1. Der Erwerbszweck und die Beteiligung am Wirtschaftsleben Art. 60 definiert die zu liberalisierenden Dienstleistungen als "Leistungen, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden." Hierdurch wird zum Ausdruck gebracht, daß der Dienstleistungserbringer grundsätzlich einen Erwerbszweck verfolgen, also am Wirtschaftsleben i. S. v. Art. 2 EWGV beteiligt sein muß (arg. e Art. 66 i. V. m. 58 Abs.2)35. Diese Bedingung ist ein besonders wichtiger Prüfstein für das Vorliegen einer Dienstleistung im Sinne des Gemeinschaftsrechts. Sie ist Ausdruck der primär wirtschaftlich orientierten Zielsetzungen des EWGV, wie sie in Art. 2 und 3 niedergelegt wurden. Dabei ist der Begriff der Beteiligung am Wirtschaftsleben in der Auslegung des EuGH weit zu verstehen: Diese Beteiligung muß bei einer Gesamtbetrachtung aller Freizügigkeitsformen nicht notwendig in einer Partizipation am Marktgeschehen im eigentlichen volkswirtschaftlichen Sinn bestehen; entscheidend ist im Hinblick auf den Erbringer einer Leistung (z. B. als unselbständig Beschäftigter) vielmehr, ob sich aus einer Tätigkeit in Form einer Arbeits- oder Dienstleistung ein Einkommen erzielen läßt 36 • So nehmen bekanntlich auch Studienreferendare, die sich auf ein Lehramt vorbereiten, nach Auffassung des EuGH an der Arbeitnehmerfreizügigkeit teip7. Für die Dienstleistungsfreiheit wird man diese Voraussetzungen als gegeben betrachten können, wenn für die Dienstleistung im Rahmen eines gegenseitigen Vertrages 38 in der Regel eine Gegenleistung erbracht wird, die einen wirtschaftlich meßbaren Wert hat, der nicht völlig außer Verhältnis zum wirtschaftlichen Wert der Leistung steht 39. 35 EuGH Rs. 36/74 (Walrave und Koch), EuGHE 1974, 1405/1418; dazu Delannay, CDE 1976, S. 209 ff.; Fresia, RevMC 1975, S. 550/556 f.; Rs. 13/76 (Dona), EuGHE 1976, 1333/1340, dazu Plouvin, RevMC 1978, S. 516/522 ff. Beide Entscheidungen ergingen in Bezug auf sportliche Tätigkeiten als Profi oder Halbprofi; vgl. auch Rs. 53/ 81 (Levin), EuGHE 1982, 1035/1050. 36 Steindorjf, NJW 1982, S. 1902/1903 f., der zudem in systematischer Hinsicht darauf hinweist, daß auch die Existenz des Art. 48 IV auf einen grundsätzlich weiten Anwendungsbereich des EWGV schließen läßt. 37 EuGH Rs. 66/85 (Lawrie-Blum), EuGHE 1986,2121/2145. 38 Börner, ZUM 1985, S. 577 /578. 39 EuGH Rs. 263/86 (Humbel), Urt.v.27. 9. 1988 (noch nicht veröffentlicht): "Das wesentliche Merkmal des Entgelts besteht also in der Tatsache, daß es die wirtschaftliche Gegenleistung für die betreffende Leistung darstellt, die üblicherweise von dem Dienstlei stungserbringer und dem Dienstleistungsempfanger festgelegt wird."

B. Der Begriff der Dienstleistung in Art. 59 und 60 EWGV

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Das bereits erörterte "Steymann"-Urteil vom 5. 10. 1988 bestätigte erneut die bereits bislang ganz überwiegende Ansicht, daß für Entgeltlichkeit und Erwerbszweck eine Gewinnerzielungsabsicht nicht erforderlich ist 4O • Auch Unternehmen und Gemeinschaften, die nicht ausschließlich auf die Erzielung von Gewinnen ausgerichtet sind (evtl. aber doch Gewinne erzielen) und gemeinnützige Unternehmen, die sich an Wettbewerb und Wirtschaftsleben beteiligen, sind in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts und damit des Dienstleistungskapitels einzubeziehen 41. 2. Die Art der gewährten Vergütung

Durch das "Steymann"-Urteil wurde auch klargestellt, daß bei der Art der gewährten Vergütung ein weites Verständnis zugrundezulegen ist. Es umfaßt auch das im konkreten Fall gewährte "mittelbare" Entgelt, das größtenteils in Form von Naturalien und ohne konkreten Bezug auf einzelne Leistungen der Sektenangehörigen gewährt wurde. Auch die Kommission will hier den Kreis im Interesse einer möglichst vollständigen Erfassung aller wirtschaftlichen Vorgänge weit ziehen: "Nach Art. 60 Abs. I kommt es auch nicht darauf an, in welcher Form die Zahlung geleistet wird: zur Erfüllung eines Vertrages, als Mitgliedsbeitrag in einem Verein, als Gebühr, als steuerähnliche Abgabe, als Zuweisung aus öffentlichen Mitteln, welche den beim Leistungsempfanger erhobenen Abgaben oder Gebühren entspricht." 42

3. Der Adressat des EntgeltlichkeitserJordernisses bei der passiven DienstleistungsJreiheit Im Hinblick auf die passive Dienstleistungsfreiheit stellt sich die Frage, ob das Merkmal der Entgeltlichkeit bei demjenigen vorliegen muß, der sich auf die Dienstleistungsfreiheit beruft 43. Gerade bei Betrachtung der passiven DienstleiVgl. etwa Grünbuch der Kommission "Femsehen ohne Grenzen", 1984, S. 106. Z. B. WEGS-Everling. Art. 58, Anm. 8 (bejahend auch für Genossenschaften und Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit); ders .. Das Niederlassungsrecht im Gemeinsamen Markt, 1963, S. 15; Steindorff, NJW 1982, S. 1902/1905; GBTE-Troberg. Vorb. Art. 52-58 Rz. 7 (zur NLF); Jarass. EuR 1986, S.75/78 für das Rundfunkwesen; Grabitz-Randelzhojer. Art. 52, Rz. 15; Bleckmann. WiVer 1987, S. 119/127 (der auf den wirtschaftlichen bzw. Tauschwert der Leistung abstellt). - Auch der im Hinblick auf Unternehmen engere Wortlaut des englischen Vertrags textes (Art. 58 Abs.2 am Ende: "save for those which are non-profitmaking") wird entsprechend verstanden: Smit I Herzog-van Gerven. Art. 58, 58.04., spricht vom - weit zu verstehenden - Erfordernis eines "business purpose", das keine Gewinnerzielungsabsicht voraussetze. Ähnlich Schwartz, ELRev 1986, S. 7/11 (,,[ ... ]the company must pursue a commercial or commercially relevant objective, [... ] in the sense that it takes part in commercial life [... ]"). - Etwas enger Lasok, Professions, S. 12. 42 Grünbuch "Fernsehen ohne Grenzen", 1984, S. 107. 43 So etwa Demaretl Ernst de la Graete. CDE 1983, S. 261/265 ff. 40

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7 Völker

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4. Kap.: Begriff der Dienstleistungen

stungsfreiheit wird deutlich, daß lediglich der Dienstleistungsvorgang als Ganzes von den Merkmalen Entgeltlichkeit und Erwerbszweck geprägt sein muß, ohne daß dieses Merkmal bei allen Beteiligten vorliegen wird. Der private Empfänger einer Dienstleistung (etwa ein Tourist) verfolgt bei der Inanspruchnahme einer Dienstleistung häufig gerade keinen Erwerbszweck, sondern nimmt lediglich konsumierend am Wirtschaftsleben teil. Dasselbe gilt für Patienten. Dennoch sind diese Vorgänge wirtschaftlich ebenso bedeutend wie Fälle, in denen sich der Erbringer einer Dienstleistung in das Land des Empfängers begibt. Es muß also auch im Rahmen der passiven Dienstleistungsfreiheit genügen, wenn zumindest beim passiven Dienstleistungserbringer ein Erwerbszweck vorliegt und die Dienstleistung in der Regel gegen Entgelt erbracht wird 44. Es spielt nach dem Wortlaut des Art. 60 Abs. 1 auch keine Rolle, ob das Entgelt in concreto vom Dienstleistungsempfanger oder einem Dritten erbracht wird. Es ist nicht einmal erforderlich, daß gerade zwischen dem unmittelbar Leistenden und dem Dienstleistungsempfänger rechtliche Beziehungen bestehen 45 (beispielsweise, wenn ein Tourist bei einem Reiseunternehmen eine Pauschalreise bucht, und dieses seinerseits in vertraglichen Beziehungen zu Fluggesellschaft, Hotel etc. steht). Eine der Besonderheiten der passiven Dienstleistungsfreiheit liegt eben gerade darin, daß der aus ihr Berechtigte in dieser Eigenschaft keiner Erwerbstätigkeit nachzugehen braucht, um von der Freizügigkeit des EWGV zu profitieren. 4. Die "in der Regel" entgeltliche Dienstleistung

Die Dienstleistung muß "in der Regel"46, nicht aber notwendig in jedem konkreten Fall gegen Entgelt erfolgen. Da sich das Merkmal der Entgeltlichkeit an den (aktiven oder passiven) Dienstleistungserbringer richtet, ist auch aus der Sicht seiner Person und seines Gewerbes zu beurteilen, ob eine Dienstleistung "in der Regel" entgeltlich erbracht wird oder nicht. Er muß eine bestimmte Art von Leistung "normalerweise", in den allermeisten Fällen, gegen eine Vergütung erbringen. Tut er dies aus bestimmten Gründen nur ausnahmsweise nicht (etwa als besondere Gefälligkeit oder für eine ganz bestimmte Person oder Personengruppe ), findet dennoch das Dienstleistungskapitel Anwendung, da die Dienstleistung eben nur "in der Regel" entgeltlich sein muß. Ein französischer Patient, der ausnahmsweise von einem mit ihm befreundeten italienischen Arzt umsonst behandelt wird, kann sich bei der Einreise nach Italien also auch auf die passive Dienstleistungsfreiheit berufen.

44 A.A. Hailbronner, in: Das deutsche Bundesrecht, 516. Lieferung 1984, S.14; Durand, ELRev 1979, S. 3/8 f., beide allerdings vor Ergehen der Entscheidung "Luisi

und Carbone". 45 46

Schwartz, ELRev 1986, S. 7/18.

Englisch ..norrnally", französisch ..normalement", italienisch ..normalmente".

B. Der Begriff der Dienstleistung in Art. 59 und 60 EWGV

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5. Sportliche und kulturelle Tätigkeiten als entgeltliche Dienstleistungen Nach dem bereits dargelegten Verständnis des Begriffs der Entgeltlichkeit versteht es sich von selbst, daß auch sportliche und kulturelle Aktivitäten, die den genannten Anforderungen genügen, in den Anwendungsbereich des EWGV einzubeziehen sind 47 • Beide Bereiche sind von einer nicht zu unterschätzenden wirtschaftlichen Bedeutung 48 • In der bereits erörterten "Steymann"-Entscheidung vom 5. 10. 1988 49 hat der EuGH nunmehr festgestellt, daß auch Leistungen innerhalb einer auf Religion oder einer anderen Form von Weltanschauung beruhenden Lebensgemeinschaft, soweit sie als Teil der gewerblichen Tätigkeiten dieser Gemeinschaft ausgeübt oder als Gegenleistung für solche Arbeiten gewährt werden, wirtschaftliche Tätigkeiten sind und damit prinzipiell dem Anwendungsbereich des EWGV unterfallen (die Anwendbarkeit des Dienstleistungskapitels wurde im konkreten Fall aus anderen Gründen verneint). Im Bereich des Sports erscheint die herkömmliche diffuse Unterscheidung zwischen Profis, "Halbprofis" und Amateuren als ein zu vages Kriterium für das Vorliegen eines Wirtschaftsvorgangs bzw. einer Dienstleistung im Einzelfall. Entscheidend kann nur sein, ob in concreto eine Leistung entgeltlich erbracht wird, was von Fall zu Fall zu prüfen ist 50 • Dabei ist für den Bereich der aktiven Dienst leistungsfreiheit 51 unerheblich, ob der Sportler sein Entgelt unmittelbar 47 EuGH a. a. O. (Fn. 32) für den sportlichen Bereich. Vgl. zur besonders in letzter Zeit lebhaften Diskussion dieser Rechtsprechung, die Wettkampfmannschaften, insbesondere Nationalmannschaften aus dem Anwendungsbereich des EWGV ausnimmt, u.a. die unterschiedlichen Stellungnahmen von Delannay, CDE 1976, S. 209/214 ff. (diese Ausnahme des EuGH lasse sich nur contra legern als "coutilme europeenne" rechtfertigen); Steindorff, RIW 1975, S. 253 ff.; Hilf, NJW 1984, S. 517/520 f.; Marticke, Ausländerklauseln und Spielertransfer aus europarechtlicher Sicht, in: Will (Hrsg.), Sport und Recht in Europa, 1988, S. 53 ff., insbesondere S. 57 ff., jeweils m. w.N. Weitere Nachweise zur europarechtlichen Sportliteratur bei Will, ebd., S. 100 ff. - Eingehend zur Gesamtproblematik, insbesondere auch zur integrativen Wirkung des Sports in Europa Klose, Die Rolle des Sports bei der Europäischen Einigung - zum Problem von Ausländersperrklauseln, 1989. 48 Vgl. für den kulturellen Bereich die Angaben bei Schwartz, AfP 1987, S. 375/ 376 f., der geradezu vom "Sektor Kulturwirtschaft" spricht und dafür plädiert, die Freiheiten des Gemeinsamen Marktes allen Kulturschaffenden zu gewähren, sowie Roth, ZUM 1989, S. 101 ff. (insbes. S. 104 ff.). - Die wirtschaftliche Bedeutung des Berufssports als massenwirksames "Showgeschäft" mit Spitzensportlern als zugkräftigen Werbeträgern versteht sich von selbst. Steindorjf, RIW 1975, S. 253 ff. weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß auch die Aufnahme in nationale Wettkampfmannschaften zunehmend an ökonomischer Bedeutung gewinnt (einmal wegen der z.T. exorbitanten Siegprämien, zum anderen im Hinblick auf den durch Publizität und Prestigewinn gesteigerten "Marktwert" des Sportlers). 49 Rs. 196/87, ABI. 1988 C 284/9 (Tenor); zu Tatbestand und Entscheidungsgründen O.S. 89 ff. 50 Delannay, CDE 1976, S. 209/213. 51 Der Sportler begibt sich vorübergehend gegen Entgelt in einen anderen Mitgliedstaat.

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4. Kap.: Begriff der Dienstleistungen

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von einem Verein oder über Dritte, z. B. von Sponsoren oder über Werbeverträge oder "Fördergesellschaften" erhält, die bisweilen zwischengeschaltet werden, um den offiziellen Amateurstatus zu wahren 52. Auch sonstige wirtschaftliche Aktivitäten im Umfeld des Sports unterliegen dem EWGV: Soweit ein Sportverein oder eine Olympiastadt Anlagen baut oder Personal beschäftigt, ist bei grenzüberschreitenden Bezügen Gemeinschaftsrecht anwendbar 53. Auch für die passive Dienstleistungsfreiheit ist grundsätzlich jede sportliche oder kulturelle Veranstaltung, bei der ein Entgelt für den Zutritt zu entrichten ist, als Dienstleistung im Sinne des EWGV zu betrachten. Dies ist unabhängig vom Amateur- oder Profistatus der beteiligten Akteure. Der interessierte Zuschauer nimmt als "Sporttourist" oder "Kulturtourist" an der passiven Dienstleistungsfreiheit teil. 6. Verzicht auf das Erfordernis der Entgeltlichkeit? Weitergehend stellt sich die Frage, ob nicht gewisse Leistungen, die ohne Erwerbsabsicht und ohne Entgelt erbracht oder in Anspruch genommen werden, nicht dennoch in den Anwendungsbereich der aktiven und passiven Dienstleistungsfreiheit einbezogen werden sollten. Die in jüngerer Zeit festzustellende Erweiterung des gemeinschaftsrechtlichen Blickwinkels über rein ökonomische Gesichtspunkte hinaus in Richtung auf ein "Europa der Bürger" legt ein weites und dynamisches Verständnis der in den Bereich der Dienstleistungsfreiheit einzubeziehenden Dienstleistungen nahe. In der Rechtsprechung des EuGH ist schon seit längerem anerkannt, daß auch künstlerische oder sportliche Tätigkeiten unter die Freizügigkeitsregelungen fallen, soweit sie in einem Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausgeübt werden 54 oder sich sonst als Teil des Wirtschaftslebens darstellen. Nichts anderes gilt, wenn derartige Leistungen gegen Entgelt und mit Erwerbsabsicht von Selbständigen ausgeübt oder solche Leistungen grenzüberschreitend in Anspruch genommen werden. Darüber hinaus wäre es integrationspolitisch wünschenswert, auch Leistungen, die nicht mehr zum eigentlichen Wirtschaftsleben zu zählen sind, sondern z. B. im Rahmen kirchlicher und karitativer Veranstaltungen oder durch solche Organisationen erbracht werden, sowie den Amateursport in die Personenverkehrsfreiheit des EWGV einzubeziehen 55. Auch der Empfänger einer unentgeltlichen und 52

Vgl. Marticke, Ausländerklauseln und Spielertransfer aus europarechtlicher Sicht,

S. 53/55 f.

Vgl. Steindorff, RIW 1975, S. 253/254. Vgl. die in Fn. 35 zitierten Urteile. 55 Für ein weiteres Verständnis, das grundsätzlich auch den Breitensport in den Anwendungsbereich des EWGV, namentlich in das Diskriminierungsverbot des Art. 7 EWGV, einbeziehen will, Klose, Die Rolle des Sports bei der europäischen Einigung - zum Problem von Ausländersperrklauseln, 1989. 53

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B. Der Begriff der Dienstleistung in Art. 59 und 60 EWGV

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rein kulturell, sozial, kirchlich oder auch politisch motivierten Leistung sowie Teilnehmer und Zuschauer bei Amateursportveranstaltungen könnten dann i.S. eines "Europa der Bürger" von den Freiheiten der Gemeinschaft profitieren. Dieser Erwägung steht aber im Hinblick auf die passive Dienstleistungsfreiheit in entscheidender Weise die Tatsache entgegen, daß Art. 60 Abs. 1 EWGVausdrücklich nur Dienstleistungen einbezieht, die "in der Regel gegen Entgelt erbracht werden". Dies entspricht der auf wirtschaftliche Vorgänge ausgerichteten Systematik der Freizügigkeitsvorschriften überhaupt. Daher können von den genannten Vorgängen nur solche in die passive Dienstleistungsfreiheit einbezogen werden, bei denen der Empfänger der Leistung regelmäßig ein Entgelt zu leisten hat, die also neben ihrer kulturellen oder sozialen Funktion auch eine wirtschaftliche Seite haben. Sonstige (unentgeltliche) Veranstaltungen und Leistungen dieser Art müssen dagegen nach wie vor ausgenommen bleiben 56. Sie können nur durch die Gewährung eines allgemeinen Rechts auf Einreise und Aufenthalt für alle EG-Bürger erfaßt werden 57. Dies gilt vor allem, wenn sich der Angehörige eines Mitgliedstaates zu einer politischen Veranstaltung in einen anderen Mitgliedstaat begeben möchte. Zwar würde er im Rahmen dieses Aufenthalts auch zwangsläufig Dienstleistungen in Anspruch nehmen. Der eigentliche Zweck seiner Reise, die politische Veranstaltung, stellt jedoch keine Dienstleistung im Sinne des Art. 60 dar, weshalb er sich auch nicht mit einreise- und aufenthaltsberechtigender Wirkung auf die passive Dienstleistungsfreiheit berufen kann. Frankreich hatte daher z. B. das Recht, belgischen, luxemburgischen und bundesdeutschen Demonstranten, die gegen ein Kernkraftwerk protestieren wollten, die Einreise zu verwehren 58 • V. Staatliche Leistungen 1. Entgeltliche staatliche Leistungen

Wie sich nicht zuletzt im Umkehrschluß aus Art. 55 Abs. I EWGV ergibt, ist auch der gemeinschaftsrechtliche Dienstleistungsbegriff keineswegs denknotwendig auf nichthoheitliche Tätigkeiten beschränkt 59. Dies ist insbesondere im Hinblick auf die passive Dienstleistungsfreiheit von Bedeutung. Da es bei der passiven Dienstleistungsfreiheit um die möglichst ungehinderte und gleichberech56 Restriktiv auch die herkömmliche und noch überwiegende Auffassung, z. B. Everling, BB 1958, S. 857/858; GBTE-Troberg, Vorb. Art. 52-58, Rz. 7; Art. 60 Rz. 3; Grabitz-Randelzhofer, Art. 52 Rz. 13. 57 Ein entsprechender RL-Entwurf der Kommission existiert seit 1979, konnte aber bislang nicht realisiert werden. Dazu näher 7. Kapitel A III. 58 So auch die Kommission am 15. 9. 1975 in Beantwortung einer schriftlichen Anfrage, ABl. 1975 C 242/3 f.; Geck I Oehler, JuS 1983, S. 129/132 f.; Van der Woude I Mead, CMLRev 1988, S. 117/130. 59 Grabitz-Randelzhofer, Art. 60 Rz. 9; Seidel, Rundfunk, insbesondere Werbefunk und innergemeinschaftliche Dienstleistungsfreiheit, GS Sasse I, 1981, S. 351, 362 f.

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4. Kap.: Begriff der Dienstleistungen

tigte Teilnahme jedes gebietsfremden Dienstleistungsempfangers am Wirtschaftsleben eines anderen Mitgliedstaates geht, muß der Begriff der Dienstleistung im Hinblick auf die Einbeziehung auch öffentlicher Dienstleistungen weiter gefaßt werden, als es im Hinblick auf die aktive Dienstleistungsfreiheit bislang erforderlich war. Der moderne Staat greift auf vielfaltige Art und aus unterschiedlichen Motiven kontrollierend, regulierend und partizipierend in das Wirtschaftsleben ein, wobei er sich nicht selten wie ein Privater als Unternehmer betätigt. Soweit der Staat - vor allem im Rahmen moderner Daseinsvorsorge - gegen Entgelt Dienstleistungen im volkswirtschaftlichen Sinn anbietet, die in gleicher Weise auch von Privaten angeboten werden können oder angeboten werden, müssen sie grundsätzlich als Bestandteil des Wirtschaftslebens i. S. v. Art. 2 EWGV vorbehaltlich der (eng auszulegenden) Sonderregelung des Art. 90 Abs. 2 EWGV - auch unter die passive Dienstleistungsfreiheit fallen 60 • Dabei spielt es keine entscheidende Rolle, ob der jeweilige Vertrag nach der nationalen Rechtsordnung öffentlich- oder privatrechtlich ausgestaltet ist (soweit sie eine solche Unterscheidung überhaupt kennt), soweit er inhaltlich den genannten Kriterien genügt. Diese Auffassung vertritt auch die Kommission (im Hinblick auf Rundfunksendungen): "Das Entgelt kann also öffentlichen, auf dem öffentlichen Recht beruhenden Charakter haben oder privaten, privatrechtlichen. Es kann für eine private, privatwirtschaftliche oder für eine öffentliche, auf dem öffentlichen Recht beruhende Leistung (Tätigkeit) erbracht werden."61 Ein anschauliches Beispiel bildet der folgende Fall, über den eine Anfrage des deutschen EP-Abgeordneten Wilhelm Hahn informiert 62 : Gemäß einem griechischen Ministererlaß vom 9. Juli 1984, der in den allgemeinen Rahmen der Sozialpolitik der Regierung fiel, hatten sämtliche griechische Staatsbürger in sämtlichen archäologischen Museen Griechenlands freien Eintritt. Ausländer mußten für den Besuch bezahlen. Bestimmte Gruppen von Ausländern hatten entweder freien Eintritt (Kinder bis zu 12 Jahren, Studenten und Lehrkräfte klassischer Fächer, Fremdenführer, Journalisten) oder erhielten Ermäßigungen auf den Eintrittspreis (sämtliche Studenten). Für EG-Bürger war keine Sonderrege1ung vorgesehen. Für die Kommission nahm Carlo Ripa di M eana folgendermaVgl. Schwartz, ELRev 1986, S. 7/10 f. EG-Kommission (Hrsg.), Grünbuch ,,Fernsehen ohne Grenzen", 1984, S. 107. Kritisch dazu vor allem Börner, ZUM 1985, S. 577 /579 f., der auch in anderer Hinsicht das Konzept der Kommission in Frage stellt. Er möchte zwar "grundsätzlich" nur solche Tätigkeiten, die auf der Grundlage des Privatrechts, d.h. privatrechtlicher Verträge erfolgen, in den Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit einbeziehen, läßt aber "ausnahmsweise" auch öffentlich-rechtliche Verträge unter den Begriff der Dienstleistung fallen, wenn sie Aufgaben erfüllen, "die ebensogut ein privatrechtlicher Vertrag hätte wahrnehmen können" (S. 579). Aufgrund dieser Differenzierung kommt Börner im Bereich des Rundfunks z.T. zu anderen Ergebnissen als die Kommission (etwa im Hinblick auf die gemeinschaftsrechtliche Qualifikation öffentlich-rechtlicher Rundfunkgebühren). 62 Anfrage vom 3. 6. 1985 (ABI. 1985 C 269/21); erneute Anfrage vom 24. 1. 1986 (ABI. 1986 C 330/2), jeweils mit Antwort Ripa di Meana. 60

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B. Der Begriff der Dienstleistung in Art. 59 und 60 EWGV

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ßen Stellung: "In ihrem Schreiben vom 4. 12. 1985 hat die Kommission den griechischen Behörden mitgeteilt, daß die oben beschriebene Situation ihrer Auffassung nach eine Diskriminierung darstellt, die dem Prinzip des Europa der Bürger sowie dem EWG-Vertrag zuwiderläuft. Die Kommission hat die griechische Regierung daher aufgefordert, diese Diskriminierung abzustellen." Nach dem oben Gesagten kann die von der Kommission gerügte Verletzung des EWGV in einem Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot für Dienstleistungsempfänger im Rahmen der passiven Dienstleistungsfreiheit gesehen werden, soweit die von Ausländern erhobenen Eintrittsgebühren den Zweck haben, zumindest die Kosten dieser Einrichtungen zu decken. In diesem Fall müssen die Geschäftsbedingungen, also auch Gebührenermäßigungen oder -befreiungen auf Inländer und EG-angehörige Ausländer gleichermaßen Anwendung finden. Der passive Dienstleistungsempfänger profitiert dann aufgrund des Diskriminierungsverbotes auch von sozial motivierten Begünstigungen, soweit sie im Rahmen eines Leistungsverhältnisses gewährt werden, das sich nach seinem gesamten Erscheinungsbild als Dienstleistung i. S. v. Art. 60 EWGV darstellt. Daß in bestimmten Fällen keine Gebühr erhoben wird, tut dem keinen Abbruch, da Art. 60 nur fordert, daß die Leistung in der Regel gegen Entgelt erfolgt. Nichts anderes kann für jene Fälle gelten, in denen bei staatlichen Dienstleistungen einzelnen Bevölkerungsgruppen Vergünstigungen gewährt werden. Wandelt man z. B. den eben zitierten Fall dahingehend ab, daß nach nationalem Recht nur einheimische Kinder bis zu 12 Jahren, Lehrkräfte klassischer Fächer, Fremdenführer, Journalisten etc. eine Gebührenermäßigung erhielten, so müßte diese Vergünstigung auch allen anderen EG-Angehörigen gewährt werden, die diese Voraussetzungen erfüllen. Diese Auffassung steht auch nicht im Widerspruch zur andernorts 63 getroffenen Feststellung, daß mit der Ausübung der passiven Dienstleistungsfreiheit als solcher keine (sozialen oder sonstigen) Begleitrechte verbunden sein können, soweit das (sekundäre) Gemeinschaftsrecht oder das (insoweit über das Gemeinschaftsrecht hinausgehende) nationale Recht sie nicht ausdrücklich vorsieht. Bei den genannten Vergünstigungen handelt es sich nämlich lediglich um Modalitäten solcher staatlicherseits angebotenen Dienstleistungen, die Teil des Wirtschaftslebens sind, auch wenn die Vergünstigungen im Einzelfall durch soziale Erwägungen motiviert sein mögen. Hier ist eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit nicht zulässig. 2. Unentgeltliche staatliche Leistungen, insbesondere Sozialleistungen Erforderlich ist allerdings, daß die staatliche Leistung "in der Regel gegen Entgelt" gewährt wird. Der Staat muß also ähnlich einem Unternehmer am Wirtschaftsleben teilnehmen und gewinnorientiert oder zumindest kostendeckend 63

U. 6. Kapitel E.

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4. Kap.: Begriff der Dienstleistungen

wirtschaften. Auf diese Weise werden solche Leistungen vom Anwendungsbereich des Dienstleistungskapitels ausgeschlossen, die überwiegend mit staatsoder sozialpolitischer Zwecksetzung erbracht werden, namentlich staatliche Bildungsleistungen, wie jüngst vom EuGH festestellt wurde 64. Die Sozialpolitik fällt nach wie vor grundsätzlich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Soweit ein Staat mit einer Leistung die ihm seiner Bevölkerung gegenüber obliegenden sozialen, kulturellen und erzieherischen Aufgaben erfüllt und diese zudem weitgehend mit öffentlichen Mitteln finanziert wird, ist eine Anwendung des Dienstleistungskapitels ausgeschlossen. Dies betonte jüngst auch GA Lenz 65 im Hinblick auf staatlich Entschädigungsleistungen für die Opfer von Straftaten, die nur Inländern gewährt wurden. Er verneinte deren Qualität als Dienstleistungen i. S. v. Art. 60 EWGV, wobei er auf jüngst vom EuGH im Hinblick auf Bildungsleistungen aufgestellte Kriterien zurückgriff und diese verallgemeinerte: "Es bleibt nun das Argument zu prüfen, die staatliche Entschädigung selbst könnte als gemeinschaftsrechtsrelevante Dienstleistung betrachtet werden. Gegen ein solches Verständnis spricht schon die durch Regelbeispiele getroffene vertragliche Umschreibung einer Dienstleistung in Art. 60 EWG-Vertrag. Sie ist danach eine Leistung, die in der Regel gegen Entgelt erbracht wird [... ]. Spätestens aber nach den eindeutigen Ausführungen in dem Urteil in der Rechtssache 263/86 [Fußnote 22: Urteil vom 27. September 1988 in der Rechtssache 263/86 - LEtat beige gegen Humbel-'- noch nicht veröffentlicht] 66 zu der Frage, ob staatlicher Unterricht eine Dienstleistung im Sinne des Vertrages sein könne, ist der Weg abgeschnitten, eine aus öffentlichen Mitteln f'manzierte Maßnahme der Daseinsvorsorge als Dienstleistung zu qualifizieren. [. .. ] Ein wichtiges Charakteristikum des Entgelts besteht nach der Auslegung des Gerichtshofs darin, daß es das ökonomische Gegenstück zur Leistung ausmacht, die normalerweise zwischen Dienstleistungserbringer und Dienstleistungsempfänger festgesetzt wird [Fußnote 22: Rechtssache 263/86, a. a. 0., Rdnr. 17]. So wie dieses Element für den Fall des öffentlichen Unterrichtswesens fehlt, ist auch ein Entgelt im Sinne der vorangegangenen Definition für die staatliche Opferentschädigung nicht erkennbar. Die weitere Argumentation in dem Urteil 263/86 karm ebenfalls herangezogen werden. Indem der Staat ein System der Opferentschädigung schafft und unterhält, beabsichtigt er nicht, sich in der Form entgeltlicher Aktivitäten zu betätigen, sondern erfüllt seine Aufgabe gegenüber der Bevölkerung auf sozialem und kulturellem Gebiet und dem Bildungssektor [Fußnote 23: Rechtssache 263/86, a. a. 0 ., Rdnr. 18]. Im allgemeinen werden derartige Leistungen aus dem öffentlichen Haushalt finanziert. Leistungen der Daseinsvorsorge können gemeinschaftsrechtliche Relevanz vornehmlich im Bereich einer gemeinsamen Sozialpolitik erlangen oder auch im Rah64 EuGH Rs. 263/86 (Humbel und Edel), Urteil vom 27.9. 1988 (noch nicht veröffentlicht). Wegen seiner besonderen praktischen Bedeutsarnkeit wird das Problem staatlicher Bildungsleistungen in einem eigenen Kapitel behandelt. Dort wird das genannte Urteil in seinem Zusammenhang mit der sonstigen "Bildungsrechtsprechung" des EuGH erörtert (u. 5. Kapitel A V.4.). 65 Schlußanträge vom 6. 12. 1988 in der Rs. 186/87 (Cowan), noch nicht veröffentlicht. Näher o. 3. Kapitel E 11. und III. 66 Dazu u. 5. Kapitel A V.4.

B. Der Begriff der Dienstleistung in Art. 59 und 60 EWGV

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men der Arbeitnehmerfreizügigkeit, wo eine vollständige Integration der betroffenen Personengruppen angestrebt wird. Als Gegenstand des freien Dienstleistungsverkehrs sind sie nicht geeignet. Ein ,Sozialtourismus', verstanden als eine Wanderbewegung mit dem alleinigen oder zumindest vorrangigen Ziel, die möglicherweise günstigeren Sozialleistungen des Gastlandes in Anspruch zu nehmen, ist nicht Ziel des EWG-Vertrages. Das wird gerade im Zusammenhang mit der Freiheit des Dienstleistungsverkehrs durch die Worte ,gegen Entgelt' deutlich". 67 Diese Argumentation verdient Zustimmung. Daß der Generalanwalt und der Gerichtshof im konkreten Verfahren dann doch zu einer Anwendbarkeit des Diskriminierungsverbots gelangten, beruht auf einer Argumentation, die an anderer Stelle dargestellt wird. 68

VI. Das Element der selbständigen Tätigkeit Die Regeln über die Niederlassungs- und die aktive Dienstleistungsfreiheit erfassen alle selbständig Tätigen (Art. 52, 60 Abs. 1). Abhängig beschäftigte grenzüberschreitende Erbringer von Leistungen, die sich auf Dauer in einem anderen Mitgliedstaat niederlassen wollen, unterfallen den Art. 48 ff. EWGV. Dienstleistungen unselbständig Beschäftiger fallen nur unter das Dienstleistungskapitel, soweit die grenzüberschreitende Leistung ohne Standortwechsel des Leistenden erbracht wird. Schickt also ein Unternehmen z. B. einen Montagetrupp für einige Wochen in einen anderen Mitgliedstaat, unterfällt auch dieser Vorgang der Dienstleistungsfreiheit, nicht den Art. 48 ff. Wie bereits erwähnt, ist es für den Empfänger einer Dienstleistung charakteristisch, daß er in dieser Eigenschaft gerade keine Erwerbstätigkeit ausübt. Er nimmt lediglich eine Dienstleistung entgegen und bezahlt sie. Für ihn ist es auch gleichgültig, ob die Dienstleistung von einem Selbständigen oder einem Angestellten erbracht wird. Er kann sich in beiden Fällen auf die passive Dienstleistungsfreiheit berufen. Somit ist das Element der Selbständigkeit, das bei der aktiven Dienstleistungsfreiheit notwendig ist, um eine Abgrenzung zu unselbständigen Tätigkeiten (Art. 48 ff. EWGV) zu erreichen, bei der passiven Dienstleistungsfreiheit im Hinblick auf den passiven Dienstleistungserbringer und -empfänger gegenstandslos. Wenn z. B. ein deutscher Tourist sich in Italien die Haare schneiden läßt, fällt dieser Vorgang unter die passive Dienstleistungsfreiheit, gleichgültig, ob der Friseur selbständig oder angestellt ist. Die Subsidiaritätsklausel des Art. 60 Abs. 1 ist insoweit für den passiven Dienstleistungsverkehr bedeutungslos.

67

68

Schlußanträge Rs. 186/87, Ziff. 35-39. Vgl. 3. Kapitel E II.3. und III.

5. Kapitel

Bildungsleistungen als Dienstleistungen im Sinne der passiven Dienstleistungsfreiheit Die Frage, inwieweit (insbesondere staatliche) Bildungsleistungen als Dienstleistungen im Sinne der passiven Dienstleistungsfreiheit anzusehen sind, stellt sich als praktisch besonders bedeutsames und außerordentlich sensibles Problem des Gemeinschaftsrechts dar. Virulent wurde es vor allem durch die Entscheidung des EuGH vom 13.2. 1985 1, die ausländischen Studenten gleichberechtigten Zugang zu berufsbildenden Einrichtungen gewährte. Erst durch ein neues Urteil des EuGH vom 27. 9. 1988 2 wurde dann im Hinblick auf die passive Dienstleistungsfreiheit - jedenfalls im Grundsatz - eine gewisse Klarheit geschaffen. Die komplexe Struktur des Bildungssektors machte es erforderlich, diese Frage in einem eigenen Kapitel vor dem Hintergrund der gemeinschaftsrechtlichen Aktivitäten im Bildungsbereich und der neuen "Bildungs-Rechtsprechung" des EuGH zu behandeln, wobei vor allem zwischen staatlichen und privaten Bildungseinrichtungen zu differenzieren und das Sonderproblem staatlich-privater Mischformen zu bedenken war. Abschließend wird noch auf die Problematik des Elements der Grenzüberschreitung bei längerfristigen Bildungsaufenthalten eingegangen. A. Staatliche Bildungseinrichtungen I. Die fragmentarische gemeinschaftsrechtliche und die grundsätzlich mitgliedstaatliche Zuständigkeit im Bildungsbereich

Im EWGV gibt es keine umfassende Regelung des Bildungs- und Berufsbildungssektors. Lediglich die Berufsbildung findet in einigen Vorschriften Erwähnung, namentlich in Art. 41 lit. a), 57, 118, 128 und 130g EWGV3. Daneben 1 Rs. 293/85 (Gravier), EuGHE 1985,593 ("leading case"). Näher zu diesem Urteil und der auf ihm basierenden Folgerechtsprechung u. IV. 2 Rs. 263/86 (Humbel und Edel), noch nicht veröffentlicht. Näher u. V. 4. 3 Eingehend zu den sich aus diesen Normen ergebenden Gemeinschaftskompetenzen und zur möglichen Rolle des Art. 235 EWGV in diesem Bereich Hiermaier, Der Einfluß der Europäischen Gemeinschaft auf das Deutsche Bildungswesen, in: Birk / Dittmann / Erhardt (Hrsg.), Kulturverwaltungsrecht im Wandel, 1981, S. 81 ff., insbes. 90 ff.; Oppermann, Europäisches Gemeinschaftsrecht und deutsche Bildungsordnung. "Gravier" und die Folgen, 1987 (im folgenden: ",Gravier'-Gutachten"), insbes. S. 20 ff.

A. Staatliche Bildungseinrichtungen

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befassen sich noch die Art. 2, 4 und 9 EAGV mit Bildungsmaßnahmen im Nuklearbereich. Art. 128 EWGV sieht lediglich die Aufstellung allgemeiner Grundsätze zur Durchführung einer gemeinsamen Politik auf diesem Sektor vor; Art. 118 spricht wenig verbindlich von einer "engen Zusammenarbeit" auf dem Gebiet der beruflichen Ausbildung und Fortbildung 4 • Aus diesen vagen Formulierungen kann geschlossen werden, "daß beide Vertragsartikel nur rudimentäre Anknüpfungspunkte liefern und die Mitgliedstaaten nur in geringem Grade verpflichten" 5. Im übrigen ist die Bildungspolitik nach wie vor grundsätzlich als Angelegenheit der einzelnen Mitgliedstaaten anzusehen, deren historisch gewachsene Bildungssysteme im einzelnen sehr unterschiedlich ausgestaltet sind 6 • Gerade in diesem auf die Persönlichkeitsbildung des Einzelnen bezogenen Bereich machen sich die Unterschiede und Eigenheiten der europäischen Kulturen besonders bemerkbar. Beispielsweise stehen in der Gemeinschaft eher zentralistisch orientierte Systeme 7 dezentralen Modellen 8 gegenüber. Der Umfang staatlicher Aufsicht über kommunale, lokale und private Bildungseinrichtungen ist teils stärker, teils schwächer ausgeprägt. 11. Die bildungspolitischen Aktivitäten der EG Dennoch wurde auch auf europäischer Ebene nicht übersehen, welchen Stellenwert insbesondere die Berufsausbildung und die gegenseitige Anerkennung von Ausbildungsleistungen für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung, nicht zuletzt für die Mobilität qualifizierter Fachkräfte im Bereich der Freizügigkeit und des volkswirtschaftlichen Dienstleistungssektors hat 9 • Daher gibt es auch auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene gerade in neuerer Zeit Ansätze zur Begründung einer 4 Näher zur Bedeutung dieser beiden Vorschriften und ihrem Verhältnis zueinander Oppermann, "Gravier"-Gutachten, S. 35 ff., der ihnen eine kompetenzbegründende Wirkung zugunsten der Gemeinschaft weitgehend abspricht. 5 Oppermann, "Gravier"-Gutachten, S. 36 6 Näher dazu die Länderberichte in EG-Kommission (Hrsg.), Der Aufbau des Bildungs wesens in der Europäischen Gemeinschaft, 1987 und die Übersichten in EGKommission (Hrsg.), The Conditions of Service of Teachers in the European Community, 1988, S. 19 ff. 7 Griechenland, Frankreich, Italien, Portugal. 8 Belgien, Dänemark, Bundesrepublik Deutschland, Spanien (autonome Gebiete), Niederlande, Großbritannien (hier gibt es ohnehin beträchtliche Unterschiede zwischen England, Wales, Schottland und Nordirland). 9 1985/86 nahmen rund 68,3 Millionen Schüler und Studenten die Bildungseinrichtungen der Zwölfergemeinschaft in Anspruch (Eurostat, Statistische Grundzahlen der Gemeinschaft, 26. Ausgabe 1989, S. 112). Vgl. auch die Statistiken in ABI. 1988 C 303/ 39 zum Anteil Jugendlicher im Alter von 18 Jahren, die sich zu Beginn des Schuljahres 1985/86 in den Mitgliedstaaten in einer Ausbildung befanden und in ABI. 1988 C 325/ 22 zum prozentualen Anteil erstmals eingeschriebener Vollzeitstudenten an der gleichaltrigen Bevölkerungsgruppe in den einzelnen Mitgliedstaaten.

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5. Kap.: Bildungsleistungen als Dienstleistungen

EG-(Aus)Bildungspolitik 10, die sich in einer Vielzahl gemeinschaftlicher Entschließungen, Beschlüsse, Aktionsprogramme, Schlußfolgerungen u. dgl. niedergeschlagen haben: Bereits im Jahr 1963 erging ein Ratsbeschluß zur Aufstellung allgemeiner Grundsätze für die Durchführung einer gemeinsamen Politik der Berufsausbildung, der in programmatischer Weise Leitlinien für die nationalen Politiken in der Berufsausbildung aufstellte 11. Dieser Ansatz fand seine Fortsetzung und Ausweitung in der Ratsentschließung vom 9. 2. 1976 für ein Aktionsprogramm der Gemeinschaft im Bildungsbereich, durch die über die Berufsausbildung hinaus praktisch das gesamte Bildungswesen einbezogen wurde l2 • Dem folgten eine Vielzahl von weiteren Akten (vornehmlich in der Form von Entschließungen, Beschlüssen und Schlußfolgerungen) 13, die den Beschluß von 1976 konkretisierten 14, ohne jedoch in ihrer Verpflichtungswirkung den Grad (gegebenenfalls einklagbarer) rechtlicher Verbindlichkeit (vor allem i. S. v. Art. 189 EWGV) zu erreichen (sog. "soft law") 15.

10 Näher Oppermann, "Gravier"-Gutachten, S. 21 ff.; Sieveking, ZAR 1987, S. 99 ff. - Die Möglichkeiten und Grenzen einer Bildungs- und Kulturpolitik auf Gemeinschaftsebene wurden jüngst auf einer Tagung des Arbeitskreises Europäische Integration vom 8. - 10. September 1988 in Augsburg diskutiert. In den Referaten und in der Diskussion wurde u.a. auch auf die bildungspolitisch besonders bedeutsame "Gravier"-Rechtsprechung des E~9H eingegangen (dazu u. IV.). Die Referate wurden bislang nicht veröffentlicht. Einen Uberblick gibt der recht ausführliche Tagungsbericht von Cludius . Europäische Integration 1988 Nr. 14/15 (November), S. 26-40 (dort wird das Datum der Tagung allerdings versehentlich mit" 1987" angegeben). II Beschluß vom 2.4. 1963, ABI. 1963, S 1338. 12 ABI. 1976 C 38/1. Dem ging eine allgemeiner gehaltene Entschließung aus dem Jahr 1974 voraus (ABI. 1974 C 98/2). - Zuvor hatte der sog. "Janne-Bericht" wertvolle Impulse für gemeinschaftliche Initiativen gegeben (Für eine gemeinschaftliche Bildungspolitik, Bull.EG, Beil. 10/1973). 13 Regelmäßig "des Rates und der im Rat vereinigten Minister für Bildungswesen". Nur im Bereich der Berufsbildung ergingen stets ,,reine" Akte des Rates. 14 Namentlich die Entschließungen des Rates und der im Rat Vereinigten Minister für Bildungswesen vom 12.7. 1982 betreffend Maßnahmen zur besseren Vorbereitung der Jugendlichen auf den Beruf und zur Erleichterung ihres Überganges von der Schule zum Berufsleben (ABI. 1982 C 193/1); vom 11. 7. 1983 über die Berufsbildungspolitik in der Europäischen Gemeinschaft während der achtziger Jahre (ABI. 1983 C 193/2); vom 19.9.1983 über Maßnahmen zur Einführung neuer Informationstechnologien im Bildungswesen (ABI. 1983 C 256/1); Beschluß vom 1. 12. 1987 über ein drittes Aktionsprogramm für die Berufsbildung Jugendlicher und zur Vorbereitung der Jugendlichen auf das Erwachsenen- und Erwerbsleben (1988-1992), ABI. 1987 L 346/31; vom 23. 11. 1988 zur Gesundheitserziehung in den Schulen, ABI. 1989 C 3/1; Eine Zusammenstellung der Ratsakte im Bildungsbereich findet sich in Generalsekretariat des Rates (~sg.), Erklärungen zur Europäischen Bildungspolitik, 2. Ausg. 1986. Vgl. auch die Ubersichten der Kommission in Soziales Europa, Beiheft 3/ 1986 (Die Berufsbildung Jugendlicher in der EG) und 3/1987 (Aktivitäten der Kommission der EG im Bildungsund Berufsbildungsbereich in den Jahren 1985 und 1986), sowie in Schule in der Europäischen Gemeinschaft 1987 Nr. 11/12, S. 6 f.; Bull.EG Nr. 5/1988, S. 10 ff. und im 22. Gesamtbericht 1988, S. 221 ff.

