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German Pages 546 Year 2014
Lothar Knapp Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
2010-04-13 10-08-23 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02c7238934652802|(S.
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Lothar Knapp ist emeritierter Professor der Romanischen Literaturwissenschaft an der Univerität Osnabrück. Seine Forschungsgebiete sind die Literatur- und Kulturgeschichte der frühen Neuzeit in Frankreich, Spanien und Italien sowie die Literatur- und Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts in Frankreich und Italien.
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Lothar Knapp Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte. Italien von der nationalen Einigung bis zum Ende der Ersten Republik
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Giovanna Borgese, Turin 1980 Lektorat & Satz: CulturCocktail, Claudia Imig, Osnabrück Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1427-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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Für Maria Grazia und Claudia in Dankbarkeit und Liebe
Inhalt Einleitung: Die Geschichte im Werk Volponis Von der Einheit Italiens bis zum Ende der ersten Republik ......
11
DIE CHRONOLOGIE DES WERKES IM ÜBERBLICK ...................................................
20
Kapitel 1: Biographie Geschichte Erzählung ............................................
23
1. DIE BIOGRAPHIE IM WERK ........................................................................
24
2. DIE GESCHICHTE IM WERK .......................................................................
34
3. DIE GESCHICHTE ALS ERZÄHLUNG ..............................................................
43
Kapitel 2: Das lyrische Werk die frühe Lyrik ..............................................
49
1. DIE KONSTRUKTION DES POETISCHEN SUBJEKTS UND DIE FAMILIENGESCHICHTE ..................................................................
60
2. ZUR BIOGRAPHIE DES POETISCHEN SUBJEKTS .................................................
73
3. POETISCHES BEWUSSTSEIN UND PROSAISCHE WIRKLICHKEIT ...............................
76
Kapitel 3: Die frühen Romane Die historische Analyse der Nachkriegszeit Die Trilogie der Integration Aufbruch und Wege in eine neue Gesellschaft ............................
93
1. MEMORIALE .........................................................................................
95
DIE FABRIK UND DIE REINTEGRATION DES SUBJEKTS IN DIE
GESELLSCHAFT .............................................................................
95
EXKURS ZUR THEMATIK DER FABRIKARBEIT IN DER ITALIENISCHEN LITERATUR ......... 105 2. LA MACCHINA MONDIALE ......................................................................... 110 LANDWIRTSCHAFTSREFORM, LANDFLUCHT UND DIE AUFLÖSUNG DER BÄUERLICHEN FAMILIE
....................................................................... 110
DER WISSENSCHAFTSTRAKTAT UND DIE WELT DER MASCHINEN .......................... 115 3. LA STRADA PER ROMA ............................................................................ 127 DER WEG IN DIE REPUBLIK ........................................................................ 127 DIE FREUNDSCHAFT ALS RESOZIALISIERUNG DES SUBJEKTS ............................... 130 DIE POLITISCHE THEMATIK: ERNEUERUNG ODER REPUBBLICA BORGHESE?............... 133
Kapitel 4: Der Roman der Wende Corporale oder der Aufbruch in ein anderes Leben Die Zivilgesellschaft, die politischen Bewegungen und die Neukonstitution des gesellschaftlichen Subjekts ................ 145 1. DIE FAMILIENGESCHICHTE: SOMMERFERIEN MIT DER FAMILIE AM MEER ................ 149 2. DIE WELT DER GESCHÄFTE: GESELLSCHAFT – ÖKONOMIE – POLITIK ...................... 156 3. DIE INSZENIERUNG VON POLITIK UND GESCHÄFT ............................................ 161 4. DIE SUBJEKTPROBLEMATIK UND DAS REVOLUTIONÄRE PROJEKT ........................... 168 5. URBINO UND DIE MARGINALISIERUNG DER EXISTENZ JENSEITS BÜRGERLICHER IDENTITÄT .............................................................
179
6. DIE KONFRONTATION VON POESIE UND REALITÄTSPRINZIP – DER
DISPUT MIT OVERATH ....................................................................... 184
7. DIE THEMATIKEN IN CORPORALE ............................................................... 189 8. DIE ERZÄHLUNGEN IN CORPORALE ............................................................. 193 9. DIE SUBJEKTPROBLEMATIK EXKURS ÜBER DAS SUBJEKT DER ERZÄHLUNG UND DIE TEXTKONSTITUTION ............ 199 10. RESOZIALISIERUNG UND VERÄNDERUNG DER SPRACHE ..................................... 210 11. POESIE UND PROSA UND DAS PROBLEM DER FIKTION ....................................... 219
Kapitel 5: Il sipario ducale Der neofaschistische Terror der 70er J ahre und das Risorgimento ..................................................................... 225 1. DIE PRÄSENTATION DER FIGUREN ............................................................... 227 2. DIE DEBATTEN ÜBER DIE NATIONALE EINIGUNG ITALIENS: DAS
RISORGIMENTO ............................................................................... 234
3. DIE INSZENIERUNG DER GESCHICHTE ALS KOMÖDIE ......................................... 240 4. DIE AUSBILDUNG DER CIVILTÀ IN ITALIEN: DAS RINASCIMENTO .......................... 248 5. DAS SUBJEKT DER ERZÄHLUNG IN DER FIGUR SUBISSONIS .................................. 253 6. NACHWORT: URBINO ALS UTOPIE UND WIRKLICHKEIT – MODELL EINER HÖFISCHEN GESELLSCHAFT ODER CITTÀ IDEALE? ......................... 257
Kapitel 6: Il pianeta irritabile Das Szenarium des Atomkriegs Der Primat des militärisch- industriellen Komplexes ................. 265 1. DIE ÜBERLEBENDEN AUF DEM MARSCH ........................................................ 266 2. DER MILITÄRISCH- INDUSTRIELLE KOMPLEX: DER ATOMKRIEG ............................. 273 3. DIE GESCHICHTE ALS MÄRCHEN: DIE INTEGRIERUNG DES
MENSCHEN IN DIE WELT DER TIERE ................................ 277
4. NATURERKENNTNIS UND KULTUR ALS VERGESELLSCHAFTUNG ............................ 280
Kapitel 7: Il lanciatore di giavellotto Die bürgerliche Gesellschaft im Faschismus: Kapitalismus und Familie ................................................................ 283 1. DAS ÖDIPUSDRAMA IM KONTEXT DER FAMILIENGESCHICHTE ............................. 283 2. GESELLSCHAFT UND FASCHISMUS ............................................................... 295 3. DAS SUBJEKT UND DER PROZESS DES ERZÄHLENS ............................................ 304 4. DER FASCHISMUS IN DER GESCHICHTSSCHREIBUNG ......................................... 308 5. DIE GESCHICHTE IM LICHT DES PASOLINI- SYNDROMS ...................................... 315
Kapitel 8: Le mosche del capitale Der Kampf um die italienische Industrie und der »Historische Kompromiss« ...................................................... 321 I. Die Geschichte: Die 70er Jahre, die »große Krise« und der »Compromesso storico«.................................................. 321 II. Die Fabel: der Kampf um die italienische Industrie..................... 332 1. DIE KONFIGURATION DER GESELLSCHAFTLICHEN, ÖKONOMISCHEN UND POLITISCHEN
MOMENTE ............................................... 333
2. DER KAMPF ZWISCHEN ARBEIT UND KAPITAL: DIE ANALYSE DER FABEL ................. 338 3. DIE »BIOGRAFIA INDUSTRIALE« VOLPONIS IM SPIEGEL DER GESCHICHTE SARACCINIS ... 342 4. TECRASO ODER DER ARBEITSKAMPF IN DER FABRIK ......................................... 344 5. DIE KOMMANDOSTRUKTUREN UND IHRE DISKURSE .......................................... 350 6. SARACCINI IN BOVINO: DIE FASZINATION DER MACHT ..................................... 353
III. Das Subjekt und der psychoanalytische Prozess ......................... 362 DIE BEZIEHUNG NASÀPETI- SARACCINI UND DIE RÜCKKEHR DER FAMILIENGESCHICHTE .. 362
IV. Die Sprache – die Schrift – die Formen des Bewusstseins ................. 370
Kapitel 9: Die Natur als das Reich des Elementaren Con testo a fronte ............................................................................ 389 I. Die Ausgrenzung von Natur und Tierwelt aus der Kultur der Gesellschaft..................................................... 389 II. Die Poesie im Licht der »natura elementare« ........................... 393 1. DIE KRISE DER POESIE UND DER WIDERSPRUCH ZUR
REALITÄT DER INSTITUTIONEN ............................................................. 393
2. DIE FUNKTION DES ELEMENTAREN IN DER TEXTHERSTELLUNG ............................ 400
III. Die Subjektproblematik im Licht der Entwicklungsgeschichte .. 414 1. DIE MENSCHHEITSGESCHICHTLICHE ENTWICKLUNG .......................................... 414 2. DIE LEBENSGESCHICHTLICHE ENTWICKLUNG .................................................. 417
Kapitel 10: Die Lyrik des Spätwerks Nel silenzio campale Über das Sein der Dinge die lukrezische Wende in der Naturauffassung .......................... 437 I. Die Semiotik des Mehrdimensionalen ...................................... 439 1. DER SEMIOTISCHE ANSATZ IN NEL SILENZIO CAMPALE ...................................... 439 2. DIE SEMIOTISCHEN FRAGESTELLUNGEN IN DEN GEDICHTEN ................................ 446
II. Die Poetik des Seins der Dinge ................................................ 454 III. Subjekt und Geschichte? ......................................................... 464
Kapitel 11: Die Geschichte und der universale Lebenszusammenhang ...... 489 I. Die Subjektproblematik ........................................................... 489 1. ERNEUERUNG DER MENSCHHEIT ODER APOKALYPSE ........................................ 489 2. SEIN UND BEWUSSTSEIN ........................................................................... 495
II. Der universale Lebenszusammenhang und die Gesellschaft ...................................................................... 502 1. DIE STRUKTUR DES GESELLSCHAFTLICHEN .................................................... 502 2. POLITIK UND ÖKONOMIE ......................................................................... 505 3. VORRANG DES »POLITISCHEN« ODER DES »SOZIALEN«? ................................... 513
III. Die Funktion der Schrift in einer erneuerten Zivilisation Avantgarde und Masse .................................................................. 517
Anhang ............................................................................................... 531 URBINO UND DAS RINASCIMENTO -
AUTOBIOGRAFISCHE
ÄUSSERUNGEN VOLPONIS....... 531
Literaturverzeichnis ......................................................................... 533 I. ZUM WERK ALLGEMEIN ............................................................................ 533 II. SPRACHE UND LITERATUR ........................................................................ 534 III. GESCHICHTE ........................................................................................ 538 IV. WISSENSCHAFTSGESCHICHTE..................................................................... 541
Einleitung: Die Geschichte im Werk Volponis Von der Einheit Italiens bis zum Ende der ersten Republik Die vorliegende Dokumentation über Leben und Werk des italienischen Schriftstellers Paolo Volponi1 ist der Versuch, den Ablauf einer Geschichte Italiens zu rekonstruieren, der im Medium der literarischen Texte in einer bisher kaum beachteten Sicht dargestellt worden ist. Die Originalität dieser Darstellung besteht zweifellos darin, dass Volponi die Erfahrung der Geschichte über die Inszenierung von Figuren vermittelt, welche als die Protagonisten der Erzählungen zugleich in die Funktion von Subjekten der großen Geschichte gehoben werden und als solche verstanden werden sollen. Das Interesse an der Geschichte und der Rückgang in die Vergangenheit leiten sich bei Volponi her aus dem Bedürfnis, im Erzählvorgang die Lebensgeschichte der Personen aus der Abfolge von historischer Zeit zu verstehen und zu deuten. Die historische Zeit wird zu einem Bestandteil der Lebenszeit und ist in diese zu integrieren. Beide finden Eingang in die Erzählung, die in der Geschichte verankert und von ihr konditioniert ist. In der Erzählung werden Verhaltensweisen und Handlungsmuster in den Beziehungen der Figuren aufgezeigt, die Konfliktkonstellationen der zeitgenössischen Geschichte spiegeln. Diese Merkmale in den Beziehungen der Figuren sind Indikatoren für das, was als der Erkenntnisbeitrag einer historischen Psychoanalyse betrachtet werden kann. Es handelt sich dabei nicht um Merkmale von empirischen Personen, also das, was wirklichen Personen entsprechen würde. Die Beziehungen der Personen, nicht die Personen selbst, werden Gegenstand der
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Zur Einführung in die Biographie und das Werk Paolo Volponis empfehlen wir die Lektüre von Emanuele Zinato: Volponi, Palermo: Palumbo Editore 2004. Die kritische Ausgabe des Prosawerks Volponis in drei Bänden vom selben Autor in Emanuele Zinato, Paolo Volponi, Romanzi e prose, Turin: Einaudi 2002/2003. Darin die lesenswerten Einführungen des Herausgebers in die betreffenden Werke Volponis. Verwiesen sei ferner auf Enrico Baldise: Invito alla lettura di Volponi, Mailand: Mursia Editore 1982. Die Bibliographie über Einzelwerke Volponis in deutscher Sprache findet der Leser im bibliographischen Anhang. Um die Bekanntschaft mit dem Autor und die Vertrautheit mit seinen Schriften zu erleichtern, drucken wir im Anhang im Original und in unserer Übersetzung Fragmente von Volponis Selbstdarstellung ab, die folgenden Schriften entnommen sind: Paolo Volponi/Francesco Leonetti: Il leone e la volpe. Dialogo nell’inverno, Turin: Einaudi 1994 und Paolo Volponi: Cantonate di Urbino, Lecce: Besa Editrice 1996.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Analyse, in der die als psychische Momente ausgewiesenen Merkmale als Momente der zeitgenössischen Sozialisation erkennbar gemacht werden. Die Rückführung des Psychischen auf das Soziale, d.h. auf soziale Verhaltensweisen und Einstellungen, ist der Teil, der der psychoanalytischen Interpretation der Figuren vorbehalten wird.2 Basierend auf diesen Prämissen legen wir unserer Analyse der Werke Volponis methodologisch folgendes Prinzip zugrunde. Die Figuren der Werke, d.h. die Handlungsträger der Erzählungen, verstehen wir als synthetische Figuren im Sinne von Komponenten gesellschaftlicher Momente oder Trends der Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts; in ihrem Kern also sind sie Allegorien oder allegorische Chiffren, deren gesellschaftliche Relevanz zu finden und vom Leser zu deuten ist; aber sie können auch als Archetypen verstanden werden, im Sinne der Indizierung von Strukturmerkmalen des Gesellschaftlichen, worin auch psychische Momente enthalten sein können, die als solche Gegenstand einer historisch verfahrenden Psychoanalyse werden.3 Was den Autor wohl veranlasst haben könnte, die Geschichte in seinem Werk zur Folie einer eigenen, vom Standard abweichenden Deutung zu machen, war wohl von Anfang an sein kritisches Verhältnis zur zeitgenössischen institutionalisierten Realität. Von Kindheit an hat diese Realität die Bedingungen bestimmt, unter denen die lebensgeschichtlichen Daten der Biographie zu sehen sind. Doch diesen Daten begegnen wir in den Erzählungen nicht mehr als den wirklichen Daten der Biographie, sondern transformiert und eingebettet in die Geschichten der Figuren, d.h. einer zweiten Dimension des Historischen, der Dimension der erzählten Geschichte. Eine dritte Dimension schließlich ist die der Zeitgeschichte, der Geschichte der zeitgenössischen Historiographie, in der die Lebensverläufe der Figuren verankert sind und auf die sie verweisen. Alle Erzählungen oder Geschichten Volponis spielen also auf einem Hintergrund, der sie in eine der Peripetien der großen Geschichte einbezieht und welche umgekehrt aus ihrer Erfahrung gesehen und interpretiert werden. Der Verlauf der Zeitgeschichte im Spiegel der erzählten Geschichte soll in unserer Untersuchung im Werk Volponis aufgedeckt und nachgezeichnet werden – im Zeitraum der Geschichte Italiens von der Einigung im Risorgimento bis zum Ende der ersten Republik in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Für Volponis Beschäftigung mit der Geschichte zentral wird darüber hinaus die Frage, welches das Subjekt der verschiedenen Ebenen des Geschichtlichen ist und wer das Subjekt in den Geschichten der Erzählungen verkörpert. Die Analyse des historischen Subjekts in der Geschichtsdarstellung des 2
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Der psychoanalytische Anteil an unserer Textinterpretation basiert in erster Linie natürlich auf Freuds Darstellung der Strukturen des Psychischen, v.a. im Hinblick auf seine Interpretation des so genannten »Ödipuskomplexes« (cf. Laplanche/Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973); darüber hinaus stützen wir uns maßgeblich auf eine psychoanalytische Semiotik im Zusammenhang mit der Freud- Interpretation von Paul Ricœur in De l’interprétation, essai sur Freud, Paris 1965 und Temps et récit, Paris 1983- 85; schließlich auf die von Lacan ausgehenden Methoden der Literaturinterpretation bei Julia Kristeva in La révolution du langage poétique, Paris 1974. Verwiesen sei hier auf die Untersuchung von Francesco Orlando: Per una teoria freudiana della letteratura. Turin: Einaudi 1987.
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Einleitung: Die Geschichte im Werk Volponis
Werks bildet also den zweiten zentralen Gegenstand unserer Untersuchung. Auch hier kann unterschieden werden zwischen dem Subjekt der Lebensgeschichte, d.h. der Biographie, dem Subjekt der Zeitgeschichte und dem Subjekt der erzählten Geschichte, d.h. dem Subjekt in den Erzählungen. Um sicher zu sein, welche Ebene der Subjektskala die jeweils richtige, zutreffende oder ausschlaggebende ist, wäre zu ermitteln, welche Motive oder Momente der Erzählung syntaktisch sich als dominant erweisen im Fortgang der Satzsequenzen und im Hinblick auf ihre Funktion für die Konstitution der Thematik. Die Thematik ist dann die Ebene, auf der der Erzählvorgang der vereinzelten Geschichten in die Zeitgeschichte mündet und sie aus der Perspektive der Lebensgeschichte beleuchtet. Die Progression der Geschichte des Subjekts ist jeweils an eine dieser übergreifenden Thematiken geknüpft. Um die Richtung dieser Entwicklung anzudeuten, sei im Folgenden dieser Verlauf in Umrissen skizziert.
D IE E NTWICKLUNG
DER
THEMATIKEN
DES
W ERKS
Die erste Phase des Werks ist die Phase der frühen Lyrik, in der die Figur des kindlichen oder jugendlichen Subjekts exklusiv die Szene beherrscht und den Umstand beklagt, dass die Menschen sich dem Reich der Natur entfremdet haben, zu dem das Subjekt sich zugehörig fühlt, verbunden mit dem umfassenden Sein der Natur, den Elementen, dem animalischen, vegetativen, mineralischen.4 Dieses lyrische Subjekt ist das Bewusstsein noch diesseits menschlicher Separierung und Sozialisierung, ein Bewusstsein der Verbundenheit oder Zugehörigkeit zur Natur, das das Subjekt, in seiner Singularität, auch in den späteren Phasen der Vergesellschaftung nicht verlieren oder aufgeben wird. Es ist das poetische Bewusstsein, das aus den frühkindlichen Mythen gespeist, aber im Schoß der Familie vom Trauma der Verlassenheit heimgesucht wird. Die zweite Phase führt das poetische Subjekt aus dem Reich der Mythen in die historische Wirklichkeit der zeitgenössischen Gesellschaft und gleichzeitig aus der Familiensozialisation im Faschismus in das befreite Italien der Nachkriegszeit. Von den Momenten der Befreiung geht die neue Zuversicht des Subjekts aus bezüglich seiner Reintegration in die neu sich formierende Gesellschaft und hinsichtlich eines Neubeginns der Geschichte. Was die Art des Erzählens betrifft, vollzieht sich der Übergang von der Poesie zur Prosa, parallel zur Hinwendung der Protagonisten der frühen Romane zu einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der sie ihren Lebenserwerb suchen. In den drei Romanen dieser Phase bezeugen dann die Erfahrungen, die sie in der neuen Welt der Arbeit machen, die nur der Wiederaufbau der alten ist, das Scheitern ihrer Integrationsversuche; erfolgversprechend erscheint allein der Lebensweg Guido Corsalinis in La strada per Roma,5 dessen Durchsetzungswille ihn – in seinem beginnenden Aufstieg im Bankengeschäft – in die 4 5
Siehe dazu die beiden programmatischen Gedichte Cugina volpe und Il giro dei debitori in: Poesie e poemetti 1946- 66. Bezüglich der Übersetzung der hier genannten Werktitel verweisen wir auf das Verzeichnis der Werktitel in deutscher Übersetzung.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Gesellschaft der Geldleute integriert. Sein Abschied von Urbino auf dem Weg, den der Romantitel Die Straße nach Rom andeutet – signalisiert die Wende in den Erwartungen der jungen Generation, die sie nicht in ein neues, solidarisches Gemeinwesen integriert, das die Figur Ettores verkörpert, sondern vielmehr an den Rand der sich durchsetzenden Gesellschaft drängt, d.h. der Repubblica borghese, wie ein ursprünglich geplanter Romantitel lauten sollte. Als unverträglich erweisen sich die Lebenserwartungen des Subjekts der frühen Romane mit der wieder institutionalisierten Wirklichkeit der Nachkriegsgesellschaft des ›Wiederaufbaus‹ und des ›Wirtschaftswunders‹. In der dritten Phase des Werks zieht Volponi aus dem Scheitern seiner Figuren die Konsequenzen. Am Lebensverlauf des Protagonisten von Corporale – des zentralen narrativen Werks der mittleren Phase – demonstriert Volponi den Ausstieg des Subjekts aus dem regulären Arbeitsprozess und seinen Übergang in eine Welt der Geschäfte am Rand oder außerhalb der Legalität, in der sich der Zustand der Zivilgesellschaft spiegelt, die aus der Sicht des Romanciers sich als eine Gesellschaft darstellt ohne politisch verbindliche Regeln des Zusammenlebens und politisch definierbaren Grundsätzen. Es ist die aus dem Wirtschaftswunder naturwüchsig hervorgegangene Gesellschaft unter der Regie der regierenden christdemokratischen Partei, die in der darauf folgenden Phase der 60er Jahre sich in die Gesellschaft transformiert, in der sich die Arbeitskämpfe in den Fabriken abspielen. In den 70er Jahren wird sie dann das Terrain, auf dem sich der jugendliche Protest der außerparlamentarischen Linken zu formieren beginnt, was Volponi insgesamt als zeitgeschichtliches Szenarium seiner Darstellung der deregulierten Zivilgesellschaft in Corporale zugrunde legt. Mit Corporale, dem narrativen Werk, und Foglia mortale, den Gedichten, die beide den Übergang signalisieren, setzt die Politisierung im Werk Volponis ein, die auch den Wandlungsprozess des Subjekts betrifft, das aus der Erzählung am Ende von Corporale ohne Abschied verschwindet, ohne Spuren zu hinterlassen. Auf diese Weise vollzieht der Ausgang des Romans die Liquidierung des alten Subjekts – des Subjekts der bürgerlichen Sozialisation –, was in der langen und ausführlichen Beschreibung seines Rückzugs in ein selbst erbautes Refugium vorbereitet wird. Mit dem Ausstieg des Subjekts aus der Welt der Arbeit ist in Corporale auch biographisch eine Zäsur und ein Bruch im Leben Volponis zu registrieren, der nicht zuletzt im Zusammenhang zu sehen ist mit dem Ende seiner Funktionen bei Olivetti und der kurzen Beratertätigkeit in der FiatAdministration. Aus einem Brief aus London von 1974,6 wohin er aus einem Bedürfnis nach Abstand von der Welt, die er verlassen hat, flüchtet, wird erkennbar und erklärlich, dass Volponi nicht nur die Existenzweise und das Bewusstsein seines alten Subjekts in Frage stellt, sondern auch die politische – und damit auch historische – Nützlichkeit einer Reform der italienischen Industrie als illusionär betrachtet, was später aber zum Gegenstand einer Bilanzierung in Le mosche del capitale gemacht und historisch differenzierter bewertet wird. Die Folge dieser lebensgeschichtlichen Wende im Schaffen Volponis ist seine Vertiefung in das Studium der Geschichte, und insbesondere die Hinwendung zur nationalen Geschichte Italiens. Zwei der Romane dieser Phase, die von uns deshalb als die historische bezeichnet wird, dokumentieren das dominierende Interesse des Autors an der Verifizierung des 6
Zitiert von E. Zinato in der kritischen Edition der Romanzi e prose, Band I, LXXII- LXXIII
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Einleitung: Die Geschichte im Werk Volponis
Geschichtsverlaufs bezüglich des Prozesses der Einigung Italiens im Risorgimento. Was Volponi hauptsächlich interessiert, ist, dass die italienische Geschichte einen Verlauf genommen hat, der über die verschiedenen Perioden autoritärer Regime zu der »großen« Krise geführt hat, die er in den Scritti dal margine7 analysieren wird. Der Roman, der am vollkommensten diese Frage beleuchtet und in ihren verschiedenen Entstehungsmomenten zu klären versucht, Il sipario ducale (1975), zeigt eine Entwicklungslinie auf, die als die Periodisierung des Prozesses nationaler Einigung betrachtet werden könnte. Diese Linie führt vom Ausgangspunkt einer verfehlten Einigung der italienischen Provinzen im Zeitalter des frühen Rinascimento,8 über eine Phase der Ausbildung städtischer Formen der Vergesellschaftung am Hof von Urbino, bis zur Phase im Risorgimento, in der am Ende die Einigung unter der Herrschaft des Hauses Savoyen effektiv erfolgt ist. Von dieser autoritären Lösung der nationalen Frage werden dann im Roman die repressiven und obrigkeitsstaatlichen Züge der Regime abgeleitet, die geschichtlich unter der Monarchie zum Faschismus überleiten und schließlich in der Nachkriegszeit zum Erstarken des Neofaschismus beigetragen haben. Diese Phase ist erreicht, als das Bombenattentat von Piazza Fontana 1969 in Mailand, das am Beginn einer ganzen Serie ähnlicher Terroranschläge steht, das Aufleben eines neuen Faschismus bezeugt. Von den Medien wird das Ereignis unmittelbar nach Bekanntwerden den Anarchisten zur Last gelegt und damit rückt es ins Zentrum der Handlung des Romans; es wird der Ausgangspunkt einer historischen Beleuchtung der Zeitgeschichte, in der der Kampf um die Verteidigung der Republik oder ihrer Durchsetzung zur geschichtsumgreifenden Thematik einer nationalen Einigung Italiens wird. Im zweiten Roman der mittleren Phase, betitelt Il pianeta irritabile (1978), sind es die Folgen des Atomkriegs, in dem drei Tiere und ein verkrüppelter Mensch überleben, die einen geschichtlich durchaus denkbaren Aspekt der zeitgenössischen Gesellschaften vorwegnehmen oder den Zustand heraufbeschwören, der mit der Zuspitzung des Rüstungswettlaufs der Supermächte die atomare Vernichtung des Planeten in die Nähe des Möglichen rückt. Das Szenarium vom Ende der Geschichte entwirft Volponi im Hinblick auf die Bedrohung, die vom Primat eines »militärisch- industrieller Komplexes« ausgeht, d.h. einer Vorherrschaft militärischer Interessen hinsichtlich der Verfügung über die industrielle Produktion. Der dritte Roman, Il lanciatore di giavellotto (1981), ist im Kern die Darstellung des inhärenten Zusammenhangs des Faschismus in seinen Herrschaftsansprüchen und kriegerischen Aspirationen und – auf der zivilgesellschaftlichen Ebene – der Peripetien der Familiengeschichte des jungen Damín. Gezeigt wird das in der Verknüpfung der unlösbaren Gefühlskonflikte in der Familie und deren gewaltsamer Entladung in einem gesellschaftlichen Kontext, der der privat angereicherten Aggression freien Lauf lässt. Das private Drama der unaufgelösten Bindung des Sohnes an die Mutter, psychoanalytisch der klassische Ödipus-Komplex, wirkt sich gesellschaftlich aus im Tötungstrieb, gekennzeichnet hier durch faschistische Symbole. Von Bedeutung ist, dass der Tod oder vielmehr der Selbstmord Damíns die Ge7 8
P. Volponi, La grande crisi e la crisi minore, in Scritti dal margine, Lecce: Piero Manni’ 1994, S. 53- 59. Die Lega, von der In Il sipario ducale die Rede ist.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
schichte des Subjekts zurückversetzt in ihre Ursprünge in der bürgerlichen Familie, von der sie ja ausgegangen ist, aber aus der sie Volponi als ein Moment bürgerlicher Sozialisation historisch in die Phase des Faschismus versetzt, sie also als ein Bestandteil der Pathologien des Faschismus versteht und offensichtlich verstanden haben will. In der letzten Phase seiner Romanproduktion greift Volponi ein Moment der Entwicklung auf, das mit einer beträchtlichen Verspätung in Italien erst nach dem zweiten Weltkrieg ökonomisch im eigentlichen Sinn von Bedeutung wird, nämlich die Industrialisierung des Landes, die Volponi aber durchgehend in seiner Geschichtsdarstellung als unabdingbar für die Konsolidierung demokratischer Verhältnisse betrachtet hat. Mit Le mosche del capitale (1989), dem an Bedeutung Corporale gleichwertigen Werk dieser Phase, konzentriert der ehemalige Industrielle seine Darstellung auf das Verhältnis von Ökonomie und Politik, das er an einem Szenarium illustriert, in dem es um die Sanierung der italienische Industrie auf dem Hintergrund der Wirtschaftskrise der 70er Jahre geht, die die Wirtschaft des gesamten Landes zu ruinieren droht. In dieser Krisensituation konfrontiert Volponi das Sanierungsprogramm der kommunistischen Partei Berlinguers und des Historischen Kompromisses mit der Praxis des Industriemanagements und der von ihm repräsentierten Kapitalinteressen, die allein das Ziel verfolgen, die Fabrik, in der die Arbeiter ihre Position mit dem Statuto dei lavoratori von 1970 gefestigt haben, wieder unter ihre Kontrolle zu bekommen. Der Roman inszeniert diese historisch signifikante Situation in Form eines allegorischen Kampfes um die Rettung der italienischen Industrie, in dem sich die Mächte des Kapitals, das Management, die Banken, die Interessenverbände auf der einen Seite, und die Reformkräfte und die Arbeiter auf der anderen gegenüber stehen. In dieser Kräftekonstellation beleuchtet der letzte große Roman Volponis den Zustand einer Gesellschaft, in der die zunehmende Schwächung und Aushöhlung des Politischen zur schutzlosen Auslieferung der deregulierten Wirtschaft an die fast unbegrenzte Macht des Kapitals geführt hat, was zu Beginn der 90er Jahre schließlich das Ende der ersten Republik besiegelt. In der letzten Phase seines Werks kehrt Volponi zur Lyrik zurück. Während er in der Prosa des Spätwerks – in Le mosche del capitale und den Scritti dal margine – die Spuren und Merkmale des alten, d.h. bürgerlichen Subjekts in seinen Figuren zu tilgen sucht oder ihr Selbstverständnis als illusionär kenntlich macht, sucht er in den Figuren, die jenseits der bürgerlichen Sozialisierung situiert sind, das andere oder virtuelle gesellschaftliche Subjekt, das nicht integrierbare Wesen der Masse der Marginalisierten, wie z.B. in der Figur des Arbeiters in Le mosche del capitale, der seine Arbeit verliert und untertaucht in der Menge der precari. Ein solches Subjekt ist zu denken als die singuläre Existenz (und ihr Potential) einer kollektiven Produktivkraft, die ungenutzt bleibt im kapitalistischen Verwertungszusammenhang, aber befreit wird und sich entfaltet in einem Lebenszusammenhang solidarischer menschlicher Beziehungen. In der Lyrik des Spätwerks vollzieht Volponi darüber hinaus eine für die Literatur des 20. Jahrhunderts revolutionäre Wende. Zum ersten Mal äußert er sich im Dialogo mit Francesco Leonetti (1994) explizit über den Unterschied zwischen Poesie und Prosa hinsichtlich der Wahrnehmung und der Erkenntnis der gegenständlichen Wirklichkeit. Der Poesie wird die Funktion 16
Einleitung: Die Geschichte im Werk Volponis
einer forschenden Suche nach Erkenntnis zugeschrieben, der Prosa die Aufgabe der Beschreibung und der Analyse. Zitiert sei vorerst nur, was über die Poesie geäußert wird: Mit der Poesie operiere ich, wenn ich vor einem Problem stehe, das ich nicht kenne, das ich fühle und das mich bewegt und das mir Fragen stellt. Und die Poesie dient genau dazu, in das Problem einzudringen, um seine Bestandteile zu sehen, es kennen zu lernen und ihm eine Struktur und eine Möglichkeit der Lösung zu geben; […]. [107- 8]
In der Poesie geht es also um das Problem der Erkenntnis des Wirklichen und darum zu ergründen, was am Wirklichen der gesellschaftlichen Institutionen wahr ist, und was Simulation. Diese Frage stellt sich in den beiden bedeutenden Gedichtsammlungen der letzten Phase, Con testo a fronte (1986) und Nel silenzio campale (1990). In den Gedichten der zuerst genannten Sammlung intendiert Volponi eine neuerliche Zurückführung der Wortbedeutung von der Ebene des Eigentlichen (senso proprio), auf die er den institutionalisierten Wortgebrauch schon reduziert hatte, auf das Elementare, d.h. auf ihre ursprüngliche Bedeutung in einem Lebenszusammenhang, der der Einheit von Natur und menschlicher Gesellschaft des Anfangs nahe zu kommen bestrebt ist. Dabei stößt er auf einen Begriff der Natur, der im Licht moderner wissenschaftlicher Erkenntnis den Lebensbedingungen entwickelter Gesellschaften nicht mehr adäquat erscheint und nicht mehr dem poetischen Verständnis des frühkindlichen Subjekts entspricht. Dieser grundlegende Wandel des Naturbegriffs, ästhetisch gesehen seine Metabolisierung, könnte daraus resultieren, dass das Repertoire der poetischen Bilder mit dem wachsenden wissenschaftlichen Verständnis der Natur einer neuen Sprache und neuen Bildern weichen muss, die nicht mehr Bezug nehmen auf die Natur als dem Bereich des Elementaren, sondern auf die Natur der Dinge im Sinne von Lukrez’ großem Lehrgedicht De rerum natura. Von diesem radikalen Wandel der Naturkonzeption ist aber auch das Verständnis des menschliche Subjekts betroffen, dessen Existenz damit aus dem Rahmen der nationalen Geschichte verlagert wird auf die Ebene der Geschichte der Menschheit, die in ihrer Gesamtheit den wissenschaftlich vorgegebenen Bedingungen des Lebens unterworfen ist. Es hat den Anschein, dass Volponi, als Folge einer anderen Natur, einer »artifiziellen«, wie er sich ausdrückt, auch die Mutation der menschlichen Natur nicht für ausgeschlossen hält. Grundlage für diese Annahme ist, dass die Entwicklung der Figur des Subjekts und dessen Verschwinden in Corporale, die mit der Liquidierung seiner ödipalen Familiengeschichte motiviert worden ist, auch die Gefühlskultur des Bürgertums aufheben wird, die einer vom Schmerz befreiten Wahrnehmung der Wirklichkeit weicht, d.h. einer Wahrnehmung der Materie, an deren Energiepotential der Mensch als körperliches Wesen teil hat. An die atomare oder nukleare Konsistenz der Materie in einem über Demokrit und Lukrez vermittelten Verständnis bindet Volponi das körperbedingte – corporale – Sein des Menschen. Die Erwartung einer veränderbaren Wirklichkeit, knüpft er an die veränderte Wahrnehmung des Menschen, und diese an die Erkenntnis der »Natur der Dinge«. Dieses neue Wirklichkeitsbewusstsein und die damit verbundene Sicht auf die Dinge vermitteln im Ansatz schon die Gedichte von Nel silenzio campale, dem letzten Gedichtband Vol17
Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
ponis. Offensichtlich wird darin auch die immer erkennbarere Zugehörigkeit Volponis zur italienischen Neoavantgarde.9
D IE S TRUKTUREN
DER
M AKROGESCHICHTE
Die Systematik eines universalen Lebenszusammenhangs im Werk Volponis ist eine gedankliche Konstruktion hinsichtlich einer möglichen oder virtuellen Ordnung der Dinge in ihrer Totalität. Die Herstellung oder Realisierung dieses Lebenszusammenhangs ist zu verstehen als eine der Menschheit auferlegte zivilisatorische Aufgabe, der sich aber die institutionalisierten Verhältnisse der existierenden Gesellschaften entgegen stellen. Das zeigt sich auch im lyrischen Werk der zweiten und der späten Periode, wo das Scheitern des Versuchs menschlicher Vergesellschaftung dieses Zusammenhangs offensichtlich geworden ist. Offen bleibt aber die Erwartung, dass die sprachlich bedingte Veränderung der Wahrnehmung des Menschen ein anderes Verständnis der Realität der Dinge ermöglicht und damit deren universellen Zusammenhang zur Erscheinung bringt. Die folgenden Diagramme stellen die makrogeschichtlichen Strukturen des Universalen, wie wir diese Konstruktion bezeichnen wollen, in den beiden uns hier interessierenden Varianten dar. In einem der ersten Gedichte der frühen Lyrik, betitelt Il giro dei debitori – wörtlich Die Grenzziehung der Schuldner – bezeichnet Grenzziehung die Separierung des vom Menschen bewohnten Raums und der vom Menschen unterworfenen Natur, in deren Schuld er sich folglich befindet. Geht man von diesem Modell aus, verläuft der Zivilisationsprozess, markiert als »Geschichte«, vom Naturzustand über die Formierung menschlicher Gesellschaften zu einem Zustand, der als civiltà bezeichnet wird, wobei dieser Begriff neben dem Kulturellen den Grad der politisch entwickelten Verfassung der Gesellschaft mit enthält. Das veranschaulicht das nachstehende Diagramm: Geschichte Natur
Vergesellschaftete Kultur
Menschl. Gesellschaft
Civiltà Die im zweiten Modell dargestellten Bereiche bezeichnen die hauptsächlichen Strukturen der menschlichen Sozialisation: Ökonomie, Politik, Kultur, deren Entwicklung den Grad einer Zivilisation bestimmt, der im Gemeinwohl oder der Republik zu sehen ist, einer Vergesellschaftung, die schließlich auch die Natur wieder einbezieht. Die Untergliederung des Gesellschaftlichen umfasst die folgenden Strukturen:
9
Siehe dazu Volponis eigene Äußerungen bei Rocco Capocci: Scrittori, critici e industria culturale dagli anni ’60 ad oggi. Lecce : Piero Manni 1991, S. 169- 70.
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Einleitung: Die Geschichte im Werk Volponis
Gesellschaft Ökonomie
Politik
Kultur
Respublica (das Gemeinwohl) Das erste Modell ist das umfassendere; es subsumiert den Prozess der Vergesellschaftung des Ganzen unter dem umfassenden Begriff der Geschichte (der Natur und der Menschheit) als einer zivilisatorischen Leistung, die erst über die Ausformung von Ökonomie, Politik und Kultur zu erreichen ist, d.h. im gesellschaftlichen Bereich im engeren Sinn. Auf die Strukturen dieses Bereichs bezieht sich Volponi, wenn er bei der Wahl der Thematik die Darstellung von Konflikten in einer dieser Strukturen situiert. In der nachfolgend aufgeführten Chronologie, die die Abfolge der Thematiken im Werk Volponis in der Übersicht zeigt, wird darauf hingewiesen, in welchen Bereich die Thematik jeweils vorwiegend situiert ist: in der Dimension der Natur (in Phase 1, die auch als poetische gekennzeichnet ist); in der der Gesellschaft und der Welt der Arbeit (in Phase 2); in der der Politik (in Phase 3); in der der Geschichte (in Phase 4); und schließlich in der der Ökonomie im Verhältnis zur Politik und zur Zivilgesellschaft (in der hier gekennzeichneten fünften Phase). Als solche sind diese Bereiche die wesentlichen Strukturen des Gesellschaftlichen, die im zweiten Schema dargestellt worden sind. Die Unterscheidung von Strukturbereichen in den Themen des Werks ist ein Kriterium auch hinsichtlich der Frage, wie groß der Umfang dessen ist, was in der literarischen Darstellung noch als gesellschaftliche Wirklichkeit gelten kann. An dieses Wirklichkeitsverständnis rührt der hier eingeführte Strukturbegriff und an die damit verbundene Frage des Bewusstseins von Wirklichkeit, um die sich in Corporale der Streit entzündet, ob das poetische Bewusstsein Aspris oder die Prosa der Welt Overaths dem Realitätsprinzip, um das es geht, entspricht und damit der zu ergründenden Wahrheit des gesellschaftlich Wirklichen.
19
Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
D IE C HRONOLOGIE
DES
W ERKES
IM
Ü BERBLICK
I. Die poetische Thematik des Frühwerks: 1948 – 1955 Die Natur als Raum der imaginären Existenz des frühen Subjekts: 1953/54 Il giro dei debitori 1949- 54 L’antica moneta 1955- 59 Le porte dell’Appennino II. Die soziale Thematik: 1955- 1965 Versuche der Integration in die Gesellschaft des Lebenserwerbs Die Trilogie des Romanwerks: 1962 Memoriale 1965 La macchina mondiale 1962/91 La strada per Roma III. Die politische Thematik: 1965- 1974 Der Aufbruch in ein anderes Leben: Die Politisierung der gesellschaftlichen Erfahrung des Subjekts 1974 Corporale (die Zeit der 60er und frühen 70er Jahre) 1974 Foglia mortale (Lyrik) IV. Die historische Thematik: 1975- 1980 Die Trilogie der historischen Romane: Stationen und Momente der nationalen Geschichte 1975 Il sipario ducale 1978 Il pianeta irritabile 1981 Il lanciatore di giavellotto V. Die ökonomische Thematik: die 70er J ahre (in der Rückblende) Der Konflikt zwischen Ökonomie und Politik Die italienische Industrie und der historische Kompromiss 1989 Le mosche del capitale (entstanden zw. 1976 und 1988, spielt zw. Neujahr 1976 und Oktober 1980) VI. Die sprachlich- literarische Thematik des Spätwerks: 1986 – 1994 Die Endphase der ersten Republik Das lyrische Spätwerk 1986 Con testo a fronte 1990 Nel silenzio campale VII. Die Bilanz des Gesamtwerks Die Geschichte und das historische Subjekt Die Erneuerung der Literatur: Avantgarde und Masse
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Einleitung: Die Geschichte im Werk Volponis
B IBLIOGRAPHIE
DER BENUTZTEN
W ERKAUSGABEN 10
Hinter den Werktiteln hinzugefügt die sinngemäße Übersetzung der Titel ins Deutsche Romanzi e prose, 3 Bände, herausgegeben und kommentiert von Emanuel Zinato, Turin: Einaudi, Nuova Universale Einaudi 229/230/231, 2002/2003 Das poetische Werk der ersten Phase
Die Gedichtsammlungen publiziert im ersten Gedichtband unter dem Titel Poesie e poemetti 1946-1966, herausgegeben und kommentiert von Gualtiero De Santi, Turin, Einaudi 1980 vereint die Sammlungen unter den folgenden Titeln: (1946-1948) (1949-54) (1953/54)
Il ramarro L’antica moneta Il giro dei debitori
(1955-1959) Le porte dell’Appennino sowie den späteren Titel (1962-1966) Foglia mortale
Die Eidechse Die antike Münze Die Grenzziehung der Schuldner Die Pforten der Apenninen Die toten Blätter
Die Romane der ersten Phase
1962 Memoriale, Memoriale Mailand: Garzanti 1962 zitiert nach der Ausgabe Turin: Einaudi Tascabile 56, 1981 1965 La macchina mondiale, Die Maschine Welt Mailand: Garzanti 1962, zitiert nach der Ausgabe Turin: Einaudi, Gli struzzi 83, 1975 1962 La strada per Roma, Die Straße nach Rom verfasst 1962, publiziert Turin: Einaudi 1991 Roman und Lyrik der mittleren Phase
1974 Corporale, Turin: Einaudi Corporale 1974 Foglia mortale, in Poesie e poemetti 1946-66 Die Romane der historischen Phase
1975 Il sipario ducale, Mailand: Garzanti Die Theaterszene von Urbino 1978 Il pianeta irritabile, Turin: Einaudi Tascabile Der empfindliche Planet 1981 Il lanciatore di giavellotto, Turin: Einaudi Der Speerwerfer
10 Die Übersetzung ins Deutsche ist noch kein Verzeichnis der schon auf dem deutschen Buchmarkt erschienen Werke Volponis. Diese werden nachstehend aufgeführt mit dem vom Verlag jeweils gewählten Titel.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Roman und Lyrik der späten Phase
1989 Le mosche del capitale, Turin: Einaudi 1986 Con testo a fronte, Turin: Einaudi 1990 Nel silenzio campale, Lecce: Piero Manni
Die Fliegen des Kapitals Die Konfrontation mit dem Text Im Schweigen nach dem Kampf
Das essayistische Werk
1994 Scritti dal margine, herausgegeben von E. Zinato, Lecce: Piero Manni 1994
Essays der 70er Jahre
1995 Il leone e la volpe
Paolo Volponi/Francesco Leo netti
Dialogo nell’inverno 1994
Dialog Winter 1994
1996 Cantonate di Urbino Lecce: BESA Editore 1996
Beschreibung von Urbino und autobiographische Notizen
Q UELLENNACHWEISE Der Stellennachweis der von uns zitierten Texte aus den Werken Volponis erfolgt in den Texten in Prosa am Zitatende durch die Seitenzahl in eckigen Klammern, in den lyrischen Texten ebenfalls in eckigen Klammern durch die Angabe der Verszahl mit vorangestelltem V. und im Fall eines Gedichts mit mehreren Verssequenzen durch ein vorausgehendes S, also in der Form zum Beispiel [S 3, V. 12] Ist ein langes Gedicht, im Italienischen als ›poemetto‹ bezeichnet, schon in mehrere Teile gegliedert, wird den genannten Nachweisen eine römische Ziffer vorangestellt, also in der Form [II, S 2, V. 8].
D IE
INS
D EUTSCHE
ÜBERSETZTEN
W ERKE
Memoriale: Ich, der Unterzeichnete. Piper Verlag München und Aufbau Verlag Berlin/Weimar 1980 La strada per Roma: Ich seh dich unter den Arkaden. Europa Verlag Wien La macchina mondiale: Die Weltmaschine. Fischer Verlag Frankfurt/M. Il lanciatore di giavellotto: Der Speerwerfer. Piper Verlag München
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Kapitel 1: Biographie – Geschichte – Erzählung Zum Zusammenhang von Biographie, Geschichte und Erzählung Geschichte begegnet im Werk Volponis nicht als geradliniger Verlauf von Ereignissen nach messbaren Maßstäben von Zeit. Geschichte ist vielmehr – als Moment der Erzählung – mit der Lebensgeschichte oder Lebenszeit von Personen verbunden. Das heißt, die historische Zeit ist auch Lebenszeit und die Geschichte als Dokument historischer Erfahrung ist auch die Erfahrung, die die Menschen mit der Geschichte machen oder gemacht haben. Historische Zeit durchdringt und determiniert Lebenszeit. In den Personen/Figuren des Werkes manifestieren sich Zeitmomente als Merkmale einer kollektiven, gesellschaftlichen Situation. Die Personen werden damit zu Figuren im Geschichtsprozess; das Interesse an ihrem Lebensverlauf, an ihrer Biographie, verlagert sich von ihrer privaten Geschichte auf die große Geschichte und darauf, wie deren Ablauf zu erklären und zu verstehen ist. Dieses Verständnis von Geschichte hat sich seit Entstehen der bürgerlichen Gesellschaft[en] als Maßstab ihrer Entwicklung dem Bewusstsein der Menschen eingeprägt. Entdeckte der Historismus die Geschichte als ein Wesensbestandteil des menschlichen Seins, so die weitere Entwicklung des historischen Bewusstseins das Sein der Person als ein historisches GewordenSein. Die Geschichte lehrt also, wie der Mensch im Verlauf seiner Vergesellschaftung geworden ist, was er heute ist, und wie dieser Prozess verlaufen ist. Dass er nicht geradlinig war, wie der Historismus und seine Fortschrittsideologie angenommen haben, ist der Grund dafür, dass die Geschichtsschreibung begann, nach den Brüchen oder Unterbrechungen im Geschichtsverlauf, bzw. dem Anknüpfen an vergangene Zeiten und Tendenzen zu fragen und zu forschen.1 Diesem fragenden Interesse gegenüber der Geschichte und ihrem möglichen oder zu verifizierenden Verlauf ist unsere Untersuchung verpflichtet, die darin auch Volponis eigenem Interesse an der Erforschung der Geschichte folgt. Der Zusammenhang von Biographie, Geschichte und Erzählung im Werk Volponis ist die Grundlage, von der unsere Interpretation der Texte, der Lyrik wie der Prosa, ausgeht und die sie dem Verständnis der Geschichte in ihrer umfassenden Bedeutung zugrunde legt.
1
Zu denken wäre hier v.a. an Antonio Gramsci und an Walter Benjamin; bezüglich des ersten v.a. an seine Feststellung einer Entsprechung von ›riforma protestante‹ und ›rivoluzione francese‹ bezüglich des zweiten verweisen wir auf seine Geschichtsphilosophischen Thesen. – Zu Gramsci siehe Anmerkung 21.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Die biographischen Daten, die Volponi in seine Schriften einfließen lässt, bilden den Ausgangspunkt, von dem aus das geschichtliche Material erst relevant erscheint und eine Bedeutung erlangt, mittels derer die singuläre Existenz ihre lebensgeschichtliche Aufwertung erfährt. Das geschieht, indem das Singuläre in Beziehung gesetzt wird zum Allgemeinen der Zeitgeschichte und damit verstehbar wird in seiner spezifischen und – wie wir sehen werden – universalen Bedeutung, gleichgültig, ob man diese im Licht der Progression oder nicht vielmehr einer gefährlichen Rückbildung sieht. Die geschichtlichen Daten werden dann das Material der Erzählung, die die große Geschichte in die kleine der erzählten Geschichten einbringt und der erzählten Erfahrung damit literarisch die universale Geltung des Erlebten und Mitgeteilten verschafft. Aus den biographischen Daten sind ferner herzuleiten die Personen oder – wie wir sie nennen werden – die Figuren als die Träger von Handlung, die in Konflikte verwickelt werden, aus denen sich die Thematik der jeweiligen Erzählung ergeben oder ermitteln lassen. Auf der Grundlage dieser Konflikte können die Phasen der Entwicklung des Werkes in seinem zeitlichen Verlauf erkennbar gemacht werden, was unsere Chronologie der Thematiken tabellarisch schon veranschaulichen hat. Schließlich wird aus der Übersicht der fundierenden Thematiken der von Volponi intendierte Zusammenhang erkennbar werden – in Umrissen wenigstens – zwischen der Geschichte und den gesellschaftlichen Bereichen, die jeweils in den Werken behandelt werden oder als der zeitgeschichtliche Hintergrund der Konflikte in Erscheinung treten, z.B. die Politik, die Ökonomie und die Kultur. Die als Strukturbereiche bezeichneten Dimensionen der geschichtlichen Ereignisse sind die weiteren Bestandteile des komplexen Zusammenhangs aller Dinge, den wir in unserer Analyse als »universalen Lebenszusammenhang« verstehen und definieren.
1. D IE B IOGRAPHIE
IM
W ERK
Die geschichtlichen Ereignisse, die im Werk Volponis dargestellt werden, haben immer auch eine Beziehung zu den Daten seiner Biographie. Von Interesse ist, in wieweit die Peripetien im Lebensverlauf des Autors eine Entsprechung finden in den geschichtlichen Ereignisse, die ihre historische Relevanz bestätigen. Im Dialog mit Francesco Leonetti – sowie in anderen Texten, insbesondere in Cantonate di Urbino – resümiert Volponi die Lebensjahre, die er in Urbino, seiner Geburtsstadt in den Marche, verbracht hat, wo er den Zusammenbruch des Faschismus und die Befreiung durch die alliierten Truppen im August 1944 erlebt. Aufschlussreich sind hier die Daten über die Kindheit und die Schulzeit des Jungen und sein nicht gerade glückliches Verhältnis zur Familie und zur gesellschaftlichen Umwelt. Festzuhalten wäre die Solidarität mit den unbemittelten Gleichaltrigen und ihrem künftigen Los als Arbeiter in der Emigration, was im Leben des Vaters Albinos, des Protagonisten von Memoriale, und in La strada per Roma im Schicksal der Arbeitsemigration
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Biographie – Geschichte – Erzählung
allgemein gespiegelt wird.2 Doch am Anfang der Lebenserwartungen des jungen Volponi steht die überwältigende Zuversicht hinsichtlich der Verbesserung der Lebenschancen aller, die mit der Befreiung vom Faschismus verbunden ist, wie der emphatische Ton der Zukunftserwartungen im Folgenden Text bezeugt: An einem Tag im August 1944 habe ich unter den Mauern von Urbino […] das größte Heer ankommen und sich formieren sehen, das die Völker je in der Geschichte der Menschheit ausgerüstet haben: das Heer der Alliierten, das mit sich brachte neue Güter der Kultur, neue Bücher, neue Musik, neue Produkte […] … Die Welt war vollkommen verändert, und von diesem Moment an hat auch bei uns eine wirkliche Entwicklung der Industrie eingesetzt. (Scritti, 131)
Beeindruckend an diesem Text ist das Verallgemeinernde seiner Diktion, das die Realität des Ereignisses auf eine Ebene rückt, wo die Aussage nicht mehr nur das Singuläre meint und bezeichnet, sondern eine allegorische Bedeutung annimmt, die als die substantielle Thematik der beiden ersten Phasen des Werks gesehen werden kann: die Thematik der Befreiung vom Faschismus und der Reintegration des Subjekts in eine veränderbare Gesellschaft. Die neu erwachte Zuversicht, dass die Geschicke des befreiten Landes selbst gestaltet werden können, bezieht sich an erster Stelle auf die Erwartungen bezüglich der Kultur (Bildung und wissenschaftlicher Fortschritt) und der Arbeit (Entwicklung einer Industrie), die sich auf den Verfassungsgrundsatz in Artikel 1 beruft: »L’Italia è una repubblica fondata sul lavoro« – »Italien ist eine Republik gegründet auf die Arbeit«. Ihren Niederschlag finden diese Erwartungen in den Versuchen der Protagonisten der ersten Romane, sich in die Gesellschaft der Arbeitswelt der Nachkriegszeit zu integrieren. Rückblickend auf die Zeit der Vereinsamung und der nicht geteilten Gefühle und Empfindungen des Jungen, die auch die Zeit der nichtsozialisierten Kindheit ist, spricht Volponi von dem wirksamsten Mittel, sich gegenüber der widrigen Wirklichkeit zu behaupten, nämlich die Zuflucht zu einer anderen Sprache, in der diese Wirklichkeit in Frage gestellt wird: die Poesie. Warum habe ich damals Gedichte geschrieben, noch nicht zwanzigjährig? Weil ich unsicher war, weil ich Angst hatte. […] Ich war wie vom Blitz getroffen von gewissen Bildern, gewissen Visionen, filtriert über die Erinnerung ungewisser und bruchstückhafter Schullektüren, die dazu führten, dass ich mich mit entfernten, magischen, ewigen Dingen wie den Gestirnen beschäftigte, der Landschaft, den Jahreszeiten, den Stürmen oder den Mädchen; oder gewissen Härten des damaligen Lebens [in der Zeit noch des Faschismus], auch wenn sie schon im Licht der großen Hoffnung auf die Freiheit gesehen wurden und wenig später in der Erregung über Auswirkungen der Befreiung. […] Ich habe geschrieben, um aus mir selbst herauszukommen, um einzugreifen und eine kleine bescheidene Beziehung zur Welt anzuknüpfen […], von neuen Bildern, anderen Ausdrücken für meine Leiden, die dagegen die alten waren, tief in mir, denn sie waren die traditionellen Leiden der schmerzlichen und unreifen Jugend. (Zitiert nach Zinato, I, LV). 2
Siehe die betreffenden Aussagen Volponis im Dialog mit Leonetti in: Il leone e la volpe, S. 29- 30.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Die Erwartungen, die Volponi in die Wirksamkeit der Poesie setzt, finden ihre Ergänzung im Glauben an den Fortschritt von Wissenschaft und Technologie, der von der Entwicklung der Industrie erwartet wird: In mir erwachte das Bewusstsein von der Bedeutung der Bewegungen, denen gegenüber ich nur Zuschauer war, der industriellen Veränderungen Italiens, der Neuheit der Industrie und der Wissenschaft und damit des Bedürfnisses, von Urbino wegzugehen und teilzunehmen an einer Welt, die anders und aktiver war. Auf einem solchen Terrain […], beflügelt von der Idee, dass die Literatur Erfindung, Erneuerung, Kreativität ist und ein Modus zu kämpfen, sich aufzulehnen gegen die Bezeichnungen bestimmter Realitäten, physisch, materiell, geographisch, kulturell, war es die Lektüre anderer Bücher, die in den Jahren zwischen 1945 und 47 das Interesse für die politischen Bewegungen, ihre Ideologien und für die Geschichte weckte. (Zitiert nach Zinato, I, LV).
Vermittelt über Carlo Bo und Franco Fortini3 findet Volponi den Anschluss an die Literatur; er lernt Pasolini kennen, mit dem ihn eine dauerhafte Freundschaft verbinden wird und auf dessen Einfluss – maßgeblich über die Zeitschrift Officina – die Veränderung seiner Lyrik mit zurückzuführen ist, von der mythischen Selbstaffirmation zur Konfrontation mit der gesellschaftlichen Realität. Über dieselbe Vermittlung lernt er Adriano Olivetti kennen, den Chef der gleichnamigen Fabrik in Ivrea,4 für den er im Dienst des Unternehmen zunächst bei der Erschließung neuer Arbeitsmärkte im südlichen Italien tätig ist (1950-54), um dann ab 1956 in Ivrea selbst in leitenden Funktionen von 1956 bis 1971 an der Seite Olivettis die Entwicklung der industriellen Produktion mit zu gestalten. Die Konflikte, in die er nach dem Tod Olivettis (1960) verwickelt wird – u.a., dass die Produktion der Fremdbestimmung durch ein Bankkonsortium unterworfen wird – finden in den 70er Jahren ihr Echo zunächst in den Scritti dal margine5 und eine literarische Darstellung dann im letzten großen Roman Le mosche del capitale. Noch während der Arbeit an La strada per Roma (zwischen 1961 und 1963), wo Volponi die fragwürdige Entwicklung der Republik zur »Repubblica borghese« (wie der Roman ursprünglich heißen sollte) schon andeutet, nähert er sich – zweifellos aufgrund der dort niedergelegten Erfahrungen – den Positionen an, die die Arbeiter in der Fabrik gegen die Arbeitsbedingun3
4
5
Carlo Bo, Literaturkritiker und ehemaliger Rektor der Universität Urbino; Franco Fortini (1917- 1994), Florentiner Dichter, Literaturkritiker und Verfasser antifaschistischer politischer Essays. Olivetti, Adriano (1901- 1960). Siehe dazu Emanuele Zinatos kritische Werkausgabe, Bd. I, S. LVII- LX und LXII- LXIV: Adriano Olivetti, Industrieller und Reformpolitiker, der bis zu seinem Tod die vom Vater gegründete Fabrik in Ivrea leitete, in der neben Schreibmaschinen auch die ersten Computer hergestellt worden sind. Als Industrieller vertrat er politisch das Prinzip einer angemessenen Beteiligung der Belegschaft am Gewinn des Arbeitprodukts; in städtebaulicher Hinsicht plädierte er dafür, die Fabrik in das städtische Leben zu integrieren. Volponi hat ihm in Prose minori im dritten Band seiner Werke einen rühmenden Artikel gewidmet, betitelt Adriano un eretico del capitalismo. Siehe dazu bei E. Zinato, op.cit., Bd. I, S. LXVI- LXXI und in Scritti dal margine, unter Un piano marginale. Lecce: Piero Manni 1994.
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Biographie – Geschichte – Erzählung
gen und die uneingeschränkte Verfügungsgewalt der Unternehmer bezogen haben. Es ist die Periode, in der ihre Protestaktionen von linken Intellektuellen aufgegriffen werden und in der Zeitschrift Quaderni Rossi (1961-65) dokumentiert worden sind, wo sie als die Strömung des Operaismus6 eine Plattform finden, von der aus die Frage der Fabrikarbeit eine auf die gesamte Linke übergreifende politische Bedeutung gewinnt, die zweifellos ihren Niederschlag auch in der Politisierung des Werkes Volponis im Übergang zu Corporale gefunden hat. Über die historische Zäsur von ’68/69, die Entstehung einer neuen Linken und deren Distanzierung von den parlamentarischen Linksparteien, insbesondere der kommunistischen Partei, äußert sich Volponi relativ eindeutig erst in den Scritti dal margine, in Corporale dagegen in der verfremdeten Weise der literarischen Fiktion, die wir noch ausführlich analysieren werden. Erwähnt sei lediglich, dass er die außerparlamentarische Linke zunächst distanziert beurteilt, ihr die historische Berechtigung zwar nicht abspricht, wie das in Corporale erkennbar wird, aber sie in einem ironischen Licht präsentiert. Letzten Endes spiegelt das Festhalten des Protagonisten Aspri an der politischen Kompetenz der Partei die Auffassung Volponis bezüglich ihrer Wirtschaftspolitik in den 70er Jahren. Dass die Politisierung im Werk Volponis parallel verläuft zum Aufstieg der kommunistischen Partei zur stärksten politischen Kraft des Landes, ist sicher auch zu erklären mit Blick auf die Erwartungen, die eine Mehrheit in eine Veränderung des politischen Regimes gesetzt hat. Volponi sucht in der Rückwendung in die Geschichte die Gründe aufzuzeigen, die aus seiner Sicht die gesellschaftlichen Defizite der politischen Realität der Gegenwart erklären. Für diese Defizite sucht er die auslösenden Momente in der Geschichte Italiens: für die subversive Zerstörung des Gemeinwesens (das Attentat von Piazza Fontana in Mailand) die blutige Niederschlagung der Revolten der 80er und 90er Jahre in der Stadt und auf dem Land; für das Kommando der Unternehmer in den Fabriken die Befehlsgewalt der militärischen Kasten in der Monarchie, aus der dann die Herrschaft des Kapitals über die industrielle Produktion erwächst und daraus der atomare Rüstungswahn des militärischindustriellen Komplexes. Überschattet werden die sich eröffnenden Perspektiven auf Veränderung in der Phase, die sich noch bis in die Jahre des historischen Kompromisses (1972 bis etwa 1978) verlängert, von den Eingriffen der Banken in die betrieblichen Entscheidungen in Ivrea, die von Volponi nicht mehr verantwortet werden und seine Demission als Personalchef in Ivrea 1971 unvermeidlich machen. Die Führung des Unternehmens geht nach Olivettis Tod in die Hände von Bruno Visentini7 über, mit dem die Abhängigkeit vom Kapital der 6
7
Operaismus: die Strömung der Arbeiterbewegung ab 60er Jahre, die von den Protesten des Arbeiterkampfs in den Fabriken ihren Namen entlehnt. Von der Zeitschrift Quaderni rossi, herausgegeben und initiiert von Rainiero Panzieri, und von Tronti und Asor Rosa in Classe operaia weitergeführt, gewinnt der Operaismus über die Anfänge in den 60er Jahren hinaus einen bestimmenden Einfluss auf die AutonomieBewegungen der 70er Jahre. Bruno Visentini, nach dem Tode Olivettis der Präsident des Unternehmens Olivetti; siehe dazu E. Zinato: Werkausgabe, Bd. I, S. LXVI- LXVII; zur Auseinandersetzung Volponis mit ihm und Volponis Rücktritt S. LXX.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Banken einen maßgeblichen Einfluss zu nehmen beginnt auf die Entscheidungen in der Produktion.8 Diese Vorgänge zeigt Volponi in Le mosche del capitale in ihren dramatischen Auswirkungen hinsichtlich der Verlagerung von Kompetenzen in den Strukturverhältnissen der Gesellschaft. Die Entscheidungen über die Produktion treffen mehrheitlich die Banken, die nicht primär am Bedarf an Gütern sondern an der Vermehrung des Kapitals interessiert sind. Die Profitmaximierung – nur ein Faktor der Produktion –wird damit das dominante Moment der Ökonomie und damit zum herrschenden Prinzip über die gesellschaftliche Produktion, das überzugreifen droht auf die Kompetenzen der Politik. An die Demission Volponis unter Bruno Visentini schließt sich eine Phase der Tätigkeit Volponis als consulente in der Fiat-Administration (von 1971 bis 1975) an. Volponi wird mit der Aufgabe betraut, die sozialen Belange der Industrie im Verhältnis der Fabrik zur Stadt Turin zu vertreten; doch in Le mosche, wo die Szene beschrieben wird, werden diese Belange vom Direktorium der Fabrik in der Weise verstanden, dass statt der Stadtsanierung die Errichtung einer großen Bank im Zentrum der Stadt als gemeinnützlich beschlossen wird. Als Volponi anlässlich der Wahlen von 1975 einen Aufruf der kommunistischen Partei unterstützt, entlässt ihn die Familie Agnelli aus ihren Diensten. Das Ende seines reformerischen Engagements fällt in die Zeit, wo Volponi beginnt, in seinen Zeitungsartikeln die »große Krise« der geschichtlichen Verfehlungen der Republik aufzuzeigen und sie zu denunzieren. Doch mit dieser Phase verbunden ist auch ein Moment der Depression im Leben Volponis, wie dem schon zitierten Brief aus London zu entnehmen ist, dem Ort, wohin er sich kurzfristig aus einem Zustand der Desillusionierung geflüchtet hat. Nicht unerheblich dazu beigetragen hat, dass das Erscheinen von Corporale, des sicher bedeutendsten Romans Volponis, auf Unverständnis und zum Teil auf verletzende Ablehnung gestoßen ist. Diese krisengeladene Stimmung gibt der Brief wieder, den Volponi aus London am 6. Oktober 1974 an einen Freund adressiert. Er bekundet darin einen deutlichen Abstand zu den öffentlichen und privaten Angelegenheiten und bemerkt: Immer einmal gebe ich nach und höre die Reden und lese über die Fiat, über Olivetti, über die Regierung und ich fühle mich ausgeschlossen und ohnmächtig, aber ich versuche zu reagieren, nicht so, um der fürchterlichen Macht zu schmeicheln, die unser Land fesselt […]. […] ich habe keine Protektion mehr und suche sie auch nicht. Und mit einer neuen Arbeit möchte ich selbst etwas machen und nicht dienen, schmeicheln, verbergen, usw. Auch das ist eine Illusion, denn die Führungsschicht des Landes ist für alles verantwortlich und alle sind vom selben Schlag, Agnelli, Visentini und Rumor usw. [1] Und wir? Das ist das Problem, umso mehr als die Ersparnisse und Liquidationen alle aufgebraucht sind durch die Dummheit derselben wie oben. Schreiben? Ich habe nicht einmal mehr Protektionen in der Literatur, weil das Verlustgeschäft von Corporale auch die Taschen von einem wichtigen Freund geleert hat. Gemälde kaufen und verkaufen? Vielleicht… [2] Besser wäre es, den Mut aufzubringen und zur Opposition überzugehen, die ganze Wahrheit, die wir kennen, zu sagen, im Elend sich zu 8
Siehe Sassoon, Donald: Italia contemporanea. Kap. IV. La crisi dell’economia italiana, 1969- 1987.
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Biographie – Geschichte – Erzählung schlagen gegen die unangefochtene und unerträgliche, arrogante und schmutzige Macht, gehüllt in Anbetung und falsche Prinzipien [3]. Aber wie ist die Opposition organisiert? Hier in England kämpft man, wenn auch konfus, aber in einem Land, das ziemlich gut organisiert ist in seinen kommunitären Strukturen. Für den Sozialismus. Ein hässliches Wort: Neuheit, Forschung, Chancengleichheit, gegenseitiger Respekt, Zirkulation von Ideen, von Machtpositionen, von Eigentum, Meritokratie, usw. in Freiheit. Ich hoffe, dass ich nicht zurückkehre, um mich zu erniedrigen und mich einzugliedern [4]. (Zitiert nach Zinato, I, LXXII f).
In diesen Zeilen kommt die Ernüchterung und Verbitterung zum Ausdruck nicht nur des ›dirigente industriale‹ gegenüber der Lenkung der großen Industrie, sondern auch des Politikers, der im Begriff ist, sich zu engagieren gegen die Politik des Machtkartells, die das Land ruiniert, im Text des Briefs von uns mit [1] signalisiert. In dem unter [2] markierten Absatz spielt Volponi auf die finanziellen Einbußen an, die die Veröffentlichung von Corporale nach sich gezogen hat. Unter [3] zieht Volponi zum ersten Mal in Erwägung, sich gegen die Institutionen zu stellen, denen er bislang auch als politisch engagierter Intellektueller gedient hatte; und angedeutet wird hier der Bruch mit der korrupten, inkompetenten Macht, gegen die er dann offen Stellung bezieht in den Scritti dal margine (ab 1975) und anlässlich der Ermordung Pasolinis. Literarisch findet dieser Bruch mit seinen stärksten Ausdruck in der Poesie ab Con testo a fronte (1986). Hervorzuheben unter [4] ist noch, dass Volponi das Fehlen eines gesellschaftlich verankerten Gegengewichts zur politischen Macht in Italien beklagt, womit er das Defizit an zivilrechtlichen Strukturen meint, ohne die die Gesellschaft schutzlos der Macht, der Ökonomie und der Politik ausgeliefert ist. Die Wende, die sich in diesen Äußerungen ankündigt, findet ihren massiven Niederschlag in den explosiven Entladungen der Scritti dal margine, ausgelöst nicht zufällig durch die Ermordung Pasolinis, das Ereignis, dem die ersten zwei Artikel der Scritti gewidmet sind. Volponi charakterisiert diesen Mord als das Werk eines gesellschaftlichen Ressentiments, das die Mörder Pasolinis zu seinem Werkzeug macht. Die Zivilgesellschaft wird jetzt selbst der Gegenstand der Kritik und ihre Geschichte zurückverfolgt bis in die Phase ihrer Konstitution im Risorgimento.9 Die erzwungene Einigung Italiens durch den Kompromiss mit den Mächten des Ancien Régimes wird von Volponi als die »große Krise« gesehen und dargestellt, von der die Phasen autoritärer Regime ihren Ausgang genommen hat, bis in die gegenwärtige Phase, wo die »kleine Krise« die Ökonomie des Landes lahm zu legen droht.10 Von Interesse ist hier, dass die »kleine« Krise der Gegenwart nicht mehr nur im zeitlichen Zusammenhang mit der industriellen Krise des Kapitalismus gesehen wird, sondern jetzt zurückgeführt wird auf die geschichtlichen Ursprünge in der Einigung Italiens.
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Risorgimento: die Bezeichnung für das Zeitalter der italienischen Einigung von der nach- napoleonischen Zeit bis zur effektiven Einheit unter der savoyardischen Monarchie (1860/1870). Zu konsultieren Toesca, Pietro Maria: I grandi libri del Risorgimento. Turin: Edizione Rai 1967. 10 Siehe in Scritti dal margine die Artikel La grande crisi e la crisi minore (1977) und I margini della crisi (1976).
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Die im Artikel von 1976 entfaltete Argumentation ist als exemplarisch zu verstehen für Volponis Verständnis der nationalen Geschichte Italiens, die in den »historischen Romanen« der mittleren Phase dargestellt wird Zugrunde legt dieser Artikel den Verfassungsgrundsatz von 1948, der besagt, dass die »repubblica democratica« auf die Arbeit gegründet ist, und dass daraus folgt, dass die Republik sich behaupten muss gegen ein restauratives Regime, das Volponi in den Scritti beschreibt als den alten Staat, fälschlich der Staat der Einheit, in Wahrheit autoritär und zentristisch, das Instrument gegen die subalternen Schichten und getragen vom historischen Block um die piemontesische Monarchie von Grundbesitz, Kapital, Bürokratie, den Kasten des Militärs. [44]
In dieser Charakterisierung der gesellschaftlichen Strukturen und der Momente, die zur Bildung der italienischen Einheit beigetragen haben, wird das Fehlen einer demokratischen Legitimation als der Geburtsfehler der Einheit verstanden, wie sie vom Risorgimento ihren Ausgang nimmt und nach 1948 in der Republik fortbestanden hat. Die Krise der 70er Jahre, von denen der zitierte Artikel spricht, betrachtet Volponi als die Krise dieses Staates und den Kampf gegen ihn als die Chance, den Block der herrschenden Klassen aufzubrechen. Der alte historische Block ist zerbrochen – so beurteilt der Artikel von 1976 die Lage –. Wir können nicht mehr länger so tun, als seien wir eine fortgeschrittene Industriegesellschaft […]; die Industrie ist in einer strukturellen Krise und in einer Krise ihrer Leistungsfähigkeit, die letzte auf den internationalen Märkten, weil sie keine Grundlagenforschung betrieben und sich nie erneuert hat. [46]
Es folgt die Feststellung, die von neuem eine Erwartung formuliert, die die Zukunft einlösen soll: Die Krise macht aus dieser Masse ein Volk, da sie die Gesamtheit des Lebens berührt, den Verstand und die Wahrheit wie die Ängste. […] In der Krise manifestieren sich Tag für Tag der Wille zur Einheit des italienischen Volkes und das Bewusstsein seiner Souveränität. Das setzt automatisch in Bewegung nicht nur einen Mechanismus der Entwicklung, sondern auch die Entfaltung eines neuen Status’ in der republikanischen Verfassung. […] In der Tat beleben sich auch wieder alle Kräfte, die die schlechte Einheit zerstreut und begraben hat: di 50 freien italienischen Provinzhauptstädte, […] im Kern betroffen von der wahrhaft historischen Gelegenheit einer nationalen Einheit als die Sache aller, ohne abgesprochene Pakte und Privilegien, sondern im Sinne der Vorstellungen von Leo11 pardi, Cattaneo, Gramsci und Gobetti.« [47] 11 Leopardi, Giacomo (1798- 1837), der bedeutendste italienische Dichter des 19. Jahrhunderts; im Geist der Aufklärung und der Klassik polemisierte er zunächst gegen die Romantik, anerkannte aber bald, dass sie die Wende zur Welt der Moderne ankündigt; die Einsichten, die sich daraus ergaben für seine Einschätzung der gesellschaftlichen Bedingungen eines Wandels in Italien, waren auf jeden Fall unvereinbar mit der restaurativen Ideologie des Risorgimento. Kennzeichnend für seine politischen Ansichten sind die beiden Schriften Discorso sopra lo stato presente dei co-
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Biographie – Geschichte – Erzählung
Diese komplexe und inhaltsschwere Grundsatzerklärung, die für die strukturelle Bestimmung des Gesellschaftlichen im Zusammenhang mit dem Begriff der staatlichen Einheit einige Probleme aufwirft, wird uns noch eingehend beschäftigen, wenn wir in Corporale die politischen Positionen der Protagonisten stellvertretend jeweils für die alte und die neue Linke untersuchen. Der langen Periode als ›dirigente industriale‹ folgt in den letzten 15 Jahren seines Lebens die Aktivität in der Politik, zunächst im Stadtrat von Urbino ab 1980 auf der Liste der KPI und ab 1983 für dieselbe Partei als Abgeordneter im Senat. Sein Engagement auf der regionalen Ebene charakterisieren die Pläne, die Volponi politisch durchzusetzen versucht: die Einrichtung eines agrarwissenschaftlichen Schwerpunkts an der Universität seiner Heimatstadt sowie den Wiederanschluss Urbinos an das Eisenbahnnetz der Marche. Aus seiner Arbeit im Senat ist der Kampf gegen die Abschaffung der ›scala mobile‹12 als historisch denkwürdig zu bezeichnen, die der damalige Ministerpräsident Bettino Craxi 1984 durchgesetzt hat. In seiner Intervention im Senat hat Volponi bei dieser Gelegenheit noch einmal die Priorität der Industrie für die Entwicklung der gesellschaftlichen Kultur zur Debatte gestellt. Erforderlich sei eine Kultur, die im eigentlichen Sinn als industriell zu verstehen ist, als der unfassende Gemeinbesitz aller, als effektiver Multiplikator von Gütern, von Angeboten der Teilnahme und zivilen Entwicklung der Gesellschaft. – Notwendig seien dafür – neue Vorgaben der Wissenschaft als Beitrag zur Entwicklung der Menschheit und nicht als Abstraktion, Herrschaft, Mittel der Ausbeutung derselben. 13
Auch hier wird die Wissenschaft als eine Funktion im Dienst der Menschheit verstanden, wie das Anteo, der Protagonist in La macchina mondiale in seinem Traktat schon dargelegt hat; und einmal mehr wird davor gewarnt, die Wissenschaft der Macht auszuliefern, die sie zur Unterwerfung der Menschheit missbraucht. Deutlich wird durch diese Äußerungen aber auch, welches Gewicht Volponi der Rolle und der Funktion der Industrie im System der gesellschaftlichen Strukturen einräumt und welche Bedeutung demnach einer Politik zustumi degli Italiani (1824) und Discorso di un Italiano intorno alla poesia romantica (1818). Cattaneo, Carlo (1801- 1869), der entschiedenste Verfechter eines föderalistischen, republikanischen Italiens. Von Bedeutung ist seine einflussreiche Schrift Dell’insurrezione di Milano nel 1848 e della successiva guerra, publiziert 1849 in Lugano. Gramsci, Antonio siehe Anmerkung 23. Gobetti, Piero (1901- 1926), antifaschistischer Journalist und Politiker, 1926 von den Faschisten in Paris ermordet. Begründer der Zeitschriften Energie Nove und La Rivoluzione liberale. 1926 im Druck erschienen La rivoluzione liberale. Saggio sulla lotta politica in Italia. – Die liberale Revolution. Essay über den politischen Kampf in Italien. Das Werk ist unterteilt in: L'eredità del Risorgimento – La lotta politica in Italia – La critica liberale – Il fascismo [Das Erbe des Risorgimento – Der politsche Kampf in Italien – Die liberale Kritik – Der Faschismus]. 12 Die Angleichung der Löhne an die Lebenskosten. 13 Volponi/Leonetti: Il leone e la volpe, S. 57.
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kommt, die – wie die Kommunistische Partei in der Phase des ›Historischen Kompromisses‹ – die Sanierung der Wirtschaft und der Industrie zum Programm ihrer Regierungsbeteiligung (zwischen 1972 und etwa 1978) erhoben hat. Die politischen Erwartungen, die sich an diese Regierungsbeteiligung der Parteien der Linken und das Sanierungsprogramm des historischen Kompromisses knüpfen, hat Volponi in seinem letzten großen Roman, Le mosche del capitale, zu illustrieren versucht und sicherlich auch politisch zu rechtfertigen beabsichtigt. Das zentrale Ereignis in der literarischen Umsetzung ist der Kampf um die Sanierung oder Rettung der italienischen Industrie.14 Teilt man unsere Auffassung, dass die Geschichte dieses Kampfs eine allegorische Spiegelung der Politik des historischen Kompromisses ist, dann schließt das nicht aus, dass diese Geschichte auch zu lesen ist als die Desillusionierung einer schon länger illusionär gewordenen politischen Erwartung. Die Diskrepanz in der Deutung der Geschichte könnte darauf zurückzuführen sein, dass der zeitliche Abstand zwischen der erzählten Geschichte, die in den 70er Jahren spielt, und der Publikation des Romans im Jahre 1989 die Optik des Lesers verändert, der aus seiner Kenntnis des Geschichtsverlaufs die dargestellten Ereignisse eher als desillusionierend erfährt. Die Diskrepanz zwischen Hoffnung auf politische Veränderung und dem Prozess der Desillusionierung spiegelt auch das lyrische Werk dieser Periode, Con testo a fronte, wo, wie der Titel schon andeutet, der Wertverlust im Ökonomischen den Verlust der Wortbedeutung in der Sprache der zeitgenössischen Gesellschaft nach sich zieht. Volponis Äußerungen über die 90er Jahre – über das Ende der ersten Republik und der sich abzeichnenden Ära Berlusconi – sind überliefert in dem wiederholt schon zitierten Dialogo mit Francesco Leonetti. Ihre Tragweite ist voll zu ermessen erst im Panorama des Niedergangs der ersten Republik und des Endes des alten Parteiensystems. Unter der Bezeichnung Tangentopoli15 werden Anfang der 90er Jahre die Korruptionsaffären in den großen Industrieunternehmen aufgedeckt und gerichtlich verfolgt; namhafte Politiker sind darin verwickelt, unter anderen der frühere Ministerpräsident Bettino Craxi.16 Die Umbenennung der alten Parteien oder ihre Auflösung markieren das Ende der partitocrazia, des Herrschaftsmonopols vor allem der Democrazia cristiana.17 Volponi, der der alten KP nahe stand oder auch ihr selbst angehört 14 Knapp, Lothar: Le mosche del capitale, in: Allegoria, 26 (1997), S. 146- 152; die deutsche Fassung: Paolo Volponi. ›Die Fliegen des Kapitals. Analyse eines italienischen Industrieromans‹, in Lothar Knapp/Ingeborg Tömmel (Hg.), Italien an der Wende zum 21. Jahrhunderts. Politik – Wirtschaft – Kultur. Osnabrück: Universitätsverlag Rasch 1999, S. 96- 109. 15 Die Stadt oder der Staat der Bestechungsgelder. 16 Craxi, Bettino (1934- 2000), zeitweilig Präsident des Partito Socialista Italiano und Ministerpräsident in der Zeit zwischen 1983 bis 1887. Siehe Paul Ginsborg, L’Italia del tempo presente. Famiglia, società civile, Stato. 1980-1996. Gli anni di Craxi, Turin: Einaudi 1998, S. 280- 93. 17 Die kommunistische Partei (il Partito comunista italiano) wird im Jahr 1991 umbenannt in Pds = Partito democratico di sinistra (Demokratische Partei der Linken); es folgt in den Jahren 1992/93 die Auflösung der Dc, der Democrazia cristiana und des Psi, des Partito socialista italiano, der Partei Craxis. Siehe Paul Ginsborg: Ebd., S. 526 ff.
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Biographie – Geschichte – Erzählung
hat, schließt sich auf ihrem letzten Parteitag in Rimini 1991 der neu gegründeten Rifondazione comunista an. Warum er für die Neugründung der Partei eingetreten ist und was Name und Sache des Kommunismus für ihn weiterhin bedeuteten, erläutert er im Dialog mit Leonetti wie folgt: Kommunist sein heißt, noch zu glauben an die Gerechtigkeit, die Freiheit, an die Notwendigkeit einer tiefgehenden Veränderung des organisierten politischen, sozialen und kulturellen Lebens der Menschen. Bedeutet für richtig zu halten, dass der Kapitalismus nicht das letzte Los der Menschheit ist und deshalb es für notwendig zu erachten, ihn zu kritisieren. [59]
Von der Illusion, die große Industrie zu kontrollieren, ist Volponi zur Kritik am Kapitalismus übergegangen, den er substantiell jetzt für die Übel, die die Gesellschaft und ihren zivilen Bestand – Wissenschaft, Kultur, Ökonomie und Politik – bedrohen, verantwortlich macht. Seine Ausführungen schließt er mit der Bemerkung: Der Zusammenbruch der ›kommunistischen‹ Länder will eigentlich nichts besagen: der Kommunismus ist erst noch zu erschaffen. [60]
Diese Äußerungen im Dialog mit Francesco Leonetti datieren von 1993, einem Jahr vor Volponis Tod und dem Wahlsieg von Silvio Berlusconi. Doch die Zukunftserwartung geht Hand in Hand mit der fast verzweifelten Kritik an der Zerstörungswut des Menschen gegenüber den Tieren und der Natur. Eine Probe dieser profunden Skepsis liefert die zerstörerische Vision der atomaren Vernichtung in Il pianeta irritabile. Volponi zeigt als Chronist seiner Zeit in den Scritti dal margine und in einigen Texten der Prose minori, in welchem Maß der Mensch den Lebensraum der Tierwelt eingeschränkt und die Rationalität der eigenen Zwecke gegen das Daseinsrecht der Natur durchgesetzt hat; statt die Natur in die Gesellschaft zu integrieren, hat die Menschheit sie aus dem universalen Lebenszusammenhang ausgegrenzt, wie das frühe Gedicht Il giro dei debitori bezeugt. In Nel silenzio campale, der jüngsten Gedichtsammlung von 1990, kündigt der Titel der Sammlung schon an, dass die Natur mit ihren Früchten, Pflanzen und Tieren als Sprache der Poesie verstummt ist, dass sie als Schrift unbrauchbar geworden ist, unlesbar und nicht mehr zu verstehen. In dieser Bedeutung könnte schon das erste Gedicht der Sammlung, L’attesa verstanden werden: Was erwarte ich von dem was vorüberzieht was auftaucht wenn die verschneite Hecke schmilzt, was gleitet, segelt oder überfliegt die grandiose und neue Oberfläche der Erde verglichen mit dem letzten geringsten Lichtmast der Städte? [V. 1- 6]
Fast beängstigend stellen diese Verse die Frage nach einer Poesie, die ohne die Natur auskommen muss, bzw. ohne die uns vertraute Natur, an deren Stelle etwas Anderes, Unbekanntes tritt. Das genau ist der Punkt, wo die Dichtung Volponis noch einmal eine Wendung vollzieht, indem sie der ersten 33
Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Natur den Begriff einer anderen, folglich zweiten Natur entgegenstellt und damit eine Trennung vornimmt zwischen den Bereichen von »naturale« und »artificiale«.18 Die veränderte Konzeption der Natur aber hat Auswirkungen auch auf die Begriffsebenen der literarischen Darstellung, die hier aber noch nicht zu behandeln sind. Es sei nur kurz angedeutet, dass der Wechsel von der elementaren Natur zum naturwissenschaftlichen Begriff der Materie nicht zuletzt einen veränderten Begriff der Sprache bedingt, was sich auf die literarische Gestaltung der Darstellung auswirken wird.
2. D IE G ESCHICHTE
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Die Geschichtsdarstellung Volponis erstreckt sich über die Geschichte der Einigung Italiens hinaus auf den mehrere Jahrhunderte umfassenden Bereich der Entwicklung eines nationalen Geschichtsbewusstsein, wenn man von einem solchen sprechen kann und nicht vielmehr davon, was dieses verhindert hat. Ins Blickfeld treten als Perioden, auf die Volponis Geschichtsdarstellung Bezug nimmt, vor allem zwei Momente der frühen Geschichte. Einerseits die revolutionären Umbrüche des späten Mittelalters – siehe Volponis Commento alla Regola di San Francesco in den Prose minori –, die Periode also, in der die franziskanische Laienbewegung, wie sie Volponi verstanden hat, auf die feudalistische Inbesitznahme des Landes reagiert; andererseits die Wende des Quattrocento zum Cinquecento mit der Gründung des Herzogtums von Urbino, die für Volponi zugleich das Modell einer Städtegründung ist, in der sich der Palast (das politische Zentrum) nicht von der Stadt (dem gewerbliche Leben) abgrenzt und die Kultur damit nicht von der Ökonomie losgelöst existiert. Darüber hinaus räumt Volponi der Malerei des Quattrocento einen besonderen Rang ein, weil er ihr kulturgeschichtlich die Bedeutung zuschreibt, die Physiognomie des Menschen und seine Existenz auf Erden als das unentfremdete gesellschaftliche Wesens malerisch dargestellt zu haben, das im Naturalismus des frühen Rinascimento19 sich loslöst von der Schöpfungsgeschichte des kirchlichen Dogmas. Um dem Leser eine Vorstellung zu vermitteln, in welchem Umfang die Ereignisse der großen Geschichte in die Geschichten des Werkes Eingang gefunden haben und deren Hintergrund bilden, sollen im Folgenden die historischen Zäsuren aufgezeigt werden, die von Bedeutung in der literarischen Darstellung Volponis geworden sind. Der wichtigste und zweifellos substantiellste, weil auch problematischste Einschnitt in diesem Geschichtsverlauf ist sicherlich für Volponi die staatliche Einigung Italiens im Verlauf des Risorgimento.20 Um die volle Bedeutung dieses komplexen gesellschaftlichen Prozesses aus der Sicht Volponis zu erfassen – wonach auch die politischen Verhältnisse im europäischen Maßstab einzubeziehen sind –, wäre es angebracht, wenigstens ansatzweise auf den internationalen Kontext der Revolutionsgeschichte des 19. Jahrhunderts einzugehen, in die Italien durch die napoleonischen Kriege verwickelt worden ist. Im Gefolge der französischen Revoluti18 Siehe Scritti dal margine, S. 183. 19 Rinascimento, italienisch für Renaissance (15. und 16. Jahrhundert). 20 Risorgimento siehe Anmerkung 9.
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on stellt sich auch in den benachbarten Ländern die Frage, ob und wie die entstehende bürgerliche Gesellschaft zu einer Einigung findet, die auch die Einheit der Gesellschaft verwirklicht, d.h. alle Teile der Nation in die neu entstehende Zivilgesellschaft integriert. Das bedeutet für Italien, die Frage der nationalen Einheit an die Veränderung der politischen Verfassung zu binden, die wie in Frankreich das Ancien Régime der feudalen Herrschaft beendet und überleitet in die Beteiligung des Bürgertums und des Volks an der politischen Macht. Eine politische Einigung, in der sich die Nation konstituiert, muss die Gesamtheit der Gesellschaft umfassen. Das aber ist von Anfang an das Problem des italienischen Risorgimento, wo eine revolutionäre Veränderung des Regimes nicht stattgefunden hat und die politische Einigung noch auf längere Zeit nicht zu realisieren war Aktuell allein erschien die Konsolidierung einer Herrschaft, an der das Bürgertum, nicht aber die Masse der ländlichen und städtischen Bevölkerung beteiligt wurden. Der langwierige Prozess der Einigung mündete letztlich im Kompromiss des liberalen Bürgertums mit den feudalen Mächten Grundbesitz und Militär sowie der Monarchie als Garantin der territorialen Einheit. Der Zusammenschluss der Regionen Italiens in einem Staat ist vollzogen, nicht aber die Einheit der Gesellschaft als Nation. Und genau das ist als der Geburtsfehler des Einheitsstaats des Risorgimento immer wieder beklagt und geschichtlich von Volponi als der Ausgangspunkt der »großen« Krise gesehen worden, von der er in den 70er Jahren spricht.21 Die staatliche Einheit Italiens ist hervorgegangen, wie Gramsci sagt, aus einer, »passiven Revolution«, und markiert eine Zäsur, die nicht das Ende des Ancien Régime herbeigeführt hat, sondern dessen Überführung in die Monarchie und damit dessen Fortbestehen sicherte. Dennoch versteht sich das Risorgimento als eine Revolution; und als solche gilt seinen Ideologen die Verlagerung der Revolution in die Kultur, in der die Wiedergeburt Italiens als kulturelle Vormacht in Europa gefeiert wird. Mazzini und Gioberti,22 zwei der Wortführer des Risorgimento, schreiben dem neuen Italien eine führende Rolle im nachrevolutionären Europa zu, was Kritiker als anschauliches Beispiel gewertet haben »für den ›pathologischen‹ Führungsanspruch der Kultur, für die ›Revolution im Überbau‹, die mangels einer ›ökonomischen Hegemonie‹ das repräsentierte, was Gramsci23 die ›passive Revolution des Risorgi21 Siehe La grande e la crisi minore, in: Scritti dal margine, S. 53- 59. 22 Mazzini, Giuseppe (1805- 1872), der bedeutendste politische Schriftsteller des italienischen Risorgimento. Seine verstreuten Schriften sind zusammengefasst in I doveri dell’uomo/Die Pflichten des Menschen, zwischen 1841 und 1860. Seine revolutionären Ideen münden in ein religiös überhöhtes Menschheitsbild. Dazu Denis Mack Smith: Mazzini, Mailand: Rizzoli 1993. Gioberti, Vincenzo (1801- 1852), einer der führenden Politiker des Risorgimento, im Dienst des Hauses Savoyen und Wegbereiter der neuen Monarchie. Den Anspruch auf eine Führungsrolle Italiens in der Kultur des postrevolutionären Europa macht Gioberti geltend in seiner Schrift Del primato morale e civile degli Italiani von 1843. Dazu M. Sancipriano: Vincenzo Gioberti: progetti etico- politici nel Risorgimento, Roma: Studium 1997. 23 Gramsci, Antonio (1891- 1937), Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens im Jahre 1921. Als Abgeordneter 1926 von den Faschisten verhaftet; im Gefängnis bis zu seinem Tod, verfasst er die für die Partei der Nachkriegszeit maßgeblichen Schrif-
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mento‹ genannt hat.« 24 Und derselbe Kritiker fügt hinzu: »Was De Sanctis25 verstanden hat und mit Nachdruck unterstreichen wollte, war der nichtpopolare und nicht-nationale Charakter der religiös-sozialen Heilsbotschaft des Intellektuellen aus Genua [d.h. Mazzini], seine intellektualistische Vagheit und die entsprechende Unmöglichkeit, auf die Menge einzuwirken und breite Schichten der national7en Gesellschaft zusammenzuführen.«26 Volponis Position kennzeichnet seine grundsätzliche Ablehnung der Gleichsetzung von Volk und Nation, womit er übereinstimmt mit Gramscis Auffassung, dass die politische Einheit nicht dazu geführt hat, die Dimensionen des ›nazionale‹ mit der des ›popolare‹ in Einklang zu bringen. Volponis Interesse ist vorwiegend darauf gerichtet, von der Gesellschaft her die Konstitution staatlicher Einheit zu denken, wonach es die Gesellschaft ist, die eine staatliche Verfassung neu konstituiert. Problematisch und nicht akzeptierbar erscheint ihm, dass die Intellektuellen des Risorgimento die Gleichsetzung von Volk und Nation zur Grundlage gemacht haben, um darauf den Staat zu errichten. Beides diene allein der Legitimierung der politischen Macht des alten Regimes, das geschichtlich den Anspruch geltend macht, das Volk in die Nation zu integrieren.27 In Il sipario ducale, dem Roman, der die Frage der nationalen Einheit Italiens im Zusammenhang mit dem Bombenanschlag von Piazza Fontana in Mailand wieder aufgreift, geht es Volponi darum, die Kontinuität der Repression der autoritären Regime aufzuzeigen, die aus dem Risorgimento hervorgegangen sind. Die Terrorakte des wieder erstarkten Neofaschismus werden als Strategie einer Repression gesehen, die offensichtlich die Antwort ist auf die Erfolge der Arbeitskämpfe in den Fabriken von ’68/69. Auf die offiziellen Verlautbarungen, die die Anarchisten für das Attentat verantwortlich machen, lässt der Romanautor seinen Protagonisten – den Anarchisten Subissoni, Geschichtsprofessor aus Urbino, der von den Faschisten in den 30er Jahren aus seinem Amt verjagt worden ist und auf Seiten der Republik am spanischen Bürgerkrieg teilgenommen hat – in entsprechender Weise reagieren,
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ten, publiziert unter dem Titel Quaderni del carcere/Gefängnishefte. Die deutsche Ausgabe: Gefängnishefte, 10 Bände, herausgegeben von Klaus Bochmann, Wolfgang Fritz Haug, ab Bd.7 von Peter Jehle, Hamburg: Argument 1991- 2002. Über seine Beziehungen zu seiner Familie, insbesondere seine Frau und seine Schwägerin, unterrichten die Lettere dal carcere/Die Briefe aus dem Gefängnis, erschienen 1947. Voza, Pasquale: Letteratura e rivoluzione passiva. Mazzini – Cattaneo – Tenca, Bari: Dedalo libri 1978, S. 37. Francesco De Sanctis, (1817- 1883), der bedeutendste italienische Literaturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts. Sein Hauptwerk Geschichte der italienischen Literatur, erschienen 1870/71. P. Voza, ebd., S. 36. Dazu noch einmal Voza: »Und dieselbe Ideologie war es, die die Lesart Mazzinis eines nationalen ’48 im Sinne eines Ereignisses möglich gemacht hat, das zwar noch nicht das soziale und politische Problem der wirklichen Integration der Masse des Volks, v.a. der Bauern, in die nationale Bewegung als eingelöst erscheinen ließ, wenigstens aber das kompakte und glühende Verlangen der Menge nach einem politischreligiösen Ideal des Staats, des einheitlichen und republikanischen Staats […].« P. Voza, ebd., S. 66.
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indem Subissoni die Legitimität des Staates, der sein Machtmonopol wieder geltend macht, radikal in Frage stellt. Das Italien der Einheit gebe es nicht, so sein Verdikt über das Land, dessen staatliche Verfassung einem Schlangenwesen ohne Kopf zu vergleichen sei Italien gibt es nicht – Existiert nicht. Auch heute reagiert es in vielen Weisen, wie es der Zufall will, und zuckt hier und da, wie der Schwanz einer Eidechse. […] Die Schlange ohne Kopf. [130]
Und gegen die führenden Köpfe des falschen Kompromisses – »Belli i comitati rivoluzionari provvisori« (eine schönes provisorisches Revolutionskomitee) –, rühmt er die Repräsentanten und Vorkämpfer eines republikanischen Italien, Cattaneo und Pisacane,28 den Dichter Leopardi29 und den Utopisten Campanella.30 (131) In den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts beginnt sich der Widerstand der Arbeiter und Tagelöhner gegen ihre Ausbeutung politisch zu organisieren – 1892/93 mit der Gründung der Sozialistischen Partei Italiens – als Reaktion auf die blutige Repression der Protestaktionen v.a. auf dem Großgrundbesitz des Südens, eine Repression, die fortgesetzt wird bis in die Nachkriegszeit des zweiten Weltkriegs.31 Der Versuch Giolittis,32 die Forderungen der Arbeiterpartei in sein Regierungsprogramm aufzunehmen, scheitert am Widerstand der Liberalen und hätte nur zur Abfindung von Ansprüchen der Arbeiterbewegung geführt. Keine Erwähnung findet in der Geschichtsdarstellung Volponis der Zeitabschnitt des ersten Weltkriegs sowie die erste Nachkriegszeit, in der sich die Machtübernahme des Faschismus anbahnt durch die schrittweise Überführung der »nationalen« Bewegungen in das Regime Mussolinis.33 Erst die Endphase des Faschismus, sein Einmünden in den zweiten Weltkrieg, findet ein um so lebhafteres und vertieftes Echo in der Darstellung Volponis, sicher auch, weil an das Ende des Kriegs für alle die Erwartung einer Wende der großen Geschichte geknüpft war. Es ist die Phase, in die die Kindheit und Jugendzeit Volponis fällt und von der er in seinem ersten Roman Memoriale ausgeht, nicht um zurückzublicken, sondern in der Erwartung einer Zukunft, die aus dem Krieg und der Zerstörung menschlicher Lebensverhältnisse herausführt in eine neu zu be28 Cattaneo, Carlo siehe Anmerkung 11. Pisacane, Carlo (1818- 1857) nahm führend am Kampf um die Errichtung der Republik in Rom teil. 29 Leopardi, Giacomo siehe Anmerkung 11. 30 Campanella, Tommaso (1568- 1639), Philosoph und Schriftsteller, von der Kirche verfolgt und verurteilt. Autor der Utopie La Città del Sole/Der Sonnenstaat. 31 Mack Smith, Denis: Storia d’Italia. 1861/1969, Bari: Laterza 1987; siehe die Kapitel V. und VI. sowie für die Nachkriegszeit das Kapitel XIII. 32 Mack Smith: ebd., das Kapitel VII : Giolitti e le riforme liberali (1900- 1911). 33 Priester, Karin: Der italienische Faschismus. Ökonomische und ideologische Grundlagen, Köln: Pahl- Rugenstein Verlag 1972. Daraus insbesondere Kap.4: Die Anfänge des italienischen Nationalismus; Kap. 6: Die Ausarbeitung der nationalistischen Doktrin von 1914 bis zur Fusion mit dem Faschismus 1923; sowie Kap. 13: Die Nationalisten im faschistischen Regime und die Bedeutung Alfredo Roccos: die »Normalisierung«.
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gründende Gesellschaft, die mit der alten nichts mehr gemein hätte. Der Weg in diese Gesellschaft, den die Protagonisten der drei ersten Romane suchen, ist Ausdruck des Verlangens nach Integration in die Gesellschaft der Zukunft und weit entfernt von der Eingliederung in den Wiederaufbau des zerstörten Alten. Die Geschichte holt aber die Figuren der Romane wieder ein, aus der sie zu entkommen suchen. Der Faschismus, sein Weg in den Krieg und der Schiffbruch der bürgerlichen Ansprüche auf die Lenkung und Gestaltung der Politik bilden im Grunde die Materie des noch vor den Romanen rangierenden lyrischen Werks. Hier sind die Ursprünge und Wurzeln des Traumas des Subjekts Volponis, wie wir glauben, zu suchen, eines politischen und zeitgeschichtlichen Traumas, verbunden mit der Familiengeschichte des Jungen, aus der dieser die Flucht in die Natur antritt als dem Reich, in dem die Poesie seit alters her die unentfremdeten Lebensverhältnisse des Menschen im Einklang mit der Natur und dem Tierreich gesehen und dargestellt hat. Die Öffnung zur Welt der Gegenwart; vergleichbar dem Programm, das der Existentialismus Sartres in den Temps Modernes verkündet und in der Zeitschrift vertreten hat, bedeutete für Volponi in erster Linie die Erneuerung der Gesellschaft auf dem Wege der Industrialisierung des Landes und die Veränderung der menschlichen Beziehungen durch die Beteiligung aller an einer produktiven Tätigkeit. Diese Erwartungen spiegelt in Memoriale die Geschichte des Albino Saluggia. Von den Kindheitserinnerungen mit den Eltern in der Arbeitsemigration in Südfrankreich, der Rückkehr unter dem Faschismus und dem Tod des Vaters, über das Kriegstrauma Albinos in der Gefangenschaft im Deutschen Reich, seine Heimkehr als Tuberkulosekranker bis zu seinen hartnäckigen Versuchen, die dauerhafte Einstellung in der metallverarbeitenden Fabrik in der norditalienischen Provinz zu erlangen. Eine Handlungskonstellation entsteht, die im Hinblick auf Volponis Intention der Verallgemeinerung des Konflikts sich als geeignet erweist, die Zwänge in der Arbeitswelt aufzuzeigen, die zum Ausschluss der unerwünschten Arbeitskraft führen. Die Erwartung Albinos, in der Fabrik fest eingestellt zu werden, wird enttäuscht, weil seine Krankheit ihn als arbeitsunfähig einstuft und identifiziert. Diese Konfliktsituation enthält – auf der Ebene der Erzählung schon – ein Element, das über die Darstellung der realen Fakten hinaus dem Erzählten einen Sinn verleiht, der als allegorisch zu verstehen wäre. Albino wäre dann als der aus dem Krieg heimkehrende Sohn der Familie zu erkennen, der in der Fabrik um seine Wiederaufnahme in die Gesellschaft kämpft, dem aber die Anerkennung als gesellschaftsfähiges Subjekt verweigert wird. Die Rückkehr zur Mutter besiegelt das Scheitern der Integration und signalisiert psychoanalytisch das Zurückgeworfen-Werden auf eine schon verlassene Position der Kindheit. Eine vergleichbare Suche nach dem Weg in die Gesellschaft beschreibt Volponis zweiter Roman La strada per Roma. Am Beispiel der Jugendfreundschaft – zwischen dem begüterten Guido und seinem Weg nach Rom in den Aufstieg im Bankgeschäft, und Ettore, dem Sohn aus bescheidenen Verhältnissen, der sich als Lehrer zugunsten der bildungslosen Landbevölkerung engagiert, werden – wiederum in allegorischer Verallgemeinerung – die auseinander laufenden Wege der Nachkriegsgeneration in der Konstitutionsphase der Republik bis 1953 illustriert. Das ist das Jahr, in dem die regierende christdemokratische Partei versucht, ihre Herrschaft durch eine Wahl38
Biographie – Geschichte – Erzählung
rechtsänderung, die so genannte ›legge truffa‹,34 auszubauen, und Volponi deshalb für den Roman den Titel La Repubblica borghese erwogen hatte, um den von Guido eingeschlagenen Weg in den Reichtum als richtungsweisend anzudeuten. Das ursprünglich herrschende politische Einverständnis zwischen den Freunden zerbricht an den mittlerweile konsolidierten Machtverhältnissen zwischen rechts und links. Dass Volponi den Titel fallen ließ und das Buch in der Schublade liegen blieb, ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass er eine so dezidierte Auslegung des Geschichtsverlaufs vermeiden wollte, da mit der Ablösung De Gasperis35 auch neue Impulse im wirtschaftlichen Aufschwung des Landes zu verzeichnen waren,36 und darüber hinaus die Tätigkeit bei Olivetti Volponis Zuversicht in die noch unerprobten Fähigkeiten industrieller Entwicklung stärkte. Das Vertrauen in die wissenschaftliche Forschung und die Erkenntnis der noch weitgehend unerforschten Natur leiten Volponi offenbar bei seinem dritten Romanprojekt unter dem Titel La macchina mondiale. Der Romanhandlung liegt die Abfassung eines Traktats des Protagonisten Anteo Crocioni zugrunde, der sich mit der Möglichkeit veränderter landwirtschaftlicher Anbaumethoden und der Veränderbarkeit der Lebensbedingungen der am Arbeitsprozess beteiligten Menschen beschäftigt; ein Projekt, das auch zum ersten Mal die Mutation von organischen Substanzen anzudeuten scheint, wie sie in der letzten Phase des Werks in der veränderten Naturauffassung wieder begegnet, bzw., wie hier, die organischen Prozesse im Körper als ein Ensemble mechanischer Bewegungsabläufe deutet, was thematisch in Corporale wieder in den Vordergrund rückt. Die Wissenschaft, auf die ein solches Projekt sich stützt – und auf die es sich auch beruft –, sind die human- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen der frühen 60er Jahre, die Eingang fin-
34 Wörtlich ›betrügerisches Gesetz‹ zugunsten der regierenden christdemokratischen Partei. 35 De Gasperi, Alcide (1881- 1954); erster italienischer Ministerpräsident der Nachkriegszeit und der neuen Republik. 36 Zwei Momente können dafür als richtungweisend betrachtet werden: Anfang der 50er Jahre, so heisst es bei Donald Sassoon, »begann man von Planung als solcher zu sprechen […] Und in diesem Zusammenhang gelang es der Linken der D[emocrazia] c[ristiana] 1954 den so genannten Vanoni- Plan zu verabschieden […]. (65) – Schon 1953 kommt es zur Gründung des parastaatlichen Energieproduzenten ENI, des ›Ente nazionale idrocarburi‹, der die industriellen Interessen des Landes enger an die Politik zu binden bestimmt war. (66/67) In La strada per Roma ist davon die Rede, als Guido im Haus des Zeitungsmagnaten davon unterrichtet wird, dass die Regierung Pella die Pläne verfolge »di creare una classe dirigente nuova« – »eine neue Führungselite zu schaffen« (in: La strada, S. 362/63). Zur Person von Giuseppe Pella siehe Donald Sassoon, S. 83.– Hinzuweisen ist ferner auf Emanuele Zinatos Einschätzung der Gründe, warum Volponi den Roman zu diesem Zeitpunkt nicht veröffentlicht hat; zu suchen seien sie in der neuen Zuversicht, die Volponi durch die Beteiligung an der Industrieführung von Adriano Olivetti gewonnen hat hinsichtlich der Chancen einer demokratischen Wirtschaftsentwicklung. (E. Zinato, »Paolo Volponi«, in: Studi novecenteschi XIX (1992), S. 10.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
den in die Literatur mit dem Ende des Neorealismus und die Volponi vermittelt werden in der Grundlagenforschung bei Olivetti.37 Doch wie in Memoriale kommt in der Handlung des Romans ein dem Anspruch auf Erkenntnis entgegenwirkender Impuls des Erzählens zum Durchbruch, nämlich in der unglücklich verlaufenden Ehegeschichte des Anteo, dessen Frau ihn verlässt, angestiftet von ihrer Familie, die ihn gerichtlich verfolgt, um ihn von dem ihm überlassenen landwirtschaftlichen Anwesen zu vertreiben. Anteo macht seinem Leben ein Ende, als seine Frau das von ihr nicht gewollte Kind gleich nach der Geburt tötet. Die Situierung dieser Familientragödie in den provinziellen bäuerlichen Verhältnissen werden wir an anderer Stelle eingehend noch analysieren. Charakteristisch an der Geschichte ist der Kontrast zwischen dem realistischen Milieu, in dem das Drama spielt, und der wissenschaftlichen Utopie, die eine virtuelle Realität vorwegnimmt oder imaginiert. Dokumentiert wird gleichzeitig ein Stück Sozialgeschichte der Nachkriegszeit: in den Besitzansprüche nämlich mächtiger Instanzen, hier der Kirche oder der von ihr Begünstigten, auf das bäuerliche Land, das die kleinen Produzenten nicht mehr bewirtschaften können.38 Die in den Romanen schon erkennbare Gegenwelt der Institutionen, die die Erwartungen der Protagonisten zunichte machen und ihre Integration verhindern, repräsentiert die Welt des ›Wiederaufbaus‹ und des Wirtschaftswunders als dessen ideologische Etikette. In den Romanen angedeutet wird aber auch schon – zweifellos als Reaktion auf das Scheitern der Lebensentwürfe der Protagonisten – der Übergang zur Politisierung im Werke Volponis, zeitgleich und vermutlich in Übereinstimmung mit einer offensiven Phase des Kampfs der Arbeiter gegen das kapitalistische Kommando in der Fabrik.39 Der Politik als Schlüssel zum Verständnis der Figuren begegnen wir erstmalig und gleich dominierend in Corporale, Volponis, wie schon erwähnt, wohl bedeutendsten Roman, der die Mitte seines Schaffens und das Zentrum seines Werkes markiert. Der Lebensverlauf der Figuren des Romans erscheint von Anfang an konditioniert durch die Strömungen der 60er Jahre, in denen die Arbeitskämpfe in der Fabrik, die Kontestation der Studentenbewegung und der Beginn der neomarxistischen Theorie-Debatte zu einem Syndrom zusammenfließen, das in den Positionsbeschreibungen des Romans ein komplexes Echo findet, worin sich darüber hinaus auch die Auseinanderset37 In seiner Introduzione zum ersten Band der Romanzi e prose beruft E. Zinato sich auf ein Interview von S. Di Giacinto mit Volponi unter dem Titel Il fuoco di una certa ricerca, abgedruckt in Autori vari: Paolo Volponi: scrittura come contraddizione, Mailand: Angeli 1995 – Zinato bemerkt dazu: »Adriano Olivetti hatte, auf der Ebene seiner über die Provinzen verstreuten herausgeberischen Tätigkeit, schon nach dem Krieg Bobi Bazlen, den verlegerischen Agenten einer triestinisch- habsburgischen Kultur, nach Ivrea berufen und Cesare Musatti mit der Führung des Centro di psicologia industriale betraut. Die große Bibliothek der Via Jervis war ein wahrhaftes Instrument hoher Kultur, vielleicht das aufgeschlossenste und reichste in Italien der 50er Jahre«; u.a. äußert sich Volponi hier auch über seine Vertrautheit mit der Psychoanalyse: »Die Psychoanalyse habe ich kennengelernt, sehr früh schon, in den 50er Jahren, bei meiner Arbeit mit Adriano Olivetti« (E. Zinato, Bd. I, XIX- XX, Anmerkung 40). 38 Siehe Donald. Sassoon: ebd., Parte prima/L’economia. 39 Zu denken ist hier v.a. an die Anfänge des Operaismus in den Zeitschriften Quaderni Rossi und Classe Operaia, geleitet von Raniero Panzieri und Mario Tronti.
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zung der neuen linken Bewegungen mit der Politik der Kommunistischen Partei spiegelt. Die Bedeutung des Romans wäre schließlich auch darin zu sehen, dass Volponi in der Figur des Gerolamo Aspri die an Jahren gereifte Gestalt eines Protagonisten präsentiert, der zwar auf verschiedene Weise aber doch erkennbar bestimmte Züge von Volponis eigenem Lebensverlauf verkörpert, von Corporale ausgehend die Figur, die den Weg zur Neukonstitution des gesellschaftlichen Subjekts durchläuft, bis zu Saraccini, der Figur in Le mosche del capitale, die das Engagement und letztlich auch Scheitern Volponis als ›dirigente industriale‹ nachzeichnet und in das Epos vom »Kampf um die Rettung der italienischen Industrie« integriert. Nach Corporale und dem Durchgang durch die Welt der Zivilgesellschaft der 60er Jahre erfolgt eine Öffnung des Horizonts auf die große Geschichte. Das Zurückgehen in die Vergangenheit dient Volponi offensichtlich dazu, bestimmte Momente der Gesellschaftsentwicklung von ihrem Ausgangspunkt aus in ihrer Auswirkung bis in die Gegenwart aufzuzeigen und sie als geschichtlich noch präsent nachzuweisen. Die Strategie der Inserierung von historischen Momenten in eine Handlungskonstellation, die in der Gegenwart spielt, erprobt Volponi erstmals modellhaft in Il sipario ducale (1975). Der terroristische Anschlag gegen die Zivilbevölkerung 1969 in Mailand ist der Ausgangspunkt einer Konfrontation, die Volponi in einer Art Schauspiel in Szene setzt. Urbino fungiert darin als Bühne, auf der seine Geschichte dargestellt wird im zeitlichen Abstand zwischen der wirtschaftlich stagnierenden Gegenwart der Stadt und der Epoche ihrer ruhmreichen Gründung durch Federico von Montefeltro im Ducato di Urbino. In diese Konfrontation historischer Momente bezieht der Regisseur ein weiteres Moment der Geschichte ein: das Attentat von Piazza Fontana, und damit eine weitere historische Parallel: den Kampf der spanischen Anarchisten um den Bestand der Republik gegen die falangistische Aggression. Die Parallele zur Situation von Piazza Fontana ist unübersehbar, um so mehr, als im Roman die Anarchisten des spanischen Bürgerkriegs in Gestalt von Vivés und Subissoni als die militanten Wortführer einer anderen Republik figurieren, was die vehemente Polemik Subissonis gegen den Einheitsstaat dokumentiert. Im zweiten Roman der historischen Phase, Il pianeta irritabile (1978), skizziert Volponi eine Situation, die auf eine Zukunft vorausdeutet, die im Roman als eine schon eingetretene Realität dargestellt wird, nämlich die Welt nach einem Atomkrieg, der das Ende der menschlichen Zivilisation herbeigeführt hat. Die Gruppe der Überlebenden besteht aus drei Tieren und einem zum Zwerg geschrumpften menschlichen Wesen, das bis zur Unkenntlichkeit entstellt ist. Das Motiv, das in Verbindung mit dem Aggressionsmoment der Kriegführung in dem Prosastück Talete wiederkehrt, illustriert, wie der Krieg die verstümmelten Überlebenden zum Kannibalismus treibt. Diese Schreckensvisionen der Zerstörungen und einer Endzeit wiederkehrender Barbarei wäre nach dem Geschichtsverständnis Volponis auch das definitive Scheitern der Bemühungen um die Realisierung eines universalen Lebenszusammenhangs. Auslöser dieser Schreckensszenen ist im Roman der kriegerische Konflikt zwischen den Atommächten, für die die Rüstung zum dominierenden Faktor der industriellen Produktion geworden ist, eines militärischindustriellen Komplexes, der die Produktion von Waffen zum eigentlichen und primären Zweck der Produktion erhoben hat. Dass die militärischindustriellen Interessen vorherrschend sind und die Bombe gebaut worden ist, 41
Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
ist schon die Bedrohung an sich. Volponi in Corporale: »La bomba H esploderà per il semplice principio che è stata costruita.« (S. 56) – »Die H-Bombe wird explodieren aus dem einfachen Grund, dass sie gebaut worden ist«. In Il lanciatore di giavellotto (1981), dem dritten Roman der historischen Phase, nimmt Volponi die Problematik wieder auf, die er im Frühwerk der Zeit der Kindheit im Faschismus gewidmet hat. Im Rückblick auf diese Zeit greift Volponi die schon analysierten Pathologien der Familie wieder auf, dargestellt jetzt in der Familiengeschichte des Keramikhandwerkers Possanza. Der tragische Ausgang des Familiendramas intendiert zugleich in der Erzählstrategie des Textes so etwas wie die Liquidierung des ÖdipusSyndroms, die in Corporale schon vorangegangen ist, im Lanciatore aber eine politische Motivierung erfährt, die durch die Situierung der Handlung im Italien Mussolinis begründet oder bekräftigt wird. Die politische Dimension des Familiendramas wird u.a. vermittelt aus der Perspektive des Anarchisten Occhialino, dem Schuster des Orts, der als Gegner des Faschismus auf den jungen Damín Einfluss gewinnt und in Gesprächen mit ihm den Weg des Regimes in den Angriffskrieg voraussieht. Doch im Zentrum der Handlung steht die Familientragödie, das Verhältnis der Mutter Damíns zu einem faschistischen Funktionär, die Liebe des Sohns zur Mutter und die Tötung der Schwester, die Damín in einer Art Ersatzhandlung mit sich in den Tod reißt. Den tödlichen Ausgang des Familiendramas situiert der Roman in einer Phase des Bürgertums, in welcher sich eine Mutation in der Gefühlskultur der Familie ankündigt, die in Corporale schon als gesamtgesellschaftliches Phänomen angedeutet worden ist.40 In der letzten Phase seiner Romanproduktion kommt Volponi wieder auf die Thematik seines ersten Erzählwerks (Memoriale) zurück, bereichert um die Erfahrung des politischen Kampfs um die Demokratisierung der italienischen Wirtschaft. Sein letzter großer Roman, Le mosche del capitale (1989), zeigt, wie dieser Kampf schon von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Die allegorische Idee des Romans, der »Kampf um die italienische Industrie«, worin sich Erwartung und Desillusionierung einer demokratischen Reformpolitik spiegeln, weist die Erzählung als eine der reifsten und tiefgründigsten Leistungen der Industrie-Literatur Italiens aus. Die Einsichten, die das Werk vermittelt, und seine verfahrenstechnischen Qualitäten rechtfertigen die Qualifikation des Romans als die Summe zeitgenössischer Darstellung der Industriegesellschaft Italiens. Darin äußern sich aber auch die Defizite, die in diesem Roman die kapitalistische Produktion charakterisieren, die vorwiegend am Profit interessiert und unfähig ist zur Reorganisierung eines funktionsfähigen Arbeitsmarkts; und daraus die Folgerung, dass die marktbeherrschende Produktion zur dominierenden Macht geworden ist und sich Politik und Kultur unterworfen hat. Auf dieser Erkenntnis gründet Volponis Abschied vom Glauben, dass die kapitalistische Ökonomie des Bürgertums überhaupt noch zu reformieren ist. Diese Einsicht drängt den Schriftsteller und Poeten, nach neuen Wegen gesellschaftlicher Koexistenz zu suchen.
40 Eine Mutation, die Pasolini schon in den 60er Jahren diagnostiziert hat und die auch Volponi in ihren negativen Folgen in seinem Artikel Il dramma popolare nella morte di Pasolini, in Scritti dal margine beschrieben hat.
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Biographie – Geschichte – Erzählung
3. D IE G ESCHICHTE
ALS
E RZÄHLUNG
Die Geschichte, die das Werk Volponis in seinen Geschichten spiegelt, präsentiert sich literarisch in Form einer Erzählung, die die Gesamtheit seiner Texte, Poesie und Prosa, umfasst; beide erzählen Geschichten, unterschieden nur, worauf Volponi selbst hingewiesen hat, zwischen einer poetischen und einer prosaischen Motivierung des Erzählens, und im Hinblick auf die Instanz des Erzählers, zwischen einem Subjekt, das aus dem lyrischen Werk spricht, und dem Subjekt der Figuren, aus deren Sicht die erzählten Geschichten präsentiert werden, mit anderen Worten zwischen dem Subjekt der Poesie und dem Subjekt der Prosa, der Figuren der erzählten Geschichte. Die Bestimmung der Poesie ist die der Selbstverständigung des Subjekts auf der Grundlage des Bewusstseins des Kindes, das sich in seiner Zuflucht zur Poesie gegen die Familiensozialisation zu behaupten versucht. Es ist das Bewusstsein des Jungen – des burdel, wie ihn Volponi zuweilen nennt –, der dem Verständnis der Wirklichkeit der Familie die Behauptung einer Wirklichkeit entgegensetzt, die mit der Poesie gleichgesetzt werden kann und daher in einem Bewusstsein gründet, das als poetisches sich unversöhnlich dem institutionalisierten Bewusstsein der bürgerlichen Familie entgegenstellt. In den frühen Gedichten bis etwa zu Le porte dell’Appennino spricht das lyrische Subjekt als »la voce lirica« fast ausschließlich monologisch über seine Herkunft aus dem Reich der Natur, über das Drama seiner Existenz in der Familie und das Unglück der menschlichen Trennung oder Separierung aus dem Bereich des universalen Lebenszusammenhanges. Dieser Teil der Erzählung, der die wesentlichen Daten der Biographie des Subjekts als einer Figur der Gesamterzählung vermittelt, könnte daher auch als der biographische Teil der Erzählung bezeichnet werden, in dem die Lebensgeschichte des Subjekts und seine zeitgeschichtliche Erfahrung ihren Niederschlag gefunden haben. Die Frage, in wieweit diese Lebensgeschichte vergleichbar ist mit der des Autors, wird im Rahmen dieser Untersuchung nicht eigens gestellt und wird nur beantwortet, wo wir den Autor selbst zu Wort kommen lassen.41 Doch die Gewissheiten des frühen lyrischen Werkes, die das Poetische mit der Wirklichkeitserkenntnis gleichgesetzt haben, werden im späteren Werk immer häufiger in Frage gestellt, bzw. in den Streitgesprächen der Romane mit dem Realitätsprinzip der Prosa konfrontiert, wie z.B. in den Debatten zwischen Aspri und Overath in Corporale oder der Polemik zwischen dem Industriellen und dem Schriftsteller in Le mosche del capitale. Dass diese Streitgespräche andauern – und auch in den internen Dialogen der Figuren der späteren Gedichtsammlungen bis einschließlich Nel silenzio campale noch präsent sind, lässt erkennen, dass bezüglich der Wirklichkeitserkenntnis, die Unterscheidung zwischen Poesie und Prosa fortbesteht, während sie hinsichtlich der Grammatik keine Rolle mehr spielt. Die Verteidigung der Poesie wird vordringlich, wo das Zeitgeschehen oder die Zeiterfahrung zu deuten sind angesichts der unverstandenen Geschichte im Biographischen und Singulären. Wie Volponi selbst die Differenz zwischen Poesie und Prosa 41 Die autobiographischen Bezüge des Werks deutet Emanuele Zinato, der Herausgeber der kritischen Werkausgabe, an in der Bemerkung über die ergänzende Funktion von Poesie und Prosa: »Volponi überträgt die Lyrik in den Roman mittels einer Art travestierten Autobiographismus […].« (Introduzione, Bd. III, S. XXI)
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
in seiner Textproduktion sieht, hat er einmal auf die diesbezügliche Frage von Francesco Leonetti wie folgt beantwortet: Mit der Poesie begegne ich einem Problem, das ich nicht kenne, das ich fühle, das mich bewegt, das mir Fragen stellt. Und die Poesie ist genau dazu da, um in dieses Problem einzudringen, um seine Teile zu sehen, um es kennen zu lernen, um ihm auch eine Struktur zu geben und die Möglichkeit einer Lösung; und sie ist in erster Linie eine Möglichkeit des Lernens, für mich, bezüglich ihres eigentlichen Kerns und der Klärung ihrer Kombinationen und Beziehungen. Der Roman dagegen setzt voraus, dass ich die Materie, die ich behandeln will, schon kenne, und dass ich auch eine gültige und wesentliche Vorstellung habe, die ich ausbaue und immer mehr anreichere, während ich den Roman schreibe, die aber dem Anfang der Niederschrift vorausgeht. Darin besteht der wesentliche Unter42 schied.
Erzählen ist ein Modus der Selbstverständigung, die sich auf beide Weisen der Aussage stützt. Die literarische Abbildung von Wirklichkeit als Erzählung zu verstehen (auch in der Lyrik), rechtfertigt sich aufgrund der Beobachtung, dass sich in den Gedichten Volponis schon von Anfang an das narrative Moment in der Darstellung als dominierend erweist, weil es den Kampf und die Wege bezeichnet, wie das Subjekt zu seinem eigenen Selbstverständnis gelangt, um sich anderen gegenüber auch verständlich zu machen; ein Anspruch, der nicht allein die singuläre Existenz betrifft, sondern zugleich das Gesellschaftliche, auf dessen Boden das Subjekt antritt gegen seine Entfremdung und sprachliche Entmündigung, die wörtlich genommen seine Sprachlosigkeit ist. Die Frage der Differenzierung von Poesie und Prosa im Erzählvorgang stellt sich anders, wenn man sie aus ihrem gattungsspezifischen Rahmen herauslöst und im Zusammenhang mit der Auffassung literarischer Werke als Texte, auf der Grundlage der Sprache als Zeichensystem und der entsprechenden Textgrammatik. Auf diese Theorieansätze stützen wir uns in unserer Analyse der Texte Volponis und vermeiden so den Konflikt mit Auffassungen, die im Zuge der Modernisierung der Lebensbedingungen das Ende des Erzählens verkündet haben.43 Zugrunde legen wir vielmehr Ansätze der psychoanalytischen Theorie, die die Unfähigkeit des Subjekts, seine Lebensgeschichte zu erzählen, als einen Sprachverlust diagnostizieren, der rückgängig gemacht werden kann. Von diesen Voraussetzungen aus versuchen wir, einen Zugang zum Erzählen als sprachlichen Modus im Allgemeinen und damit auch in literarischen Texten zu finden.
42 Paolo Volponi/Francesco Leonetti, Dialogo, Text Nr. 171. 43 Wie z.B. Walter Benjamin; oder Lyotard, für den die Postmoderne überhaupt das Ende der »grands récits« herbeigeführt hat. Was Benjamin betrifft siehe Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows, in W.B.: Gesammelte Schriften, Bd. II- 2, S. 437- 465; darin heißt es u.a.: unsere Erfahrung »sagt uns, dass es mit der Kunst des Erzählens zu Ende geht« (S. 439) – Lyotard, Jean- François: La condition postmoderne, Paris: Les éditions de minuit 1979, insbes. das Kap. 10. La délegitimation. Dort u.a.: »Le grand récit a perdu sa credibilité, quel que soit le mode d’unification qui lui est assigné: récit spéculatif, récit de l’émancipation« (S. 63).
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Biographie – Geschichte – Erzählung
Den Begriff des Erzählens verstehen wir im Sinne der Texttheorie als die Verschriftung von Sachverhalten oder Tatbeständen, die einem Empfänger in einer bestimmten Situation übermittelt oder mitgeteilt werden. Unsere Auffassung vom narrativen Charakter der Texte gründet also in erster Linie auf der von Bachtin erforschten und belegten Feststellung eines dialogischen Charakters der Schrift. Bachtin geht in dieser Annahme so weit, dass er auch das als lyrisch geltende Subjektive nicht als Aussage begreift, die unmittelbar zu verstehen ist, sondern als eine Äußerung, die erst über den Dialog erschlossen werden kann.44 Eine Bestätigung findet diese Annahme in den philosophischen Theorien über die Bildung des Bewusstseins, die besagen, dass das Bewusstsein erst über den Anderen in seine Existenz tritt und als Selbstbewusstsein existiert,45 was auch bedeutet, dass das Subjekt erst über den Anderen seine Singularität erfährt und begreifen kann. Beurteilt man die literarische Produktion vom Standpunkt der Theorie, die den Texten die Merkmale des spezifisch Literarischen abspricht, z.B. die Ganzheit oder Geschlossenheit des Werks, so kann man Text generell als eine Folge von Diskursen verstehen, die aneinander gereiht, in sich keine diskursive Kontinuität aufweisen, sondern jeweils auf vorangehende oder nachfolgende Texte oder Textstellen verweisen, die erst im Gedächtnis des Lesers zusammengesetzt oder strukturiert werden müssen.46 Die Texttheorie grenzt hier an die Diskurstheorie, die die Herkunft der Textfragmente aus Sprechakten ausweist und analysiert, d.h. aus Momenten und Situationen der gesprochenen Sprache.47 44 Siehe Bachtin, Michail: Die Ästhetik des Wortes, hg. von Rainer Grübel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979. Darauf bezogen zitiert Peter V. Zima die Kritik Bachtins an der traditionellen Literaturwissenschaft und Stilistik, die »schriftliche und mündliche Äußerungen rein monologisch als regelgeleitete Prozesse analysiert, ohne auf den Gedanken zu kommen, dass jede Äußerung (russ. slovo) nur dialogisch als Replik und interessengeleitete Reaktion auf andere Äußerungen (slova) [zu verstehen] ist [...].« (Zima, Peter V.: Literarische Ästhetik, Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft, Tübingen: Francke, UTB 1991, S. 106). – Zu verweisen ist ferner auf Adornos Rede über Lyrik und Gesellschaft, in Adorno, Theodor W.: Noten zur Literatur I, Frankfurt a.M.: Bibliothek Suhrkamp Bd.47, 1965. Wir zitieren daraus: »Denn der Gehalt eines Gedichts ist nicht bloß der Ausdruck individueller Regungen und Erfahrungen. Sondern diese werden überhaupt erst dann künstlerisch, wenn sie [...] Anteil am Allgemeinen gewinnen.« (S. 74) 45 Zu verweisen wäre hier in erster Linie auf Georg W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, siehe die Abschnitte A) Bewusstsein und B) Selbstbewusstsein; sowie auf J.- P. Sartre: L’être et le néant, Troisième partie, chapitre premier: L’existence d’autrui. 46 Gualtiero De Santi charakterisiert dieses Merkmal der Textstruktur als »die Verkettung von Sätzen, Syntagmen, Adjektiven« (S. 200) und fügt hinzu: »die Verse entstehen aus Ableitung oder Herleitung, hervorgehend aus vorangehenden Versen, vom unmittelbar benachbarten Wort. Ergänzend buchstabiert der Poet, gleichsam Zeile für Zeile, den Ausdruck, der das Reale aus seinem Schattendasein hervorgehen lässt.« (S. 201). Zitiert aus: Paolo Volponi: Poesie e poemetti 1946- 66, hg. von Gualtiero De Santi, Turin: Einaudi 1980. 47 In diesem Sinn haben Roland Barthes und Michel Foucault z.B. den Übergang von der Diskursanalyse in die Textanalyse analysiert und die Merkmale der gesprochenen Sprache, z.B. die Macht- oder Geltungsansprüche der politischen Reden oder der
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Unserem Begriff der Erzählung – im Sinne der Darstellung von Geschichte – legen wir mithin den Textbegriff zugrunde, der in der Texttheorie der 60er Jahre entwickelt worden ist und woraus wir für die Werkinterpretation Volponis eine Art Textgrammatik herleiten.48 Angedeutet sei hier nur, dass der Begriff der Textgrammatik an die Stelle der Grammatik rückt, die als verbindlich für die traditionelle Literatursprache galt und nach dem zweiten Weltkrieg von einem Schriftverständnis abgelöst wurde, das u.a. in Roland Barthes Schrift Le degré zéro de l’écriture von 1953 als der Bruch mit der traditionellen (bürgerlichen) Literatur verstanden wurde. Der Begriff der »écriture« bei Barthes deutet auch einen Wandel in der Darstellung der Wirklichkeit an, in der die Dokumentation der Alltagserfahrung der Menschen als Zeugen der Geschichte Vorrang bekam. Die Grammatik, die diesem Schriftverständnis zugrunde liegt, regelt die Verfahren der Textkonstitution, indem sie die Satzgrammatik auf die Gesamtheit des Textes ausdehnt und die Zusammensetzung des Wortmaterials zu Sätzen und Satzfolgen untersucht und beschreibt. Ihre Aufgabe besteht dabei hauptsächlich darin, aus den Satzfolgen das Subjekt der Aussage zu bestimmen, das als das Thema des Textes zu definieren wäre, und dieses in Beziehung zu setzen zu dem Objekt oder den Objekten, die grammatisch als Satzaussage fungieren und zu verstehen sind. Diese Beziehung, zwischen Subjekt und Objekt der Aussage, die linguistisch als Thema- und Rhema-Funktionen der Textkonstitution definiert und beschrieben worden ist,49 ist semiotisch auch als die Beziehung von Subjekt und Objekt der Wahrnehmung zu verstehen,50 Beziehungen, die in beiden Fällen als gestört erscheinen, da in der Sprache der Literatur die Wörter und die durch sie bezeichneten Dinge nicht mehr übereinstimmen, so dass auch grammatikalisch nicht mehr gewährleistet ist, dass Sätze oder Satzfolgen in Reklame als Merkmale von Texten nachgewiesen. Siehe Barthes, Roland: Mythologies, Paris: Ed. du Seuil 1970 und Foucault, Michel: L’ordre du discours, Paris: Gallimard. – Die Herkunft des Worts aus der gesprochenen Sprache hat v.a. Michail Bachtin in seiner Forschung zum Thema gemacht und nachgewiesen; so in der Feststellung: »Das Wort ist immer mit ideologischem oder aus dem Leben genommenem Inhalt und Bedeutung erfüllt.« (Zitiert aus Peter V. Zima: ebd., S. 104) 48 Die Texttheorie, die Roland Barthes in der Kooperation mit der Zeitschrift Communications und in seinen Schriften zu entwerfen sucht, – cf. insbes. das Heft 8 von 1966 mit dem Titel Recherches sémiologiques. L’analyse structurale du récit – leitet sich aus verschiedenartigen Ansätzen her, philosophischen, wie der Informationstheorie (cf. auch Umberto Eco) und kommunikationstheoretischen (u.a. von Searle und Habermas), linguistischen, in der Linie der semiotischen Forschung ausgehend von Peirce bis zur psychoanalytischen Semiotik von Lacan und Julia Kristeva; sowie in der Linie der Sprechakt- Theorie in der Nachfolge Austins (dazu D. Wunderlich, Dieter: Sprechakte (Kommunikative Funktionen von Äußerungen), Funkkolleg Ms. 1971). Für eine Gesamtdarstellung dieses Forschungsbereich siehe Schmidt, Siegfried J.: Texttheorie, München: Fink UTB 1973. 49 Cf. Ducrot, Oswald/Todorov, Tzvetan: Dictionnaire encyclopédique des sciences du langage, Paris: Editions du Seuil 1972; darin: L’organisation sémantique de l’énoncé, S. 344- 45. 50 Searle, John Rogers: Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language. Cambridge 1969; ferner Briosi, Sandro: Il simbolo e il segno, Modena: Mucchi Editore 1993; insbesondere Kap. 3.1. Il simbolo e il suo soggetto.
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Biographie – Geschichte – Erzählung
den Koordinaten von Semantik und Syntax adäquat zu verstehen sind. Und das wiederum hat zur Folge, dass Texte nicht mehr auf der Ebene der Signifikate des Wortmaterials, also der schon gedeuteten Begriffe (signifié), gelesen werden können, sondern dass sie auf der Ebene des nicht gedeuteten Signifikanten (signifiant) erst entziffert werden müssen. Die grammatikalische Verlagerung des Lesens und Verstehens von Texten ist eine der entscheidenden Veränderungen im Bereich der Texttheorie. Sie findet sich als Verfahren im Ansatz schon bei den historischen Avantgarden, in unserem Zusammenhang aber in der Nachkriegs periode zunächst im Nouveau Roman und in der Strömung von Tel Quel. Wie Italo Calvino in einem Essay anmerkt, der u.a. auch über Tel Quel handelt, besteht eine ihrer Verfahrensweisen darin, dass »die psychologische Person durch eine linguistische Person ersetzt wird, oder geradezu eine grammatische, die lediglich durch ihren Platz im Diskurs definiert wird.«51 Das bedeutet u.a., dass das grammatikalische Subjekt an die Stelle der Person tritt und zusammen mit dieser im Text aufzufinden und zu identifizieren ist. Dem Leser ist also aufgegeben, auf der Ebene der Signifikanten, der ungedeuteten Wörter und Begriffe, das Subjekt des Textes zu ermitteln, dem die Textsequenzen grammatisch als Satzaussage zugeordnet werden sollen. Von dieser Operation hängt folglich ab, ob der Text verstehbar wird und davon wiederum, ob und wie sich in diesem Vorgang ein Text konstituiert. Und auf der Textkonstitution beruht schließlich der Aufbau und die Entwicklung der Erzählung oder der Erzählungen, die aus dem Werk Volponis herauszulesen sind; sie handeln von der Biographie und der Geschichte der Figuren, die zunehmend den Status der bürgerlichen Person verlieren oder aufgeben, und sich ihres entfremdeten Seins zu entledigen versuchen auf dem Weg einer Neukonstitution des gesellschaftlichen Subjekts. Subjektkonstitution und Textkonstitution stehen also in einem engen Zusammenhang und sollen in unserer Interpretation der Werke Volponis auch parallel analysiert werden. Zu ergänzen wäre, dass das Subjekt eine Instanz und ein Moment des Erzählens ist, eine Figur im Erzählvorgang, die eine Person zwar repräsentieren kann, die aber die Funktion darstellt, die im Satz oder in den Satzsequenzen der Satzgegenstand inne hat, auf den hin die Satzaussage zu konstruieren ist. Diese Entpersönlichung des Begriffs trägt dem Rechnung, was in der Erzähltheorie der Entmündigung der Person als Handlungsträger entspricht und ihrer Ersetzung durch das, was von Pirandello abwertend »il personaggio« genannt worden ist,52 und das besagt u.a. die Entwertung der Person als handlungsfähiges Individuum, ihre Herabstufung zu einer Figur, die nur noch in einem negativen oder komischen Licht gezeigt werden kann. Diese Relativierung der Person oder ihr Aufgehen in der Anonymität der Menge zeigt sich im Nouveau Roman dann in den Figuren, deren Geschichte nicht mehr als die von identifizierbaren Individuen zu verstehen ist, oder die in verschiedenen Handlungsmomenten als dasselbe Individuum wieder erscheinen, so dass sie 51 In Calvinos Cibernetica e fantasmi (Appunti sulla narrativa come processo combinatorio), publiziert in: Calvino, Italo: Una pietra sopra, Discorsi di letteratura e società, Turin: Einaudi 1980 ; in diesem wichtigen und einschlägigen Essay wird auch Bezug genommen auf den nouveau roman und v.a. auf Tel Quel (166- 67); was Tel Quel betrifft, verweisen wir auf: Tel Quel. Théorie d’ensemble, Paris: Editions du Seuil 1968. 52 Luperini, Romano: L’allegoria del moderno, Rom: Editori Riuniti 1990, S. 224f.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
nur noch auf Verdacht, wie in L’ère de soupçon bei Nathalie Sarraute, oder auf Vermutung, wie bei Uwe Johnson, zu identifizieren sind, was schließlich auf den freien Gebrauch der Personalpronomen ausgedehnt wird, die die Identität von Personen im Fortgang des Erzählens bisher gewährleistet haben. Die Auflösung der personenbezogenen Perspektiven der Handlung und damit die Darstellung von Ereignissen der Geschichte aus dem Blickwinkel mehrerer oder vieler Personen, also die Vielstimmigkeit (Polyphonie) und die Vieldeutigkeit (Polysemie) der narrativen Gehalte der Literatur, verdanken sich der von Bachtin und seiner Schule vertretenen Forschung,53 die die Wege geebnet hat von einer am Individuum orientierten und um dieses zentrierten Auffassung von Literatur zu einer auf die Gesellschaft bezogenen und an der kollektiven Erfahrung interessierten Konzeption der Literatur. Diese Wendung lässt sich an Werken schon erkennen, die nach dem ersten Weltkrieg erschienen sind, so z.B. exemplarisch an James Joyces Ulysses, wo die personenbezogenen Perspektiven durch die fiktiven Gestalten des Homerschen Epos abgelöst oder überlagert werden. Die Erzählung, wie sie Volponi praktiziert, kennzeichnet in vielen der Texte ihr rhapsodischer Charakter (bruchstückhaft, unverbunden, improvisiert), wobei oft abwechseln Episoden von gleichnishaften Charakter – Fabeln, Apologe, Anekdoten – und Beschreibungen oder Reflexionen, die den Erzählstoff auseinanderfalten, während die Fabelelemente ihn auf der Ebene des Sinns verdichten.54 Das ist u.a., was die Kritik das Ineinanderfließen von ›poesia‹ und ›romanzo‹ genannt hat,55 wobei die verdichtenden Momente oder das Poetische die Offenheit des Sinns vermitteln, das infinito Leopardis, wenn man so will, während der Stoff der Prosa das indefinito ist, das noch nicht Definierte, das im Text selbst noch zu Findende.56 Wie aus den hier vorerst summarisch aufgeführten Techniken des Erzählverfahrens erkennbar wird, ist ihr abweichender Charakter von der normativen Grammatik der traditionellen Literatur nicht losgelöst zu betrachten von der Weise, wie und was erzählt wird. Denn von der Wahrnehmung und ihren vielfältigen Perspektiven, von den Weisen der Mitteilung und den Medien der Übermittlung von Information, schließlich von den Bewusstseinsformen der Wirklichkeitserfahrung hängt es ab, welche Erzählungen dem Wahrheitsgehalt der »großen« Geschichte, die von Volponi intendiert ist, am nächsten kommt.
53 Bachtin, Michail und seine Schule siehe Anmerkung 40. 54 Leonetti/Volponi, Dialogo, S. 107f. 55 De Santi, Gualtiero, Nota im Gedichtband Poesie e poemetti 1946-66., S. 195- 202; Santato, Guido im Klappentext von Con testo a fronte: Zinato, Emanuele: »La recente poesia di Paolo Volponi fra corpo e storia«, in: Hortus 15 (1994). 56 Sanguineti, Edoardo: Il chierico organico. Scritture e intellettuali, Mailand: Feltinelli 2000; darin der Artikel: Il nulla in Leopardi, S. 99- 112.
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Kapitel 2: Das lyrische Werk – die frühe Lyrik
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Die Anfänge des lyrischen Frühwerks erstrecken sich auf die Gedichtproduktion bis etwa 1955, d.h. bis zum Übergang zu Le porte dell’Appennino (195559), und umfassen die Gedichtbände Il ramarro (1946-48), L’antica moneta (1949-54) und Il giro dei debitori (1953-54). In seiner Note von 1956 über die Gedichte der frühen Phase spricht Pasolini von dem unterschiedlichen Charakter oder den »toni diversi« der Gedichte, wobei er zu deren Unterscheidung sprachlich-stilistische Merkmale anführt.2 Er ordnet die Gedichte der beiden ersten Bände einem, wie er es nennt, »tipo paratattico« (433) zu, einer Schreibweise, in der vereinzelte Wörter oder Satzfragmente einfach aneinander gereiht werden und so konstituieren, was als Aussage zu verstehen ist. Die Gedichte dagegen ab Il giro dei debitori, ordnet Pasolini dem »secondo tipo«, »dem eigentlich hypotaktischen der Gedichte Volponis« zu,3 offenbar weil sie den erzählerisch- argumentierenden Charakter einer Geschichte entsprechen, die als »die Geschichte des Dichters« selbst identifiziert wird, deren Verlauf in den phasenhaften Wendungen des Werkes abzulesen oder zu entziffern sei. In den nachfolgenden Bemerkungen resümiert Pasolini, was er als das Biographische in der Poesie Volponis zu erkennen meint. Die Kindheitserfahrung, sagt er, »statt zurückzubleiben im Gedächtnis und nur in den intermittences du cœur wiederzukehren, wie es die Norm ist, wird in der Geschichte des Dichters quasi [mittransportiert], getragen von einer Art bewussten Willen seitens des Poeten, festzuhalten an einer Sehnsucht, die sich mit ihm entwickelt hat, indem sie zu einem Modell des Idealen geworden ist, inhärent seinen Willensregungen, eine vergoldete Last, die sich pünktlich entlädt in den Momenten des Glücks und der Verzweiflung.«4
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Alle in diesem Kapitel behandelten Gedichte sind dem Gedichtband Poesie e poemetti 1946- 66 (herausgegeben von Gualtiero De Santi) entnommen. Die Zahlen hinter den zitierten Versen der kürzeren Gedichte beziehen sich jeweils auf die Buchseite des genannten Gedichtbands. In den längeren Gedichten (den poemetti) wäre statt von Strophen von Verssequenzen zu sprechen; der Nummerierung dieser Verssequenzen stellen wir das Sigel S voran, den Versen innerhalb der Verssequenz das Sigel V. Den von uns näher untersuchten Gedichten fügen wir in der Anmerkung zum Titel die jeweilige Seitenzahl im Gedichtband hinzu. Pasolini, Pier Paolo: Volponi, in: Pier Paolo Pasolini: Passione e ideologia, Mailand: Garzanti 1960, S. 433- 38. Ebd., S. 436. Ebd. S. 437 – die Übersetzung des Textes vom Vf.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Von unterschiedlichen, ja sogar konträren Ansätzen in der frühen Lyrik Volponis geht Franco Fortini5 aus in seiner Besprechung des langen Gedichts La paura, das den Übergang markiert von den frühen Gedichten zu den als narrativ charakterisierten längeren Kompositionen. Als kennzeichnend für die Dichtung Volponis sieht er den Zwiespalt im Subjekt des Gedichts zwischen der Angst und der sich manifestierenden Selbstgewissheit, die er als premorale (diesseits der Moral) bezeichnet. Wie in Pasolinis Unterscheidung der Ausdrucksformen oder Stile stehen sich hier zwei Formen des poetischen Bewusstseins gegenüber, in denen sich das Subjekt – die »voce lirica« – in gegensätzlicher Form spiegelt oder artikuliert: einerseits als die Stimme einer Lebensgewissheit, die vor aller Moral situiert ist, die herrührt aus der Naturverbundenheit im Werk Volponis; auf der anderen Seite die Angst als das bleibende Thema der Poesie Volponis und seiner Herkunft aus der Familiengeschichte, von wo sie übergeht in die Lebensgeschichte des Subjekts, als »la storia del poeta« (die Geschichte des Poeten), wie Pasolini sie bezeichnet hat. Dass die literarische Produktion Volponis mit der Lyrik beginnt, mit dem Schreiben von Gedichten, ist von der literarischen Kritik immer wieder dahingehend gedeutet worden, dass die Poesie das eigentliche Medium seines Schreibens gewesen sei6 oder zumindest Vorrang gehabt habe vor seinem Eintritt in die Welt der Prosa. So sieht das Gualtiero De Santi in seinen Anmerkungen zur Ausgabe von Poesie e poemetti 1946-66 von 1980. Er konstatiert eine »innere Notwendigkeit der poetischen Erzählung« oder der Erzählung als Poesie, die der »großen narrativen Produktion« im Werke Volponis vorausgeht.7 Volponi hat das in seinem Brief von 1955 an die Redaktion von Officina, aus dem Pasolini zitiert, so formuliert, dass die Poesie für ihn das Medium ist, durch das er die Wirklichkeit sieht und beurteilt.8 Und bezüglich seiner Gedichte fügt er hinzu, was für sein gesamtes lyrisches Werk richtungweisend werden sollte: Meine Poesie hat keinen anderen Grund außer mir selbst. Sicher allerdings, dass ich nicht weiß, wo ich aufhöre und wo meine Freunde beginnen, die äußeren Einflüsse, die Landschaft und die Gesellschaft. Deshalb sind meine Gründe auch nicht nur und immer persönliche, im Sinne von psychologischen; aber sie befinden sich auf einem weiten Terrain, uneben und voller Strömungen, das diesem folgt oder besser benachbart ist, bedingt durch eine Reihe sozialer und kultureller Kontakte. Gegenüber der Realität bleibt mir immer [vorrangig] die Meinung 9 des Poeten … [Mi resta sempre un’opinione da poeta di fronte alla realtà …].
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Fortini, Franco: Le poesie italiane di questi anni, in: F. Fortini: Saggi italiani, Bd. 1, Mailand: Garzanti 1987, S. 101- 02. Giovanni Raboni leitet seine Introduzione der Gedichtausgabe von Emanuele Zinato ein mit der Bemerkung Volponis: »In meiner Wahrnehmung der Realität ist immer maßgebend die Meinung des Poeten« (S IX); angemerkt wird auf derselben Seite: Mengaldo, mit Calvino, hat vom Roman Volponis gesprochen als von »einem partikularen Fall der Poesie«. Gualtiero De Santi in der Nota seiner Ausgabe der Poesie e poemetti 1946-66. S. 195- 202. Zitiert schon in einer vorangehenden Anmerkung. Zitat aus Pasolini: Ebd., S. 438.
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Das lyrische Werk – die frühe Lyrik
Es gibt keine bessere Erläuterung der Praxis und der Funktion des Poetischen im Sinne Volponis als diese Bemerkungen, deren Kern darin besteht, dass es keinen eigentlichen Unterschied gibt zwischen der Person des Poeten und dem, was wir sein gesellschaftliches Sein oder Wesen nennen werden und was in den zitierten Worten zum Ausdruck kommt. Die fließende Grenze zwischen dem Bewusstsein des lyrischen Subjekts in den frühen Texten Volponis und der von ihm dargestellten Wirklichkeit beruht auf einer Wahrnehmung, für die der ganzheitliche Zusammenhang der Dinge und der Lebewesen Ziel und Zweck der poetischen Welterkenntnis ist. Die sinnliche Wahrnehmung – das Sehen, Hören, Fühlen des organischen Lebens der Natur – ist das Medium der Lyrik des Frühwerks, in dem sich die mythische Welt der Apenninen spiegelt; und es ist das Bewusstsein des lyrischen Subjekts, das sich den Dingen ähnlich macht, indem es sie in sich aufnimmt oder in einer reziproken Annäherung sich mit ihnen identifiziert. Nach Gualtiero De Santi beschreibt dieser Vorgang »das Eindringen des Elementaren der Natur in das Wahrnehmungsfeld des Subjekts, dessen Sichauflösen oder Wiederauftauchen im Magma des Unbewussten und das über den Mythos Hinausgehende, der bis jetzt das Verstehen der Welt ermöglicht«10 Umgekehrt ist das Sich-Versenken des Subjekts in die Dinge zugleich der Weg der intellektuellen Annäherung an das Sein der Phänomene, das sich in der Materialisierung des Bildes offenbart. De Santi stützt diese Beschreibung des Wahrnehmungsvorgangs auf die Phänomenologie Husserls – weiterentwickelt von Sartre und Debenedetti, wie er sagt –, wonach das Bewusstsein des Subjekts und das Sein des Objekts interagieren. Das wahrnehmende Subjekt kann die Dinge ins Bewusstsein heben und damit zur Bedeutung bringen, es kann sie aber auch wieder in die Dunkelheit des Unbewussten versinken lassen.11 Der um die Wahrnehmung zentrierte Prozess der Verbildlichung der Gegenstände und Phänomene ist das früheste, elementarste Prinzip der poetischen Produktion Volponis, worauf sich fast alle sprachlich-stilistischen und literarischen Techniken und Verfahrensweisen des frühen Gedichtwerks, wie noch zu zeigen sein wird, zurückführen lassen. Die Grundlage dieser Verfahren bildet die von De Santi erwähnte, auf Husserl zurückgehende Phänomenologie der Wahrnehmung,12 nach welcher eine objektive Erkenntnis des Gegenstands erst möglich wird, wenn sich das Subjekt im Wahrnehmungsprozess zurücknimmt – in einer Epoché, wie Husserl das genannt hat –, und sich öffnet, um den Gegenstand zu erfassen, ihn über seine Verbildlichung als Gestalt zu identifizieren, in der sich schließlich seine Bedeutung kund gibt oder ablesen lässt. In den ersten Gedichtbänden ist also nahezu ausschließlich das Potential an Bildern das vorherrschende Moment in Volponis lyrischer Produktion, und das im vollen Umfang ihrer Erscheinungsweisen: als Bilder von Gegen10 De Santi: Ebd., S .195. 11 »In einem Fall ergibt sich ein Explodieren hin zum Licht und zur Form, im anderen ein beängstigendes Zurückfluten hinab in den Tod und ins Dunkel.« (De Santi: Ebd., S. 197). 12 Wir verweisen auf den gleichlautenden Titel des in diesem Zusammenhang grundlegenden Werks von Maurice Merleau- Ponty: Phénoménologie de la perception, Paris: Gallimard 1945.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
ständen und Tieren, Bilder von Landschaften oder Landschaftsausschnitten, Bildvergleiche oder Bildverknüpfungen, oder als Visionen, Gemälde oder Elemente, die sich zu Bildgeschichten zusammenfügen. Darin offenbart sich die Dynamik des Bildhaften, ihr narrativer Impuls, der sich diskursiv entfaltet sei es in der Vertiefung zur Erzählung oder in der Verbildlichung einer Sentenz als Apolog oder Fabel. Die Bilder haben in der frühen Lyrik die Funktion, die Erscheinungen der fremd gewordenen Natur in ihrer Rätselhaftigkeit aufzuklären, sie als Zeichen erkennbar und als Bilder verstehbar zu machen. Illustriert werden soll das an den Gedichten der frühesten Sammlung, betitelt Ramarro, und an den schon komplexeren Kompositionen von L’antica moneta. Das Gedicht Nummer VI aus der Sammlung Ramarro – was eine Art Eidechse bezeichnet – kann zeigen, dass die Verben der Wahrnehmung oder der implizite Blick auf die Gegenstände grammatikalisch die grundlegenden Strukturmerkmale der Aussagen der Gedichte, wenigstens von II bis IX, sind. In diesem Gedicht werden zwei Bildmuster als hauptsächliche Bedeutungsträger miteinander in Verbindung gebracht, nämlich der menschliche Körper (die Elemente Knochengerüst und Haut) mit der Bildmatrix der Erde (den Elementen Bäume, Straßen, See). Die beiden Bildbereiche werden miteinander verglichen und schließlich identifiziert, wobei der eine Bereich als das vergleichende Subjekt (comparandum), der andere als das verglichene Objekt (comparatum) figurieren; in unserem Text die Erde (das Universum), die mit dem menschlichen Körper, seinen Organen und Funktionen, verglichen wird. Das narrative Moment, das eine gewisse Dramatik in das Gedicht bringt, geht umgekehrt vom Bildbereich der Erde aus und deutet an, dass umgekehrt die Bewegungen der Erde, ihre Spannungen, sich im menschlichen Körper reproduzieren, dass dieser als organischer Bestandteil der Materie deren Bedingungen unterworfen ist. Nelle vastissime notti io sento il rumore dell’ossature delle cose, gli alberi che battono sulle strade. La terra tesa con spasimo che potrebbe schiantarsi come il ghiaccio di un lago. Io debbo reagire per non farmi sovrastare dal rumore del mio corpo, per non farmi tendere come la pelle della terra. Cerco di spezzare quelle corde che stirano ogni cosa. [28]
In den ungeheuer weiten Nächten höre ich das Geräusch des Knochengerüsts der Dinge, die Bäume, die auf die Straße schlagen. Die Erde im Krampf gespannt, die aufbrechen könnte wie das Eis auf dem See. Ich muss reagieren, um mich nicht überwältigen zu lassen vom Geräusch meines Körpers, um mich nicht spannen zu lassen wie die Haut der Erde. Ich versuche die Stränge zu zerreißen, die alle Dinge strecken.
In diesen Versen sind Bildelemente einfach aneinander gereiht, sie bergen aber schon in der bloßen Anordnung der aufeinander folgenden Worte den Impuls in sich zu einer die Wörter verbindenden Aussage, zur narrativen Entfaltung der in den Bildelementen angelegten Bedeutung. So können die Bilder, wie in diesem kleinen emblemartigen Gedicht, Zusammenhänge sichtbar machen, die gewöhnlich unbeachtet oder rätselhaft bleiben, wie der Hinweis 52
Das lyrische Werk – die frühe Lyrik
auf die substantielle Gleichheit der beiden Körper. Aber nicht wenige der in Volponis Gedichten angesprochenen Bildelemente bleiben unaufgeklärt und die Beziehung zu der von ihnen intendierten Wirklichkeit im Dunkeln, was nicht zuletzt auch auf weite Bereiche seiner späteren Lyrik zutrifft. Verwiesen sei auf das Gedicht Nr. X, das dunkel oder rätselhaft bleibt, weil die Beziehungen zwischen den Bildbereichen syntaktisch nicht eindeutig sind und deshalb ein Zusammenhang nicht einsichtig wird.13 Die klassische Poetik ordnet diese Gedichte dem Gattungsbereich der enigmatischen Dichtung und den Emblemen zu, dem, wie gesagt, ein nicht unbeträchtlicher Teil der Lyrik Volponis zugerechnet werden kann. Aus der Sicht einer textlinguistischen Poetik wären diese Gedichte aber auch anders zu lesen und grammatikalisch auf der Grundlage der Sprache als Zeichensystem anders zu analysieren. Grundlegend wäre hier, dass Texte konstituiert werden über das Zusammenspiel von semantischen und syntaktischen Beziehungen von Wörtern und Begriffen, durch die Auswahl von Begriffen [aus dem Paradigma] und ihre Kombination mit anderen Wortelementen [im Syntagma, d.h. in der Reihung von Wörtern zu Sätzen und Satzfolgen]. Der Zusammenhang der Bildelemente im Text bleibt textlinguistisch aber nicht mehr gebunden an die Regeln der Grammatik und an die festgelegte Folge von Satzgegenstand und Satzaussage, sondern wäre zu ermitteln erst über die sprachlichen Zeichen und ihre Entschlüsselung. Angedeutet wird hier schon, in welche Richtung sich Volponis Schreibweise entwickeln wird, nämlich in die eines sprachlichen Experimentierens mit institutionalisierten Wortbedeutungen, die über neue Bildsynthesen in Medien einer veränderten Dingwahrnehmung umgewandelt werden. Die literarische Kritik hat diese Darstellungsweise einhellig dem ›sperimentalismo‹14 der Nachkriegsliteratur zugeordnet.15 Der Blick des Poeten auf die Natur ist der Blick auf die Titelfigur »Il ramarro« [die Eidechse] der ersten Gedichtsammlung: 16
13 Um den enigmatischen Charakter des Gedichts Nr. X zu illustrieren, sei das Gedicht im Folgenden ganz zitiert: Ti manca sotto i piedi/il bicchiere con l’acqua marcia./Mi fa schifo/tenerti in bocca./E non posso vederti camminare/con la testa diritta./Non sei nell’alba/nel tramonto,/sei alle due/sulle tovaglie unte/nelle poltrone pigre/nella parte del sigaro/intrisa di bava. Es fehlt dir unter den Füßen/das Glas mit dem faulenden Wasser./Es ekelt mich/dich im Mund zu halten./Und ich kann dich nicht laufen sehen/mit geradem Kopf./Du bist nicht im Morgengrauen/nicht im Sonnenuntergang,/du bist in beiden/auf den fettigen Tischtüchern/in den trägen Sesseln/im Teil der Zigarre/vom Speichel befeuchtet. 14 Wir werden im Folgenden den Terminus ›sperimentalismo‹ beibehalten, weil der Begriff der ›experimentalen‹ Poesie im Deutschen nicht denselben Sachverhalt bezeichnet. 15 Zinato, Emanuele: dazu in der Introduzione zur Ausgabe der Poesie 1946-1994 (S. XVI ff) – »Der ursprüngliche lyrische Impuls wird mit Hilfe der Schule von Pasolini und den Mitarbeitern von Officina umgelenkt auf das breitere Terrain des poemetto [in der Tendenz des Prosagedichts].« 16 Die Schrägstriche [/] hinter den zitierten Versen signalisieren jeweils das Ende eines Verses, bzw. den Übergang zu einem neuen Verssegment. Der Schrägstrich am Ende der jeweils zitierten Versfolge bezeichnet einfach das Ende unseres Verszitats und
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte Hai sentito la forza del mio sguardo arrivarti addosso e m’hai girato gli occhi, nel sorriso, verso la solitudine calda […]. [Gedicht Nr. III]
Du hast gefühlt die Kraft meines Blicks auf dich gerichtet und hast auf mich die Augen gewendet mit einem Lächeln zur warmen Einsamkeit […].
Es ist der Blick auf eine Natur, die in ihrer Erscheinungsweise dem menschlichen Verständnis mittels der Zeichen, die sie entschlüsseln, wieder nahe gebracht werden soll, und zwar da, wo sie an ihrer Oberfläche einfach ignoriert wird oder in noch unerforschte dunklen Tiefen führt oder ins Vergessen abgedrängte Dämonen birgt, Gespenster des Guten oder Bösen, die in den Gedichten VII und VIII evoziert werden. Ho sentito lo spaventevole dialogo dei morti, fatto di tarli nei legni scuri delle sacrestie [Gedicht VII]
Ich habe den erschreckenden Dialog der Toten gehört übermittelt von den Würmern im dunklen Holz der Sakristeien
Non me ne parlare. […] La sento arrivare con paura, passa da per tutto m’entra nel sangue bianco, non si può più dormire. [Gedicht VIII]
Sprich nicht davon […] Ich fühle sie kommen mit Angst überall geht sie vorbei dringt ein ins Blut weiß, man kann nicht mehr schlafen.
Das Pronomen in »La sento arrivare« hat im Gedicht kein Wort, auf das es sich beziehen könnte, ist also ein reines »fantasma«, das als noch gestaltlos sich dem Verständnis entzieht. Wo es dagegen gelingt, die Komponenten des Realen in Bildern einzufangen, die dem Verständnis unmittelbar zugänglich sind, begegnen wir in den Gedichten des Ramarro geglückten und suggestiven Bildern von Szenen, in denen Tiere, Landschaften und Menschen in einem organischen Zusammenhang miteinander leben und das zyklische Zeitmaß der Jahreszeiten immer wieder den Neubeginn des Lebens verspricht, wie in XI: Le strade hanno tracce grandi di bove e s’apre l’orizzonte alla terra nova. […] nasceva primavera,
Die Straßen haben Spuren von Ochsen und ein Horizont öffnet sich der neuen Erde. […] es wäre Frühling,
lässt offen, was im Text des Originals noch folgt, einschließlich der jeweiligen Interpunktion.
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Das lyrische Werk – die frühe Lyrik quando la notte dura come il giorno. [Gedicht XI]
wenn die Nacht dauert wie der Tag.
L’antica moneta17
Der zweite Gedichtband der frühen Lyrik, führt die Ansätze von Il Ramarro im Bemühen fort, das menschliche Bewusstsein der Natur anzugleichen oder umgekehrt die Erscheinungen der Natur und ihren Zeitbegriff im Bewusstsein zu integrieren. Zunehmend wird der Prozess der Bewusstseinsbildung des Subjekts in die Bildgenese einbezogen und gezeigt, wie Wahrnehmungen und Eindrücke sich in Bilder umsetzen und sprachlich zu Sätzen formieren. Aus den zunächst vereinzelten Satzaussagen lassen sich – wie aus Mosaiksteinen – die Zusammenhänge konstruieren, aus denen sich die kleinen Formen der frühen Lyrik entwickelt haben und als solche zu erkennen und zu definieren sind. Einen Beitrag dazu leisten ihrerseits die thematischen Bezüge der Gedichte, ausgehend von den Wortsynthesen in den Bildern. Ihre Analyse in L’antica moneta beschränken wir – für unsere Zwecke – auf die Aspekte der Zeitperspektiven in den Gedichten sowie auf die Lebensräume, in denen sich die Figuren bewegen. Die Zeitperspektiven betreffend sind es drei Dimensionen, in denen die Ereignisse situiert sind; und das sind zum einen die erfüllte zyklische Zeit der bäuerlichen Kultur im Ablauf der Jahreszeiten; die historische Zeit als die tote Zeit, insofern ihre Wiederkehr als gespenstisch erlebt und beschrieben wird, und schließlich die unerfüllte Zeit der Gegenwart, d.h. die bedrohliche oder bedrohte Zeit der gelebten Existenz. Die entgegengesetzten Zeitformen der erfüllten und der unerfüllten Zeit, wie wir sie nennen wollen, bestimmen letztlich den Aspekt, unter dem die ländlichen Szenen gesehen werden: im Licht der erfüllten Zeit zumeist in den Bildern der Jahreszeiten,18 in den liedhaften Stücken,19 und schließlich in den Gedichten,20 worin die historische Zeit als die gespenstische Rückkehr der Vergangenheit dargestellt wird. Als Modell der erfüllten Zeit kann die Darstellung des Gedichts gelten, das dem Gedichtzyklus als Titel dient: Antica moneta. [57] Aus der bloßen Aneinanderreihung der Wortgruppen ergeben sich schon die Umrisse einer kleinen Geschichte, deren mosaikartigen Aufbau der Titel in einen thematischen Zusammenhang bringt. Die »antica moneta« besteht, wie wir meinen, im Wert der im Gedicht kombinierten Bestandteile der bäuerlichen Kultur. Precipitosi cieli Delle notti di marzo, al cui fiato s’incrina ogni cristallo invernale.
Himmel voll Regen die Nächte im März, an deren Atem die Winterkristalle zerschellen.
Come un’antica moneta La luna dissepolta affiora.
Wie eine antike Münze erscheint der dem Grab entstiegene Mond.
17 S. 41–77. Zu unterscheiden ist hier der Titel der bezeichneten Gedichtsammlung insgesamt und dem gleichnamigen Gedicht auf S. 57. 18 In den Gedichten S. 43, 44, 52, 53, 57, 60 und 73. 19 In den Gedichten S. 66 bis 69. 20 In den Gedichten S. 46 bis 49 und 62.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte Dalla tenera terra i piedi svegliano giovani fiumi e già le vipere compagne lasciano i nidi dei tesori nascosti col ventre d’oro.
Aus der zarten Erde entspringen junge Flüsse und schon verlassen die geselligen Schlangen die Nester der mit dem goldenen Bauch verborgener Schätze.
Ora le vergini s’aprono negli orti come radici all’acqua con timore dell’uomo che passa, delle dolci api a sciami nelle orecchie.
Jetzt öffnen sich in den Gärten die jungen Mädchen wie Wurzeln im Wasser mit Angst vor dem Mann, der vorbeigeht der süßen Bienen Schwarm in den Ohren.
Sortilegi d’olio e di corallo trarrà la zingara con l’orso ballerino. Marzo spenderemo, rotonda moneta, nelle feste dei paesi.
Weissagungen mit Öl und Korallen wird die Zigeunerin bringen mit dem tanzenden Bär Im März werden wir ausgeben runde Münze, in den Festen der Dörfer.
Die Bildelemente präsentieren sich wie Mosaiksteine im Gedicht ohne grammatisch zwingende Verbindung; sie tragen aber jedes auf seine Weise zur narrativen Ausgestaltung des Gesamtbilds bei. Der regnerische Himmel, der die Flüsse neu belebt und den Winter vertreibt; der Mond, der hier zum ersten Mal mit der Münze als Währung in Verbindung gebracht wird;21 die Schlange als Hüterin der Schätze der Erde; das Motiv des Gartens (»orto«) als der Bezirk der Frauen; schließlich der Jahrmarkt und die ländlichen Feste, auf denen die Münzen als Währung umgesetzt werden in Lebensgenuss. Den Gedichten der erfüllten Zeit stehen im Kontrast und im Widerspruch die Gedichte gegenüber, die im Wechsel der Tageszeiten den Umbruch von der Tages- zur Nachtzeit und damit zur bedrohten Dimension der menschlichen Existenz beschreiben. Im Gedicht, betitelt Sospeso è il giorno [S. 47] – Noch nicht vergangen ist der Tag –, wird die Unterbrechung der Tageszeit als die bedrohliche Rückkehr der Vergangenheit und ihrer Fantasmen erlebt und dargestellt.22 In Io porto al mare [S. 46] – Ich trage zum Meer – wird dagegen das Gefühl, der Nacht entronnen zu sein und in eine neue Dimension des Lebens 21 Das Mondmotiv, von der Kritik wiederholt in Verbindung gebracht mit Leopardis Gedicht Alla luna und dem Dialogo della Terra e della Luna, kommt zur vollen Geltung in Le mosche del capitale und in den Scritti dal margine in dem Prosastück Il romanzo monetario. 22 Noch nicht vergangene ist der Tag/aber hoch ist der Mond:/…/Schon schrillen die Hügel/und rühren sich./Ich habe Angst/dass sich öffnet/die alte Grabstätte,/dass zurückkehren die Menschen/mit den gelben Umhängen der Stechfliegen. Sospeso è il giorno/ma alta la luna:/…/Già stridono le colline/e s’agitano./Ho paura/che s’apra/l’antica sepoltura,/che tornino gli uomini/con gialli mantelli di zanzare.
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Das lyrische Werk – die frühe Lyrik
einzutreten, mit dem Bild des Meeres assoziiert, das zugleich eine Metapher der Unendlichkeit im Sinne Leopardis ist.23 Auch dieser Text enthält Termini, die mit den Bildern, mit denen sie sich verbinden, einen Text bilden, und als solcher wäre er schon als ein Fragment des Lebenswegs des Subjekts zu betrachten, den Volponi auch in den Texten der frühen Lyrik mit übermittelt. Einen Schritt weiter in Richtung auf größere Formen stellen die Kompositionen dar, die die mosaikartige Darstellung von Bildfragmente hinter sich lassen und durch die syntaktische Anbindung der Bildelemente einen thematischen Zusammenhang der Teile erkennbar werden lassen.24 Die Weiterentwicklung der narrativen Verfahren zeigt sich in der Weise, dass aus den Bildelementen Figuren entstehen, die als Personen erkennbar werden in einem gesellschaftlichen Umfeld und mit einer eigenen Biographie. Das narrative Element ist schon so weit entwickelt, dass die Figuren in einer kondensierten Form Lebensgeschichte resümieren und in einer Form darbieten, die gattungsgeschichtlich der Fabel oder dem Apolog zu vergleichen wäre. Volponi hat diese im Dialog mit Leonetti unter die Formen der Poesie gezählt, die er – nach eigenem Bekunden – am meisten favorisiert: »le favole, i versetti, le utopie«,25 d.h. Formen, die in der Verdichtung von Erzählmomenten – wie die versetti der Bibel – Geschichte zusammenfassen oder das Gleichnishafte der Darstellung betonen, das aus einer allegorischen Sicht auf etwas Mögliches oder Zukünftiges verweist. In den zwei Gedichten von S. 55 und 59 werden Lebensgeschichten von jungen Frauen skizziert, deren Wege vom Land, woher sie kommen, in die Stadt führen, wo sie in einem veränderten Milieu sich dennoch die Ursprünglichkeit der Natur oder die Verbundenheit mit ihr bewahren. Die Nähe zur mütterlichen Erde als Figur des mythischen Ursprungs wird am deutlichsten aber angesprochen in Gedicht Nr. XVII [S. 39], wo die Frau, erdentsprungen, als ungezügeltes Wesen gesehen wird, als die »unzüchtige«, noch nicht unterworfene Weiblichkeit, im Gegensatz zu ihrer zivilisatorischen Bändigung und Idealisierung. Diese Erdverbundenheit wird in den Bildern dieses Gedichts angedeutet und beschworen. Suona la mia banda la mia grande banda d’uccelli e di rospi, d’acqua, di cavallette, di sassi. In ogni luogo è l’inno costernato.
Es ertönt meine Schar, meine große Schar von Vögeln und Kröten, Wasser, Heuschrecken, Steinen. An jedem Ort die Hymne der Bestürzung.
23 Ich trage zum Meer/diese meine morgendlichen Ängste./Ich laufe den Flüssen entlang/und höre die Enten/erwachen im Schilf./Der sich erhebende Nebel/ist Meer/das aufsteigt um mir zu begegnen/[…]/Auf dem letzten Strand/liegen die Lerchen/die vorüberzogen./Sie erheben sich aus dem Schaum/mit einem schrillen Schrei/und alles ist Meer. Io porto al mare/queste mie ansie mattutine./Cammino lungo i fiumi/e sento le anatre/destarsi nei canneti./La nebbia lievitata/è mare/che sale ad incontrarmi/[…]/Sull’ultima spiaggia/giacciono le allodole/che traversarono./S’alzano dalle spume/con acutissimo pianto/e tutto è mare! 24 Siehe die Gedichte auf S. 55, 58, 59 sowie 64 und 70. 25 Dialogo, S. 107.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte Sorge dalla terra la mia sconcia donna con gli occhi come foglie d’olivo.
Es tritt heraus aus der Erde meine unzüchtige Frau mit den Augen wie Olivenblätter.
Die Figur der »sconcia donna«, der ungezügelten, der Natur entwachsenen Frau, erscheint in den zwei oben genannten Gedichten als Verkörperung der »popolana«, der Frau aus dem Volk, die Volponi schließlich, wie wir meinen, in Gestalt der Dirce in Il sipario ducale als Allegorie naturhafter weiblicher Kraft und Schönheit wiederbelebt. In Stanze romane (S. 55f) sind es die jungen Frauen, deren Weg in die Stadt in die Prostitution führt. Aber in ihrer Geschichte wird ihre Bindung an die Ursprünge noch hervorgehoben: A via del Pellegrino materne allattano i figli dietro le porte e chiedono ai carrettieri notizie dei paesi
In Via del Pellegrino Mädchen stillen ihre Kinder hinter den Türen und fragen die Fuhrleute nach Nachrichten aus ihren Dörfern
In Altre strade [S. 59] wird im Titel auf die Wege verwiesen, die zurückführen in die noch unerschlossenen Dimensionen der Natur: […] io so che le strade hanno crocicchi dove si canta, dove le donne vendono vino e lupini
[…] ich weiß dass die Straßen Kreuzungen haben wo man singt, wo die Frauen Wein und Lupinen verkaufen
[…] Là nascono strade verso ignote campagne, dove per lungo tratto s’accompagna di notte ai carrettieri un demoniaco cane
[…] Dort beginnen die Straßen zu unbekannten Landstrichen wo auf lange Strecken nachts die Fuhrleute ein teuflischer Hund begleitet
In einem der Gedichte mit dem lakonischen Kürzel L als Titel, das von einer Art pastoraler Begegnung des Dichters mit einem Mädchen aus den Bergen der Apenninen handelt, huldigt der Dichter der elementaren Kraft des weiblichen Widerstands gegen die Härte der Lebensbedingungen in der unwirtlichen Natur, ein Motiv, das im Bildgehalt der entsprechenden Symbolfigur in Leopardis berühmten Gedicht La Ginestra zu vergleichen wäre. Tu vi procedi sicura, germoglio di vecchia razza, cui occhio chiaro tramanda il nonno carbonaro ladrone di passo, […] Voltati almeno, se io non posso entrare nell’incolto giardino
Du bewegt dich sicher [ in diesen Höhen], Spross einer alten Rasse, deren klarer Blick, überliefert vom Großvater, Köhler Dieb auf dem Bergpass, […] Wende dich wenigstens um, wenn ich nicht eintreten kann in den ungepflegten Garten
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Das lyrische Werk – die frühe Lyrik di spine e di giunchiglie. [70]
voller Dornen und Binsengeflecht 26
Das längste und schon auf die komplexen Formen der »poemetti« vorausweisende Gedicht Le isole di argilla (S. 75-77) verdient besondere Beachtung, weil hier im Übergang zu den »großen« Formen auch der Umfang der nicht verbundenen Syntagmen zunimmt und damit die Schwierigkeit, die Textsegmente in ihrer Beziehung zur Wirklichkeit, die abgebildet werden soll, zu verstehen. Emanuele Zinato hat in seiner Introduzione zur Gedichtausgabe darauf verwiesen, dass dieses Gedicht in die Zeit von Volponis Tätigkeit für Olivetti in Süditalien fällt.27 Die Annahme ist naheliegend, dass Volponi die Eindrücke über seine Arbeit im Meridione in diesem Gedicht zu einer Skizze der Geschichte und Kultur des Südens verarbeitet hat, was ansatzweise im Gedicht auch nachzuweisen ist. Der Titel des Gedichts besagt schon, dass das Territorium, von dem die Rede ist, vom Meer aus von allen Seiten Invasionen ausgeliefert ist, was Strophe 5 bestätigt. Die Bevölkerung hat sich daher von der Küste in die Berge geflüchtet le strade del tuo popolo fuggiasco dalle coste [V. 13- 14]
die Straßen deines Volks von den Küsten fliehend
Rätselhaft ist der Titel aber hinsichtlich der Bezeichnung »Le isole di argilla« (Die Inseln aus Lehm oder Ton). Die Bilder von Strophe 1 hinterlassen in der Vorstellung am ehesten das Bild einer vom Meer umspülten Insel und der vom Wasser angeschwemmten Erde i.S. von »argilla«. In Strophe 2 und 3 wird »Calabria« als einziger Schauplatz im ganzen Gedicht namentlich erwähnt und in 2 in Form eines Landschaftsbilds beschrieben, während in 3 eine rätselhafte Verknüpfung vom Inneren des Landes und der Seefahrt unergründbar bleibt. Strophe 4 scheint zum ersten Mal auf historische Fakten anzuspielen: I legni millenari tratti d’odorose foreste lasciano le tue radure [V. 9- 11]
Die tausendjährigen Hölzer aus duftenden Wäldern verlassen deine Lichtungen
Daran schließt die Bemerkung, dass die Bewohner das Land auf den Schiffen verlassen haben, was auf die Emigration verweist: Dopo tanto di pena prendono le marine i tuoi selvaggi paesi senza vela [V. 12- 15]
Am Ende der Mühen nehmen sie die Küsten [besteigen sie die Schiffe] deine Wilden aus den Dörfern ohne Segel
26 Ergänzend zu dieser Verkörperung der »popolana« des »incolto giardino« (des ungepflegten Gartens) wären die Gedichte auf S. 71- 72 zu sehen und zu würdigen. 27 Poesie, S. XIV.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Nachdem in Strophe 5 die Jahrhunderte der Invasion erwähnt worden sind, schließt das Gedicht in Strophe 6 mit der enigmatischen Bemerkung: Un falco contro la bianca distesa […] sbigottito testimonia che il passato e il presente sono fratelli nel tuo grembo di creta [V. 1 und 5- 7]
Ein Falke gegen die weiße Fläche […] bezeugt verblüfft dass Vergangenheit und Gegenwart Brüder sind in deinem tönernen Schoß
Es bleibt einem speziellen Studium der Gedichte Volponis vorbehalten, die Bedeutung der Bilder zu entschlüsseln und sie im Zusammenhang mit dem Textganzen zu interpretieren. Dafür von Nutzen wäre ein Studium der semantischen Felder, innerhalb derer sich die Prozesse der Verbildlichung des Realen und die daraus resultierenden Bildsynthesen vollziehen.
1. D IE K ONSTRUKTION DES POETISCHEN S UBJEKTS UND DIE F AMILIENGESCHICHTE Il giro dei debitori (1953-1954)28
Mit dem Gedichtzyklus dieses Titels – deutsch Die Grenzziehung der Schuldner – eröffnet Volponi die Gesamtausgabe der frühen Lyrik, die Gualtiero De Santi unter dem Titel Poesie e poemetti 1946-66 1980 herausgegeben hat. Dass Volponi diesen Zyklus von vier Gedichten an den Anfang der gesamten Gedichtproduktion gesetzt hat, noch vor Il Ramarro, den Gedichten, die früher entstanden waren, besagt offenbar, dass er dem Zyklus eine einleitende Funktion zugedacht hat, weil er Schlüsselbegriffe enthält, die für die spätere lyrische Produktion als grundlegend zu betrachten waren. Anzumerken ist noch, dass die Gedichte länger sind, in ihnen also eine narrative Ausweitung des Lyrischen zu beobachten ist und damit auch die Lesbarkeit der Texte zugenommen hat. Die thematischen Bezüge des Werks aufzuzeigen, soll im Folgenden versucht werden. Den zwei langen Gedichte des Zyklus’, betitelt Cugina volpe (Cousine Fuchs) und das Titelgedicht Il giro dei debitori, fällt die Funktion zu, die beiden grundlegenden thematischen Aspekte der späteren Produktion einzuführen: das eine den universellen Lebenszusammenhang, der die Menschen mit allen Wesen der Natur verbindet (in Cugina volpe), das andere die Zerstörung dieses Lebenszusammenhangs durch die Abgrenzung des Menschen von der Natur (in Il giro). Das Verständnis der narrativen Lyrik Volponis setzt beim Leser also voraus, dass er den Lebensbereich in den Geschichten, die erzählt werden, nicht allein auf den Menschen beschränkt, sondern in diesen die Natur, die Tierwelt, die kosmischen Bedingungen des Lebens generell einbezieht, in das, was wir als den universellen Lebenszusammenhang definiert haben.29 Jeder dieser Bereiche, zu welchen Ökonomie, Politik und Kul28 Die vier Gedichte unter dem Gesamttitel S. 3- 20; das Titelgedicht auf S. 16- 20. 29 »Der universelle Lebenszusammenhang« wird von Emanuele Zinato, dem Herausgeber der dreibändigen kritischen Ausgabe Romanzi e Prose, umschrieben als »Corpo-
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Das lyrische Werk – die frühe Lyrik
tur als die schon vergesellschafteten hinzuzurechnen sind, umfasst oder konstituiert einen Teilbereich des Ganzen, ist also als eine der Strukturen des Universellen zu begreifen, das als das Ganze wieder herzustellen ist im Fortschreiten der Zivilisation – wie Volponi sie versteht. Vom Zivilisationsverlauf wird also erwartet, dass die vom Menschen getrennten Lebensbereiche wieder in den übergeordneten Lebenszusammenhang integriert werden, wie das die Gedichte dieses Zyklus zum Ausdruck bringen.30 In Cousine Fuchs – Cugina volpe – [S. 6-10] stellt das lyrische Ich des Textes die Frage nach seiner Herkunft in einer Weise, die es erlaubt, sie auf verschiedenen Ebenen zu verstehen und zu beantworten. Denn wenn die Frage im Text eindeutig darauf zielt, die Herkunft aus der Natur und dem Tierreich zu ergründen und damit auch die des Menschen aus einem allen Wesen gemeinsamen Ursprung des Lebens, so wird aus dem weiteren Verlauf des Textes klar, dass neben dem phylogenetischen auch der ontogenetische Bezug der Frage, nämlich die Herkunft aus der bürgerlichen Familie angesprochen ist. In den Bildern, in denen das Ich die Figur des Vaters und der Mutter mit zahlreichen Erscheinungen der Landschaft und der Tierwelt identifiziert, sind in dem comparandum auch die Aussagen über den Charakter dieser Personen in der bürgerlichen Familie mit enthalten und damit indirekt die Äußerungen über die Rollenverteilung in der familialen Sozialisation. Dieser Aspekt einer Verfremdung der Familiensituation durch ihre Rückprojektion auf die Verhältnisse der Natur und in ihren Bildern dokumentiert sprachlich eine neuerliche Ausweitung der narrativen Potenz der Bilder in die Dimension, die sich hier dem Modus des Erzählens eröffnet, nämlich das allegorische Verständnis des Textes. Aus dieser Perspektive ist die Frage nach ihrem Wesen, die sich die voce lirica stellt, auch eine Frage nach den Beziehungen, in die das soziale Subjekt mit seiner Umwelt eintritt und die es ausbildet oder verkümmern lässt. Diese Beziehungen und ihre Wahrnehmung illustrieren die Anfangsverse des Gedichts, die wir zitieren: Quando potrò mai scoprire quanto di me sia generato da un gracile insetto, parente alle miriadi di schieri di estive fanfare, giacché mi ritrovo la metallica struttura delle cicale e nidi di vespe nel corpo quanto dal mare, padre di infide spiagge di moti e di lune, per cui fratello mi sia lo scoglio
Wann werde ich endlich herausfinden, wie viel von mir erzeugt worden ist von einem schmächtigen Insekt, verwandt Miriaden von Scharen sommerlicher Fanfaren, wo ich doch wiederfinde die metallischen Strukturen der Grillen und Wespennester in meinem Körper; wie viel aus dem Meer, Erzeuger trügerischer Strände, wie viel von Bewegungen und Monden, so dass ein Bruder mir die Meeresklippe ist
Mondo«: »der Komplex des Existierenden als der Inhalt eines unbegrenzten Körpers kosmischer Energie« – il »complesso dell’esistente come contenuto di un infinito corpo cosmico e libidico«, in E. Z. in »Hortus«, Nr. 15, 1994, S. 77. 30 Die beiden Gedichte sind dem Gedichtband Il giro dei debitori der Gedichte aus den Jahren 1953/54 entnommen, zitiert wird nach der Ausgabe Poesie e poemetti 194666, hg. von Gualtiero De Santi, Turin, Einaudi 1980.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte e sorella la pianta, la stessa di molte isole; o quanto dal fiume, se ne intendo la voce e conosco i riposi? [S 1, V. 1- 18] [...] è ancora mio padre e madre profumata la macchia dei ginepri. [S 1, V. 32- 33]
und eine Schwester die Pflanze, die gleiche auf vielen Inseln; oder wieviel vom Fluss, wenn ich seine Stimme höre und weiß, wo er ruht? [...] ist noch mein Vater Und Mutter das duftende Dickicht des Wacholders.
Das Subjekt der Aussage in allen Fällen, wo die Beziehung zur Gesellschaft angesprochen wird, sind die Angehörigen der Familie, Vater, Mutter, Bruder, Schwester – bis hin zur Cousine, die der Fuchs repräsentiert. Mia sorella è l’innocente tortora che ogni autunno tradisce, fratello il pettirosso fedele ai lunghi inverni. Il fiume deserto, che tace nell’attimo in cui la beccaccia sospende il suo volo [S 1, V. 23- 29]
Meine Schwester ist die unschuldige Taube, die jeder Herbst [vertreibt], Bruder das Rotkehlchen, Begleiter des langen Winters Der verlassene Fluss der schweigt, wenn die Schnepfe ihren Flug unterbricht
Nach dieser Nennung von Bruder und Schwester, die die Erinnerung an die Lyrik Franz von Assisis weckt, der die Tiere als Brüder und Schwestern des Menschen angesprochen hat, werden in diesem ersten Entwurf der Familiengeschichte die primären Sozialisationsfiguren – die Elternimagines –in das Szenarium eingeführt. Das verrätselte Bild der Mutter beschreiben die folgenden Verse, in welchen auch die Angst schon angesprochen wird Eppure al fiume, o nei segreti stagni, occhi impenetrabili del silenzio materno, io ritrovo, nutriti della mia stessa ansia infantile
Und am Fluss, oder in den geheimnisvollen Teichen, finde ich wieder die undurchdringlichen Augen mütterlichen Schweigens, gespeist aus meiner eigenen kindlichen Angst
[S 8, V. 1- 5] (ad altri giochi intento io ero il giorno in cui dovevo annegare bambino). [S 8, V. 11- 13]
(an andere Spiele denkend war ich am Tag als ich als Kind ertränkt werden sollte).
Das Thema des Vaters, das den mittleren Abschnitt einleitet, ist dann die Überleitung zur Familiengeschichte, in der die Verhältnisse der Natur gespiegelt werden. Deutlich wird in den Beschreibungen der sich selbst überlassenen Natur, dass die Entfremdung, die die Naturwesen erleiden, in nahezu derselben Weise auch die Sozialisation des Menschen betrifft, auf ihrem 62
Das lyrische Werk – die frühe Lyrik
Entwicklungsweg zur modernen (bürgerlichen) Familie. Der einleitende Vers Paternità precaria [Verssequenz 4] ist der Hinweis auf die Inkonsistenz und Instabilität der Sozialisationsfunktion der Familie und ihrer Rollenverteilung. Dass und wie der Vater zur Figuration der Angst wird, verdeutlichen die folgenden Verse: Una splendida paura del padre m’avvolge e tremano le mie spiagge quando, tra le dodici e l’una, s’alzano le maree. Allora cessano le mie impronte ed altra voce assume la mia lingua di figlio prediletto, unico per poco […] [S 9, V. 1- 9]
Blitzartig erfasst mich die Angst vor dem Vater und es beben meine Strände wenn zwischen zwölf und ein Uhr die Flut sich erhebt. Dann verlieren sich meine Spuren und eine andere Stimme spricht meine Sprache, die des bevorzugten Sohnes, des einzigen für eine Weile […]
Wir begegnen hier schon in den Anfängen des Werks dem Phänomen der zweifachen und doppeldeutigen Lesart der Texte, hier in ihrer Beziehung sowohl zur Natur wie zur entfremdeten Zivilisation. Das lyrische Ich steht hier wieder offensichtlich auf Seiten der Naturwesen, mit denen es sich identifiziert in ihrer Verteidigung gegen die naturbeherrschende Zivilisation. Il giro dei debitori – Die Grenzziehung der Schuldner
Das Titelgedicht der gleichnamigen Sammlung beschreibt einen für das Geschichtsverständnis des späteren Werks grundlegenden Sachverhalt, nämlich die Ausgrenzung der Natur aus dem Geschichtsverständnis der Moderne. Der Gedichttitel verweist sozusagen auf die schon vollzogenen Trennung der elementaren Natur und der menschlichen Ansiedlung, der Einfriedung der bewohnten Stadt (Urbino) und der von ihr abgesonderte Natur; diesseits die Gärten der Stadt und der wirtschaftliche Ertrag, jenseits die sich selbst überlassene Natur und das Meer: Dietro la timida strada di fango scendono stupefatte vallate: là gli alberi come alghe galleggiano e sola i suoi vuoti colpi mena la stagione che in sé respira, l’adusto inverno che non varia umore. [S 2, V. 1- 9]
Hinter der zaghaft angedeuteten Straße im Schlamm führen hinunter die verblüfften Täler: dort schwimmen wie Algen die Bäume und nur ihre leeren Bewegungen bewegt die Jahreszeit, die in sich atmet der versengte Winter, der keine Veränderung bringt.
Wie in Cugina volpe schon angedeutet, ist der Zyklus der Jahreszeiten ein Charakteristikum der bäuerlichen Kultur, das in der Wiederkehr immer desselben keine Hoffnung auf Veränderung zulässt, was hier der Winter ver63
Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
sinnbildlicht. Das poetische Bewusstsein der ›voce lirica‹, das die Trennung der Bereiche nachvollzieht, sieht die Natur aber auch als ein Reservoir, aus dem die Stadt den Ertrag bezieht, der ihr ihre Ökonomie ermöglicht hat. Diesen Aspekt, der die Stadt auch ökonomisch zur Schuldnerin macht, rückt der folgende Ausschnitt ins Blickfeld:
Questo delle vallate è un verde accumulato in stagioni d’usura: [….] per cui dietro le mura il debito si accresce ai discorsi di vecchie abbondanze. Resta il vento con noi, debitore all’inverno. [S 6, V. 15- 17; 20- 24]
Frei übersetzt: Was in den Tälern grünt, ist Frucht akkumulierter Arbeit, gegründet in Zeiten des Wuchers [….] deshalb wächst hinter den Mauern die Schuld, mit den Reden über den alten Überfluss. Zurück bleibt mit uns der Wind, der Schuldner des Winters.
Zu entschlüsseln wäre am Ende die thematische Zusammenführung der Bildbereiche »Wind« und »Winter«; sie findet möglicherweise eine Erklärung in Verbindung mit dem Schlussabschnitt des Gedichts, wo der Wind – hier offensichtlich mit dem lyrischen Ich gleichgesetzt – das bewegende Moment des Lebens versinnbildlicht und in übertragener Bedeutung die poetische Fähigkeit, die sich sprachlich in den Bedeutungsveränderungen semantisch und syntaktisch niederschlägt. Das ›lyrische Ich‹ ist der Blick des Poeten, der, sobald er auf einen Gegenstand trifft, diesen bewegt, indem er ihn in einen anderen Zusammenhang versetzt. So könnte die Bildkombination »Wind« und »Winter« darauf hindeuten, dass das poetische Bewusstsein hier in der Phase der bäuerlichen Kultur verankert bleibt. Dass das gesamte Szenarium des Gedichts den Verlauf von Phasen der Zivilisation thematisiert, zeigt der Gedichtausgang, der auch die Zukunft einbezieht und insofern den Horizont auf die Perspektiven des Gesamtwerks Volponis öffnet. Das ›lyrische Ich‹ in Gestalt des poetischen Bewusstseins durchmisst den Raum der unerschlossenen Natur, in welchem es der Erde den »Samen« der Erneuerung und revolutionären Veränderung anvertraut. Le porte dell’Appennino (1955-1959)31
Es sind zwei Bewusstseinsformen, die sich widerstreitend im Werk Volponis gegenüber stehen und die bis zu einem gewissen Grad dem Verhältnis von Poesie und Prosa entsprechen. Es herrscht Übereinstimmung in der Kritik, dass das Poetische bisweilen fast nicht unterscheidbar die Prosa Volponis durchdringt oder umgekehrt die prosaische Diktion in seiner Poesie vorherrschend wird. Das ist sicher zutreffend, soweit es die sprachliche Form betrifft, nicht aber hinsichtlich der Wirklichkeit, die Volponi mit den Begriffen von Poesie und Prosa verbindet und die in seinem Werk im Widerstreit liegen um den Anspruch auf Wahrheit. Um Missverständnissen vorzubeugen, Wahrheit nicht als philosophischen Begriff, sondern als ein Kriterium, mit 31 Die Gedichtsammlung unter diesem Titel umfasst die Gedichte von S. 81 bis 146.
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Das lyrische Werk – die frühe Lyrik
dessen Hilfe Schein von gesellschaftlicher Wirklichkeit unterschieden werden kann. In den frühen Gedichten Volponis tritt uns ein ›lyrisches Ich‹ als Erzählinstanz entgegen, das aufgrund seiner Herkunft und der damit verbundenen traumatischen Erfahrung eine Abwehrhaltung gegenüber der vorgefundenen Wirklichkeit bezieht, gegenüber der Familie und den Institutionen als den Konfliktkonstellationen, in die das Subjekt der Erzählung verwickelt wird. Um sich gegenüber den entfremdenden Einflüssen zu behaupten und im Bemühen, seine Geschichte aus der eigenen Perspektive zu rekonstruieren, findet sich das Subjekt einer doppelten Opposition gegenüber: dem Konfliktpotential der Familie, was uns in der Familiengeschichte begegnet, und dem Gegensatz von Natur und Gesellschaft, die geschichtlich in ihren Geltungsansprüchen konfrontiert werden. Doch das Subjekt in der Funktion des Erzählers ist in den Texten nicht immer eindeutig ausgewiesen und grammatikalisch zuweilen nicht einwandfrei zu bestimmen. Vom Leser wird erwartet, dass er den Zeichen folgt, durch welche das Subjekt sich in einer grammatisch dominierenden Position als Subjekt der Aussage zu erkennen gibt (d.h. als Thema) und sich von den Gegenständen abhebt, die zum Prädikat der Aussage (i.S. des Rhemas) gehören. Dass in der Beschreibung – v.a. der Landschaft – der wahrnehmende Blick sich dem wahrgenommenen Gegenstand in einer Weise annähert, dass das Subjekt mit dem Gegenstand nahezu identisch wird – und grammatisch dessen Stelle einzunehmen scheint – wird als Phänomen der Wahrnehmung im Rahmen der Textgrammatik noch eingehend behandelt werden.32 Die Ermittlung des Subjekts der Erzählung ist im gesamten Werk Volponis das entscheidende Kriterium für die Interpretation der Fakten und der Ereignisse. Subjekt aber im doppelten Sinne des Wortes, als grammatisches und als biographisches. Hier interessiert uns zunächst nur das Subjekt der Biographie, und zwar im Hinblick darauf, was als die Familiengeschichte des Subjekts im Werk Volponis bezeichnet werden kann, d.h., um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, die imaginäre Familiengeschichte im Sinne des Freudschen Verständnisses des Begriffs.33 Die erste Anspielung auf die Familiengeschichte findet sich in Casa di Monlione, dem ersten Gedicht des schon zitierten Zyklus’ Il giro dei debitori. In diesem Gedicht wird der Herkunftsort der Mutter mit den Worten gefeiert: »Sempre io amo queste colline della terra di mia madre« – »Immer liebe ich die Hügel der Erde meiner Mut-
32 Die Annäherung des Subjekts an das Objekt der Wahrnehmung, die Gualtiero De Santi in den Texten Volponis beobachtet hat, beschreibt er als den Prozess der Aneignung des Objekts durch das Subjekt und damit zugleich als dessen Deutung: »die Rückversenkung in das Bewusstsein, in dem die Dinge [der Aussage] hätten übersetzt werden sollen« (Nota, 197). Volponi äußert dazu mit Bezug auf Le mosche del capitale: »Ich müsste dazu kommen, nicht selbst zu sprechen: mich in die Materie zu versenken – die Ereignisse sprechen zu lassen nicht als Chronik oder Erzählung, sondern als etwas, was aus ihrem Inneren selbst hervorgeht […]«; zitiert nach E. Zinato, Introduzione, Bd. III, S. XXV. 33 Siehe das Stichwort »Familienroman« in J. Laplanche/J.- B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt/M., Suhrkamp, suhrkamp taschenbuch wissenschaft 7.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
ter.«34 Die priviligierte Position, die der mütterlichen Figur eingeräumt wird, könnte man schon als Hinweis verstehen auf den ödipalen Charakter der Familiengeschichte, wie er sich im späteren Werk manifestiert. Das schon zitierte Gedicht Cugina volpe, zusammen mit den beiden anderen Gedichten der Sammlung, vermitteln so gut wie alle wichtigen Daten der Biographie des Subjekts. Das widersprüchliche Bild der Mutter – mit seinen auch negativen, zuweilen beängstigenden Zügen, dem wir später noch begegnen – ist hier in seinen gefühlsbetonten, positiven Aspekten dargestellt. Die traumatisierenden Momente der Biographie des Subjekts, die Entfremdung gegenüber der Natur und die Trennung von der Mutter, in gewisser Weise die psychoanalytische Entsprechung der Trennung oder Abspaltung der menschlichen Existenz vom universalen Lebenszusammenhang, werden in der Bildersprache der Gedichte angedeutet und in Umrissen erkennbar gemacht, ehe sie im Prosawerk dann zu Leitmotiven der Erzählung werden. Das Drama der Familiengeschichte wird in der Substanz dargestellt in den Gedichten La vita und La paura aus dem Gedichtzyklus Le porte dell’Appennino. Darin erscheinen die Imagines von Vater und Mutter aus der Perspektive des Kindes in eine mythische Dimension versetzt, im Licht einer frühkindlichen »mitologia personale«,35 die wir zurückführen auf das poetische Bewusstsein des Subjekts, seine mythopoetische Auffassung des Realen. Die Familiengeschichte ist eingebettet in einen Gedichtzyklus, der dreizehn Gedichte aus der Zeit zwischen 1955 und 1959 umfasst und schon rückblickend die kindheitliche Sicht der elementaren, bäuerlichen Welt der Apenninen in poetischer Verklärung oder auch aus der sich abzeichnenden Distanz evoziert. Das erste Gedicht, La vita [S. 81-86], entwirft das idealisierte Bild einer Vaterfigur (vermutlich des Großvaters väterlicherseits), das im krassen Gegensatz zur Vaterfigur im Gedicht La paura eine Variante im Sinne des Familienromans bei Freud repräsentiert. Vorangestellt ist dem Gedicht das Motto »Quando io sono nato/mio padre non c’era« – »Als ich geboren wurde, war mein Vater abwesend, d.h. Verse aus einem Canto popolare calabrese, die offenbar vom Vater des erzählenden Subjekts handeln. Erzählt wird die Geschichte des Vaters, der von der Mutter ernährt und aufgezogen wird, sie aber verlässt, um sein Leben in eigener Regie zu leben als Fuhrmann auf den Landstraßen und in wechselnder Gesellschaft auf seinen Fahrten über das Land: Orfano già nel parto, dalle materne ginocchia sceso muto ai colloqui [S 2, V.1- 3] […] egli ancora fanciullo […]
Waise schon bei der Geburt, verließ er den mütterlichen Schoß stumm bei den Reden [der anderen] noch als Kind drängte es ihn […]
34 In unverkennbarer Anlehnung an Leopardis Gedicht L’Infinito und seines Anfangsverses: »Sempre caro mi fu quest’ermo colle« – »Immer lieb war mir dieser einsame Hügel.« 35 In dieser Charakterisierung der frühen Poesie Volponis stimmt die Kritik weitgehend überein.
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Das lyrische Werk – die frühe Lyrik oltre i confini che gli orti cedono alle notti […] era spinto ad uscire per un viaggio sull’erba [S 1, V. 3; 6- 8; 17- 18].
die Grenzen wo die Gärten den Nächten weichen […] zu überschreiten zu einer Reise auf dem Gras
In den zitierten Anfangsversen des Gedichts von elf unterschiedlich langen Verssequenzen sind in nuce die Daten und Elemente der Familiengeschichte schon angedeutet: die Abwesenheit des Vaters vor oder bei der Geburt des Sohnes; das Kind in der Obhut der Mutter, die er aber früh schon verlässt, um seinen eigenen Weg zu gehen; beides Motive, die aus psychoanalytischer Sicht als eine Korrektur der Familiengeschichte zu verstehen sind, wonach die Vaterfigur im Bild idealisierter Männlichkeit in einer Existenz voller Lebenserfahrung neu ersteht und der Sohn im Gefolge des Vaters sich aus der mütterlichen Fürsorge aus eigener Kraft befreien kann. Diese Vater-Image als Leitbild präsentiert das lange Gedicht in seinen verschiedenen Lebensphasen: als Kind in der Obhut der Mutter (in S 1 und 2), in den Lehrjahren als »carrettiere« – »Fuhrmann« – auf den Straßen (in 3 bis 6), als Mann im Besitz von Lebenserfahrung sowie als Vater (in den Sequenzen 7 bis 10). Die von Volponi erdachte Vater-Figur ist in ihrem mustergültigen Lebensverlauf letztlich zu verstehen als die allegorische Verklärung einer Kultur des Landlebens, wie sie in den Schlussversen des Gedichts gefeiert wird: S’apriva il suo reame per virtù d’amore sopra tutte le cose della campagna [S 11, V. 1- 3] Al suo sguardo guarivano gli spazi d’ogni filtrata malinconia [S 11, V. 9- 11] e dolcemente i paesi s’animavano come al ritorno dalle vendemmie o all’invasione di un branco d’uccelli forestieri. [S 11, V. 13- 17]
Es erstreckte sich sein Reich kraft seiner Liebe auf alle Dinge des ländlichen Lebens Wo sein Blick hinreichte gesundeten die Orte von eingesickerter Melancholie und lieblich belebten sich die Dörfer wie bei der Rückkehr von der Weinlese oder der Ankunft eines Schwarms fremder Vögel.
La paura36
Das noch längere Gedicht desselben Zyklus zeigt die Familienszene hingegen in einer ganz anderen Beleuchtung, in einem späteren Moment und im Rückblick auf eine Situation, die von den realen Lebensumständen geprägt ist. Das Gedicht ist den Freunden Leonetti, Pasolini und Roversi aus der Zeit der Beteiligung Volponis an der Zeitschrift Officina gewidmet und schildert aus
36 S. 114- 124.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
dieser Distanz das Familienleben, konzentriert auf den Ort des Hauses, als Ort der Kindheit und des Familiendramas. La paura è una casa abitata nel grembo d’una contrada incolta o troppo civile in sogno governata ; coperta di nebbia, è bianca […] Bianca non ha la luce della vita [S 2, V. 1- 5 und 7].
Die Angst ist ein bewohntes Haus in der Tiefe einer Gegend verödet oder überzivilisiert vom Traum beherrscht; vom Nebel verhüllt, ist sie weiß […] Ein Weiß ohne Farbe des Lebens
Das Haus wird zunächst in seiner nächtlichen Erscheinung im Licht des Mondscheins gezeigt: Notti perenni, di luna mutilata, con un fiato di tonfi e soprassalti, quando i parenti serrano la casa: essi hanno chiavi che non fanno vedere, hanno occhi di padre e madre […] desideri di cose ignote, nemiche all’anima del figlio [S 2, V. 13- 18; 21- 22]
Immerwährende Nächte, mit verstümmeltem Mondschein, mit einem Hauch von dumpfen Geräuschen und Aufschrecken, wenn die Verwandten das Haus schließen: sie haben Schlüssel die sie nicht sehen lassen, sie haben Augen von Vater und Mutter […] Begierden nach unbekannten Dingen, feindlich der Seele des Kindes
Thematisch entsprechen sich die Bildbereiche des Gefühls (»paura«) und des Raums (»casa«). Das Phänomen der Angst umfasst alles, was mit dem Haus zusammenhängt, dessen Verkörperung die Figur des schrecklichen Vaters ist, auf den in den Attributen angespielt wird:37 Un mostro, un drago irsuto […] un drago negli angoli di notte, quando la paura batte il costato
Ein Monster, ein behaarter Drache […] ein Drache in den Ecken der Nacht, wenn die Angst den Brustkorb bedrängt,
[S 3, V. 33; 36- 37]
Mit dem Haus verbunden, überträgt sich das Motiv der Angst auf alle Bereiche des zivilen Lebens und äußert sich auch in den Restriktionen der geschlechtlichen Beziehungen.38 Das in der Obhut der Familie stehende Mädchen unterliegt einem Tabu, das von der Mutter weitergegeben wird: 37 Verwiesen sei hier schon auf die Analyse betitelt Das Unheimliche, die Freud E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann gewidmet hat; als unheimlich wird bezeichnet das Eindringen des Fremden in das Vaterhaus in der Erzählung Hoffmanns. 38 Das Motiv der Berührungsangst wird in La strada per Roma in der Figur des Barnaba Carasso detailliert beschrieben und analysiert; dieser bekundet, dass sein Scheitern
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Das lyrische Werk – die frühe Lyrik La paura è una fanciulla che l’angelo custode e la compagna tengono per mano [S 4, V. 1- 3]. Soccombere alla paura d’amare, al terrore di dare dolore, di rompere la cattolica materna purezza dell’amata [S 5, V. 18- 21]
Die Angst ist ein Mädchen das der Schutzengel und die Gefährtin bei der Hand halten. Angst, der Liebe zu unterliegen, Schmerz zu verursachen, die katholische mütterliche Reinheit der Geliebten zu verletzen
Das Symptom der Angst wird schließlich zum Merkmal autoritärer gesellschaftlicher Verhältnisse, die nicht konforme Gefühlsäußerungen sanktionieren. Nel tempo incerto delle pene civili, i baci erano come le nuvole d’un temporale [S 4, V. 66- 67]
In der unsicheren Zeit der Strafverfolgung waren Küsse wie die Wolken eines Gewitters
Erst mit der politischen Befreiung des Landes endet die Herrschaft der Angst, die Macht der gesellschaftlichen Tabus: Nella disfatta giocosa del 1943 […] che liberava il cuore dell’Italia ritrovando un amore [S 5, V. 45; 49- 50] Un esercito innocente sciolse senza parlare le sue bandiere d’affetto sul geloso silenzio familiare. [S 7, V. 9- 12]
In der freudigen Niederlage von 1943 […] die das Herz Italiens befreite und damit eine Liebe wieder erweckte Ein unschuldiges Heer entrollte ohne zu sprechen seine Fahnen der Liebe über dem neidischen Schweigen der Familie
Das Gedicht, das zurückgreift in die Zeit der letzten Kriegsjahre, des Partisanenkampfes und der Befreiung Urbinos vom Faschismus durch die Truppen der Alliierten, wäre in seiner Gesamtheit aus der Perspektive dieses Zeitabschnitts zu sehen und nicht allein aus der der Familiengeschichte, die allerdings durch die Epoche des Faschismus geprägt ist und so auch vermittelt wird. Die dunklen Aspekte der geschichtlichen Situation werden erst aufgehellt mit dem Tag der Befreiung. Cadeva allora l’onta del peccato e per la stessa sorte, come un fiato cresceva la forza del dolore. –
Dann fiel die Schmach der Sünde und damit wie vom selben Atem bewegt wuchs die Kraft des Schmerzes. –
im Leben zurückzuführen sei auf die Angst, das von ihm begehrte Mädchen zu berühren. Das Phänomen wird noch eingehender dargestellt in der Figur des jungen Damìn in Il lanciatore di giavellotto.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte cosí la paura ridiscende nel mio cuore e ricompone il giuoco diletto del male, la libertà della contraddizione che porta al dolore le parole. [S 7, V. 16- 18 ; 23- 26]
so senkt sich wieder die Angst in mein Herz und setzt in Gang wieder das beliebte Spiel des Übels die Freiheit des Widerspruchs der dem Schmerz die Worte verleiht.
Bemerkenswert ist, dass mit dem Fallen der Familientabus nicht zugleich die Angst verschwindet, sondern verändert wiederkehrt in der Auseinandersetzung des poetischen Subjekts mit seinem prosaischen Widersacher, die ihm hinsichtlich der Wahrheit seiner Erfahrung noch bevorsteht. Das Drama, das in La paura erkennbar wird, vermittelt das Gedicht zu gleichen Teilen aus dem Blickwinkel des Kindes, das das Trauma der Familiengeschichte erlebt, wie aus dem des Zeitzeugen, der die private Geschichte im Zeitgeschehen situiert. Aus der Perspektive des Kindes spiegelt sich der politische Hintergrund in den nächtlichen Szenen mit Vater und Mutter, die das Kind ins Haus einschließen und es mit Forderungen konfrontieren, die ihm feindlich sind. Im zentralen mittleren Teil, die Verssequenzen 3, 4 und 5 umfassend, wird, in den poetischen Bildern noch verborgen, das Familiendrama in Umrissen skizziert. Die Motive dieses Dramas, hier vorerst nur angedeutet, werden dann – in der Interpretation des Ödipus-Dramas in Il lanciatore di giavellotto in allen Phasen der Entwicklung vorgeführt. Die »paura« ist die allegorische Repräsentation der Macht, die in der Ära des europäischen Faschismus dem Vaterhaus und der Familie im Sozialisationsprozess zugefallen ist. Um die Funktion und Bedeutung der Mutter in der Biographie des Subjekts zu kennzeichnen, greifen wir voraus auf eine der großen Kompositionen der Gedichtsammlung Foglia mortale (aus der Zeit von 1962 und 1966), betitelt La costa incerta [S. 162-166]; darüber hinaus verweisen wir auf Canzonetta con rime e rimorsi [S. 186-192] aus derselben Sammlung, wo in der Figur der Venus die mütterliche Präsenz noch einmal evoziert wird. Die beiden Gedichte – wie überhaupt alle Kompositionen von Foglia mortale – kennzeichnet eine extreme Komplexität von Bezügen in sprachlicher Hinsicht, die sie schwer lesbar machen, so dass wir hier schon auf textgrammatische Hilfsmittel und Methoden zurückgreifen, die uns angemessen erscheinen die Interpretation dieser Texte. Ausgehend von einem vermutlichen oder vermuteten Satzgegenstand, der als logisches Subjekt der Aussage fungieren könnte, wäre die Suche auf Satzteile zu konzentrieren, die als wahrscheinliche Satzaussagen in Frage kämen. Versuchen wir in diesem Sinn eine Analyse des folgenden Gedichts. La costa incerta – Die unsichere Küste39
In diesem Gedicht könnte man thematisch unterscheiden zwischen einem Weg entlang einer Straße und einer Wegstrecke über das Wasser oder entlang der Küste. In Frage steht in beiden Fällen das Ziel dieser Suche und das Finden oder auch Verfehlen des Gegenstands, der gesucht wird, und das wäre in unserem Fall das Wesen des »Mütterlichen«. Namentlich wird die Mutter im Gedicht nicht erwähnt; es kann aber kein Zweifel bestehen an der mütterli39 S. 162- 166
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Das lyrische Werk – die frühe Lyrik
chen Bedeutung der ihr zugeschriebenen Attribute, wie das Wasser, der See, das Meer. Während die Wege ins Leben der männlichen Figuren über die Straße verlaufen, führt die Annäherung an die Mutter über oder entlang der »costa incerta«. Schon in der ersten Verssequenz wird das Subjekt des Satzgegenstands als »da forestiero« – als »Fremder« – ausgewiesen und verbunden mit der Aussage »cercavo quella traccia – che oggi è il ramo di un male« – »ich suchte jene Spur – die heute der Zweig eines Übels ist.« Der Fremde als Subjekt, auf der Suche nach einer Spur, die sich inzwischen als Zweig oder Weg eines Übels erwiesen hat – oder des Bösen, wenn wir in Anlehnung an Baudelaires Fleurs du mal den entsprechenden Terminus bei Volponi so definieren können. Die beiden ersten Abschnitte ergeben zusammen gelesen die Aussage: Da forestiero e per ambigua causa […] incerta la mia sinistra costa, cercavo quella traccia … […] e già si forma una città di latta […] sopra tutta la mappa ordinata, già leggibile, se non per me [S 1, V. 1, 3- 4; S 2, V. 3, 8- 9]
Als Fremder und in einer zweifelhaften Sache […] ungewiss meine linke Küste, suchte ich jene Spur … […] und schon formt sich eine Stadt aus Blech […] auf der Karte geordnet, schon lesbar, außer für mich
und dann folgt die erste Erwähnung der frühen Trennung von der Mutter: la bianca mattina della prima ferita, della prima coscienza mortale, quando mi sembrò di poter abbandonare i tuoi ginocchi e te [S 3, V. 6- 9]
der weiße Morgen der ersten Verletzung, des ersten tödlichen Bewusstseins, als es mir schien ich könnte verlassen deine Knie und dich
Sein Weg führt den Wanderer auf seiner Suche in Sequenz 4 zu den Wassern des Züricher Sees, der als Bild wieder zu entschlüsseln wäre: bianca l’acqua dell’ala attinta dal nero discorso dell’abisso, fisso il volto sopra quell’acqua, la stessa che gelava il mio cuore, la stessa onda come la pietà della parola: che tu non c’eri come non poteva esserci strada, che tu eri stata portata via e che per quietarmi qualcuno avesse detto una menzogna [ S 4, V. 11- 17].
weiß das Wasser des Flügels gefärbt vom schwarzen Diskurs des Abgrunds, das Gesicht starr über jenem Wasser, dasselbe, das mein Herz zu Eis gefrieren ließ, dieselbe Welle wie das Erbarmen des Wortes: dass du nicht da warst wie es auch keine Straße gab, dass du weggebracht worden bist und um mich zu beruhigen jemand eine Lüge gesagt hätte
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Wichtig ist hier die Feststellung der Abwesenheit des mütterlichen Seins und dass keine Strasse zu ihm führt, was auch besagt, dass die »Strasse« nicht der Weg zur Mutter ist, sondern die Entfernung von ihr ins feindliche Leben bedeutet. Die Szene in S 5 und 6 zeigt den Jungen auf seiner Suche nach der Mutter inmitten einer Schar von Söldnern, die auf einem Gemälde dargestellt sind, das Volponi offenbar in den Text eingefügt hat. Das Bild, einem »maestro di Zurigo« zugeschrieben, stellt eine Szene dar in una guerra di religione, fatta/con i suoi propri fiori e tempi e segni [S 5, V. 13-14] – »in einem Religionskrieg, abgebildet mit den Stilmitteln, die jener Zeit entsprochen haben«. Die Söldner scheinen einem unbestimmten Schicksal entgegenzugehen, dem der Junge aber zu entkommen sucht. Sich vom Kriegshaufen der Abenteurer entfernend entdeckt er auf deren Rüstung Schriftzeichen, die er zu entziffern versucht, um vielleicht Aufschluss zu erhalten über die Kriegsszenerie und die Ziele dieser Abenteurer. Das bekannte Motiv des Schildes aus Homers Ilias, auf dem die Geschichte abgebildet wird, die der Dichter erzählt, hat in diesem Kontext wohl dieselbe Funktion, nämlich, dass über die Entzifferung der Zeichen eine Kenntnis der Wirklichkeit erworben wird, die den Jungen in die Lage versetzt, sich der Bedeutung der Dinge über die Sprache zu versichern: Leggendo, numerando la scoperta del muso indorato delle lettere, le loro foglie, il fiore,40 la foresta cangiante sull’orlo della coscienza, il continente dei numeri [S 7, V. 7- 11]
Lesend und nummerierend die Entdeckung der vergoldeten Linien der Buchstaben, ihrer Blätter, die Blume, der Wald wechselnd am Rand des Bewusstseins, der Kontinent der Zahlen
Die Welt als »Kontinent der Zahlen« wird lesbar mit Hilfe der Buchstaben und der Figuren der Rhetorik, auf die durch die Termini »Blumen« und die entsprechenden Varianten angespielt wird. Auf dem Hintergrund der angedeuteten Kriegsszenerie könnte man diese Äußerungen in einem historischen Kontext situiert verstehen: die Schrift als Medium, in der sich die geschichtlichen Daten der Menschheit als eine Geschichte der Kriege manifestiert. Im Gegensatz zu dieser kriegerischen Welt wird in S 8 aber schon auf eine andere Sprache angespielt, die nur in Lauten oder Klängen vernehmbar ist, eine Sprache, die mittels ihrer Zeichen die Natur vernehmbar werden lässt und die in Volponis Semantik der Bilder der Gesang der Vögel exemplarisch symbolisiert.41 Mit dem Übergang von der kriegerischen Sprache zu der der Natur – die nicht unbedingt friedlich sein muss – nähert sich das suchende Subjekt in S 9 und S 10 dem Ort, wo die mütterliche Präsenz am sichersten zu finden ist, in der Kindheit, wo die Gesten der Mutter die Erinnerung zurückrufen, mit denen sie die Früchte des Gartens auf einem Tisch zubereitet und die mütterli-
40 »Blume« rhetorisch als Redeschmuck. 41 Die Figur, die den Gesang der Vögel nicht nur verstehen, sondern auch nachahmen, d.h.in menschliche Sprache übersetzen kann, ist der »imitatore« in Il pianeta irritabile; eine Figur, die als Allegorie des Poeten im Sinne Volponis verstanden werden kann.
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Das lyrische Werk – die frühe Lyrik
che Imago aus ihrer befremdenden Ferne zurückversetzt wird in die Welt der einfachen Dinge.42
2. Z UR B IOGRAPHIE
DES POETISCHEN
S UBJEKTS
Die bäuerliche Welt im Gedichtszyklus L’Appennino contadino43
Die Welt des poetischen Subjekts ist in ihrer Substanz die Welt, die in diesem langen und vielleicht wichtigsten Gedicht der Sammlung Le porte dell’Appennino – Die Pforten der Apenninen – dargestellt und abgebildet wird. Sie ist das Universum, das die Natur und den Kosmos in ihrer ursprünglichen Gestalt in sich begreift, von der sich die städtische Zivilisation abgespalten hat und dessen Verlust die Trennungsangst des poetischen Subjekts mit begründet. Das Gedicht beschließt, zusammen mit Muore la giovinezza – Es stirbt die Jugendzeit – den Zyklus Le porte dell’Appennino und stellt so etwas dar wie den Abgesang an die poetisch verklärte ländliche Zivilisation, die mit der Mechanisierung der modernen Welt und deren Ökonomie auf den Stand eines primitiven gesellschaftlichen Daseins zurückversinkt oder herabgestuft worden ist. Diesen Umstand beklagt das Gedicht, das andererseits den poetischen Schein des Primitiven illusionslos als etwas Vergangenes erscheinen lässt. Das Gedicht vermittelt das Leben der bäuerlichen Welt in Form eines Bauernkalenders, dem der Zyklus der Jahreszeiten als Maß der bäuerlichen Existenz zugrunde liegt. Das bringen die Anfangsverse schon in erzählerischer Breite zur Anschauung, indem sie der historischen Zeit die kalendarische, zyklische Zeit gegenüberstellen, die Wiederkehr immer desselben. Die zyklische Zeit, die die historische überlagert und sie für die Bauern nahezu inexistent macht, ist zugleich die vom Kirchenkalender beherrschte christliche Zeit, die das zivile Leben dem kirchlichen unterwirft: La stagione divina ferisce ogni rivolta ed insieme fiorisce i grani e le gramigne. S’aduna e si smarrisce la gente e la sua mente è mossa dalle cose che teme a una figura umana del timore [S 1, V. 25- 30]
Der Kirchenkalender verbietet jede Revolte und lässt gedeihen Korn und Unkraut. Vereint die Leute und führt sie irre und gelenkt wird er von den Dingen die man fürchtet vom menschlichen Sinn des Fürchtens
Die in ihren Häusern im Winter isolierten Bauern bleiben in ihren Gedanken und Gesprächen auf die elementaren Naturabläufe beschränkt: 42 Die Verse, die folgen, lassen aber die Szene der Kindheit, die hier – wie wir meinen – evoziert wird, nicht in einem glücklichen Licht erscheinen, sondern schildern einen dramatischen Vorgang, der eher als die Reproduktion des Geburtstraumas verstanden werden kann, ehe die Beschreibung übergeht zur Erinnerung an die friedfertige mütterliche Präsenz. 43 S. 125 bis 143.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte La notte invernale è la sorella dei nostri pensieri: un magico dettato scioglie nei lunghi sonni i dubbi della vita comune […] [S 2, V. 68- 72] […] il nostro pensiero è solo, libero ciascuno dal gruppo, piú feroce e piú vero, quasi sincero davanti alle miserie […] [S 2, V. 99- 102] Qui discorrono i genitori; ritrovano mali anziani che restano nelle stanze trasparenti e vivi come liquori delle trascorse annate. Qui la tradizione nei corredi custodisce i dolori piú ch’egli inganni familiari; i santi ed i rosari tramandano la morte. [S 2, V. 107- 116]
Die Winternacht ist die Schwester unserer Gedanken: ein magisches Diktat löst im langen Schlaf die Zweifel des gemeinsamen Lebens […] […] ist unser Denken allein, befreit jeder von der Gruppe, grausamer und wahrer, fast aufrichtig gegenüber dem Elend. […] Hier reden die Eltern miteinander; erinnern sich alter Übel die in den Räumen stagnieren transparent und lebendig wie Liköre aus verflossenen Jahren. Hier bewahrt die Tradition in der Aussteuer die Schmerzen lebendig mehr als er [der Schmerz] die Angehörigen täuscht; die Heiligenbilder und die Rosenkränze halten den Tod gegenwärtig
Doch das bäuerliche Wissen ist gleichbedeutend mit »vivere senza capire« – »leben ohne zu verstehen« [S 3, V. 91], und unter den Jungen wächst der Wunsch nach Veränderung: Febbraio è un ragazzo che lotta contro il padre, che cerca nei campi la strada della fuga
Februar ist ein Junge der gegen den Vater kämpft, der auf den Feldern sucht die Straße zur Flucht
[S 3, V. 101- 103]
Doch statt Flucht erwarten die meisten eine Veränderung, die politisch erst erkämpft werden muss, wie die lange Beschreibung des 1. Mai bezeugt: In quelle sere ripiegano le rosse bandiere della libertà d’un giorno [S 5, V. 5- 6] Questo è l’unico modo di lottare contro se stessi, contro la fatica [S 5, V. 9- 10] è un’altra paura ma la paura di non sapere abbastanza, di lasciare la sicura malvagità nella speranza che domani il sole nasce diverso [S 5, V. 13- 16]
An jenen Abenden [am Abend des 1. Mai] falten sie zusammen die roten Fahnen der Freiheit für einen Tag Das ist die einzige Weise zu kämpfen gegen sich selbst, gegen die Mühen der Arbeit – es ist eine andere Angst nämlich die Angst nicht genügend zu wissen, die sichere Niedertracht einzutauschen gegen die Hoffnung dass morgen die Sonne anders aufgeht
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Das lyrische Werk – die frühe Lyrik
Nach den Sommermonaten und der eingebrachten Ernte naht die Zeit, in der die Zugvögel sich zur Reise rüsten und die jungen Leute nachdenklich werden [S 8, V. 2-3], denn für sie stellt sich jetzt die Frage, ob sie bleiben oder das Land verlassen sollen. Die Entscheidung ist problematisch und zwiespältig der Entschluss, denn Come ladro parte chi lascia la campagna; fugge i suoi luoghi natali […] [S 8, V. 57- 58];
Als Dieb geht fort wer das Land verlässt; flieht aus dem Ort wo er geboren wurde […]
Deutlich wird hier die Umkehrung des Blicks auf die bäuerliche Welt, nicht aus der Perspektive des poetischen Subjekts, sondern aus der Sicht derjenigen, die wegzugehen entschlossen sind, des Subjekts der Prosa, und d.h. der Protagonisten des Romans. »Wer bleibt, der kann ins Wirtshaus gehen« – »Chi resta può andare all’osteria« [S 9, V. 44] von wo aus das gesellschaftliche Leben der Bauern aus der Sicht der zyklischen Zeit wieder von vorn beginnt. Come è vecchio questo stare insieme, l’uno sull’altro e bere, parlare delle cose che tutti sanno, contare i giorni dell’anno, le sere di un calendario le cui figure sono quelle di un tempo vano, lontano e mai apparso [S 9, V. 51- 57]
Wie ist alt das Zusammensitzen, einer auf dem anderen und trinken, von Dingen sprechen die alle kennen, die Tage des Jahres zählen, die Abende eines Kalenders dessen Figuren die sind einer nutzlosen Zeit, weit weg und nie wirklich
Der Zyklus der Jahreszeiten schließt mit dem Weihnachtsfest, das wieder ganz im Zeichen der christlichen Zeitrechnung steht. Der Schlussabschnitt [Verssequenz 11] löst sich aus dieser zyklischen Zeit mit dem Blick schon auf das Romanwerk, und hier insbesondere auf Macchina mondiale, dem Roman, der die Thematik einer neuen landwirtschaftlichen Kultur aufgreift, die in der Figur des erwarteten Rückkehrers auf das Land vorweggenommen wird. Speriamo che qualcuno torni o arrivi che una notizia ci rifaccia vivi sopra la nostra terra [S 11, V. 18- 20]
Wir hoffen dass jemand zurückkehrt oder kommt, dass eine Nachricht uns wieder zum Leben erweckt auf unserer Erde
Die Natur, unter einer Schneedecke begraben, gibt keine Zeichen, an denen das Neue abzulesen wäre: Non c’è segno che parli, né vento o foglia che si muova tra la nebbia lontana di novembre. [S 11, V. 1- 3]
Es gibt kein Zeichen das spricht, noch Wind oder Blatt das sich bewegt unter den weiten Nebeln des Novembers
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Und die abschließende Frage, in der eine Erwartung sich verbirgt: Quale libertà per questa terra, per queste mille zolle da collina a collina, quale diversa vita contadina altrove può essere cercata ? [S 11, V. 25- 28]
Welche Freiheit für diese Erde, für diese tausend Schollen von Hügel zu Hügel, welches andere Leben der Bauern kann woanders gesucht werden?
Das ist die Erwartung einer neuen Erkenntnis der Natur und des Elementaren im Sinne der Geowissenschaft und der Ökologie, die die Landwirtschaft aus der Vormundschaft von Kirche und Besitz befreien soll. Der Abschied von der mythischen Welt der Apenninen, dieser ausgebeuteten, im christlichen Glauben befangenen bäuerlichen Welt, wo das Elementare und die ersehnte Freiheit nur als Stoff bäuerlicher Legenden zur Erscheinung kommen, fällt zusammen mit Muore la giovinezza [S. 144-146], wo das Mythische jetzt zum Realen gewandelt erscheint und damit auch eine veränderte Einstellung zur Frau einhergeht.44 Das Gedicht stellt eine Art Epilog zur Periode der mythologisch-mythographischen Frühgeschichte des poetischen Subjekts dar, seiner libidinösen Projektion in die Welt, wo Sehen als ein Akt der Liebe gedeutet wird, worin sich die Erwartung gegenüber der Wirklichkeit der Dinge spiegelt oder aus dem sie sich nährt, wie exemplarisch der liebende Blick in Il cuore dei due fiumi [S. 94-102] zeigt. Aus dieser libidinösen Einstellung geht das Subjekt jetzt in eine Position über, in der es seine Zuversicht bezüglich des Realen aus dem Vertrauen zum Anderen zu gewinnen sucht, zum »albero sicuro« [144], der hier als weiblich identifiziert wird.45 Mit dieser Wendung werden die Beziehungen zu den Personen, die in den mythopoetischen Erzählungen ziemlich unbestimmt geblieben waren, jetzt in den Vordergrund des Erkenntnisinteresses gerückt und damit die frühkindlichen Traumen zum Gegenstand einer psychoanalytischen Erforschung zeitgenössischer Sozialisation gemacht.
3. P OETISCHES B EWUSSTSEIN
UND PROSAISCHE
W IRKLICHKEIT
Foglia mortale (1962-1966)46
Der Konflikt in der Familie und die Antinomie in den Elternimagines sind ursächlich für die Zuflucht des Subjekts zur Poesie, die dem noch ungerechtfertigten Sein des Kindes eine Art zivile Legitimation und damit seine Selbst44 Dieses veränderte Bild des Weiblichen wird in Corporale durch die Figur der Imelde illustriert im nicht mehr ehelichen Verhältnis zu Aspri. 45 Das Gedicht wäre in drei Abschnitten zu lesen; der erste führt die Figur der Frau als das Andere ein, als »der sichere Baum« (S. 144); der zweite beschreibt die veränderte Sicht auf die Dinge: »statt einer imaginären Landschaft« sucht das Auge »eine reinere Wirklichkeit« (145); der dritte schließlich definiert die Beziehung zum Anderen als die zu einer realen Person: »Heute ist meine Jugend zur Ruhe gekommen/in dir«. (S. 146). 46 Die Gedichte unter diesem Titel von S. 149 bis 192.
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Das lyrische Werk – die frühe Lyrik
gewissheit verschafft und es zu dem macht oder gemacht hat, was wir als das ›poetische Subjekt‹ bezeichnen. Das poetische Subjekt verfügt uneingeschränkt über die Einbildungskraft als dem hauptsächlichen Medium, über das es die Wirklichkeit wahrnimmt und auf deren Grundlage es den Anspruch auf Wahrheit begründet. Doch, wie die Relativierung der Werte der bäuerlichen Welt in Le porte dell’Appennino gezeigt hat, findet sich das poetische Bewusstsein am Ende dieser frühen Phase einer Welt gegenüber, die sich immer mehr als die dem Poetischen widersprechende, ja feindliche Wirklichkeit enthüllt, d.h. als die Wirklichkeit der Welt der Prosa. Dem entspricht der Übergang des Subjekts des Erzählens in die geschichtliche Welt der Nachkriegsgesellschaft, der Übergang von der Poesie zur Prosa, von der Welt der Gedichte zu der des Romans. Doch dieser Übergang vollzieht sich langsam und ist niemals ganz abgeschlossen, da sich die Poesie oder das Poetische immer auch neben dem Prosaischen der Welt zu behaupten versucht und am Ende – in den beiden späten Gedichtsammlungen von 1986 und 1990 – wieder die Oberhand gewinnt. Dabei spielt zunehmend eine Rolle, dass Volponi gegen die Prosa des Realitätsprinzips ein utopisches Moment geltend macht, in dem sich das Poetische in veränderter Weise wieder zu erkennen gibt. Dieses Vermögen des Poetischen, das Reale auf das in ihm verborgene oder verdrängte Elementare zurückzuführen und es in Bildern wieder kenntlich zu machen, ist als vis poetica in den Gedichten von Foglia mortale, der Sammlung der Periode zischen 1962 und 1966, als Neuerung zu erkennen. Im Folgenden soll dieses innovative Moment der Poesie an den großen Gedichten dieser Sammlung analysiert werden. Das Konfliktpotential im Subjekt des kindlichen (poetischen) Bewusstseins ist nicht allein in dessen Primärsozialisation zu suchen, sondern maßgeblich auch auf die gesellschaftlichen und historischen Ereignisse zurückzuführen. Das Gedicht Agendina [S. 179-185], das in Form eines Taschenkalenders Ereignisse und Erinnerungen aus der Zeit des zweiten Weltkriegs festhält und kommentiert, öffnet die Sichtweise des erzählenden Subjekts auf die Welt der geschichtlichen Gegenwart, indem es die Dimension des Mythischen mit der Realität der Nachkriegsgesellschaft zu konfrontieren sucht. Der Zusammenhang der Verssequenzen, in die wir das Gedicht wieder unterteilen, ist auf den ersten Blick kaum erkennbar, als Ganzes lesbar wird das Gedicht erst, wenn man die drei oder vier thematischen Aspekte, die allen Sequenzen zugrunde liegen, miteinander in Beziehung setzt. Der erste Aspekt ist der schon angesprochene der Erinnerung an reale Orte und Ereignisse der Kindheit, die der Erzähler in verschiedenen Bildformen evoziert, in den Szenen der Stadt (Pesaro und Urbino), des Krieges, im Bild des Labyrinths, des Buches und des Kindertheaters (il teatrino), Bilder und Szenen alle von Unordnung, Elend und Zerstörung, die wir als die Abbildung verstehen können der zerstörten Zivilgesellschaft des Kriegs und der Nachkriegszeit. Die Erinnerung an die Bilder des Schreckens werden, was Verssequenz 1 besagt, aus dem Bewusstsein des Kindes gelöscht, indem der herabfallende Schnee das Geschehene unter sich begräbt, bildlich gesprochen, die Erinnerung auslöscht. Daraus ergibt sich der zweite thematische Aspekt, nämlich die fundamentale Thematik der Bewusstseinsbildung des Subjekts, ein Prozess, den Volponi über die Gesamtheit seines Werks analysiert und beschreibt, um das Subjekt als gesellschaftliches neu zu begründen. Die Bewusstseinsverände77
Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
rung des Subjekts wird in diesem Gedicht gezeigt anhand der Opposition der Figuren des Ich des Subjekts [S 4, V. 3] und des älteren Bruders, des alfiere industriale, [S 7, V. 16], ein Terminus, in dem angespielt wird sowohl auf die Funktion des Industriellen wie auf die des militärischen Bannerträgers. Die Bewusstseinsveränderung wird eingeleitet mit dem Auslöschen der Erinnerungen, bezogen auf das mythopoetische Bewusstsein des Subjekts der frühen Phase. Die Bilder, um diesen Vorgang darzustellen, sind durchgehend noch dem Bereich der Natur entnommen, wie die Schlüsselbegriffe »Schnee« oder »Sonne«. oder die Tageszeiten »Nacht« und »Tag«. Der Schnee, der auf die Erde fällt, begräbt unter sich die Dinge und ihre Konturen, macht sie als Zeichen unkenntlich und tilgt damit die Erinnerungsspuren an die Welt der Kindheit. Dieser Vorgang wird bruchstückhaft nur angedeutet in den Termini der Schneedecke, die alle Spuren unter sich begräbt [S 1, V. 1-5]. In den folgenden Verssequenzen wird auch nur bruchstückhaft das Thema der Erinnerungen angedeutet, worin fast ausschließlich Situationen der Entfremdung evoziert werden, wie das »Labyrinth« in S 3 und 4, wo dem Ich des Kindes der brüderliche »alfiere« gegenübertritt, der offenbar das Labyrinth bewohnt oder beherrscht. Die Sequenzen 5 und 13 rufen Bilder wach, die vom Krieg und vom Partisanenkampf handeln; und in S 9 bis 12 werden in den Szenen, die in den Städten situiert sind, die marginalisierten Existenzen und ihr Elend in zum Teil greller Beleuchtung abgebildet. Ist das zu verstehen als der Blick des poetischen Subjekts auf die Welt der zerstörten Zivilgesellschaft – insbesondere in den Szenen des labirinto, die darstellerisch dem Genre des Grotesken ziemlich nahe kommen –, so trifft das erst recht auf die Kriegsszenen zu, in denen der Blick zurückgeht in die Geschichte, die Volponi immer wieder in den Bildern kriegerischer Zerstörung gesehen und abgebildet hat. Gegen diese Bilder und ihre magische Vergegenwärtigung der Kindheit wendet sich jetzt das Bewusstsein des Subjekts, das sich der Realität der Dinge gegenübergestellt sieht. Wenn wir im Folgenden die Bewusstseinsfunktionen in den Verssequenzen 6 bis 8 und 16 beschreiben, so versuchen wir auch hier nur die Aussagen anzudeuten, in denen sich Satzgegenstand und Satzaussage [i.S. von Subjekt und Objekt eines Handlungsvorgangs] erkennen lassen und überlassen alle anderen sprachlichen Bezüge, in die diese eingebettet sind, einer speziellen Analyse, die hier nicht möglich ist. Die Kernaussage in der 6. Verssequenz lautet: »das Bewusstsein löst sich von den Dingen« [V. 1-4]; »ein eisiger Wind bricht ein« und »es bricht auseinander, was im Geist Bewusstsein gewesen war« [V. 78]; schließlich »ein bitterer Nachgeschmack« haftet an dem, was einst Gegenstand der »Verehrung« war. [V. 11-14]. Die entsprechenden Verse zitieren wir in Italienisch in den Anmerkungen. Die Verse besagen also, dass sich das Bewusstsein, in dem die Dinge präsent sind, als Medium der Erkenntnis von diesen löst, obwohl es – folgen wir Sartre47 – ohne sie leer ist. Dinge und Bewusstsein treten auseinander und die jetzt von außen gesehene Welt wirkt wie der eisige Blick, der die Welt der frühkindlichen Mythen erstarren lässt, den Geist, der sie repräsentiert, zerbricht und die Bilder, die er vorgestellt hat, Lügen straft. Das Bewusstsein spiegelt jetzt die Konstellation des Wirklichen, die mit der Figur des »alfiere industriale« zusammenfällt, – »verhärtet 47 »La conscience est conscience de quelque chose« und ist leer ohne die Dinge, die es enthält.
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Das lyrische Werk – die frühe Lyrik
in der Suche nach Gold« [S 7, V. 16-17] – die der Welt des Kindes mit eisiger Ironie begegnet. Die Bewusstseinsbildung ist im Grunde ein Prozess der Umformung des alten Bewusstseins, in dem die Symbolgehalte der frühen, in der Kindheit angeeigneten Bilder des Wirklichen situiert waren. Das Gedicht beschreibt diesen Prozess als Ablauf von zwei gegenläufigen Bewegungen, auf der einen Seite der Interiorisierung der wahrgenommenen Welt der Gegenstände – die die früheren Inhalte angreift und zersetzt – und auf der anderen als Bewegung, die als Exteriorisierung die neue Sicht auf die Wirklichkeit begründen.48 Wir zitieren aus Sequenz 7 diesen Vorgang in seinen wesentlichen Peripetien: »Non voglio peggiorare dissi una volta da giovane tutta la vita sempre peggiorare«. [S 7, V. 1- 3]
»Ich will nicht schlechter machen [oder werden]. sagte ich einmal als Junge das ganze Leben schlechter machen«.
Das ist die Aussage des frühen mythopoetischen Subjekts, das sich in die Poesie geflüchtet hat; Ma l’ingenua ammirazione (del mondo) unita (dovuta) a una fervida interiorizzazione allontana dalla sponda gremita… e muta riprende la recitazione di una forma sola, [S 7, V. 4- 8]. il teatrino onnipotente del bambino sotto un mantello colorato
Aber die naive Bewunderung (der Welt) verbunden mit (dank) einer leidenschaftlichen Interiorisierung führt vom Ufer weg, das voll ist … und stumm nimmt sie wieder auf die Rezitation nur einer Form, das allmächtige kleine Theater des Kindes in einem bunten Gewand
[S 7, V. 11- 12]
Gegen die frühere »naive Bewunderung der Welt« wird geltend gemacht, dass sie nur eine »Rezitation« der Erscheinungen des Wirklichen auf dem kleinen Theater der Kinderwelt gewesen ist, von dessen Bühne das Subjekt jetzt herabsteigt, um von einem veränderten Standort aus die Beschaffenheit des Wirklichen, »la composizione possibile« [S 8, V. 4] ihrer Elemente und Bestandteile erkennen zu können, doch nicht mehr mit den Augen der Seele, sondern vermittelt über den Körper und die sinnliche Wahrnehmung, »con un corpo intero e parlante« [S 8, V. 8-11].
48 Sartre beschreibt diesen Prozess in Questions de méthode, dem Einleitungskapitel von Critique de la raison dialectique, ausgehend von der Bemerkung: »Nous définirons la méthode d’approche existentialiste comme une méthode régressiveprogressive et analytico- synthétique […]« (S. 112); und als ein Moment dieser Erkenntnismethode die »dialectique du subjectif et de l’objectif« : Il faudrait montrer la nécessité conjointe de »l’intériorisation de l’extérieur« et de »l’extériorisation de l’intérieur«. (S. 80).
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Aber diese neue Funktion des Poetischen erfordert Anstrengungen im Kampf gegen die sprachliche Ordnung der Tradition – ihre »usuale/desolata onnipotenza«, ihre übliche/desolate Allmacht –, die Volponis Poetik zwangsläufig auf den Weg des sperimentalismo führen und über diesen zu Positionen der Avantgarde [S 16, V. 7-12]. Der Übergang in eine neue Wahrnehmung der Wirklichkeit führt aber hinein in die Welt des Alfiere, des älteren Bruders, die als das Labyrinth bezeichnet wird, das auch als ein sprachliches verstanden werden kann, eine Welt, die jenseits des Poetischen situiert ist, »un altro continente o universo«, auf das der »alfiere industriale« sein begieriges Auge gerichtet hat [S 7, V. 14ff]. Von Interesse – und deshalb noch zu erwähnen – ist die Kalendereintragung des Vaters in der Versequenz 14, die im Zusammenhang mit der Figur des »alfiere industriale« zu sehen ist, dem sie eine Art Erbe überträgt. Verstanden werden könnte sie als der Hinweis auf die politischen Umstände, in die die väterlichen Geschäfte verwickelt waren, die in der ›Agendina‹ wie folgt vermerkt sind: L’agendina 1939 di mio padre regalo della ditta Hoecheston di Düsseldorf di macchine e forni per fornaci [S 14, V. 1- 3]
Kalender 1939 meines Vaters Geschenk der Firma Hoecheston von Düsseldorf von Maschinen und Verbrennungsöfen
Angespielt wird auf ein konkretes Datum, nämlich das Geschenk des Kalenders der Düsseldorfer Firma Hoecheston, vermutlich der Chemiekonzern Höchst, im Text aber der Produzent von Maschinen und Brennöfen [S 14, V. 3], von Verbrennungsöfen also, die sowohl für die Keramikherstellung des Vaters wie für die Konzentrationslager der Nazis benutzt worden sind. Ob dieser Bezug von Volponi beabsichtigt war, wird unbestimmt bleiben, wie auch die Eintragung des Vaters in den Versen 21-22, die die Übertragung seiner »Mission« an den »alfiere« vermerkt, als »la retorica missione/di dare indicazioni all’alfiere.« – »der rhetorische Auftrag/dem ›alfiere‹ Anweisungen zu hinterlassen«. Die Schlussverse des Gedichts [in S 17] handeln noch einmal von ihm, der zurückkehrt ins Haus, aus dem er weggegangen war, und in seinem Gefolge die Bilder der zerrissenen Wolken, die die Täler durchziehen [S 17, V. 1-3]. Dalla cava49
Das Gedicht rückt als Objekt der Untersuchung die Dimensionen des menschlichen Körpers in den Vordergrund. Das Graben und die Ausgrabung versinnbildlicht die Suche nach der materiellen Substanz und Beschaffenheit der Lebensbedingungen des Menschen. Wieder wird thematisch nur stichwortartig vorgegeben, was vom Leser auf der jeweiligen Suche nach dem Subjekt der Aussage selbst zu finden ist. Die Anfangsverse des Gedichts charakterisieren den Körper als den Gegenstand, dem die Vorherrschaft des Geistes das Bewusstsein von Schuld und Verfehlung eingeschrieben hat [S 1], als welche
49 S. 167- 172.
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inzwischen die Geschichte des Ödipus-Dramas gesehen wird [S 6 ab V. 16], und zwar in Verbindung mit der religiösen Sozialisation [S 6, V. 13-14]. Die einzelnen Verssequenzen des Gedichts charakterisieren jeweils die sprachlichen Dimensionen, die sich abheben von der traditionellen Erkenntnisvermittlung durch die Bibel [S 3], die Familie [S 6], die Schöpfungsgeschichte der Religionsstifter [S 8] und diesen fremd gegenüberstehen, wie in S 2 die Sprache der Tiere, v.a. der Vögel; in S. 4 die Sprache der gesellschaftlich Geächteten und in S 5 die Sprache der Revolte, in Anspielung vermutlich auf Rimbauds sprachliche Gewaltsamkeiten [V. 16-24] oder Baudelaires Suche nach Neuem und Unbekannten [S 9]; in S 6 wird die antiödipale Wendung gegen die mütterliche Bindung [V. 24-32] als sexuelle Befreiung interpretiert und gefeiert; und in S 8 und 9 schließlich wird der religiösen Fundierung der Sprache und damit der Schöpfungsgeschichte eine materialistische Grundlegung des Sprachvermögens des Menschen entgegengesetzt als Geschichte der Zivilgesellschaft. An diese Bereiche insgesamt wird die Erwartung geknüpft, dass sie eine neue Beziehung zur Realität dieser Welt stiften, mittels einer anderen Botschaft oder einer anderen Sprache, von der sie künden. Mit der wachsenden Bedeutung, die Volponi der materiellen Existenz des Menschen zumisst, wird auch die poetische Einstellung des frühen Subjekts gegenüber dem Realen fragwürdig. Es zeichnet sich eine Entwicklung ab, in der die subjektive, mythopoetische Lyrik der Frühzeit abgelöst wird von einer Form sozialer Poesie, deren Ausrichtung auf das Gesellschaftliche in Dalla cava als das Programm einer poesia civile – einer gesellschaftlichen Lyrik – Volponis verstanden werden kann. Das bedeutet, dass in die poetische Wahrnehmung der Welt und ihrer Zustände zunehmend die sozialen Verhältnisse und deren Opfer – als die nicht integrierbaren Elemente – einbezogen werden: […] voi di questo regno […] marroni personaggi! [S 3, V. 8- 9] […] emigranti, travestiti [S 4, V. 7] disertori, soldati, ladri, torturati, graffiati, rotti, lubrichi [S 8, V. 21- 22] che debbono darmi una notizia. [S 8, V. 30];
[…] ihr, die kastanienfarbigen Personen! dieses Landes […] Emigranten, Transvestiten Deserteure, Diebe, Gefolterte, Zerkratzte, Zerbrochene, Schlüpfrige […] [Personen] von denen ich eine Nachricht erwarte
wobei »notizia« als poetisches Schlüsselwort das elementare Material der Poesie bezeichnet, den verborgenen Rohstoff, auf den sie angewiesen ist und den Volponi nicht im Regelmäßigen sondern in der irregulären Sinneswahrnehmung sucht. Man wird unwillkürlich erinnert an Rimbauds »dérèglement de tous les sens« ,50 liest man die folgenden Verse:
50 Siehe Rimbauds Brief an Paul Demeny von 1871, in Arthur Rimbaud : Œuvres, hg. von Suzanne Bernard. Paris : Classiques Garnier 1960, S. 344- 350.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte Non mi lamento piú, ingordo cerco d’infettare la bellezza, discuto con cinismo, […] […] mi aggrappo alla menzogna l’invento [S 5, V. 16- 18, 20- 21].
Ich klage nicht mehr, gierig suche ich die Schönheit anzustecken, ich diskutiere mit Zynismus, […] […] ich klammere mich an die Lüge ich erfinde sie
Im Ansatz offenbart sich hier eine Seite der Volponischen Poetik, in der sich nicht nur die subversive Sicht der institutionellen Wirklichkeit manifestiert, sondern auch die zuweilen gewaltsame Form der stilistischen und rhetorischen Sinnverkehrungen im Sprachlichen, die seinen sperimentalismo kennzeichnen. Als programmatisch für Volponis Anspruch an eine soziale Poesie könnten die folgenden Verse verstanden werden: […] inventare un progetto, una striscia qualunque, una rivolta, anche se fuori della bellezza, senza i riccioli crespati […] riguardare la tumefatta gloria, la secrezione appannata, e allora un’altra volta ritrovare il posto la ruota incappucciata [S 5, V. 4- 11]
[…] erfinden ein Projekt, eine Linie irgendeine, eine Revolte, auch jenseits der Schönheit, ohne gekräuselte Löckchen […] ins Gesicht schauen der angeschwollenen Glorie, die trübe Sekretion, und danach wieder finden den Ort das Rad mit der Kappe
womit die Welt der Lebenswirklichkeit gemeint ist. Diese Wende, so zitiert sich das frühere Subjekt selbst, […] mi da un’altra immagine del giovane che ero, una figura inutile
[…] gibt mir ein anderes Bild des Jungen der ich war, eine unnütze Figur
[S 5, V. 13- 14]
Was die Poesie aber ist oder leistet – worauf der Gedichttitel Dalla cava schon hingewiesen hat – und was mit dem materiellen Ursprung der Dichtung bei Volponi in Einklang steht – ist die Suche nach dem Neuen – du nouveau, wie bei den Autoren der französischen Moderne Baudelaire und Rimbaud – nach dem unter der Oberfläche der Dinge Verborgenen. La durata della nuvola51
In Stichworten seien wieder wie vorangehend die Themenbereiche dieses längsten Gedichts der Sammlung Foglia mortale aufgelistet: Die Thematisierung des Übergangs vom Geistigen, Beseelten, Idealen zum Materiellen, Körperlichen findet sich in den Verssequenzen 1–2 und 31–32; das Motiv der paura, das die häusliche Domestizierung der Wahrnehmung (als Vergeistigung und Beseelung) wieder anklingen lässt, behandeln die Sequenzen 3-4 und 8; die Thematik der Versprachlichung der Wahrnehmung wird in Vers51 S. 152- 161.