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Höhepunkte in dieser Entwicklung bildeten die Gründung des Europäischen Zentrums für die Förderung der Berufsbildung (CEDEFOP) in Berlin 16 und des Europäischen Hochschulinstituts in Florenz im Jahr 1975 17 • Daneben bestehen sieben Europäische Schulen in verschiedenen Mitgliedstaaten, die in erster Linie als allgemeinbildende Lehr- und Erziehungsanstalten für Kinder von Bediensteten der EG gedacht sind, aber auch Kindern sonstiger EG-Bürger offenstehen 18. 1986 wurde ein Programm über Zusammenarbeit zwischen Hochschule und Wirtschaft auf dem Gebiet der Technologie (COMETT) verabschiedet 19. Einen weiteren Meilenstein stellte der Beschluß des Rates vom 15.6. 1987 über ein Aktionsprogramm der EG zur Förderung der Mobilität von Hochschulstudenten (ERASMUS) dar 20 • Schwerpunkte dieses Programms bilden die Schaffung eines europäischen Hochschulnetzes, die akademische Anerkennung von Diplomen und Stu15 Oppermann, "Gravier"-Gutachten, S. 24, 41 f. Für eine bloße "politische Verbindlichkeit" namentlich auch Bothe, FS Schlochauer, S. 761 ff., insbes. S. 768 ff. und van Crayenest, La nature des resolutions sur la cooperation en matiere de l'education, 1988. Differenzierend Everling, GS Constantinesco, S. 133 ff. (= Ausgewählte Aufsätze, S. 105 ff.), der bei derartigen Rechtsakten im Einzelfall eine mehr oder minder starke Bindungswirkung aus dem Gesichtspunkt der Gemeinschaftstreue für möglich hält, wobei es jeweils auf den Grad des Bindungswillens ankomme. Wenn - wie hier, mit Ausnahme des Berufsbildungssektors, meist der Fall - die Regierungsvertreter neben dem Rat als Autoren der Akte fungierten, spreche dies gegen einen Bindungswillen (GS Constantinesco, S. 133/155 = Ausgewählte Aufsätze, S. 105/127). Vgl. auch Hochbaum, WissR 1986, S. 206/207 f. (u. 11.). - Zur völkerrechtlichen Diskussion des "soft law"-Phänomens jüngst Ehricke, NJW 1989, S. 1906 ff.; Ballreich, GRUR Int. 1989, S. 383 ff. 16 VO 337/75 des Rates vom 10.2. 1975 über die Errichtung eines Europäischen Zentrums für die Förderung der Berufsbildung, ABI. 1975 L 39/1. Im Haushaltsjahr 1990 beliefen sich die Mittel auf ca. 8,9 Mio. ECU (ABI. 1990 L 25). Zusammenfassung der Leitlinien 1989 - 1992 in ABI. 1988 C 314/11 f. Vgl. auch Piehl, CEDEFOP 1989 Nr. 1, S. 40 ff. 17 Das "Übereinkommen über die Gründung eines Europäischen Hochschulinstituts" vom 19.4.1972 (ABI. 1976 C 29/1) trat am 20.3.1975 in Kraft. Näher Sasse, Das Europäische Hochschulinstitut in Florenz, 1978. 18 In Brüssel (2 Schulen), Bergen, Culham, Kirchberg-Luxemburg, Karlsruhe, Mol, München und Varese (v gl. Deutsches Zustimmungsgesetz vom 26. 7. 1965 zur Satzung der Europäischen Schulen vom 12.4.1957, BGBI. 196511, S. 1041 mit Änderung vom 6.9.1988, BGBI. 198811, S. 794). Dazu Kerr, The Common Market, S. 190 f. 19 Beschluß 86/365 vom 24.7. 1986, ABI. 1986 L 222/17. Das Programm ist am 1. 1. 1987 angelaufen und hat ein großes Echo gefunden, vgl. KOM (88) 331 endg., Ziff. 2.5.2. (S. 14). Für 1990-1994 ist das Folgeprogramm COMETI 11 bereits verabschiedet worden (Beschluß des Rates vom 16.12.1988, ABI. 1989 L 13/28). 20 ABI. 1987 L 166/20. Vgl. EG-Kommission (Hrsg.), 21. Gesamtbericht 1988, S. 189 f. (Ziff. 396) und BulI.EG Nr. 6/1988, S. 68 (Ziff. 2. 1. 142). Für das Programm wurden für 1988/8921,5 Millionen ECU und für den Zeitraum 1987 -1990 insgesamt 85 Millionen ECU bereitgestellt (Art. 4). Das Programm erfreute sich bereits in seinem ersten Laufjahr lebhafter Nachfrage (vgl. den ersten ERASMUS-Tätigkeitsbericht der Kommission für 1987 vom 15.4.1988, KOM [88] 192 endg., insbes. S. 5 und Tabelle 6 in Anhang 2 und den 2. Jahresbericht 1988 vom 16.3. 1989, KOM [89] 119 endg.). Vorschläge für eine 2. Phase in KOM (89) 235. - Zur Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland vgl. ABI. 1988 C 303/16. - Näher zu COMETI und ERASMUS Antoine, RevMC 1988, S. 554 ff.

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5. Kap.: Bildungsleistungen als Dienstleistungen

dienzeiten sowie Mobilitätsstipendien für Studenten 21 und sonstige flankierende Maßnahmen zur Förderung der Studentenmobilität. Ebenfalls 1987 wurde das Programm PETRA verabschiedet, das die Berufsbildung Jugendlicher fördern soll. 22 Am 28. 7. 1989 folgte noch LINGUA, das der Förderung der Fremdsprachenausbildung dient, und am 18. 12. 1989 EUROTECNET, das eine Anpassung der Berufsausbildung an den technologischen Wandel bezweckt. 23 Den vorläufigen Abschluß dieser Entwicklung markierten die Entschliessung des Rates und der im Rat vereinigten Minister für das Bildungswesen zur europäischen Dimension im Bildungswesen vom 24. 5. 1988, welche die Bildungspolitik in den Kontext der Verwirklichung des Binnenmarktes stellt, die Einbeziehung der europäischen Dimension in die Bildungssysteme anstrebt und einen neuen Schwerpunkt auf die "allgemeine Bildung" legt 24, die Richtlinie des Rates vom 21. 12. 1988 über eine allgemeine Regelung zur Anerkennung der Hochschuldiplome, die eine mindestens dreijährige Berufsausbildung abschließen 25, und die Entschließung des Rates vom 5.6. 1989 über die berufliche Weiterbildung 26. Die Ausweitung der Gemeinschaftsaktivitäten, insbesondere die Durchführung aufwendiger Programme wird von einigen Mitgliedstaaten mit wachsender Sorge um ihre eigenen Kompetenzen im Bildungssektor beobachtet. In zwei Entscheidungen vom 30. 5. 1989 hatte der EuGH bereits Gelegenheit, sich mit Programmen zu befassen, nämlich mit ERASMUS 27 und mit PETRA 28. In beiden Urteilen wurde Art. 128 als ausreichende Ermächtigungsgrundlage für die bildungspolitischen Aspekte der Programme angesehen.

Einzelheiten ABl.l988 C 240/3. ABI. 1987L346/31. 23 ABI. 1989 L 239/24 (LINGUA) und ABI. 1989 L 393/29 (EUROTECNET). 24 ABI. 1988 C 177/5 (dort auch die Schlußfolgerungen des Rates und der Bildungsminister vom 24.5. 1988 zu dem zweiten Aktionsprogramm der Europäischen Gemeinschaften betreffend den Übergang von der Schule ins Erwachsenen- und Erwerbsleben [So I]) und Bull.EG 1988 Nr. 5, Ziff. 1.2.2. (S. 10 ff.). Zu den mittelfristigen Zielen der Kommission im Bildungshereich Ziff. 1.2.3.ff. (S. 13 ff.) sowie ausführlicher die Mitteilung der Kommission vom 18.5. 1988, KOM (88) 280 endg. 25 ABI. 1989 L 19/16. 26 ABI. 1989 C 148/1. 27 Rs. 242/87, Kommission/Rat, NJW 1989, S. 3091. 28 Rs. 56/88, Großbritannien/Rat, NJW 1989, S. 3090. Zu diesen Verfahren Classen, EuR 1990, S. 10. - Bereits vor Ergehen dieser heiden Urteile hatten Großbritannien und die Bundesrepublik Deutschland Klagen gegen COMETT 11 erhoben (Rs. 51/89 und 94/89, letztere eingereicht am 21. 3. 1989 (ABI. 1989 C 153/10). Ihr Ausgang bleibt abzuwarten. - Zu diesem Problemkreis Lenaerts, ERASMUS: legal basis and implementation, 1988. 21

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III. Ausbildungsrechte von Wanderarbeitnehmern, Selbständigen und deren Angehörigen

Auf einer anderen Ebene liegen die weitgehenden sekundärrechtlichen Ausbildungsrechte, die sich für Wanderarbeitnehrner und deren Familienangehörige aus Art. 7 Abs. 2 und 3 und 12 der VO 1612/68 ergeben. Diese Rechte werden im Kontext der Arbeitnehmerfreizügigkeit gewährt und sind Bestandteil einer möglichst umfassenden Mobilitätssicherung solcher Nichtselbständigen, die bereits einen spezifischen Bezug zu einem anderen Mitgliedstaat aufweisen. Nach Art. 7 Abs. 3 kann der Arbeitnehmer mit dem gleichen Recht und unter den gleichen Bedingungen wie die inländischen Arbeitnehmer Berufsschulen und Umschulungszentren in Anspruch nehmen. Nach einem neueren Urteil fallen auch Ausländer, die in der Bundesrepublik Deutschland ein Referendariat absolvieren wollen (zumindest, soweit sie sich auf das Lehramt vorbereiten) unter die Arbeitnehmerfreizügigkeit 29. Zudem kann sich nach der neueren Rechtsprechung des EuGH ein Wanderarbeitnehmer, der bereits im Gaststaat berufstätig war, bei der Aufnahme eines berufsqualifizierenden Hochschulstudiums auf Art. 7 Abs. 2 berufen, wenn zwischen diesem und der früheren Berufstätigkeit ein Zusammenhang besteht. Daraus ergibt sich für ihn ein zusätzliches Recht auf gleichberechtigte Teilhabe an Förderungsleistungen, die für den Lebensunterhalt und die Durchführung des Studiums gewährt werden. Allerdings stellen auch nach dieser neuen Rechtsprechung des EuGH Hochschulen keine Berufsschulen i. S. v. Art. 7 Abs. 3 VO 1612/68 dar 30 • Ein weiteres Urteil vom 27. 9. 1988 in der Rs. 235/87 (Matteucci)31 stellt noch weitergehend fest, daß der Ausbildungsanspruch nach Art. 7 Abs.2 einem Wanderarbeitnehmer auch ein Recht auf gleichberechtigte Förde-

29 EuGH Rs. 66/85 (Lawrie-Blum), EuGHE 1986,2121 unter restriktiver Interpretation des Art. 48 Abs.4 EWGV (dafür schon SteindorJ!, NJW 1983, S. 1231/1232). Näher zu dieser Entscheidung und ihren möglichen Implikationen für die Bundesrepublik Deutschland Forch, NVwZ 1987, S. 27 ff.; Magiera, DÖV 1987, S. 221/226 f.; Oppermann, Von der EG-Freizügigkeit zur gemeinsamen europäischen Ausbildungspolitik?, 1988, S. 12 ff.; Avenarius, NVwZ 1988, S. 385/391 f.; Hailbronner, ZAR 1988, S. 3 f.; Handoll, Foreign Teachers and Public Education, 1988, und das umfassende Gutachten von Hochbaum / Eiselstein, Die Freizügigkeitsrechte des Art. 48 EWGV und der öffentliche Dienst, 1988. - Die Lawrie-Blum Entscheidung wurde inzwischen durch ein Urteil vom 30.5. 1989 (Rs. 33/88 - Allue und Coonan) bestätigt (keine Anwendbarkeit von Art. 48 Abs. 4 EWGV auf Fremdsprachenlektoren an einer italienischen Universität). 30 EuGH Rs. 39/86 (Lair), NJW 1988, S. 2165 ff.; Rs. 197/86 (Brown), ABI. 1988 C 193!7 f. (Tenor), beide Urteile vom 21. 6. 1988. A.A. vor Ergehen dieser Entscheidungen Hochbaum in Hochbaum / Eise1stein, Die Freizügigkeitsrechte des Art. 48 EWGV und der öffentliche Dienst, S. 38 Ziff. 6 unter Berufung auf das "Gravier"-Urteil. 31 Es ging um eine italienische Staatsangehörige, die in Belgien geboren war und dort arbeitete und sich um ein Stipendium im Rahmen des deutsch-belgischen Kulturabkommens beworben hatte, um in Berlin Gesang zu studieren (vgl. Hochbaum / Eiselstein, Die Freizügigkeitsrechte des Art. 48 EWGV und der öffentliche Dienst, S. 42).

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rung (auch durch ein Stipendium) für ein Studium in einem dritten Mitgliedstaat gibp2. Kinder von Wanderarbeitnehmern können, soweit sie im Gastland wohnen, gemäß Art. 12 unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaates am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- oder Berufsausbildung teilnehmen. Dazu gehören alle Arten des Unterrichts einschließlich des Universitätsstudiums. 33 Unter "Bedingungen" sind nach der Rechtsprechung des EuGH nicht nur die Zulassungsbedingungen, sondern auch die allgemeinen Maßnahmen zu verstehen, welche die Teilnahme am Unterricht erleichtern sollen (z. B. finanzielle Unterstützung im Rahmen der Ausbildungsförderung, aber auch zur Deckung des Lebensunterhalts und der Krankenversicherung)34. Daß diese Rechte über den Bereich der Berufsausbildung hinausgehen, erklärt sich aus dem Bestreben, die Familie des Wanderarbeitnehmers so umfassend zu integrieren, wie dies beim einem längerfristigen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat notwendig ist. Diese Grundsätze dürften auf Niederlassungsberechtigte und deren Angehörige trotz fehlender ausdrücklicher Regelungen im Sekundärrecht entsprechend anzuwenden sein, da auch insoweit eine gemeinschaftsrechtliche Gleichstellung der Selbständigen mit den Wanderarbeitnehmern geboten ist 35 . IV. Die Schaffung neuer Ausbildungsrechte durch den EuGH

1. Die "Gravier"-Entscheidung vom 13.2.1985 Darüber hinaus wurde die Mobilität von Schülern und Studenten und ihr gleichberechtigter Zugang zu Bildungseinrichtungen anderer Mitgliedstaaten durch eine außerordentlich expansive und integrationsfreundliche Rechtspre32 ABI. 1988 C 281/19 (Tenor). 33 EuGH verb. Rs. 389 u. 390/87 (Echtemach und Moritz), Urt. v. 15.3. 1989 (noch nicht veröffentlicht), Ziff. 27 ff. 34 EuGH Rs. 9/74 (Casagrande ), EuGHE 1974, 773/779; Rs. 68/74 (Alaimo), EuGHE 1975, 109/113 f. Durch Urt. v. 27. 9. 1988 in der Rs. 263/86 (Humbel und Edel), ABI. 1988 C 279/12 (Tenor) wurde jedoch klargestellt, daß Art. 12 es nicht verbietet, ein Schulgeld für allgemeinbildenden Unterricht von Kindern von Wanderarbeitnehmern zu verlangen, die in einem dritten Mitgliedstaat wohnen: ,,Nach ihrem Wortlaut legt diese Bestimmung jedoch nur demjenigen Mitgliedstaat eine Verpflichtung auf, in dem der Wanderarbeitnehmer wohnt". - Andererseits genießt das Kind von Wanderarbeitnehmern, das nach der Rückkehr seiner Eltern in den Herkunftsstaat im Aufnahmeland verbleibt, um dort seine Ausbildung fortzusetzen und zu beenden (EuGH a. a. O. - Fn. 33) den Schutz von Art. 12. Dies gilt jedenfalls dann, wenn das Kind seine Ausbildung im Herkunftsstaat nicht beenden kann. Es schadet auch nichts, wenn das Kind zunächst kurzfristig mit den Eltern in den Herkunftsstaat umgesiedelt und anschließend wieder in das Gastland zurückgekehrt ist. 35 Näher Oppermann, "Gravier"-Gutachten, S. 45 f. Thm folgend Avenarius, NVwZ 1988, S. 385/386.

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chung des EuGH in geradezu rechtsschöpferischer Weise gefördert. Den Ausgangspunkt dieser bahnbrechenden Entwicklung bildete das vieldiskutierte Urteil in der Rs. 293/83 vom 13.2.1985 36 : Die Französin Fram;oise Gravier wollte in Belgien im Rahmen eines vierjährigen Kunststudiums die Fachrichtung Comic Strips belegen. Sie wandte sich gegen eine Studiengebühr (sog. "Minerval"), die nur ausländischen Studenten auferlegt wurde und machte eine Verletzung von Art. 7 und 59 EWGV geltend. Der EuGH betonte in seiner Entscheidung, das Bildungswesen gehöre grundsätzlich in den Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten. Im Hinblick auf Art. 118 und 128 EWGV und die o. u. I. skizzierte Entwicklung rechnet der EuGH jedoch, wie er es bereits in der Entscheidung "Forcheri" getan hatte 37 , in kühner Weise die Berufsausbildung zum Anwendungsbereich des Vertrages im Sinne von Art. 7 EWGV38 und wendet diese Vorschrift nunmehr auch auf Empfänger von Bildungsleistungen an, die sich nicht bereits vorher 36 EuGHE 1985,593 (Gravier). Eingehend zur Problematik dieser Entscheidung und ihren möglichen Konsequenzen Oppermann, Europäisches Gemeinschaftsrecht und deutsche Bildungsordnung, 1987 ("Gravier"-Gutachten) und Von der EG-Freizügigkeit zur gemeinsamen europäischen Ausbildungspolitik?, 1988, insbes. S. 8 ff. (beide Arbeiten enthalten auch eine Darstellung der Ausbildungsrechtsprechung des EuGH vor dem "Gravier"-Urteil) und Hochbaum I Eiselstein, Die Freizügigkeitsrechte des Art. 48 EWGV und der öffentliche Dienst, 1988 mit einer Darstellung der weiteren Entwicklung bis zum Frühjahr 1988. - Weitere (kürzere) Stellungnahmen bei Steiner, ELRev 1985, S. 348 ff.; Druesne, RTDE 1985, S. 719/724 f.; Wollenschläger, ZAR 1985, S. 155 ff.; Everling, RabelsZ 1986, S. 193/200 (zur rechtsangleichenden Wirkung des Urteils); Breinersdorfer I Zimmerling, JZ 1986, S. 431/433 f.; Hochbaum, WissR 1986, 206/ 208 ff.; Becker, NVwZ 1987, S. 653/657 f. (unter weitgehender Berufung auf Oppermann); Huber, NJW 1987, S. 3045/3046 (mit Nachweisen zu deutscher Judikatur im Gefolge der EuGH-Entscheidung); Sieveking, ZAR 1987, S. 99 ff., insbes. 106 f.; Schulz, ZAR 1987, S. 72/75 ff.; Avenarius, NVwZ 1988, S. 385/386 f.; Hailbronner, ZAR 1988, S. 3/8 ff., sowie - unter Berücksichtigung der Folgerechtsprechung - Traversa, RTDE 1989, S. 45 ff.; Lenz, EA 1989, S. 125 ff.; Conrad, WissR 1989, S. 97 ff.; Hartley, CDE 1989, S. 324 ff. - Watson, CMLRev 1987, S. 89 ff. und Arnull, ELRev 1988, 260 ff. berichten zudem über die Auseinandersetzungen zwischen Belgien und der Kommission im Gefolge des Gravier-Urteils und dem entsprechenden Verfahren vor dem EuGH (Rs. 293/85, Urt. v. 2. 2. 1988). - In einem weiteren Verfahren der Kommission gegen Belgien (Rs. 42/87) wurde Belgien durch Urteil vom 27.9. 1988 erneut wegen Diskriminierung ausländischer Schüler verurteilt (es ging um eine Studentenquote für Ausländer), vgl. Kurzbericht Streil, EG-Magazin 12/1988, S. 34. 37 EuGH Rs. 152/82, EuGHE 1983,2323/2336. 38 Auf diese sehr weitgehende und angreifbare Prämisse des EuGH und ihre mögliche Tragweite kann im Rahmen dieser Arbeit nicht näher eingegangen werden. Kritisch hierzu insbesondere Oppermann, Gravier-Gutachten, S. 8 f. (mit der Bemerkung, "daß angesichts des tatsächlich kaum ,entwickelten' Standes der EG-Berufsausbildungspolitik hier sozusagen aus einer ,Fata Morgana' exzessive Schlußfolgerungen gezogen werden." [So 9]), und insbesondere S. 33 ff.; 70 ff.; ders., Von der EG-Freizügigkeit zur gemeinsamen europäischen Ausbildungspolitik?, 1988, S. 20 ff.; Steiner, ELRev 1985, S.348/ 352. - A. A. als der EuGH (vor dessen Entscheidung) SteindorJ!, NJW 1983, S. 1231. - Die Argumentation des EuGH offenbar unterstützend Zuleeg in seinem Referat "Teilhabe von Ausländern an den nationalen Bildungsangeboten aufgrund von Europäischem Gemeinschaftsrecht" auf der erwähnten Augsburger Tagung (0. Fn. 10), vgl. Tagungsbericht Cludius, Europäische Integration Nr. 14/15 1988, S. 26/27. 8 Völker

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5. Kap.: Bildungsleistungen als Dienstleistungen

berechtigt in einem anderen Mitgliedstaat aufgehalten haben, sondern eigens zum Zwecke der Ausbildung in einen anderen Mitgliedstaat begeben. Auch für solche Personen bestehe ein Verbot der Ungleichbehandlung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Der Minerval für ausländische Studenten wurde daher von ihm als unzulässig angesehen: "Eine Abgabe, Einschreibe- oder Studiengebühr für den Zugang zum berufsbildenden Unterricht stellt eine gegen Artikel 7 EWGVertrag verstoßende Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit dar, wenn sie von Studenten aus anderen Mitgliedstaaten, nicht aber von inländischen Studenten erhoben wird."39 Dies gilt auch, wenn von dem ausländischen Studenten in seinem Heimatstaat für denselben Studiengang Gebühren erhoben würden 40. Dabei versteht der EuGH den Bereich der Berufsausbildung als notwendige Voraussetzung für die Verwirklichung der Freizügigkeit der Berufstätigen weit. Er schließe auch Studiengänge an Hochschulen ein, die auf eine spätere Berufstätigkeit hinführten (wobei noch nicht abschließend geklärt ist, welche Studiengänge im einzelnen hierunter fallen). Jedenfalls dürfte klar sein, daß nach dieser Entscheidung alle staatlichen Bildungseinrichtungen mit (in einem weiten Sinn) berufspropädeutischem Charakter unter das allgemeine Diskriminierungsverbot fallen 41 .

2. Die Folgerechtsprechung a) Bestätigung und Präzisierung durch die Urteile "Barra" und "Blaizot" Diese Rechtsprechung wurde zunächst in zwei Urteilen vom 2.2. 1988 im wesentlichen bestätigt und präzisiert 42 . Der EuGH stellte im Fall Blaizot fest, daß auch Hochschulstudiengänge im allgemeinen zur Berufsausbildung im Sinne des Gemeinschaftsrechts gehören und bejahte dies im konkreten Fall für das in Belgien angebotene Studium der Tiermedizin. Im Fall Barra wurde dies auch für Studiengänge an Fachhochschulen bestätigt (in concreto ging es um den Beruf des Waffenschmieds) und in einem Urteil vom 27.9. 1988 auch für ein Studienjahr an einer allgemeinbildenden Schule, das integraler Bestandteil eines Ausbildungsganges ist, der auf einen speziellen Beruf, ein spezielles Handwerk oder eine spezielle Beschäftigung vorbereitet 43 . 39 Leitsatz 2.

Hailbronner, Freizügigkeit der Arbeitnehmer in Europa, S. 3/10. Oppermann, "Gravier"-Gutachten, S. 6. 42 Rs. 309/85 (Barra), RIW 1989, S. 830 f. (Auszüge); Rs. 24/86 (Blaizot), RTDE 1989, S. 87 ff.; NJW 1989, S. 3088; dazu Kurzbericht Streil, EG-Magazin 1988 Nr. 3, S. 41; Arnull, ELRev 1988, S. 260/262 ff.; Huber, NJW 1988, S. 3059/3060.; Traversa, RTDE 1989, S. 45 ff. - In diesen Urteilen nimmt der EuGH auch zu (hier nicht interessierenden) Fragen der zeitlichen Wirkung dieser Rechtsprechung im Hinblick auf zu Unrecht bezahlte Studiengebühren Stellung. 40

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b) Eingrenzung durch die Urteile "Lair" und "Brown" Durch zwei weitere Urteile vom 21. 6. 1988 44 wurde jedoch klargestellt, daß sich aus dem Diskriminierungsverbot nur ergibt, daß ausländische Studenten unter den gleichen Bedingungen zu den Ausbildungseinrichtungen zuzulassen sind 45 • Dies umfasse zwar auch staatliche Förderungsmaßnahmen, die der Dekkung von Einschreibegebühren oder anderen Gebühren, insbesondere Studiengebühren dienten, die für den Zugang zum Unterricht verlangt würden. Dagegen liege - jedenfalls "beim gegenwärtigen Entwicklungsstand des Gemeinschaftsrechts" - eine Förderung, die Studenten für den Lebensunterhalt und die Ausbildung gewährt werde, grundsätzlich außerhalb des Anwendungsbereichs des EWGV i. S. v. Art. 7. Insoweit besteht also auch nach Auffassung des EuGH kein Anspruch ausländischer Studenten auf gleichberechtigte Förderung. Etwas anderes gilt wie bereits erwähnt nach Auffassung des EuGH lediglich für Wanderarbeitnehmer, die im Gastland studieren wollen: Sie haben auch Anspruch auf staatliche Förderungsleistungen, wenn zwischen dem Studium und der früheren Berufstätigkeit ein - großzügig zu verstehender - Zusammenhang besteht. Dabei läßt der EuGH es nicht zu, daß die Studienförderung für Ausländer von der Voraussetzung abhängig gemacht wird, daß zuvor im Gastland eine Berufstätigkeit von einer bestimmten Mindestdauer ausgeübt worden ist. Der Begriff des Arbeitnehmers im Gemeinschaftsrecht sei unabhängig von einer bestimmten Aufenthaltsdauer. Diese Auffassung schafft naturgemäß die Gefahr, daß Personen nur für kurze Zeit in einem anderen Mitgliedstaat arbeiten oder gar nur vorgeben, dort nach Arbeit zu suchen, um anschließend, wie von vornherein beabsichtigt, im Gastland zu studieren und von der dortigen Studienförderung Gebrauch zu machen. Der EuGH macht daher immerhin für solche Mißbrauchsfälle die Einschränkung, daß sie, soweit sie sich anhand objektiver Merkmale nachweisen ließen, nicht von den betreffenden gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen gedeckt seien. Offen bleibt dabei allerdings, welche Kriterien dies sein könnten, da das am geeignetsten erscheinende, nämlich die Dauer des Aufenthalts, vom EuGH weitgehend abgelehnt wurde. 3. Die Besonderheiten dieser Rechtsprechung

Neben der Einbeziehung des Berufsbildungssektors in den Anwendungsbereich des Vertrages liegt die wesentliche Besonderheit dieser Rechtsprechung seit 43 EuGH Rs. 263/86 (Humbel und Edel), ABI. 1988 C 279/12 (Tenor), Kurzbericht Streit, EG-Magazin 1988 Nr. 12, S. 34. 44 Rs. 39/86 (Lair), NJW 1988, S. 2165 ff.; Rs. 107/86 (Brown), ABI. 1988 C 193/ 7 f. (Tenor) und Kurzbericht Streit EG-Magazin 1988 Nr. 7/8, S. 48. Dazu Huber, NJW 1988, S. 3059/3060. 45 Zur Reichweite dieses Gleichbehandlungsgebots Oppermann, "Gravier"-Gutachten, insbes. S. 64 ff.

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5. Kap.: Bildungsleistungen als Dienstleistungen

"Gravier" darin, daß der EuGH hier aus Art. 7 EWGV einen staatlichen Leistungsanspruch für Ausländer herleitet, die von keinem gemeinschaftsrechtlichen Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht, also im Gastland nicht bereits ein Aufenthaltsrecht haben. In einem früheren Urteil hatte er Ansprüche aus Art. 7 bereits EGAngehörigen eingeräumt, die schon rechtmäßig im Gastland wohnhaft waren (im konkreten Fall für die Ehefrau eines EG-Beamten)46. Nunmehr ergibt sich aus dem Anspruch auf gleichberechtigten Zugang zu Hochschulstudien umgekehrt denknotwendig ein Aufenthaltsrecht für die Dauer des Studiums, auch wenn dies vom EuGH nicht ausdrücklich ausgesprochen wurde 47. Dogmatisch wird man das Aufenthaltsrecht unmittelbar aus Art. 7 EWGV herleiten müssen, indem man es als "Zugangsbedingung" i. S. d. "Gravier"-Rechtsprechung versteht 48 . Vor allem hierin liegt der "qualitative Sprung"49 dieser Rechtsprechung, die als eine Anomalie betrachtet werden muß, welche auf die besondere gemeinschaftsrechtliche "Gemengelage" im Bildungsbereich so zurückzuführen sein dürfte. Es ist daher anzunehmen (und zu hoffen), daß sie auch auf diesen Sektor beschränkt bleibt. Festzuhalten ist, daß auch nach dieser Rechtsprechung ein ausländischer Student/ Auszubildender den Nachweis einer der angestrebten Ausbildung entsprechenden Vorbildung erbringen muß und gegebenenfalls der Anerkennung ausländischer Zeugnisse, Diplome und Studienzeiten durch die deutschen Behörden als gleichwertig mit entsprechenden deutschen Leistungsnachweisen bedarfSt. 46 EuGH Rs. 152/82 (Forcheri), EuGHE 1982,2323/2336. Oppermann, "Gravier"-Gutachten, S. 33; Watson, CMLRev 1987, S. 89/94 f.;Avenarius, NVwZ 1988, S. 385/387; Hailbronner, Ausländerrecht, 2. Auf!. 1989, Rz. 938. A.A. Huber, NJW 1988, S 3059/3060 und Hackspiel, NJW 1989, S. 2166/2170, beide unter Berufung auf den früheren Kommissionsvorschlag für eine allgemeine AufenthaltsRL (u. 7. Kapitel 111.1.). - Für das deutsche Recht ergibt sich das Problem, daß diese Studenten nach h. M. nicht unter den Katalog des § I Abs. I AufenthG / EWG fallen. Nach Auffassung Mengeles, Ausländerrecht, 1983, S. 63 Ziff. 11 und v. Pol/erns, ZAR 1987, S. 12/15 richtet sich daher die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für Studenten nach allgemeinem Ausländerrecht, also nach § 2 Abs. 1 AuslG (so auch Kloesell Christ, Deutsches Ausländerrecht, § 1 AufenthG / EWG Anm. 3 und 5 [Stand März 1989], dort allerdings in allgemeinerer, nicht nur auf Schüler und Studenten bezogener Formulierung). Diese Auffassung kann als ,,Notlösung" nur mit der Maßgabe hingenommen werden, daß in Fällen berufsbezogener Ausbildung in "gemeinschaftskonformer" Auslegung eine Reduzierung des dort gewährten Ermessens für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auf Null anzunehmen ist. Die gemeinschaftsrechtlich vorzugswürdige Lösung ist es jedoch u.E., § I Abs. I Nr. 1 AufenthG / EWG ("oder zu ihrer Berufsausbildung ausüben oder ausüben wollen") auf derartige Fälle analog anzuwenden. 48 Diese Begründung gab Beutler in seinem Referat "Aufenthaltsrechtliche Stellung der Ausländer im Rahmen der Bildungsmigration" auf der oben (Fn. 10) erwähnten Augsburger Tagung, nachdem er i. E. zutreffend Art. 3c) (Programmvorschrift), 48 (gemeinschaftsrechtlicher Arbeitnehmerbegriff insoweit zu eng) und 59 f. (Bildungseinrichtungen erbringen keine Dienstleistungen) als Anspruchsgrundlagen abgelehnt hatte (vgl. Tagungsbericht Cludius, Europäische Integration Nr. 14/15 1988, S. 26/30). 49 Oppermann, Von der EG-Freizügigkeit zur gemeinsamen europäischen Ausbildungspolitik?, 1988, S. 21. 50 Näher Oppermann, "Gravier"-Gutachten, insbes. S. 34 f. 47

A. Staatliche Bildungseinrichtungen

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v. Anspruch auf Zulassung zu staatlichen Bildungseinrichtungen aus der passiven Dienstleistungsfreiheit?

1. Das Problem Erst in jüngster Zeit wurde vom EuGH die Frage behandelt, ob sich Bewerber um staatliche Berufsbildungsleistung (mit weitreichenden Folgen) auf die passive Dienstleistungsfreiheit berufen können. Im Bildungsbereich hatte sich spätestens seit der "Gravier"-Entscheidung die besonders heikle Frage gestellt, ob Schüler und Studenten, die in einem anderen Mitgliedstaat öffentliche (Berufs)Bildungseinrichtungen und staatliche Ausbildungsförderungen in Anspruch nehmen wollen, mit allen Konsequenzen als (passive) Dienstleistungsempfanger i. S. v. Art. 59 ff. anzusehen sind. Diesen Standpunkt nahmen z. B. im "Gravier" -Verfahren die Klägerin und die Kommission ein. Diese Auffassung hätte zur Folge, daß sich der Anspruch auf gleichberechtigten Zugang nicht nur auf berufsbildende Institutionen beschränken, sondern auf sämtliche Ausbildungseinrichtungen erstrecken würde. Zudem wäre der Anspruch auf gleichberechtigten Zugang zu Bildungseinrichtungen nicht mehr von der Frage abhängig, ob und inwieweit das Bildungswesen i. S. v. Art. 7 EWGV in den Anwendungsbereich des Vertrages fallt. 2. Das Schweigen des EuGH im "Gravier"-Urteil Der EuGH hatte im "Gravier"-Urteil nicht ausdrücklich zu der Frage Stellung genommen, ob Studenten als Dienstleistungsempfänger im Sinne von Art. 59 ff. anzusehen sind und sich somit auf die - in der Rechtssache "Luisi und Carbone" ausdrücklich anerkannte - passive Dienstleistungsfreiheit berufen können. Vielmehr hat er im konkreten Fall lediglich einen Verstoß gegen das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 7 EWGV bei Erhebung einer besonderen Studiengebühr von ausländischen Studenten bejaht. Weitergehend hat er auch den Anspruch auf gleichberechtigten Zugang zu Hochschuleinrichtungen nicht auf Art. 59, sondern auf Art. 7 gestützt. Daher kann man davon ausgehen, daß der EuGH bereits damals diese Frage, auch wenn er sie damals nicht ausdrücklich ansprach, keineswegs völlig offen gelassen hat 52 : Die auf Art. 7 EWGV gestützte Argumentation des EuGH ließ bereits erkennen, daß er die Empfänger staatlicher Bildungsleistungen nicht als Dienstleistungsempfänger i.S. der Art. 59 ff. anerkennen wollte. Die alleinige Nennung der Generalnorm wäre systemwidrig gewesen und hätte im Widerspruch zur sonstigen Rechtsprechung des EuGH gestanden, wäre dieser der Auffassung gewesen, auch die Sondervorschrift des Art. 59 sei einschlägig. Zudem wäre der gesamte argumentative Aufwand, mit dem der 51 Näher z. B. Avenarius, NVwZ 1988, S. 385/388. Auf weitere Einzelfragen (z. B. die Numerus-Clausus-Problematik) kann im Rahmen dieser Untersuchung nicht eingegangen werden. 52 So aber Steiner, ELRev 1985, S. 348/350.

118

5. Kap.: Bildungsleistungen als Dienstleistungen

EuGH in problematischer Weise Ansprüche aus Art. 7 EWGV und Art. 7 Abs. 2 va 1612/68 herleitet, wenig sinnvoll gewesen, wenn nach Auffassung des Gerichts ohnehin ein Anspruch aus Art. 59 EWGV bestünde. 3. Das Fehlen des Merkmals der regelmäßigen Entgeltlichkeit bei staatlichen Bildungsleistungen

Staatliche Bildungsleistungen sind nicht als Dienstleistungen im Sinne des Gemeinschaftsrechts anzusehen. Dogmatisch begründen läßt sich dieses Ergebnis, worauf Steindorffbereits vor Ergehen der "Gravier"-Entscheidung hinwies 53, vor allem mit dem Fehlen des Merkmals der "regelmäßigen Entgeltlichkeit". Staatliche Bildungsleistungen werden z. B. in der Bundesrepublik Deutschland in aller Regel unentgeltlich erbracht und aus dem allgemeinen Steueraufkommen finanziert. Diese Leistungen stellen sich als Bestandteil jenes Teils der allgemeinen staatlichen Daseinsvorsorge dar, die mit staats- und sozialpolitischer Zielsetzung, nicht aber mit einem für die Anwendbarkeit des Dienstleistungskapitels erforderlichen untemehmerischen Erwerbszweck erfolgt 54 und des für eine Dienstleistung typischen "Wettbewerbscharakters" entbehrt 55 und daher nicht zum Wirtschaftsleben i. S. v. Art. 2 EWGV gerechnet werden kann 56. Auf staatliche Förderungsmaßnahmen, insbesondere auf Stipendien 57 und die Hochbegabtenförderung 58 trifft diese Argumentation in noch höherem Maße zu. Demgegenüber nahm die Klägerin im "Gravier" -Verfahren noch den Standpunkt ein, staatliche Bildungsleistungen seien doch "entgeltlich" i. S. v. Art. 60 EWGV. Schließlich würde das Lehrpersonal für seine Leistungen bezahlt, worin die Entgeltlichkeit gesehen werden könne. Die Klägerin berief sich dabei auf die Schlußanträge von GA Warner in Rs. 52179 59 , der dort im Hinblick auf 53

54

NJW 1983, S. 1231 (u. 2.). Oppermann, "Gravier"-Gutachten, S. 46 ff.; 69 f.; ders., Von der EG-Freizügigkeit

zur gemeinsamen europäischen Ausbildungspolitik?, 1988, S. 25. 55 Hochbaum I Eise/stein, Die Freizügigkeitsrechte des Art. 48 EWGV und der öffentliche Dienst, S. 40, Ziff. 17. 56 Nach der Rspr.. des EuGH können nur Leistungen, die einen Teil des Wirtschaftslebens i. S. v. Art. 2 EWGV ausmachen, als Dienstleistungen i. S. d. Art. 59 ff. EWGV betrachtet werden - EuGH Rs. 36/74 (Walrave), EuGHE 1974, 1409/1418; Rs. 13/ 76 (Dona), EuGHE 1976, 1333/1340. 57 Vgl. Hochbaum I Eise/stein, Die Freizügigkeitsrechte des Art. 48 EWGV und der öffentliche Dienst, S. 42 f. - Dies gilt sowohl für staatliche Stipendien als auch für die Förderung durch entsprechende privatrechtlieh organisierte Vereinigungen. Als Beispiele aus der Bundesrepublik Deutschland wären vor allem die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG, dazu Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, 1969, S. 429 ff., auf S. 431 ff. auch zu anderen vergleichbaren Organisationen; Thieme, Deutsches Hochschulrecht, 1986, Ziff. 153) und die Studienstiftung des deutschen Volkes (dazu Thieme, Ziff. 610) zu nennen, die beide privatrechtlich als eingetragener Verein organisiert sind, aber in weitem Umfang öffentliche Aufgaben wahrnehmen. 58 Dazu näher Oppermann , "Gravier"-Gutachten, S. 67 f. 59 EuGHE 1980, 833/876 (Debauve); so auch Jarass, EuR 1986, S. 75/78.

A. Staatliche Bildungseinrichtungen

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Fernsehsendungen die Auffassung vertreten hatte, es sei hinsichtlich ihrer Qualifizierung als Dienstleistung i. S. v. Art. 60 EWGV irrelevant, durch wen die Zahlung im Einzelfall erfolge. Entscheidend für eine entgeltliche Dienstleistung i. S. v. Art. 60 EWGV wäre nach dieser Ansicht also lediglich, ob der konkrete Unterrichtende in irgendeiner Weise für seine Mühe entschädigt wird. Die Kommission schloß sich jedenfalls im Ergebnis dieser Auffassung an und sah die Forderung von Studiengebühren von Ausländern ebenfalls als Verstoß gegen Art. 59 EWGV an 60. Die Argumentation der Klägerin geht jedoch über den entscheidenden Umstand hinweg, daß derjenige, der die Bildungsleistungen letztlich finanziert, nämlich der Staat, dies unentgeltlich tut und damit Zwecke verfolgt, die sich von denen des allgemeinen Wirtschaftslebens (und auch von denen des Rundfunks) deutlich abheben. Zu bedenken ist zwar, daß der EuGH auch das Rundfunkwesen in den Bereich des Dienstleistungskapitels einbezogen hat, obgleich dieser Bereich nach den einzel staatlichen Rechtsordnungen mitunter mit der Erfüllung öffentlicher Aufgaben verknüpft ist 61 . Es ist aber nicht zu übersehen, daß in diesem (sehr heterogenen) Sektor der kommerzielle und unternehmerische Aspekt deutlich stärker im Vordergrund steht als bei staatlichen Bildungsleistungen. Im Ergebnis war also auch unter diesem Gesichtspunkt vor dem Hintergrund der bisherigen Rechtsprechung im Bildungsbereich nicht mit einer Anwendung des Dienstleistungskapitels durch den EuGH auf den staatlichen Bildungssektor zu rechnen. Gegen diese Betrachtungsweise wandte sich daher auch GA Slynn in seinen Schlußanträgen 62 . Im Gegensatz zum Rundfunkwesen, das seine Kosten aus Benutzergebühren und Werbeeinnahmen decke, werde der Bildungsbereich mit besonderer Motivation weitgehend aus Steuergeldern finanziert: "Beim staatlichen Unterricht dagegen handelt es sich nicht um eine Geschäftstätigkeit mit dem Ziel der Kostendeckung und der Gewinnerzielung, sondern um eine sozialpolitische Aufgabe; der Staat trägt die Unterrichtskosten ganz oder zum überwiegenden Teil selbst. Ein solcher Unterricht wird meines Erachtens nicht ,gegen Entgelt' im Sinne des Artikels 60 erteilt. Selbst wenn also der Charakter der Dienstleistungen ähnlich ist, so ist ihre wirtschaftliche Einstufung doch verschieden. Ich halte daher Unterricht, der vom Staat oder im wesentlichen vom Staat erteilt wird, nicht für eine Dienstleistung im Sinne des EWG-Vertrages. Der Umstand, daß ein Student hierfür etwas zahlt, reicht nicht aus, um ihn zu einer Dienstleistung zu machen. Dagegen halte ich Unterricht, der von einem privaten Veranstalter mit Gewinnerzielungsabsicht erteilt wird, für eine Dienstleistung."63 EuGHE 1985,593/603. 61 EuGH Rs. 155/73 (Sacchi), EuGHE 1974, 409; Rs. 52/79 (Debauve), EuGHE 1980, 833; Rs. 62/79 (Coditel I), EuGHE 1980, 881, st. Rspr.. 62 EuGHE 1985,593/594 ff. 63 A. a. 0., S. 603. - Auf diese Argumentation weist im Hinblick auf die passive Dienstleistungsfreiheit im Bildungsbereich auch Hochbaum, WissR 1986, S. 206/213 f. hin, läßt aber selbst die Frage dort letztlich offen. 60

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5. Kap.: Bildungsleistungen als Dienstleistungen

GA Slynn wies in seinen Schlußanträgen im "Gravier" -Verfahren in diesem Zusammenhang zudem zutreffend auf Art. 58 EWGV hin 64: Diese Vorschrift nehme von den natürlichen Personen gleichgestellten Gesellschaften solche aus, die keinen Erwerbszweck verfolgten. Als notwendige Ergänzung habe auch der etwaige Empfänger solcher Leistungen kein Recht aus dem Vertrag, sich ohne Beschränkungen zu derartigen Leistungserbringern zu begeben. Dasselbe muß gelten, wenn zwar Studiengebühren erhoben werden, diese aber nur einen Teil der tatsächlich entstehenden Kosten decken. Anders ist nur zu entscheiden, wenn die Studiengebühren voll kostendeckend sind und sich die staatlichen Bildungseinrichtungen in Konkurrenz zu privaten Unternehmen befinden, also am Wirtschaftsleben aktiv teilnehmen (was jedenfalls in der Bundesrepublik Deutschland nicht der Fall ist). Hier wäre das Merkmal der "Entgeltlichkeit" zu bejahen. In diesem Fall müßte der ausländische Student, wollte er sich auf die passive Dienstleistungsfreiheit berufen, jedoch auch wie jeder andere die Kosten einer solchen Ausbildung selbst tragen.

4. Die Klärung durch das Urteil "Humbel und Edel" vom 27. 9. 1988 Diese Argumentation wurde nunmehr durch ein Urteil des EuGH vom 27.9.1988 bestätigt 65: Die in Luxemburg ansässigen französischen Eltern eines Schülers, der in Belgien an zur Oberschulausbildung gehörenden Lehrgängen am Institut d'enseignement general et technique de I'Etat teilnahm, wandten sich gegen die Erhebung eines Schulgeldes (Minerval), das von belgischen Schülern nicht gefordert wurde. Dabei beriefen sie sich unter anderem auf die passive Dienstleistungsfreiheit. Der EuGH nahm hier erstmals zur Frage Stellung, ob staatliche Bildungsleistungen Dienstleistungen im Sinne von Art. 60 EWGV darstellten. Er folgte im Ergebnis den Schlußanträgen von GA Slynn, der auch an diesem Verfahren beteiligt war. Dabei ließ er eine Anwendbarkeit der passiven Dienstleistungsfreiheit zu Recht nicht an der Tatsache scheitern, daß ein Studienaufenthalt sich in der Regel über einen längeren Zeitraum erstreckt. Vielmehr verneinte er das Vorliegen des Merkmals der Entgeltlichkeit: "Das wesentliche Merkmal des Entgelts besteht also in der Tatsache, daß es die wirtschaftliche Gegenleistung für die betreffende Leistung darstellt, die üblicherweise von dem Dienstleistungserbringer und dem Dienstleistungsempfänger festgelegt wird. Ein solches Merkmal fehlt aber im Fall von Lehrgängen im Rahmen des nationalen Bildungssystems. Erstens bezweckt der Staat mit der Errichtung und Unterhaltung eines solchen Systems nicht die Verrichtung von entgeltlichen Tätigkeiten, sondern erfüllt die ihm seiner Bevölkerung gegenüber obliegenden sozialen, kulturellen und erzieherischen Aufgaben. Zweitens wird das betreffende System im allgemeinen durch den öffentlichen Haushalt und 64

65

EuGHE 1985,593/604. EuGH Rs. 263/86 (Humbel und Edel), ABI. 1988 C 279/12 (Tenor).