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Das lyrische Werk – die frühe Lyrik
sequenz 5 angedeutet; die Suche nach Erkenntnis auf den Spuren des Lebens umschreiben die Sequenzen 9-12; die biographischen Daten des Subjekts behandeln jeweils S 13-18 die Rückkehr nach Urbino S 21-25 und S 28-30; die Begegnung zwischen dem älteren Subjekt und dem Jungen S 24; die Erinnerung an das Haus der Mutter S 26; die Erfahrung des gealterten Subjekts in S 19-20 und S 27 illustrieren schließlich auch die Wendung zur neuen Auffassung der Poesie in S 24-25. Versinnbildlicht das Graben das Eindringen des Bewusstseins in die Materie, so verbildlicht umgekehrt »Wolke« und »Statue« seine Erhebung in die Luft und das Geistige. Von beiden handelt noch einmal La durata della nuvola. In Dalla cava war es die Erinnerungsspur des Schalentiers, die das Bewusstsein verfolgt: »la fossile memoria che si dipana« [S 6, V. 2]52 – »das fossile Gedächtnis das sich entfaltet«; in La durata wird der materiellen Erinnerungsspur als Gegenbegriff das Bild der »Wolke« und der »Statue«, in die sie hineinragt, entgegengesetzt: La statua piú alta guarda folta nel cielo attonita la propria altezza, distolta sopra l’ultimo, il piú compatto volo dei piccioni già invisibile dentro la notte [S 1, V. 1- 6]
Die höchste Statue betrachtet voll im Himmel erstaunt die eigene Höhe, abgelöst über dem letzten kompaktesten Flug der Tauben schon unsichtbar in der Nacht
Das Bild von Wolke und Statue bezieht sich, wie noch erkennbar wird, auf die Poesie, die fern von der Wirklichkeit der Dinge, etwas Abstraktes zum Inhalt hat, eine Idee oder ein Ideal, das der Erzähler in diesem Gedicht, wie aus den langen Passagen zur Biographie des Subjekts hervorgeht, mit der mythopoetischen Welt der frühen Poesie assoziiert. Che sempre la bianca nuvola attinge la sua figura dalla forza siderale del vento, e sempre la governa d’acqua e fumo sopra l’oscuro ossario terrestre [S 31, V. 8- 13]
Und immer speist die weiße Wolke ihre Figur aus der Kraft der Winde im All und mit Wasser und Rauch herrscht sie über das dunkle Knochengerüst der Erde
Die Dichtung, die die Idealität als Wahrheit verkündet, ist die »bianca nuvola«, die über dem dunklen Knochengerüst des Irdischen schwebt, und die Herrschaft des Geistigen (und der Gedanken) symbolisiert, die von den Winden bewegt und verbreitet werden; sie ist eine symbolische Wahrnehmung des Wirklichen und entgegengesetzt der Erkenntnis aus der Materie, in der das Sein der Natur und des Menschen fundiert ist. Der mythopoetischen Wirklichkeit des frühen Subjekts wird die Materie der Körper, die materielle 52 Das gleiche Motiv wird in La durata in S. 9, V. 1- 3 wieder aufgenommen – »Der Orepitecus schläft unter den Lehmschichten/die tausende übereinander/sich zu Hügeln erheben.« – »L’oreopiteco dorme sotto le argille/che a mille e a mille/gonfiano le colline.«
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Beschaffenheit der Dinge, in den Bildern der fossilen Erinnerungsspuren [in S 9-11] konfrontiert. Wir befinden uns an der Wende zu einer anderen Poesie, auf der Suche nach dem Unbekannten, nach der in der Materie selbst verborgenen Substanz des Seienden. Diese Wende ist aber nicht einfach nur der Beginn einer neuen Orientierung, sondern stellt, wie der Titel besagt, die Frage nach der »Dauer der Wolke«, d.h. nach der historischen Dauer der Herrschaft einer Ideologie, die sich als dominant gegenüber dem Realitätsprinzip der bestehenden Gesellschaft erweist. Die »Dauer der Wolke« ist also die Dauer des Systems der allgemeingültigen Werte einer Epoche, d.h. ihrer herrschenden Ideologie, unter die sich die empirischen Tatbestände und Einrichtungen einer Gesellschaft für eine bedingte Dauer ordnen und legitimieren lassen. Diese Polarität in der Ordnung der Verhältnisse wird bildlich dargestellt durch die Höhe der Statue, die in den Himmel ragt, und die Muschel in der Tiefe der Erde oder an der Basis der Statue, die die Verwurzelung des Seins in der Materie symbolisiert. Den beiden Bildbereichen würden also korrespondieren das Vermögen der Abstraktion des Denkens einerseits, das die Vielfalt der Erscheinungen in das jeweilig Allgemeine transformiert, sowie die kreative Kraft andererseits des formschaffenden Vermögens der Materie, die Volponi in dieser Phase als das gesellschaftlich Reale entdeckt und zu erforschen beabsichtigt. Die Aufgabe, vor der sich das Subjekt der Erzählung gestellt sieht, erfüllt es mit Angst/paura davor [Verssequenzen 2 und 3], den Anforderungen nicht gerecht zu werden, das materiell Konkrete, das es erforscht, in Erkenntnis umzusetzen, in eine Erkenntnis, die eine neue Allgemeinheit zu repräsentieren in der Lage wäre. Der Dichter beklagt offensichtlich sein Unvermögen, über die poetischen Bilder zu einer adäquaten Erkenntnis des Wirklichen zu gelangen [S 23/27]; l’orrenda cecità che m’incalzava […] del mio non vedere, non capire, non sentire [S 23, V. 5 u.13]
die erschreckende Blindheit die mich verfolgte […] meines Unvermögens zu sehen, zu verstehen, zu fühlen
Und es ist die Angst vor der (möglichen) Leere der Ideen oder des Ideellen, die in den Verssequenzen 3 und 4 formuliert worden ist. Wie diesen Befürchtungen zu entnehmen ist, problematisiert Volponi hier den Wirklichkeitsbegriff, den er aus der Polarität der Bildbereiche von Wolke und Muschel, dem Irdischen bzw. der Materie, die die Muschel repräsentiert, zu konstruieren versucht hat. Die Statue, das in die Wolken ragende Monument der menschlichen Kunstfertigkeit, erhebt sich über dem Fundament, in dessen Inneren seit Tausenden von Jahren eine Meeresmuschel ihren Platz hat [S 2, V. 6-7]. In der Höhe, in die die Statue ragt, wird das Bewusstsein von Angst befallen vor der Leere des Raums, fern von der »realtà della pietra« [S 3, V. 4], in den an die Nacht grenzenden Dimensionen, die als Ort der paura ausgewiesen werden [S 4, V. 1-4]. Diese Angst überträgt sich auf das sprachliche Unvermögen, das Verhältnis der Höhe des Orts zur Basis der Statue in Worte zu fassen, die Beziehung zwischen den zwei Dimensionen zu artikulieren und damit eine Erwartung zu erfüllen, die das Subjekt an die Versprachlichung des Neuen seit langem hegt,
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Das lyrische Werk – die frühe Lyrik di una speranza a lungo coltivata ma poi a brani, a sfoglia giocata e ceduta, scritta sillaba per sillaba [S 5, V. 5- 8]
einer Hoffnung seit langem gehegt aber erst in kleinen Stücken auf Blättchen spielerisch gewährt und geschrieben Silbe für Silbe
Erwartungen, die gegenwärtig nicht erfüllt werden können [S 5, V. 8-12]. Die Versprachlichung findet ihre Grenze an den Abstraktionen der wahrgenommen Realität, in der verfrühten Intervention des Denkens gegenüber der noch unabgeschlossenen Wahrnehmung, wie das in S 12 im Verhältnis von lingua und pensiero – Sprache und Denken – angesprochen wird. Um sich dem organischen Leben in der Materie gedanklich zu nähern, bedarf es der Revolutionierung des Denkens, seiner Ausweitung und Vertiefung in der Theorie. Es bedarf neuer Fähigkeiten und anderer Mittel, um die Dimension des Materiellen zu erschließen, der Beschaffenheit der Materie in Ansätzen auf die Spur zu kommen. Und das führt zurück zur materialistischen Theorie der Aufklärung, die der Materie des Organischen schon eine vegetative Sensibilität und Erinnerungsfähigkeit zugeschrieben hat.53 In den Versen Volponis wird das wie folgt formuliert: Una pianta reagisce con dolore al distacco di una foglia o a un solo pensiero aggressivo [S 10, V. 1- 3]
Eine Pflanze reagiert mit Schmerz auf das Abschneiden eines Blattes oder allein schon auf einen aggressiven Gedanken
und: Una pianta si riempie di negatività quando cellule viventi del suo albero e ambiente vegetale e d’ombre vengono trucidate, reagisce con spasimi violenti alla tortura [S .11, V. 1- 5]
Eine Pflanze füllt sich an mit Negativität wenn lebende Zellen ihres Baums und wenn das pflanzliche Umfeld vernichtet werden, sie reagiert mit heftigen Krämpfen auf die Folter
Die Verbildlichung des organischen Lebens setzt aber voraus, dass es in einem Lebenszusammenhang gesehen wird, der die Natur als ein Ganzes versteht und definiert, in dem sich auch die organischen Bedingungen des menschlichen Lebens spiegeln. Diesen Zusammenhang darzustellen, versucht Volponi dann in La macchina mondiale, wo das Organische der Materie, das Prinzip der Körperlichkeit, als das primär belebende Element oder das Elementare der Reproduktion des Lebens erscheint. Und es ist diese Reaktionsfähigkeit des Vegetativen, die auf die sprachlichen Operationen zu übertragen 53 Diderot fasst seine Erkenntnisse in seinen Studien über die Natur – u.a. in De l’interprétation de la nature – in seiner Korrespondenz mit Duclos in der folgenden Äußerung zusammen: »La sensibilité, c’est une propriété universelle de la matière, propriété inerte dans les corps bruts, … propriété rendue active dans les mêmes corps par leur assimilation avec une substance animale vivante […].« In Diderot, Denis: Œuvres philosophiques, hg von P. Vernière. Paris: Edition Garnier 1961, S. 249.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
ist. Die Lebensäußerungen der Pflanze werden als eine Sprache verstanden, basierend auf einer Art Grammatik der Zeichen, der im Grunde alle Phänomene der Natur unterworfen sind. Aus der Dynamik der Naturvorgänge leitet Volponi eine Gestalt des sprachlichen Ausdrucks ab, die er offensichtlich auf die Textproduktion zu übertragen beabsichtigt, d.h. auf die Beschreibung gesellschaftlicher Zustände. Und mit der Fundierung der Sprache im System der Zeichen verändert sich auch das Verständnis des Poetischen, nicht mehr zu begreifen als die »Stimme« des Subjekts – »la voce lirica« – sondern als »die Sprache« – »la lingua« – der Prosa der Welt. Die Phantasien des poetischen Subjekts fallen aus der Wolke des Ungreifbaren auf die Erde des Tatsächlichen, das als Wirklichkeit anerkannt werden muss, als Praxis des tätigen Wirkens der Zeitgenossen. Diese Wende in der Einschätzung des Poetischen ist im Gedicht zugleich die Überleitung zur Geschichte, in der das gereifte Subjekt seine Lebenserfahrung an den Jüngeren, den burdel, wie er ihn apostrophiert, weitergibt. Ausführlich wird diese Wende in der Biographie des Älteren dargestellt und in den Verssequenzen 13 bis 15 und 18 sowie, was die literarischen Fragen betrifft, in 19 bis 27 beschrieben. Über seine poetischen Ambitionen äußert er gegenüber dem Jüngeren: non guardarmi sorpreso, con piú compatimento che ammirazione, se ancora oltre i quarant’anni […] ancora debbo scrivere poesie per lamentarmi d’essere incompleto, tradito e non capito [S 24, V. 8- 13]
sieh mich nicht erstaunt an, mit mehr Mitleid als Bewunderung, wenn ich noch über die vierzig hinaus […] Gedichte schreibe um zu beklagen, dass ich unvollkommen bin, verraten und nicht verstanden
Diese selbstkritischen Äußerungen wendet das poetische Ich aber kurz darauf um in den Vorsatz, nicht mehr als »voce lirica« – als die Stimme der Person, des Ich – zu sprechen, sondern sich der Sprache [lingua] zu bedienen als Medium des Sprachgebrauchs aller. Non vorrei come molti confondere la voce con la lingua e tenere sempre distinta secondo la vecchia regola la teoria dalla pratica [S 25, V. 1- 5]
Ich will nicht wie viele die Stimme mit der Sprache verwechseln und immer auseinander halten nach alter Regel die Theorie von der Praxis
Das Poetische ist nicht das Persönliche und der Poet nicht mehr die »Stimme des Ich«, die vielmehr herabsteigt zu seinen Füßen, wie es heißt, auf die Ebene des Zeitzeugen, als welcher sich das neue Bewusstsein empfindet [S 29, V. 5-9]. Die Welt, die den Dichter erwartet, ist – mit Calvino zu sprechen – ein Labyrinth und die Gesellschaft einem Schiff zu vergleichen, das führungslos
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Das lyrische Werk – die frühe Lyrik
auf dem »mare dell’oggettività« treibt.54 Zu übertragen wäre das auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, die das gewandelte Subjekt jetzt auch politisch sieht, wenn es dem Jüngeren empfiehlt, zu einer politischen Sicht der Dinge überzugehen. Zum ersten Mal wird von Volponi hier die Kommunistische Partei als das Potential gesellschaftlicher Verhältnisse ins Feld geführt [S 29]. Der Partei wird die Kraft der revolutionären Veränderung der Gesellschaft zugestanden – hier im Bild der Fabrik und der Produktion [S 29], doch der Praxis, die damit angesprochen wird, fehlt die Konzeption der Veränderung, die Theorie, d.h. die Kraft der Abstraktion. Den Anspruch, die Gesellschaft selbst als veränderungs- und handlungsfähig zu denken, möchte der Ältere dem Jüngeren mit auf den Weg geben. So etwas wie ein politischer Standort Volponis wird erkennbar, wenn die Polarität der Metapher von der Höhe der Wolke und der Basis der Statue ins Politische gewendet wird und die piazza den Ort der Basis bezeichnet, die zu gewinnen ist: La piazza non ti appartiene, burdel; puoi solo cercarvi compagnia: a quest’ora la classe è all’osteria […] che non capisce il piano regolatore, i vincoli, le leggi della pubblica amministrazione [S 28, V. 8- 14]
Die Piazza, Junge, gehört dir nicht; du kannst dort nur Gesellschaft suchen: zu dieser Stunde ist die Klasse in der Osteria […] und sie versteht nicht die Regulierungsplanung, ihre Winkelzüge, die Gesetze der öffentlichen Verwaltung
Von Interesse ist hier, dass der Erzähler aus der Position des poetischen Subjekts wechselt in die Rolle des Agenten der Praxis und offensichtlich damit intendiert, die Politik in das Universum des Lebenszusammenhangs einzubeziehen, sie in die Gesellschaft zurückzuholen, von der sie sich entfernt hat. Die gesellschaftliche Funktion der Poesie wäre folglich darin zu sehen, dass sie die Dauer der Wolke begrenzt, in der sich die herrschende Ideologie der gegenwärtigen Epoche darstellt und verkörpert, welche im Text als die figura bezeichnet wird, die aufzulösen ist, die Figur nämlich dell’accumulazione capitalistica [S 30, V. 5]. In den abschließenden Worten fordert der Ältere den Jungen auf, die »Figur«, d.h. die Verhältnisse, die sie versinnbildlicht, aufzulösen. In freier Übersetzung: Allora fa’ che la tua fronte e la tua calma coscienza di crescere sappiano sciogliere quella figura e non sperare solo nella sua sparizione, per liberarti una strada all’orizzonte, che tu debba o no partire [S 32, V. 1- 6].
Nutze also deinen Verstand und dein Bewusstsein dazu, diese Verhältnisse aufzulösen und erwarte nicht, dass sie von allein verschwinden, um dir einen Weg in die Zukunft zu öffnen, egal ob du gehst oder bleibst
54 Die Metaphern entnehmen wir Calvinos Essays Il mare dell’oggettività (1959) und La sfida al labirinto (1962), in: Una pietra sopra. Discorsi di letteratura e società.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Canzonetta con rime e rimorsi
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Das letzte Gedicht der Sammlung, im Text selbst datiert aus Ivrea und Urbino, Weihnachten 1966 [S 10, V. 4-5], ist eine Art Vermächtnis des Autors, mit vollem Namen unterzeichnet, in dem Volponi versucht, seine Tätigkeit als »dirigente industriale« bei Olivetti gegenüber der Figur des Jüngeren, des burdel, zu rechtfertigen. Man kann den Text also auch verstehen als einen Abschied von einer Phase, in der Volponi die Welt der Kindheit und Jugendzeit – mit der Zäsur der Befreiung vom Faschismus – aus der Erwartung einer geschichtlichen Wende dargestellt hat, in der die Wirklichkeit in der Hoffnung auf einen Neuanfang in Bildern eines universellen Lebenszusammenhangs gespiegelt worden ist. In Canzonetta wird dieses Bewusstsein rückprojiziert in die Figur des Jungen, dem jetzt der Ältere als das erfahrene Subjekt gegenübertritt und sich zum Chronisten einer Wirklichkeit macht, die jenseits des poetischen Bewusstseins liegt, eines Subjekts, das sich entschieden der Wirklichkeit der industriellen Gesellschaft geöffnet hat. Der Bewusstseinswandel des Subjekts ist also vollzogen, wenn der Blick des Erzählers sich zurück auf die Vergangenheit wendet, auf die Familiengeschichte, die in der ersten Verssequenz die Mutter-Kind-Beziehung noch in den mythischen Figuren von Venus, Ödipus und Ikarus darstellt, die wir als die Verkörperung der mütterlichen Figur, des an sie gebundenen Sohns, sowie des älteren Bruders in der Gestalt des Ikarus identifizieren können. In dieser Konstellation spiegelt sich die Fremdbestimmung des Subjekts in der Familiensozialisation, die die libidinösen Energien, das ödipale Triebpotential, an die Mutter bindet und es entfremdet, was in den Versen 10-12 angedeutet wird. In dem anschließenden Verssegment wird weit ausholend dargelegt, wie die Fremdbestimmung der Familiensituation die Selbstentfaltung der Person behindert, ja eigentlich gar nicht möglich macht, weil sie die Potentialität des Seins des gesellschaftlichen Subjekts entscheidend beschränkt. Um das Postulat der Selbstbestimmung der Person in Beziehung zu setzen mit dem Prinzip des universellen Lebenszusammenhangs, greift Volponi auf das philosophische Argument, das Spinoza zugeschrieben wird, zurück,56 nämlich: Ogni determinazione è negazione [S 2, V. 1] – Jede Festlegung ist Negation
und: »Negazione« perché ogni sostanza fuori e dentro la tua stessa stanza è una infinita totalità [S 2, V. 10- 12]
»Negation« weil jede Substanz außer- und innerhalb deines Raums eine unendliche Totalität ist
was auf die gesellschaftliche Totalität bezogen besagt, dass das Individuum in seiner Entwicklung an dieser Totalität teilhat. In Bezug auf die Bindung 55 S. 186- 192. 56 Siehe Igor Tchehoff: Paolo Volponi e il dilemma della scrittura ›carnale‹ (Universität Stockholm) Beitrag aus Internet, pdf- zip 08/11/2006. Der Autor weist in seiner lesenswerten Untersuchung die Formulierung »Ogni determinazione è negazione«, aus S. 2, V. 1, als eine Entlehnung aus Spinoza nach.
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der Gefühle in der Familiensozialisation bedeutet das aber im Gegenteil den Stillstand und die Rückentwicklung des Seins zu seinen Anfängen, der Geburt und an den Ort der Kindheit, was im Text wie folgt formuliert wird: L’amorosa deflagrazione è minacciosa, lesiva … e cade dentro, dans le domaine de la passivité… […] passo che ti riporta indietro giustamente al principio; natività […] [S 2, V. 20- 22, 24- 26]
Die Deflagration der Liebe ist bedrohlich; schädigend … und fällt in den Bereich der Passivität… […] ein Schritt der dich zurückversetzt an den Anfang, die Geburt […]
Die auf die gesellschaftliche Konstitution der Person zielende Argumentation mündet in die Aussage, dass die Familie nicht der Ort der Veränderung des Menschen ist und noch weniger der Ausbildung seines gesellschaftlichen Wesens. Diese Einsicht, zu welcher der Ältere gelangt, ist die Erkenntnis, die er in der 3. Verssequenz in direkter Rede an den Jüngeren weitergibt. Der häusliche Bereich ist eingeschränkt auf die zyklische Wiederkehr und Wiederholung immer der gleichen Verrichtungen, die aus dem Wesen der Natur, alles Natürlichen resultieren. Unter diesen Umständen, in denen der Ablauf der Zeit nicht auf Veränderung zielt, ist er als unerfüllte und verfallene Zeit gleichbedeutend mit dem Tod. »Du musst verstehen«, so der Ältere zu dem Jungen, che l’orto è la morte e che la morte lavora anche la campagna […] che il naturale consuma la tua vita, la tua diversa voglia [S 3, V. 1- 6]
dass der Garten [die Hausarbeit] der Tod ist und dass tote Arbeit auch die Feldarbeit ist […] dass das Natürliche dein Leben aufzehrt, deinen abweichenden Willen
und schließlich, so fügt der Ratgeber hinzu, bist du auch unfähig, dich sprachlich gegen die Ordnung des Hauses zu wehren [S 3, V. 18-22], was die 4. Sequenz wieder aufnimmt mit der Bemerkung Tutto contro di te parla la lingua dell’ordine. [S 4, V. 1- 2]
Gegen dich ganz spricht die Sprache der Ordnung.
Sie ist die Sprache der Moral, die das Sexuelle tabuisiert [S 4, V. 4ff]; und sie ist die Sprache des Gefühls, in der das Mütterliche sich geäußert hat und auf die es beschränkt geblieben ist. [S 4, V. 14-16]. Sie ist aber auch die Sprache, wie die 5. Sequenz weiter ausführt, die das Denken des Bösen – il male – verhindert [S 4,16 und S 5,1], was einschließt, das Übel als gesellschaftliches zu artikulieren. Dem Jungen wird nahe gelegt, das Siegel aufzubrechen, das die Moral der Tabus verschlossen hält und das seine Bedrängnis und seine Leiden verursacht [S 6, V. 4-6], worunter vermutlich auch das Schuldbewusstsein des frühen Subjekts zu zählen ist. 89
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Die nächsten zwei Verssequenzen kehren die moralische Unterweisung des Älteren ins Politische, indem sie an die Wurzeln der Übel rühren, die aus der Familiensozialisation des Jungen resultieren. Verssequenz 7 kommt noch einmal zurück auf die ödipale Fixierung des Triebpotentials des Jungen, die eine Blockierung und Tabuisierung des Liebesbegehrens nach sich gezogen hat, von der der Ältere den Jungen befreien will, indem er dessen Angst aus anderen Ursachen herleitet: Non devi aver paura dei tuoi desideri […] prendine rispetto agli altri la misura dentro la piú grande figura della paura sociale [S 7, V. 6- 7; 10- 12]
Du darfst keine Angst haben vor deinen Begierden […] zu suchen ist das Maß dafür in einer größeren Figur nämlich der sozialen Angst
Das ist die Wendung gegen die Ideologie der Begriffe und Werte einer Moral, gegen die der Ältere jetzt auch empfiehlt, di capovolgere la norma della divinità e di ogni conseguente, umana utilità. [S 7, V. 20- 21]
die Normen des Göttlichen zu verwerfen und jedes menschlichen Nutzens, der daraus folgt
Denn die ökonomischen Verhältnisse haben das libidinöse Triebpotential, das die Familie kontrolliert hat, schon längst ihren eigenen Zwecken unterworfen, als Produktivkraft in der industriellen Produktion. Diese ist das libidinöse Potential, von der Produktion, […] concessa e controllata, la stessa che misura l’orto, e anima il paesaggio feriale e alimenta la fabbrica – poesia:
[…] zugelassen und kontrolliert, dieselbe die im Garten angewendet wird, und die Landschaft des Werktags belebt und die Fabrik unterhält – Poesie:
[S 7, V. 31-34]
Potential auch der Poesie: secondo la regola della produzione come fine a se stesso, sviluppo e destino della produzione economica politica e sociale del lavoro, lavoro- laboratorio anche, dello stanchissimo, indulgente poeta. [S 7, V. 38- 43]
gemäß der Regel der Produktion als Selbstzweck, Entwicklung und Bestimmung der ökonomischen Produktion der politischen und sozialen der Arbeit, Arbeit und Laboratorium auch, des völlig müden, konformistischen Poeten.
Das Triebpotential der Libido, das in jeder Arbeit der Hauswirtschaft verausgabt wird, ist identisch mit der Produktivkraft in der industriellen Produktion und ist schließlich auch dieselbe Energie, die der Dichter der Institutionen in seine Arbeit investiert. Es ist die Arbeit, deren Wert insgesamt der Akkumu90
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lation von Kapital zugute kommt, wie weitläufig in der Verssequenz dargelegt und beschrieben wird. L’orto e la poesia, la fabbrica e la campagna la città e i viaggi, la casa e gli incontri, l’ansia e la cura, la lingua e la parola […] bordel, sono adesso parte del capitale e ciascuno nasce, lavora, canta e muore lungo la catena della pena per crescere e saldarsi nel capitale del capitale. [S 8, V. 1- 3; 7- 11].
Der Garten und die Poesie, die Fabrik und das Land, die Stadt und die Reisen, das Haus und die Begegnungen, die Angst und die Erholung, die Sprache und das Wort […] Junge, sind jetzt Teil des Kapitals und jedes entsteht, arbeitet, singt und stirbt entlang der Kette der Mühen um zu wachsen und sich anzuhäufen im Kapital des Kapitals.
Doch der Wert des Kapitals ist das Gold, von dem es heißt: Ma l’oro cristallizza nel sistema cubico, ha scarsa reattività, non fiata e non muffisce e i cumuli delle sue riserve tolgono spazio e aria a qualsiasi altra forma di vita [S 8, V. 35- 38]
Aber das Gold kristallisiert in der dritten Potenz, hat wenig Reaktionsvermögen, atmet und schimmelt nicht und das Anwachsen seiner Reserven nimmt Platz und Luft jeder anderen Form des Lebens
Dass alles in Kapital umgewandelt werden kann, betrifft schließlich auch die Poesie, der in S 9 als neue Bestimmung zugeschrieben wird, die industrielle Wirklichkeit der italienischen Gesellschaft erkennbar, wenn auch nicht verstehbar zu machen, denn diese, so der Ältere, che con questi versi (se non in poesia) desidero indicarti, bordel, ist zu begreifen come la nuova, piú crudele malattia [S 9, V. 22- 24]
die mit diesen Versen (wenn auch nicht als Poesie) ich dir, Junge, aufzeigen will, ist zu begreifen als die neue, noch grausamere Krankheit
Zu zeigen wäre dieser Aspekt der Gesellschaft, nicht um ihm einen idealen Zustand entgegenzusetzen, sondern um eine Wirklichkeit vorzuführen, die als poetische nicht darstellbar oder begreiflich ist, aber Eingang in die Literatur finden muss. Seine Rede an den Jüngeren beschließt der zur Prosa bekehrte Anwalt der neuen Poesie, die sich gegen die Fremdbestimmung durch das Kapital zur Wehr setzen muss, mit einer Anweisung an die künftige Literatur, die Volponi selbst – als Autor dirigente von Olivetti – namentlich unterzeichnet. In dieser Anweisung wird die Poesie in ihren subjektiven Ansprü-
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chen zwar verworfen, aber als Sprache, die den Wahrheitsgehalt des Wirklichen erkennen und beglaubigen muss, wird sie gerettet. Prendi per buona l’indicazione, salva almeno il verso, il cenno, se vuoi buttare via la poesia come forma di vigliaccheria: un’ennesima, mutata ma sempre uguale fioritura della ripetizione e della morte, struttura e tessitura dell’orto, sfrigolio del passaggio stellare, particella e fase del capitale [S 9, V. 25- 33]
Nimm als guten Rat, rette wenigstens den Vers, den Hinweis, wenn du die Poesie verwerfen willst als die Form der Feigheit: einer sich immer wiederholenden, veränderten aber gleichen Girlande des immer Gleichen und des Todes, Struktur und Gewebe des Gartens, das Geräusch vorbeiziehender Sterne, Partikel und Phase des Kapitals.57
Die negative Charakterisierung des Poetischen in der Rede des erfahreneren Subjekts spiegelt die in dieser Phase gewonnene Distanz zu der mythopoetischen Auffassung der naturverbundenen Existenz des Menschen, die ihren Ausdruck im poetischen Bewusstsein des frühen Subjekts gefunden hatte. An seine Stelle tritt, wie der zitierte Text dokumentiert, ein prosaisches Bewusstsein, das sich einer gesellschaftlichen Wirklichkeit öffnet, deren Anspruch auf Wahrheit aber erst erwiesen werden muss. Der Prüfung dieses Anspruchs, d.h. der Frage, wieweit diese Wirklichkeit auf Wahrheit oder nur auf den Schein der Ideologie gegründet ist, widmet Volponi in der nächsten Phase seines Werks die Prosa seiner ersten Romane.
57 Die negative Einschätzung, die die subjektive Poesie hier erfährt, betrifft in diesen Äußerungen vor allem vier Bereiche: die Gefühle und die Liebe, die häuslichen Dramen, die Himmelserscheinungen und schließlich alles umfassend die Ideologie des Kapitalismus.
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Kapitel 3: Die frühen Romane Die historische Analyse der Nachkriegszeit Die Trilogie der Integration – Aufbruch und Wege in eine neue Gesellschaft Die in La strada per Roma angedeutete Alternative wirft die Frage auf, vor der sich die meisten Länder Europas nach dem Ende des zweiten Weltkriegs gestellt sahen. In Italien stand zur Entscheidung an, ob durch eine neue Verfassung der Weg in eine demokratische Gesellschaft geebnet werden konnte oder ob nach dem Faschismus die Monarchie wieder hergestellt werden sollte. Der Volksentscheid zugunsten der Republik und der Verfassungskompromiss zwischen Kommunisten, Sozialisten sowie Liberalen und Christdemokraten haben diese Entscheidung zugunsten eines demokratischen Neuanfangs vorentschieden. Vielversprechend heißt es in Artikel 1 der neuen Verfassung: »L’Italia è una Repubblica democratica fondata sul lavoro« – »Italien ist eine demokratische Republik gegründet auf die Arbeit«. Doch schon in La strada per Roma, dem Roman, für den Volponi u.a. den Titel La Repubblica borghese vorgesehen hatte, bestand für ihn kein Zweifel mehr, dass die Republik im wesentlichen auf das Kapital gegründet war und dass der Arbeit die Funktion zufiel, dieses zu vermehren; und darüber hinaus, dass die Länder, die für ihren Wiederaufbau die Kapitalhilfe des Marshall-Plans in Anspruch nahmen, in Kauf nehmen mussten, dass 1947 die Kommunisten und Sozialisten aus der Regierungsbeteiligung ausgeschlossen wurden. Für die Generation der Figuren der Romane Volponis, die an die Veränderung der Nachkriegsgesellschaft glaubten, war dagegen die Befreiung von Faschismus und Naziherrschaft mit der Hoffnung auf ein neues Leben verbunden. Diese Erwartung aber wird bitter enttäuscht. Dass es kein Neuanfang war, auf den der Kriegsheimkehrer Albino Saluggia gehofft hat, sondern die Wiederkehr der alten Kommandogewalten in der Wirtschaft und in der Fabrik, ist die historische Erfahrung, die schon im ersten Werk der drei Romanfolgen vermittelt wird. Memoriale ist im Grunde kein Roman des Kriegsheimkehrers im engeren Sinn, denn dafür ist er zu spät erschienen. Er dokumentiert vielmehr die Einführung des Helden Volponis in die Welt der wiedererstehenden bürgerlichen Institutionen, vergleichbar der Figur des Fremden im französischen Existentialismus – und v.a. Camus’ –, worin sich die Erfahrungsdifferenz gegenüber der Normalität dokumentiert. Die Nachkriegszeit verspricht europaweit keinen Neuanfang oder keine Regeneration, sondern signalisiert die Fortdauer der Unterordnung im Ar93
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beitsprozess unter das Kommando der die Produktion beherrschenden Mächte wie schon im Krieg.1 Das angebliche Ende des Kriegs sieht Volponi schon aus der Perspektive des Kalten Kriegs und der neuerlichen Bedrohung durch einen atomaren Konflikt. Die Figuren seiner Romane misstrauen daher der ökonomischen und industriellen Rationalität des »friedlichen« Wiederbeginns des Lebens. Sie verkörpern das Unvermögen der Anpassung an die Verhältnisse in einer zuweilen pathologischen Ausprägung oder einer Form des Eigensinns als Ausdruck ihrer Selbstbehauptung. Sie sind nicht GegenFiguren im Sinne von positiven Helden, sondern einfach nur die Figuren der Negation des Bestehenden, der Nichtung (néantisation) im Sinne Sartres des wiedererstehenden Alten. Zum Ausdruck kommt in ihnen aber auch die agonale Einstellung der Individuen zu- oder gegeneinander, die Sartre in L’être e le néant als ein Phänomen der gesellschaftlichen Existenz in der Periode zwischen den beiden Weltkriegen als kennzeichnend bezeichnet hat. Gemeinsam ist den drei Romanen, dass die Erwartungen ihrer Helden auf einen geschichtlichen Neuanfang gleichermaßen destruiert werden und dass daraus ein Geschichtsverständnis erwächst, das die Kontinuität kriegerischer Auseinandersetzungen auch in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts für absehbarer hält als den Übergang in eine Zeit der Befriedung der Konflikte. Volponi glaubt wie Sartre nicht an deren Ende und sieht im ausbrechenden Korea-Krieg eine erneute atomare Bedrohung der Menschheit, was als Handlungsmoment sein Werk maßgeblich mit bestimmen wird. Was Sartre als den Krieg bezeichnet, der kein Ende gefunden hat,2 mündet in eine Geschichtsperiode, die Eric Hobsbawm noch bis zum Jahrhundertende verlängert und um den Ost-West-Konflikt zentriert,3 in dem sich Kapitalismus und Kommunismus im Kampf um die Vorherrschaft in der Welt gegenüber stehen. Das »kurze Jahrhundert« und sein Konflikt endet nach Hobsbawm mit der Auflösung der Sowjet-Union, die wiederum zusammenfällt mit dem Ende der ersten Republik in Italien, mit dem auch die Geschichtsdarstellung im Werk Volponis zu Ende geht. Die hier angedeuteten Kriterien einer säkularen Geschichtsbetrachtung mit ihren jeweiligen Zäsuren gelten auch für den geschichtlichen Horizont in Volponis Werk, der sich von der Periode des Faschismus und der Nachkriegszeit nach vorwärts bis in die 90er Jahre erstreckt, und rückblickend auf den gesamten Prozess der nationalen Geschichte Italiens. Die Geschichte in der Retrospektive auf die abgelaufene Periode findet ihre Darstellung in den drei im engeren Sinn historischen Romanen Il sipario ducale, Il pianeta irritabile und Il lanciatore di giavellotto.
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Dafür ist die Figur des Ingenieurs Pignotti in Memoriale ein Beispiel [S. 117f.] und später die des Managers Radames in Le mosche del capitale [S. 82- 94]. Jean- Paul Sartre, Situations, III, 64. Die Skepsis in Memoriale ist der Auffassung vom Kriegsende Sartres vergleichbar, wenn er in La fin de la guerre vom Oktober 1945 schreibt: »Ce n’est pas la Paix. La Paix, c’est un commencement. Nous vivons una agonie. Nous avons cru longtemps que la Guerre et la Paix étaient deux espèces bien tranchées […]. Ce n’était pas vrai et nous le savons aujourd’hui.« Hobsbawm, Eric: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhundert. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1998.
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Die frühen Romane
1. M EMORIALE Die Fabrik und die Reintegration des Subjekts in die Gesellschaft
Im Zentrum der Romanhandlung steht Albino Saluggia, geboren 1919 in Avignon, als Sohn einer nach Frankreich emigrierten Arbeiterfamilie, die im Faschismus nach Italien zurückkehrt. Nach dem frühen Tod des Vaters wird seine Lehre durch den Ausbruch des Kriegs unterbrochen und als Soldat schon erfährt er Disziplinschwierigkeiten mit den Vorgesetzten – »Fui accusato di insubordinazione« [23]. Nach dem Kriegaustritt Italiens am 8. September 1943 wird er mit anderen Soldaten der italienische Armee als Kriegsgefangener nach Deutschland deportiert, von wo er mit Tuberkuloseverdacht 1945 heimkehrt in das Haus der Mutter in Candia, dem Ort nahe Turin, wo sich die Fabrik befindet, in der Albino Aufnahme sucht. Auf Empfehlung des katholischen Pfarrers stellt ihn die metallverarbeitende Fabrik zunächst ein, doch wird aufgrund des Tuberkuloseverdachts seine feste Einstellung immer wieder hinausgezögert und abhängig gemacht von den Gutachten der Ärzte des Werks. Albinos erbitterter Kampf gegen die Ärzte und die Fabrikdirektion während der gesamten Zeit seines Arbeitsverhältnisses wird das zentrale Thema des Romans. Dieser Kampf wird von Volponi in jeder Phase realistisch und dem Verlauf der Auseinandersetzung angemessen beschrieben. Aber in diese Darstellung ist maßgeblich auch die Sicht Albinos einbezogen, seine Phantasien und seine Erwartungen von der Arbeit in der Fabrik, denn über weite Strecken ist die Romanhandlung als der Erfahrungsbericht Albinos konzipiert. Die Fabrik ist für Albino der Ort, wo er durch seine Arbeitsleistung wieder Eingang findet in die Gesellschaft, aus der ihn die Kriegsereignisse ausgeschlossen haben. Doch von Anfang an wird ihm deutlich gemacht, dass die Fabrik Arbeitskräfte nicht akzeptiert, die sie für leistungsunfähig hält und als solche deklariert. Doch Albino besteht auf seinem Recht, beteiligt zu bleiben am Arbeitsprozess und bestreitet mit aller Energie die Argumentation der Ärzte, die ihn davon ausschließen wollen. Der Konflikt, der sich abzeichnet, wird, sobald es um die Ansprüche auf ein Recht auf Arbeit geht – das in der Verfassung ja nicht verankert ist –, auf eine Ebene der Darstellung gehoben, wo die Handlungsweisen der Kontrahenten nicht mehr an den praktisch geltenden Rechtsverhältnissen zu messen sind, sondern an Ansprüchen und Erwartungen des Subjekts, die im Arbeitskampf geltend gemacht werden müssen. Und aus dieser Sicht ist die Darstellung der Geschichte des Albino Saluggia nicht mehr primär realistisch, d.h. nur an den Fakten orientiert, sondern die Darstellung eines Konflikts zwischen sich bekämpfenden Rechtsansprüchen, der im Roman Volponis ausgetragen wird als der allegorische Kampf zweier Prinzipien, die gesellschaftlich im Widerstreit miteinander stehen. Die Hartnäckigkeit, mit der Albino auf seinem Recht besteht – auch gegenüber der Mutter, mit der er in dem ihr verbliebenen Haus lebt – erklärt sich nicht allein aus der Erwartung des Heimkehrers auf die Wiederaufnahme in der Gesellschaft, sondern auch aus der Absicht des Autors, den Ort der Fabrik als eine Produktionsstätte darzustellen, in der auch die Arbeiter an der Gestaltung der Produktionsverhältnisse Anteil haben. Die Allegorisierung der Geschichte vom Arbeiter Albino Saluggia, d.h. das allegorische Verständnis des Textes, öffnet die Sicht auf eine 95
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Erfahrung, in der exemplarisch der Bedeutungsumfang dessen illustriert werden kann, was unter dem Begriff der Fabrikarbeit zu verstehen ist. Die Geschichte Albinos ist die eines Arbeiterkinds aus einem vorwiegend katholischen ländlichen Milieu, in dem die Kirche über den örtlichen Pfarrer Einfluss ausübt auf die ökonomischen Verhältnisse der Familien, ihnen die Glaubensgewissheit vermittelt, in der Obhut der göttlichen Vorsehung zu stehen, der Provvidenza, die im zivilen Leben der christlichen Fürsorge überlassen ist. So äußert Albino bezüglich seiner Krankheit: nur die göttliche Vorsehung und mein christlicher Glaube haben mich bis heute in meinen Schmerzen aufrechterhalten und führen noch meine Hand in diesem Schreiben. [71]
Ins Politische umgesetzt entspricht das dem Bekenntnis: Ich habe immer christdemokratisch gewählt aus Respekt vor der Kirche, die mich nie im Stich gelassen hat, auch nicht in der Gefangenschaft […]. Ich glaubte den Menschen meiner Herkunft nicht, oder schlimmer noch denjenigen der anderen Parteien, die viel Aufhebens von sich machten. Ich dachte, dass der Mensch Autorität erwerben musste, um schlicht besser zu werden und seine eigenen Schwächen gegen die Widrigkeiten der Bösen abzulegen, gütlich und mit Vernunft […] [5].
Aus den biographischen Daten werden schon die zwei dominierenden thematischen Verknüpfungen der Erzählung erkennbar, die Fabrikarbeit und die Erwartung gesellschaftlicher Integration einerseits, sowie andererseits der Sozialisationsverlauf in der Familie, die Albinos Aufbruch ins Leben im Haus der Mutter blockieren. Die Rückkehr in die Gesellschaft des Kriegsheimkehrers und die Einstellung in der Fabrik sind in der Vorstellung Albinos gleichbedeutend mit dem Beginn eines neuen Lebens. Der mehrmals wiederkehrende Begriff der »nuova vita« oder »vita nuova« [20, 23, 52], in dem sich erstmals im Werk Volponis der Einfluss Dantes dokumentiert, weist über das Biographische hinaus auf die Erneuerung des gesellschaftlichen Lebens in Italien generell – in dessen Konfiguration das Leben Albino Saluggias zu sehen ist. Vorwegnehmen müssen wir, im Hinblick auf die biographischen Daten des Lebensverlaufs Albinos, dass dessen Kampf gegen die Hierarchien der Fabrik und die über seine Gesundheit befindenden Ärzte für diesen nicht erfolgreich verläuft, weil er abgeschoben wird in die für ihn erniedrigende Funktion eines Pförtners am Fabriktor, dass aber damit gleichzeitig die radikale Veränderung seines Glaubens an die ›fürsorgliche‹ Rolle der Fabrik in der Gesellschaft einhergeht und er den Streik der Arbeiter, den er anfangs auf der Seite der Arbeitgeber ganz und gar abgelehnt hat, am Ende nicht nur unterstützt, sondern auch aktiv an dessen Durchführung teilnimmt und deshalb fristlos entlassen wird. Das schildert in gedrängter Kürze das nachgeschobene Ultimo capitolo, in dem der Streikaufruf vom 6. Mai 1956 die Forderungen enthält und proklamiert, die Albino in seinem Kampf gegen die Fabrik aus eigener Erfahrung als die seinen erkennt. Vom Flugblatt des Streikaufrufs äußert er:
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Die frühen Romane Ich bewahre dieses Blatt auf und habe es kopiert, um die Wahrheit zu zeigen. Damals hielt ich diesen Aufruf in meinen Händen und es schien mir, als ob ich ihn geschrieben hätte, Wort für Wort, in soviel Jahren des Kampfs in der Fabrik, mit jedem der heiligen Worte, zerknittert und schwarz, die aus meinen Nächten und meinen Gedanken hergekommen sind. [209]
Der Kampf Albinos gegen die Fabrik, ihre Leitung und ihre Ärzte, wird an seinem Ausgangspunkt ausgelöst und motiviert durch die Krankheit, die – nach dem Ermessen der Ärzte – seiner Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess im Wege steht. Das Problem der Integration der Marginalisierten wird hier zurückverlagert auf die Ebene der Sozialisation und der Familie, die dafür zuständig ist. Sie muss in ihren Schoß zurücknehmen, was im Arbeitsprozess nicht tauglich ist. Und das bedeutet – aus der allegorischen Sicht der Erzählung –, dass Albino aus der Fabrik, dem Ort produktiver Tätigkeit, verbannt, in das Haus der Mutter zurückkehrt und untätig in der Abhängigkeit der anderen verbleibt, was der Romanausgang auch zeigt. In der topographischen Gegenüberstellung von Haus und Fabrik spiegelt sich das Psychodrama in der Konfrontation von Arbeit und Krankheit und in der Zuspitzung des Konflikts die Beziehung zwischen der Entfremdung der Arbeit und den Sozialisationsschäden der Familie. Aus der Sicht der Erwartungen Albinos am Romananfang erscheint die Fabrik als eine Stätte quasi sakraler menschlicher Tätigkeit, »wie eine Kirche oder ein Tribunal« [11]. Wird diese Einschätzung im Laufe der Erfahrungen, die Albino machen muss, auch erschüttert, so bleibt doch davon unberührt die Wertschätzung der Produktivkraft, d.h. der Arbeit, die in der Fabrik geleistet wird. Bis zu einem gewissen Grad trifft das auch auf den Aspekt der Resozialisierung zu, d.h. die Reintegration des Ausgeschlossenen in die Gesellschaft, seine Anerkennung als ›gesellschaftliches‹ Individuum. Denn im Prinzip ist die Fabrik der Ort der vergesellschafteten Produktion,4 der solidarischen Kooperation der Arbeiter, die das Beispiel der beiden Bagger (der scavatrici) illustriert, die sich gegenseitige Hilfe leisten.5 Dieser Aspekt produktiver Arbeit ist die Grundlage schließlich der Ausbildung eines Bewusstseins der Arbeiter, am Produkt der Arbeit beteiligt zu sein und damit Anerkennung zu finden als Subjekte in der Gesellschaft, in die sie integriert werden. Die Arbeit in diesem Sinn ist für Volponi ein Moment der Resozialisierung, in der die Defizite der Primärsozialisation aufgefangen werden. Albino kommentiert diesen Aspekt in folgender Äußerung:
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Die Beschreibung einer solidarischen Kooperation der Arbeiter in der Fabrik findet sich aus der Sicht Albinos an verschiedenen Stellen seines Erfahrungsberichts, wobei darin auch die kreative Funktion des einzelnen Arbeiters zur Geltung kommt, was Gramscis Analyse der kreativen Fähigkeiten der Arbeiter im Produktionsprozess bestätigt. Entsprechende Äußerungen Albinos Passagen daraus werden wir noch zitieren [42- 43]. Cf. S. 68- 69; Die Anekdote der Maschinen ist ein exemplum und hat in der Erzählökonomie Volponis den Wert eines Apologs, der in die Erzählung eingestreut, eine neue narrative Dimension eröffnet. Dasselbe gilt von den narrativen Momenten oder Figuren des indiano und des scarpone [cf. S. 25 f.].
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte Ich dachte mit Freude, auch wenn ich nicht glaubte, dessen würdig zu sein, dass ich Teil war einer so starken und schönen Industrie, und dass ihre Stärke und ihre Schönheit auch meine waren, imstande, mir zu helfen und mir Wärme und Licht zu geben wie die Fabrik. [42]
Im Gegensatz zu diesen positiven Äußerungen über die Fabrikarbeit, die eher einem Wunschzustand entspricht, dominieren im Erfahrungsbericht Albinos die Einschätzungen, die die Arbeit in der Fabrik fast einhellig in einem negativen Licht zeigen. Dass diese in Wahrheit ganz anderen ökonomischen Zielen und Interessen dient als der Sozialisierung ihrer Arbeiter, fasst eine Äußerung des Vorarbeiters Grosset zusammen, der Albino helfend zur Seite steht und auf die Bemerkung des Pfarrers, dass man doch nicht von Krieg in der Fabrik sprechen könne, auf die Geschichte der Fabrik in der Zeit des Faschismus zurückgreift, wo die Produktionsweise militärischem Kommando und die Arbeit militärischer Disziplin unterstellt waren, was sich, worauf Grosset verweist, nicht wesentlich geändert hat, wenn ehemalige Faschisten in der Fabrik wieder leitende Funktionen inne haben.6 Aus der Äußerung Grossets, die den militärischen Charakter der Arbeit in der Fabrik anspricht und die Kommandostruktur im Verhältnis von Fabrikleitung und Arbeitern hervorhebt, wird deutlich, was Albino dann als die Entfremdung des Arbeiters gegenüber der von ihm geleisteten Arbeit in der Fabrik erfährt, nämlich dass die Arbeit, die den Arbeiter sich selbst entfremdet, ihn zum Eigentum der Fabrik werden lässt. Diese Einsicht, zu der Albino in einer Art Selbsterkenntnis in seinem memoriale gelangt, könnte man als die wesentliche Erkenntnis aus der Geschichte verstehen, in der Volponi in seinem frühen Romanwerk die Figur des Arbeiters darzustellen beabsichtigt hat. Das soll aus den folgenden Äußerungen Albino vertieft und erläutert werden, worin zugleich aber zaghaft oder nur in Stichworten eine Wendung in der Argumentation Albinos angedeutet wird, in der die Fabrik im Licht einer anderen Produktionsweise gesehen wird, nämlich wie Volponi sie dann in seinem Roman La macchina mondiale, darstellen wird, bezogen auf die Arbeit generell, in dem von Anteo verfassten Traktat. Ganz allmählich – fast unmerklich – wechselt in Albinos Rede über die Arbeit in der Fabrik die Einstellung des Subjekts zu seinem Gegenstand, von der realen zur Perspektive einer noch zu realisierenden Produktionsstätte. Erst jetzt begreife ich, dass die Probleme des Arbeitslohns, des Akkords, des Platzes, wo man ist, relativ gering zählen und nicht die sind, die über unser Leben in der Fabrik entscheiden. Das Wichtige ist, dass die Fabriken, wie sie heute sind, langsam bei allen, die darin arbeiten, das Gefühl ersticken, auf dieser Erde
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Zu der oben angesprochenen Bemerkung des Pfarrers äußert Grosset erregt: »Doch! Sie ist der Krieg […] Sie ist im wahrsten Sinne der Krieg und Pignotti würde uns arbeiten lassen mit dem Knüppel, wenn er nur könnte. Bis zu welchem Punkt sind wir in wenigen Jahren zurückgefallen. Der werte Ingenieur Pignotti schien unmittelbar nach dem Krieg das sanfteste aller Lämmer, am Ende half er uns sogar, Maschinenpistolen herzustellen. Man sieht, dass alle alten ehrgeizigen Gewohnheiten ihn wieder heimgesucht haben. Er will kommandieren, kommandieren um jeden Preis. Es herrscht wirklich Krieg; solange die Fabriken nicht allen gehören, gibt es darin keinen Frieden. Und auch dann muss man noch auf der Hut sein.« [118]
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Die frühen Romane zu sein, allein und zusammen mit anderen und allen Dingen der Erde. So vergisst man, welches die Bestimmung der Menschen ist und an seine Stelle tritt ein immer zunehmender Stolz bezüglich der Organisation, der man angehört, hinsichtlich der Maschinen und des Räderwerks, die fähig sind, Dinge zu produzieren, die noch nie gesehen und vom Menschen gedacht worden sind. Man könnte sogar dahin gelangen zu denken, mit einer gewissen Überzeugung, dass es den Menschen gelingen wird, anders zu werden – in ihren Geschichten und ihren Gefühlen – und andere Schlussfolgerungen zu ziehen als die, sich zufrieden zu geben, gut zu leben, alle zusammen und frei. Man könnte soweit gehen, an einen Menschen zu denken, der nicht mehr nach dem Ebenbild Gottes geschaffen ist, auf seiner Erde; sondern ähnlicher der Maschine und gebunden an sie, eben eine andere Rasse. Ich kann, an diesem Punkt angelangt, wohl sagen, nachdem ich so viele Wege versucht habe, in und außerhalb der Fabrik, und nach so vielem schmerzlichen Scheitern, dass das Problem das der Industrie im allgemeinen ist, angefangen von ihren Städten und Wohnvierteln bis zu den Zügen und Autobussen, die sie bedienen […]. [121- 22]
In Albinos Erklärung mischt sich die Kritik an den wirklichen Zuständen in der Fabrik, die am Anfang und am Ende wieder in die Klagen über die Fremdbestimmung der Existenz der Arbeiter mündet, mit der utopischen Erwartung einer Daseinsweise des Menschen auf dieser Erde, die nicht mehr belastet ist mit der Hypothek des »Ebenbilds Gottes«. Hier spricht schon der Anteo der »Welt der Maschinen«, dem Volponi in seinem gleichnamigen Werk seine Stimme leiht, derselbe Volponi aber auch, der dann in Le mosche del capitale die Defizite der Industrie generell denunziert, die zerstörend eingreift in das Leben der Zivilgesellschaft. Widersprüchlich bleibt in dieser Rede dennoch eine gewisse Inkohärenz oder der unvermittelte Übergang von einer Position zur anderen. Was der Fabrik als Tendenz angelastet wird, über die Natur zu herrschen und den Menschen seiner »Natur« zu entfremden, wird auf der anderen Seite als ihre Leistungsfähigkeit und ihr Vermögen gesehen, den Menschen zu verändern, ihn von der Bindung an die göttliche Vorsehung zu befreien. Kritik und Wertschätzung der Fabrik gehen ineinander über, was auf den Bereich der Industrie insgesamt ausgedehnt werden kann. Zu folgern ist daraus, dass der Industrie als dem umfassenden Bereich aller Arbeit – und insbesondere der Fabrikarbeit – eine Funktion zugeschrieben wird, die nach Volponi für die gesellschaftliche Reproduktion alles Lebens entscheidend, d.h. unverzichtbar ist, dass sie daher in die Bahnen gelenkt werden muss, in der diese Funktion auch den Menschen und sein Verhältnis zur Welt verändert. Im Widerspruch zur Entfremdung des Arbeiters in der Fabrik klingt in der zweiten Hälfte des Zitats ein Motiv an, das zum beherrschenden Thema in Macchina mondiale werden soll, nämlich die Utopie einer Mutation des Menschen in seiner Angleichung an die Welt der Maschinen. Diese neuerliche Allegorisierung setzt voraus, dass die Begriffe dieser Veränderung in den handelnden Figuren verdeutlicht oder konkretisiert werden, was im Ansatz schon in Albinos Träumen von der Arbeit vorweggenommen wird, die den Arbeiter als Kollektiv zum Subjekt der industriellen Funktion werden lässt. Das soll das folgende Zitat verdeutlichen, das die Fabrikarbeit der Feldarbeit vergleicht, in der sich das Subjekt verwirklicht, bezogen aber jetzt auf die Güterproduktion.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte Die Arbeit ging gut voran, […] meine und die der anderen […]; in bestimmten Momenten […] spürte ich, wie unsere Arbeit das Eisen der Fabrik [umwandelte], wie der Traktor, der die Erde pflügt […]. Und es schien mir, dass ich es war, der pflügte und lenkte; dass die Stärke des Lärms und der Ertrag der Arbeit von der Beschleunigung abhing, die von meiner Arbeit herkam: wenn ich beschleunigte, beschleunigte sich das Tempo der ganzen Fabrik und wenn ich verlangsamte, spürte ich, wie übereinstimmend etwas aussetzte von der Arbeit aller […]. [4243]
Der aufeinander abgestimmte Ablauf der Arbeitsverrichtungen, der hier zum Ausdruck kommt, und der die Effektivität der Arbeit bewirkt, kann verglichen werden mit der Kooperation der beiden Baumaschinen, die vorangehend den Begriff der Solidarität im Arbeitsprozess illustrierten. Die Fabrikarbeit dagegen beruht auf einer ganz anderen Mechanik, nämlich der gleich bleibenden Wiederholung ein und derselben Bewegungen gemessen an der anzufertigenden Stückzahl von Teilelementen. Albino muss erkennen, dass die Arbeit an der Maschine nicht seinen Vorstellungen von einer Kooperation aller an einem gemeinsam geplanten Arbeitsprodukt entspricht, dass die Arbeit für die, die ihr unterworfen sind, keinen Wert repräsentiert sondern allein noch den Verlust an Lebenszeit. Die heutigen Fabriken, so Albino, zwingen die Menschen, sich den Institutionen, die sie beschäftigen, als zugehörig auszuliefern, sie der Natur zu entfremden, die ihr Leben bisher bestimmte. Dass aus diesen Äußerungen die ländliche Herkunft Albinos spricht, wird noch deutlicher, wenn er als gläubiger Katholik argumentiert, der sich noch immer unter dem Schutz der »divina Provvidenza« wähnt [71]. Die Entfremdung des Arbeiters in der Fabrik besagt aus dieser Sicht, dass die Fürsorge aus der Hand Gottes in die Kommandogewalt der Fabrik übergegangen ist. Dieser zuweilen naive Ton der Rede Albinos darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich darin die Argumentation Volponis gegen eine Industrieentwicklung äußert, die sich nicht an den Bedürfnissen der Menschen sondern am Markt orientiert und bestrebt ist, die Arbeitskraft auf die Funktion von Maschinen zu reduzieren.7 Hingewiesen haben wir aber auch schon auf den Doppelsinn der Maschine im Zusammenhang mit dem Begriff der Arbeit, worin die maschinengesteuerte Präzision eine Art solidarische Koordination der Bewegungsabläufe versinnbildlicht, was das schon zitierte Beispiel der zwei Baumaschinen illustriert8 Mit dem Wechsel der Perspektive, der sich im Wahrnehmungsprozess Albinos vollzieht, schwindet zunehmend das Vertrauen in eine göttliche Vorsehung, die in den Augen des Heimkehrers als gesellschaftliche Fürsorge erschienen war, angesichts der Probleme um die Durchsetzung seines Rechts im Kampf mit der Fabrik. Dabei wird von wachsender Bedeutung, wie in der Wahrnehmung Albinos die Fabrik als Ort der Ökonomie im Verhältnis zur 7
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Gramsci beschreibt das in Amerikanismus und Fordismus, in Quaderni del carcere. Hg. von Valentino Gerratana, Einaudi, Heft 22, S. 2139- 2181 und Chaplin illustriert das in seinem Film Modern Times. Zwei Bagger arbeiten nebeneinander an Erdausgrabungen. Als die eine Maschine sich in der Erde festfährt, kommt ihr die andere zu Hilfe und macht sie wieder funktionsfähig. »Ich verstand, dass die eine der anderen half und dass sie zusammen Kräfte entwickelten in derselben Richtung.« [69]
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Zivilgesellschaft gesehen wird. Die Sekundärliteratur hat wiederholt darauf hingewiesen, dass die Helden der frühen Romane bis einschließlich Corporale neurotische Figuren seien; ihnen wird aber, wie wir meinen, in der Erzählstrategie Volponis die Funktion zugeschrieben, eine Wirklichkeit sichtbar zu machen, die mit normalen Augen nicht wahrnehmbar ist, eine Funktion, die in zweifacher Hinsicht von Bedeutung ist, zum einen nämlich, den Helden in seinen Defiziten als geschädigt zu zeigen aus seiner zeitbedingten Biographie, und zum anderen, aus seiner Wahrnehmung die Wirklichkeit ihres ideologischen Scheins zu entkleiden und diese als Bestandteil der kapitalistischen Entwicklung der Nachkriegszeit zu sehen. Die Fabrik wird aus der Sicht des gereiften Albino als Disziplinierungsmechanismus gesehen, den Kommandostrukturen in der Armee vergleichbar, denen er als Soldat ausgesetzt war. Die Ordnung der Dinge, die die Fabrik bestimmt, findet in der Ordnung der Sprache, die sie spricht und durchsetzt, ihre Entsprechung; und gegen diese wehrt sich Albino in erster Linie. Den sprachlichen Kampf gegen die so genannte Evidenz des Tatsächlichen legitimiert der um seine Selbstbestätigung ringende Albino, indem er auf die Erfahrungen zurückgreift, auf die er die Reflexionen über seine Wahrnehmungen stützt. Für Volponi gibt es zwei Arten der Wahrnehmung, die den zwei Bewusstseinsformen des frühen Subjekts entsprechen und hier wieder aufgenommen werden: die poetische und die pragmatische, in denen sich abwechselnd Albino die Wirklichkeit darbietet. Die poetische Wahrnehmung orientiert sich an der Sicht der Dinge, wie diese sich dem ruhenden Blick darbieten, der an ihnen haften bleibt, wogegen das pragmatische Sehen in Verfolgung praktischer Zwecke über die Dinge hinweg geleitet und sie in ihrer Eigenbedeutung gar nicht wahrnimmt. Diese Unterscheidung wird im Folgenden grundlegend, weil sie wie hier die Wahrnehmung des Tatsächlichen als wirklich oder wahr in Frage zu stellen oder als ideologischen Schein zu entlarven ermöglicht Albino, im Zug sitzend und aus dem Fenster blickend, lässt, was er sieht, an sich vorüberziehen, ohne ihm Aufmerksamkeit zu schenken. Diesen Vorgang, in dem der Blick zunächst teilnahmslos über die Dinge hinweg geleitet, bis er unvermittelt auf einen Gegenstand trifft, auf dem er auf der Suche nach seiner Bedeutung wie gebannt haften bleibt, beschreibt die folgende Passage, die wir in ganzer Länge zitieren . Jedes Ding erschien an seinem Platz und ging vorüber, indem es den Platz dem nächsten überließ. Alles zog vorbei ohne große Bedeutung; nicht wie in anderen Fällen, wo ich mich nicht loslösen konnte vom Anblick einer Pflanze oder einer Landschaft, auch wenn der Zug schon längst vorüber war, was mich schmerzte, als ob mit der Entfernung mein Körper losgerissen würde und meine Augen dort zurückgeblieben wären. Nach so viel Mühen kam ich in X an, indem ich bedrückend die Dinge in jener schmerzlichen Erinnerung bewahrte, die ich wenig vorher nur kurz erblickt und nicht verstanden hatte […]. [189]
Diese Beschreibung, so könnte man sagen, liefert einen weiteren Schlüssel zum Verständnis der Sprache der Poesie als eines Systems von Zeichen, wie sie uns schon in der frühen Lyrik begegnet ist. Zugrunde liegen diesem Me-
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chanismus die von den Avantgardisten praktizierten parole in libertà,9 die sich der eigentlichen oder neuen Bedeutungen bemächtigen, die in den alten Wörtern nicht enthalten sind. Erkennbar wird hier, dass das Poetische darin besteht, die Dinge zur Sprache zu bringen, die aus der Masse der Wahrnehmungen von spezifischer Bedeutung sind. Die Bilder, die in Albinos Gedächtnis haften bleiben, werden mit in die Welt der Arbeit herüber genommen, wo sie mit der Wirklichkeit kontrastieren oder verblassen. So fallen einem Wortspiele und Kehrreime ein. […] Es kamen mir Gedichte in den Sinn […], ich merkte aber, dass sie [die zitierte Poesie] ganz ohne Sinn war und dass der Sinn nicht in den Wörtern war, sondern in einer dunklen Ecke in mir, die ihnen die faszinierende Resonanz gab. Aber im selben Moment, wo ich die Wörter fallen ließ, schwoll diese dunkle Ecke an und wurde Schmerz. [193]. So lief ich hinter den Wörtern her: ihr Klang zählte mehr als alles andere, mehr als ihr Sinn, und ich begann sie zu ordnen, sie zu suchen oder zu erfinden allein wegen ihres Klangs, ohne die Ordnung ihrer Bedeutung und ihrer Gedanken. Aber so offenbarte sich mir eine andere Ordnung, voller Emotionen und die meiner Sprache angemessener war. [196]
Die Schmerzen (»sofferenza«), die oben erwähnt werden, sind vermutlich im Zusammenhang zu sehen mit den geschichtlichen Erfahrungen, die der Verfasser des Memoriale gemacht hat und die zurückführen in die Familiengeschichte, zu der wir am Ende unserer Analyse noch einmal zurückkehren. Albino Saluggia streut in seinen Bericht vom Kampf mit der Fabrik Bruchstücke einer Erzählung ein, die mit dem schon zitierten Begriff des Freudschen Familienromans zu kennzeichnen wäre, die aber auch Elemente der ebenfalls schon charakterisierten Familientragödie des Ödipus enthält. Albino ist früh schon vaterlos in der Obhut der Mutter aufgewachsen, aber im Verhältnis zur Mutter jetzt in eine für ihn bedrohliche Krise geraten. Zu Hause bin ich auch mehr allein, weil meine Mutter sich jeden Tag mehr von mir entfernt und die Momente ihres langen Schweigens zunehmen. […] Meine Mutter blickt mich manchmal an, als ob sie mich nicht wieder erkenne, und statt mir Hilfe zukommen zu lassen und mich zu stärken, weint sie und versteckt sich. […] Mir bleibt nur noch der Kampf, den ich für den Sieg der Gerechtigkeit führe, denn, wie die Dinge stehen, glaube ich nicht mehr, dass ich über meine Leiden siegen werde. Ich möchte die Betrugsmanöver entlarven, die Schuldigen aus Gründen der Gerechtigkeit denunzieren, für die ich mich als Rebell aufopfere. [15/16]
Dieser Beschreibung wäre zu entnehmen, dass die mali – die Übel, die er im Krieg mit der Fabrik bekämpft, im Grunde die gleichen sind, die ihm im Verhältnis zur Mutter begegnen, wobei es da um die Anerkennung seiner Existenz und seiner Person geht. Und diese Anerkennung verbirgt sich begrifflich in der »giustizia«, dem Begriff, der auf beiden Ebenen die umstrittene Sache in der allegorischen Darstellung bezeichnet. 9
Gemeint ist die Freiheit der Wörter in ihrer Folge im Satz oder im Textverlauf. Siehe dazu Marinetti, Filippo Tommaso: »Manifesto tecnico della letteratura futurista« von 1912, in: Francesco Grisi (Hg.), I futuristi, Rom: Newton Compton Editori 1990.
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Was die Vater-Figur in Memoriale betrifft, so könnte man sie in zwei Gestalten wiedererkennen, wobei der leibliche Vater, früh verstorben, darunter nicht figuriert. Einerseits in dem schon genannten Vorarbeiter Michele Grosset, der Albino in seinem Kampf mit der Fabrik solidarisch zur Seite steht, und andererseits in dem nicht näher charakterisierten Steuermann des Kahns, der Albino nachts, als dieser sich auf dem nahe gelegenen See verirrt, wieder sicher ans Land geleitet und dann spurlos verschwindet. Der Mann mit dem Boot näherte sich mir und sein Gesicht blieb verdeckt, weil er sich bückte, um mit mehr Kraft zu rudern; er erschien als Unbekannter und blieb es auch, als ich sein Gesicht sehen konnte, entgegen aller unsinnigen Hoffnung, die sein Geheimnis gerade, zusammen mit der Hilfe, die er mir leistete, in mir entstehen lassen hat. Es war niemand von den Menschen, die in meinem Leben mir geholfen haben oder mir hätte helfen können. [173] Hinter ihm stehend betrachtete ich seinen Rücken den Geruch seiner Wolljacke einatmend, ein väterlicher Geruch. [174]
Aus den Äußerungen Albinos wird zunehmend erkennbar, dass seine Leidensgeschichte, die immer mehr auch der Ödipus-Thematik im Sinne Freuds ähnlich wird, schon in der Familiensozialisation ihren Ausgang genommen hat; mit der Bindung an die Mutter, die Albino noch als alternde Frau und Alkoholikerin in der idealisierten Gestalt seiner Kindheit in Erinnerung hat, wobei diese Erinnerung belastet ist mit der Erfahrung der sexuellen Beziehung der Mutter zu einem anderen Mann – ein Motiv, das bezüglich der Ödipus-Symptomatik dann Il lanciatore di giavellotto in seiner grundlegenden Bedeutung illustrieren wird.10 Die durch die Mutter vermittelte leidvolle Erfahrung motiviert die Berührungsangst gegenüber der Frau, die begehrt wird, aber als tabu unberührbar ist.11 Während seines Aufenthalts im Sanatorium wehrt Albino die nächtlichen Versuche von Frauen, die versuchen, Kontakt mit den Männern aufzunehmen, ängstlich ab; er hofft dagegen, die Bekanntschaft mit Vera anknüpfen zu können, deren Namen ihm Vertrauen einflößt und mit der er ein »neues« Leben anzufangen hofft. Eine andere junge Arbeiterin, namens Giuliana, in die er sich verliebt und der er eines Tages auf ihrem Weg nach Hause folgt, wird von ihrem Freund in einem Straßengraben geradezu vergewaltigt, eine Szene, die Albino an die Erfahrung der vermutete Geschlechtsbeziehungen der Mutter erinnern könnte. Die Macht der mütterlichen Imago – als Gefahr, wie im Bild des Sees, oder als Geborgenheit – ist 10 Die negative, leidvolle Erfahrung mit der Figur der Mutter kleidet Albino in seiner Apostrophe an sie in die Worte: »Liebe Mama, – weinte ich,– du hast mich aufgeklärt. Du hast mir alles gesagt über die Betrügereien der Frauen. Du, die darüber Bescheid weißt. Neben dir ist mein Zimmer, mein wirkliches Bett.« [86] – Und bezüglich der Beziehung zu ihrem Liebhaber: »Du sagtest mir, dass ich zu Bett gehen solle und ich fühlte in mir, dass du mit ihm zusammen bleiben wolltest, dass er dich zum Sprechen und Lachen brachte. […]. Ich hätte gern spioniert; aber ich hatte Angst, dass mir das, was ich dachte, von der Wirklichkeit bestätigt würde.« [87] 11 Ein ebenfalls wiederkehrendes Motiv im Werk Volponis, wie z.B. in La strada und in Il lanciatore di giavellotto.
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und bleibt in der Beziehung Albinos zum weiblichen Geschlecht vorherrschend; das zeigt sich noch einmal in der Episode des Romans, in der Albino gegen die Ärzte der Fabrik Zuflucht bei einem Wunderheiler sucht und sich bedenkenlos der Obhut einer Frau anvertraut, in der er die mütterliche Liebe und Geborgenheit wiederzufinden glaubt, die aber von Anfang an als die Gehilfin des betrügerischen Wundedoktors zu erkennen war. In einem Traum erst erscheint sie ihm als eine Truggestalt, die das alte Trauma wiederbelebt und Albino jäh aus seinen Träumen reißt: Aber dann war es nicht sie, es war eine unbekannte Frau, die mir Zeichen machte, ihr zu folgen [142] – Am Ende des Traums hatte ich deutlich die Angst, dass sie mich täuschen würde mit einem anderen Mann. [143]
Von Interesse ist, in welcher Beziehung die Leidensgeschichte des Protagonisten dieses Romans zu der Geschichte steht, die ihn als Helden im Kampf mit der Fabrik um seine Anstellung zeigt. Zu erinnern wäre zunächst daran, dass Volponi die Geschichten oder Erzählungen, die er der Darstellung der gesellschaftlichen Verhältnisse widmet, wie in den Romanen bis Corporale einschließlich, im Zusammenhang sieht und behandelt mit den Geschichten der Sozialisation seiner Helden und zumeist auch ihrer Familien. Das besagt, dass er die Lebensverläufe der Figuren nicht als die Szenen des privaten Lebens betrachtet, losgelöst von ihrer Bindung an das Gesellschaftliche, die Ökonomie, die Kultur, die Politik. Die Familiensozialisation wird vielmehr stets im Zusammenhang gesehen mit dem Gesellschaftlichen und dieses mit der Geschichte der Epoche, die daraus resultiert. Es geht in Memoriale darum, die Komplexität der Beziehungen sichtbar zu machen zwischen Fabrikarbeit und den ökonomischen Bedingungen der Familiensozialisation, um die Interdependenz dieser Bereiche und die Konflikte zwischen ihnen als Fundament des Gesellschaftlichen in seiner Totalität. Die Entwicklung der Industriethematik in seinem Werk spiegelt diese strukturellen Verhältnisse und ihre Veränderungen und bezieht zunehmend größere Bereiche in die Darstellung ein, wie die Politik in Corporale, die Zivilgesellschaft in den Romanen zur Geschichte Italiens, schließlich in Le mosche del capitale den Kampf um die Industrie in der Endphase der ersten Republik. In Verbindung mit der Thematik des Subjekts der Familiengeschichte und seiner Wahrnehmung der gegenständlichen Realität kehren wir noch einmal zurück zur Problematik der Sprache in Memoriale. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass die Wahrnehmung Albinos nicht übereinstimmt mit der Ordnung der Wörter, die das Wahrgenommene bezeichnen, dass also eine Diskrepanz besteht zwischen Sehen und Begreifen (i.S. des Übergangs vom »Begreifen« zum »Begriff«), was für Albino zum Problem wird und als Entfremdung in der sprachlichen Sozialisation des Subjekts zu verstehen ist. Zurückzuführen ist diese Dysfunktion auf die im Wahrnehmungsprozess beteiligten Momente: das Sehen des Gegenstands – das Erkennen einer Gestalt – die Verbildlichung der Gestalt – und schließlich das Denken, das sie in ein Begriffsschema einordnet. Diesen Momenten entsprechen sprachliche Operationen, die als Kategorien der Textkonstitution die Abbildung oder Darstellung von Wirklichkeit gewährleisten. Die Wahrnehmung im Stadium des reinen Sehens sind die Momente, in denen Albino im fahrenden Zug ohne Anteilnahme die Landschaft an sich vorüberziehen lässt; die Phase des Erken104
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nens einer Gestalt repräsentieren die Umrisse des Indianers »indiano« und des Bergstiefels »scarpone« [25-26], Konturen, die sich in den Rissen einer Mauer als Gestalten den Blicken des jungen Albino eingeprägt haben, ohne dass sie schon als Bilder eine bestimmte Bedeutung erlangen; dass sie die Motive sind zur Bildung kleiner Geschichten – a creare tante favole e storie [25] –, ermöglicht und konstituiert die Überleitung der Wahrnehmung in die Bildschöpfung (die Verbildlichung), die in der Textherstellung bei Volponi eine bedeutende Stilfigur ist. Dass sich eine Vision oder der Anblick der Dinge zu einem Bild formt, ist dem Moment zu verdanken, in dem die Dinge sich zu einem Ensemble zusammenschließen – bei Volponi oft in Bildern dargestellt, die er der Malerei entlehnt –, die aber erst durch ihre Inserierung in die erzählte Geschichte ihre Bedeutung erlangen. Diese Bedeutung schließlich erwächst ihnen aus der Einordnung in ein Begriffsfeld, das Albino zuweilen als seine »Gedanken« bezeichnet, die seine Wahrnehmung in eine von ihm unerwünschte Richtung lenken, die seinen »Worten« nicht entspricht. Dagegen sind die sich spontan einstellenden Wörter als das gekennzeichnet, was dem Subjekt zugehörig, ihm also eigen ist und nach Erkenntnis drängt, aber auch in die unbegrenzte Weite des Gefühls vordringt – der Tiefe des Sees vergleichbar –, in die sich das Poetische gegenüber der Prosa des Lebens geflüchtet hat: Aber so fand ich eine andere Ordnung, die der Emotionen und die meiner Sprache angemessener war. […]. Ich erfand und sang die Litanei meiner Schmerzen und meines Sieges. [196/197]
Die drei Gedichte, die Albino seinem memoriale hinzufügt [197-203], nehmen Bezug auf bestimmte Aspekte der Gefühlsdimension des Subjekts, nämlich die Solidarität im ersten Gedicht, die enigmatische Figur des Vaters im zweiten; und im dritten Gedicht die mütterliche Figur und das Bild des Sees, in dem der Ort versinkt, in dem Albino überlebt. Exkurs zur Thematik der Fabrikarbeit in der italienischen Literatur
Die Thematik von Industrie und Fabrikarbeit, die wir analysiert haben, soll im Folgenden aus dem Blickwinkel der Kritik und im Licht einer Debatte betrachtet werden, die gleichzeitig mit dem Erscheinen von Memoriale in Vittorinis Zeitschrift Il Menabò zum Thema Industria e Letteratura stattgefunden hat. Elio Vittorini, der Herausgeber der Faszikel, die er unter dem Namen Il Menabò publiziert, reklamiert in seinem einleitenden Artikel Industria e letteratura – in Nr. 4 von 1961 – für die Zeitschrift den Titel einer Vorreiterin des Neuen gegenüber einer Literatur, die bislang die Welt des Alten zu ihrem Gegenstand hatte, die er als überholt betrachtet und darin auch die sozial engagierten Romane des Neorealismus einbezieht, »im Stil naturalistisch und daher inhaltlich weniger aktuell« [14], »der alten bäuerlich-handwerklichen Ordnung verhaftet«, noch »vorindustriell« [15] und widerspiegelnd »die alte ›natürliche‹ Realität« [16] des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Vittorini plädiert für einen »mondo industriale« – eine Welt des Industriezeitalters –, in der durch die menschliche Arbeit der »mondo ›naturale‹« aufgehoben werde, 105
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eine Welt des Neuen also, so seine Schlussfolgerung, die den Zeitgenossen noch fremd oder, wie er sich ausdrückt, von ihnen noch nicht in Besitz genommen ist [17]. Parallel zu diesen Äußerungen deklariert Vittorini die Verlagerung der literarischen Ausdrucksweisen von den Inhalten zu den formalen Darstellungsweisen: »Die erzählende Prosa, die auf die Ebene der Sprache das ganze Gewicht ihrer Verantwortung gegenüber den Dingen verlagert, erscheint heute auch geeigneter, eine historisch wirksame Bedeutung zu erlangen, als jede Prosa [narrativa], die den Dingen in der Allgemeinheit ihres angeblich vorsprachlichen Inhalts gegenüber tritt, indem sie sie unter dem Gesichtspunkt von Themen, Problemen usw. usw. behandelt.« [18]. Mit der literarischen Praxis Volponis übereinstimmend sind folgende Postulate Vittorinis festzuhalten: was die Inhaltsfrage betrifft, die deklarierte Infragestellung einer realtà naturale und die Orientierung auf eine neue gesellschaftliche Wirklichkeit; sowie in der Frage der Form der Vorrang der Sprache, ihrer Struktur und Logik, vor den institutionell schon vorgegebenen Inhalten. Doch hier gehen die Auffassungen der beiden Schriftsteller schon auseinander, obwohl sie beide einen avantgardistischen Anspruch formulieren und dazu die Wege weisen. Vittorini kritisiert an Ottieris Taccuino industriale [IndustrieNotizbuch], dass er nur die Sachverhalte der Fabrikarbeit abbilde und vergegenwärtige, aber nicht ihre Auswirkungen auf die Kultur der Zivilgesellschaft zeige, die »Veränderungen, die die Welt der Fabrik bewirkt« [20]. Ein solches Urteil aber verkehrt aus der Sicht Volponis die Perspektiven, die für die Industrialisierung im Leben der Gesellschaft bestimmend werden: nicht die Frage, welche Einflüsse sie auf die Kultur ausübt, auf die sich der Blick Vittorinis richtet, sondern welche gesellschaftliche Realität die industrielle Produktion und die Fabrikarbeit historisch begründet und konstituiert, worauf der Blick Volponis gerichtet ist. Wenn Vittorini als die fortgeschrittenen Darstellungsweisen den nouveau roman in Frankreich und die so genannte école du regard in die Debatte einbringt, so bleibt diese Umorientierung der Darstellungsweisen, zielend zwar auf eine neue Wahrnehmung, die auch Volponi intendiert, dem neuen Gegenstand der Industrialisierung gegenüber aber unspezifisch. Es geht nämlich nicht primär darum, den Blick auf ein neues Territorium der Zivilgesellschaft zu öffnen und damit dem zivilisatorischen Fortschritt eine neue Dimension hinzuzugewinnen, sondern den Prozess der Industrialisierung als den Kampf um die Revolutionierung der Gesellschaft zu verstehen und darzustellen. Das hat Volponi sehr wohl gesehen und er versucht, die Industrialisierung auf der Folie der Sozialisierung seiner Helden in den Romanen der frühen Phase in ihrem dramatischen Verlauf zu beschreiben und zu analysieren. Gegenüber der von Vittorini – stellvertretend für die Linke – geäußerten Auffassung, dass die industrielle Entwicklung in Italien von der Politik in die Kultur integriert werden müsse, sie also als etwas schon Gegebenes einfach einzureihen sei in die Kultur der Gesellschaft, hat Giulio Bollati in seinem Buch L’Italiano. Il carattere nazionale come storia e come invenzione [Der Italiener. Der Nationalcharakter als Geschichte und Erfindung], [Turin, Einaudi 1983] zurecht geltend gemacht, dass die historische Entwicklung nicht im Sinne der Integration von faktisch schon Bestehenden sondern als eine zu konstruierende Realität anzusehen ist, wobei er Volponi u.a. neben Pasolini und Calvino als Gewähr seiner Geschichtshypothesen anführt. Bollati schreibt: »Für diese Schriftsteller ist die Gesellschaft nichts Ge106
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gebenes sondern eine Hypothese. Schriftsteller, die ihrerseits die Arbeit fortgesetzt haben, die die Linke (die kommunistische in erster Linie) auf halbem Wege liegen lassen hat«, indem sie nämlich das »Weltbild« als gegeben akzeptiert hat und nicht mehr als eine menschliche »Konstruktion«.12 Zweifellos gibt es einen Zusammenhang zwischen der Thematik des ersten Romans Volponis und der Thematisierung von Industria e letteratura in Il Menabò, zu dem auch zu zählen ist der Beginn der Tätigkeit des Autors von Memoriale als Personalchef bei Olivetti. Das Programm von Il Menabò bestimmten im Wesentlichen der Beitrag Vittorinis und die politische Kommentierung dazu von Gianni Scalia unter dem Titel Dalla natura all’industria [Von der Natur zur Industrie]. Zu verweilen bei dieser Koinzidenz von Daten böte eine Gelegenheit, auf die Gemeinsamkeit von Problemstellungen hinzuweisen, aber auch auf die Differenzen der entsprechenden Einstellungen. Die Überschrift Scalias impliziert eine Interpretation, die so bei Volponi nicht zu finden ist, weil darin eine Zäsur angedeutet wird, in der die Natur durch die Industrie abgelöst wird, während es bei Volponi darum geht, die Natur in einen anderen Zustand zu überführen. Wie diese Überführung oder Transformation zu deuten ist, wird dann im nächsten Roman Volponis, La macchina mondiale, analysiert werden, wobei die Erkenntnis des Neuen (durch die Industrialisierung) auf der Erfahrung des Alten (die Natur) gründet und die Erfahrung damit in die Erkenntnis integriert wird, die bei Scalia allein durch die Wissenschaften gewährleistet ist, d.h. durch die Erweiterung des Wissensbereichs im Sinne einer neuen Anthropologie [96]. »Eine neue Literatur muss sich den grundlegenden Problemen der industriellen Realität stellen in ihrer anthropologischen, ökonomischen, sozialen, psychologischen, ethischen und philosophischen Dimension.« [103] Stimmt Volponi mit den Autoren von Il Menabò überein in seinem Engagement für eine gesellschaftliche Vernunft, die auf Rationalität gegründet ist, so schließt bei ihm Rationalität die Erfahrung der Menschen ein, die er in den Figuren seines Werks verteidigt. Auf die Erfahrung gründet Volponi dann auch die Fähigkeit des Subjekts, sich mittels der Sinne im Raum zu orientieren, d.h. auf der Grundlage seiner Wahrnehmung die materielle Präsenz der Gegenstände zu registrieren und sich, wie man sagt, »ein Bild von ihnen zu machen«. Die Fähigkeit der Verbildlichung des Wahrgenommenen, die das Gegenständliche erst erkennbar macht, hatte offenbar auch Vittorini im Sinn, als er in seinem Eingangsbeitrag in Nr. 1 der Zeitschrift, betitelt Parlato e metafora [Das Wort und die Metapher], den Verbildlichungseffekt der Metapher als das sprachlich-stilistische Mittel bezeichnet – und ihm eine privilegierten Rang zuerkennt –, durch welches dem Gegenstand erst die Bedeutung zuwächst [127].13 Dieses Verständnis der Metapher ist, wie Vittorini hinzufügt, mit der eigentlichen Bedeutung des Begriffs nicht gleich zu setzen, da ›Metapher‹ ja einen Vergleich oder einen Verweis auf etwas Ähnliches be12 Zitiert nach E. Zinato: Romanzi e prose, Bd. I, S. X, Anm. 5 13 Zinato kommentiert das wie folgt: »Der figurale Charakter im literarischen Text wechselt so seinen Sinn: vom Mittel der Veränderung der Transparenz zwischen Signifikant und Signifikat zum Instrument im Dienst des Intellekts im Hinblick auf die Zwecke der »vermuteten Konstruktion der Objektivität«. (E. Zinato: »Il Menabò di letteratura: La ricerca letteraria come riflessione razionale«, in: studi novecenteschi, Nr. 39, Pisa 1990, S. 139).
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inhaltet, während ihr bei Vittorini eine kreative Funktion zugeschrieben wird, die im Grunde vorwegnimmt, was bei Paul Ricœur als »metaphore vive« bezeichnet wird.14 Aus der Einsicht der Bedingtheit der Wirklichkeitswahrnehmung durch die sprachlichen Verhältnisse, die Vittorini beschrieben hat, leiten sich her sowohl der sperimentalismo, der sich schon in Officina ankündigt, der Zeitschrift von Pasolini, die Volponis Neuorientierung maßgeblich mitgeprägt hat,15 wie die avantgardistischen Tendenzen, die sich ebenfalls schon in Il Menabò bemerkbar machen.16 Gianni Scalia, in seinem schon zitierten Artikel, führt Vittorinis Überlegungen weiter, wenn er von den Schriftstellern fordert, die industrielle Wirklichkeit mit anderen Augen zu sehen und entsprechend zu beschreiben: »Die Aufgabe des Schriftstellers ist, die ›Bedeutungen des sozial Bedeutenden‹ als die anthropologische Bestimmung der conditio humana zu entziffern.« [97], d.h. nicht das zu beschreiben, was schon gedeutet ist in den Reden über die Fabrik, sondern was an den Phänomenen erst an Bedeutung zu gewinnen ist, wenn sie aufgedeckt und gedeutet werden; linguistisch heißt das, nicht das Begriffene (significato) zu reproduzieren, sondern das Bedeutende (significante) aufzuzeigen, das noch nicht begriffen ist. Was die Sicht auf die Dinge betrifft, so fügt er hinzu: »Die Gegenstände sind das Signifikante geworden, nicht das von uns angeeignete Bedeutete. Es gibt eine Beziehung, die die Schriftsteller vertiefen müssen, zwischen der Herstellung [Industrie] der Gegenstände und dem Blick [regard] auf die Gegenstände« [111], was so viel besagt, dass der Schriftsteller sein Augenmerk auf die nicht gedeuteten Dinge richten soll, um nicht zurückzufallen in eine von Natur gegebene Bedeutung. Dieser Beschreibung sind schon die Grundsätze eines neuen Schriftverständnisses und einer Schreibweise zu entnehmen, die zweifellos auch auf Volponis Bemühungen bezogen werden können, einer Realität auf die Spur zu kommen, die an den Phänomenen und nicht an den Begriffen festzumachen ist und erkennbar wird. Von Interesse sind darüber hinaus Scalias Bemerkungen über die Welt der modernen Industrie und die Methoden, die ihre Erforschung erforderlich machen, Bemerkungen, die mit den Einsichten Volponis in die Komplexität der Thematik markante Ähnlichkeiten aufweisen und deshalb wenigstens in der Anmerkung kurz gestreift werden sollen.17 14 Paul Ricœur : La métaphore vive, Paris 1975 15 Auf den Einfluss von Pasolini, »amico e maestro«, wie Volponi sagt, und von Officina weist E. Zinato hin in seiner biobibliographischen Studie »Paolo Volponi«, in: Nr. 4344, Pisa 1992, S. 8- 9 sowie in der Introduzione im 1. Band der Werkausgabe, S. XIX, wo es heißt: »In den 50er Jahren verfügt die Poesie Volponis, die sich Pasolinis Poetik der ›Entlyrisierung‹ [sliricamento] zu eigen gemacht hat, schon über die nötige ›Kraft‹ [fermezza], um die biographische Mythologie in eine Bedeutung universaler Tragweite zu verwandeln.«. Das Gedicht La paura aus Le porte dell’Appennino bezeugt die enge Beziehung Volponis zu den Redakteuren von Officina. 16 Auch hier verweisen wir auf die schon zitierte Abhandlung von E. Zinato, Il Menabò di letteratura. 17 Scalia schreibt: »Der Begriff der Industrie hat eine radikale Wandlung erfahren. Er ist nicht mehr im Sinne des 19. Jahrhunderts zu verstehen: die Postulierung einer ›progressiven‹ Kraft […] des Menschen. […]. Industrie bedeutet jetzt operative Potentialität der Herrschaft, der Konstruktion, der Kontrolle […]. Sie ist nicht nur ein Aspekt der
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Volponis Memoriale findet im Panorama der Kritik der Werke in Il Menabò natürlich die ihm gebührende Beachtung. Von besonderem Interesse ist wohl sicher die Kritik aus der Feder Calvinos, die, wenn auch mit einem einzigen Einwand positiv ausfällt. Nehmen wir die Kritik voraus: »Prosa zu schreiben mit den Mitteln der Lyrik«, so Calvino, berge die Gefahr, dass die erzählende Literatur Italiens [la narrativa italiana] wieder zurückfalle in die Kunstprosa [la prosa d’arte] und in den Hermetismus.18 Dagegen wird das Poetische der Prosa Volponis in Il Menabò von ihm positiv beurteilt und gewürdigt sogar als eine Qualität der Schreibweise: »Die Bedeutung des Sprachlichen bei Volponi ist am unerwartesten, geht man davon aus, dass es sich um die ›Industrie-Thematik‹ handelt, und dennoch ist es sie gerade , aus der der höchste Grad von Poesie erwächst. Auf der Grundlage der Imitation einer rohen und etwas exaltierten Schreibweise (die des Erfahrungsberichts [memoriale] eines manischen Arbeiters vom Land), gelangt Volponi zu einer Prosa der Erfindung voller Bilder und lyrischer Ausdrucksmodi, die zur Assimilierung der mechanischen Welt in die natürliche Welt tendiert. Sollen wir dies als eine Lösung betrachten oder eher als ein rückwärtsgewandtes Verfahren? Genau betrachtet erweist sich die lyrisch-figurative Spannung, die Volponi erreicht, als die geeigneteste, um die widersprüchliche und provisorische gegenwärtige Situation auszudrücken: zwischen fortgeschrittener Produktionstechnik und sozial-anthropologischer Rückständigkeit, zwischen Fabriken ganz Glas, Stahl und human relations und einem biologisch dunklen Italien.« [19-20] Giansiro Ferrata weist in seiner Replik auf Vittorinis programmatische Äußerungen den Vorwurf der »arretratezza« [Rückständigkeit] der italienischen Literatur zurück, die Vittorini am Vorrang der »Inhalte« gegenüber der »Form« im alten Realismus festgemacht hatte; und er zitiert Volponi, um die Synthese beider Momente in Memoriale als mustergültig hinzustellen: »Was schließlich die so genannte Industrie-Literatur angeht, scheint mir das Memoriale von Paolo Volponi mehr als signifikant. Es ist eine poetische Erzählung, stellenweise ein großes Buch der Poesie, in dem eine ganz moderne Problematik der Industrie sich direkt äußert, vom ›Inhalt‹ zur ›Form‹ übergeht, von der Geschichte zur Sprache, wenn man so sagen kann.« [Nr. 5, 1962, S. 24] Die substantiellste Kritik an den programmatischen Thesen Vittorinis äußert Gianluigi Bragantin, ein Gewerkschaftsfunktionär, in seinem Beitrag unter dem Titel La questione del potere [Die Frage der Macht]. Es sei ungenügend, nach den Auswirkungen der Industrialisierung auf die Zivilgesellschaft zu fragen, wenn unterlassen werde, nach den Ursachen zu fragen, nach der diesen Prozess antreibenden ›Logik des Neokapitalismus‹ [Nr. 5, S. 12]. Es gäbe keinen Grund für die Zuversicht, dass die vom Kapital dominierte Industrialisierung durch eine literarisch betriebene Aufklärung kontrolliert werden könne; ernst zu nehmen seien deshalb die den Optimismus dämpfenden, ›pessimistischen‹ Einschätzungen der Fabrikwirklichkeit von Autoren ökonomischen Realität, sondern die bestimmte Totalität der aktuellen Realität; und umfasst die Aspekte des individualen und sozialen Lebens der ›post- modernen‹ Welt. Industrie verstanden als technologisch- wissenschaftliche Entscheidung, Planung von Produktion und Konsum, Organisation der kulturellen Kommunikationsmittel, Schaffung neuer Erwerbszweige, neuer Institutionen, neuer Verhaltensweisen.« [99/100] 18 Calvino, Italo: »›Memoriale‹ di Paolo Volponi«, in: L’illustrazione italiana, Nr. 5, 1962, S. 20].
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wie Ottieri, Daví und Sereni; und wichtig sei, dass Ottieri auf das politische Spektrum der Industriethematik aufmerksam gemacht habe und dazu Stellung genommen hätte: »Die Zielsetzung Ottieris ist«, so Bragantin, die Arbeiterklasse »auf anderen Wegen zu erreichen als auf denen der Partei« […] [13], womit auf die Politik speziell der Kommunistischen Partei angespielt wird, die die Lage in den Fabriken den Gewerkschaften oder den Arbeitern selbst überlasse. Was der Industrieanalyse fehle, sei eine Strategie oder eine Konzeption, die den Arbeitskampf in der Fabrik nicht mehr losgelöst betrachte von der Gesellschaft und insbesondere von der Ökonomie in ihrer Gesamtheit. Der marxistische Kritiker erwartet von der Schaffung einer Weltanschauung [»l’elaborazione di una concezione del mondo«] die revolutionäre Überwindung der kapitalistischen Lohnarbeit und der Entfremdung des Menschen, die in den sozialistischen Ländern vorrangig die Literatur beschäftige. Worauf sich die westlichen Schriftsteller dagegen beschränkt sehen, sei »eine einfache Angleichung der Sprache, der Techniken, eine bloße Annäherung an die Erscheinung der [neuen] Dinge, nicht an ihre Substanz und Wirksamkeit«.[17] Zusammen mit Arpino erwähnt der Autor dann Volponi und schreibt: »Auch Arpino und Volponi gelangen nicht zu verlässlicheren Einsichten in den zwei jüngsten narrativen Werken, den relevantesten und komplexesten, die in Italien erschienen sind, über das Leben, die soziale Welt, die Mentalität der Arbeiter, obwohl bei beiden Autoren die ideologischen Ansätze akzentuierter und die Analysen strikter und vertiefter sind.« [13]
2. L A
MACCHINA MONDIALE
Landwirtschaftsreform, Landflucht und die Auflösung der bäuerlichen Familie
Der Roman nimmt die Thematik der ingiustizia aus Memoriale wieder auf, wo es, wie wir gesehen haben, um die Verfügung der Fabrik über die gesellschaftliche Arbeit ging, und verlagert die Optik jetzt auf die Problematik des landwirtschaftlichen Besitzes, der in der Nachkriegszeit – mangels einer ›wirklichen‹ Bodenreform – aus den Händen der Bauern überzuwechseln droht in die Verfügung mächtigerer Institutionen wie Banken und Kirche. Anteo Crocioni, der Protagonist des Romans, verheiratet mit Massimina, der Tochter der Familie, die das Land dem Schwiegersohn überlässt, bleibt allein zurück auf dem bäuerlichen Anwesen, das der Vater Massiminas aufgegeben hat, um in Rom im Dienst des Fürsten Torlonia eine untergeordnete Beschäftigung zu bekleiden. Anteo, besessen von der Idee, die bäuerliche Kultur und die Landwirtschaft mit Hilfe von Maschinen zu revolutionieren, widmet sich mit Hingabe dem Studium der Naturwissenschaft mit dem Ziel, seine Erkenntnisse zum Nutzen der Menschheit in einem Traktat festzuhalten und in der wissenschaftlichen Welt bekannt zu machen. Diesem Vorhaben steht die Familie mit wachsender Skepsis gegenüber, in der berechtigten Sorge, dass darüber die notwendigen täglichen Verrichtungen vernachlässigt werden und der Betrieb in eine finanzielle Krise zu geraten droht. Es kommt zum Zerwürfnis zwischen den Eheleuten; da Anteo gegen seine Frau gewalttätig wird, verlässt sie ihn und flüchtet zurück in den Schoß der Familie nach Rom. 110
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Als eine Abordnung der Familie ihn mit ihren Forderungen konfrontiert und er diese brüsk zurückweist, strengt die Familie gegen Anteo ein Gerichtsverfahren an, um ihn vom Anwesen zu vertreiben. Vor Gericht bestreitet Anteo die Berechtigung des Verfahrens und geht umgekehrt zur Anklage gegen die Institutionen in einer Rede über, die als Gegenstück zu seinem wissenschaftlichen Traktat gesehen werden kann. Den Schuldspruch gegen sich kann und will Anteo nicht akzeptieren, ebenso wenig wie die Trennung von Massimina. Als die getrennt lebenden Eheleute sich noch einmal sehen, kommt es zu einem eher gewaltsamen Geschlechtsakt, in dessen Folge Massimina – inzwischen in Diensten eines Politikers in Rom – ein Kind zur Welt bringt, das sie aus Verzweiflung tötet. Für Anteo, der seine wissenschaftliche Arbeit nur in der Gesellschaft Massiminas für sinnvoll hält, bedeutet das den Abbruch seiner Forschung und das Ende seiner Existenz. Er setzt seinem Leben selbst ein Ende, in der Zuversicht aber, dass seine Idee von der Veränderbarkeit des Menschen weiter leben wird. Die Thematik der Familiengeschichte, die in jedem Werk Volponis offen oder versteckt mit in die Handlung einfließt, wird hier bestimmt von den Besitzansprüchen, die die Institutionen (Banken und Kirche) auf das Arbeitsprodukt und die Produktionsmittel der Familie erheben, was schließlich deren Ruin herbeiführt. In La macchina mondiale wird das ökonomische Interesse an der Familiengeschichte verbunden mit der Frage der wissenschaftlichen Erforschung ihrer Grundlagen, d.h. mit der Frage, in wieweit ihre gesellschaftlichen Funktionen überhaupt einer Natur entsprechen, die der Gesellschaft entfremdet ist. Die Fragestellung erweitert sich damit, indem in die Thematik der wissenschaftlichen Forschung jetzt auch die Frage ihrer Ausdrucksmittel Sprache und Literatur einbezogen wird. Die Einbeziehung in das wissenschaftliche Forschungsprogramm hält der Erzähler für notwendig im Hinblick darauf, dass die Sprache in Form der Prosa als Mittel der Wirklichkeitserkenntnis die Poesie ablösen soll und sich der Erzähler deshalb mindestens ebenso intensiv mit der sprachlichen Bedingtheit wissenschaftlicher Erkenntnis zu beschäftigen hat wie mit dieser Erkenntnis selbst. Die Analyse der Sprache geht also mit ein in die Erzählung als Moment des wissenschaftlichen Traktats. In der vorläufigen Skizze der Erzählmomente des Romans lassen sich thematisch eine Reihe von Momenten erkennen, aus denen sich eine Strukturierung von zwei parallel verlaufenden Erzählsträngen ergibt, nämlich einerseits die Thematik der Sozialisation Anteos und andererseits die seines wissenschaftlichen Traktats. Die erste dieser Themenverbindung knüpft an die Familiengeschichte des frühen Subjekts an und verfolgt sie in den gesellschaftlichen Raum weiter mit Anteos Rechtfertigung der vom ihm gewählten Existenz. Unter die Analyse der Sozialisation sind also drei Momente subsumiert: die Wiederaufnahme der Familiengeschichte (1), ihre historische Situierung in der Periode der Entstehung der »Repubblica borghese« (2), sowie die Thematik der Wegsuche des Subjekts in Verbindung mit dem Ehedrama Anteos (3). Parallel zur existentiellen Thematik im Lebensbericht Anteos verläuft die Abfassung seines wissenschaftlichen Traktats, das eine neue wissenschaftliche Erkenntnis begründen soll. Das Ziel dieses Forschungsprogramms wäre nach Anteo in dem Nachweis zu sehen, dass das menschliche Bewusstsein veränderbar ist, basierend auf der Hypothese, dass dem Denken in den men111
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schlichen Beziehungen eine vorrangige Bedeutung vor den Gefühlen zukomme, und – ausgedehnt auf die Sprache und die menschliche Kommunikation – veränderte Ausdrucksweisen auch veränderte Erkenntnisfähigkeiten der Poesie zur Folge hätten. Das wissenschaftliche Programm umfasst also die Gebiete Psychologie (menschliches Verhalten), Linguistik (Kommunikationsfähigkeit) und Poesie (Ausdrucksmodalität). Den Ausgangspunkt des Wissenschaftstraktats bildet die Hypothese, dass den Funktionen der Lebewesen nicht eine organische Natur zugrunde liegt, sondern mechanisch gesteuerte Prozesse; und dass die Körper, hervorgehend aus der anorganischen Materie, durch mechanische (also künstliche) Verbindungen von Teilchen zu funktionsfähigen Lebewesen entwickelt worden sind, die Anteo, weil sie der Mechanik unterliegen, »Maschinen« oder auch »Automaten« nennt. Der Kernsatz dieser materialistischen Theorie besagt, »dass sie, die organischen Körper, gebildet worden sind aus eine zuerst anorganischen Materie« [32]; und die Kernaussage des Traktats, die sich auf die Entwicklungsfähigkeit der materiellen Strukturen in der Evolution des Menschen bezieht, resümiert die folgende Passage: Ich muss sagen, und das ist die Aufgabe meines Traktats, wenn auch nicht meines ganzen Lebens, dass die Menschen von anderen Wesen konstruiert worden sind wie Maschinen, auch Maschinen diese selbst, und dass die wahre Bestimmung der Menschen ist, andere Maschinen zu konstruieren, aber bessere als sie, die vielleicht den Menschen auf ihr Niveau heben können und dieses immer höher entwickeln, um immer bessere Maschinen zu konstruieren. [57- 58]
Was den Materialismus-Begriff Volponis betrifft, der hier wie in Corporale seiner wissenschaftlichen Argumentation zugrunde gelegt wird, so wäre zu bemerken, dass sein Begriff der Materie in zwei zu unterscheidenden Konzeptionen in seinen Texten verwendet wird, nämlich einerseits im Begriffsbereich der Mechanik, aus dem sich der Bildgebrauch der Maschine in den Texten Volponis herleiten lässt, und andererseits in dem der nuklearen Prozesse bei der Bildung und Umwandlung der Materie in die Substanzen elementarer Körper, kurz der Atomphysik, auf die ein gleichfalls gewichtiger Bildbereich in seinen Texten zurückzuführen ist, insbesondere in der Motivation von Bewegung als atomarer Energie. Beide Begriffsbestimmungen von Materie im Sinne von körperlicher Bewegungsenergie sind grundlegend im Werk Volponis: ihr Zusammenhang wäre darin zu sehen, dass sein Wissenschaftsbegriff ausgeht von der Mechanik körperlicher Prozesse und sich entwickelt hin zum Atomismus ihrer Antriebsenergie.19 Sozialisationsbedingungen und die Riforma agraria
Der Bericht Anteos – der ebenfalls in Form eines memoriale oder Lebensbericht abgefasst ist – setzt ein mit dem Schlüsselwort pensiero, der Gedanken, die zurückwandern zu dem von ihm erlittenen Übel in der Kindheit [3]. Die biographische Rückwendung führt ihn zu der Erinnerung der Leere, die in ihm die Loslösung von der Mutter erzeugt hat.
19 Siehe Anmerkung 28.
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Die frühen Romane Mit fünfzehn Jahren habe ich das Glück gehabt anzufangen zu denken, und mit 20 zu beginnen zu schreiben. Nachts, im Sommer, mit fünfzehn Jahren, war ich unzufrieden, während ich schlief, während ich versuchte zu schlafen; oder schlief ich mit einem Bewusstsein außerhalb von mir, wie eine Maschine, in der ausgeschaltet noch ein kleines Licht brannte. Ich dachte unbefriedigt und mit Unbehagen […] und fühlte die große Leere unter dem Bett wie einen immensen Abgrund, genau wie jenen Sturz, den man vergeblich macht, wenn man nicht einen Sinn zu finden versucht in der Loslösung von der Mutter, beim Aufschlagen auf der Erde […]. [14]
Doch das ödipale Trauma der Kindheit wird hier lediglich gestreift, als ob Anteo oder Volponi wenigstens daran erinnern wollten. Die biographischen Daten der Familiengeschichte werden nämlich erst im Konflikt mit dem Vater wieder Erwähnung finden, und diesmal in einer gesellschaftlichen Situation, die die landwirtschaftliche Problematik der Nachkriegszeit auch politisch ins Zentrum rückt. Die materiell primitiven Verhältnisse der Landbevölkerung in San Savino in den Marche hat diese hörig gemacht gegenüber der Obrigkeit von Kirche und Besitzenden, die im Namen der Moral harte Strafen gegen die Ansprüche der Armen verhängen, wie gegen Anteo, der sich im Haus der Contessa Carsidoni nach Büchern umgesehen hatte und dafür vom Vater grausam und blindwütig misshandelt wird. Diese entwürdigende Bestrafung wird von Anteo ausführlich beschrieben [7]. Zu dieser Hörigkeit kommt die Abhängigkeit, in die die Familie gerät, als der Vater den Besitz aufgibt und in Rom eine Anstellung findet im Dienst des Principe Torlonia, der selbst über Landbesitz verfügt [9].20 Anteo bleibt, nach der »Flucht seines Vaters« [4], mit seiner Frau Massiminia auf dem Rest des Besitzes zurück. Diese Landflucht des Vaters, die die Familie auseinanderreisst – auch Massiminia wird den Ehemann verlassen und Anstellung in Rom suchen – ist der Anlass für Anteo, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben und parallel dazu sein wissenschaftliches Traktat zu verfassen, das auch zu verstehen ist als der Entwurf eines besseren Lebens in einer besseren Gesellschaft. Der trattato ist also in biographischer und existentieller Hinsicht zu lesen als die Bemühung des gesellschaftlichen Subjekts, sich aus den bedrückenden und entfremdenden Verhältnissen der Familie zu befreien, und andererseits auch als ein politisches Programm zu verstehen zugunsten einer Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Die beiden Motive ergänzen sich und treffen sogar zusammen, wenn mit der Erfindung neuer Maschinen auch die Erschaffung anderer Menschen gemeint ist, in Begriffen der Wissenschaft als die Erzeugung alles Bestehenden aus dem Prinzip der Mechanik: Jetzt steht in meinem Traktat: »Automat/Autor = Homo sapiens; Automat/nicht Autor = Reich der Minerale und Pflanzen«, und enthalten darin sind eine Reihe von Tabellen darstellend die Anatomie der immensen Maschine des Geschaffenen und der unendlichen Technik der Schöpfung. [5- 6] 20 Bei den Landbesetzungen in den Abruzzen im Februar 1950 wird auch das Land des principe Torlonia besetzt. Paul Ginsborg, dem wir diese Information entnehmen, kommentiert dieses Ereignis wie folgt: »Am 30. April schossen in der Ortschaft Celano die Privatwächter des Torlonia in die Menge und töteten zwei Personen.« (P. Ginsborg: Storia d’Italia, 170f. )
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Diese Notiz im Traktat Anteos leitet schon über zum Teil seiner Abhandlung, der sich mit der Evolution des Universums und der Anfänge der menschlichen Geschichte beschäftigt; darauf kommen wir zurück im Anschluss an die Analyse der historischen Situation, in der das Familiendrama Anteos situiert ist, nämlich die Landwirtschaftsreform, die Riforma agraria des Jahres 1950. La macchina mondiale spielt zeitlich in der Phase, in der die christdemokratische Regierung eine Art Bodenreform in die Wege leitet, die eine Neuverteilung des Bodens vorsieht, aber genau zu dem Resultat führt, das im Roman Volponis dargestellt wird. Die Nutznießer der Regierungsmaßnahmen sind statt der Bauern, die das Land bestellen, die Besitzenden, die das Land billig aufkaufen; und das sind im Prinzip die Parteigänger oder Verbündeten der regierenden Democrazia cristiana. Gegen sie, die Allianz der Kräfte der »repubblica borghese«, der verbürgerlichten Gesellschaft in einem negativen Sinn, ist das Traktat Anteos gerichtet. Die Szene auf dem Gemüsemarkt in Rom, der Anteo beiwohnt, identifiziert die restaurativen Verhältnisse auch namentlich mit der christdemokratischen Partei. Eine Gemüsehändlerin (»la lupinara«) und ihr Schwiegersohn versuchen, eine Ansammlung von Bauernsöhnen öffentlich für die Partei zu rekrutieren. Die Regierung, so die Lupinara, sorge für das Wohlergehen ihrer treuen Diener, der Träger der alten und noblen und christlichen Traditionen der Landbevölkerung der Marche, wo die Familie, die Arbeit und die Religion immer schon ihr wertvollstes Fundament gefunden haben. [106]
Es sind die Stichwörter der Propaganda für die Democrazia cristiana, die in der Sozialisationsthematik des Traktats als die ideologischen Fundamente der christdemokratischen Klientele denunziert werden. Deutlich wird das schon in der sarkastischen Entgegnung Anteos auf diese Reden [107]. Die Maßnahmen der Regierung, ihre Riforma agraria von 1950, werden in der Entgegnung Anteos auf die Lupinara als Politik gekennzeichnet, die alles beim Alten lässt und die der Historiker Paul Ginsborg als ein Manöver charakterisiert, das als »trasformismo« die Regierungspraxis kennzeichnet, nämlich Veränderungen, die in der Umsetzung in die Praxis nur wieder die Besitzenden begünstigt.21 Das Problem der propagierten Riforma agraria ist auf dem Hintergrund einer Bodenreform zu sehen, die nicht nur Land verteilt hat, sondern auch unzureichend parzelliertes Land wieder in den Besitz finanzkräftiger Interessenten zurückverlagerte. Der Versuch Anteos, die Modernisierung seines restlichen Besitzes in die Wege zu leiten durch den Ankauf und die Nutzung von Maschinen, führt – statt Gewinn zu bringen – zu seiner Verschuldung und schließlich zu seinem Ruin und zu seiner Selbsttötung. 21 »Aber so mündeten diese Bemühungen nicht in einer organischen Reform des landwirtschaftlichen Sektors, sondern in eine Reihe gesetzgebender Maßnahmen, die als bloße Bruchstücke einer solchen zu betrachten sind. Der Druck der landbesitzenden Lobby bewegte in der Tat die Dc, erstmals politisch zu praktizieren, was eine ihrer bleibenden und verwerflichsten Praktiken werden sollte: das Beschließen von »vorläufigen« Maßnahmen und das Versprechen einer »realen« Reform, die folgen würde, aber nie erfolgt ist.« P. Ginsborg: Storia d’Italia, S. 173- 74.
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Die Riforma von 1950 zielte, wie der Historiker Donald Sassoon in seiner Beschreibung dieser Politik zusammenfasst, auf Machterhalt: »Deshalb begünstigte die Regierung nur die schon vorher finanzstarken landwirtschaftlichen Betriebe […] sowie die am unternehmerischsten Landwirte. Die kleinen Bauern, denen zu kleine Parzellen zugeteilt wurden, trugen zum Aufschwung der italienischen Wirtschaft in der Periode 1958-63 durch eine massenhafte interne Migration bei.«22 Was Ettore, der Landschullehrer in La strada per Roma, als seine Aufgabe betrachtet hat und Volponi selbst im Auftrag von Olivetti mit der Unrra-Casas23 im Süden Italiens verfolgte, »jene Versuche des Zusammenschlusses und der Kooperativen, die, wenn auch in Grenzen, zu den Initiativen der Bauern zwischen 1944 und 1950 geführt haben«, waren damit zum Scheitern verurteilt. Um noch einmal zurückzukommen auf die Frage der gesellschaftlichen Kräfte, die im Panorama der Riforma als politisch mitbestimmende Faktoren entscheidend waren, so zählt Ginsborg zu einem ihrer Resultate, dass sie historisch »den alten Machtblock der Landbesitzer« zwar aufgelöst habe, jedoch zugunsten einer Dc, der es gelang, im Süden »ein neues System sozialer Allianzen« zu errichten, kraft einer »Strategie des Konsenses [...] basierend auf den Machtinstrumenten des Staats«.24 Die staatliche Macht in den Händen einer Partei ist das Stichwort, das in La strada per Roma, vermutlich das Verdikt seines Autors rechtfertigte, den Roman als den Weg der Republik in die Repubblica borghese zu verstehen und zu deuten. Der Wissenschaftstraktat und die Welt der Maschinen
Die beiden ersten Seiten des Romans enthalten schon wichtige Hinweise auf die sprachliche Thematik in Verbindung mit dem Traktat Anteos. Dessen Überlegungen setzen ein mit der Beschreibung des Blicks auf die Landschaft der Marche, die sich ihm in einem merkwürdigen Kontrast darbietet, ein Bild, das die Maschine in seinem Geist von der Landschaft entwirft.25 Die Hügel, Bäume, Straßen, in der Optik dieses Blicks, »bilden oft, alle zusammen […] ein Netz, das dem Entwurf ähnelt eines mechanischen Projekts, d.h. dem Versuch einer Perfektion oder eines Glücksgefühls«.26 [3] Die Wirklichkeit
22 D. Sassoon: L’Italia contemporanea, S. 61. 23 Cfr. E. Zinato: Romanzi e prose, Bd. I, LVII, was Olivettis Initiative in Süditalien betrifft und die Einrichtung von Kooperativen auf dem Land. Volponi, der zwischen 1950 und 1954 für Olivetti in diesem Forschungsprogramm tätig ist, schreibt darüber: »Das Projekt Olivettis zielte nicht allein auf die Wiederherstellung der Häuser, sondern auch auf die Herstellung eines sozialen und ökonomischen Netzes (kleine ländliche Kooperativen, handwerkliche Werkstätten, Förderung des Tourismus), um diesen Regionen, wirtschaftlich in der Krise und ihrer eigenen Kultur beraubt, eine selbständige Entwicklung zu ermöglichen.« (P. Volponi in Vi racconto una storia, zitiert in Zinato siehe oben). 24 P. Ginsborg: Storia d’Italia, S. 187. 25 Im Wortlaut des Textes: »im Blickfeld meiner Maschine und bei Inbetriebnahme der verschiedenen Aggregate«, – im Italienischen: »nel tracciato della mia macchina e nell’accensione dei diversi commutatori«, S. 3. 26 Im Original: »compongono spesso, tutti insieme [...] una rete che può sembrare il disegno di un progetto meccanico, cioè il tentativo di una perfezione e di una felicità.« S. 3.
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dieser Landschaft, so bemerkt der Erzähler, ist eine noch ungeordnete Menge von rohen Elementen: In der Umgebung hier finden sich noch verschiedene Konzeptionen der Materie, verschiedene Ablagerungen […], die mich veranlasst haben anzunehmen, dass ich auf einer Landzunge bin, wo die Bevölkerungen nie einen großen Zivilisationsgrad erreicht haben und nie große Anstrengungen dazu unternommen haben: eine noch unartikulierte Landzunge mit Akzenten der verschiedenen Naturphänomene, die auf sie niedergehen: der Regen oder der Wind und auch der Schneefall und die Gewitter. [3]
Der Blick auf die Landschaft, der hier beschrieben wird, ist in doppelter Hinsicht ein künstlicher, als Bild nämlich, der dem des Malers vergleichbar wäre – vielleicht sogar eines kubistischen Malers, der die Landschaft in ihrer geologischen Stratifizierung wahrnimmt – sowie als der Blick der Maschine, von der oben die Rede ist. Auch die Beschreibung der Landschaft erfolgt auf zwei Ebenen, geht man aus vom Doppelsinn im Schlüsselbegriff der »Landzunge« (»lingua di terra«), der hier als geographischer Terminus übertragen wird auf das Sprachliche und im Text eine Sprache bezeichnet, die noch der Natur und ihren Ursprüngen verhaftet ist, ihrem »Mund« entsprungen, aus dem das poetische Subjekt seine Kenntnisse geschöpft hat, wobei diese aber nicht mehr der Wahrnehmung des »Maschinen-Menschen« entspricht oder genügt, wie dem Zitat zu entnehmen ist. Die »lingua di terra« gehört einem Entwicklungsstand der Natur an, der nicht mehr Anteo zufolge den Ansprüchen eines fortgeschrittenen Sprach- und Schriftverständnis angemessen ist.27 Festzuhalten ist also, dass die Aussage über den fortgeschrittenen Entwicklungsstand sowohl auf die Entwicklung der Gesellschaft wie auf die der Sprache zu beziehen wäre. In beiden Bereichen und auf beiden Ebenen bezeichnet Anteos Traktat eine Entwicklung, in der der Übergang von einer Basis der Natur zu der der Maschine thematisiert wird. Der Ausgangspunkt dieser Argumentation liegt – wie schon angesprochen – in der Aussage, dass was existiert, das Werk einer Mechanik ist, aus der das Universum hervorgegangen ist, keine Schöpfung also, sondern das Werk einer Konstruktion oder – wie es in der Sprache des Erzählers heißt – einer »fabbricazione«, und darüber hinaus nicht das Werk eines einzigen, sondern einer Menge von Autoren [»moltitudine di autori«], einer Urbevölkerung [»popolazione primaria«] [5]. Nach den Prinzipien der Mechanik ist der Mensch eine Konstruktion oder ei27 An unser Zitat schließt der folgende Text an: »Diese Landzunge scheint mir dem Ursprung nahe zu sein, dem großen Mund, und vielleicht deshalb habe ich, als ich seine elementare Zusammensetzung bemerkt habe, die Dinge verstehen können, die ich verstanden habe und die ich in einem anderen Buch als diesem niederschreibe, in einem Traktat der Philosophie und der Mechanik, der das Geschick des Menschen erklären könnte, und über die Motive seiner Position im Universum hinaus ermitteln könnte die Prinzipien [Formeln] für seine Befreiung sowie die Begründung einer neuen Akademie der Freundschaft zwischen allen Menschen der Erde, sobald dieselben erkannt und verkündet haben die Gültigkeit der psychologischen Argumente, den Kodex der wissenschaftlichen Instrumente und einen Automatismus, der die Integrität und dem Dynamismus jeder Kraft betrifft und sie benutzt.« (S. 3- 4; die kursiv gesetzte Passagen im Text des Originals).
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ne Maschine, die imstande ist, andere Maschinen zu konstruieren und sich selbst zu korrigieren und zu vervollkommnen. Und als Maschinen unterscheidet der Erzähler, wie wir schon erwähnt haben, zwischen »automa/autore = homo sapiens« und »automa/non autore = regno minerale e vegetale«, eine nicht gerade glückliche Formulierung, die aber verständlich ist. Was die wissenschaftliche Revolution gesellschaftlich bewirken soll, wird expliziter in den Überlegungen des Traktats dargelegt, die Anteo mit Liborio, dem jungen Priester, den er zum Freund gewinnt, sowie mit den Professoren der Universität diskutiert. Liborio, die synthetische Figur des uneigennützigen Diener Gottes, der frei ist von jeglicher Selbstwahrnehmung, beseelt allein von der ihm von Gott auferlegten Mission, könnte verstanden werden als Verkörperung des entfremdeten personalen Bewusstseins, das dem Bewusstsein zu konfrontieren ist, das sich erst aus den materiellen Ursprüngen zum bewussten Sein der Existenz herausbilden muss. Diese Bewusstseinsbildung meint der Erzähler, wenn er gleich am Anfang des Romans äußert: [...] ich spürte in mir deutlich, wie die Maschine sich formierte, wie die Regeln ihrer Mechanik sich abzeichneten, [6]
und wenn er gegenüber Liborio seine Position mit den Worten rechtfertigt: Aber ich muss meinen Gedanken immer gegenwärtig bleiben und darf nicht zulassen, dass sie schwächer werden […] da sie gegründet [oder hervorgegangen] waren aus der wahren Substanz der Materie und ihrer Gesetze […]. [156/157]
Im Sinne der Schöpfungsgeschichte ist den Menschen des Alten Testaments nur ein singuläres, individualisiertes Bewusstsein zuteil geworden, das sich zum Sünden-Bewusstsein entwickelt hat, weil ihm die Herausbildung zum gesellschaftlichen Bewusstsein verwehrt geblieben ist. Mit dieser Argumentation wird auf den moralischen und gesellschaftlichen Stillstand der alten Gesellschaft gezielt und darauf, dass das menschliche Bewusstsein nicht über das Animalische hinaus gelangt ist und stehen geblieben ist – und hier stimmt Anteo der Argumentation Liborios zu – auf dem Niveau einer korrumpierten Natur. Diese Ideologie und ihre Fundierung in der christlichen Religion spiegeln noch weitergehend die Reflexionen, die Anteo bezüglich der Dogmatik des Neuen Testaments anstellt. Der Schöpfungsbericht schließe aus, dass der Mensch sich von sich aus verändere, was aus der Ohnmacht und Verderbnis der menschlichen Natur abgeleitet wird. Diese Argumentation, in der unüberhörbar auf das christliche (augustinische) Dogma von der Verderbtheit der menschlichen Natur angespielt wird, wird von Anteo weiter verfolgt bis zu dem Punkt, wo er in diesem Verharren die Gefahr befürchtet, dass die Evolutionskette im Sinne der Darwinschen Theorie abbrechen würde oder sogar zurückfiele in eine schon überwunden geglaubte Entwicklung. Aus der Sicht der Theologie sei das geschuldet der Fäulnis einer Gesellschaft, die versucht, sich zu erneuern, sich neu zu erschaffen [70], aus der Sicht des Traktats dagegen rührt das her aus dem »tödlichen Begehren, alles zu lassen, wie es ist« [71],
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte lediglich geringfügig den Schein zu verändern, nur die Fassade und andere kleine Effekte zu vergrößern und darauf die Feststellung zu gründen, dass es sich um Resultate von großer Bedeutung handle […]. [71]
Das Konzept einer menschlichen Natur, die auf mechanischen Abläufen in den Körperfunktionen beruht, ergänzt und vertieft der Erzähler, indem er der Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments eine Entstehungsgeschichte entgegensetzt, in der die Menschen selbst ihre Schöpfer bzw. Konstrukteure sind und im Verlauf ihrer Geschichte die Fehlentwicklungen korrigieren, die als solche erkennbar geworden sind. Die materiellen Ursprünge des Menschen und die Herausbildung seines Bewusstseins im Gegensatz zur christlichen Lehre von der Erschaffung von Leib und Seele konfrontiert das folgende Zitat im Hinblick darauf, dem Individualbewusstsein der christlich-jüdischen Tradition ein gesellschaftliches Bewusstsein entgegenzusetzen, in dem über den »senso comune« der Körper die Konstruktion des Gemeinwohls im weiteren Verlauf der Geschichte erfolgen soll. Die Autoren der jüdischchristlichen Tradition, so heißt es: haben eine Maschine der andern gleich konstruiert und für alle die gleichen Regeln und auch das Bewusstsein dieser Regeln; ohne aber allen Maschinen eine gemeinsame Regel zu geben, die ihren Sitz im Bewusstsein der Gemeinsamkeit [comunità] selbst hätte, der möglichen Gemeinschaft [comunione] und dann der Ausrichtung aller Regeln auf ein Ziel […], das die gemeinsame Rebellion gegen den Zustand der heutigen Verhältnisse auslösen könnte. [7]
Die hier postulierte Herausbildung eines gesellschaftlichen Bewusstseins – im Zusammenhang mit der [Re]-Konstitution des gesellschaftlichen Subjekts – impliziert aber auch das Bewusstsein vom Lebenszusammenhang im Universum der Körper. Der Weg dahin besteht in der Hauptsache darin, den Zustand der Natur, des »naturale«, in einen Zustand zu überführen, den der Erzähler als artificiale bezeichnet, d.h. eine durch Wissenschaft und Kunstfertigkeit neu zu erschaffende Welt. Diese Anforderung an die Wissenschaft resümiert in exemplarischer Klarheit die Hypothese des Traktats, in der auch deren Grundlagen neu definiert werden. Die Textstelle wird eingeleitet durch die Beschreibung einer Landschaft , die der Blick Anteos aus dem Zustand der rohen oder eigentlichen Natur umwandelt in das Bild einer geometrischen Konstruktion, die sein denkendes Vermögen aus den Elementen der Natur erzeugt oder entwirft: mit meinen Gedanken als Erfinder und meiner Disziplin […] könnte ich eindringen und beginnen zu entwerfen und zu konstruieren, indem ich mein Projekt verfolgte, dazu zu gelangen, die Fäden der Supermechanik und des gesamten Körpers zusammenzubringen. [27]
Es scheint, dass Anteo das, was er wenig später als stabilimento [Konstruktion] bezeichnet, in seinem Geist als das Bild der veränderten, neu erschaffen Natur entworfen hat. Es bezeichnet den Übergang oder die Umwandlung des naturale ins artificiale. Inbegriffen in diesen schöpferischen Nachvollzug ist aber auch rückwirkend und in die Schöpfungsgeschichte zurückgehend die Erkenntnis der Ursprünge der Naturerscheinungen und der Materie: 118
Die frühen Romane Ich fühlte mich sicher hinsichtlich dieser Konstruktion, beweisen zu können die Regeln des Vergangenen, d.h. den Ursprung, den Verlauf und die Bestimmung des Natürlichen, von allem, was um mich herum unbeweglich und gegeben erscheint als eine von unserem Denken nie berührte und immer noch unberührbare Sache, der Bereich allein unserer Gefühle. [27]
Das ist das Bild der so genannten »unbeweglichen« Natur, wie sie in unserer Erinnerung als »gegeben« erscheint, resultierend aus unserem Gefühl vom Natürlichen. Doch Anteo fährt fort: Ich fühlte mich sicher, das beweisen zu können, wenn es mir möglich wurde, mit meinen Ideen und meinen Studien dazu zu gelangen, die Zukunft des Künstlichen zu ermitteln [calcolare], d.h. von allem, was vom Menschen gemacht werden kann, was sich unmittelbar identifizieren lässt mit dem eigentlich Natürlichen der Vergangenheit, sobald seine Funktion zu Ende ist und sein Körper inmitten aller anderen Abfälle verendet. – Ich sah, wie leicht ich die Straße durchlaufen hätte […], um das, was an der Natur vergangen war, wiederzufinden und folglich die Zukunft des Künstlichen zu kalkulieren. [27]
Die wissenschaftliche Erforschung der Natur, d.h. ihre Wahrnehmung nicht mehr über das Gefühl, sondern ihr Begreifen über das Denken, könnte dazu führen, so hofft Anteo, dass auch die Natur rückwirkend im Licht der Erkenntnis, d.h. des artificiale zu sehen sein wird. In der anschließenden Aufzählung der Aufgaben, die die Forschung in der Praxis noch zu leisten habe, erscheint die Grundlagenforschung an oberster Stelle: Ich hätte nur die Erde und die Menschen und die Tiere zu befragen, in das Innere der Natur zu gelangen und dann zu konstruieren und fallen zu sehen die geometrischen Figuren, die Kegel, die Rhomben oder irgendeine andere Form der Materie, bis ich jenen Punkt gefunden hätte: das Atom, das Molekül, die Zelle, die Monade, jenen ursprünglichen Punkt, der allen gemeinsam ist; d.h. bis ich zu den gleichen Schlussfolgerungen und Ähnlichkeiten gelangen würde, die zwischen den vorgefundenen natürlichen Erscheinungen und den zu erwartenden Aspekten des Artifiziellen existieren. [27- 28]
Die Beschreibung des Forschungsprogramms geht aus von der körperlichen und sichtbaren Materie (Erde, Mensch, Tier) , die zu erforschen ist, geht dann über zu den geometrischen Figuren, die die Zusammensetzung der Materie charakterisieren, um schließlich zu dem Kernbereich der Nuklearphysik zu gelangen, in deren Prozessen schließlich der Ursprung der Materie zu finden sei in der Fusion von elementaren Teilchen.28 Von der Wissenschaft verspricht sich Anteo das Heraufkommen eines neuen Zeitalters, in dem der Durchbruch zu einem universalen Bewusstsein erfolgen wird und damit zu einer neuen Erkenntnis der Interdependenz von 28 Verwiesen sei hier lediglich auf den dtv- Atlas zur Atomphysik von 1980 in zweiter Auflage, sowie auf die Schriften der antiken Philosophen zur Atomlehre; zu nennen wären hier Demokrit, Epikur und als ihr jüngster Interpret Lukrez, auf dessen Werk De rerum natura die Erkenntnisse über die Natur des späten Volponi im wesentlichen fußen.
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Natur und Gesellschaft. Diese neu zu begründende Wissenschaft muss sich aber absetzen von den wissenschaftlichen Anschauungen über Naturgesetze, die die Natur einer Ordnung unterwerfen, die der Dynamik der Naturerscheinung nicht entspricht, d.h. einen Zusammenhang, voraussetzt, der eher der Idee eines organischen Ganzen gemäß wäre, das die Bewegungsabläufe koordiniert. Dieser organischen Ganzheit stellt Anteo das Modell einer Evolution entgegen, die offen ist und nicht auf ein vorgefasstes Ziel ausgerichtet, sowie nicht koordiniert in den Bewegungsabläufen der Natur. Am Beispiel der Natur ist nach Volponi der Zusammenhang zu illustrieren, der auf die menschliche Geschichte und Evolution zu übertragen ist, dass nämlich kein Determinismus im Zusammenspiel der Naturerscheinungen existiert, sondern die Ausformung der Materie in den jeweiligen Zusammensetzungen unbestimmt bleibt. Diese Unbestimmtheit [»incertezza«] im Fluss der sich verändernden Materie begegnet schon in der Philosophie Demokrits und dessen Auffassung, dass die Materie sich aus kleinsten Teilchen, den Atomen, bildet und jeweils zusammensetzt, was im Materialismus der französischen Aufklärung wieder aufgenommen wird. Diderot z.B. in De l’interprétation de la nature legt diese Hypothese zugrunde, wenn er von einer Epigenese der Entwicklung der Natur spricht, wonach auf den verschiedenen Niveaus der Ausbildung des Lebens neue und veränderte Formen aus der Materie hervorgehen.29 Das Kernstück des Traktats bildet die Analyse der substantiellen Beschaffenheit der Materie. Die Unsicherheit in der Wissenschaft [l’incertezza della scienza] beruht auf der Unvorhersehbarkeit des Entwicklungsstroms im Mikrobereich,30 betrifft die Teilchen, die kleinsten Körper und Dinge […]. Alle diese winzigen Körper, Stimuli und Vorkommnisse zusammen, bilden, mehr als das Herabfallen himmlischer Körper oder der Wechsel der Jahreszeiten, die großen fließenden Ströme, die die Welt verändern. [174- 75]
29 Diderot geht in dem zitierten Werk davon aus, dass die Natur ein zusammenhängendes System von in sich verschiedenen Elementen darstellt, und dass die Materie sich aus »Elementen« oder »Molekülen« zusammensetzt, die die Veränderbarkeit der Materie durch neue Verbindungen dieser kleinsten Teilchen bewirken. Was das erste betrifft, so spricht Diderot von »la grande chaîne qui lie toutes choses« (S. 182 und Anm. 2) und nach Maupertuis von »le système universel de la nature« (S. 224); was das zweite betrifft, nähert sich Diderots Auffassung der kleinsten Teilchen offensichtlich dem Atomismus Demokrits und dem antiken materialistischen Lehren an. Ich verweise diesbezüglich auf das Kapitel LVIII des zitierten Werks, überschrieben Questions, wo es u.a. heißt: »La molécule d’un élément dans cet état de division dernière, est indivisible d’une indivisibilité absolue […].« (S. 239) Das Phänomen der Epigenese wird in diesem Kapitel umschrieben, wo Diderot bemerkt: »Ce que nous prenons pour l’histoire de la nature n’est que l’histoire très incomplet d’un instant.« (S. 241) Es gibt also keine Entelechie im Sinne der materiellen Ausformung der Organismen. 30 Verwiesen sei hier auch – hinsichtlich der Theorie des Fließens – auf Gilles Deleuze und Félix Guattari: L’Anti- Œdipe, insbesondere das Kapitel I, 5: Les machines, Paris: Les Éditions de Minuit 1972.
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Von Bedeutung im Werk Volponis werden die auf den Mikrokosmos bezogenen Prozesse insbesondere im Zusammenhang mit der Theorie der Gefühle, auf deren Grundlage der Analytiker der dolori umani die Kultur der bürgerlichen Innerlichkeit untersucht. Aber hier geht es zunächst um die makrokosmischen Zusammenhänge, die ebenfalls als maschinenspezifisch begriffen werden. Erwähnt wurde schon, dass Anteo beide Bereiche – den des »homo sapiens« und den des »regno minerale et vegetale« [5] – als von Maschinen konstituiert begreift. Bezüglich ihres Zusammenhangs notiert Anteo – nach seinem Gespräch mit dem Professor der Physik: Ich begann zu erklären die Prinzipien des Ente Motore [des bewegenden Seins] [117] und fügte hinzu, dass in den fortgeschrittenen Zivilisationen, in denen ein besseres Leben auch die Entwicklung der Existenz fördert, alles sich vollzieht mittels der Überlagerung neuer Dinge, dass keine Dinge oder Zustände von Dauer sind, sondern in Veränderung begriffen, und in Verbindung mit den anderen Dingen im Universum, dass folglich die Evolution das Wesen selbst der Ausbildung des maschinengefertigten Erzeugers [automa- autore] ist. [120]
Die Hoffnung auf eine Veränderung des Menschen im Vertrauen auf die Wissenschaft äußert sich in einer Art Glaubensbekenntnis, in dem das existentielle Überleben Anteos an die Erfüllung dieser Zukunftserwartung geknüpft ist. Sprache und Literatur im Wissenschaftstraktat
Was auf der Ebene der Naturwissenschaften der Eintritt in die Mechanik des Universums ist, hat seine Entsprechung auf der Ebene der Sprache in den einführenden Erklärungen zum Sprachgebrauch im Traktat Anteos. In dem Maß wie er in die Erkenntnis der Natur eindringt, stellt sich für ihn das Problem, wie diese Erkenntnis in Sprache umgesetzt werden kann. Die Erfindungen, die ich im Begriff war zu machen, so übersetzen wir sinngemäß die folgende Rede Anteos, verdanken sich der Wissenschaft meines Traktats, der Dynamik und Logik [dinamica und consequenzialità) der Zusammensetzung der Wörter und Zahlen [parole und numeri], mittels derer sich meine Gedanken formieren beim Entziffern der Regeln Wort für Wort, Zeichen für Zeichen auf dieser Erde, in den Menschen […], in ihrem Leben [8]. Und im Traktat notiert er, was als die Beschreibung der Grundlagen einer Textgrammatik gelesen werden kann, wenn er die Textanfertigung im Prinzip als beruhend auf zwei sprachlich-rhetorischen Verfahren beschreibt, nämlich den Mechanismen des Bedeutungszuwachses der Aussage durch Hinzufügung (rhetorisch adiectio); und den Verfahrensweisen der Auslassung, des Weglassens (rhetorisch detractio) im Sinne der Bedeutungstilgung oder -minderung der Aussage.31 Die maschinengesteuerte Schreibweise und ihre Leistung verlaufen, wie Anteo schreibt, in der »Oszillation zwischen einem Maximum und einem Minimum« – bezogen auf die Bedeutungsspanne des 31 Wir verweisen hier auf das grundlegende Werk von Heinrich Lausberg: Elemente der literarischen Rhetorik, München: Max Hueber Verlag, Erstauflage 1963. Die vier Änderungskategorien, nämlich die adiectio, die detractio, die transmutatio und die immutatio, werden behandelt im Abschnitt Änderung eines Ganzen (§§ 55-63), S. 3334 des Werks.
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Begriffs – zwischen zwei Extremen der Ausdehnung und/oder Bedeutung der Aussage, d.h. einem Maximum an Bindungskraft der Termini oder Akkumulation von Bedeutung einerseits, und einem Minimum, wo sich der Gedankenfluss im Partikularen verliert und versiegt andererseits, rhetorisch die detractio, die Bedeutungsminderung oder Isolierung der sprachlichen Termini. Zwischen diesen Polen verläuft das Denken i.S. eines automatischen Fließens von Wörtern und ihrer Anordnung in Sätzen und Satzfolgen: ein Oszillieren zwischen zwei Extremen, die sowohl den Satzzusammenhang [das Resultat] bewirken, wie, indem sie aufeinander gegenseitig verweisen, diesen Zusammenhang weiterentwickeln. [6]32
In dieser Bewegung verläuft die Textproduktion, d.h. das Aneinanderreihen und Verketten der Textteile, von Satzgegenstand zu Satzaussage, im Sinne der Verknüpfung von Subjekt und Objekt oder Thema- und Rhema-Funktionen, ihre Unterbrechung bzw. Wiederanknüpfung im Textverlauf. Das Resultat dieser gänzlich anderen sprachlichen Verknüpfung der Dinge ist eine von der institutionalisierten des bürgerlichen Lebens völlig abweichende Wahrnehmung des Wirklichen. Die Lebensbeschreibung Anteos setzt ein im Moment, wo dieser vom Gericht vorgeladen wird, um sich wegen seiner Lebensführung zu verantworten. Als er sich zu den Sachverhalten der Anklage äußern soll, stellt er erst einmal klar, dass es sich nicht um Sachverhalte im Sinne von »Tatsachen« handelt: Es gibt keine Fakten [so stellt er fest, und]: Ich wiederhole, dass Fakten nicht existieren, und dass ich nicht verantwortlich bin. Die Verantwortlichkeit ist eure, wenn ihr anfangt, Dinge für wichtig zu halten, die nicht existieren, die Staub sind auf dem Weg der Evolution. [180]33
Gegen die Fakten des bürgerlichen Lebens setzt Anteo die Ansprüche eines Daseins, das weiter zu entwickeln ist.34 Seine Zuversicht schöpft er aus dem Vertrauen auf die scienza, die letztlich darüber entscheidet, ob er schuldig ist 32 Die Stelle seines Traktats, wo Anteo sich sozusagen selbst zitiert, im vollem Wortlaut auf S. 6 des Textes in kursiv gedruckt. 33 Die Kontestation der »fatti« [Fakten] durch die Protagonisten der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts hat Romano Luperini schon bei Pirandello nachgewiesen. Cf. Romano Luperini: »Allegorismo versus simbolismo Pirandello e d’Annunzio novellieri«, in ders. in : L’allegoria del moderno, Rom : Editori Riuniti 1990, S. 203- 219. 34 Die Argumentation Anteos bezüglich des universellen Lebenszusammenhangs in ihrem vollen Wortlaut: »[…] der Mensch hätte die Projektionen seiner Vorfahren weiterführen sollen, aber mit anderen Materialien und Formen: er hätte folglich nach einer langen Lehrzeit das leisten können […] [15]. [Aber die Menschen, so Anteo weiter] haben nicht bedacht, dass, um zu leben, es nicht genügt zu essen und sich fortzupflanzen […], sondern täglich sich neu zu konstruieren, einem höheren Gesetz gehorchend, das das Universum regiert, das in den Körpern der organischen Materien inkarniert ist und lebt und verlangt, dass diese Körper andere produzieren, um sich selbst auch konzeptuell weiterzuentwickeln, und die große Explosion zu erforschen, die das Universum ist, seine in Umdrehungen verlaufende Flucht, die der große Entwurf des Lebens ist.« [14]
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oder nicht, was impliziert, dass die Wissenschaft vordringlich auch das Sprachvermögen der Menschen zu erforschen hat, um die Frage zu klären, wie weit die Wörter – und unter welchen Bedingungen – eine Beziehung zur Wirklichkeit aufweisen oder diese verbürgen. Der wissenschaftliche Diskurs muss also zunächst wieder ansetzen bei der Untersuchung des sprachlichen Vermögens und der Frage, wie Sprache entsteht und funktioniert, in einem monologischen oder dialogischen Kontext. Anteo versucht, ein sprachliches Niveau zu erreichen, das der wissenschaftlichen Erkenntnis adäquat ist, zugleich aber auch der Poesie angemessen, die darin wieder zur Geltung kommen soll.35 Es kündigt sich hier schon die Wende an, wonach die Sprache der Wissenschaft das Medium wird, in dem sich die Poesie regeneriert und Anteil nimmt an der wissenschaftlichen Erforschung des Wirklichen. Die neuen Erkenntnisse betreffen über die Naturwissenschaft hinaus aber auch Sprache und Literatur, auf die wir noch einmal zurückkommen. Während der Arbeit an seinem Traktat gewinnt Anteo zunehmend Klarheit über die sprachlichen Probleme, d.h. die semantischen und syntaktischen Schwierigkeiten der Abfassung seines Textes. Dieser ist nicht in einer diskursiven Ordnung abzufassen, die linear in Form einer programmatischen Verlautbarung verfährt, sondern muss, um die Gegenargumentation in sich aufzunehmen und auf sie zu antworten, den Redefluss unterbrechen und immer wieder neu beginnen, wo neue Aspekte in die Rede zu integrieren sind. Das in den Texten zu analysieren, liegt in der Kompetenz einer Textgrammatik und in ihren Erkenntnissen und Anweisungen hinsichtlich neuer Verfahrensweisen.36 Anteo glaubt, noch etwas unsicher zunächst, dass meine Wissenschaft belebt wird […]durch die Kunst und die Poesie, auch wenn ich kürzlich erst notiert habe, dass Betrachten und Darstellen nichts anderes ist als eine kleine Erregung der Gefühle […]. Heute aber kann ich sagen, dass das poetische Fühlen, welches das künstlerische Sehen ist, auch ein Instrument der Wissenschaft ist […] [194].
Und er fügt hinzu: Wenn der Zweck, die finalità ultima der Wissenschaft, die Vervollkommnung von Natur und Mensch, d.h. der macchina mondiale ist, dann ist es auch die Vermehrung ihres Glücks [194]. 35 »Wenn der Traktat frei [zugänglich] ist und die Wörter erneuert sind, und wenn ich wirklich wissenschaftlich schreiben kann, wie es die Wissenschaft verlangt, in einer Weise nämlich, die wie die lieblichste Poesie klingen wird, und von allen auf ihre Weise wahrgenommen wird, und neu und voller unendlicher Freiheitsversprechen, dann werde ich die Figur hinter mir lassen, als die man mich dargestellt hat […].« [55] 36 Einen Aspekt der Textgrammatik haben wir eingangs schon an der Passage des Textes Volponis auf S. 6 versucht zu erläutern. Das hier angesprochene Problem betrifft die semantisch- syntaktische Gliederung der Rede und konkret die Schwierigkeit, den Anschluss an einen Redeteil, der als Subjekt der Aussage ermittelt worden ist, in einem von diesem entfernten Redeteil aufzufinden, der als das Prädikat der Aussage gelten kann; das Subjekt der Aussage definiert die Textgrammatik als Thema und das auf dieses bezogene Prädikat als Rhema. Cf. Dieter Wunderlich: »Textlinguistik«, in: Grundzüge der Literatur- und Sprachwissenschaft hg. von H.L. Arnold und V. Sinemus, Bd. 2: Sprachwissenschaft, S. 386- 397.
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Was die hier skizzierten Ansätze einer Textlinguistik betrifft, so wären sie als Bausteine oder Elemente einer weiter zu entwickelnde Geschichte der avantgardistischen und experimentellen Strömungen zu betrachten, unter die Volponis z.T. wagemutigen Neuerungen zu subsumieren wäre, und zwar auch im Sinne der semantischen Destruktion institutioneller oder institutionalisierter Wortbedeutungen oder eines radikalen Umbaus der Sprache der Literatur, die auf diese Weise einzuwirken bestimmt ist auf den allgemeinen Sprachgebrauch. Die Radikalität, mit der Volponi – immer über seine Handlungsfiguren – die Zerstörung des geltenden Sprachgebrauchs betreibt oder propagiert, rechtfertigt seine Zuordnung zur neoavanguardia. Wird er ihr zwar nominell nicht zugerechnet,37 so gibt es doch keinen Zweifel daran, dass die hier beschriebene Einstellung gegenüber den gesellschaftlichen Institutionen den Grundsatzerklärungen der neoavangardia – aus der Feder Edoardo Sanguinetis – weitgehend entspricht, insbesondere wo sie den Verlauf der Literatur betrifft, den Sanguineti in seinen Essays über die Avantgarden exemplarisch aufgezeigt hat.38 Die Thematik der Existenz und die Rekonstitution des Subjekts
Über dem Leben und Wirken Anteos ist von Anfang an die existentielle Bedrohung seines Unternehmens spürbar. Das wird an vielen Stellen deutlich, schon wo es einfach um atmosphärische oder meteorologische Veränderungen geht,39 dann aber, wo es direkt von ihm geäußert wird: mich ergriff die Furcht, dass plötzlich sich etwas verändern könnte und infolge dessen das Schicksal der Menschen physisch eine Katastrophe bedrohte [160].
Das Gefühl der Bedrohung rührt vermutlich her aus einem Gefühl der Ohnmacht gegenüber der Gewalt der Vorurteile seitens der Familie und der Institutionen, die ihm Massimina entfremdet und auf ihre Seite gezogen haben und die seinen Besitz durch richterliche Verfügung an sich reißen; Ohnmacht auch einem Vater gegenüber, der ihn mit Schlägen zum Wohlverhalten bekehren wollte und ihn dann sich selbst überlässt, indem er sich in den Dienst der Besitzenden flüchtet,40 schließlich Ohnmacht, die sich in Wut und Aggression verkehrt, als er in einer der Unterredungen mit dem Freund Liborio, ihn, den Priester, zur Auflehnung gegen die Gesellschaft auffordert, »die Herren, die Besitzenden, deine Vorgesetzten« [154], um soziale Gerechtigkeit zu erzwingen, und Liborio ihm entgegnet:
37 Volponis Nähe zur Zeitschrift Officina und deren Einfluss auf sein neues Schriftverständnis im Sinne des sperimentalismo hat E. Zinato dokumentiert in »Paolo Volponi«. In: Studi novecenteschi, Nr. 43- 44, 1992, S. 8- 9; sein Selbstverständnis i. S. der neoavanguardia hat er im Interview mit Rocco Capozzi bekundet, in R. C.: Scrittori, critici e industria industriale dagli anni ’60 ad oggi, Lecce: Piero Manni, 1991, S. 168f. 38 Sanguineti, Edoardo: Ideologia e linguaggio, Mailand: Feltrinelli 2001. Darin die Artikel: Sopra l’avanguardia, S. 55- 58, Avanguardia, società, impegno, S. 59- 71, Per una critica dell’avanguardia poetica in Italia, S. 115- 127. 39 Siehe die Beschreibung z.B. der Landschaft nach der Rückkehr Anteos aus Rom auf S. 194- 95. 40 Siehe die Familiengeschichte am Romananfang, S. 6- 9.
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Die frühen Romane ich bin im Dienst schon von einem, der verurteilt worden ist, gerade weil er gegen die Mächtigen kämpfen wollte [154- 55].
Und aus dieser Ohnmacht gegenüber den institutionellen Gewalten, die die gesellschaftlichen Veränderungen nach dem Kriegsende zu verhindern suchen, erwächst dann der politische Widerspruch der neuen Generation der 60er und 70er Jahre, den Volponi in Corporale in seine Geschichtsdarstellung aufnehmen wird. Aus dieser potenzierten Ohnmacht, die sich schließlich als Aggression und Zerstörungstrieb ebenso gewaltsam entäußern will, resultiert eine Konstellation gesellschaftlicher Kräfte, die in La macchina mondiale als Handlungsmomente in das Drama der Geschichte Anteos einbezogen sind. Wie in Memoriale geht es um die Frage sozialer Gerechtigkeit (»giustizia«), die im Gerichtsverfahren gegen Anteo in den Vordergrund rückt; und es geht andererseits um das Sein der Gesellschaft, um ihre Wesensmerkmale, in der Polarität von Gesellschaft als Institution, die Anteo völlig negativ bewertet,41 und dem utopischen Entwurf von Gesellschaft im Traktat des Erzählers. Die letztere ist die eigentliche und alles umfassende Thematik des Romans, was verdeutlicht wird in der polaren Gegensätzlichkeit im Disput zwischen Anteo und Liborio, an der radikalen Kritik an der Gesellschaft des einen und ihrer Verteidigung durch den anderen. Sieht Liborio die realtà der Gesellschaft in ihren christlichen Werten, Pflichterfüllung, Arbeit, Familie, so äußert Anteo: Der Mensch muss aus diesem Gefängnis ausbrechen, die Schwelle der Ignoranz überschreiten und sich frei seinen Problemen stellen, in der Kenntnis seiner selbst, die zur Möglichkeit wird, sich selbst und die Dinge um sich zu beherrschen. [151]
Und im Disput um die Gesellschaft geht es letztlich wieder um die Vergesellschaftung des Menschen, um seine Integrierung in den universalen Lebenszusammenhang. Dass dieser Aspekt – und damit der Zusammenhang mit der Rekonstitution des gesellschaftlichen Subjekts – schon von Beginn an in der Thematik des Traktats enthalten war, wird erst nach der Rückkehr Anteos von Rom nach San Savino und nach dem Prozess gegen ihn thematisch vorherrschend. Sein Haus findet er halb demoliert, Fenster und Türen eingeschlagen, so dass er physisch die Gewalt der anderen gegen sich erfährt und sich in seine Angst die Furcht vor einer Gefahr mischt, die ungreifbar ist, nämlich vor dem explosiven Potential, das mit der tödlichen Energie der Atombombe gleichgesetzt wird. Diese Gefahr aber wird im Roman in allegorischer Weise personifiziert. Es ist die von der Autorität der Richter und Anwälte der Macht ausgehende Gefahr, die Anteo mit dem Consigliere identifiziert, dem angesehenen Politiker, in dessen Haus Massimina als Dienstmagd Zuflucht gefunden hat. Zur allegorischen Figur gewandelt, rückt der Consigliere in die Position des Repräsentanten der Institutionen, deren zerstörerisches Potential er verkörpert. Seine Drohung mit Strafverfolgung und Gefängnis begegnet Anteo mit der Frage: 41 Siehe den Disput zwischen Anteo und Liborio S. 151- 52 und Anteos Kritik der Gesellschaft als Summe asozialer Verhaltensweisen S. 152.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte […] welche logische Beziehung er sehe zwischen der Gewalt der Atombombe und der seiner Autorität und welche darüber hinaus zwischen seiner Autorität und der Benutzung der Atomenergie zu friedlichen Zwecken […] [128].
In diesem Zitat wird erstmalig manifest, dass und wie Volponi das Motiv der Atombombe, bzw. der nuklearen Energie, in ihrer zerstörerischen Auswirkung auf das Machtstreben von Kräften der Institution bezieht, die er später, in Il pianeta irritabile, als die Kräfte des »militärisch-industriellen Komplexes« identifizieren und denunzieren wird. Einzuschließen ist darin aber auch, dass die nukleare Energie – bildlich aber auch real – eine Energie bezeichnet, die für Volponi die Antriebskraft der Materie darstellt, wirksam in der menschlichen Psyche als Triebenergie im Sinne der Libido der Psychoanalyse; und schließlich das Potential der gesellschaftlichen Energien, die Volponi zunehmend gefährdet sieht durch ihre Unterwerfung unter die Kontrolle des Kapitals. Die immer wieder von Volponi angedeutete Gefahr einer Atombombenexplosion42 wäre in diesem Sinn zu verstehen als psychosoziales Phänomen der Angst, die sich in den Figuren Volponis manifestiert und studieren lässt. Als eine Reaktion darauf ist aber auch die Beharrlichkeit zu werten, mit der seine Figuren auf der eigenen Wahrnehmung der Dinge bestehen und ihr Recht gegenüber der Gewalt der Institutionen geltend machen. Ihr Verhalten ist oft, nicht zu Unrecht, als ihre Neurose charakterisiert worden43 oder wird als Phänomen der pazzia, des Wahnsinns im Sinne eines pathologischen Befunds gedeutet. Anteo begegnet diesem Vorwurf, indem er bemerkt, dass nicht er wahnsinnig sei, sondern die ihn bekämpfende Gesellschaft der »potenti«, doch lässt er auch erkennen, dass in dieser pazzia der Schmerz sich offenbart, den alle erfahren und erleiden in der festgefahrenen Ordnung der Gewalt, die Ordnung, in der der Schmerz hingenommen wird wie das Blau der Himmelswölbung und jede andere Existenz, Liebe, Begehren, Freundschaft verborgen sind in den Vertiefungen der Fugen [188].
Der Himmel wird in diesem Vergleich zu einer Art Decke, unter der die Erscheinungen der Natur und des Lebens begraben liegen. »Der Wahnsinn oder die Verrücktheit oder die Verkehrung der Sinne oder der Verlust der Vernunft« [191] zählen, wie Anteo feststellt, unter die Kategorien der gesellschaftlichen Ordnung, der man sich unter allen Umständen entziehen muss; aber dafür gibt es zwei Wege: die Flucht nach vorwärts in das Wagnis der Freiheit, doch auch, wenn man die Zitate im Zusammenhang mit der Familiengeschichte sieht, zurück in die Geborgenheit des Mütterlichen, die in den Bildern des Wassers und des Sees evoziert wird. Anteo ist die erste Figur im Werk Volponis, in der die Resozialisierung des Subjekts, im Gegensatz zu seiner Zukunftserwartung, in rückwärts gewandter Richtung verläuft, worauf 42 Insbesondere in Corporale und später in Il pianeta irritabile, wo der atomare Konflikt als eingetreten dargestellt wird. In La macchina mondiale wird schon auf die »potenza della bomba atomica« [128] hingewiesen. 43 Siehe Capodoglio, Enrico: »La qualità storica della luce: ›La Strada per Roma‹ di Paolo Volponi« , in : Strumenti critici, Heft 1, 1994.
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Die frühen Romane
dann als Reaktion die Flucht ins Ungewisse der Anonymität und in der Biographie Gerolamo Aspris in Corporale zu sehen wäre. Nach dem Fehlschlagen seiner Bemühungen um die Rückkehr Massiminas und seiner Verurteilung vor Gericht zieht sich Anteo in die Einsamkeit seiner zerstörten Behausung zurück, wo er wieder zurückzufinden sucht in die primitive Existenz der Tiere, die ihn umgeben: Als ich diese Beschlüsse fasste, kehrte sofort der Gedanke an die Wissenschaft zurück, der mich erkennen ließ, dass ich im Begriff war zurückzugehen, zurück in der geschichtlichen Zeit und in der menschlichen Entwicklung, nach Art des einsamen Jägers und des Liebhabers der Natur, wie der Mensch zurückgeht, der keine Wissenschaft kennt und sie nicht ausübt. [146]
In seinem Entschluss, »aus der Welt zu scheiden, die der wahre Sitz des Wahnsinns ist«, situiert sich Anteo außerhalb der Gesellschaft, deren Opfer er wird. Er hält aber über den Tod hinaus an der Überzeugung fest, dass die Erkenntnisse seines Traktats die Zivilisation der Menschheit in neue Bahnen lenken wird. Dann, ohne nichts weiter zu schreiben, versicherte ich mir, dass […] meine Reaktion immer gewesen wäre die Affirmation meines Bewusstseins, und nicht eine Weise, die Niederlage anzuerkennen im Sinne der Flucht oder des Selbstmords […] [158].
So rechtfertigt Anteo seine Selbsttötung.
3. L A
STRADA PER
R OMA
Der Weg in die Republik
Die Wege zur politischen Erneuerung Italiens, so könnte die Thematik des Romans bezeichnet werden, in dem Volponi die Nachkriegsgeneration der 50er Jahre zeigt und an den Lebenswegen einer Gruppe junger Leute aus Urbino illustriert. Aus der Kindheit im Krieg und im Faschismus versetzt Volponi seine Romanfiguren in eine Nachkriegszeit, in der die italienische Gesellschaft – als Republik laut Verfassung von 1948 – in eine neue Phase seiner Geschichte eingetreten ist. Diese Geschichte wird in der Romanhandlung vorwiegend dargestellt und gespiegelt im Sozialisationsverlauf der jungen Leute, die von der Kindheit in der Familie in die Lebenserfahrung der Gruppe in der zeitgenössischen Gesellschaft überwechseln. Volponi zentriert die Romanhandlung um 1953, das Jahr der Parlamentswahlen und des Wahlrechtsmanövers der Democrazia cristiana (Dc), der so genannten legge truffa ( d.h. dem gesetzgeberischen Schwindel, mit dem die regierende Dc versucht hat, ihre parlamentarische Mehrheit zu befestigen). Das Scheitern dieses Manövers ist auch das Ende der Ära De Gasperi und der ersten Regierungsphase der Democrazia cristiana. Der Übergang in eine Phase kündigt sich an, in der die Weichen gestellt werden für den Wirtschaftsaufschwung in den westlichen Ländern Europas, den so genannten Wirtschaftswundern unter der Regie der USA. Erkauft wird dieser Weg 127
Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
durch die Entlassung der Minister der Linken in den jeweiligen Regierungen West-Europas. Unter Amintore Fanfani, dem neuen Parteisekretär der regierenden Dc, setzen die Richtungskämpfe in der Partei ein, wovon im Roman noch die Rede sein wird. So viel zunächst, dass der Integralismus Fanfanis die Zusammenführung aller Regierungskompetenzen in der katholischen Dc verfolgt, der Reformflügel der Partei sich dagegen für eine Wirtschaftspolitik stark macht, die Momente einer Wirtschaftsplanung und gleichzeitig die Förderung und Modernisierung der Industrie zum Programm erhebt und damit einer Forderung nachkommt, die Volponi als dirigente industriale dann bei Olivetti als wirtschaftspolitisches Prinzip vertreten wird. Dieser Linie zunächst folgend, berät und beschließt die Regierung unter ihrem Haushaltsminister Vanoni Maßnahmen zur Koordinierung der Wirtschaftszweige in einer Art staatlicher Planung, die aber – über ihre Proklamierung hinaus – nie wirklich in die Praxis umgesetzt worden ist. Die Mehrheit der Partei widersprach diesen Maßnahmen, indem sie sich auf den Beschluss von 1947 berief, »die Wirtschaftspolitik ganz an die Liberale Partei zu delegieren«, (der »linea Einaudi« folgend),44 womit die Interessenvertretung der Wirtschaft wieder in die Kompetenz des Regierungslagers übergeht oder verbleibt. In den Richtungskämpfen des Regierungslagers und seiner Verbündeten – die in der Spannungsweite verlaufen zwischen einer bedingungslosen Etablierung der Kapitalinteressen im Bankwesen und einer Planungspolitik zur Förderung der Industrie – spiegelt sich in der Darstellung des Romans die Auseinandersetzung zwischen den Kräften und politischen Strömungen, die schon in den 50er Jahren für eine andere Republik plädiert haben und jenen, die im Werk Volponis kämpferisch für eine Republik eintreten, in der sich ein neuer Geschichtsverlauf der italienischen Gesellschaft manifestiert. Diese Gegensätze verkörpern im Roman im Ansatz die beiden Hauptfiguren, Guido und Ettore, die wir – verstehen wir die Romanhandlung wieder als Allegorie, als Darstellung der Ursprünge und Widersprüche der italienischen Republik – auch als synthetische Figuren begreifen und interpretieren können, in denen der Romanautor und Erzähler nicht nur den Verlauf ihrer politischen Entscheidungen dem Leser vermittelt, sondern auch die Geschichte einer Resozialisierung erzählt, die im Freundschaftsverhältnis der beiden Figuren zum Ausdruck kommt. Guido und Ettore, die beiden Figuren des Romans, an deren Lebensverlauf das politische Auseinanderdriften der beiden Einstellungen bezüglich der zu errichtenden Republik zu verfolgen ist, verbindet seit ihrer Kindheit eine Freundschaft, die parallel zur politischen Entfremdung der beiden Figuren auch zur Aufhebung dieser Beziehung auf der Ebene der Personen führt, und das impliziert der Subjekte in der Analyse Volponis. Auf diesen parallel verlaufenden Ebenen der Handlung werden die konstitutiven Thematiken des Romans erzählerisch verdichtet in den beiden Geschichten, in denen Volponi die Analyse des Subjekts anhand der Figuren demonstriert, und in denen er die Erneuerung der italienischen Gesellschaft spiegelt. Im Sinne der Erzähl44 Siehe Alf; Sophie G.: Leitfaden Italien. Vom antifaschistischen Kampf zum Historischen Kompromiss, Berlin: Rotbuch Verlag 1977, S. 158. Was die Wirtschaftspolitik des Liberalen Luigi Einaudi betrifft, verweisen wir auf Paul Ginsborg: Storia d’Italia, S. 148f.
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Die frühen Romane
strategie, die auf ein allegorisches Verständnis des Erzählten zielt, verlaufen thematisch parallel einerseits die Wegsuche der Figuren der Nachkriegsgeneration, in der es, wie in Memoriale, um deren Integration in den Arbeitsprozess geht, und andererseits die Schilderung des dramatischen Verlaufs der Freundschaftsbeziehung der Schlüsselfiguren, womit Volponi, wie wir vermuten, darzustellen versucht, was als der Prozess einer Resozialisation der aus dem Krieg als geschädigt hervorgegangenen Generation zu verstehen wäre. Der Roman, der hauptsächlich in Urbino spielt, zeigt eine Gruppe junger Leute, die vor der Wahl ihres Weges ins Berufsleben stehen, auf der Straßen also, die sie einer unbestimmten Zukunft entgegen führt. Guido als Sohn eines wohlhabenden Geschäftsinhabers und Absolvent eines Jurastudiums hat die besseren Startbedingungen gegenüber Ettore, der aus einfachen Verhältnissen kommt und sich für die Tätigkeit als Lehrer auf dem Land entschieden hat; Alberto, die dritte Figur der Gruppe, muss, weil er in Italien keine Arbeit findet, emigrieren und findet in Belgien als Arbeiter im Bergwerk eine Existenz, die schon die Lebensweise des späteren precariato in Italien selbst vorwegnimmt. Gemeinsam ist diesen Lebensläufen die Zugehörigkeit zu einer Generation an der Wende zu einer Geschichte, die über die Zukunft der Gesellschaft insgesamt entscheiden wird. Dem entspricht die Thematik, die in der Kapitelüberschrift schon angedeutet wird, nämlich der Aufbruch der Gruppe junger Leute in die neue Gesellschaft, der in gewisser Weise die Sozialisationsgeschichte des frühen Subjekts im Werk Volponis fortsetzt und sie mit der Frage verbindet, in welche Republik die junge Generation die Straße nach Roma führen wird. In direkter Verbindung mit dieser Thematik ist im Roman Volponis die Geschichte der Freundschaft zwischen Guido und Ettore zu sehen, ihr dramatischer Verlauf und ihr Ende mit dem signifikanten Aufbruch Guidos nach Rom und dem Verbleiben Ettores in Urbino. Wie schon angedeutet, wäre das Moment der Freundschaftsbeziehung – in der Logik oder Strategie des Erzählvorgangs – auch als eine Art Geschichte zu lesen, die eine Resozialisierung der Gruppe junger Leute, und insbesondere der beiden Hauptfiguren, erzählt oder als Kern enthält, im Sinne einer Reparatur der Sozialisationsschäden, die die Figuren in ihren Familien erlitten haben. Als das Wesen dieser Freundschaft, oder was sie im Roman bewirkt und motiviert, sieht Volponi das Bedürfnis der Anerkennung, das die Figuren als Personen suchen und finden, solange ihre Freundschaft währt. An einem bestimmten Punkt aber schlägt das freundschaftsstiftende Moment um in ein Bedürfnis des Dominierens des einen über den anderen, und die Gegenseitigkeit der Beziehung wird aufgehoben, bzw. verkehrt in die Ungleichheit der Anerkennung des einen und der Dominanz und der Durchsetzung des anderen. Die Freundschaftsbeziehung wandelt sich in eine Beziehung der Abhängigkeit voneinander. Das Subjekt in der Position des Überlegenen ist angewiesen darauf, dass ihm die Bewunderung des anderen erhalten bleibt, und dass es von sich aus Vorgaben leistet, um das Interesse des anderen wach zu halten. Sobald das nicht mehr geschieht oder von der Position des Unterlegenen in Frage gestellt wird, bedeutet es das Ende der Beziehung, wie in der Freundschaft zwischen Guido und Ettore. Doch das Freundschaftsverhältnis, das wir analysiert haben, könnte über seinen Stellenwert in der Romanhandlung hinaus als ein Modell des Sozialverhaltens interpretiert werden, das auf die sozialen Beziehungen der Nach129
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kriegsgesellschaft im ganzen auszudehnen wäre. Erinnert sei nur an Sartres Beschreibung in L’être et le néant, seiner Schrift von 1943, in der er die sozialen Beziehungen der Individuen der Gesellschaft der Kriegs- und Nachkriegsperiode analysiert und dabei zugrunde legt, wie sich das Verhältnis der Individuen zueinander vom Konsens der bürgerlichen Gesellschaft zum Dissens der sich bekämpfenden Interessen – im Zeitalter des Faschismus – verschoben hat, einer Dialektik gehorchend von Durchsetzung und Unterwerfung, was Sartre in der berühmten Analyse des Blicks demonstriert. Der Blick des anderen bestimmt nicht nur meine Position ihm gegenüber, sondern auch mein Handeln in Bezug auf die Freiheit, die mir gewährt oder verweigert wird. Übertragen wir diese Dialektik auf die Verhältnisse der Nachkriegsgesellschaft im Roman Volponis, so ist unschwer in der Beziehung zwischen Guido und Ettore ein Anspruch der Herrschaft zu erkennen, der die Anerkennung der Person von ihrer jeweiligen Stärke oder Schwäche im Rechtsverkehr abhängig macht und so weit gehen kann, dass der Person die Anerkennung verweigert wird. Auf diese Problematik kommen wir zurück im Zusammenhang mit den politischen Implikationen der Sozialisation. Die Freundschaft als Resozialisierung des Subjekts
Wir sind davon ausgegangen, dass die Freundschaft zwischen Guido und Ettore als eine Art sekundärer Sozialisation zu sehen ist, und so von uns interpretiert wird, was impliziert, dass die Schädigungen der primären Sozialisation in der solidarischen Beziehung der Gleichaltrigen aufgehoben werden sollen oder könnten. Welche Wege die Figuren des Romans einschlagen, um als handlungsfähige Subjekte ihrer Entfremdung zu entgehen, ist an den Möglichkeiten zu ermessen, die ihnen offen stehen; und diese sind zu unterscheiden: 1. als die Flucht in die Poesie, wofür die Figur des poetischen Subjekts steht und das, was als mythopoetisches Bewusstsein der Kindheit von der Kritik allgemein so verstanden worden ist; 2. als der Weg in die Welt der Arbeit, den Ettore als Figur exemplarisch beschreitet und dem ein pragmatisches Bewusstsein der Wirklichkeit entspricht; schließlich 3. als der Weg zur Macht – auf der strada per Roma –, die Guido beschreiten wird, getragen von einem Selbstbewusstsein, das sich paart mit einer starken narzisstischen Komponente der Selbstspiegelung. Letizia, die Eroberung Guidos, äußert zwar, dass sie nicht sehe, wohin ihn sein Selbstbewusstsein führe [121], doch ist sie die Komponente, die dieser Figur Volponis den Weg zum Erfolg und zum Reichtum sichern wird, angekündigt und verkörpert schon in der Figur des alfiere industriale [in Agendina S 7, V. 16-17] und des Ikarus [aus Canzonetta] vorausdeutend schon auf die Welt des Kapitals. Sozialgeschichtlich von Interesse wäre der Hinweis auf die Genese dieses Selbstbewusstsein, herzuleiten wiederum aus der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, wie z.B. aus Hegels Phänomenologie des Geistes und Sartres L’être et le néant, den beiden eminenten Analytikern der bürgerlichen Bewusstseinsformen. Die Grundlage dafür ist, wie beide das sehen, die Beziehung zum Anderen. Erst in der Konfrontation mit dem Anderen entsteht so etwas wie das Bewusstsein einer Überlegenheit, die das Subjekt in den Augen des Anderen repräsentiert, exemplarisch zu beobachten im Verhältnis Guidos zu Ettore, der diesen in seiner Selbstwahrnehmung bestätigt. Deutlich wird das auch in der Ball-Episode zu Beginn des Romans, die ein Musterbeispiel von Guidos Herrschaftsanspruch in Bezug auf die Anderen darstellt, 130
Die frühen Romane
hier bezogen auf Letizia Cancellieri, die Tochter aus einer angesehenen Familie. Gegenüber den Freunden äußert er, dass er von Letizia im Laufe der Ballnacht die Einwilligung zu einer Verabredung erlangen werde, die er auch erhält. Doch als Guido am nächsten Morgen von Ettore erwartet, dass er seine Eroberung Letizias gebührend würdigt, sucht er ihn vergeblich, weil dieser selbst noch mit dem Mädchen seiner Bekanntschaft beschäftigt ist und davon erzählt, als er Guido wieder trifft. Guido fühlt sich nicht nur verletzt, sondern zutiefst getroffen von dieser Anmaßung Ettores. Der Cancellieri-Episode, die diesen Vorgang illustriert, kommt erzählerisch darüber hinaus die Funktion zu, Guido Corsalini als den »Helden« der Ball-Episode in Szene zu setzen. Wenn von der Kritik hervorgehoben wird, dass diese Episode offensichtlich von Stendhals Le rouge et le noir inspiriert worden ist, so ist diese Entlehnung vermutlich aber auch darauf zurückzuführen, dass Volponi Corsalini als Helden der bürgerlichen Literatur im Stil des französischen Romans des 19.Jahrhunderts kennzeichnen wollte, der seinen Aufstieg in der Gesellschaft u.a. seinem Erfolg bei den Frauen verdankt, wie Rastignac in Balzacs Le père Goriot, der auf der Erfolgsleiter angekommen, einen Blick auf die Stadt unter ihm wirft und Paris mit den Worten herausfordert »A nous deux maintenant!«. An diese herausfordernde Geste erinnert in Le mosche del capitale die Anfangsszene des Romans mit dem Blick Saraccinis auf das nächtliche, im Schlaf versunkene Turin. Guido ist aber auch eine Figur, die anteilig das Subjekt in seiner Entwicklung im Werk Volponis mit repräsentiert und in seiner Selbstsicherheit gefährdet erscheint durch die Erfahrungen der Kindheit und die Gedanken, die ihn heimsuchen und gegen die er sich zur Wehr setzen muss. Psychoanalytisch sind es die »pensieri« [96-98], die als Motiv der Beunruhigung die Selbstwahrnehmung des Subjekts Volponis behindern – wie schon bei Anteo die Wahrnehmung der alltäglichen Wirklichkeit – und die er notfalls durch »magische« Kräfte von sich fern halten muss. Auf die Bedeutung der suggestiven Selbstauslegung des Wirklichen werden wir noch eingehend zurückkommen. Zunächst geht es aber um die Bestätigung der »cose vissute«, des selbst Erlebten, das als wirklich anerkannt und gerühmt werden soll. Aber nicht nur in seiner Wahrnehmung will Guido bestätigt werden, sondern, wie seine Bemühungen um Alberto zeigen, der als Arbeiter emigriert, auch in seiner Zugehörigkeit zur Gruppe »aus einer Art Klassensolidarität«, wie er sagt [177].45 Als Ettore schon als Lehrer auf dem Land begonnen hat, sich für die Rechte der Bauern einzusetzen, lässt Guido noch seine Examensarbeit von einem Juristen in Pesaro überarbeiten. Beide begegnen sich dort und offenbaren in dieser Begegnung ihre jeweiligen Perspektiven: während Guido von 45 Aufschlussreich diesbezüglich, wie Guido das rechtfertigt, dass nämlich darin die gemeinsame Basis der Resozialisierung begründet ist: »Dieser Gedanke erfüllte ihn mit tiefer Befriedigung, denn er befreite ihn vom Verdacht, anders zu sein, d.h. ausgeschlossen zu sein von einem Einverständnis, von einer Gruppe, in der die anderen etwas Anderes besaßen, etwas noch mehr als er, wenn auch von wenig Wert.« [177] Aber typisch zugleich, wie Guido auf diese Zustimmung reagiert, denn »die Solidarität von Alberto hatte es ihm möglich gemacht, das Eis der Enttäuschung zu brechen, hatte ihn auch bestätigt in seinem Stolz, freier als die anderen zu sein, begabter mit Forschergeist, weniger platt, und schließlich weniger kommunistisch.« [177]
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der »Suche nach einer Moral« spricht, von der er sich ein »leichtes Leben für alle« verspricht [181], aber den Weggang von Urbino verlange, fordert Ettore im Gegenteil, dass im Umfeld von Urbino zu beginnen ist, und in seiner Rede spürt man die Liebe zum Land und zur Kultur der einfachen Leute, die hier noch einmal, wie in den Gedichten in Le porte dell’appennino, zur Sprache kommt. Aufschlussreich ist in beiden Äußerungen, dass sie Themen berühren, die fast zeitgleich in La macchina mondiale wiederkehren, wie die Wissenschaft von der Guido spricht, und die Veränderung der Arbeit der Bauern und Handwerker, von der bei Ettore die Rede ist. Von Interesse ist darüber hinaus, dass uns in Ettore das poetische Subjekt der frühen Phase wieder begegnet, das, wie es heißt, »Gedichte schrieb«. [182] Die Krise in der Freundschaftsbeziehung kündigt sich an, als Ettore dem Freund in einem Brief vorzuwerfen beginnt, dass sein Anspruch auf Überlegenheit offenbar dazu diene, ihn, Ettore, zu demütigen. Die Reaktion Guidos auf diesen Brief ist, dass er wieder empört reagiert, sich aber abermals in seiner Überlegenheit bestätigt fühlt [232-34]. Das ganze folgende Kapitel ist dann der Konfrontation der unüberbrückbaren Gegensätze des »uomo superiore«, der sozial zur Herrschaft bestimmten Elite und der »inferiorità della povertà« [der Unterlegenheit der Armut], gewidmet [255-271] und der Darlegung, wie der Reichtum das öffentliche Wohl befördere. Dieses Kriterium wird Maßstab einer Wertzumessung der Überlegenheit, die Ettore zunehmend begreift als das Argument eines sozialen »Egoismus« und der zynischen Behauptung, »dass alle Unansehnlichen und Armen sich zufrieden geben müssen, so zu sein«, wie sei sind. [258] Für Guido verbindet sich mit Reichtum dagegen die Idee der sozialen Verantwortung, wie sie große Wohltäter, wie Ford, Krupp oder Rothschild ausgezeichnet habe, für die Reichtum verbunden war »mit der Idee der Gesellschaft«. [261] Um diesem Ziel näher zu kommen, kehrt Guido Urbino den Rücken: Ich gehe weg gerade deshalb: Urbino genügt mir nicht mehr, und so auch alle meine Freunde und Freundinnen. Ich will kommandieren, Männern und Frauen. [207- 208]
Schon in Rom als Mitarbeiter der ›Unione delle Banche‹, überdenkt Guido sein Verhältnis zu Ettore und kommt zu dem Schluss: Er musste sich Ettore erhalten, ihn nicht verlieren, ihn in dem Zustand belassen, wo er nicht viel versteht und keine Initiative ergreift, die für ihn kritisch würde […]; [und Guido gesteht sich ein], dass er in ihrer Freundschaft immer die Unterwerfung des anderen gewollt hat, wenigstens seine Gefolgschaft [330].
Die letzte Unterredung zwischen den Freunden, ehe Guido Urbino für immer verlässt, verläuft in einer fast entspannten Atmosphäre, obwohl »Guido in dem Freund den Antagonisten nicht verkennen konnte, den er in ihm sah in seinen geheimen Ressentiments«. [387] Beide wissen, dass ihr Gespräch das letzte ist und damit ihre Trennung besiegelt wird. Bei allem Verständnis, das Guido dem Freund entgegenbringt, bleibt für ihn unabdingbar und entscheidend, dass er am Ende in seinen Ansichten bestätigt wird, also recht behält gegenüber seinem Widersacher. Doch für beide bleibt als schmerzliche Erfahrung, dass sich die Bande der Freundschaft gelöst haben, die eng mit Ur132
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bino und ihrer gemeinsamen Kindheit in dieser Stadt verknüpft waren und damit die Resozialisierung als Lebenserfahrung relativiert wird, als die wir die Freundschaft betrachtet haben. Beide beklagen den Zustand der Stadt. Während aber für Ettore Urbino die Stadt bleibt, in der die Erträge der Arbeit ihrer Bürger wieder zurückfließen müssen, um ihre Lebensfähigkeit zu sichern, ist für Guido die Stadt nur die Erinnerung an eine Phase seines Lebens, die er festhalten möchte. Als Ettore einmal im Gespräch Guido zustimmt, ist das für diesen das Eingeständnis seiner Unterlegenheit und die Bestätigung der eigenen Selbstwahrnehmung. Er begnügte sich damit und ließ alles beiseite, was in der Rede Ettores die Bequemlichkeit stören konnte […]. Schließlich war Ettore nicht wie er erwählt; es war er vor allem, der ihn vorwärts getrieben hat, gerade mit seinem »schwarzen Humor«. [394]
Nach einem Zechgelage in einer Osteria in Urbino trennen sich die Wege der Freunde. Nicht zu verkennen ist, dass diese Schlussszene den allegorischen Charakter der nicht überbrückbaren Freundschaft der sozialen Antagonisten verdeutlicht. Die politische Thematik: Erneuerung oder Repubblica borghese? Das Schicksal der Republik, die auf der Grundlage eines mehrheitlichdemokratischen Konsenses historisch hervorgegangen ist aus dem Verfassungskompromiss von 1948, ist der zentrale Gegenstand der politischen Thematik des Romans. Nach dem Volksentscheid zugunsten der Republik stehen die Probleme der Demokratisierung der Gesellschaft und ihrer Institutionen sowie die Grundlagen ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitik im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Diskurse. Von grundlegender Bedeutung wird dabei die Feststellung von Artikel 1 der Verfassung: »Italien ist eine demokratische Republik, die auf die Arbeit gegründet ist. Die Souveränität wird ausgeübt vom Volk in den Formen und Grenzen der Verfassung.«46 Diese Verfassungsgrundsätze sind auch im Roman die bestimmenden Kriterien in den Debatten und Diskursen zwischen den Personen und Gruppierungen, die die Verfassungsgrundsätze kontrovers diskutieren: entweder sie im vollen Umfang bejahen und entschieden verteidigen, wie Ettore und seine Freunde, oder schon in der Substanz missverstehen und uminterpretieren werden, wie anfänglich noch Guido, oder schließlich ihre erklärten Gegner, die sie mehr oder weniger offen ablehnen und eine andere Verfassung in nicht öffentlichen Publikationen propagieren. Volponi versucht, über diese Debatten die Richtungskämpfe der Parteien und ihrer gesellschaftlichen Komponenten in den entscheidenden Jahren der Geschichte der Republik seinen Lesern bewusst zu machen, d.h. in den Jahren, in denen die Marktwirtschaft mittels der so genannten Wirtschaftswunder sich durchzusetzen beginnt zu Lasten des Begriffs einer Arbeitsgesellschaft, wie sie die Verfassung in ihrem Artikel 1 vorgesehen hatte. Auf dieser historischen Folie ist La strada per Roma zu lesen als die allegorische Darstellung der Ursprungsphase der italienischen Republik und der sich abzeichnenden Tendenzen einer gesellschaftlichen Ent46 »L’Italia è una Repubblica democratica, fondata sul lavoro. La sovranità appartiene al popolo, che la esercita nelle forme e nei limiti della Costituzione.«
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wicklung in Richtung auf die Strada per Roma, die mit Guido in die von ihm favorisierte Repubblica borghese führen sollte, wie Volponi den Roman u.a. betiteln wollte. Das Leitbild der Republik der Jugendlichen des Romans, in dem noch undifferenziert die Jugendlichen der verschiedenen Klassen sich in einer Art lokaler Solidarität als Gruppe konsolidieren, ist demokratisch und republikanisch (i.S. der neuen Republik), Begriffe, die den Horizont definieren, innerhalb dessen für sie eine gesellschaftliche Neuordnung denkbar und der Weg in die Welt der Arbeit möglich wird, eine Ordnung also, die alle Klassen umfasst, wie sie gutgläubig meinen: »la democrazia è sincera e onesta« [die Demokratie ist offen und ehrlich] lautet einer der Aussprüche des frühen Guido [22]; Demokratie wird zur Leitidee in den Auseinandersetzungen der verschiedenen Gruppierungen, auch wenn ihr Begriff verschieden interpretiert oder gar in Frage gestellt wird, wie durch den Anarchisten Pompeo Ricci, der dem bürgerlichen Lager ein demokratisches Verständnis rundweg bestreitet: Nichtig ist die Demokratie, die die Ignoranz und den Egoismus aufrechterhält, d.h. die Formen des Sozialen, die ihren Ausdruck finden in diesen sentimentalen Deformationen des Bewusstseins [264]. [Unverdrossen und naiv erklärt Guido aber]: Auch ich würde Kommunist sein zusammen mit den Bauern. [33]
In Gesellschaft der proletarischen Arbeitslosen wird den Freunden aber bewusst, dass diese nicht derselben Klasse angehören wie sie, was in ihren Debatten eine gewisse Befangenheit erzeugt.47 Ettore versucht deshalb, die Gemeinsamkeit der Arbeitssuchenden auf lokaler Ebene zu suchen und den Begriff »borghese« auszudehnen auf alle, die einem »demokratischen« Gemeinwesen angehören. Gegenüber Gualtiero, dem Proletarier und anarchistischen Aufwiegler, äußert er: Es ist kein Unterschied […] Lohn oder Gehalt, wenn sie nur ausreichen, um etwas zu sparen und sich zu vergnügen. [134]
Plädiert Ettore hier für ein dem Lebensstandard angemessenes Einkommen aller Erwerbstätigen, für die er sich politisch engagiert (in den Wahlen in der Unità popolare [275]), so entgegnet ihm Gualtiero: Es sind die Bürger, alle, die uns nicht helfen, und die uns nie geholfen haben [137]; [und es ist auch Gualtiero, der in einem Moment zynischer Spottlust die Formel Repubblica borghese in die Debatte wirft und auf die Frage: Was bedeutet Repubblica borghese? antwortet]: Es bedeutet nicht Repubblica popolare – Nein, – sagte Gualtiero. – Es bedeutet repubblica fascista. [132]
Die politischen Fronten, die hier sichtbar werden, sind die der gesellschaftlichen Klassen und ihrer politischen Parteien, die eine jeweils unterschiedliche Auffassung von einer republikanischen Gesellschaft vertreten. Zu dieser Einsicht führt Ettore sein Eintritt ins Berufsleben und die Bekanntschaft mit dem 47 Z.B. in den Kapiteln S.106- 116 und 131- 148, wo beide im Versammlungslokal der Kommunisten mit den Arbeitslosen diskutieren, die sie ja selbst auch sind.
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Vater seiner Freundin Angelica, der Kommunist ist und ihn für die Partei zu gewinnen sucht. Nur en passant sei angemerkt, dass wir in Ettores Annäherung an die kommunistische Partei auch schon Andeutungen einer Wertschätzung Volponis bezüglich Fragen der Sozialpolitik der Partei erkennen können, was sich in Ettores Einstellung spiegelt, die im Text ausführlich dargestellt und begründet wird. [398-99] Ettores politisches Wirken, sei soziales Engagements, zeigen sich exemplarisch in der Episode, in der er, inzwischen als Lehrer auf dem Land, drei Bauern auf ihrer Suche um Rechtsauskunft bei der zuständigen Landwirtschaftsbehörde in Pesaro begleitet, was offensichtlich auf die noch immer fortdauernden Maßnahmen anspielt, die mit der Riforma agraria von 1950 eingeleitet worden sind. Gezeigt wird, wie die Behörden die Rechtssuchenden in zynischer Weise hinters Licht führen, indem sie ihre Zuständigkeit verneinen oder darauf verweisen, dass die Gesetzeslage noch nicht geklärt sei [211-12]. Ettore aber besteht darauf, dass den Rechtsuchenden die betreffenden Dokumente selbst zugänglich gemacht werden müssen, worauf den drei Bauern nach geraumer Zeit u.a. die Auskünfte schriftlich zugeht, dass sie […] alles haben könnten: Kredite für die Häuser, Zuschüsse für Licht und Wasser, um Geräte, Tiere, Saatgut zu kaufen, um Pflanzungen anzulegen. Sie sagten aber, dass die Gesetze kompliziert seien, verjährt oder nicht, […]; einige bezüglich der Flächen auf den Hügeln, andere für andere Anbauzonen. Sie besagten, dass die Gesetze Teilwerk seien und dass viele Fehler enthielten und andere wieder nicht anwendbar wären. [225]
In dieser Episode gewinnt die Figur Ettores ein politisches Profil, das ihr ein Gewicht und eine Funktion verleiht, die erst in späteren Figuren des Werks – z.B. in Vivès und Subissoni in Il sipario ducale – wieder zur Geltung gelangen. Ettore ist als die exemplarische Figur eines lokalen Gemeinsinns zu sehen, eines senso comune der Citta ideale, der nach Volponi einer republikanischen Gesellschaft zueigen wäre. Charakteristisch ist dabei der Gegensatz in den Rechtsauffassungen von Ettore und Guido. Exemplarisch offenbart sich das in ihrem Zusammentreffen in Pesaro – oder besser gesagt – in ihrer Zusammenführung in derselben Szene in Pesaro, wo Ettore mit den Bauern um Rechtsauskunft bei den Behörden nachsucht, und Guido gleichzeitig von einem rechtskundigen Advokaten die Überarbeitung seiner Examensarbeit vornehmen lässt und so auf seine Weise das Recht sucht, wie man sagen könnte. In Einstellungen und Überzeugungen der beiden Figuren spiegeln sich – vermittelt über ihren Lebensverlauf – die Gegensätze in der Entwicklung der politischen Parteien. In einigen seiner markanten Phasen soll dieser Prozess verfolgt werden von dem Moment an, wo Ettore die Bekanntschaft Angelicas macht und über sie mit der KP in Berührung kommt. Auf Guidos Frage, ob er der Partei beitreten wolle, antwortet Ettore ausweichend: Nein. Ich habe nicht den Mut dazu. Ich verstehe nicht, warum ich es nicht gemacht habe, und oft schäme ich mich sogar, nicht beigetreten zu sein. [107]
Von Interesse ist an dieser Feststellung, dass hier die Nähe zur Sache des Kommunismus bekundet und vertreten wird von einem überzeugten Anhän135
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ger der republikanischen Verfassung, in der Geburtsstunde der Republik, deren Bestimmung die Herstellung sozialer Gerechtigkeit ist – die giustizia, die oberste Wertkategorie in Memoriale und Macchina mondiale – nach der Herrschaftsperiode der Besitzenden über die Gesamtheit der italienischen Gesellschaft. Die Annäherung des Subjekts der Sozialisationsthematik Volponis an die Partei des Proletariats wird, worauf wir schon hingewiesen haben, am Ende des Romans in einer fast gleichlautenden Erklärung Ettores noch einmal angesprochen [398-99] und darin ein Entwicklungsprozess angekündigt, der mit der Parteizugehörigkeit Aspris, der Zentralfigur in Corporale, als vollzogen gilt. Im Gegensatz zur politischen Profilierung Ettores bleibt die Figur Guidos in politischer Hinsicht lange noch ohne Konturen, beschränkt auf abstrakte und markante Äußerungen wie die Maxime: Ich verstehe unter Moral die Regel eines leichten Lebens für alle, und dann die Forschung und die Wissenschaft. [181]
Wird hier der ›Arbeit‹ im Prozess der Reproduktion der Gesellschaft der ›Lebensgenuss‹ als Kern einer gesellschaftlichen Moral entgegengestellt, so entspricht das dem Engagement der beiden Figuren im Vorfeld der Wahlen von 1953 [282-83]. Es ist Guido, der für die Kultur als Programm der Erneuerung Urbinos plädiert und Ettores, der sich für die sozialen Belange des Wohnungsbaus engagiert. Aber immer mehr rückt jetzt Guido, als Angestellter nunmehr der Unione delle Banche in Rom, in seiner politischen Relevanz [Teil III, 357-370] und in seinen ökonomisch-finanziellen Belangen [III, 371384] ins Zentrum. In einem seiner Freizeitsaufenthalte auf einer Insel in der Nähe Neapels wird Guido von seinem Bankvorgesetzten De Rose ins Haus eines Zeitungsmagnaten eingeladen, der den Bankleuten die Grundsätze der in den USA erprobten Praktiken des Neoliberalismus zu vermitteln versucht. Der auf zwei Seiten der Erzählung zusammengefasste Extrakt dieser Lektion [359-61] ist eine der weitblickendsten Prognosen der Entwicklung der Ökonomie – und der Politik in ihrem Fahrwasser –, die zum Zeitpunkt der Abfassung des Romans existierten. Den Kern dieser neokapitalistischen Doktrin bildet die Funktion des Reichtums, der schon von Anfang an der Gegenstand und das Prinzip in Guidos Überlegungen zur Rekonstruktion der Gesellschaft gewesen war. Der Professor, wie der Gastgeber genannt wird, rühmt die Rolle Amerikas in der Entwicklung einer Konzeption des Reichtums, der sich aller Fesseln sozialer Kontrolle entledigen muss, um im Staat den potere industriale [die industrielle Potenz] zu ihrer eigentlichen Bestimmung gelangen zu lassen: Großer Reichtum wird sicher produziert werden und dieser wird dann in der Lage sein, die Verfassung [seinen Zwecken anzupassen], er wird den Wohlstand und die Erwartung des Wohlstands dazu bringen, den Prozess der Anreize eines freien Wettbewerbs in Gang zu setzen. [361] [Und was die Rolle der Industrie betrifft]: Wenn von Industrie die Rede ist, heißt das große Konzentration von ökonomischer Macht, von immensen Summen von Kapital, das in der Lage ist, den Dialog mit den Institutionen des Staats aufzunehmen. [362]
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Was hier beschrieben wird als der beginnende Prozess einer konkurrierenden Einflussnahme des Industriekapitals auf die Entscheidungsbefugnisse der Regierung charakterisiert die politischen Veränderungen nach den Wahlen von 1953, die von der Geschichtsschreibung über diese Periode voll bestätigt werden, insbesondere in der Tendenz einer langsamen oder allmählichen Separierung der industriellen Interessen vom Integralismus der DC unter Fanfani. Was die Bank betrifft, so fällt ihr die Aufgabe zu, die Verbindung zur Börse herzustellen, was praktisch besagt, Bankguthaben an die Börse zu transferieren und/oder an der Börse titoli industriali zu erwerben [375]. Die Transaktion, an der Guido beteiligt wird, bezeichnet De Rose mit dem Neologismus »investment trust« und politisch als »sviluppo democratico« [demokratische Entwicklung]. [375] Der eigentliche Ort also, wo Reichtum produziert wird oder in bisher unvorstellbaren Maß vermehrt worden ist, die Banken, sind auch der Ort, wo die Laufbahn Guidos ihre Krönung findet. Die Konzeption der »ricchezza«, die den Aufstieg des Glücksritters, als der Guido einmal bezeichnet wird,48 motiviert, bestimmt auch seine Vorstellung von der sozialen Funktion des Besitzes [259]. Wie weit seine Überzeugung von der gesellschaftlichen Verantwortung des Reichtums der Wirklichkeit gerecht wird, zieht der Ökonom Pompeo Ricci in der Diskussion der Gruppe zum Thema »Reichtum« schon früh in Zweifel [261 ff]. Dass aus der moralischen Verpflichtung schließlich eine ideologische Rechtfertigung der Manipulation des Reichtums wird, erweist sich, als Guido sein Studium der Materie wieder aufnimmt und dabei für ihn nur noch das Interesse der Bank ausschlaggebend wird. [371] Deutlich geworden ist wohl, dass die Ideologen des neuen Finanzkapitals auf die Krise des Zentrismus in der Politik der Democrazia cristiana reagieren, deren Bemühungen, die Interessen des bürgerlichen Lagers an sich zu binden, den Tendenzen und Bedürfnissen hinderlich zu werden begannen, die auf eine extensivere Industrialisierung drängten.49 Das Regierungslager, nach wie vor von der Dc geführt, reagiert seinerseits darauf mit Überlegungen, Planungselemente in die Wirtschaftspolitik einzuführen und den Wirtschaftssektor mit staatlicher Beteiligung auszubauen.50 Im Kern weitet sich dieser Konflikt um die Kompetenzen im Wirtschaftsbereich –nach dem Strukturmodell im Werk Volponis – aus zu einer strukturellen Krise, nämlich dem 48 Am Ende seiner Ferienreise mit Barnaba Carasso auf die Inseln um Neapel erscheint Guido überzeugt von der Wahl, die er getroffen hat, im Licht eines Triumphes, der verglichen wird mit dem des »cavaliere nelle favole«, dem »Ritter aus dem Märchen«: »Er schritt voran und bekam Reichtum im Übermaß, bestehend aus Goldstücken und kostbaren Wandteppichen, aus Häusern und Tresoren; hinter all diesen Reichtümern erschien die Idee und auch das Gesicht glücklicher Leute […] sicher, gut leben zu können arbeitend für dieses Vermögen.« [369- 70] 49 Verwiesen sei hier auf die Dokumentation der Ereignisse von Paul Ginsborg: Storia d’Italia und Donald Sassoon: L’italia contemporanea, aus denen wir zitieren oder auf die wir uns berufen. 50 Letzteres geschah 1953 durch die Gründung des Eni, des ›Ente nazionale idrocarburi‹ mit Enrico Mattei an seiner Spitze; der Staat sicherte sich damit die exklusiven Rechte auf die Metangas- Förderung in der Po- Ebene und die Kontrolle über einen Wirtschaftsbereich in Konkurrenz mit der Privatwirtschaft.
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»Kampf zwischen Politik und Ökonomie« um die Zukunft der italienische Industrie. Es zeichnet sich schon ab, was im Kampf um die Verfügung über die Produktion und Reproduktion des Lebens in der Republik dann in Le mosche del capitale seine allegorische Darstellung findet.51 Die Prognose der new economics bezüglich einer sozialen Anbindung der Industrieentwicklung an die Bedürfnisse der Gesellschaft kann Volponi nicht teilen, wenn sie verheißen und verkündet wird von der Figur des Professors, des neoliberalen Ideologen, dessen Überlegungen so weit gehen, auch die Verfassung in Frage zu stellen, die dem Wirtschaftsaufschwung nicht genügend Spielraum lasse. Aber nicht mit dieser Verfassung und diesem Zentrismus wird man etwas anfangen können. [362]
Der Weg nach Rom bedeutet aus dieser Sicht die Etablierung einer Republik, mit der die von ihm vorgeschlagene enge Bindung zwischen Banken, Börse und Industriekapital möglich sein wird [361]. Volponi sieht das Problem und stellt es im Roman dar, wobei der Titel La strada per Roma offen lässt, welchen Ausgang die Frage der Republik nehmen wird, um die es in diesem Roman geht. Probleme der Wirklichkeitserkenntnis
In der Freundschaftsthematik des Romans war die Dialektik von Anerkennung und Durchsetzung als Kern der Resozialisierung des Subjekts das bestimmende Moment der Handlung gewesen. Das soll in unserer Untersuchung noch einmal aufgenommen und behandelt werden im Hinblick auf die Frage, welches Bewusstsein dem jeweiligen Subjekt entspricht und welche Wahrnehmung der Wirklichkeit in den Bewusstseinsformen der Subjekte nachzuweisen sind. Die Freundschaftsthematik, in der Erzählstrategie des Romans, ist, wie wir angenommen haben, Bestandteil der Resozialisation des Subjekts. Sie war zu Beginn der Handlung motiviert durch den Willen der jungen Generation, die Kindheitserfahrung im Faschismus hinter sich zu lassen im Vertrauen auf die Solidarität der Gleichaltrigen. Doch dieses solidarische Verhältnis der Gruppe und vor allem der beiden Protagonisten. findet sein Ende mit der Aufkündigung des antifaschistischen Konsenses, von dem Guido »auf der Straße nach Rom« abrückt. Die Solidarität der Gruppe, im Bemühen um ihre gesellschaftliche Anerkennung, hat sich umgekehrt in die Durchsetzung des Überlegenen gegenüber den weniger Begünstigten. Im letzten Drittel des Romans kommt dieses Bedürfnis in der Bewusstseinsbildung der Figuren in einer Form zum Durchbruch, in der v.a. auch die Wahrnehmung der jeweils entgegengesetzten Einstellungen deutlich wird. Damit stellt sich die Frage, welche Wirklichkeitserkenntnis sich im Trieb der Selbsterhaltung verbirgt oder offenbart, einer Frage, der wir im Folgenden nachgehen werden.
51 D. Sassoon: Ebd., S. 66 .Was den Ansatz zu einer Planungspolitik der Regierung betrifft, so zielte der 1954 verabschiedete Piano Vanoni in die Richtung einer Ausweitung der christdemokratischen Kompetenz in der Wirtschaft, blieb aber »toter Buchstabe«, wie Donald Sassoon festgestellt hat.
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Bei seiner Tätigkeit in der Unione delle Banche in Rom lernt Guido einen etwa gleichaltrigen Kollegen namens Barnaba Carasso kennen, der in den folgenden Episoden zu einer Art Kontrastfigur wird, d.h. einer Figur, die die entfremdete Selbstwahrnehmung Guidos in ihrer negativen Erscheinungsweise widerspiegelt. Das wird in zwei Episoden vorgeführt und dargestellt, die eine bei einem gemeinsamen Besuch in Ostia, den Überresten der antiken Stadt an der Tiber-Mündung, die andere bei einem Ferienaufenthalt in und um Neapel. Beim Anblick der Ruinen der antiken Stadt verkehrt sich in einem bestimmten Moment ihr Anblick für Guido in die Vision einer untergehenden noch existierenden Stadt der Gegenwart, einer ihrem Ende entgegensehenden Zivilisation. Er spürte, dass er in einem jener Ränder des Wahren angekommen war, wohin er zu gelangen immer schon Angst gehabt hatte. Dingen gegenüber, die nicht die seinen waren, von denen er aber hätte erfasst und verändert werden können und die folglich eine Entscheidung verlangten, die Wahl einer totalen Einstellung. Er hätte sich nicht mehr verlassen können auf die gewöhnlichen Maskeraden und Täuschungen, sondern hätte in sich selbst den Beweis finden müssen jener neuen Wahrheit. [335]
Die durch die Entrückung veränderte Wirklichkeitssicht präsentiert eine Welt, die gleichzeitig der geschichtlichen Vergangenheit wie der eigenen Kindheit52 angehört, in die Guido wieder zurückgeführt wird, als er ein Haus erblickt mit geöffneter Tür und offenen Fenstern [325], die in der Vision einer Einladung gleichkommen, einzutreten in die vergangene Zeit oder in eine andere Dimension. In der Wahrnehmung der Geschichte kehrt das Verdrängte wieder zurück, vor dem Guido zurückschreckt als vor etwas Bedrohlichen. Er versuchte, vom Grund dieser absoluten Ordnung wieder aufzusteigen zu einer anderen Ordnung, die von ihm beherrscht wurde, geteilt von anderen, wo die Dinge und alles andere wieder den ihnen zugewiesenen Platz eingenommen und die Gestalt und die Rätselhaftigkeit verloren hätten, die sie in dieser Unfertigkeit hatten, indem sie wieder zurückkehrten zu ihrer Nützlichkeit. [337]
Aus der Erfahrung einer ganz anderen Ordnung der Dinge, die mit dem Zusatz »absolut« das Bewusstsein des universalen Lebenszusammenhangs anzudeuten scheint, kehrt Guido, das Subjekt der Selbstgewissheit, zurück in eine Wirklichkeit, die er zu beherrschen glaubt, während Barnaba, die dem Erfolgsbewusstsein entgegengesetzte Figur, des Helden nämlich, der an der Wirklichkeit des Tatsächlichen scheitert, dieses Scheitern in seiner Lebenswirklichkeit schon als die Hinfälligkeit aller Dinge erlebt. Diese Erfahrung erlaubt es, ihn, den scheiternden Helden, als die Verbildlichung des Todestriebs im Werk Volponis zu sehen, d.h. als Figur, die den Tod als die von Natur aus gegebene Lösung von Konflikten erscheinen lässt und letztlich als das Ende der organischen Materie in allen Existenzweisen der Natur.53 Das The52 »Er fand seine kindliche Geschicklichkeit wieder, aber älter und wesentlicher zwischen diesen Mauern als denen von Urbino.« [338], was offenbar auch anspielt auf das poetische Bewusstsein des Kindheitssubjekts. 53 Das Motiv des tödlichen Scheiterns im Werk Volponis findet sich in zwei Romanen in ausgeprägter Form, nämlich in La macchina mondiale, der mit dem Selbstmord An-
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ma des Scheiterns mit tödlichen Folgen nimmt die Episode wieder auf, in der Guido in Begleitung von Barnaba Pompeji und Herkulaneum besucht und Barnaba von der Idee besessen ist, bei jedem Schritt auf einen »Kadaver« zu stoßen. [343]. Im Gespräch versucht Barnaba, das Syndrom von Liebesbegehren und tödlichen Folgen mit dem Scheitern im Lebensverlauf der Subjekte in einen Zusammenhang zu bringen, in welchem Einfachheit und Komplexität im Ablauf von Lebensprozessen eine entscheidende Rolle spielen, d.h. über Scheitern und frühen Tod in den »einfachen« Existenzen entscheiden. Barnaba äußerte, dass die Einfachheit gerade tödlich ist; dass offensichtlich das Leben einfach erscheinen kann, vor allem im Süden […]; dagegen ist einfach im Leben alles, was leicht und beständig vergeht, d.h. was stirbt; […]. Das Leben versieht sich, um zu widerstehen, mit Komplikationen, Strukturen, Labyrinthen wie der Maulwurf, um dem Tod zu entgehen. […] [und auf die gesellschaftlichen Bedingungen der Existenz offensichtlich anspielend]: das Leben ist ein Gewebe von Annahmen, aber ist noch nicht dazu gelangt, eine Dimension zu konstruieren, in die es dem Tod, der einfach ist, erdverwachsen, nicht gelingt einzudringen. [345]
Die rätselhaft klingende Argumentation Barnabas über den Zusammenhang von Einfachheit und Tod wird vielleicht klarer oder verständlicher, wenn sie bezogen wird einerseits auf den Grad der Sprachfähigkeit des Subjekts und/oder andererseits auf die gesellschaftlichen Beziehungen, die das Subjekt eingeht, um sich zu behaupten und den Spielraum seiner Handlungsmöglichkeiten zu erweitern. Die Äußerungen über die ›Strukturen und Labyrinthe‹ in den Lebensverläufen der Subjekte sind eindeutig auf die Ausweitung gesellschaftlicher Beziehungen zu beziehen, die die menschliche Existenz erweitern und bereichern, was den im Elend lebenden Familien im Süden verweigert wird. Was andererseits die Sprachfähigkeit des Subjekts betrifft, die seine Wirklichkeitswahrnehmung strukturiert, aber auch unterbindet oder verkümmern lässt, so könnte die Erzählung Barnabas, die Volponi in den Text einfügt, den Zusammenhang mit dem Liebesversagen des Erzählers wenigstens erkennen lassen. Barnaba erzählt von einem Fahrradausflug mit einem Mädchen, das er liebt und begehrt und dem er sich bei dieser Gelegenheit nähern will; bei allen Annäherungsversuchen fühlt er sich aber blockiert und unterlässt sogar, sie zu berühren, als sie zu stürzen droht, was sie verletzt und verstimmt, so dass er am Ende erkennt, »dass ich alles verdorben hatte«. [349] Die Frustration seines Liebesbegehrens, die mit den hier zitierten Erwartungen seines Gefühlslebens motiviert wird und vermutlich als eigentliche Quelle seines Versagens zu betrachten ist, wird von Barnaba als Erfahrung eines Scheiterns erlebt, das er in einem Roman verarbeiten wollte, den er aber nicht geschrieben hat. Der Erzähler Volponi aber wird diese Episode nicht dem Vergessen überlassen, sondern das Motiv des Liebesversagens aus Berührungsangst in teos endet, sowie in Il lanciatore di giavellotto, der Roman, der das Ödipus- Drama in unabwendbarer Weise mit der Selbsttötung Damíns enden lässt. Ob das spurlose Verschwinden von Gerolamo Aspri in Corporale als ein tödliches Scheitern betrachtet werden kann, ist aus meiner Sicht mehr als zu bezweifeln.
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seiner tragischen Wendung in Il lanciatore di giavellotto wieder aufgreifen und sie in die Ödipus-Thematik dieses Romans einarbeiten. Vorausdeutend auf Corporale, dem Roman in der Mitte des Schaffens Volponis, der die Körperlichkeit der menschlichen Empfindungen und Gefühle ins Zentrum der Erzählung des Romans rücken wird, ist die Berührungsangst Barnabas schon als Erfahrung der Körperlichkeit zu werten, welcher ein prägender Einfluss auf das Wirklichkeitsbewusstsein des Subjekts zuzuschreiben ist. Daran knüpft jetzt die Frage, welche Wirklichkeit dem Bewusstsein des Körpers oder der Körperlichkeit entspricht? In der Berührungsangst war es die Angst vor dem nackten Körper oder der Körperlichkeit generell – und in Verbindung mit dem Tod – das Bewusstsein des Vergänglichen, der Vergänglichkeit der Materie. Diese Wirklichkeit, so könnte man sagen, ist was Guido verdrängt, wovor er zurückschreckt beim Anblick der Ruinen in Ostia antica, was in einem Wort die »verdrängte Wirklichkeit« konstituiert, gegen die er das »Selbstbewusstsein« aktiviert als die Wirklichkeit, die er imaginiert. Was Wirklichkeit ist oder Einbildung des um seine Existenz kämpfenden Subjekts, reflektiert Guido, wenn er von seinen Gedanken [pensieri] spricht. Die Gedanken sind der Bestandteil im Wahrnehmungsprozess des Subjekts, von dem es entweder heimgesucht wird, wie von einer widrigen Macht oder Erscheinung, oder was von ihm umgekehrt erfahren wird als erfreuliche oder beglückende Erhellung im Erkenntnisverlauf, z.B. mit ihrer positiven Auswirkung auf die Imagination, die Verbildlichung des zu erkennenden Sachverhalts. Die jeweils verschiedene Beziehung zur Wirklichkeit ist am Verhalten Guidos zu beobachten einerseits bei der Selbstauslegung des Erfolgs am Abend des Balls mit der Cancellieri [96]; andererseits aber, heimgesucht von Selbstzweifeln, »von Gedanken über seine Lebensbedingungen und seine Zukunft«, muss er alle Kraft aufbieten, damit die störenden Gedanken ihn nicht in seiner Selbsteinschätzung beeinträchtigen [97]. Die Sicherung dieses Selbstbewusstseins ist aber schließlich nur zu erreichen, wenn das Sein, das in diesem Bewusstsein intendiert ist, zum beständigen Besitz wird, wie »der Besitz Letizias« im Selbstbewusstsein Guidos [131]; es ist also nur über den bleibenden Besitz zu erlangen, mit der Umwandlung von Sein in Haben, d.h. in materiellen Reichtum. Mit der sicheren Aussicht auf diesen Reichtum, der Guido im Bankgewerbe erwartet, kehrt er Urbino den Rücken, endlich seiner selbst sicher. Die Erfahrung, die uns über das Bewusstsein der Figuren vermittelt wird, findet über die Sprache erst ihren Ausdruck als Erkenntnis, die der Text dem Leser zugänglich machen will. Vom sprachlichen Ausdruck und der Darstellungsweise hängt es also ab, ob die verschlungenen Wege der Erfahrung auch adäquat vermittelt werden können. Das bedingt aber ein Verständnis des Textes, dessen Kriterien Volponi indirekt in seine Darstellung einfließen lässt, als Anweisung im Sinne einer semiotischen Textanalyse, die die Wahrnehmung, auch die des Lesers, an die Dinge bindet, die der Text als Zeichen übermittelt. Folgt man dieser semiotischen Anweisung, so wäre La strada per Roma auch zu lesen als ein Weg durch die Räume entlang der Zeichen als Orientierungsmerkmale der Wegstrecke. Und dieser Weg führt nicht nach Rom, sondern bleibt in den Marche und den Apenninen, von wo er immer wieder durch Urbino führt, der Stadt in der Nachkriegszeit und zurückgehend in die Geschichte ihrer Entstehung. Dieser Geschichte und ihren Spuren geht der 141
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Erzähler nach mit dem Blick seiner Figuren und ihren Visionen. Aber der Weg durch die Geschichte ist nicht allein der Weg durch die veränderlichen Landschaftsformationen, sondern zugleich auch das beschwerliche Durchqueren der Räume der Sprache, zurück in die Vergangenheit, wo das poetische Subjekt seine Ursprünge vermutet, und von dort aus voranschreitend in die Gegenwart des zeitgenössischen Bewusstseins. Der suchenden Wahrnehmung stellen sich Hindernisse in den Weg, die sich auf die Verhaltensweisen und das Handeln der Figuren übertragen und sie – entlang der sie leitenden Zeichen – vom gradlinigen Weg abbringen oder in die Irre führen. Es handelt sich um Zeichen (i. S. von Gegenständen), die noch unerkannt und ungedeutet den Weg durch eine Landschaft lenken, die ohne Konturen die Orientierung und damit das Voranschreiten des Erzählens erschweren. Zu verschiedenen Malen irrt der suchende Blick der Figuren über Urbino hinweg auf den Spuren der Erinnerung, wie hier der Blick Guidos: Der Wunsch ergriff ihn wiederzusehen und zu lesen die Mauern mit all ihren Zeichen, den Portalen, den Treppen, Stücke der Passagen hinter den Häusern, frisch, überhängend oder parallel und sanft […]. [390]
Dass mit der Beschreibung des gleitenden Blicks auch mit charakterisiert wird der Verlauf des Erzählens im Sinne der visionären Prosa Volponis – mit ihren Unterbrechungen, Rückwendungen oder Richtungsänderungen – wird am folgenden Zitat verdeutlicht: Guido, in sein Zimmer zurückgekehrt, dachte, dass in Urbino kein Gedanke und kein Handeln je mit Präzision und Bestimmtheit begonnen und zu Ende geführt worden ist, da sie sogleich verbunden wurden durch eine Kette von Zeichen, angeheftet an zahlreiche Verdichtungen und auch vergraben, durchlöchert durch eine Reihe von leeren Stellen, die zu dunklen Abgründen führten: sei es dass sie darin verschwanden oder dass sie wieder auftauchen konnten, und immer über viele Kanäle und Umstände, auf das andere Ufer gelangten. [417]
Die etwas rätselhaft ineinander verschachtelte Beschreibung besagt im Klartext, dass die Abbildung eines Gedankengangs oder einer Handlungsfolge, was Urbino betrifft, unpräzis bleiben muss, weil sie sofort auf eine Reihe möglicher Anknüpfungen treffen, die die Aussage in Löcher oder Abgründe führen, in welchen das Erzählte sich verliert oder verschwindet, oder zusammen mit anderen Strömungen an das entgegengesetzte Ufer getragen wird. Als solche Löcher oder Abgründe aber sind die Visionen, Halluzinationen oder Illuminationen zu betrachten,54 in die die Figuren Volponis zeitweilig versinken bei der Betrachtung einer Wirklichkeit, die sie anders nicht begreifen können und die eine Welt spiegelt, die dem Bewusstsein sowohl in seiner narzisstischen Gestalt ( bei Guido) wie auch als pragmatisches oder utopisches (bei Ettore) als entfremdete Wirklichkeit erscheinen muss. 54 Von Interesse ist hier der Artikel von Enrico Capodaglio: »La qualità storica della luce: ›La strada per Roma‹ di Paolo Volponi«, in Strumenti critici, IX, Nr. 1, 1994, S. 49- 79. Der Verfasser versteht und behandelt den Begriff des »Lichts« nicht in der von uns gebrauchten Bedeutung von Beleuchtung eines Aspekts der Realität, sondern im Sinne eines stilistischen Merkmals, also als Metapher.
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Doch wie spiegelt sich die Wirklichkeit im Bewusstsein der beiden Protagonisten des Romans? Diese Frage ist im Grunde wieder zurückzuführen auf ihre Beziehungen zu Urbino, weil im Roman nicht die strada per Roma den Weg zur Erneuerung Italiens weist, sondern Urbino der Raum ist, in dem sich für Volponi die Bedingungen finden für das Szenarium eines republikanischen Italien, das er immer wieder beschwört und das er in Il sipario ducale historisch in Umrissen darstellen wird. Die Cancellieri-Episode weist schon am Anfang des Romans in die Richtung der historischen Ursprünge Urbinos unter ihrem Begründer, dem zum Herzog erhobenen Federico Montefeltro. Bartolomeo Cancellieri sei vom Herzog der noch immer existierende Palast der Familie überlassen worden, weil er die Revolte angeführt habe, die Federico in den Besitz Urbinos gebracht hat [9]. Schon hier wird die historische Dimension der Stadt angedeutet, die in der Darstellung der beiden Protagonisten des Romans ihre historische Relevanz nie ganz verlieren wird, wie das eine Äußerung des jungen Guido bekundet: Er konnte sich polemisch äußern über Urbino oder denken, dass er die Stadt verlässt und dass er gut daran tut, aber immer in seinem Verhältnis zu ihr als einer wesentlichen Sache, einer Erzeugerin, als einer Epoche historischer Größe. [57]
Hier spricht noch der frühe Guido, den mit der Gruppe die gemeinsame Herkunft verbindet. Aber mit der Zuspitzung der Auseinandersetzung zwischen den Freunden, auch im Zusammenhang mit der Frage des Weggehens oder Dableibens, ändern sich auch Guidos Ansichten über Urbino. Wo dieser dazu neigt, Urbino auf eine rein kulturelle Funktion und Bedeutung zurückzustufen [282] , betont Ettore die politische Verpflichtung, der Stadt ihr soziales Profil zurückzugewinnen, sich zu engagieren, wie Volponi in den 50er Jahren im Süden Italiens im Auftrag Olivettis:55 Gegenüber dem Reformdenken Ettores, dem politisch kein Erfolg beschieden war, gewinnen Guidos Ansichten von der Bewahrung der ländlichhandwerklichen Kultur der Marche, zusammen mit seiner Behauptung, dass Urbino sich nicht verändern soll [391], an Plausibilität, was jedoch ein wesentliches Anliegen Volponis ausklammert, nämlich die Industrialisierung des gesamten Territoriums. Das ist der Punkt aber, an dem nicht nur die Di55 In der hier zugrunde liegenden Aussprache mit Guido bezüglich der Bedeutung Urbinos, äußert Ettore: »Betrachten wir Urbino: was soll abgerissen werden, was soll aufbewahrt werden; machen wir eine Bestandsaufnahme Haus für Haus: welche sind bewohnbar; wer bewohnt sie, welchen Beruf übt jemand aus; wer kann studieren, wer kann zur Universität gehen. Diese ist eine nicht verwendbare, aber schöne Stadt? Wovon lebt sie? […] Und das umliegende Land, wie organisiert ist es? […] Was kann man machen, um jeden einen wirklichen und neuen Aufschwung zu geben, Urbino und dem umliegenden Land?« [277/78]. Und das Programm der Restrukturierung Urbinos, das Ettore im Roman schon formuliert, wird Volponi als lokaler Politiker im Stadtrat von Urbino vertreten und umzusetzen versuchen: »Ich möchte eine geordnete Stadt und die landwirtschaftlichen Flächen bis zu den nächsten Städten […] und jede Stelle retten in Hinsicht darauf, was sie wert ist. […] Man muss wegwerfen, was tot ist, mit Gewalt, und wiederherstellen das, was nützlich ist. Niemand kann das von außen machen. Es ist an uns, es zu machen.« [278]
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vergenz der beiden Kontrahenten deutlich wird, sondern auch eine gewisse Unvereinbarkeit in den Vorstellungen Volpinos, und zwar hinsichtlich des Übergangs der Ökonomie in das Zeitalter der Industrialisierung, wie das die Debatten in Vittorinis Zeitschrift Menabò proklamiert haben. Für die Problematisierung dieser Frage ist in La strada per Roma die Zeit noch nicht gekommen, sie bleibt späteren Werken vorbehalten , wo sich erst abzuzeichnen beginnt, ob eine auf regionaler Ebene zentrierte Wirtschaft nicht auch in die Industrialisierung einzubeziehen ist. Als Problem begegnet diese Frage wiederholt in den späteren Werken und macht im Grunde erforderlich, die Semantik der Industrialisierung historisch abzugrenzen von der begrifflichen Bedeutung von Industrie, der im Verständnis Volponis die eigentliche Funktion der Valorisierung der Arbeitswelt zugebilligt wird. Der abschließende Disput zwischen Guido und Ettore, den wir zitiert haben, bleibt von diesen Fragen aber unberührt.
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4. Kapitel: Der Roman der Wende
Corporale oder der Aufbruch in ein anderes Leben – Die Zivilgesellschaft, die politischen Bewegungen und die Neukonstitution des gesellschaftlichen Subjekts D IE G LIEDERUNG
DES
R OMANS
Behandelten Volponis erste Romane, die Trilogie der gescheiterten Intergrationsversuche, die Wege der arbeitssuchenden jungen Generation der Provinz in die Gesellschaft der Nachkriegszeit, so ist Corporale der Roman, der den Aufbruch in eine andere Existenz zum Gegenstand hat: den Aufbruch eines Mannes mittleren Alters in ein neues Leben, »vita nuova«, das die Bindungen an seine alte Existenz löst, um ein Projekt zu realisieren, das als »revolutionär« bezeichnet wird [36]: die Selbsterforschung des Subjekts im Prozess einer politischen Sozialisierung, die das Subjekt der privaten (familialen) Sozialisation aufheben soll und an seine Stelle ein neues Subjekt setzt, das eine andere Vergesellschaftung erforderlich macht. Seinen Lebensverlauf verändern also die Lösung aus den Familienbanden und damit die Auflösung des Dramas der Kindheitsgeschichte; die Verlagerung des Privaten im Lebensverlauf der Figuren in eine politische Dimension; aber damit verbunden der Eintritt in eine Welt, in der die Geschäfte und die finanziellen Transaktionen das wesentliche Merkmal der Zivilgesellschaft geworden sind. Dennoch zielt das Projekt der Selbsterforschung – zugleich als psychoanalytischer Prozess – im Kern auf die Aufhebung der menschlichen Entfremdung in der kapitalistischen Gesellschaft, auf das Ende der Fremdbestimmung der Personen, ihre Neukonstituierung als gesellschaftliche Subjekte. Dieses politische Moment wird jedoch anfangs völlig verdeckt oder überschattet von einem privaten Ereignis im Leben des 35-Jährigen, der sich in die 22-Jährige Ivana verliebt und von dieser Wende in seiner Existenz die Veränderung seines Lebensverlaufs erwartet. An diesem Punkt, d.h. der Liebeserwartung Gerolamos bezüglich einer »vita nuova«, setzt die Romanhandlung ein. Von hier aus verfolgen wir zunächst den Lebensverlauf Aspris in seinen wesentlichen Peripetien. Dem 35-Jährigen Gerolamo Aspri, verheiratet, zwei Kinder, Mitglied der Kommunistischen Partei, ist über die Partei die Förderung vom Arbeiter in der Fabrik über das Studium zum Lehrer der Physik in Varese (Norditalien) zuteil geworden – worin hinsichtlich des Berufs und der späteren Übersied145
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lung nach Urbino die Anknüpfung an die Figur des Ettore in La strada nahe liegt. Die Schwierigkeiten und Nöte der Kindheit sind für Gerolamo von der Partei aufgefangen worden, die ihm Gewissheit über die Welt und sich selbst vermittelt hat. Der Wandel in seinem Leben kündigt sich an mit der Bekanntschaft Ivanas während der Ferien mit der Familie an der Adria, die für Gerolamo aber nicht glücklich verläuft, weil Ivana einen Jüngeren bevorzugt, den Gerolamo dann mit seiner Eifersucht verfolgt und der – offenbar zusammen mit Ivana – am Strand des Meeres ums Leben kommt. Offen bleibt bei diesem von Gerolamo auch nur vermuteten oder imaginierten Unfall, ob es sich um ein Unglück oder nicht vielmehr um einen Mord an den jungen Leuten gehandelt hat, offen bleibt ebenfalls, ob Aspri, der sich auf die Suche nach dem vermutlichen Mörder macht, nicht selbst in diese Sache verwickelt ist. Die Abweisung des Liebesbegehrens bewirkt jedenfalls eine Zäsur in seinem Leben in soweit, als sich Aspri nun von seiner Familie entfernt und über seine Bekanntschaft mit Overath, dem deutschen Freund und Kontrahenten seines weiteren Lebensverlaufs, in Beziehung tritt mit den Figuren illegaler Geschäftspraktiken – offenbar im Drogenhandel –, die ihn zugleich in eine veränderte Welt der Politik einführt. Vergleichbar der Rolle, die Guido in La strada als Gegenspieler von Ettore zugefallen war, erfüllt Overath eine kompensierende Funktion im Roman, wenn er in dem jetzt einsetzenden Briefwechsel Gerolamo über den erlittenen Liebesentzug hinwegzuhelfen versucht, indem er sich bemüht, die Inkonsistenz dieses Schmerzes aus einem falschen Bedürfnis nach Geborgenheit herzuleiten. Auch Gerolamo verspricht sich von dieser Klärung mehr Erkenntnis über sich selbst und die Befreiung von der ihn wieder heimsuchenden Angst vor den Kindheitserinnerungen, die der Liebesentzug neu geweckt hat. Die Mailänder Geschäftswelt, in die Aspri Eingang findet, repräsentiert so etwas wie die an der Grenze der Legalität operierende – oder diese schon überschreitende – Ökonomie der Zivilgesellschaft im Sinne ihrer deregulierten Praxis. Aspris Eintritt in diese Welt vollzieht sich mit seiner Aufspaltung in die Figur des Murieta, die in dieser Gesellschaft einen Führungsanspruch – verbunden mit einem politischen Programm – erhebt, und die des weiter suchenden ursprünglichen Subjekts, für das der Durchgang durch diese Gesellschaft Bestandteil seines Projekts der Selbsterforschung und der Erkenntnis ihrer Beschaffenheit bleibt. Für ihn wirkt nach noch die Zurückweisung in der Liebe, durch die die Selbsterkenntnis zurückgeworfen wird in den Schmerz, die »cognizione del dolore«, um Gaddas treffenden Ausdruck für die spezifische Art dieser Erkenntnis zu benutzen, worin das Begehren, wie Freud gezeigt hat, vom Objekt auf das Subjekt, das eigene Ich, zurückgelenkt wird und die Selbstbezogenheit des Gefühls, der Narzissmus, das Subjekt daran hindert, sich selbst und die Wirklichkeit adäquat wahrzunehmen. Die Selbstbezogenheit der Erkenntnis wird im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung zwischen Aspri und Overath zu einem der zentralen Themen des Romans. Overath versucht den Freund zu überzeugen, dass nicht über Gefühle Erkenntnis vermittelt wird, sondern über die körpereigenen Sinneswahrnehmungen und die Materialität der Objekte. Für das Projekt der Selbsterkenntnis bedeutet das, dass der Protagonist des Romans die Ablösung von der pathogenen bürgerlichen Gefühlskultur durchlaufen muss, um zu der materialistischen, d.h. körperlichen Erkenntnis des eigenen Seins und der Dinge zu
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Der Roman der Wende
gelangen. Die Gefühle sind, nach einem Kafka entlehnten Bild, die »Dämonen«, die dem Subjekt die Kontrolle über seine Wahrnehmung entziehen. Die Deutung, der Volponi die Mailänder Szene unterzieht, ihre Einfügung in den politischen Kontext der neuen Linken, wird im Grunde erst möglich, wenn die Geschäftswelt, die dargestellt wird, als die allegorische Spiegelung einer Ökonomie verstanden wird, die als deregulierte Praxis so etwas wie das primitive, an keine Institutionen gebundene wirtschaftliche Verhalten darstellt in einer auf rein materielle Interessen zurückgestuften Gesellschaft. Aus einem Brief Overaths an Aspri/Murieta geht hervor, dass die Geschäftswelt der Organisation, die den Drogenhandel und die Kultur des Konsums in Bewegung setzt und zirkulieren lässt, in einem postindustriellen Zeitalter situiert ist, in der es keine industrielle Produktion mehr gibt und folglich auch keine Arbeiterklasse: Es stimmt, dass wir auch keine Arbeiter wollen, denn wir wollen ein wissenschaftliches Stadium [stato] oder Zeitalter, befreit von der Arbeit, jenseits der Phase industrieller Entwicklung [...] – [164].
Die Verankerung der Handlung in der Zivilgesellschaft der frühen 70er Jahre und der aus dieser hervorgehenden Bewegung der neuen politischen Linken entspricht einer zunehmenden Politisierung der Probleme der Gesellschaft. Diese werden in der Darstellung Volponis in erster Linie aufgegriffen von den neuen linken Bewegungen als Träger und Wortführer revolutionärer Veränderungen, als deren Verkörperungen neben Overath der von Aspri abgespaltene Murieta von Volponi in Szene gesetzt werden; womit die Figur des Murieta von Gerolamo Aspri abgesetzt wird, der in seiner Biographie aus der Kommunistischen Partei hervorgegangen charakterisiert worden war und im Grunde trotz aller Differenzen ihr verbunden bleibt. Die Inszenierung der beiden als Protagonisten der »nuova sinistra«, ausgewiesenen Figuren – Overath und Murieta – entspricht vermutlich der ironischen Charakterisierung der beiden linken Lager1 – der »nuova« und der »vecchia sinistra« –, was, wie wir weiter vermuten, von vornherein die Verbindung von Politik und Ökonomie aus einer gewissen Distanz oder in einer komischen Beleuchtung erscheinen lassen sollte. Aus der Auseinandersetzung um die Führungsposition in der Gruppe geht Murieta, als die radikalisierte Variante der Figur Aspris, am Ende als Verlierer hervor und in seiner ursprünglichen Verkörperung kehrt er zurück in dessen Position als Lehrer zu einem Zeitpunkt, als ihn die Nachricht vom Unfalltod seines Sohns erreicht. Die daraus resultierenden gewaltsamen Handlungen gegen die Institutionen und ihre Repräsentanten markieren den Übergang seines Lebens in die Isolierung, die endgültige Trennung von seiner Frau und seine Versetzung nach Urbino. Der etwa ein Jahr währende Lebensabschnitt in Urbino, an dessen Ende der Bericht unvermittelt abbricht, zeigt und illustriert die abschließende Phase einer Entwicklung, in der der Prozess der Selbsterforschung des Subjekts den Protagonisten in die Auflösung seiner gesellschaftlichen Beziehungen führt, in die Vorläufigkeit seiner Existenz (›il precariato‹) am Rande der Ge1
Die Charakterisierung der beiden politischen Kräfte erfolgt im Roman in einem Brief von Overath an Aspri auf S. 73- 74, worauf wir in unseren Ausführungen selbst noch zurückkommen werden.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
sellschaft. oder gegen sie. Aspri lebt zusammen mit Imelde, Dienstmädchen und Konkubine des Advokaten Trasmanati, der nach seinem Selbstmord u.a. eine stattliche Bilderkollektion hinterlässt. Beider Existenz verbindet die Abwicklung dieses Nachlasses, von dem sie sich einen Anteil zu sichern wissen, oder anders gesagt, indem sie ihren Lebensunterhalt aus der Umwandlung eines bürgerlichen Vermögens in neuen Gebrauchswert sichern. Am Ende trennt sich Aspri von der Gefährtin, hinterlässt ihr aber das ihr zustehende Geld. Das Projekt, auf das sich – im Lebensabschnitt von Urbino und im Zusammenleben mit Imelde – die Vereinsamung seiner Existenz reduziert hat, ist der Bau eines Refugiums als Zufluchtsort vor der nicht bewältigen Vergangenheit oder als der Ort seiner fortgesetzten Selbsterforschung. Denn Zuflucht ist [jetzt] nicht mehr die Flucht des Schmerzes vor der Erkenntnis ins Gefühl (in die ›Melancholie‹ und in den Narzissmus), dem eine bemerkenswerte Beschreibung gewidmet ist,2 sie ist die Zuflucht zur oder in die Sprache, zu den sprachlichen Quellen, aus denen das Subjekt die Gewissheit seines Selbst- und Weltverständnisses schöpft. Indem die Sprache, d.h. hier die erneuerte poetisch-literarische Sprache, dieser Ausdruck verleiht oder auf dem Weg ihrer Verfertigung an der Konstitution des Subjekts teil hat, wird auch sie zu einer Funktion des revolutionären Projekts. Doch diese Einbeziehung wird vom Gegenspieler Overath, der sich immer mehr als sein Antagonist offenbart, entschieden in Frage gestellt oder zurückgewiesen, wobei dieser nicht nur den Sinn des Baus in Zweifel zieht, sondern auch seine literarische Funktion im revolutionären Prozess bestreitet. Während Aspri also mit dem verzweifelten Mut der Einsamkeit daran festhält, dass die Rekonstitution des Subjekts sich über die Sprache vollzieht – und die Poesie darin einbezogen –, verharrt Overath weiterhin in seiner ironischen Einstellung, ob Poesie und Künste nicht letztlich doch nur aus den Quellen des verletzten Ich schöpfen und die Wundmale des Narzissmus tragen; ob im Falle Aspris also das Refugium nicht nur als die Reaktion seiner Angst vor der Negation seiner Existent zu deuten ist.3 Aspris Lebensbericht endet damit, dass er den Umbau seines Refugiums eines Tages zerstört vorfindet und beim Fallen in dessen Überresten einen Beckenbruch erleidet. In ein Krankenhaus eingeliefert, verschwindet er nach seiner Wiederherstellung über einen Kellerausgang, ohne dass über seinen Verbleib weiteres vermeldet wird. Die Gliederung des Kapitels und die Übersicht über die Thematiken, die im Folgenden noch beigefügt werden, sollen dem Leser die Orientierung erleichtern bei der Fülle von Themen, mit denen er sich in diesem Roman konfrontiert sieht, die oft von einem Erzählstrang in einen anderen überleiten und dabei dann auf einer anderen Ebene des Sinns zu lesen und zu verstehen sind. Diese Umdeutung des Textes auf der Ebene des Sinns verdankt sich dem allegorischen Verfahren, das in Corporale zum ersten Mal durchgehend angewendet wird.
2 3
Das Zitats von S. 276/77, auf das hier verwiesen wird, findet sich im vollen Wortlaut in unserem Text unter der Anmerkung 32. Wir verweisen auf den Dialog Aspri- Overath auf S.445f. des Buchs im Kontext der Poesie- Debatte auf S. 38/39 unseres Textes.
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Der Roman der Wende
Der Roman gliedert sich in vier Teile, die in der Erstausgabe von 1974 in folgende Abschnitte unterteilt sind, ohne die Überschriften, die von uns hinzugefügt worden sind. Die Seitenzahlen sind die der italienischen Erstauflage von 1974. I. II. III. IV.
Sommerferien mit der Familie am Meer Die Verbindung zur Welt der Geschäfte und die Politik Die Versetzung nach Urbino und der Bau des Refugiums Der Ort der Spracherneuerung – die Zerstörung des Refugiums – Aspris Verschwinden
3-132 133-271 272-454 455-509
Nachfolgend die Auflistung der Themenschwerpunkte und der entsprechenden Zwischentitel im Text. 1.
2.
3. 4. 5. 6. 7.
8. 9. 10. 11.
Die Familiengeschichte: Sommerferien mit der Familie am Meer Der Ausgang aus der bürgerlichen Existenz als Mordfall Die Wege der Selbsterkenntnis: das »revolutionäre« Projekt Die Welt der Geschäfte: Gesellschaft – Ökonomie – Politik Die Zivilgesellschaft und die deregulierte Ökonomie – ihre Spiegelung in den politischen Diskursen Autonomie-Bewegung versus Parteiensystem Die Inszenierung von Politik und Geschäft Die Organisation der Geschäftsleute Die Subjektproblematik und das revolutionäre Projekt Urbino und die Marginalisierung der Existenz jenseits bürgerlicher Identität Die Konfrontation von Poesie und Realitätsprinzip – der Disput mit Overath Die Thematiken in Corporale Die zwei Aspekte der Selbsterforschung: Ca l’ala als Zufluchtsort und Ort der Erneuerung Die Erzählungen in Corporale Die Subjektproblematik Exkurs über das Subjekt der Erzählung und die Textkonstitution Resozialisierung und Veränderung der Sprache Poesie und Prosa und das Problem der Fiktion
1. D IE F AMILIENGESCHICHTE : S OMMERFERIEN MIT DER F AMILIE AM M EER Der Ausgang aus der bürgerlichen Existenz als Mordfall – die Wege der Selbsterkenntnis: das »revolutionäre« Projekt
Der Roman setzt ein mit der Erwähnung eines Mordfalls am Strand des Meeres, den der Ich-Erzähler, in Gestalt des Gerolamo Aspri, bezeugen zu können behauptet, weil er selbst in besagter Nacht am Strand gewesen sei. Noch 149
Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
kein Wort verlautet, an wem der Mord begangen worden ist und wer der Mörder vermutlich sein könnte. Die Gedanken des Erzählers gehen statt dessen zurück in seine Kindheit und rufen das Bild herauf des widerwärtigen Alten, dem seine Mutter hörig war und den er als Kind zu hassen gelernt hatte [4; 11-12; 347]; und von einem Alten ist dann die Rede, der am Strand gesehen wird [5] und der folglich in die Mordgeschichte einzubeziehen ist. Eine dritte Gestalt erscheint zur gleichen Zeit vor den Augen des Erzählers, von der es heißt: […] ich werde heimgesucht vom Schatten eines Weggefährten, den ich nicht sehe; er quält mich, allein schon wenn er lächelt oder auch wenn er schweigt oder nur ein Wort sagt. – Ich schaue und sehe alles und nichts, was aus meinem Bewusstsein kommt oder aus dessen Tiefe: mein Gefährte kommt aus dem Verstand [ragione] oder aus einer genau abgegrenzten anderen Welt […]. [4]
In dieser Gestalt ist Overath zu erkennen, der nicht aus Gerolamos »Bewusstsein« heraustritt, sondern der Agent der »ratio« (»ragione«) ist, der ihm gegenüber tritt als sein ›alter ego‹, im Sinne des Realitätsprinzips. Den drei genannten Figuren ist gemeinsam, dass sie unmittelbar im Kontext des Mordfalls erscheinen und einen Zusammenhang konstituieren, der vermutlich von der Kindheitserinnerung des Ich-Erzählers heraufbeschworen worden ist. Die Mordgeschichte, so wäre zu folgern, ist eine aus dem Hass entsprungene Handlung, die, wenn sie in die Kindheit zurückverlagert wird, die Figur des Vaters (in Gestalt des Alten) repräsentieren könnte, ohne dass vorerst erkennbar wird, in welcher Rolle dieser erscheint. Overath kommt in diesem Szenarium die Rolle des Agenten der Tatsachenerforschung zu, der sich im weiteren Handlungsverlauf zur Figur des Realitätsprinzips verselbständigt. Um den Ängsten Gerolamos in seinen Kindheitserinnerungen auf den Grund zu gehen, wird Overath zum Gesprächspartner und schließlich zum Kontrahenten Aspris auf zwei verschiedenen Handlungsebenen des Romans: auf der der Familiengeschichte, die im Anfangsszenarium des Romans aufgenommen worden ist – und die biographischen Daten von Albino aus Memoriale in die Geschichte integriert – sowie auf der Ebene der politischen Biographie Aspris, die mit der Befreiung aus den Fesseln der bürgerlichen Ehe eine entscheidende Wende erfährt und im Szenarium des Mordfalls allenfalls als Nebenmotivation zu betrachten wäre. Um diesen Zusammenhang zu verdeutlichen, sei zunächst der Verbindung des Mordmotivs mit der Familiengeschichte nachgegangen. Gerolamo Aspri suchen während seines Urlaubs am Meer Bilder heim, die in ihm Zweifel wecken am Sinn seines bisherigen Lebens, einschließlich der Tätigkeit für die Partei, und in ihm Überlegungen heranreifen lassen, seinem Leben eine andere Richtung zu geben, worauf das Dante-Zitat des Anfangs »Nel mezzo del cammin ...« [5]4 offensichtlich anspielt. In diese Überlegungen mischen sich maßgeblich die Erinnerungen an seine unglückliche Kindheit, die auch sein Angstgefühl motivieren gegenüber einer bedrohlichen Zukunft, die immer wieder im Lauf des Romans verbildlicht wird durch das Motiv der atomaren Gefährdung des Lebens der Menschen. Zu diesen Momenten einer ›mid-life-Krise‹ gesellt sich, dass Gerolamo die Bekanntschaft 4
Das ist der Anfangsvers von Dantes Göttliche Komödie.
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Ivanas macht und sich in sie verliebt. Dieser Sachverhalt trägt wesentlich dazu bei, dass die Überlegungen bezüglich einer Lebenswende zu dem Entschluss führen, Ivana zu erobern und sie damit in das Befreiungsprojekt einzubeziehen. Doch dem Eroberungsplan – der an Guidos Eroberung der Cancellieri erinnert – stellen sich unvorhergesehene Hindernisse in den Weg. Auf einem abendlichen Spaziergang wird Gerolamo Zeuge einer Szene, die Ivana in den Armen eines jungen Mannes zeigt und Gerolamo in den Zustand versetzt, in dem seine frustrierte Liebeserwartung sich in einer Vision äußert, die offenbar oder vermutlich als ein Akt der Bestrafung der Liebenden zu verstehen ist, in der nämlich die jungen Leute Opfer einer Naturkatastrophe , einer »tromba marina«5 [80] werden und damit als Figuren aus dem Szenarium der Geschichte ausscheiden. In Gerolamos Fantasie wird die Szene der Naturkatastrophe, in der die Liebenden umkommen, gleichzeitig aber als Mordszene vorgestellt, wovon am Anfang des Romans ausgegangen wird. Dort heißt es: »Der Mörder ist heute Nacht hier gewesen, während er Atem holte«. [3] Die Mordszene bleibt also als Motivation der Handlung allein noch im Spiel. Und das ist auch der Ausgangspunkt der Suche nach dem Mörder, auf die sich Gerolamo begibt und den er in verschiedenen Figuren und unter wechselnden Gestalten zu erkennen glaubt, ohne dass seine Suche zu irgend einem Resultat oder Abschluss führt. Auffallend ist, dass die Ivana-Episode, die zeitlich ja später als Gerolamos Überlegungen zu einer Existenzveränderung liegt, an den Anfang rückt; was vermutlich deshalb geschieht, um die Suche nach dem Mörder mit dem Erzählstrang der Selbsterkenntnis zu verknüpfen, d.h. mit der Suche Aspris nach sich selbst. Dass die Suche nach dem Mörder zu keinen Resultat führt, lässt die Nähe dieses Motivs zu einem Typus des Kriminalromans erkennen, in dem wie in Robbe-Grillets Les gommes die Suche nach dem Mörder sich in lauter Vermutungen erschöpft, um am Ende den Erzähler selbst als Täter zu überführen.6 Die Familiengeschichte, die im Licht der Mordgeschichte gesehen wird oder vielmehr aus ihrem Inneren die Mordphantasie erst geboren hat, umfasst als Erzählung mehr als die Ödipus-Thematik und zum Teil auch von dieser Abweichendes, wenn man darunter die Umkehrung der Mordmotivation zählt, in dem Sinn, dass der Sohn das Opfer des Vaters wird, was in Corporale, in der vermuteten Mordgeschichte, ja der Fall ist, und sich wiederholt im Falle des Advokaten Trasmanati, der seinen Sohn tötet. Vorausdeutend sei noch vermerkt, dass Volponi die Ermordung Pasolinis – in den ihm gewidmeten Artikeln, wieder veröffentlicht in Scritti dal margine – als von der paternalistischen Macht der Politik angestiftet verstanden hat, was uns veranlasst, diesen Aspekt der Ödipus-Geschichte und was politisch damit zusammenhängt, terminologisch unter den Begriff des ›Pasolini-Syndroms‹ zusammenzufassen und darunter zu subsumieren. Die Umkehrung des Tätermotivs im Sinne des Racheakts des Alten an der Figur des Jüngeren liegt offenbar der etwas mysteriösen, um nicht zu sagen märchenhaften Version des Todes Ivanas und ihres Geliebten zugrunde, 5 6
Ein Wirbelsturm, der meteorologisch als ›Wind- oder Wasserhose‹ bezeichnet wird. Zu denken wäre auch an den von Gadda initiierten Typus des Kriminalromans mit Quer pasticciaccio brutto de via Merulana, wo der mit der Aufklärung des Mords beauftragte Kriminalkommissar gleichfalls zu keinem schlüssigen Ergebnis seiner Suche gelangt.
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obwohl dieser Tod – im Widerspruch zu unserer Version – von einer »Wasserhose« (»tromba marina«) verursacht worden war. Zu vermuten ist, dass Volponi diesen Widerspruch in die Erzählung eingeführt hat, um darin zwei verschiedene Auffassungen des Geschehens alternativ zu präsentieren, beziehungsweise die Mordversion in einem allegorischen Licht zu zeigen, worin es um das Drama des Überlebens der Poesie in der Welt der Prosa geht. Danach wäre Ivana die Geliebte, die – im Licht des Dante-Zitats – ein neues Leben verheißt, die Verkörperung der Poesie, die zusammen mit ihrem Liebhaber getötet wird. Der sie getötet hat, wäre dann das Realitätsprinzip, das im Bild der »tromba marina« symbolisiert wird und Gerolamo als Verteidiger der Poesie mit in den Tod reißt. An die Figur der Ivana sind die Erwartungen geknüpft, die Gerolamo von der Wende in seiner Existenz in seinen Reflexionen äußert und die er als »la novità« oder »la nuova vita« bezeichnet.7 Die alternative Lösung bei der Aufklärung des Mordverdachts wäre aber darin zu sehen, dass Aspri in der Gestalt des frustrierten Liebhabers als Täter selbst in Frage käme und als Erzähler auf der Suche nach dem Mörder sich selbst verfolgt, was mit der Suche nach Selbsterkenntnis identisch wäre und letztlich ein Motiv der Ödipus-Tragödie der klassischen Antike wieder aufnehmen würde. Dabei bliebe aber die Frage offen, welche Rolle der Alte spielt, den der Erzähler am Anfang seiner Nachforschungen verdächtigt hat. Und diese Frage ist nicht im Kontext des Mordfalls zu beantworten, sondern nur, wenn sie in die Familiengeschichte zurückgeführt wird, die das Leiden des Kindes verursacht hat. Die Erneuerung seines Lebens, die sich Gerolamo von der Begegnung mit Ivana erhofft, kann aber auch auf die Befreiung aus den Traumen der Kindheitserinnerung bezogen werden. Im Briefwechsel mit Overath, dem Ratgeber, von dem er Unterstützung auf dem Weg zu sich selbst erwartet, wird dieser Aspekt der Erneuerungsthematik artikuliert. »Der Plan seiner Befreiung, sein revolutionäres Abenteuer« sind generell auf die Wende in seiner bisherigen Existenz zu beziehen:
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Gerolamo verspricht sich von der Überwindung des Kindheitstraumas, die in seiner Vorstellung mit dem Ausgang aus der bürgerlichen Existenz zusammenfällt, die Erneuerung seines Lebens, was wiederholt die vermutlich aus Dante entlehnte Formel der, wie es im Roman heißt, »vita nuova« oder »nuova vita« zum Ausdruck bringt. Folgende Stellen umschreiben diesen Sachverhalt, in denen der Terminus ›novità‹ jeweils als Schlüsselbegriff anzusehen wäre: a) Gerolamo spricht in Gegenwart Ivanas von der »Neuheit, die ich diesen Morgen erfahren habe« [...]. – »Es wäre der Ausgangspunkt eines neuen Szenariums gewesen bezüglich eines physisch oder physikalisch anderen Systems mit mir als Zentrum« […] [34- 35]; b) von der »novità« spricht G. auch in der folgenden Äußerung: »Oder es war nur die Ankündigung, dass mein Körper eine andere Geschichte braucht, dass es anders würde, wenn ich dem mir erscheinenden Neuen nicht folgen würde […]«; und er definiert diese Lebenswende als »eine revolutionäre Anforderung«, mit der er seine Zukunftserwartungen identifiziert, »die Erhöhung meiner selbst, die Überwindung jeglicher vergangener oder gegenwärtiger Bedingtheit, die Befreiung von der Moral, die Suche nach Glück […]« (36- 37]; und c) »ein wahres Wünschen, das mir Selbstbewusstsein gab […]« – »Ich konnte mir auch vorstellen, wie schön die Neuheit/das Neue hätte sein können, die daraus hervorgegangen wäre.« [54- 55]
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Der Roman der Wende Er begann zu verstehen, welche Bestimmung ihn erwartete […], jene Ordnung, die er schon zu errichten und für sich selbst in Kraft zu setzen begonnen hatte. [172] –. In seinem diario notiert er: Wenn dieses lange Band der Empfindungen und Ressentiments erst einmal unter Kontrolle gebracht sein wird, werde ich die Suche nach dem Platz, der mir zusteht, aufnehmen können. [143]
Aus den hier zitierten Passagen geht hervor, dass das »revolutionäre« Projekt, das namentlich auch schon auf einen veränderten Politik-Begriff zielt, eng mit der Veränderung der eigenen Person, ihrer Gefühle und Empfindungen, zusammenhängt und beides nicht voneinander zu trennen ist. Der Prozess der Befreiung ist simultan zu verstehen als die Suche – existentiell, politisch, sprachlich – nach dem gesellschaftlich neuen Subjekt der Sozialisation. Angedeutet wird aber auch schon, welches Risiko mit dem Prozess der »revolutionären« Befreiung verbunden ist, von dem sich Aspri in bestimmten Äußerungen die volle und ungeteilte Verfügung über seine eigenen Person verspricht, d.h. einen Zuwachs an Macht, wie sie die Figur des Murieta als Komponente der Figur Gerolamos erstrebt, und was dem Ziel der Resozialisierung des Subjekts im Roman Volponis völlig widersprechen würde. Die Tendenz der Singularisierung des Individuums auf dem Weg zu seiner vollen Entfaltung, die Volponi schon in der Figur des Guido in La strada per Roma aufgezeigt und kritisch analysiert hat, findet, wenn sie in den Familienroman integriert wird – und in diesen die politischen Implikationen – eine Entsprechung in der Identifikation Stalins mit der Vaterfigur, worin sich exemplarisch das ambivalente Verhältnis zum Bild des Vaters spiegelt. Der Schmerz, den Gerolamo über die Liebesversagung Ivanas erfährt, ist mit dem Schmerz zu vergleichen, den er durch die Trennung von der Mutter erlitten hat. Und der aus der Familie erwachsene Konflikt – einschließlich mit der Figur des Vaters – äußert sich auf der politischen Ebene des Romans in der kritischen Auseinandersetzung Aspris mit der Kommunistischen Partei. Auffallend ist, dass Stalin als Vater-Figur relativ häufig Erwähnung findet, sei es als Held des sozialistischen Aufbaus [327, 366, 434] oder als erschreckender Kriegsherr [416, 431, 501]. Nachzuvollziehen ist folglich, dass die Figuren der Familiensituation auch auf der politischen Ebene wieder erscheinen, in der Funktion des zu fürchtenden Vaters – wie im ›Pasolini-Syndrom‹, wo die Mutter als die von Pasolini verteidigte republikanische Sache figuriert – oder wie in der Schlussszene von Le mosche in der grotesken Gestalt des Nasàpeti. Die Erinnerungen an den »schrecklichen« Vater werden schließlich noch einmal evoziert in der Figur des Advokaten Trasmanati, der offenbar seinen eigenen Sohn umgebracht hat. Auch der Alte kehrt wieder. Mich bedrücken und schwächen diese Geschichten von Urbino. Ich muss darüber wegkommen, auch auf Kosten eines immer beschränkteren Blickfelds. [365- 66] – Und: Alles schwankt wie ein Schiff: meine Vergangenheit kehrt wieder zurück […]. [366]
Aus der bedrohlichen Rückkehr des Vergangenen in den Gefühlen des Individuums ist letztlich die Wendung zu erklären, die das »revolutionäre« Projekt der Befreiung auf die Kontestation der Herrschaft der Gefühle über den Menschen lenkt. Overath tritt hier als der Ideologe auf den Plan, der unter Berufung auf die wissenschaftliche Entwicklung einer »macchina chimico153
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fisica« den Einfluss der Gefühle auf die menschliche Handlungsweise als schädigend und letztlich als pathogene Entartung in der gesellschaftlichen Praxis kennzeichnet und bekämpft. Nicht die Seele sei die Quelle aller Erkenntnis über den Menschen, sondern der Körper, so Overath, und Aspri nimmt diese Eröffnung des Freundes mit sichtlicher Zuversicht entgegen. Ich konnte mich auf meinen Körper verlassen und seine Erkundung vertiefen ohne Gefühle und Vorurteile […] [11]; – die Gedanken, die aus meinen Venen hervorquellen, sind von nun an der Beweis und die Notwendigkeit meines Körpers. [67]
Das Projekt der Selbsterforschung Gerolamos verlagert sich damit vom Psychischen, der Analyse der Gefühle, ins Körperliche, in die Erforschung der organischen Vermittlung aller sinnlichen Wahrnehmung: Ich empfand die Notwendigkeit aufzuschreiben, was ich täglich beobachte, es zu konstruieren […]; und das zum ersten Mal, mit einem Bewusstsein, das die verschiedenen Elemente und ihre Verbindungen objektivierte. Es wurde mir nicht mehr von innen aufgezwungen in einer Art krampfartigen, schwarzen Impuls […]. [353]
Mit dieser Wendung ins Körperliche wird der Bruch mit der Psychologie in Gedanken vollzogen, doch die Herrschaft der Gefühle ist damit noch nicht gebrochen. Die Gefühle, so zitiert Overath Kafka, seien die »Dämonen« und »nur ihre große Zahl bewirke unser Unglücklich-Sein auf Erden«. [276] Um die Herrschaft über sie zu erlangen und damit das Sein der Person zu verändern, müssten sie aus ihrer Identität mit Personen gelöst werden. Schon hier rückt vorübergehend die Frage der ›Identität‹ des Subjekts in den Vordergrund, ausgelöst von Gerolamos Überlegungen über den Einfluss des »Anderen« auf sein Bewusstsein. Dieser »Andere« ist, worauf schon hingewiesen wurde, halb die Stimme der ›ratio‹, die eingangs mit dem Gegenspieler Overath identifiziert worden ist, halb die Suggestion des Gefühls, mit dem die weiterhin vorherrschende Dominanz der Familienbande gekennzeichnet wird. Ein Anderer ist hier, der mich bedrängt, verschieden von mir aus dem einfachen Grund, dass ich ihn nicht kenne [340].
Deutlich wird hier, dass das Subjekt der Erzählung Volponis im Handlungsverlauf gespaltet und aufgeteilt wird in die Komponenten des Rationalen oder des Realitätsprinzips und des Gefühls, die sich beide die Vorherrschaft über das ›Ich‹ des Subjekts streitig machen, was gewissermaßen als der allegorische Kampf der entfremdenden gesellschaftlichen Ansprüche auf die Bestimmung des Subjekts in Corporale in Szene gesetzt wird. Und dieser Frage, wer oder was die Person ist, die dem ›Ich‹ als Begleiter oder Widersacher gegenübertritt, wird erst in der Phase des Rückzugs des Subjekts in das Refugium nachgegangen werden. Wir kehren vorerst zurück zur Biographie Gerolamo Aspris und den von ihm erlittenen Liebesentzug, der in der Korrespondenz mit Overath zunächst in den Mittelpunkt rückt. Den Schmerz der Zurückweisung der Liebe durch 154
Der Roman der Wende
Ivana empfindet Gerolamo nicht nur in seiner gegenwärtigen Existenz, sondern rückbezogen auf eine ursprüngliche Kindheitserfahrung, in der das Kind die Zurückweisung der Mutter oder die Trennung von ihr erleiden musste. Vor dem Anblick des Liebespaars flüchtet Gerolamo in eine offen stehende Hütte, wo er sich seinem Schmerz überlässt: Ich stand im Dunklen […] mit einem Bewusstsein wie nach einer Ohnmacht, kaum deutlich, unausgeglichen: ein dunkles Netz des Schmerzes hielt mich noch gefangen […]. – Ich kämpfte darum, dass es nicht wahr wäre und wenn wahr nicht unreparierbar; [60] – Allmählich kehrte, nach zwei Stunden, durch diese Öffnung mein Bewusstsein zurück. Ich schloss halb die Tür und sah Ivana und ihren Freund noch sitzend auf der Schwelle der letzten Hütte vor dem Meer. [61]
Man kann diese Szene, die offenkundig den aktuell erlebten Liebesschmerz Gerolamos beschreibt, auch in dem hier angedeuteten Sinn eines Kindheitstraumas lesen, womit sie zu einem wesentlichen Bestandteil der Familiengeschichte wird, auf welcher Ebene die jetzt einsetzende Zwiesprache mit Overath zu verstehen wäre. Gerolamo muss akzeptieren, dass die Bilder eines in der Vergangenheit erträumten Liebesglücks keine Gültigkeit mehr haben, Bilder des Glücks, gemacht noch aus meiner alten Materie, gewonnen aus dem üblichen Brunnen der Fantasie, aber vollkommen überflüssig und falsch an der Wahrheit gemessen. [64]
Der Bruch mit der Vergangenheit ist unvermeidlich und erfordert ein verändertes Bewusstsein der Wirklichkeit, sowohl was das private wie das politische Leben anbetrifft. In einem ersten Schreiben an den Freund versucht Overath diesem klar zu machen, dass sein Liebesschmerz im Grunde nichts anderes ist als das Symptom seines »narcisismo« [57/58].8 Psychoanalytisch wird damit angespielt auf die Rückwendung der Libido auf das eigene Ich, die Regression der psychischen Entwicklung in ein früheres Stadium. Kategorisch erklärt Overath aber, dass er kein Psychoanalytiker sei, sondern »ein Revolutionär im Briefwechsel mit einem anderen Revolutionär.« [58] »Dass Du unglücklich bist, lass’ ich beiseite […], um mit Dir über das politische Projekt zu sprechen.« [68] Das politische Ziel und Gebot sei die Revolution, ein »totales und libertäres Projekt«, das überall und auch allein zu beginnen sei [68]. Overaths entschiedene Zurückweisung des Existentiellen und Privaten in den Äußerungen Aspris zeigt schon in diesem Teil ihres Disputs – mit dem auch die Episode der Sommerferien am Meer zu Ende geht – die Unterschiedlichkeit ihrer Standpunkte. Während für Aspri der Rückgang in die Sozialisationsgeschichte des nach wie vor seiner Partei verbundenen Subjekts vorherrschend bleibt, drängt Overath in seinen Entgegnungen auf die entschiedene Abkehr von allen Daten der Vergangenheit, auf ihre Liquidierung. Als Aspri mit der Familie aus den Ferien nach Varese zurückkehrt, steht die 8
Bezüglich des Terminus ›Narzissmus, primärer, sekundärer‹ siehe J. Laplanche/J.- B. Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, suhrkamp taschenbuch wissenschaft 7, S. 320- 23 »Der sekundäre Narzissmus bezeichnet eine Rückwendung der von ihren Objektbesetzungen zurückgezogenen Libido.«
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Entscheidung noch aus, ob er mit seiner Vergangenheit bricht oder brechen soll: »In die Familie zurückzukehren war schwierig und erschien mir vor allem als eine vorübergehende Lösung« [107]; genau so unvorstellbar aber ist für ihn auch, gegenüber der Partei Selbstkritik zu üben.9 In beiden Fällen weist alles darauf hin, dass die existentiellen Konflikte in die Politik verlagert worden sind, um dort eine Lösung zu finden, an der beide Kontrahenten interessiert sind, Aspri als das Subjekt der Resozialisierung, Overath als der Repräsentant des Realitätsprinzips.