B. Private Bildungseinrichtungen

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nicht durch die Schüler oder ihre Eltern finanziert. An der Art dieser Tätigkeit ändert sich nichts durch die Tatsache, daß die Schüler oder ihre Eltern manchmal verpflichtet sind, Gebühren oder ein Schulgeld zu zahlen, um in gewissem Maße zu den Kosten für das Funktionieren des Systems beizutragen. Noch weniger könnte der bloße Umstand, daß die Zahlung eines Schulgelds nur den ausländischen Schülern auferlegt wird, eine solche Wirkung haben."66 Entsprechend lautet der Tenor des Urteils (Ziff. 2): "Artikel 59 EWG-Vertrag ist dahin auszulegen, daß in einem Technischen Institut abgehaltene Lehrgänge, die im Rahmen des nationalen Bildungssystems zur Oberschulausbildung gehören, nicht als Dienstleistungen im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden können." Obgleich dieser Tenor sehr eng und fallbezogen gefaßt ist, kann man der Begründung entnehmen, daß der EuGH es wohl auch künftig und generell ablehnen wird, staatliche Bildungsleistungen als Dienstleistungen i. S. v. Art. 60 EWGVanzuerkennen. Im Ergebnis läßt sich also zusammenfassend feststellen, daß sich ein Recht auf gleichberechtigten Zugang zu (kostenlosen) staatlichen Bildungseinrichtungen und erst recht auf gleichberechtigte Teilhabe an staatlichen Förderungsmaßnahmen in diesem Bereich nicht aus der passiven Dienstleistungsfreiheit herleiten läßt, weil staatliche Bildungsleistungen in der Regel unentgeltlich sind und aufgrund ihrer spezifischen Eigenart und Zielsetzung nicht als Dienstleistungen i. S. v. Art. 60 EWGV betrachtet werden können 67 •

B. Private Bildungseinrichtungen I. Die wirtschaftliche Bedeutung des privaten Bildungssektors In einer raschen Wandlungen unterworfenen modemen Industriegesellschaft, in der eine qualifizierte und hochdifferenzierte Ausbildung der Werktätigen und daneben auch zunehmend die Fortbildung des Einzelnen im aktiven Berufsleben 68 eine essentielle Rolle spielt, gewinnt auch das private Unterrichtswesen besondere soziale und ökonomische Bedeutung. Gerade eine "Dienstleistungsgesellschaft" ist in besonderem Maße auf gutausgebildete und spezialisierte Arbeitskräfte angewiesen. Die verhältnismäßig hohen Arbeitslosenquoten der letzten Jahre schaffen für Arbeitssuchende zusätzlichen Druck, flexibel zu sein und sich beruflich weiterzubilden oder gar umschulen zu lassen. 66 Inzwischen wurden diese Grundsätze von GA Lenz in seinen Schlußanträgen vom 6. 12. 1988 in der Rs. 186/87 (Cowan, noch nicht veröffentlicht) allgemein auf staatliche Sozialleistungen bezogen (zu diesem Verfahren o. 3. Kapitel E 11. und III.). 67 A. A. einzig Watson, CMLRev 1987, S. 89/94, mit einer sehr knappen Begründung, die sich in unzutreffender und nunmehr endgültig überholter Weise auf das Urteil "Gravier" und GA Slynns Schlußanträge in diesem Verfahren beruft. 68 Und zwar in den Formen der sog. Erhaltungs-, Anpassungs- und Aufstiegsfortbildung, vgl. für die Bundesrepublik § 1 III BBiG.

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5. Kap.: Bildungsleistungen als Dienstleistungen

Die berufliche Weiterbildung trägt daher in unserem Zeitalter des Strukturwandels, der Rationalisierung und verhältnismäßig hoher Arbeitslosenquoten dazu bei, qualifikationsbezogene Ungleichgewichte am Arbeitsmarkt abzuschwächen, auf dem nach wie vor ein Überangebot an "einfacher Arbeit" besteht 69 • Daneben hat Bildung in einer modemen, indivdualbetonten Gesellschaft eine spezifische Bedeutung als "Eigenwert" und als ein Hauptmittel zur individuellen Selbstentfaltung und "Selbstverwirklichung". So nimmt es nicht Wunder, daß allein in der Bundesrepublik Deutschland heutzutage rund 1 Million Personen am privaten Direktunterricht und ca. 100.000 weitere an Fernunterrichtskursen teilnehmen 70 . Dabei werden in einem außerordentlich breit gestreuten Leistungsspektrum 71 allgemeinbildende und berufsbildende Ausbildungsgänge angeboten. Die Palette deckt z. T. auch Bildungsbereiche, die schwerpunktmäßig zum staatlichen Bildungsprogramm gehören: Der Privatschulanteil reichte hier im Jahr 1984 von 1,2 % bei Grund- und Hauptschulen über 10,2 % bei Gymnasien bis hin zu 42,5 % bei Fachschulen 72. Der Anteil der Schüler, die in der Bundesrepublik Deutschland Privatschulen besuchen, liegt derzeit bei 4,5 %; mehr als eine halbe Million Schüler besuchen gegenwärtig diese sog. "Schulen in freier Trägerschaft" 73.

11. Printe Bildungsleistungen als Dienstleistungen i. S. d. Gemeinschaftsrechts 74

Anders als staatliche Bildungsleistungen wird man das Bildungsangebot privater Veranstalter, die mit Gewinnerzielungsabsicht oder zumindest kostendeckend operieren (z. B. Sprachschulen) grundsätzlich dem Anwendungsbereich des Dienstleistungskapitels und damit gegebenenfalls der passiven Dienstleistungsfreiheit zurechnen können, auch wenn nicht der Schüler, Student oder Auszubildende selbst die wirtschaftlichen Kosten bezahlt (sondern z. B. seine Eltern oder sein Arbeitgeber)15. Soweit sich der Lehrer vorübergehend zum Schüler begibt, VgI. Bericht Schreyer, Ifo-Schnelldienst 20/88, S. 17 f. Gilles / Heinbuch / Gounalakis, Handbuch des Unterrichtsrechts, 1988, S. 7. - Die zeitweise vorhandene Absicht der Kommission, im Bereich des Fernunterrichts eine am deutschen Fernunterrichtsschutzgesetz orientierte verbraucherschützende RL zu schaffen (Entwurf in ABI. 1977 C 208/12), wurde mittlerweile wieder aufgegeben (v gI. v. Hippel, Verbraucherschutz, 1986, S. 253, Fn. 12). 71 VgI. die umfangreiche Liste von Unterrichtsgegenständen und -zielen bei Gilles / Heinbuch / Gounalakis, Handbuch des Unterrichtsrechts, S. 14 ff. 72 Gilles / Heinbuch / Gounalakis, Handbuch des Unterrichtsrechts, S. 7. 73 Stein / Roell, Handbuch des Schulrechts, 1988, S. 101. 74 Zur Gesamtproblematik auch Skouris, La liberte d'etablissement et de prestation de services en matiere d'enseignement, 1988, mit insgesamt restriktiverer Tendenz. 75 So auch GA Slynn in seinen Schlußanträgen zur Rs. 293/83 (Gravier), EuGHE 593/603. - Watson, CMLRev 1987, 89/94 mißversteht offenbar diese Aussage des Generalanwalts, wenn sie davon ausgeht, sie bezöge sich ganz allgemein auf sämtliche (auch staatliche) Bildungsleistungen, weshalb nach ihrer Auffassung wohl auch Empfan69

70

B. Private Bildungseinrichtungen

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handelt es sich um eine Form des aktiven Dienstleistungsverkehrs 76 , im umgekehrten Fall um passiven Dienstleistungsverkehr. Grenzüberschreitender Fernunterricht ohne einen Ortswechsel der Beteiligten wird als Korrespondenzdienstleistung ebenfalls erfaßt 77 • Wie auch der EuGH nunmehr in einem Urteil vom 15.3. 1988 78 anläßlich eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Griechenland klargestellt hat, fällt die Erteilung von Unterricht in privaten Unterrichtsanstalten, Musik- und Tanzschulen sowie die Tätigkeit als Hauslehrer in den Anwendungsbereich der aktiven Dienstleistungsfreiheit, der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit. Im konkreten Fall ging es vor allem um eine bestimmte Form privater Unterrichtsanstalten in Griechenland (sog. "frontistiria"). In diesen Anstalten wird Unterricht angeboten, "der an ein und demselben Ort einer Gruppe von mehr als insgesamt fünf Personen oder unabhängig von der Zusammensetzung der Gruppen wöchentlich mehr als insgesamt zehn Personen pro aus denselben Personen bestehender Gruppe höchstens drei Stunden täglich zu dem Zweck erteilt wird, zum Unterrichtsstoff der Primarstufe, der Sekundarstufe und der Oberstufe (unabhängig davon, ob diese zur Vorbereitung auf die Universität dient) gehörende Kenntnisse zu ergänzen und zu festigen oder die Erlernung von Fremdsprachen oder der Musik oder den Erwerb einer Allgemeinbildung im Rahmen freier Studien zu ermöglichen."79 Die Gründung solcher Anstalten und privater Berufsschulen war Angehörigen anderer Mitgliedstaaten verboten. Es war ihnen auch nicht gestattet, als Hauslehrer zu unterrichten oder als Direktor oder Lehrer an "frontistiria" und an privaten Musik- oder Tanzschulen tätig zu sein (wobei allerdings an "frontistiria" für Fremdsprachen ein bestimmter Anteil von Lehrkräften ausländischer Staatsangehörigkeit unterrichten durfte). Der ger staatlicher Bildungsleistungen unter die passive Dienstleistungsfreiheit fallen würden. Die besondere Problematik staatlicher Leistungen wird von ihr allerdings überhaupt nicht angesprochen. Daher geht auch ihre Behauptung, sämtliche "students" könnten sich nun auf die passive Dienstleistungsfreiheit berufen, in dieser Allgemeinheit fehl. Demgegenüber stellt Steiner, ELRev 1985, S. 348/350 f., die Unterscheidung des Generalanwalts zwischen öffentlichen und privaten Dienstleistungen zutreffend dar, wobei sie selbst diese Differenzierung als "uneasy compromise" kritisiert. 76 Möglichen Mißständen, die durch fragwürdige Unterrichtsangebote pseudoreligiösen, -philosophischen oder -wissenschaftlichen Inhalts entstehen könnten, kann im Rahmen von Art. 55 EWGV i.V. m. RL 64/221 entgegengewirkt werden. Vgl. EuGH Rs. 41/74 (van Duyn), EuGHE 1974,1337, zu Art. 48 Abs. 3 EWGV im Hinblick auf eine Niederländerin, die im Vereinigten Königreich als Sekretärin für die "Chureh of Scientology" tätig werden wollte und dort keine Einreiseerlaubnis erhielt. Der EuGH billigte dies, obgleich Inländern eine vergleichbare Tätigkeit nicht untersagt war. 77 Diese Ansicht vertrat jüngst auch Zuleeg in seinem noch nicht veröffentlichten Referat "Teilhabe von Ausländern an den nationalen Bildungsangeboten aufgrund von Europäischem Gemeinschaftsrecht" auf der erwähnten Augsburger Tagung (0. Fn. 10), vgl. Tagungsbericht Cludius, Europäische Integration Nr. 14/15 1988, S. 26/27. 78 EuGH Rs. 147/86 (Kommission / Griechenland). 79 Tatbestand des Urteils (dort als Zitat der entsprechenden griechischen Rechtsvorschrift).

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5. Kap.: Bildungsleistungen als Dienstleistungen

EuGH nahm einen Verstoß gegen Art. 52 und 59 EWGV an, soweit es Angehörigen anderer Mitgliedstaaten untersagt sei, "frontistiria" und private Musik- und Tanzschulen zu gründen sowie als Hauslehrer zu unterrichten. Ein Verstoß gegen Art. 48 EWGV sei darin zu sehen, daß es den bereits in Griechenland beschäftigten Angehörigen anderer Mitgliedstaaten und deren Familienangehörigen untersagt oder erschwert werde, an "frontistiria" und an privaten Musik- und Tanzschulen als Direktor oder Lehrer tätig zu sein. Man kann aufgrund dieses Urteils vermuten, daß auch nach Auffassung des EuGH bei grenzüberschreitender Inanspruchnahme solcher und ähnlicher Leistungen entsprechend die passive Dienstleistungsfreiheit eingreift. Soweit sie ein EG-Angehöriger im Ausland in Anspruch nehmen möchte und sich eigens zu diesem Zweck in einen anderen Mitgliedstaat begibt, ergibt sich für ihn aus der primären passiven Dienstleistungsfreiheit auch ein Aufenthaltsrecht. Im Verhältnis zum Gastland, aber auch gegenüber dem privaten Veranstalter kann er sich auch auf das Diskriminierungsverbot berufen, was die Zulassung zum Unterricht und die geschäftlichen Modalitäten anbelangt. Er darf also in keinerlei Hinsicht im Hinblick auf seine Staatsangehörigkeit diskriminiert werden. Weiterhin müssen Heimatstaat und Gastland alle Devisentransfers zur Bezahlung des Unterrichts gestatten. Soweit allerdings für eine erfolgreiche Teilnahme an der Ausbildung in gewissem Umfang Sprachkenntnisse notwendig sind, muß er sich in sachlich gerechtfertigtem Umfang Sprachtests unterziehen und auch wie jeder Inländer sonstige für eine Ausbildung notwendige Vorqualifikationen nachweisen. Dies muß für rein kommerzielle, daneben aber auch grundsätzlich für gewerkschaftliche, religiöse, kirchliche, weltanschauliche und sonstige private Bildungseinrichtungen gelten, soweit die von ihnen angebotenen Leistungen den Anforderungen des Dienstleistungskapitels genügen, insbesondere also der Allgemeinheit zugänglich sind und mit Erwerbsabsicht gegen kostendeckendes Entgelt erbracht werden und sich somit als Bestandteil des Wirtschaftslebens darstellen 80 • Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß das private Bildungswesen z. B. in der Bundesrepublik Deutschland vornehmlich aus Verbraucherschutzgründen einem komplexen und differenzierten System staatlicher Kontrolle unterworfen ist 81. Dies ist auch bei fast allen anderen Dienstleistungssektoren der Fall und ändert nichts an ihrer Zugehörigkeit zum Wirtschaftsleben. Diesen Standpunkt vertrat auch der EuGH in der oben zitierten Entscheidung im Hinblick auf die griechischen "frontistiria" und private Berufsschulen: Zwar sei es Sache jedes Mitgliedstaats, die Rolle und die Verantwortlichkeiten des Staates im Unterrichtswesen 80 Vgl. die bereits erörterte (0. 4. Kapitel B 111.2.) Entscheidung des EuGH vom 5. 10. 1988 (Rs. 196/87, Steymann), aus der hervorgeht, daß auch Tätigkeiten, die von Mitgliedern einer auf einer Religion oder einer anderen Form von Weltanschauung beruhenden Lebensgemeinschaft als Teil der gewerblichen Tätigkeiten dieser Gemeinschaft ausgeübt werden, wirtschaftliche Tätigkeiten i. S. v. Art. 2 EWGV sind. 81 V gl. Gilles I Heinbuch I Gounalakis, Handbuch des Unterrichtsrechts, S. 18 ff., 29 ff.

C. Mischfonnen

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festzulegen. Es könne aber nicht angenommen werden, daß die bloße Gründung einer Schule von der Art der "frontistiria" oder einer Berufsschule durch eine Privatperson oder die bloße Tätigkeit einer Privatperson als Hauslehrer mit der Ausübung öffentlicher Gewalt i. S. v. Art. 55 EWGV verbunden sei. Entsprechend wird auch der Besuch solcher Schulen uneingeschränkt Art. 59 EWGV zugeordnet werden müssen.

C. Mischformen: Bildungseinrichtungen in privater Trägerschaft mit staatlicher Beteiligung Die hier getroffene Unterscheidung zwischen staatlichen und privaten Bildungsleistungen verkennt nicht, daß es zwischen den denkbaren Extremen rein staatlicher und rein privater Bildungseinrichtungen fließende Übergänge und eine Fülle von Mischformen gibt, bei denen der Staat mehr oder minder stark an privatrechtlich organisierten Lehrinstituten beteiligt ist. Diese Vielfalt wird vor allem in föderativen Staaten wie z. B. der Bundesrepublik Deutschland mit ihrem dezentral strukturierten Bildungssystem sichtbar. Man wird im Einzelfall solche Bildungseinrichtungen vom Anwendungsbereich des Dienstleistungskapitels ausnehmen müssen, die wegen ihrer starken Einbindung in das staatliche Unterrichtswesen aus gemeinschaftsrechtlicher Perspektive eher dem staatlichen als dem privaten Bereich zuzuordnen sind. Dabei sollten - ausgehend von dem obengenannten EuGH-Urteil "Humbel und Edel" und der Argumentation GA Slynns im "Gravier" -Verfahren - für die Abgrenzung vor allem folgende Kriterien ausschlaggebend sein: a) Werden solche Einrichtungen durch substantielle öffentliche Zuschüsse mitfinanziert (oder haben sie hierauf sogar einen Anspruch), ohne die eine Fortführung des Betriebs nicht oder nur mit wesentlich höheren Beiträgen der Benutzer möglich wäre? Insbesondere dieses Kriterium ist für die Frage, ob das Merkmal der regelmäßigen Entgeltlichkeit i. S. v. Art. 60 vorliegt, von entscheidender Bedeutung. b) Nehmen diese privaten Einrichtungen (zumindest auch) gesetzlich festgelegte Bildungsaufgaben staatlicher Schulen wahr? c) Vergeben sie staatlich anerkannte Leistungsnachweise, die auch von staatlichen Einrichtungen vergeben werden? d) Wird durch ihren Besuch der staatlich reglementierten Schulpflicht genügt? e) Bedürfen sie aus diesen Gründen einer staatlichen Genehmigung? Das Vorliegen der vier letztgenannten Kriterien deutet ergänzend darauf hin, daß sich der Staat hier auch privater Bildungseinrichtungen zur Erreichung seiner obengenannten staats- und bildungspolitischen Ziele bedient. In solchen Fällen tritt der Erwerbszweck des privaten Schulträgers gegenüber der Verfolgung staat-

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5. Kap.: Bildungsleistungen als Dienstleistungen

lich festgelegter Bildungsziele stark in den Hintergrund, was gegen eine Beteiligung am allgemeinen Wirtschaftsleben spricht. So wird beispielsweise in der Bundesrepublik Deutschland bei den sog. Ersatzschulen i. S. v. Art. 7 Abs. 4 GG von der Erfüllung der genannten Kriterien und damit von der Nichtanwendbarkeit des Dienstleistungskapitels auszugehen sein 82. Sie werden regelmäßig in erheblichem Umfang (bis zu 85 % des Finanzbedarfs) staatlich mitfinanziert 83 • Sie nehmen, wie schon ihr Name andeutet, in weitem Umfang Aufgaben staatlicher Schulen wahr, vergeben häufig auch staatlich anerkannte Leistungsnachweise, bedürfen einer staatlichen Genehmigung und müssen in ihrem Unterrichtsniveau staatlichen Schulen entsprechen (Art. 7 Abs. 4 Satz 2 GG). Auch in sämtlichen anderen Mitgliedstaaten gibt es Schulen und sonstige Bildungseinrichtungen in freier Trägerschaft, die in sehr unterschiedlichem Umfang staatlich gefördert und beaufsichtigt werden und z. T. auch staatlich bestimmte Bildungsaufgaben wahrnehmen und Lehrinhalte vermitteln 84. Eine generelle Aussage über die Zuordnung solcher Bildungsleistungen zum gemeinschaftsrechtlichen Dienstleistungskapitel ist daher nicht möglich. Es kann nur nach den obengenannten Kriterien (insbesondere dem Umfang der staatlichen Subventionierung) von Fall zu Fall entschieden werden, was als entgeltliche Dienstleistung i. S. v. Art. 60 EWGV oder aber nicht als Teil des Wirtschaftslebens im Sinne des Gemeinschaftsrechts betrachtet werden kann . Soweit allerdings derartige "parastaatliche" Bildungseinrichtungen berufsbildenden Unterricht im Sinne der oben dargestellten neueren Entscheidungen des EuGH erteilen, unterfällt ihre Tätigkeit nach dieser "Gravier"-Rechtsprechung auf jeden Fall dem Anwendungsbereich des EWGV und damit auch dem allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art. 7.

D. Das Merkmal der Grenzüberschreitung bei längerfristigen Bildungsleistungen Im Hinblick auf den längerfristigen Besuch privater Bildungsanstalten, die Dienstleistungen i. S. v. Art. 60 anbieten, durch ausländische Schüler stellt sich 82 Näher zum landesrechtlich geregelten deutschen Ersatzschulwesen und gewissen Varianten zwischen den Bundesländern (wo z. T. im Hinblick auf Finanzierung und Anerkennung von Abschlüssen zwischen anerkannten und nicht anerkannten Ersatzschulen differenziert wird) Stein / Roell, Handbuch des Schulrechts, 1988, S. 103 ff. - Als Beispiel für eine landesrechtliehe Regelung kann z. B. das baden-württembergische Gesetz für die Schulen in freier Trägerschaft (Privatschulgesetz) i.d.F. vom 19. Juli 1979, Bad.-Württ. GBI. 1979, S.265 (= Dürig [Hrsg.J, Gesetze des Landes BadenWürttemberg, Nr. 171 mit Änderungen), genannt werden. Vgl. dort insbes. §§ 1, 3 ff., 17 zu den hier genannten Kriterien. 83 Näher Stein / Roell, Schulrecht, 1988, S. 111 f. 84 Näher EG-Kommission (Hrsg.), Der Aufbau des Bildungswesens in der Europäischen Gemeinschaft, 1987, insbes. S. 4 f. (Belgien), 19 f. (Dänemark), 57 f. (Dänemark), 67 ff. (Spanien), 83 ff., insbes. 85 (Frankreich), 101 ff. (Irland), 113 (Italien), 123 f. (Luxemburg), 135 f. (Niederlande), 151 (Portugal), 161 ff. (Vereinigtes Königreich).

D. Merkmal der Grenzüberschreitung

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noch die Frage, ob hier nicht ab einem gewissen Zeitpunkt das grenzüberschreitende Element verlorengeht und von einem rein innerstaatlichen Wirtschaftsvorgang auszugehen ist. Der EuGH hat bekanntlich bis vor kurzem nicht zu der Frage Stellung genommen, inwieweit sich die passive Dienstleistungsfreiheit durch das Merkmal der Grenzüberschreitung definieren bzw. zeitlich einschränken läßt. Auch im Schrifttum waren die Äußerungen spärlich. Sieveking 85 deutete zwar an, daß dieser Gesichtspunkt für die Inanspruchnahme von Bildungsleistungen von Bedeutung sein könnte, ging aber der Frage nicht näher nach und ließ sie auch im Ergebnis offen. Namentlich Seidel 86 nahm jedoch zu dieser Frage Stellung und stellt im Hinblick auf die Inanspruchnahme von Bildungsleistungen auf diesen Aspekt ab: ,,[Bildungsstätten] werden von EG-ausländischen ,Dienstleistungsnehmern' in der Regel nicht nur vorübergehend, sondern zumeist verbunden mit einem längerdauernden Orts- und Aufenthaltswechsel, vielfach sogar verbunden mit einer Sitzverlegung, in Anspruch genommen. Für diese Fallgestaltung kann die Auffassung vertreten werden, daß ein EG-Ausländer nicht mehr als Gebietsfremder, sondern als Gebietsansässiger das Bildungsangebot der gebietsansässigen Universitäten entgegennimmt. Die Regelungen über die Freiheit des grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehrs gewähren Rechte und Ansprüche, insbesondere das - umstrittene - Aufenthaltsrecht, dem EG-Ausländer als Dienstleistungsnehmer nur so lange, wie er die Eigenschaft als Gebietsfremder nicht aufgegeben hat und der Leistungsvorgang folglich als ein grenzüberschreitender Wirtschaftsvorgang einzustufen ist." 87 Diese Auffassung bedeutet jedoch eine zu starke Einschränkung der passiven Dienstleistungsfreiheit. Seidel selbst erkennt an, daß (namentlich bei Korrespondenzdienstleistungen) auch dauerhafte Dienstleistungen, längerfristige Leistungsverhältnisse und Dauerschuldverhältnisse z. T. vom Dienstleistungskapitel erfaßt werden müssen, sollen im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts nicht unerträgliche Regelungslücken entstehen. Dies bedeutet keine schrankenlose Gewährung der passiven Dienstleistungsfreiheit. Der Aufenthalt muß zweckbezogen und dadurch zeitlich eingrenzbar sein 88 • Durch die Absolvierung einer bestimmten Ausbildung ist der Aufenthaltszweck und damit auch die voraussichtliche Aufenthaltsdauer in aller Regel hinreichend abgegrenzt. Es findet- jedenfalls allein durch diese Zwecksetzung - auch keine endgültige Verlagerung des Lebensmittelpunkts in den Gaststaat statt. Nur bei einem zeitlich völlig unbestimmten Aufenthalt, bei dem sich der Hauptwohnsitz auf unabsehbare Zeit in einen anderen Mitgliedstaat verlagert und dem auch kein konkretes Leistungsverhältnis zugrundeliegt, ist die Anwendbarkeit der passiven Dienstleistungsfreiheit von vornherein ausgeschlossen. Dies wurde nunmehr auch in der bereits erörterten Entscheidung des EuGH vom 5. 10. 1988 bestätigt 89 •. ZAR 1987, S. 99/100. Die Dienstleistungsfreiheit in der neuesten Rechtsentwicklung, S. 113 /123 f. und ZVersWiss 1987, S. 175/184 f. 87 Die Dienstleistungsfreiheit in der neuesten Rechtsentwicklung, S. 113/123. 88 Dazu näher u. 7. Kapitel C III. 85

86

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5. Kap.: Bildungsleistungen als Dienstleistungen

Auch ein Privatschüler oder -student, der sich auf längere Zeit, unter Umständen über Jahre hinweg, in einen anderen Mitgliedstaat begibt, um dort gegen Entgelt Bildungsleistungen in Anspruch zu nehmen, ist daher grundsätzlich als passiver Dienstleistungsempfanger anzusehen, da der Zweck seines Aufenthalts klar umrissen und seine Dauer nicht von vornherein unbegrenzt ist (auch wenn sich sein "Hauptaufenthalt" u. U. auf längere Zeit in den Gaststaat verlagert), soweit seine Bindungen an den Heimatstaat nicht von vornherein völlig aufgegeben werden. Es besteht kein sachlicher Grund für die Ausgrenzung dieser wirtschaftlich relevanten grenzüberschreitenden Vorgänge aus dem Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts, zumal sich das Aufenthaltsrecht eines solchen Schülers oder Studenten in solchen Fällen allein aus der passiven Dienstleistungsfreiheit ergeben kann.

89 Rs. 196/87 (Steymann), ABI. 1988 C 284/9 (Tenor). Näher zu dieser Entscheidung o. 4. Kapitel B III.2.

6. Kapitel

Der Inhalt der passiven Dienstleistungsfreiheit A. Die unmittelbare Anwendbarkeit der Art. 59, 60 EWGV Mit Ablauf der Übergangszeit sind die Vorschriften über die Dienstleistungsfreiheit (wie auch Art. 48 und 52 EWGV), also auch im Hinblick auf die passive Dienstleistungsfreiheit, soweit sie den Grundsatz der Inländergleichbehandlung beinhalten, unmittelbar anwendbar geworden I. Nach der Rechtsprechung des EuGH enthalten diese Bestimmungen eine klar umrissene und damit unmittelbar wirksame Verpflichtung für die Mitgliedstaaten. Die Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus Art. 59 ff. EWGV ergeben, darf also nicht mehr dadurch verzögert werden, daß die nach Art. 63 und 66 zu erlassenden Vorschriften zum Teil noch fehlen 2. Dies bedeutet, wie die EG-Kommission fonnulierte, "daß alle Verwaltungsvorschriften und -praktiken, die im Allgemeinen Programm zur Aufhebung der Niederlassungsfreiheit als Beispiele einer diskriminierenden Behandlung aufgeführt werden, nicht mehr auf Angehörige der Mitgliedstaaten angewendet werden können"3. Weitergehend kann gesagt werden, daß Art. 59 in seiner ganzen inhaltlichen Reichweite unmittelbar wirkt 4 • Nach dieser Rechtsprechung gewährt die (aktive wie passive) Dienstleistungsfreiheit als grundlegende Freiheit im System des Gemeinschaftsrechts dem einzelnen Begünstigten ein subjektives Recht, das Vorrang vor entgegenstehenden nationalen Rechtsvorschriften genießt 5 • Jeder EG-Bürger kann daher gegen Diskriminierungen und unzulässige Beschränkungen unmittelbar vor den nationalen Behörden und Gerichten und letztlich vor dem EuGH vorgehen. 1 EuGH Rs. 2/74 (Reyners), EuGHE 1974, 631/652 (zu Art. 52); eingehend dazu Scheuing, JZ 1975, S. 151 ff.; EuGH Rs. 33/74 (van Binsbergen), EuGHE 1974, 1299/ 1310 f. (zu Art. 59 und 60); dazu Bronkhorst, CMLRev 1975, S. 245 ff.; Rs. 41/74 (van Duyn), EuGHE 1974, 1337/1347 (zu Art. 48); Rs. 36/74 (Walrave), EuGHE 1974, 1405/1421; Rs. 13/76 (Dona), EuGHE 1976, 1333/1341; verb. Rs. 110 und 111/78 (van Wesemael), EuGHE 1979,35/52; Rs. 279/80 (Webb), EuGHE 1981, 3305/3324; EuGH Rs. 220/83 (Kommission/Frankreich), EuGHE 1986,3663/3708; EuGH Rs. 4/ 88 (Lambregts Transportbedrijf), Urt. v. 13. 7. 1989, Ziff. 8 (noch nicht veröffentlicht) und andere, S1. Rspr. Näher Burrows, Free Movement in European Community Law, S. 238 ff. 2 Grabitz-RandelzhoJer, Art. 59, Rz. 9. 3 EG-Kommission (Hrsg.), 8. Gesamtbericht über die Tätigkeit der EG 1974, 1975, S. 80 f. (Ziff. 122). 4 Schwartz, ELRev 1986, S. 7/58 ff. 5 EuGH Rs. 2/74 (Reyners), EuGHE 1974,631/652, st. Rspr.

9 Völker

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6. Kap.: Inhalt der passiven Dienstleistungsfreiheit

Durch diese Rechtsprechung wurden weitere Maßnahmen zur Verwirklichung des Grundsatzes der Inländerbehandlung entbehrlich. Daher zog die Kommission 1974 nach Erlaß dieser Urteile elf RL-Vorschläge zur Aufhebung diskriminierender Beschränkungen auf den Gebieten der Niederlassungsfreiheit und Dienstleistungsfreiheit zurück 6 •

B. Das Diskriminierungsverbot im Rahmen der passiven Dienstleistungsfreiheit I. Das Allgemeine Diskriminierungsverbot (Art. 7 EWGV) und sein Verhältnis zur passiven Dienstleistungsfreiheit

Es ist eine bekannte menschliche Grundeigenschaft, Fremdem und Fremden mit Mißtrauen zu begegnen. Daher verwundert es nicht, daß zu den tiefverwurzelten Traditionen moderner Rechtsordnungen die Unterscheidung zwischen Einheimischen und Fremden gehört. Ihre unterschiedliche Behandlung erfolgt durch das zumeist an die Staatsangehörigkeit anknüpfende Fremdenrecht in mannigfacher Weise und aus den verschiedensten (z. B. staats- oder wirtschaftspolitischen) Motiven. Insbesondere die aktivbürgerlichen Rechte sind nach modernem Verfassungsverständnis noch weitgehend den Inländern vorbehalten 7. Auf völkerrechtlicher Ebene dienen inzwischen zahlreiche bi- und multilaterale Abkommen (etwa die klassischen Handels-, Schiffahrts-, Freundschafts- und Niederlassungsverträge und die im Rahmen internationaler Organisationen ausgehandelten Abkommen) dem teilweisen Abbau dieser staatlichen Schranken zur Erleichterung des Wirtschaftsverkehrs und einer rechtsstaatlichen Sicherung der Stellung von Ausländern 8. Diese Ungleichbehandlungen zumindest auf wirtschaftlichem, aber auch auf sozialem Gebiet durch die Rechtsform einer supranationalen Rechtsordnung in einer qualitativ und quantitativ bis dahin nie dagewesenen Weise zu beseitigen, war und ist eine der vornehmlichsten Aufgaben europäischer Integration. Dementsprechend verbietet das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 7 EWGV als "Leitmotiv"9 und allgemeinste Kurzformel der europäischen Integrationsidee allumgreifend "jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit" im Anwendungsbereich des EWGV. Darunter ist grundsätzlich lediglich eine Ungleichbehandlung im negativen Sinn, also eine rechtlich zu mißbilligende unterschiedliche Behandlung gleicher oder vergleichbarer Tatbestände im Hinblick auf die Staatsangehörigkeit zu verstehen 10. Verboten ist folglich nur Ungleichbe6 EG-Kommission (Hrsg.), 8. Gesarntbericht über die Tätigkeit der EG 1974, 1975, S. 80 f. (Ziff. 122). 7 Grabitz, Europäisches Bürgerrecht, S. 25 ff. 8 Näher z. B. Grabitz, Europäisches Bürgerrecht, S. 14 ff. m. w.N. 9

WEGS-Wohlfarth, Art. 7 Anm. 1.

lpsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 590; eingehend Feige, Der Gleichheitssatz im Recht der EWG, S. 12 ff. 10

B. Das Diskriminierungsverbot

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handlung von Gleichem, nicht aber - im Sinne eines klassischen Gleichheitssatzes - Gleichbehandlung von Ungleichem, etwa im Sinne einer "ausgleichenden" Begünstigung von Ausländern 11. Auch sonstige Formen der Ungleichbehandlung werden grundsätzlich nicht von ihm erfaßt, sofern darin im Einzelfall nicht doch eine heimliche Diskriminierung fremder Staatsangehöriger zu sehen ist. Solche Differenzierungen können gemeinschaftsrechtlich allenfalls nach dem allgemeinen Gleichheitssatz verboten sein, den der EuGH in ständiger Rechtsprechung als ein Grundprinzip des Gemeinschaftsrechts bezeichnet, das in Art. 7 nur eine spezielle, auf die Staatsangehörigkeit bezogene Ausformung erhalten habe. Nach diesem Prinzip "dürfen vergleichbare Lagen nicht unterschiedlich behandelt werden, soweit eine Differenzierung nicht objektiv gerechtfertigt ist." 12 Der EuGH hat Art. 7 EWGV nach Ablauf der Übergangszeit in seiner konkreten Ausgestaltung durch spezielle Bestimmungen für unmittelbar anwendbar erklärt 13 und in einer Vielzahl von Urteilen in einem bunten Fächer von Lebenssachverhalten zur Anwendung verholfen, wobei auch "versteckte" Diskriminierungen und solche tatsächlicher (nicht nur rechtlicher) Art erfaßt wurden 14. Dabei scheute seine Judikatur auch vor dynamischen und rechtsfortbildenden Entwicklungslinien nicht zurück: So wurde Art. 7 von ihm jüngst im Bildungsbereich als gemeinschaftsrechtlicher "Schlüssel" für den freien Zugang ausländischer Studenten zu staatlichen Berufsbildungseinrichtungen eingesetzt 15. Im Bereich der Freizügigkeit kann Art. 7 nach seinem Wortlaut ("unbeschadet besonderer Bestimmungen dieses Vertrages") und der Rechtsprechung des EuGH allerdings nur insoweit zur Anwendung kommen, als nicht ein spezifisches Diskriminierungsverbot eingreift (insbesondere Art. 48, 52 und 59 EWGV) 16. Dadurch wird aber keine Subsidiarität im strengen Sinn stipuliert: Art. 7 wird durch die Sondernormen nicht als eine lex generalis verdrängt, sondern lediglich abgewandelt l ?, weshalb der EuGH Art. 7 auch in solchen Fällen häufig neben der jeweiligen Sondernorm nennt und als Auslegungshilfe verwendet 18. Feige. Der Gleichheitssatz im Recht der EWG, S. 47 f.; Lasok. Professions, S. 29. EuGH Rs. 147/79 (Hochstrass), EuGHE 1979,3005/3019 in einem beamtenrechtlichen Fall. 13 Für Art. 59 z. B. Rs. 36/74 (Walrave), EuGHE 1974, 1405/1421. Näher GrabitzGrabitz. Art. 7 Rz. 23. 14 Z.B. Rs. 152/73 (Sotgiu), EuGHE 1974, 153, 164 f. Näher Grabitz-Grabitz. Art. 7, Rz.lO. 15 Dazu näher o. 5. Kapitel A.IV. 16 EuGH Rs. 152/82 (Forcheri), EuGHE 1983, 2323/2336; Rs. 293/83 (Gravier), EuGHE 1985,606 und Rs. 305/87, Urt.v. 30. 5. 1989, Ziff. 12 f. (noch nicht veröffentlicht; Tenor in ABI. 1989 C 160/5); so auch Sundberg-Weitmann. Discrimination on grounds of nationality, 1977, S. 12 ff. I? Reitmaier. Inländerdiskriminierung nach dem EWGV, 1984, S. 70 ff., insbes. S. 74; Grabitz-Grabitz. Art. 7 Rz. 17 ff. 18 Z. B. EuGH Rs. 175/78 (Saunders), EuGHE 1979, 1129/1134f. 11

12

9*

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6. Kap.: Inhalt der passiven Dienstleistungsfreiheit

Der passive Dienstleistungsempfänger wird bei Inanspruchnahme von Dienstleistungen i. S. v. Art. 60 EWGV also in erster Linie durch das Diskriminierungsverbot des Art. 59 geschützt. Nur soweit ihm im Verlauf seines Aufenthalts eine anderweitige diskriminierende Behandlung widerfährt (etwa im Hinblick auf unentgeltliche staatliche Berufsbildungsleistungen), die sachlich dem Anwendungsbereich des EWGV zuzurechnen ist, kommt eine unmittelbare Berufung auf Art. 7 EWGV in Betracht. Dies ist, wie der EuGH unlängst feststellte, namentlich dann der Fall, wenn hinsichtlich der Rahmenbedingungen des Aufenthalts eine Ungleichbehandlung aus Gründen der Staatsangehörigkeit stattfindet (im konkreten Fall ging es um eine staatliche Entschädigung für die Opfer von Straftaten) 19. 11. Das Diskriminierungsverbot der Art. 59, 60 Abs. 3 EWGV im Rahmen der passiven Dienstleistungsfreiheit

1. Der Grundsatz der Inländergleichbehandlung Kernpunkt der Dienstleistungsfreiheit ist, wie vor allem Art. 59 Abs. I, 60 Abs. 3 EWGV zum Ausdruck bringen, die Beseitigung von Diskriminierungen bei der Erbringung oder Inanspruchnahme von Dienstleistungen. Unter "Beschränkung" i. S. v. Art. 59 Abs. 1 ist dabei grundsätzlich jede Form von Ungleichbehandlung 20 zu verstehen. Somit stellt das gesamte Dienstleistungskapitel eine Konkretisierung des allgemeinen Diskriminierungsverbots in Art. 7 EWGV dar 21 , das aber über das bloße Verbot staatsangehörigkeitsbedingter Diskriminierungen hinausgeht. Denn im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit kommt es nicht allein darauf an, ob sich solche Diskriminierungen aus der Staatsangehörigkeit des Dienstleistungserbringers oder Dienstleistungsempfangers ergeben. Auch eine Diskriminierung aus dem Umstand, daß Dienstleistungserbringer und Dienstleistungsempfanger in verschiedenen Mitgliedstaaten ansässig sind, ist nicht zulässig. Grundsätzlich muß also ein gebietsfremder EG-Angehöriger in jedem Mitgliedstaat unter denselben Voraussetzungen wie ein Einheimischer und frei vonjeglicher Diskriminierung formeller oder materieller Art Dienstleistungen erbringen und empfangen dürfen (Prinzip der sog. "Inländergleichbehandlung"). Vorhandene Diskriminierungen müssen beseitigt und neue dürfen von den Mitgliedstaaten nicht eingeführt werden (Art. 62, sog. Stand-still-Formel). Erfaßt werden dabei nicht nur offensichtliche, etwa in einer Rechtsnorm oder Verwaltungsanordnung ausdrücklich niedergelegte Diskriminierungen, sondern 19 EuGH Rs. 186/87 (Cowan), Urt. v. 30. 5. 1989, NJW 1989, S. 2183 ff.; dazu näher unten E sowie oben 3. Kapitel E 11. und III. 20 Vgl. den Begriff der "unterschiedlichen Behandlung" in Art. 48 Abs. 2 im Hinblick auf die Freizügigkeit der Arbeitnehmer. 21 EuGH Rs. 13/76 (Dona), EuGHE 1976, 1333/1339.

B. Das Diskriminierungsverbot

133

auch versteckte Ungleichbehandlungen, bei denen zwar nicht ausdrücklich auf die Staatsangehörigkeit Bezug genommen wird, die aber faktisch regelmäßig zu einer Schlechterstellung gebietsfremder EG-Angehöriger führen 22. Bei diesen Beschränkungen handelt es sich zwar nicht um "formelle" Diskriminierungen, da nach dem Buchstaben des Gesetzes kein Unterschied zwischen In- und Ausländern gemacht wird. Der EuGH nimmt aber auch in diesen Fällen in materieller Betrachtungsweise Diskriminierungen an, um ihre möglichst weitgehende Beseitigung sicherzustellen. Damit soll eine faktische Ungleichbehandlung vermieden werden, die daraus resultiert, daß eine Rechtsvorschrift an Tatbestände anknüpft, die in aller Regel nur von Ausländern erfüllt werden 23 . Auch der gebietsfremde Empfänger von Dienstleistungen muß im Rahmen der passiven Dienstleistungsfreiheit grundsätzlich unter denselben Bedingungen wie Inländer eine Dienstleistung in Anspruch nehmen können, ohne durch zusätzliche Voraussetzungen oder Beschränkungen beschwert zu werden 24. So darf beispielsweise von EG-angehörigen Touristen kein höheres Entgelt für die Besichtigung von Museen, Schlössern und sonstigen Sehenswürdigkeiten verlangt werden als von Inländern 25 • Dasselbe gilt für den passiven Dienstleistungserbringer im Rahmen des passiven Dienstleistungsverkehrs. Es wäre z. B. für einen Staat unzulässig, einem inländischen Dienstleistungserbringer die Leistung an ausländische EG-Angehörige, die sich zu ihm begeben, zu verbieten oder zu erschweren. Eine Regelung, die eine steuerliche Benachteiligung bzw. den Entzug steuerlicher Vorteile bei der Erbringung einer Dienstleistung an Ausländer vorsähe, würde gegen Art. 59 EWGV verstoßen. Ebenso wäre es gemeinschaftsrechtswidrig, wenn dem passiven Dienstleistungserbringer andere Nachteile erwüchsen (z. B. Entzug öffentlicher Aufträge oder Subventionen wegen der Erbringung von Dienstleistungen an Ausländer). Allerdings besteht nach der Rechtsprechung des EuGH26 kein Anspruch eines ausländischen aktiven Dienstleistungserbringers darauf, im Hinblick auf sein Heimatrecht günstiger gestellt zu werden, als sein inländisches Pendant. Dasselbe 22 Z.B. EuGH Rs. 152/73 (Sotgiu), EuGHE 1974, 153/164 f. (für den Bereich der Art. 48 ff.); EuGH verb. Rs. 62 und 63/81 (Seco), EuGHE 1982,223/235 (für Art. 59), st. Rspr. - Dazu Smit / Herzog-van Gerven, Art. 59, 59.04.; Schlappa, Die Kontrolle von AVB im deutschen Versicherungsaufsichtsrecht und der freie Dienstleistungsverkehr im EG-Recht, 1987, S. 103 ff.; Oppermann, Europarecht, Rz. 1428. 23 Z. B. EuGH Rs. 152/73 (Sotgiu), EuGHE 1974, 153/164; Rs. 22/80 (Boussac), EuGHE 1980, 3427/3436; verb. Rs. 62-63/81 (Seco), EuGHE 1982, 223/235. 24 Dazu neuestens GA Lenz in seinen Schlußanträgen vom 6. 12. 1988 in der Rs. 186/87 (Cowan) und das entsprechende Urteil des EuGH vom 2.2.1989, NJW 1989, S. 2183 f. (näher o. 3. Kapitel EIl. und III.). 25 Vgl. das Bsp. o. 4. Kapitel B V.i. 26 Rs. 15/78 (Koestler), EuGHE 1978, 1971, im Hinblick auf von einem Deutschen in Frankreich getätigte Börsentermingeschäfte. Die französische Bank hatte in der Bundesrepublik geklagt. Die Geschäfte wären bei Anwendung deutschen Rechts unwirksam gewesen, waren dagegen nach französischem Recht wirksam.

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6. Kap.: Inhalt der passiven Dienstleistungsfreiheit

muß mit umgekehrtem Vorzeichen auch für die passive Dienstleistungsfreiheit gelten: Soweit ein Tourist im Rahmen der passiven Dienstleistungsfreiheit beispielsweise in einem anderen Mitgliedstaat mit Erfolg an einem Glücksspiel teilnimmt und die klageweise Geltendmachung dieser Forderung nach dem Recht des Gastlandes nicht möglich ist, kann sich der Tourist nicht darauf berufen, daß dies in seinem Heimatstaat möglich sei. 2. Art. 65 EWGV

Art. 65 EWGV verpflichtet die Mitgliedstaaten, alle gebietsfremden EG-Angehörigen, soweit sie gegenüber Einheimischen Beschränkungen unterliegen, gleichzubehandeln. Dabei ist Art. 65 EWGV weiter als Art. 7 EWGV, da er nicht nur die auf unterschiedlicher Staatsangehörigkeit sondern auch die auf verschiedenen Aufenthaltsorten basierenden Diskriminierungen einbezieht. Die Angehörigen aller fremden Mitgliedstaaten müssen gleich gut oder gleich schlecht behandelt werden. Dies wird auch durch Abschnitt IV. des A. P.27 bekräftigt, der zunächst den Wortlaut des Art. 65 wiederholt und folgendermaßen ergänzt: "hierbei ist die günstigste Behandlung zu wählen, die sich aus den bestehenden Gepflogenheiten und den bi- oder mulitlateralen Abkommen mit Ausnahme der Übereinkommen über regionale Zusammenschlüsse zwischen Belgien, Luxemburg und den Niederlanden'ergibt." Die Ausnahmeregelung zugunsten der Benelux-Staaten entspricht Art. 233 EWGV28. Darüber hinaus dürfte sich im Hinblick auf Sinn und Zweck des Art. 65 und aus der Systematik der gesamten Freizügigkeitsregelung des EWGV29 herleiten lassen, daß EG-angehörige passive Dienstleistungsempfänger jedenfalls nicht größeren Beschränkungen unterliegen dürfen als Drittlandsangehörige 30 , soweit sie nicht ohnehin eine präferentielle Behandlung genießen. 3 . Die " Drittwirkung" des Diskriminierungsverbots

Die unmittelbare Wirkung des gemeinschaftsrechtlichen Diskriminierungsverbots in seiner allgemeinen Form (Art. 7) und seinen besonderen Ausprägungen im Bereich der Freizügigkeit gilt nach heute wohl überwiegender Meinung grundsätzlich auch im Verhältnis zu privaten Unternehmen und Privatpersonen, die 27 ABI. 1963, S. 32/34. 28 Näher zu dieser Ausnahme für die Benelux-Staaten Grabitz-RandelzhoJer, Art. 65,

RZ.2.

29 Vgl. Oppermann, Europarecht, Rz. 1411 für den Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit. 30 Grabitz-RandelzhoJer, Art. 65, Rz. 6; Smit / Herzog-van Gerven, Art. 65, 65.04, der im übrigen auch die unmittelbare Anwendbarkeit dieser Vorschrift bejaht.

B. Das Diskriminierungsverbot

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am Wirtschaftsverkehr teilnehmen 31. Im Bereich der Wanderarbeitnehmerfreizügigkeit wird dies bereits durch den Wortlaut des Art. 48 Abs. 2 EWGV klargestellt, der sich auch unmittelbar an die Arbeitgeber richtet und es ihnen beispielsweise verbietet, Wanderarbeitnehmern für die gleiche Tätigkeit geringere Löhne zu bezahlen oder sie von gewissen betrieblichen Vergünstigungen auszuschließen. Die Bestimmung des Art. 7 Abs. 4 VO 1612/68 bestätigt dies ausdrücklich. Im Bereich des EGKSV stellt Art. 4 b) klar, daß auch zwischen Erzeugern und Käufern I Verbrauchern z. B. hinsichtlich der Preis- und Lieferungsbedingungen das Diskriminierungsverbot gilt. Entsprechend gilt nach der Rechtsprechung des EuGH das Diskriminierungsverbot nicht nur für Akte staatlicher Behörden, sondern erstreckt sich auch auf sonstige Maßnahmen, die eine kollektive Regelung im Arbeits- und Dienstleistungsbereich enthalten: "Denn die Beseitigung der Hindernisse für den freien Personen- und Dienstleistungsverkehr [... ] wäre gefährdet, wenn die Beseitung der staatlichen Schranken dadurch in ihren Wirkungen wieder aufgehoben würde, daß privatrechtliche Vereinigungen oder Einrichtungen kraft ihrer rechtlichen Autonomie derartige Hindernisse aufrichteten" 32. Damit ist grundsätzlich klargestellt, daß sich diese Rechtsprechung auch auf das Dienstleistungskapitel bezieht, auch wenn - wie vom EuGH erkannt - Art. 60 Abs. 3, 62 und 64 EWGV sich ihrem Wortlaut nach eher auf spezifisch staatliche Beschränkungen beziehen 33 • Entscheidend ist aber auch nach Auffassung des EuGH die Formulierung des Art. 59 EWGV, der in seiner allgemeinen Fassung nicht auf den Ursprung der Behinderungen abstellt 34 • Zudem besteht kein Grund, insoweit zwischen den im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses erbrachten und sonstigen Dienstleistungen zu differenzieren. Daher muß auch im Bereich der Dienstleistungsfreiheit generell von einer Anwendbarkeit des Diskriminierungsverbots auch auf individuelle Privatrechtsverhältnisse ausgegangen werden 35. Diese Form des Diskriminie31 A.A. für das Dienstleistungskapitel etwa noch Bode, Die Diskriminierungsverbote im EWGV, 1968, S. 189 f. Wie hier z. B. WEGS-Wohlfarth, Art. 7 Anm. 9; Bülow, Die Rechtsstellung des Einzelnen in der EWG, S. 81/86 ff.; Sundberg-Weitmann, Discrimination on Grounds of Nationality, S. 32 ff. (zu Art. 7); Delannay, CDE 1976, S. 209/ 219 ff.; GBTE-Karpenstein, Art. 48, Rz. 23; Grabitz-Grabitz, Art. 7 Rz. 21 f.; GrabitzRandelzhojer, Art. 48, Rz. 29 ff.; Art. 52, Rz. 36, 39.; Müller-Graf!, Privatrecht und Europäisches Gemeinschaftsrecht, Börner-Kolloquium, 1987, S. 17/30 (dort auch Ausführungen zu anderen Interdependenzen von EGR und Privatrecht und den Anfangen eines "Gemeinschaftsprivatrechts"). - Quinn I MacGowan, ELRev 1987, S. 163 ff., bejahen auch eine Drittwirkung von Art. 30 EWGV (zum Problem der dann unvermeidbaren Überschneidungen mit Art. 85 f. EWGV S. 167 ff.). Für eine beschränkte, bloß "mittelbare" Drittwirkung des Art. 7 in Form einer "Ausstrahlung auf die zivilrechtlichen Generalklauseln" Feige, Der Gleichheitssatz im Recht der EWG, S. 67 m. W.N. 32 EuGH Rs. 36/74 (Walrave), EuGHE 1974,1405/1419 f.; Bleckmann, Europarecht, S. 349; Oppermann, Europarecht, Rz. 1430. 33 Dies wird im Urteil Dona (Rs. 13/76, EuGHE 1976, 1333/1340 f.) ausdrücklich bestätigt. 34 EuGH Rs. 26/74 (Walrave), EuGHE 1974, 1405/1420. 35 Winkel, NJW 1975, S. 1057/1060 f.

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6. Kap.: Inhalt der passiven Dienstleistungsfreiheit

rungsverbots gegenüber Privaten ist in gewisser Weise sogar noch weitergehend als das gegenüber dem Staat, da sich Private nicht wie dieser auf die in Art. 55 f. EWGV genannten Ausnahmen berufen können 36. Andererseits muß es auf Rechtsbeziehungen, die Teil des Wirtschaftslebens i. S. d. EWGV sind, beschränkt bleiben. Das Problem der "Drittwirkung" europäischen Gemeinschaftsrechts auch gegenüber Privaten ist im Hinblick auf die passive Dienstleistungsfreiheit von besonderer Bedeutung: Auch der Erbringer von Dienstleistungen, der diese der Allgemeinheit oder bestimmten Verkehrskreisen (z. B. auf einer Fachmesse) anbietet, muß grundsätzlich auch ausländische EG-Angehörige zu gleichen Bedingungen (sowohl was den Vertrags abschluß als auch was seine Durchführung anbelangt) bedienen. Es darf also bei öffentlich angebotenen Dienstleistungen keine generelle, sachlich nicht gerechtfertigte Bevorzugung von Inländern (etwa in Wartelisten oder hinsichtlich des Preises) erfolgen. So darf z. B. ein Gastwirt nicht von vornherein EG-angehörige Ausländer von der Bewirtung ausschließen 3? Soweit gewisse Geschäfte ihrer Natur nach bei Ausländern mit größeren Risiken verbunden sind, muß allerdings eine sachlich gerechtfertigte Differenzierung nach wie vor möglich sein. So kann es einer Bank z. B. nicht verwehrt werden, für die Gewährung eines Kredits an einen im Inland ansässigen Ausländer grundsätzlich die Bürgschaft eines Einheimischen zu verlangen, um der Gefahr einer Rechtsverfolgung im Ausland für den Fall zu entgehen, daß der Ausländer in seinen Heimatstaat zurückkehrt 38 • Weiterhin muß die Zurückweisung eines individuellen Kunden aus sachlich gerechtfertigten Gründen (z. B. bekannte Liquiditätsschwierigkeiten des Kunden, Unzuträglichkeiten bei früheren Geschäftskontakten) bei Inländern und Ausländern nach wie vor möglich bleiben. Dadurch entsteht die Gefahr, über vorgeschobene Beandstandungen doch zu einer verdeckten Diskriminierung von Ausländern zu gelangen, die im Einzelfall schwer nachweisbar sein kann 39. Die Beweislast für eine solche individuelle, staatsangehörigkeitsunabhängige Unzumutbarkeit sollte daher im Prozeß vor den nationalen Gerichten beim passiven Leistungserbringer liegen.

4. Das Problem der Inländerdiskriminierung Die Freizügigkeitsregelungen des EWGV gelten prinzipiell nur für grenzüberschreitende Vorgänge, also nicht für rein inländische Rechtsverhältnisse und Quinn/ MacGowan, ELRev 1987, S. 163/175 ff. Enger insoweit Steindorff, RIW 1983, S. 831/833, der einen passiven Dienstleistungserbringer, der nicht an einen Ausländer leisten will, generell keinem Kontrahierungszwang unterwerfen möchte. 38 Dies ist auch die Auffassung der Kommission, wie sich aus der Antwort Lord Cockfields auf eine schriftliche Anfrage ergibt (ABI. 1988 C 263/27 f.). 39 So auch Van der Woude/ Mead, CMLRev 1988, S. 117/132. 36

3?

B. Das Diskriminierungsverbot

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Transaktionen. Ein Inländer, der im Inland wohnt und dort am nationalen Wirtschaftsverkehr ohne jede Auslandsberührung teilnimmt, kann sich also grundsätzlich nicht auf die Freizügigkeitsvorschriften des EWGV berufen, um der Anwendung nationaler Rechtsvorschriften zu entgehen 40 • So kann es vorkommen, daß ein Inländer in gewissen Fällen gegenüber einem gebietsfremden EG-Angehörigen im Nachteil ist. Für diesen kann es beispielsweise u. U. leichter sein, Familienangehörige, welche die Staatsangehörigkeit eines Drittstaats besitzen, nachkommen zu lassen (z. B. wegen Art. 10 va 1612/68)41. Das Diskriminierungsverbot in seiner allgemeinen (Art. 7 EWGV) wie auch in seinen besonderen Ausprägungen (z. B. Art. 59 Abs. 1 EWGV) verbietet eine solche Schlechterstellung von Inländern gegenüber EG-Ausländern (sog. "Inländerdiskriminierung" oder "umgekehrte Diskriminierung" bzw. "discrimination a rebours", "reverse discrimination") nur, soweit der Inländer in ähnlicher Weise wie ein EG-Ausländer von Freizügigkeitsrechten Gebrauch macht - namentlich durch Verwendung eines ausländischen Diploms - oder der Sachverhalt sonst einen spezifisch gemeinschaftsrechtlichen Bezug aufweist 42 • Dies gilt grundsätzlich auch für Personen, welche die Staatsangehörigkeit zweier Mitgliedstaaten besitzen 4 3, im Verhältnis zu einem dieser beiden Mitgliedstaaten. Auch beim Inländer muß demnach ein grenzüberschreitendes Element, eine ,,Auslandsberührung" , an die das Gemeinschaftsrecht anknüpft, vorliegen, will er in den Genuß der gemeinschaftsrechtlichen Freizügigkeitsregelungen kommen. Ansonsten bleibt es dabei, daß er uneingeschränkt seiner eigenen nationalen Rechtsordnung unterworfen ist 44 • Deren Aufgabe sollte es in erster Linie sein, sachlich nicht gerechtfertigte Benachteiligungen der Inländer zu beseitigen 45 • 40 EuGH Rs. 175/76 (Saunders), EuGHE 1979, 1129/1135; verb. Rs. 35 und 36/82 (Morson und Jhanjan), EuGHE 1982, 3723/3736; Rs. 180/83 (Moser), EuGHE 1984, 2539/2547 f. (jeweils für Arbeitnehmer); Fastenrath, JZ 1987, S. 170/172; Hai/bronner, Freizügigkeit der Arbeitnehmer in Europa, S. 15 f.; speziell für die Dienstleistungsfreiheit Schöne, RIW 1989, S. 450 ff. (allerdings mit einem zu engen Verständnis des Kriteriums der Grenzüberschreitung). 41 EuGH Rs. 35 und 36/82 (Morson), EuGHE 1982, 3723. 42 EuGHRs. 52/79 (Debauve), EuGHE 1980,833/854; Rs. 115/78 (Knoors), EuGHE 1979,399/409; dazu Leenen, CMLRev 1980, S. 259 ff.; kritisch Pickup, CMLRev 1979, S. 135 ff. ; EuGH Rs. 136/78 (Auer), EuGHE 1979,437/449 f.; Rs. 246/80 (BroekmeuJen), EuGHE 1981,2311/2331; zu den Entscheidungen "Knoors" und ,,Auer" Druesne, RTDE 1979, S. 429 ff.; Schlachter, Discrimination a rebours, 1984, S. 3 ff., 36 ff. Zur Rspr. insgesamt GBTE-Bleckmann, Art. 7 Rz. 6; Oppermann, Europarecht, Rz. 1429. 43 EuGH Rs. 115/78 (Knoors), EuGHE 1979, 399; Rs. 292/86 (Gullung), Urt. v. 19.1. 1988, EuGHE 1988, 111/131 ff. Dazu u. a. Besprechung Lonbay, ELRev 1988, S. 275 ff. 44 Weis, NJW 1983, S. 2721 ff.; GBTE-Troberg, Art. 52 Rz. 20. Differenzierend Mortelmans, DCSI 1980, S. 1 ff. Ähnlich für den Bereich des Warenverkehrs z. B. EuGH Rs. 229/83 (Ledere), EuGHE 1985, 1/34 f.; Rs. 355/85 (Cognet), EuGHE 1986,3231/ 3241 f. (Buchpreisbindung); hierzu Defalque, CDE 1987, S. 471 ff., insbes. 488 ff. ; Kleier, RIW 1988, S. 623 ff. Wesentlich weitergehend ein beachtlicher Teil der Literatur, etwa Reitmaier, InJänderdiskriminierung nach dem EWGV, 1984, BJeckmann, RIW 1985, S. 917 ff., Kewenig, JZ 1990, S. 20 ff. und Grabitz-Grabitz, Art. 7, Rz. 6, der im

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6. Kap.: Inhalt der passiven Dienstleistungsfreiheit

Auf die passive Dienstleistungsfreiheit angewandt bedeutet dies, daß ein inländischer Leistungsempfänger sich gegenüber dem Staat und Privaten nicht in gleicher Weise auf das gemeinschaftsrechtliche Diskriminierungsverbot berufen kann wie ein ausländischer EG-Angehöriger. So kann es dazu kommen, daß er im Einzelfall schlechter gestellt ist als ein gebietsfremder Leistungsempfänger. Dies kann etwa im Verhältnis zu einem privaten Leistungserbringer der Fall sein: beruft sich der ausländische Leistungsempfänger darauf, daß der Erbringer einem nicht von vornherein abgegrenzten inländischen Kundenkreis durch öffentliches Angebot regelmäßig gewisse Konditionen gewährt, kann er nach Maßgabe der oben dargestellten Regeln gleiche Behandlung fordern. Soweit der passive Dienstleistungsempfanger gegenüber Inländern aus gemeinschaftsrechtlichen Gründen sogar Vorrechte genießt, steht das Diskriminierungsverbot dem nicht entgegen. Wenn sich etwa ein Patient zu einer längerfristigen ärztlichen Behandlung oder einem Kuraufenthalt in einen anderen Mitgliedstaat begibt, kann er nach Art. 1 Abs. 1 c), d) RL 73/148 46 auch seine Familienangehörigen mit Drittstaatsangehörigkeit mitbringen, auch wenn dies Einheimischen nicht ohne weiteres gestattet ist. Dasselbe gilt für die freie Einfuhr von Devisen durch den passiven Dienstleistungsempfänger 47 • Die in derartigen Fällen eintretende SchlechtersteIlung von Inländern läßt sich gegebenenfalls nur über das nationale (Verfassungs)Recht beheben, allerdings nur zum Vorteil des Inländers, nicht zum Nachteil des Ausländers.

Hinblick auf die im Gemeinsamen Markt zu gewährleistende absolute Chancengleichheit für ein umfassendes Verbot der Inländerdiskriminierung eintritt. Schließlich verbiete Art. 7 EWGV jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Dem steht jedoch entgegen, daß Art. 7 nur im Anwendungsbereich des Vertrages gilt und rein inländische Vorgänge davon ausgeschlossen sind. Zudem ist zu beachten, daß Ungleichbehandlungen zugunsten von Ausländern nicht selten dazu dienen, deren Benachteiligung in anderer Hinsicht auszugleichen; daher wird bei einer solchen Ungleichbehandlung häufig gar keine Diskriminierung im Sinne des Gemeinschaftsrechts vorliegen (vgl. Sundberg-Weitmann, Discrimination on Grounds of Nationality, S. 115). 45 Fastenrath, JZ 1987, S. 170/174, kommt etwa zu dem Ergebnis, daß die Bundesrepublik Deutschland die eigenen Bürger ohne weiteres schlechter behandeln dürfe als EG-Recht es für den Kreis seiner Normadressaten vorsehe, sofern Deutsche dadurch nicht Nachteile in grundrechtlich geschützten Positionen erlitten. Weis, NJW 1983, S. 2721/2725 f. nimmt für den Fall einer willkürlichen Differenzierung zwischen Inund Ausländern einen Verstoß gegen Art. 3 I GG an. 46 ABI. 1973 L 172/14. Näher zu dieser RL u. 7. Kapitel A IV. 47 Dazu näher u. D.

C. Die Autbebung sonstiger Beschränkungen

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C. Die Autbebung sonstiger Beschränkungen des passiven Dienstleistungsverkehrs I. Zur Dienstleistungsfreiheit im allgemeinen

Die Dienstleistungsfreiheit zielt nach der Rechtsprechung des EuGH und nach ganz überwiegender Lehre - im Gegensatz etwa zur Niederlassungsfreiheit nach herkömmlicher Auffassung 48 - nicht lediglich auf die Aufhebung von Diskriminierungen, sondern - insoweit über Art. 7 EWGV hinausgehend - grundsätzlich auf die Beseitigung gewisser sonstiger (nicht sämtlicher) Beschränkungen, die den Leistungsvorgang behindern 49. Zur Begründung wird grammatisch auf den Wortlaut des Art. 59 verwiesen, der die Aufhebung von ,,Beschränkungen" vorsieht, systematisch auf Art. 65, der sonst sinnlos wäre, und teleologisch auf Art. 3 c) EWGV, der die Beseitigung sämtlicher Hindernisse u. a. für den freien Dienstleistungsverkehr vorsieht 50. Im Gegensatz zur Niederlassungsfreiheit "wechselt" man bei der grenzüberschreitenden Teilnahme am aktiven und passiven Dienstleistungsverkehr nur vorübergehend die Rechtsordnung, weshalb namentlich der aktive Dienstleistungserbringer großzügiger behandelt werden muß, als dies im Rahmen der Niederlassungsfreiheit der Fall sein kann. Demgegenüber wird bei der Korrespondenzdienstleistung nicht selten ein dauerndes grenzüberschreitendes Leistungsverhältnis angeknüpft, dessen Beurteilung im Hinblick auf Beschränkungen anderen Gesichtspunkten unterliegen kann 51 • Bei allen noch bestehenden (nichtdiskriminierenden) Beschränkungen hinsichtlich eines aktiven oder passiven Dienstleistungsvorgangs ist nach der Rechtsprechung des EuGH im Interesse einer möglichst weitgehenden Liberalisierung stets zu prüfen, ob sie auch gegenüber Inländern gelten, die eine derartige Dienstleistung erbringen wollen und ob sie aus übergeordneten Gründen des Allgemein48 Für einen neuen, den Anwendungsbereich des Art. 52 EWGV über ein bloßes Diskriminierungsverbot hinaus auf ein Beschränkungsverbot erweiternden Ansatz neuerdings Steindorjf. Reichweite der Niederlassungsfreiheit, EuR 1988, S. 19 ff. , mit Ausführungen zu Ansätzen einer entsprechenden Tendenzwende in der Rspr. des EuGH. A. A. z. B. noch GBTE-Troberg, Art. 52 Rz. 16 f.; EG-Kommission [Hrsg.], 21. Gesamtbericht 1987, Rz. 950; vgl. auch Scherer, WiVer 1987, S. 159/162 ff.; zurückhaltend auch Everling, EuR 1989, S. 338/344 f. 49 Ständige Rspr. des EuGH, neuerdings im Versicherungsurteil gegen die Bundesrepublik Deutschland (Rs. 205/84, EuGHE 1986, 3755/3802, Ziff. 25). vgl. aus dem (unter dem Eindruck dieser Rechtsprechung stehenden) Schrifttum z. B. Steindorjf. RIW 1983, S. 831/833 ff. (unter Aufgabe seiner früheren engeren Auffassung, auf die er in Fn. 33 hinweist); Grabitz-RandelzhoJer, Art. 59, Rz. 2; Smit / Herzog-van Gerven, Art. 59, 59.04; Grünbuch der Kommission ,,Fernsehen ohne Grenzen", S. 140-143; Schwartz, ELRev 1986, S. 7/31 ff. ; Bleckmann, DVBI. 1986, S. 69 ff. und EuR 1987, S. 28/32 ff. - Zur besonderen Problematik der Beschränkungen bei Korrespondenzdienstleistungen Seidel, Die Dienstleistungsfreiheit in der neuesten Rechtsentwicklung, S. 113/126 ff. 50 Z. B. Bleckmann, DVBI. 1986, S. 69/72 f. 51 Dazu namentlich Seidel, ZVersWiss 1987, S. 175/188 ff.

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6. Kap.: Inhalt der passiven Dienstleistungsfreiheit

interesses tatsächlich erforderlich und verhältnismäßig sind und diesem nicht bereits durch Vorschriften des Niederlassungsstaates des Dienstleistungserbringers Rechnung getragen ist 52 • Unter "Allgemeininteresse" ist (etwa im Sinne des französischen Terminus "interet general") nicht etwa ein diffuses europäisches Allgemeininteresse, sondern - in gemeinschaftsrechtlich festzulegenden Grenzen - das jeweilige nationale öffentliche Interesse zu verstehen 53, das für die jeweils betroffene Branche und die jeweils zu berücksichtigenden Interessenkonflikte in unterschiedlicher Weise zu definieren sein wird. Für die Abwägung, ob eine Einschränkung im Allgemeininteresse erforderlich und noch verhältnismäßig ist, bietet der Wortlaut der Art. 59 ff. keine Maßstäbe. Daher sollten nach einer heute im Vordringen begriffenen Auffassung in vorsichtiger Weise die Grundsätze herangezogen werden, die zur Beurteilung von Einschränkungen des freien Warenverkehrs entwickelt wurden (insbesondere also auch die zu Art. 30 und 36 EWGV ergangene Rechtsprechung des EuGH) , soweit die Vertragskapitel als Regelungen des Produktaustauschs strukturelle Ähnlichkeit aufweisen 54: So dürfen auch im Dienstleistungssektor nationale Beschränkungen weder zu willkürlichen Diskriminierungen noch zu verschleierten Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs führen. Damit ist allerdings, wie sich bereits aus Art. 60 Abs. 3 a. E. ergibt, nicht etwa die Beseitigung sämtlicher Berufszulassungs- und -ausübungsregelungen sowie Befahigungs-, Qualifikations-, Zuverlässigkeitsoder Kreditwürdigkeitsnachweisen und der damit verbundenen Kontroll- und Aufsichtsmaßnahrnen gemeint 55. Ähnlich wie beim Waren verkehr müssen jedoch auch im Bereich der aktiven Dienstleistungsfreiheit vom Herkunfts- bzw. Ausgangsstaat erteilte behördliche Genehmigungen vom Mitgliedstaat, in dem die Dienstleistung erbracht wird, anerkannt werden. Grundsätzlich muß keine erneute Genehmigung im Gaststaat eingeholt werden 56. Nur soweit dieser legitimerweise schärfere Voraussetzungen aufgestellt hat, darf eine erneute Prüfung stattfinden, 52 Z.B. EuGHRs. 33/74 (van Binsbergen), EuGHE 1299/1309 ff.; Rs. 52/79, EuGHE 1980, 833/856; Rs. 279/80, EuGHE 1981, 3305/3306, Ls. 3.; EuGH Rs. 220/83 (Kommission / Frankreich), EuGHE 1986,3663/3708; Rs. 252/83 (Kommission / Dänemark), EuGHE 1986,3713/3748; Rs. 205/84 (Kommission / Bundesrepublik Deutschland), EuGHE 1986, 3755/3802 f. und andere, st. Rspr.; dazu etwa Watson. CMLRev 1983, S. 767 ff.• insbes. S. 790; Chapatte. ELRev 1984, S. 3/11; Grabitz-Randelzhofer. Art. 59, Rz. 11 f.; Art. 60, Rz. 22.; Bleckmann. DVBl. 1986, S. 69 ff.; Wägenbaur. BB 1989, Beilage 3, S. 15/17; Reich. ZHR 1989, S. 571/583 ff.; Schöne. DienstIeistungsfreiheit in der EG und deutsche Wirtschaftsaufsicht, S. 94 ff. 53 Schmidt. VersR 1987, S. 1/2; Hübner. 1Z 1987, S. 330/332. 54 Forwood / Clough. ELRev 1986, S. 383/389; Steindorff. EuR 1981, S. 426/436 f. und RIW 1983, S. 831/833 ff.; Jarass. EuR 1986, S. 75/87; BBPS-Streil. S. 318; dieser Konzeption gegenüber eher skeptisch Bleckmann. EuR 1987, S. 28/34; differenzierend Seidel. Die Dienstleistungsfreiheit in der neuesten Rechtsentwicklung, S. 113 ff., insbes. S. 126 ff.. der auf die insoweit bestehenden strukturellen Unterschiede zwischen Ware und Dienstleistung namentlich im Hinblick auf Versicherungsdienstleistungen hinweist. 55 Grabitz-Randelzhofer. Art. 57, Rz. 4, 9. 56 EuGH Rs. 110/78 u.a. (Van Wesemael), EuGHE 1979, 35/54.

C. Die Aufhebung sonstiger Beschränkungen

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bei der aber die im Ausgangsstaat bereits stattgefundene Prüfung und deren Belege (z. B. auch Nachweis über erbrachte Sicherheitsleistungen) zu berücksichtigen sind 57. - Namentlich für die Korrespondenzdienstleistungen, bei denen ähnlich wie beim Warenverkehr lediglich ein Wirtschaftsgut die Grenze überschreitet, wird man diese Parallele fruchtbar machen können 58. Beschränkungen, die diese "Legitimitätsprüfung" bestanden haben, bleiben nach wie vor bestehen. So kann z. B. ein nationales Verbot der Beratung bei der Steuerhinterziehung selbstverständlich nicht mit Hilfe der Dienstleistungsfreiheit überwunden werden 59. Ausländische Dienstleistungserbringer und - im Bereich der passiven Dienstleistungsfreiheit - Dienstleistungsempfanger müssen sich in diesem Rahmen also auch weiterhin mit solchen zulässigen, nichtdiskriminierenden Beschränkungen abfinden, z. B. auch mit Zulassungsverfahren (soweit solche für die Erbringung oder Inanspruchnahme einzelner Dienstleistungen erforderlich sind), auch wenn diese für Ausländer im Einzelfall besonders schwer durchzuführen sein können. Die Beseitigung dieser zulässigen Beschränkungen ist und bleibt in erster Linie Aufgabe der Rechtsangleichung und der gegenseitigen Anerkennung staatlicher Aufsichtstätigkeit sowie - im Hinblick auf die aktive Dienstleistungsfreiheit - der Vereinbarung der gegenseitigen Anerkennung von Diplomen, Prüfungszeugnissen und sonstigen Befähigungsnachweisen 60 und der Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über die Aufnahme und Ausübung selbständiger Tätigkeiten 61 (Art. 57 Abs. 1 und 2 EWGV). Jüngstes und besonders bedeutsames Beispiel für eine solche Einigung bildet die RL zur gegenseitigen Anerkennung von Hochschuldiplomen, die am 21. 12. 1988 verabschiedet wurde 62 •

57 EuGH Rs. 279/80 (Webb), EuGHE 1981, 3305/3326. Als neueres Beispiel für eine unzulässige Behinderung ist etwa die griechische Regelung zu sehen, wonach Fremdenführer nur mit einer Berufserlaubnis tätig werden dürfen, die ein entsprechendes Diplom voraussetzt. Wegen dieser unzulässigen Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs hat die Kommission am 20. 6. 1989 Klage erhoben (ABI. 1989 C 207/ 14). Ein ähnliches Verfahren wurde unlängst auch gegen Frankreich anhängig gemacht (Rs. 154/89). 58 Vgl. hierzu vor allem die differenzierten Überlegungen Seidels, Die Dienstleistungsfreiheit in der neuesten Rechtsentwicklung, 1987, und ZVersWiss 1987, S. 175 ff. 59 Beispiel von Seidel, Die Dienstleistungsfreiheit in der neuesten Rechtsentwicklung, S. 113/118. 60 Näher Lasok, Professions, S. 112 ff.; Grabitz-Randelzhojer, Art. 52, Rz. 5 ff. 61 EG-Kommission, Ein Gemeinsamer Markt für Dienstleistungen, 1989; Vierter Bericht der Kommission an den Rat und an das Europäische Parlament v. 20. 6. 1989 über die Durchführung des Weißbuchs der Kommission zur Vollendung des Binnenmarkts, KOM (89) 311 endg., S. 22 ff.; FundsteIlennachweis des geltenden Gemeinschajtsrechts, 13. Ausgabe 1989 (Stand: 1. 6. 1989), Abschnitt 06.20. 62 ABI. 1989 L 19/16. Ursprünglicher Vorschlag der Kommission für eine RL des Rates über eine allgemeine Regelung zur Anerkennung der Hochschuldiplome vom 9.7.1985, KOM (85) 355 endg., ABI. 1985 C 217/3 ff. Geänderter Vorschlag vom

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6. Kap.: Inhalt der passiven Dienstleistungsfreiheit

Neue Beschränkungen dürfen gegenüber Drittlandsangehörigen grundsätzlich nicht mehr eingeführt werden, da dies gegen das Stand-still-Gebot des Art. 62 EWGV verstoßen würde 63 • Der Vorschrift kommt ebenso wie Art. 53 EWGV unmittelbare Geltung zu 64 • Diese "Stillhalteklausel" verbietet auch die Rücknahme mitgliedstaatlicher Liberalisierungsmaßnahrnen, die in Erfüllung gemeinschaftlicher Verpflichtungen ergangen sind 65. Wo Richtlinien den Mitgliedstaaten die Wahl der Formen und Mittel überlassen, haben sie so zu disponieren, daß die praktische Wirksamkeit (effet utile) der RL optimal geWährleistet wird. Durch die unmittelbare Wirkung des Art. 59 mit Ablauf der Übergangszeit hat Art. 62 im Hinblick auf diskriminierende Beschränkungen seine Bedeutung verloren. Im Hinblick auf nichtdiskriminierende Beschränkungen ist er nach wie vor einschlägig. Allerdings ist die Einführung neuer nichtdiskriminierender Beschränkungen auch durch Art. 62 EWGV nicht völlig ausgeschlossen 66 • Das Stand-still-Gebot des Art. 62 ist keineswegs schrankenlos, wie sich bereits aus der Formulierung des ersten Halbsatzes ("Soweit in diesem Vertrag nicht etwas anderes bestimmt ist") ergibt. Dieser Vorbehalt bezieht sich namentlich auf die in Art. 55 und 56 i. V. m. Art. 66 enthaltenen Einschränkungsmöglichkeiten der Dienstleistungsfreiheit 67. 11. Beschränkungen im Rahmen des passiven DienstIeistungsverkehrs

1. Beschränkungen durch den Gaststaat

Im Gegensatz zur aktiven Dienstleistungsfreiheit und zur Korrespondenzdienstleistung wirft die Frage der abbaupflichtigen Beschränkungen für die passive Dienstleistungsfreiheit kaum Probleme auf. Der passive Dienstleistungserbringer verläßt seinen Heimatstaat (oder den Staat seiner Niederlassung) nicht und ist im Verhältnis zu in- und ausländischen Kunden, was staatliche Berufszulassungs- und Ausübungsregeln anbelangt, grundsätzlich seiner eigenen Rechtsordnung unterworfen. Er begegnet nicht den Schwierigkeiten des aktiven Dienstleistungserbringers oder des Korrespondenzdienstleistungserbringers, die sich als 13.5. 1986 KOM (86) 257 endg. = ABI. 1986 C 143/7; dazu Wägenbaur. CMLRev 1986, S. 91/97 ff. und EuR 1987, S. 113/118 ff. Kritisch zur Option der Anpassungslehrgänge Roth. EuR 1987, S. 7/23 f. 63 Dazu EuGH Rs. 48/75 (Royer). EuGHE 1976,497/516 f. 64 Zu Art. 53 EuGH Rs. 6/64 (Costa / ENEL), EuGHE 1964, 1252/1273 f.; zu Art. 62 Grabitz-RandelzhoJer. Art. 62, Rz. 3. 65 EuGH a. a. O. (Fn. 64). 66 Smit / Herzog-van Gerven. Art. 62, 62.03 unter Berufung auf EuGH Rs. 6/64 (Costa / ENEL), EuGHE 1964, 1252/ 1273 f. Der EuGH beschränkte seinerzeit das Standstill-Gebot des Art. 53 EWGV lediglich auf diskriminierende Beschränkungen. Es ist jedoch fraglich, ob er das Stand-still-Gebot des Art. 62 EWGV heute noch ebenso restriktiv auslegen würde, zumal sich nach der Rspr. Art. 59 EWGV auch auf die

Aufhebung gewisser nichtdiskriminierender Beschränkungen bezieht. 67 Grabitz-RandelzhoJer, Art. 53, Rz. 2.

c. Die Aufhebung sonstiger Beschränkungen

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aktives Wirtschaftssubjekt mit der heimatlichen Rechtsordnung des Dienstleistungsempfangers auseinanderzusetzen haben. Daß der passive Dienstleistungsempfanger unter den gleichen Bedingungen wie Inländer Dienstleistungen entgegennehmen darf, ergibt sich bereits aus dem Diskriminierungsverbot. Der Gaststaat darf weder den leistungswilligen passiven Dienstleistungserbringer noch den passiven Dienstleistungsempfänger Bedingungen unterwerfen, welche die Erbringung der Dienstleistung im Vergleich zur Erbringung an Inländer erschweren 68. Derartige unzulässige Beschränkungen durch das Gastland sind - von aufenthaltsrechtlichen Fragen abgesehen allerdings praktisch kaum denkbar. Allenfalls die nationale Meldepflicht für Ausländer könnte als eine Beschränkung gesehen werden, die aber in gewissen Grenzen als zulässig anzusehen ist 69 • - Nach dem oben zur Drittwirkung der Dienstleistungsfreiheit Gesagten 70 ist klar, daß auch Private und Verbände, die in der beschriebenen Weise am Geschäftsverkehr teilnehmen, ebenfalls keine Regelungen mehr treffen dürfen, die in sachlich ungerechtfertigter Weise Schranken oder Erschwernisse für den passiven Dienstleistungsverkehr bewirken würden 71 • Die Abwicklung der Vertragsbeziehungen richtet sich im Streitfall in öffentlich-rechtlicher Hinsicht nach den Vorschriften des Gaststaates, die der oben beschriebenen Legitimitätsprüfung genügen und privatrechtlieh - mangels besonderer Vereinbarung 72 - nach der Rechtsordnung, die das internationale Privatrecht, insbesondere das internationale Schuldrecht des Staates bestimmt 73 , in dem ein Gericht angerufen wird. Soweit dies, wie meist der Fall sein dürfte, die Rechtsordnung des Gaststaates ist, da hier der Erbringer der für das Leistungsverhältnis charakteristischen Leistung ansässig ist, die Dienstleistung erbracht wird und der räumliche Schwerpunkt des Leistungsverhältnisses liegt, kann darin keine unzulässige Beschränkung des passiven Dienstleistungserbringers gesehen werden 74, auch wenn das Recht des Gaststaates für ihn im Einzelfall ungünstiger Vgl. Steindorjf, RIW 1983, S. 831/833 (u. 7.). Dazu 7. Kapitel D. 70 B 11.3. 71 Vgl. Steindorjf, RIW 1983, S. 831/836 (u. IV.). 72 Vgl. für die Bundesrepublik Deutschland Art. 27 EGBGB. 73 In der Bundesrepublik Deutschland Art. 28 EGBGB. 74 Seidel, Die Dienstleistungsfreiheit in der neuesten Rechtsentwicklung, S. 113/128: "Das Diskriminierungsverbot bedeutet - förmliche und materielle - Gleichstellung im Rahmen der Rechtsordnung des Staates der Dienstleistungserbringung; es bedeutet nicht, daß der Gemeinschaftsbürger in allen Mitgliedstaaten ausschließlich nur dem Recht seines Heimatlandes unterliegt." - Soweit das IPR jedoch ausschließlich an die Staatsangehörigkeit der Beteiligten anknüpft, kann sich die Frage nach einem Verstoß gegen Art. 7 EWGV stellen (dazu etwa Drobnig, RabelsZ 1970, S. 637 ff., der dies u.a. am Beispiel des italienischen internationalen Schuldrechts untersucht, das - zumindest damals - eine sekundäre Anknüpfung an die gemeinsame Staatsangehörigkeit vorsah, und insoweit einen Verstoß gegen Art. 7 EWGV bejaht). 68 69

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6. Kap.: Inhalt der passiven Dienstleistungsfreiheit

ist als sein Heimatrecht. Auch wenn die formellen Rechtsschutzmöglichkeiten im Gastland schlechter sind als im Heimatstaat (z. B. in gewissen Verfahren weniger Instanzen angeboten werden oder die Beweiserhebungs- oder Beweislastregeln aus der Sicht des Dienstleistungsempfängers ungünstiger sind oder die Prozesse länger dauern), liegt hierin keine unzulässige Beschränkung des passiven Dienstleistungsempfängers. Allerdings sieht das Europäische Abkommen über das auf Schuldverträge anzuwendende Recht (EVÜ) vom 19. 6. 1980 75 eine Reihe von gemeinschaftsweit einheitlichen Sonderanknüpfungen vor, die einen Schutz des schwächeren Vertragspartners durch Anwendung zwingender Vorschriften seines Heimatrechts erreichen wollen. Dies gilt insbesondere für Arbeitsverträge und - für viele passive Dienstleistungsempfänger (Touristen!) von besonderer Bedeutung - für sog. Verbraucherverträge, insbesondere für Reiseverträge, die für einen Pauschalpreis kombinierte Beförderungs- und Unterbringungsleistungen vorsehen. 76 2. Beschränkungen durch den Heimatstaat

Die Fallgestaltungen, in denen dem passiven Dienstleistungsempfänger eine Beschränkung durch seinen Heimatstaat auferlegt wird, sind nicht eben zahlreich. Selbstverständlich muß der Heimatstaat dem passiven Dienstleistungsempfänger die Ausreise gestatten. Beschränkungen in dieser Hinsicht wären unzulässig. In Betracht kommen daneben vor allem Probleme im Zusammenhang mit der Bezahlung der Dienstleistung, wenn der Dienstleistungsempfänger die Dienstleistung im Lande des Dienstleistungserbringers in Empfang nimmt und dort bezahlt. Durch Art. 106 Abs. 1 EWGV wird die Liberalisierung der Zahlungen gewährleistet, die mit dem Dienstleistungsverkehr verbunden sind. Dies gilt auch für die passive Dienstleistungsfreiheit. Wie der EuGH im Urteil Luisi / Carbone 77 festgestellt hat, müssen die Zahlungen, die im Rahmen der passiven Dienstleistungsfreiheit vom Dienstleistungsempfänger für die Dienstleistung erbracht werden, von Beschränkungen befreit werden 78. Dies schließt aber auch nach Auffassung des EuGH nicht die Kontrollbefugnis der Mitgliedstaaten im Hinblick auf die tatsächliche Verwendung der Devisen für die Bezahlung von Dienstleistungen aus, um Mißbräuche zu verhindern. Diese Kontrolle erfolgt üblicher- und zulässigerweise 75 ABI. 1980 L 266/1 = BGBI. 198611, 810; noch nicht in Kraft. Die Bundesrepublik hat das Abkommen bereits (mit Vorbehalten) ratifiziert und seine wesentlichen Regelungen in Art. 27 ff. EGBGB übernommen. Näher Reithmann / Martiny, Internationales Vertragsrecht, 1988; Reich, ZHR 1989, S. 571/588 ff. 76 Art. 29 EGBGB und § 12 AGBG und dazu Reithmann / Martiny, S. 450 ff. Zur materiellen Rechtsangleichung vgl. den RL-Vorschlag der Kommission über Pauschalreisen (u. 9. Kapitel A 11.3.). 77 EuGH verb. Rs. 286/82 und 26/83, EuGHE 1984, 377 /401 ff. - Zum Sachverhalt der Entscheidung o. 3. Kapitel D 1.1. 78 Näher u. D 11.

D. Beschränkungen des Zahlungsverkehrs

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oberhalb eines gewissen Pauschalbetrages, der allerdings so hoch festgesetzt sein muß, daß die Dienstleistungsfreiheit dadurch nicht in unverhältnismäßiger Weise beeinträchtigt wird. Weitergehend sieht Steindorff19 es als unzulässige Beschränkung des passiven Dienstleistungempfängers durch den Heimatstaat an, wenn der Kostenträger einer Heilbehandlung (z. B. Privat- oder Sozialversicherung) das Aufsuchen eines ausländischen Arztes, Krankenhauses oder Kurbads nicht oder nur unter erschwerenden Erfordernissen bewilligt. Ausnahmen seien nur denkbar, wo für Leistungen einem Anbieter eine ausschließliche Befugnis i. S. v. Art. 90 EWGV zuerkannt sei. Auch wenn man bei solchen Dreiecksverhältnissen im Verhältnis Versicherter-Versicherer eine Anwendbarkeit der passiven Dienstleistungsfreiheit bejaht, wird man dieser Ansicht im Einzelfall nur ausnahmsweise folgen können, wenn derartige Beschränkungen nicht durch sachliche Gründe des Allgemeininteresses bzw. durch das Interesse der jeweiligen Interessen- und Risikogemeinschaft der Versicherten gedeckt sind. Soweit ein Aufenthalt in einer ausländischen Klinik z. B. einen nicht ganz unerheblichen finanziellen Mehraufwand bedeutet, der bei der Kalkulation der Versicherungsbeiträge nicht berücksichtigt wurde, ist es keine unzulässige Beschränkung, wenn einem Versicherten nicht zu Lasten der Solidargemeinschaft ein solcher Aufenthalt finanziert wird.

D. Aufltebung von Beschränkungen des mit dem Dienstleistungsverkehr verbundenen Zahlungsverkehrs I. Die Bedeutung des freien Zahlungsverkehrs für den freien Dienstleistungsverkehr

Für den freien Dienstleistungsverkehr ist es wie bei der Ausübung der anderen Grundfreiheiten unerläßlich, daß auch der mit ihm verbundene Zahlungsverkehr liberalisiert wird. Die Möglichkeit, einen grenzüberschreitenden Dienstleistungsvorgang ungehindert abzuwickeln, wäre nahezu sinnlos, wenn es nicht auch möglich ist, die ebenfalls grenzüberschreitende Bezahlung der Dienstleistung gleichermaßen frei durchzuführen. Da die Verwirklichung der vier Grundfreiheiten ansonsten gewissermaßen "hinken" 80 würde, hat man die Freiheit des mit ihnen verbundenen Zahlungsverkehrs zutreffend als "fünfte Freiheit des Gemeinsamen Marktes" bezeichnet 81 • Dementsprechend ist nach Art. 106 Abs. 1 EWGV jeder Mitgliedstaat verpflichtet, Zahlungen, die sich auf den Dienstleistungsverkehr beziehen, in der Währung des Mitgliedstaates zu genehmigen, in dem der RIW 1983, S. 831/833. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 648. 81 Börner, Die fünfte Freiheit des Gemeinsamen Marktes: Der freie Zahlungsverkehr, FS Ophüls, 1965, S. 19 ff. 79

80

10 Völker

146

6. Kap.: Inhalt der passiven Dienstleistungsfreiheit

Gläubiger oder der Begünstigte ansässig ist. Ebenso ist der Transfer von Kapitalbeträgen und Arbeitsentgelten zu gestatten, soweit der Dienstleistungsverkehr liberalisiert ist. Soweit der freie Dienstleistungsverkehr ohnehin nur noch durch devisenrechtliche Vorschriften beschränkt ist, sah Abs. 2 deren schrittweise Beseitigung durch die entsprechende Anwendung des Dienstleistungskapitels vor. Dies geschah für den Dienstleistungsverkehr durch die RL 63 / 340 des Rates vom 31.5.1963 zur Aufhebung aller Verbote oder Behinderungen von Zahlungen für Leistungen, wenn der Dienstleistungsverkehr nur durch Beschränkungen der damit verbundenen Zahlungen begrenzt ist 82 • Sie bezieht sich auf alle in Art. 59 und 60 genannten Dienstleistungen mit Ausnahme der Dienstleistungen auf dem Gebiet des Verkehrs und für die Ausgabe von Reisedevisen (Art. 3). Gemäß Art. 1 wurden die Mitgliedstaaten verpflichtet, alle Beschränkungen der mit dem Dienstleistungsverkehr verbundenen Zahlungen aufzuheben, soweit diese Beschränkungen das einzige Hemmnis darstellten. Die Überweisung dieser Zahlungen auf der Grundlage der Devisenkurse, die bei Zahlungen für laufende Geschäfte gelten, ist zu gewährleisten. Art. 2 behält den Mitgliedstaaten das Recht vor, die Art und die tatsächliche Durchführung der Zahlungen zu überprüfen und die unerläßlichen Maßnahmen zu treffen, um Zuwiderhandlungen gegen ihre Rechtsund Verwaltungsvorschriften zu verhindern.