2. D IE W ELT
DER
G ESCHÄFTE : G ESELLSCHAFT – Ö KONOMIE – P OLITIK
Die Zivilgesellschaft und die deregulierte Ökonomie – ihre Spiegelung in den politischen Diskursen
Der Weg Gerolamos in die Welt der Geschäfte ist zugleich der Weg in die Politik, in der Aspri – jetzt in der Gestalt Murietas – als politischer Agitator seinem Gegenspieler Overath gegenübertritt, beide in der Rolle revolutionärer Ideologen der so genannten ›neuen Linken‹, wie sie von Volponi in Szene gesetzt wird. Ihr Wirkungsfeld auf der politischen Bühne, auf der sie der Romanautor agieren lässt, ist der Raum der Zivilgesellschaft, in der sich die mehr oder weniger deregulierte Praxis der Geschäftswelt ausgebreitet hat. Im Sinne unseres Strukturmodells – der Unterteilung des Gesellschaftlichen in die Bereiche Ökonomie – Politik und Kultur – wäre es angemessen, diese Begriffe im Hinblick auf ihr Vorkommen im fiktionalen Kontext auch als fachwissenschaftliche Termini zu verstehen und zu erläutern. Um die Konstellation vorwegzunehmen, in der die Begriffe im Handlungsverlauf von Corporale begegnen, sei der Konflikt umrissen, in dem sie als die tragenden Elemente der Konstruktion des Romans in Erscheinung treten. Der Weg Aspris führt ihn aus der Familiensituation als einem Bereich der Zivilgesellschaft heraus in einen anderen Bereich derselben, in dem der Lebenserwerb der Menschen situiert ist, in dem also die Produktion von Gütern und deren Vertrieb und Zirkulation sich vollziehen, in dem mit anderen Worten die Ökonomie sich auf dem Boden der Zivilgesellschaft und nach deren Regeln als der ökonomischen Prozess etabliert und ausgebildet hat. Nicht in die Welt der Produktion führt Volponi seinen Protagonisten – das hat der Romanautor in Memoriale, dem Ertlingswerk getan und es bleibt Le mosche del capitale, seinem letzten Roman noch einmal vorbehalten, – er führt ihn in die Welt der Geschäfte als dem Bereich, in dem der Wert der Güter umgesetzt wird in Kapital. Diese Welt wird im Roman als Geschichte erzählt, die durch den burlesken Ton, in dem sie dargestellt wird, die ökonomischen Transaktionen, die sich im Raum des Gesellschaftlichen abspielen, als eine deregulierte, gesetzwidrige und z.T. kriminelle Praxis erscheinen lässt. Der Charakterisierung des Ökonomischen entspricht eine Zivilgesellschaft, in der der Zusammenhalt des Gesellschaftlichen aufgrund seiner deregulierten Ökonomie selbst hinfällig zu werden droht und keine Energien mehr bleiben, um sich der Deregulation des Ökonomischen entgegenzustellen. In dieser Krise, 9
»Cosa dovevo fare per loro? Ubbidire alle norme del 22° congresso? Sono costretto all’autocritica, perché mi è mancato il fiato.« [125]
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als die Volponi die Gesamtsituation einschätzt – und in den Scritti dal margine umfassend analysiert – tritt in Gestalt der neuen und alten Linken die Politik auf den Plan, indem sie ideologische Rezepte zur Einschätzung der Lage bereitstellt und propagiert, um die Gesellschaft zu repolitisieren (die parlamentarische Linke), bzw. sie für eine revolutionäre Veränderung der Verhältnisse zu gewinnen (die neuen linken Bewegungen). In der Gegensätzlichkeit der politischen Zielsetzung präsentiert der Roman die Lager der politischen Linken im Zwiespalt von Parteiensystem und Bewegungen der Autonomie. Den Strategien dieser politischen Kräfte schreibt der Regisseur der Inszenierung die Rolle zu, Programme zu entwerfen gegen die drohende Beherrschung der Gesellschaft durch die Ökonomie und/oder zur Rückgewinnung eines zivilgesellschaftlichen Konsenses, was die Kommunistische Partei propagiert und verfochten hat. Die Verflechtung von Politik und Ökonomie in diesem Handlungsschema zielt offensichtlich auf die Darstellung eines geschichtlichen Moments, in der der zivilgesellschaftliche Zusammenhalt in Italien bedroht wird durch die Krise der kapitalistischen Ökonomie. In dieses Handlungsgeflecht ist die Erzählung von der Resozialisierung des Subjekts in der Biographie Gerolamo Aspris mit dessen Eintritt in die Welt der Geschäfte einbezogen. Sie repräsentiert die Phase der Politisierung im Prozess seiner Resozialisierung. Der Begriff der »società civile«, der im italienischen Sprachgebrauch als komplementär zur »società politica« oder der Klasse der Politiker verstanden wird, ist Gegenstand des Kapitels Società civile e cultura di massa von Ginsborgs zweibändiger Geschichte Italiens zwischen 1943 und 1996.10 Die Definition, die nach Ginsborg in der Literatur am häufigsten zu finden ist – und im Grunde Hegels Beschreibung (»die Zivilgesellschaft steht zwischen der Familie und dem Staat« – »la società civile si colloca tra la famiglia e lo Stato«)11 gleich geblieben ist, situiert die Zivilgesellschaft in einem Zwischenbereich, in dem u.a. die Institutionen, aber auch Ökonomie und Politik enthalten sind, aber darin dominierend werden können, so dass sie dann einen entfremdenden, autonomen Bereich konstituieren, wie das in Volponis Darstellung noch anschaulich werden wird. Ginsborg liefert zu diesem Grundmodell zwei Varianten, die sich nur insofern unterscheiden, als die zweite ein wertendes Kriterium in die Beschreibung einführt, nämlich die Unterscheidung zwischen »società civile« und »società incivile«, was den Rückfall einer Gesellschaft einschließt in ein schon überwunden geglaubtes zivilisatorisches Stadium und die Korruption oder die Diktator bezeichnet Die vom Begriff der Zivilgesellschaft ausgehende Differenzierung von Strukturbereichen findet eine Ergänzung, bzw. ihre Bestätigung, in der vorwiegend politologischen Literatur. Autonomie- Bewegung versus Parteiensystem
In Corporale lässt Volponi die Figur des Overath verkünden, worin die Unterschiede zwischen der »vecchia« und der »nuova sinistra« bestehen und letztlich auch ihre unversöhnlichen Gegensätze. Während Overath diese Gegensätze für grundsätzlich hält, wären sie als historisches Phänomen in den 10 Paul Ginsborg: L’Italia del tempo presente. Famiglia, società civile, Stato 1980- 1996. Turin: Einaudi 1998, S 180- 253. 11 Ebd., 180.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Augen Aspris nicht unüberbrückbar, würde man sie als dialektische Momente ein und desselben Kampfs betrachten. Der ironische Ton Overaths entspricht dem spielerischen Charakter der Volponischen Inszenierung des Politspektakels. Folgendes musst du kapieren: die alte Linke (aus der du kommst, wie man der Wärme deiner Sinne und deinen Schuldgefühlen anmerkt), verhält sich zur neuen 12 Linken (säuerlich, eine Art Geist aus der Flasche ) wie die absolute Entfremdung, – d.h. die der Basis, des Mehrwerts, im generösen und ein bisschen ästhetisierenden Sinn von unserem Marx – zur relativen [Entfremdung], d.h. die des Überbaus, neurasthenisch, kulturell, der Freizeit, im Sinne Lukács, ein bisschen jähzornig und von schlechtem Geschmack (beachte bitte, dass ich nervenschwach gesagt habe und nicht neurotisch). – Du stehst in der Mitte, kraft deiner körperlichen Verfassung; aber ich weiß nicht wie lange noch. Ich versuche, die Unterschiede dir noch besser begreiflich zumachen. – Auf der einen Seite die Revolution als ein apokalyptisches Geschehen, einmal nur und ein für alle Male; auf der anderen Seite die Revolution als ein permanentes Umschlagen, systematisch, empfindlich reagierend auf sexuelle Vibrationen wie auf die Sprachen und beständig die Riten verändernd. – Halt dir vor Augen, dass beide auf der Suche nach einem historischen Subjekt sind [...]. [73- 74]
Overaths Definitionsakrobatik wird hier nur kurz unterbrochen; wir kommen darauf zurück, wenn die Beziehung oder die Analogien dieser Äußerungen zu der gespaltenen Linken ab ’68/69 erkennbar geworden sind. Unterschieden wird im Jargon Overaths die Parteilinke, die den Kampf gegen die kapitalistische Entfremdung und Ausbeutung an der Basis, d.h. mit der Arbeiterklasse, bestritten hat oder bestreitet, und die neue Linke, von der dieser Kampf im Überbau ausgefochten wird, hauptsächlich mit den Waffen der Kritik und mit den Mitteln der Agitation, um ein revolutionäres Bewusstsein zu schaffen, wofür der Name Lukács steht. Das Ziel der Partei der Arbeiterklasse ist die politische Macht im Staat, die sie durch eine Revolution erringt, die definitiv die Herrschaft des Kapitalismus beendet. Die Revolution der neuen Linken besteht dagegen in einer Reihe von Teilrevolutionen, die partielle oder stufenweise gesellschaftliche Veränderungen herbeiführen sollen, und nicht auf die Eroberung des Staates zielen, sondern darauf, die gesellschaftliche Basis zu revolutionieren. Der Zeitpunkt, zu dem die unterschiedlichen Strategien der beiden politischen Lager wirksam werden, ist auf die Zeit um ’68/69 zu datieren, den Beginn einer Phase, in der das Anwachsen der Autonomie-Bewegung parallel zum Aufstieg der KP und ihren Wahlerfolgen von 1975/76 verläuft. Sergio Bologna erklärt im Namen des Collettivo di »Primo Maggio«: »Für die revolutionäre Linke geht es darum, die eigene Geschichte von ’68 bis heute zu verstehen«, ob es nämlich richtig war, sich von der parlamentarischen Linken zu trennen und eigene Wege zu gehen oder ob dieser Schritt nicht vielmehr notwendig war. Für die Autonomie-Bewegung, für die Sergio Bologna spricht – und deren operaistische Ursprünge er kennzeichnet als die des »Volks von ’68« – »il popolo del ’68«13 –, markiert dann die Krise von 1973, 12 Wörtlich: ein abgedecktes Reagenzglas. 13 In der Zeitschrift Primo Maggio, Nr. 21, 1984, S. 60.
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wo die Gegenoffensive des Kapitals sichtbar zu werden beginnt und damit die Arbeitslosigkeit (bzw. das precariato) zum Problem der jungen Generation wird, die entscheidende Wende zur Radikalisierung. In der Debatte der Autonomie erlangt die Frage der Valorisierung der Arbeitskraft im Produktionsprozess in diesem Kontext eine spezifische Bedeutung: nicht mehr ist die Produktion in erster Linie auf die Arbeitskraft angewiesen und von ihr abhängig, sondern sie beruht auf der verfügbaren Masse von Kapital, die in die Produktion investiert wird, so dass der Arbeitslohn ausschließlich von der Verfügbarkeit des Kapitals bestimmt wird und nicht mehr vom Wert der Arbeit selbst.14 Die einhellige Antwort der Autonomie ist die Arbeitsverweigerung und ihr strategisches Ziel: dem Wertverlust der Arbeit durch die Verlagerung der Produktion in eigene Regie entgegenzusteuern, was – vielleicht missverständlich – als »autovalorizzazione« der nicht abhängigen Arbeit bezeichnet worden ist. Den hier skizzierten Verhältnissen werden wir in den strategischen Diskursen der von Volponi designierten politischen Figuren wieder begegnen. Die Krise der Produktion, für die Autonomie-Bewegung die Wertkrise der Arbeit, von Volponi als die »große« Krise der politischen Ökonomie des Nachkriegsitaliens15 gekennzeichnet, ist nach Giorgio Galli die Krise des italienischen politischen Systems. Die Krise der Ökonomie hat übergegriffen auf die Politik und hat diese mit in den Sog des Niedergangs gezogen.16 Verantwortlich dafür sieht Galli den bestimmenden Einfluss einer gesellschaftlichen Machtkonstellation, der eine hemmende, um nicht zu sagen gesamtwirtschaftlich schädigende Wirkung bezüglich der Produktionsweise und der Investition von Kapital zukommt, nämlich den Sektoren der staatlichen Bürokratie und dem Finanzwesen in den Händen des Bürgertums. »Der ökonomische Wertverlust unseres Systems«, so schreibt Galli, »seine ›Pervertierung‹, 14 Giuliano Buselli e Mario Zanzani in ihrem Beitrag Sistema politico – società, in La tribú delle talpe [Feltrinelli, Mailand 1978] schreiben: »Die gesamtgesellschaftliche Produktivität hängt immer weniger von der Beziehung zur Arbeiterklasse ab und immer mehr von der kapitalistischen Sozialisierung und Reorganisation und von ihrer Geldform, tendiert also dazu, sich unabhängig zu machen von der direkten Produktion. Die Arbeitszeit präsentiert sich immer mehr als eine willkürliche Bedingung. Bezüglich der Arbeitskraft ist die Krise das Anwachsen des precariato und äußert sich politisch als Flucht der Arbeiter und großer Teile der Jugendlichen aus der Lohnarbeit in der Fabrik […]« (S.101). 15 In La grande crisi e la crisi minore, aus Scritti dal margine, S. 53- 59; Volponi äußert dort: »Dagegen begegnet die ökonomische Macht der Krise der Ökonomie, indem sie sie soweit wie möglich politisch und gesellschaftlich ausdehnt, mit Hilfe bewährter institutioneller Mittel, in der Absicht, die eigenen Begriffe über die historischen zu stellen und geltend zu machen, sich wieder mit der Macht des Staates zu identifizieren und wieder als alles zu erscheinen, Anfang und Ende. Um so mehr als sie weiß, dass es für sie keinen anderen Weg gibt, sich als eigene und hegemoniale Macht zu retten als sich mit der des Staates zu vereinen und sie zu nutzen mehr zur eigenen Verteidigung als zur ihrer Selbstbehauptung.« (S. 54). Hingewiesen sei hier eigens auf die Feststellung Volponis, dass die Ökonomie sich der politischen Macht bedient, um sich die Machtmittel des Staates zu sichern. 16 Galli, Giorgio: Dal bipartismo imperfetto alla possibile alternativa, Bologna: Il Mulino 1975, S. 180.
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um einen Ausdruck Romano Prodis zu benutzen, kommt allein diesen beiden Sektoren zugute.«17 Das System der regierenden Parteien ist in diese Krise so sehr verstrickt, dass es auf der Grundlage christdemokratischer Regierungsverantwortung nicht mehr in der Lage ist, einen Konsens für die immer dringlicheren Reformen zu schaffen. Die DC, deren Wahlerfolge schon seit ihrer Gründung im wesentlichen auf der Versorgung ihrer Wählerschaft basierte, auf ihrem »clientelismo«, verliert Stimmen im selben Maß wie die KP auf dem Weg zu ihren großen Wahlerfolgen ist und Aldo Moro, der Parteichef der Christdemokraten eine Regierungsbeteiligung der Kommunisten in Erwägung zieht. Die Partei Berlinguers glaubt die Stunde eines Historischen Kompromisses für gekommen, wo sie durch ihre Beteiligung an der Regierung ihre Politik zu realisieren gedenkt. Im Kern ist diese auf zwei große Ziele gerichtet: zum einen die Sanierung der italienischen Wirtschaft und die Intensivierung der Industrialisierung des Landes, zum anderen auf die Demokratisierung der italienischen Verhältnisse im Bereich der Zivilgesellschaft, was die Autonomie-Bewegung u.a. unter dem Begriff der Sozialisierung der Politik versteht.18 Bezüglich der Frage, welche realen Chancen die Politik des Historischen Kompromisses hatte und welche Perspektiven sich eröffnet hätten aus der Verständigung mit Teilen der neuen Linken, ist der Studie Gallis zu entnehmen, dass es zwischen Bewegung und Partei des linken Lagers streckenweise keine unüberbrückbaren Gegensätze gab und dass die KP also auch Forderungen der Bewegung vertreten hat.19 Was Volponis Auffassung von einer möglichen Wende in der Geschichte der ersten Republik Italiens betrifft – in Le mosche del capitale noch einmal aufgegriffen – so scheint erwiesen, dass in den frühen 70er Jahren die Erfolgsaussichten hinsichtlich einer historischen Wende noch als offen zu betrachten waren, dass – auch von christde17 Ebd., S. 183 und weiter: »Eine Gesellschaft, die den spekulativen Nutzen gegenüber dem industriellen Profit belohnt, die unproduktive Arbeit (in den zurückgebliebenen tertiären Sektoren) gegenüber der produktiven (in den Sektoren der Landwirtschaft, der Industrie, dem fortgeschrittenen tertiären Sektor), ist eine Gesellschaft, die in struktureller Hinsicht ihr Wachstum behindert […]«. (S. 185). Und bezüglich der Reformansätze im Historischen Kompromiss: »Diese politischen und sozialen Zusammenschlüsse könnten unser sozioökonomisches System aber nur rationalisieren und es dann auf den Weg der Reform bringen, wenn sie die Macht des spekulativfinanziellen und bürokratisch- parasitären Bürgertums reduzieren.« (S. 214) 18 Gianfranco Bottazzi in Dai figli dei fiori all’autonomia spezifiziert, was diese Forderungen betrifft, das Moment der Demokratisierung in der Partizipation an politischen Entscheidungsprozessen einerseits und im neunten Kapitel die ›neuen Bedürfnisse und die Arbeiterbewegung‹ andererseits und äußert zum ersten: »Eine dieser Faktoren […] ist der Wille zur Partizipation, zur Demokratie, eines der neuen und höchst positiven Daten des Italien der 70er Jahre. Zugenommen hat die Wahrnehmung der Möglichkeit eines anderen Lebens, der realen Demokratisierung des Alltagslebens, in den interpersonellen Beziehungen, in der Arbeit, in der Gesellschaft. « (S. 169) 19 Galli äußert in seiner Untersuchung von 1975, dass eine partielle Zustimmung zu den politischen Reformen des Historischen Kompromisses signalisiert worden war von Lotta Continua, Avanguardia Operaia und den marxisti- leninisti; das aber zeigt wenigstens, was zu diesem Zeitpunkt noch für politisch möglich gehalten werden konnte.
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mokratischer Seite – die Regierungsbeteiligung der Kommunisten für möglich gehalten wurde und von den Konservativen eigentlich befürchtet worden ist.
3. D IE I NSZENIERUNG
VON
P OLITIK
UND
G ESCHÄFT
Die Geschichte Gerolamo Aspris verstehen wir als die Erzählung Volponis von der Suche des Subjekts nach seinem gesellschaftlichen Sein, nach der unentfremdeten Situation des Individuums in der Gesellschaft. Und diese Suche vollzieht sich in den drei Phasen der Familiengeschichte, der politischen Erfahrungen im Kontakt mit der Zivilgesellschaft, schließlich im Moment der Marginalisierung. Im mittleren Abschnitt, mit dem wir uns im Folgenden beschäftigen, durchläuft das Subjekt in wechselnder Gestalt eine Entwicklung, die von der Mitgliedschaft Aspris in der Kommunistischen Partei auf lokaler Ebene (in Varese), über seine Aktivität in der neuen Linken in Gestalt des guerrigliero Joaquín Murieta bis zu seinem Rückzug aus der Politik in die Einsamkeit seines Refugiums reicht, ein Lebensverlauf, der das Schema des Bildungsromans im Grunde umkehrt. Aspris politische Lehrjahre beginnen in der Jugendzeit mit seiner beruflichen Förderung durch die KP, wie seine solide Verwurzelung im Gesellschaftsverständnis der Partei bezeugt.20 Das im Tagebuch vermerkte Jahr 1965 zeigt, dass der 35-Jährige die Krise seiner Partei miterlebt hat21 und darüber hinaus, dass Gerolamos mid-life.-Krise mit der Krise des politischen Bewusstseins zusammenfällt, wie eingangs von ihm bekundet wird. Durch die Zusammenführung beider Krisenmomente im Handlungsverlauf, der die private Geschichte Gerolamos in die politische Geschichte integriert, wird die erzählerische Strategie Volponis erkennbar: zu zeigen, dass das Politische der neuen Linken aus der Krise ihrer Lebenserfahrung zu verstehen ist, und ihr Protest sich punktuell mit dem der Fabrikarbeiter überschneidet und mit diesem sich solidarisiert. In seiner Inszenierung des Konflikts zwischen dem Protestpotential der Linken das aus der existentiellen Erfahrung resultiert (Murieta), und dem Realitätsprinzip das sich ihrer Umsetzung in Politik widersetzt (Overath), lässt Volponi seine beiden Hauptfiguren mit verteilten Rollen spielen. Murieta, der Figur, die die existentielle Erfahrung repräsentiert, wird in der Gestalt Overaths eine Figur zur Seite gestellt, die diese Erfahrung negiert und sie aus ironischer Distanz aus politischen Defiziten zu deuten versucht. Zur Inszenierung Volponis gehört aber auch, dass die Mitspieler als maskierte Agenten auftreten, wodurch die Sachverhalte der Politik und der Ökonomie als Defizite der Zivilgesellschaft kenntlich gemacht werden sollen. 20 Aspri über seine Lehrjahre mit der KP: »Ich habe meine Lehrjahre in der Fabrik begonnen« – Io avevo dovuto fare la mia carriera in fabbrica [347 sowie ferner 69f] 21 Zur Charakterisierung dieser Phase siehe folgende Publikationen: Massimo Teodori: Storie delle nuove sinistre in Europa, Bologna: Il mulino 1976, darin Le correnti operaiste, S. 433ff; Giuseppe Vettori: La sinistra extraparlamentare in Italia. Rom: Newton Compton 1973, darin Dai Quaderni Rossi alla Monthly Review, le riviste della ›nuova sinistra‹, S. 19- 30; Wolfgang Rieland: Organisation und Autonomie. Frankfurt: Verlag Neue Kritik 1977, darin: Zur Konstitution der ›Quaderni Rossi‹, S. 119- 137.
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Aspri/Murieta kommt – als dem Subjekt der Resozialisierung – in der Auseinandersetzung mit Overath ohne Zweifel das größere Gewicht zu, in seiner Entwicklung nämlich über die Politik in die Marginalisierung. Anzumerken wäre dazu auch, dass die Figur (in der Rolle Aspris) festhalten wird an der kommunistischen Idee einer vom Kapitalismus befreiten Welt, in der die Bedürfnisse der Gesellschaft durch die Assoziierung der »produttori« auf einer kollektiven Grundlage neu zu regeln sind.22 Im Hinblick auf das Ziel dieser neuen Vergesellschaftung wäre die Phase der Marginalisierung nämlich zu interpretieren als die Liquidierung der institutionalisierten Merkmale des bürgerlichen Subjekts. Die Überwindung der sentimentalen Krise Aspris als Bestandteil seiner Resozialisierung geht ein in das Projekt der revolutionären Veränderung der Positionen des kommunistischen Parteigängers. Auf Aspris Mitteilung über die Wende, die sein Leben mit der enttäuschten Liebesbegegnung genommen hat, antwortet Overath, indem er ihm rät, sich an die Tatsachen zu halten: […] halt dich immer an die Sachen: wenn du in dich gehst, entleerst du dich lediglich in den Empfindungen und dann gewinnt die Nachgiebigkeit [7].
In seiner Erwiderung entgegnet Aspri dagegen, dass er sehr wohl zu unterscheiden weiß zwischen dem Moment des Traumas, d.h. der Familiengeschichte, und der eigenen Wahrnehmung der Wirklichkeit: Ich glaube, ich habe genügend abgewogen innen und außen, Gefühle und Ereignisse […] und ich glaube, dass ich mich richtig einzuschätzen weiß, ohne Anmaßung [57].
Diese Unterscheidung zwischen Gefühl und Wahrnehmung, die in der Frage Aspris an Overath wieder aufgenommen wird, ist als relevant festzuhalten Ist es dir nie passiert, dass du die Dinge, auch die um dich herum, siehst, als ob sie nicht mehr der Dimension des Wirklichen angehörten und den natürlichen Beziehungen auch mit dir? […] und dass dir alles in einer anderen Ordnung erscheint, auch mental, im Licht einer neuen, starken und überlegenen Kraft? [99]
Wie gewöhnlich reagiert Overath darauf, indem er diese Feststellung als irrational zurückweist oder auf eine optische Täuschung zurückführt, was er letztlich auch tut, und worauf wir zurückkommen, wenn uns die Problematik der Wahrnehmung beschäftigen wird. Schon einmal hatte Overath auf einen entsprechenden Einwand Aspris geantwortet: […] aber es muss dir bewusst sein, dass [was du denkst] nicht außerhalb der Welt sein kann, in der du lebst, die die einzig ist, die dich bedrängt und dich 22 Zur Funktion der Industrie in der Gesellschaft äußert Volponi im Dialogo mit Leonetti: »diese [die Gesellschaft] wird gerettet, indem man die Maschine der Produktion wieder in Gang setzt« (S.80) und: »Der Traum einer geordneten Industrie ist meines Erachtens das Kernproblem einer Politik der Befreiung für unser Land. Dass die Industrie endlich ein Instrument der Kollektivität werden kann, um ihre Lage zu verbessern.« (S. 29)
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Was hier in der Zwiesprache mit Overath geklärt werden soll, ist das Problem, das Aspri bezüglich der Mordgeschichte seinem Tagebuch anvertraut: […] die ruinöse Suche nach der Realität […]: aber ich suche nur eine Grenze dessen, was wahr ist um und über mir: ich bemühe mich […] zu sagen, dass ich eine Beziehung zur Realität suche. [126]
Die Wirklichkeit, nach der Gerolamo fragt, ist die des gesellschaftlich Wirklichen; ihn interessiert, aus welcher Perspektive die politischen Parteien diese gesellschaftliche Wirklichkeit wahrnehmen und welche Bedeutung sie ihr in deren Gestaltung oder Veränderung einräumen. Wir kommen hier auf die Unterscheidung zurück, die Overath zwischen der alten und der neuen Linken schon angesprochen hat. Die »alte« Linke der Arbeiterbewegung hatte er als eine marxistisch orientierte Kraft der gesellschaftlichen Veränderung an der Basis definiert; die »neue« Linke dagegen als eine politische Kraft, die vorwiegend im kulturellen Bereich des Überbaus denkt und agiert. Die parodistische Diktion, in der Volponi dann – aus der Sicht Overaths – die politischen Lager zusätzlich kennzeichnen lässt, ist einerseits humoristisch eigens zu würdigen, und andererseits auch als Kritik ernst zu nehmen. Im Hinblick auf ihre Gehalte sei uns erlaubt, die jeweiligen Passagen ausführlich zu zitieren: Stell dir jetzt vor die beiden Musikantinnen. Die alte Linke schwerfällig und hinkend, mit halben Handschuhen, hat in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, zum Verdruss einiger kleiner Intellektueller, das Proletariat verloren, das unter der Tribüne verschwunden ist, unter den mehr oder weniger reicheren und erweiterten Führungsaufgaben […]. Und jetzt, bewusst oder nicht, hat sich die alte Dame aufgemacht, es zu suchen überall, in den Cafés an den Plätzen, indem sie allmählich auch Gefallen findet an der Schönheit der Schaufenster und der Qualität der Waren. Die junge Linke läuft herum, schwachsinnig und halluziniert, schlecht gekleidet mit neuen Klamotten. Sie denkt an nichts anderes als zu verweigern und wie man es macht sich zu weigern, die konstitutionelle Macht zu ergreifen. Sie will sie nicht und sie sucht in ihren Taschen als ehemalige Seminarteilnehmerin ein Modell alternativer Macht […]. Diese extravagante junge Dame funktioniert die revolutionäre Praxis um in eine aggressive Psychoanalyse der Gesellschaft […] der sie hinzufügt, wie der Psychoanalyse Beruhigungs- und Betäubungsmittel hinzugefügt werden können, Exorzismen der Guerriglia, exotische Getränke, Wurzeln und ein paar Drogen. [74]
Bemerkenswert an dieser Skizze der politischen Kräfte der Linken ist die Verlagerung der Sachverhalte, die sie charakterisieren sollen, auf die Figuren, die als ihre Träger in Szene gesetzt werden. Auf dieser Verlagerung auf Personenkonstellationen beruht im Grunde Volponis Strategie der Inszenierung historischer Konflikte, die erstmalig in Corporale praktiziert wird, in den Romanen der historischen Schaffensperiode aber dann die methodologische Grundlage seiner Interpretation der Geschichte Italiens wird.
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Der Übergang Gerolamos in die »andere« Existenz – als Murieta in die Welt der Geschäfte – erfolgt, als dieser über die Figur des Marchese am Geschäft des Drogenhandels beteiligt wird. Geknüpft wird diese Verbindung über das Jesuitenkolleg, an dem Aspri unterrichtet und das, wenn man so will, als Umschlagsort ideologischer Indoktrination verstanden werden könnte, wie Overath andeutet. Das Jesuitenkolleg führte Kaffee aus Brasilien ein und auch einen anderen Stoff, [der chemisch bearbeitet wurde], um daraus die Droge zu gewinnen.
Der Umschlag des Stoffs, den Aspri auf einer Klassenfahrt nach Frankreich mit sich führt und vertreibt, wird zu einer Transaktion uminterpretiert, die das von den Jesuiten vermittelte Bildungsgut mit dem Stoff gleichzusetzen erlaubt, der von der »Organisation« vertrieben wird. Vielleicht würden zu Weihnachten schon neue Süßigkeiten, Bonbons, Kuchen in Umlauf gebracht werden … und nicht aus gewöhnlichem Kokain, das zu leicht ist […], sondern aus Morphium, das in die Venen geht und dann in die Leber aufgrund eines neuen, beschleunigeren Stoffwechsels. Geschaffen werden soll eine Distributionskette, überredend und einfühlend, versorgt von einer Horde Sklaven des revolutionären Metabolismus. [145]
Aspris Übergang zur »organizzazione« ist aber auch erzählerisch als der Wechsel auf eine andere Verständnisebene zu betrachten, insofern er auch den politischen Übergang von der KP zur neuen Linken konnotiert und damit einen Schritt in der Resozialisierung des Subjekts bezeichnet, der aus der Familienbindung hinausführt zu einem Engagement in der Politik, von dem er aber auch die Realisierung des »revolutionären« Projekts erwartet: Ihn ergriff die Furcht […], dass in der Organisation kein Platz sein könnte für die Kon- struktion, die er schon fertig in sich trug […].139] Was Aspri selbst dann wie folgt konkretisiert: Ich glaube, das einzige Problem ist, meine Sache so engagiert voranzubringen, dass sie politische Realität wird und so stark, dass sie die Ursache vieler weiterer befreiender Ereignisse werden kann. [140]
Zu verstehen sind diese Bemerkungen als ein Hinweis darauf, dass das Engagement in der Politik auch weiterhin das Ziel der Resozialisierung des Subjekts verfolgt, das im Rollenwechsel von Aspri zu Murieta die Wendung vom Privaten der Lebensgeschichte in den Strom des öffentlichen Lebens markiert. In die Phase, in die Murieta aber als revolutionärer Ideologe jetzt tritt, geht es um die politische Realisierung des »revolutionären« Projekts, das von der persönlichen Befreiung des Individuums zur politischen der Gesellschaft fortschreiten soll, was in der kurzfristigen Verlagerung des Handlungsorts nach Urbino im Vorfeld der Mailänder Szene schon diskutiert wird. Anspruch und Ziel der Revolution werden von Overath im Gespräch mit dem Advokaten Trasmanati, dem Repräsentanten des bürgerlichen Urbino, im Hinblick auf ihre historische Geltung debattiert. Mit dieser vorweggenommenen Einführung in die politische Debatte hat Volponi wahrscheinlich beabsichtigt, Varianten des Revolutionsbegriffs, die ihm bezüglich der Geschichte Urbinos wichtig waren, in die Inszenierung der politischen Verhält164
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nisse einzubeziehen. Es handelt sich dabei um die zwei letzten Abschnitte des Textes, mit denen der erste Teil abschließt und die fast beiläufig die Sprache auf Reformation (riforma) und Rinascimento bringen, den großen Zäsuren in der italienischen Geschichte, auf die sich Volponi immer wieder bezieht. Trasmanati ist gegen die Riforma, weil diese inspiriert und getragen wird von religiösen Interessen oder, wie er sagt, von Gott und »weil Gott, auch heute noch, so viel besagt wie die Dinge zu lassen, wie sie sind.« Die Revolution dagegen »machen, oder sind im Begriff zu machen, die Technik und die Industrie.« [132] Dass die Industria das bewegende Prinzip der Revolution sei, darin scheinen beide übereinzustimmen; Overath versteht die Industrie jedoch als das historische Moment, aus dem die bürgerliche Revolution hervorgegangen ist, während Trasmanati sie in der Welt der Technik verwurzelt sieht, als die Atom- und Raumfahrt-Industrie, »die der Welt einen anderen Stellenwert geben würde.« [132] Erwähnenswert erscheinen diese Äußerungen, weil sie den Revolutionsbegriff im Kontext der industriellen Zivilisation situieren, von deren Fortdauer Volponi auch im »postindustriellen« Zeitalter noch überzeugt zu sein scheint. Die Organisation der Geschäftsleute
Die ›organizzazione‹ der Geschäftsleute, in der Aspri über Overath Aufnahme findet, zählt zu ihren leitenden Personen den Marchese Malboni, der offensichtlich die Beziehung zur Finanzwelt repräsentiert; er verfügt über Landbesitz, den er, statt ihn produktiver Nutzung zuzuführen, für spekulative Zwecke der Geschäftswelt zur Geldanlage zur Verfügung stellt.23 Aus der Liste der Transaktionen, in die er verwickelt ist, werden darüber hinaus Investitionen und Gewinnanteile beim Pferdesport und am Kunstmarkt erwähnt. Um seinen Führungsanspruch in der Organisation geltend zu machen, verbündet sich Murieta mit einem Mann, der die Funktion eines Geschäftsführers inne zu haben scheint als Aufseher über die Hunde der Hunderennbahn und die Frauen auf dem Markt der Prostitution, genannt einfach nur il marito di Ivana [der Ehemann von Ivana], d.h. der Ivana der Mailänder Szene, mit der sich Murieta liiert und als Rivale von Overath über diesen triumphiert. Es stellt sich jetzt die Frage, was konkret die Figuren der Mailänder Inszenierung repräsentieren, wenn ihre Organisation, wovon wir ausgehen, als ein Sektor der Zivilgesellschaft zu verstehen ist. Die ganz offensichtlich außerhalb der Legalität operierende Geschäftswelt wird von Volponi dargestellt in ihrer ausschließlichen Beziehung zum Markt als dem eigentlichen Zentrum der gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen und damit unter Ausgrenzung aller anderen Bereiche des Ökonomischen, wie der Produktion, die in Corporale den Gegenpol zur Marktgesellschaft bezeichnet. Der Markt als der Ort der unbegrenzten, regellosen und unregulierten zivilgesellschaftlichen Beziehungen der Individuen, ist der Bereich der kapitalistischen deregulation im Sinne des Neoliberismus, wie er in der soziologischen Literatur hinreichend charakterisiert worden ist.24 Gestützt auf diese Erkenntnisse können wir versuchen, die Bilder zu interpretieren, die 23 Die Beschreibung dieser Figur auf S. 198. 24 Siehe Donald Sassoon: L’Italia contemporanea; Pietro Ingrao/Rossana Rossanda: Appuntamenti di fine secolo; Indro Montanelli/Mario Cervi L’Italia degli anni di fango.
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Volponi der Charakterisierung der zivilgesellschaftlichen Komponenten und Strukturen zugrunde legt, d.h. der Menschen, die sich auf dem Markt begegnen und austauschen. Die Bildbereiche, die auf diese Verhältnisse verweisen, sind in Volponis Text die Bereiche des Drogenhandels, die Wettrennen von Tieren (Hunde und Pferde) sowie der Markt der Prostitution, Bereiche alles, deren gesellschaftliche Äquivalente zu ermitteln und zu bestimmen wären. Anzunehmen wäre, dass der Drogenhandel für die Konsumgesellschaft steht, d.h. für eine Gesellschaft, deren Lebensinhalte hauptsächlich auf den Konsum ausgerichtet sind; ferner, dass die Tierhaltung (Hunde- und Pferderennen) den Bereich der Leistungsgesellschaft bezeichnet, wonach die gesellschaftliche Arbeit nur nach dem Profit bemessen wird, den sie einbringt; schließlich, dass die Prostitution die Warengesellschaft konnotiert, die das gesellschaftliche Sein des Subjekts seinem Tauschwert geopfert hat. In dieser Richtung wäre zu interpretieren, was Ivanas Ehemann über das Geschäft der Prostitution äußert: und er fing an zu erzählen, wie anders die Prostitution geworden sei, anders die Mädchen, die Plätze voll von belle di giorno, von Studentinnen, Krankenschwestern, Verkäuferinnen, Familienmüttern, von angesehenen Damen […]. [199]
Das zentrale Ereignis der Mailänder Szene ist die Geschäftsversammlung der Gruppe der Geschäftsleute, in der Murieta seine Führungsansprüche durchzusetzen versucht und wo bei dieser Gelegenheit die Gegensätze und Differenzen zwischen Overath und Murieta wieder zur Sprache kommen, der erste als Vertreter einer Strömung der Autonomie, der zweite als das Sprachrohr von Führungsansprüchen einer neuen Partei. Overath stellt Murieta als den Ideologen hin, der ein Weltbild propagiert, nach dem sich die Politik zu richten habe. Energisch blockiert er Murietas Ansätze zu einer Grundsatzerklärung ab, indem er erklärt: »Wir sind hier, um einen Geschäftsvertrag abzuschließen.« [197] Verdeutlicht wird damit, dass es um ökonomische Interessen geht, um Drogen (Konsum), Rennen (Leistung) und Prostitution (Tausch), um beim allegorischen Doppelsinn zu bleiben. Hält man sich den Doppelsinn dieser Debatte gegenwärtig, so sind die politischen Reden, die die Kontrahenten führen, – und die die ideologischen Gegensätze der neuen Linken reproduzieren oder doch eher parodieren – auf die Ebene der Zustandsbeschreibung der Zivilgesellschaft zu übertragen. Den Gegensatz zur kommunistischen Partei manifestiert Overath wiederholt durch die Zurückweisung der ideologia, deren Verteidigung er Murieta nachsagt. Es gibt kein ideologisches Problem […]. Es geht ums Geschäft – Als Produktivkräfte müssen wir in erster Linie die Menschen und die Maschinen betrachten und erst dann die Ideen […]. [200]
Im Bemühen, den Produktionsprozess auf die Gesamtheit der Bevölkerung auszudehnen, entsprechend einer operaistischen Strategie der AutonomieBewegung,25 versteht Overath die Ökonomie, losgelöst von jeglicher Ideologie, als die Kooperation von ökonomischen Interessen, die nur Menschen und 25 Siehe die von Sergio Bologna herausgegebene Schrift La tribú delle talpe und darin u.a. Centralità operaia von Marcello Messori und Marco Revelli, S. 41- 81.
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Maschinen betrifft und den Antagonismus von Arbeit und Kapital als bedeutungslos erscheinen lässt. Dagegen stellt sich für Murieta in erster Linie die Frage der zivilgesellschaftlichen Reorganisation und damit politisch als vordringlich die der Reorganisation der Führungsfähigkeiten: Ich sehe in unserer Tätigkeit und in der von Ivanas Ehemann Ähnlichkeiten, die es erlauben, sie in einer einzigen Situation zusammenzufassen, d.h. in einer Einheit. [201]
Doch diese Einschätzung wird von den anderen und insbesondere von Overath strikt zurückgewiesen: Es gibt keine einheitliche Situation. Du bist nichts als ein Individualist, der nur an sich selbst als Symbol glaubt; […]. In Wahrheit willst du nur kommandieren: möchtest du, dass wir dir alles anvertrauen und vor allem uns selbst [...]. [203]
An der Position Murietas ist von Interesse, dass sie die Bestrebungen zur Bündelung und Zusammenführung der militanten Kräfte in der frühen Phase des Operaismus, z.B. von Potere Operaio und Lotta Continua, zu spiegeln scheint, sowie die Linie von Classe Operaia im Festhalten an der Partei.26 Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang, dass Volponi sich unmittelbar an den politischen Strömungen der späten 60er Jahre orientiert oder sich auf sie bezieht, und dass daraus das Blickfeld resultiert, aus dem die scharfsinnige Polarisierung der alten und neuen Linken in Corporale hervorgegangen ist und überhaupt erst möglich wurde. Was die Versammlung der Geschäftsleute betrifft, so stimmt sie im Wesentlichen mit Overath überein und verweigert am Ende Murieta jegliche Mitbestimmung, was praktisch seinen Ausschluss aus ihrem Interessenverbund bedeutet. Overath kommentiert das Scheitern seiner Parteiambitionen: Ich empfinde dich leer. Im Übrigen hast du einen gewaltigen Anspruch erhoben wie auf der Bühne eines Theaters, auf der du stehst und deklamierst […]. Du hättest besser getan, ruhig in der KPI zu bleiben oder auch in der Industrie. [209- 10]
Die letzte Bemerkung scheint über Aspri an die Adresse von Volponi selbst gerichtet; sie bestätigt jedenfalls die Nähe der »ideologischen« Positionen von Aspri/Murieta zur KP, während die politische Linie Overaths mit der Priorisierung des Handels gegenüber der Produktion – bzw. einer Produktion, die auf die Gesamtheit der Zivilgesellschaft ausgedehnt wird – in die Richtung weist, die von einer der späteren operaistischen Bewegungen eingeschlagen wird, nämlich die Propagierung des operaio sociale (des gesellschaftlichen Arbeiters) in einer Arbeitsgesellschaft, die sich aus allen Werktätigen rekrutieren soll, vertreten v.a. von Negri in seinen späten Schriften.27 Aspri dagegen – immer noch als der revolutionäre Murieta – beharrt darauf, 26 Siehe Vettori, Giuseppe (Hg.): »La sinistra extraparlamentare« in: Italia. StoriaDocumenti- Analisi politica. Rom: Newton Compton Italiana 1973. 27 Vgl. Hardt, Michael/Negri, Antonio: Il lavoro di Dionisio. Per la critica dello Stato postmoderno, Rom: manifestolibri 1995.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
mit politischen Mitteln die Umstellung der Ökonomie auf sozialistische Verhältnisse zu erreichen. In zwei Punkten spezifiziert er dieses Programm: 1) »ein großes Potential alternativ zu dem öffentlichen zu kontrollieren«, und das impliziert die Politisierung der gesellschaftlichen Kräfte und Ressourcen; sowie 2) »sehr reich zu werden« [i.S. von Reichtum zu akkumulieren], womit eine gesellschaftliche Akkumulation des Reichtums gemeint ist, wie die nachfolgende Kommentierung des Textes verdeutlicht. Zu erkennen sind hier auch Ansätze des Historischen Kompromisses, was eine andere Organisation der Produktion betrifft, die schließlich schon in der Produktion bei Olivetti praktiziert worden ist. Punkt 2 wird im Text wie folgt präzisiert: 2a) einen solchen Reichtum investieren in eine Kette befreiender Industrien. »Darin ist nicht entscheidend das Anwachsen der Produktion sondern das der Entwicklung der Produktionsmittel, die angewendet werden […], wenn (wie wir erstaunt aus chinesischen Quellen entnehmen) in der Industrie jede Maschine relativ alt ist, weil darin nicht investiert worden sind die schon existierenden Neuerungen auf dem Gebiet des Maschinenbaus. – Die unvermeidliche Parzellierung [der Arbeit] darf nicht mehr verstanden werden als unüberwindliche Bedingung im Sinne der kapitalistischen Arbeitsorganisation: sicher soll nicht zurückgekehrt werden zu früheren Verhältnissen; aber die Teilung der Aufgaben jedes Arbeiters in der industriellen Produktion wird sich radikal ändern mit der sozialistischen Organisation der produktiven Arbeit selbst (wissenschaftlich wie auch hinsichtlich der Verantwortlichkeit der Massen), wenn jedem Arbeiter unter anderem der gesamte »handwerkliche« Überblick zurückgegeben worden ist in einem entwickelteren Sinn der Arbeitspolitik. […]«. [240]
4. D IE S UBJEKTPROBLEMATIK
UND DAS REVOLUTIONÄRE
P ROJEKT
Unter dem Titel der Subjektproblematik soll zusammengefasst und analysiert werden, was als die eigentliche Geschichte Gerolamo Aspris bezeichnet werden kann und was dieser selbst als sein »revolutionäres« Projekt verstanden hat. Unter diesem Aspekt wird der marxistische Begriff der Entfremdung von uns auf die Familiensozialisation der bürgerlichen Gesellschaft übertragen, deren Auswirkungen in der Familiengeschichte Aspris schon dokumentiert worden sind. In seiner Geschichte, in der jetzt auch die politischen Dimensionen einbezogen sind, konvergieren im Grunde alle thematischen Bereiche der Erzählung, auf die sich Corporale als Werktitel im weitesten Sinne bezieht. Er bezeichnet eine Zäsur nicht nur im Lebensverlauf Aspris, sondern auch einen Einschnitt in der Geschichte der Kultur, der von den künstlerischen Avantgarden und der Wissenschaft schon im neunzehnten Jahrhundert vorbereitet wurde und durch die Psychoanalyse auf die zwischenmenschlichen Beziehungen der modernen Kommunikation ausgedehnt worden ist: die Veränderung des Psychischen auf dem Boden einer Kultur, die ihre Verankerung im menschlichen Gefühlsleben hinter sich lässt und der Erkenntnis als Modus der Kommunikation eine absolute Priorität einräumt. Diese Wende spiegelt modellhaft der Lebensverlauf Aspris, in dem die Auflösung des auf die Gefühlsbindung zurückgehenden Familiendramas dargestellt wird; ein Auflösungsprozess, der mit einer psychoanalytischen Therapie vergleichbar ist, fundiert in unseren Analyse in einer Semiotik, die die psychoanalytischen 168
Der Roman der Wende
Erkenntnisse der Bewusstseinsbildung zugrunde legt. Diese die Selbsterkenntnis des Subjekts betreffende Analyse stützt sich, ausgehend von Freuds Strukturhypothese von Ich, Es und Über-Ich, im wesentlichen auf die semiotischen Ansätze der Psychoanalyse bei Lacan, Kristeva und Ricœur. Eine der zentralen Episoden dieser Selbsterforschung ist die Geschichte des Erwerbs von Ca l’ala – des Orts der Ausgrabung und des Umbaus des »Hauses« in eine Zufluchtsstätte, die dem Subjekt als verbleibende Heimstätte dienen soll. In der alternativen Zweckbestimmung des »Umbaus« von Ca l’ala werden schon die zwei- oder mehrdeutigen Möglichkeiten des Textverständnisses angesprochen, von denen wir als die zwei hauptsächlichen Lesarten der Episode betrachten: erstens die Zuflucht des marginalisierten Subjekts in einen Bereich der Innerlichkeit, der ausführlich beschrieben und bis zur Nichtung des Selbstbewusstseins analysiert wird; und zweitens die Geschichte von Ca l’ala als die Suche nach einem neuen Schriftverständnis auf der Grundlage der zu entziffernden Zeichen der Raumverhältnisse des Territoriums. Die Interpretation der Handlung auf beiden Ebenen setzt aber eine andere Wahrnehmungsweise voraus, die ihrerseits die wahrgenommene Realität verändert, sie damit in Frage stellt, ihre tragenden Strukturen in ihrer Bedeutung entwertet oder destruiert. Nicht nur die Begriffe der sprachlichen Realitätserfassung sondern auch die Logik der Erzeugung sprachlicher Bedeutungen werden fragwürdig und sind schon von den frühen Avantgarden des 19.und 20. Jahrhunderts in ihrer Kontestation des Wirklichen als entfremdeter Sprachgebrauch beanstandet worden. Volponis Experiment von Ca l’ala ist einzureihen in die Linie der Revolutionierung der eingebürgerten Wahrnehmungsgewohnheiten, von den historischen Avantgarden propagiert in ihrem Willen zur Veränderung des Bestehenden und einem Bedürfnis der Modernität, die als die kulturgeschichtlichen Leistungen der Avantgarden anzusehen sind. Die abweichende Erkenntnis des Wirklichen ist in erster Linie zu gründen auf die Körperlichkeit des Organischen, die Materialität der Körperlichkeit des Menschen und der aus dieser hervorgehenden Funktionen der sinnlichen Wahrnehmung. Dieser Thematik widmet Volponi eine der substantiellen Auseinandersetzungen zwischen Aspri und Overath, in der es, wie schon gesagt, um die Liquidierung der familialen Traumen geht, die aus der Gefühlskultur des Bürgertums erwachsen sind. Die Loslösung der Gefühle Aspris aus der pathologischen Bindung an die Familie, die als das Sozialisationsmanko der bürgerlichen Gefühlskultur diagnostiziert wird, ist aber nur der Ausgangspunkt des Erkenntnisinteresses, das sich hier vor allem in therapeutischer Hinsicht artikuliert. Über die therapeutische Funktion hinaus aber zielt das Erkenntnisinteresse bezüglich der Materialität der Körperfunktionen auf die einschlägigen Begriffen der beiden Bereiche von Natur- und Sprachwissenschaft: und zwar im naturwissenschaftlichen Bereich hinsichtlich der Erforschung der Antriebsenergien in den kleinsten Teilchen der Materie, der Energiepotentiale der Materie auch im Menschen; und im sprachlichen Bereich hinsichtlich der psychischen Phänomene, die sich sprachlich äußern oder über die Sprache überhaupt erst hervorgebracht werden. Auf dieser Ebene wird auch erst erkennbar, wie psychische Energien materialisiert werden und wie materielle Gegenstände sich umsetzen im Medium der Sprache. Das aber zeigt Volponi in der Erzählung über die Entdeckung und Erforschung von Ca l’ala, in der der Gegenstand – die Ausgrabungsstätte – transformiert 169
Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
wird in das Medium der Sprache, die einen virtuellen Raum erschließt, in dem das Subjekt – jenseits der Zivilgesellschaft – eine Zuflucht findet und ein virtuelles Sein, in dem es aber einsam verharrt. Was fehlt, ist das Moment der Vergesellschaftung in einer sprachlich veränderten Welt. Unter Subjektproblematik – in der Erzählung – verstehen wir das Problem, wie die Existenz des Individuums in einem für dieses selbst verständlichen Form in Sprache umgesetzt werden kann, was wir ihre Versprachlichung nennen, (und was mit der semiotischen Phase der Semanalyse bei Kristeva zusammenfällt); darüber hinaus auch eine Form, in der die Existenz des Individuums auch den anderen verstehbar zu machen wäre, d.h. in Form der Verschriftung oder einer narrativen Dokumentation. Dieses Problem stellt sich in Corporale in Gestalt der zahlreichen Textsegmente, die Geschichten erzählen, die im Grunde aber Fragmente bleiben. Um dieser Schwierigkeit zu begegnen, versuchen wir, zwischen den einzelnen Geschichten einen Zusammenhang herzustellen oder diese zumindest in einen Zusammenhang einzuordnen, der auszugehen hat von der alle Teile umfassenden Thematik der Neukonstitution des Subjekts als dem »revolutionären« Projekt Aspris. Das Problem, das sich dabei ergibt, liegt nicht allein auf der Ebene der Inhalte der Erzählungen, sondern vor allem auf der der linguistischen Verfahren bei der Verknüpfung von Motiven, Begriffen oder Wortverbindungen von einem Textfragment zum anderen, also in den Übergängen oder Verlagerungen des Textverlaufs von einer Erzählung in die andere. Und das ist ein Problem, das sich apriori avantgardistischen Tendenzen stellt, den Sprachgebrauch gegen die Normen der herrschenden Grammatik zu verändern. Die von der Linguistik bis in die jüngste Zeit entwickelten und präzisierten Verfahrensweisen und Techniken der Verschriftung einer anderen Realität ist in verschiedenen Kontexten unserer Analyse schon angesprochen worden. Es bleibt aber noch aufzuzeigen, in welcher Weise oder welcher Form das Instrumentarium der Textgrammatik Anteil hat an der Herstellung von Textzusammenhängen und damit der Lesbarkeit und Verstehbarkeit von Texten. Diesem Nachweis widmen wir die folgenden Ausführungen unter dem Titel Die Subjektkonstitution in der Erzählung und in der Grammatik. Die Subjektthematik, d.h. die Darstellung des revolutionären Projekts des Subjekts des Romans, geht aus von der Konvergenz mehrfacher Beweggründe: existentieller, sentimentaler, politischer und schließlich sprachlicher im Hinblick auf die Wahrnehmung der Wirklichkeit. Entsprechend mehrfach sind die Motivierungen der Entfremdung, die sich in der Situation Aspris spiegelt, deren erste und hauptsächlichste sicherlich die in der Familiengeschichte begründete ist: die Zurückweisung der Liebesansprüche des Kindes, aus der der Trennungsschmerz herzuleiten ist. Gegen diese Verursachung des Leidens aus dem Gefühl ist der Prozess der Aufklärung gerichtet, der mit der Selbsterkenntnis des Subjekts einhergeht und sich in der Auseinandersetzung mit Overath vollzieht. Ihr Ziel ist die Liquidierung der Vorherrschaft des Gefühls als der Erblast der bürgerlichen Kultur. Die Richtung dieser Wandlung des menschlichen Seins – ein Ziel, das schon in den naturwissenschaftlichen Spekulationen Anteos in La macchina mondiale eine Rolle gespielt hat – wird von Overath in einem Brief an Aspri angedeutet, wenn er mitteilt, dass er an Versuchen beteiligt sei, physikalische Prozesse im menschlichen Körper maschinell zu steuern, als Modell sozusagen einer 170
Der Roman der Wende chemisch- physikalischen Maschine in der Funktion einer Pumpe und der Selektion von bestimmten Substanzen zur Steuerung verschiedener Verrichtungen Steuerungsprozesse also, die der menschlichen Sozialisation dienstbar zu machen wären: man muss da einsteigen, mit der Maschine zusammenarbeiten, die Resultate auswerten und sie vergesellschaften. [11]
Von Überlegungen dieser Art geht offenbar Aspris Entschluss aus, sich der Erforschung des Körpers als des Quells neuer Erkenntnisse zu widmen. Ich konnte meinem Körper vertrauen, die Analyse jenseits von Gefühlen und Vorurteilen vertiefen, […] Ich suchte sie [die Reaktionen] zu provozieren bis auf den Grund, in der Hoffnung, dass sie mich von der diffusen Gewalt des Hasses befreien würden […].28 [11]
Der Vorsatz, »mich meines Körpers zu bemächtigen« [17], wird als Selbstschutz begriffen gegenüber einem Ereignis, das im Roman in den verschiedensten Momenten eine entscheidende Rolle spielt, nämlich das Motiv der Atom-Bombe als existentielle Bedrohung der Menschheit. Die Atom-Bombe und die damit verbundene Angst vor der Zerstörung sind Motive, die im Kontext der Familiengeschichte wiederholt erwähnt werden und die aus dieser Verkettung gelöst werden sollen. Eine Szene, die das drastisch illustriert, zeigt, wie Gerolamo im Schulgebäude, wo er unterrichtet, zusammen mit seiner Familie im Traum einer nuklearen Explosion beiwohnt; beschrieben wird diese Szene, als spiele sie sich im Inneren seiner Person ab und dabei etwas zerstöre, das von da an nicht mehr zur Person gehört, bzw. diese Person in ein anderes Wesen verwandelt, von einem Bewusstsein begleitet, das schon jenseits der bürgerlichen Zivilisation situiert ist. Diese Grenzüberschreitung in Richtung einer totalen Eliminierung des bürgerlichen Subjekts – wie sie dann die überlebende Figur des nano in Il pianeta irritabile tatsächlich erlebt – kann mit einem strukturell gleichartigen Vorgang in der französischen Literatur verglichen werden, nämlich dem Abstieg des Subjekts in die Hölle bei Rimbaud oder der Versenkung des Bewusstseins in einer Art Grablegung in Mallarmés Igitur.29 Akzeptiert man diese Motivähnlichkeit, so kann der Text des genannten ›Traums‹ Gerolamos30 im Licht einer Transformation des Bewusstseins gelesen werden, die wir im weiteren als Mallarmé-Syndrom bezeichnen werden. Vergleichbar wäre die Passage, in der von der Auflösung des Seins der Person in der weißen Dimension des atomaren Nichts gesprochen wird:31
28 Die Kindheit in der Obhut der Mutter und unter der Vormundschaft des verhassten Stief- oder Pflegevaters wird ausführlich charakterisiert am Anfang des Romans, auf den Seiten 4 und 11- 13 (wo auch der leibliche Vater erwähnt wird) sowie auf S. 347, wo der berufliche Werdegang Gerolamos kurz resümiert wird. 29 Verwiesen sei hier auf Rimbauds Une saison en enfer und auf Mallarmés Igitur, beides Prosagedichte, die einen mit Volponis Transformation des Bewusstseins vergleichbaren Bewusstseinswandel beschreiben. 30 In Corporale, S. 17 bis 19. 31 Damit wäre der Tod des entfremdeten Wesens der Zivilisation zu assoziieren, wie später in der Vision des Atomtods in Il pianeta irritabile.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte Aber die weiße Explosion schwoll an, und floss über wie Schaum […]. Meine Augen sahen ein großes Weiß von Zitrat [Zitronensäure], auch hinter mir, in das ich versinken sollte mit Schultern und Kopf, fallen im Aufhängen, ohne etwas zu finden, um mich festzuhalten, mehr fließend als untergehend, ich selbst ohne Konsistenz. Es schien mir klar, dass das den Triumph des Traums gegen alle Ironie und die Übergabe des Bewusstseins an den Tod bedeutete, den der Traum herbeiführen wollte und der noch nicht mein Tod war. [18]
Um sich aus der Familienbindung zu befreien, muss Aspri sich der Gefühle erwehren, die ihn gefangen halten; in sein Tagebuch notiert er: Wenn dieses lange Band von Empfindungen und Ressentiments unter Kontrolle gebracht sein wird, werde ich anfangen können, den mir zustehenden Platz zu suchen. [143]
Zu verstehen ist die Bedeutung der Funktion des Subjekts hier auf zweifache Weise. Der Platz, den es sucht, ist nicht nur der Platz in der Gesellschaft, den es zurückzugewinnen sucht, er kann auch verstanden werden als der Platz, den sich das Subjekt als grammatikalisches im Satz erst sichern muss. Doch darauf wird hier nur beiläufig verwiesen, um auf den Sachverhalt an dieser Stelle schon aufmerksam zu machen. Wichtiger in der zitierten Passage ist die Aussage, die auf das »Anderswo« des Bewusstseins deutet, jenseits der bezeichneten Wirklichkeit: Es passiert mir ab und zu, dass ich »anderswo« bin. Und es ist diese Eigenart, bis vor kurzem mir fremd, mich auf diese Weise aufzuspalten, während ich immer derselbe bleibe, diese Fähigkeit, mich durchdringen zu lassen oder Farben zu brechen, die ich nicht sehe, die meine Reflexionen vermehren und meine (mir liebe) Konfusion. Diese Wunder sind nur der Anfang meiner Entdeckungen. Ich bin so wagemutig gewesen, die Dichte meiner Gefühle trotz des Schmerzes zu ermessen und zu versuchen, mich selbst ganz und gar wie ein Instrument in meine Reflexionen einzubringen; […]. [143]
Die Wandlung, die das Subjekt im Prozess der Selbsterforschung erfährt, ist also immer auch im Sinne der zweifachen Bezugsebene zu verstehen, als Subjekt der Erzählung oder der Handlung, sowie als Subjekt der Sprache, die Volponis Figur auf revolutionäre Weise – und in avantgardistischer Intention – der veränderten Wirklichkeit anpassen will. Das Tagebuch, dem er sich anvertraut und das als diario d’oltre confine [Tagebuch jenseits der Grenzen] bezeichnet wird, soll den Prozess dieser Transformation begleiten, den der Titel des Tagebuchs schon jenseits der bürgerlichen Gesellschaft situiert, womit sein Schreiber auch das dieser entsprechende Bewusstsein preisgegeben hat. »Das Bewusstsein, so kann ich jetzt behaupten, wo ich im Begriff bin, die Beziehung zu mir zu beenden, ist staatlich.« [180] All diese Melancholie kommt ein bisschen unvermittelt über mich. Ich weiß wohl, dass sie nicht meinen Charakter angreift, dass sie auch nicht meine Entschlossenheit beeinträchtigt, das Leben nach meinem Plan auszurichten [giuocare], aber sie bedrückt mich, sie zwingt mich zu zusätzlichen Maßnahmen. Ich kann mich nicht mehr rühren lassen, auch weil meine Gefühle nicht mehr existieren:
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Der Roman der Wende meine Psychologie, um mit Overath zu sprechen, hat keine Beziehung mehr zu ihrer Basis und den Elementen, die sie gebildet haben: sie sind nicht mehr einzuordnen. [...] Meine Kräfte und meine Ängste sind Minute für Minute gegenwärtig in den Dingen [angesichts der Dinge], die zu tun sind, in einer ›historischen‹ Einheit, ohne Reflexionen, Nachsichtigkeit, Widersprüche. [...] Kafka [sagt] »nur die große Zahl von Dämonen verursacht unser irdisches Unglücklichsein [...]«. [...] Es geht sehr gut. Ich bin da, einfach um jegliche falsche Lösung beiseite zu schieben, jede Szene und jedes Szenarium, jeden aufzusagenden Part, jeden Dialog. Ich bin allein und bin der einzige Dämon meiner selbst. [27677]
Letztlich ist diese Ablösung aber eine Befreiung im Hinblick auf die Heimsuchung von Gefühlen, die mit Kafka als die uns beherrschenden Dämonen charakterisiert worden sind. Vom Tagebuchschreiber wird diese Befreiung in einer Art Selbstanalyse in Stichworten festgehalten.32 Unter den Stichworten, die Gerolamo im Vokabelheft der Kindheit wieder findet, rangieren u.a. die das Frühwerk charakterisierenden Begriffe wie selva [Wald] und strada [Straße] sowie Garibaldi als eine etwas rätselhafte Charakterisierung der Figur des Vaters. Von Bedeutung aber ist im vocabolarietto, wie wir meinen, der lateinische Terminus »Id«, der offensichtlich das Äquivalent bezeichnet für das Freudsche Es in der Struktur des »psychischen Apparats« von Ich, Es und Über-Ich. Bei Volponi signalisiert dieser Terminus ein noch darüber hinaus gehendes Moment, nämlich das menschliche Wesen in seiner ursprünglich animalischen Veranlagung, von Gerolamo unterschieden nach zwei Erscheinungsformen. Beide entsprechen der Formel id = animale: in der ersten Fassung eher negativ konnotiert, als das Wesen, das das frühe Subjekt bezeichnet, das der Gefühle und der Leidensgeschichte; in der zweiten Fassung dagegen in einem eher positiven Sinn als »unbekanntes Tier von kleinem Wuchs und schönem Anblick«, dem u.a. die Eigenschaften zugeschrieben werden, die in der weiteren Entwicklung aller Lebewesen, also auch des Menschen, als virtuelle Qualitäten angesehen werden könnten: Es ist wechselhaft und wandelbar, je nach Jahreszeit: es ist in Entwicklung begriffen, ein glücklicher Vereinfacher seiner Gruppenprobleme, biologisch und die Umwelt betreffend. – Es hat keine Angst, ist nicht unterwürfig, ist neugierig [im Hinblick auf] Experiment[e]. [349]
Der Versuch Aspris, durch die Analyse von Wortbildern in die Dimension der Bedeutung der verbildlichten Begriffe einzudringen, ist, wie hier angedeutet, dem Verfahren der psychoanalytischen Erforschung verdrängter menschlicher Erfahrung zu vergleichen. Dabei wäre, wie schon gesagt, der Bereich, den Aspri mit dem Terminus »Id« bezeichnet, der Libido und dem Wunschpotential des Subjekts gleichzusetzen, der bei Freud als »Es« ausgewiesen ist. Darauf kommen wir ebenfalls wieder zurück, wenn von der semiotischen Entschlüsselung von Zeichen und Bildern die Rede sein wird. In diesem Zusammenhang sei lediglich darauf hingewiesen, dass eine der Freudschen vergleichbare Struktur von »Ich«, »Über-Ich« und »Es« auch bei Volponi zu finden ist, Instanzen, denen eine jeweils spezifische Funktion bei 32 Corporale, S. 347- 49.
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der Zuschreibung von Wortbedeutungen zufällt. Darüber hinaus unterscheidet Volponi in Bezug auf die Sinnebene der Wörter zwischen der eigentlichen Bedeutung, die in dieser Phase die des elementaren Verständnisses ist, der ›gegenständlichen, denotativen oder referentiellen‹ Bedeutung, sowie der figürlichen oder figurativen Umdeutung von Bedeutung. Bezüglich des grammatikalischen Subjekts könnte man diese Unterscheidung von Sinnebenen spezifizieren als die des »Es« für das elementare Wortverständnis, als die des Über-Ich für die gegenständlich institutionalisierte Wortbedeutung und als die des »Ich« für die subversive Umdeutung des Wortsinns. Von diesem Subjekt – in der biographischen oder grammatikalischen Bedeutung – ist im Anschluss an die Eintragungen im ›vocabolarietto‹ die Rede, wo Aspri aus seinen Analysen folgert: Ich muss auf den Beziehungen zwischen den beiden Begriffen bestehen: besser definieren die Identität des Subjekts und dann besser beschreiben seine Charakteristika und seine Qualitäten. [349]
Hier wird zum ersten Mal eine Beziehung angesprochen zwischen dem Subjekt im Sinne des Satzgegenstands und seiner Charakterisierung in der Satzaussage und damit eine Verbindung hergestellt zwischen der Ebene der Biographie und der Ebene der Sprache, zwischen dem Subjekt der Erzählung und dem Subjekt der Grammatik. Auf diesen Aspekt der reziproken Beziehung wird angespielt, wenn Aspri den Versuch, seine Selbsterforschung in die Dimension der Tiefe zu verlagern, mit der merkwürdigen Bemerkung einleitet: Sehr oft hätte ich gegenüber Sachen und Personen von mir sagen können »er«. [70]
Hier begegnet schon die Unsicherheit bezüglich der Aussagen und ihrer Zuordnung zum Subjekt. Was folgt, soll die Versenkung des Ich in das Innere der Person sein oder darstellen, vielleicht auch den orphischen Abstieg in das Unbewusste nachahmen; was dabei aber gefunden wird, ist alles andere als die Innerlichkeit als Substanz des Subjekts: Ich hatte mich entschlossen, eine Reise ins Innere zu machen, eigens um mich umzusehen. Ich saugte alles auf, was mir begegnete unter der Annahme, dass es eine augenblickliche Existenz hätte, und den einzigen Wert, von mir begriffen zu werden. [70]
Der letzte Satz ist eine Art Schlüssel im Hinblick auf das Verständnis der Struktur des Satzaufbaus und der Funktion der einzelnen Satzteile. Wir interpretieren diese Schlüsselfunktion wie folgt. Das Subjekt, das hier in der Funktion des Ich auftritt, nimmt in sich auf, was ihm zufällig ins Blickfeld rückt, aber was auch unmittelbar seiner Idee einer Existenz von etwas entspricht, worauf dann einzig und allein der Wert beruht, der dem Gegenstand der Wahrnehmung vom Subjekt zugemessen wird. Darin offenbart sich ein dialektisches Moment, d.h. die Interdependenz im Satz von Subjekt und Objekt, in der Form, dass zur Substanz des Subjekts nur werden kann, was es in sich aufnimmt, und dass andererseits der Gegenstand der Aussage erst aus der Sicht des Subjekts zum Objekt des Satzes gemacht wird.
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Das hier im Ansatz skizzierte Modell des Satzaufbaus auf der Basis einer Textgrammatik wird im Prinzip schon erkennbar, wenn wir die Szene des Eindringens des Subjekts in seine innere Dimension analysieren. Das »Innere« der Person wird dargestellt in einer Folge von Impressionen, Visionen, Bildern einer Landschaft, die nach Art der Montage aneinander gereiht sind und als Äquivalent dessen erscheinen, was im Inneren lokalisiert ist: […] alles war eindeutig und erkennbar und ich bewegte mich in einer der ganz banalen Erzählungen. Ich begann mich wahrhaftig zu erinnern, indem ich möglicherweise etwas hinzufügte der Hecke, den offenen oder geschlossenen Fenstern, irgendeiner Erscheinung, irgendwelchen Farben, die an den Ecken der Plätze noch gewesen waren. – Besser in jedem Fall die physische Realität, die wenigstens Gelegenheit war zum Experimentieren. [70]
Aneinander gereiht werden Bilder des zweiten Weltkriegs: Bewegungslos auf den Hügeln, […] die Kriegsfriedhöfe der alliierten Truppen, die bis zur ›linea gotica‹ gekommen waren. [70] – Erinnerungen an eine MarxLektüre: Es kam mir ins Gedächtnis die Lektüre einiger Seiten von Marx gegen Malthus bezüglich der Fruchtbarkeit von Böden [70] – Bemerkungen über das Explodieren der Sonne in fünf Milliarden Jahren und das Erlöschen der Sonnenenergie [70- 71] – der Blick auf die Hügelkette der Marche, jene quer verlaufenden Linien des endlosen Hügelpanoramas, und die intensive Sehnsucht nach diesen Gegenden, als wären sie der wahre Grund und der wirkliche Gegenstand der Liebe zu Ivana. [71] Von der nostalgia führt die Erinnerung zurück zur infelicità der Kindheit [zur unglücklichen Kindheit], die das Gefühl der Angst heraufbeschwört, und diese schließlich assoziiert mit der Explosion der Bombe. [71]
Die drei zuletzt genannten Motive – die »Sehnsucht«, das »Unglücklichsein« und die »Angst« – weisen auf Bilder zurück, die zur Familiengeschichte gehören, auf die auch, wenigsten zum Teil, die Erwähnung der Atom-Bombe zurückzuführen wäre, wenn man die zerstörerischen Impulse in Rechnung stellt, die gesellschaftlich nicht zuletzt auch von der Familie ausgehen oder dort ihren Ursprung haben. Als Motive sind sie Bestandteil der Satzaussage, die das Subjekt des Satzes als das Subjekt der Kindheit und der Familiengeschichte zu erkennen gibt. Die Anhäufung von Eindrücken, die von außen auf das Subjekt einwirken und die ohne erkennbare Priorität aneinander gereiht werden, ist im Grunde gleichzusetzen mit dem Prinzip der Akkumulation von Bildern und Begriffen, die bei Volponi darauf zielt, den Umfang der Wahrnehmung der Wirklichkeit zu erweitern und Beziehungen zwischen dem Wahrgenommenen herzustellen, die dann natürlich die Schwierigkeit erhöhen, die Beziehung, zwischen Subjekt und Prädikat zu erkennen. Diese Schwierigkeit aber rührt daher, dass das Subjekt nicht in der Lage ist, sich selber mittels der Gedanken, über die es zu herrschen glaubt, zu kontrollieren. Die Gedanken dienen nicht mehr dem Menschen, sich gegenüber seinen Lebensbedingungen zu behaupten, ihn von dieser Bedingtheit zu befreien.
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Und an Overath gewandt: mach dir klar, dass die Gedanken mir aus den Venen hervorquellen, dass sie nunmehr eine Funktion und eine Notwendigkeit des Körpers sind. [67]
Mit der Einsicht, dass die Fähigkeiten, über die das »souveräne« Individuum angeblich frei verfügt, Funktionen des Körpers sind und von dessen Verfassung wesentlich mit bestimmt werden, wird auch das sprachliche Vermögen des Menschen und seine Fähigkeit zur Versprachlichung seiner Erfahrung mit betroffen. Was alles z.B. im Bereich der Sexualität unkontrolliert sprachlich konnotiert werden kann, soll eine Szene zeigen, in der Murieta beim Anblick der nackten [Mailänder] Ivana seinen Assoziationen freien Lauf lässt [177-179/80]. Die Frau als Gegenstand des Begehrens ist sprachlos, reines Objekt; Murieta als wahrnehmendes Subjekt , den Blick auf sie gerichtet, reiht in seiner Aussage, in einer Art inneren Monolog, Eindrücke und Gegenstände aneinander, die offenbar alle mit dem Sexualakt zu tun haben oder mit ihm assoziiert werden, von denen aber eine Reihe von Beobachtungen vom sexuellen Sprachbereich gänzlich abweichen und erst über die syntaktische Nähe zum sprachlichen Umfeld mit sexueller Bedeutung aufgeladen werden. Er betrachtete den Bauch des Mädchens, die blaue Wölbung der Brust und dann die beiden Beine; aber seine Augen sahen nicht nur zufällig. Er fühlte eine Wärme auf den Händen und den Schultern, herkommend aus einer anderen Zeit: er hatte den Eindruck als hielt er die Hände über einen Stein, der die Wärme noch vom Tag zuvor in sich barg. Er spürte erneut die Grausamkeit und die Wut, die er bei solchen Gelegenheiten nie hatte kontrollieren können, die aus einer unbekannten Verwandtschaft herrührte, aus einer vorangehenden Identität. [177]
Die gegenwärtige Empfindung der Nähe zum Körper der Frau wird hier mit einer offenbar früheren gleichartigen Situation assoziiert, die in einem anderen Subjekt »Grausamkeit und Wut« erzeugt hat, und die jetzt in die gegenwärtige Situation einfließen. Diese Situation wird festgehalten und ausgemalt im Bild einer »costa molto vicina«33 [sehr nahen Küste], wo Aspri zu einem Haus geführt wird, von dessen Fenstern und Türen er nicht erkennen kann, ob sie offen oder geschlossen sind, eine eindeutige Reminiszenz der ambivalenten bürgerlichen Sozialisation. Der Diskurs wechselt über zu der Feststellung Aspri/Murietas: »Ich verkünde leere Worte«, zur Erkenntnis also, dass seine Worte leer geworden sind, d.h. keine Erfahrung mehr transportieren, was ergänzt wird durch die Aussage: Ich bin nunmehr ein Einsamer, aber ich habe noch keine Sehnsucht nach dem Unnötigen. Ich habe wenig Gefühle, gewiss weniger als Ressentiments. Ich habe nur Worte und Wut. […] Aber jetzt kann ich mich gegenüber der Wirklichkeit verhalten. [177]
33 Das Motiv der Küste signalisiert die mütterliche Nähe, wie im Gedicht mit dem Titel La costa incerta schon gezeigt worden ist, auf das wir hier verweisen.
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Hier kündigt sich an, dass das Bewusstsein des Subjekts keine Wirklichkeit mehr spiegelt, aber dass es an seiner Selbsteinschätzung festhält, jenseits der Anerkennung durch andere. Es ist an einem Tiefpunkt angelangt, der mit der absoluten Einsamkeit identisch wird: Der Nächste existiert nicht mehr. – Ich kann die Angst aushalten, allein zu sein und auch den Pflichten der Verwaltung zu genügen. [177]
Erreicht ist dieser Tiefpunkt in dem Moment, wo Aspri den Rückzug in sein Refugium antritt, worauf hier schon angespielt wird. Die Abgehobenheit von der institutionellen Wirklichkeit drückt schließlich das Bild des Seiltänzers aus, die Verkörperung der prekären Existenz des Subjekts zwischen Traum und Wirklichkeit: Aber ich habe gelernt, ein Seil zu spannen und mich darauf zu halten […]. [178]
Der Seiltänzer als die Verbildlichung der Existenz, die sich über die Wirklichkeit erhebt, aber noch nicht in eine neue Dimension gelangt, wird als archetypische Situation verstanden, der wir in anderen Verbildlichungen wieder begegnen – z.B. in der Einsamkeit des Sir Chichester, der Figur Volponis, die fern aller Kontinente allein im Boot das Meer überquert – als deren Äquivalent wir Mallarmés Igitur und die von diesem selbst vollzogene Einsargung in den Kellergewölben des Familienbesitzes betrachtet haben. Kehren wir zurück zur Serie der inneren Monologe, der diese Darstellung der Vereinsamung entnommen ist. In den folgenden Äußerungen über das sexuelle Verhalten des Subjekts wird vielleicht deutlicher als bisher die Beziehung zwischen Sexualität und Einsamkeit erkennbar. Kennzeichnend dafür ist die spannungsgeladene Distanz zwischen dem Begehren des Mannes und der Passivität der Frau, wie die zwiespältige Einstellung der männlichen Figuren zur Frau vor allem in der Ambivalenz von Verehrung und Verdammung, von der »angelicazione della donna« [der Engelgleichheit der Frauen] und ihrer Profanierung als reines Sexualobjekt anschaulich vor Augen führt. Vorweggenommen sei, dass diese Ambivalenz der männlichen Figuren Volponis sich in hohem Maß ausgeprägt findet in der Figur des Damín, dem jugendlichen Protagonisten von Il lanciatore di giavellotto, wo die Dysfunktion des männlichen Liebesbegehrens exemplarisch dargestellt und analysiert werden wird. Schon bei Gerolamo wird sie aber in Verbindung gebracht mit dem Sozialisationsschicksal seiner Generation und hergeleitet aus der gesellschaftlichen Rollenkompetenz von Müttern und Söhnen in der Kriegssituation. Über die Ursachen dieses Triebverhaltens seiner Generation äußert Gerolamo: Ich und meine Generation […] sind verurteilt gewesen zur Verehrung der Frauen wie Engel [angelicazione] und zur gleichzeitigen Verdammung von uns selbst und dazu, uns zu vergessen […] Kaum aber war die Republik errichtet, waren wir, ich und die Gleichaltrigen, schon verurteilt zur Entsakralisierung der Frau [...]. [108]
Diese etwas rätselhaft formulierte Verallgemeinerung einer ursprünglichen Erfahrung mit dem Weiblichen könnte, wenn auch bedingt, als ein zusätzli177
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cher Erklärungsversuch des Erzählers für das Unglück der Gefühle angesehen werden. Zu behandeln wäre diese Erklärung aber eher noch im Spektrum der Analyse des ödipalen Syndroms in Il lanciatore di giavellotto und soll deshalb hier nicht weiter vertieft werden. Die realen sexuellen Erfahrungen Gerolamos und die sie begleitenden Umstände schlagen sich nieder in den Erinnerungsfragmenten des inneren Monologs, die sich insbesondere mit den Techniken der Zurückhaltung des Orgasmus befassen, erreichbar durch das Abschweifen der Gedanken während des Geschlechtsverkehrs [179]. Dass diese Spezifik eigens hervorgehoben wird, könnte daher rühren, dass die sexuellen Verhaltensweisen der männlichen Figuren als eine Art Selbstbestätigung gegenüber der Frau ausgewiesen werden sollen. Ihre Inserierung in die Serie des inneren Monologs verfolgt dann vermutlich den Zweck, die Beziehung Murietas zu Ivana als Variante der Durchsetzung seines Führungsanspruchs in der Welt der Geschäfte darzustellen. Damit wird das Sexualverhalten des Mannes in der bürgerlichen Sozialisation wieder in den politischen Zusammenhang zurückgeführt, wonach dem Mann das Verfügungsrecht über die Frau zusteht und diese als Objekt männlichen Begehrens außerhalb der Politik bleibt. Mit dem Scheitern der Selbsteinschätzung Murietas im Zusammenhang mit der Erkenntnis, dass die Innerlichkeit, d.h. das Innere des Bewusstseins leer ist, leitet die Selbsterforschung des Subjekts über in die Phase der Suche nach einem Sein, das in Ca l’ala, dem Zufluchtsort Aspris, lokalisiert wird. Dieser steht vor der Frage, in welchem Maß die Materialität des Wirklichen im wahrnehmenden Bewusstsein die Voraussetzung bildet oder schafft für eine wirkliche Veränderung der gegebenen Zustände. Die Frage stellt sich also, welche Wirklichkeit den realen Dingen der Wahrnehmung zuzubilligen ist und ob diese Wahrnehmung nicht eigentlich einem Bewusstsein zugeschrieben werden müsste, das sich außerhalb der institutionalisierten Wirklichkeit situiert, für welches mithin ein Ort zu suchen ist, in dem es sich bilden und entfalten kann. Als solcher Ort aber käme im Grunde das Refugium in Frage, nach dem sich Aspri umsieht, nachdem er nach Urbino versetzt worden ist, wo er mit Imelde, dem ehemaligen Dienstmädchen des Advokaten Trasmanati, eine gemeinsame Heimstätte sucht. Die Phase, die jetzt beginnt, ist das letzte Stadium des Entwicklungsprozesses des in Corporale dargestellten revolutionären Subjekts, der mit der Liquidierung seiner bürgerlichen Identität endet. Der Zufluchtsort, Ca l’ala genannt, ist, wie schon angedeutet, als Dimension oder Stätte gedacht, in denen das Graben nach neuen Befunden des Wirklichen die Transformation der wahrgenommenen Wirklichkeit versinnbildlichen soll. Betroffen davon ist in erster Linie die Versprachlichung des Neuen oder Anderen der Wahrnehmung und damit ein anderes Schriftverständnis auf der literarischen Ebene. Verbunden damit ist, dass die Debatte um die Poesie wieder aufgenommen wird in der neuerlichen Auseinandersetzung zwischen Aspri und Overath, in der Aspri das poetische Bewusstsein repräsentiert und Overath das Realitätsprinzip der vergesellschafteten Wahrnehmung.
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Der Roman der Wende
5. U RBINO
UND DIE
M ARGINALISIERUNG
DER
E XISTENZ
JENSEITS BÜRGERLICHER I DENTITÄT
Eröffnet wird die Szene, in der Aspri beschließt, Overath einzuladen zu einem Disput über die jeweilige Wirklichkeitskonzeption [341-45], mit der Bemerkung: […] ich werde ihn nach Ca l’ala bringen und ihm das Terrain zeigen und ihm sagen, hier ist es, es existiert, wie du sehen kannst. Es ist möglich hier drin, sich zu retten und ich werde versuchen, es zu tun. [341]
Die zwei Bestimmungen des Ortes werden genannt, nämlich zu beweisen, dass der Ort existiert und dass er dazu dient, den gesellschaftlich Ausgestoßenen zu retten, von dem gesagt wird: »Dies ist meine Reifezeit« und »in meiner Einsamkeit wie immer«. [341]. Was folgt, ist in erster Linie zu verstehen als die Beschreibung des Materials und der Verfahrensweisen, deren sich der Erbauer oder Erneuerer von Ca l’ala zu bedienen hat, um das sprachliche Terrain vorzubereiten, auf dem eine neue Schreibweise entstehen soll, eine neue Verschriftung der wahrgenommenen Wirklichkeit. Die Termini Ca l’ala und rifugio bezeichnen also zugleich das Haus als Zufluchtsort und das Terrain der Erneuerung der Sprache, in erster Linie der poetischen Sprache, Instrument einer Uninterpretation gesellschaftlicher Wirklichkeit. Die Entdeckung des Orts, auf dem die Suche nach dem vermuteten Schatz [344] erfolgen soll, wird in der folgenden Beschreibung schon als eine Leistung gewertet, die sich der Erzähler als Verdienst sichern möchte, was, wie wir meinen, nicht zuletzt auf Volponi als Autor selbst bezogen werden kann. Besorgt zeigt er sich in doppelter Hinsicht, dass die Fundstätte wieder verloren gehen und dass er mit seiner Entdeckung womöglich zu spät kommen könnte. Was die zweite Besorgnis betrifft, äußert er: Der Gedanke hat mich plötzlich blockiert, zu spät zu kommen und darüber hinaus nur darüber reden oder Bilder entwerfen zu können, alles nur bei dieser detaillierten Fiktion zu belassen, immer organisierter, immer reicher an Elementen und Einzelheiten, von schönen Lösungen und Gegenlösungen, aber doch immer nur eine Fiktion, ihr zu folgen und sie zu kultivieren mit Stolz und mich damit zufrieden zu geben. [341- 42]
In die Befürchtung, lediglich darüber zu reden, was ein neues Sprachverständnis für alle werden soll, mischt sich der Zweifel – den Overath dann verstärkt –, ob die sprachliche Veränderung des Wirklichen nicht immer nur Fiktion bleiben wird. Was Overath betrifft, ist sich Aspri aber nicht schlüssig, wozu er ihn brauchen kann, obwohl er um seine Unterstützung gebeten hat, um das Problem der Fiktion zu diskutieren, Die Zweifel aber bleiben und Aspri beschließt in Gedanken, sich von Overath zu befreien, der Versuchung nachzugeben, die Realität, die er vertritt, ganz zu übergehen, in einem Wort Overath zu töten. [343] Aspri stellt sich in Gedanken verschiedene Inszenierungen dieser Tötung vor, indem er die Realität des Möglichen, d.h. den Triumph über die schlechte Wirklichkeit, als Film vor sich abspielen lässt. Gegen das Realitätsprinzip setzt er den Anspruch der Poesie, die faktische 179
Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Realität zu dominieren und als ein revolutionäres Prinzip in der Sozialisierung des Subjekts einzugreifen. Daran wird Aspri festhalten, auch auf dem Weg in die Einsamkeit, d.h. in die Auflösung der Gesellschaftlichkeit, die für ihn mit Krieg und Zerstörung verbunden ist [344]. Deren Ausmaß aber kann nur in der unentfremdeten Sprache der Poesie ermessen werden: Das Maß des Schreckens: kann nur ermessen eine Poesie über die Veränderung: Poesie nicht der psychologischen Nachsicht, sondern, sondern … eher der science- fiction. – Es ist eine poetische Frage. Ich werde messen und abwägen, was ich finden werde, wenigstens soweit es mir möglich ist […]. [344]
Die Bilder der fantascienza, so Aspri, sind »der wahre Spiegel« unserer Gesellschaft, wogegen die Bilder des Handwerklich-Bäuerlichen und der gegenwärtigen Politik einem Universum angehören, das nicht mehr existiert [344]. Etwas überraschend mutet diese Einschätzung von einem Verfechter der Poesie an, der die ländliche Zivilisation ursprünglich als die eigentlichen Lebensbasis der Gesellschaft begriffen hat, verständlich wird sie aber, wenn sie im Kontext eines Naturverständnisses gesehen wird, das mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und Forschungsmethoden in Einklang gebracht werden soll. Die Poesie muss sich die Verfahren aneignen, mit deren Hilfe sie sich den Zugang zur technischen Welt der Instrumente öffnet und diese zugleich in ihrer lebenspraktischen Funktion der Gesellschaft verständlich macht oder auch kritisch beleuchtet. Eines dieser Verfahren finden wir in Volponis Analyse des Begriffs und Gegenstands von Ca l’ala, dessen polyvalente Beziehung und Bedeutung auf unterschiedlichen semantischen Ebenen lokalisiert werden kann. Ca l’ala, in seiner Grundbedeutung, zurückzuführen auf »Ca« im Sinne von »casa« = »Haus«, einer der bedeutungsträchtigsten topographischen Schlüsselwörter aus der frühen Lyrik Volponis. Die Szene, die wir analysieren [327-336], stellt den Zeitpunkt dar, als Aspri gemeinsam mit Imelde zum ersten Mal das Terrain von Ca l’ala betritt. Diesem Ort nähert sich Aspri wie einer sakralen Kultstätte, wie die Formel Introibo dunque ... andeutet [327]. Der Ort, dessen Name noch auf die ursprüngliche Funktion des Wohn- und Lebensraums hinweist und zunächst auch als Anspielung auf einen sozialistischen Produktionszweck zu verstehen ist, wird im Verlauf der Erzählung in den verschiedensten Lebenszusammenhängen gezeigt und in seinen jeweils ökonomischen Funktionen charakterisiert: »Haus« nämlich in Gestalt eines verlassenen Bauernhofs, an dessen ärmliche Bewohnern erinnert wird, sowie umgekehrt als Ort eines mustergültigen landwirtschaftlichen Betriebs; ferner als Ort des Refugiums der marginalisierten Existenz; als Fundort eines verborgenen Schatzes und in dieser Bedeutung auch Quell eines arbeitslosen Lebenserwerbs; und schließlich – im übertragenen Sinn – als Dimension eines neuen Schriftverständnisses auf der Grundlage anderer Wortverbindungen und neuer sprachlicher Bedeutungen. Diesen vieldeutigen Beziehungen semantischer und syntaktischer Natur soll im Folgenden nachgegangen werden, wobei wir zunächst an die eingangs zitierte erste Bedeutung wieder anknüpfen. Der Ort – aus dem Blickfeld der visiera staliniana [der Schirmmütze Stalins] – könnte verstanden werden als der einer kollektiven Produktionsstätte (z.B. einer Kolchose im Sozialismus oder Kommunismus), motiviert aus der politischen Sozialisation Aspris in der Kommunistischen Partei, aus deren 180
Der Roman der Wende
Sicht sich dem frühen Subjekt der Zugang zu einer anderen, besseren Welt eröffnet hat.34 Die Äußerungen Aspris darüber sind, nach unserem Ermessen, als ein relevanter Beleg für die frühe Sozialisierung des Subjekts bei Volponi zu verstehen, der – wenn auch in Form der Fiktion – die Wende in der Weltsicht des Subjekts anzeigt vom Zustand der Bedrohung durch das Zerstörungspotential in der Gesellschaft zu einer befreiten Sicht auf den Verlauf der Geschichte. Übersehen werden soll dabei nicht, dass der Erwähnung Stalins eine zugleich historische wie ironische Bedeutung zukommt, denn zum Zeitpunkt der Abfassung des Romans ist der sowjetische Machthaber, für Volponi, schon längst zu einer schrecklichen Vaterfigur geworden, was im Roman mehrfach zum Ausdruck kommt. Imelde, die Aspri begleitet, entdeckt auf dem Gelände von Ca l’ala das ziemlich verfallene Haus, den Ort und das Terrain des zum Umbau bestimmten Refugiums. Das Innere des Hauses war unbrauchbar: von der Schwelle aus wurde eine schwärzliche Wand erkennbar, die noch eine menschliche Nähe vermittelte. Die armen Leute, denen sie als Wohnstätte gedient hatte, waren noch zu erkennen als Erscheinungen des hinterhältigen Verrats und der Angst. Es war auch erkennbar die vergebliche Mühe, diese Mauern errichtet und sie mit diesem traurigen Mörtel bedeckt zu haben. [328]
Der Anblick dieser Behausung, die, weil sie das Elend beherbergt hatte, gar nicht erst hätte erbaut werden sollen, weckt in Aspri das Bedürfnis, an die Stelle des verfallenden ein neues Gebäude zu errichten, die Idee einer Konstruktion, die als ein kollektives, gesellschaftliches Unternehmen auszuführen wäre, die das strikte Resultat eines Entwurfs hätte sein sollen […]: nichts Persönliches, d.h. was die Spur und die Dauer eines Menschen hätte. Umso mehr als es zu etwas bestimmt sein sollte, das größer wäre als ein häusliches Leben: [bestimmt] nicht nur für die Isolierung und den Schlaf eines Menschen, sondern auch für sein monströses Erwachen. [328]
Offensichtlich wird hier, dass diese Äußerungen auf zwei verschiedenen Ebenen zu lesen sind, auf der Ebene eines gesellschaftlichen Unternehmens, das die Produktivkraft der Gesamtheit der Menschen nötig machte, um ein Menschenleben zu überdauern; sowie auf der Ebene der Erneuerung der Sprache und der Konstruktion eines anderen Schriftverständnisses. Die Kombination des kollektiven Unternehmens mit der Zielvorgabe der Erzeugung eines neuen gesellschaftlichen Bewusstseins durch die Sprache führt im Erzählverlauf wieder zurück zur Thematik der Resozialisierung des Subjekts, die durch die Kooperation Aspris mit Imelde in eine neue Phase tritt. Imelde ist – in Opposition zur Figur der Ehegattin – die Funktion der Partnerin im Projekt von Ca l’ala zugedacht, der Weggefährtin Aspris, von der er sagt:
34 Der Einfluss der Kommunistischen Partei auf die Weltsicht des jungen Gerolamo kann den Äußerung Aspris entnommen werden, wo dieser von der Erweiterung des Bewusstseins spricht, die ihm durch die Partei zuteil geworden ist. [327]
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte Sie war die Verteidigung meines Willens und ihre Gegenwart ermöglichte mir auch, das Risiko des Seils zu ermessen, das über den Abgrund gespannt war, dessen Tiefe mich immer angezogen hat. [328] Die biographischen Daten des frühen Subjekts und seine Familiengeschichte gehen in die Beschreibung des Hauses ein, in das Aspri in Begleitung Imeldes eindringt und dabei Gefahr läuft, von den Kindheitserinnerungen wieder überwältigt zu werden. Als ich mich jener Tür näherte, überfiel mich ein Gefühl der Unsicherheit, wie wenn ich an eine Tür klopfte und das Zimmer eines ansteckenden Kranken betrat. [331]
Diese befremdlichen Eindrücke zerstreut aber die Gegenwart Imeldes, die die Wiederkehr der Fantasmen der Familiengeschichte offenbar zu verhindern versteht. Eine weitere Dimension des Hauses öffnet die zwischen den Partnern diskutierte Frage, ob sich nicht auch ein Schatz unter den Fundamenten von Ca l’ala verbirgt, den sich möglicherweise Aspri und Overath teilen könnten. Diese zusätzliche Konnotation des Fundorts Ca l’ala und ihre Inserierung in den Handlungszusammenhang gewinnt an Stellenwert dadurch, dass damit auch der Lebenserwerb der Partner von Ca l’ala in die Handlung einbezogen wird. Beide sind beteiligt an der Versteigerung der Kunstgegenstände Trastamatis und darauf angewiesen, auch daraus ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, was die Verbildlichung in der Version des Schatzes, der im Haus gefunden wird, zusätzlich begründet. Ca l’ala als Ort der Poesie, der Stätte, an der das sprachliche Verhalten des Menschen zu den Dingen neu gewonnen wird, wo andere sprachliche Verbindungen und neue sprachliche Bedeutungen eine Veränderung des Bewusstseins herbeiführen sollen, ist der Bildbereich, der alle anderen Verbildlichungen des Hauses umfasst. Aspri bezeichnet Ca l’ala als den Ort, den er »als den natürlichen Boden [seiner] Poesie« betrachtet [329]. Das ist die Ankündigung einer ars poetica, die schon sprachlich in einer quasi-poetischen Form erfolgt und eine Abgrenzung vollzieht zwischen der »konventionellen« Literatur und den Neuerungen der auf der Körperlichkeit beruhenden Poesie: während jene linear verfährt, d.h. Geschichte räumlich-zeitlich als einen Verlauf entlang einer »Straße« begreift, gilt für diese: »querfeld ein zu gehen, um das Begriffsfeld zu erweitern« [329]. Das als poetisch verstandene Verfahren besteht also darin, dass das Subjekt der Wahrnehmung sich frei im Raum bewegt, hier als »paesaggio« (Landschaft) bezeichnet, im Unterschied zu seiner Bewegung entlang der Straße, auf der bisher die Lebensverläufe der Helden Volponis abgebildet worden sind. Die Unterscheidung zwischen den beiden Bewegungsrichtungen entlehnt Volponi vermutlich dem Gedicht La costa incerta aus der Sammlung Foglia mortale, wo der gewundene Weg entlang der Küste die Suche nach der Mutter bezeichnet hat. Was den Verweis auf dieses Gedicht zusätzlich rechtfertigt, ist die fast wörtliche Übernahme des Motivs des Kriegsheeres, das den Jungen der Erzählung auf seiner Straße mit in Tod und Verderben reißt.35 Die Straße, auf der wir im Roman auf das Kriegsheer stoßen, ist die der »konventionellen« Erzählmuster, wie es oben heißt, eine Straße, die verläuft 35 Die entsprechenden Verse des Gedichts, die den Marsch des Jungen zeigen, lauten: »noch fremder/voller Angst/- /hinter einem Heer von Abenteurern/vorwärts getrieben von Pest und Nostalgie« [S 6, V. 7- 10].
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Der Roman der Wende bis ans Ende des Hintergrunds, längs des üblichen alten Trotts, die erste beste Straße, auch die meine36 […] – während das Geräusch des Wagentrosses eines Kriegsheeres immer mehr zunimmt, sich nähert… [330].
Während die Straße, auf die das Kriegsheer einbiegt, in den Raum der Gesellschaft mündet, die von einem atomaren Konflikt bedroht wird, ist der Raum der poetischen Erneuerung gekennzeichnet durch das Bild der »Landschaft«, als eine offene Dimension, die offenbar noch nicht von der zerstörerischen Bauwut des Kapitals heimgesucht worden ist. Vorzustellen wäre sie als ein virtueller Raum, der noch Natur ist, in den aber die bebauten Elemente integriert sind, nach Maßgabe des Architekten den geologischen Bedingungen des Raums entsprechend.37 Eine avantgardistische Note prägt diese Raumvorstellung, die insbesondere an die kubistische Raumgestaltung erinnert, darüber hinaus in einem wesentlichen Punkt übereinstimmt mit den Entdeckungen der avantgardistischen Malerei, in dem Punkt nämlich, dass die menschliche Wahrnehmung nicht der perspektivischen Sicht der klassischen Malerei entspricht, sondern die Dinge nebeneinander und übereinander sieht und sie erst aus der Sicht des Betrachters zu einem Ganzen zusammensetzt. Die schon perspektivisch vorgefertigte Sicht wird in unserem Text als ›visione panoramica‹ bezeichnet und zu den zu überwindenden Sehgewohnheiten gezählt. Sie beruht auf einer vorfabrizierten Wahrnehmung – »convenzionale quanto assurda« [so konventionell wie absurd] – von der der Marchese geäußert hat: »Wissen Sie nicht, mein Lieber, dass die Wahrheit Wahrheit ist, weil sie das ist, was allen so erscheint?« [329] Die poetische Erneuerung der Sicht der Dinge dagegen beruht, wie zitiert, auf dem »allargamento dello schema concettuale« [der Erweiterung der Begriffsskala], und das besagt nicht nur die Erweiterung der Wahrnehmung durch die Bilder, die die Begriffe um eine jeweils neue Nuance erweitern,38 sondern auch die Akkumulation von Bedeutungen, die den Umfang des Bedeutenden erweitert. Diese in Volponis Schreibweise vorherrschende Technik ist aber auch mit dem Nachteil verbunden, dass damit die Festlegung auf eine Bedeutung erheblich erschwert wird. Das »allargamento«, so heißt es im Text, »beruht darauf, dass niemand eine Auswahl trifft […] und viele Meinungen und Ansichten nebeneinander bestehen können […].« [329] Die Grundlagen der poetischen Erneuerung der Sprache sind aber in einem Bereich zu suchen, der über die literarische Fundierung der Sprache hinausgeht, und zu ihren philosophischen – und was die Erkenntnis betrifft – naturwissenschaftlichen Ursprüngen führt. Zu diesen Ursprüngen zählen Kategorien wie Materie, Natur und Geometrie, denen im Kontext der Volponi36 An den Satz schließt die Kritik an, die auf die sentimentalen Ergüsse der »poesia personale« zielt. 37 Der geometrische Blick des Architekten kommt zum Ausdruck in der Gestalt, in der er das Charakteristische der Landschaft erkennt und sichtbar werden lässt, wie aus dem folgenden Zitat hervorgeht: »Die Landschaft war auseinander gerissen und eingebettet jetzt in die Windungen der Hügel im Hintergrund mit ihren beherrschenden Streifen von Grün und Lehm; dennoch war es mir immer möglich, die Scheitelpunkte einer Geometrie, eines abschließenden Trapezes zu erkennen.« [329] 38 Diese Sinnerweiterung durch die Bilder wird von Paul Ricœur der »métaphore vive« als Funktion zugeschrieben.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
schen Verschriftung des universalen Lebenszusammenhangs in allen Entwicklungsphasen die tragende Rolle zukommt. Uns interessiert vorerst die Bedeutung dieser Begriffe in Verbindung mit der Landschaft, auf die sie sich beziehen. In der von uns untersuchten Passage wird die Landschaft aus dem Blickfeld des Architekten gesehen, der zugleich ein Geometer ist und die Landschaft als Materie betrachtet, die im Verlauf geologischer Transformationen zu ihrer gegenwärtigen Gestalt gelangt ist. Die Materie aber, in der sich dieser Prozess abgespielt hat und noch immer abspielt, wäre – geht man auf ihre Substanz zurück – das in der Materie Bewegte oder SichBewegende, die Ursache der Dynamik, was als Kernenergie definiert werden kann und was Volponi aus der Physik in den Bereich der Sprache und des Wahrnehmungsvorgangs überträgt. Die Natur wäre demnach zu definieren als die Bewegung, die Vegetation und das Animalische, die Manifestation der Triebenergie und des Triebhaften; wobei dieser Triebenergie gegenübersteht, um im Bild Volponis zu bleiben, die Geometrie des Rationalen, das Prinzip der Rationalität, die im Gegensatz zur kapitalistischen Zweckrationalität, das Daseinsrecht alles Lebens vertritt und verteidigt, kurz die Grundsätze der Koexistenz im universalen Lebenszusammenhang. Um die hier behandelten Prinzipien auch als Grundbegriffe der Interpretation zu verstehen, wäre die hier aufgezeigte Polarität als das Verhältnis von Materie und Psyche in das Interpretationsraster einzufügen. Der Psyche, dem psychischen Apparat, wie Freud die menschlichen Fähigkeiten der Wahrnehmung, des Fühlens und des Denkens zusammenfasst, käme die Funktion zu, naturhafte Triebenergie als Wunschökonomie in Libido umzuwandeln, die auf einen Gegenstand ausgerichtet ist. Die Triebenergie des psychischen Apparats ist auf ein Ziel gerichtete, transitive Energie, die sich dem Wort mitteilt, das die Verbindung zu anderen Worten sucht. Doch die Auswirkung dieser Dynamik auf die sprachlichen Verhältnisse wird uns erst wieder beschäftigen in den der Poetik gewidmeten Fragen unserer Untersuchung.
6. D IE K ONFRONTATION VON P OESIE UND R EALITÄTSPRINZIP – DER D ISPUT MIT O VERATH Der Ausbau des Refugiums, der auf verschiedenen Sinnebenen, wie wir gesehen haben, gelesen werden kann, ist im Prinzip ein Ereignis im Leben Aspris, das mit dem Übergang in die Marginalisierung in die letzte Phase des Sozialisierungsverlauf überleitet Im Verhältnis zu Imelde wird schon früh deutlich, dass es kein grundsätzliches Einverständnis in dieser freien Partnerschaft gibt und dass Imelde nicht bereit ist, Aspri in seine Einsamkeit zu begleiten. Die beiden trennen sich, nachdem sie ihre geschäftlichen Verhältnisse geordnet haben. Letzten Endes bleibt Aspri nur übrig, das Unternehmen von Ca l’ala allein zu verfolgen, und d.h. die damit verbundene Erfahrung als das singuläre Moment eines Allgemeinen isoliert zu behaupten. Das Bewusstsein des Subjekts erfährt sich als das Nichts, dem nur noch die Poesie verbleibt als das mögliche Sein, das Aspri gegenüber Overath mit aller Härte verteidigen wird. Es ist die Erfahrung des »leeren« Bewusstseins, die wir mit Mallarmés Grablegung des Subjekts verglichen haben, die aber bei Volponi nichts anderes ist als die Nichtung der Realität des persönlichen Bewusst184
Der Roman der Wende
seins, der zivilen Identität, an deren Stelle die abstrakte Gleichheit aller tritt, die unausgefüllt bleibt: Mein Projekt in meinem Inneren machte Fortschritte, immer klarer und glänzender […]. Es gab keinen Menschen mehr, der kämpfen musste, es gab eine Gleichung, die zu lösen war. [427]
Die entscheidende Auseinandersetzung mit Overath – die schließlich die Symbiose der beiden Figuren auflösen wird – zeichnet sich ab, als dessen Ankunft bevorsteht, die Aspri schon länger erwartet hat. Dieser in Urbino heimisch geworden – womit die Inszenierung zurückkehrt an den Ort von La strada per Roma – hat sich im Circolo cittadino inzwischen den Ruf eines Meisters des Billardspiels erworben, was insofern erwähnenswert ist, als die Meisterschaft in diesem Spiel gleichgestellt wird mit dem Anspruch auf eine Rationalität, die Aspri gegenüber Overath verteidigt und die er für das Projekt der Poesie im Ausbau von Ca l’ala geltend macht: »Ihm klar machen die rationale Wahl von Ca l’ala.« [431] Die Strategie der Beherrschung der Billardkugeln – seine Geometrie – entspricht dem rationalen Prinzip, das auf die vom Verstand beherrschten Verfahrensweisen der Verschriftung der Erfahrung anzuwenden wäre: Ich studierte die Regeln eines Spiels, das Teil meines Projekts war: ein Klappentext, der in seinem Wesen die Rationalität des Ganzen illustrierte und wie diese absolut auf jede Kombination anwendbar war. [443]39
Die Meisterschaft im Billard soll Aspri helfen, den Kampf mit Overath zu bestehen, ein Kampf um das Überleben der Figuren, gespeist letztlich aus den Triebenergien Aspris, Overath als Gegenspieler zu töten, il bisogno di ucciderlo [429]. In dieser Absicht hat sich Aspri den ›magischen Stock Trasmanatis‹ [428], [den »bastone animato«], angeeignet, den Gegenstand, dessen Kraft auf den neuen Besitzer übergeht. Der Vorgang der Tötung, der in verschiedenen Varianten dargeboten wird, ist eine imaginäre Inszenierung in Form eines Traums Gerolamos [429441]. Allein von Interesse – wegen der Rückblende in die kindheitliche Verklärung der bäuerlichen Kultur – ist wohl die Szene, in der das Fest der Santa Barbara inmitten der Bauern und ihres Priesters gefeiert wird. Aspri und Overath werden als Fremde vom Priester willkommen geheißen und damit einer bedrohlichen Konfrontation entzogen. Im Unterschied zu der frühen Version dieser Szene in L’Appennino contandino steht hier der Priester absolut im Vordergrund, sozusagen als Herr über die sprachlosen, fast tierischen Kreaturen, in deren Namen er die Klage über die »Landflucht« der Bauern wiederholt, aber in eindeutig regressiver Absicht.40 39 Das rationale Prinzip in der technischen Beherrschung der Regeln kommt noch einmal in folgendem Zitat zur Geltung: »Die Billardkugeln gehorchten mir total, immer mehr, sanft und elegant: sie führten freudig aus einen, zwei, drei Stöße entsprechend meiner Vorgabe. Der Queue war ein superbiegsames Organ, sehr beweglich, von schönem Material und schöner Farbe.« [426] 40 Aus der Rede des Priesters an die Bauern: »Ich habe euch gesagt, zuerst in der Kirche und wiederhole es jetzt: warum sollen wir alle unsere Äcker verlassen? Anderswo ist
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Zu rechtfertigen ist die Intervention des Priesters in dieser Szene vermutlich damit, dass die frühere Konzeption des Poetischen mit ihrem Fundament in der bäuerlichen Kultur jetzt definitiv als überwunden und rückständig ausgewiesen werden soll gegenüber der Poesie als Medium der Erkenntnis, die Aspri gegenüber Overath jetzt vertritt. Die Zuspitzung des zunehmend aggressiveren Disputs deutet darauf hin, dass der Rollenkonflikt zwischen den Komponenten des gespaltenen Subjekts sich auf eine Lösung zubewegt, was der folgenden Bemerkung Gerolamos zu entnehmen ist: Erst an diesem Punkt war ich in der Lage, im Geist den Namen Overath zu artikulieren und mir das Bild seiner bevorstehenden Gegenwart zu vergegenwärtigen: […] [s]eine Ähnlichkeit mit mir. [441- 42]
Diese Ähnlichkeit ist aber der Widerspruch im Inneren des Subjekts selbst, der nicht aufzulösen ist, wenn nicht das Subjekt auf sich allein gestellt überleben soll und damit alles andere nichtend, wie Overath dagegen einwendet: Du sagst, dass die Gesellschaft am Ende ist und dass du für dich selbst existierst, Amen! […] Du vergisst die Existenz der Vernunft und dass viele noch nicht aufgegeben haben, sie als besiegt anzusehen. [446]
Mit der Nichtung der Dinge im Bewusstsein des Subjekts wird die Wahrnehmung zwar befreit aus der entfremdenden Macht festgelegter Bedeutungen und damit frei für eine andere Wahrnehmung; dem steht aber entgegen, dass das Subjekt für sich allein die »ragione« in Anspruch nimmt und sie allen anderen nicht mehr zugesteht. Darauf entgegnet Aspri mit der Gegenfrage, wozu sie ihre Vernunft oder ihren Verstand benutzen und antwortet selbst mit der Feststellung, die alle Vernunft zunichte macht: »Sie machen Gebrauch von der Bombe« [446]. In der im Roman entscheidenden, weil auch die Wende im Bewusstsein des Subjekts herbeiführenden Szene, in der sich im Disput der Kontrahenten Realitätsprinzip und neue Poesie anscheinend unversöhnlich gegenüberstehen, geht es im Kern um die Geltung und die Bedeutung des Begriffs der Rationalität in ihrer Beziehung zu den Kategorien Realität und Poesie. [444447] Overath eröffnet die Debatte, indem er sich selbst als den Realisten präsentiert und Aspri die Rolle des Poeten zuweist, dessen Realitätssinn er grundsätzlich in Frage stellt: Aber du bist ein Poet, der größte, den ich je gekannt habe [...]. Und ist nicht auch diese Idee des Refugiums nur eine Poesie? [...] Literatur [?] Ein inneres Tagebuch [?] – Nein, sagte ich. – Wenn du wissen willst, was sie ist, denk vielmehr an ein Theorem. [...] Mein Unternehmen ist kein Tagebuch. Ich nenne es, für mich, ein Projekt. Ein Tagebuch [...] wäre eine innere Konstruktion, eine Art Gegengebäude gegen den mehr oder weniger düsteren Bau des sich verzehrenden Lebens. Man zieht sich immer mal dahin zurück, um woanders zu sein. Mein das Leben düster und bedrohlich und seine Lichter sind die des Betrugs […]; meine Kinder, halten wir uns an die Erde […]; lernen wir die Künste der Natur und halten wir uns an die zehn Gebote […].« [437]
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Der Roman der Wende Projekt dagegen ist mein Leben. – Ich fuhr fort: – Eine andere Form des Tagebuchs wäre die gewesen, über eine vermutliche Zukunft zu schreiben: z.B. das Tagebuch eines Wartens im Refugium: darauf zu warten, nach draußen zurückkehren zu können [...] und ans Licht zu treten, das vielleicht verändert ist, mit dem gleichen Körper, oder spuckend und leckend die Mutation zu akzeptieren. D.h. bedingt durch diese zwei literarischen Tendenzen: dem naturalistischen Schiffbruch oder, etwas aktueller, der blendenden Auszehrung der Sciencefiction. (445- 46)
In Aspris Äußerung deutet sich eine Literaturkonzeption an, die im Wortsinn von »teorema« das gesellschaftlich Allgemeine zum Gegenstand hat, die das Allgemeinwohl wieder sichtbar macht und zur Geltung bringt, also das genaue Gegenteil von dem, was ein »diario interiore« ist und ausdrücken will. Schreiben bedeutet die Verschriftung des Lebens, die auf die Rückkehr des Subjekts in ein unentfremdetes Sein zielt. Beim gemeinsamen Essen vor der Abreise Overaths kommt Aspri noch einmal zurück auf den Erkenntnisstand, zu dem er gelangt ist, indem er zu Overath äußert: Du sagst, das sei eine totale Verweigerung. Sicher, das ist es. Es ist genau richtig so nach der Kenntnis der Dinge, die ich gesehen habe […]. Nicht gemäß meiner Vernunft [ragione], aber aufgrund meiner Kenntnis. [449] – [im Sinne von »Erfahrung«, wie man ergänzen könnte].
Es ist also die Realität der Dinge im Sinne ihrer Wahrheit, die das Subjekt nichtet, nicht die ragione, die den Dingen von sich aus zu eigen ist als ihr Daseins-Recht im universellen Lebenszusammenhang. Nach der Verabschiedung Overaths41 – und dies auch im Sinne des Verschwindens als Gegenfigur des Subjekts – wendet sich Aspri entschlossen wieder dem Projekt des Umbaus von Ca l’ala zu, wobei er sich jetzt der Erforschung der Frage widmet, welche Kräfte in der Materie wirksam sind und sich in der Natur äußern. Dieses Interesse verbindet sich für ihn mit der Frage nach dem Äquivalent der Natur in der Sprache. Auszugehen ist davon, dass die Natur nichts Unveränderliches ist, sondern im Lauf der Evolution erst zu dem geworden ist, was sie heute ist, in einer Evolution also, die nicht zielgerichtet verlaufen ist, sondern aus der Selbstbewegung der Materie zu erklären ist [452]. Diese Feststellungen ist aber ebenso gut auf die Entwicklung der Sprache zu beziehen, die auch aus »naturwüchsigen« Verhältnissen hervorgegangen ist und erst später einer Grammatik unterworfen worden ist. Aus den Elementen der Natur, so folgert Aspri, hat sich entwickelt, was man den sprachlichen Ausdruck nennen könnte – und zwar auf zweifache Weise: in der Gestalt von Geräuschen und Tönen sowie in der von gesprochenen Lauten. Auch das Wasser, das aus der Leitung strömt, ist ein solcher Laut. Dieser geht also einem Wort voraus, einer Aussage. […] Ich werde also [so notiert Gerolamo] ein Alfabet daraus bilden, Silben, Diphthonge, Wörter. Einige we41 Dazu heißt es: »In Wahrheit weiß ich nicht, wer mein innere Gefährte ist. Ich weiß, wohin ich ihn führe. Sehr wahrscheinlich werde ich seine sterbliche Hülle sehen, aber es interessiert mich nicht mehr, sie zu identifizieren.« [452- 53]
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte sentliche Wörter: und diejenigen meines Vokabulars. Ich muss hinzufügen noch Schnee und Wasser. [452]
Diesen ›semantischen‹ Übergang von der Materie zur Sprache, vom Laut zum Wort, realisiert, wenn man das so nennen will, die ›syntaktische‹ Verbindung in der räumlichen Gestaltung oder Anordnung des sprachlichen Materials, der Laute und Töne auf der Fläche, auf der sie in Erscheinung treten, also der Schrift. Dem »Schnee« als Phänomen der Natur und als Zeichen der Verschriftung kommt die Rolle zu der Einebnung der Oberfläche, die die alte Schrift auslöscht und neue Formen oder Gestalten als Schrift zur Erscheinung bringt. Wenn auch die Konturen der Landschaft sichtbar bleiben, so ändert sich doch das, was darauf wahrgenommen wird; und der Raum dieser Wahrnehmung ist die Dimension der Verschriftung einer anderen Realität. Ich bin in Ca l’ala gewesen und es schneit immer noch: das Weiße lässt den Ort höher erscheinen als alle anderen Hügel. […] Es schneite immer weiter, was ein Prärogativ dieses Orts zu sein scheint, eine Erscheinung, die in die Liste [der neuen Verschriftung] aufgenommen werden sollte. [454]
Mit der Veränderung der Schrift wird auch für das Subjekt der Weg wieder frei in eine andere Existenz: Mein Gang auf dem Schnee ist deutlich: weder berührt er noch ähnelt er, soweit ich erinnere, einer meiner früheren Spuren. Sie setzen aus, wenn ich stehen bleibe, und beginnen unbeschwert wieder mit mir […]. [454]
Der Charakterisierung des Raums der Schrift dient ferner die semantische Unterscheidung zwischen Oberfläche und Tiefe sowie von »oben« und »unten«. Was die Raumdaten des ›rifugio‹ betrifft, sind die Richtungsangaben so unbestimmt, dass oben und unten vertauschbar scheinen, auffallend bei der Charakterisierung der »Mündung des Refugiums in den Felsen« sowie in der folgenden Lagebeschreibung: Leicht [zu verfolgen offenbar] ist heute auch die Weise, in der die hohe Böschung des Felsens sich in den eisigen Abgrund senkt: wie wenn alles umgestürzt wäre … und in eine neue Atmosphäre eingetaucht. [454]
Der rifugio wäre gleichzeitig als eine Höhle in einer Felswand – »rupe« – vorzustellen wie ein Abstieg in die Tiefe, was das Eindringen in das Erdinnere sowohl horizontal wie vertikal möglich und denkbar macht und durch die Termini »scavo« und »colpi« angedeutet wird. Wird die hier skizzierte Verbildlichung des Grabens oder Hauens in den Stein auf die Sprache und die Verschriftung bezogen, so könnte man den letzten Abschnitt von Teil III des Romans als eine Beschreibung im Sinne der Textlinguistik verstehen. Um diese Entsprechung deutlich werden zu lassen, versuchen wir, Original und Übersetzung der Beschreibung simultan und nebeneinander aufzuführen, wobei die Übersetzung schon die Interpretation mit einbezieht:
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Der Roman der Wende E’ facile usare gli arnesi di scavo: i colpi sono cosí sicuri che continuano a viaggiare; altri sfuggono ai lati e solo qualcuno riesce a salire la cappa vertiginosa della nevicata. L’infinita gamma di tutte le situazioni che ho immaginato posso [...] ricondurla a questo modello; la scena è anche dotata d’ogni possibilità di comunicazione; si rifrange come uno di questi cristalli; ha anche un emissario verso il mare, con tratti che si dissechino e ribollano al sole ed altri che s’interrino fra sabbie e frumenti; […] [454]
Das Instrumentarium der Ausgrabung ist einfach: die Schläge in den Stein öffnen den Weg des Grabens die einen in einer fortlaufenden Richtung ; andere weichen seitlich ab und nur einige gelangen in die Höhe bis zur schneebedeckten Kuppe. Die grenzenlose und überhaupt vorstellbare Vielfalt der Situationen, kann auf dieses [grammatische] Modell zurückgeführt werden; die Inszenierung von Handlung ermöglicht jegliche Art von Kommunikation; sie kann einem Kristall gleich sich aufsplittern; sie hat Zugang zum Meer, mit Wasserarmen, die vertrocknen oder fruchtbringenden Boden erreichen; […]
Den Text, mit dem der dritte Teil des Romans abschließt und dem deshalb ein markanter Stellenwert zukommt, können wir in zweifacher Weise interpretieren: einmal als die Beschreibung der Arbeit des Poeten, der seinen Text anfertigt; zum anderen als ein Modell der Textgrammatik, auf deren Regeln die Ausarbeitung von Sätzen beruht, bezogen a) auf den Umfang der Beziehungen innerhalb der Sätze, b) auf deren Verästelung in andere thematische Bereiche, und c) auf deren Vertiefung in semantischer Hinsicht.
7. D IE T HEMATIKEN
IN
C ORPORALE
Die zwei Aspekte der Selbsterforschung: Ca l’ala als Zufluchtsort und Ort der Erneuerung
In Aspris »revolutionären« Unternehmen, das er gleichermaßen der Selbsterforschung wie dem Umbau von Ca l’ala widmet, lassen sich zwei Phasen unterscheiden, von denen die erste als der Versuch zu kennzeichnen wäre, einen Schutzraum zu suchen, der auch als »Weg nach Innen« bezeichnet werden könnte, während die zweite den Schwerpunkt verlagert auf die Rekonstitution der Sprache als Mittel der Rekonstitution des Subjekts. Was die erste Phase betrifft, äußert Aspri sich in einem Brief an Overath: Ich brauche deine Hilfe, um die erste Skizze meines Projekts anzufertigen […]. Ich treffe nämlich Vorbereitungen, um zu überleben, indem ich mir einen Schutzraum grabe, nach allen Regeln der Kunst, an einem Ort, der nach meinen Erkundigungen am geeignetsten ist. [377]
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Im Vordergrund steht hier ganz offensichtlich das Bedürfnis nach einem Schutzraum vor den Gefahren eines Atomkriegs, der als solcher auch genannt wird. Schon viel früher wird aber der Weg nach Innen, der mit dem Schutzbedürfnis zu verbinden wäre, in einer schon zitierten Passage erwähnt, wo es heißt: Ich hatte beschlossen, eine Reise ins Innere zu unternehmen, eben um zu schauen. Ich nahm in mich auf alles, was ich im Einklang fand mit meiner Idee, dass es eine instantane Existenz hatte, vom alleinigen Wert, von mir wahrgenommen zu werden. [70]
Doch die Sicht aus der Innerlichkeit des Subjekts auf die Gegenstände der Außenwelt wird schon in der zitierten Formulierung distanziert beurteilt und erweist sich, wie die Passage zeigt, als reine Spiegelung des Äußeren im sonst leeren Bewusstsein. Der eigentliche Aufbruch in das Abenteuer der Erkenntnis und der Selbsterforschung, die »impresa straordinaria« [139], ist ebenfalls schon vordatiert auf den Anfang, wo Aspri den Entschluss fasst, sich von seiner Frau zu trennen und das Unternehmen damit zum Akt der Befreiung wird, welche »die Ursache würde für viele andere befreiende Ereignisse« [140]. Die zeitliche Distanz zwischen Aspris Entschluss der Trennung von seiner Familie und der zweiten Phase seiner Selbsterforschung könnte als Beleg dafür gelten, wie über weite Spannen des Textverlaufs die Verbindung zwischen Textsegmenten wieder hergestellt werden kann, obwohl die ursprüngliche Erzählung einen ganz anderen Fortgang genommen hat. Denn in der ersten Erzählung fehlt das Moment, das die zweite Version kennzeichnet: die Umdeutung der Befreiung des Subjekts in das Projekt der Erneuerung der Sprache und der revolutionären Veränderung der Literatur. Diesem Unternehmen aber widmet sich der Aspri von Ca l’ala, dem wir im Folgenden nachgehen wollen. Um diesen Erzählverlauf zu rekonstruieren, muss die Geschichte auf der Ebene der Signifikanten gelesen werden, des nicht gedeuteten Textes der Erzählung, den wir zu entschlüsseln versuchen. Auf der Suche nach dem Raum, in dem Gerolamo zunächst Schutz zu finden hofft, wird ihm ein Terrain an der Peripherie von Urbino zur Benutzung angeboten, wo er zusammen mit Imelde die Inspektion des Geländes vornimmt und die Vorbereitung seines Umbaus in die Wege leitet. Sein Hauptaugenmerk gilt der Ausmessung des Geländes, die einen beträchtlichen Zeitaufwand erfordert [350-53], was aber diesen Aufwand rechtfertigt, da in den Raumverhältnissen die Verschriftung einer veränderten Realität mit zur Darstellung gelangen soll. Die Distanzen, die abgemessen werden, die Unterschiede von Höhen und Tiefen und die Querverbindungen sind geometrische Daten, die imaginäre Räume andeuten, in denen sich Ereignisse und Begegnungen abspielen, die aber auch sprachlich-grammatische Ordnungskategorien repräsentieren, die semantische, syntaktische oder rhetorische Operationen bezeichnen, wie z.B. Linien eines kontinuierlichen Textverlaufs, der aber von anderen Segmenten gekreuzt, abgeleitet oder abgebrochen wird, bzw. andere geometrische Figuren, wie Kreis, Rechteck, Trapez oder Ellipse, die als sprachliche Figuren zu verstehen und zu verwenden sind, wozu schließlich auch mathematische Kategorien zählen, wie die Verlagerung von Opera-
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Der Roman der Wende
tionen von einer Ebene auf eine andere, auf der Grundlage rhetorischer Operationen. Herzuleiten ist aus diesen geometrisch-arithmetischen Kategorien, die als Grundlagen auch in den Strukturen der Sprache nachzuweisen sind, ein beträchtlicher Teil der Verfahrensweisen der avantgardistischen Praxis, was in den Äußerungen Aspris bei seinen Ausmessungen in Ca l’ala anklingt: Ich begann meine Messungen. […] Der Umfang des Hauses bemisst sich nach 48 Schritten in 49 Sekunden […].
Es folgt die Beschreibung, deren Wortlaut wir schon zitiert haben, wo darauf verwiesen wird, dass der Textzusammenhang sich dem Leser erschließt, wenn er sich an den im Text wiederkehrenden Schlüsselwörtern orientiert, wenn er an eine Stelle gelangt, die wie von allein sich einfügt in eine andere, vorangehende und schon vertraute [350].
Diese Passage liest sich wie die Anweisung Volponis bezüglich der Weise, wie seine Texte auf der Ebene des Signifikanten, aber noch nicht Bedeuteten zu lesen sind, wobei die »numeri« die semantischen Elemente des Satzes wären, die erst dann wiedererkannt werden, wenn sie in einem anderen Kontext neu begegnen und in dieser Konjunktion eine Schlüsselfunktion erhalten bezüglich des Verständnisses des ganzen Textes. Diese Bemerkungen hinsichtlich der Prinzipien eines veränderten Schriftverständnisses begleitet der Erzähler mit der selbstbewussten, ebenfalls schon zitierten Feststellung: Ich bin nicht hier einer individuellen Angelegenheit wegen, auch wenn ich allein gekommen bin und bleiben werde. Ich bin hier bezüglich einer Probe: eines polaren Experiments. [351]
Als Gerolamo zusammen mit Imelde das verlassene Haus in Ca l’ala betritt, kehren Gefühle wieder, die er schon für überwunden gehalten hat und die an die Kindheit erinnern, die unauslöschlich mit dem Haus verbunden scheinen. Das führt letztlich dazu, dass er einen Augenblick zögert in der Annahme, dass dies nicht der Ort der Erneuerung sein könnte, der ja der Raum des befreiten Subjekts werden sollte [345]. Er ist vielmehr der imaginäre Raum, in dem auch die Dinge ihre Gestalt und ihre Bedeutung verändern, auf dem Boden ihrer materiellen Existenz, die schließlich den Wörtern, die sie bezeichnen, eine neue Bedeutung verleihen wird – wozu aber gehört, wie im Folgenden Zitat ergänzt wird, dass das menschliche Sein an dieser Materie partizipiert, aus der es hervorgeht, aus der es sich aber als menschliches Subjekt neu konstituieren muss: Bäume oder Blätter, oder Wasser […], oder Buckel oder Hügel, oder Abhang: aus ihrer gewöhnlichen Beschaffenheit muss ich hervorgegangen sein, sie in Wirklichkeit wiederherstellen, sie der meinen gegenüberstellen, um sie zu beherrschen, für meine Zwecke. Ich muss ihnen eine andere Dimension geben, nicht nur bezüglich der Bewegung meines Blutes, und dann werden sie auch eine andere Form annehmen. [351]
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Aus dieser Perspektive gewinnt Gerolamo neue Zuversicht hinsichtlich der sozialen Dringlichkeit der Erneuerung und bedauert fast, »noch an diesem Punkt zu sein, da ich schon lange wusste, dass mein Platz schon bestimmt worden war«. [351] Damit wird die zweite Phase des Erneuerungsprojekts eingeleitet, die auf die Ernüchterung folgt, die Aspri erlebt, als der Bau von Ca l’ala von anderen teilweise zerstört wird und ein Meteoriteneinschlag in der Nähe des Orts ihm die Nutzlosigkeit seines Schutzraumprojekts vor Augen führt. Die Funktion des Meteoriteneinschlags für die Erzählung könnte darin gesehen werden, dass er ein Ereignis bezeichnet, das eine Veränderung im Zustand der Gesellschaft insgesamt zur Folge hat und damit die kollektive Tragweite einer veränderten Wahrnehmung beglaubigen soll. Ähnlich wie in Il pianeta irritabile nach der atomaren Explosion wird hier die Dimension einer kollektiven Wahrnehmung evoziert, ausgelöst durch eine Bewegung des Winds, die alles verändert. Aspri macht sich wieder auf den Weg nach Ca l’ala. Als er dort ankommt, bietet sich das Gelände seinem Blick als eine ziemlich unübersichtliche und ungeordnete Ansammlung von Linien, Flächen und Gegenständen darin. Er findet Spuren von Leuten, die in Ca l’ala gewesen waren. Er versuchte, Klarheit zu gewinnen, indem er das Gelände betrachtete, aber es blieb ein unbestimmter Eindruck […]. Was ihm als eine eher unbedeutende Angelegenheit erschienen war, erwies sich nach einer Weile als die erste Bestätigung einer wesentlichen Wahrheit, noch verdeckt von den Schlacken, aus denen sie hervorging, aber sicher. Der Beweis einer Art Überwindung des Wirklichen, wenigstens wie er es sich vorgestellt hatte. Die Wiederkehr von Motiven, die schon vorher existiert hatten, vage wahrgenommen, aber wieder verdrängt […], die jetzt einige Härten oder Abschürfungen zeigen konnten, Zeichen, dass die Zeit an ihnen gezehrt hatte, dass sie nicht die Stärke und die Zeit selbst waren, sondern eher eine dunkle Schachtel, der auch aus geringer Disziplin der Wert eines Tempels zuerkannt worden war. – Gerolamo begann zu verstehen, dass er mit dem Bau des Refugiums nicht zufrieden sein konnte. [458- 59]
Dieser enigmatische, fast mystisch anmutende Text könnte besagen, liest man ihn im Kontext der Konstruktion eines imaginären Raums, dass Gerolamo auf Spuren gestoßen ist, die als Linien eine Fläche begrenzen, durch die die Dimension der Zeit verläuft, in der sich das Bewusstsein des Menschen herausgebildet hat und wieder verschüttet worden ist. Besagen könnte das weiter, dass das Erscheinen der Erinnerungsspuren »vorangehender Motive« [i.S. von Zeichen] zurückverweist in ein vorausgehendes Stadium der Materie, die ihm die Existenz einer veränderbaren Materie bestätigt und damit seine Konzeption von Raum und Zeit, wie es die Bemerkung bezüglich einer veränderten Realität anzudeuten scheint »Der Beweis einer Art Überwindung des Realen; wenigstens wie er es sich vorgestellt hatte.« [458] Gleichzeitig kommt es Gerolamo zum Bewusstsein, dass wie er gearbeitet hatte, sehr unvollkommen war, was ihn trotz aller Ernüchterung aber auch mit Genugtuung erfüllt hinsichtlich der neuen Erkenntnisse. In einem bestimmten Moment seiner Inspektion, als er sich zu weit herausbeugt, verliert Gerolamo das Gleichgewicht und fällt, wobei er sich Verletzungen an Brust und Becken zuzieht, doch von einem Glücksgefühl ergriffen, das offenbar 192
Der Roman der Wende
mit der oben geschilderten Entdeckung zusammenhängt [460], dass nämlich die bisherige Erforschung zum Scheitern verurteilt war, weil sie den nach innen gerichteten Weg der Selbsterforschung als Schutzraum gesucht hatte. Gleichbedeutend wird das mit der Öffnung der Selbsterforschung in einer anderen Richtung.
8. D IE E RZÄHLUNGEN
IN
C ORPORALE
In den Textfragmenten, aus denen sich Corporale als Erzählwerk zusammensetzt, dominiert die Tendenz des Erzählers, dem Subjekt der Biographie eine beherrschende Stellung im Textzusammenhang zu sichern, d.h. die Geschichte des Subjekts auf der Suche nach seinem gesellschaftlichen Wesen immer wieder als übergreifende Thematik erkennbar zu machen. Es ist die Geschichte der Figur, deren Biographie wir bisher in den Romanen der ersten Phase analysiert haben und die man auf eine gemeinsame Kindheit zurückführen kann. So weist die Kindheit Aspris z.B. wesentliche Gemeinsamkeiten auf mit der Albinos in Memoriale, und der Eintritt der Protagonisten der frühen Romanen in die Welt der Arbeit setzt sich fort in Corporale mit Aspris Einführung in die Welt der Geschäfte. Die Erzählungen der frühen Romane können also betrachtet werden als Geschichten aus der Welt der Arbeit, deren Widerschein noch in Aspris Sozialisierung durch die Kommunistische Partei zu erkennen ist, während in Corporale der Weg des Subjekts im Durchgang durch die Welt der Geschäfte und die Politik in die Einsamkeit des Refugiums und den Rückzug aus der Zivilgesellschaft führt. Wie diese Teilbereiche der Handlung aber in einen Zusammenhang eingebracht und übergeführt werden können, der die Leerstellen der Geschichte, die Unterbrechungen und Wiederanknüpfungen wenigstens streckenweise überbrückt, wäre im Folgenden zu untersuchen Was muss ein Gesamttext umfassen? Hingewiesen wurde wiederholt schon, dass Volponi bestrebt ist, die drei Zeitebenen der Handlung in seine Erzählungen zu integrieren, d.h. die Ebene der Zeitgeschichte und der Lebensgeschichte in die der Erzählung oder der Fiktion, die die zwei ersten Ebenen umfasst. Die Ebene der Zeitgeschichte bildet die politische Geschichte zwischen den frühen 60er Jahren bis zum Erscheinen von Corporale 1974, die Zeitspanne also, innerhalb welcher die Ereignisse in den Erzählungen Volponis situiert sind. In den Kategorien, die als die Strukturelemente des Werks betrachtet werden, entfaltet sich die politische Geschichte im Panorama von Zivilgesellschaft, Ökonomie und Politik, in welchem die Lebensgeschichte Gerolamo Aspris von dessen Aufnahme in die Kommunistische Partei über sein Engagement in der neuen Linken, bis zu seiner zunehmenden Marginalisierung zu verfolgen ist. In diesen politisch motivierten Verlauf sind wesentliche Aspekte der zivilgesellschaftlichen Geschichte dieses Zeitabschnitts eingefügt, nämlich der Prozess der wachsenden Deregulierung der Wirtschaft, von Handel und Dienstleistungen, die erkennbar in die Illegalität abdriften. Begleitet wird das von einer Tendenz, die die Politik im Bereich der Zivilgesellschaft in wachsendem Maß funktionslos werden lässt zugunsten einer Entwicklung, in der die Durchdringung des Politischen mit ökonomischen Interessen vorherrschend wird, was die Mailänder Szene der Geschäftswelt exemplarisch zeigt. Kennzeichnend wird also als Strukturmerkmal des Ge193
Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
sellschaftlichen die tendenzielle Verlagerung des Politischen ins Geschäft und des Zivilrechtlichen in die Ökonomie. Im Erzählvorgang des Werks sind das die strukturellen Aspekte der Thematik, in der die einzelnen Erzählungen des Romans zu integrieren sind und in denen sie ihren Stellenwert finden. Auf der Ebene der Zeitgeschichte ist die Lebensgeschichte der Figur situiert, die als das wechselnde Subjekt der Erzählungen verschiedene Transformationen erfährt in seiner Entwicklung auf dem Wege der Resozialisierung. Hervorzuheben ist gleich, dass dieser Prozess nicht gradlinig verläuft, zumindest nicht chronologisch erzählt wird, dass vielmehr Momente der Progression in jeder Phase und in verschiedenen Kontexten des Erzählens zu finden sind, so dass, was als die Entwicklung der Figur zu betrachten ist, auch vom Urteil des Lesers mit abhängt. In der Gliederung von Handlungsschritten, die wir im Folgenden auflisten, wird die Entwicklung der Geschichte des Subjekts an die den Erzählungen zugrunde liegenden Thematiken gebunden, die im Roman den Gesamttext strukturieren, und das sind die nachfolgend aufgeführten Thematiken der verschiedenen Erzählungen oder Erzählstränge. 1. Das Moment des Kindheitstraumas: der Alte und die Mutter [il vecchio e la madre]; daraus abgeleitet der Tötungswunsch i.S. des Ödipus-Dramas, woraus sich die Geschichte der Suche nach dem Mörder ergibt, die noch in andere Erzählungen übergreift und andere Sinnbezüge stiftet. 2. Als Moment der Resozialisierung des Subjekts ist zu betrachten die berufliche Förderung Aspris im Umfeld der Kommunistischen Partei, wovon als prägendes Merkmal sein Festhalten am Wert produktiver Arbeit zeugt. 3. Die unglückliche Liebe Gerolamos zu der jungen Ivana, die die Gefühlsverwirrung erneuert, aus der das Leid geboren wird: zu integrieren in die Familiengeschichte und in die Geschichte der Trennung von der Mutter in der Phase der Primärsozialisation. 4. Die Trennung der Ehepartner ist eine Variante der im Werk Volponis rekurrierenden Thematik der Auflösung der Familie, zurückzuführen hauptsächlich auf die »Kultur der Gefühle« und ihre uneinlösbaren Ansprüche an das Subjekt. 5. Der politische Wechsel Aspris von der KPI zur neuen Linken wäre im Grunde zu begründen mit der strukturellen Verlagerung des Politischen in die Ökonomie, worauf die linke Bewegung reagiert mit der Strategie der Resozialisierung der Politik, d.h. ihrer Rückverlagerung in die Gesellschaft. 6. Die Inszenierung der Geschäftswelt im Zentrum der Zivilgesellschaft spiegelt die Verflechtung von Lebenswelt und Geschäft auf der Grundlage der Deregulierung des Wirtschaftslebens und der Entmachtung zivilgesellschaftlicher Kompetenz.
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Der Roman der Wende
7. Die Verlagerung der Szene nach Urbino illustriert offenbar eine Zwischenphase der Entwicklung des Subjekts, auf dessen Suche im Leben mit Imelde nach Existenzbedingungen jenseits bürgerlicher Identität. 8. Aus der Involvierung in die militante Phase der neuen Linken folgt die schließlich auch gewollte gesellschaftliche Marginalisierung als eine Strategie der Resozialisierung des Subjekts; ihr entspricht die Entleerung und der Verlust des zivilgesellschaftlichen Bewusstseins, die Gerolamos Rückzug in sein Refugium motivieren. 9. Der Rückzug ins Refugium ist existentiell motiviert als ein Moment der Krise im Leben des Subjekts, als seine Vereinzelung und Vereinsamung. 10. Die Konstruktion des Refugiums ist zugleich als Realisierung des revolutionären Projekts zu denken, denn in einer zweiten Phase dieses Unternehmens wird die Veränderung des menschlichen Bewusstseins gebunden an die Veränderung der Sprache und des Sprachgebrauchs und über diese an die letztlich neue (utopische) Perspektive einer Resozialisierung oder Rekonstitution des gesellschaftlichen Subjekts. Das zuerst genannte Moment der Kindheitsgeschichte, das weit vor der Zeit des Romanbeginns liegt, betrifft u.a. die Szene, in der das Kind am Bahnhof von der Mutter in Begleitung des vecchio, des nicht akzeptierten Stiefvaters, erwartet wird; statt dem Kind entgegenzugehen und es in die Arme zu nehmen, bleibt die Mutter an der Seite des Alten stehen, in ihrem geblümten Kleid, wie der Junge registriert. Seine Verletzung fasst er in die Worte: »Ich litt, schämte mich, hasste« [12]. Einer anderen Szene im Haus des Alten erinnert sich der Junge, als er Gartenarbeit verrichten muss, während, wie er argwöhnt, der »Alte« mit der »Dienstmagd im Haus zusammen im Bett lagen« [252]. Die Erinnerung an solche Szenen, die gelegentlich in den Text eingestreut werden, ist Teil der Familiengeschichte, aus der hier das Moment der ödipalen Dreierbeziehung vorgeführt wird. Zur Familiengeschichte gehört aber auch, was dann als die Mordphantasie in den Text Eingang findet, nämlich der Mord an der jungen Ivana und ihrem Freund, den der Erzähler glaubt beobachtet zu haben, womit der Roman, wie wir wissen, beginnt. Vorangehend ist schon auf die möglichen Konstellationen im Dreiecksverhältnis von Gerolamo und den jungen Liebenden hingewiesen worden und darauf, dass sie auf verschiedene Weise interpretierbar sind und woraus unterschiedliche Geschichten abzuleiten wären. Die naheliegendste Version im Sinne der Familiengeschichte wäre, dass die verhasste Vaterfigur in die Rolle des Mörders rückt und im jungen Liebhaber den Sohn tötet, weil dieser die Frau liebt, die vom Vater in Anspruch genommen wird. Gerolamo würde sich dabei mit dem Jungen identifizieren, der vom Vater getötet wird. Diese Umkehrung der Geschichte des Ödipus, in der der Sohn ja den Vater tötet, ist aus der Sicht Volponis aber ein dem Ödipus-Drama inhärenter Bestandteil, exemplarisch verdeutlicht in der Ermordung Pasolinis. In seinen Stellungnahmen zu diesem Ereignis legt Volponi dem Mord an Pasolini ein Handlungsmotiv zugrunde, das wir als Pasolini-Syndrom bezeichnet haben, nämlich dass Pasolini, der die Mutter liebt – und in ihr eine Form ursprünglicher Gesellschaftlichkeit –, von der väterlichen Gewalt in der herrschenden Ge195
Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
sellschaft umgebracht worden ist.42 Auf die Familiensituation bezogen, ist auffallend, dass die Mordphantasien darin eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Um den Lesern das wieder vor Augen zu führen, resümieren wir die schon geschilderte Mordszene des Romaneingangs, in der die verschiedenen Interpretationen die wechselnden Funktionen der beteiligten Figuren zeigen. Eine zweite Lesart des Mords an Ivana war die, Gerolamo selbst in der Funktion des Mörders zu sehen, der aus Eifersucht tötet oder aus Hass, der sich auf den Anderen, den Bevorzugten, entlädt, was in der Familiengeschichte verbleibt und das Schuldgefühl erklären würde, in dem sich die eigene Aggression und Zerstörungswut umsetzt in die Fantasie einer atomaren Vernichtung, was in einem Traum Aspris auch wirklich geschehen ist, wie wir gesehen haben. Die dritte Variante der Mordszene, eingangs ebenfalls erwähnt, ist die abstrakteste, da die konkreten Handlungsmomente darin auf eine Ebene gehoben werden, auf der sie allegorisch zu verstehen sind. Die junge Ivana wäre danach für Gerolamo eine Figur, die, ähnlich der Beatrice aus Dantes Divina Commedia, seine Existenz von Grund auf erneuern und die Traumen der Kindheit für immer auslöschen würde. Und dieses Wesen wäre die Poesie, in der das frühe Subjekt der Dichtung Volponis vor den Heimsuchungen der Kindheitsängste einen Zufluchtsort gesucht und gefunden hat. Verkörpert die junge Ivana die Figur dieser Poesie, dann wäre Gerolamo als ihr Liebhaber zu sehen, der zusammen mit ihr getötet wird; und zu verstehen wäre das als der Abschied von der Poesie in ihrer ursprünglichen Form, als die frühe Lyrik der Naturverklärung, und ein Abschied zugleich angesichts der andersartigen Erfahrungen, die das Subjekt mit der konträren Wirklichkeit hat machen müssen. Das poetische Subjekt wird gemeinsam mit seiner Poesie umgebracht vom Realitätsprinzip, das ihm in der Figur Overaths entgegentritt. Auf diese Weise leitet die Geschichte aus der Familienthematik des frühen Subjekts über in die Auseinandersetzung zwischen Aspri und Overath über die Poesie im Zusammenhang mit dem Realitätsprinzip. Ein entscheidendes Moment der Sozialisation Gerolamos, das aus der unglücklichen Familiengeschichte herausführt in eine zukunftsoffene Dimension seiner Existenz, ist die Phase der Lehrjahre im Umfeld der Kommunistischen Partei, von der gerade in Abgrenzung von der mütterlichen Fürsorge als einer Phase der Bewusstseinserweiterung zu sprechen ist. In der Beschreibung von Gerolamos Kindheit finden wir Daten der Biographie Albinos aus Memoriale wieder, mit dessen fast proletarischer Existenz die Kindheit Gerolamos zu vergleichen wäre. Die Lebensbedingungen im mütterlichen Milieu illustrieren die nachfolgenden Zitate in einer Weise, die über das Faktische hinaus zur Familiensozialisation generell aufschlussreiche Daten liefert: […] der schlechteste Teil von mir [ist] der von meiner Mutter: bereitwillig, aber mit viel Heuchelei und viel Reserve, großzügig und gewinnend aus einer Unterwürfigkeit von Generationen, ambivalent, konziliant um jeden Preis mit viel halben Gedanken und halben Taten, die keineswegs Reserviertheit war, sondern Abwarten, was andere dachten oder wollten. [347]
42 Siehe die beiden Artikel, die Volponi der Ermordung Pasolinis gewidmet hat, wieder abgedruckt in Scritti dal margine.
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Der Roman der Wende
Diese Ambivalenz der Frau des Volkes ist das ihr zukommende oder auferlegte Verhalten, in dem sich eine Zwiespältigkeit offenbart, die die Person bis in ihren Gefühlen hinein gespalten zeigt. Als diese Figur tritt sie im Familienroman in Erscheinung: Meine Mutter hatte siebenundzwanzig Jahre leben müssen mit diesem widerlichen gelbhäutigen und behaarten Typ […]: und auch vorher war sie Dienstmädchen, Magd und Liebchen von Soldaten. Ich habe meine Lehre in der Fabrik machen und sie mit meinen Ideen in Einklang bringen müssen […] und ich bemühe mich an eine Zeit zu denken, die vielleicht noch lang sein wird, in der ich allein sein werde, und nicht allein aus eigenem Willen. [347]
Die Situation des jungen Aspri ist, wie man sieht, der Situation ähnlich, in der Albino nach seiner Heimkehr aus der Gefangenschaft sein Berufsleben in der Fabrik begonnen hat, nur dass Albino seine Integration in die Gesellschaft noch von einer christdemokratischen »Vorsehung« erwartet und erhofft hatte, während Aspri sie tatsächlich erfährt durch seine Förderung durch die Kommunistische Partei, die ihn in ihr Leben integriert. Ich verstand die Städte, die Felder, die Straßen, die Fabriken, die Verwaltung, die Religion, den Sport, die Liebe […]. Ich hatte Bildung erworben und liebte sie […]. [69- 70]
Doch die Phase der unproblematische Übereinstimmung des Subjekts mit der Politik der KP gerät in die Krise, als Aspri die Diskrepanz der eigenen Ansprüche gegenüber der Realität im Widerspruch zur Partei entdeckt.43 Die langsam sich vollziehende Loslösung von ihr ist der Schritt des Subjekts in eine andere Wirklichkeit, in der das Engagement in der Neuen Linken auch in eine andere Erzählung überleitet. Der Übergang in die Welt der Geschäfte, die Aspris politische Ambitionen begleitet, aber zugleich in eine Sackgasse führt, rückt mit Murieta eine Figur ins Rampenlicht, der im Grunde wieder die Rolle des scheiternden Helden zufällt, diesmal aber als einer Figur, deren Geschichte der Erzähler aus ironischer Distanz verfolgt. Murieta ist die Figur, die im Kampf gegen den Marchese, den er in seinem Haus sogar tätlich angreift,44 sowie gegen die Gruppe, die dieser anführt und beherrscht, letztlich erfolglos bleibt und schließlich das Feld räumen muss. Doch als sein Kampf schon als verloren gilt, erscheint er noch einmal seinem alter ego in dem schon zitierten soliloquio als Stimme oder Sprachrohr eines »revolutionären« Anspruchs, den Aspri in seinen Augen verraten hat.45 Er tritt auf als die Figur, die gegenüber dem Realitätsprinzip in der Po43 Aspri stimmt mit der Partei nicht darin überein, dass die Revolution von oben gemacht werden könnte, was schon vorausdeutet auf den Standpunkt der neuen Linken und ihrer »Sozialisierung« der Politik: […] »ich wollte keine Revolution, die mit einem Mal von oben alles veränderte, was vorher war […]« [35]. 44 Die Szene, in der Murieta in das Haus des Marchese eindringt und ihn handgreiflich im Fahrstuhl bedrängt, wird ausführlich dargestellt auf S. 218 bis 230. 45 Im Soliloquio mit Aspri, seinem alter ego, wirft Murieta diesem vor, ihn immer gehindert zu haben, sich von jeglicher konträren Natur zu befreien: »Wenn ich eine wirklich neue, viel versprechende Sache unternehmen wollte, die tatsächlich ein Stück Revolu-
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sition Overaths unterliegt, aber als scheiternder Held die Ansprüche der nicht realisierten Revolution an sein ›alter Ego‹ Aspri als die Figur der Konstruktion von Ca l’ala weitergibt. Mit dem Szenenwechsel von Urbino wird eine doppelte Veränderung in der Erzählökonomie eingeleitet: die Rückkehr Gerolamo Aspris als Protagonist und Erzählfigur in erster Person, die einhergeht mit seiner zunehmenden Selbstausgrenzung aus dem gesellschaftlichen Leben von Urbino. Teil dieser Marginalisierung ist sein verändertes Verhältnis in der Beziehung zu Imelde, der ehemaligen Hausangestellten des Advokaten Trasmanati nach dessen Selbstmord, als dessen Nachlassverwalter beide fungieren. Kennzeichnend im Verhältnis zu Imelde ist die Versachlichung der Lebensbeziehungen im Vergleich zur bürgerlichen Ehe: der Verzicht auf die Besitzansprüche auf den anderen und die Beseitigung der Antinomie bezüglich der weiblichen Natur von Idealität und Profanierung [108]. Verändert auch ist die Beziehung zum Lebensraum in der Frage des Hauses als gemeinsamer Wohnstätte. Aspri überredet Imelde zunächst, mit ihm zusammen die Suche nach dem gemeinsamen Zufluchtsort aufzunehmen, den Ort für die geteilte Einsamkeit, wie er sich gegenüber Overath äußert: Ich bin jetzt so weit, jede falsche Lösung auszuschließen, jede Inszenierung, jede zu spielende Rolle, jeden Dialog. Ich bin allein und allein der Dämon meiner selbst. [277]
Mit der Einsicht, dass die Einsamkeit ein Drama der Singularität, der individuellen Vereinzelung ist, kommt Aspris Verständnis von einem Zufluchtsort der marginalisierten Existenz eine Evidenz im Handlungsgeflecht zu. Das rifugio wird zum Schutzraum, den die sich ausgrenzende Existenz vor den Gefahren gesellschaftlicher Machtansprüche sucht, gegen die entfremdete Welt der Tatsachen samt ihres Zerstörungspotentials. Doch diese Funktion des Refugiums, das das Subjekt Volponis zu diesem Zeitpunkt sucht, ist nur ein Aspekt der Geschichte von Ca l’ala, die in einem zweiten Moment überleitet in die Fabel von der Ausgrabung und Fundstätte neuer Erkenntnis, von der die letzte Erzählung im Roman handelt und die literarisch sicher den bedeutendsten Beitrag Volponis zur Poetik der Neoavanguardia enthält. Von Zeit zu Zeit wird Gerolamo von Anwandlungen der Verlassenheit und Gefühlen der Bedrohung heimgesucht, die jetzt der Anlass werden, diesen Angstzuständen auf den Grund zu gehen. Er beginnt, das Gelände von Ca l’ala zu untersuchen und dieses Unterfangen in sein Projekt der Veränderung zu integrieren: Ich beginne, meine Dinge zu ordnen und niederzuschreiben die ersten Elemente meines Projekts. Ich beginne ein Tagebuch mit dem Datum des 1. Dezembers 1965 […] Zwei weitere Rubriken habe ich überschrieben, die erste: Liste der Operationen (einleitende und abschließende); die zweite: Liste der Materialien (medizinische, Werkzeuge usw.). [292]
tion gewesen wäre, hast du mich mit deinem Verrat daran gehindert. Und der Beweis dieses Verrats ist deine eigene Existenz, von der ich mich endlich befreien kann […].« [266]
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Das Projekt, das hier geplant und begonnen wird, zielt auf nichts Geringeres als auf die Veränderung der Wahrnehmung der Realität, auf ihre Transformation mittels der poetischen Sichtweise der Dinge und der menschlichen Existenz. Diese poetische Vision der Dinge soll aber nicht, wie in der frühen Poesie, zu deren Verklärung führen, sondern in Einklang gebracht werden mit der Realität der Dinge selbst, soll also frei sein von der Bindung des Sehens an die Gefühle, sondern im Gegenteil die Wahrnehmung öffnen auf die gegenständliche Realität der Dinge. Mit dieser phänomenologischen Sichtweise ist verbunden die Aufwertung der materiellen Beschaffenheit der Dinge und Lebensprozesse, von der die Veränderung der Wahrnehmung im Leben der Menschen. zu erwarten ist. Hinweise auf diese visuelle Transformation des Wirklichen finden wir verstreut im gesamten Text des Werks; im vierten und letzten Teil aber häuft sich diese visionäre Wahrnehmung, worin sich das wahrnehmende Subjekt mit dem Sein des wahrgenommenen Gegenstands zur Einheit verbindet und davon mit betroffen ist, die Metamorphose des Subjekts der Erzählung, die sich in diesem Prozess abspielt und vollzieht. In der Darstellung des Umbaus von Ca l’ala, in der die Erneuerung der Sprache sich schließlich als das »revolutionäre« Projekt Gerolamo Aspris zu erkennen gibt, wird dieser Abschnitt seines Lebensverlaufs wieder zurückgebunden an die Geschichte der Rekonstitution des Subjekts, die im sprachlich-poetischen Projekt Aspris ihren vorläufigen Abschluss findet, wenigstens, was den Text von Corporale betrifft, in dem die Geschichte des Subjekts erst einmal abgebrochen wird oder ins Literarische verlagert worden ist.
9. D IE S UBJEKTPROBLEMATIK E XKURS ÜBER DAS S UBJEKT DER E RZÄHLUNG UND DIE T EXTKONSTITUTION Zu fragen ist hier zunächst, welches oder was das Subjekt der Erzählung ist, als welche Corporale zu betrachten wäre. Zu erkennen war hinreichend schon, dass es nicht nur ein Subjekt der Erzählung gibt, sondern die jeweiligen Subjekte, aus deren Wahrnehmungsperspektive erzählt wird. Es gibt auch nicht nur eine Erzählung, aus der der Roman besteht, sondern eine Reihe von Erzählungen, in denen sich die Geschichte spiegelt, die nach Volponi die Zeitgeschichte von den 60er bis zur Mitte der 70er Jahre darstellen soll. In den Erzählungen des Romans spiegelt sich Geschichte in jeweils spezifischer Gestalt: als erzählte Geschichte, unterschieden von der Zeitgeschichte als ihrer Substanz, sowie als Lebensgeschichte des Subjekts, die sich darin dokumentiert. Ob die Erzählökonomie des Textes einen Zusammenhang aufweist zwischen den verschiedenen Erzählungen, zielt auf die Frage, ob ein Gesamttext zu ermitteln ist, der sich aus den drei genannten geschichtlichen Dimensionen ergeben müsste: aus Zeitgeschichte, Lebensgeschichte und der erzählten Geschichte, die Paul Ricœur in ähnlicher Weise in Temps et récit unterschieden hat.46 Die Suche nach diesem Gesamttext – so meinen wir – bleibt den Bemühungen der Interpretation des Textes überlassen, wobei diese auf Techniken und Verfahrensweisen angewiesen ist, die im Begriff der 46 Ricœur unterscheidet historische, psychologische und fiktionale Zeit.
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Textgrammatik zusammenzufassen und unter diese zu subsumieren ist. Es geht dabei um den Begriff des Erzählens von Geschichte in der Literatur. Die Ansätze zu dieser Geschichte ist zurückzuverfolgen bis in die Wende zum 19. Jahrhundert, in der die beiden großen Literaturströmungen des Jahrhunderts – Romantik und Realismus – entstehen und diesen zwei großen Stilen entsprechend eine jeweils verschiedene, Einstellung zur Geschichte als Zeitgeschehen sowie zu den Geschichten, die sie erzählen, dokumentieren. Zu verstehen ist das aus der Verschiedenheit der Sicht auf das historische Geschehen, der Perspektive also, aus der die Schriftsteller die Geschichte dargestellt haben. Die Literaturkritik hat diese Verschiedenheit darauf zurückgeführt, dass die Romantik das Subjekt in die maßgebliche Rolle der erkennenden und wertenden Instanz des Zeitgeschehens rückt, während der Realismus umgekehrt das Zeitgeschehen als vorrangig betrachtet und dem Schriftsteller die Funktion zufällt, als Zeitzeuge das Handlungsgeschehen zu registrieren und zu interpretieren. Die Position der Romantiker, so der amerikanische Kritiker Fredric Jameson,47 sei die von Walter Benjamin in Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik beschriebene, die Position des Realismus die von Georg Lukács maßgebend vertretene.48 Benjamin beschreibe das romantische Subjekt als die bestimmende Figur hinsichtlich der literarischen Darstellung des Geschehens wie hinsichtlich des Verständnisses des Geschichtsablaufs, aufgrund der kritischen und reflexiven Fähigkeiten, die die zeitgenössische Philosophie, speziell Kant, dem aufgeklärten Individuum zugeschrieben hat. Von diesem Sachverhalt ausgehend unternimmt es Jameson, ein kritisches Instrumentarium zu entwickeln, indem er die beiden Hauptströmungen des 19. Jahrhunderts in eine Hermeneutik zu integrieren versucht. Der Ansatz der Romantik, vermittelt über Benjamin, akzentuiert die Merkmale von ›Reflexion‹ und ›Kritik‹, die das Subjekt instand setzen, sich selbst in die Erkenntnis des historischen Geschehens einzubringen und die von Kant ermächtigte Urteilskraft als kritisches Moment der Erkenntnis geltend zu machen, um damit den Lauf der Geschichte zu beeinflussen oder in Frage zu stellen. Dem subjektivistischen Ansatz der Romantik steht in der Nachfolge des Realismus eine ›Inhaltskritik‹ – eine ›critica contenutistica‹ im Sinne Lukács’ – gegenüber, an deren Ansprüchen, von der Gesellschaft auszugehen, nicht zuletzt auch marxistische Kritiker festhalten. Gegensätzlich sind die beiden Strömungen auch hinsichtlich des Begriffs der Totalität der jeweiligen Wirklichkeitskonzeption. Für Lukács ist ›Totalität‹ eine Forderung, die von der Wirklichkeitsdarstellung der literarischen Werke eingelöst werden muss, im Gegensatz zu der subjektzentrierten Ten47 Zur Position von Fredric Jameson verweisen wir auf die lesenswerte Darstellung von Federico Luisetti: »La mitologia del postmoderno di Fredric Jameson«, in Allegoria, Heft 23, 1996, S. 5- 24. Die Untersuchung basiert v.a. auf den zwei folgenden Schriften Jamesons: Marxism and Form. Twentieth Century Dialectical Theoris of Literature. Princeton: U.P. 1971, sowie: The Political Unconscious. Narrative as a Social Symbolic Act, Ithaca- N.Y: Cornell U.P., 1981. 48 Benjamin, Walter: »Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik«, in Gesammelte Schriften Bd. I - 1, Werkausgabe edition suhrkamp, Frankfurt/M 1980, S. 11- 119; und darin insbesondere zweiter Teil, III. Die Idee der Kunst, S. 87ff. – Georg Lukács: Probleme des Realismus, 3 Bände, Werkausgabe Luchterhand Bd. 4- 6 und Die Theorie des Romans. Sammlung Luchterhand SL 36.
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denz, die ›Totalisierung‹ des Ganzen den Techniken des Verfahrens anheim zu stellen. Während die realistische Literatur an einer Gesellschaftskonzeption festhält, die auf den Widersprüchen basiert, die die Werke zur Erscheinung bringen, von der marxistischen Kritik als in der Dialektik der historischen Entwicklung begründet verstanden, begreifen die vom Subjekt ausgehenden Strömungen die Gesellschaft nicht als ein zusammengehöriges Ganzes, sondern als eine beliebige oder ungeordnete Ansammlung von Elementen, denen keine andere Rationalität (im Sinne ihrer Rechtfertigung) zukommt, als die, welche die künstlerische Intuition ihnen gibt – d. h. die im Subjekt als kritischer Instanz des bedrohten Ganzen ihren Ursprung hat. Der Ansatz der Theorie bei Jameson, der wir bisher gefolgt sind, wird in einem späteren Werk des Autors um eine Dimension erweitert, die das ›Begehren‹, die Wunschpotentiale des Individuums (im Sinne der ›Libido‹), als Kriterium in das Instrumentarium der Textinterpretation einbezieht. Der ›Libido‹ als Antriebsmoment im Handeln des Menschen wird von der Literaturkritik eine ›Ontologie des Begehrens‹ zugrunde gelegt, d.h. eines Begehrens, das aus dem ins Unbewusste abgedrängten Reservoir ursprünglicher Wahrnehmungen schöpft. Dieses Reservoir von prägenden Bildern, ist von der Kritik zunehmend verstanden worden als das Reservoir der Bilder, die die ›Mythologie‹ im Sinne der Moderne begründen. Den Ort, aus dem dieses Begehren hervorgeht, bezeichnet Jameson in dieser Phase seiner Theorie als das »political unconscious«, das in der Thematik der Werke bestimmend wird und die Handlungsweisen der Figuren motiviert.49 Die Brauchbarkeit von Jamesons methodischen Ansatzes liegt u.E. darin, dass er in die Kritik, die vom ›Subjekt‹ ausgeht, und die ›Inhaltskritik‹ im Sinne Lukács das ›Begehren‹ einzubeziehen versucht – das Wunschpotential im Sinne von Deleuze/Guattari50 – als eine tragende Struktur der Textinterpretation. Damit wird das Triebpotential der handelnden Figuren als eines der motivierenden Momente der Geschichte anerkannt und in eine Dialektik eingebracht, die durch die Antagonismen in den handelnden Figuren erzeugt wird; eine Dialektik, die preisgegeben wird, wenn die Widersprüche in den menschlichen Verhältnissen und Handlungsweisen nicht mehr als gesellschaftlich verursacht zu erkennen sind und – wie aus der Sicht der Postmoderne – als bloße Antinomien erscheinen, als Widersprüche also, die miteinander koexistieren und bestehen bleiben, ohne aufgelöst zu werden. Jameson versucht dagegen, an einer Dialektik im historischen Geschehen festzuhalten und sie in der Theorie der Erzählung zu verankern, in der die »logica del contenuto« nach Lukács mit dem Erfahrungspotential des Subjekts in Einklang zu bringen wäre. Doch diese Synthese ist in der Literatur des 20. Jahrhunderts immer mehr bedroht. Die Logik des ›contenuto‹, die eingefor49 Nach Luisetti entspräche diese politische Motivierung des Begehrens einer »utopischallegorischen Philosophie des Begehrens«, einer »filosofia utopico- allegorica del desiderio«, ebd., S. 13. 50 »Le désir« und »la machine désirante« sind die Begriffe, mit denen das Wunschpotential des Individuums umschrieben wird. Siehe Gilles Deleuze/Félix Guattari: L’AntiŒdipe. Capitalisme et schizophrénie. Paris : Les Éditions de minuit 1972. Verwiesen sei ferner auf das Werk Lyotards, das das Begehren als Antriebsmoment im psychischen Haushalt behandelt; siehe Jean- François Lyotard: Économie libidinale. Paris: Les Éditions de minuit 1974.
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dert wird als die Respektierung des Faktischen, das in der Erzählung erscheint, wird sicher zurecht geltend gemacht, da im ›contenuto‹ die gesellschaftliche Substanz zum Ausdruck kommt; doch dieser Anspruch wird durch das Wunschpotential des Subjekts in Frage gestellt, das offensichtlich im ›contenuto‹ nicht mehr zu vermitteln ist. Das genau ist das Dilemma, das in der Subjektanalyse bei Volponi in dieser Form wiederkehrt und das in Jamesons Versuch gleichfalls zum Problem wird. Eine Werkanalyse, die marxistischen Kriterien gerecht werden will, kann nicht auf einen Gesellschaftsbegriff verzichten, in dem sich die »Logik der Inhalte« vermittelt; aber auch nicht die Ansprüche des Subjekts ausklammern, die aus der Sozialisation der Individuen erwachsen. Diesen Widerspruch sucht Jameson in einer späteren Veröffentlichung auszuräumen, indem er im Titel schon eine Lösung des Problems vorschlägt, nämlich Utopia After the End of Utopia, was die Offenheit der Geschichte andeutet, auch wenn sie nicht mehr dialektisch zu vermitteln ist. Worauf sich die Konstitution des Textes gründet, ist ein Textbegriff, der linguistisch aus der Theorie hervorgegangen ist, die sich unter der Bezeichnung ›Textgrammatik‹ gegen die traditionelle Grammatik herausgebildet hat. Die Fundamente, die wir dem Textbegriff zugrunde legen; sind u.a. ein Erkenntnisbegriff, der phänomenologisch aus der ›Wahrnehmung‹ hergeleitet wird, und ein Sprachverständnis, das auf die ›Semiotik‹ als die ›Wissenschaft der Zeichen‹ gegründet ist und im wesentlichen auf Prozessen der Wahrnehmung beruht. Von beiden ist eine Wende in der Erkenntnis des Wirklichen ausgegangen, die sich nicht zuletzt auf die Krise zurückführen lässt, die in der Diskrepanz zwischen begrifflicher Erkenntnis und Erfahrung aufgebrochen ist. Dass auf die Zeichen zurückgegriffen wird, um auf die Dinge zu verweisen, ist zweifellos als Reaktion auf diese Krise zu verstehen. Wie sich Verstehen von der Wahrnehmung bis zum Begreifen und zum Begriff vollzieht, kann aus der von Charles Sanders Peirce, dem Begründer der Semiotik, festgelegten und definierten Abfolge von Wahrnehmung, Bild und Bedeutung – als ›Ikon‹, ›Index‹ und ›Symbol‹ –, die wir übernehmen, abgelesen werden. Die semiotische Grundlegung der Erkenntnis in dieser Terminologie ist im Prinzip in der linguistischen wie der psychoanalytischen Semiotik erhalten geblieben. Behauptet hat sich insbesondere Begriff und Verständnis des ›Symbols‹ als eines sozialisierten, in seiner Bedeutung kodifizierten Zeichens, wie in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen und in der semiotisch orientierten Psychoanalyse der Lacan-Schule. Die Semiotik Umberto Ecos, in Entwurf einer Theorie der Zeichen (Trattato di semiotica generale), die er zu einer umfassenden kultur-semiotischen Phänomenologie weiter entwickelt hat, basiert im Kern auf den Prinzipien einer Texttheorie, die dem entspricht, was als Textgrammatik bezeichnet wird. Ähnliche Ansätze in dieser Richtung finden sich, um nur die wichtigsten zu nennen, bei Autoren wie Derrida in Grammatologie, Lyotard in Le différend und Deleuze in La logique du sens, sowie in anderen einschlägigen Beiträgen zur Texttheorie.51 Grundlegend für diese Entwicklung ist zweifellos die Linguistik Ferdinand de Saussures und sein Cours de linguistique générale, in dem das Prin51 Verwiesen sei v.a. auf den Beitrag von D. Wunderlich: »Textlinguistik«, in: Grundzüge der Literatur- und Sprachwissenschaft, Bd. 2: Sprachwissenschaft. München: dtv 1974; und. S. J. Schmitt: Texttheorie. München: Fink Verlag UTB 1973.
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zip, wie Sprache funktioniert, bestimmt und dargestellt wird als Zusammenspiel von ›Auswahl‹ von Bedeutungselementen der Sprache und Kombination der im Satz oder der Satzfolge miteinander verbundenen Wortfolgen. Das auf alle Prozesse der Wort- und Satzbildung auszudehnende Prinzip, von Alberto Gianquinto52 als »coordinazione semantico-sintattica« bezeichnet, ist in der Tat das Fundament der Texttheorie und in allen genannten Ansätzen nachzuweisen. Ecos Theorie geht von einer vergleichbaren Zweiteilung des Zeichensystems aus; und zwar dem Bereich, der das Lexikon der kodierten Zeichen bildet, betitelt Theorie der Codes, und dem Bereich der Theorie der Zeichenerzeugung, der im wesentlichen den Prozessen auf der syntagmatischen Ebene entspricht. Zwischen der Ebene der ›Signifikation‹ im lexikalischen Bereich der Codes und der Zeichenerzeugung im syntagmatischen Bereich besteht eine reziproke, bzw zirkuläre Beziehung in der Art, dass im Prozess der Zeichenerzeugung erst die Bedeutungen geschaffen werden, die im Code der Signifikate dann zur weiteren Kennzeichnung der Zeichen zur Verfügung stehen, d.h. die die codierten Zeichen wieder in den Kreislauf der Zeichenverarbeitung zurückfließen lassen. Das ist der Weg, der auch im Wahrnehmungsprozess das Finden von Bedeutung kennzeichnet und auf die Grammatik zu übertragen ist, d.h. die Suche des Subjekts nach einer Bedeutung, die es erst im Objekt bestätigt findet, die aber auch auf neue Wege der Inserierung in andere Kontexte oder Bedeutungszusammenhänge führen kann. Das Textverständnis ist eingeschränkt auf die zwei oder drei wesentlichen Funktionen der Schrift, nämlich die Funktionen der Kundgabe, der Kommunikation und einer auf das Handeln zielenden Erwartung. Der Text teilt etwas mit, was für einen Adressaten bestimmt ist, von dem eine Antwort oder Reaktion erwartet wird; nach Bachtin besteht darin das dialogische Verhältnis, das im Text selbst schon angelegt ist. Der Text ist in diesem Sinn das Medium, in dem ein kommunikativer Prozess abläuft, der im Prinzip auf eine Veränderung im Handlungsablauf zielt. Text also als Handlungsimpuls in Richtung auf Veränderung. Hier stellt sich die Frage aber, welche Instanz grammatikalisch der Träger des Handelns ist und worauf Handeln zielt, auf welches Objekt und in welcher Intention. Grammatisch fällt diese Funktion dem Subjekt als der auf das Objekt gerichteten Instanz zu; doch erst im Objekt der Satzaussage findet seinen Ausdruck, was im Subjekt virtuell angelegt ist. Zwischen beiden Polen ist situiert, was als das ›verbale‹ Moment des Textganzen bezeichnet werden kann, d.h. die transitive Bewegung vom Subjekt zum Objekt, das dynamische Moment, das das Subjekt motiviert in seiner ›Suche‹ nach dem Gegenstand, in dem es seine ›Vergegenständlichung‹ findet. Es versteht sich von selbst, dass die genannten Strukturen nicht auf den Satz beschränkt bleiben, sondern auf satzübergreifende Textzusammenhänge und ihr Sinnpotential auszudehnen sind, dass also die Funktion von Subjekt, Prädikat und Objekt auf ganze Sätze oder Textsegmente übertragen werden kann. Das Verbindende zwischen Subjekt und Objekt ist grammatikalisch wie in der Erzählung das Moment der Wahrnehmung. Die Wahrnehmung ist ein konstitutives Moment der Textherstellung in dem Sinne, dass sie eine Handlung einleitet mit der Eröffnung, d.h. was aus der Perspektive des Subjekts 52 Gianquinto, Albert: »Che cosa fa essere poesia?« in: Testo e senso, Nr. 2, 1999.
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gesehen wird.53 Die damit eingeleitete Suche des Subjekts in Richtung auf das Objekt seiner Aussage, ist aber ein Vorgang der gegenseitigen Annäherung. Das Subjekt, das sich im Sinne der phänomenologischen Epoché dem Objekt öffnet und darin eindringt, ist dem zu vergleichen, was Sartre als das Moment der ›Interiorisierung‹ der Daten der Außenwelt ins Bewusstsein kennzeichnet, gegenüber der ›Exteriorisierung‹ der verarbeiteten Daten, die das Subjekt in die Erkenntnis der Wirklichkeit reinvestiert,54 was zeigt, wie das Objekt ins Subjekt integriert wird, so dass seine Bedeutung in der Aussage des Subjekts aufgeht. Beide Vorgänge spielen eine bestimmende Rolle bei der Textherstellung, je nachdem das Subjekt oder das Objekt im Verlauf der Textaussage die Information des Redeflusses an sich bindet, d.h. als Thema fungiert, auf das die Aussagen des Textes zu beziehen sind. Wenn das Objekt der Aussage zum dominierenden Gegenstand der Erzählung wird, kann es das Subjekt des Textes aus der Funktion des ›Themas‹ verdrängen und in die des ›Rhemas‹ verweisen, d.h. in die einer bloßen Satzaussage bezüglich eines neuen Subjekts. An den Wahrnehmungsvorgang ist ferner geknüpft, in welcher Art die gegenständliche Wirklichkeit im Bewusstsein des Subjekts gespiegelt wird, wobei Sandro Briosi,55 ausgehend von der kindlichen Wahrnehmung, zwischen einem Sehen unterschieden hat, das den Gegenstand naiv mit dem Bild assoziiert, das sich spontan im eigenen Bewusstsein einstellt – von ihm als protosimbolico bezeichnet – und der Wahrnehmung, die den Gegenstand in der von der Gesellschaft festgelegten Bedeutung erfasst, die in der psychoanalytischen Semiotik, wie schon erwähnt, als die ›symbolische‹ gekennzeichnet worden ist. Die mit der kindlichen Wahrnehmung verbundene Phase der Sprachausbildung ist von Julia Kristeva in Abgrenzung von der gesellschaftlich festgelegten ›symbolischen‹ als die immer noch semiotisch relevante charakterisiert worden, weil sie noch an einem originären und singulären Verständnis des Zeichens und seiner Bedeutung festhält. Als Psychoanalytikerin interessiert sie sich nicht nur für die Erfahrungen des Subjekts, die noch diesseits der Schwelle des Symbolischen liegen, sondern auch für die Bilder, in denen das vom Subjekt ursprünglich Erfahrene sich manifestiert, ohne dass 53 Die hier unterschiedenen Momente der ›Wahrnehmung‹ i.S. des Verweisens auf einen Gegenstand des Verstehens i.S. eines intentionalen Aktes, sowie des Bedeutens sind in modifizierter Weise nicht nur in Ecos Trattato wiederzufinden, sondern in Abwandlung auch bei Gilles Deleuze in Logique du sens, wo bezüglich der ›proposition‹ i. S. der Textaussage folgende Momente unterschieden werden: »Beaucoup d’auteurs s’accordent pour reconnaître trois rapports distincts dans la propositions. Le premier est appelé désignation ou indication: c’est le rapport de la proposition à un état de choses extérieur […]. Un second rapport de la proposition est souvent nommé manifestation. Il s’agit du rapport de la proposition au sujet qui parle et qui s’exprime. La manifestation se présente donc comme l’énoncé des désirs et des croyances qui correspondent à la proposition. […] Nous devons réserver le nom de signification à une troisième dimension de la proposition: il s’agit cette fois du rapport du mot avec des concepts universels ou généraux, et des liaisons syntaxiques avec des implications de concept.« (S. 23/24/25; unsere Kursivierung). 54 Siehe J.- P. Sartre in Critique de la Raison dialectique, Bd. 1: La méthode progressiverégressive, S. 72 ff, insbes. 79- 80. 55 Briosi, Sandro : Il simbolo e il segno. Modena: Mucchi Editore, 1993.
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diesem die Mittel zur Verfügung stehen, die Verbindung des Bildlichen zu seiner Bedeutung herzustellen, d.h. zu Begriffen, die es in einen größeren Zusammenhang einordnen. Das aber sind Schwierigkeiten, die sich sowohl auf die Sprachbehinderung im Psychischen beziehen, wie auf die Einschränkung produktiver Sprachfähigkeit im künstlerischen Bereich.56 Die in der Wahrnehmung dominierende Funktion des Bildlichen erweist sich sprachlich und psychoanalytisch als von zentraler Wichtigkeit. Seine Vermittlung zwischen Wort und Bedeutung fällt noch in den Bereich der vorsprachlichen nicht reflektierten Wahrnehmung, u.a. in den des ›Mythischen‹,57 das im Kindesalter die Wahrnehmung der Welt gestaltet und im wesentlichen bestimmt, was gut oder böse ist, nützlich oder schädlich, freundlich oder feindlich gesinnt; und was schließlich dem Subjekt auch schon Kriterien für das liefert, was zu suchen und was zu meiden ist, d.h. Anhaltspunkte für die Bewegung im Raum, in Richtung auf ein Objekt oder im Gegenteil, um es zu vermeiden. Es ist die Suche nach einer Orientierung, die sich vom Subjekt der Erzählung auf das grammatikalische übertragen lässt, in der ihnen eigenen Bewegung zu einem Objekt, in dem es sich finden oder ausdrücken kann. In beiden äußert sich ein Begehren und ein Triebpotential, die von der Psyche auf die Sprache übergehen, in der sie ihren Ausdruck suchen. Wie bei Freud, wo das ›Ich‹ den Anforderungen von ›Es‹ und ›Über- Ich‹ genügen muss, ist auch das ›Ich‹ des Subjekts bei Volponi einem Konflikt widerstreitender Ansprüche ausgesetzt – zwischen der zivilen ›Person‹ und dem ›Id‹, wie es bei ihm heißt –, Instanzen der Psyche im Streit um territoriale Herrschaft oder Entscheidungsbefugnisse, die allerdings in ihrer Lösung bei beiden Autoren erheblich divergieren. Freud findet eine Lösung des Konflikts im Sinne des Bestehenden: die Unterwerfung des Ich unter die kapitalistische Rationalität (Realitätsprinzip) und die Schaffung von geregelten Freiräumen für die Triebbefriedigung; mit dem von ihm selbst eingestandenen Unbehagen an der Kultur. Volponi dagegen unterscheidet die psychischen Instanzen weniger im Hinblick auf ihre gesellschaftlichen Ansprüche als vielmehr hinsichtlich des Realitätsgrads, den sie repräsentieren, wonach zu unterscheiden wären: das mythische Verständnis von Realität als das von Es oder Id im Sinne des poetischen Bewusstseins das institutionalisierte Bewusstsein der Person oder des Über-Ich die figurative Umdeutung des Realen als die Zukunftsperspektive des selbstbestimmten Ich Was bedeutet das aber hinsichtlich der Erzählung im Werk Volponis und bezüglich des Subjekts, das darin impliziert ist? Das Subjekt ist, wovon wir ausgegangen sind, eine Instanz des Erzählens, keine empirische Person, eine 56 Siehe Julia Kristeva: La Révolution du langage poétique (1974). 57 Siehe Michael Roessner: Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies. Zum mythischen Bewusstsein in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Syndikat/Athenäum 1988; Georges Gusdorf: Mythe et métaphysique. Introduction à la philosophie, Paris: Flammarion 1984; Mythen des 20. Jahrhunderts: Themenschwerpunkt in lendemains, Heft 30, 1983.
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Figur im Erzählvorgang, die eine Person zwar darstellen kann, aber Träger einer Funktion bleibt, die das gesellschaftliche Verhältnis, das das Individuum eingegangen ist, zur Anschauung bringt. Diese Entpersönlichung trägt einer Entwicklung Rechnung, die schon bei Pirandello begonnen hat, wo an die Stelle des handelnden Subjekts die Figur tritt, die nur noch als ›personaggio‹ bezeichnet und behandelt wird, nicht mehr als Held der von ihm erzählten Geschichte.58 Der Trend der Entpersönlichung des Subjekts im Handlungsgeschehen setzt sich verstärkt nach dem zweiten Weltkrieg fort, u.a. im Nouveau Roman, in dem die handelnden Figuren nicht mehr als identifizierbare Individuen in Erscheinung treten, oder sogar als ein und dieselbe Person in verschiedenen Handlungsmomenten auftreten können, so dass die Identität der Figur nur noch zu gründen ist auf Momente des Verdachts, wie bei Nathalie Sarraute in L’ère du soupçon, oder der Vermutung, wie bei Uwe Johnson, was selbst auf die Kennzeichnung durch die Personalpronomen ausgeweitet wird, die die Identität von Personen im Fortgang des Erzählens sonst gewährleistet haben. Die Auflösung oder Eliminierung der personenbezogenen Handlungsperspektiven ist eine der Konsequenzen, die die historischen Avantgarden aus den Lehren der Geschichte gezogen haben, und wozu dann die Einsicht Bachtins beigetragen hat, dass die Interpretation von Ereignissen der Geschichte nicht in die Kompetenz von Einzelpersonen fällt, sondern über Erfahrungen erfolgt, die über kollektive Wertvorstellungen vermittelt werden, über die Vielstimmigkeit (Polyphonie) und Vieldeutigkeit (Polysemie) von Handlungsabläufen wie die Forschungen Bachtins erwiesen haben.59 Damit wird die Funktion eines allwissenden Erzählers oder einer »lebenserfahrenen Person« natürlich überflüssig; sie wird inaktuell, will die Literatur sich neuen Verschriftungsverfahren öffnen, die mit der Linguistik Saussures, der Zeichentheorie und der Semiotik neue Methoden der Entschlüsselung der zeitgenössischen Wirklichkeit entwickelt haben. Für die historischen Avantgarden60 geht es um die Revolutionierung der Sprache im Hinblick auf die neu zu erwerbende Fähigkeit, die Erfahrungen der Menschen – auch als nationale Kollektive – nach den Katastrophen der beiden Weltkriege angemessen wiederzugeben oder überhaupt erst zu versprachlichen. Die bürgerliche Literatur konnte keine Erzähler mehr aufweisen, die in ihrer persönlichen Biographie die Erfahrungen des Kollektivs als ihre eigene Wahrheit hätten bezeugen können. In den Erzählungen Volponis aber geht es gerade um die »Verschriftung« dieser Erfahrung, die das Subjekt seiner Werke in verschiedenen Ge58 Siehe Romano Luperini in L’allegoria del moderno, Kap.10: Allegorismo versus simbolismo: Pirandello e d’Annunzio novellieri. Roma: Editori Riuniti 1990, insbes. S. 225. 59 Bachtin, Michail M.: Die Ästhetik des Wortes, hg. von Rainer Grübel. Frankf./M: Suhrkamp Verlag 1979; Zima, Peter V. (Hg.): Kristeva, Eco, Bachtin u.a. Textsemiotik als Ideologiekritik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag , 1977; Segre, Cesare: Intrecci di voci. La polifonia nella letteratura del Novecento, Turin: Einaudi 1991. 60 Asholt, Wolfgang/Fähnders, Walter: Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909- 1938), Stuttgart/Weimar: Metzler Verlag 1995; Sanguineti, Edoardo: Ideologia e linguaggio. Mailand: Feltrinelli 1956/2001, darin die Artikel Sopra l’avanguardia; Avanguardia, società, impegno; Il trattamento del materiale verbale nei testi della nuova avanguardia; Le linee della ricerca avanguardistica.
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stalten und in unterschiedlichen Phasen der italienischen Geschichte vermitteln und vor Augen führen soll. Die Selbsterforschung des Subjekts
Den Lebensverlauf des Subjekts, den wir in der Biographie Gerolamo Aspris verfolgen, haben wir bis zu dem Zeitpunkt begleitet, wo sich dieser aus der Politik zurückzieht und mit Imelde in oder um Urbino einen Zufluchtsort sucht vor Bedrohungen, die zunehmend wieder mit den Gefahren eines atomaren Konflikts in Verbindung gebracht werden. Auf der Ebene der Wirklichkeitserkenntnis, mit der die Selbsterforschung des Subjekts parallel verläuft, rührt diese Verunsicherung aus einem Gefühl von Wirklichkeitsverlust oder – wie es heißt – aus der Empfindung, dass […] die Wirklichkeit im Begriff ist zu zersplittern, auseinanderzubrechen, um zu sterben. Um zu mutieren. [310]
In Begleitung seines Freundes Corboli ist Aspri im Auto auf der Suche nach einem geeigneten Gelände für das Refugium. Auf dieser Erkundungsfahrt [301-310] gleitet sein Blick – wie der einer Kamera – über das Umfeld der Stadt in einer zirkulären Bewegung, die Landschaft rings um Urbino, ihre geographische und geologische Beschaffenheit, über die Stadt und ihre Bewohner, entstanden und bestehend aus lauter widersprüchlichen Daten, die bruchstückhaft sich zu dem zusammenfügen, was Corboli ironisch als die Summe einer »società totalizzante« bezeichnet [307].61 Diese Feststellung bezieht sich aber nicht nur auf die in Frage gestellte Wirklichkeit, sondern enthält auch schon die Anspielung auf eine andere, veränderte Wirklichkeitserkenntnis, die in dieser Vision intendiert ist und die Suche nach einem Zufluchtsort mit bezeichnet, nämlich das Projekt der Erneuerung der Sprache als Mittel und Instrument gesellschaftlicher Verständigung. In einem Interview mit Filippo Bettini hat das Volponi in aller Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht. U.a. äußert er, dass er schon in der zweiten Hälfte der 60er Jahre mit den Schriftstellern übereingestimmt habe, die vom Bruch mit der herkömmlichen Literatur die Erneuerung der Sprache selbst erwartet haben, angesichts einer Umgangssprache, die zunehmend härter und in sich verschlossener keinen Raum mehr lasse für Erfahrungen, die über sie hinaus gingen: Dem Schriftsteller bot sich damals die Möglichkeit, mit den herrschen Verhältnissen zu brechen, indem er sich einer Sprache bediente ohne Normen, und das heißt eines Ensembles von Zeichen, die nicht schon von vornherein identifizierbar und abgestempelt waren. Im Gegenteil gegen die Prägung des Gebrauchs, der Gewöhnung, der Bürokratie […] Der Schriftsteller konnte die härtesten Schläge austeilen und so, über die Veränderung der Sprache, eine Veränderung auch in den Beziehungen des öffentlichen Lebens, der sozialwissenschaftlichen Forschung, in den Lebens- und Arbeitsbedingungen herbeiführen. Auch das war der Sinn des Vorhabens.62
61 Diese von Gegensätzen gekennzeichnete Charakterisierung von Urbino und seiner Umgebung ist in vielen Äußerungen Volponis anzutreffen, insbesondere in Cantonate di Urbino und im Roman, der Urbino zum Schauplatz hat, nämlich Il sipario ducale. 62 In l’Unità 2, S. 3, 19. Oktober 1994.
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Aspri hat bei seiner ersten Inspektion von Ca l’ala das Gefühl, am Ort neuer Erkenntnisse angelangt zu sein. Doch das Projekt der Veränderung der Sprache wird von ihm in erster Linie noch verstanden als die Selbsterforschung des Subjekts, das sich zurückzieht, um seine gesellschaftliche Marginalisierung zu analysieren. Diese Motivation in der Biographie des Subjekts ist der primäre Aspekt der Thematik des Refugiums. Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem das Subjekt in seiner Selbsterforschung die Loslösung von der Zivilgesellschaft – im nach wie vor existierenden Kapitalismus – damit bezahlt, dass sein ›Ich‹ – im Wortsinn der Psychoanalyse – orientierungslos geworden ist, schwebend in einem Vakuum, das wir als ›leeres‹ Bewusstsein begriffen haben, dem ›Fluss‹ der Veränderungen ausgesetzt, im Sinne der Libido der Psychoanalyse wie der Wunschökonomie bei Deleuze und Guattari.63 Dass Volponi selbst dieses orientierungslos gewordene Individuum so sieht, kann wieder dem zitierten Interview mit Bettini entnommen werden, wo er eine Figur beschreibt, die der Aspris aufs Haar gleicht und wo die Gefährdung durch die Atombombe auf die zerrütteten zivilgesellschaftlichen Verhältnisse anspielt: Und dann habe ich die Geschichte eines neurotischen Individuums erfunden, das die fast animalische Idee hat, sich zu retten, indem es einen Ort sucht, wo es sich verkriechen und die Explosion überleben kann, selbst wenn es dabei einen Teil seiner Identität verlieren müsste. Dann aber, als der Roman fortschritt, hat er sich verändert. Und immer mehr haben an Interesse gewonnen die Momente des Chaos, der Auflösung, der gesellschaftlichen und individuellen Verwirrung, die in jenen Jahren sich einzustellen begannen und in kurzer Zeit sich ausbreiten sollten.64
In Aspri, der Romanfigur, zielt der Überlebenswille dieses Individuums im Grunde immer auf eine Gelegenheit, sein Über-Ich in Gestalt Overaths umzubringen. Das gelingt zwar nicht definitiv; sein Überleben aber verdankt das ›Ich‹ der Stärke seines ›Id‹ und den Energien, die ihm aus dem Bereich der Wunschökonomie zufließen. Es ist diese Wunschenergie, die letztlich nach allem Scheitern die Suche nach einem »Lebensraum« wach hält, in dem das Individuum überleben kann; und diesen Lebensraum beschreibt die Variante der Thematik des Refugiums als die Sprache, die erst zu finden ist. Aspri begibt sich wieder auf das Gelände von Ca l’ala, um dort seine Erkundungen fortzusetzen.65 Die Beschreibung der Lage und Beschaffenheit des Terrains bezieht sich aber, wie jetzt zu verfolgen ist, nicht mehr nur auf den Ausbau des Refugiums sondern parallel auch auf die Fundamente der neuen Sprache, die aus der Materie und den geologischen Befunden der zur 63 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Capitalisme et schizophrénie. L’Anti- Œdipe. Paris: Les Éditions de Minuit 1972; insbes. Kapitel 1: Les machines désirantes. 64 In Übereinstimmung mit Deleuze/Guattari und ihrer Theorie des »Fliessens« der Libido- Ströme findet sich bei Zygmunt Baumann die Übertragung dieses Fliessens auf die gesellschaftlichen Verhältnisse schlechthin. Siehe Zygmunt Baumann: Modus vivendi. Inferno e utopia del mondo liquido, Rom/Bari: Editori Laterza 2007, insbes. Introduzione, V- VI. 65 Zugrunde liegt dieser Szene die topographische Beschreibung von Ca l’ala von S. 349 bis 353.
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Landschaft geformten Natur zu gewinnen sind. Die Lagebeschreibung, die Aspri vornimmt, betrifft in erster Linie das Ausmessen des Geländes im Hinblick auf die Erzeugung oder Begrenzung eines Raums, in dem sich die Phänomene – inklusive die der Sprache – lokalisieren lassen, im Sinne auch der ›Gemeinplätze‹ der alten Rhetorik. Im wesentlichen geht es um die Raummaße – ›Höhe, Tiefe, Entfernung‹ – im Verhältnis zu der Materie der Elemente, aus der sich die elementare Bedeutung der Dinge herleitet, die Beschaffenheit der Erde, der Minerale, des Wassers sowie der Ressourcen und Energiequellen der Natur Die Beschreibungen der topographischen Verhältnisse in Ca l’ala lassen an bestimmten Stellen schon erkennen, dass sie auch auf die sprachlichen Verhältnisse übertragen werden können. Oft sind die Begriffe oder das Vokabular, das benutzt wird, erst zu entschlüsseln und zu interpretieren, so z.B. wenn der Abstand oder die Distanz in »Schritten« gemessen wird, was einen Raumbegriff voraussetzt, in dem diese Maße gültig sind, und was sich als eine normative Bestimmung verstehen lässt hinsichtlich der grammatischen Beziehungen im Text: Die Schritte zu zählen [von einer Wortbedeutung zur anderen] hielt meine Erregung wach. Ich sagte die Nummern auf in einem Ton, den ich von anderen Malen wieder erkannte […]. Ein Element jener anderen Situationen, das mir gerade wieder einfiel, versuchte ich nicht gleich wieder zu erkennen, und es fiel mir nicht schwer, es als geheimnisvoll zu belassen, denn ich merkte, dass es verständlich werden würde an einem bestimmten Klang meiner Stimme, wenn ich eine Zahl, ein Wort oder einen Satz ausgesprochen hätte, die in ihrem Zusammenhang die Funktion eines Schlüssels gehabt hätten oder wenn ich auf dem Gang durch die Landschaft zu einem Punkt gelangt wäre oder auf eine Strecke gestoßen wäre, die wie von allein sich einer anderen vorausgehenden und bekannteren eingefügt hätte. [350]
Vermutlich ist der Gegenstand dieser Beschreibung der Wahrnehmungsablauf, der beim Durchschreiten des Geländes registriert wird und in Momente der Verschriftung übertragen werden soll. Der Blick folgt einer Linie, auf der ein Text sich abbildet, dessen Elemente zwar nicht alle sofort erkennbar werden, aber im Gedächtnis gespeichert sind, aus dem sie wieder aktiviert werden können, wenn sie auf eine Konstellation treffen, die sie entschlüsselt, bzw. in die sie ohne Schwierigkeit sich einfügen lassen. So wäre der Erkundungsvorgang zu verstehen, den Aspri auf dem Gelände von Ca l’ala in Angriff nimmt und der mit seiner Resozialisierung verbunden bleibt, aber ihm auch die gesellschaftliche Anerkennung einbringen wird durch die Erfindung einer neuen Sprache. Die Tragweite dieses Vorhabens wäre zu messen an ihrer kollektiven, gesellschaftlichen Bedeutung: Ich bin nicht hier in einer individuellen Operation, auch wenn ich deshalb hergekommen bin und allein bleiben werde. Ich bin hier wegen eines Experiments von polarer Bedeutung. [351]
Zugrunde liegt diesem Experiment die Neuinterpretation der Natur und ihrer Substanz als organische und anorganische Materie. Was aber besagt das bezogen auf das Schriftverständnis? In unserem Zusammenhang und aus unserer Sicht zunächst zweierlei: dass die Materie, um zu erscheinen, im Raum 209
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Platz beansprucht, also einen Ort hat, den sie ausfüllt und in dem sie situiert ist; und dass sie – aufgrund ihrer Beschaffenheit aus Kernelementen – von sich aus in Bewegung ist, und sie daher definiert werden kann als Bewegung im Raum. Dieselbe Bestimmung kann aber auch geltend gemacht werden für das Verständnis der Sprache und folglich für eine materialistische Begründung der Schrift, die – wie Volponi das versucht – sich an der Materialität der Natur orientiert.
10. R ESOZIALISIERUNG
UND
V ERÄNDERUNG
DER
S PRACHE
Das Projekt der Erneuerung der Sprache, gründend im Wesentlichen auf der Prospektion von Ca l’ala als seiner Fundstätte, wird im Folgenden auf der Grundlage der Textstellen beschrieben, die primär die sprachliche Gestalt des Textes betreffen. In Erinnerung zu rufen wäre, dass die Geschichte der Exploration des Territoriums im Zusammenhang zu sehen ist mit der Selbsterforschung des Subjekts und seiner Resozialisierung im Hinblick auf einen veränderten Modus des menschlichen Zusammenlebens. Im Hinblick auf diese gesellschaftliche Zielsetzung widmet sich das Unternehmen von Ca l’ala einer Aufgabe, die die Wiederherstellung des gesellschaftlichen Zusammenhalts auf zwei Ebenen verfolgt: auf der eines zu erschließenden Lebensraums als Boden einer neuen Vergesellschaftung und auf der der sprachlichen Veränderung als Grundlage dieser Erneuerung. Der Ansatz zu diesem Unternehmen besteht zunächst darin, eine neue Dimension des Räumlichen zu gewinnen, sowohl bezüglich geschlossener Räume wie Haus oder Garten, als der Daten des vergesellschafteten Lebens, wie der offener Räume, die wie Städte oder Landschaften architektonische oder geophysikalische Daten übermitteln. Erstrebt wird, den Raum aus der Präsenz des Menschen zu begreifen oder das menschliche Bewusstsein im Räumlichen auszuweiten und damit auch in die räumlichen Tiefen einzudringen, die der Wahrnehmung durch das Auge verwehrt sind und nur über Bilder, d.h. die Imagination vermittelt werden können. Das bedeutet, der Wahrnehmung die Räume des Imaginären zu öffnen, in denen die neue Anordnung der Dinge – anstelle der alten zerfallenden Wirklichkeit [310/56] – zur Darstellung gelangen kann. Auf die Verschiedenheit dieser Wahrnehmungen macht Overath aufmerksam, als er kritisch gegenüber dem Imaginären einwendet, dass oft diese Phänomene optisch und nicht spirituell sind oder auch zurückzuführen auf eine gewisse mentale Müdigkeit, weshalb der Geist die Bilder nicht in gewohnter Weise miteinander verbinden und anordnen kann […]; [99]
Doch zugunsten der imaginären Räume macht Aspri geltend, dass gerade die architektonische Durchdringung der Raumverhältnisse sich in einem imaginären Raum vollzieht, der noch offen ist für die Gestaltung der wirklichen Verhältnisse. So entgegnet er den Einwänden Overaths: Ist es dir noch nie passiert, dass du die Dinge um dich […] gesehen hast, als seien sie an die Dimension des Wirklichen und der natürlichen Beziehungen nicht mehr gebunden […]? Durcheinander, ohne Zusammenhang. Und dass du an-
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Der Roman der Wende fängst zu denken, dass etwas Größeres dich ergreift […] und dass dir alles in einer anderen Ordnung erscheint, auch mental […]? [99]
Die Situierung des Realen im Bildraum des Imaginären würde Bachelards Analyse der bildlichen Wahrnehmung entsprechen,66 sie ist aber auch als Moment der Verbildlichung des Gegenstands im Prozess der Erkenntnis die Brücke zur Signifikation des Realen. Die plötzliche Verfremdung der Realität, die im obigen Zitat beschrieben wird, rührt offensichtlich daher, dass die gegebenen Verhältnisse in eine andere Ordnung der Wahrnehmung übergehen, verursacht durch andere Dispositionen im Raum. Die Abmessungen, die im Umbau von Ca l’ala vorgenommen werden, nehmen immer wieder Bezug auf die Weisen der Wahrnehmung, die Aspri in einem bestimmten Moment seiner Reflexion mit den Problemen der Perspektive verbindet. Die Landschaft aus der Sicht von Ca l’ala erscheint als die Ebene, auf der sich die Dinge in ihrer räumlichen Gestalt dem Blick darbieten, in einer Ordnung, die ›geometrischen‹ Prinzipien folgt und nicht, wie es wenig später heißt, dem perspektivischen Blick des menschlichen Auges, das alle Erscheinungen wie im Panorama gleichzeitig erfassen will: Die Landschaft war zerbrochen und vermischt mit den Windungen des hügligen Hintergrunds, beherrscht von Streifen von Grün und Tonmassen, und dennoch war es immer möglich, den Höhenverlauf einer Geometrie, eines abschließenden Trapezes wieder zu erkennen. […] es lohnte sich, querfeldein zu gehen, in Richtung auf die Erweiterung des begrifflichen Schemas […]. [329]
Nur auf der Straße, die die Landschaft geradlinig durchschneidet, verläuft die Wahrnehmung in den Bahnen, die als »CONVENZIONALE quanto ASSURDA« [ebenso konventionell wie absurd] charakterisiert werden, als »Übergang von einem Baum zum anderen«, womit eine Wirklichkeit bezeichnet wird, die als Wahrheit gilt, weil sie alle für wahr halten [329]. Die Landschaft aber, die sich dem Blick des Geometers oder Geophysikers darbietet, ist, wie oben beschrieben, eine ganz anders gestaltete, die einem Raum entspricht, der andere Entwicklungen des Lebens in sich birgt, und aus dem andere gesellschaftliche Verhältnisse hervorgehen können. Und in diesen Raumdimensionen verliert das vorherrschende Interesse des Individuums der bürgerlichen Kultur und Gesellschaft an Bedeutung gegenüber den Anforderungen des Ganzen. In einem Gespräch mit dem schon genannten Corboli erwähnt Aspri die von ihm imaginierte Figur eines Bauern, dessen Existenz er in einem Roman beschreiben will als die Spiegelung eines Lebensverlaufs auf dem Boden der Verhältnisse, in denen sich dieser situiert. Ich möchte einen Roman schreiben. Die Wahrheit über einen Bauern dieses Italiens des Zentrums, eigentlich eher als über einen Menschen als Protagonisten über das Terrain, über seine Widrigkeiten, über seine Schicksale, von größerer Tragweite, wie mir scheint, als die von zehn Jahren des Lebens eines Bauern. Mit allen historisch- ökonomischen Auswirkungen bezüglich der Institutionen, der Familien, kurz der ländlichen Gesellschaft. [303]
66 Bachelard, Gaston La poétique de l’espace. Paris: 1957.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Ausgeschlossen ist nicht, dass Volponi mit dieser Bemerkung auf den frühen Roman La macchina mondiale anspielt, wo er den Lebensverlauf von etwa zehn Jahre seines Helden Anteon mit seinem unglücklichen Ausgang geschildert hat. Hier geht es aber nicht mehr um das Individuum, sondern um die Geschichte der menschlichen Ansiedlung auf dem Boden der Natur. Wie aus dem Zitat hervorgeht, überwiegt das Interesse an der Geschichte der räumlichen – geophysikalischen – Verhältnisse, in denen sich das Leben der Menschen abgespielt hat, das singuläre Dasein, das von diesen bedingt ist. Das Verständnis dieses Raums ist wieder parallel zum Verständnis der Verschriftung zu sehen, wie das der Beschreibung zu entnehmen istin der der Blick auf die Mauern Urbinos transformiert wird in die Entzifferung einer Schrift auf der Grundlage eines spezifischen Alphabets: Auch die Steine hier scheinen Buchstaben eines Alphabets, die im Moment eingefroren sind, und die Backsteine die notwendigen Querverbindungen, die wieder zu sprechen beginnen, wenn sie ein Licht belebt, das von anderen Planeten kommt oder von einem Punkt aus dem Inneren der Erde. [301]
Die Identifizierung dieser Beschreibung mit dem Projekt der Erneuerung der Sprache bekräftigt schließlich die mit Pathos vorgetragene Bemerkung Gerolamos über die Wahl des Ortes und die Erneuerung der Erkenntnis: bezüglich dieses einzigartigen Orts, den ich erstmalig sehe, und den ich als das natürliche Fundament meiner Poesie betrachte […]. [329]
Doch wir verlassen den Ort jetzt, an dem Aspri die Erleuchtung zuteil wurde, dass die Zeichen der Landschaft und der Architektur eine Sprache konstituieren, die in die menschliche übersetzt werden kann oder auch zu integrieren ist. Nach seinem Sturz in Ca l’ala, wo er sich ernsthafte Verletzungen zugezogen hat, wird er zur Behandlung in das Hospital von Urbino gebracht. Mit dem Ortswechsel – von der »casa« zum »ospedale« –, in dem mit der Preisgabe der Innerlichkeit der Person auch die Suche des Subjekts in eine Raumdimension verlagert wird, die den privaten Charakter verloren hat und offen ist für den Durchgang vieler Personen, macht Gerolamo auch die Erfahrung, die für sein Erneuerungsprojekt der Sprache eine neue Phase einleitet. Die Einlieferung ins Krankenhaus und die Wahrnehmung der Umgebung aus der Perspektive der Abhängigkeit erweckt zunächst wieder das Bedürfnis, sich der räumlichen Verhältnisse zu vergewissern, in die Gerolamo überführt worden ist, und in topographischer Hinsicht werden wiederholt Parallelen zu den Raumverhältnissen in Ca l’ala aufgezeigt. Sprachlich ist unübersehbar, dass in ihrer absoluten Dominanz die Beschreibung von Raumstrukturen nicht allein auf die Lokalitäten zu beziehen sind, sondern offensichtlich vor allem der Beschreibung sprachlicher Strukturen dienen, der Verbildlichung von Schrift in ihrem linearen Verlauf oder in Gestalt anderer geometrischer Figuren. Der Blick aus dem Fenster im Zimmer Gerolamos auf den Garten des benachbarten Frauenklosters begleitet den Leser über mehrere Seiten.67 Den Innenraum des Krankenzimmers überhöht mit dem Blick zur Decke eine imaginäre Fläche, die als »piscina« bezeichnet wird, also in Umkehrung der 67 Ab S. 467: »Er betrachtete die Mauer rings um Santa Caterina […].«
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Der Roman der Wende
Raumverhältnisse eine Wasserfläche im Deckenbereich, die den Innenraum mit Landschaftselementen füllt. Während Ca l’ala, der Ort der Innerlichkeit, die Einsamkeit des Zufluchtsuchenden spiegelte, ist das ›Ospedale‹ der Ort oder der Raum, der mit anderen zu teilen ist. An diesem Ort vollzieht sich der Tagesablauf mit den elementaren Dingen des Lebens: Essen, Trinken, Schlafen, was ausgiebig geschildert wird. Eine Entdeckung Gerolamos bezüglich des Umbaus von Ca l’ala scheint aber die bisher geleistete Arbeit in Frage zu stellen. Es ist die Vermutung, dass der Boden, auf dem Ca l’ala errichtet worden ist, selbst nichts Ursprüngliches oder Gegebenes ist, sondern vermutlich immensen Transformationen unterworfen worden war. Bezogen auf die Sprache besagt das, dass ihre Erneuerung nicht von einem gegebenen Zustand ausgehen kann, sondern vorangehenden Veränderungen Rechnung tragen muss, und dass dasselbe auf die Materie zutrifft, die in diese Evolution einzubeziehen ist. Die Ernüchterung hinsichtlich des Projekts wirft Gerolamo zurück auf grundsätzliche Überlegungen, die sich in erster Linie darauf beziehen, welche Funktionen den Kategorien von Raum und Zeit für das Projekt der Versprachlichung einzuräumen sei. Um diesen Fragen nachzugehen, greifen wir zurück auf Erkenntnisse der Textgrammatik, auf die die Prinzipien der Spracherneuerung zu gründen sind. Zu nennen wären hier die Öffnung des Raums der Schrift hinsichtlich der Aussage in alle Richtungen, die von den geometrischen Figuren vorgegeben werden; dementsprechend die Freisetzung der Rede auf der Ebene der ›Signifikanten‹ hinsichtlich der noch zu findenden Bedeutungen, und schließlich die Subjekt-Objekt-Beziehung, die im Sinne der Phänomenologie das Eindringen des Bewusstseins in das Innere des Objekts ermöglicht, womit sich weitgehend die Selbsterforschung des Subjekts beim Aufenthalt im ›ospedale‹ beschäftigen wird. Wird bezüglich des Raums der Radius der sprachlichen Darstellung durch die Einbeziehung des Imaginären beträchtlich erweitert, so werden hinsichtlich der Zeit neue Maßstäbe gesetzt hinsichtlich der Integration von Zeitverläufen in den Ablauf der erzählten Geschichte. Während die alte Literatur Geschichte raum-zeitlich als einen Verlauf entlang einer »Straße« begriffen hat, verläuft für die veränderte Geschichtsauffassung der Weg, wie schon erwähnt, »über die Felder, über die Erweiterung des Begriffsumfangs« [329]. Der Weg über die unbegrenzten Felder zielt darauf, das Begriffsschema des Wirklichen auszudehnen auf die Daten, die über die Querverbindungen im Satzverlauf in den Kontext aufgenommen werden. Worin das besteht, hat schon das Gedicht La costa incerta der Sammlung Foglia mortale angedeutet, dass nämlich das Subjekt sich frei im Raum der Landschaft bewegt und nicht auf die Straße beschränkt bleibt. Während die »Straße« in den Raum der Gesellschaft mündet, die von einem atomaren Konflikt bedroht ist, ist die »Landschaft«, der Raum, der noch nicht die Merkmale der kapitalistischen Zerstörung aufweist; sie ist ein virtueller Raum, der noch als Landschaft Natur ist, in den aber die bebauten Elemente den geologischen Bedingungen des Raums entsprechend gestaltet und integriert sind. Eine avantgardistische Note prägt diese Charakterisierung des Raums, die an die kubistische Raumgestaltung erinnert, in der sich die Dinge dem Blick von verschiedenen Seiten darbieten, in der Erwartung, dass sie der Betrachter selbst zu einem Ganzen zusammensetzt Eine Erweiterung der Wahrnehmung erfolgt 213
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gleichzeitig durch die Bilder, die den Begriffen neue Bedeutungen hinzufügen,68 sowie durch die Akkumulation des Signifikanten, die den Umfang des Bedeutenden zum Teil ins Grenzenlose erweitert – was in Volponis Schreibweise ein vorherrschendes Verfahren ist – damit aber zugleich die Festlegung auf eine Bedeutung erheblich erschwert. Die Grundlagen der Erneuerung der Sprache liegen aber in einem Bereich, der über die literarische Fundierung des Sprachlichen hinausgeht und in den Naturwissenschaften zu suchen ist, wenn es darum geht, den Begriff der Materie zu definieren auf der Grundlage der Erkenntnissen von Kernphysik, Geologie und Geometrie. Zu erkennen war das schon in La macchina mondiale und darauf zurückkommen wird Volponi erneut in Il pianeta irritabile. Uns interessiert hier in erster Linie die Bedeutung der Begriffe, die Volponi aus diesen Bereichen in seine Argumentation übernimmt, in Verbindung vor allem mit der Landschaft, wie der folgende Textausschnitt zeigt, den wir schon einmal zitiert haben: Die Landschaft war zerbrochen und vermischt jetzt in den Umkreis der Hügel im Hintergrund beherrscht von Streifen von Grün und von Lehm; aber immer noch war es möglich, die Scheitelpunkte einer Geometrie, eines abschließenden Trapezes zu erkennen. Die Poesie begleitete mich: es lohnte sich, querfeldein zu gehen, in Richtung auf die Erweiterung des begrifflichen Schemas […]. [329]
In dieser Passage wird die Landschaft aus dem Blickfeld des Geometer als Natur gesehen, die in Bewegung ist und erst im Verlauf geophysikalischer Transformationen zu der Gestalt gelangt ist, in der sie sich heute zeigt. Die ›Materie‹, die diesem Prozess zugrunde liegt und in der er sich abspielt, ist also das Sich-Bewegende, die Dynamik und die Energie, von der sich alle Bewegung im Raum herleitet, und sie ist das Moment oder Prinzip, das Volponi aus der Physik in den Bereich der Sprache zu übertragen bestrebt ist. Die ›Natur‹ ist die Manifestation der Triebenergie im Anorganischen, in der Vegetation und im Animalischen und dieser Triebenergie als Prinzip der Natur setzt Volponi als komplementäres Prinzip die Rationalität entgegen, nicht im Sinne einer Rationalität der Zwecke, sondern als das Daseinsrecht aller Lebewesen im Hinblick auf die Koexistenz im universalen Lebenszusammenhang. In welcher Beziehung aber steht dieser Materiebegriff zur vergesellschafteten menschlichen Existenz oder anders gesagt, zur Psyche, dem psychischen Apparat, wie Freud die menschlichen Fähigkeiten der Wahrnehmung zusammengefasst hat, sowie zu den Begriffen von Raum und Zeit, in der die Existenz situiert ist. Dem Psychischen obliegt, was die Umwandlung von Bewegungsenergie in Handlung betrifft, die Orientierung des wahrnehmenden Subjekts auf das Objekt seiner Wahrnehmung, auf das es sein Begehren richtet. Zu übertragen wäre dieser Vorgang auf das Subjekt des Satzes, das eine transitive Bewegung in Richtung auf das Objekt vollzieht. Die Bewegungsenergie des Subjekts teilt sich dem Wortmaterial mit, in welchem es die Verbindung mit anderen Textsegmenten sucht, nicht nur benachbarten, sondern auch entfernteren, auf die sich die Bewegung orientiert und was eine 68 Diese Sinnerweiterung durch die Bilder wird von Paul Ricœur der »métaphore vive« als Funktion zugeschrieben.
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Der Roman der Wende
Struktur erzeugt, die nicht auf der Ebene der Wortbedeutungen zu lesen ist, d.h. des schon gedeuteten Wortmaterials, sondern auf der des ›signifiant‹, des noch nicht gedeuteten Signifikanten. In dem hier skizzierten Verlauf spiegelt sich das, was wir als die Übertragung der Handlungsdynamik auf die sprachlichen Verhältnisse in der Textkonstitution betrachten und was zu ergänzen wäre bezüglich der Kategorien von Raum und Zeit. Ausgehend von der oben getroffenen Feststellung, dass die Materie ihrer Erscheinung nach nichts anderes ist als die »Bewegung im Raum« und, wie hinzuzufügen wäre, »in der Zeit«, ist es die Bewegung der Materie, die den Raum in der Zeit zu ihrer Erscheinung braucht, d.h. aber auch, ihn hervorbringt, und dass umgekehrt der Zeitverlauf auch erst die Bewegungen im Raum erkennbar werden lässt, d.h. die Zeit als eine Funktion der Bewegung erweist. Den ins Imaginäre erweiterten Raum muss der Erzähler erschaffen, wenn er den Lebensraum zeigen will, in dem die unentfremdete Existenz des Subjekts überhaupt möglich sein soll, d.h. was durch den Blick des Subjekts in den Texten Volponis immer wieder suggeriert wird, um es zu veranschaulichen. Wir kehren zur Situation zurück, in der nach Gerolamos Einlieferung ins ›ospedale‹ die zweite Phase der Selbsterforschung das Subjekt mit der Existenz der anderen konfrontiert. Seine vorangehende Erfahrung kommentiert Gerolamo dahingehend, dass Ca l’ala kein Zufluchtsort war und nichts hinterlassen hat als eine »törichte Wunde« [472]. Den neuen Ort dagegen empfindet er als einen Lebensraum, der »Sicherheit« [sicurezza] vermittelt. Die veränderte Raumdimension wird eingangs vom Bett aus beschrieben, von dem Gerolamo den Raum betrachtet [472]: Die beschriebenen Gegenstände fügen sich unter seinem Blick einem Ordnungsschema ein, das sie in eine andere Raumdimension versetzt. In diesem imaginären Raum werden die Linien sichtbar, die die Flächen begrenzen oder die durch andere überlagert werden; der Blick setzt schließlich die Dinge in Bewegung, um Innen- und Außenräume unterscheiden und sie entsprechend messen zu können. In der veränderten Wahrnehmung wird auch der Zeit eine neue Funktion zugeschrieben bezüglich der Inserierung der drei Zeitdimensionen in den narrativen Kontext: der Lebenszeit des Individuums, der historischen Zeit, in die diese fällt, und der Zeit der kosmischen Evolution, von der die Entwicklung aller Lebensprozesse abhängig ist. In den Zeitverlauf der letzteren fällt die Evolution der Materie, die auch zu verstehen wäre als die Zeit, die vergangen ist, ehe die Materie zu Dingen wurde, zu Gegenständen der Erkenntnis, womit sie übergeht in den Modus der historischen Zeit. Dieser Übergang ist sprachlich zu verstehen als die Zeitlichkeit der Begriffe und des Begreifens der Menschen im Verlauf der Kultur und sie ist schließlich zu identifizieren mit der Dimension der Herstellung des Textes. In Termini der Textgrammatik besagt das die Inserierung von Zeit in die Wahrnehmung, d.h. in den Prozess des Übergangs von der Wahrnehmung zum Verstehen/Begreifen der wahrgenommenen Gegenstände. Dass der Bau von Ca l’ala als Refugium gescheitert ist, lässt Gerolamo wieder in die Zeit der individuellen Existenz zurückfallen und damit in eine Einsamkeit, aus der ihn nur das Projekt der Erneuerung der Sprache wieder herausführen kann. Aus dieser sollte der kommenden Zeit eine veränderte Weltsicht erwachsen, die Volponi in einer überraschenden Wendung auf eine Literatur zu gründen gedenkt, die das Neue verbreitet – »ein großes didakti215
Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
sches Gedicht« – das er, wie die Ähnlichkeit suggeriert, dem großen Lehrgedicht des Lukrez’ De rerum natura an die Seite zu stellen beabsichtigt: Immer ausgehend von der Idee, dass das Refugium notwendig und wahr sei […] wie in einem großen didaktischen Gedicht. [472]
Die Zeit einer historischen Wende in den gesellschaftlichen Verhältnissen wird mit der Erneuerung der Literatur assoziiert, der als didaktisch offenbar die Funktion zufällt, die der wissenschaftlichen Imagination als »fantascienza« [Science fiction] von Volponi an einer anderen Stelle zugesprochen worden ist.69 In die durch Lukrez angedeutete Entwicklung beabsichtigt Volponi offenbar den Geschichtsverlauf der bürgerlichen Gesellschaft neu einzufügen und ihn damit einzubinden in den universellen Lebenszusammenhang. Darin ist aber auch die Evolution der Materie einzubeziehen, der in der zweiten Phase der Selbsterforschung eine zunehmende Bedeutung eingeräumt wird. Wieder geht es wie in Ca l’ala um die Vermessung und Verortung der Raumverhältnisse. Zu einer neuen Einschätzung der Lage aber führt, dass der Materie als Substrat aller Veränderungen nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt worden ist, dass, wie Gerolamo feststellt, die Kenntnisse und Begriffe, die der bäuerlichen Kultur über die Natur und den bestellten Boden zueigen waren, nicht ausreichend waren, um sie in der alten Weise der Erforschung der Natur und der Erkenntnis der Materie zugrunde zu legen. Die Einsichten, zu denen Gerolamo gelangt – und die wir in der Anmerkung zusammenfassen70 – sind, wie wir meinen, mit den Ansichten vom reformierten Landanbau von Anteo zu vergleichen, die in La macchina mondiale noch von einem Natur-Begriff ausgegangen waren, der dem frühen Stadium der Naturerkenntnis entsprochen hat. Die Einschätzung aus der Sicht von Ca l’ala aber führt darüber hinaus, indem sie die Materie in den Raum zurückversetzt, aus der sie hervorgegangen ist und sie im Raum und in der Zeit als Bewegung wieder erkennbar oder wenigstens vorstellbar macht. Betroffen davon sind die noch unerschlossenen Bereiche des »Imaginären«, denen Gaston Bachelard in seiner Poétique de l’espace eine wegweisende Interpretation gewidmet hat. Die Imagination öffnet der menschlichen Vorstellung die Dimension von Raum und Zeit, die der unmittelbaren Wahrnehmung entzogen sind. In der 69 An zwei Stellen des Romans wird der Begriff der »fantascienza« im Zusammenhang mit der Literatur erwähnt, u.zw. als Aspri ihn in seiner Lektion gegenüber den Schülern erwähnt [344] und als er dem Naturalismus als »tendenza letteraria« gegenüber gestellt wird [446]. Im Grunde könnte man die Geschichte von Sir Chichester, die Volponi in Il leone e la volpe zitiert, als eine Erzählung im Sinne der Fantascienza interpretieren [dort 86]. 70 Die plötzliche Erleuchtung, die Aspri widerfährt, bezieht sich v.a. auf die veränderte Wahrnehmung der Dinge der Natur, die sich ihm im Kontrast zu der Sicht der das Land bearbeitenden Bauern, unvermittelt in ihrer materiellen Beschaffenheit offenbaren, ohne den Rahmen gleichsam, in dem sie sich sonst den Sehgewohnheiten der Menschen darbieten. Die Bestandteile der Natur erscheinen im Licht dieser Inszenierung auf ihre elementare Substanz reduziert: la terra, il piombo, il vetro, gli alberi – die Erde, das Blei, das Glas, die Bäume. Es ist, als seien die Menschen aus dieser Landschaft des Elementaren vertrieben worden oder geflohen [470- 71].
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Der Roman der Wende
Verschriftung des Realen operiert die Imagination, indem sie. Fluchtlinien entwirft, die den Raum entstehen lassen oder suggerieren; die Inserierung von Zeit in den Wahrnehmungsvorgang machen die Gegenstände im Raum erkennbar; die sich in der Verbindungen mit anderen Gegenständen zu Konstellationen im Raum gruppieren, in welchen sich Handlungsmomente verschiedener Art entfalten können. In seinen Reflexionen über das neue Unternehmen der Transkription einer veränderbaren Realität in der Schrift fasst Aspri die Grundsätze dieser Operation wie folgt zusammen: Indem er diese Ordnung im Inneren der Zeit festgelegt hat – habe Aspri, so der Erzähler, eine gewisse Sicherheit im Umgang mit den neuen Methoden wiedergewonnen. – Diese Ordnung ermöglichte es ihm auszuwählen, denn jedem Modus von Zeit konnten eine oder mehrere Möglichkeiten der Handlung entsprechen, die schon festgelegt waren: wenigstens mit einer Reihe schon eingetretener Ereignisse, die ohne weiteres fortzuführen wären. [474]
Das Imaginäre, das die Disposition über das verfügbare Material gewährleistet, ist das Medium der Verschriftung in den Dimensionen von Raum und Zeit. Um die Materie für die Sinne begreifbar zu machen, ist erforderlich, die Wahrnehmung mittels der Verschriftung zu strukturieren, ohne welche das Auge (die Sinne überhaupt) nicht in der Lage wären, die Dinge in ihrer realen Beschaffenheit wahrzunehmen. Um diese Wahrnehmung aber geht es den Avantgardisten und Volponi insbesondere. Welche Veränderungen sollen die menschliche Wahrnehmung aber revolutionieren? Nach wie vor dominiert das Auge über alle anderen Sinnesorgane und begründet die Vorherrschaft des Menschen im Universum. Volponi beklagt das und hat diese Anmaßung von Anfang an zurückgewiesen, so, wie wir uns erinnern, in L’uomo è cacciatore, einem seiner frühen Gedichte. Doch das Auge ist unentbehrlich wie auch die Perspektive, die ihm als Hilfsmittel der Erkenntnis dient. Wiederholt wird die Perspektive in den Texten Volponis negativ dargestellt, und zwar dann, wenn sie sich als unbrauchbar erweist, wo das Nebeneinander der Dingansicht in syntaktischer Hinsicht gefordert ist, um die Verbindung von Verschiedenartigem anzuzeigen. Doch auch hier ist die Technik des Verfahrens der Erfordernis der Erkenntnis untergeordnet. Welche Bedeutung der perspektivischen Wahrnehmung trotz allem beizumessen ist, kann ein Text bezeugen, den Volponi der Malerei Masaccios gewidmet hat.71 Für Volponi sind die bestimmenden Momente der AffrescoMalerei Masaccios die Verbindungsstücke der Erzählung und die Perspektive – »i nodi del racconto e la vertigine della prospettiva« [17], die als schwindelerregend bezeichnet wird, weil sie vermutlich dem Auge eine Blickrichtung aufzwingt, die Schwindel erregt, weil Fluchtlinien des Geschehens aufgezeigt werden, die provozierend sind, aber dem Gegenstand im Grunde erst gerecht werden, indem sie dessen Bedeutung erkennbar werden lassen. Und die liegt in der Darstellung einer Realität, die gegenüber der christlichen Heilsgeschichte das profane Geschehen der weltlichen Ereignisse als bildwürdig begreift, und – wie die Malerei von Masaccio und Piero della Francesca – die Menschen des italienischen 15. Jahrhunderts einführt in die Di71 Wir zitieren aus der Presentazione Volponis zum Bildband Masaccio der Reihe I Classici dell’Arte der Verlage Rizzoli/Skira, 2004.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
mension des Darstellbaren, die es vorher nicht gegeben hat. Sie öffnet der Kultur im Übergang zum Rinascimento den Weg zu einem wissenschaftlichen Verständnis der Realität im Sinne der Rationalität des perspektivischen Blicks. Das beschreibt Volponi als den Gewinn einer Kultur, die sich der wissenschaftlichen Erkenntnis geöffnet hat, sich dafür aber auch der Rationalität verschreiben musste: Die Perspektive, bedingt durch das Ideal des unbeweglichen Auges, das die Erschütterung der Naturerkenntnis fixiert, hat aber auch den Typus rationaler Objektivität hervorgebracht, zu der die Geschichte reduziert wird […] und sich festgelegt hat auf die unsichtbare Ordnung mathematischer Beziehungen.72
Deutlich weist Volponi hier auf die Bedingungen hin, unter der die naturwissenschaftliche Erkenntnis, die er selbst zu fördern bestrebt ist, zur Geltung gekommen ist. Diese einschränkende Sicht scheint er aber aufzuheben, wenn er mit Bezug auf Novalis in die geometrische Sicht des Raums die Dimensionen des Unendlichen einbezieht, wie dem Novalis-Zitat offenbar zu entnehmen ist, dass »die drei Dimensionen das Resultat von unendlichen Dimensionen sind« – »le tre dimensioni sono il risultato di infinite dimensioni«. Zu verstehen ist das aber nur, wenn die dritte Dimension die der Bildtiefe ist, was Volponi in seinen folgenden Äußerungen aufnimmt und erläutert: Wenn es wahr ist, dass die dritte Dimension den Rhythmus des Körpers in Bewegung einführt und wenn »ihre Theoretisierung«, schreibt Dino Formaggio, »die Grundlage der vorwärts schreitenden Bewegung des Menschen (und seines Blicks) beinhaltet und diese zusammenfällt mit der höchsten Auszeichnung des Menschen, der als körperliches Wesen der Natur die Welt betritt«, dann ist Masaccios Malerei, so fährt Volponi fort, »die revolutionäre Malerei des Quattrocento in revolutionärer Manier«; sie ist es, »weil sie die Gesellschaft nicht als etwas Gegebenes hinnimmt mit ihren sozialen Hierarchien, weil sie in ihrer ›geometrischen Darstellung‹ die marginalisierte Menschheit sichtbar macht, weil sie die materiale Bildkomposition der Hierarchie durchbricht, indem sie die formalen Vorgaben der euklidschen Geometrie respektiert […].« [Masaccio, S. 16- 17]
Diese Bemerkungen über die Revolution der Perspektive in der Malerei Masaccios sind erhellend nicht nur hinsichtlich der geometrischen Fundamente der Perspektive des Quattrocento, sondern auch hinsichtlich ihrer Übertragung bei Volponi auf die Verfahren der Verschriftung, die deren Wert und Funktion für die Textgrammatik exemplarisch beleuchten. Die dritte Dimension als die Dimension des Raums ist die Dimension, in der die Körper in Bewegung erscheinen und als solche in unserer Vorstellung bleiben; sie ist der weltliche Raum, den der Mensch als »corpo naturale« betritt, nachdem er aus dem Paradies vetrieben worden ist, was das Fresko Masaccios La cacciata dal Paradiso terrestre [Die Vertreibung aus dem Paradies] zeigt. In unserem Zusammenhang ist aber von Interesse, nicht allein die Versetzung der 72 Der Text im Italienischen lautet: »La prospettiva, attraverso l’ideale dell’occhio immobile, fissato dallo sgomento della rivelazione scientifica, costruisce però anche quel tipo di oggettività razionalistica in cui la storia si riduce […] e si fissa sotto l’ordine invisibile delle relazioni matematiche.« (Ebd.,16)
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Der Roman der Wende
Figuren in einen weltlichen Raum, sondern dass dieser Raum in der Verschriftung des Gegenstands die Ebene der Textanfertigung ist, wo die Bewegungen der Körper sich spiegeln im Verlauf der Linien, den der Text beschreibt, in der Abgrenzung der Flächen, die die Linien durchqueren, in der Verlagerung der Ebenen, auf die der Textverlauf überwechselt und schließlich in der Verknüpfung der Textsegmente zu einem Ganzen, das abhängig ist von der Kombination der Verlaufslinien in der Imagination des Lesers, der einbezogen ist in den imaginären Raum der »euklidschen Geometrie«.
11. P OESIE
UND
P ROSA
UND DAS
P ROBLEM
DER
F IKTION
Die Frage ist offen geblieben, welche Funktion der Poesie noch zukommt in einem derart veränderten Schriftverständnis, das offensichtlich auch den frühen Begriff des Poetischen nicht unangetastet gelassen hat. In der Debatte mit Overath, der gegen die Poesie und ihre Geltungsansprüche das Realitätsprinzip ins Feld geführt hat, ist die Poesie weiterhin der Gegenpart, an der Aspri auch in Ca l’ala noch festhält. Die Frage stellt sich also, wie sich im Umbruch von Corporale der Begriff des Poetischen verändert und welchen Modifikationen der Begriff im weiteren Verlauf des Werks Volponis unterzogen wird. Die Poesie ist ein Konzept, das bezüglich des Erkenntnisanspruchs den Gegensatz zu dem repräsentiert, was wir als ›die Prosa der Welt‹ bezeichnen, die mit dem Realitätsprinzip gleichzusetzen wäre. In diesem Sinn könnte man von einem ›poetischen Prinzip‹ sprechen, dessen Geltung auf das Gesamtwerk Volponis ausgedehnt werden kann. Die Prosa der Welt ist die institutionalisierte Realität der bestehenden Verhältnisse, die existiert und die bekämpft werden muss, und der man kritisch zu begegnen hat, wozu die Erneuerung der Sprache beitragen soll. Die Poesie war in der frühen Lyrik Volponis der Ausdruck des Widerspruchs gegen eine Welt, die sich abgeschlossen hat gegenüber der Natur, aus der das kindliche Bewusstsein seine eigenen Ursprünge hergeleitet hat. Daraus resultieren die Bilder der Kindheit und der Mythen von der ursprünglichen Beschaffenheit der Welt, der erste und eigentliche Bereich der Poesie. im Werk Volponis. Tendenziell ist die Rückkehr des Mythos im Sinne dichterischer Inspiration ein Merkmal der Literatur des 20. Jahrhunderts, und zwar nicht in der Funktion der klassischen Mythologie als Beglaubigung des Erzählten, sondern in der Gestalt und Funktion von Ursprungserzählungen, die statt aus der großen Geschichte zu schöpfen, in die individuelle Kindheitsgeschichte zurückgehen und auf diese gestützt die literarischen Werke gründen. Ein in dieser Hinsicht exemplarisches Werk ist das von Cesare Pavese, das vielleicht mehr als jedes andere die Genese der modernen Dichtung aus dem Mythos veranschaulichen kann. Wie Pavese selbst bekundet, sind es die Bilder, die die Phantasie des Kindes beschäftigt haben, die als fundierendes Material der Gedichte und Erzählungen wiederkehren und als Mythen der Alltagserfahrung der frühen Kindheit sich auf der Ebene der Schrift manifestieren. Sie sind in dieser Hinsicht wichtige Daten hinsichtlich der gesellschaftsbildenden Strukturen, die der Sozialisation einer Generation zugrunde liegen. Ihre Funktion für die Dichtung besteht darin, das Erfahrungsmaterial
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
aufzubereiten, das die Dichtung bearbeitet, um über die unaufgeklärten Momente der jeweiligen Geschichten Klarheit zu gewinnen. Das bezeugt Pavese in seinen theoretischen Reflexionen, auf die wir in der Anmerkung verweisen.73 Die Herleitung der Poesie aus den Kindheitsmythen zeigt noch einmal, dass es in der Welt der Kindheit eine quasi unüberbrückbare Distanz gegeben hat zwischen der zwiespältigen Erfahrung des Kindes und der Wirklichkeit der Erwachsenen, auf die das Kind mit der Flucht in den Mythos oder in das Märchen reagiert. Doch auch im Mythos kehrt die Zwiespältigkeit der modernen Welt des Imaginären wieder, das immer an die Bilder der Erwachsenen gebunden bleibt und über die Sozialisation in den Gefühlen des Kindes verankert wird, im »mitologico infantile« im Guten wie im Bösen. Diese Bindung aber wird in der Phase von Corporale aufgehoben, womit auch eine Wandlung in der Auffassung des Poetischen einhergeht. Und diese Wende vollzieht sich mit der sich zuspitzenden Konfrontation des Poetischen mit dem Realitätsprinzip. Die Poesie rückt in die Position des Imaginären und der Fiktion, die Aspri in der Auseinadersetzung mit Overath als das Wesen des Poetischen behauptet und verteidigt In der letzten Phase ihrer Transformation definiert er die Poesie als die »Fiktion« eines Realen, das noch nicht zur Erscheinung kommen kann und rückt damit ihren Begriff in die Nähe der literarischen Gattung, die den Aspekt des Wissenschaftlichen schon im Namen führt: die »fantascienza«/»die Science Fiction«. Über sie äußert Aspri, dass sie die eigentlichen Tendenzen unserer Gesellschaft spiegle, während die Bilder unserer Wirklichkeit immer noch die von Bauern und Handwerkern seien, die den Namen »fantascienza« nicht verdienen [344]. Wie weit diese Äußerungen ernst gemeint sind, bleibe dahin gestellt. »Fantascienza« wäre aber in dieser Phase eine der möglichen Umschreibungen für die Poesie als einer schöpferischen Kraft der Imagination, die der wissenschaftlichen Erforschung der Existenz des Menschen neue Möglichkeiten öffnet. Damit ist aber das Problem noch ungelöst, wie eine Realität zustande kommt und legitimiert werden kann, die sich dem Realitätsprinzip der bestehenden Gesellschaft offen entgegenstellt. Der ›Fiktion des Realen‹ steht das ›Realitätsprinzip‹ der Prosa der Welt gegenüber. Erneut stellt sich die Frage, wie sich die Fiktion einer anderen Realität sprachlich oder auf der Ebene des Imaginären darstellen lässt, wie eine Entsprechung herzustellen sei zwischen der zu verändernden Realität, den Zeichen, an denen dies abzulesen wäre, und den sprachlichen Mitteln, durch die es abgebildet werden kann. Als problematisch erweist sich, dass Sprache und gegenständliche Wirklichkeit nicht nur auseinanderklaffen, sondern auf verschiedenen Ebenen lokalisiert sind. Die Antwort der Avantgarden war deshalb, die sprachlich-künstlerischen Mittel auf die Ursprünge zurückzuführen, in denen die Zeichen des Wirklichen sich in ihrer Bedeutung erkennen lassen. Nicht auf die schon festgelegten Ausdrucksmittel ist zurückzugreifen, sondern das Ausdrucksmaterial zu suchen, das in den Zeichen als dem eigentlichen Alphabet der Sprache schon gegeben ist. 73 Pavese bezeichnet in seiner Abhandlung betitelt Il mito das »mitico infantile« als den Keim jeder Poesie – »i germi di ogni poesia«, er fügt aber hinzu, dass es Aufgabe des Dichters sei, das Mythische umzuwandeln in die Klarheit der Bilder. (Cesare Pavese: Saggi letterari. Turin: Einaudi 195, S. 318).
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Gegen die direkte Spiegelung von Wirklichkeitswahrnehmung ist also einzuwenden, dass erst vermittelt über die Sprache, ihre Techniken und Verfahrensweisen, der Bezug zur Wirklichkeit herzustellen ist, und dass erst über sie das Gegenständliche der sinnlichen Wahrnehmung zugänglich wird. Die sinnliche Wahrnehmung ist angewiesen auf die Mittel und Kategorien sprachlicher Analyse, mit deren Hilfe erst die kreativen Fähigkeiten zum Tragen kommen, wie die Intuition, die Phantasie, die Imagination. Die bildschaffende Phantasie als die eigentlich poetische Fähigkeit sichert in der Umsetzung der sinnlichen Daten in Bilder den Worten ihren Sinn und den Textsegmenten eine Einheit, die als narrative Matrix oder als Kern einer kleinen Erzählung zu verstehen wäre. Hier treffen wir auf eine Annäherung von Poesie und Prosa, in der sich, folgen wir Edoardo Sanguineti, Volponi und Leopardi begegnen. Leopardi unterscheide Poesie und Prosa im Hinblick auf eine Differenzierung zwischen den Begriffen »infinito« und »indefinito«, die den jeweiligen Bereichen des ›Poetischen‹ und des ›Prosaischen‹ zuzuordnen wären, wobei das »infinito«, das Unendliche, etwas Unfassbares oder Unbegriffenes repräsentiert, das in diesem Sinn zugleich wieder zu etwas »Undefiniertem« wird, so dass das Poetische nichts in sich selbst Bestehendes ist und ohne die Prosa, die sein Wesen zu definieren bestimmt ist, keinen Bestand hätte. Eine zwar nicht exakt gleiche aber entsprechende Differenzierung findet sich bei Volponi, wo vergleichsweise Prosa als das noch nicht ›Definierte‹ charakterisiert wird gegenüber der Poesie als das noch ›Unbegriffene‹. Mit der Poesie begegne ich einem Problem, das ich nicht kenne, das ich fühle und das mich bewegt, das mir Fragen aufwirft. Und die Poesie ist gerade dazu da, um in dieses Problem einzudringen, um seine Teile zu sehen und zu erkennen, um ihm eine Struktur und die Möglichkeit einer Lösung zu geben; und sie ist in erster Linie eine Gelegenheit für mich, etwas über seinen inneren Kern zu erfahren im Hinblick auf eine Klärung seiner Verbindungen und Beziehungen. Der Roman dagegen setzt voraus, dass ich die Materie, die ich mir vornehme, schon kenne, und dass ich davon eine für mich gültige Einschätzung habe, wichtig im Hinblick darauf, wie ich damit umgehe und sie allmählich bereichere in dem Maß, wie ich den Roman schreibe, und die jedenfalls dem Anfang der Niederschrift vorausgeht. Nicht der Gedanke an den Verlag oder die Leser entscheiden über die Frage, ob ich Prosa oder Poesie schreibe, ergänzt Volponi und fährt fort: Ich fühle Probleme […]; ich habe Bilder, ich habe Ängste: und dann wird es eine poetischer Diskurs, das Wort ist meines, das in das Problem einzudringen sucht. Ich kenne eine Situation, die mir interessant erscheint, emblematisch, robust; ich glaube, dass ich dazu ein Urteil äußern kann […] auch im Hinblick auf die äußere Realität: dann ist es der Roman, [der das ermöglicht]. 74
Die Differenzierung zwischen Poesie und Prosa konstituiert, wie hier erkennbar, eine Art Dialektik, die beide Formen als einander bedingende Aussageweisen erweist, derart, dass der Prosatext durch die poetischen Texte modifiziert, zuweilen auch in Frage gestellt wird, die neue Sinnpotentiale in die Darstellung der prosaischen Verhältnisse bringt und umgekehrt, die Prosatexte die virtuellen Vorgaben der Poesie wieder auf den realen Stand der Dinge 74 Paolo Volponi/Francesco Leonetti : Il leone e la volpe, S. 107f.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
zurückführen. Die generativen Momente des Narrativen hat Volponi einmal charakterisiert als »le favole, i versetti, le utopie«75 – »die Fabeln, die Verse [offenbar der Heiligen Schrift], die Utopien«; das sind die Vorgaben der Poesie in den Bildelementen der Texte Volponis, die die Textsegmente zu einer Bedeutungseinheit vereinen und sie in einen narrativen Zusammenhang überführen, der im Kern eine utopische Dimension repräsentiert. Als Beispiel sei wieder auf die Geschichte von Sir Chichester und seiner Meerfahrt verwiesen, als Kern einer Lebensgeschichte des Subjekts Volponis, in der auch die fundamentale Unsicherheit des Ausgangs der Geschichte angedeutet wird. Das Bildhafte, das bei Volponi den Erzählvorgang auslöst oder in Gang hält, verliert sich dann im weiteren Textverlauf, weil auch die Bilder größtenteils nur »Idole« sind – wie Leopardi die Bilder der Moderne gekennzeichnet hat76 – was besagt, dass ihr Verständnis sich den Ideen verdankt, die keinen Bestand haben, sondern dem Zeitwechsel unterworfen sind und damit den herrschenden Ideen der Zeit. Die Unbeständigkeit der Bilder der Moderne, die zum Bedauern Leopardis nicht mehr den unveränderlichen »schönen Bildern« der Antike gleichen, sieht Sanguineti in einem Zusammenhang mit den Konzeptionen des »infinito« und des »indefinito«, des Unendlichen und des Undefinierten, die fast identisch geworden sind, aber immer von neuem miteinander konfrontiert werden müssen, um sich der Gültigkeit einer Konstellation zu versichern. Das bedeutet für Volponi, dass die Fiktion des Realen, das in der utopischen Idee zur Erscheinung drängt, in der Prosa der Welt keine – oder noch keine – Entsprechung findet. Das aber zieht auch die erkenntnisstiftenden Bilder in Mitleidenschaft. Es offenbart nämlich, dass ein Ungenügen an den Bildern – schönen oder nicht so schönen – herrscht; das vielleicht nicht so sehr aus ihrer Natur herrührt, als daher, dass das Bild die Idee in sich aufnehmen muss, um dem verbildlichten Gegenstand eine Bedeutung zu geben, um die Funktion des Gegenstands im Bild verständlich zu machen. Und hier verliert das Bildliche die Kraft der Konkretisierung, die ihm im Prozess der Wahrnehmung zu eigen ist. Die Verbindung der Textsegmente zu einer Einheit, die einen narrativen Zusammenhang erkennbar macht, ist eine Aufgabe, die letztlich dem Interpreten überlassen bleibt, der selbst entscheiden muss, welche Bestandteile des Textes ein erzählerisches Segment bilden und damit als Teil einer Geschichte zu betrachten sind. In Corporale stellt sich diese Aufgabe in besonderer Weise, da die verschiedenartigsten Handlungsansätze es extrem schwierig machen, die Handlungsstränge als bestimmte Geschichten zu erkennen und zu identifizieren. Das aber gehört zur Erzählstrategie des Werks, denn ein so komplexer geschichtlicher Gegenstand wie die Darstellung der Epoche von den frühen 60er bis zur Mitte der 70er Jahre in der Geschichte eines einzigen Subjekts ist ohne die Brüche, die sich in der Geschichte dieses Individuums zeigen, schwerlich vorzustellen. Die Brüche der Biographie sind aber nicht in erster Linie dem Individuum anzulasten, sondern den Tendenzen der Sozialisation, denen es ausgesetzt war. Gerolamos Anstrengungen, sich diesen Prägungen zu entziehen und zu einer selbstbestimmten Existenz zu kommen, spiegelt sich in der Geschichte Aspris bis zu dem Punkt, wo er sei75 Ebd., S. 107. 76 Sanguineti: Die »idola« bei Leopardi siehe »Il nulla in Leopardi«, in: Il chierico organico, S. 10.
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nen Rückzug in die Einsamkeit plant, ein Rückzug, der aber durch eine andere Geschichte überlagert wird, nämlich das Projekt der Erneuerung der Sprache, das gleichzeitig auch als die Geschichte der Konstitution des neuen Subjekts gesehen werden kann. Wir haben den Verlauf dieser Geschichte bis zu dem Augenblick verfolgt, da Aspri im Gelände von Ca l’ala stürzt und seine Nachforschungen am Ort der Ausgrabung damit ihr Ende findet. Seine Einlieferung in das Hospital und seine dort registrierten Einsichten sind noch Bestandteil der Thematik der Spracherneuerung, aber führen gleichzeitig zurück in die letzte Phase seines Aufenthalts in Urbino, wo Volponi merkwürdiger Weise zu zögern scheint hinsichtlich des Ausgangs, den er der Erzählung von der Suche nach dem Schatz geben soll. Während Gerolamo schon die Vorbereitungen trifft, um sein Verschwinden aus dem Hospital in die Wege zu leiten, wird der Faden wieder aufgenommen, der die Suche nach dem Schatz erneut mit Overath in Verbindung bringt, und zwar hinsichtlich der Bergung einer von den Deutschen am Kriegsende vergrabenen Beute. Das wiederum scheint Aspri dazu zu verleiten, mit Hilfe des Kellners die Suche nach dem Schatz selbst wieder aufzunehmen. Damit wird die Erzählung aber in Richtungen gelenkt, in denen die Romanhandlung nicht mehr weitergeführt wird, die sozusagen blinde Motive darstellen. Sie stellen Handlungsalternativen dar, die im Sinne des traditionellen Abenteuerromans vielleicht von Interesse gewesen wären, aber völlig irrelevant sind im Hinblick auf die Thematik der Rekonstitution des gesellschaftlichen Subjekts, die in Corporale die dominierende Thematik ist. Bis zu welchem Grad im Roman die Resozialisierung des Subjekts fortgeschritten ist, kann an der Biographie Aspris abgelesen werden. Als Maßstab dafür ist der Abbruch der Erzählung zu werten, der mit dem Verschwinden Aspris vom Schauplatz der Handlung erfolgt. Das Resultat dieser Entwicklung ist, dass Aspri die Identität des bürgerlichen Individuums verloren hat, indem er zunehmend aus der bürgerlichen Gesellschaft ausgeschlossen worden ist oder sich selbst ausgeschlossen hat. Der Roman bricht dort ab, wo dieser Punkt erreicht ist, wo also die Rückentwicklung des gesellschaftlichen Wesens des Subjekts so weit gediehen ist, dass es in eine Anonymität übergeht, die Aspri nach seinem Abgang aus Corporale in eine Art virtueller Existenz versetzt; denkbar wäre das einerseits als das Subjekt der neuen Poesie, das in der späteren Lyrik des Werks wieder vernehmbar wird, andererseits als das kritische politische Bewusstsein, das in den großen Essays der 70er Jahre zunehmend an Gewicht gewinnt oder aus den Figuren der historischen Romane spricht, in erster Linie den anarchistischen Wortführern in Il sipario ducale (Subissoni und Vivés). Die Figur Aspris ist in keiner der späteren Gestalten des Werks als Analogon wiederzuerkennen, es sei denn man sieht in ihm die Figur, in der die Veränderung des Bewusstseins als das revolutionäre Merkmal angesehen wird, das Volponi dann der weiteren Entwicklung des Subjekts in seinem Werk zugrunde legt, eines Subjekts, das die Erfahrungen der Nachkriegsentwicklung hinter sich lässt, aber über das, was ihn erwartet, im Ungewissen bleibt. Beispielhaft dafür wäre die Figur des Sir Chichester, der nicht weiß, wohin ihn die Überquerung des Ozeans bringen wird. Die Zuversicht, die ihn belebt, wäre die der Erneuerung der Sprache als Ansatz zur Veränderung der Gesellschaft, was Volponi in Übereinstimmung mit den neoavangardistischen Strömungen der 60er Jahre zeigt. Die neue Richtung, in die die Suche des Subjekts nach Corporale weist, ist die der Er223
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forschung der nationalen Geschichte, die Volponi in seine Analyse der italienischen Gesellschaft einbezieht.
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Kapitel 5: Il sipario ducale Der neofaschistische Terror der 70er Jahre und das Risorgimento Wo in Corporale die Resozialisierung des Subjekts in der Biographie Gerolamo Aspris im Ungewissen bleibt, knüpft Volponi in Il sipario ducale an mit den Lebensverläufen und den politischen Erfahrungen der beiden anarchistischen Protagonisten des Romans, Gaspare Subissoni, dem Geschichtsprofessor aus Urbino und seiner katalanischen Lebensgefährtin Vivés, die beide auf Seiten der Republik im spanischen Bürgerkrieg gekämpft haben und auf verschiedenen Umwegen nach dem Krieg Zuflucht oder eine Heimstätte in Urbino finden. Der junge Subissoni flieht aus dem Italien des Faschismus, wo er wegen der Opposition zum Regime durchs Examen fällt und von einem Schlägertrupp, der ihn aufwartet, zusammengeschlagen wird; auf der Flucht über Paris findet er schließlich zusammen mit Vivés den Weg in die Reihen der Verteidiger der spanischen Republik. Ihre Beziehung wird im gemeinsamen Kampf gegen das republikfeindliche Bürgertum geknüpft; und als solche bleibt sie auch erhalten in ihrem politischen Kampf in Italien, in einer Konfrontation, die jetzt auch in Italien den Bestand der Republik in Frage zu stellen droht. Das Ereignis, das diese Befürchtungen nährt und zum Ausgangspunkt der Romanhandlung wird, ist der terroristische Bombenanschlag am 12. Dezember 1969 auf die Bank der Piazza Fontana in Mailand, der von den Medien sofort anarchistischen Tätern angelastet wird. Die Berichterstattung über das Ereignis wird vom Erzähler aus zwei unterschiedlichen Perspektiven verfolgt: einerseits aus der der beiden anarchistischen Protagonisten, die durch ihre Parteinahme direkt betroffen sind, andererseits aus der Sicht des Hauses Oddi-Semproni, des Adelsgeschlechts, das seit der Gründung des Herzogtums Urbino dort ansässig ist und der Rechten ideologisch verhaftet ist, die über die Massenkommunikationsmittel (hier das Fernsehen) die öffentliche Meinung dominiert. Beide Parteien werden am Romananfang in der jeweiligen Familiengeschichte bis zu den Ursprüngen des ducato [Herzogtums] zurückverfolgt. Damit wird der Bezug der Romanhandlung zu dem historischen Zeitpunkt hergestellt, in dem Urbino im Quattrocento als Herzogtum unter Federico di Montefeltro entstanden ist, eine Zeit, auf die nicht nur die Existenz der Oddi-Semproni zurückgeht, sondern auch die der Vorfahren Subissonis, was dieser selbst bekundet. Seine Äußerung ist in diesem Zusammenhang bedeutsam, weil eine dritte Zeitebene darin angesprochen wird, die nämlich des Risorgimento, die Periode der Einigung Italiens im19. Jahrhundert. Schon Gaspares Vorfahren fanden sich auf
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der Seite derer, die für eine republikanische Lösung kämpften, wie der von Subissoni verehrte Carlo Cattaneo, der Vorkämpfer für eine Föderation der italienischen Regionen.1 Gegen die »nazionalisti«, die die Einheit Italiens als Nation auf ihr Banner geschrieben haben, verfocht er die Sache Cattaneos, »die Idee der Gleichheit des Rechts in der Verschiedenheit der Kräfte, die Idee einer föderativen Rechtsgleichheit« [9], wie sie Cattaneo in seiner Schrift von 1858 niedergelegt hatte. Die Geschichte, in die Volponi zurückgeht, spielt auf der Bühne eines imaginären Theaters, dessen Vorhang sich öffnet auf die beiden schon genannten Szenen: die Ursprünge des ducato di Urbino und die nationale Einigung Italiens im Risorgimento. Die beiden Familien der Geschichte Urbinos, die sich als Kontrahenten auf der Ebene des aktuellen Konflikts des Bombenanschlags gegenüberstehen, bilden die Figurenkonstellation der Basis, von der sich die Handlungsebenen abheben, auf denen Volponi das Schauspiel der Historie inszeniert. Die erwähnten Epochen werden präsentiert als Momente eines Geschichtsverlaufs, in den die aktuelle Konfrontation mündet, die neuerlichen Versuche, die republikanische Verfassung zugunsten eines neuen Faschismus zu beseitigen. Im Gesamtverlauf der Handlung kommt eine Geschichte zur Darstellung, in der – nach der Logik der Inszenierung – zweimal, d.h. in zwei verschiedenen Phasen, eine Einigung Italiens hätte erreicht werden können, die den Vorstellungen Subissonis entsprochen hätte, aber in beiden Fällen sich nicht realisieren konnte: einmal durch die Vorherrschaft oder Invasion fremder Mächte in Italien – der Spanier, Franzosen und der Truppen des Kaisers ab etwa 1494 –, was mit der Blüte des ducato di Urbino zusammenfällt und die Einbeziehung der Geschichte Urbinos motiviert –; zum anderen in der Phase des Risorgimento, in der die Einheit von oben zwar vollzogen wird, ihre Fragwürdigkeit aber die komödiantische Inszenierung des Romans ins rechte Licht zu rücken sucht; die Inszenierung der Geschichte parodiert die Werbung eines Thronprätendenten [Oddino] um die Hand einer Prinzessin [Dirce, die Figuration der Italia popolana], d.h. die Machtansprüche Savoyens über ein vereintes Italien, was in einer komischen, wenn nicht satirischen Beleuchtung zur Schau gestellt wird. Die zeitlich unterschiedenen Ebenen der Versuche der Einigung werden in Beziehung zueinander gesetzt, in einem Handlungsgeflecht, in dem unterschieden wird: 1. 2.
Die Ursprünge Urbinos im Kontext der Geschichte Italiens sowie Die Einheit Italiens und die Kritik des Risorgimento
Auf der Ebene der Geschichte des Subjekts, dessen Transformationen wir in Il sipario wieder aufnehmen und weiter verfolgen, wäre zu ergänzen: 3.
Die Geschichte Subissonis als die Politisierung des Subjekts im Kontext der Geschichte Italiens.
1
Siehe die Schrift von 1858, betitelt: La città considerata come principio ideale delle istorie italiane. [Die Stadt als Idee und Prinzip der Geschichte Italiens].
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1. D IE P RÄSENTATION
DER
F IGUREN
Die Romanhandlung setzt ein auf der Ebene des aktuellen Geschehens mit der Präsentation der Familiengeschichte der beiden Kontrahenten Oddi/Oddino und Subissoni. Dass der Erzähler Subissonis Abstammung von einem alten Adelsgeschlecht mit in seine Geschichte einbezieht, ist sicher damit zu begründen, dass er die Beziehung zur Geschichte des frühen Urbino herstellen wollte, wo Subissoni auf der Theaterebene den Vertrauten oder Ratgeber des Herrschers spielt. Der zeitgenössische junge Oddi-Semproni wird als die Figur in die Handlung eingeführt, die die funktionslos gewordene Position des einstigen Herrschers auszufüllen hat, aber nur noch über das Niveau an Information verfügt, die ihm wie allen anderen über das kommerzielle Fernsehen übermittelt wird. »Das größte und neueste städtische Fernsehgerät thronte in der Bibliothek der Oddi-Semproni« [9/10]. Für das Weltverständnis des jungen Grafen kennzeichnend ist, dass er hauptsächlich über das Fernsehen über das Zeitgeschehen informiert wird und dass im Inneren des Hauses die Vergangenheit durch die Gemälde der Ahnen gegenwärtig gehalten wird: »In der Mitte der Gallerie blickte herab […] der Graf Sempronio Semproni«, das Gemälde, das der Bronzino von ihm angefertigt hat und ihn zeigt »in seiner vollen Armatur«. [12] 2 Den Rückgang in die Geschichte motiviert der Umstand, dass Volponi den Bombenanschlag des 12. Dezembers als ein historisches Datum versteht, das in der Geschichte Italiens aber auch außerhalb, die Existenz des republikanischen Regimes wieder offen in Frage stellt, reiht man sie ein in die Kette der neofaschistischen Terrorakte, die das Nachkriegsitalien erschüttert haben und nie aufgeklärt worden sind. Aus dieser Erfahrung richtet der Erzähler seinen Blick zurück in die Geschichte der Mailänder Insurrektion von 1848, als das historische Datum, das im Roman über die Schriften Cattaneos vermittelt wird, sowie mittels der Figuren der beiden Anarchisten auf den Bürgerkrieg in Spanien, wo es ebenfalls um das Überleben der Republik ging. In das historische Szenarium wird schließlich als drittes Datum die Geschichte Urbinos eingefügt, der Ursprung der Stadt unter den Montefeltro im Quattrocento, ein Datum, das einbezogen wird, weil der Hof von Urbino, wie Volponi ihn sieht, in seiner Gründungsphase als Muster einer kommunalen Politik auch im Sinne einer republikanischen Verfassung zu sehen wäre. Die Fäden dieses Handlungsgeflechts hat Volponi auf seinem imaginären Theater in einer Weise montiert, dass die historischen Daten über die Distanz, die sie trennt, in einem Zusammenhang erscheinen, der sie thematisch miteinander verbindet, so dass die beteiligten Figuren in verschiedenen Rollen agieren können, d.h. Subissoni sowohl als Anarchist wie als Ratgeber des Herrschers, Oddo Oddino sowohl in leitender Funktion auf der lokalen Ebene wie als Thronprätendent eines geeinten Italien. Resümieren wir diesbezüglich noch einmal kurz den Zusammenhang zwischen den beiden Handlungsinszenierungen und den jeweiligen Geschichtsperioden, auf die sie Bezug nehmen. 2
Agnolo di Còsimo, genannt Il Bronzino, lebte von 1503 bis 1572, Florentiner Maler, beeinflusst von Michelangelo, dem Volponi ein Porträt der von ihm erwähnten Person zuschreibt. Die Zeit der Entstehung des Porträts entspräche nicht mehr der Blütezeit des Urbiner Hofes unter den Montefeltro, aber deutet auf den Einfluss hin, den das Florentiner Rinascimento schon immer auf Urbino ausgeübt hat.
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Die Episode des Mailänder Bombenanschlags ist eingebettet in die Geschichte des politischen Kampfs gegen die polizeilichen Übergriffe der staatlichen Gewalt im Gefolge der Ereignisse von ’68/’69. Die Protagonisten dieses Kampfes im Roman, die Anarchisten Subissoni und Vivés, verbindet ihre Lebensgeschichte mit den Erfahrungen und Erkenntnissen des spanischen Bürgerkriegs und der brutalen Niederschlagung der Republik in diesem Land, sowie mit Subissonis Erfahrungen mit dem faschistischen Regime in Italien, woraus sich die radikale Einstellung gegenüber Terrorakten herleitet, die eine autoritäre und reaktionäre Renaissance faschistischer Gewalt befürchten lässt. Daraus resultiert im Roman die Agitation Subissonis gegen den Einheitsstaat. Die biographischen Daten beider Figuren bilden die strukturierenden Momente der Gesamterzählung: die Existenz und Erfahrung Vivés’ als Opfer ihres lebenslangen Kampfs gegen den Faschismus, der erst mit ihrem Tod endet; das Leben Subissonis unter dem Aspekt der Politisierung der marginalisierten Existenz des Intellektuellen, die man als Weiterführung der Biographie Aspris nach dem offenen Ausgang in Corporale betrachten kann. Die Geschichte der Anarchisten
Die Romanhandlung setzt ein mit der Präsentation des professore Gaspare Subissoni, der im März 1921 eine weit sichtbare Schrift im Schnee in Urbino anfertigt, des Inhalts » l’Italia U.«, was besagt ›Nieder mit der Einheit Italiens‹. Dieses Detail leitet unmittelbar über zur Familiengeschichte Subissonis, dessen Vorfahre seinen Adelstitel ablegt im Moment der sich vollziehenden Einheit Italiens [8-9]. Subissonis Einstellung dazu charakterisiert seine Bemerkung: »Aber Cattaneo entflammte mich; die Nationalisten waren mir zuwider [...]« [8], was die Frontstellung andeutet zwischen Gegnern und Verfechtern der Einheit im Risorgimento. Von Anfang an rückt der Bezug zum Risorgimento in den Vordergrund und darin die von den Anarchisten bekämpfte staatliche Einheit. Die Lebensdaten von Subissoni und Vivés und ihrer Beziehung als Kampfgefährten im spanischen Bürgerkrieg übermitteln der Anfang des dritten Kapitels sowie ausführlich das sechste Kapitel, wo ihr Lebensverlauf in Beziehung gesetzt wird mit den aktuellen Ereignissen des Bombenanschlags. Diese Ereignisse sind es, in denen die Erinnerungen und Befürchtungen der beiden wieder aufleben und die Kontinuität einer immer noch oder schon wieder bedrohlichen faschistischen Gefahr erkennbar wird. Seine Befürchtungen legt Volponi den anarchistischen Figuren in den Mund, da von den Untersuchungsorganen die Anarchisten ja sofort als die Urheber des Attentats ausgegeben werden und diese sich zur Wehr setzen müssen. Beide äußern übereinstimmend, dass die Bombenanschläge, die auch an anderen Orten verübt worden sind, das Werk der Faschisten ist. Die sonst besonnerere Vivés geht in ihrer Rekonstruktion der vermuteten Zusammenhänge noch einen Schritt weiter: Ich bin sicher, dass sie die Attentäter bald entdecken werden und dass diese von der Rechten beauftragt worden sind. Wenn sie nichts finden, heißt das, dass die Regierung selbst die Bomben gelegt hat und dass sie damit fortfährt, bis sie vorgibt gezwungen zu sein, ein autoritäres Regime zu errichten. [27- 28]
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Vivés, über die Wiederkehr des Terrors zutiefst beunruhigt, beschließt, ihre bisher gesammelten Erfahrungen schriftlich festzuhalten, um sie anderen mitzuteilen. Vivés hielt inne. Die tiefe Beunruhigung, die sie fühlte, machte ihr die Lektüre der Ereignisse, die sie sich vorgenommen hatte, schwierig; legte ihr vielmehr nahe, ein Tagebuch zu beginnen, im Hinblick auch auf die andrängenden Erinnerungen und den inneren Zweifel, für sie neu, ob es richtig war, Bomben zu legen. [59]
Über die geschichtliche Distanz stellt sich jetzt für sie das Problem wieder von neuem. Das Tagebuch wäre nur ein nutzloses Nachgeben. […]. Alles musste stattdessen neu begonnen werden, rückblickend auf den Moment der Ausrufung der spanischen Republik von 1931 – Da war eine Partie begonnen worden, die noch offen war [59]. […] Spanien und seine Geschichte zwischen ’30 und ’39 war das warnende Beispiel [69].