11. Die Anwendung von Art. 106 Abs. 1 auf den mit dem passiven Dienstleistungsverkehr verbundenen Zahlungsverkehr durch den EuGH im Urteil "Luisi und Carbone"

Daß auch sämtliche mit dem passiven Dienstleistungsverkehr verbundenen Zahlungen gemäß Art. 106 Abs. 1 EWGV liberalisiert sind, wurde vom EuGH in der Entscheidung ,,Luisi und Carbone" klargestellt, in der, wie bereits ausgeführt, auch die grundsätzliche Anerkennung der passiven Dienstleistungsfreiheit erfolgte 83. Der EuGH stellte in dieser Entscheidung klar, daß die mit dem passiven Dienstleistungsverkehr verbundenen Zahlungen keine Kapitalbewegungen i. S. v. Art. 67 EWGV darstellen, weil sie Gegenleistungen im Rahmen der diesen LeiABI. 1963, S. 1609 f. Verbundene Rs. 286/82 und 26/83, EuGHE 1984,380/397 ff. Zum devisenrechtlichen Aspekt der Entscheidung u.a. Hafke, EuR 1984, S. 398 ff.: Louis, CMLRev 1984, S. 625 ff.; Siche, CDE 1984,696 ff.; Smits, ELRev 1984, S. 192 ff.; Timmermans, SEW 1984, S. 750/756 ff.; Druesne, Droit materiel et politiques de la Communaute europeenne, 1986, Ziff. 74,122.; Lasok I Bridge, Law and Institutions ofthe European Communities, 1987, S. 410 f.; Grabitz-Ress, Art. 67 Rz. 6; Van der Woude I Mead, CMLRev 1988, 117/138 f.; Cherot I Roux, Liberte des personnes et contröle des changes dans la C. E., in: Flory / Higgins (Hrsg.), Liberte de circulation des personnes en droit international, 1988, S. 113 ff., insbes. 117 f. - Zum der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt und der durch sie erfolgten grundSätzlichen Anerkennung der passiven Dienstleistungsfreiheit s. o. 3. Kapitel D. - Allgemein zur Abgrenzung zwischen Art. 67 und 106 Lasok, Professions, S. 97 ff. 82

83

D. Beschränkungen des Zahlungsverkehrs

147

stungen zugrundeliegenden Transaktionen darstellen, während es sich beim Kapitalverkehr um Finanzgeschäfte handelt, also um die Anlage oder Investition von Devisen. Die entsprechenden Zahlungen sind daher wegen der unmittelbaren Anwendbarkeit der Art. 59 ff. mit Ablauf der Übergangszeit liberalisiert 84 • 1. Das Problem

Vor diesem Urteil war für die mit dem aktiven und passiven Dienstleistungsverkehr verbundenen Bewegungen von Zahlungsmitteln zweifelhaft, inwieweit sie nach Art. 67 als Bestandteil des Kapitalverkehrs, nach 106 Abs. 3 EWGV als unsichtbare Transaktionen oder i. S. v. Art. 106 Abs. 1 EWGV als auf den Dienstleistungsverkehr bezogene Zahlungen zu beurteilen sind, eine Frage, die für den anzunehmenden Liberalisierungsstand und die Frage möglicher staatlicher Beschränkungen von entscheidender Bedeutung war. Dies betraf namentlich die wirtschaftlich sehr bedeutenden 85 Zahlungen, die von einem EG-angehörigen Dienstleistungsempfanger beim Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat als Tourist, zur Inanspruchnahme einer medizinischen Behandlung oder anläßlich einer Studien oder Geschäftsreise vorgenommen werden.

2. Stellungnahmen der Beteiligten Die italienische und französische Regierung vertraten in diesem Verfahren im wesentlichen die Ansicht, die Ausfuhr von Devisen für Fremdenverkehrszwecke stelle einen unter Art. 67 EWGV fallenden Kapitalverkehrsvorgang dar, weil im Augenblick des Grenzübertritts noch gar nicht feststehe, wie das Geld künftig verwendet werden würde. Die Ausfuhr von Vermögens werten sei in der Liste D der Anlage I zur 1. Richtlinie zur Durchführung des Art. 67 EWGV vom 11. 5. 1960 86 enthalten. Hinsichtlich derartiger Vorgänge, die zum Kapital verkehr gehörten, obliege den Mitgliedstaaten keinerlei Liberalisierungspflicht. Eine solche Liberalisierung müsse vielmehr nach den Vorschriften des Art. 69 EWGV erfolgen. Art. 106 Abs. 1 EWGV sei demgegenüber nicht einschlägig, weil bei der Ausfuhr von Devisen zu Fremdenverkehrszwecken noch nicht genau feststehe, welche Dienstleistungen später im einzelnen in Anspruch genommen würden. Der von einem nur potentiellen Nutzer noch unbestimmter Dienstleistungen vorgenommene Devisentransfer stelle keine Zahlung i. S. v. Art. 106 Abs. 1, sondern einen Kapitelverkehrsvorgang dar. Hingegen stellten Fälle, in denen sich 84

Dies entspricht mittlerweile auch der einmütigen Auffassung im Schrifttum, so

z. B. Smit I Herzog-van Gerven, Art. 59, 59.04. 85 86

10*

Vgl. u. 9. Kapitel A 11. ABI. 1960, S. 921.

148

6. Kap.: Inhalt der passiven Dienstleistungsfreiheit

der Angehörige eines Mitgliedstaates zur Behandlung zu einem bestimmten Arzt in einen anderen Mitgliedstaat begebe oder ein Student sich zum Studium in einem anderen Mitgliedstaat einschreibe, Anwendungsfälle der Art. 59 und 60 EWGV dar, weshalb Zahlungen, die sich auf derartige bestimmte Leistungen bezögen, "als laufende Zahlungen" (im Gegensatz zum sonst anzunehmenden Kapitalverkehr) gemäß Art. 106 Abs. I grundsätzlich von Beschränkungen frei sein müßten. Eine Anwendung des Art. 106 Abs. 3 EWGV komme ebenfalls nicht in Betracht, da diese subsidiäre Vorschrift nur dann Anwendung finde, wenn die betreffenden Transaktionen nicht bereits unter andere Vertragsbestimmungen fielen, was hier der Fall sei 87 . Demgegenüber vertraten die deutsche und die belgische Regierung (mit Abweichungen in der Begründung und in den Schlußfolgerungen) im wesentlichen die Auffassung, es handele sich um unsichtbare Transaktionen i. S. v. Art. 106 Abs. 3 EWGV, da die betreffenden Reisezwecke (Fremdenverkehr, Studium, medizinische Behandlung, Geschäftsreise) in Anhang III zum Vertrag aufgeführt seien 88 • Die beiden Kläger des Ausgangsverfahrens, die Regierung der Niederlande und die Kommission hielten demgegenüber Art. 106 Abs. I EWGV für anwendbar, da die betreffenden Tätigkeitsbereiche Bestandteil des freien Dienstleistungsverkehrs seien, in den auch die gebietsfremden Empfänger grenzüberschreitender Dienstleistungen einzubeziehen seien. Damit seien die entsprechenden Zahlungsvorgänge im Einklang mit der unmittelbaren Anwendbarkeit der Art. 59 ff. EWGV mit Ablauf der Übergangszeit liberalisiert. Die Argumente entsprachen im wesentlichen denen des Generalanwalts Mancini in seinen Schlußanträgen 89 .

3. Schlußanträge des Generalanwalts GA Mancini wies zunächst auf die praktische Bedeutsamkeit der Frage hin, ob man die betreffenden Zahlungsvorgänge unter die Kapitalverkehrsvorschriften oder unter Art. 106 in Verbindung mit dem Dienstleistungskapitel einordnet. Denn der Kapitalverkehr sei im Gegensatz zum Dienstleistungsverkehr am Ende der Übergangszeit nicht in vollem Umfang und automatisch liberalisiert gewesen. Bei Art. 67 EWGV bestehe im Gegensatz zu den drei anderen Freiheitsrechten eine Pflicht zur Befreiung des Kapitalverkehrs nur, "soweit es für das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes notwendig ist" (Art. 67)90. Nicht liberalisiert seien 87 Weitere Argumente der italienischen Regierung dafür, daß es sich bei derartigen Zahlungen auch nicht um unsichtbare Transaktionen LS.v. Art. 106 Abs. 3 handele, auf S. 387 f. 88 Einzelheiten im Urteilstatbestand (S . 391 f.). 89 EuGHE 1984, S. 409 ff. 90 Vgl. EuGH Rs. 203/80 (Casati), EuGHE 1981, 2595/2613 ff.

D. Beschränkungen des Zahlungsverkehrs

149

in diesem Bereich bislang die Beschränkungen von Ein- und Ausfuhren, die nicht für private Zwecke bestimmt seien. GA Mancini legte anschließend in schlüssiger Weise dar, daß auch die Empfanger von Dienstleistungen - jedenfalls in den Bereichen Fremdenverkehr, Ausbildung und medizinische Behandlung - unter die Dienstleistungsfreiheit fallen 91. Hieraus ergab sich für ihn als zwingende Folge, daß mit dem Wegfall der Beschränkungen des Dienstleistungsverkehrs am Ende der Übergangszeit auch ipso iure die Freiheit der Devisentransfers, mit denen diese Leistungen vergütet werden sollen, verknüpft war, denn diese Transferierungen seien "sowohl Reflex als auch Voraussetzung der Reise von einem Land in das andere"92. Dies sei auch so in Art. 106 Abs. I EWGV ausdrücklich vorgesehen und geregelt. Art. 106 Abs.3 EWGV, der hinsichtlich des äußerst beschränkten Restgeltungsbereichs der sog. "unsichtbaren Transaktionen" lediglich ein Stand-still-Gebot und eine Verpflichtung zur schrittweisen Beseitigung der Beschränkungen enthält, sei jedenfalls mit Ablauf der Übergangszeit bezüglich der hier fraglichen Zahlungen im Zusammenhang mit dem Dienstleistungsverkehr nicht (mehr) einschlägig. Im Ergebnis bejahte daher auch GA Mancini die Freiheit des mit dem Dienstleistungsverkehr verbunden Zahlungsverkehrs - jedenfalls für die Bereiche Tourismus, Ausbildung und medizinische Behandlung - im Einklang mit der unmittelbaren Anwendbarkeit des Dienstleistungskapitels sowohl für den aktiven als auch für den passiven Dienstleistungsverkehr. Allerdings gestand auch er den Mitgliedstaaten weiterhin zu, gewisse Kontrollen durchzuführen, um sicherzustellen, daß die Devisen nicht doch im Wege des Kapitalverkehrs (etwa zur Anlegung von Devisenreserven im Ausland) unter dem bloßen Vorwand der Inanspruchnahme von Dienstleistungen ins Ausland geschafft werden. Derartige unumgängliche Kontrollen seien auch im III. Abschnitt des A. P. ausdrücklich weiterhin zugelassen. Abschließend machte er noch einen Vorschlag zu einer zweckmäßigerweise differenzierten Handhabung dieser Kontrollen 93.

4. Das Urteil des EuGH a) Rechtliche Qualifikation der Zahlungsvorgänge Der EuGII schloß sich im Ergebnis im wesentlichen den Ausführungen des Generalanwalts an. Nachdem zunächst - in der für den EuGH charakteristischen Kürze - dargelegt wird, daß die passive Dienstleistungsfreiheit im hier verstandenen Sinn ebenfalls unter das Dienstleistungskapitel falle 94, wendet sich der 91 92

93 94

EuGHE 1984,415-417. EuGHE 1984,417. EuGHE 1984, 419 f. Näher o. 3. Kapitel DIA.

150

6. Kap.: Inhalt der passiven Dienstleistungsfreiheit

EuGH dem mit dem Dienstleistungsverkehr verbundenen Zahlungsverkehr zu. Er vertritt wie GA Mancini die Ansicht, daß dieser unter Art. 106 Abs. 1 EWGV falle. Die Verfasser des A. P. hätten dadurch, daß sie dieses auch auf Art. 106 EWGV gestützt hätten, zum Ausdruck gebracht, daß sie sich der Auswirkung der Liberalisierung des Dienstleistungsverkehrs auf den Zahlungsverkehr bewußt gewesen seien. Dementsprechend seien auch die Zahlungsbeschränkungen in das Liberalisierungsprogramm des A. P. aufgenommen worden (Abschnitt III des A. P.). Diese Beschränkungen seien gemäß Abschnitt V Buchstabe B des A. P. vor Ablauf der ersten Stufe der Übergangszeit, gegebenenfalls vorbehaltlich der Ausgabe von "Reisedevisen" während der Übergangszeit, aufzuheben gewesen. Diese Bestimmungen seien durch die RL 64 / 340 95 durchgeführt, in deren Art. 3 die Ausgabe von Reisedevisen ebenfalls erwähnt werde 96 • Daraus folge, "daß der freie Dienstleistungsverkehr die Freiheit der Leistungsempfänger einschließt, sich zu Inanspruchnahme einer Dienstleistung in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, ohne durch Beschränkungen - und zwar auch im Hinblick auf Zahlungen _97 daran gehindert zu werden, und daß Touristen, sowie Personen, die eine medizinische Behandlung in Anspruch nehmen, und solche, die Studien- oder Geschäftsreisen unternehmen, als Empfänger von Dienstleistungen anzusehen sind"98. Demgegenüber finde Art. 106 Abs. 3 EWGV auf die betreffenden Vorgänge wegen seiner Subsidiarität keine Anwendung. b) Abgrenzung zum Kapitalverkehr Im weiteren geht der EuGH noch auf die Abgrenzung dieser Zahlungsvorgänge vom Anwendungsbereich der Kapitalverkehrsvorschriften ein. Dies war notwendig, weil in Liste D der Anlagen zu den beiden RLen, die der Rat gemäß Art. 69 EWGV auf dem Gebiet des Kapitalverkehrs erlassen hat 99 , der Transfer von Banknoten erwähnt wird, was die Frage aufwarf, ob ein solcher Transfer immer und ohne weiteres als Kapitalverkehr aufzufassen sei. Dies wird vom EuGH verneint. Aus dem allgemeinen System des Vertrages ergebe sich vielmehr, wie ein Vergleich der Art. 67 und 106 EWGV bestätige, daß die laufenden Zahlungen Devisentransferierungen seien, die eine Gegenleistung im Rahmen einer dieser Leistung zugrundeliegenden Transaktion darstellten, während es sich beim Kapitalverkehr um Finanzgeschäfte handele, bei denen es in erster Linie um die 95 RL des Rates vom 31. 5. 1963 zur Aufhebung aller Verbote oder Behinderungen von Zahlungen für Leistungen, wenn der Dienstleistungsverkehr nur durch Beschränkungen der damit verbundenen Zahlungen begrenzt ist (ABI. 1963, S. 1609). 96 In Art. 3 wird jedoch die Ausgabe von Reisedevisen ausdrücklich vom Anwendungsbereich der RL ausgenommen (zum Grund dieser Ausnahme Goldman, Droit Commercial Europeen, Ziff. 183 (S. 219). 97 Hervorhebung durch den Verf. 98 EuGHE 1984, 377/403. 99 ABI. 1960, S. 921 und 1963, S. 62.

D. Beschränkungen des Zahlungsverkehrs

151

Anlage oder die Investition des betreffenden Betrages und nicht um die Vergütung einer Dienstleistung gehe. "Der Transfer von Banknoten kann daher nicht als Kapitalverkehr angesehen werden, wenn diesem Transfer eine Zahlungsverpflichtung entspricht, die sich aus einer Transaktion auf dem Gebiet des Waren- oder Dienstleistungsverkehrs ergibt. Folglich können Zahlungen für Reisen zu Fremdenverkehrs-, Geschäfts- und Studienzwecken sowie für die Zwecke einer medizinischen Behandlung auch dann nicht als Kapitalverkehr eingestuft werden, wenn sie durch den Transfer von Banknoten erfolgen." 100 Dabei sei jedoch zu beachten, daß die in Art. 106 Abs. 1 EWGV vorgesehene Liberalisierungspflicht sich nur auf Zahlungen in der Währung des Mitgliedstaates beziehe, in denen der Gläubiger oder der Zahlungsempfänger ansässig sei. Die Zahlungen in der Währung eines Drittlandes fielen somit nicht unter diese Vorschrift.

c) Kontrollmöglichkeiten des Heimatlandes Der EuGH setzte sich abschließend noch mit der Frage auseinander, welche Kontrollmöglichkeiten den Mitgliedstaaten hinsichtlich dieser mit dem passiven Dienstleistungsverkehr verbundenen Devisentransfers noch verbleiben 101. Nach Art. 2 der RL 63/340 102 bleibt den Mitgliedstaaten das Recht vorbehalten, die Art und die tatsächliche Durchführung der mit dem Dienstleistungsverkehr ver" bundenen Zahlungen zu überprüfen. Der EuGH vertritt demgemäß die Auffassung, daß auch nach Ende der Übergangszeit eine solche Überprüfung weiterhin möglich ist, um zu verhindern, daß unter dem Deckmantel der Dienstleistungsfreiheit Zahlungsvorgänge stattfinden, die in Wirklichkeit dem (noch nicht vollständig liberalisierten) Kapitalverkehr unterfallen und auf diese Weise zweckentfremdete Devisen für nicht genehmigte Kapitalverkehrsvorgänge verwendet werden. Durch derartige Kontrollen dürfen jedoch nicht die. Freiheitsrechte illusorisch werden. "Folglich dürfen sie keine Beschränkung der sich auf Dienstleistungen beziehenden Zahlungen und Transferierungen auf einen bestimmten Betrag pro Transaktion oder pro Zeitraum bewirken, da sie in diesem Fall eine Beeinträchtigung der durch den Vertrag anerkannten Freiheitsrechte darstellen würden. [... ] Diese Feststellungen stehen der Bestimmung von Pauschalgrenzen durch einen Mitgliedstaat nicht entgegen, unterhalb deren keinerlei Kontrollen stattfindet, während für Ausgaben, die diese Grenze übersteigen, die tatsächliche Verwendung für Zwecke des Dienstleistungsverkehrs zu belegen ist; der Pauschalbetrag darf jedoch nicht so festgesetzt sein, daß der normale Dienstleistungsstrom beeinEuGHE 1984,377/404. Zu diesem Aspekt der Entscheidung auch Everling, RabelsZ 1986, S. 193/216 f.; Hafke, EuR 1984, S. 398/401 f.; Smits, ELRev 1984, S. 198 (dort auch zu den möglichen Folgen der Entscheidung in einzelnen Mitgliedstaaten [So 201 f.]). 102 RL vom 31.5. 1963 zur Aufhebung aller Verbote oder Behinderungen von Zahlungen für Leistungen, wenn der Dienst1eistungsverkehr nur durch Beschränkungen der damit verbundenen Zahlungen begrenzt ist (ABI. 1963, S. 1609). 100 101

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6. Kap.: Inhalt der passiven Dienstleistungsfreiheit

trächtigt wird. Es ist Sache des innerstaatlichen Gerichts, im Einzelfall festzustellen, ob die Devisentransferkontrollen, um die es in einem bei ihm anhängigen Rechtsstreit geht, diese Grenzen nicht überschreiten" 103. Die Entscheidung läßt offen, welche Anforderungen an die Belege für die Bezahlung einer Dienstleistung im einzelnen gestellt werden dürfen. Man wird davon ausgehen können, daß im Regelfall handels- und geschäftsübliche Quittungen ausreichen sollten - der Dienstleistungsverkehr darf jedenfalls nicht "totgeprüft" werden 104. Es versteht sich im übrigen von selbst, daß ein Nachweis über die Verwendung der Devisen naturgemäß erst verlangt werden kann, nachdem das Geld ausgegeben wurde. Der potentielle Leistungsempfanger kann vorher häufig noch gar nicht wissen, mit wem er (z. B. im Verlauf eines touristischen Aufenthalts) kontrahieren und welche Leistungen er im einzelnen in Anspruch nehmen wird 105. III. Zur Frage, welche Zahlungen sich i. S. v. Art. 106 Abs. 1 auf den passiven Dienstleistungsverkehr "beziehen"

Der Begriff der Zahlungen, die sich i. S. v. Art. 106 Abs. 1 EWGV auf den Dienstleistungsverkehr "beziehen", ist im Interesse einer möglichst umfassenden Liberalisierung weit auszulegen. Er umfaßt neben dem eigentlichen Entgelt für die Dienstleistung auch sonstige Zahlungen, die mit dem Vertragsverhältnis als Ganzem in Beziehung stehen, also z. B. auch Gewährleistungs- und Schadensersatzleistungen (bei Schlechtleistung, Unmöglichkeit oder Verletzung sonstiger (auch vor- oder nachvertraglicher) Pflichten sowie Zahlungen aus ungerechtfertigter Bereicherung bei Nichtigkeit des Vertragsverhältnisses und sonstige mit seiner Rückabwicklung verbundene Zahlungen 106. Nicht anders verhält es sich mit Bürgschaften oder Garantieverträgen, die mit dem Dienstleistungsgeschäft in unmittelbarem Zusammenhang stehen. Auch diese Geschäfte sind zur Abwicklung des Dienstleistungsvorgangs gegebenenfalls unabdingbar notwendig und in das Austauschverhältnis eingebunden. Sie stellen daher keine einseitigen, auf Investition oder dergleichen gerichtete Wertübertragungen von einem Mitgliedstaat in den anderen 107 im Sinne der Kapitalverkehrsvorschriften dar und fallen daher ebenfalls unter Art. 106 Abs. 1 EWGV.

103 EuGHE 1984377 /406 f. Damit überträgt der EuGH (wie schon verschiedentlich) den nationalen Gerichten eine sehr schwierige Aufgabe. 104 Hafke, EuR 1984, S. 398/401. 105 Van der Woude / Mead, CMLRev 1988, 117/139. 106 Vgl. Bleckmann, Europarecht, S. 360 f. 107 lpsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 650.

E. Soziale Ansprüche im Gastland?

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IV. Zum tatsächlichen Stand der Liberalisierung Abschließend sei noch angemerkt, daß sich nach neuesten Angaben der Kommission mittlerweile alle Mitgliedstaaten hinsichtlich der Devisentransferierungen im Rahmen des Fremdenverkehrs und sonstiger Reisen an die im Urteil "Luisi und Carbone" getroffenen Feststellungen halten. Lediglich Griechenland durfte bis Ende 1988 und Portugal darf noch bis Ende 1990 im Hinblick auf Transferierungen für Fremdenverkehrsausgaben im Ausland Ansässiger gewisse Beschränkungen aufgrund einer auf Artikel 108 Abs. 3 EWGV gestützten Entscheidung bzw. von Übergangsbestimmungen der Beitrittsakte beibehalten 108.

E. Soziale Ansprüche des passiven Dienstleistungsempfängers im Gastland? Soziale Leistungsansprüche gegen den Gaststaat lassen sich für die Dauer des Aufenthalts des gebietsfremden Dienstleistungsempfängers aus der passiven Dienstleistungsfreiheit als solcher grundsätzlich nicht herleiten 109. Wie bereits ausgeführt, sind staatliche Sozialleistungen keine Dienstleistungen i. S. v. Art. 60 EWGV 110. Für den passiven Dienstleistungsempfänger gibt es auch (im Gegensatz zu Wanderarbeitern und Selbständigen) kein sozialrechtliches Sekundärrecht. Dies wäre allenfalls über eine künftige ausdrückliche gemeinschaftsrechtliche Regelung zu erreichen, die aber angesichts des regelmäßig vorübergehenden Charakters der Ortsveränderungen bei Dienstleistungsvorgängen nicht zu erwarten ist. Im Gegensatz zum Wanderarbeitnehmer oder Niederlassungsberechtigten bleibt die materielle Existenzgrundlage des passiven Dienstleistungsempfängers regelmäßig in seinem Heimatland. Zwar zeigt die Einbeziehung der Familienangehörigen des Dienstleistungsempfängers in die Einreise- und Aufenthaltsrechte der RL 73/148, daß sich die Verfasser dieser RL darüber im klaren waren, daß auch Dienstleistungsvorgänge mitunter längere Zeit in Anspruch nehmen können. Allein aus dieser Tatsache ließe sich jedoch eine analoge Anwendung sozialrechtlicher Ansprüche des Gemeinschaftsrechts auf die passive Dienstleistungsfreiheit (z. B. von Art. 7 Abs. 2 VO 1612/68) keinesfalls rechtfertigen. Anders ist allerdings hinsichtlich solcher staatlichen Leistungen zu entscheiden, welche die Rahmenbedingungen für einen Aufenthalt im Gastland bilden, also etwa Leistungen, die einen Ersatz für Schädigungen darstellen, die dem passiven Dienstleistungsempfänger im Rahmen seines Aufenthalts im Gastland zustoßen. 108 Fünfter Jahresbericht der Kommission an das Europäische Parlament über die Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts 1987, KOM (88) 425 endg., ABI. 1988 C 310, S. 1 ff., S. 16. 109 Hailbronner. Ausländerrecht, 1. Auf!. 1984, Ziff. 61; Magiera, DÖV 1987, S. 221/ 226. 110 4. Kapitel B V.2.; 5. Kapitel A V.

154

6. Kap.: Inhalt der passiven Dienstleistungsfreiheit

In dieser Hinsicht sollte er nicht anders behandelt werden als Inländer. Dies entschied unlängst der EuGH in der Rs. 186/87 (Cowan) 111 im Hinblick auf staatliche Entschädigungsleistungen für die Opfer von Straftaten. Solche Leistungen sind zwar nicht als Dienstleistungen i. S. v. Art. 60 zu betrachten. Dennoch würde der Ausschluß ausländischer EG-Bürger eine unzulässige Behinderung des passiven Dienstleistungsverkehrs darstellen, da der Staat hier letztlich einen Ausgleich für Schäden gewährt, deren Eintritt er selbst hätte verhindern müssen, und zwar auch bei Gebietsfremden (z. B. Touristen). Sachlich gerechtfertigte Gründe für eine Ungleichbehandlung sind nicht gegeben. Es handelt sich bei derartigen Entschädigungsleistungen nicht um Sozialleistungen im eigentlichen Sinn. Der Anspruch ergibt sich nicht aus der Person oder den persönlichen Verhältnissen des passiven Dienstleistungsempfängers, also aus Umständen, die dieser gewissermaßen "mitgebracht" hat, sondern aus Umständen, die erst im Gastland aufgetreten sind und für deren Verhinderung der Gaststaat die Verantwortung übernommen hat. Das Vermögen des ausländischen EG-Bürgers wird durch diese Leistung auch nicht, wie sonst bei Sozialleistungen, auf Kosten der Allgemeinheit vermehrt. Es wird im Hinblick auf seine Person und sein Vermögen lediglich der Zustand (soweit möglich) wiederhergestellt, der bei seiner Eimeise bzw. vor Eintritt des schädigenden Ereignisses bestand. Ähnliches gilt nach Auffassung des EuGH etwa auch für Vorschriften, die den Erwerb oder die Miete von mit öffentlichen Mitteln errichteten oder renovierten Wohnungen oder den Zugang zu verbilligten Immobiliarkrediten den eigenen Staatsangehörigen vorbehalten. Italienische Vorschriften dieses Inhalts wertete der EuGH in einem Urteil vom 14. 1. 1988 112 als Verstoß gegen Art. 52 und 59 EWGV. Dieser Entscheidung wird man vor allem im Hinblick auf Niederlassungsberechtigte, aber auch auf aktive Dienstleistungserbringer zustimmen können, da diese Personengruppen bei dauernder oder vorübergehender Ausübung ihrer gewerblichen Tätigkeiten im Gastland dieselben staatlich vorgesehenen Rahmenbedingungen beanspruchen können müssen wie Inländer. I I3 Im Hinblick auf passive Dienstleistungsempfänger, die sich in aller Regel nur vorübergehend und ohne eigene Entfaltung gewerblicher Aktivitäten im Gastland autbalten, mag eine Gewährung derartiger Rahmenbedingungen auf den ersten Blick als nicht erforderlich scheinen: Ein Tourist kauft z. B. kaum je eine Woh111 NJW 1989, S. 2183 f. Näher 3. Kapitel E II. und III. Auch die Kommission war dieser Auffassung, stellte jedoch klar, daß der passive DienstIeistungsempfänger keinen gemeinschaftsrechtlichen Anspruch auf Teilhabe an den eigentlichen Sozialleistungen des Gastlandes habe. 112 Rs. 63/86 (Kommission/ltalien), EuGHE 1988,29/48 ff. 113 Zu aktiven Dienstleistungserbringern Ziff. 18 f. der UrteilsgTÜnde. GA Luis da Cruz Vi/aca hatte dagegen eine Beeinträchtigung des Dienstleistungsverkehrs verneint (Schlußanträge, Ziff. 59 ff.).

E. Soziale Ansprüche im Gastland?

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nung und benötigt auch selten einen Immobiliarkredit. Anders kann es aber z. B. schon bei einem längerfristigen Kuraufenthalt aussehen (Miete einer Wohnung) oder bei Touristen, die immer wieder an einen Urlaubsort zurückkehren und sich deshalb dort eine Ferienwohnung kaufen wollen. Für derartige Fälle müssen auch diesen passiven Dienstleistungsempfangern die entsprechenden Rahmenbedingungen für ihren längeren oder wiederholten Aufenthalt gewährt werden. In einem weiteren Urteil in einem gegen Griechenland gerichteten Vertragsverletzungsverfahren nahm der EuGH auf diese Entscheidung Bezug 114. In diesem Verfahren ging es um griechische Rechtsvorschriften, die Ausländer an Erwerb und längerfristiger Miete von Grundstücken "in Grenzgebieten" hindern (diese Gebiete machen etwa 55 % des griechischen Territoriums aus). Der EuGH sah hierin zu Recht einen Verstoß gegen Art. 48 und 52, aber auch gegen Art. 59 EWGV. Unter Berufung auf das soeben beschriebene Urteil vom 14. 1. 1988 sah er im Verbot des Erwerbs und der Miete von Grundstücken eine nicht zu rechtferti gende Behinderung (auch) der aktiven Dienstleistungserbringer. 115 Entsprechend den obigen Ausführungen ist auch hier zudem eine unzulässige Behinderung der passiven Dienstleistungsempfänger anzunehmen.

114 115

Rs. 305/87 (Kommission / Griechenland), Urt. vom 30. 5. 1989. Urteilsgründe, Ziff. 24-27.

7. Kapitel

Die aufenthaltsrechtlichen Begleitrechte des passiven Dienstleistungsempfängers und ihre Eingrenzung durch das Element der Finalität A. Die Regelung im Gemeinschaftsrecht I. Die Regelung im EWGV

Wie bei der aktiven Dienstleistungsfreiheit der Dienstleistungserbringer muß bei der passiven Dienstleistungsfreiheit der Dienstleistungsempfänger die Möglichkeit haben, ungehindert in einen anderen Mitgliedstaat einzureisen und sich dort aufzuhalten, um die Dienstleistung entgegenzunehmen, und anschließend wieder ungehindert auszureisen. Der EWGV gibt in Art. 60 Abs. 3 nur dem aktiven Dienstleistungserbringer ausdrücklich das Recht, sich zwecks Erbringung seiner Leistung vorübergehend im Gastland aufzuhalten. Diese Regelung dürfte ihren Grund jedoch vor allem darin haben, die Grenze zwischen Niederlassungsund aktiver Dienstleistungsfreiheit insbesondere durch die Verwendung des Wortes "vorübergehend" etwas klarer zu ziehen. Aus ihr kann nicht etwa im Umkehrschluß hergeleitet werden, daß für den passiven Dienstleistungsempfänger ein entsprechendes Recht auf Einreise und Aufenthalt im Gastland ausgeschlossen werden sollte. Vielmehr ergibt sich aus der Systematik des Dienstleistungskapitels, das nach heutigem Verständnis alle drei Grundtypen des Dienstleistungsverkehrs möglichst lückenlos erfassen und liberalisieren soll, unzweifelhaft, daß auch der passive Dienstleistungsempfänger unmittelbar aus Art. 59 ein Recht auf Einreise und Aufenthalt für die Dauer der Entgegennahme der Dienstleistungen herleiten kann. Es sind keine Gründe ersichtlich, ihm dieses "Begleitrecht" im Gegensatz zum aktiven Dienstleistungserbringer zu verweigern: Ein deutscher Patient muß sich zur Behandlung genausogut zum französischen Arzt begeben können wie umgekehrt. Nur so kann ein Patient die Vorteile einer besonders ausgestatteten Spezialklinik, ein Tourist die Annehmlichkeiten eines schöngelegenen Freizeitparks in Anspruch nehmen. 11. Das Prinzip der "enumerativen" Aufenthaltsrechte im Gemeinschaftsrecht

Es gibt bislang kein allgemeines, von der Ausübung eines gemeinschaftsrechtlich speziell geregelten Freizügigkeitsrechts unabhängiges allgemeines Aufent-

A. Die Regelung im Gemeinschaftsrecht

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haltsrecht für alle EG-Bürger im Gebiet der Europäischen Gemeinschaft. Beim gegenwärtigen Entwicklungsstand des Gemeinschaftsrechts muß an dem Prinzip festgehalten werden, daß ein Aufenthaltsrecht grundsätzlich nur in den im Gemeinschaftsrecht vorgesehenen Fällen besteht, regelmäßig also nur für EG-Bürger, die von einem der Freizügigkeitsrechte des EWGV Gebrauch machen, und deren Angehörige, soweit das Sekundärrecht dies vorsiehtl. Wer also heute als EG-Angehöriger in einen anderen Mitgliedstaat reisen und sich dort aufhalten will, muß nach wie vor grundsätzlich einen gemeinschaftsrechtlich zulässigen Grund für seinen Aufenthalt haben 2 , wobei eine solche Legitimation immerhin für die meisten und wichtigsten Aufenthaltsarten heute praktisch problemlos gefunden werden kann (etwa als Geschäftsreisender, Tourist, Patient, Arbeitssuchender, selbständiger oder unselbständiger Erwerbstätiger etc.)3. Dennoch hat das Festhalten an diesem Prinzip seine praktische Bedeutung: Solange es keine sekundärrechtliche Regelung eines allgemeinen Aufenthaltsrechts mit entsprechenden Sicherungsmechanismen gibt, bleibt es den Mitgliedstaaten immer noch möglich, auf den begrenzten Freizügigkeitskatalog des Gemeinschaftsrechts zurückzugreifen, um Gebietsfremde ohne anerkannten Aufenthaltszweck und ohne Mittel zur eigenen Existenzsicherung auszuweisen. Auch aus der passiven Dienstleistungsfreiheit läßt sich nicht beliebig für jeden Gemeinschaftsbürger bei jedem denkbaren Aufenthalt ein Aufenthaltsrecht herleiten, obgleich bei so gut wie jedem Auslandsaufenthalt Dienstleistungen entgegengenommen werden. Die passive Dienstleistungsfreiheit kommt nämlich nicht bereits zur Anwendung, wenn anläßlich eines Auslandsaufenthalts Dienstleistungen in Anspruch genommen werden, sondern nur wenn deren Entgegennahme den (oder zumindest einen) Anlaß des Aufenthalts bildet. 4 Von diesem Grundsatz der "enumerativen Aufenthaltsrechte" hat der EuGH allerdings für einen wichtigen Bereich eine Ausnahme gemacht: Wer als Student oder Auszubildender in einem anderen Mitgliedstaat eine staatliche Bildungseinrichtung in Anspruch nehmen möchte, deren Lehrangebot auf eine berufliche Tätigkeit vorbereitet, hat nach der Rechtsprechung des EuGH einen Anspruch auf gleichberechtigten Zugang zu diesen Einrichtungen. Der EuGH leitet dies aus dem allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art. 7 EWGV mit der (zweifelhaften) Begründung her, das Berufsbildungswesen gehöre zum Anwendungsbereich des EWGV5. Dieser Standpunkt impliziert notwendig ein Aufenthaltsrecht I Vgl. etwa Lasok, Professions, S. 43 ff. ; Hackspiel; NJW 1989, S. 2166/2169; A. A. Durand, ELRev 1979, S. 3/11, der aus Art. 3 c) EWGV allgemeine Bewegungsfreiheit für alle EG-Angehörigen innerhalb der Gemeinschaft herleiten will. 2 Hailbronner, Ausländerrecht, 1. Auf!. 1984, Ziff. 61; 2. Auf!. 1989, Ziff. 953. 3 Vgl. Hailbronner, ZAR 1985, S. 108/109. 4 Element der Finalität, dazu u. C III. 5 EuGH Rs. 293/83 (Gravier), EuGHE 1985, 593. Näher zu dieser Entscheidung Oppermann, Europäisches Gemeinschaftsrecht und deutsche Bildungsordnung. "Gravier" und die Folgen, 1987.

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7. Kap.: Die aufenthaltsrechtlichen Begleitrechte

für die Dauer der in Anspruch genommenen Ausbildung, das allerdings aus keinem Freizügigkeitsrecht hergeleitet werden kann. Letztlich wird man auch das Aufenthaltsrecht nur aus Art. 7 EWGV herleiten können, da es zur Verwirklichung des vom EuGH anerkannten und mit Art. 7 begründeten Anspruchs unabdingbar ist. Im Hinblick auf die besondere Situation im Bildungsrecht dürfte diese Rechtsprechung jedoch Ausnahmecharakter behalten. Sie ist im übrigen auch nicht als Ausprägung der passiven Dienstleistungsfreiheit zu verstehen, da der EuGH den Anspruch zutreffend nicht aus Art. 59 (lex specialis zu Art. 7) hergeleitet hat, woraus sich bereits entnehmen ließ, daß staatliche Bildungs1eistungen von ihm nicht als Dienstleistungen i. S. v. Art. 60 EWGV betrachtet werden. Dies wurde nunmehr in einem neuen Urteil vom 27.9.1988 ausdrücklich bestätigt 6 • Auch in anderer Richtung hat der EuGH die längerfristigen Aufenthaltsmöglichkeiten von EG-Bürgern erweitert, nämlich durch eine weite Auslegung des Arbeitnehmerbegriffs in Art. 48 EWGV: Jeder EG-Bürger kann sich auch durch die "ernsthafte" Ausübung einer "nicht völlig untergeordneten und unwesentlichen" Teilzeitbeschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat ein unbegrenztes Aufenthaltsrecht als Wander arbeitnehmer i. S. v. Art. 48 verschaffen 7 , und im übrigen seinen Lebensunterhalt aus seinem Vermögen bestreiten oder sich mit dem Einkommen aus der Teilzeitarbeit begnügen. Der Betreffende hat im Gastland sogar zur Ergänzung seiner Einkünfte Anspruch auf Sozialhilfe1eistungen 8. Allerdings besteht ein solcher Anspruch aus Art. 7 Abs.2 VO 1612/68 nach einem neueren Urteil des EuGH nur für Arbeitnehmer, nicht dagegen zugunsten von Zuwanderern, die auf der Suche nach einer Beschäftigung sind 9 • Dabei spielt es nach Auffassung des EuGH keine Rolle, ob der Gebietsfremde mit seinem Aufenthalt in erster Linie vielleicht völlig andere Motive verbindet, soweit seine Tätigkeit nur den obengenannten (recht vagen) Anforderungen genügt.

Rs. 263/86 (Humbel und Edel). EuGH Rs. 53/81 (Levin), EuGHE 1982,1035/1050. Dies gilt nach dieser Entscheidung auch, wenn die dadurch erzielten Einkünfte unter dem vom Gastland vorgeschriebenen Existenzminimum liegen. Zu dieser Entscheidung Druesne, RTDE 1982, S. 556 ff. Eine Einschränkung erfolgte durch das Urteil vom 31. 5.1989 in der Rs. 344/87 (Bettray), in der staatlich finanzierte Tätigkeiten, die nur ein Mittel der Rehabilitation und Wiedereingliederung (etwa von Drogenabhängigen) darstellen, vom Anwendungsbereich der Art. 48 ff. ausgenommen wurden. 8 EuGH Rs. 139/85 (Kempf), EuGHE 1986, 1741/1750 f.; dazu Hailbronner, ZAR 1988, S. 3/4 9 EuGH Rs. 316/85, Urt. v. 18.6. 1987 (Lebon), EuGHE 1987, 2811; vgl. Hailbronner, ZAR 1988, S. 3/4. 6 7

A. Die Regelung im Gemeinschaftsrecht

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III. Die Richtlinienvorschläge der Kommission für ein allgemeines Aufenthaltsrecht 1. Der frühere Vorschlag für ein allgemeines Aufenthaltsrecht

Ein erster Vorschlag der Kommission für eine RL zur Gewährung eines allgemeinen Aufenthaltsrechts für alle EG-Bürger in anderen Mitgliedstaaten, der auf das Jahr 1979 zurückging 10, wurde vom Rat nicht verabschiedet. In der Präambel dieses Entwurfs wurde zunächst eingeräumt, daß der EWGV keine Befugnisse hinsichtlich des freien Personenverkehrs unabhängig von der Ausübung einer Erwerbstätigkeit vorsehe. Gleichzeitig wird aber auch die entscheidende Bedeutung des freien Personenverkehrs als einer der Grundlagen der Gemeinschaft hervorgehoben. Dieser könne nur dann ganz verwirklicht werden, wenn das ständige Aufenthaltsrecht den Staatsangehörigen der Gemeinschaft, die dieses nach geltendem Gemeinschaftsrecht noch nicht hätten, sowie ihren Familienangehörigen zuerkannt werde. Zu diesem Zweck enthielt der RL-Vorschlag im wesentlichen folgende Regelungen: Die Mitgliedstaaten heben die Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen auch für die Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaates und (mit gewissen Einschränkungen) deren nahe Angehörige mit Drittlandsangehörigkeit auf, die in ihrem Hoheitsgebiet wohnen wollen und die noch nicht unter die bisherigen Freizügigkeitsregelungen fallen (Art. 1). Sie gestatten diesen Personen auch die freie Ausreise und stellen ihnen einen entsprechenden Personalausweis bzw. Reisepaß aus (Art. 2). Einreise und zeitlich unbeschränkter Aufenthalt werden den begünstigten Personen gestattet (Art. 3 f.). Allerdings kann von den Begünstigten nach Art. 4 Abs. 2 der Nachweis verlangt werden, daß sie über ausreichende Mittel verfügen, um ihren Unterhalt und den ihrer unterhaltsberechtigten Familienangehörigen nach Maßgabe der jeweiligen einzelstaatlichen Vorschriften über das vorgeschriebene Existenzminimum zu bestreiten. Das ständige Aufenthaltsrecht steht den Angehörigen des Begünstigten auch nach dessen Tod zu (Art. 4 Abs. 3). Das Aufenthaltsrecht erstreckt sich auf das ganze Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates (Art. 7). Einschränkungen dürfen nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit nach Maßgabe der RL 64/221 11 erfolgen (Art. 9).

10 Ursprünglicher Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie des Rates über das Aufenthaltsrecht der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats, vorgelegt am 13. 7. 1979, ABI. 1979 C 207/14; dazu die Stellungnahme des EP vom 17.4. 1980 mit Änderungen des von der Kommission vorgeschlagenen Textes, ABI. 1980 C 117/48, die von der Kommission im geänderten Vorschlag vom 1. 7. 1980 (AbI. 1980 C 188/7) übernommen wurden; erneute Änderung in ABI. 1985 C 171/8. Zu diesem Vorschlag u.a. Grabitz-Randelzhojer. Art. 56, Rz. 15 f.; EG-Kommission (Hrsg.), 21. Gesamtbericht 1987 (1988), S. 129. 11 ABI. 1964, S. 850.

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7. Kap.: Die aufenthaltsrechtlichen Begleitrechte

2. Die neuen Vorschläge vom 26.6.1989 Wegen des anhaltenden Widerstands verschiedener Mitgliedstaaten, die namentlich eine Belastung ihrer Sozialsysteme durch ausländische Studenten befürchteten, zog die Kommission ihren ursprünglichen Vorschlag am 3.5.1989 zurück und legte am 26.6. 1989 den Entwurf für eine differenziertere und restriktivere Regelung vor. 12 Danach sind nunmehr drei RL vorgesehen: Die erste betrifft das Aufenthaltsrecht für Studenten. Es soll allen Studenten aus anderen Mitgliedstaaten sowie ihren Ehegatten und unterhaltsberechtigten Kindern gewährt werden, soweit sie bei einer Lehranstalt zwecks beruflicher Bildung eingeschrieben sind und Krankenversicherungsschutz genießen. Diese Personen können dem Krankenversicherungssystem des Aufnabrnelandes zu denselben Bedingungen beitreten wie Inländer. Soweit solche Studenten der Sozialhilfe zur Last fallen, kann der Aufnahmestaat die Erstattung der geleisteten Beträge vom Herkunftsland verlangen. Der zweite RL-Entwurf betrifft Rentner, die früher abhängig oder selbständig beschäftigt waren, sowie deren Familienangehörige. Auch ihnen wird ein Aufenthaltsrecht gewährt, wenn sie eine Rente beziehen und krankenversichert sind. Der dritte Entwurf gewährt allen sonstigen Gemeinschaftsbürgern und deren Familienangehörigen ein Aufenthaltsrecht, wenn sie krankenversichert sind und über ausreichende Existenzmittel verfügen, die sicherstellen, daß sie nicht der Sozialhilfe des Aufnahmestaates zur Last fallen. Nach allen drei RL-Entwürfen gelten die Vorschriften der RL 64/221 über Einschränkungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit entsprechend. Alle Entwürfe gestatten es den Ehegatten der primär Aufenthaltsberechtigten und deren Kindern unter 21 Jahren, für die Dauer des Aufenthalts eine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis auszuüben (vgI. Art. 11 VO 1612/68). Nach einer Neufassung aller drei Entwürfe vom 21. 12. 1989 sollen die Begünstigten aller Richtlinien alle Rechte aus der VO 1612/68 und 64/221 genießen, wobei unklar bleibt, welchen Sinn dann noch der Verweis auf einzelne Bestimmungen dieser Rechtsakte haben soll. Im übrigen findet die RL 68/360 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen z. T. entsprechende Anwendung. Allerdings kann bei Studenten die Dauer der Aufenthaltserlaubnis auf die Dauer der Ausbildung beschränkt werden. Bei den beiden anderen Gruppen soll eine Beschränkung auf fünf Jahre (mit Verlängerungsmöglichkeit) erfolgen. Art. 6 Abs. la der RL 68/360, wonach die Aufenthaltserlaubnis für das gesamte Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaaten zu erteilen ist, soll für Studenten nicht gelten. 12

ABI. 1989 C 191/2-6, geändert am 21. 12. 1989, ABI. 1990 C 26/15.