Was daraus zu lernen ist, versucht Vivés, auf die gegenwärtige Situation zu beziehen: man müsse die politischen Ursachen des Terrorismus erforschen und erkennen und den Terror nicht als ein ziviles Unglück betrachten: Wir wissen nicht, wer der Auftraggeber ist. Wir wissen nichts über die Industrie. Nichts über Mailand. […] Alles scheint nur Worte zu sein und der schlechte Aufguss des Fernsehens. Es ist wie bei der Republik von 1931: dieselbe Verfassung, dieselbe bürgerliche Fassade. [61]
Die Unkenntnis der Art und Weise, wie die Politik operiert, ihrer Mechanismen und Instrumente, berauben die Bürger der Möglichkeit, diese Politik zu kontrollieren, was Vivés ihrem Weggefährten in Erinnerung ruft: Meinst du nicht, dass diese bürgerliche Republik […] lügen kann? Meinst du nicht, dass diese klerikale Republik fähig ist, aufs Geradewohl anzuklagen, zu ermitteln und zu verheimlichen? [108]
Vivés’ Reflexionen münden in eine Art philosophische Spekulation über den Verlauf der Geschichte, die sich in diesem Fall zu wiederholen scheint, so dass zu befürchten sei, dass aus ihr kein Ausgang in eine neue geschichtliche Dimension führt. Hier taucht zum ersten Mal das Bild des Vorhangs der Geschichte auf, auf dessen hinterer Seite die Zukunft der Menschheit liege oder eigentlich beginnen sollte, wie aus Marx’ Geschichtsprognose zu erfahren ist, dass die Vorgeschichte der Menschheit endet, wo das Reich der Freiheit beginnt. Auch Vivés’ Geschichtsvision tendiert in diese Richtung, wenn sie zunächst voller Zweifel bemerkt: Wie vergebens ist alles abgelaufen! Der Krieg in Spanien, der Weltkrieg, die Atombombe, Stalin …Man muss wieder von vorne anfangen […] Sicher ist, dass alles wie ’36 ist. Die Geschichte ist platt, wie Argote sagte, als er uns die Gewehre gab. Die Marxisten irren sich, wenn sie die Geschichte zu etwas Göttlichen
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte machen: sie verlieren sich darin […]. Nichts ändert sich, nur ein paar Löcher hier und da. […]. Die Geschichte gibt es noch nicht […]. Die Geschichte wird es dann geben, wenn es uns gelingt, ein Loch zu machen, durch das alle passieren werden; draußen, außerhalb des Vorhanges. Die Geschichte wird die Geschichte von dem sein, was wir zu machen imstande sind, in der Anarchie. [92- 93]
Mit dem Gefühl, das diese eher düsteren Spekulationen über den Verlauf der Geschichte begleitet, verbindet sich bei Vivés eine depressive Resignation, die ihren baldigen Tod schon erahnen lässt, aber auch die Hoffnungslosigkeit bestätigt bezüglich der von ihr geschilderten Lage. Wie hier erkennbar ist, vernachlässigt Volponi in seinen Figuren, die die politischen Positionen des von ihm dargestellten Anarchismus vertreten, keinesfalls das menschliche Profil der beiden Personen, das im Kampf um die Republik oder ihrer Verteidigung eine neue Dimension gewinnt. Im selben Maß wie Vivés in den Hintergrund rückt, gewinnt Subissoni an Gewicht als Bezugspunkt weniger jetzt bezüglich des spanischen Bürgerkriegs als der Geschichte des Risorgimento , wo ihm Volponi als Gegenspieler des Aristokraten Oddino die Rolle der Vertretung und Verteidigung republikanischer Prinzipien im Kampf um die Einigung Italiens zugedacht hat. In dieser Rolle aber spielt Subissoni auf zwei Ebenen und in zwei verschiedenen Szenarien, einmal als der anarchistische Kritiker der Einigung Italiens, ein anderes Mal als der Berater des Anwärters auf die Macht, dessen Ansprüche auf die Herrschaft über Urbino er zu vereiteln sucht. Auf dieser zweiten Handlungsebene wird im eigentlichen Sinne das Spiel inszeniert, das Volponi vor der Kulisse des palazzo ducale aufführen lässt: die komödienhafte Inszenierung eines Aspekts des Risorgimento, nämlich seines Schlussakts, in welchem Italien als Braut dem savoyardischen Thronprätendenten zugeführt werden soll, was Subissoni aber verhindert, indem er die Braut entführt. Der parodistische Charakter dieses Spiels ist klar erkennbar, offen bleibt nur, wie das Spiel enden soll, ob Oddino Dirce, die Braut, wieder zurückgewinnt oder ob Subissoni die popolana als die auf sich selbst gestellte, befreite Frau mit sich führen kann in ein selbst bestimmtes Leben. Diese Ebene der Handlung, auf der es darum geht, ob Italien Monarchie oder Republik werden soll, überschneidet sich in gewisser Weise mit der zweiten Handlungsebene, auf der die Agitation Subissonis gegen die Einheit Italiens in Szene gesetzt wird. Beide Aspekte der Handlung ergänzen sich, werden aber im Roman getrennt dargestellt. Wir folgen dieser Disposition der Handlungsführung, indem wir zunächst Subissonis Agitation noch an der Seite seiner Kampfgefährtin verfolgen. Subissoni geht wie Vivés davon aus, dass Italien nicht geeint ist und dass es als Nation gar nicht existiert: »Italien gibt es nicht; Italien ist gestorben in Teano« eine offene Anspielung auf den usurpatorischen Akt des piemontesischen Herrschers, sich zum König von Italien zu erklären und das Heer Garibaldis aufzulösen [107]; und Vivés assistiert ihm: Du sagst richtig, dass es Italien nicht gibt. Es ist nicht existent. Auch jetzt reagiert es in tausend Weisen […] und es zuckt hier und da wie der abgehackte Schwanz einer Eidechse – [was Subissoni aufgreift und ergänzt]: Die Schlange ohne Kopf, die nie weiß, wohin sie geht, die nie den Kopf hebt und nie ihren Körper betrachtet. [130]
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Ist das Italien des Risorgimento »eine Schlange ohne Kopf«, so weil es die Städte, die sein Rückgrat bilden, nicht in sich integrieren konnte, und weil dafür auch nicht die Organe verfügbar waren, die wie die Lega italica von 1455 die Städte in einer confederazione vereinte und strukturierte [108]. Die Konföderation der Städte versteht und charakterisiert Subissoni hier als das Modell einer politischen Einigung, entlehnt offensichtlich aus Cattaneos schon zitierter Schrift: einer Form des Zusammenschlusses von Regionen, der aus Subissonis Sicht die »nazione unita« nicht entsprechen kann. Der Standpunkt, den Subissoni bezieht und der die Zurückweisung jeglicher zentralistischer Macht beinhaltet, wobei er zugrunde legt, dass zentralistische Machtkonstellationen immer in Formen von Diktatur münden [130], wird in dieser Form von Vivés nicht geteilt. Vivés mildert den Extremismus Subissonis ab, indem sie gegen eine falsche Autonomie der ländlichen Gesellschaften [131] einwendet, dass Jakobiner wie Marxisten in der Einheit das Maß sozialer Gerechtigkeit gesehen haben. [130] Von Interesse ist diese differenzierte Sichtweise der gleich gesinnten Partnern insofern, als sie, wie sich noch erweisen wird, verschiedene Auffassungen hinsichtlich der Ziele einer Kommunistischen Partei offenbart, der Subissoni vorwirft, dass sie den Einheitsstaat braucht und zu dem Zwecke fördert, auf dieser Basis die Gesellschaft insgesamt zu verändern, was der föderalistischen Idee von autonomen Regionen offensichtlich zuwider ist. Der so genannte »Antikommunismus« Subissonis wäre im Grunde auf dieses Motiv hauptsächlich zurückzuführen und zu beschränken. Wo er dagegen in der Öffentlichkeit der Stadt erscheint, auf den Plätzen, in den Bars und den Stätten, wo sich Leute versammeln, tritt er als die Figur auf, die gegen den monarchischen Prätendenten die Sache des Volks vertritt – la libertà popolare [114]. Von Vivés in seiner Mission bestärkt: Geh. Hör zu und diskutiere in Ruhe […]
Diesen Zuspruch von Vivés empfindet er als einen Akt der Investitur: Gerührt von diesem Schlag zum Ritter richtete sich Gaspare auf […] und ging mit großen Schritten zur Piazza. [134]
Eine erste Auseinandersetzung in einer Trattoria, wo Subissoni die Ermittlungen über den Bombenanschlag mit jungen Leuten diskutiert, entzünden sich an der lezione di storia, in der Gaspare versucht, seine Ansichten über ein föderiertes Italien – Italia federativa – zu verbreiten; die Jungen ihm aber abweisend begegnen, indem sie die Verursachung des Attentats wieder auf die aktuellen Fakten zurückdatieren. Subissoni aber verharrt in seinem propagandistischen Eifer auf der Ebene der Geschichte, wo er erneut gegen die Übel des Regimes, die aus den Kompromissen des Risorgimento resultieren, zu Felde zieht.3 In dieser Rolle des Antagonisten gegen ein Regime, das die Herrschaft über Italien usurpiert hat, wechselt er über auf die Ebene des his3
Der erste Abschnitt des XX. Kapitels, der die Missstände der gegenwärtigen kapitalistischen Verhältnisse beschreibt, macht dafür verantwortlich »die versumpfte und zerlumpte bürgerliche Freiheit«, die sich verwandelt hat in »Unterwerfung, Habgier und Kompromisse.« [207]
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torischen Theaters, wo jetzt die dritte Figur des nationalen Dramas den Schauplatz betritt: die popolana Dirce, die die Braut verkörpert, die der Thronprätendent Oddino heimführen soll. Dieser Übergang auf die Ebene des Theaters wird eingeleitet mit der Frage: Und warum nicht gleich sagen, wo die Schuld liegt für so viel Unglück und vor allem historischer, ökonomischer, kultureller Verschwendung, in die kopfüber dieses arme Land gestürzt worden ist? [208]
Die Frage klingt wie der Prolog auf dem Theater, auf dem das angekündigte Stück aufgeführt werden soll: Gab es dafür nicht das Theater? War diese Dirce zu einer bestimmten Stunde des Morgens nicht gekommen wie für eine Begegnung auf dem Theater? [208]
Und unmittelbar geht der Text über auf das Szenarium der Komödie der Machtansprüche auf Urbino – und d.h. auch auf Italien. Könnte man sich nicht das Vergnügen leisten, daraus einen anderen Text zu machen […] für jenen Oddi, der wahrhaftig und legitimer Weise die Herrschaft über Urbino beanspruchen konnte? [208]
Dieser Anspruch auf die Autonomie der Stadt gegenüber dem Thronprätendenten wird aber historisch noch weiter zurückdatiert in die Zeit der Lega der italienischen Städte Ende des 15. Jahrhunderts. Es war richtig, ihn anzugreifen, wie auch immer, auch indem man versucht, die Signorien der ersten italienischen Liga wieder zu beleben. [208]
Das Stichwort, den Prätendenten der Macht anzugreifen, ist gefallen. Gaspare betritt den Raum voller Leute, die seine Rede erwarten und ihren Protest gegen die Regierung lautstark äußern. Wieder beginnt hier das Spiel der Auseinandersetzung auf einer doppelten Ebene, denn während Subissonis Rede sich konzentriert auf den Widersinn der »Einheit in Form der Monarchie« [209], erwartet die Protestversammlung eine Stellungnahme zugunsten einer Aktion gegen die Regierung. Auch Subissoni redet von Revolution; aber von einer, die Italien von der Fremdbestimmung befreit und es eint in einer »freien Union der Regionen und der Städte.« – »Man musste diese Einheit zerbrechen und sehen, welche Stücke davon noch übrig blieben…«. [210] Doch hier wird zum ersten Mal Unmut laut und Gaspare sucht zu beschwichtigen, indem er die Geschichte ins Spiel bringt, deren Lauf es zu verändern gelte. Davon aber wollen die Jungen nichts hören: An diesen Punkt scheint Volponi aber die Auseinandersetzung bewusst führen zu wollen, wo nämlich das Bewusstsein von Geschichte auf eine diese negierende Auffassung stößt, nach der der revolutionäre Prozess in der jeweiligen Gegenwart unmittelbar neu beginnt, worauf Gaspare wieder entgegnet: Die Geschichte, nicht die der Macht, sondern die auf der Gegenseite, in Negation dazu: die der Besiegten, von Cattaneo und Pisacane […]. [212]
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An dieser Konfrontation mit einer vermutlich revolutionären Gruppe der neuen Linken ist hervorzuheben, dass für die jugendlichen Revolutionäre allein die Konflikte der Gegenwart zählen, während Subissoni wie Volponi in die Geschichte zurückgeht, um die Ursprünge der noch anhaltenden politischen Krisen der Gegenwart aufzudecken. In dieser Hinsicht die vielleicht wichtigste, auf jeden Fall historisch relevanteste Äußerung Subissonis ist zweifellos die Rede, welche er nach der Bestattung der verstorbenen Vivés im Zug auf der Rückfahrt von Bologna vor den Mitreisenden improvisiert. Sie ist ein einziges Plädoyer für ein von seinen Geburtsmakeln und seinen erblichen Übeln befreites Italien und eine unverblümte Denunziation der politischen Kompromisse des Risorgimento, die Gramsci dessen »rivoluzione passiva« genannt hat. Im Wesentlichen behandelt diese Rede drei Punkte der Kritik oder drei Themen: das erste gegen die Vormachtstellung Roms in der Konstitution des nationalen Italien; das zweite die rückläufige kulturelle Bedeutung der Regionen, die mit Leopardi beklagt wird; und das dritte die Gefahr eines neuen bewaffneten Konflikts, in die das Regime die Gesellschaft hineinziehen könnte. Subissoni ist hier – über die Komik hinaus, die dieser Figur anhaftet – zweifellos als einer der Wortführer Volponis zu identifizieren. Für seine Rede findet er einen adäquaten Einstieg, indem er gegen die Eisenbahnverbindungen polemisiert, die Italien kreuz und quer durchziehen und die von ihm in erster Linie darauf zurückgeführt werden, dass damit Kriegsmaterial leichter zu befördern ist. Die vulgären, teilweise skurrilen, aber immer treffenden Bilder sind bevorzugte Ausdrucksmittel für die Beschreibungen, die Gaspare von den Verhältnissen liefert, wenn er z.B. zum ersten Kritikpunkt verlautbaren lässt: was ist diese Republik, wenn nicht die weggeschmissene Hutschachtel des Königs? Und diese selbst war schon eine alte Schachtel. [173]
Diese Republik sei schon tot geboren, wie er nebenbei bemerkt. Und schlimmer als die spanische von ’31, schlimmer als die von Weimar. Und als ob alle zusammen sie gemacht hätten Buonarroti, Mazzini, Gioberti, Cavour und der Prinz von Canosa. Und groß gezogen haben sie dann die Hofleute des Königs, die ignorantesten Priester und die Präfekten. [175]
Die vernachlässigte oder ignorierte Kultur der Regionen, der zweite Punkt der Kritik, wird in erster Linie darauf zurückgeführt, dass die politische Führung des Landes, die aus den genannten Anfängen hervorgegangen ist, nicht mehr fähig war, die Ressourcen der Regionen als Potentiale wahrzunehmen. Und um es mit Leopardi zu sagen. Dieser war in der Lage zu hören, was sich Erde und Mond sagen, und verstanden hatte er die Lektion von Teophrast über den Schweiß der Menschen […] Daraus sollte die zweite Natur hervorgehen, die größere und allumfassende von Italien! Eine andere als die alte Einheit! [173- 74]
Zu verstehen ist diese zweite Natur, die erst das ganze Italien umfasst, wenn nicht als die Natur der bäuerlichen Verhältnisse, so als das durch die Kenntnisse der Naturwissenschaften begründete neue Verständnis des Lebens.
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Was den dritten Punkt betrifft, die autorità nazionale, so drängt es Subissoni, seine Landsleute, bevor er den Zug verlässt, vor dieser zu warnen: wenn ihr nicht selbst für das Gleichgewicht der Freiheit sorgt, ohne irgend etwas von dieser Republik zu erwarten, wird Italien stürzen und uns alle unter sich begraben […]. Das Beispiel waren die beiden Weltkriege und die Ereignisse in ihrem Gefolge […]. [174]
Wieder kommt Volponi auf die Gefahr einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen den Nationen zurück, die jetzt aber mit der atomaren Vernichtung der Menschen verbunden wird. Welche Wichtigkeit diesen Reden Subissonis zuzumessen ist, wäre vielleicht den Komplimenten zu entnehmen, die der fiktive Autor indirekt dem professore zuteil werden lässt, wenn es heißt: »Diese Seiten, wie der Leser bemerkt haben wird, zeugen von der Bewunderung des Autors für den Professor Subissoni und seine Ideen« [125], die hier bezüglich der Einheit Italiens festgehalten sind. Offensichtlich verfolgen diese Bemerkungen die Absicht, die satirische Note der folgenden Äußerungen abzuschwächen, die als dessen Gedanken ausgewiesen werden: Er [Subissoni] dachte an das schreckliche neunzehnte Jahrhundert der italienischen Geschichte, an die Schar von Familiensöhnen und Müßiggängern, die die Carbonari waren, an die anmaßende Figur von Mazzini, der sich als lebendes Beispiel der Tugenden von Cincinnato, Cato, Cäsar, Brutus und Kaiser Augustus fühlte: dieselben Tugenden alle wieder erstanden und vereint im großen Kopf des dux, compendio italico und summa romana, und in erster Linie des Christdemokraten Gioberti, das Lamm des Herrn, aber auch jedes herrschaftlichen Stalls … und so weiter alle anderen…einschließlich Vittorio Emanuele II, der ihm immer in Unterhosen und auf den Stufen der Latrine begegnete […] – Welches ist das Zeichen der Einheit gewesen? Der Verfall der Sitten und eine Herde kleiner Poeten, dämlicher Literaten und Bibliothekaren mit Hämorrhoiden, der Konformismus und das Strebertum. [125]
2. D IE D EBATTEN
ÜBER DIE NATIONALE DAS
E INIGUNG I TALIENS :
R ISORGIMENTO
Ist Subissoni eine Art Sprachrohr Volponis? Und sind die beiden anarchistischen Repräsentanten des Romans, Vivés und ihr Lebensgefährte Subissoni, Spiegelungen der politischen Ansichten des Autors? Eine eindeutige Antwort darauf wäre wahrscheinlich nicht zu rechtfertigen. Sicher ist, dass Vivés und Subissoni Figuren einer Geschichte sind, die Volponi darstellen und erzählen will und die in einem geschichtlichen Kontext steht, der die politischen Analysen weiterführt, die er in Corporale begonnen hat. Und diese Analysen führen ihn ausgehend von dem aktuellen Ereignis des Bombenanschlags von Mailand zurück zu den kontroversen Ursprüngen einer staatlichen Einheit, in der die Frage der Verfassung Italiens ganz und gar nicht zu einer einheitlichen Lösung geführt hat, worauf Subissoni in seiner Kritik der nationalen Einigung auch immer wieder zurückkommt. Worum geht es aber in der Debatte 234
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um die Einheit Italiens, die sich über den Zeitraum des gesamten Risorgimento erstreckt? Um darauf zu antworten, sei zunächst bemerkt, dass vergleichbare Debatten auch in anderen Ländern Europas geführt worden sind, in denen es jeweils um politische Veränderungen ging im Hinblick auf die geschichtlich überholten Verhältnisse des alten Regimes. Dabei steht zweifellos im Zentrum aller Fragen die Dringlichkeit einer neuen Gesellschaftlichkeit, entsprechend den Kräfteverhältnissen der Klassen bei der Neuordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Das ist im nationalen Maßstab zu realisieren und setzt voraus, dass ermittelt wird, was für die neue Gesellschaftsformation wesentlich ist und sie bestimmen soll. Debatten dieser Art sind den bürgerlichen Revolutionen in England und Frankreich vorausgegangen und in Hegels Rechtsphilosophie findet sich der exemplarische Entwurf einer bürgerlich verfassten Gesellschaft,4 der im Kern die wesentlichen Merkmale bürgerlicher Gesellschaftlichkeit beschreibt. Entgegen der Annahme, dass die ökonomischen Bedürfnisse der Menschen die Grundlage ihres Zusammenlebens in der Gesellschaft darstellen und revolutionäre Veränderungen bewirken, wird als grundlegend dafür in der Debatte des Risorgimento betrachtet die Wiederbelebung der italienischen Kultur, das Ansehen ihrer Kunst und Wissenschaft, wie das Giobertis Del primato morale e civile degli italiani von 18435 proklamiert. Entsprechend wird auch die Frage der Einflüsse, die die Französische Revolution auf die revolutionären Ereignisse in Italien gehabt hat oder ausgeübt haben könnte, mehrheitlich dahingehend beantwortet, dass der italienische Weg der nationalen Erneuerung aus der eigenen Geschichte zu erklären ist und seine Ziele andere Mittel als in Frankreich erforderlich machen. Die Problematik, die in der Polemik Subissonis gegen den nationalen Weg der Einigung Italiens wieder zum Thema gemacht wird, ist wohl am umfassendsten dargestellt worden in Gramscis Schriften zum Problem des Risorgimento, in denen im Kern Volponis kritische Position als den historischen Umständen angemessen bestätigt wird. Um die geschichtliche Relevanz der Fiktion des Romans anschaulich zu machen, sei uns gestattet, diese Problematik näher zu beleuchten. In einer der Passagen, die Gramsci der Thematik des Risorgimento widmet, analysiert er die Aussage eines Politikers aus dem Jahre 1932, in der dieser das Risorgimento interpretiert »als den Ursprung eines neuen Bürgertums«, was dem Anspruch nach im Grunde dem Ereignis entsprochen hätte, aber in diesem Zusammenhang sogleich wieder im Sinne einer nur kosmopolitischen, d.h. kulturellen Sendung der Klasse auf europäischer Ebene verstanden wird. Die vielleicht wichtigste historische Klärung bezüglich der Thematik findet sich in Heft 10, § 61 der Gefängnishefte Quaderni del carcere. Die Französische Revolution versteht Gramsci als eine gesellschaftliche Veränderung, die von den Produktionsverhältnisse ausgeht und in ihrem Verlauf bestimmt wird durch den Prozess der Machtverlagerung vom Ancien Régime auf die Klasse der bürgerlichen Produzenten, auf die auch die politische Macht übergegangen ist. Ist dieses Modell, so fragt sich Gramsci, aber anwendbar auch auf die Ansätze revolutionärer Veränderungen in den ande4 5
Hegel, G.W.F: »Die bürgerliche Gesellschaft«, in: Grundlinien der Philosophie des Rechts, III. 2. Theorie Werkausgabe 7, Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 1970. Übersetzung des Titels: Vom moralischen und zivilen Primat der Italiener.
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ren Ländern des Kontinents? Wenn diese Frage für ihn offen bleibt, so weil das ökonomische Gewicht auch in den anderen Ländern von den Besitzenden auf die Produzenten übergeht; aber damit noch nicht deren Verfügungsgewalt über die Politik. Zwischen tatsächlicher Herrschaft und gesellschaftlichen Ansprüchen klafft eine Lücke, die nach Gramsci erst durch die Vermittlung der Intellektuellen zu schließen ist, deren Beitrag zur Revolution er wie folgt beschreibt: In jedem Fall sieht man, wenn der Anstoß zum Fortschritt nicht eng von einer weiten lokalen ökonomischen Entwicklung hervorgerufen wird, die künstlich begrenzt und behindert wird, […] dass die Gruppe, die die neuen Ideen verkörpert, nicht die ökonomische ist, sondern die Schicht der Intellektuellen, und dass die Konzeption des Staates, die man propagiert, eine andere Form annimmt, einen anderen Aspekt bezeichnet; sie wird als eine Sache in sich begriffen, als etwas rational Absolutes.6
Wenn es also nicht die materiellen, ökonomischen Verhältnisse sind, die eine revolutionäre Veränderung herbeiführen oder erzwingen, wie im Falle der Französischen Revolution, sondern eine Erneuerung der Gesellschaft auch ohne Revolution als möglich angenommen wird, dann wird der Zusammenschluss zur Nation in einem gemeinsamen Staat zu einer Idee und ihre Verwirklichung eine Aufgabe der Kultur, die vor allem den Intellektuellen anheim gestellt ist. Während der Staat der französischen oder englischen Revolution aus den Kämpfen um strukturelle ökonomische Veränderungen hervorgegangen ist, sind es in den noch wenig industrialisierten Ländern die Intellektuellen, die am Prozess der Veränderung beteiligt werden, d.h. die mit den Funktionen der Bildung betrauten Eliten und nicht die am ökonomischen Prozess direkt Beteiligten oder davon Betroffenen. Die Intellektuellen aber sieht Gramsci gespalten in das Lager der »traditionellen«, dem alten Regime verbundenen Intellektuellen, sowie der »organischen« Intellektuellen, von denen die ersteren auf der Seite des abstrakten Idee des Staats zu finden sind, die letzteren dagegen auf der der subalternen Klassen, für deren Bedürfnisse und Interessen sie sich engagieren. Auf Seiten der Konservativen wird die Errichtung des Staats verstanden als eine »Reaktion« gegen die französische Revolution, deren negativen Verlauf man in der eigenen nationalen Entwicklung zu vermeiden hat oder als schon überwunden ausgibt, woraus schließlich das Syndrom dessen resultiert, was Gramsci als »rivoluzione passiva« bezeichnet hat,7 d.h ein Revolutionsverständnis ohne die Beteiligung der »classi fondamentali«, und die Wiederherstellung der alten Machtverhältnisse, sobald Elemente der Entwicklung in das Machtgefüge übernommen worden sind. Gegenstand der Kritik Gramscis ist darüber hinaus die Verkoppelung der Bestandteile von »nazionale« und »popolare« im Begriff der Kultur des Risorgimento, wonach auch die Synthese beider Momente als Einheit vorgespiegelt wird. Entschieden aber stellt Gramsci das nationale Element der kulturellen Traditionen in Frage: »Die Traditionen sind kosmopolitische«, heißt es lapidar im Artikel betitelt »Risorgimento«, wobei es jedoch zwei Spielar6 7
A. Gramsci: Gefängnishefte, Heft 10, § 61. Gramsci: Ebd.
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ten des Kosmopolitismus gebe, die geschichtlich voneinander zu trennen seien: nämlich die der Herrschenden und ihrer Kultur und die der subalternen Klassen, die emigrieren mussten und ihr Wissen und Können mit sich genommen haben, kurz der Kosmopolitismus der Arbeit. Zu fragen sei, welchen Anteil diese Traditionen aber am Zustandekommen der Nation haben? Und weiter: Ist die Nation überhaupt Zielvorgabe der »nationalen Bewegung, die zur Einheit des italienischen Staates geführt haben?« – und seine Antwort: Der Nationalismus sei nicht als »organico-popolare« zu verstehen, sondern eine Konstruktion der Intellektuellen. Es sind Mazzini und Gioberti , die »versuchen, die nationale Bewegung der kosmopolitischen Tradition einzugliedern, den Mythos einer Mission zu erfinden des wiedergeborenen Italien in einer neuen europäischen und weltweiten Cosmopolis, aber das ist ein rein verbaler Mythos […]« [Heft 9, § 127]. Nicht die italienische Kultur wird exportiert, exportiert wird der Mensch als Kapital oder als Arbeit, und: »Die italienische Expansion ist die der Arbeitskraft, nicht des Kapitals […]«. Schließlich die Wendung, die das nationale Element, das in der Arbeiterklasse angelegt ist, umkehrt in dessen Internationalismus: Der italienische Kosmopolitismus kann nur zum Internationalismus werden. Nicht der Weltbürger als civis Romanus lat.: ›römischer Bürger‹ oder Katholik, sondern als Arbeiter und Kulturproduzent. Deshalb kann man behaupten, dass die italienische Tradition sich dialektisch im arbeitenden Volk und in dessen Intellektuellen fortsetzt, nicht im traditionellen Staatsbürger und im traditionellen Intellektuellen. Gerade das italienische Volk ist ›national‹ mehr am Internationalismus interessiert.8
Der italienische Historiker Giulio Bollati untersucht in seinem Werk L’Italiano. Il carattere nazionale come storia e come invenzione9 u.a. den Zeitabschnitt des Risorgimento im Hinblick darauf, eine nationale Identität der Italiener zu definieren oder den Grad ihrer Vergesellschaftung unter nationalen Bedingungen zu ergründen. Dabei öffnet er den Horizont seiner Untersuchung auf die europäischen Länder mit vergleichsweise fortgeschrittenen wirtschaftlichen Verhältnissen, die den Weg zur Industrialisierung schon eingeschlagen haben. Gemessen an den Standards dieser Gesellschaften, die zunehmend an der industriellen Produktion partizipieren, wird die Distanz 8
9
Gramsci: Gefängnishefte, Heft 9, § 127, Das Risorgimento. Der Text lautet weiter: »Nicht nur der Arbeiter sondern auch der Bauer und besonders der Bauer des Südens. Zusammen daran zu arbeiten, die Welt ökonomisch in einheitlicher Weise neu zu erbauen, liegt in der Tradition der italienischen Geschichte und des italienischen Volkes, nicht um sie zu beherrschen und sich die Früchte der Arbeit anderer anzueignen, sondern um zu existieren und sich zu entwickeln. Der Nationalismus ist ein anachronistischer Auswuchs in der Geschichte Italiens, von Leuten, die zurückblicken, wie die Verdammten bei Dante. Die zivilisatorische Bestimmung des italienischen Volks liegt in der Wiederbelebung des römischen und mittelalterlichen Kosmopolitismus, aber in seiner moderneren und fortfgeschrittenen Form.« Bollati, Giulio: L’Italiano. Il carattere nazionale come storia e come invenzione. Turin: Einaudi 1983/1996. Der Italiener. [Der Nationalcharakter als Geschichte und Erfindung].
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erst erkennbar, die die Autoren des Risorgimento von einer »civiltà moderna« trennt. Ihre Programme der Erneuerung halten unbeirrt fest an den Normen und Werten einer Kultur basierend auf einer »agrarischen Ökonomie«,10 was in der Polemik gegen die Maschinen und die Übel der englischen Industrie bei Gioberti und Mazzini seinen beredten Ausdruck findet. Vor allem Mazzini rühmt gegenüber den gewaltförmigen Methoden der kapitalistischen Produktion die Gewaltlosigkeit, den sozialen Frieden, die Brüderlichkeit der italienischen Verhältnisse – »la non violenza«, »la pace sociale«, »la fratellanza e l’unione« – in seinem Aufruf an die Arbeiter Italiens,11 und setzt der Realität die Ideale der »italianizzazione« entgegen. Seine Analyse fasst der Autor in der Feststellung zusammen, dass das Risorgimento »der geeinten Nation ein Vermächtnis moralischer und geistiger Prinzipien und eine zivile Mission hinterlassen hat«, die in der Substanz einen grundsätzlichen Vorbehalt gegenüber der modernen Zivilisation beinhaltet – »una riserva di fondo nei confronti della civiltà moderna«.12 Was die Literatur betrifft, setzt Mazzini um 1830 eine Zäsur an, wonach mit dem Ende der europäischen Romantik der Literatur und den Künsten die quasi offizielle Funktion zufallen sollte, »di educare l’umanità« – die Menschheit zu erziehen –, wie es im Manifesto della Giovane Italia heißt,13 eine Literatur, in Mazzinis Worten, die »organisch, positiv, sozial ausgerichtet« sein soll, und eine Literaturkritik, so Pasquale Voza, die als »heroisch und positiv, philosophisch und die neue soziale Kunst propagierend« charakterisiert wird.14 Der Kultur wird damit die quasi exklusive Funktion im Prozess der Gesellschaftsveränderung zugeschrieben, was Voza in der Feststellung zusammenfasst: »Bei Mazzini stellt die spiritualistische Erhöhung einer solchen Philosophie des Fortschritts […] eine der auf die Spitze getriebenen und zugleich durchsichtigen Beispiele des Primats der Kultur dar, jener ›Revolution im Überbau‹, die mangels einer ökonomischen Hegemonie nach Gramsci die ›passive Revolution des Risorgimento‹ charakterisieren sollte.«15 Welche Vorstellungen aber haben die Autoren des Risorgimento von der Zukunft eines geeinten Italien? Eine Frage zweifellos von Interesse hinsichtlich der Argumentationsweisen des Romans und den politischen Diskursen der verschiedenen Tendenzen – gesellschaftlichen und literarischen – des Risorgimento. Als deren früheste literarische Äußerungen sind sicherlich die Aufrufe und Mahnungen zu zählen, die von den Dichtern im Übergang zum neuen Jahrhundert an das unter dem Joch der Fremden leidende Italien ergangen sind; von Alfieri, der ein klassizistisches Ideal von antiker Größe und Tatkraft beschwört, von Foscolo in den Sepolcri, in denen die vergangenen Geschlechter die Gegenwärtigen zur Befreiung aus der Knechtschaft aufrufen, und schließlich von Leopardi, der in All’Italia gegenüber der antiken Größe den Verfall der Moderne beklagt. In diesen Dichtern sind die Bilder vergangener Größe und Würde noch lebendig und werden im Umbruch der Epoche den Zeitgenossen als leuchtende Vorbilder vor Augen geführt. Doch 10 11 12 13 14 15
Ebd., S. 96. Ebd., S. 110. Ebd., S. 112f. Cf. Toesca, Pietro Maria: I grandi libri del Risorgimento, S. 35. P. Voza: Ebd., S. 54f. P. Voza: Ebd., S. 37.
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der Umbruch signalisiert auch eine Wende im Verständnis der Bilder und der literarischen Widerspiegelung von Wirklichkeit im Übergang vom klassizistischen Literaturverständnis zur Romantik, mit der anfangs und über eine weite Strecke das Risorgimento identifiziert wird. Leopardi wendet sich in seiner zweiten großen Schrift, der Rede über den gegenwärtigen Zustand der Sitten der Italiener von 1824,16 entschieden dieser Gegenwart zu, indem er jetzt den zivilen Zustand der Gesellschaft zum Gegenstand einer kritischen Betrachtung macht. Er revidiert nicht grundsätzlich seine skeptische bis negative Auffassung hinsichtlich der »Sitten« der Zeit und er mildert auch nicht wesentlich sein Urteil über eine »civiltà«, der er die Schuld an der Verderbnis der Sitten anlastet; was dagegen verändert wird oder vielmehr neu hinzukommt, ist der jetzt positiv gewendete Begriff des »incivilimen-
to« [des Zivilisationsprozesses], eines Begriffs, der auf die Moderne übertragen mit der Konstitution einer bürgerlichen Gesellschaft gleichzusetzen wäre. In seinem jetzt geschärften Interesse für den »destino delle società civili« [die Entwicklung der Zivilgesellschaft] – und er bezieht sich dabei auf die Gesellschaftsentwürfe moderner Staaten wie England, Frankreich und Deutschland [sic] vermerkt Leopardi, was Italien anbelangt, den Mangel einer »società stretta«, einer eigentlichen Zivilgesellschaft im Sinne der als Staat sich konstituierenden bürgerlichen Gesellschaft.17 In Umrissen deutet Leopardi an, auf welchen Grundlagen eine moderne Gesellschaft – die die bürgerliche sein wird – beruhen oder aufbauen soll, nämlich, was ihre ökonomische Basis betrifft, auf dem Ehrgeiz (ambizione) ihrer Bürger und dem Prinzip des Ansehens (onore), der dem Ehrgeiz Grenzen setzen wird [449 ff]. Merkmale sind das aber, die erst durch eine »società stretta«, einer Gesellschaft im eigentlichen Sinn, ausgebildet werden und in Italien noch nicht entwickelt worden sind: Da es keinen guten Ton gibt, kann es auch keine gesellschaftliche Übereinkunft (i.S. der guten Sitten = bienséances) geben. Da diese fehlen – und die Gesellschaft selbst fehlt –, kann es auch keinen ausgeprägten Sinn für das eigene Ehrgefühl geben […] [454] – Das sind die Konsequenzen davon, dass es in Italien wenig Gesellschaft gibt. Und daraus, dass es wenig Gesellschaft gibt, erwächst der Umstand, dass es keine gute Gesellschaft gibt […]. [466] – Die Italiener haben eher Gebräuche und Gewohnheiten als Sitten. [472]
Attestiert Leopardi der Zivilisation in Italien – in der von ihm definierten Bedeutung große Mängel, so führt er das aber darauf zurück, dass die Gesellschaften erst sozialisiert sind, wenn sie gefestigte Sitten («costumi») haben, resultierend aus dem Fortschreiten des incivilimento. [475] Auf die nationale Vergangenheit zurückblickend rühmt Leopardi das Rinascimento als einen Ansatz dazu, weil es Italien aus der »barbarie de’ tempi bassi« [»der Barbarei der niederen Zeiten«] befreit und herausgeführt habe. Im Quattrocento schon seien »die ›civiltà‹, die Wissenschaften, die Künste, die Erkenntnis wiedergeboren und fortschreitend und sich ausbreitend haben sie uns nicht von der Antike befreit«, sondern von deren Verdrängung und Korruption. »Kurz die 16 Leopardi, Giacomo: »Discorso sopra lo stato presente dei costumi degli Italiani«, in: Poesie e prose, Mailand: Arnaldo Mondatori, I Meridiani, 1988, Bd. II, S. 443- 480. 17 Ebd., S. 448- 50.
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›civiltà‹ wurde im Quattrocento in Europa nicht geboren sondern wiedergeboren.« [469] Diese Vorverlegung des »Rinascimento« in das Quattrocento, womit die höfische Vereinnahmung der Wiederentdeckung der Natur des Menschen im Folgenden Jahrhundert einfach übergangen wird, entspricht genau der Auffassung von Volponi, wie das in der Geschichte des Sipario ducale noch deutlich wird. Was die Richtungskämpfe der Literatur des 19. Jahrhunderts betrifft, auf die Volponis Analyse des Risorgimento Bezug nimmt, ist noch hinzuweisen auf die Literaturkritik in der Zeitschrift Il Crepuscolo und ihres Herausgebers Carlo Tenca. Von ihm wird die Wende eingeleitet und historisch und literarisch legitimiert vom historischen Roman zur geschichtlichen Realität in der Literatur. Seine Kritik am historischen Roman zielt vor allem darauf, dass er frei über die geschichtlichen Daten verfügt und an der gesellschaftlichen Wirklichkeit vorbei Geschichten erzählt, die hauptsächlich die ideologischen Positionen der Parteien beglaubigen sollen. In seinem Artikel von 1853, betitelt Del romanzo sociale, plädiert er für den »zivilen und sozialen Roman wie er heute von allen gewünscht wird« und was darauf beruht, dass »die Kunst heute, in Übereinstimmung mit der Wissenschaft, dazu drängt, tiefer einzudringen in die versteckten Ursachen der Übel, an denen das Zusammenleben der Menschen leidet.«18 Die Aufmerksamkeit, die für die sozialen Verhältnisse reklamiert wird – und hier offensichtlich in Folge der sich vollziehenden gesellschaftlichen Zusammenschlüsse ist, was auch Volponi von der Literatur erwartet, die die Wirklichkeit des Menschen in seiner Geschichtlichkeit bezeugen soll. Im Ansatz wird auch schon vorweggenommen, was Gramsci als das »nazionale« und »popolare« von der Literatur einfordert, nämlich die Integration des »volkstümlich-religiösen« Verständnisses der Wirklichkeit in den Kanon einer nationalen Literatur. Die romantische Wende, die Tenca als die neue Schule kennzeichnet, soll dazu beitragen, »die lange ›Segregation der religiösen Ideale des Volkes‹ zu brechen und die Literatur zu einem Instrument der Erforschung und Erkenntnis der Gesellschaft zu machen.« [147]
3. DIE I NSZENIERUNG
DER
G ESCHICHTE
ALS
K OMÖDIE
Die satirische Wendung, die die Kritik an der Monarchie in Subissonis Darstellung nimmt, ist nicht allein der Sichtweise dieser Figur zuzuschreiben, denn sie entspricht durchaus der antimonarchischen Polemik vor allem bei Cattaneo,19 auf den sich Volponi wiederholt beruft. Mit dieser Wendung lei18 Zitiert in Pasquale Voza: Letteratura e rivoluzione passiva, S. 153- 54. 19 Cattaneo spricht in L’insurrezione di Milano nel 1848 : von der rückständigen Fraktion im Gefolge des savoyardischen Herrschers, die die Monarchie lediglich wollte, um sich von Österreich unabhängig zu machen, »die lediglich die Unabhängigkeit und nicht die Freiheit wollte.« – »Das Problem, das sie zu lösen hatte, war nicht das einer Revolution, sondern eines Kriegs. Über Freiheit und Fortschritt machte sie sich überhaupt keine Gedanken; unser Volk war ihr im Gegenteil schon viel zu weit entwickelt; sie hätte es lieber wieder zurückversetzt gesehen in die alte Ordnung, in Übereinstimmung mit dem savoyardischen Adel.«. (Zitiert nach Toesca: I grandi libri del Risorgimento, S. 118); und ferner: »Wir müssen uns befreien von allen ›Plagiatoren des Hofes‹« – »Sie sind es, die die Einheit Italiens wollen, nicht mit dem schnellen und
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tet die Geschichte in den zweiten Handlungsstrang des Romans über, die komödienhafte Inszenierung des Kampfs um die Herrschaftsansprüche auf Urbino, die auf der historischen Ebene die Ansprüche der Dynastie Savoyens auf die Herrschaft über Italien parodiert. In Form einer Burleske dargestellt wird vor dem Hintergrund des Palazzo in Urbino die Geschichte der Brautwerbung Oddinos, als dessen Gegenspieler Subissoni auftritt, zunächst erst als Ratgeber, am Ende aber als Entführer der Braut, um in Übereinstimmung mit ihr die Verbindung mit Oddino zu verhindern und Dirce mit sich in die Freiheit zu entführen. Die Personen, die in das Spiel verwickelt sind, agieren als Figuren des jeweiligen gesellschaftlichen Umfelds, das sie repräsentieren. So wird Oddino situiert in der Familiengeschichte, die zurückverfolgt wird bis ins 15. Jahrhundert, und aus dieser Perspektive wird die gesellschaftliche und ökonomische Situation der Gegenwart beleuchtet, die die Bedeutungslosigkeit der aus der Geschichte hergeleiteten Ansprüche dem Betrachter vor Augen führt. Oddo Oddino lebt zusammen mit seinen beiden Tanten im Palast in Urbino; in ihrem Dienst befindet sich Giocondino, der Chauffeur und Vermögensverwalter der Familie, der selbst daran interessiert ist, Teile des Landbesitzes durch Gewährung von Krediten an sich zu bringen. Und in dieser Konstellation spiegeln sich die gesellschaftlichen Beziehungen des landbesitzenden Aristokraten zu dem Vertreter bürgerlicher Dienstleistungen, der der Democrazia Cristiana nahe steht und den Aristokraten dazu bewegen will, sich der Partei des Bürgertums anzuschließen. In die Figurenkonstellation wird mit der katholischen Kirche ein weiterer sozialer Bereich einbezogen, dessen Macht über Oddino anhand einer Episode dokumentiert wird, die eingangs schon die Verankerung der Mentalität der Familie in den Mystifikationen des wundergläubigen Katholizismus vor Augen führt. Um den Segen des Himmels für den Neffen zu erflehen, begleiten ihn die beiden Tanten auf einer Autofahrt zur Kultstätte des Pater Pio. Bei Dunkelheit kommen sie an der Stätte an, wo eine Menschenmenge schon auf den Wundertäter wartet, doch statt diesem begegnet Oddo einer magischen Erscheinung, einer Zigeunerin, die ihm seine Vorherbestimmung zum Herrscher bestätigt und Oddo in die Märchenfigur der Komödie verwandelt. Die Tanten treffen inzwischen die Vorbereitungen zum Geburtstag des Neffen, der zum Weihnachtsfest großjährig wird und damit das Alter erreicht, in dem er mit seiner Verheiratung die Geschicke des Hauses selbst in die Hand nehmen soll. An diesem Punkt aber kehrt sich das Komödienhafte ins Burleske, wenn nämlich Giocondino den aristokratischen Spross, der seine Erfahrungen sammeln muss, in diverse Bordelle führt, wo er unter den verschiedenartigen Schönen diejenige wählen soll, die er als Braut heimführen kann. Der Besuch an den Orten der Liebe wird gestaltet in Form einer Brautschau des Landesherrn, der mit der Erwählten auch den Anspruch auf Länder oder Territorien erwirbt. Er wird in die Gesellschaft von vier Damen geladen, die in dieser Szene als die Repräsentantinnen von Provinzen auftreten, unter denen er auswählen soll, die aber gleichzeitig diese Provinzen als das verarmte Volk darstellen. spontanen Aufruhr des Volkes, nachdem der Blitz der Idee in die Energie des Gefühls umgeschlagen ist, sondern mittels der Schlingen und Fesseln von Ludwig XI und von Richelieu…« – »Im Grunde ist jenes savoyardische Fürstentum ein Überrest der überwundenen französischen Feudalität« (Ebd., S. 123).
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte Die vier Damen verharrten in Erwartung, erregt mit gefalteten Händen. Erkennend, dass dieser Herr nicht ihren Familien noch ihren Leuten oder ihrer Umgebung angehörte, waren sie vom Erstaunen ergriffen über die Pracht des Anderen und ihr eigenes Elend […]. [123] – Aber diesem König musste ja auch gedient werden und so schritten die Provinzen zur Wahl. Diejenige, die als dritte und vierte daraus hervorging, fühlte sich verunsichert und suchte schon nach Vorwänden, um ein Geschrei zu erheben. Aber der Souverain machte eine Geste und stellte die Ordnung wieder her. [124]
In Erwartung einer günstigen Wahl fühlt sich Oddino schon als künftiger Herrscher. Die letzte Entscheidung darüber steht aber noch bevor und erfolgt, als Giocondino ihn, in einem Ort an der Adria, zu einer bescheidene Hütte führt, wo er Dirce kennenlernt, ein junges Mädchen, das eine alte Prostituierte in ihre Obhut aufgenommen hat. Hier noch einmal wechselt der Ton der Erzählung ins Märchenhafte, als Oddo sich in Dirce verliebt und die Alte um ihre Freigabe bittet, was einer Brautwerbung gleichkommt: – »Gentile signora, – sprach der junge Graf, an die dicke Mamma gewandt, hingestreckt auf ihrem Bett, – ich bitte Sie um die Freigabe des Mädchens Dirce« [147/48]. Wer Dirce ist und woher sie kommt, wird an verschiedenen Stellen angedeutet und ist insofern von Bedeutung, als sie in der Geschichte des Thronprätendenten die popolana darstellt, die für das Italien des Volkes steht. Angemerkt sei, dass Volponi seiner popolana ausschließlich edle Eigenschaften verschreibt, die sich teilweise auch widersprechen. In diese Figurenkonstellation wird Subissoni einbezogen, als er von Giocondino ins Vertrauen gezogen, von den Plänen erfährt, die dieser zugunsten der Herrschaftsansprüche seines Herrn verfolgt. Die beiden verabreden ihre Kooperation auf dem Theater, in dem der giovane conte eine beherrschende Rolle spielen soll. Von Subissoni wird die Idee des Theaters sogleich auf die Situation bezogen, die sie für die darzustellende große Geschichte haben könnte. Theater bezeichnet sowohl den realen Ort, wo Schauspiele aufgeführt werden, wie das Ereignis selbst als Geschichte, dessen Ort Urbino ist. Das Theater aber ist zugleich das Leben in den Städten oder umgekehrt, die Städte sind das Theater des eigentlichen Lebens, das das Risorgimento aufgehoben oder zerstört hat. Und was Urbino anbelangt, äußert Subissoni unverblümt, indem er auf den Plan Giocondinos einzugehen scheint: Die lokale Herrschaft ist autonom, unabhängig […]. Agieren wir auf unserem Theater … womöglich im Dienst des jungen Oddi, der immer noch besser wäre als eine zentrale Regierung; auch weil wir ihm schließlich immer noch ein Messer an die Kehle setzen können. [194]
Die Rede über Urbino und die Städte konzentriert in der Tat das Handlungsgeschehen auf die lokale Ebene, wo es, parallel zur nationalen, um die Herrschaftsansprüche auf das Territorium geht, und um die Wiedererweckung der historischen Größe und Bedeutung der Städte, dargestellt am Modell Urbinos. Doch auf beiden Ebenen läuft die Handlung weiter, wobei wir zunächst auf der Ebene der »Konspiration« der lokalen Verbündeten bleiben, auf welche sich die Handlung zuspitzt. Auf die Frage Giocondis, welche Rolle Su242
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bissoni wählt – »Die des Premiers? Des Ratgebers des Herzogs? Des Botschafters?« – antwortet er: »Erst einmal die des Konspirators … Zusammen mit Ihnen […] Wir konspirieren gegen den Staat … Zwei Konspiratoren.« [195] Ihre Kooperation wird aber erst wieder aufgenommen, nachdem Dirce, die Auserwählte Oddinos, aus dem Palast geflohen ist und Gaspare sie bei sich aufgenommen hat, was die Wende andeutet, in der die Handlung wieder auf die nationale Ebene übergeht, bzw. auf beiden Ebenen gelesen werden kann. Giocondino bittet Subissoni um Mitwirkung bei der Suche nach Dirce und schlägt einen Aufruf an die Bevölkerung vor, der sie bei dieser Suche zur Kooperation auffordert. Subissoni lässt sich auf das Spiel ein und erklärt sich bereit, dem signore Oddi-Semproni mit seinem Rat beizustehen. Als ihm Giocondino nahe legt, selbst auch gleich der DC beizutreten, entgegnet er, indem er wieder auf die lokale Ebene zurücklenkt. – »Überstürzen Sie nichts, mein Lieber, und bedenken Sie, dass Sie so Ihren geschichtlichen Auftrag zuwider handeln. Wo sollte dann die Herrschaft der Oddi enden und die Unabhängigkeit Urbinos?« [217] Dass in dieser Bemerkung Urbino wieder als die politische Idee des Palazzo-Città, als der Staat des Rinascimento und der Montefeltro ins Spiel gebracht wird, ist die Motivation der Handlung auf lokaler Ebene; sie wird ergänzt durch die Motivation auf historischer Ebene, nämlich die »unità d’Italia rückgängig zu machen, sie zu zerstören; ja sie zu zerstören … aber um sie besser neu zu machen, im Sinne der Einheit des Volkes als wirksames Instrument von unitario und popolare…«. [217] In den Reflexionen Subissonis werden zwei unterschiedliche Konzeptionen des politischen Modells, das Urbino als Stadt verkörpert, miteinander verbunden, die hinsichtlich der staatlichen Einheit oder der Idee des Staats als politisches Gebilde in der historischen Analyse der Romane Volponis von normgebender Bedeutung sind und es bleiben werden in der weiteren Entwicklung des Werks. Um das vorläufig anzudeuten, ist das einerseits das Bild des Menschen, das Kunst und Architektur im Rinascimento hervorgebracht haben, das Volponi als das Normative der Kultur in den modernen Lebenszusammenhang zu integrieren versucht; andererseits sind es die gesellschaftlich ausgebildeten Fähigkeiten auf der lokalen Ebene, die im Modell der CittàPalazzo dargestellt werden und in gesellschaftlich-ökonomischer Hinsicht die Vorstellung Volponis von einer Einheit Italiens prägen, in der die Arbeit als Bestandteil des »popolare« integriert ist, das an Dirce gerühmt wird. Die Suche nach Dirce wird fortgesetzt in der Unterredung Oddinos mit seinem Chauffeur und der Äußerung des Herrn: Ah, wenn ich eine Proklamation machen könnte; einen Appell erlassen… […] – Ein Edikt, ja […] Und in einer solchen Verlautbarung werde ich nicht nur den Willen äußern, Dirce wieder zu bekommen, sondern auch andere Ideen… – Über die Regierung der Stadt? – warf Giocondino ein – Sie könnten der Herr von Urbino sein, so sagen jetzt alle. [204]
Oddino weist das zunächst von sich. Doch in der Szene, wo Subissoni im Palast Oddinos in der Rolle des Beraters erscheint, wird der Doppelsinn der Rede und der Verwechslungseffekt der Rolle erkennbar, in der Oddino präsentiert wird als Thronprätendent zunächst und als künftiger Herr über Urbino später. Die Aufforderung an Gaspare, ihm das Edikt vorzulesen, das er erlas-
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sen will, um Dirce zu finden, wird von der zweideutigen Bemerkung begleitet: Man konspiriert gegen meine Familie und gegen mich,… auch um mir die Gunst des Volkes zu nehmen […], [aber dann wieder eindeutig]: das Edikt wird auf den Mauern ausgehängt und sein Zweck ist, Dirce wiederzufinden. [Und Subissonis Antwort darauf]: Allein das? […] Warum dann die Rede von der Gunst des Volkes und von Ihrer Familie? [229]
Und er fährt fort, indem er jetzt den Sinn der Rede gegen die monarchischen Ansprüche wendet: Haben Sie nicht vor, […] mit dem Edikt ein politisches Ziel zu verfolgen… die Legitimität der Vereinigung des Landes in Frage zu stellen, nämlich die Demütigung seines wahren Rechts, frei zu sein in der Verschiedenheit seiner Staaten, jeder mit seinen Eigenheiten […]? [229- 30]
Als er die zunehmende Irritation des Hausherrn bemerkt, vertritt er umso entschiedener die eigenen Ansichten, die sich nicht mehr gegen den Thronprätendenten richten, sondern an die Figur des Herrschers über Urbino gerichtet sind: Ich erwartete von Ihnen die Äußerungen eines Herrn, der entschlossen ist, das Kommando wieder zu übernehmen! Den Mut eines Prätendenten, getragen von allen Befugnissen der Existenz der Stadt selbst. Warum sollen wir sogar auf die Idee verzichten, unser Geschick verändern zu können […]? Ich hoffte, Sie wollten sich an die Spitze einer Formation stellen, die von diesem Engagement inspiriert war. – Ist dies nicht das Land des »Principe«? Haben nicht alle erwartet, zumindest die reinen Herzens, dass Don Quijote endlich Recht bekäme und treffen und schlagen könnte die Feinde und die Übel? [231]
Deutlich ist, dass der Adressat hier ein anderer ist und dass mit der Anspielung auf das »Paese del Principe«20 die Zeit des 15. und 16. Jahrhunderts beschworen wird, in denen die regionalen Zentren des mittleren und nördlichen Italien ihre kulturelle Bedeutung erworben haben. Genannt werden hier außer Don Quijote, der wahrscheinlich einen moralischen Anspruch auf Menschlichkeit vertreten soll, Dante als Dichter und Galilei als Wissenschaftler. Geht man der Traditionslinie nach, die in diesen Anspielungen angesprochen wird, führt das weit über die tatsächlich im Roman behandelten Ereignisse hinaus in die historischen Verhältnisse, die in den Versatzstücken der Rede Subissonis angesprochen werden und gegenwärtig sind. In diesen Versatzstücken erscheint Urbino immer wieder als in die verschiedenen Geschichten und Erzählungen integrierte Thematik, so dass die Geschichte der Stadt als die eigentliche Thematik des Romans zu betrachten wäre, als das Modell einer nationalen Verstaatlichung Italiens im Sinne Volponis. Es scheint also sinnvoll, um die Argumentation Subissonis verständlicher zu machen oder ihr in bestimmten Anspielungen zu folgen, die den Hintergrund beleuchtenden 20 »Das Land des ›Principe‹« könnte als Anspielung auf das Werk und die Zeit Machiavellis verstanden werden.
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thematischen Exkurse mit in die Interpretation einzubeziehen, vor allem, was die Rückbeziehung im Text auf die Kultur des Rinascimento, auf das Paese del Principe, anbelangt. In der Kultur der Ursprünge Urbinos, auf die Gaspare oben angespielt hat, sind es die schöpferischen künstlerischen Momente, die Wiederbelebung der Wissenschaften und die moralischen Prinzipien und Normen eines neuen Menschenbilds, die als Muster einer neuen Vergesellschaftung und eines neuen Politikverständnisses gewertet werden. Was die Figur des Principe betrifft, so läge nahe, sie mit dem Politikverständnis im Sinne Macchiavellis zu identifizieren, im Hinblick darauf in erster Linie, dass sie als die Figur zu betrachten ist, in der die Idee der Vereinigung Italiens verkörpert wird. Es ist das Gebilde, das Volponi wahrscheinlich in der Konzeption der ›Città ideale‹ abbilden wollte, eine Utopie und nicht die Wirklichkeit, eine Projektion der Geschichte und vielleicht noch nicht einmal die wahre Geschichte der Ursprünge. Nicht recht vorzustellen ist jedenfalls, wie die Industrialisierung Italiens, die Volponi politisch ja immer gefordert hat, zu vereinbaren wäre mit einer auf Autonomie der Regionen gegründeten politischen Ordnung. Sicher ist Subissonis Rede gegen die Einheit Italiens, nicht als eine endgültige Äußerung zu dieser Thematik zu werten, sondern vielmehr im Zusammenhang der Argumentation des Theaterspiels zu sehen. Als Ratgeber des Grafen, der jetzt als Bewerber um diese Herrschaft angesprochen wird, entwirft er ein politisches Programm, das den frühen Utopien, z.B. Campanellas,21 eher ähnelt als der politischen Realität, z.B. wenn er vorschlägt, dass die Herren nur die Einrichtungen schaffen, in denen die Gesellschaft sich selbst realisieren wird. Das Gegenteil wäre die Unterwerfung von Territorien unter eine Fremdherrschaft, als die die savoyardische Monarchie empfunden und dargestellt wird, wo »im Trugbild der politischen Einheit […] sich der Virus monopolistischer Macht verbirgt« [232] und: »Dieser Stiefel ist immer nur von der Macht bekleidet worden […]!« [231]. Die Kommunisten aber – und hier geht es wieder um die Einheit Italiens – trifft daran ein Teil der Schuld, indem sie die Einheit in dieser Form akzeptiert haben und an ihr festhalten [234]. Die Kritik an den Kommunisten, die ergänzt wird durch die Äußerung: Die Einheit ist das Terrain des Monopols. Der Marxismus hat das nicht verstanden, vielleicht weil er wesensgleich ist mit der Einheit, d.h. mit dem zentralistischen Staat und der Industrie, die darin vorherrschend wird. Eine schöne Trinität. [234]
ist schlichtweg erstaunlich oder nur verständlich, wenn sie im Kontext der Autonomie-Rede Gaspares verstanden wird, die hier im Zentrum steht. Angemerkt sei nur noch, dass die Kritik der Kommunisten zu einem Zeitpunkt erfolgt, wo Volponi dem Wahlaufruf der Kommunistischen Partei durch seine Unterschrift Nachdruck verleiht.
21 Die hier genannten Autoren und Begriffe werden von Volponi kommentiert im Dialogo mit Francesco Leonetti, auf die sich Volponi in dieser Schrift beruft: in Kap. 5: Campanella und die Utopien, S. 104; Franz von Assisi, S. 99 und »Città del sole« S. 106; sowie Kap. 2: das ›razionale poetico‹ und der Mangel an ›fantasia‹ S. 41f.
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Das Plaidoyer für die Autonomie Urbinos ist also Bestandteil einer Inszenierung, in der die Geschichte von Urbino sich als Thematik quasi verselbständigt. Die Stadt, die sichtbar wird, wenn sich der Vorhang vor dem Palazzo ducale erhebt, ist, wie Volponi in den Cantonate di Urbino22 mehrmals betont, die »Città ideale« des Rinascimento. Der Erbauer des Palastes, der erste Herzog von Urbino Federico di Montefeltro und sein Sohn Guidobaldo sind Verkörperungen des Principe, wie sie in Lebensgröße Baldassar Castiglione in seinem Buch Il Cortegiano, dem berühmten Spiegel des perfekten Hofmannes, abgebildet hat,23 Fürsten, die um sich Kunst und Wissenschaft versammeln, worunter in der Zeit von Guidobaldo auch Bembo und Castiglione rangieren. So kamen nach Urbino, um dort sogleich Gehör und Publikum zu finden, Mathematiker und Juristen, Architekten und Maler […] Sie konnten gemeinsam – und auch mit dem Herrn – Projekte diskutieren und diesen beraten in der Verwaltung wie in der Politik und der Diplomatie, ihm beistehen in den Arbeiten und den Künsten und gemeinsam das glänzende Projekt der Città Ideale entwerfen. Das erste Werk, das zu errichten war, war der Bau einer Residenz […] im Hinblick auf die rationale Realisierung aller Aspekte der Kollektivität als Kultur. So wurde entworfen und ins Werk gesetzt der erste Palast, der auf der Erde errichtet wurde, der erste in der Geschichte. Nicht mehr eine Burg als Festung zur Verteidigung […], sondern eine zivile Residenz, weit und ausgedehnt, offen und einladend […]. [15- 16]24
Die Rückwendung in eine Epoche und eine Kultur, die in der Regie des Stückes als für die Geschichte Italiens wegweisend dargestellt wird, erfolgt im wesentlichen aus dem Blickwinkel von Gaspare Subissoni, der Figur, die Volponi zum Erzähler und Regisseur dieser Geschichte bestimmt hat, weil sie auch die Figur ist, in deren Geschichte die Thematik des Subjekts wieder aufgenommen wird, die Volponi mit dem Abgang von Gerolamo Aspri aus dem Erzählvorgang offen gelassen hat. Seine Rolle im Roman über Urbino könnte verstanden werden als die Stimme eines Politikverständnisses, das die regionalen Ressourcen und Potentiale wieder zur Geltung bringt in einem Italien, das sie unter dem Regime der »partitocrazia«, der Parteienherrschaft im Fahrwasser von »Tangentopoli«, hat versiegen lassen. Er ist die geeignete Gestalt für diese Rolle als Sohn der Stadt, der dort aufgewachsen ist und studiert hat, ehe er von den Faschisten von der Universität gejagt und zur Flucht ins Ausland getrieben wurde. Subissoni als das Subjekt des Romans
Subissoni qualifiziert als Subjekt des Werks eine Reihe von Merkmalen, die dem Lebensverlauf des frühen Subjekts ähnlich sind oder entsprechen. Ausgehend vom Kindheitstrauma, das sich in seinem Traum reproduziert, in dem Vivés in die Gestalt der Mutter zurückversetzt wird, verläuft seine Biographie zunächst in den Bahnen des Subjekts der frühen Romane, daran zu 22 Titel einer Sammlung von Texten Volponis, die der Beschreibung der Stadt gewidmet sind, hg. von Giorgio Baratta, Lecce: Besa Editrice 1966. 23 Baldassare Castiglione, Il Cortegiano, Il primo libro II – IV. 24 Volponi, Paolo: Cantonate di Urbino, S. 15- 16.
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erkennen, dass er nicht in den Arbeitsprozess integriert wird, jetzt aber aus politischen Gründen aus der Gesellschaft ausgeschlossen das Land verlassen muss. Hier deutet sich eine Wendung an, in der sich eine Phase über Corporale hinaus gehend ankündigt mit dem Engagement in der Politik, der Teilnahme Subissonis am spanischen Bürgerkrieg, der die erste kriegerische Manifestation des europäischen Faschismus ist; seine Rückkehr nach Italien nach dem Krieg und sein militantes Engagement an der Seite Vivés’ im Kampf um eine Republik, die von neuem durch die alten Kräfte der Reaktion bedroht erscheint. Aus dieser Lebenserfahrung erwächst bei dem Professor der Geschichte und Kenner der politischen Geschichte Italiens seine radikale Kritik an der »repubblica borghese«, seine unbezwingbare Skepsis gegenüber dem Verlauf des italienischen Risorgimento, seine unversöhnliche Einstellung gegen das Regime der Democrazia Cristiana. Und aus der Zurückweisung der herrschenden Verhältnisse im Sinne ihrer Kontestation als historische Realität resultiert für Subissoni ein anderer Geschichtsverlauf, der rückblickend aus der Vergangenheit genährt und vorausschauend als Utopie oder Entwurf einer anderen Zukunft gedeutet wird. Auf das Subjekt in der Gestalt Gaspares trifft in besonderer Weise zu, was der Kritiker Volponi von seinen Protagonisten im Allgemeinen sagt. Sie bewegen sich auf einer Straße, die sie für sich selbst und die anderen wählen und konstruieren im Bemühen, den Wald zu verlassen, als Freie und in die Welt zu treten als ebenso Freie25 […], als wahre Protagonisten […]. Aber oder vielmehr deshalb sind diese Personen zwangsläufig isoliert, außerhalb der Gesellschaft und jeder Darstellung, die man von ihnen gibt (mit den Wölfen heulen oder neurotisch sein, sagte Musil). […] Deshalb geraten sie in Konflikt mit der Kultur der Massen, und auch weil sie von mir bewegt und gewählt werden […] im Bestreben, auf dem Weg einer Kultur der sperimentazione [des Experimentierens] weiter zu gehen und neue Produktionsmittel für eine künftige Kultur vorzubereiten….26
Nicht nur distanziert sich Volponi in diesen Bemerkungen von der narrativen Literatur mit regimekonformen Protagonisten, er erhebt auch den Anspruch, mittels seiner Figuren eine alternative Realität darzustellen, was, um sie darzustellen, andere raum-zeitliche Darstellungsmittel erfordert, wie hier die theatralische Vergegenwärtigung einer exemplarischen Vergangenheit als Inszenierung einer noch offenen Zukunft. Diese Darstellungsmittel, von Volponi als »experimentell« bezeichnet, sind in dem Maß avantgardistisch, wie sie ideologisch verfestigte Sehgewohnheiten aufbrechen und einen neuen Diskurs über die virtuelle Realität ermöglichen oder wenigstens in Gang setzen. Die Kontestation des Realitätsprinzips in Il sipario ducale setzt an der Interpretation des Realen durch die Massenmedien an, konkret am Fernsehen, aus dem Oddino fast ausschließlich sein Wissen über alles, was vorfällt, 25 Das Motiv, das hier angedeutet wird, wäre zu vergleichen der Vertreibung aus dem Paradies im Gemälde von Masaccio, dem Volponi eine spezielle Studie gewidmet hat. Siehe Romanzi e prose, Bd. I: »Il principio umano della pittura- scienza.« Der Text ist wieder publiziert in dem Bildband über das Werk Masaccios im Verlag Rizzoli/Skira 2004. 26 Textauszug aus: »Le difficoltà del romanzo«, in: Prose minori, Bd. I, S. 1036.
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bezieht.27 Zugrunde liegt dem, dass die Übermittlung des Ereignisses über einen Apparat erfolgt, der das Vorgefallene im Licht einer Tendenz zeigt, welche dem Apparat entspricht, der die Mitteilung verbreitet. Dass der Verdacht der Manipulation aufkommt – wie im Fall des Tatverdachts gegen die Anarchisten bei Vivés und Gaspare – erklärt sich daraus, dass die Behauptung der Erfahrung widerspricht, die die beiden von der Wirklichkeit der Verhältnisse haben, in der sich das Ereignis ereignet hat, dass die Nachricht simuliert, was als Wirklichkeit ausgegeben wird. Dieser Gegensatz von Simulation und Erfahrung wäre aber auch dem Wirklichkeitsbegriff der Institutionen zugrunde zu legen, was Subissonis Kritik an den Fiktionen des Risorgimento zusätzliche Glaubwürdigkeit sichert.
4. D IE A USBILDUNG DER C IVILTÀ DAS R INASCIMENTO
IN I TALIEN :
Kehren wir zur Geschichte Urbinos und zu den Anfängen des Herzogtums Urbino zurück, wie sie uns der Anfang des Romans mit der Genealogie des Geschlechts der Montefeltro und ihrer Gefolgsleute der Oddi-Semproni präsentiert. Gezeigt werden die gewalttätigen, chaotischen Verhältnisse der Herrschaft des Feudaladels, die erst in der Regierungszeit des ersten Herzogs von Urbino, Federico von Montefeltro (1422-1482), ein vorläufiges Ende finden. Federicos Herrschaft wird zu einem der glänzenden Höhepunkte des frühen Rinascimento, mit dem Bau des Palastes, der zugleich die Stadt umfasste, und unter seinem früh verstorbenen Sohn Guidobaldo (1482-1508), in dessen Zeit berühmte Künstler und Gelehrte am Hof von Urbino weilten, den Baldassar Castiglione in seinem Cortegiano gerühmt und gefeiert hat. Nicht nur im Kapitel II des Romans werden Bruchstücke dieser Geschichte erzählt, sondern auch an anderen Stellen, wie in den Cantonate di Urbino. Dort fügt Volponi in das Geschichtsbild der Zeit die Figur und die Intervention Cesare Borgias ein, Sohn des Borgia-Papstes und des mächtigen Heerführers, den Machiavelli als eine der möglichen Figuren betrachtet hat, die Italien zur Einheit hätte führen können, in einer Zeit, in der in Spanien und Frankreich die Stunde der nationalen Einigung gekommen war. Über diese Konstellation der Geschichte äußert Volponi in den Cantonate: il Valentino [das ist Cesare Borgia] starb früh, und so war das nicht unbegründete Unternehmen gegenstandslos eines geeinten Italien, ihm unterworfen, aber frei und gefestigt gegenüber dem Rest Europas. [Cantonate, 22- 23]
Wichtig und bedeutsam ist dieser Beleg, weil er sich im Zusammenhang mit der politischen Geschichte des Rinascimento auch mit Überlegungen zur Einheit Italiens beschäftigt, wie sie in derselben Zeit von Machiavelli in seinen Schriften propagiert worden ist. Ausgehend von der Revolution der Flo27 Eine Satire speziell auf das Fernsehen ist das Prosastück »Via col vento« von 1980, in: Romanzi e prose, Bd. II, S. 664ff – wo die Süd- Staaten- Clichés des amerikanischen Films die Folie abgibt für die wissenschaftlichen und politischen Programme des Fernsehens, in denen sich das Niveau der veröffentlichten Meinung spiegelt.
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rentiner im Gefolge von Savonarola in den 90er Jahren des 15.Jahrhunderts plädiert Machiavelli in seinem Principe gegen die Refeudalisierung der Herrschaft in Florenz und für die Einigung Italiens gegen die drohende Fremdherrschaft durch Spanier, Franzosen oder dem deutschen Kaiser. Nicht uninteressant ist, was Volponi in Cantonate di Urbino noch über den allmählichen Niedergang des Herzogtums berichtet: Bald begann der herzögliche Hof in der Tat, des Lebens in Urbino müde zu sein, es zu feierlich und gleichförmig zu finden, zu voll von mahnenden Erinnerungen und von Winden; mit einer strengen Bevölkerung, kleinlich, befallen von Anwandlungen von Groll und Großspurigkeit, sehr anspruchsvoll gegenüber der Regierung und empfindlich, was die Darstellung des Staates in allen Belangen betraf […] – Die Herzöge verlängerten immer häufiger ihren Aufenthalt in Pesaro bis sie dort überhaupt blieben, in einem kleinen Palast, dezent und umgänglicher, wobei aller Anspruch auf Universalität aufgegeben wurde. Um dieser Wahl Gewicht zu verleihen gingen sie so weit, den Leuten aus Urbino den Kopf abzuschneiden, die in wenig respektvoller Weise wiederholt und von nahem aufgefordert hatten, nach Urbino zurückzukehren. Schließlich fiel das Herzogtum unter die Herrschaft der Päpste, die sich schon seit geraumer Zeit, unter dem Vorwand, sie zu hüten und zu erweitern, die gesamte Bibliothek Federicos angeeignet hatten, die schönste und reichste der Welt. [Cantonate, 23- 24]28
In den Cantonate wird aber auch auf die Geschichte der Vorfahren Subissonis angespielt, die sich gemeinsam mit anderen Familien der Stadt gegen die Misswirtschaft des späteren Herzogs empört haben und dafür mit ihrem Leben zahlen mussten. [24] In den oben zitierten Äußerungen werden die im Roman thematisierten historischen Bezugspunkte der Handlung auch in ihre politischen Tragweite konkreter fassbar und damit die Bedingungen aufgezeigt, unter welchen die Wende in der Entwicklung von einer feudalen Willkürherrschaft zu einer Ordnung der Lebensverhältnisse im Rinascimento erfolgen konnte. Geschich28 Von Interesse ist auch, was Volponi noch ausführt hinsichtlich der ökonomischen Entwicklung der Stadt und der Region sowie bezüglich des Schicksals der Emigration, die sich im Lebensverlauf Subissonis, dem Sohn der Stadt par Exzellenz, spiegelt und wiederkehrt im Motiv ›della partenza‹ der Protagonisten aus Urbino. »Man kann geschichtlich mehr als hundert adlige Familien zählen, die Urbino verlassen haben. – Zwischenzeitlich hat ein andauernder Strom einfacher Leute, verarmter Bauern, rebellischer Bewohner, enttäuschter Handwerker Urbino und seine Ortsteile und anlegenden Felder verlassen. Die wohlhabenden Familien lebten nach wie vor von wenigen Beschäftigungen und meistens von Renten aus Grundbesitz und Landwirtschaft und verbrachten einen großen Teil ihrer Zeit in ihren Zirkeln oder auf der Jagd. […] Weder die Eisenbahn noch die Unterpräfektur trugen zu einer wesentlichen Veränderung bei. Es entstanden keine Industrien außer ganz kleinen in Familienbesitz und andere Unternehmen, noch war Platz für sonstige Innovationen. [28] Das Handwerk war von hoher Qualität, aber florierte nicht, so dass viele Besitzer von Werkstätten emigrieren mussten. Und so die Maurer Handlanger, Bauern und auch die Bergarbeiter in den Schwefelminen der Umgebung. – Urbino als Stadt aber verharrte im allgemeinen im Stillstand, einbezogen in die neue danunzianische Definition der Städte des Schweigens.« [28- 29].
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te wird als ein Geschehen begriffen, das gesellschaftlich verstanden werden muss, nicht mehr nur als eine Geschichte militärischer Gewalt oder ein von Gott verhängtes Schicksal. Was die Geschichte bewegt und/oder motiviert, sind die Faktoren der Kultur, die Leopardi in seinem Discorso über die italienische Gesellschaft als die Momente des »incivilimento«, der Herausbildung der civiltà, gekennzeichnet hat und die Volponi in seiner Inszenierung des Hofes von Urbino aufdeckt und dokumentiert. Exemplarisch beschreibt das Il senso di una lezione, der Essay von 1956,29 der den Bau des Palazzo ducale von Urbino noch einmal als die Wende zu einer neuen geschichtlichen Phase begreift. Dieser ist der erste Palast auf der Welt, der als zivile Residenz erbaut worden ist […]. D.h., dass der Bau des Palastes in eine Zeit der Geschichte Italiens fiel, in der zivile [d.h. gesellschaftliche] Interessen sich politisch artikulierten, während der die Kunst auf gleicher Höhe des Ansehens rangierte wie das Militärwesen, und vielleicht noch höher, und in der man beträchtliche ökonomische und soziale Veränderungen in die Wege zu leiten begann. Im Umfeld des Palastes wurden Strassen geöffnet und Terrain trocken gelegt sowie neue Häuser errichtet, und auf dem Gelände des Palastes entfalteten sich Literatur, Musik, die Skulptur und die Malerei. [1014]
Was die Malerei betrifft, deren zivilisatorische Bedeutung Volponi in zwei der Essays der kleineren Schriften ausgiebig gewürdigt hat, wird ihr in diesem Essay das Verdienst zugeschrieben, das Bild des Menschen grundlegend verändert zu haben, ausgehend von der franziskanischen Laienbewegung, die das Verhältnis des Menschen zu Gott auf die Ebene des Irdischen verlagert habe.30 In der Malerei vollzieht sich damit die Hinwendung zu einem Naturalismus der Darstellung, der in den Augen Volponis die Malerei zu einer Schule des Sehens macht, sie in den Rang einer Lehrmeisterin erhebt hinsichtlich der Erkenntnis des Wahren und Wirklichen und sie damit den wissenschaftlichen Entdeckungen des Zeitalters an die Seite stellt.31 Wie schon erwähnt, hat Volponi in den genannten Essays Il senso di una lezione von 1956 und Il principio umano della pittura-scienza von 1968, der der Malerei Masaccios gewidmet ist,32 seine grundlegenden Überlegungen zur Funktion der Malerei dargelegt. Die Lektion des zuerst genannten Essays liegt darin, den Vorwurf des »analfabetismo artistico« des einfachen, d.h. ›ungebildeten‹ Publikums zu entkräften, dem im Gegenteil, wie es heißt, ein ihm innewohnendes Interesse an der Wirklichkeit und Wahrheit der Malerei
29 »Il senso di una lezione«, in: Romanzi e prose, Bd. I, S. 1011- 1017. 30 Siehe den Essay »Commento alla Regola non bollata di San Francesco«, in: Romanzi e prose, Bd. II, S. 699- 701. 31 Die Erkenntnisfunktion der Malerei wird u.a. schon in dem Masaccio gewidmeten Essay im Titel hervorgehoben, nämlich »Il principio umano della pittura- scienza«, in: Romanzi e prose, Bd. I, S. 1048- 1058. 32 Dieser Essay ist unter dem Titel »Masaccio« in: I Classici dell’Arte, Corriere della sera, Rizzoli/Skira 2004 noch einmal abgedruckt worden.
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attestier wird.33 Dass die sich in erster Linie auf die Kunst der Frühzeit bezieht, erläutert die Aussage: über die Kunst könnten wir in der Tat wieder dazu gelangen, die Kultur jener Zeit in ihren positivsten Aspekten zu sehen und zu verstehen und daraus eine Reihe von Lehren und Ermutigungen gewinnen für unser Verhältnis zur Kultur. [1012]
Das Interesse der Leute an den Bildern in den Museen beruhe auf ihrem Interesse an den »vergangenen Ereignissen« und der daraus resultierenden Zwiesprache mit ihnen [1012-13]. Was Volponi hier postuliert, ist nichts geringeres als der Wahrheitsanspruch, der der Sprache der Malerei zugeschrieben wird, was zu vergleichen wäre mit dem Aussagewert, der den Bildern der modernen Massenmedien zukäme, d.h. ihrem Informationswert.34 Dem zeitgenössischen Betrachter der Bilder Piero della Francescas z.B. würde darüber hinaus eine Vorstellung von einer Raumdimension der Stadt vermittelt, die im Übergang zum Rinascimento etwas gänzlich Neues darstelle, nämlich: die Idee eines Künstlers, der an eine andere, praktisch veränderbare Organisation der Stadt dachte, nicht mehr die mittelalterliche, eng und eingeschlossen, sondern weit und voll Licht, im Hinblick auf einen zivilen Lebensraum, mit Säulengängen und Gärten. [1016]
In dem Masaccio gewidmeten Essay Il principio umano della pittura-scienza wird im Titel schon auf die Verbindung hingewiesen zwischen dem Menschenbild, das diese Epoche geschaffen hat, und der Wissenschaft, an der die Malerei dieser Zeit partizipierte. In den Bildern der großen Maler verkörpere sich die Idee eines anderen, von der des christlichen Mittelalters abweichenden Menschen, und zwar beruhend in erster Linie »auf einer wissenschaftlichen Ordnung der perspektivischen Darstellung«. Masaccio und Piero della Francesca hätten, wie Eugenio Garin sagt, in ihren Bildern »die physische Gestalt des Menschen geschaffen«, der noch aus heutiger Sicht verstanden werden könnte als »das privilegierte Wesen des Menschen im Hinblick auf seine Herrschaft in der Welt« [»l’essere privilegiato, capace di dominare il mondo«]. [1052] Der Begriff der »Welt« wird hier im biblischen Sinne gebraucht als das Irdische nach der Vertreibung aus dem Paradies, was das Gemälde Masaccios La cacciata dal Paradiso terrestre sozusagen exemplarisch illustriert, was aber auch als die Welt zu verstehen wäre, die der Mensch selbst zu verantworten hat: eine Welt des Menschen, der sich bewusst ist der Aufgaben, die ihn erwarten, sowie der Materialität seiner Existenz. [1054] 33 »Es ist nämlich nicht wahr, dass die ›classi popolari‹ der Kunst fern seien, sie sind im Gegenteil ihr sehr nahe, interessiert, erstaunt und fasziniert von ihren Themen und Ausdrucksformen […]; es fehle ihnen nur die Gelegenheit, sich darüber zu verständigen…« [S. 1011- 12]. 34 Man könne daraus lernen, »dass die Malerei, in jenen Zeiten, für das damalige Publikum das war, was für uns heute die Fotografie, die Illustrierte, das Kino ist […]. Siehe Il senso di una lezione, S. 1015.
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Dieser Übergang in die Welt des Menschen ist aber zugleich mit dem Schmerz verbunden, der sich in der Haltung der Vertriebenen auf dem Gemälde Masaccios spiegelt und den Volponi mit der Biographie des leidgeprüften jungen Malers in Verbindung bringt.35 Nur kurz angemerkt sei, dass die biographischen Daten der Kindheit und des Eintritts ins Leben, die Volponi in Masaccios Lebensverlauf eigens hervorhebt, mit den eigenen, von ihm in Cantonate di Urbino beschriebenen, eine erstaunliche Ähnlichkeit aufweisen, was wieder auf den Zusammenhang mit dem Psychodrama in seinem Werk verweist. Der Prozess des Rinascimento, in dem das mittelalterlich-christliche Weltbild von den Erkenntnissen einer weltlichen Wissenschaft in Frage gestellt wird, verläuft in den oben schon angedeuteten zwei Phasen: 36 Die erste über die Wiedergewinnung eines anthropozentrischen Modells der Kultur, die aber noch klassisch- aristokratisch verläuft […]. Die zweite, in der das Zentrum [der Erkenntnis] verlagert wird auf das »Subjekt« als dem Interpreten der Gesetze der Natur und Autor der Geschichte […]. [1054]
Noch von Interesse sind diese Ausführungen insofern, als sie die »modernen« Errungenschaften des Rinascimento – auch unterscheiden hinsichtlich des Orts, an dem sie sich manifestieren: zwischen einer aristokratischen, höfischen Kultur und einer wissenschaftlichen Tendenz, die auch an den Höfen gepflegt wird und die das »Subjekt« in der Geschichte frei setzt, d.h. als substantielles Sein oder Wesen in die Bestimmung des Geschichtsverlaufs einbringt. Beide Kriterien der Erneuerung des Weltbilds im Rinascimento werden von Volponi zugleich als historische Kriterien gewertet, d.h. als Postulate, die noch für die gegenwärtige Zeit in ihrer Bedeutung wegweisend sind und bleiben. Sie sind folglich auch als zivilisatorische Werte in die Konfrontation einzubringen, die in Il sipario ducale das Zurückgehen in die Vergangenheit und in das Urbino der Montefeltro motiviert. Welche Veränderung die Malerei schon im 15. Jahrhundert erfährt, fasst Volponi in der Feststellung zusammen: […] die Malerei initiiert eine zweifache revolutionäre Funktion: sie wurde ausgeübt von Handwerkern, Söhnen des Volks (eines Barbiers, Paolo Uccello; eines Schusters, Piero della Francesca; eines Fleischers, Filippo Lippi) und wurde betrachtet als eine der ›mechanischen‹ Künste. […] Über die Neuheit der Perspektive vollziehen sich in Wirklichkeit und mit dem damit verbundenen Gefühl zwei Operationen: es gründet sich die Kunst auf die Wissenschaft und es erhebt die protagonisti popolari der ›mechanischen‹ Künste in den Rang der ›liberalen‹ Künste, verbunden mit dem Vorzug einer zweifachen Integration, einer kulturellen und einer sozialen. Das Ideal des Quattrocento einer einheitlichen Kultur, die der theologischen entgegengesetzt werden konnte und diese ersetzen sollte, wurde verwirklicht mit dem Erkenntnisideal, die Welt über die konkrete Logik der wissenschaftliche Malerei [pittura- scienza] zu verstehen, die gleichzeitig auch der aristotelischen Logik der abstrakten Universalien widersprach. Es ist das Ideal der Theorien von Coluccio Salutati, Marsilio Ficino, Nicolò Cusano: und 35 Siehe »Il principio umano della pittura- scienza«, S. 1054. 36 Ebd., S. 1054.
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Il sipario ducale verkündet nicht nur den humanistischen Realismus, sondern bedeutet auch die Öffnung der Interpretation des Platonismus. [1054- 55]
Noch einmal werden hier einander gegenübergestellt die beiden Richtungen des Rinascimento, die Volponi unterschieden hat: die Malerei des Quattrocento mit ihrer Tendenz zu einem weltlichen Naturalismus in der Darstellung und der Humanismus mit der Konzentration an den Höfen, wo aber der »realismo umanistico« gleichfalls schon die Wende zur Verweltlichung des Menschenbilds andeutet. Interessant insbesondere ist darüber hinaus die Einbeziehung des Platonismus in das »humanistische« Weltbild, was an den Neuplatonismus in Florenz denken lässt, mit Ficino und speziell Pico della Mirandola, auf den vermutlich der Begriff der »cultura unitaria« zurückzuführen ist, einer Kultur, die auch die Einheit der Religionen einbezieht. Wesentlich ist und bleibt aber – was an der Malerei des Masaccio abzulesen ist, die die Verweltlichung des Menschenbilds eingeleitet hat –, dass die Vertreibung aus dem Paradies auch mit einem Schmerz verbunden ist und bleibt, der in Masaccios Bildern sich in den Gestalten spiegelt, die ihre irdische Existenz selbst meistern müssen oder sie fristen unter den Bedingungen der Herrschaft des Menschen über den Menschen. In den Gestalten, die ihr Leben an der Grenze der Verelendung fristen, erkennt und identifiziert Volponi die Klasse der Ausgebeuteten und Unterdrückten, über die sich die Klasse der Herren erhebt.
5. D AS S UBJEKT
DER
E RZÄHLUNG
IN DER
F IGUR S UBISSONIS
In der Geschichte Subissonis findet die Familiengeschichte des Subjekts der Erzählungen Volponis ihre Fortsetzung und zugleich ihre Ausweitung auf historisches Terrain. Von Interesse ist jetzt, Subissoni als das Subjekt der zeitgenössischen Geschichte zu verstehen und die Erfahrungen zu beschreiben, die über den Bewusstseinstand von Corporale hinaus führen auf dem Weg zu einer neuen Vergesellschaftung. Den zeitgenössischen Subissoni präsentiert der Roman in dem Moment, wo er, wie schon erwähnt, das faschistische Regime mit der Inschrift » l’Italia U.« (Nieder mit der Einheit Italiens) provoziert, durch sein Examen fällt und zusammengeschlagen wird, was seine Flucht aus Italien zur Folge hat und sein Engagement im spanischen Bürgerkrieg. Nach dem Krieg kehrt Gaspare zusammen mit seiner Lebensgefährtin Vivés nach Urbino zurück, wo sie als Anarchisten wiederum mit der Aggression faschistischen Terrors konfrontiert werden. An dieser Parabel des Lebensverlaufs erkennen wir den schon bekannten Circulus von Aufbruch des Subjekts aus Urbino, Geburtstrauma, in dem das Neugeborene auf einer Wiese ausgesetzt wird und Rückkehr an den Geburtsort, aus der Gaspare am Ende der Erzählung wieder vertrieben wird. Über die Kindheit Subissonis verlautet direkt nichts oder nur so viel, wie einem Traum zu entnehmen ist, den Gaspare erst nach dem Tode von Vivés träumt und der das Material der Familiengeschichte verdichtet, welches die Kindheit betrifft. In der Substanz handelt der Traum von einem Geburtstrauma, in dem das Neugeborene auf einer Wiese ausgesetzt wird, wo dann der Heranwachsende von einer Stimme angesprochen wird, die er als die der 253
Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Mutter zu identifizieren glaubt. Den Blick eines Unbekannten, den er auf sich gerichtet fühlt, erkennt er am Ende als den eigenen, wie er beim Erwachen zu erkennen meint. [228] An den Daten, die dieser Traum vermittelt, sind einige der schon bekannten Züge oder Motive der Familiegeschichte wiederzuerkennen, und diese vielleicht auch in ihrer Kontinuität oder Weiterentwicklung neu zu sehen. Das Subjekt der autobiographischen Erzählung, das Subissoni repräsentiert, ist über ein Geburtstrauma in eine Existenz gekommen, die es in dieser Form nicht akzeptiert und sich folglich in sich selbst zurückzieht, wo es aber – die Vergeblichkeit dieses Rückzugs erkennend – den Ort wieder verlässt, in dem es den unentfremdeten Lebensraum nicht findet. Das Motiv des SichVersenkens in einem Refugium wird aufgegeben und die Suche des Subjekts jetzt nach außen gekehrt, in sein Engagement im politischen Kampf. Und diese Wende in der Existenz Subisonis wird ermöglicht und entschieden durch die Frau an der Seite Gaspares, die das Bedrohliche des mütterlichen Einflusses aufhebt, wie im Traum angedeutet wird. Der Einfluss der bedrohlichen Mutter schwindet gegenüber der tatkräftigen und kämpferischen weiblichen Figur an der Seite Subissonis und ihrer jüngeren Variante Dirce, der jungen Frau jenseits der bürgerlichen Sozialisation. Welchen Verlauf jetzt die Entwicklung des Subjekts nimmt, wird bestimmt durch das erzwungene Exil Subissonis, nicht mehr als Arbeitssuchender, wie bei den Emigranten der frühen Romane, sondern im Kampf gegen den Faschismus, den er auf spanischen Boden fortsetzt und jetzt konkret als Kampf um die Republik, die der Faschismus bedroht und die er in Spanien beseitigt hat. In diese Problematik führt das Existenzprojekt des gesellschaftlichen Subjekts. Es ist Subissoni, der jetzt die Suche des Subjekts nach seiner Bestimmung oder nach seinem Ort in der Gesellschaft aufnimmt und sie nach dem Tode von Vivés auf seine Weise weiterführt. Währen Vivés die politischen Ereignisse mit einem realistischen Sinn für das Tatsächliche verfolgt hat, verfügt Gaspare im Gegensatz dazu über die Fähigkeit, die phantastischen Beziehungen im Realen wahrzunehmen, die das Tatsächliche in eine imaginäre Dimension versetzt, d.h. das einzelne Ereignis oder die singuläre Epoche in Beziehung setzt zu anderen gleichartigen oder entgegengesetzten und damit dem Geschichtsverlauf eine Perspektive verleiht, in der er erkennbar und interpretierbar wird. Das ist was Gaspare qualifiziert als kompetenten Regisseur einer Inszenierung des Geschichtsverlaufs auf der Bühne von Urbino. Das Bewusstsein, der Interpret der Geschichte zu sein, erfüllt Gaspare mit Genugtuung. Der Ort, wo er agiert, die Bühne sozusagen seiner Inszenierung, ist vor allem die Piazza. Wiederholt wird sie der Schauplatz für die öffentlichen Auftritte Subissonis; erstmalig noch zu Lebzeiten von Vivés bei der Bekundung der Solidarität mit den Anarchisten. Im eigenständigen Auftreten Gaspares äußert sich aber auch der Wechsel der Geschichtsperspektive, die von Vivés auf Subissoni übergeht. Während Vivés über das Wiedererstarken des Faschismus in eine tiefe Depression verfällt, die schließlich zu ihrem Tod führt, versucht Subissoni als Historiker die Bedingungen aufzuzeigen, die die Entstehung dieser bedrohlichen Verhältnisse aus der vorangegangenen Geschichte erklären; und das motiviert seine heftige und substantielle Polemik gegen die von oben durchgesetzte Einheit 254
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Italiens, autorisiert aber letztlich von Vivés, von der er in einer Art Kompetenzübertragung die Ermächtigung zu diesem Werk erhält. Die Reden, die er bei verschiedenen Gelegenheiten hält, gegenüber der politischen Jugend in den Versammlungsorten , zu den Mitreisenden im Zug, über die Aufgaben eines Principe im Palast Oddinos, sind alle dieser Mission zuzuschreiben. Exemplarisch aber bleibt der Ort, an dem der visionäre Blick Subissonis die Geschichte als szenisch gegenwärtig erscheinen lässt: die Piazza. Eine der Begegnungen mit der Menge auf der Piazza im Regen wird seinen Erwartungen vollauf gerecht: Gaspare verließ das Haus […]. Der Regen empfing ihn und allein, mutig stieg er hinauf zur Piazza Ducale unter den erstaunten Blicken aller. Er fühlte sich würdig dieser Bewunderung […]. Die Stadt noch im Licht der Laternen, aber übergehend in das Licht des Morgens […] leuchtete unter dem Regen wie in einer kostbaren Einrahmung und dahinter die Leute, die ihn ansahen. […] Die Liebe blendete ihn fast ganz […]: die Liebe zu Urbino […]. [88]
Die Beschreibung dieser eindrucksvollen Szene entspricht der Vision Subissonis als des Subjekts auf der Bühne Urbinos und damit der Symbolik der Verwandlung, die das Urbino der Gegenwart in die Zeit des Ducato versetzt, die aus der künstlichen Beleuchtung in das Tageslicht tritt. Es ist die Vision Subissonis, des Subjekts in der Rolle des Agitators. Dagegen fehlt es aber nicht an der gegenteiligen Darstellung des Scheiterns dieses Subjekts, wie in der folgenden Szene: Subissoni kam zur Piazza della Repubblica, als alle im Begriff waren sie zu verlassen und zum Essen nach Hause zu gehen. […] Das war sehr unerfreulich, da er gewünscht hätte, in Gesellschaft der Leute seine eigenen Überzeugungen zu diskutieren. [238]
Nicht ohne Ironie hat Volponi vermutlich in dieser Äußerung und der anschließenden Beschreibung das Geschichtsbewusstsein Subissonis als die Illusion seiner eigenen Überzeugung darstellen wollen: Der leere Platz wurde vom Nebel eingehüllt, der plötzlich alles überschwemmte, als hätte er schon seit einiger Zeit auf diesen Augenblick gewartet. Eine große ›nostalgia‹ ergriff die Seele Subissonis […]. Er war orientierungslos, dennoch verweilte er inmitten des Platzes: in seinem Zentrum, wo auch immer der Ort war, wohin ihn eine äußere Kraft versetzt hatte. Schwer atmend konnte er langsam […] jene Kraft als die seine erkennen, von ihm während des ganzen Lebens angesammelt und die jetzt herausströmte, um ihm zu helfen, um schließlich gebraucht und ausgegeben zu werden. [238]
Offensichtlich ist hier die bühnenmäßige Inszenierung des Auftritts Subissoni, der im Zentrum der Szene steht und von dort aus spricht, und erkennen muss, wie prekär die von ihm vertretene Position ist im Hinblick auf die aktuelle Situation Italiens. Ungebrochen aber hält er in seinen abschließenden Überlegungen fest an der von ihm vertretenen Utopie einer Gesellschaft, die sich von der entfremdeten von heute unterscheidet und der Herrschaft der Herren widersteht: Richtig sei die Feststellung, dass die »poveri« andere We255
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ge gehen als die Herren, dass die zur Schau gestellte Einheit nicht existiert und dass es zwischen beiden Klassen im Alltag keine gemeinsame Sprache gibt.37 Die Schlussfolgerung in diesen Äußerungen Subissonis könnte Volponi geteilt haben. Der Rollenwechsel auf dem Theater vom Agitator zum Gegenspieler von Oddino, in dessen Ansprüche auf Dirce, der popolana, führt Subissoni wieder zurück auf die Ebene der Komödie. In diesem Kontext fällt ihm die Rolle zu, Dirce dem Zugriff Oddinos zu entziehen. Indem er sie in seinem Haus aufnimmt, öffnet er ihr die Perspektive, Vivés auf dem Weg der Emanzipation zu folgen. In der Verteidigung ihrer Position rückt er in die Rolle des Lehrmeisters und des »organischen Intellektuellen« (im Sinne Gramscis). Ihr, der Repräsentantin der Ausgebeuteten (der »classi fondamentali«) gehört die Zukunft, nicht den Herren und gegenwärtig Herrschenden. Zu Dirce äußert er: Ich habe heute morgen viel gelernt […]: Ich habe die einfachen Dinge, an die die Leute glauben, immer als zu leicht, ja für überflüssig gehalten; die Worte, die noch das Volk bewegen, […]; ich habe sie für überwunden gehalten vom Standpunkt meiner überlegenen Kultur […]; stattdessen sind sie wahr, sie sind es in den Tatsachen wie im Fühlen der Leute, in den Händen außer im Mund des Volks… [242- 43].
Diese Solidarisierung mit der Sprache der »subalterni« (im Sinne des »popolare«), die in einer eigenen Menschen- und Weltkenntnis gründet, von Gramsci als dem »senso comune« adäquat bezeichnet, entspricht in diesem Zusammenhang einer zwiespältigen Strategie: der Anerkennung und Durchsetzung eines revolutionären Potentials der »classi subalterne«, deren »Weltanschauung« noch zu entwickeln ist, was die Funktion des »Lehrmeisters« im Grunde beinhaltet. Die Schlussfolgerung, zu der Subissoni gelangt, ist nicht sehr verschieden von einer Politik der Erziehung der Massen, die Gramsci der Partei zur Aufgabe gemacht hat. Für Subissoni besagt das, dass die »classi fondamentali«, um sich selbst zu befreien, die Ausbildung auf den Stand der wissenschaftlichen Zivilisation noch durchlaufen müssen. Die organischen Intellektuellen,38 unter die Subissoni zu rechnen ist, sind die grundlegende intellektuelle Funktion der Gesellschaft, die sich neu formieren muss. Die Gesellschaft der falschen Einheit, die die bürgerlich-kapitalistische des 19. und 20. Jahrhunderts geworden ist, hat jedenfalls verlernt, die Welt, die sie sich angeeignet und untergeordnet hat, so zu sehen, wie sie ist, und in der Geschichte zu lesen, welches ihre wahren Bedürfnisse sind. Erkennbar ist hier, dass nach dem Tod von Vivés Subissoni zunehmend in die Funktion des Intellektuellen rückt, die er zuletzt auch ausübt in der Fürsorge für Dirce. Er bestärkt sie in ihrer Entschlossenheit, sich Oddino als designierte Braut des Thronprätendenten zu entziehen und die Freiheit zu erlangen, über ihre Existenz selbst zu entscheiden, indem sie in der Stadt, selbst 37 »Es war richtig, dachte er nachdenkend über diese Erkenntnis, dass er allein war […], dass Oddi ein ahnungsloser Irrer war […]; und dass die Armen einfach andere Wege eingeschlagen haben als die Herren: dass dieser Theaterboden keineswegs ein gemeinsamer war und die Reden nicht dieselben waren wie in der täglichen Rollenverteilung […]«. [238- 39] 38 Siehe Gramsci: Gefängnishefte, Heft 12, § 1.
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in der Fabrikarbeit, eine von der Familie unabhängige Position erreicht, wie sie Volponi in der exemplarischen Frauengestalt der Iride in den Prose minori dargestellt und verherrlicht hat. Subissoni widmet sich dieser Aufgabe mit Hingabe, gibt seine Wohnung auf, um mit Dirce nach Mailand zu gehen und sie in Sicherheit zu bringen. Auf dem Weg im Taxi zum Bahnhof nach Pesaro verfolgt sie Giocondino, so dass ungewiss bleibt, ob ihnen die Flucht aus den sie bedrängenden Verhältnissen auch gelingt.
6. N ACHWORT : U RBINO M ODELL EINER HÖFISCHEN
ALS U TOPIE UND W IRKLICHKEIT – G ESELLSCHAFT ODER C ITTÀ I DEALE ?
Die Geschichte Urbinos, die Volponi in einer Art Lehrstück auf dem Theater vorgeführt hat, indem er Vergangenheit und Gegenwart in ihrem Zusammenhang sichtbar machen wollte, ist unter diesem Aspekt auch als der Widerspruch zwischen Utopie und Wirklichkeit zu verstehen, der im Nachwort zur Textinterpretation analysiert werden soll. Wir kehren damit zurück zum Rinascimento als der Epoche, die in Il sipario ducale als die Wende vom »dunklen« Mittelalter und der theologischen Mystifizierung des Lebens – identisch mit der Zeit der Feudalität – zur Wiedergeburt der menschlichen Zivilisation, der Künste und der Wissenschaft, von Volponi gefeiert wird. Die Frage stellt sich, aus welchen Gründen Volponi in jene Zeit zurückkehrt, und welches das primäre Interesse an der Übergangsepoche vom 15. zum 16. Jahrhundert ist. Und das ist zweifellos ein politisches Interesse, das in Beziehung zu sehen ist mit der problematisierten Konzeption der Einheit Italiens. In dieser frühen Phase, in der in Frankreich und Spanien der nationale Führungsanspruch der Monarchie militärisch und schließlich politisch auch zur nationalen Einheit geführt hat, stellt sich das Problem nicht völlig anders als auch in Italien, wenigstens aus der Perspektive Machiavellis im Hinblick auf sein Hauptwerk Il Principe. Das Zeitalter der kommunalen Gemeinwesen geht spätestens im Quattrocento seinem Ende entgegen oder ist, wie z.B. in Venedig schon viel früher, durch eine Republik mit einem oligarchischen Herrschaftssystem abgelöst worden. Dasselbe gilt von Florenz, wo aber die Fraktionen der Oligarchie sich gegenseitig befehden und in die Verbannung schicken, wie schon in Dantes Zeiten. Die Besonderheit der italienischen Situation, herbeigeführt durch die Invasion der französischen Truppen ab 1494 unter Karl VIII. und dann Ludwig XII., mit der die militärische Intervention fremder Mächte auf italienischem Territorium noch zusätzlich den Weg zur Einheit erschwerte, verlängert nur weiter das System der Allianzen und der auszuhandelnden Verträge, wie das exemplarisch der Friedensvertrag von Lodi von 1452 veranschaulicht.39 39 »Der Friede von Lodi beschloss eine lange Periode des Kampfs unter den italienischen Staaten um die Vorherrschaft auf der Halbinsel. Mit der Ausgrenzung der kleineren Mächte behauptet sich eine Politik gegründet auf dem Gleichgewicht zwischen den großen (Herzogtum Mailand, Republik von Venedig, das Florenz der Medici, Kirchenstaat, Königreich Neapel), was einerseits eine Periode relativer Ruhe und kulturellem und zivilem Fortschritt in den einzelnen Staaten sicherte, andererseits der Erweis war einer kleinlichen und engstirnigen Sicht der Realität, die nicht ohne Folgen blieb für
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Machiavelli sah zwei Möglichkeiten, um die Krise der Kleinstaaten in Italien zu überwinden: die Republik als Regierungsform, die die Oligarchien beseitigen würde oder in der sie aufgehen sollten, und das principato, die Herrschaft eines Fürsten, der aber auch in der Lage wäre, die Herrschaft über das ganze Territorium zu sichern. »Machiavelli hat verstanden, dass nach 1494 die französischen, spanischen und kaiserlichen Truppen die Halbinsel beherrschen würden. Ein italienisches ›principato‹ [i.S. von Machtzentrum vorzuschlagen], das in der Lage wäre, dieser Situation zu begegnen, bedeutete, gegen den Strom zu schwimmen und Politik in neuen und gewagten Kategorien zu denken.«40 Der mit den Staatsgeschäften vertraute Sekretär der Stadt Florenz war sich bewusst, dass der Weg zu einem Staat, der das gesamte Italien umfasst, eines Politikers bedurfte, der sich mit allen Mitteln der ihm zur Verfügung stehenden Macht durchzusetzen wüsste. Aber diesen principe, der Heerführer und Herrscher zugleich wäre, gab es in Italien nicht unter den principi italiani der Zeit, die unfähig waren »die Rolle des Volks unter einer geordneten Herrschaft zu verstehen« und damit einen Konsens zu erzielen, der auf der Legitimität der Herrschaft beruhte. »Man würde so eine Situation der Legalität schaffen, dank der das ›Volk‹ sich im Staat wiederfinden würde.«41 Doch die principi italiani haben, so Machiavelli, noch nicht einmal verstanden, wie und warum sie ihre Gebiete an die fremde Herrschaft verloren haben; sie durften nicht die »fortuna« dafür verantwortlich machen, »sondern ihre Untätigkeit und Verantwortungslosigkeit«; dazu beigetragen habe ferner die »oligarchische Struktur des Staates«, die als einer der Hauptgründe der Dekadenz des politischen Systems von Machiavelli angesehen wurde. Die von uns zitierten Autoren schließen daraus, dass es legitim sei zu behaupten, »dass Il Principe enthüllt und demaskiert hat die ideologische Substanz der unbeweglichen und klassenbedingten Macht der herrschenden Familien im Florenz der Humanisten und der Medici.«42 Im Hinblick auf Machiavellis Principe ist die Feststellung sicher richtig, dass eine nationale Einheit, wie sie diese Schrift verstanden hat, nicht erreichbar oder vielleicht auch gar nicht denkbar war. Von dieser Annahme ist auch bei Volponi auszugehen, der sich indirekt aber wiederholt auf Machiavellis Fürsten bezieht als das Modell eines Herrschers, dem die Rolle des Vorkämpfers der Einheit zugefallen wäre, die später vielleicht Garibaldi inne gehabt hat. Es ist also von Interesse zu untersuchen, in welcher Beziehung sich die Figur des Herrschers von Urbino von der des principe Machiavellis unterscheidet und gegebenenfalls worin sie vergleichbar sind. Wenn Volponi in seiner Genese der politischen Macht, von der er als moderne eine demokratische Legitimation voraussetzt, in die Zeit der Geburt oder der Konzeption der modernen Welt zurückgeht, dann weil er in dieser Zeit die Entstehung eines neuen Bilds des Menschen erkennt oder den Entwurf davon, z.B. in der Malerei des Quattrocento, sowie in der Konzeption eines Lebensraums, der das politisch- territoriale Schicksal Italiens.« (Martelli, Mario: »Le letterature delle Città- Stato e la civiltà dell’Umanesimo«, Firenze II 2. Politica e letteratura, in: Letteratura italiana, diretta da Alberto Asor Rosa, Bd. 3, Umanesimo e Rinascimento, S. 70). 40 Luperini/Cataldi: La scrittura e l’interpretazione, Bd. 1. »Dalle origini alla letteratura umanistica e rinascimentale«, Firenze: Palombo 1999, S. 667. 41 Ebd., S. 673. 42 Ebd., S. 672.
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errichtet und gestaltet werden muss auf einem Territorium und von einer Gesellschaft, die sich diesen Lebensraum erschließen muss. Der Ort aber, an dem die Errichtung dieser neuen Zivilisation modellhaft erprobt wird, ist für Volponi der Palazzo-Città von Urbino, der als Modell vorbildlicher humanitas noch in einem anderen zeitgenössischen literarischen Werk gerühmt wird, nämlich in Castigliones Il Cortegiano. Auch hier stellt sich die Frage, in welcher Hinsicht Volponi diesen Ort als den einer höfischen Gesellschaft verstanden hat. Es besteht kein Zweifel, dass es Volponi nicht um die höfische Gesellschaft geht, die ja das zu überwindende Element der feudalen Epoche darstellt, sondern um die kulturellen und zivilisatorischen Leistungen des ducato di Urbino in der Zeit des ersten Herzogs und seines Sohnes Guidobaldo.43 Unter der kurzzeitigen Ägide des kränklichen Guidobaldo um die Jahrhundertwende zum Cinquecento kommen Castiglione und Bembo an den Hof von Urbino und feiern den noch jungen Nachfolger Federicos als das Muster eines idealen principe, der von beiden Autoren gegen die Krise der Höfe und ihre verderbten Sitten als ethische Norm einer humanen Gesellschaft gepriesen wird. Darin aber könnte die Übereinstimmung gesehen werden, die zwischen Castigliones Idealisierung der Figur und dem normativen Bild des Herrschers bei Volponi zu sehen wäre. Diese Charakterisierung motiviert wahrscheinlich die wertende und normative Einstellung Volponis zugunsten der Regierungskunst der Montefeltro auf Kosten der Vernachlässigung der militärischen Bedeutung des ersten Herzogs von Urbino. Daraus aber könnte man folgern, dass es Volponi um eine strategische Differenzierung geht im Hinblick auf das politische Problem der Zeit nach 1494, wo eine militärische Mobilisierung aller Kräfte gegen die Invasion der fremden Truppen, wie sie in Machiavellis Principe vorgesehen wäre, so gut wie keine Chance hat, zu einem Erfolg zu führen, wie auch das Ziel der nationalen Einigung als ebenso wenig realisierbar erscheint. Aus diesen Gründen scheint Volponi die Regierungskunst der Montefeltro als Wertkriterium gegenüber einer sinnlos gewordenen militärischen Aktion zu bevorzugen, was offenbar auch dem Überleben der Città-Palazzo und der Region als Modell eines geordneten Gemeinwesens dienen sollte. In dieses Modell werden dagegen Elemente der beiden einander ergänzenden Lösungen integriert: bei Machiavelli (in den Discorsi wie im Principe) die Einbeziehung des Volkes in die Politik und bei Castiglione die Diplomatie als Regierungskunst im Cortegiano. Der Hof von Urbino wird von Castiglione wie von Bembo als vorbildlich auch gepriesen im Hinblick auf die ethischen Maßstäbe der Lebensführung, die er ausgebildet hat und die Castiglione seinem Cortegiano zugrunde legt. Man könnte
43 Siehe Carella, Angela: »Urbino e le Marche«, in: Letteratura italiana, herausgegeben von Alberto Asor Rosa, Bd. 4: Umanesimo e Rinascimento, S. 640 Ihrer Studie zu Urbino e le Marche entnehmen wir die folgende Charakterisierung des Nachfolgers des ersten Herzogs von Urbino: »In Wirklichkeit ist der Charakter, den Guidobaldo im Grunde von Federico erbt und den er dann auf den Adoptivsohn zu übertragen sich bemüht, der, der ihn als gnädigen Herrn (principe clemente) gegenüber seinen Untertanen ausweist. Und die Krankheit und sein Zustand als Heerführer ohne Erfolg sind dann die Qualitäten, die die Sublimierung der Figur des Fürsten als vollkommenes Modell der literarischen Kultur des Humanismus motivieren.«
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versucht sein, die Materie des Cortegiano,44 z.T. wenigstens, im Sinne eines Bildungsprogramms zu verstehen im Hinblick auf die Führungsaufgaben einer neuen politischen Klasse, die das höfische Personal ablöst im Moment ihres Niedergangs, der »Auflösung des institutionellen Systems der italienischen Höfe zwischen dem Quattro e Cinquecento«;45 die Funktion dieser Klasse wäre dann zu begreifen als die, wie man sagen könnte, von Intellektuellen des Rinascimento, einer weltlichen Wiedergeburt der Kultur. Als solche jedenfalls sieht Volponi die Funktionen, die am Hofe der Montefeltro die Künstler, Wissenschaftler und Gelehrten ausüben, die alle zur Fähigkeit beitragen, das Gemeinwesen als menschliches neu zu verstehen und die Koexistenz verschiedenartiger lokaler Zentren zu sichern. Das aber wird zum Problem, wenn man nicht wieder zurückfallen will in die kommunale Eigenständigkeit der Höfe und Städte. Wenn sich aber die nationale Einheit als Staat nicht verwirklichen lässt, bleibt allein der Anspruch auf eine lokale oder regionale Autonomie, in der die Merkmale einer geordneten Gesellschaft verwirklicht sind oder sich realisieren lassen, einer Gesellschaft also, die als Konzeption existiert und als Projekt zu verfolgen ist im Sinne einer Utopie. So ist Volponis Urbino als Città-Palazzo oder Città Ideale als ein Anspruch zu verstehen, der zu realisieren war und noch ist, in der Vergangenheit wie in der Gegenwart. Kommen wir zurück zur Funktion der Intellektuellen, als die wir den Kreis der Mitarbeiter des Herzogs am Hof von Urbino charakterisieren. Wenn sie, wie Castiglione oder auch Machiavelli in Florenz, in die Regierungsgeschäfte einbezogen werden, als Botschafter, Sekretäre oder anderweitig, dann fällt ihre Tätigkeit in den Bereich der Diplomatie, die letztlich auf der Kunst der Rede beruht, die mit zu den Fähigkeiten gehört, über die der cortegiano verfügen muss. Unter dem Stichwort »Die militärische Krise der italienischen Staaten und das diplomatische Abenteuer des Castiglione«, analysiert Angela Carella die Funktion der Diplomatie; sie verweist zunächst auf die »Gebrechlichkeit des Gleichgewichts im generellen System der italienischen Staaten« jener Zeit. »Die Militärwissenschaft erwies sich als unterlegen und gedemütigt angesichts der größeren Professionalität der ausländischen Mächte«, was dazu führte, dass »die diplomatische Geschicklichkeit […] sich als wirksamster Ausgleich für die militärische Unterlegenheit und das Überleben der italienische Staaten an Boden gewann. Und mit der Geschicklichkeit der Diplomatie setzten sich durch das verschlagene Geschick des »Geistes« und der weise Ermessensspielraum eines ausgeglichenen »buon giudizio«, verfeinert durch den Besitz bewährter Techniken rhetorischer Überredung und gefestigt durch die Beiträge einer weit gefächerten humanistischen Kultur […].« 46 Diese Funktion, so schließt die Autorin, habe letztlich noch einmal die Rolle des »Cortegiano« aufgewertet, bzw. habe sie umfunktioniert im Dienst der Diplomatie. Das Bild, das Il Cortegiano von Urbino zeichnet, ist historische Realität und Mythos zugleich in dem Sinn, dass es, wie Carella sagt, »einen Ort unve44 Über den Charakter als Traktat über den Hofmann oder die höfische Gesellschaft hinaus kann Il Cortegiano gelesen werden, wie die Autorin bemerkt, als »trattato generale sulla natura umana«. Ebd., S. 651. 45 Ebd., S. 634- 35. 46 Ebd., S. 645.
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ränderlicher Perfektion oder Idealitä« darstellt, und das heißt, einen normativen Maßstab setzt, der einer vergangenen Realität entstammt, aber einer zukünftigen noch als Modell dienen kann. Dasselbe gilt aber auch von der Città ideale Volponis. Die Ähnlichkeit in der Wahrnehmung beider Autoren von Realität einerseits und Ideal andererseits bezüglich der Città-Palazzo soll abschließend an der Beschreibung gezeigt werden, die Castiglione im zweiten Kapitel des ersten Buchs des Cortegiano Urbino gewidmet hat: An den Abhängen des Apennin liegt, fast in der Mitte Italiens, dem Adriatischen Meere zu, wie jeder weiß, die kleine Stadt Urbino; obwohl sie zwischen Bergen ruht, die vielleicht nicht so lieblich sind wie viele andere, ist ihr der Himmel doch günstig gewesen und das Land ringsumher äußerst fruchtbar und reich an Erträgen, so dass man außer der gesunden Luft in Fülle alles findet, was zum menschlichen Leben nötig ist. Unter den großen Glücksumständen aber, die man ihr zuschreiben kann, rechne ich zum hervorragendsten den, dass sie seit langer Zeit bis heute von den vorzüglichsten Gebietern beherrscht wurde, mag sie ihrer auch in dem allgemeinen Elend der italienischen Kriege für einige Zeit beraubt gewesen sein. Ohne indessen in weiter Ferne zu suchen, können wir dafür durch die rühmliche Erinnerung an Herzog Federico Zeugnis ablegen, der zu seinen Lebzeiten die Leuchte Italiens war; es fehlt nicht an noch lebenden wahrhaftigen und ausgiebigsten Zeugen für seine Klugheit, Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Freizügigkeit, für seinen unüberwindlichen Mut und seine kriegerische Tüchtigkeit. Für letztere zumal legen seine vielen Siege Zeugnis ab, die Eroberungen unüberwindlicher Orte, die Schlagfertigkeit in Feldzügen, die Tatsache, dass er vielmals mit sehr wenigen Leuten vielköpfige und tapferste Heere in die Flucht geschlagen und niemals eine Schlacht verloren hat, so dass wir ihn nicht ohne Grund mit vielen berühmten Männern des Altertums vergleichen können. Unter anderen löblichen Dingen errichtete er in der herben Lage Urbinos einen Palast, der nach der Ansicht vieler der schönste ist, der sich in ganz Italien findet; und er versah ihn so gut mit allem Möglichen, dass er nicht ein Palast, sondern eine Stadt in der Form eines Palastes zu sein schien, und zwar nicht allein mit dem, was man gewöhnlich braucht, wie Silbergeschirr, Wandbespannungen von reichsten Stoffen aus Gold und Seide und andere ähnliche Dinge, sondern er fügte als Schmuck eine Unzahl von antiken Marmor- und Bronzestatuen hinzu, einzigartige Malereien, Musikinstrumente jeder Art; er wollte nur das Seltenste und Beste haben. Ferner sammelte er unter sehr erheblichen Kosten eine große Zahl hervorragender und seltener griechischer, lateinischer und hebräischer Bücher, die er in Gold und Silber binden ließ, weil er sie für das Vortrefflichste in seinem großartigen Palast hielt.47
Dieses Urbino, das bei Castiglione im Moment der Niederschrift schon Erinnerung war, ist aus der historischen Distanz bei Volponi erst recht verklärte Geschichte, an der er aber festhält, zum einen, um die Norm eines Idealzustands aufrechtzuerhalten, zum anderen auch, um das Symbol einer regionalen Autonomie in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht nicht preiszugeben. Dennoch mischen sich in das Lob Urbinos immer wieder Anflüge von Skepsis und Kritik, was in den Romanen der frühen Periode auch gelegent47 Baldassar Castiglione: Das Buch vom Hofmann. Übersetzt, eingeleitet und erläutert von Fritz Baumgart. Bremen: Carl Schünemann Verlag (ohne Jahresangabe), S. 15f.
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lich anklingt. Das Prestige der lokalen Kulturen »dell’antica Italia«, das im Dialog mit Leonetti von diesem angesprochen wird, findet die lebhafte Zustimmung Volponis, der aber kurioser Weise dieses Lob Ausländern in den Mund legt: Ich glaube, dass die Gesprächspartner anderer Länder eine Wahrheit erfassen, die tief verwurzelt ist in den Städten und Regionen Italiens. […] weil sie sehen, dass die Italiener noch in der Lage sind, gelassen zu arbeiten, Erfindungen zu machen und zu diskutieren […]. Der Staat der Einheit des Risorgimento dagegen scheint mir ein enges, angerostetes Gebilde, das Italien, das italienisches Leben nicht mehr enthält.48
Zu diesen Äußerungen ist zu bemerken, dass sie dem Verdacht, den Reden Mazzinis und Giobertis über die Selbstgenügsamkeit Italiens nahe zu kommen, nur deshalb entgehen, dass sie das Problem des Staates wieder zur Sprache bringen, der dieser föderativen Idee der Einheit Italiens nicht entspricht. Um anschaulich zu machen, was unter einem Regierungssystem zu verstehen ist, das dieser Idee entspricht, greift Volponi, wie gezeigt, auf das Modell des frühen Urbino zurück. Um dieses Bild von Urbino zu vervollständigen, sei auf die Cantonate di Urbino, das Prosastück von 1981, verwiesen, wo Volponi noch einmal in einem breit angelegten Gemälde die Physiognomie der Stadt in ihrer Geschichte uns vor Augen führt: Das Herausragende ist gerade der Humanismus des Rinascimento [was wir an an- derer Stelle als die Rückbeziehung der Kultur an die Natur bezeichnet haben]: die neue Vision der Geschichte und des menschlichen und sozialen Lebens […], aus der Sicht der scienza nuova, gewonnen durch die Arithmetik, die Astronomie, [aus der Sicht] der Geometrie in der Malerei, in der Körperlichkeit der Arbeit und der Mechanik der Maschinen. So tritt der ganze Mensch heraus aus der Plattheit der Devotionsbilder und der Angst, aus den Windungen und Biegungen im Inneren der geschlossenen mittelalterlichen Städte, voller Ecken und Türmen der Korporationen und Parteiungen, und findet sich dem erhabenen Anblick des Territoriums und der Piazza gegenüber. Er beginnt, ganze Städte zu bauen, auch als Zentren der Administration von Kultur im Hinblick auf die ganze Gesellschaft […].49
Auf diesem Grund entsteht die Citta-Palazzo, der multifunktionale Ort, den wir an anderer Stelle schon beschrieben haben Doch noch einmal kommt Volponi hier auf die Bedeutung der Malerei zurück, von der er an dieser Stelle zwei Werke des Quattrocento als exemplarisch rühmt, La flagellazione [die Geißelung Christi] von Piero della Francesca und Il miracolo dell’ostia sconsacrata [Das Wunder der entweihten Hostie] von Paolo Ucello, beides Gemälde im Kleinformat, die sinnbildhaft geschichtliche Momente der frühen Neuzeit spiegeln. Bemerkenswert ist im Abriss der Ursprungsgeschichte des ducato, dass Volponi, wenn von Guidubaldo die Rede ist, dem gesundheitlich geschwäch48 Paolo Volponi/Francesco Leonetti: Il leone e la volpe, S. 84- 85. 49 Volponi: Cantonate di Urbino, S.12.
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ten Sohn Federicos, mit keinem Wort auch nur Castigliones Cortegiano streift, obwohl dieser Guidubaldo ja als Modell des perfekten Principe dargestellt und gefeiert hat. Vermutlich ist das darauf zurückzuführen, dass Volponi den Hof von Urbino eben nicht als Zentrum feudaler Machteninteressen sieht, wie noch Castiglione, sondern als Modell eines schon modernen städtebaulichen Projekts, das sich auf alle die Kultur der Neuzeit fördernden Belange erstreckt, während bei Castiglione die Figur und die Funktion des Höflings in den Vordergrund rückt, der aber immer mehr dem Diplomaten weichen muss und dessen Aufgaben übernimmt, wie das vorangehend beschrieben worden ist. Aufschlussreich ist darüber hinaus, dass wo Volponi die Eroberungen Cesare Borgias, des Valentino, wie er ihn nennt, erwähnt, er den Widerstand der »popolani« gegen den Eroberer zwar rühmt, ihn aber auch als einen der möglichen militärischen Führer anerkennt, der Italien gegen die fremden Mächte zu verteidigen in der Lage gewesen wäre, wenn nicht die Umstände und sein früher Tod das vereitelt hätten.50 Den letzten Teil der Cantonate di Urbino behält Volponi dem langsamen Niedergang oder dem Verfall der Stadt vor, der mit der Geschichte der bürgerlichen Herrschaft und dem Schicksal der Arbeitsemigration in den peripheren Regionen zusammenhängt, wovon wir die relevanten Stellen schon zitiert haben.51 Den Schluss des Geschichtsabrisses bildet die Versetzung in die Zeit der Nachkriegszeit nach der Befreiung Urbinos durch die alliierten Truppen, wo die Hoffnung auf Wiederbelebung der Stadt aus der Erstarrung im Faschismus neu aufkeimt. Umso mehr als Urbino sich in Richtung auf dieses verzauberte Bild von sich bewegt […]. Wiederaufzunehmen und zu beleben waren die alten zugewiesenen Positionen, die Stadt und ihre Umgebung einer neuen Kultur zu öffnen, seine Musealisierung aufzuhalten […]. Das wahre Problem von Urbino ist heute, ein gesellschaftliches Profil zu bekommen, über den Ruf hinaus, ein gutes Zentrum der Studien und eine sehenswerte Stadt zu sein. 52
Das war in der unmittelbaren Nachkriegszeit, an die die frühen Romane Volponis, insbesondere Memoriale, so viele Erwartungen geknüpft hatten. In Il sipario ducale haben diese Erwartungen herben Enttäuschungen weichen müssen, oder Befürchtungen sogar, dass der faschistische Terror wiederkehrt. Unmissverständlich bringt das am Romanschluss die Szene zum Ausdruck, in der die corvi (Raben) die piccioni (Tauben) aus der Stadt verdrängen, in die sie eingedrungen sind. Subissoni, der das bemerkt, droht mit erhobenen Fäusten den Raben: er drohte den lautlosen Raben mit erhobener Faust hinauf zum Kirchturm, wo sie sich einnisteten und während dieser Aufenthalte jedes Mal weiter nach unten
50 Ebd., S. 23. 51 Ebd., S. 28. 52 Volponi: »La mia Urbino«, in: Cantonate di Urbino, Lecce, Besa Editrice 1996, S. 41. – Zur Geschichte der Region verweisen wir noch auf das Prosastück Marche in: Romanzi e prose, Bd. I, S. 1059- 63.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte sich bewegten in den Mauern und deren Vorsprüngen, bis sie die Nester der Tauben erreichten und zerstörten […]. [239]53
Dass diese Eindringlinge in der Bildersprache Volponis nicht nur etwas Bedrohliches für die Stadt darstellen, sondern auch mit einer gefahrbringenden Ideologie identifiziert werden, die in der Gesellschaft sich ausbreitet, wird deutlich, wenn vom »Raben im Haus Oddi-Sempronis« die Rede ist, der das neue Umfeld mit der Annäherung an die Dachrinnen erkundet hatte, und dann zufrieden davongeflogen war, um die ersten Reihen der Genossen zu erreichen über dem Mercatale […]. [253]
Dass es sich hier um Elemente einer aggressiven gesellschaftlichen Strömung handelt, wird unmissverständlich, wenn Subissoni kurz vor seiner Flucht mit Dirce aus der Stadt erneut mit den »corvi« konfrontiert wird und vom Fenster seines Zimmers empört diesmal beide Fäuste gegen die Ansammlung erhob. […] – Das ist die Mehrheit, rief Subissoni, die falschen Bärte, die ›sottostoria‹, die Milizen, die Magistrate! [255]
Das Bombenattentat von Mailand im Jahre 1969 ist ein Signal, das auf die im Hintergrund wirkenden und noch unerkannten Drahtzieher des neuen faschistischen Terrors hindeutet, die vermutlich dieselben sind – oder aus demselben politischen Milieu hervorgehen – wie die Auftraggeber der Ermordung Pasolinis im Jahre 1975, dem Jahr, in dem Volponis Il sipario ducale erscheint.
53 Hingewiesen sei hier auf ein weiteres Motiv der Invasion der Vögel in der Stadt in Guerra di piume sopra la città, in: Romanzi e prose Bd. III, S. 732- 35, wo es allerdings um eine andere, nämlich eher geopolitische Thematik geht.