A. Die Regelung im Gemeinschaftsrecht

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Während der frühere einheitliche Entwurf eine einstimmige Verabschiedung vorsah, können die vorgeschlagenen Richtlinien für Studenten (gestützt auf Art. 7 EWGV!) und Rentner (gestützt auf Art. 49 und 54 EWGV) nach Auffassung der Kommission nunmehr mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden, während die RL für Nichterwerbstätige, deren Grundlage Art. 100 EWGV sein soll, auf jeden Fall der Einstimmigkeit bedarf. IV. Die sekundärrechtliche Regelung in RL 73/148

Wie für die aktive Dienstleistungsfreiheit bildet auch für die passive Dienstleistungsfreiheit die RL 73/148 13 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Niederlassung und des freien Dienstleistungsverkehrs den Ausgangspunkt der Betrachtung. Durch sie wird eine möglichst weitgehende Liberalisierung in Bezug auf die essentiellen "Begleitrechte" Einreise, Aufenthalt und Ausreise (u. a.) der Teilnehmer am Dienstleistungsverkehr bezweckt, die unabdingbare Voraussetzung für die Verwirklichung der Freizügigkeit sind. Der freie Grenzübertritt ist damit ein für den Gemeinschaftsbürger besonders sichtbarer Ausdruck europäischer Einigung. Die RL räumt Erbringern und Empfängern von Dienstleistungen einen Sonderstatus ein, der sie von den allgemeinen ausländerrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten weitgehend ausnimmt 14. Dementsprechend wird bereits in der Präambel ausdrücklich folgendes festgestellt: ,,[... ] der freie Dienstleistungsverkehr erfordert, daß dem Leistungserbringer und dem Leistungsempjänger ein Aufenthaltsrecht entsprechend der Dauer der Dienstleistung gewährt wird". Die Regelungen dieser Richtlinie beziehen daher den Dienstleistungsempfänger ein und stellen ihn in fast allen Punkten dem gebietsfremden Dienstleistungserbringer gleich. Im einzelnen wird dem Dienstleistungsempfänger (und seinen Familienangehörigen) grundsätzlich dasselbe Recht auf Einreise, Aufenthalt und Ausreise gewährt wie dem Erbringer von Dienstleistungen:

13 ABI. 1973 L 172/14; sie ersetzte die RL des Rates vom 25. 2. 1964 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Niederlassung und des Dienstleistungsverkehrs (ABI. 1964, S. 845). Sie gilt nur für natürliche, nicht für juristische Personen und Gesellschaften. Für letztere lassen sich entsprechende Rechte unmittelbar aus Art. 52 und 59 EWGV herleiten, vgl. zuletzt EuGH Rs. 81/87 (Daily Mail), Urt.v. 27. 9.1988; dazu Sedemund I Montag, NJW 1989, S. 1409/1412. 14 V gl. für die Bundesrepublik Deutschland Nr. 5 Verwaltungsvorschrift zu § 1 AuslG und Knirsch, Deutsches Ausländerrecht, 1988, Ziff. 22.1.1.

11 Völker

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7. Kap.: Die aufenthaltsrechtlichen Begleitrechte

1. Einreise

Gemäß Art. 1 Abs. 2 a) haben die Mitgliedstaaten nach Maßgabe der RL die Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für die Empfänger einer Dienstleistung und bestimmte Familienangehörige (Art. 1 Abs. 2) aufzuheben. Dies umfaßt die ungehinderte Einreise bei Vorlage eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses ohne Einreisesichtvennerk (Art. 3) 15. Der Heimatstaat ist verpflichtet, dem Ausreisenden einen Personalausweis oder einen Reisepaß auszustellen oder zu verlängern, der zumindest für alle Mitgliedstaaten und die unmittelbar zwischen ihnen liegenden Durchreiseländer gilt (Art. 2 Abs. 2 und 3). Bei der Einreise besteht über die Vorlage der genannten Papiere hinaus grundsätzlich keine Verpflichtung, auf Fragen nach der Herkunft, dem Wohnsitz sowie dem Ziel und der Dauer der Reise, Art und Dauer einer Beschäftigung u.dgl. zu antworten 16. In einer Entscheidung vom 27. 4. 1989 17 befand der EuGH allerdings die belgische Praxis für rechtmäßig, an der Grenze unsystematisch und stichprobenartig zu kontrollieren, ob Angehörige anderer Mitgliedstaaten, die in Belgien ihren festen Wohnsitz haben, die Bescheinigung über ihr Aufenthaltsrecht bei sich führen. Nach belgischem Ausländerrecht sind alle Angehörigen dieses Personenkreises, die älter als 15 Jahre sind, verpflichtet, diese Bescheinigung ständig bei sich zu führen und auf Verlangen Amtspersonen vorzuzeigen. Die gleiche Verpflichtung trifft aber auch alle Belgier hinsichtlich ihrer Ausweispapiere. Ein Verstoß ist für Ausländer und Belgier gleichennaßen bußge1dpflichtig. Daher wird bei Nichtvorlage der Bescheinigung über die Aufenthaltsberechtigung an der Grenze auch nicht die Einreise verwehrt. Es besteht lediglich die Möglichkeit der Verhängung eines Bußgelds. Belgien berief sich daher darauf, es handle sich um keine Grenzkontrollen, sondern um polizeirechtliche Kontrollen, wie sie auch im Landesinneren routinemäßig durchgeführt würden. Der EuGH folgte dem, da die Vorlage der Bescheinigung nicht Bedingung der Einreise sei. Er betonte jedoch, daß systematische, willkürliche oder unnötig belästigende Kontrollen gemeinschaftswidrig wären. 18 Dies sei jedoch bei den sporadischen belgischen Kontrollen nicht der Fall. Offen blieb, ob die Pflicht zum ständigen Beisichführen der Aufenthaltserlaubnis gemeinschaftskonfonn ist, da die Kommission ihre Klage auf die Grenzkontrollen beschränkt hatte. 15 Außer für Familienangehörige des Dienstleistungsempfängers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates besitzen, Art. 3 Abs. 2. 16 Schlußanträge GA Warner in Rs. 157/79 (Pieck), EuGHE 1980, 2171/2200 f.; Hailbronner, Ausländerrecht, Ziff. 773; Stigi, VJIL 1987, S. 369/380 f. Diese Ansicht vertrat jüngst auch Lord Cockfield für die Kommission in Beantwortung einer Anfrage, die sich auf häufig von britischen Zollbeamten gestellte Fragen nach Zweck und Dauer des Aufenthalts eines Einreisenden bezog. Derartige Fragen seien nur zulässig, wenn sie in einem besonderen Fall aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit bzw. der Volksgesundheit oder im Rahmen der den Zollbehörden gegenwärtig obliegenden Steuer- und anderen Verwaltungskontrollen gerechtfertigt seien (Antwort vom 15.4. 1988, ABI. 1988 C 263/9). 17 Rs. 321/87 (Kommission / Belgien), noch nicht veröffentlicht.

A. Die Regelung im Gemeinschaftsrecht

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Einem Touristen darf nach zutreffender Auffassung der Kommission auch nicht deshalb von vornherein die Einreise verweigert werden, weil er nur eine geringe Menge Geldes mit sich führt 19. Allerdings müssen nach wie vor Grenzkontrollen im Hinblick auf die Identität des Reisenden und den Inhalt seines Reisegepäcks in Kauf genommen werden 20. Es gibt daher gemeinschaftsrechtliche Bestrebungen, die Grenzformalitäten an den Binnengrenzen allmählich zu verringern und letztlich ganz abzubauen 21. Die konkretesten Ansätze hierzu bilden bislang die Richtlinienvorschläge der Kommission, die neuerdings auf eine schrittweise völlige Abschaffung dieser Kontrollen in Verbindung mit den hierfür erforderlichen rechtsangleichenden Maßnahmen auf polizei- und steuerrechtlichem Gebiet zielen 22. Bis 1992 sollen auf diese Weise die Polizei- und Steuerkontrollen an den innergemeinschaftlichen Grenzen abgeschafft bzw. auf Stichproben reduziert und die für Reisende geltenden Mehrwertsteuer-Freibeträge erhöht werden 23. Ob dieses Ziel in dem genannten Zeitrahmen erreicht werden kann, erscheint allerdings zweifelhaft, da die Mitgliedstaaten in Bereichen wie BekämpZiff. 15 der Urteilsgründe. Diesen Standpunkt vertrat unlängst für die Kommission Lord Cockfield in Beantwortung der Anfrage einer Abgeordneten des EP vom 22. 2. 1988. Es ging um eine Belgierin, der die Einreise als Touristin nach Großbritannien verweigert wurde, weil sie nur 8000 belgisehe Franken bei sich hatte und daher nach Auffassung der Zollbeamten Grund zu der Annahme bestand, sie werde der Staatskasse zur Last fallen. Die Kommission sah dies im konkreten Fall nicht als durch Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gerechtfertigt an, weil hier in unzulässiger Weise auf ein "zukünftiges und ungewisses Ereignis" verwiesen werde (Antwort vom 18.5. 1988, ABI. 1988 C 303/ 36). Vgl. auch EuGH Rs. 157/79 (Pieck), EuGHE 1980, 2171/2184 f. - Entsprechend hat die Kommission unlängst ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Niederlande eingeleitet, weil Einreisende nach Ziel und Dauer der Reise sowie nach ihren finanziellen Mitteln gefragt würden (Rs. 68/89, Kommission / Niederlande, vgl. Bull.EG 1989 Nr. 3, S. 87). 20 Näher Van der Woudel Mead, CMLRev 1988, S. 117/133 ff. 21 Neuhaus I Rogalla, EuR 1984, S. 203 ff., befürworten eine Beseitigung sämtlicher Hindernisse für den freien Personenverkehr auf der Grundlage von Art. 3 c) EWGV. 22 Ausgangspunkt bildete der Vorschlag für eine Entschließung des Rates über die Erleichterung der Bedingungen, unter denen die Kontrolle der Bürger der Mitgliedstaaten an den Binnengrenzen erfolgt vom 9. 7. 1982 (ABI. 1982 C 197/6) und für eine (auf Art. 100 EWGV gestützte) RL des Rates zur Erleichterung der Kontrollen und Förmlichkeiten an den innergemeinschaftlichen Grenzen vom 7.5.1985 (ABI. 1985 C 47/5); erweiterte Version in ABI. 1985 C 131/5-11, nunmehr als Vorschlag für eine RL des Rates zur ersten Phase der Abschaffung der für die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten geltenden Kontrollen und Förmlichkeiten an den innergemeinschaftlichen Grenzen. Am 23. 12. 1988 legte die Kommission schließlich den Vorschlag für eine Verordnung über den Abbau von Grenzkontrollen im Straßen- und Binnenschiffahrtsverkehr vor, KOM (88) 800 endg., ABI. 1989 C 58/7. Vgl. auch KOM (88) 640 endg. - Näher zum gegenwärtigen Stand im Steuerrecht und den geplanten Änderungen Van der Woude I Mead, CMLRev 1988, S. 117/136 ff.; vgl. auch Stigi, VJIL 1987, S. 369/385 ff. und KOM (88) 331 endg., Ziff. 3.1.1. (S. 22 f.). 23 EG-Kommission (Hrsg), Das Europa der Bürger, Stichwort Europa Nr. 3/1986, S. 6 f.; dies. (Hrsg.), Die EG und der Fremdenverkehr, Stichwort Europa Nr. 9/1987, S. 5 f . 18 19

11*

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7. Kap.: Die aufenthaltsrechtlichen Begleitrechte

fung von Terrorismus, Drogen- und illegalem Waffenhandel auf die Wahrung ihrer Souveränität bedacht sind. Jedenfalls wird sich eine Beseitigung der Binnengrenzen nur bei einer gleichzeitigen einheitlichen Verstärkung der Außengrenzen der Gemeinschaft verwirklichen lassen 24 . Bislang wurden auch nur im bilateralen Bereich einige Formalitäten abgebaut, z. B. durch eine Vereinbarung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich vom 31. 7. 1984 25 . Am 14.6. 1985 traten die Benelux-Länder im Abkommen von Schengen dieser Vereinbarung bei26 • Italien hat seinen Willen bekundet, ebenfalls beizutreten. 2. Aufenthalt und Ausreise Weiterhin hat der passive Dienstleistungsempfänger ein Aufenthaltsrecht für die Dauer der Erbringung der Dienstleistung (Art. 4 Abs. 2)27. Er hat auch ein Recht auf ungehinderte Ausreise, für die es ebenfalls lediglich der Vorlage eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses bedarf (Art. 2). Die nach den nationalen Rechtsvorschriften zu erteilende Aufenthaltserlaubnis hat für die Begünstigten der RL nurmehr deklaratorische Wirkung 28 . Allerdings besteht bei mehr als dreimonatigem Aufenthalt die Möglichkeit einer einzelstaatlichen Anzeigepflicht (Art. 4 Abs.2 VA 3 Satz 2)29. Weiterhin kann der einzelne Mitgliedstaat bei einem derartigen Aufenthalt vom Dienstleistungsempfänger (oder seinen Familienangehörigen) den Nachweis verlangen, daß er zu den durch die RL Berechtigten gehört (Art. 6 lit. b). 24 So u.a. für die Kommission am 4. 11. 1987 Lord Cockfield in Beantwortung von Anfragen (ABI. 1988 C 296/3: "Es liegt in der Logik eines solchen Systems, daß die Kontrollen an den Außengrenzen der Gemeinschaft nicht nur fortbestehen sondern verstärkt werden müssen, weil es sich dabei um die einzigen verbleibenden Kontrollen handelt." 25 Deutsch-Französisches Abkommen zum schrittweisen Abbau der Kontrollen an der deutsch-französischen Grenze vom 31. 7.1984, Bull.EG 1984 Nr. 7-8, S. 133 f. = BGBI. 1984 II, S. 768. Dazu Stigi, VJIL 1987, S. 369/395 f. 26 European Yearbook 1985, S. 15. 27 Wobei bei einem Aufenthalt, der drei Monate übersteigt, zum Nachweis des Aufenthaltsrechts eine (deklaratorische) Aufenthaltserlaubnis auszustellen ist, Art. 4 Abs.2, UA2. 28 EuGHRs. 8/77 (Sagulo), EuGHE 1977, 1495/1503 ff.; Rs. 157/79 (Pieck),EuGHE 1980, 2171 /2183 ff. Zu den noch möglichen Sanktionen bei Nichteinholung einer Aufenthaltserlaubnis Randelzhofer, Der Einfluß des Völker- und Europarechts auf das deutsche Ausländerrecht, S. 42 ff. 29 Interessant ist insoweit die Entscheidung vom 12. 12. 1989 in der Rs. 265/88 (Messner). Ein italienisches Gericht, die Pretura Volterra, hatte dem EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens am 14.9. 1988 die Frage vorgelegt, ob eine italienische Vorschrift gemeinschaftskonforrn ist, die anderen EG-Angehörigen die Verpflichtung auferlegt, innerhalb von drei Tagen nach Betreten des Hoheitsgebietes eine Aufenthaltserklärung abzugeben, und für den Fall der Nichterfüllung dieser Verpflichtung eine Strafe androht (vgl. ABI. 1988 C 320/8). Der EuGH befand dies für gemeinschaftswidrig, da die Frist zu kurz und die Strafandrohung unverhältnismäßig sei. (Tenor in ABI. 1990 C 14/7).

B. Das Verhältnis zu anderen Abkommen

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B. Das Verhältnis des Gemeinschaftsrechts zu anderen bi- und multilateralen Abkommen Insgesamt gesehen gehen die aufenthaltsrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus dem Gemeinschaftsrecht weit über die sonstigen Aufenthaltsrechte von Ausländern, namentlich auch über die - häufig eher restriktiv gehandhabten - bilateralen Regelungen in Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsverträgen hinaus 30. Aus dem im Rahmen des Europarats entstandenen Europäischen Niederlassungsabkommen (ENA) vom 13. 12. 1955 31 ergeben sich ebenfalls keine Aufenthaltsrechte von vergleichbarer Reichweite 32 : Es besteht zum einen die vage Verpflichtung der Mitgliedstaaten, den Angehörigen der anderen Vertragspartner die Einreise in ihr Gebiet zu vorübergehendem Aufenthalt zu erleichtern und ihnen auf ihrem Gebiet Freizügigkeit zu gewähren (Art. 1). Die Erleichterung eines längeren oder dauernden Aufenthalts von solchen Ausländern obliegt einem Staat nur, soweit "seine wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse es gestatten" (Art. 2). Dasselbe gilt für die Gestattung der Aufnahme einer selbständigen oder unselbständigen Erwerbstätigkeit (Art. 10). Zudem kann jeder Staat bei seiner Zustimmung zu einzelnen Bestimmungen in beliebigem Umfang Vorbehalte machen (Art. 26). - Immerhin sieht das Europäische Übereinkommen über die Regelung des Personenverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten des Europarats vom 13. 12. 1957 33 die Gestattung eines nicht Erwerbszwecken dienenden Aufenthalts bis zur Dauer von drei Monaten vor (Art. 1), wobei auch dieses Übereinkommen zahlreiche Einschränkungen und Ausnahmeregelungen enthält (z. B. in Art. 3, 4, 6 und 7), die es in seiner praktischen Wirksamkeit weit hinter den gemeinschaftsrechtlichen Regelungen zurückbleiben lassen. Allenfalls in bestimmten Ausnahmelagen stellt sich noch die Frage, ob ein EG-Bürger, der sich längere Zeit ohne Ausübung einer Erwerbstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat aufhält, aufenthaltsrechtlich nicht durch einen der noch bestehenden bilateralen Niederlassungsverträge besser gestellt ist als durch das Gemeinschaftsrecht. In diesem Zusammenhang ist zwischen aufenthaltsbegründenden und -beendenden Tatbeständen zu unterscheiden. Im Hinblick auf die erste Alternative bleibt festzuhalten, daß die genannten Abkommen bezüglich der Tatbestände, die ein Aufenthaltsrecht begründen, in aller Regel hinter dem Gemeinschaftsrecht zurückbleiben. Nur der EWGV und das entsprechende Sekundärrecht gewähren ein gesichertes Aufenthaltsrecht und den Anspruch auf 30 Näher Grabitz-RandelzhoJer, vor Art. 52, Rz. 12 ff.der darauf hinweist, daß in den bilateralen Vereinbarungen die Verpflichtung zur Inländergleichbehandlung bei der Zulassung zu wirtschaftlichen und beruflichen Tätigkeiten in der Regel unter den Vorbehalt des Aufenthaltsrechts gestellt wird (Rz. 16). 31 BOB!. 1959 H, S. 998. Dazu Goodwin-Gill, International Law and the Movement of Persons between States, 1978, S. 168 f. 32 Vg!. Tomuschat, DÖV 1974, S. 757/762; Grabitz-RandelzhoJer, vor Art. 52, Rz. 17; Hailbronner, Freizügigkeit der Arbeitnehmer in Europa, S. 11. 33 BGB!. 1959 I1, S. 390.

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7. Kap.: Die aufenthaltsrechtlichen Begleitrechte

Gleichbehandlung bei der Erbringung oder Entgegennahme von Dienstleistungen 34 . Auch der reine passive Dienstleistungsempfanger, der im Gastland keiner Erwerbstätigkeit nachgeht, wird also, soweit er sich zur Begründung seines Aufenthalts nicht mehr auf das Gemeinschaftsrecht berufen kann, in diesen Verträgen keine weitergehende Rechtfertigung seines Aufenthalts finden können. Dagegen lassen sich Konstellationen, bei denen bilaterale Abkommen gegenüber dem Gemeinschaftsrecht stärkeren Schutz bieten, in gewissen (seltenen) Fällen hinsichtlich aufenthaltsbeendender Tatbestände denken. Als Beispiel mag der Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Italien vom 21. 11. 1957 35 dienen. Nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 dieses Vertrages dürfen Staatsangehörige eines Vertragsstaates, die im Gebiet des anderen Vertrags staates ihren ordnungsgemäßen Aufenthalt haben, nur ausgewiesen werden, wenn Gründe der Sicherheit des Staates, der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder der Sittlichkeit es erforderlich machen. Nach Satz 2 ist nach einem ordnungsmäßigen Aufenthalt von mehr als 5 Jahren eine Ausweisung nur noch aus Gründen der Sicherheit des Staates und dann zulässig, wenn die übrigen, in Satz 1 angeführten Gründe besonders schwerwiegend sind. Das BVerwG legt diese Bestimmung folgendermaßen aus: "Die Ausweisung muß unvermeidbar erscheinen; die maßgebenden Gründe müssen so gewichtig sein, daß die Anwesenheit des Ausländers auch bei Anwendung strenger Maßstäbe nicht länger hingenommen werden kann"36. Wenn sich ein EG-Bürger also auf eine derartige bilaterale Regelung berufen kann, ist seine Stellung bei einer drohenden Ausweisung u. U. besser als nach Gemeinschaftsrecht. Die jeweils günstigere Regelung ist anzuwenden, da eine Besserstellung durch bilaterale Abkommen gemeinschaftsrechtlich nicht verboten oder beseitigt wird 37 .

c. Die Begrenzung des Aufenthaltsrechts bei der passiven Dienstleistungsfreiheit

I. Kein gemeinschaftsrechtIiches Verbleiberecht des passiven DienstIeistungsempfängers

Im Gegensatz zur Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Art. 48 Abs. 3 d) EWGV) und zur Niederlassungsfreiheit 38 gibt das sekundäre Gemeinschaftsrecht dem 34

Grabitz-Randelzho[er, vor Art. 52, Rz. 21.

37

Grabitz-Randelzho[er, vor Art. 52, Rz. 19.

35 BGBI. 1959 II, S. 949. 36 DÖV 1979, S. 828/829 (m.w.N.).

38 RL vom 17. 12. 1974 über das Recht der Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats,

nach Beendigung der Ausübung einer selbständigen Tätigkeit im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats zu verbleiben, ABI. 1975 L 14/10. Da es auch im Bereich des Niederlassungsrechts keine dem Art. 48 Abs. 3 d) EWGV entsprechende Regelung im EWGV gibt, wurde die RL auf Art. 235 EWGV gestützt.

C. Die Begrenzung des Aufenthaltsrechts

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gebietsfremden Erbringer und Empfänger von Dienstleistungen kein Verbleiberecht nach Beendigung des jeweiligen Dienstleistungsvorgangs. Der Dienstleistungsempfänger kann sich also zur Begründung eines fortgesetzten Aufenthalts nicht darauf berufen, er habe früher einmal eine bestimmte Dienstleistung, deretwegen er eingereist sei, in Anspruch genommen. Dies leuchtet auch ein, da es sich bei den von der aktiven und passiven Dienstleistungsfreiheit erfaßten Vorgängen um durch eine konkrete Zielsetzung begrenzte und dadurch zeitlich eingrenzbare Vorgänge handeln muß, bei denen normalerweise nicht für längere oder unbestimmte Zeit der Lebensmittelpunkt in einen anderen Mitgliedstaat verlagert wird. 11. Begrenzung des Aufenthaltsrechts durch die Dauer der in Anspruch genommenen Dienstleistungen Es ist davon auszugehen, daß für den gebietsfremden Dienstleistungsempfanger ein zwar auf die Dauer der Erbringung der Dienstleistung begrenztes, nicht aber ein unbefristetes Aufenthaltsrecht wie bei Wanderarbeitnehmern und Niederlassungsberechtigten, besteht. Dieses Recht ist allerdings nicht in jedem Fall von vornherein auf einen ganz konkreten Zeitraum beschränkt, da es sich seiner Zielsetzung nach auch auf längerfristige und nicht von vornherein zeitlich bestimmte oder beschränkte Vorgänge bezieht. Vielmehr ist es prinzipiell allein von der Dauer des in Anspruch genommenen Dienstleistungsvorgangs abhängig, die sich in vielen Fällen nicht von vornherein sicher abschätzen läßt (etwa bei einem Kuraufenthalt, dessen Dauer von der Geschwindigkeit der Genesung abhängig ist). Diese Auffassung vertrat auch GA Slynn in seinen Schlußanträgen zum "Gravier"-Verfahren, dort im Hinblick auf das Argument, berufsbildender Unterricht stelle allein schon deshalb keine Dienstleistung dar, weil solche grundsätzlich von kurzer Dauer seien und kein längeres Aufenthaltsrecht begründeten: "Es ist vorgetragen worden, Unterricht stelle deswegen keine Dienstleistung dar, weil Dienstleistungen grundsätzlich von kurzer Dauer seien und kein längeres Aufenthaltsrecht begründeten. Dies halte ich für einen falschen Ansatz. Das Aufenthaltsrecht muß auf die Dauer der Ausbildungsveranstaltung [... ] beschränkt sein, um irgendwelche Rechte begründen zu können, soweit Unterricht eine Dienstleistung darstellt, wie die Richtlinie 73/148 zeigt"39. Nach diesem Verständnis ist die voraussichtliche Dauer einer Leistung für sich allein genommen auch kein brauchbares Abgrenzungskriterium für Leistungen, für die sich aus der passiven Dienstleistungsfreiheit ein Aufenthaltsrecht ergibt.

Van der Woude und Mead gehen demgegenüber pauschal davon aus, daß für Dienstleistungsempfänger "the right to stay as a mere potential recipient of services is limited to three months"40. Das ist jedoch unklar formuliert. Denn 39 EuGHE 1985,593/604. - Zur Problematik des passiven Dienstleistungsverkehrs im Hinblick auf staatliche und private Bildungsleistungen o. 5. Kapitel.

168

7. Kap.: Die aufenthaltsrechtlichen Begleitrechte

entweder besteht die Absicht, einen konkreten Dienstieistungsvorgang im Sinne des Gemeinschaftsrechts in Anspruch zu nehmen. Dann besteht ein Aufenthaltsrecht für die Dauer der Leistung, auch wenn diese die Dauer von drei Monaten übersteigt, was z. B. bei einer Kur oder einem Sanatoriumsaufenthalt ohne weiteres denkbar ist 41. Ist die betreffende Person dagegen tatsächlich nur "potentieller" Leistungsempfänger, ohne eine konkrete Leistung im Auge zu haben, ergibt sich für sie aus der passiven Dienstieistungsfreiheit ohnehin kein Aufenthaltsrecht, auch nicht für drei Monate. III. Die Eingrenzung des Aufenthaltsrechts durch das Element der Finalität

Die passive Dienstieistungsfreiheit enthält, wie bereits angedeutet wurde, ein finales Element. Nicht jeder, der in einem anderen Mitgliedstaat Dienstleistungen in Anspruch nimmt, wird bereits dadurch zum passiven Dienstieistungsempfänger im Sinne des Gemeinschaftsrechts. Der Empfänger einer Leistung muß sich mit einer bestimmten, dienstieistungsbezogenen Zielsetzung, mit der Absicht der Entgegen nahme einer bestimmten Art von Leistung(en) in einen anderen Mitgliedstaat begeben. Solange es kein gemeinschaftsweites allgemeines Aufenthaltsrecht gibt, berechtigt also die passive Dienstleistungsfreiheit den Dienstieistungsempfänger nur zum Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat zum Zwecke der Abwicklung eines final bestimmten und damit durch seine Zwecksetzung eingrenzbaren Dienstieistungsvorgangs. Jeder Mensch ist, worauf GA Trabucchi in seinen Schlußanträgen in der Rs. 118/75 42 zu Recht hinwies, praktisch ständig ein potentieller Empfänger von Leistungen 43 • Daher muß eine Konkretisierung dieser ständig vorhandenen bloßen Möglichkeit, Dienstieistungen entgegenzunehmen, nach diesem Kriterium erfolgen. Maßstab für die Fortdauer des Aufenthaltsrechts als passiver Dienstieistungsempfänger ist in erster Linie, ob der Aufenthalt und die in Anspruch genommenen Leistungen noch in sachlichem Zusammenhang mit dem eigentiichen und ursprünglichen Zweck des Aufenthalts stehen. Die Vielfalt der in Betracht kommenden Dienstleistungen erfordert dabei eine differenzierte Betrachtungsweise. Die Konkretisierung des genannten Kriteriums 40 CMLRev 1988, S. 117/130. Auch Seche, CDE 1984, S. 706/708 ff., möchte in ähnlicher Weise das Aufenthaltsrecht des Touristen als solchem auf maximal drei Monate beschränken. 41 Insoweit gleicher Auffassung Reich, Förderung und Schutz diffuser Interessen durch die EG, S. 82 f., der allerdings sogar einen jahrelangen Aufenthalt (etwa in einem Sanatorium) unter Berufung auf die passive Dienstleistungsfreiheit für möglich hält. Bei Aufenthalten solcher Dauer ist aber stets zu prüfen, ob nicht doch bereits das Element der Grenzüberschreitung verlorengegangen ist. 42 Watson und Beiman, EuGHE 1976, 1185/1203. 43 Treffend auch die Formulierung Tomuschats, CDE 1977, S. 97/102: ,,[ ... ] tout sejour a l'etranger s'accompagne de certains aspects economiques, qu'i! ne s'agisse que de l'usage des moyens de transport public."

C. Die Begrenzung des Aufenthaltsrechts

169

kann nur so präzise erfolgen, wie es die jeweilige Dienstleistung ihrer Natur nach zuläßt. Eine generelle Festlegung in der Weise, daß bereits vor Antritt der Reise eine konkrete Beziehung zwischen Leistungsempfanger und -erbringer bestehen müsse, wird man nicht verlangen können, da die Entscheidung, welches Hotel, welchen Arzt, welche Kurklinik oder Sprachschule etc. man in Anspruch nehmen will, häufig erst vor Ort erfolgen kann 44 • In vielen Fällen wird man es daher sinnvollerweise als ausreichend betrachten müssen, wenn der übergeordnete Zweck des Aufenthalts als Ganzem bei Antritt der Reise mit hinreichender Bestimmtheit festgelegt ist: Bei einem Kuraufenthalt ist es wie gesagt möglich, daß seine medizinisch indizierte Dauer vom Verlauf der Kur abhängig ist hier bleibt das zeitliche Element des Leistungsvorgangs unscharf. Die Behandlungsmethoden (also die in Anspruch genommenen Dienstleistungen) können sich im Lauf der Behandlung wandeln. Bei einem touristischen Aufenthalt kann es anfangs noch ungewiß und der Laune des Reisenden überlassen sein, welche Städte und Sehenswürdigkeiten er im einzelnen besuchen, in welchen Hotels er wohnen, in welchen Restaurants er essen und in welchen Theatern oder Nachtlokalen er sich unterhalten wird. Auch die Dauer des Aufenthalts muß nicht von vornherein ganz exakt bestimmt sein. Der Gesamtzweck des Aufenthalts ist aber klar umgrenzt. Die Absicht, bestimmte Dienstleistungen entgegenzunehmen muß nicht unbedingt das letzte Glied in einer Kette finaler Motivationen für den Aufenthalt sein. Einem Touristen muß es nicht in erster Linie um die Annehmlichkeiten und Leistungsangebote eines bestimmten Hotels oder Ferienzentrums gehen. Nicht selten werden einem solchen Aufenthalt legitimerweise andere Motive zugrundeliegen, etwa die Atmosphäre, das Lebensgefühl eines Landes oder einer Stadt kennenzulernen. Diese ,,zwecksetzung 1. Grades" führt aber in aller Regel auch zu der ,,zwecksetzung 2. Grades", zur Befriedigung seiner touristischen und sonstigen Bedürfnisse Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen, die mit dem touristischen Aufenthalt in Zusammenhang stehen, was für seine Legitimation als passiver Dienstleistungsempfänger erforderlich, aber auch ausreichend ist. Allgemeiner formuliert ist für das Vorliegen des finalen Kriteriums erforderlich, daß der Reisende zumindest auch Leistungen in Anspruch nimmt, die mit dem Zweck seiner Reise in Zusammenhang stehen und die über die allgemein übliche alltägliche Lebensgestaltung und Daseinsvorsorge hinausgehen. Selbstverständlich kann sich der besondere Zweck des Aufenthalts mitunter noch während seines Andauerns ändern. Aus einer touristisch motivierten Reise kann z. B. ein Kuraufenthalt werden und umgekehrt. Jedenfalls muß aber der Zweck des Aufenthalts den Zweck der Entgegennahme von Leistungen haben, die über 44 So für den Bereich des Tourismus Hafke, EuR 1984, S. 398/401: ,,[ . .. ] es entspricht der Eigenart des Reiseverkehrs, insbesondere des Individualreiseverkehrs, daß sich die Inanspruchnahme von Leistungen erst kurzfristig ad hoc konkretisiert und auch ad hoc abgegolten werden muß." (Hervorhebungen im Original).

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7. Kap.: Die aufenthaltsrechtlichen Begleitrechte

die zur nonnalen Lebensführung üblichen Leistungen hinausgehen. Wer seinen Lebensabend in einem anderen Mitgliedstaat verbringen will, kann sich nicht auf die passive Dienstleistungsfreiheit berufen 45 . Zu klären ist in diesem Zusammenhang noch, aus welcher zeitlichen Sicht das Vorliegen der Zwecksetzung zu beurteilen ist. GA Lenz sprach sich jüngst im Rahmen seiner grundsätzlichen Überlegungen zur passiven Dienstleistungsfreiheit für eine "Ex-ante-Betrachtungsweise" aus 46: "Wenn für einen konkreten rechtlichen Zusammenhang wie im vorliegenden Rechtsstreit die Eigenschaft einer Person als Dienstleistungsempfanger zu bestimmen ist, so stehen zwei Ansätze zur Verfügung: - Man könnte einmal im Rahmen einer Ex-ante-Betrachtung generalisierend auf die im Verlauf einer Reise in Anspruch zu nehmenden Dienstleistungen abstellen und somit schon bei Antritt der Reise die Dienstleistungsempfängereigenschaft feststellen. Für diese Ansicht sprechen die Regelungen von Einreise- und Aufenthaltsrecht, da sich die Person schon an der Grenze, noch bevor sie sich auf dem Territorium eines anderen Mitgliedstaates befindet, und erst recht, bevor sie eine Dienstleistung auch tatsächlich in Anspruch genommen hat, auf ihre Eigenschaft als Dienstleistungsempfanger berufen kann. - Eine andere Möglichkeit zur Bestimmung des Dienstleistungsempfangers wäre eine Ex-post-Betrachtung dergestalt, daß auf die tatsächlich in Anspruch genommene Dienstleistung abzustellen wäre. Diese Betrachtungsweise würde eine mißbräuchliche Berufung auf die Eigenschaft als Dienstleistungsempfanger weitgehend ausschließen. Trotzdem erscheint mir die erste der beiden Möglichkeiten als die bessere. Sie steht im Einklang mit den wenigen bereits vorhandenen Regeln, die den Dienstleistungsempfanger zum Gegenstand haben, und vermeidet regelungs freie Bereiche, die ihrerseits Anlaß zu Unklarheiten und Streitigkeiten sein können."47 GA Lenz ist darin zuzustimmen, daß bei Antritt der Reise selbstverständlich nur eine Beurteilung nach ihrer - generalisiert zu betrachtenden - Zwecksetzung erfolgen kann. Zu einem späteren Zeitpunkt ist jedoch gegebenenfalls auch eine Beurteilung ex post im Hinblick auf staatliche Kontrollmöglichkeiten unumgänglich. Dies betrifft zum einen die zulässige Kontrolle des Heimatstaats des Dienstleistungsempfangers, der bei größeren Mengen ausgeführter Devisen den Nachweis verlangen kann, daß sie auch tatsächlich für Konsum- und nicht etwa für Investitionszwecke ausgeführt wurden. Zum anderen kann eine Beurteilung ex post auch für den Gaststaat von Bedeutung sein, wenn sich ein Gebietsfremder für längere Zeit in seinem Gebiet aufhält und sich darauf beruft, er sei als passiver 45 Insoweit weitergehend Reich, Förderung und Schutz diffuser Interessen durch die Europäischen Gemeinschaften, S. 82 f., der auch Rentner, die ihren Lebensabend in einem anderen Mitgliedstaat verbringen wollen, grundsätzlich als passive Dienstleistungsempfanger qualifizieren will. 46 Schlußanträge vom 6. 12. 1988 in der Rs. 186/87 (Cowan). Einzelheiten o. 3. Kapitel E 11. und 111. 47 Schlußanträge, Ziff. 27 - 30.

C. Die Begrenzung des Aufenthaltsrechts

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Dienstleistungsempfänger aufenthaltsberechtigt. Hier muß der Gaststaat konkrete Belege für diese Behauptung verlangen können. Für nachträgliche Kontrollen muß daher zwangsläufig die Ex-post-Betrachtungsweise maßgeblich sein.

IV. Die Begrenzung der Aufenthaltsdauer durch das Element der Grenzüberschreitung als äußerste Grenze Auch im Rahmen eines durch eine bestimmte Zwecksetzung begrenzten Aufenthalts könnte sich der gebietsfremde Dienstleistungsempfänger eine Fortsetzung des Aufenthaltsrechts dadurch zu sichern suchen, daß er nach Entgegennahme der Dienstleistung, die den ursprünglichen Anlaß seines Aufenthalts bildete, unter Vorgabe einer anderen Zwecksetzung weiterhin Dienstleistungen in Anspruch nimmt und sich dabei weiter auf die passive Dienstleistungsfreiheit und das damit verbundene Aufenthaltsrecht beruft. Auf diese Weise ließe sich aus der RL 73/148 theoretisch doch ein zeitlich unbegrenztes Aufenthalts- bzw. Verbleiberecht des passiven Dienstleistungsempfängers herleiten, jedenfalls solange der Dienstleistungsempfänger seinen Unterhalt und die während des Aufenthalts in Anspruch genommenen Dienstleistungen selbständig finanzieren kann. Dieser Konstruktion steht jedoch das dogmatische Argument entgegen, daß die passive Dienstleistungsfreiheit wie die Dienstleistungsfreiheit überhaupt ein Element der Grenzüberschreitung voraussetzt. Bei einer Perpetuierung des Aufenthalts durch das Vorgeben ständig neuer Aufenthaltszwecke würde aber im Lauf der Zeit die Verbindung zum Heimatstaat immer schwächer, so daß das Element der Grenzüberschreitung letztlich wegfiele und ein (unzulässiger) Standortwechsel vorläge. Wann dies im Einzelfall der Fall ist, läßt sich nicht abstrakt formulieren. Ein sicherer Anhaltspunkt ist jedoch die Aufgabe des Wohnsitzes im Heimatstaat oder dessen rein formelle Beibehaltung. Die dadurch erzielte Begrenzung gerade der passiven Dienstleistungsfreiheit rechtfertigt sich nicht zuletzt aus der Erwägung, daß bei Anerkennung eines zeitlich unbeschränkten Aufenthaltsrechts auf der Grundlage der passiven Dienstleistungsfreiheit die gesamte Systematik der Freizügigkeitsvorschriften "ausgehebelt" würde und die aufenthaltsbezogenen Bestimmungen der Art. 48 ff. und 52 ff. EWGV jegliche Bedeutung verlieren würden. Das Element der Grenzüberschreitung wird bei der passiven Dienstleistungsfreiheit, wie bereits ausgeführt, "dynamisch" verstanden. Es liegt im (vorübergehenden) Orts wechsel des passiven Dienstleistungsempfängers und enthält somit auch ein zeitliches Moment. Der die Aufenthaltsdauer in erster Linie begrenzenden Finalität des Aufenthalts nachgeordnet, liegt die äußerste Grenze der passiven Dienstleistungsfreiheit in dieser zeitlichen Beschränkung des Ortswechsels. Spätestens bei endgültiger Aufgabe des heimatlichen Wohnsitzes zugunsten einer Ansiedlung im Gastland liegt ein Standortwechsel vor, der eine Herleitung des

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7. Kap.: Die aufenthaltsrechtlichen Begleitrechte

Aufenthaltsrechts aus der passiven Dienstleistungsfreiheit ausschließt 48 • Der Betreffende feHlt dann (mangels Ausübung einer anderen, von gemeinschaftsrechtlichen Freizügigkeitsregelungen erfaßten Tätigkeit) auch nicht unter die Niederlassungsfreiheit oder die Art. 48 ff. und verliert in diesem Augenblick sein Aufenthaltsrecht. So kann etwa ein deutscher Ruheständler, der in Italien seinen Lebensabend verbringen möchte, nach wie vor kein gemeinschaftsrechtliches Aufenthaltsrecht geltend machen. 49 Diese äußerste Grenze wurde durch die bereits erörterte SO "Steymann"-Entscheidung des EuGH vom 5. 10. 1988 i. E. bestätigt, deren 2. Leitsatz klarstellt, daß die Art. 59 f. EWGV nicht für den Fall gelten, daß ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaates sich in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates begibt und dorthin seinen Hauptaufenthalt verlegt. um dort für unbestimmte Dauer Dienstleistungen zu erbringen oder zu empfangen. Im übrigen kann es dem Empfänger von Dienstleistungen nicht verwehrt werden, in kurzen zeitlichen Abständen beliebig oft in den anderen Mitgliedstaat zurückzukehren, um erneut Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen, soweit sich diese häufig wiederkehrenden Aufenthalte nicht schließlich doch zur Ansässigkeit im Gastland verdichten. Letztlich kann er in seiner Eigenschaft als passiver Dienstleistungsempfänger keinen Wohnsitz in dem anderen Mitgliedstaat begründen.

D. Kontrollmöglichkeiten der Mitgliedstaaten Eine praktische Möglichkeit der Mitgliedstaaten, Dauer und Zweck des Aufenthalts zu überprüfen, ist durch die RL 73/148 gegeben, da der Mitgliedstaat von dem Betroffenen verlangen kann, daß er seine Anwesenheit im Hoheitsgebiet anzeigt (Art. 4 Abs. 2) und bei Erteilung der Aufenthaltserlaubnis bei einem mehr als dreimonatigen Aufenthalt der Nachweis verlangt werden kann, daß der Gebietsfremde Dienstleistungsempfänger im Sinne des Gemeinschaftsrechts ist (Art. 6lit b). Auf diese Weise kann der Mitgliedstaat bei längeren Aufenthalten von Personen, die sich als passive Dienstleistungsempfänger deklarieren, den konkreten Nachweis verlangen, daß sie zu einer der obengenannten Personengruppen (Tourist, Patient etc.) gehören und entsprechende Leistungen in Anspruch nehmen 51 • Dies kann vor allem durch Quittungen, Belege, Rechnungen etc. über die in Anspruch genommenen Dienstleistungen geschehen. Auf diese Weise kann z. B. ein Tourist nachweisen, daß er in einem Hotel oder einer Pension o. dgl. 48 Zu diesem Ergebnis kommen auch Oppermann. Europarecht, Rz. 1501-1504; Steindorff, RIW 1983, 831 ff. 49 So auch Hackspiel. NJW 1989, S. 2166/2169. Zum Entwurf für eine AufenthaltsRL für Rentner o. 7. Kapitel m.2. so Zu Sachverhalt und Verfahren o. 4. Kapitel B m. 2. SI Vgl. Van der Woude / Mead. CMLRev 1988, S. 117/129 f.

D. Kontrollmöglichkeiten der Mitgliedstaaten

173

wohnt, seinen heimatlichen Wohnsitz mithin nicht aufgegeben hat. Diesem Zweck dient auch die in einigen Mitgliedstaaten noch bestehende und gemeinschaftsrechtlich zulässige Praxis (Dänemark, Frankreich 52 und Portugal), Ausländern beim Aufenthalt in Hotels und auf Campingplätzen eine Meldepflicht aufzuerlegen, der durch Ausfüllung eines polizeilichen Meldezettels genügt wird 53. Darüberhinaus ist es aufgrund dieser Rechtsvorschrift auch durchaus zulässig, daß bei gegebenem Anlaß ein konkreterer Nachweis über die Entfaltung spezifisch touristischer Aktivitäten verlangt wird (letzteres vor allem durch Vorlage datierter Quittungen über den Besuch touristisch interessanter Einrichtungen und Veranstaltungen) 54. Auswüchse in dieser Richtung sind nicht zu befürchten: Derartige Nachweise dürfen selbstverständlich zum einen erst nach Einreise verlangt werden. Beim heutigen Massentourismus ist es zum anderen ohnehin praktisch ausgeschlossen, allen Touristen, die einen bestimmten Mitgliedstaat besuchen, solche Verpflichtungen aufzuerlegen. Es wäre auch aus der Sicht der Mitgliedstaaten wenig sinnvoll. Man wird beim Verlangen solcher Nachweise mit einer flexiblen Handhabung rechnen können 55, da kaum ein Staat daran interessiert ist, Touristen zu vergraulen und damit der nationalen Fremdenverkehrsindustrie zu schaden 56. Daher wird ein Staat nur in Ausnahmefällen solche Nachweise verlangen, namentlich wenn zweifelhaft ist, ob bei der betreffenden Person die Eigenschaften eines (vor allem touristischen) passiven Dienstleistungsempfangers gegeben sind. Solche Zweifel werden vor allem bei touristischen Aufenthalten von ungewöhnlich langer Dauer (nach mehr als drei Monaten ist eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen) entstehen, oder wenn aus anderen Gründen der Verdacht aufkommt, der Aufenthalt diene anderen als touristischen Zwecken, insbesondere wenn der "Tourist" offenbar über keine eigenen Mittel verfügt und 52 Für Ausländer, die sich nur kurz im Lande aufhalten, gibt es in Frankreich keine allgemeine Melderegelung. 53 Antwort von Kommissionsmitglied Lord Cockfield vom 5.4. 1988 auf eine Anfrage (ABI. 1988 C 263/1). - In Baden-Württemberg sieht beispielsweise das Meldegesetz vom 11. 4. 1983 (Bad-Württ. GBI. 1983, S. 117 = Dürig [Hrsg.], Gesetze des Landes Baden-Württemberg, Nr. 74) für In- und Ausländer gleichermaßen vor, daß Personen, die sich für weniger als zwei Monate in einem Hotel oder auf einem Campingplatz aufhalten, nicht der allgemeinen Meldepflicht bei der Meldebehörde unterliegen, sondern lediglich einen Meldeschein auszufüllen haben, den die "Beherbergungsstätte" aufzubewahren und nur auf Verlangen den zuständigen Behörden vorzulegen hat (§ 23 f.). 54 Etwas zu eng insoweit die Auslegung von Art. 6 durch Bogdan, Free Movement for Tourists within the EEC, JWTL 1977, S. 468/474: "The tourist can reasonably be expected to produce proof that he is staying at a hotel, but it would hardly be reasonable to require that he should produce restaurant bills or theatre tickets." 55 VgI. Bogdan, ebd.: "This problem should be approached in a flexible manner, both as to the question of evidence and as to the minimum value of services required. It is, perhaps, possible to say that a tourist who has no money at all can hardly be a recipient of services and enjoys, consequently, no freedom of movement under Article 59 of the Rome Treaty." 56 Zum heute beträchtlichen wirtschaftlichen Gewicht des Fremdenverkehrssektors u. 10. Kapitel A II.

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7. Kap.: Die aufenthaltsrechtlichen Begleitrechte

die Gefahr besteht, er werde anstelle entgeltlicher Dienstleistungen Sozialleistungen des Gastlandes in Anspruch nehmen. Nur in derartigen Fällen (sowie selbstverständlich aus gemeinschaftsrechtlich legitimen Gründen der öffentlichen Sicherheit, Ordnung und Gesundheit) kann eine Ausweisung des "Touristen" erfolgen. Aus dieser Sicht erscheinen die etwa von Tomuschat 57 geäußerten Befürchtungen im Hinblick auf zu erwartende Kontrollen touristischer Dienstleistungsempfänger nicht gerechtfertigt.

E. Exkurs: Die ausländerrechtliche Rechtsstellung des EG-angehörigen passiven Dienstleistungsempfängers in der Bundesrepublik Deutschland I. Einreise und Aufenthalt

Das Aufenthaltsrecht EG-Angehöriger ist im Gesetz über Einreise und Aufenthalt von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschafts gemein schaft i. d. F. der Bekanntmachung vom 31. 1. 1980 (AufenthG /EWG)58 geregelt. Bereits in der amtlichen Begründung zu diesem Gesetz 59 aus dem Jahr 1969 wurde gesehen,daß durch Art. 59 EWGV auch die Freizügigkeit für Empfänger von Dienstleistungen verwirklicht werden soll. Dabei war man sich der Problematik der Eingrenzung der passiven Dienstleistungsfreiheit bereits bewußt, wie die amtliche Begründung zeigt: "Soweit § 1 Abs. 1 darauf abstellt, daß die von dem Gesetz erfaßten Personen im Bundesgebiet eine bestimmte Tätigkeit ausüben oder Leistungen empfangen, wollen' , ist dieser Wille nur dann rechtlich erheblich, wenn die Voraussetzungen für seine Verwirklichung vorhanden, zumindest aber nicht auszuschließen sind. [... ] Ferner muß die Tätigkeit oder Leistung - was insbesondere für die Inanspruchnahme der Freizügigkeit durch Empfänger von Dienstleistungen von Bedeutung ist - den Hauptzweck des Aufenthalts im Bundesgebiet darstellen."60 Diese Ausführungen werden in der amtlichen Begründung zu § 6 noch etwas präzisiert: "Der Anspruch auf Aufenthaltserlaubnis hängt davon ab, daß der wesentliche und hauptsächliche Zweck des Aufenthalts im Bundesgebiet gerade in dem Empfang bestimmter, unter Artikel 60 des EWG-Vertrages fallender Dienstleistungen besteht. Der Anspruch entsteht nicht schon dadurch, daß bei Gelegenheit eines anderen Zwecken dienenden Aufenthalts auch mehr oder weniger häufig Dienstleistungen in Anspruch 57

CDE 1977, S. 97/102.

58 BGBL 1980 I, S. 116, geändert durch 3. ÄndG vom 11. 9.1981, BGBI. 1981 I,

S.949. 59 BT-Drucksache V /4125. Der allgemeine Teil der amtlichen Begründung ist abgedruckt bei Kloesell Christ, Deutsches Ausländerrecht, Vorbemerkung zum AufenthaltsG / EWG. 60 Amtliche Begründung, a. a. 0., insoweit abgedruckt bei Kloesell Christ, Deutsches Ausländerrecht, AufenthG / EWG, § 1 (Hervorhebungen durch den Verf.).

E. Exkurs: Rechtsstellung in der Bundesrepublik Deutschland

175

genommen werden."61 Hier kommt das oben beschriebene finale Element der passiven Dienstleistungsfreiheit klar zum Ausdruck. Das AufenthaltsG / EWG gewährt Erbringern und Empfängern von Dienstleistungen im Sinne des Gemeinschaftsrechts und deren näheren Familienangehörigen (§§ 1 Abs. 2, 2 Abs. 2, 7) in gemeinschaftskonformer Weise Freizügigkeit (§ 1 Abs. 1 Nr.3 und 4). Dienstleistungserbringer und -empfänger können ohne Aufenthaltserlaubnis einreisen (§ 2 Abs. 1). Ihnen wird auf Antrag eine (trotz des Wortlauts von § 4 rein deklaratorische) Aufenthaltserlaubnis für die voraussichtliche Dauer der Dienstleistung erteilt (§§ 5, 6, 7 Abs. 7).

11. Verbleiberecht des passiven Dienstleistungsempfängers?

Durch die Neufassung des Gesetzes im Jahr 1980 wurde auch das gemeinschaftsrechtlich vorgesehene Verbleiberecht für Wanderarbeitnehmer, Niedergelassene und deren Familienangehörige eingeführt. Darüber hinaus sind auch Erbringer und Empfänger von Dienstleistungen nach dem Wortlaut des Gesetzes sogar verbleibeberechtigt, wenn sie -

das für die Geltendmachung einer Altersrente gesetzlich vorgesehene Alter erreicht oder das 65. Lebensjahr vollendet haben und

-

in den letzten zwölf Monaten im Inland ihre Erwerbstätigkeit ausgeübt und sich dort seit mindestens drei Jahren aufgehalten haben (§ 6a Abs. 2 Nr. 1 und 2). - Ähnliches gilt bei Eintritt dauernder Arbeitsunfähigkeit (§ 6a Abs.3).

Für den aktiven Dienstleistungserbringer und seine Familienangehörigen ist das Verbleiberecht ohne weiteres gegeben, soweit er sich bei bei Erreichen der Altersgrenze bzw. bei Eintritt der Erwerbsunfähigkeit zur Erbringung der Dienstleistung bereits seit mehr als einem Jahr und insgesamt mehr als drei Jahre in der BRD aufgehalten hat, ohne dadurch bereits in den Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit (und damit unter § 1 Abs. 1 Nr. I AufenthG/EWG) gefallen zu sein. Beim passiven Dienstleistungsempfänger sind Sinn und Umfang des Verbleiberechts weniger klar. Das Verbleiberecht für Begünstigte der passiven Dienstleistungsfreiheit ist bereits insofern bemerkenswerter, als das Gemeinschaftsrecht hier wegen der zeitlichen Beschränktheit von Dienstleistungsvorgängen (im Gegensatz zur Niederlassungsfreiheit und zur Freizügigkeit der Wanderarbeiter) kein Verbleiberecht vorschreibt. Die Motive dieses Verbleiberechts sind nicht ganz klar. In der amtlichen Begründung zur Neufassung des Gesetzes 62 wird auf 61 Abgedruckt in Kloesel / Christ, Deutsches Ausländerrecht, § 6 AufenthG / EWG 62 BT-Drucksache 8/2597, insoweit abgedruckt in Kloesel / Christ, Deutsches Auslän-

derrecht, Vorbemerkung zum AufenthaltsG / EWG, S. 4 ff.

176

7. Kap.: Die aufenthaltsrechtlichen Beg1eitrechte

die RL 75/34 über das Verbleiberecht der Selbständigen verwiesen. Dabei wurde offenbar nicht berücksichtigt, daß es sich bei passiven Dienstleistungsempfangem keineswegs immer um selbständige Erwerbstätige (z. B. Geschäftsreisende), sondern z. B. auch um Touristen oder Patienten handeln kann, die in dieser Eigenschaft überhaupt nicht erwerbstätig sind. Der Begriff des Dienstleistungsempfängers wurde also sehr viel enger verstanden, als dies im Gemeinschaftsrecht (spätestens seit der Entscheidung "Luisi und Carbone") der Fall ist. Dort ist heute unbestritten, daß auch andere Personengruppen als selbständige Erwerbstätige unter den im Gesetz verwendeten Begriff des "Empfangers von Dienstleistungen" fallen, soweit man ihn im gemeinschaftsrechtlichen Sinn versteht. Diesen Personen sollte aber nach der Intention des Gesetzgebers offenbar kein Verbleiberecht eingeräumt werden. Die deutsche ausländerrechtliche Literatur hat diese Frage, soweit ersichtlich, noch nicht behandelt. Knirsch 63 stellt das Verbleiberecht des passiven Leistungsempfangers ohne nähere Erörterung ganz selbstverständlich fest. Kloesel und Christ 64 begnügen sich mit einem Hinweis auf die Entscheidung ,,Luisi und Carbone", nach der auch Touristen etc. als Empfanger von Dienstleistungen anzusehen seien. Im Hinblick auf den Empfanger von Dienstleistungen und seine Familienangehörigen ist der Gesetzeswortlaut nicht ganz klar und erscheint wenig passend. Einerseits bezieht ihn § 6a Abs. 2 AufenthG /EWG durch den Verweis auf § 1 Abs. 1 Nr.4 in das Verbleiberecht ausdrücklich ein. Andererseits ist für das Verbleiberecht nach dieser Vorschrift jedoch Voraussetzung, daß der Verbleibeberechtigte zuvor zumindest ein Jahr lang in der Bundesrepublik einer Erwerbstätigkeit nachgegangen ist. Für den Empfanger einer Dienstleistung als solchen ist es in vielen Fällen jedoch gerade charakteristisch, daß er (z. B. als Patient, Tourist etc.) keiner Erwerbstätigkeit nachgeht, sondern lediglich eine Dienstleistung in Anspruch nimmt. Ginge der passive Dienstleistungsempfanger auch einer Erwerbstätigkeit im eigentlichen Wortsinn nach, fiele er ohnehin unter eine der anderen vorrangigen Freizügigkeitsregelungen (Niederlassungsfreiheit, Freizügigkeit der Wanderarbeitnehmer oder aktive Dienstleistungsfreiheit). Daher wäre zu überlegen, ob sich das Erfordernis einer Erwerbstätigkeit in

§ 6a entweder nur auf diese Personengruppen beziehen soll, nicht aber auf den

Empfanger einer Dienstleistung. Denn wenn dieser einer Beschäftigung nachgeht, fallt er ohnehin unter eine der Regelungen in § lAbs. 1 Nr. 1-3 AufenthG/EWG. Die Verweisung in § 6a AufenthG/EWG auf § 1 Abs. 1 Nr.4 wäre dann jedoch sinnlos. Als sinnvoller erscheint es, den Begriff der "Erwerbstätigkeit" im Sinne des AufenthG /EWG weit zu verstehen und auch die Inanspruchnahme von Dienstlei63

64

Deutsches Ausländerrecht, 1988, Ziff. 22.2.2.5. (S. 187). Deutsches Ausländerrecht, § 1 AufenthG /EWG, Ziff. 9.

E. Exkurs: Rechtsstellung in der Bundesrepublik Deutschland

177

stungen darunter zu fassen, soweit sie im Zusammenhang mit einer eigenen gewerblichen Tätigkeit steht. Dies dürfte vor allem bei Geschäftsreisenden der Fall sein, die sich z. B. auf einer Messe (gegen Eintrittsgeld) informieren und beraten lassen wollen, nicht aber bei Touristen oder Patienten, da diese keine gewerblichen Absichten verfolgen. Für diese Lösung spricht, daß in § lAbs. 1 Nr. 5 AufenthG IEWG von "einer der in den Nummern 1 bis 4 genannten Erwerbstätigkeiten" die Rede ist. Daraus läßt sich schließen, daß eine ,,Erwerbstätigkeit" im Sinne des AufenthG IEWG auch das Empfangen einer Dienstleistung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr.4 sein kann. Dieses Verständnis führt im Ergebnis dazu, daß ein passiver Dienstleistungsempfänger, wenn er sich seit drei Jahren im Bundesgebiet aufhält und mindestens seit einem Jahr Dienstleistungen in Anspruch nimmt, die im Zusammenhang mit einer von ihm ausgeübten gewerblichen Tätigkeit stehen, verbleibeberechtigt ist. Diese Konstellation dürfte jedoch so gut wie nie auftreten, so daß der Verbleibeberechtigung für (passive) Dienstleistungsempfänger im AufenthG/EWG nach dem hier vertretenen Verständnis keine praktische Bedeutung zukommt.

12 Völker

8 . Kapitel

Einschränkungen des Anwendungsbereichs der passiven Dienstleistungsfreiheit durch die "Subsidiarität" des Dienstleistungskapitels und durch Ausnahmeregelungen A. Die "Subsidiarität": Das Dienstleistungskapitel als bloße "AufTangvorschrift"? Wie bereits erwähnt, wurde das Dienstleistungskapitel ursprünglich als eine Art "Auffangvorschrift" für solche Dienstleistungen konzipiert, die nicht bereits von einer anderen Liberalisierungsregelung des EWGV erfaßt werden (Art. 60 Abs. 1 und 3, Art. 61). Deshalb ist es auf mannigfache Weise mit den anderen Freiheiten des EWGV verwoben, wobei es jedoch im Lauf seiner Entwicklung - nicht zuletzt durch die Anerkennung der passiven Dienstleistungsfreiheit unverkennbar einen eigenen Charakter und selbständige Bedeutung erlangt hat '. Dies wurde jüngst von GA Lenz in einer grundsätzlichen Stellungnahme, die das heutige Verständnis des Dienstleistungskapitels treffend wiedergibt, hervorgehoben: "Nachdem in den Regeln über die Ziele und die Tätigkeiten der Gemeinschaft (Art. 3 EWG-Vertrag) der Dienstleistungsverkehr gleichberechtigt neben Waren-, Personen- und Kapitalverkehr aufgeführt wird, kann der Anwendungsbereich nicht auf eine Auffangfunktion beschränkt werden. Ihm kommt innerhalb der Grundfreiheiten eine selbständige Rolle zu. Eine Abgrenzung des materiellen Geltungsbereichs muß sich orientieren an dem Bild eines gemeinsamen Marktes, in dem sämtliche wirtschaftlichen Betätigungen innerhalb der Gemeinschaft von allen Beschränkungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit und des Wohnsitzes befreit sind. [... ] Will man die Dienstleistungsfreiheit nicht nur negativ als Auffanginstitut, sondern positiv definieren, so ist sicher der grenzüberschreitende ,Produktaustausch ' von Produkten, die nicht ,Waren' sind, erfaßt." 2 Im folgenden soll dargestellt werden, wie die Abgrenzung zwischen dem Dienstleistungskapitel, insbesondere der passiven Dienstleistungsfreiheit und den , Gegen den Begriff der Auffangvorschrift wandte sich daher zu Recht RandelzhoJer (Referat X. Wissenschaftliches Kolloquium der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Europarecht am 9. und 10. 10. 1986 in Bad Ems; vgl. Tagungsbericht Goerlich, DYBI. 1986, S.1l92/l193). 2 Schlußanträge vom 6. 12. 1988 in der Rs. 186/87 (Cowan), noch nicht veröffentlicht), Ziff. 12 f. Einzelheiten o. 3. Kapitel E 11. und III.

A. Die "Subsidiarität"

179

anderen Vertragsvorschriften heute im einzelnen zu sehen ist. Dabei soll aufgezeigt werden, daß ein Großteil der "Subsidiaritätsklauseln" der Art. 60 f. EWGV für die passive Dienstleistungsfreiheit ohne oder nur von geringer Bedeutung ist.

I. Das Verhältnis von Dienstleistungsfreiheit und Niederlassungsrecht 1. Gemeinsamkeiten

Die Vertragskapitel über die Niederlassungsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit wurden von jeher in engem Zusammenhang gesehen. In ihrem Zusammenwirken sollen beide (im EWGV umittelbar aufeinanderfolgende) Kapitel ihrer Konzeption nach vor allem die Freizügigkeit der Selbständigen, Freiberufler und Unternehmen bei der Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten 3 innerhalb der Gemeinschaft in möglichst umfassender Weise sichern4, ähnlich wie die Art. 4851 EWGV und das dazu ergangene Sekundärrecht die Freizügigkeit der unselbständig Tätigen innerhalb der Gemeinschaft ermöglichen 5 • Dabei sollte die Niederlassungsfreiheit die dauerhafte Niederlassung eines Selbständigen in einem anderen Mitgliedstaat regeln, während die Normierung der Dienstleistungsfreiheit lediglich auf vorübergehende grenzüberschreitende Erwerbstätigkeiten zielte. Diese ursprünglich vorhandene einseitige Fixierung auf die aktive Dienstleistungsfreiheit zeigt sich etwa daran, daß die Abgrenzung zwischen Niederlassungsrecht und (aktiver) Dienstleistungsfreiheit für überflüssig gehalten wurde, weil man die beiden anderen Varianten der Dienstleistungsfreiheit gar nicht ins Kalkül zog6. Ihre gemeinsame Betrachtung und Behandlung resultiert nicht zuletzt auch aus der in manchen Punkten ähnlichen Struktur der beiden Kapitel und der Tatsache, daß gemäß Art. 66 EWGV gewisse Vorschriften der Niederlassungsfreiheit im Bereich der Dienstleistungsfreiheit entsprechende Anwendung finden. Beide Kapitel betreffen grenzüberschreitende Vorgänge, die mit der Ausübung selbständiger Tätigkeiten in Zusammenhang stehen. Art. 52 und Art. 59 haben 3 Zu den - vorwiegend praktischen - Gründen für eine getrennte Behandlung der Selbständigen und Angestellten im EWGV z. B. GBTE-Troberg, Vorb. zu Art. 52-58 Rz. 3; Grabitz-RandelzhoJer, vor Art. 52 Rz. 8 ff. 4 Vgl. Ress, in: EG-Kommission (Hrsg.), Trente ans de droit communautaire, 1981,

S. 324 f. 5 1987 waren 19,4 % (= 23,94 Mio.) der zivilen Erwerbstätigen in der EG selbständig und 80,6 % (= 99,64 Mio.) abhängig beschäftigt (Eurostat, Statistische Grundzahlen der Gemeinschaft, 26. Ausgabe 1989, S. 115). 6 Z. B. Everling, BB 1958, S. 817/819: "Das Verständnis der sachlichen Regelung

der selbständigen Tätigkeiten wird vor allem dadurch erschwert, daß sie auf die Kapitel Niederlassungsrecht und Dienstleistungsfreiheit verteilt ist, ohne daß ein sachlicher Grund für die getrennte Behandlung erkennbar ist." Everling leitet diese nach seiner damaligen Auffassung überflüssige Trennung alsdann aus der Entstehungsgeschichte der Kapitel her. 12*

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8. Kap.: "Subsidiarität" und Ausnabmeregelungen

zudem einen fast übereinstimmenden Wortlaut, ebenso Art. 54 Abs. 1 und 63 Abs. 1. Schließlich wurden auch zahlreiche Rechtsakte gemeinsam für die Niederlassungsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit erlassen, so zunächst die Allgemeinen Programme zur Aufhebung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs vom 18. 12. 1961 7 • Auch zahlreiche spätere Sekundärrechtsakte regelten die Liberalisierung im Dienstleistungs- und Niederlassungssektor gleichzeitig 8 • Damit ersparte man sich nicht zuletzt auch die - häufig schwierige - Abgrenzung zwischen dem Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit und dem der Dienstleistungsfreiheit. 2. Strukturelle und funktionale Unterschiede

Obgleich die Dienstleistungsfreiheit aus diesen Gründen häufig im Zusammenhang mit der Niederlassungsfreiheit behandelt wird, bestehen zwischen beiden Kapiteln bedeutende strukturelle und funktionale Unterschiede. Während die Niederlassungsfreiheit - ähnlich wie die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und der Kapitalverkehr - die Mobilität von Produktionsfaktoren regelt, betrifft die Dienstleistungsfreiheit gleich dem Warenverkehr den Austausch von Produkten, weshalb Art. 59 auch vom "freien Dienstleistungsverkehr" spricht. Während die Freizügigkeit der Personen und des Kapitals die Mobilität der Produktionsfaktoren im einheitlichen Wirtschaftsraum Europa ermöglichen und deren optimale Allokation sichern soll, dient der freie Verkehr von Waren und Dienstleistungen dem ungehinderten Austausch bereits hergestellter oder herzustellender Erzeugnisse 9 • Wie beim freien Waren und Kapitalverkehr und anders als bei der Niederlassungsfreiheit geht es bei der Dienstleistungsfreiheit um die Aufhebung nicht nur diskriminierender Beschränkungen, sondern grundsätzlich aller Beschränkungen. Sie hat also im Gegensatz zur Niederlassungsfreiheit absoluten Charakter 10. Die Verbindung zwischen Dienstleistungsfreiheit und Niederlassungsfreiheit im Vertrag ergibt sich somit weniger aus ihrer wirtschaftlichen Vergleichbarkeit als aus der Verwandtschaft der Regelung ihrer Beschränkungen und deren Aufhebung, wie die Verweisung des Art. 66 auf die Art. 55 - 58 zeigt. Anders als etwa beim Warenverkehr finden die Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit und der Niederlassungsfreiheit nicht an der Grenze (also durch Zölle) statt, sondern durch Vorschriften der jeweiligen innerstaatlichen Rechtsordnungen 11. 7 ABI. 1962, S. 32 ff. (Dienstleistungsfreiheit dazu o. 3. Kapitel C 111.2. - und 36 ff. (Niederlassungsfreiheit). Einen ausführlichen analytischen Vergleich beider Programme unternimmt Burrows, Free Movement in European Community Law, S. 221 ff. 8 So z. B. die RL 73/148 v. 21. 5. 1973 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Niederlassung und des freien Dienstleistungsverkehrs (dazu näher 7. Kapitel A IV.). 9 Troberg in HER, Vorb. zu Art. 59-66, Rz. lO. 10 Grabitz-RandelzhoJer, Art. 59, Rz. 2.

A. Die "Subsidiarität"

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Auch bei der Ausübung der Niederlassungsfreiheit werden häufig Dienstleistungen erbracht, ein wesentlicher Grund für die enge Verzahnung der beiden Kapitel und des zu ihnen ergangenen Sekundärrechts. Im Unterschied zur Dienstleistungsfreiheit behandelt das Niederlassungskapitel jedoch den Fall, daß eine Standortveränderung und nicht ein bloßer vorübergehender Ortwechsel stattfindet, also eine dauerhafte Beziehung zu einem anderen Mitgliedstaat hergestellt wird. Für den vorübergehenden Aufenthalt des Dienstleistungserbringers bei der Erbringung einer Dienstleistung in einem anderen Mitgliedstaat ergibt sich sein Einreise- und Aufenthaltsrecht aus Art. 60 Abs. 3 EWGV.

3. Die Abgrenzung der Niederlassungsfreiheit von der aktiven Dienstleistungsfreiheit Es zeigte sich früh, wie schwierig die Abgrenzung der Anwendungsbereiche beider Kapitel sich hinsichtlich der aktiven Dienstleistungsfreiheit im Einzelfall gestalten kann, so z. B. wenn ein Geschäftsbetrieb von vornherein darauf ausgerichtet ist, Leistungen in einem anderen Mitgliedstaat als dem der Niederlassung zu erbringen oder wenn die Erbringung einer Dienstleistung im Ausland sich über einen längeren Zeitraum erstreckt. Es gibt hier zahlreiche Zwischenformen mit fließenden Übergängen 12. Ob der Geschäftsbetrieb seine Niederlassung im gemeinschaftsrechtlichen Sinn im Heimatstaat und/oder in dem Mitgliedstaat hat, in dem die Dienstleistungen erbracht werden, läßt sich nach h. M. nur bei wertender Gesamtbetrachtung aller Umstände ermitteln. Dabei ist maßgeblich, wo nach dem Gesamtverhalten des Unternehmens der Schwerpunkt seiner Tätigkeit liegt, wo die tatsächlichen Einrichtungen belegen sind, von welcher Dauer die jeweiligen Tätigkeiten sind, ob die Bindungen zum Heimatstaat aufrechterhalten werden oder ob (bei Hauptniederlassungen) - etwa durch Beitritt zu Verbänden - eine mehr oder weniger umfassende und auf längerfristige Bindung angelegte Eingliederung in die Wirtschaft des Aufenthaltsstaates erfolgt 13. Daneben soll es auch eine Rolle spielen, ob das Unternehmen versucht, sich im Gastland einen neuen Kundenstamm zu schaffen 14. Bei zusammenfassender Betrachtung gibt es keine allgemeinverbindliche und für jeden denkbaren Einzelfall zutreffende abstrakt formulierte Abgrenzung. Vielmehr muß jeweils im Einzelfall festgestellt werden, zu welchem Ergebnis eine Gesamtschau der genannten Kriterien vernünftigerweise führt 15. Troberg in HER, Vorb. zu Art. 59-66, Rz. 5, 10. Vgl. die anschaulichen Beispiele bei Wägenbaur. CDE 1976, S. 707/714. 13 Everling. Das Niederlassungsrecht im Gemeinsamen Markt, 1963, S. 18; GBTETroberg. Art. 52, Rz. 2-4; BBPS-Streil. S. 317; Bleckmann. Europarecht, S. 329 f. 14 Goldmann. Droit Commercial Europeen. S. 184, unter Berufung auf die RL 65/1 vom 14. 12. 1964. 15 So insbesondere Everling. EuR 1989, S. 344/351 und GBTE-Troberg. Art. 52 Rz. 3, der auch zutreffend auf die Bedeutung der wirtschaftlichen Funktion der Niederlas11

12

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8. Kap.: "Subsidiarität" und Ausnahmeregelungen

Für den Bereich der Direktversicherung hat der EuGH in einem der vier vieldiskutierten Entscheidungen vom 4. 12. 1986 16 die beiden Freiheiten jüngst in (hinsichtlich des Dienstleistungskapitels) restriktiver Weise danach gegeneinander abgegrenzt, daß er als Niederlassung nicht nur eine Zweigniederlassung oder Agentur ansieht, sondern auch bereits die Aufrechterhaltung eines Büros, das von einem bloßen Beauftragten geführt wird 17. Diese Ausweitung des Anwendungsbereichs des Niederlassungskapitels hat u. a. zur Folge, daß auch bei einer eher "informellen" Niederlassung das Unternehmen den nationalen Berufsregelungen des jeweiligen Mitgliedstaates unterworfen bleibt.

4. Niederlassungsfreiheit und passive Dienstleistungsfreiheit Vollends deutlich wird die Unterschiedlichkeit von Niederlassungsfreiheit und Dienstleistungsfreiheit, wenn man die passive Dienstleistungsfreiheit in die Betrachtung einbezieht. Hier sind die Zielsetzungen geradezu entgegengesetzt: Während es bei der Niederlassungsfreiheit um die Ermöglichung längerfristiger wirtschaftlicher Betätigung in einem anderen Mitgliedstaat durch einen Selbständigen geht (wobei dessen Eigenschaft als "Wirtschaftsfaktor" ganz im Vordergrund steht), ist von der passiven Dienstleistungsfreiheit potentiell jeder EG-Bürger betroffen, der, ohne daß in seiner Person eine wirtschaftliche Zielsetzung erforderlich wäre, vorübergehend einen anderen Mitgliedstaat aufsucht, um dort Leistungen zu konsumieren. Auch der passive Dienstleistungsempfanger, der sich längerfristig zur Entgegennahme einer Dienstleistung (beispielsweise langer Kuraufenthalt) in einem anderen Mitgliedstaat aufhält, wird nie in den Regelungsbereich der Niederlassungsfreiheit fallen, da er selbst in seiner Eigenschaft als Empfänger von Dienstleistungen keine Erwerbstätigkeit aufnimmt oder ausübt. Die Abgrenzungsproblematik, die sich beim Dienstleistungserbringer im Rahmen der aktiven Dienstleistungsfreiheit bei der längerfristigen Erbringung grenzüberschreitender sungsfreiheit für die Abgrenzung hinweist: ,,[ ... ] es gilt jeweils zu entscheiden, ob der Unternehmer durch eine Standortveränderung die Produktionsfaktoren und sonstigen Kostenelemente einer fremden Volkswirtschaft nutzen will, oder ob er lediglich die Leistung seines Betriebes, nicht diesen selbst, in die fremde Volkswirtschaft einbringt". Für eine kumulative Anwendung beider Kapitel Schöne, Dienstleistungsfreiheit in der EG und deutsche Wirtschaftsaufsicht, 1989, S. 47 ff. 16 Rs. 205/84 (Kommission / Bundesrepublik Deutschland), EuGHE 1986, 3755; Rs. 220/83 (Kommission/Frankreich), EuGHE 1986, 3663; Rs. 252/83 (Kommission/ Dänemark), EuGHE 1986,3713; Rs. 206/84 (Kommission / Irland), EuGHE 1986,3817. 17 Rs. 205/84 (Kommission/Bundesrepublik Deutschland), EuGHE 1986, 3755/ 3801 (Ziff. 21). - Näher zu dieser und den anderen Versicherungsentscheidungen vom selben Datum u.a. Hodgin, CMLRev 1987, S. 273 ff.; Edward, ELRev 1987, S.231/ 244 f., 252 ff.; Hübner, JZ 1987, S. 330 ff.; Schmidt, VersR 1987, S. 1 ff.; die Gruppe von Beiträgen von Seidel, Röper, Angerer, Knoke und Biagosch in ZVersWiss 1987, S. 175 ff.; Schlappa, Die Kontrolle von A VB im deutschen Versicherungsaufsichtsrecht und der freie Dienstleistungsverkehr im EG-Recht, 1987, insbes. S. 235 ff., sowie Dauses, EuR 1988, S. 378 ff. Kritisch namentlich Schwintowski, NJW 1987, S. 521 ff., insbes. 524 f.

A. Die "Subsidiarität"

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Dienstleistungen ergeben kann, tritt also beim Dienstleistungsempfänger im Rahmen der passiven Dienstleistungsfreiheit nicht auf. Ein Begünstigter des Niederlassungsrechts ist kein passiver Dienstleistungsempfänger, auch wenn er im Gastland Leistungen entgegennimmt: Erstens fehlt es bei ihm an dem für die passive Dienstleistungsfreiheit charakteristischen Element der dynamischen Grenzüberschreitung: Sein Aufenthalt im Gastland ist auf Dauer angelegt und stellt einen Standortwechsel dar. Zweitens fehlt es ihm am Element der Finalität: Seine primäre Motivation für den Aufenthalt im Gastland ist in aller Regel die Möglichkeit, dort berufstätig zu sein, nicht die Entgegennahme von Dienstleistungen. Drittens greift die Subsidiaritätsregel des Art. 60 EWGV ein: Die Art. 52 ff. und das zu ihnen ergangene Sekundärrecht wollen die Rechtsstellung des Niederlassungsberechtigten in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht umfassend und abschließend regeln. Für die Anwendung des Dienstleistungskapitels bleibt daher kein Raum und besteht auch keine Notwendigkeit.

11. Abgrenzung zur Freizügigkeit der Arbeitnehmer

Die Abgrenzung des Dienstleistungskapitels von den Art. 48 ff. ist im wesentlichen nur für die aktive Dienstleistungsfreiheit von Bedeutung. Der passive Dienstleistungsempfänger ist als solcher typischerweise gerade nicht erwerbstätig. Ein deutscher Arbeitnehmer, der sich als Tourist oder Patient nach Italien begibt, unterliegt selbstverständlich nicht dem Kapitel über die Arbeitnehmerfreizügigkeit, da sein Aufenthalt in Italien in keinem Zusammenhang mit seiner unselbständigen Erwerbstätigkeit steht. Umgekehrt kann sich ein Wanderarbeitnehmer als solcher im Gastland bei der Inanspruchnahme von Leistungen ebensowenig wie ein Niederlassungsberechtigter zusätzlich auf die passive Dienstleistungsfreiheit berufen. Begibt sich der Wanderarbeitnehmer dagegen zur Inanspruchnahme von Dienstleistungen als Tourist, Patient o. dgl. in einen dritten Mitgliedstaat, ist er selbstverständlich passiver Dienstleistungsempfänger. - Entsprechendes gilt für die Angehörigen des Wanderarbeitnehmers und für gemäß VO 1251/70 verbleibeberechtige Wanderarbeitnehmer und deren Angehörige. 111. Abgrenzung von Vorgängen, die den Kapitalverkehrsvorschriften unterfallen

1. Der Kapitalverkehr Im Gegensatz zu den Art. 48, 52 und 59 EWGV ist Art. 67 Abs. 1 EWGV, der die schrittweise Liberalisierung des innergemeinschaftlichen Kapitalverkehrs vorsieht, vom Gerichtshof auch nach Ablauf der Übergangszeit im Grundsatz

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8. Kap.: "Subsidiarität" und Ausnahmeregelungen

für nicht unmittelbar anwendbar erklärt worden 18. Die Freiheit des Kapitalverkehrs ist infolge der unterschiedlichen Kapitalmarktstrukturen der einzelnen Mitgliedstaaten und der Bedeutung des Kapitalmarkts für die nationale Wirtschaftsund Währungspolitik sekundärrechtlich noch nicht voll verwirklicht 19. Die neue RL zur Durchführung von Art. 67 vom 24. 6. 1988 20 strebt zwar eine völlige Liberalisierung des Kapitalverkehrs an. Sie soll aber zum einen erst bis Mitte 1990 umgesetzt werden und enthält zudem zahlreiche Ausnahme- und Übergangsregelungen für einzelne Bereiche und Mitgliedstaaten. Namentlich Irland, Griechenland, Spanien und Portugal können eine Übergangsregelung in Anspruch nehmen, derzufolge bis Ende 1992 bestimmte Beschränkungen zulässig sind. 2 . Dienstleistungen der Banken

Soweit Bankdienstleistungen oder Versicherungsleistungen mit Kapitalbewegungen verbunden sind, ist gemäß Art. 60 Abs. 1,61 EWGV eine Liberalisierung lediglich im Rahmen der Kapitalverkehrsvorschriften (Art. 67 ff. EWGV) gewährleistet 21. Diese Regelung trägt dem Umstand Rechnung, daß es sich beim Kapitalverkehr nicht - wie beim Dienstleistungsverkehr - um die Mobilität eines Produkts, sondern um die Mobilität eines Produktionsfaktors handelt, der infolge seiner besonderen gesamtwirtschaftlichen Bedeutung einer besonderen Regelung bedarf. Wann im einzelnen ein Vorgang vorliegt, der dem Kapital- und nicht dem Dienstleistungsverkehr unterfällt, läßt sich in der Regel anhand der RL zur Durchführung des Art. 67 ermitteln 22. In deren Anhängen werden die Kapitalbewegungen i. S. des Vertrages aufgezählt. So zählen beispielsweise die beratende Tätigkeit von Banken, die Bereitstellung von Schließfächern etc. eindeutig nicht zum Kapitalverkehr oder den mit Kapitalverkehr verbundenen Dienstleistungen, sondern zum Bereich der (auch passiven) Dienstleistungsfreiheit 23 • 18 EuGH Rs. 203/80 (Casati), EuGHE 1981,2595/2613 ff. Dazu u. a. M. Petersen, ELRev 1982, S. 167 ff., insbes. S. 170 ff.; Steindorff, FS Wemer, 1984, S. 877 ff., insbes. 882 ff.; GBTE-Kiemel, Art. 67 Rz. 10; Grabitz-Ress, Art. 67 Rz. 2 ff. 19 Vgl. Oliver, ELRev 1984, S. 410 ff.; Gleske, Liberalisierung des Kapitalverkehrs und Integration der Finanzmärkte, FS v. d. Groeben, S. 131 ff. Zur angestrebten Liberalisierung des Kapitalverkehrs im Rahmen der Vollendung des Binnenmarkts insbesondere EG-Kommission, Weißbuch zur Vollendung des Binnenmarkts, 1985, Ziff. 124 ff. 20 ABI. 1988 L 178/5. 21 Dies wird im Urteil des EuGH vom 21. 9. 1988 (Rs. 267/86 - Van Eycke - noch nicht veröffentlicht) noch einmal betont. Zum gegenwärtigen Liberalisierungsstand im Bereich des Kapitalverkehrs Zavvos, CMLRev 1988, 263 ff., insbes. 265 f. und EGKommission, Ein Gemeinsamer Markt für Dienstleistungen, 1989, S. 111 ff. 22 1. Richtlinie zur Durchführung des Art. 67 EWGV vom 11. 5. 1960, ABI. 1960, S. 921, nunmehr mit Wirkung zum 1. 7. 1990 ersetzt durch RL 88/361 v. 24.6. 1988 zur Durchführung von Art. 67, ABI. 1988 L 178/5. Vgl. Bull.EG Nr. 6/1988, S. 24 ff. und Lelakis, RevMC 1988, S. 441 ff.

A. Die "Subsidiarität"

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Die sonstigen, typischerweise in Zusammenhang mit dem Kapitalverkehr stehenden Dienstleistungen der Banken (Dienstleistungen im volkswirtschaftlichen Sinn machen den ganz überwiegenden Anteil der Banktätigkeiten überhaupt aus) unterfallen gemäß Art. 61 Abs.2 dem Kapitel über den Kapitalverkehr. Diese volkswirtschaftlich sehr bedeutsamen Bankdienstleistungen stehen nämlich wegen der ständig anfallenden Kapitalbewegungen in engem Zusammenhang mit der Liberalisierung des Kapitalmarktes und der Vereinheitlichung der Bankenaufsicht 24. Zu berücksichtigen ist zudem die Schlüsselfunktion des Kapitalmarkts für die jeweiligen - bislang nur bedingt koordinierten (Art. WS, 107 - 109, 130 a ff. EWGV) - einzelstaatlichen Wirtschafts- und Währungspolitiken, weshalb dieser sensible Bereich einer gesonderten Regelung zugeführt werden muß25. Entsprechend ist nach der Rechtsprechung des EuGH26 das Kapitalverkehrskapitel auch nicht unmittelbar anwendbar und eine Verwirklichung durch sekundäres Gemeinschaftsrecht notwendig. Solange dies nicht geschehen ist, besteht auch im Hinblick auf die Inanspruchnahme solcher Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat keine unbeschränkte passive Dienstleistungsfreiheit. Die Richtlinie 73/183/EWG vom 28. 6. 1973 zur Aufhebung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs für selbständige Tätigkeiten der Kreditinstitute und anderer finanzieller Einrichtungen 27 bildet die Rechtsgrundlage für die bislang nur ansatzweise erfolgte, in weiten Teilen erst noch zu verwirklichende Liberalisierung in diesem Bereich 28 . 3. Dienstleistungen der Versicherungen

Dienstleistungen der Versicherungen fallen grundsätzlich unter die Art. 59 ff. EWGV, somit auch unter die passive Dienstleistungsfreiheit 29 , soweit sie nicht 23 Vgl. Troberg in HER, Art. 61, Rz. 3 ff.; Smi! I Herzog-van Gerven, Art. 60, 60.05; Oliver, ELRev 1984, S. 401/419. 24 Näher zu diesem Zusammenhang Immenga I Schäfer, WM 1985, S. 2 ff. Zur bisherigen Entwicklung im Bankenrecht London, RTDE 1987, S. 593 ff. Vgl. zum gegenwärti-

gen Stand der Entwicklung den Kurzbericht in DB 1990, S. 310. 25 Zu bereits verwirklichten und noch geplanten Maßnahme im Bankensektor insbes. EG-Kommission (Hrsg.), Ein gemeinsamer Markt für Dienstleistungen, 1989 (Stand: März 1989). 26 Rs. 203/80 (Casati), EuGHE 1981, S. 2595/2616; differenzierend Lasok, Professions, S. 81. 27 ABI. L 194/1 ff.; dazu Clarotti, JCMS 1984, S. 199/206; Lasok, Professions, S. 237 ff.; Zur Frage, inwieweit durch die unmittelbare Anwendbarkeit des Art. 59 auch die in Art. 61 Abs. 2 EWGV genannten Dienstleistungen erfaßt werden, GBTE-Troberg, Art. 61 Rz. 6. 28 Einzelheiten zum gegenwärtigen Liberalisierungsstand bei Grabitz-Randelzhofer, Art. 61, Rz. 11-16; zu den Plänen der Kommission Lasok, Professions, S. 252 ff.; Zavvos, CMLRev 1988, S. 263/267 sowie EG-Kommission (Hrsg.), Auf dem Weg zu einem großen Binnenmarkt der finanziellen Dienstleistungen, Stichwort Europa Nr. 17/1988, S. 5 ff.

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8. Kap.: "Subsidiarität" und Ausnahmeregelungen

mit Kapitalbewegungen verbunden sind 30. Wenn sich also ein Gemeinschaftsbürger im Rahmen der passiven Dienstleistungsfreiheit z. B. anläßlich eines Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat bei einem dort ansässigen Unternehmen (z. B. gegen Reiseunfälle oder -diebstähle) versichert, unterfällt dieser Vorgang der passiven Dienstleistungsfreiheit 31 . Dasselbe gilt grundsätzlich auch, wenn er sich eigens zu dem Zweck, einen Versicherungsvertrag abzuschließen, in einen anderen Mitgliedstaat begibt (was praktisch jedoch kaum vorkommen wird).

IV. Dienstleistungen, die dem Verkehrskapitel unterfallen

1. Die Liberalisierung des Verkehrssektors als Problem des aktiven Dienstleistungsverkehrs Im Bereich des Verkehrs geht es vor allem darum, Verkehrs- und Transportunternehmern im Rahmen des aktiven Dienstleistungsverkehrs den gleichberechtigten Zugang zu anderen Märkten zu ermöglichen, in denen er keine eigene Niederlassung hat. Die Beförderung von Personen und Waren ist an sich ein klassischer und bedeutsamer Bereich des Dienstleistungssektors im volkswirtschaftlichen Sinn, der etwa 7 % des gemeinschaftlichen Bruttosozialprodukts ausmacht 32 . Im Hinblick auf die von der Gemeinschaft zu entwickelnde Verkehrspolitik (Art. 7484 EWGV) für die Bereiche Eisenbahn-, Straßen- und Binnenschiffsverkehr (Art. 84 Abs. 1) sowie See- und Luftverkehr (Art. 84 Abs. 2) wurden jedoch diese Dienstleistungen vom Anwendungsbereich der Art. 59 ff. EWGV ausgenommen (Art. 61 Abs. 1 EWGV)33. Dies gilt gemäß Art. 84 Abs. 2 auch für die See- und Luftschiffahrt. Auf diese Weise sollte der fundamentalen gesamtwirtschaftlichen Bedeutung des Verkehrssektors durch eine eigenständige Regelung Rechnung getragen werden. Daher sind die Art. 59 und 60 im Bereich des Verkehrs auch nicht unmittelbar anwendbar geworden 34 . 29 Zum Sekundärrecht im Versicherungswesen etwa Lasok, Professions, S. 259 ff. und zu im Rahmen der Verwirklichung des Binnenmarkts geplanten Maßnahmen EGKommission (Hrsg.), Ein gemeinsamer Markt für Dienstleistungen, 1989 (Stand: März 1989), S. 29 ff. 30 Hierzu EuGH Rs. 205/84 (Kommission / Bundesrepublik Deutschland), EuGHE 1986, 3755/3800 f. (Ziff. 19 f.). Vgl. auch Smit / Herzog-van Gerven, Art. 61, 61.05; Grabitz-RandelzhoJer, Art. 61, Rz. 17 ff. 31 Vgl. hierzu die RL des Rates vom 10. 12. 1984 zur insbesondere auf die touristische Beistandsleistung bezüglichen Änderung der Ersten RL 73/239 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung), ABI. 1984 L 339/ 21. Sie bezieht sich auf Beistandsleistungen von Versicherungen zugunsten von Personen, die auf Reisen oder während der Abwesenheit von ihrem Wohnsitz in Schwierigkeit geraten (z. B. Pannenhilfe). 32 EG-Kommission, Weißbuch zur Vollendung des Binnenmarkts, Ziff. 108. 33 Näher Burrows, Free Movement in European Community Law, S. 236 ff. 34 EuGH Rs. 13/83, EuGHE 1985, 1513/1599 (Ziff. 63).

A. Die "Subsidiarität"

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Daher sind z. B. die RL 74/561 vom 12.11.1974 über den Zugang zum Beruf des Güterkraftverkehrsunternehmers 35 und die RL 74/562 vom 12.11.1974 über den Zugang zum Beruf des Personenkraftverkehrsunternehmers 36 auf Art. 75 EWGV gestützt. Desweiteren ergingen im Hinblick auf die aktive Dienstleistungsfreiheit bislang u. a. die RL 77 /796 vom 12.12.1977 über die gegenseitige Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befahigungsnachweise für die Beförderung von Personen im Straßenverkehr und über Maßnahmen zur Förderung der tatsächlichen Inanspruchnahme der Niederlassungsfreiheit der betreffenden Verkehrsunternehmer 37 . Zudem wurden die Hilfsberufe des Verkehrssektors durch die RL 82/470 EWG vom 19.6.1982 38 (auch im Hinblick auf die Dienstleistungsfreiheit) liberalisiert, allerdings nur für bestimmte Hilfsgewerbetreibende des Verkehrs sowie für Lagerhalter und Reisevermittler 39 . Die eigentlichen Transportvorgänge wurden jedoch ausdrücklich nicht erfaßt 40 • In seinem aufsehenerregenden Urteil zur Verkehrspolitik vom 22.5. 1985 41 sprach der EuGH die Verpflichtung des Rates aus, gemäß Art. 75 Abs. 1 lit. a) und b) auch die (aktive) Dienstleistungsfreiheit auf dem Gebiet des Verkehrs einzuführen 42. In den letzten Jahren hat sich die Kommission daher verstärkt bemüht, die Schaffung einer Gemeinsamen Verkehrspolitik voranzutreiben und sich dabei "vor allem auf die Notwendigkeit konzentriert, den Grundsatz der Dienstleistungsfreiheit in allen Verkehrsbereichen einzuführen"43. Dabei wurden

35 ABI. 1974 L 308/18. 36 ABI. 1974 L 308/23. 37 ABI. 1977 L 334/37. 38 ABI. 1982 L 213/1. 39 Übersicht über weitere Rechtsakte im Verkehrsbereich, die u. a. objektive und subjektive Zulassungsbedingungen, Preisgestaltung, Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen betreffen, bei Erdmenger, Die gemeinsame Binnenverkehrspolitik der EG, S. 83/91 ff. und EG-Kommission, Ein Gemeinsamer Markt für Dienstleistungen, 1989, S. 69 ff. 40 Grabitz-RandelzhoJer, Art. 61, Rz. 6. 41 EuGH Rs. 13/83 (Europäisches Parlament/Rat der EG), EuGHE 1985, 1513; dazu u. a. Close, CMLRev 1985, S. 587/597 ff.; Erdmenger, EuR 1985, S. 375 ff., insbes. S. 378 ff.; Basedow, Verkehrsrecht und Verkehrspolitik als europäische Aufgabe, insbes. S. 19 ff. 42 Bleckmann, EuR 1987, S. 28/35, meint, durch das Urteil sei festgestellt worden, "daß die Freiheiten im Bereich des Verkehrs grundsätzlich voll anzuwenden sind." Demgegenüber weist Lenz, EuR 1988, S. 158/162, zutreffend darauf hin, daß die Frage, ob sich Marktbürger nach Ablauf einer "angemessenen Frist" auf die unmittelbare Geltung des Vertrages, insbesondere im Dienstleistungsbereich berufen können, nicht ausdrücklich entschieden sei. Dies belegt nunmehr auch die Entscheidung des EuGH vom 13.7. 1989, Rs. 4/88 (Lambregds Transportbedrijf), Ziff. 14 der Entscheidungsgründe. 43 Kommissionsmitglied Clinton Davis in Beantwortung einer Anfrage zur Schaffung einer Gemeinsamen Verkehrspolitik (Stellungnahme vom 28. 1. 1988, ABI. 1988 C 229/ 19). Vgl. auch Weißbuch der Kommission zur Vollendung des Binnenmarkts, Ziff. 109.

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8. Kap.: "Subsidiarität" und Ausnahmeregelungen

im Bereich des Seeverkehrs 44 und des Luftverkehrs 45 durch den Erlaß von jeweils vier neuen Rechtsakten des Rates Ende 1986 und 1987 ermutigende Fortschritte erzielt. Durch die va 4055/86 zur Anwendung des Grundsatzes des freien Dienstleistungsverkehrs auf die Seeschiffahrt zwischen Mitgliedstaaten sowie zwischen Mitgliedstaaten und Drittländern wird der freie Dienstleistungsverkehr im Bereich des Seeverkehrs in gewissem Umfang nunmehr gewährleistet. Durch die Vereinbarungen im Bereich des Luftverkehrs ist nunmehr das Recht eines Luftverkehrsunternehmens, das in einem Mitgliedstaat niedergelassen ist, gewährleistet, Passagiere zwischen zwei Flughäfen im Hoheitsgebiet zweier anderer Mitgliedstaaten zu befördern. Im Bereich des Landverkehrs wurden die Vorschläge der Kommission, die auf die Einführung der Dienstleistungsfreiheit in den verschiedenen Bereichen des Landverkehrs abzielen, noch nicht alle vom Rat verabschiedet. Immerhin erließ der Rat am 21. 6. 1988 eine va über den Zugang zum Markt im Güterverkehr zwischen den Mitgliedstaaten 46 • Durch sie soll bis zum 1. I. 1993 ein von sämtlichen mengenmäßigen Beschränkungen befreiter Markt verwirklicht werden. Weitere geplante Maßnahmen sollen der Beseitigung von Weubewerbsverzerrungen in technischen, steuerlichen und sozialen Bereichen und der Verwirklichung der Dienstleistungsfreiheit im grenzüberschreitenden Straßenpersonenfernverkehr dienen 47.

44 Seeverkehrsverordnungen des Rates vom 22. 12. 1986: VO 4055/86 zur Anwendung des Grundsatzes des freien Dienstleistungsverkehrs auf die Seeschiffahrt zwischen Mitgliedstaaten sowie zwischen Mitgliedstaaten und Drittländern (ABI. 1986 L 378/1); VO 4056/86 über die Einzelheiten der Anwendung der Art. 85 und 86 EWGV auf den Seeverkehr (ABI. 1986 L 378/4); VO Nr. 4057/86 über unlautere Preisbildungspraktiken in der Seeschiffahrt (ABI. L 1986378/14); VO 4058/86 für ein koordiniertes Vorgehen zum Schutz des freien Zugangs zu Ladungen in der Seeschiffahrt (ABI. 1986 L 378/ 21). - Zu den wettbewerbsrechtlichen Aspekten Werner, Die Wettbewerbsverordnung der EWG für den Seeverkehr, NJW 1988, S. 2159 f. 45 Vier neue Rechtsakte des Rates vom 14. 12. 1987 im Bereich des Luftverkehrs, sämtlich in ABI. 1987 L 374 v. 31. 12. 1987: VO 3975/87 über die Einzelheiten der Anwendung der Wettbewerbsregeln auf Luftfahrtunternehmen (S. 1 ff.); VO 3976/87 zur Anwendung von Art. 85 Abs. 3 des Vertrages auf bestimmte Gruppen von Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen im Luftverkehr (S. 9 ff.); RL 87/601 über Tarife im Fluglinienverkehr zwischen Mitgliedstaaten (S. 12 ff.); Entscheidung über die Aufteilung der Kapazitäten für die Personenbeförderung zwischen Luftfahrtunternehmen im Fluglinienverkehr zwischen Mitgliedstaaten und über den Zugang von Luftfahrtunternehmen zu Strecken des Fluglinienverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten (S. 19 ff.); vgl. EG-Kommission (Hrsg.), 21. Tätigkeitsbericht 1987, Ziff. 622, 644; Balfour, ELRev 1989, S. 30 ff. Diese Regelungen erscheinen umso notwendiger, als die Zuwachsrate des gemeinschaftsweiten Luftverkehrs 1987 14 % betrug und sich das europäische Luftverkehrsaufkommen nach jüngsten Schätzungen im nächsten Jahrzehnt verdoppeln wird (EG-Magazin, Nr. 9/1988, S. 22). 46 VO 1841/88 vom 21. 6.1988 zur Änderung der VO 3164/76 über das Gemeinschaftskontigent für den Güterkraftverkehr zwischen den Mitgliedstaaten, ABI. 1988 L 163/1 f. Vgl. Bull.EG Nr. 6/1988, S. 13 f. 47 Näher EG-Kommission (Hrsg.), Ein gemeinsamer Markt für Dienstleistungen, 1989 (Stand: März 1989), S. 69 ff.

A. Die "Subsidiarität"

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2. Verkehrsdienstleistungen im Rahmen der passiven Dienstleistungs/reiheit Für den passiven Leistungsempfanger ist die Inanspruchnahme einer Transportleistung (Taxi, Mietwagen, Eisenbahn, Flugzeug etc.) im Rahmen seines Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat faktisch in der Regel unproblematisch, da die Beschränkungen im Verkehrsbereich in aller Regel nur den aktiven Erbringer von Verkehrsleistungen betreffen. Rechtlich unterfallen solche Transportleistungen im Gastland für den passiven Dienstleistungserbringer und -empfanger uneingeschränkt der passiven Dienstleistungsfreiheit, da sich die Einschränkung des Art. 61 EWGV, wie bereits dargestellt, ihrer Zielsetzung nach allein auf den Verkehrsunternehmer im Rahmen des aktiven Dienstleistungsverkehrs bezieht. Zu diesem Ergebnis kam auch jüngst GA Lenz in seiner grundsätzlichen Stellungnahme zur passiven Dienstleistungsfreiheit 48: "Gegen die Einbeziehung mitgliedstaatlicher Transportleistungen in den Kreis der fremdenverkehrsrelevanten Dienstleistungserbringer könnte auf den ersten Blick allenfalls Artikel 61 EWG-Vertrag sprechen. [... ] Der Einwand kann jedoch als vordergründig zurückgewiesen werden. Artikel 61 EWG-Vertrag betrifft in erster Linie den grenzüberschreitenden Verkehr als primären Regelungsgegenstand des freien Dienstleistungsverkehrs. Darüber hinaus wird aber auch der nichtgebietsansässige Verkehrsunternehmer in seiner Eigenschaft als Dienstleistungserbringer erfaßt. Die hier vertretene Auffassung wird bestätigt durch das Urteil in der Rechtssache 13/83, in dem die Regelungsmaterie des Artikels 61 Abs. 1 in Verbindung mit Artikel 75 Abs. 1 Buchstaben a und b EWGVertrag umschrieben wird als der ,internationale(n) Verkehr aus oder nach dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates oder den Durchgangsverkehr durch das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates oder den Durchgangsverkehr durch das Hoheitsgebiet eines oder mehrerer Mitgliedstaaten' sowie ,die Bedingung für die Zulassung von Verkehrs unternehmen zum Verkehr innerhalb eines Mitgliedstaats, in dem sie nicht ansässig sind, ... '. Es bestehen somit keine Bedenken, eine Transportleistung auch ohne Auslandsberührung als Dienstleistung für einen in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Dienstleistungsempfanger zu betrachten, da auch von der Entgeltlichkeit der Leistung in dem Sinne auszugehen ist, daß das Entgelt die Gegenleistung für die Inanspruchnahme der Transportleistung ist."49 Diesen Ausführungen ist im Ergebnis zuzustimmen. An der Begründung ist zu kritisieren, daß sie vom Fehlen einer Auslandsberührung ausgeht. Die Auslandsberührung (bzw. in der hier verwendeten Terminologie das "Element der Grenzüberschreitung") liegt jedoch hier wie stets bei der passiven Dienstleistungsfreiheit darin, daß sich der Empfanger der Leistung vorübergehend in einen anderen Mitgliedstaat begibt und dort als Ausländer die Leistung entgegennimmt. 48 Schlußanträge vom 6. 12. 1988 in der Rs. 186/87 (Cowan), noch nicht veröffentlicht. Näher o. 3. Kapitel E II. und III. 49 Schlußanträge, Ziff. 33 f. (Hervorhebungen im Original. Die Fundstelle des EuGHUrteils wird vom Generalanwalt in einer Fußnote angegeben.).

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8. Kap.: "Subsidiarität" und Ausnahmeregelungen

V. Dienstleistungen und Warenverkehr

1. Abgrenzung im Hinblick auf aktive und Korrespondenzdienstleistungen Im Rahmen dieser Dienstleistungsvarianten überschreiten nicht selten verkörperte und nicht verkörperte Wirtschaftsgüter gleichzeitig die Grenze: Eine Maschine wird in einen anderen Mitgliedstaat verbracht und dort sachkundig installiert. Hier gilt die grundsätzliche Unterscheidung, daß verkörperte Güter unter das Warenverkehrskapitel fallen, "unsichtbare" Güter unter das Dienstleistungskapitel. Auf dieser Linie liegt die seit 1974 entwickelte EuGH-Rechtsprechung im Rundfunksektor 50 • Dort wird für den Bereich des Rundfunks festgestellt, daß die Sendetätigkeit selbst unter das Dienstleistungskapitel fällt, während der Verkehr mit Filmen, Aufzeichnungsgeräten und sonstigen gegenständlichen HilfsmitteIn den Vorschriften über den Warenverkehr unterliegt. Auch für andere Formen der Telekommunikation ist daher grundsätzlich von einer Anwendbarkeit des Dienstleistungskapitels auszugehen (Korrespondenzdienstleistungen ) 51 •

2. Passive Dienstleistungsfreiheit Beim passiven Dienstleistungsverkehr findet kein grenzüberschreitender Warenaustausch statt.Wenn ein Tourist in einem Restaurant eine Mahlzeit oder in einer Bar Getränke zu sich nimmt, ist dies kein grenzüberschreitender Warenverkehr. Dasselbe gilt für Sachleistungen im Rahmen eines Kuraufenthalts. - Wer umgekehrt eigens in einen anderen Mitgliedstaat reist, um eine Ware zu kaufen und sie mit sich nach Hause zu nehmen, ist, auch wenn er sich vorher beraten läßt, kein passiver Dienstleistungsempfänger. Sein Recht auf Einreise und Aufenthalt ist ein aus der Warenverkehrsfreiheit herzuleitendes Begleitrecht. Bei "gemischten" wirtschaftlichen Vorgängen (ein Geschäftsmann will sich auf einer Messe nur entgeltlich beraten lassen, kauft dann aber auch gleich ein bestimmtes Gerät und nimmt es mit) ist im Einzelfall danach zu entscheiden, zu welchem Vertragskapitel der Vorgang seinem Schwerpunkt nach gehört. VI. Dienstleistungen im Agrarsektor

Gemäß Art. 38 Abs.2 EWGV finden die Vorschriften über die (aktive und passive) Dienstleistungsfreiheit grundsätzlich auch im Bereich landwirtschaftlich geprägter Dienstleistungen Anwendung. Wegen der Ortsgebundenheit landwirtschaftlicher Leistungen dürfte allerdings in aller Regel nur ein Ortswechsel des 50 EuGH, Rs. 155/73, EuGHE 1974,409 ff. (Sacchi); st. Rspr. - Näher zur Abgrenzung Schöne, Dienstleistungsfreiheit in der EG und deutsche Wirtschaftsaufsicht, 1989, S. 54 ff. 51 Vgl. z. B. Scherer, ELRev 1987, S. 354/359 f.

B. Ausnahmeregelungen

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Leistungserbringers in Frage kommen. Dementsprechend wurden durch die RL 65/1 über die Einzelheiten der Verwirklichung des freien Dienstleistungsverkehrs in den Berufen der Landwirtschaft und des Gartenbaus vom 14. 12. 1964 52 gewisse landwirtschaftliche Dienstleistungen im Hinblick auf die aktive Dienstleistungsfreiheit und mögliche Beschränkungen des grenzüberschreitenden Leistungserbringers liberalisiert. Soweit sich allerdings ein Landwirt z. B. zur entgeltlichen Beratung über landwirtschaftliche Methoden oder Geräte in einen anderen Mitgliedstaat begeben sollte, greifen ohne weiteres die Vorschriften über die passive Dienstleistungsfreiheit ein.

B. Beschränkungen bei Ausübung öffentlicher Gewalt oder aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit oder aufgrund einer speziellen Ausnahmeregelung I. Mit Ausübung öffentlicher Gewalt verbundene Tätigkeiten

Gemäß Art. 66 i. V. m. Art. 55 Abs. 1 EWGV findet das Dienstleistungskapitel auf Tätigkeiten, die in einem Mitgliedstaat "dauernd oder zeitweise mit der Ausübung öffentlicher Gewalt" verbunden sind, keine Anwendung. Im Rahmen der aktiven Dienstleistungsfreiheit kann sich also der Dienstleistungserbringer bei einer Tätigkeit, die mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden ist, nicht auf Art. 59 ff. EWGV berufen 53. Da es sich bei Art. 55 um eine Ausnahmeregelung handelt, ist er jedenfalls grundsätzlich eng auszulegen 54. Die nicht ganz inhaltsgleiche, aber nach der Rechtsprechung des EuGH ebenfalls restriktiv zu interpretierende Parallelvorschrift des Art. 48 Abs. 4 EWGV55 ist weiter gefaßt und nimmt jede Beschäftigung in der "öffentlichen Verwaltung" vom Anwendungsbereich der Freizügigkeit aus. Allerdings ist auch Art. 48 Abs. 4 EWGV "als Ausnahme vom Grundprinzip der Freizügigkeit und der Nichtdiskriminierung der Arbeitnehmer in der Gemeinschaft so auszulegen, daß sich seine Tragweite auf das beschränkt, was zur Wahrung der Interessen, die diese Bestimmung den Mitgliedstaaten zu schützen erlaubt, unbedingt erforderlich ist" 56. Der Schutzzweck dieser Vorschrift dürfte vor allem darin zu sehen sein, daß gewisse Staats52 ABI. 1965, S. 1; dazu Smit / Herzog-van Gerven, Art. 63, 63.05c; Lasok, Professions, S. 120 ff. (mit Darstellung weiterer RL aus dem Agrarbereich). 53 Hierzu drei anschauliche Beispiele bei Grabitz-RandelzhoJer, Art. 66, Rz. 2. 54 Z. B. EuGH Rs. 67/74 (Bonsignore), EuGHE 1975, 297/307 st.Rspr. 55 Oppermann, Europarecht, Rz. 1445-1447 und die ausführliche Untersuchung von Hochbaum / Eise1stein, Die Freizügigkeitsrechte des Art. 48 Abs. 4 EWGV und der öffentliche Dienst, 1988, insbes. S. 28 ff. Zum Begriff der öffentlichen Verwaltung und der hoheitlichen Tätigkeit in den einzelnen Mitgliedstaaten Klinge, Die Begriffe "Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung" und "Ausübung öffentlicher Gewalt" im Gemeinschaftsrecht, 1980, S. 53 ff., 288 ff. 56 EuGH Rs. 225/85 (Kommission/ltalienische Republik), Urt.v. 16.6.1987, EuGHE 1987, 2625/2636 ff., st.Rspr.

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8. Kap.: "Subsidiarität" und Ausnahmeregelungen

ämter eine besondere Loyalität des Amtsinhabers erfordern, die von Inländern eher zu erwarten sei. Die restriktive Rechtsprechung des EuGH läßt es daher nicht ausreichen, daß eine bestimmte staatliche Stellung mit der Beamteneigenschaft verbunden ist 57 • Sie verlangt bei Art. 48 Abs. 4 in funktioneller Betrachtungsweise, daß der öffentliche Bedienstete mit der unmittelbaren oder mittelbaren Ausübung öffentlicher Gewalt und mit einer Verantwortung für die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften betraut sein müsse 58 , was im Rahmen des Art. 55 Abs. 1 nicht erforderlich ist. Dafür wird der Anwendungsbereich dieser Vorschrift auf diejenigen Tätigkeiten beschränkt, die eine "unmittelbare und spezifische" Teilnahme an der Ausübung öffentlicher Gewalt beinhalten 59. Auf diese Weise soll "die Einmischung von Ausländern in die Staatstätigkeit"60 verhindert werden. Dies ist nach der Rechtsprechung des EuGH61 z. B. bei typischen Tätigkeiten eines Rechtsanwalts in aller Regel nicht der Fall 62, dürfte aber bei einem hoheitlich handelnden Gerichtsvollzieher oder Notar zu bejahen sein 63 . Im Rahmen der aktiven und passiven Dienstleistungsfreiheit übt der Dienstleistungsempfanger keine "Tätigkeit" im Sinne der Vertragsvorschriften aus. Auf 57 Z. B. EuGH Rs. 66/85 (Lawrie-Blum), EuGHE 1986,2121/2146; EuGH Rs. 225/ 85 (Kommission/ltalien), Urt. v. 16.6.1987. 58 EuGHRs. 149/79 (Kommission/Belgien), EuGHE 1982, 1845/1851 (dazu Druesne, RTDE 1981, S. 286 ff.) st. Rspr.; Vgl. zu dieser Rspr.. Karpenstein, Zur Tragweite des Art. 48 Abs.4 EWGV, GS Constantinesco, S. 377 ff., insbes. 382 ff.; Goerlich / Bräth, DÖV 1987, S. 1038 ff. und Hochbaum / Eise1stein, Die Freizügigkeitsrechte des Art. 48 EWGV und der öffentliche Dienst, 1988, insbes. S. 28 ff. m. w.N. - Neuerlich bestätigend Rs. 66/85 (Lawrie-Blum), EuGHE 1986, 2121/2147 und EuGH Rs. 225/ 85 (Kommission /Italienische Republik), Urteil vom 16. 6. 1987 für Forscher an einem nationalen italienischen Institut, dort auch hinsichtlich der Arbeitsbedingungen, sowie EuGH Rs. 33/88 (Allue und Coonan), Urt. v. 30. 5. 1989 für Fremdsprachenlektorinnen an der Universita degli Studi Venezia. Streitig war bislang, ob diese beiden Kriterien (Ausübung hoheitlicher Befugnisse und Wahrung der allgemeinen Belange des Staates) wirklich kumulativ oder nur alternativ vorliegen müssen. Für letzteres Handoll, ELRev 1988, S. 223/230 f., der dies insbesondere aus einer Analyse des Urteils Rs. 225/85 herleitet und die größere Flexibilität dieser Lösung betont. Ihm folgend White in seiner Besprechung des Urteils, ELRev 1988, S. 345/346 f. Auch die Kommission versteht das Urteil in dieser Weise, schließt aber nicht aus, daß es sich um ein unverbindliches obiter dictum gehandelt haben könnte (21. Gesamtbericht 1987, Ziff. 951). Hochbaum / Eise1stein, Die Freizügigkeitsrechte des Art. 48 EWGV und der öffentliche Dienst, S. 31, vertreten im Text noch die kumulative Lösung, weisen aber in Fn. 30 auf die "alternative" Tendenz des genannten Urteils hin. Für die kumulative Lösung jüngst und m.E. mit Recht GA Lenz, Schlußanträge zu Rs. 33/88 (Allue und Coonan) vom 14.2.1989. 59 EuGH Rs. 2/74 (Reyners), EuGHE 1974,631/655. 60 Bleckmann, Europarecht, S. 337. 61 Rs. 2/74 (Reyners), EuGHE 1974,631/655 f. Die Frage war zuvor in den Mitgliedstaaten lebhaft umstritten, vgl. Brunois, RTDE 1977, S. 397/403. 62 Zu diesem Ergebnis kam vor dem Urteil des EuGH bereits die eingehende Untersuchung Tomuschats, ZaöRV 1967, S, 53 ff., insbes. S. 75 ff.; gleicher Ansicht etwa Boie, NJW 1977, S. 1567/1568; Bleckmann, Europarecht, S. 338 m. W.N. 63 Grabitz-Randelzhojer, Art. 55, Rz. 6. Für Frankreich und verwandte Rechtsordnungen Goldman, Droit Commercial Europeen, Ziff. 141.

B. Ausnahmeregelungen

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ihn findet die Vorschrift des Art. 55 Abs. 1 EWGV daher ohnehin keine Anwendung 64 • Hinsichtlich der passiven Dienstleistungsfreiheit stellt sich daher lediglich die Frage, ob der gebietsfremde Empfänger von Dienstleistungen sich im Hinblick auf staatliche Dienstleistungen wegen Art. 55 Abs. 1 nicht auf das Dienstleistungskapitel berufen kann, ob also der staatliche Leistungserbringer unter Berufung auf Art. 55 Abs. 1 die Erbringung einer Dienstleistung an einen Ausländer verweigern könnte, weil die Erbringung der Leistung mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sei 65. Diese Fragestellung setzt jedoch logisch voraus, daß staatliche (öffentliche) Dienstleistungen, die mit der Ausübung von öffentlicher Gewalt verbunden sind, überhaupt unter das Dienstleistungskapitel fallen. Wie bereits oben 66 ausgeführt, fallen auch staatliche Maßnahmen und Leistungen unter das Dienstleistungskapitel, soweit sie als Teil des Wirtschaftslebens betrachtet werden können, insbesondere also in der Regel gegen Entgelt erbracht werden. Sinn des Art. 55 Abs. 1 ist lediglich, fremde Staatsangehörige von der Ausübung staatlicher Gewalt fernzuhalten. Diese Zielsetzung hat mit der Möglichkeit eines Gebietsfremden, staatliche Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen, nichts zu tun. Daher wird man Art. 55 Abs. I in restriktiver Weise dahingehend interpretieren müssen, daß er über die Inanspruchnahme staatlicher Leistungen durch Gebietsfremde (etwa im Rahmen der passiven Dienstleistungsfreiheit) nichts aussagt. Welche staatlichen Leistungen dem gebietsfremden Leistungsempfänger gleichberechtigt zugänglich sein müssen, entscheidet sich auf anderer Ebene, nämlich bei der Frage, welche Leistungen überhaupt unter das Dienstleistungskapitel fallen. 11. Der Ordre-public-Vorbehalt: Öffentliche Ordnung, Sicherheit und Gesundheit

Gemäß Art. 66 i. V. m. Art. 56 EWGV behalten ausländerrechtliche Sonderregelungen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit ergehen, ungeachtet der Freizügigkeitsvorschriften weiterhin ihre Gültigkeit 67. 64 Kranz, Die Ausübung öffentlicher Gewalt durch Private nach dem Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 90. 65 Kranz, ebd., schließt die Anwendbarkeit von Art. 55 Abs. I auf den passiven Dienstleistungserbringer von vornherein mit dem Argument aus, die Vorschrift wolle nur ,,Angehörige fremder Mitgliedstaaten von der Ausübung der in Art. 55 Abs. 1 beschriebenen Agenden" ausschließen. Dabei wird aber die denkbare Variante, daß sich ein staatlicher passiver Dienstleistungserbringer gerade auf diese Vorschrift berufen könnte, nicht näher diskutiert. 66 4. Kapitel B V.1. 67 Vgl. z. B. Randelzhofer, Der Einfluß des Völker- und Europarechts auf das deutsche Ausländerrecht, S. 45 ff. - Die Parallel vorschrift bezüglich der unselbständig Tätigen findet sich in Art. 48 Abs. 3 EWGV. - Der Begriff der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ist nicht im Sinne eines internationalrechtlichen ordre public, sondern in einem spezifisch verwaltungsrechtlichen, insbesondere polizeirechtlichen Sinn zu verstehen (GBTE-Troberg, Art. 56 Rz. 2).

13 Völker

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8. Kap. : "Subsidiarität" und Ausnahmeregelungen

Diese Regelung gilt für den aktiven wie für den passiven Dienstleistungsverkehr. Allerdings sind sie, da sie die Freizügigkeitssystematik als Ausnahmeregelungen durchbrechen, eng auszulegen 68. Ihre Reichweite unterliegt der Nachprüfung durch die Gemeinschaftsorgane 69 • Ein Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten besteht nur innerhalb enger Grenzen: es muß zu ihrer Rechtfertigung eine "tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung" vorliegen, welche ein "Grundinteresse der Gesellschaft" berührt 70 • Entsprechend dürfte die diffizile und streitige Frage, ob der Begriff der öffentlichen Ordnung eher nach dem jeweiligen nationalen Recht oder nach Gemeinschaftsrecht zu verstehen ist 71 , eher in letzterem Sinne zu entscheiden sein. Nach der vermittelnden Auffassung des EuGH ist die "öffentliche Ordnung" zwar ein gemeinschaftsrechtlicher Begriff, der aber in den genannten Grenzen nach den nationalen Bedürfnissen der Mitgliedstaaten näher bestimmt werden könne 72, was die Gefahr mit sich bringt, daß (zumindest in Nuancen) unterschiedliche Auffassungen der Mitgliedstaaten in diesen Fragen doch perpetuiert werden. Die gemäß Art. 56 Abs. 2 für den Bereich der Dienstleistungsfreiheit und Niederlassungsfreiheit durchzuführende Koordinierung der entsprechenden nationalen Rechtsvorschriften erfolgte zunächst durch die RL 64/221 vom 25. 2. 1964 73 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind. Diese RL regelt die Sondervorschriften sowohl für Selbständige als auch für die Wanderarbeitnehmer (Art. 1 Abs. 1) und deren Familienangehörige (Art. 1 Abs.2). Auch aktive Dienstleistungserbringer und passive Dienstleistungsempfänger nebst deren Angehörigen werden durch Art. 1 einbezogen. Nach der RL dürfen Beschränkungen nicht für wirtschaftliche Zwecke geltend gemacht werden (Art. 2 Abs.2 74 ). Für Maßnahmen der öffentlichen Ordnung EuGH Rs. 41/74 (van Duyn), EuGHE 1974, 1337/1350. EuGH a. a. 0., st.Rspr. 70 EuGH Rs. 36/75 (Rutili), EuGHE 1975, 1219/1231; Rs. 30/77 (Bouchereau), EuGHE 1977, 1999/2013, st. Rspr.. Zu dem umstrittenen Urteil Rs. 41/74 (Van Duyn; EuGHE 1974, 1337), das ausländerpolizeiliche Maßnahmen gegen Angehörige von Organisationen zuläßt, die zwar namentlich für Inländer nicht verboten, aber unerwünscht sind und der Kritik hieran etwa Lyon-Caen, RTDE 1976, S. 141/142; Tomuschat, CDE 1975, S. 302 ff., insbes. S. 307 ff.; und CDE 1976, S. 58 ff.; Loy, JDI 1975, S.728/ 747 ff. ; Wägenbaur, KSE Bd. 28, S. 1/20; Weber, Schutznonnen und Wirtschaftsintegration, 1982, S. 155 f.; Grabitz-Randelzhojer, Art. 56, Rz. 7; BBPS-Streil, S. 324 f.; kritisch zur Rspr. des EuGH auch Lasok, Professions, S. 53 ff.; anderer (restriktiverer) Ansicht Hailbronner, Ausländerrecht, 1. Auf!. 1984, Rz. 851. und Stein, NJW 1976, S. 1553/ 1157. Vgl. auch Wooldridge, ELRev 1977, S. 190 ff., insbes. 195 f. 71 Dazu etwa Bongen, Schranken der Freizügigkeit, 1975, S. 69 ff.; Jungmann, Die Freizügigkeit von Arbeitnehmern, 1984, S. 78 ff.; Hailbronner, DÖV 1977, S. 857 ff., insbes. S. 859 f.; Bleckmann, Europarecht, S. 340 f.; BBPS-Streil, S. 323. 72 EuGH Rs. 36/75 (Rutili), EuGHE 1975,1219/1231 st.Rspr. 73 ABI. 1964, S. 850. 68

69

B. Ausnahmeregelungen

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oder Sicherheit darf ausschließlich das persönliche Verhalten der in Betracht kommenden Einzelpersonen ausschlaggebend sein (wodurch z. B. eine Ausweisung aus generalpräventiven Gründen verboten ist15 ), wobei strafrechtliche Verurteilungen allein diese Maßnahmen nicht ohne weiteres begründen können (Art. 3 Abs. 1 und 2 76). Allerdings kann sich nach der deutschen Rechtsprechung eine hinreichende Gefährdung bereits allein aus dem abgeurteilten Verhalten ergeben 77. Das bloße Ungültigwerden des Reisepasses, der die Einreise ermöglicht hat, rechtfertigt keine Ausweisung (Art. 3 Abs. 3 78 ). Als Krankheiten, welche die öffentliche Gesundheit gefährden können, kommen nur die in den Anhängen genannten Gebrechen in Betracht (Art. 4 Abs. 1 79 ). Ausländerpolizeiliche Entscheidungen sind zu begründen (Art. 6)80. Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, dem Ausländer diejenigen Rechtsbehelfe und Rechtsmittel gegen ausländerrechtliche Maßnahmen einzuräumen, die einem Inländer gegen Verwaltungsakte zustehen (Art. 8)81. Diese RL wurde später durch die RL 73/148 82 ergänzt. Wie bereits am Titel der RL erkennbar, wurde eine Koordinierung für alle Aufenthaltsarten im Freizügigkeitsbereich der Selbständigen angestrebt, also sowohl für die Dienstleistungsfreiheit als auch für die Niederlassungsfreiheit 83 , die ein möglichst umfassendes Einreise- und Aufenthaltsrecht garantieren soll, auch wenn Art. 8 noch die Möglichkeit von einzelstaatlichen Ausnahmeregelungen (nur) aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit vorsieht 84. Nach Art. 1 Abs. 1 b) gelten die Vorschriften der RL auch für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten, die sich als Empfänger einer Dienstleistung in einen anderen Mitgliedstaat begeben wollen, also auch für passive Dienstleistungsempfänger. 74 Entsprechend auch die Regelung im nationalen Recht der Bundesrepublik Deutschland (§ 12 Abs. 2 AufenthG / EWG). Entsprechendes gilt auch für den Begriff der "öffentlichen Ordnung" in Art. 56 i.V. m. Art. 66 EWGV, EuGH Rs. 352/85 (Bond van Adverteerders/Niederlande), Urt. v. 26.4.1988. 75 So auch ausdJÜcklich EuGH Rs. 67/74 (Bonsignore), EuGHE 1975, 297/307. 76 Entsprechend § 12 Abs. 4 AufenthG / EWG. 77 BVerwGE 57,51,65; BVerwG NJW 1984, 1315/1317. 78 Entsprechend § 12 Abs. 5 AufenthG / EWG. 79 Näher GBTE-Troberg, Art. 56 Rz. 3. Vgl. für die Bundesrepublik Deutschland § 12 Abs. 6 AufenthG / EWG. 80 Entsprechend § 12 Abs. 8 AufenthG / EWG. Zur Problematik der bayerischen Maßnahmen zur Aids-Bekämpfung im Hinblick auf die gemeinschaftsrechtliche Freizügigkeit Van der Woude/ Mead, CMLRev 1988, s. 117/130. 81 Vgl. EuGH Rs. 98/79 (Pecastaing), EuGHE 1980,691/711 ff.; Rs. 131/79 (Santil10), EuGHE 1980, 1585/1595 ff.; zu diesen Entscheidungen O'Kee[e, CMLRev 1982, 5.35 ff. 82 RL 73/148 vom 21.5. 1973 zur Aufhebung der Reise und Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Niederlassung und des freien Dienstleistungsverkehrs, ABI. 1973 L 172/14. 83 Näher zum Inhalt der RL 7. Kapitel A IV. 84 Dem entspricht auch die deutsche Regelung in § 12 Abs. 1 AufenthG /EWG.

13"

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8. Kap.: "Subsidiarität" und Ausnahmeregelungen

Die RL 72/194 85 vom 18.5.1972 dehnte diese Koordinierung auch auf den durch ein Verbleiberecht (etwa gemäß Art. 48 Abs. 3 d) EWGV und dem entsprechenden Sekundärrecht) gerechtfertigten Aufenthalt eines gebietsfremden EGAngehörigen aus. Insoweit erfolgte selbstverständlich keine Einbeziehung der passiven Dienstleistungsempfänger, da für diese kein Verbleiberecht nach Abwicklung des Leistungsvorgangs bestehen soll.

[11. Spezielle Ausnahmeregelungen nach Art. 55 Abs.2 i. V. m. Art. 66 EWGV

Gemäß Art. 55 Abs. 2 i. V. m. Art. 66 EWGV kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit auf Vorschlag der Kommission beschließen, daß das Dienstleistungskapitel auf bestimmte Tätigkeiten keine Anwendung findet. Über Reichweite und Zweck dieser ungewöhnlichen Vorschrift besteht keine Klarheit: Aus ihrem Ausnahmecharakter und ihrer systematischen Stellung in Art. 55 wird von RandelzhoJer geschlossen, daß sie sich ausschließlich auf Tätigkeiten beziehen könne, die mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind 86 • Auch Roth 87 weist auf ihren augenscheinlichen Zusammenhang mit Art. 55 Abs. 1 hin, betont aber zutreffend den allgemein gehaltenen Wortlaut, der dahingehend einzuengen sei, daß nur "überragende wichtige Gründe" ihre Anwendung rechtfertigen könnten. Eine genauere Analyse erscheint im Rahmen dieser Untersuchung nicht erforderlich: Von der Einschränkungsmöglichkeit dieser Vorschrift wurde bislang kein Gebrauch gemacht, und es bestehen auch keine Bestrebungen in dieser Richtung.

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ABI. 1972 L 121/32.

Grabitz-RandelzhoJer, Art. 55, Rz. 12 f., der die Vorschrift ohnehin für systemwidrig und obsolet hält. Auch Goldman, Droit commercial europeen, Ziff. 160 lit. f.) (S. 197 f.) hält die Vorschrift nach Ablauf der Übergangszeit für nicht mehr anwendbar. 87 EuR 1987, S. 7/11 f. 86

9. Kapitel

Der persönliche und räumliche Geltungsbereich der passiven Dienstleistungsfreiheit A. Der persönliche Geltungsbereich I. Allgemeine Grundsätze

1. Staatsangehörige von Mitgliedstaaten a) Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates Wie alle Freizügigkeitsregelungen ist auch der persönliche Anwendungsbereich des Dienstleistungskapitels (und somit auch die passive Dienstleistungsfreiheit) auf Angehörige der EG-Mitgliedstaaten beschränktl. Dabei haben die Mitgliedstaaten grundsätzlich die völkerrechtliche Befugnis zu bestimmen, welche Personen ihre Staatsangehörigkeit besitzen 2 • Es ist allerdings nur erforderlich, daß derjenige, der im Wege der eigenen Grenzüberschreitung eine Dienstleistung erbringt oder empfängt und sich dabei auf die Dienstleistungsfreiheit beruft, die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates besitzt 3, im Fall der passiven Dienstlei1 In Durchbrechung dieses Prinzips sind auch Staatenlose und Flüchtlinge, die in einem Mitgliedstaat wohnen, in den Geltungsbereich der va 1408/71 über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer (ABI. 1971 L 149/2) einbezogen (Art. 1 d), e), 2 Abs. 1 va 1408/71). - Im Hinblick auf Flüchtlinge im Sinne des Genfer Abkommens vom 28.7. 1951 über den Status der Flüchtlinge existiert im übrigen lediglich eine Erklärung der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten vom 25.3. 1964 (ABI. 1964, S. 1225), nach der bei solchen Flüchtlingen, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates ansässig sind, die Einreise in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates zur Ausübung einer Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis besonders wohlwollend geprüft werden muß. Über den passiven Dienstleistungsverkehr enthält die Erklärung keine ausdrückliche Aussage. 2 GBTE-Troberg, Art. 52 Rz. 23. 3 Kranz, Die Ausübung öffentlicher Gewalt durch Private nach dem Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 86 f. Für den aktiven Dienstleistungserbringer Lipstein, The Law of the European Economic Community, S. 164 f. - Die Bundesrepublik Deutschland hat insoweit bei der Unterzeichnung der Römischen Verträge eine Erklärung abgegeben, derzufolge als Staatsangehörige der Bundesrepublik Deutschland alle Deutschen im Sinne des Grundgesetzes gelten (BGBI. 1957 11, 764). Zur rechtlichen Tragweite dieser Erklärung Tomuschat, EuR 1969, S. 298 ff. und Klein, Die deutsche Frage in der EG, S. 79 f. m. w. N., nach dessen Auffassung die Freiheiten des Gemeinschaftsrechts auch von allen Deutschen aus der DDR beansprucht werden können, die sich auf Dauer oder auch nur vorübergehend im Schutzbereich der Bundesrepublik und ihrer Verfassung aufhalten, selbst wenn sie sich weiterhin zu ihrer DDR-Staatsbürgerschaft bekennen. In

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stungsfreiheit also der Dienstleistungsempfänger. Auch ein deutscher Tourist, der in Italien in einem Hotel wohnt, dessen Inhaber Schweizer ist, kann sich auf die passive Dienstleistungsfreiheit berufen. Art. 59 Abs. 2 EWGV steht dem nicht entgegen, da diese Vorschrift sich nur auf (aktive oder passive) Dienstleistungserbringer mit I?rittstaatsangehörigkeit bezieht. Grundsätzlich können sich also nur die Staatsangehörigen von EG-Mitgliedstaaten 4 bei der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Dienstleistungen innerhalb der EG auf die passive Dienstleistungsfreiheit berufen, wobei die einzelnen Mitgliedstaaten nach wie vor in der Regelung von Erwerb und Verlust ihrer Staatsangehörigkeit frei sind. Angehörige von Drittstaaten sind ebenso wie Staatenlose, Flüchtlinge und Asylsuchende oder -berechtigte grundsätzlich von der passiven Dienstleistungsfreiheit ausgeschlossen. Allerdings haben gemäß der RL 73/148 vom 28. 6. 1973 5 die Familienangehörigen des Dienstleistungsempfängers ein Recht auf Einreise, Ausreise und Aufenthalt während des Dienstleistungsvorgangs. Dies gilt grundsätzlich auch, wenn diese Angehörigen die Staatsangehörigkeit eines Drittstaates besitzen (Art. 1 Abs. 2, 2 Abs. 1 S. 3, 3 Abs. 2, 4 Abs. 3). b) Ansässigkeit in einem Mitgliedstaat Im Gegensatz zur Niederlassungsfreiheit werden durch die Dienstleistungsfreiheit gemäß Art. 59 Abs. 1 EWGV zudem nur solche Staatsangehörige eines Mitgliedstaates begünstigt, die auch in einem Mitgliedstaat ansässig sind. Es genügt im Rahmen der passiven Dienstleistungsfreiheit nicht, daß einer der Beteiligten lediglich die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates besitzt. Zumindest der Leistungserbringer muß in einem Mitgliedstaat ansässig sein. Demgegenüber muß dies beim Leistungsempfänger nicht der Fall sein. Dies ergibt sich zum einen bereits aus der Formulierung des Art. 59 Abs. 1, wo es heißt, die Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs für "Angehörige der Mitgliedstaaten, die in einem anderen Staat der Gemeinschaft als demjenigen des Leistungsempfängers ansässig sind", seien aufzuheben. Damit wird zum Ausdruck gebracht, daß der Leistungserbringer im Gebiet der Gemeinschaft und in einem anderen Staat als dem Heimatstaat des Leistungsempfängers ansässig sein Anbetracht der von der Bundesrepublik Deutschland abgegebenen Erklärung erscheint dies auch konsequent. Somit müssen auch diese Personen - etwa als Touristen - von der passiven Dienstleistungsfreiheit profitieren können. Ob diese Auffassung auch von allen anderen Mitgliedstaaten in jedem Fall akzeptiert würde, ist eine andere Frage. Bislang scheint es jedoch noch zu keinen praktischen Schwierigkeiten gekommen zu sein. - Wie sich die Rechtslage im Anschluß an die möglicherweise in naher Zukunft bevorstehende Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten darstellen wird, ist derzeit noch völlig offen. 4 Nach deutscher Auffassung gelten dabei als Staatsangehörige der Bundesrepublik Deutschland alle Deutschen im Sinne des Grundgesetzes, also i. S. v. Art. 116 GG. Näher Grabitz-Randelzhojer. Art. 52 Rz. 21. 5 ABI. 1973 L 172/14; näher zu dieser RL o. 7. Kapitel A IV.

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muß. Ferner ist selbstverständlich erforderlich, daß der Leistungsvorgang einen räumlichen Bezug zum Gemeinschaftsgebiet aufweist 6 . Dies ist im Rahmen der passiven Dienstleistungsfreiheit jedoch auch dann der Fall, wenn der Leistungsempfänger im EG-Ausland wohnt. Warum sollte sich ein Italiener, der in Österreich wohnt, nicht genauso von einem französischen Arzt in Frankreich behandeln lassen können, wie ein Italiener, der in Italien, Frankreich oder der Bundesrepublik Deutschland wohnt? Auch der in Österreich ansässige Italiener ist kraft seiner Staatsangehörigkeit Gemeinschaftsbürger und nimmt im genannten Beispiel am innergemeinschaftlichen Wirtschaftsverkehr teil. Der wirtschaftliche Leistungsvorgang findet ausschließlich im Gemeinschaftsgebiet statt. Die Ansässigkeit des passiven Leistungsempfängers in Österreich hat nichts mit der Inanspruchnahme eines französischen Arztes in Frankreich zu tun.

2. Gesellschaften in den Mitgliedstaaten Gemäß Art. 66 i. V. m. Art. 58 EWGV finden die Regelungen über die Dienstleistungsfreiheit auch auf nach den Vorschriften eines Mitgliedstaates gegründete Gesellschaften Anwendung, die ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Gemeinschaft haben. Abschnitt I des A. P.7 präzisiert Art. 58 für die Dienstleistungsfreiheit in einengender Weise: Soweit eine Gesellschaft nur ihren satzungsmäßigen Sitz innerhalb der Gemeinschaft hat, muß ihre Tätigkeit "in tatsächlicher und dauerhafter Verbindung mit der Wirtschaft eines Mitgliedstaates stehen", wobei jedoch nicht auf die Staatsangehörigkeit der beherrschenden natürlichen Personen (z. B. der Gesellschafter oder Geschäftsführer) abgestellt werden darf 8 • Auf diese Weise soll sichergestellt werden, daß nur Unternehmen, die in intensiverer Verbindung mit der Wirtschaft eines Mitgliedstaates stehen, in den Genuß der Freizügigkeitsrechte des EWGV kommen 9 • Erfaßt werden nach h. M. - über den insoweit mißverständlichen Wortlaut der Vorschrift hinaus IO - nicht nur Gesellschaften mit Rechtspersönlichkeit, sondern auch die sonstigen rechtsfähigen Gesellschaften 11 (nach deutschem Recht z. B. die OHG und die KG), darüber hinaus auch die nicht rechtsfähigen Gesellschaften und Gesellschaften, die keine Handelsgesellschaften sind, nach deut6

EuGH Rs. 36/74 (Walrave), EuGHE 1974, 1405/1420.

ABI. 1963, S. 32. Näher hierzu Bühnemann, Die Niederlassungsfreiheit von Versicherungsunternehmen im Gemeinsamen Markt, 1967, S. 25; Maestripieri, Libre circulation des personnes et des services dans la CEE, S. 132; Bleckmann, Europarecht, S. 335 f. 9 Näher Bleckmann, WiVer 1987, S. 120 ff.; Grabitz-Randelzhojer, Art. 58, Rz. 8 ff., insbes. 15 f. 10 Grabitz-Randelzhojer, Art. 58, Rz. 3. 11 Everling, Das Niederlassungsrecht im Gemeinsamen Markt, 1963, S. 33; Maestripieri, Libre circulation des personnes et des services dans la CEE, S. 135. 7

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schem Recht etwa die Gesellschaften Bürgerlichen Rechts (§§ 705 ff. BGB), letztlich also alle Personenvereinigungen, die wirtschaftliche Zwecke verfolgen 12. Auch öffentliche Unternehmen, die sich ähnlich Privaten am Wirtschaftsleben beteiligen, werden, soweit sie grenzüberschreitend als Empfänger von Dienstleistungen auftreten, in den Anwendungsbereich der passiven Dienstleistungsfreiheit einbezogen. Von der (aktiven) Dienstleistungsfreiheit ausgeschlossen sind nach herkömmlicher Betrachtungsweise dagegen nichtwirtschaftliche Personenvereinigungen, die keinen Erwerbszweck, sondern z. B. kulturelle, wissenschaftliche, pädagogische, sportliche, karitative oder gesellige Zwecke verfolgen 13. Soweit aber solche Vereinigungen grenzüberschreitend Dienstleistungen in Anspruch nehmen, die zum durch den EWGV liberalisierten Wirtschaftsleben gehören, besteht kein Grund, sie vom Anwendungsbereich der (passiven) Dienstleistungsfreiheit auszunehmen. Wenn sich also beispielsweise der Leiter eines Sportvereins in einen anderen Mitgliedstaat begibt, um sich dort (gegen ein Entgelt) über bestimmte neue Sportgeräte fachkundig beraten zu lassen, fallt dieser Vorgang ebenso unter die passive Dienstleistungsfreiheit wie die Beratung eines einzelnen oder einer Gesellschaft, die mit solchen Sportgeräten handeln. Fraglich ist, unter welchen Voraussetzungen die passive Dienstleistungsfreiheit im hier verstandenen Sinne im Rahmen von Art. 58 auch für Gesellschaften gelten kann, da sich eine Gesellschaft als solche - im Gegensatz zu einer natürlichen Person - zur Entgegennahme einer Dienstleistung nicht ,,körperlich" in einen anderen Mitgliedstaat begeben kann. Es ist demnach zu klären, welche Anforderungen an das Vorhandensein des ,,Elements der Grenzüberschreitung" bei der Inanspruchnahme einer Dienstleistung durch eine gebietsfremde Gesellschaft zu stellen sind. Für die aktive Dienstleistungsfreiheit setzt das A. P.14 voraus, "daß die Dienstleistung entweder vom Dienstleistungserbringer selbst oder von einer seiner ebenfalls in der Gemeinschaft ansässigen Zweigniederlassungen oder Agenturen erbracht wird" 15. Da aber Gesellschaften auch in anderen Rechtsgebieten als durch ihre satzungsmäßigen Organe handelnd angesehen werden, kann auch im Hinblick auf die Inanspruchnahme einer Dienstleistung in einem anderen Staat als dem, in dem die Gesellschaft ihre (für die Bestimmung ihrer ,,Ansässigkeit" maßgebliche) Hauptverwaltung oder Hauptniederlassung 16 hat, von einer Anwendung des Dienstleistungskapitels im Sinne der passiven 12 Everling, Das Niederlassungsrecht im Gemeinsamen Markt, 1963, S. 33 f.; Goldman, Droit Commercial Europeen, Ziff. 128; GBTE-Troberg, Art. 58 Rz. 11 mit weiteren

Einzelbeispielen.

13 Grabitz-RandelzhoJer, Art. 58, Rz. 6 f. 14 I. Abschnitt a. E. 15 Kritisch zu dieser Bestimmung Burrows, Free Movement in European Community Law, S. 222 f., der sie im Hinblick auf die aktive Dienstleistungsfreiheit nur im Rahmen des A.P. selbst und seiner Verwirklichung anwenden möchte. 16 Vgl. z. B. Troberg in HER, Art. 59, Rz. 13.

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Dienstleistungsfreiheit jedenfalls dann ausgegangen werden, wenn sich ein (nach jeweiligem nationalen Recht) satzungsgemäß dazu befugtes Organ der Gesellschaft (oder ein ordnungsgemäß bestellter Vertreter eines solchen Organs) zur Inanspruchnahme der Dienstleistung für die Gesellschaft in einen anderen Mitgliedstaat begibt. Es darf dann weder in seiner Eigenschaft als natürliche Person noch als Vertreter der Gesellschaft anderen Beschränkungen unterworfen werden, als sie nach Maßgabe der Dienstleistungsvorschriften für andere natürliche Personen als Dienstleistungsempf