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6. Kapitel: Il pianeta irritabile Das Szenarium des Atomkriegs – Der Primat des militärisch- industriellen Komplexes Il pianeta è dominato dall’atomica, è lei la vera padrona. Der Planet wird beherrscht von der Atomindustrie, sie ist die wahre Herrscherin. P. Volponi/F. Leonetti, Dialogo nell’inverno 1994, S. 107 Was Volponi in Corporale als Bedrohung der Menschheit durch einen möglichen Atomkrieg nur virtuell in Betracht gezogen hat, wird in der Spielsituation von Il pianeta irritabile als tatsächlich eingetretenes Ereignis dargestellt. Die Geschichte des atomaren Wettrüstens der konkurrierenden Weltmächte ist der gesellschaftliche und historische Hintergrund der Beschreibung, die Volponi von der Zerstörung des Planeten in einer Weise vor Augen führt, die nicht nur das Unfassbare dieses Ereignisses deutlich macht, sondern dafür auch sprachlich eine Form findet, die Volponis Sicht der Dinge angemessen erscheint, nämlich dem Ungeheuerlichen des Ereignisses den dafür entsprechenden Ausdruck des Grotesken zu verleihen, in dessen Sprache weitgehend die Geschichte vom Marsch durch die zerstörte Welt der vier Überlebenden erzählt wird. Die Thematik des alle Teile umfassenden Handlungsgeflechts ist der atomare Vernichtungskrieg und die historische Chance des Überlebens, eine Thematik, die in dieser Phase des Werks Volponis der bestimmende Gesichtspunkt seiner Geschichtsdarstellung ist. Abzuleiten aus der Gesamtthematik wären die Handlungsteile, die wir im Einzelnen untersuchen und die wir in folgende Abschnitte unterteilen: – Der nukleare Konflikt zwischen den Supermächten und die Konkurrenz der Systeme von Kapitalismus und Kommunismus: der militärischindustrielle Komplex im Kalten Krieg – Die Geschichte der Überlebenden als Gruppe: ihr Marsch über und auf einer unwegsam gewordenen Erdoberfläche und die Gräuel der Überlebenden
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
– Die Geschichte des gesellschaftlichen Subjekts: der totale Verlust des Gesellschaftlichen und die Rückverwandlung des Menschen in ein bestialisches Wesen oder seine Metamorphose in Dämonen – Die Geschichte der Gruppe als Fabel eines Märchens: die Gruppenbildung als Form der Vergesellschaftung: die Integrierung des Menschlichen in die Gesellschaft der Tiere In den Handlungsverlauf der einzelnen Geschichten sind Diskurse eingefügt, die die Positionen der jeweiligen Figuren kennzeichnen und die wir auf die ideologischen Standorte beziehen, denen die politisch-gesellschaftliche Gehalte der Reden entsprechen. Als Themen dieser Diskurse wären zu unterscheiden: – Die Reden von Roboamo, dem Elefanten als Wortführer der Vernunft, und von Moneta, dem Kommandanten der bewaffneten Macht: die Opposition von vergesellschafteter Ratio vs. technologischer Rationalität der Zwecke – Die Figur des »Imitatore del canto degli uccelli«, des Imitators des Vogelgesangs: der Gesang der Vögel als ein Modell der Sprache der Natur und bedingt als Sprache der Poesie – Das Planetarische und die Thematik des universellen Lebenszusammenhangs: der wissenschaftliche Diskurs über die Dimensionen des Seins der menschlichen Existenz Diese Redeteile des Textes, die wir als thematische Diskurse verstehen, fügen wir als Exkurse unserer Textanalyse bei, wo sie nicht im Handlungszusammenhang unmittelbar erscheinen.
1. D IE Ü BERLEBENDEN
AUF DEM
M ARSCH
Die Eingangssituation des Romans präsentiert die Gruppe der Überlebenden in einem Dauerregen, vor dem sie Schutz suchen im Inneren einer mächtigen Steineiche (leccio); nur ihre Augen werden zunächst erkennbar »vier Augenpaare unterschiedlich an Größe und Farbe« [3]: die Augen nämlich eines Affen mit Namen Epistola, die des schon genannten Elefanten namens Roboamo, ferner die der Gans Plan Calcule, die, weil sie fliegt, die Funktion der Erkundung der Wegstrecke inne hat, und die des verkrüppelten Nano, des Zwergs, der unter anderem auf die Namen Zuppa [Suppe] oder Merda [Scheiße] hört, letzteres weil ihm die Aufgabe zugewiesen worden ist, die Exkremente der anderen und insbesondere des Affen zu entsorgen. Der Steineiche, als einem der Baumsymbole im Werk Volponis, kommt in der Geschichte des Überlebens der Gruppe eine Bedeutung zu, die nicht eindeutig zu klären ist, außer im Hinblick darauf, dass sie einen Zufluchtsort darstellt vor einer drohenden Vernichtung des Lebens durch die Gewalt der Zerstörung, die der Mensch in der Welt selbst entfach hat, dieselbe Gewalt, vor der Aspri in Corporale die Rettung in dem Schutzraum des Refugiums gesucht hatte. Volponi vertraut diesem Baum also eine Funktion an, die in der gegebenen Situation dem Schutz des Lebens gilt und dessen Kontinuität versinnbildlicht im Sinne der Lebenskraft des Irdischen, des von der Erde Hervorgebrachten, und d.h. schließlich auch der menschlichen Kultur und 266
Il pianeta irritabile
Zivilisation. Ein bisschen rätselhaft bleibt in diesem Zusammenhang allerdings die Geschichte der Herkunft dieses Baums, die an die Erzählung geknüpft wird eines venezianischen Kaufmanns, der den Samen des Baums von seiner Reise aus den Karpaten im Jahr 1623 mitgebracht und ihn der Gräfin Tea Viti, auch La Timotea genannt, aus Pesaro zum Geschenk gemacht hat, der er gleichzeitig aber die Pest überträgt, von der er selbst befallen ist. Die Gräfin versenkt den Samen in eine Grube in ihrem Garten, aus der dann die Steineiche in ihrer vollen Pracht und Größe hervorgehen wird; die Gräfin aber, tödlich erkrankt, übergibt, was sie zu sich genommen hat, in diese Grube und stirbt kurz danach. Diese Geschichte, die am Anfang des Romans auf weniger als zwei Seiten [4-6] in enigmatischer Kürze in die Handlung eingefügt wird, findet im weiteren Verlauf der Erzählung keine Erwähnung mehr und könnte daher erzähltechnisch als ein blindes Motiv betrachtet werden. Für den Verfasser dieser Untersuchung schien diese Einfügung auch als so etwas Ähnliches, solange er noch nicht Kenntnis genommen hatte von einer anderen Erzählung Volponis, die bisher nicht unter den Titeln der kritischen Gesamtausgabe figuriert. Eine Erzählung nämlich von 1984, die schon im Titel La pestilenza auf die tödliche Gefährdung anspielt, die im Jahr 1348 der Bevölkerung Sienas durch die Pest gedroht hat und die beiden berühmten Malern der Stadt, Ambrogio und Pietro Lorenzetti, mit in den Tod riss. Der Pest wird hier, wie in Il pianeta, der atomaren Gewalt die allegorische Bedeutung der todbringenden Vernichtung der menschlichen Zivilisation zugeschrieben, was die Ähnlichkeit der beiden Geschichten begründet. Die gleiche Bedeutung kommt darüber hinaus aber auch dem Baum zu, der in beiden Erzählungen das Prinzip der Bewahrung des Lebens verkörpert, in Il pianeta die Steineiche (il leccio), unter dem die vier Überlebenden Schutz finden, in La pestilenza der Birnbaum (il pero), dessen Plantage die Brüder Lorenzetti großräumig in ihrem Garten vor den Toren der Stadt angelegt haben; ein Werk, das die Einpflanzung der Kultur in die Stadt als zivilisatorische Leistung versinnbildlicht, und das Volponi in der Malerei der Brüder Lorenzetti abgebildet sieht unter dem sprechenden Titel »Il buon governo«, »die gute Regierung«, wie eines ihrer Bilder heißt. Diese Sicht der Welt, die funktionierende Verhältnisse nach der Vertreibung aus dem Paradies auf der vom Menschen bebauten Erde vor Augen führt, wird in der Erzählung La pestilenza im Jahre 1348 in der Wiederkehr barbarischer Zustände gezeigt durch den Einfall eines wilden Ziegenbocks – caprone »ebbro e furente«, »trunken und wutentbrannt« , der das bebaute Land wieder zerstört und zurückversetzt in den Zustand, in dem blinde Instinkte auf der Erde vorherrschend waren.1 Of1
Wir stützen unsere Ausführungen zu La pestilenza auf die Veröffentlichung eines Artikels von Fabio Rocchi »L’individuo al limite. Forme della malattia nell’opera di Volponi«, in: Il Giannone, II, Nr. 3, 2004, worin der Verfasser u.a. auf die Erzählung La pestilenza verweist, herausgegeben von Marco Rustioni, in Via del Vento Edizioni. Aus dem Artikel von Rocchi zitieren wir die folgenden Passagen: »Das menschliche Element, das zusammen mit den Malern verschwindet, um am Ende der Erzählung verwandelt wieder zu erscheinen in einer degradierten und furchtbaren Form […], wird im Verlauf der Erzählung ersetzt durch das instinktgelenkte und animalische Element. Die Prosa Volponis, [in einer allegorischen Darstellung], bildet also einerseits ab den Einbruch einer tödlichen Epidemie und andererseits das Auslöschen des Menschen und der Ordnung [im Bild] des Gartens der Brüder Lorenzetti […]«.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
fensichtlich wird in dieser von Volponi in das Gewand einer Fabel verwandelten Episode der verheerenden Pest von 1348 die Homologie der zerstörenden Gewalt in der Geschichte, auf die wir hingewiesen haben wollen, weil sie von Volponi selbst nahe gelegt wird. Kehren wir aber zur Geschichte der vier Überlebenden in Il pianeta zurück. Deutlich wird, dass der ›leccio‹ einen Standort bezeichnet, von dem aus die Gruppe ihren Marsch antritt und zu dem sie auch wieder zurückzukehren beabsichtigt. Dem Leser bleibt es jetzt überlassen, den Weg, den die Gruppe zurücklegt, im Hinblick auf ein Ziel, das sie verfolgt, aus den im Erzählvorgang angezeigten Peripetien zu ergründen oder dabei zu helfen, die Intention oder den Sinn der Geschichte zu entschlüsseln. Das sonst im Werk Volponis strukturell bedeutsame Motiv der »Straße« oder des »Wegs«, das die Progression einer Entwicklung anzeigt – wenn auch in Umkehrung des Bildungsromans –, ist hier außer Kraft gesetzt. Es gibt keine Hinweise mehr auf einen Wegverlauf, die auf ein Ziel hindeuten, wenn nicht das der drei Monde (le tre lune), die nur noch eine Orientierung an entfernten Himmelskörpern andeuten. Versuchen wir trotzdem die Rekonstruktion des Wegverlaufs, wie er im Text beschrieben wird und der von der Steineiche nach der atomaren Explosion seinen Ausgang nimmt. Vor unseren Augen tut sich eine Landschaft auf, die im Grunde keine mehr ist, sondern eine mit Asche bedeckte Oberfläche, in die die Materie umgewandelt zu sein scheint. »Der Wagen war eingesunken unter einer Schicht von Asche auf der Höhe eines richtigem Hügels, auch dieser bestehend aus Asche […]«; »die vier erreichten den Scheitelpunkt des Hügels und sahen sich um, ohne zu verstehen«, was sich ihren Blicken darbot [14]. Weiter vorn auf der Rechten sah man den Lichtstreifen eines Abgrunds: »die Asche stürzte dort hinein und in der Schnelligkeit des Falls verwandelte sie sich in eine endlos herabrollende Wolke« [18]. Auf dieser ersten Wegstrecke werden zwei Ereignisse registriert oder in die Wegbeschreibung eingefügt: das eine ein Fragment der Geschichte des Nano und seiner Liebeserfahrung mit der Krankenschwester, der ›suora‹ im Hospital in Kanton; das andere die Bruchlandung und der Tod eines Piloten der westliche Streitkräfte. Die Gruppe setzt sich wieder in Marsch in Richtung auf das, was Plan Calcule als »eine bessere Erdbeschaffenheit erkundet hat, mit Wasser und Pflanzen, völlig entvölkert« [29]. Sie sind an eine Grenze gelangt. »Das Ende der Welt aus Asche war bezeichnet durch eine Linie wie auf einem Atlas. […] die Asche auf der einen Seite und das Gras auf der anderen« [33]. In dieser Phase des Marschs durch das übermannshohe Gras wird die Geschichte des jungen Technikers eingeführt und rückblickend in den Erzählvorgang integriert. Angestellt »in einem elektronischen Unternehmen namens Parnasonic« [37] wird dem jungen Techniker, der später identifiziert wird als die Figur des »Imitators der Vogelstimmen«, aufgrund seiner Begabung die Übernahme in die Dienste der westlichen Streitkräfte ermöglicht. Die Aufgaben, die er zu erfüllen hat, ist die computergesteuerte Überwachung von Information und ihre Geheimhaltung, die ihrerseits überwacht wird im Dienste der »militärisch-industriellen Interessen« [54], In einer der Kassetten wird ihm der Gesang der Vögel überspielt, den er vor seinen Überwachern streng geheim halten muss, den er aber erlernt und nachahmt, woher sich dann seine spätere Funktion und die entsprechende Bezeichnung herleiten. Seine Geschichte
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Il pianeta irritabile
wird in den zwei längeren Abschnitten [S. 37 bis 56] in den Text eingeschoben. Als Überlebende treten aber noch andere Tiere in Erscheinung, wie in der anschließenden Begegnung die Schlange und der Bär; beide werden von der Gruppe als Feinde identifiziert und von Epistola, dem autoritären Anführer, schließlich getötet; die ausgeweideten Teile des Körpers der Schlange werden auf dem Boden so angeordnet, dass sie einem Gemälde entsprechen [Abschnitte S. 57 bis 68]. Auch hier bleibt der Sinn dieses offenbar symbolischen Aktes ungedeutet. Eingefügt wird anschließend in der Rückblende auf die Vorkriegszeit die Schilderung der jeweiligen Funktionen, die den einzelnen Individuen der Gruppe im Zirkus zugefallen waren. worauf wir noch zurückkommen werden. So viel zunächst, dass der Zirkus in diesem Szenarium offenbar den Staat des Sozialismus versinnbildlicht, in der Welt der Menschen darüber hinaus, in der die Tiere als untergeordnete und zweckdienliche Elemente aufgefasst werden und entsprechend agieren. [S. 69ff]. In der Szene des Abstiegs in eine Höhle aber der Unterwelt des Mythos vergleichbar sind es die Tiere, die die Rangordnung sozusagen umkehren, indem sie in die versunkene Welt des Menschen herabsteigend dessen Ansprüche auf Herrschaft in einem komischen Licht erscheinen lassen, demonstriert an zwei Institutionen der alten Welt: der Fabrik [78-80] und der Schule [80-87], die als verlassene Orte noch erkennbar sind Über die Chefetage dringen sie ein in die Produktionsstätten. Am Direktorensessel ist noch die Inschrift zu lesen, die verkündet, dass dies der Sessel des »Generaldirektors« war, worauf Epistola in ein Gelächter ausbricht über die Diskrepanz zwischen dem Ort der Erniedrigung und Zerstörung und der Anmaßung der Funktionen menschlicher Herrschaft [72]. Im Dunklen sich vorwärts tastend, gelangen sie in die verschütteten Fabrikhallen mit den Fließbändern der automatisierten Produktion, die die Phase nicht überlebt haben, in der sie die Arbeiter aus dem Produktionsprozess verdrängt hatten [78]. Die im Staatszirkus tätigen Tiere – einschließlich die der Gruppe – sind im Bereich der Kulturpropaganda tätig gewesen, im »großen experimentellen Zirkus des Ministeriums für ›spettacolo‹ der Ulp«, die »Unione dei liberi popoli«2 [73], ein Sigel, das die Militärmacht des Ostens bezeichnet, den Gegnern der liberals, der Militärmacht des Westens. [145] Als Roboamo und der Nano in den Bereich gelangen, der als ehemalige Schule identifiziert wird, entdecken sie an der Wand des Klassenzimmers das Portrait einer Figur, die offenbar die Autorität verkörpert hat und die eine überraschende Ähnlichkeit mit dem Affen Epistola aufweist, ihrem autoritären Anführer. »Sie näherten sich und erkannten ein Gesicht wie das von Epistola: es lächelte in derselben verschlingenden Weise, blickte geradeaus mit einer Stärke, die sein Bild in zwei Hälften zerriss« und hinterließ, als die beiden sich entfernten, »den Eindruck eines gewaltsamen Schnitts, hinten und vorn, der nachwirkte wie eine Bedrohung …« [81]. Diese Figur, die vermutlich die Wissenschaft verkörpern soll, die durch die Schule vermittelt wird, und deren Grundlage, wie wenige Seiten später erläutert wird, die Physik ist, die zur Konstruktion der Atombombe in Dienst genommen wird [86-87], diese Figur ist es, in der Roboamo die Grundlagen der wissenschaftlichen Erkenntnisse verhöhnt, deren Symbole er zusammen mit dem Nano zerstört [80-82]. 2
Union der freien Völker.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Nach Verlassen des ›territorio industriale‹ muss die Gruppe eine Sumpfzone durchqueren, hinter der »ein Stück weiter eine neue Wüste begann«, die an einer Seite an eine ausgedehnte Wasserfläche (laguna) grenzt [88]. Ihnen nähert sich mit wachsender Geräuschkulisse eine Herde von Ratten (ratti e pantegane) von außerordentlicher Größe, deren Lauf die Gruppe gerade noch umlenken kann in Richtung auf das Wasser, in dem die Ratten verschwinden. Ihren Marsch nimmt die Gruppe wieder auf, nachdem sie in einer »verlassenen Stadt« Vorräte aufgenommen und Erinnerungsstücke des vernichteten Lebens inspiziert haben. Ihr Ziel ist, wie Epistola jetzt verkündet, ein Ort, den er unspezifiziert als »sein Reich« bezeichnet, welches er in Gestalt einer Landschaft in erkennbaren Umrissen beschreibt und von uns in voller Länge zitiert wird, weil es der Konzeption eines wiedererstehenden irdischen Paradieses ähnlich ist, in dem offenbar Friede herrscht, wenn das nicht durch die Bemerkung Epistolas, dass er dort herrschen wird, wieder in Frage gestellt wird: Die Form groß, nicht kreisförmig noch rechteckig: zwischen zwei Tälern, ein See und ein Fluss; Wälder hier und da: Obstbäume und andere Bäume, um dort zu leben und zu herrschen. Blaues Licht von den Bergen und ein wenig Wind, der die Blätter bewegt, aber ohne sie zu verletzen: um sie nur ein bisschen in Bewegung zu versetzen, um das Reich immer anders zu sehen, in Kreisen und schachförmig … mit Mauern und Gittern für die Feinde und Sklaven. Schachteln für die Gans, für ihn und den Nano! Und Arbeiten auszuführen, um zu herrschen […]. [92]
Als der Nano fragt, wann sie dorthin kommen, antwortet Epistola: »Ich hab dir schon gesagt, wenn durch den Korridor alle Feinde passiert sind, werden wir aufbrechen. Zuerst müssen alle Feinde dort passieren und sterben […], alle und zuletzt der größte […], der universale Feind […]« [92]. Und Roboamo ergänzt: »Der universale Feind nennt sich il governatore, weil er der Herrscher über alles ist, über alles alles […]«. [93] In dieser zwiespältigen Beschreibung der Welt, in der ein neues Reich entstehen soll, von den Tieren zwar errichtet, aber unter der Führung des an Gewalt gewöhnten Epistola, wird als der allen gemeinsame Feind der Herr über die Armee der kriegführenden Mächte ausgemacht und als Figur designiert der »governatore« der universalen Potenz des Kapitals. In der Leitfigur des Affen lebt also der Vernichtungstrieb fort, der die Menschen in die eigene Selbstzerstörung getrieben hat. Die zum Tode verwundeten Menschen, denen sie noch im selben Moment ihres Aufbruchs begegnen, werden von Epistola getötet [94-96] ebenso wie die Gruppe der Sterbenden, die sie in einer Höhle auffinden, die der Nano auf Geheiß Epistolas erschießt [129-30]. Die Auseinandersetzung mit dem großen und eigentlichen Feind aber steht noch bevor, dem »governatore, dessen eigentlicher Name, neben vielen anderen, Moneta ist. [159] »Ihm werden wir, so Epistola, die Herrschaft streitig machen! Und sie ihm entreißen!« [93] Während die Gruppe auf einem selbst gebauten Floß das Wasser überquert, beginnt Roboamo, der die ganze Divina Commedia auswendig hersagen kann, aus dieser zu zitieren:
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Il pianeta irritabile Um besser die Wasser zu teilen, hisst die Segel jetzt das Schiffchen meines Geistes dass es hinter sich lasse ein so grausames Meer
und in Anspielung auf die eigene Reise und ihr Ziel: Und ich werde singen von jenem zweiten Reich wo der menschliche Geist sich reinigt und in den Himmel aufzusteigen würdig wird. Aber hier schon wieder erstehe die tote Poesie o heilige Musen, denn ich bin euer [99].3
Wieder auf festem Boden, gelangt die Gruppe zu der verheißenen Stadt, von der vorangehend schon die Rede war [Abschnitt S.107-130]. Der Nano rät, die Stadt unverzüglich in die Luft zu jagen und bleibt dabei, als Epistola, der ihn auf die Probe stellen will, fragt: auch dann, wenn noch Menschen darin sind, was als Zeichen von allen verstanden wird, dass sich der Nano bedingungslos zu den Tieren bekennt, zu »ihrer neuen Welt.« [108] Der Nano lässt sich allein durch eine Brunnenöffnung hinunter in die Tiefen der Stadt, wo er einen Augenblick versucht ist, sich selbst zum Herrscher über die menschenleeren Ruinen zu machen. »Er hätte auf dieser Erde weiter leben können unter diesem bleiernen Gewölbe für immer. Er fand auch in sich kein Gefühl oder keine alte Vorahnung, die diese Möglichkeit in Frage gestellt hätten.« [112/113] Für einen kurzen Moment, so könnte man sagen, erinnert diese Selbstvergessenheit an das Aussetzen des Bewusstseins, das dem Subjekt in Corporale widerfährt, als es sich in die Tiefen des rifugio vergräbt – ähnlich dem Helden von Mallarmés Igitur – und wie dieser zu einer anderen Wahrnehmung der Realität zu gelangen scheint. Den Nano aber führt seine Erkundung der verschütteten Vergangenheit zu der neuerlichen Entdeckung der Symbole der Macht, der uneingeschränkten Herrschaft über die Menschen durch ihre Überwachung, wofür »das große gläserne Auge« steht, das er in den verlassenen Räumen überall findet. Die Erinnerung an die eigene Vergangenheit im Regime der Ulp holt ihn ein und droht ihn zu überwältigen [114-15]. Bei weiteren Erkundungen gelangt er schließlich auf das Territorium einer unterirdischen Raketenbasis, von wo aus die militärische Führung den Start in den Weltraum geplant und offenbar durchgeführt hat, und wovon auch die riesigen Vorratslager zeugen, auf die der Nano stößt. Nach seiner Rückkehr zur Gruppe setzt sich diese wieder in Marsch mit dem Ziel, das »Reich der Tiere« zu erreichen, was auch die Aufhebung der menschlichen Identität des Nano erforderlich macht [Abschnitt 131-138]. Doch immer schwieriger und beschwerlicher gestaltet sich die Annäherung an dieses Ziel, wenn die Gruppe sich auf ihrer nächsten Etappe nur schwimmend fortbewegen kann und anschließend ein Gelände passieren muss, wo sie sich einem Rudel Wachhunde gegenüber sieht, die das Privateigentum der Besitzenden, bzw. das Staatseigentum noch immer verbissen verteidigen [Abschnitt 139-152]. In Volponis Szenarium des Weltuntergangs müssen of3
Die zitierten Verse sind aus Dantes Divina Commedia, dem ersten Gesang des Purgatorio, die ersten acht Verse.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
fenbar die Tiere selbst noch nachhelfen, die überlebenden Menschen und ihre Einrichtungen zu beseitigen. Die Hunde verkörpern in der Bildersprache der Erzählung so etwas wie die Staatsbediensteten, die von der Gesellschaft die materiellen Opfer für die Größe und Macht des Regimes einfordern und erzwingen.4 Mittels einer strategisch ausgeklügelten Angriffstaktik gelingt es Epistola und seiner Truppe, die Hunde zu überwältigen und zu töten. Die entscheidende Schlacht aber mit der kapitalistischen Militärmacht des Governatore steht noch bevor und wird im Folgenden langen Abschnitt von S. 153 bis 172 breit in Szene gesetzt. In den Gewässern vor dem Standort der Gruppe taucht ein Unterseeboot der kapitalistischen Supermacht auf, kommandiert vom Governatore, der Figur des ›universalen‹ Feinds. Erstmals wird auch Roboamo in einer aggressiven Haltung gezeigt gegenüber den Reden des machtbesessenen Kommandanten, dessen Demagogie er die Sache der Besiegten und Unterworfenen entgegensetzt, und das um so entschiedener, als dieser gegenüber den Tieren die Machtansprüche des Siegers wie folgt artikuliert: »Stellt das Feuer ein! […] Ich allein kann euch retten und zum Heil führen. Es gibt keine Freunde und Feinde mehr. Es gibt keine Menschen mehr! Es gibt nur noch die Menschheit! Wer noch lebt, kann mit mir mit auf die andere Seite kommen: in einer Rakete, die euch in eine neue und bessere Welt bringt. – Dort werden wir neu beginnen, in einer anderen Geschichte.« [156] Als die ersten Soldaten aus dem U-Boot aussteigen, werden sie von Epistola erschossen. Im Zweikampf aus unmittelbarer Nähe tötet Epistola den Gov, wie er zuletzt genannt wird, und er selbst wird dabei von einem ferngesteuerten Geschoß tödlich getroffen. [171-72] Nach dieser letzten kriegerischen Auseinandersetzung nehmen die Schilderungen der beiden letzten Abschnitte des Romans [173-186] den Marsch der verbleibenden Gruppe wieder auf, der über eine Wegstrecke verläuft, die sich völlig unspezifisch an den Positionen der »drei Monde« orientiert. »Die drei Monde bewegten sich in ihrem Lauf auf eigenen Bahnen, ohne Beziehung zu irgend etwas außer ihnen.« [175] Auf ihrem Marsch durch mondähnliche Landschaften geraten die drei nun vereinigten Weggenossen immer mehr auf Abwege, ohne Perspektive auf das Ziel, das völlig aus den Augen geraten ist. Sie gerieten schließlich »in ein vertrocknetes Terrain von Steinen, glänzend und gleichmäßig wie die eines alten Flussbetts… und das war das letzte Bild, das sie mit Mühe wahrnahmen … […] Als am Horizont nur noch die Steine waren, die er vor sich erblickte, hielt der Nano inne.« [186] Er entnahm seiner Tasche das Pergamentpapier, auf dem die Worte der Krankenschwester von Kanton geschrieben waren, brach es und verteilte die Stücke an die Weggenossen, die sie verzehrten. So schließt der Bericht von der atomare Katastrophe auf dem Planeten, über dessen Ende den Spekulationen freier Lauf gelassen bleibt.
4
Diese Deutung könnte der verschlüsselte Text der Stelle belegen, wo auch die Armee mit in die Staatsbediensteten einbezogen wird, neben »den Wissenschaftlern, Laboratorien, Universitäten, Forschungszentren usw.« [148].
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Il pianeta irritabile
2. D ER
MILITÄRISCH -INDUSTRIELLE
K OMPLEX :
DER
A TOMKRIEG
Der Ausbruch eines Atomkriegs war nie in gefährlichere Nähe gerückt als in der Kuba-Krise der 60er Jahre, als die Sowjet-Union Raketen zu Schiff in Richtung Kuba auf den Weg schickte, diesen Transport aber wieder zurücklenkte, als die Vereinigten Staaten mit einem Atomschlag gegen die Sowjets drohten. Bekanntlich ist dieser Rückzug erfolgt. Doch die Atomwaffen als solche blieben in Stellung und verschafften einen Aufschub, der absurder Weise auf dem Moment der Abschreckung beruhte und gewährleistet blieb. Zurückzuführen ist dieses Konfliktpotential auf die Rivalität zweier Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme, die über den Kampf der Systeme immer deutlicher zu einer militärischen Konfrontation auszuarten drohte. Der Kalte Krieg zwischen den beiden Weltmächten war im Begriff, ein atomarer Krieg zu werden. Das ist die Konstellation, die in Il pianeta irritabile der dargestellten Handlung zugrunde liegt und worin als Thematik ins Zentrum rückt, was wir – in Anlehnung an einen ökonomischen Terminus – als den militärisch-industriellen Komplex bezeichnen werden. Es ist von Anfang an klar, dass das Unternehmen, das durch die Atomexplosion zerstört wird, der Zirkus nämlich, aus dem der Nano und die drei Tiere sich retten können, ein staatliches Gebilde darstellt, das auch die wirtschaftlichen Interessen der »Unione libera dei popoli« vertritt und befördert, und dass der Zirkus ein politisches Organ verkörpert, das im Text selbst als dem »ministero dello spettacolo dell’Ulp«5 zugehörig [73] bezeichnet wird. Im Textabschnitt [69 ff], der die personellen und hierarchischen Verhältnisse des Circo am deutlichsten kennzeichnet, werden die Funktionen, vor allem von Epistola und dem Nano, in der Welt des Zirkus klar umschrieben. Der noch junge aber schon herrschsüchtige Pavian-Affe wird eingeführt in der Szene, wo ein mit einem Hund bemanntes Motorrad von ihm in Umlauf gebracht wird, wobei der Text ihn mit Gagarin, dem Helden der Weltraumerkundung identifiziert. »Epistola war aufgewachsen in der Überzeugung, immer zu gewinnen« [71], was als Anspielung auf das Proletariat verstanden werden könnte. Verstehen wir die hier beschriebenen Handlungsmomente im Sinne einer bebilderten Geschichte, bzw. als Momente einer Märchenfabel, dann könnte die Motorradnummer auf der »Todespiste« [69] gedeutet werden als der Start einer Rakete und der Kraftausbruch Epistolas dem Triumph des Proletariats zugeschrieben werden, das sich der Technologie bemächtigt hat und »den Sieg der eigenen Kraft« feiert, wobei der Hund, der die Rakete steuert, den Arbeiter darstellt, der hier schon in eine mindere Rolle abgedrängt wird, was der Funktion dann entspricht, die die Hunde als Bedienstete oder Funktionäre der Macht auszuüben haben [70]. In der Welt der Partei war auch dem Nano noch eine höhere Position zuteil, obwohl er schon dort für die Beseitigung der Exkremente zuständig war.6 Die Galanummer im Staatszirkus aber war der Hündin »Neue Ideologie« vorbehalten, wie es auf deutsch im Text heißt, die bei ihrem Auftritt von den Funktionären hofiert und von allen gefeiert wird [73-74]. Was an dieser Zurschaustellung von Staat und 5 6
Dem Kultusministerium oder Ministerium für kulturelle Veranstaltungen. »Er selbst ist ein Generaldirektor gewesen, zuständig zusammen mit einem noch höheren und älteren Generaldirektor für die Generaldirektion der Sauberkeit […]. Das bedeutete, dass er beständig die Scheiße wegtragen musste […].« [73]
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Partei ins Auge springt und als charakteristisch für das System hervorgehoben wird, ist vor allem der alles dominierende bürokratische Apparat, neben dessen Existenz das Moment der Überwachung – im Roman wenigstens – fast vernachlässigt bleibt, das die Militär- und Industriewelt des Westen kennzeichnet. Aber darauf kommen wir noch zurück. Zum ursprünglichen Personal des Staatszirkus’ gehört aber noch eine weitere Figur, nämlich der zunächst im Überwachungsapparat der Westmacht tätige Techniker, der schon als »Imitatore des Vogelgesangs« erwähnt worden ist. Die Geschichte des »jungen Technikers« ist das Kernstück der Demaskierung dessen, was wir als den »militärisch-industriellen Komplex« bezeichnen, nämlich die Kooperation von wirtschaftlichen Interessen und militärischen Zwecken einer Politik der Produktion, die auf die Vorherrschaft des jeweiligen Systems im Weltmaßstab gerichtet ist. Das ist aber nur zu erreichen, wenn die militärische Macht groß genug ist, um den Gegner notfalls in einem Krieg zu unterwerfen. Erst dann wird es den Frieden geben, den die siegende Macht garantiert, wie Moneta, der Kommandant des Atom-UBoots, verkündet. Die berufliche Laufbahn des jungen Mannes vom Arbeiter im Bergwerk, über sein Studium an der »Akademie der Industrie und der Wissenschaft«, in eine Anstellung zunächst im privaten Sektor, dem »elektronischen Zentrum«, dann, als dieser Forschungsbereich vom Militär übernommen wird, in den Dienst der militärischen Überwachung der gesamten Atomforschung [37], befähigt ihn dazu, wichtige Funktionen im höchst sensiblen Informationssystem des Militärs zu bekleiden. »Er war sehr fähig auch im Rezitieren und Kommentieren von poetischen Texten, weshalb man ihn der Überwachung im Sektor der »Gesellschaftswissenschaften« unterstellte, deren Ermittlungen aber dem Publikum jeder Art verschlossen bleiben mussten […].« [37-38] Die Anspielung auf die amerikanischen Geheimdienste ist unübersehbar, wie auch auf die dubiosen Praktiken, die angewandt werden, um Information zu unterdrücken, die der Gesellschaft vorenthalten werden, wofür »der Gesang der Vögel« steht. Der Hüter der »militärischen« Geheimnisse wird nämlich selbst in ein System von Überwachungen einbezogen, die ihm keinen Raum lässt, um unbeobachtet eine Kassette abzuhören, die er. mit der Aufschrift »Canto degli uccelli« unter dem gespeicherten Material gefunden hat. »Es gab keinen Ort, um noch nicht einmal die Kassette zu öffnen – Im Dienst war er allein, aber wenn ihn die Fernsehüberwachung beobachtet hätte, wäre er zur Zwangsarbeit in der Tiefe des Ozeans für mindestens zehn Jahren verurteilt worden.« [38/39] Eine Gelegenheit, die Kassette zu studieren, bietet sich, als er im Dienst militärischer Aufklärung für Aufgaben abkommandiert wird, die er für ein angegliedertes Institut zu erfüllen hat [43]. Dort gelingt es endlich, die Kassette in einem abgeschlossenen Raum zu öffnen und den »Gesang der Vögel« abzuhören [44]. Was die Kassette enthält, besteht in der Übermittlung linguistischer Codes, aus denen die Laute und Lautfolgen des Gesangs der Vögel zu entziffern ist und darüber deren Verständnis erst erschlossen werden muss. Es geht also nicht um schon fixierte sprachliche Mitteilungen, sondern um das, was über die Sprache erst vermittelt wird, das Sein der Natur, das sich der Herrschaft der Zwecke entzieht und wieder in die Kultur integriert werden soll. Der »Gesang der Vögel« ist das Element der menschlichen Sprache, das sich dem Rationalen menschlicher Zwecke beigesellt als die 274
Il pianeta irritabile
Poesie, die die menschliche Praxis verdrängt hat und kurioser Weise der Elefant wieder zur Geltung bringt. Der Gesang der Vögel widersetzt sich aber auch dem menschlichen Herrschaftsdenken und symbolisiert oder verkörpert eine Freiheit, die im Reich der Zwecke schwer toleriert werden kann. Durch die Kassette werden dem Techniker der Information Inhalte der literarisch fixierten Kultur übermittelt und zugänglich gemacht, die der Zensur des Überwachungsstaats, weil sie zu fürchten sind, als Konterbande zum Opfer fallen. Indem der Techniker diese literarischen Dokumente der Kultur in sein Gedächtnis aufnimmt, wie sie Roboamo, der Elefant, schon in seinem Gedächtnis gespeichert hat, wird er, der sie zitiert und weitergibt, zum »Imitator des Gesangs der Vögel – in seinem Denken, das ihr Käfig wird« [51]. Doch die Offenbarung, die dem jungen Techniker zuteil wird, soll sich in seiner privaten Existenz als verhängnisvoll erweisen, als er sie nämlich einem Mädchen anvertraut, das er zu seiner Lebensgefährtin zu machen gedenkt und der er den Gesang der Vögel hören lässt »in der Kabine, wo sie sich sexuell begegnen«. Seine Partnerin, die sich der Gefahr bewusst wird, der sie sich mit dem Anhören des Gesangs aussetzt, flüchtet nackt aus der Kabine und denunziert ihren Freund, der von der Polizei verhaftet wird – eine Szene, die in ihrer ironischen Komik überwältigend ist. Der Techniker wird angeklagt der Spionage und zu »zwanzig Jahren Zwangsarbeit verurteilt.« [55] Doch gelingt es ihm zu entfliehen und über die Grenze in den Bereich der Ostmächte zu gelangen. Dort wird der Gesang der Vögel begeistert aufgenommen, mit dem der Imitator im Staatszirkus wahre Triumphe feiert, was aber auch hier nur von begrenzter Dauer ist. Nach der atomaren Explosion wird er noch unter den Opfern des Zirkus gesehen [14], überlebt aber und begleitet aus der Distanz die übrigen Überlebenden auf ihren Marsch in eine fragwürdige Zukunft. Denn den Tieren steht noch die Auseinandersetzung mit den restlichen Formen menschlichen Verhaltens, der kriegerischen Form der Koexistenz auf dem Planeten bevor. Der Krieg ist die Form gesellschaftlicher Auseinandersetzung, die auch noch als ›Kalter Krieg‹ vorherrschend bleibt. Das kennzeichnet die Situation, die mit dem Korea-Konflikt die Haltung der Welt bestimmt, die sich selbst als ›freie‹ Welt definiert und versteht und den Ländern die Freiheit zu bringen verspricht, in der sie noch nicht herrscht. So jedenfalls lässt Volponi den Repräsentanten der Westmacht, den Kommandante Moneta, reden, als sich die vier Weggenossen dem U-Boot der freien Welt gegenübersehen. Weiter Die Szene, die die Gruppe der Tiere, in die der Nano integriert erscheint, mit der kriegerischen Welt des Menschen konfrontiert, ist sicher als Höhepunkt der Handlung anzusehen, die das Überleben auf dem Planeten zum Thema macht, da sie die Aggressionstriebe auch nach der Katastrophe noch einmal in Szene setzt. Dass das Erscheinen des Bootes und der sich ankündigende Kampf nicht ausschließlich nur im Sinne einer Konfrontation mit dem Regime der Westmacht verstanden werden kann, deutet schon die Aufregung des Elefanten an, in dessen Inneren die drohende Rückkehr der vom Menschen beherrschten Welt eine starke Erregung auslöst. Roboamo sah, wie sich ein Stück der alten Welt exakt wieder herzustellen schien und fühlte einen Moment derselben traurige Empfindungen, die ihn angesichts der sich zerstörenden Welt befallen hatte. Dann ergriff ihn immer etwas, das er
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte nicht als etwas Eigenes empfand und das ihn von sich selbst unterschied. […] Der Elefant brauchte lange Zeit, ehe er erkannte, dass diese Überlegung oder Empfindung etwas ihm Auferlegtes war. Aber es ist nicht zu erwarten, dass die Traurigkeit ganz vergehen würde und so auch die Unterwerfung. [154]
Die Thematik von Corporale, die Überwindung der Leiden des Gefühls, die von der literarischen Kultur des Bürgertums geschürt worden sind, erscheint wieder, und diesmal aus der Sicht des Tieres, aus der sie als eine Entfremdung der animalischen Wahrnehmung der Welt gedeutet wird. Es geht also in diesem Kampf nicht nur um eine Entscheidung in der Konkurrenz der Systeme, sondern um die Ablösung des alten Regimes der menschlichen Vorherrschaft im Universum. Doch dieser Diskurs wird wieder aufgenommen, wenn im Dialog zwischen dem Nano und dem Elefanten über die Fähigkeiten und das Sein der Tiere gesprochen wird. Die Entrüstung des Elefanten über die Herrschaftsansprüche des Menschen gilt den Worten des Governatore, der seine Gegner mit Lautsprecher auffordert, sich zu ergeben: »Wir werden euch vergeben und euch aufnehmen in unsere Reihen« [162]; aber als diese aus ihrem Versteck das Feuer erwidern, werden sie als die Klassenfeinde identifiziert, die auszurotten sind, als »ribelli comunisti« – und insbesondere Epistola, – als »rebellischer Bauer – Feind der Civiltà – Barbar – Materialist – Kommunist«, aber am Schluss trotz allem »ich rette dich Bauer und mache dich zum Menschen, würdig der Gesellschaft der Menschen« [165]. Ironisch wird hier ausgelassen, dass diese »Gesellschaft der Menschen« (»civiltà degli uomini«) mit der Zerstörung, die sie angerichtet hat, am Ende ist, und ebenso ironisch ist die Wendung, wonach der Governatore ausgerechnet von dem Tier getötet wird, das er zum Menschen machen wollte. In diesem Szenarium des Vernichtungskriegs der Ideologien wird die gesamte Negativität der Welt des Kapitals auf die Figur des Governatore in Gestalt des Moneta abgeladen. Dieser ist der Inbegriff des Kapitals und seiner gesellschaftlichen Funktionen: »Das Zirkulierende! das Flüssige, die Valuta, die Devise, das Risikokapital, die Investition, das Ersparte« [166]. Doch die Zurückführung des Werts auf die Exkremente – was schon eine psychoanalytische Erkenntnis ist – bleibt dem Nano vorbehalten, der die Beziehung zwischen dem Produzenten (Moneta) und den Entsorger (ihn selber] in drastische Bilder umsetzt. In der Vulgarität der Umgangssprache trägt der Nano dazu bei, den materiellen Stoffwechsel zu analysieren vom Produkt zum Exkrement, wobei er unterscheidet zwischen einem »natürlichen« und einem »künstlichen« Prozess, in dem sich der Stoffwechsel vollzieht O Stück Scheiße! Governatore aller Scheiße! […] Du bist sicher nicht die Scheiße eines natürlichen Zyklus; sondern der Haufen, die angesammelte Scheiße einer gewaltsamen Zirkulation. Wie im Unnatürlichen wandelst du das Gold in Scheiße, und nicht das Metall Gold nützlich für die Zähne und nicht die Scheiße als Dünger; sondern das Gold als Monete mit der Scheiße als Monete! Beide Zeichen des Künstlichen und der Besteuerung, auch der Eingeweide, auf der das Künstliche beruht. [170]
Das ist in der Drastik der Umgangssprache die dennoch subtile Analyse der Wertumsetzung des Kapitals auf den kürzesten Nenner gebracht. Darüber hi276
Il pianeta irritabile
naus legt Volponi dem welterfahrenen Nano die Unterscheidung in den Mund zwischen »naturale« und »artificiale«, die in der weiteren Entwicklung dieses Begriffspaars bei Volponi wegweisend werden wird: Das Künstliche als ausgeklügelte Raison der Macht und nicht Forschung und Wissenschaft. Denn das wissenschaftlich Künstliche wird wieder natürlich, wie auch die gute Scheiße! Während [an Moneta adressiert] dein Künstliches immer und allein Künstliches bleibt und, um sich als solches zu erhalten, fortfahren muss, seine Künstlichkeit [artifici] zu vermehren und sich zu lösen als Macht vom Natürlichen. [170]
DIE
3. D IE G ESCHICHTE ALS M ÄRCHEN : I NTEGRIERUNG DES M ENSCHEN IN DIE W ELT
DER
T IERE
Die Zerstörung, die der Atomkrieg auf dem Planeten angerichtet hat, haben offenbar nur vier der Angehörigen des Staatszirkus überleben können, doch ein weiterer Überlebender – der junge Techniker – wird später erst auf Distanz mit den Überlebenden in Beziehung treten. Es sind das Epistola, der Pavian-Affe, Roboamo, der Elefant, Plan Calcule, die Gans, und der Nano, ein durch die Explosion verstümmelter Mensch, genannt Zuppa oder auch Merda, wie schon erwähnt, weil er für die Entsorgung der Exkremente zuständig war und es auch weiter ist in der Gruppe. Sie können sich aus den Flammen der Atomexplosion retten und mit einem Karren vom Ort des Schreckens fliehen Epistola wird als Anführer akzeptiert, weil er den Unternehmungsgeist und die Willensstärke verkörpert, die die Gruppe zusammenhält, und weil er über Mut und Aggressivität verfügt, die offenbar notwendig sind, um den letzten Kampf gegen die menschlichen Herrschaftsansprüche zu gewinnen. Die übrigen Mitglieder der Gruppe zeichnen sich durch Eigenschaften aus, die sie, wenn nicht für das Überleben derselben, so doch für die Orientierung im Raum, den sie durchwandern, als nützlich erweisen: der Elefant durch das Gedächtnis, das eine immense Menge von Daten auch der menschlichen Kultur gespeichert hat und dadurch eine Animalität verkörpert, die sich auf dem Weg der Sozialisierung befindet; Plan Calcule, die Gans, besitzt einen geschärften Orientierungssinn, der ihr aus der Vogelperspektive die Erkundung des Geländes und der zu beschreitenden Wege ermöglicht; allein Zuppa, der verstümmelte Mensch, wird zu nichts anderem gebraucht, als die Exkremente der anderen wegzubringen. Er ist deshalb bemüht, sich den Tieren anzupassen, seine »Menschlichkeit« vergessen zu machen, was ihm nicht leicht fällt, weil er sich immer daran erinnert fühlt: »Ich bin ein Mensch gewesen« [62] und »im Grunde war er mit ihnen, weil sie ihn als Tier betrachtet und akzeptiert hatten.« [64] Diese Konstellation der Figuren wäre auch als Ausgangspunkt einer Handlung zu denken, in der das Verhältnis des überlebenden Menschen zu den Tieren in eine Erzählung übergeht, in der das verstümmelte menschliche Wesen Aufnahme in die Gesellschaft der Tiere findet, also auf der Ebene des Märchens zu verstehen wäre. Der Zusammenhalt der Gruppe, der von Anfang an als die Neukonstitution von Gesellschaft aufgefasst wird [12], setzt voraus, dass der Nano, indem er sich in die Gruppe der Tiere integriert, das zer277
Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
störte gesellschaftliche Wesen des Menschen aufgibt, oder aber ein gemeinsames Niveau zwischen Menschlichkeit und Animalität gefunden wird. Die Fabel, die dieser Interpretation zugrunde läge, ginge davon aus, dass das Sein der Tiere dem der Menschen überlegen wäre, dass also der Verlauf der Reise dazu führe, das menschliche Wesen zurückzuverwandeln in die Existenzweise der Tiere, die in der Gruppe neu erprobt wird. Das aber bleibt im Erzählverlauf nicht unangefochten, da ihr in der Figur Roboamos eine Argumentation widerspricht, die die Seinsweise der Tiere einbezieht in die Entwicklung zu einem höheres Niveau der Existenz. Aus dieser Polarität der Seinsweisen ergäbe sich folglich eine Konvergenz der beiden Positionen: des Subjekts der überlebenden Menschheit und der Fähigkeiten der Animalität, die nach dem Tod Epistolas eine neue Synthese der Rekonstitution des gesellschaftlichen Subjekts zur Grundlage hätte. In diese binäre Konstellation wäre ein drittes Element einzufügen, nämlich die Figur des jungen Technikers, der als Imitator des Gesangs der Vögel die vermittelnde Funktion ausübt zwischen dem menschlichen Sein und dem der Tiere, als deren Interpret er ja auftritt. Lässt man die Figur des Pavians außer Betracht, so sind die genannten Figuren die eigentlichen Protagonisten des Märchens, das jetzt nicht mehr die Rückverwandlung des menschlichen Seins in die Animalität zum Inhalt hat, sondern vielmehr so etwas wie die Integration der tierischen Existenz in die Gesellschaft der Menschen. In wieweit das der Nano repräsentiert, wird vermutlich ablesbar an der Episode, in der er zur Erkundung des verschütteten Erdinneren in die Tiefen des Brunnen hinabsteigt, was zu vergleichen wäre dem Abstieg des Orpheus in die Unterwelt und einem tiefgehenden Bewusstseinswandel des Subjekts, der aber nicht besagt, dass der Nano Tier geworden ist, wie die anderen, sondern dass er in sein Bewusstsein aufgenommen hat, was die tierische Existenz ist und dass sie teil hat an der Natur des Menschen. Die Konstellation, in der Version des Märchens, in der der Prozess der Verständigung zwischen Mensch und Tier erfolgt, ist zweifellos der Dialog zwischen Roboamo, dem Elefanten, und Nano, dem verstümmelten Menschen.7 Es ist Roboamo, der als erster versucht, den Kontakt mit dem Nano zu knüpfen. »Aber sag mir mal, welches ist eigentlich dein wahrer Name, Nano […]?« [83] Dieser Frage voraus geht die ziemlich verunsicherte Äußerung des Nano über sein Selbstverständnis, in dem sich die Selbsterniedrigung äußert, die Volponi dem menschlichen Bewusstsein zuteil werden lässt, bezogen auf das gesellschaftliche Subjekt, das er in dieser Phase, wie wir glauben, in der Figur des Nano darzustellen beabsichtigt hat. Gegenüber den Defiziten des Menschen erscheint die Gruppe der Tiere als autark und autonom in ihren Lebensbedürfnissen. Als Interpret der tierischen Denkleistungen versucht Roboamo jetzt, die spezifische Wahrnehmung der Tiere zu definieren. Ihre Lernfähigkeit beruhe, wie die des Menschen, auf dem Prinzip der »Imitation« im Sinne der »Angleichung«. Die Tiere lernen oder nehmen wahr, aber sie gehen nicht über diese Wahrnehmung hinaus in eine Welt, die jenseits davon situiert wäre: die Innerlichkeit des Menschen, den Ort des leeren Bewusstseins, zu dem die Menschen Zuflucht nehmen und ihre Gefühle investieren. »Wir haben frühzeitig beschlossen aufzuhören, über unsere Sensibilität zu räsonieren«, so Roboam, weil wir vermeiden wollen, dass sie zur 7
Siehe die diesbezügliche Szene von Seite 173 bis 186.
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»vita interiore« wird – »Deshalb ist unsere Welt immer mit uns, wo wir sind, egal wo wir uns befinden oder hingehen.« [160-61] Der Lernprozess, der hier begonnen worden ist, konzentriert sich nach dem Ausscheiden von Epistola auf die Frage des Überlebens der Gruppe, d.h. auf das Problem einer Vergesellschaftung gründend auf der Verträglichkeit von Tieren und Menschen. »Roboamo dachte konzentriert nach über die Verschiedenheit und suchte in allen Dingen, in sich selbst und den anderen, nach dem Allgemeinen.« [174] Worüber Roboamo nachdenkt und was er für ein Zusammenleben für wichtig hält, ist das Verhältnis der singulären Existenz zum Allgemeinen. Wiederzuerkennen in dieser Existenzauffassung ist die Problematik des gesellschaftlichen Subjekts bei Volponi, die Aufhebung der Distanz zwischen dem Subjekt in seiner Vereinzelung und der gesellschaftlichen Verankerung seiner Existenz im Allgemeinen. Von Roboamo wird dieses Verhältnis auf Kosten des Singulären zugunsten des Allgemeinen radikalisiert, d.h. die singuläre Existenz dem Allgemeinen der Spezies untergeordnet, wobei, was die intenzione genannt wird, der Selbstzweck oder die Finalität des Existierenden, gering gewertet wird und der Kritik anheim fällt. Das Primat dieser Existenzweise der Tiere postuliert Roboamo in einer Formulierung, die im Klartext besagt, dass man in allen Dingen, Gesten und Phänomenen zugrund legen muss, dass in ihnen nicht der Selbstzweck oder der Anspruch beherrschend wird, der über die Existenz hinausgeht, die in sich selbst ihre Begründung findet. Wenn diese Interpretation des stark verklausulierten Originals richtig ist, dann findet sie ihre Bestätigung in der anschließenden Erläuterung dessen, was als die intenzione, der Selbstzweck der Einzelexistenz bezeichnet worden ist: Der Selbstzweck stiftet immer Ordnung und Unterwerfung, ist nicht zu finden in der Revolution und nicht im Fortschritt der Geschichte. Notwendig sei, sich der Totalität der umfassenden Existenz, von allem und jedem, zu verschreiben und sie zu behaupten.8 Auf dem Primat der Gattung gründet Roboamo hier offensichtlich die Gesellschaftlichkeit aller, was vom verschlüsselten Text der Tiergeschichte auf die Ebene des Gesellschaftlichen zu übertragen ist, u.zw. im Sinne der Priorität des Allgemeinen, des »bene comune«, vor den Ansprüchen der Einzelexistenz. Die Einkleidung in die Tierfabel dient Volponi offensichtlich dazu, die Bedingtheit des Einzelnen vom Allgemeinen, des Individuellen vom Gesellschaftlichen in dieser extremen Darstellung evident zu machen. Die Selbsterniedrigung des Nano spiegelt dabei die Entleerung eines gesellschaftlichen Bewusstseins, das Volponi angesichts der drohenden Vernichtung der Kultur in dieser Phase zur Darstellung bringen wollte. Die Geschichte der drei verbliebenen Gefährten endet – wie im Märchen – hoffnungsvoll, im offenbaren Gegensatz zum Bild des Horizonts, den die Steine auf ihrem Weg verschließen. [186] Die Version des Märchens aber 8
Das Original der beiden Zitate S. 174 lautet: »Man muss dazu gelangen, in allen Dingen, Gesten und Phänomenen das tatsächliche und pure Fehlen jeglicher ›intenzione‹ zu bestätigen sowie jeglichen Grundes, der sich nicht frei erschöpft in sich selbst, d.h. in der Existenz.« Und noch entschiedener: »Die ›intenzione‹ hat immer Ordnung gestiftet, also auch Souveränität. Die ›intenzione‹ konnte keine Revolution sein; und so nicht einmal Leitgedanke und Substanz des nächsten Verlaufs [der Geschichte]. Man muss statt dessen die vollständige und gegenwärtige Totalität der Existenz, von allem und jedem, behaupten und respektieren.« [174]
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
scheint eine andere Straße zu bezeichnen, auf der sie fortschreiten und erproben, einzeln und zusammen […], die Dimension der neuen Gruppe und die der neuen Beziehungen. Damit jeder die eigene Position und das Maß finden könnte entsprechend der neuen Figur sozialer Beziehungen. Um so mehr, als keiner dachte, führen und herrschen zu können als Souverän. [184]
4. N ATURERKENNTNIS
UND
K ULTUR
ALS
V ERGESELLSCHAFTUNG
Die Vorkriegssituation unseres Szenariums zeigt eine Gesellschaft, die beherrscht wird durch das militärische Interesse, sich gegen eine feindliche Macht zu verteidigen, die zum eigenen Überleben vernichtet werden muss. Das ist die Situation des Kalten Kriegs und der Konfrontation zweier unversöhnlicher Ideologien. Beide Seiten verfügen über hochentwickelte Technologien, die sich nicht zuletzt dem Umstand verdanken, dass die wissenschaftliche Erkenntnis ausschließlich auf die Beherrschung und Ausbeutung der Natur gerichtet ist und die militärischen Prioritäten auf beide Bereiche – Kultur und Natur – ausgedehnt werden. Die Natur und ihre Erforschung wird den Interessen der Technologie unterworfen, wie das die Geschichte des jungen Technikers illustriert, und die Kultur wird der Überwachung der Geheimdienste unterstellt, wie das an der Kontrolle über den Sprachgebrauch der Zivilgesellschaft deutlich wird. Das Konfliktpotential, das sich damit in den Gesellschaften selbst anhäuft, rührt letztlich daher, dass der Zusammenhang der Phänomene in allen Bereichen von innen her bedroht wird und sich eine Zweckrationalität durchsetzt, die nur den Machtinteressen dient und blind ist gegenüber dem gesellschaftlichen Zusammenhang dieser Phänomene. Dieser technologischen Zweckrationalität setzt Volponi eine Wissenschaft der Natur entgegen, die nicht auf ihre Unterwerfung zielt, sondern auf den Bedingungszusammenhangs zwischen den Phänomenen der Natur und der Vergesellschaftung des Menschen. Das besagt eine Naturwissenschaft, die – wie die im Traktat von Anteo in La macchina mondiale entworfene – beide Bereiche vereint, bzw. die Kultur wieder auf ihre Wurzeln verweist, die Pflege der Natur, die ›agricoltura‹, in der auch bis heute die Natur des Menschen wurzelt, was die Erzählung von der Rückverwandlung des Menschen in sein animalisches Wesen demonstrieren will. Die Geschichte der Regression des menschlichen Wesens zu seiner animalischen Existenz, die der Kern der Geschichte des Nano ist, stellt das Bindeglied dar zur Thematik der Rekonstitution des gesellschaftlichen Subjekts, der umfassenden Thematik im Werk Volponis. Es geht in der Erzählung vom Marsch der Tiere zu einem noch unbekannten Ziel um das Problem der Vergesellschaftung der sich zu einer »nuova forma sociale« gruppierenden Überlebenden, in der tierische und menschliche Elemente verschmelzen oder in einen neuen Lebenszusammenhang integriert werden. Darin einbezogen ist die Geschichte der Rekonstitution des Subjekts, dessen Entwicklung wir von Werk zu Werk verfolgt haben. In der Erzählung vom Überleben der Gruppe betrachten wir, wie bemerkt, den Nano als die Figuration des gesellschaftlichen Subjekts, darauf gestützt, dass mit ihm ein Lernprozess vorgeführt wird, 280
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der das Subjekt vom Nullpunkt seines Selbstbewusstseins in eine Gesellschaft zu integrieren versucht, in der die Bedingungen sozialen Lebens an die Voraussetzungen des Lebens im planetarischen Maßstab gebunden sind. Zum ersten Mal in Volponis Werk wird der Lebenszusammenhang des Existierenden auf den Planeten in seiner Gesamtheit ausgedehnt und damit auch die Dimensionen erweitert, die das Gesellschaftliche der menschlichen Existenz bedingen. Im Strukturmodell, in dem wir das Gesellschaftliche situiert haben, hat sich damit folgendes verändert: In der technokratischen Kultur der Gesellschaft vor der Katastrophe war der Bereich der Natur ausgeklammert, da er unter das vom Menschen Beherrschte begriffen wurde; das Universum andererseits, durch das sich der Planet bewegt, war allein der Raum des militärisch-industriellen Interesses. Mit der Natur war aber auch das Animalisch aus dem Bereich des Menschen ausgegrenzt, was in der Umkehrung der Verhältnisse durch die jetzt herrschenden Tiere ironisch eine neue Realität entstehen lässt. Werden die ausgegrenzten Bereiche integriert in das, was als universeller Lebenszusammenhang definiert wird, dann verändert sich auch die Struktur des Gesellschaftlichen. Doch wie weit das geschieht, wird davon abhängen, in welchem Maß es gelingt, die Lebensbereiche des Universellen zu vergesellschaften. Um den pianeta irritabile vor der Zerstörung zu bewahren, wäre erforderlich, die Naturwissenschaften aus ihrer technologischen Fremdbestimmung zu befreien und sie auf neue Forschungsziele auszurichten. In der Erzählung vom jungen Techniker wird diese Umorientierung auf gesellschaftliche Bedürfnisse exemplarisch illustriert. Auch diesem Erzählvorgang liegt, wie wir meinen, ein versteckter Code zugrunde, aus dem erst zu entschlüsseln ist, was der »Gesang der Vögel« ist und bedeutet, was nicht allein in die Kompetenz der Naturwissenschaft fällt, sondern auch in die einer erweiterten Wissenschaft der Sprache, als die der Gesang der Vögel identifiziert werden kann. Diese Sprache aber kann, nach dem Verständnis Volponis, bezogen werden zumindest auf zwei Dimensionen des sprachlichen Vermögens generell, nämlich die Äußerungen der Natur mittels der Zeichen, durch die sie sich mitteilt, sowie durch die Sprache der Poesie, als deren Interpret im Laufe seiner Karriere ja der »Imitator des Vogelgesangs« schon identifiziert worden ist . Im Hinblick auf die Rolle, die der Funktion der Sprache bei der Rekonstitution des Subjekts sowie der Vergesellschaftung der Natur in Volponis Geschichte zugemessen wird, deutet Il pianeta irritabile schon voraus auf die Lyrik des Spätwerks, in der die Rekonstitution des gesellschaftlichen Subjekts, d.h. der Zusammenhang gesellschaftlicher Funktionen, über den Prozess der Veränderung der Sprache verlaufen wird. Aus dieser Perspektive kann die Fabel von der Vergesellschaftung der Tiere schon als ein Beitrag auf dem Weg zu diesem Ziel betrachtet werden.
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7. Kapitel: Il lanciatore di giavellotto Die bürgerliche Gesellschaft im Faschismus: Kapitalismus und Familie Die Epoche der italienischen Geschichte, die Il lanciatore di giavellotto behandelt, ist die Zeit des Faschismus und insbesondere die der 30er Jahre, an deren Ende sich am Horizont schon das Herannahen des zweiten Weltkriegs abzeichnet. Darin situiert ist die Geschichte der Familie Possanza und das Drama des jungen Damín, die den Hauptstrang des Erzählvorgangs bilden. Den Hintergrund des Familiendramas bildet eine zweite Erzählebene: die Darstellung der gesellschaftlichen Verhältnisse im Faschismus, aus denen die bestimmenden Momente des ödipalen Verlaufs des Familiendramas abzuleiten sind. In die beiden Erzählstränge eingearbeitet ist die Thematik des gesellschaftlichen Subjekts, als welches in diesem Roman Damín als Täter und Opfer im Familiendrama zu identifizieren wäre.
1. D AS Ö DIPUSDRAMA
IM
K ONTEXT
DER
F AMILIENGESCHICHTE
Die Geschichte der Familie Possanza umfasst drei Generationen: Damiano Possanza, den Begründer des Familienbetriebs und Keramikhersteller, der sein handwerkliches Metier noch mit künstlerischen Ambitionen betreibt; sein Sohn Dorino, der im Gegensatz zum Vater das Kunsthandwerk aufgibt und den Betrieb umzustellen beginnt auf industrielle Fertigung sowie den Vertrieb der Ware auf den Märkten; schließlich die Enkelgeneration, die Kinder von Dorino und Norma: Damín, der in seinem Kunstinteresse dem Großvater nachfolgt, den er verehrt und der ihn wieder liebt, und Lavinia, die kleinere Schwester, auch Vitina genannt, die für Damín die Reinheit des weiblichen Wesens verkörpert. Das erste Kapitel ist der Vorstellung der Familie gewidmet. Wie für jedes Kapitel fügt Volponi Kürzel für die ihm relevant erscheinenden Aspekte als Überschrift hinzu, hier u.a. L’orto familiare und Il possesso della madre,1 womit der Ort bezeichnet wird, an dem sich die Mutter mit Marcacci, ihrem Geliebten und Chef der Faschisten in Fossombrone, wiederholt schon getroffen hat. Im Kern ist das die ursprüngliche Konfiguration des ÖdipusKomplexes in der Familiengeschichte; die Beziehungen der Familienangehörigen im weiteren Sinn kurz charakterisiert, sind Damíns existenzbestimmen1
»Der Familiengarten« und: »Der Besitz der Mutter«.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
de Liebe zur Mutter und seine an Hass grenzende Abneigung gegenüber dem Vater Dorino; das Einverständnis zwischen Großvater und Enkel, ihre gegenseitige Zuneigung und Anerkennung; die liebevolle Bezeichnung Damíns zur kleinen Schwester, die sich in tödliche Eifersucht wandelt; schließlich das distanzierte Verhältnis zwischen dem Handwerksmeister Damiano, seine Ablehnung des Faschismus, und die geschäftsorientierte Einstellung seines Sohns Dorino, der sich dem Faschismus verschreibt. Auffallend an diesen Verhältnissen ist von Anfang an schon, mit welcher massiven Triebgewalt Volponi die Figur des Damín ausgestattet hat, für den es – wie in der antiken Tragödie – um einen Kampf auf Leben und Tod geht. Welche Bedeutung aber der libidinösen Triebenergie im Familienmilieu generell zukommt, wird eingangs ebenfalls schon deutlich, als Enkel und Großvater in einer Szene auf einem Familieausflug die Mutter und Schwiegertochter beim Urinieren beobachten, was beide in nachhaltiger Weise beschäftigt, das Kind insbesondere bei seiner allmählichen Entdeckung des mütterlichen Körpers und bei der Fixierung eines Mutterbildes, das sich formiert in der Symbiose einer Dreierbeziehung: Großvater, Mutter und Kind. »Das wiederkehrende Glück, das ihn in allem und überall trug, war das Bild von sich an der Brust der Mutter, mit einer Hand zwischen den beiden Brüsten und der anderen ausgestreckt zum Gesicht des Großvaters.« [9] Zu dieser spannungsgeladenen Konstellation der Figuren im Hause Possanza trägt nicht zuletzt auch der schon angedeutete Konflikt zwischen Vater und Sohn bezüglich der wirtschaftlichen Perspektiven des Betriebs bei. Die hier schon deutlich werdenden politischen Implikationen illustriert anschaulich der Wortwechsel zwischen beiden, in dem es um die Umstellung des handwerklichen Betriebs auf die industrielle Produktion geht, und dabei um die Problematik, die Volponi noch in den Scritti dal margine intensiv beschäftigen wird: die verspätete Industrialisierung des Landes, die in der Phase des Faschismus anzusetzen ist, wie dem folgenden zu entnehmen ist. Du bist ein Künstler. [so Dorino zum Vater] – Du isolierst und verschließt dich … in und mit deinen Meisterwerken. Ich möchte gern einen industriellen Betrieb aufziehen, mit unserem Namen und unseren Mitteln und mit Hilfe der Regierung. [Und der Vater darauf]: – Die Regierung Mussolini? In dieses Unheil willst du dich stürzen? Die Industrie hat die Familie der Keramikhersteller ruiniert … […]. Hoch kommen diejenigen, die sich verkaufen, die Diener des Fascio [der faschistischen Partei]. Ich will damit nichts zu tun haben, mit der Industrie des Fascio. [12]
Von Interesse ist hier, dass Volponi den Beginn der verspäteten Industrialisierung in den Faschismus verlegt, wodurch ihr in den Augen des Handwerkers Damiano der Makel anhaftet, der hier zum Ausdruck kommt. Im zweiten Kapitel erst wird die Szene geschildert, in der sich für Damín das Trauma ereignet, das als die Urszene im Sinne Freuds bezeichnet wird, nämlich die Beobachtung des Geschlechtsverkehrs der Mutter mit ihrem Geliebten, dem beeindruckenden Chef der Faschisten von Fossombrone, dem Ort in den Marche, in dem die Geschichte spielt. Das Merkmal seiner politisch-gesellschaftlichen Potenz, der »Silberne Dolch«, wird als Kürzel in der Kapitelüberschrift gleich an erster Stelle erwähnt; daran anschließen »Die
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Il lanciatore di giavellotto
Szene und die Wirklichkeit« und »Die Liebe der Frauen«.2 In diesen drei Kurzformeln der Erzählung, die den Inhalt des Kapitels resümieren, wird angedeutet, dass Norma, die Mutter Damíns, die Geliebte Marcaccis wird, womit dessen Dolch auch eine sexuelle, phallische Bedeutung bekommt; dass der von Damín beobachtete Geschlechtsakt als eine Urszene im Sinne Freuds gedeutet werden kann, die in der Entwicklung des Subjekts dessen Auffassung von Realität entscheidend prägen sollte; die dritte Formel aber – L’amore delle donne – weist auf die Aufklärung hin, die Damín aus dem Mund des Antifaschisten Occhialini erfährt über die Liebesansprüche und Liebesbedürfnisse der Frauen. Aus der Beobachtung des Geschlechtsaktes resultiert das Trauma im Leben Damíns: »Er hatte endlich das wirkliche Ereignis der Schuld der Mutter in seinem ganzen Ausmaß vor Augen […]«. [21] Die spontane Reaktion ist die Frontstellung gegen die Mutter, worin sich ein Gefühl der Aggression mit seinem Schmerz verbindet. Die traumatische Wirkung seiner Entdeckung aber besteht darin, dass sie auf alles übergreift, was mit der Mutter und ihrem Liebhaber in Zusammenhang gebracht werden kann. Die traumatische Erinnerung an die Szene wird zur Gewissheit, die Damín gegenüber allen anderen als »seine Wahrheit« behauptet, in der der Schmerz über den Verlust der Mutter fortdauert. Er versucht, sich durch Arbeit an der Seite des Großvaters abzulenken. »Aber auch hier musste er in jeder Geste, jedem Objekt und jeder Form die immer präsente, unvermeidliche Wahrheit der physischen Liebe wiedererkennen, wie sie sich ganz natürlich im Laufe jeden Tages ereignete […].« [22] Das Ausmaß seines Leidens versucht Damín aber zu verringern, indem er seine Einstellung zum Liebhaber der Mutter verändert. Er beginnt, ihn zu bewundern und sich von ihm angezogen zu fühlen, und auch Marcacci zeigt sich ihm zugetan, wenn er ihm auf dem Sportplatz begegnet und ihn als einen besonders talentierten Speerwerfer schätzen lernt. Doch Damíns Bewunderung gilt vor allem und im höchstem Maß dem Gegenstand, der die Macht und das Prestige des faschistischen Führers symbolisiert, seinem Dolch, Inbegriff einer »außergewöhnlichen Kraft, die der Schönheit, Potenz und Gewaltsamkeit der Autorität.« [23] In seiner Bedrängnis findet Damín auf Seiten des antifaschistischen Lagers in dem Freund des Großvaters, dem Schuster Occhialini einen Lehrmeister, dessen Reden er in dessen Werkstatt immer schon aufmerksam zugehört hat. Den Großvater und Occhialini verbindet ein grundsätzliches Einverständnis, nicht allein aus handwerklicher gegenseitiger Wertschätzung, sondern auch weil Damiano sich solidarisch fühlt mit Occhialini antifaschistischer Einstellung, die dieser als Kommunist oder Anarchist, wie es heißt, auch in seinen Reden bezeugt. [24] Bezeichnend in dieser Hinsicht ist der kurze Wortwechsel zwischen beiden: »Marionette der kapitalistischen Bourgeoisie« hatte Occhialino Mussolini genannt im Gespräch mit Damíns Großvater. Richtig hatte der geantwortet. »Marionette ist er, und der Puppenspieler ist sicher nicht der König.« Und Occhialini: »Der König ist allenfalls der Impressario, der organisiert und die Säle zur Verfügung stellt. Der Drahtzieher ist das Kapital.« [25]
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Die Titel von Kapitel II: »Il pugnale d’argento« und »La scena e la realtà« sowie: »L’amore delle donne«.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Die Werkstatt Occhialinis ist als die Schule zu betrachten, in der die Jungen, die sie besuchen, aus dem Mund des Lehrmeisters eine Wirklichkeit erfahren, die nichts gemein hat mit der Welt der bürgerlichen Gefühle und insbesondere mit dem Ödipusdrama, das sich darin abspielt Was die heranwachsenden Jungen hören, ist, was sie für ihren Umgang mit den Mädchen und den Frauen für ihr Leben als Erwachsene in einer freien Gesellschaft wissen müssen. Es ist das absolute Gegenteil dessen, was die bürgerliche Sozialisation in ihrer Rollenverteilung in der Familie zugrunde legt bezüglich der Einstellung gegenüber der Frau und den Besitzansprüchen des Mannes, die im Prinzip in der Familiengeschichte des Ödipuskomplexes angelegt ist. Dieser Kompetenzkonflikt in der bürgerlichen Gesellschaft ist aber letztlich auch gegründet auf die Machtverteilung zwischen Mann und Frau in der Gesellschaft und auf deren Konsequenz im Sexuellen, im Triebverhalten allgemein, wonach dem Mann mehr Lustgewinn zugestanden wird als seiner Partnerin. An diesem Punkt aber setzt die Unterweisung Occhialinis an: »Die Frauen sollen genießen wie die Männer, und auch noch mehr, aus sozialer Gerechtigkeit, als Ausgleich für das Gebären…« die Tüchtigkeit der Männer kann nicht an ihrer Potenz gemessen werden, »sondern daran, dass sie den Frauen helfen zu genießen und ihnen das Recht [onestà] bestätigen zu genießen mit ihrem schönen Körper […].« [26] Bemerkenswert, wenn nicht bewunderungswürdig, ist die Verve, mit der der proletarische Occhialini die sexuellen Bedürfnisse der Frauen verteidigt, die er hier ausspielt gegen das Triebverhalten der Männer in einer Gesellschaft, die ihnen die Macht über die Frauen verliehen hat, mittels derer sie auch ihre Gewalt gegenüber ihnen geltend machen können. Occhialinis Lektion bezüglich eines sexuellen Verhaltens, das entwickelteren Standards gerecht werden soll, ist eine Replik auf die gesellschaftlich rückständigen Verhältnisse im Faschismus, die den Normen einer politisch freien oder befreiten Gesellschaft ganz und gar nicht entsprechen. Gleichzeitig ist sie aber auch als Bestandteil der Erzählung zu werten, in der die weibliche Unterwerfung unter die Verfügungsgewalt des Mannes zum beherrschenden Thema gemacht wird: Marcacci, der faschistische Held in Gestalt des Verführers von Norma, und diese als die weibliche Verkörperung des italienischen Bürgertums, die sich als Frau dem männlichen Begehren unterwirft, wie das Bürgertum dem Machtanspruch des Regimes. Diese Zweideutigkeit der Figuren, die die Konflikte der bürgerlichen Sozialisation in der Familie widerspiegeln, gleichzeitig aber auch die politischen Bedingungen dieser Sozialisation anschaulich machen sollen, wird vorerst nur kurz gestreift; sie wird uns aber noch beschäftigen im Verlauf unserer Analyse der auf zwei Ebenen situierten Handlung. Trotz der Einsichten, die Damín die Reden Occhialinis vermitteln, hält sein Schmerz an über die Erkenntnis bezüglich der Mutter, an der er als »seiner« Wahrheit über die Wirklichkeit festhält. »Damín versank in der nunmehr offensichtlichen Wahrheit […]. Die Wahrheit, dass seine Mutter eine Dirne war«, die auf alle Bereiche seines Lebens übergriff. [50] Seine Bestätigung findet das, als er die Jungen seines Alters am Fluss beobachtet, wie sie den interessiert zuschauenden Mädchen ihr Genital zeigen und den Coitus imitieren, indem sie masturbieren. Die Vulgarität dieses Anblicks widert Damín in einer Weise an, dass er in Gedanken sich in die Welt der Reinheit flüchtet, die für ihn die Fantasiefigur der Luana verkörpert aus der Jugend286
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zeitschrift, betitelt L’Avventuroso, die »vergine regina« [die jungfräuliche Königin], von einem entfernten Planeten im Weltraum. Vorausschauend sei schon angemerkt, dass der Fluss, zu dessen Ufern Damín wiederholt hinabsteigt, im Kontext der Erzählung die Bedeutung suggeriert eines Fließens der Zeit, in welches das menschliche Leben als historisch bedingtes Dasein gestellt ist und das indirekt den Wandel oder die Veränderbarkeit gesellschaftlicher Zustände anzeigt. Es ist aber auch der Fluss, an dessen Brückenpfeiler im Sprung ins Wasser Damín seinem Leben ein Ende setzt.3 Damín, weiterhin in seinem Schmerz befangen, sucht noch einmal, seine Zweifel im Gespräch mit Occhialini zu klären, wobei ihn vor allem die Frage quält, unter welchen Bedingungen eine verheiratete Frau, die mit einem anderen Mann verkehrt, eine »Hure« (puttana) genannt werden kann. Auf Occhialinis zunächst ausweichende Antwort, setzt Damín nach und fragt, ob es unter Umständen auch gerechtfertigt sei, wenn es um die Mutter geht, ihren Tod zu wünschen: ihre Kinder, so Damín, »würden vielmehr wünschen, sie auszulöschen … wenigstens sie zu vergessen, wenn nicht sie zu töten, eine solche Mutter.« [37] Entsetzt weist Occhialini das zurück und weist auf die Folgen hin, die sich daraus ergeben und die nur aus Lehren und falschen Moralprinzipien zu rechtfertigen seien, die unverantwortlich und unmenschlich sind. Und hier weist Occhialini auf die faschistischen Zustände und die Kirche hin: Der Faschismus und die Kirche halten noch fest an solchen Vorurteilen, um sich die Leute weiter gefügig zu halten […]. [37]
In seiner Einstellung zum Liebhaber der Mutter, die letzten Endes seine Parteinahme für oder gegen das Regime mitbestimmt, spiegelt sich die Gefühlsverwirrung Damíns, der er zu entgehen versucht, indem er den Geliebten der Mutter in zwei Figuren aufspaltet: Er konnte überdies Marcacci mit dem Duce gleichsetzen: einerseits, um die Figur dieses Machtmenschen von sich und seiner Familie fern zu halten, indem er sie zur Führung nach Rom versetzte; andererseits, um sie in eine irreale Höhe zu 3
Der Fluss als das Bild des Lebensverlaufs, darauf sei hier verwiesen, spielt eine Rolle in einem der letzten Gedicht des letzten Gedichtbands Nel silenzio campale, betitelt Le cose di Mao – Die Dinge Maos – wo Mao Tsetung in den Fluss Yangtse springt und ihm schwimmend wieder an einer anderen Stelle entsteigt. Hingewiesen sei ferner auf Zygmunt Baumans Modus vivendi. Inferno e utopia del mondo liquido sowie Modernità liquida, in der italienischen Fassung im Verlag Editori Laterza. Aus ersterem zitieren wir im folgendem: An welthistorischen Veränderungen zu erwähnen »ist an erster Stelle der Übergang von der Phase des Festen zu der des Flüssigen der Modernität, d.h. zu Lebensbedingungen, in denen die gesellschaftlichen Formen (die Strukturen, die die individuellen Wahlmöglichkeiten bestimmen, die Institutionen als Garanten fortbestehender Gewohnheiten, die Muster akzeptierbarer Verhaltensweisen) nicht mehr in der Lage sind (und niemand erwartet das auch nicht mehr), auf lange Zeit diese Formen aufrecht zu erhalten, da sie sich schneller verändern und auflösen als erforderlich ist, sie auszubilden und wenn sie ausgebildet sind, die ihnen zugewiesenen Funktionen auszuüben.« [Modus vivendi. Inferno e utopia del mondo liquido. Editori Laterza, Roma/Bari 2007, Seite V. Übersetzung vom Verfasser].
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte versetzen, höher jedenfalls als die seine, die seiner Mutter sowie aller sie betreffenden Realität. [43]
Diese Spaltung des Bewusstseins erlaubt Damín, das eher feindliche Moment seiner Bewunderung des faschistischen Führers in eine Distanz zu versetzen, die das Befremdliche von ihm fern hält, und andererseits seine Bewunderung zu rechtfertigen durch die Versetzung seines Rivalen in die Höhe abstrakter Idealität. Auf dieser Ebene wird die Bewunderung des Faschisten dann zu einem Moment der Anerkennung männlicher Überlegenheit, die er auch unbedenklich genießen konnte: er konnte sich schließlich jenem nicht einzugestehenden Gefühl der Bewunderung nähern, des Nacheiferns und des Wunsches ihm gleich zu sein, sich in diesen Führer zu versetzen, der in sein Inneres eingedrungen war wie eine Krankheit und von Mal zu Mal ihn heimsuchte im Kopf, in den Armen und beim Atmen […]. [43]
Immer mehr rückt in Damíns Beschreibung seiner Gefühle die faschistische Komponente des bewunderten Vorbilds in den Hintergrund und macht der Figur Platz, die im Werk Volponis das Durchsetzungsvermögen und die Selbstbehauptung in der zivilen Gesellschaft verkörpert; zu denken ist dabei an Guido Corsalini in La strada per Roma, der an Attraktivität und Durchsetzungsvermögen Traiano Marcaccis, dem Verführer der Mutter, gleich käme. Daraus zu folgern wäre, dass die Figur Marcaccis zurückversetzt wird in die Gesellschaft, aus der sie hervorgegangen ist, was letzten Endes auch besagt, dass der faschistische Führer aus der bürgerlichen Gesellschaft aufgestiegen ist zu der Macht, die er jetzt über sie ausübt, und dass in der bürgerlichen Gesellschaft schon die Anlagen ausgebildet worden sind, die zur Selbstbehauptung und zur Durchsetzung von Macht die Stärkeren prädisponieren. Der Entschluss Damíns, sich auf seine eigenen Kräfte zu besinnen und auf sie allein zu zählen, kommt dem Durchsetzungswillen Corsalinis in auffallender Weise nahe, als dieser beschließt, seine Tätigkeit von Urbino nach Rom zu verlagern, um dort im Bankgeschäft zu Reichtum und Ansehen zu gelangen. Systematisch beginnt er, seinen Tagesverlauf zu koordinieren und seine Zukunft zu planen. Nachdem er gegessen hat, früh zu Bett zu gehen, dem Vorsatz gemäß, in der Keramikproduktion eine aktive Rolle zu spielen, sobald er die Schule beendet hätte, ein Freidenker [libero pensatore] zu werden und fähig, sich allen gegenüber durchzusetzen im Kampf gegen die Ungerechtigkeit, die ihm widerfahren ist. [60]4 Der Weg in die Gesellschaft, den Damín in der Zeit des Faschismus – wie die Helden Volponis in der Nachkriegsgesellschaft – zu gehen hat, ist bedingt durch die Wahl, die er trifft, auf welcher Seite er die von ihm gesteckten Ziele verwirklichen kann oder will, und das bedeutet für ihn, sich für oder gegen Occhialini zu entscheiden. Durch die Schule und seine sportlichen Leistungen, die von Marcacci aktiv gefördert werden, ist er täglich der 4
Soweit seine Vorsätze auch seine Gefühle betreffen, »war er noch unsicher, ob die eigenen Schmerzen, Vorhaben und seine Unruhe zu betrachten waren als Ideen und ob er also als ein Idealist anzusehen wäre, und folglich dazu bestimmt, Faschist und eine Führungskraft zu werden.« [60]
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faschistischen Propaganda ausgesetzt, gegen die Damín aber nichts einzuwenden hat, insofern und solange sie seinem Leistungstrieb entspricht. Bei den Wettkämpfen auf nationaler Ebene erwirbt er sich als bester Speerwerfer Anerkennung und einen Namen, der ihm seinem Vorbild und Gönner Marcacci noch näher bringt, der Mann […], der ihn jetzt protegierte und ihm Führer und Ratgeber auf seiner ersten Etappe in die Welt war. [83] Dieses Einvernehmen aber wird gestört, als Marcacci die Jungen nach dem Wettkampf, wie es offenbar Sitte ist, ins Bordell begleitet. Von dem Besuch im Bordell, an dem er nicht teil nimmt, berichtet Damín seinem antifaschistischem Mentor, der wieder zurückkommt auf die Beziehungen des Liebespaars, das er längst schon als das Verhältnis der Mutter zu Marcacci identifiziert hat. In den etwas ironischen Fragen Occhialinis glaubt Damín eine kritische Einschätzung herauszuhören, so dass er ihm vorwirft, schlecht über die Frauen zu sprechen, und er beginnt jetzt umgekehrt die Verteidigung der Frauen zu übernehmen. Unmerklich wendet sich seine Einstellung und überhand nimmt in ihm die Wut über die Infamie des Schusters, dem er nachträgt, dass seine Rede über die Frauen nur Ironie war und nur darauf zielte, sich über ihn lustig zu machen. Die Liebe zu seinem antifaschistischen Lehrmeister, der dem Großvater so nahe steht, schlägt um in Hass und veranlasst Damín, auf Occhialini einen Verdacht zu lenken, der zu dessen Verhaftung führt. Doch Damíns Rachegefühle zielen über den Lehrmeister hinaus mit verstärkter Intensität auch auf das Objekt seiner verschmähten Liebe, die Mutter. »Das Blut der Possanza, dachte Damín […]« [104]. Das frustrierte Liebesbegehren verlangt nach Blutvergießen. »Schon als Kind hatte er, zusammen mit den Jungen am Fluss, Mäuse, Eidechsen, Schlangen, Kröten, Stachelschweine, und einmal auch einen Hund, lange gequält, bewusst und mit Genuss, und er wusste, dass an einem bestimmten Punkt das Blut heraustritt […]« aus den Wunden, was er unter großer Erregung erwartete [104]. Das vage Bewusstsein, dass diese Triebanlage in ihm bis zum Blutvergießen und zur Tötung seines Opfers gehen könnte, lässt Damín offenbar zurückschrecken vor der Ausmalung dieses Gedankens und Zuflucht suchen in der Imagination der Reinheit des weiblichen Wesens, das im Bild des Schnees vergegenwärtigt wird. Eine Art Angst vor den Folgen des Begehrens, das unvermittelt in eine aggressive Disposition umschlägt, scheint sich Damíns zu bemächtigen und die negativ gewendete Triebenergie zu hemmen. Damit einhergeht der Prozess der Umkehrung des Begehrens in Form der Idealisierung des Gegenstands in defensiver Abwehr der aggressiven Komponenten. Der Körperlichkeit des Begehrens – was die Nacktheit des Körpers der Mutter betrifft – wird die Idealität ihrer Schönheit gegenübergestellt und damit der Reinheit entsprochen, die dem Gegenstand des Begehrens wieder zuerkannt wird. Darin deutet sich die Bereitschaft an, zu einem frühen Stadium der Kindheit zurückzukehren, in der die Reinheit der Beziehungen noch im Bild der »Heiligen Familie« einsehbar und einleuchtend war, ein Zustand, den Damín aber wieder herzustellen hofft, indem er die Mutter zur Rückkehr in die Familie zu bewegen hofft. Seine Hoffnung gründet auf dem Schmerz der verlassenen Geliebten Marcaccis, auf ihrem Unglück, in das sie durch diesen Verlust gestürzt worden ist. »Der Schmerz und das Unglücklichsein sollten sie reinigen und zurückführen in die Familie, in die Unterwerfung unter die Macht ihrer Liebe, vor allem der seinen, des einzigen männlichen Kindes.« [108] 289
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Auf diese Hoffnung gründet Damín in erster Linie die Strategie einer Rettung, die ihn in die Lage versetzen würde, sich selbst zu behaupten und sich durchzusetzen gegenüber der feindlich gesonnenen Umwelt. Ein Mittel, um zur Triebbefriedigung zu gelangen und libidinöse Spannungen abzubauen, ist die Praxis der Selbstbefriedigung,5 von Damín auch verstanden als Mittel der Selbstbehauptung des Subjekts. Doch ist das nicht ausreichend, um sein Selbstgefühl zu stabilisieren und in der Konkurrenz mit anderen ein Selbstbewusstsein zu entwickeln. Notwendig ist, dieses Selbstgefühl auch im Körperkontakt mit anderen zu erproben. Sein erster Versuch der Annäherung gilt einem Mädchen, dem er als Eisverkäuferin täglich begegnet. Um auf sich aufmerksam zu machen, verfällt er auf die seltsame Idee, immer dasselbe Eis zu verlangen, in der Absicht, damit erkannt und wiedererkannt zu werden. Der Erzähler motiviert dieses Verhalten in einer Richtung, die in der bisherigen Analyse noch nicht angesprochen worden ist, wenn er äußert: Er wollte auch wiedererkannt werden mittels der Monotonie seiner Nachfrage, die zum Ausdruck bringen sollte die Bescheidenheit seines Anliegens, auf die ihn reduzierte sein unauslöschliches Unglück und der geringe Wille zu leben. [131]
Dieser im Grunde zielgehemmte Versuch einer Annäherung, der von vornherein ein triebgestörtes Verhalten offenbart, hat zur Folge, dass nach kurzer Zeit schon sich das intendierte Scheitern der Annäherung tatsächlich ereignet. Damín bemerkt, als er sich dem Mädchen nähert, Speichel auf seinen Lippen, was in ihm ein Ekelgefühl auslöst, wie vor einer ansteckenden Krankheit. [132] Bei dieser ersten Annäherung an den weiblichen Körper bleibt die Berührungsangst zunächst nur auf Lippen und Mund beschränkt. Eine zweite Erfahrung sollte ihn aber mit dem weiblichen Körper als ganzem konfrontieren. Lena, eine dem Leben zugewandte Frau mittleren Alters, verheiratet mit einem bigotten Mann, der sich dem Dienst der Kirche und dem Alkohol verschrieben hat und sie sexuell vernachlässigt,6 arbeitet im Keramikbetrieb der Possanza und lädt Damín eines Tages ein, sie während der Abwesenheit ihres Mannes in ihrer Wohnung zu besuchen. Sie hält diese Freiheit für gerechtfertigt, weil sie Damín politisch auf der Seite des antifaschistischen Widerstands glaubt, was von ihr schon als ein Band menschlicher Solidarität verstanden wird. Auf Seiten Damíns dagegen fehlt eine solche Motivation, ihm geht es allein darum, eine Probe zu bestehen. Schon auf dem Weg zu Lena zögert er noch und wäre am liebste umgekehrt. Aber diese Prüfung war so etwas wie eine schicksalhafte Probe, vor der er nicht mehr fliehen konnte[…] [150]. Lena empfängt ihn und erweist sich als sensible Lehrmeisterin, wenn sie lange beim Küssen verweilt und Damín damit zum Genuss verhilft, der sie ermutigt, ihn zu weiteren Handlungen einzuladen. Sie ist dabei bemüht, den Makel der Verderbtheit vom Akt der Liebe zu nehmen. »Ist es nicht wahr, dass die Liebe immer schön ist, […] und dass sie immer schicklich ist, wenn sie gut gemacht wird?« – »Es ist doch wahr, dass du mich nicht für eine Hure 5 6
Siehe S. 127- 28. Seine Beschreibung allein schon ist ein Kabinettstück satirischer Ironie [148].
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hältst?« [151] Doch in dem Moment, als sie Damín mit ins Bett nehmen will, rastet dieser aus und gerät völlig außer sich. Er fühlt sich versetzt in die Welt des Bordells: »Ich muss weg. […] Für mich sind sie nicht, die Huren. Sie sind mir zuwider« [154]. »Damín kehrte nach Hause zurück, bleich und verstört, immer erbitterter gegen die Frauen und ihr Liebesbegehren […]« [155]. Was Damíns Berührungsangst erregt und motiviert, ist die tabuisierte weibliche Triebenergie, die mit dem Bild der Mutter verbunden bleibt, und mit dem ihrer Nacktheit. [107] Es ist die Öffnung, die in das Innere des Körpers der Mutter führt, wovon schon einmal in Il sipario ducale die Rede war, als Subissoni im Traum von einer Gestalt heimgesucht wird, aus deren Mund er auf die Erde geschleudert wird.7 Mit dem Zugang zum Inneren des Körpers wird eine Grenze gesetzt, die nicht überschritten werden darf, ohne dass man auf unwegsame Pfade gerät oder in unmessbaren Räumen sich verliert. Die Dimension dieses Raums, so bemerkt Damín, als er sich schon in sein Zimmer geflüchtet hat, ist »die Figur der eigenen Angst. Es wäre besser, sie weiter zu ignorieren, einfach um zu vermeiden, dass sie in der Erinnerung immer wiederkehrt.« [155] Es ist, analysiert man weiter, die Furcht vor der Inkarnation, vor dem Eindringen des Bewusstseins in das Fleisch des anderen, was auch das eigene Subjekt, so könnte man sagen, zum Fleisch werden lässt, wovor Damín den Ekel empfindet, den er an anderen erlebt. Man wird hier unwillkürlich an Sartres Roquentin erinnert, den Helden von La nausée, an dem der Ekel als Berührungsangst in einer ähnlichen Weise das Bewusstsein überschwemmt. Damin aber gelingt es, sein Versagen noch als einen Sieg über die niederen Instinkte aufzufassen, »sich zu schmeicheln angesichts der eigenen Überlegenheit bezüglich der Vulgarität der niederen und widerlichen Ausübung des Sexes.« [155]. Diese Erfahrungen fallen in die Zeit der Vorbereitung auf den Abschluss seines Kunststudiums, in eine Zeit darüber hinaus, wo er Anerkennung findet und sich auszeichnet im Kunstwettbewerb des Regimes. In dieser Phase beschäftigt er sich besonders intensiv mit Zeichnungen, die den nackten weiblichen Körper zum Gegenstand haben, was sein Verlangen bekundet, sich diesen Gegenstand anzueignen. Unter diesem Aspekt sind die Kapitel XVII. Il disegno und XVIII. Ritratto di Lena8 zu lesen und zu verstehen als die Auseinandersetzung mit den abgebildeten Personen aus der Distanz der unkörperlichen Reproduktion derselben, die ihre Existenz in eine abstrakte Ferne rückt, aus der sie nicht mehr gefährlich sind und wo sie aus der Sicht des vereinzelten, sich über sie erhebenden Subjekts in ihrem Wesen erfasst und dargestellt werden. So stellt Damín seinen Lehrmeister Occhialini in einem meisterhaften Porträt als den militanten, proletarischen und antifaschistischen Handwerker dar, den er so in Wirklichkeit vielleicht gar nicht erlebt hat [167]; und die Mutter in drei Abbildungen, die ihrer wirklichen Existenz offensichtlich viel näher kommen als der voyeuristische oder schmerzvolle Blick des gequälten Jungen sie erinnert und sieht. [167-68] Entscheidend für seine weitere Entwicklung wird aber die Auseinandersetzung mit den Ansprüchen, vor die ihn Lena stellt, die noch einmal ver7
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»Aus diesem Mund, der sich immer schneller in so viel Bilder wandelte und schließlich ein Durchgang durch den Vorhang des Himmels wurde, war er herausgekommen, kopfüber fallend auf eine Wiese seiner Kindheit.«. [Il sipario ducale, S. 227]. Die Zeichnung und Porträt Lenas.
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sucht, ihm die Wirklichkeit der geschlechtlichen Begegnung in der Liebe zu vermitteln. Doch Damín reagiert wieder, wie der Maler, der er ist, der in der Imagination alle Phasen der Vorbereitung auf den geschlechtlichen Akt vorwegnimmt, um sie auf dem Blatt zu vergegenwärtigen: »den nackten Busen, den offenen Mund, die weißen Schultern, den Bauch mit feinen Härchen in der Bewegung der Schatten und leichten Frösteln um den Nabel.« [179] Der Kommentar resümiert diese Erfahrung wie folgt: Das, was er kannte, was Konsistenz gewonnen hatte innerhalb seiner Realität, war sehr wenig und sehr konfus, eigentlich wie eine Bleistiftzeichnung, die flüchtig wieder ausradiert worden ist. [180]
Das Verhältnis zur Mutter, von dem das Leiden Damíns in seinem Kampf um ihre exklusive Liebe ja ausgegangen war, scheint mit dem Ende ihrer Beziehung zu Marcacci entspannter, eine Beruhigung, die aber von der Mutter erkauft wird durch ihren Schmerz über den Verlust des Geliebten. Damín genießt in gewisser Weise, dass sie leidet, indem er damit die Erwartung verbindet, dass der Schmerz wie ein Feuer ihre Schuld verzehre und sie zur Reinheit läutere. Andererseits leidet er selbst auch an den Emotionen, die eine so negative Wendung der Triebenergie gegen die Mutter erzeugt. Anschaulich macht das die Episode, als Norma ihren Sohn beim Besuch der Kunsthochschule nach Urbino begleitet und ihm bei dieser Gelegenheit ihre volle Zuneigung und Hingabe auch körperlich empfinden lässt. Die Prüfung, ob das der Wirklichkeit entspricht, bietet sich, als ein Hochschulangehöriger vor seinen Augen beginnt, Norma den Hof zu machen und Damín zunehmend erregt abwartet, wie die Mutter darauf reagiert. Die Szene spielt sich ab in einem Restaurant, wo eine Öffnung den Blick in die Küche erlaubt. Damín hatte so etwas wie ein großes Schlachtermesser auf einem Brett in der Küche wahrgenommen. Hätte seine Mutter aus Leichtsinn und Gefälligkeit oder wegen der unbändigen Schlechtigkeit ihres Hurennaturells nachgegeben, hätte er diese Waffe ergriffen, um sich zu rächen und sie auch gegen sich selbst zu richten. [161]
Norma aber verhält sich, wie es die Situation von ihr verlangt und beruhigt damit ihren Sohn, »dessen Wut sich in Schmerz wandelte und in erneute Liebe zur Mutter« [161]. Deutlich wird hier das Umschlagen der Aggression gegen die Mutter in den Schmerz der Reue. Eine dritte Frauengestalt, die inzwischen erwachsene Schwester Lavinia, von Damín zärtlich Vitina genannt, wird entscheidend für das, was man als das Triebschicksal Damíns bezeichnen könnte. Zum ersten Mal wird sie in dieser Phase seines Lebens als weibliches Wesen wahrgenommen. Das unbefangene Verhältnis zur kleinen Schwester erfährt eine Wandlung, als Damín beim Tanzen die erotische Ausstrahlung ihres Körpers spürt und Vitina sich aus seiner Umarmung los macht. Beim zweiten Mal löste sich Vitina aus der Umarmung des Bruders mit einer Geste der Zurückweisung. Damín fühlte sich gedemütigt unter der Welle der Musik, die weiter spielte […]. [176]
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Wieder fühlt sich Damín, wie von der Mutter, zurückgewiesen und ausgeschlossen, ein Gefühl, das sich von dieser auf die Schwester überträgt, auf deren Körper er den gleichen Anspruch erhebt, den er mit derselben aggressiven Triebenergie geltend macht wie gegenüber der Mutter. Vitina wird in dieser letzten Szene des Familiendramas die Person, auf die sich die aggressiven Triebenergien letztlich entladen, die der erlittene Verlust der Mutter erzeugt hat. Die Umstände, unter denen das unheilvolle Geschehen sich ereignet, sind das ländliche Fest, das zum Abschluss der so genannten ›battaglia del grano‹ unter der Regie Mussolinis gefeiert wird und wozu die örtliche Führung faschistische Organisationen aus der Stadt anreisen lässt, die für Stimmung sorgen und deren Frauen Lena als ›troie‹ (Säue) beschimpft [181]. Damíns Aufmerksamkeit erregen vor allem die tanzenden Bäuerinnen, die schamlos ihre Dessous zur Schau stellen, welche Damín an die Wäsche der Mutter erinnern, als er Kind war. Das vulgäre Treiben, die freizügigen Paare und nicht zuletzt die großsprecherischen Parolen der Faschisten erregen ihn in einer sich steigernden Weise: Damín sah alles in den übertriebenen Farben, die der immense und vibrierende Schmerz erzeugte, vergleichbar dem Eindringen einer großen scharfen Klinge in sein Inneres. [184]
Das Motiv der Waffe klingt an, mit der Damín operieren wird und die er schon immer bewundert hat in Gestalt des goldgeschmückten Dolchs des Faschisten-Chefs und der spada del Ras9 [133] nach dessen triumphaler Rückkehr aus Afrika. An einem Balken aufgehängt bemerkt er eine Art sensenförmiges Messer (eine ›roncola‹), das bäuerliche Äquivalent von Dolch und Schwert, das Instrument seines Destruktionstriebs. Damín, der in Begleitung der Schwester zu der ländlichen Festlichkeit gekommen war, verharrt in ihrer Nähe und achtet auf alle Bewegungen, die sie mit ihrem Tänzer ausführt, der in gewagten Positionen offenbar das Bild suggeriert, das in der Kapitelüberschrift schon angedeutet wird und im vollständigen Wortlaut besagt: »der Körper der Frau, nackt auf der Erde, unter dem des männlichen Mörders« [191]. In diesem Bild, in dem die Schwester für Damín an die Stelle der Mutter rückt, wird in seiner Erinnerung die Konstellation ihrer Verführung durch Marcacci reproduziert. Vitina beugte sich vor, um sich hinzugeben […], dem Vergnügen nachgebend und der Unterwerfung unter den Mann. Eine perfekte und identische Geste, so sah es Damín: gleich der seiner Mutter, als sie sich Marcacci hingegeben hat […]. Damín explodierte sofort […], überwältigt vom schon angestauten Zorn […]. [191]
Er stürzt sich auf Lavinia und versetzt ihr mit der ›roncola‹ einen tödlichen Hieb vom Hals bis in die Brust. Im rasenden Lauf nähert er sich der Brücke und stürzt sich kopfüber in den Fluss wie ein Speer, um so weit wie möglich ins Dunkel zu fallen« und einzutauchen in die »Realität der Leere, die ihn
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Das Schwert des Ras, d.h. die Insignien eines äthiopischen Herrschers.
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endlich umfing, frei von Schmerz und Sehnsucht, mit Wollust und Kraft.« [192] Der Titel des Romans identifiziert den Täter der Ödipustragödie, der zugleich ihr Opfer wird, mit dem Destruktionstrieb, der durch den Speer als Waffe versinnbildlicht wird. In dieser Identität von Speer und Werfer, von Instrument und Täter ist ein erster Anhaltspunkt gegeben, um der Frage nachzugehen, ob Damín auch als ein Opfer des Faschismus gesehen werden kann oder nicht eher als sein Geschöpf, in dem Merkmale des Faschismus deutlich verkörpert sind. Aus der Perspektive Occhialinis, des proletarischen Schusters von Fossombrone, ist die Antwort auf diese Frage unzweideutig. Der zweite Weltkrieg hat schon begonnen, als er von der französischen Polizei an Italien ausgeliefert wird und an den Ort zurückkehrt, wo er nur noch die Grabstätte der Geschwister Possanza vorfindet. Entschlossen, den Kampf im Widerstand gegen den Faschismus fortzusetzen, fasste er den Entschluss, den Namen Damín anzunehmen, in der ersten Phase seiner Reise in Richtung Revolution: aus Liebe zu jenem unglücklichen Jungen; aber auch weil er wusste, dass er gefallen war als ein Opfer der bürgerlichen Gesellschaft. [197]
Offenbar wollte Volponi mit diesem Bekenntnis einer der wichtigen Figuren seiner Erzählung eine Art Anweisung geben, wie die Geschichte Damíns zu lesen ist und wie die Figur zu verstehen sei. Die Frage stellt sich aber auch, ob diese Interpretation dem Verlauf der Familiengeschichte entspricht, wie sie dem Leser vor Augen geführt worden ist, was – so könnte man sagen – an den wesentlichen Peripetien der Handlung nachgeprüft werden könnte. Die Erfahrung, die der Junge mit der Entdeckung der ehelichen Untreue der Mutter macht, ist der Ausgangspunkt der Familiengeschichte und der Ursprung der traumatischen Verletzung, die in die Geschichte der bürgerlichen Sozialisation fällt und zu ihr gehört. Diese Erfahrung hat aber noch nichts mit der Geschichte des Faschismus und seiner Herrschaftsphase zu tun. Dass Damín zunehmend vom Verführer seiner Mutter angezogen wird, ist ebenfalls noch kein Anzeichen für eine Annäherung an strukturelle Merkmale des Faschismus. Die ersten Indizien dafür ergeben sich aus Veranlagungen, die im jungen Damín selbst zu finden sind und in ihm den Ehrgeiz wecken, zum besten Speerwerfer zu werden und damit dem faschistischen Vorbild Marcaccis näher zu kommen. Seine Identifizierung mit ihm verrät sich in der Bewunderung für die Waffen – Dolch und Säbel – als Insignien der Macht und des Ansehens der Person, eine Anlage, die verstärkt noch sichtbar wird in der Verehrung des Kriegshelden Marcacci, der ruhmreich aus dem AfrikaFeldzug heimkehrt, was schließlich aber auch als Auswirkung der Kriegpropaganda des Regime zu verstehen ist. Das Indiz aber dafür, dass eine Affinität des Subjekts zur Ideologie des Faschismus vorhanden ist, wäre zweifellos in Damíns Verhältnis zum anderen Geschlecht zu sehen, im triebhaften Verlangen der Eroberung und Unterwerfung der Frau in gesellschaftlicher Beziehung, worauf eine der Varianten der Ödipusproblematik hinausliefe; darüber hinaus aber im politischen Raum in der Unterwerfung der Zivilgesellschaft der Mutter oder madre-società unter die autoritäre väterliche Gewalt der Politik, was Volponi anlässlich der Ermordung Pasolinis in Scritti dal margi-
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ne als Motiv zugrunde legt.10 Die Auswirkungen dieses Triebverhaltens zeigen sich letztlich in der vom Subjekt nicht mehr beherrschbaren Gewaltaktion, die Damín zur Ermordung der Schwester treibt. Eine letzte Erwägung bezüglich der Einschätzung der oben gestellten Frage betrifft die Figur Occhialinis selbst und seine politische Biographie, wie sie im Roman darge-stellt wird. Es kann wohl nicht nur einem zufälligen Racheakt zugeschrieben werden, dass Damín die Verhaftung Occhialinis verschuldet, indem er den Verdacht auf ihn lenkt für die von ihm selbst an öffentlichen Orten ange-brachten Parolen gegen das Regime. Wenn Volponi trotzdem zu der Aussage des Schusters steht, so wäre das nur unter der Voraussetzung zu verstehen, die in dessen Aussage enthalten ist, dass Damín gefallen war als ein Opfer der bürgerlichen Gesellschaft. [197]
2. G ESELLSCHAFT
UND
F ASCHISMUS
Den Hintergrund der Familiengeschichte in Il lanciatore di giavellotto bildet, wie eingangs gesagt, die Gesellschaft des ventennio [der 20 Jahre] des Faschismus in Italien. Auf der Folie der Geschichte der Familie Possanza werden die ökonomischen Verhältnisse ihrer in der Keramikherstellung beschäftigten Angehörigen über drei Generationen gezeigt, in deren Verlauf auch die während des Faschismus beginnende wirtschaftliche Entwicklung anzusetzen ist von der Phase der handwerklichen Produktion zur industriellen Herstellung und Vermarktung der Produkte. Diese Veränderung dokumentiert die konfliktträchtige Beziehung zwischen dem Großvater Damíns und dem Sohn Dorino, ihre kontroverse politische Einstellung und der Beitritt Dorinos zur faschistischen Partei. Den Bildungsweg in der Schule des Faschismus und die Vorbereitung der Jugend auf die heroische Existenz von Eroberern dokumentiert der Verlauf der Sozialisation des Enkels Damín. Die Verunsicherung der Frau in ihrer Rolle als Repräsentantin der Familie einerseits und der geschlechtlichen und existentiellen Unterordnung unter den Mann andererseits spiegelt ihre Zerrissenheit im Verhältnis zu ihrer Familie und ihrem Sohn und sowie ihre außereheliche Beziehung zu dem örtlichen Chef der Faschisten. Was die Familienverhältnisse Marcaccis angeht, des Repräsentanten der faschistischen Eliten, so geht die Darstellung Volponis über in die Inszenierung einer grotesken Bloßstellung der Vulgarität von Vater und Mutter des Helden und in die Satire seines operettenhaften Aufstiegs in die höchsten Ränge des Regimes. Hinter dieser Fassade kriegerischer Glorie und Herrschaftsattitude will Volponi aber zweifellos die Hohlheit der politischen und gesellschaftlichen Ansprüche des Regimes sichtbar machen und damit die Einbuße an zivilisatorischer Widerstandsfähigkeit der bürgerlichen Gesellschaft im europäischen Maßstab dokumentieren. Der Familienbetrieb der Possanza steht ökonomisch vor einer Krise, die der Kunsthandwerker Damiano nicht wahrhaben will. Sein Sohn aber weist auf sie hin, wenn er den Vater auffordert, mit ihm die Lage realistisch einzuschätzen. Den hier anschließenden Wortwechsel zwischen Vater und Sohn haben wir vorangehend schon zitiert. In ihrer kontroversen Einschätzung der
10 Siehe Il dramma popolare nella morte di Pasolini, in Scritti dal margine, S. 24- 29.
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Situation des Handwerks offenbart sich das Dilemma, das auch für das Regime und seine Wirtschaftspolitik zum Problem wird, verbunden nämlich mit der Frage, welche Entwicklung förderlicher ist für seine Konsolidierung, die des Handwerks oder die des Aufschwungs der Industrie. Das aber ist ein Problem, das geschichtlich schon für die Politik des Risorgimento auf der Tagesordnung gestanden hat, nämlich die Frage der Industrialisierung des Landes. Das Italien vor der Einigung war ziemlich einhellig in der Skepsis gegenüber der Industrie als Wirtschaftsform der modernen Gesellschaften und rühmte als mustergültig die traditionellen Formen von Landwirtschaft und Handwerk als den eigenen Bedarf deckende Ökonomie. Zu dieser Auffassung von nationaler Ökonomie kehrt der Faschismus im Grundsätzlichen zurück; doch findet er sich dabei in einem Widerspruch, der in der Familienproduktion der Possanza schon sichtbar geworden ist. Der handwerklichen Tradition, die gewahrt werden soll, wird eine industrielle Produktion entgegengesetzt, die dem Regime von den Industrieverbänden nahe gelegt und quasi aufgezwungen wird. Die Bedrohung durch die landbesetzenden Bauern im Süden und die revolutionäre Zielsetzung der Fabrikarbeiter im Turin der Jahre 1919/20 (im »Biennio Rosso« – in den zwei roten Jahren), treffen auf eine gemeinsame Front der Landbesitzer und Industriellen, die nur darauf warten, dass dieser Gefahr mit einer Gegenmacht begegnet wird.11 Sie sind es auch, die als erste Absprachen mit der faschistischen Partei und Mussolini treffen und das Programm von San Sepolcro von 1919 billigen, das u.a. den Einsatz bewaffneter Schläger gegen die Bauern und Arbeiter vorsieht, der zum großen Teil von ihnen finanziert wird. Im März 1920 stimmt der Kongress der Confindustria, des italienischen Arbeitsgeberverbands, einer Resolution zu, die sich für eine Regierung der starken Hand ausspricht und eine neue Führung im Staat verlangt. In diesem Interessenverbund erweist sich als treibende Kraft [des italienischen Kapitalismus] das Finanzkapital, das im nationalen Rahmen die Transformation des Wirtschaftssystems im Interesse der Industrie im Auge hat und damit die Politik des Faschismus in die Bahn der Industrialisierung lenkt, an der sie primär gar nicht interessiert war. Hier schon zeigt sich ein inhärenter Widerspruch in der Wirtschaftspolitik des Regimes und eines seiner schwerwiegenden Irrtümer, nämlich die Entwicklung der industriellen Produktion zu vernachlässigen und gleichzeitig eine imperiale Politik der militärischen Überlegenheit zu verkünden, die erfolglos bleibt und spätestens mit dem Kriegseintritt Italiens an der Seite Hitlers offenbart, dass Italien für den Krieg nicht gerüstet war.12 11 Siehe Mack Smith, Denis: ebd. S. 505. 12 Denis Mack Smith kennzeichnet in seiner Storia d’Italia 1861/1969 die Situation wie folgt: »Das albanische Abenteuer [die Besetzung Albaniens im April 1939, eine Aktion, die Hitler von der kriegerischen Entschlossenheit Italiens überzeugen sollte] bestärkte Mussolini in der Überzeugung, dass er wenigstens drei Jahre brauchte zur Vorbereitung auf einen großen Krieg, und er sagte das Hitler im Mai in dem »memoriale Cavallero«. Abgesehen von seinem Bedarf an Waffen, war diese Zeit auch notwendig, um Albanien und Äthiopien zu befrieden […]. Aber der hauptsächliche Grund für einen Aufschub war der Mangel an militärischer und industrieller Vorbereitung Italiens.« (S. 688) »Die italienische Artillerie von 1940 war zum großen Teil noch
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Wenn wir die Daten der Wirtschaftsentwicklung im faschistischen Italien hier stichwortartig zusammenfassen, so im Hinblick darauf, dass sie in Volponis Charakterisierung der Figuren und ihren Schicksalen eine maßgebende Rolle spielen. In unserem Versuch, Strukturen sichtbar zu machen oder anzudeuten, beschränken wir uns aber auf eine schematische Skizzierung des Verhältnisses von faschistischer Führung und gesellschaftlichen Ansprüchen oder Erwatungen. Dem Programm der Faschisten liegt ihr Wille zugrunde, das Verhältnis von Staat und Gesellschaft grundlegend zu verändern, die parlamentarische Repräsentation der Zivilgesellschaft zu beseitigen, sich als Regierungsgewalt an die Stelle des Staats und seiner Funktionen zu setzen. In einer Rede Mussolinis Anfang der 30er Jahre äußert dieser: »Wir repräsentieren ein Prinzip, neu in der Welt, nämlich die klare, definitive und kategorische Antithese zur Demokratie, zur Plutokratie zum Freimaurertum und den unsterblichen Prinzipien von 1789 […]. Die Ideale der Demokratie sind tot, angefangen bei dem des ›Progresses‹. Das unsere ist ein aristokratisches Jahrhundert: Der Staat aller wird ein Staat von wenigen werden […].« Und: »Der Faschismus […] glaubt nicht an die Möglichkeit und nicht an die Nützlichkeit eines ewigen Friedens […]. Allein der Krieg bringt zur höchsten Spannung alle menschlichen Energien und prägt mit einem Siegel des Adels die Völker, die die Kraft haben, ihm ins Auge zu sehen.«13 Der Führungsanspruch – bei den Nazis das so genannte »Führerprinzip« – findet seinen Ausdruck in einer klaren Abgrenzung von Hierarchien. An erster Stelle der gesellschaftlichen Rangordnung die Partei und deren Führung, dann der Staat, im Sinne von Gentiles »Stato etico«, schließlich die Nation, die der Faschismus als die »Nation in Waffen« versteht,14 und die auch vom Faschismus erst geformt werden soll, »von den künftigen Führungseliten, den künftigen Erbauern der Nation und ihrer Größe, der faschistischen Ordnung in der Welt, der pax romana.« [55] Der Aufstieg zur Macht der faschistischen Bewegung Mussolinis hat schon Jahre vor dem »Marsch auf Rom« vom Oktober 1922 begonnen, der lediglich vollendete Tatsachen schafft. An den Erwartungen, die an die starke Hand gestellt worden sind, können die Interessen der Kräfte abgelesen werden, die diesen Aufstieg begünstigt haben. Zweifellos in erster Linie waren dies die Interessen der Industriellen, die sich gegen die Streiks der Arbeiter Abhilfe versprachen und zu den hauptsächlichen Geldgebern Mussolinis ge-
die von 1918 und war noch bestückt mit den Kanonen, die in jenem Jahr von den Österreichern erobert worden waren. […] Im Oktober 1939 übergab der Oberst Canevari Mussolini ein Memorandum, in dem er die Motorisierung der Armee als lächerlich beschrieb, und er versuchte ihm klar zu machen, dass die Panzerdivisionen, was immer auch andere sagen würden, einfach nicht existierten. […] Italien war so schwach, dass es noch nicht einmal einen einfachen Kolonialkrieg führen konnte.« (S. 691) 13 Mack Smith: Ebd. S. 609 und 610. Der Autor fügt diesen Zitaten hinzu: »Prahlerisch wurde hier behauptet, dass der Faschismus eine Doktrin sei, die des ethischen Staats, der sich sein eigenes Moralsystem schaffe und nichts anderem, was außer diesem sei, Gehorsam schulde, die Doktrin der Nation in Waffen, die kämpfen muss im Hinblick darauf, ihre eigene Existenz zu rechtfertigen.« (S. 610- 11) 14 Siehe vorangehende Anmerkung
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hörten;15 das Eingreifen der Ordnungsmacht gegen die Landbesetzungen der Bauern erwarteten auch die Grundbesitzer vom harten Durchgreifen des Regimes; das Bürgertum erhoffte sich mehr Sicherheit einerseits gegen den Einkommensverlust u.a. durch Inflation,16 andererseits aufgrund des Bedarfs der Bewegung an regimetreuen Kräften im öffentlichen Dienst (Bürokratie, Militär, Ordnungskräfte); die katholische Kirche und die Masse der Gläubigen sahen in Mussolini und seiner Bewegung ein Bollwerk gegen Kommunismus und Atheismus, wobei Pius XI in ihm sogar, wie manche in Hitler im Nazi-Deutschland, den Mann der Vorsehung17 sah, der zugleich auch gegen den laizistischen Liberalismus Front zu machen verstand; der politische Liberalismus schließlich zeigte sich bereit, Mussolini als Stifter von Ordnung in Kauf zu nehmen und den Terror der squadre fasciste zu billigen, wenn nicht zu finanzieren.18 Seine Einstellung gegenüber dem Faschismus wurde von vielen Historikern als ein Nachgeben in einem nationalen Notstand ausgelegt, doch von Ruggero Zangrandi in seiner Analyse des Faschismus als eine verharmlosende Darstellung der Verantwortung nachgewiesen, die die liberalen Politiker nicht zu übernehmen bereit waren.19 Gegenüber einer derart hohen Erwartungshaltung der Zivilgesellschaft ist die Reaktion des Regimes nicht verwunderlich, da es sich darin bestätigt fühlt, dass von ihm allein das Wohlergehen aller und die Beseitigung aller Übel abhängt. Der Faschismus findet oder erfindet als Ausweg aus der historischen Krise des ersten Weltkriegs den Versorgungsstaat, den die katholische Hierarchie als die Politik der göttlichen Vorsehung begrüßt und als solchen interpretiert. Allen verspricht er eine angemessene Versorgung, die sich in seine Obhut begeben und an seine Berufung zur Führungsmacht glauben. Im Schatten seiner Macht darf sich die Industrie vor den Streiks der Arbeiter sicher fühlen, wird der Grundbesitz zum Hüter und Garanten der landwirtschaftlichen Versorgung der Nation, arbeitet der öffentliche Dienst zum Wohl des Allgemeinen und steht das militärische Potential bereit zur Eroberung neuer Territorien, zur Versorgung landloser Bauern und überschüssiger Arbeitskräfte. Der Versorgungsstaat strebt über seine eigenen Grenzen hinaus zu seiner Krönung als imperiale Macht, zur Annexion fremder Gebiete, was ihn anfällig macht für die Allianz mit dem Nationalsozialismus und was beide dann in das tödliche Unternehmen des vernichtenden Eroberungskriegs führt. Der Widerspruch in der Wirtschaftspolitik des Faschismus, von dem oben schon die Rede war, wirkt sich aus auf den gesamten Bereich des Gesellschaftlichen, auf die Konzeption der Gesellschaft als Einheit der Volksgemeinschaft, der als Klassengesellschaft aber verschiedene Aufgaben in der Reproduktion des Ganzen zugewiesen werden. Der Faschismus greift zurück auf eine vorbürgerliche Ideologie der Gesellschaft bestehend aus Ständen, die zum Teil den christlich-mittelalterlichen Begriff der Ständeordnung wieder aufnimmt, gegliedert im wesentlichen in die Bereiche der Landbebauung, der 15 16 17 18 19
Siehe Mack Smith, ebd., S. 532ff. Ebd., S. 532. Ebd., S. 553. Ebd., S. 533f. Zangrandi, Ruggero: Il lungo viaggio attraverso il fascismo, contributo alla storia di una generazione. Mailand: Feltrinelli 1962/1976, S. 315.
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immer noch vorherrschend handwerklichen Produktion in den Städten sowie dem kriegerischen Potential der Militärmacht, die – im System der Korporationen zusammengefasst – die Einheit der Volksgemeinschaft bilden. 1926 wird das System der Korporationen vom Wirtschaftlichen auf die politische Verfassung des Landes insgesamt ausgedehnt und im faschistischen Staat verankert, der von der Partei verkörpert wird. Auf dieser Basis aber wird die Konfusion nur verlängert, was die Richtung betrifft, in der die Entwicklung der italienischen Gesellschaft verlaufen soll. Ist dafür maßgebend die Ideologie einer primär aus agrarischen Verhältnissen erwachsenen Zivilisation, wie sie schon das Risorgimento mehrheitlich für Italien zugrunde legt? Oder sind die Initiativen zum Ausbau der industriellen Strukturen des Landes, die 1933 zur Gründung des IRI20 führen, die Merkmale eines an der Industrieentwicklung interessierten Regimes? Volponi greift dieses Dilemma in der Geschichte des Familienbetriebs der Possanza auf und verfolgt von hier aus in seiner Darstellung des Faschismus die Widersprüche, die die gesamte Erzählung in ihren verschiedenen Verzweigungen durchziehen. Diese Widersprüche werden schon in der Schreibweise Volponis durch stilistisch stark herausgearbeitete Kontraste kenntlich gemacht, wie in der Opposition von pathologischer Verirrung in der Gefühlswelt der bürgerlichen Familie und der vom Gegenständlichen ausgehenden Wirklichkeitssicht des Schusters Occhialini. In diese Welt gerät der junge Damín durch seine fast täglichen Besuche in dessen Werkstatt, wo ihm die Figur des Handwerkers bei seiner Arbeit in einer Art monumentaler Größe vor Augen geführt wird. Die Reden des Schusters sind für Damín das Offenbaren dessen, was Volponi als Realität kennzeichnen will, die der Menschen und der Dinge und wie sie politisch zusammenhängen; sie ist der offenbare Gegensatz zum Labyrinth der Worte, in dem sich Damín verliert, zu den Fantasmen, an die zu glauben der Faschismus die Menge bewegen will; denn das Fundament der neuen Weltanschauung ist, wie Gentile, der Philosoph des Regimes, verkündet, der Glaube, der über den Intellekt obsiegen soll: »Wie viele Male hat unser Duce, aus tiefer Intuition der faschistischen Psychologie, uns diese Wahrheit gesagt: dass wir alle einer Art mystischen Gefühls gehorchen. Im mystischen Stadium der Seele bilden sich keine klaren und bestimmten Ideen, definieren sich keine Begriffe […], vielmehr: wenn die Seele am tiefsten umgeben ist vom Halbdunkel einer Welt, die im Entstehen ist oder sich ankündigt […], dann gerade keimt im Herzen der Menschen der schöpferische Glaube […]. Der faschistische Geist ist Wille, nicht Intellekt […]. Die faschistischen Intellektuellen dürfen keine ›Intellektuellen‹ sein.«21 Der Gegensatz von mystischer Rede, in die die Wirrnis des ödipalen Leidens einzubeziehen wäre, und der Klarheit der Rede Occhialinis, ist ein wesentliches Moment der Analyse des Faschismus bei Volponi. Die großsprecherischen Ansprüche des Regimes und der operettenhafte Stil seines Herrentums kennzeichnen das Milieu, in dem die regimekonforme Sozialisation Damíns verläuft, gegen deren Hohlheit Volponi die satirischen 20 IRI: istituto per la ricostruzione industriale. Finanzielle Holding, gegründet 1933 um die staatliche Beteiligung an der Finanzierung der italienischen Industrie zu koordinieren. 21 Der Text von Giovanni Gentile, der hier sich als Minister der Pubblica Istruzione äußert, wird zitiert aus Mac Smith, Storia d’Italia, S. 611.
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Redenwendungen Occhialinis, des Sprachrohrs des antifaschistischen Widerstands, setzt. Das kurze Kapitel VIII, mit der Überschrift »Die Stiefel. Die Rhetorik u.a.«,22 ist ein Musterbeispiel der Volponischen Satire und ihrer Funktion, ein gesellschaftliches Milieu und dessen politische Relevanz im Geschichtsverlauf zu charakterisieren. Das wird in der Szene gezeigt, in der eine Dienstfrau die Stiefel Marcaccis zur Verschönerung in Occhialinis Werkstatt bringt, in der Überzeugung, dass sie die Größe und Würde des Regimes symbolisieren. Sie sind vom Kommandanten Marcacci, [sagt sie], eine Autorität, ein Führer des Fascio, [und Occhialini ironisch darauf]: die Stiefel des Anführers eines Schlägertrupps [caposquadrista], eines ›manganellatore‹ [eines Knüppelträgers] der ersten Stunde … eines wahren ›ardito‹, Retter des Vaterlands; [und als der Schuster erstaunt zurückfragt, ob der comandante selbst sie zu ihm geschickt hat, verneint sie das und antwortet naiv, dass doch alle wissen, dass er der beste Schuster ist. Occhialini darauf]: Gut also. Es sind wir also, gerade wir, die dem comandante wieder auf die Füße verhelfen sollen. […] Erweisen wir ihm also diesen sozialen Dienst […]. [78/79]
Deutlicher können die Klassengegensätze zwischen angemaßter Führung und dienstbarem Volk nicht ausgedrückt werden und satirischer nicht das Gefälle zwischen militärischer Inkompetenz des Regimes und der Zeche, die dafür andere bezahlen müssen. Um das Milieu zu kennzeichnen, aus dem die Allianz von faschistischer Führung und Bürgertum seine Schlägertrupps rekrutiert hat und in der das Ressentiment gegen die kämpfenden Arbeiter und Bauern besonders ausgeprägt war, verfolgt Volponi im zentralen XII. Kapitel, überschrieben »Die Mutter und der Vater des Zenturionen«23 die Lebensgeschichte der Eltern Marcaccis, die als Groteske dargeboten wird, würdig der Geschichte und der Taten von Ubu roi Alfred Jarrys. Die Banalität, im Sinne der Gewöhnlichkeit des Weltverständnisses, und das Vulgäre der körperlichen und geistigen Reaktionen der Figuren kennzeichnen das Milieu, dessen soziale Aufstiegswünsche und Sehnsüchte Marcacci verkörpert und dessen Machtvorstellungen er in seiner kriegerischen Aufmachung darstellt und repräsentiert. Sichtbar gemacht wird das an Bildern körperlicher Zustände und Betätigungen, die das Streben nach Aneignung im triebhaften Begehren in krassester Weise artikuliert. Noch im Tod sind die Merkmale der Besessenheit auf Gesicht und Körper der Mutter des Zenturionen abzulesen, als dieser die gerade verstorbene Frau auf ihre Ruhestätte bettet. Er näherte sich ihr, um ihr den Hut abzunehmen, der ihr auf einer Seite aufs Ohr, schwarz und haarig, gerutscht war, und er roch den Geruch von Schwefel wie immer: ein noch saurerer Geruch kam von den Lippen und aus den Tiefen der Nasenlöcher. […] Er fluchte über den ekelhaften Geruch, der ihn seit Jahren zurückstieß und von dem er nicht wusste, woher er kam. [110]
22 Gli stivali. La retorica (u.a.). 23 La madre e il padre del centurione.
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Der stilistische Übergang auf die Ebene der Groteske, der sich hier ankündigt, zielt – über das rein Formale hinaus – auf eine Darstellung, in der die physische Gewalt mit transportiert wird, die in der Groteske enthalten ist und die – wie der Jargon Ubus bei Jarry – einen Grad primitiver Gesellschaftlichkeit offenbart, die gepaart ist mit einer hohen Aggressionsbereitschaft in sozialer Hinsicht. Das vermittelt besonders drastisch das Bild des Vaters von Marcacci, das Volponi über Seiten hinweg mit allen erdenklichen Zügen der Groteske ausgestattet hat. Über zehn Jahre hat der Vater in Fossombrone die Tätigkeit eines Tierbeschneiders (castrino) ausgeübt und drei Mal war er abgewiesen worden bei der Zulassung zum Veterinärstudium. Das dritte Mal hatte er aus Rachsucht die schreckliche Professorin, eine Fünfzigjährige, vollbusig und eingezwängt in ihrem Korsett […], berüchtigt wegen ihrer Tatkraft und Strenge in allen höheren Schulen des Reichs, verführt. [110f.]
Aber auch diese groteske Szene, die der Leser selbst nachlesen möge, führt nicht direkt zum Ziel. Auch zum dritten Mal wird er nicht zum Studium zugelassen; findet aber schließlich mit dem Zugang zu faschistischen Kreisen die Gelegenheit, ein Diplom (laurea) mit Auszeichnung zu erwerben. Zwei Jahre später wird ihm, dem medico-veterinario, die Ehre zuteil, die Truppen in den Eroberungskrieg nach Libyen zu begleiten. Er wird tenente veterinario und mit einer Medaille ausgezeichnet, hat aber im Zelt in der Wüste unter allen möglichen Beschwerden zu leiden, worunter die seines Trieblebens an erster Stelle rangieren. In unserer Erzählung überlassen wir ihn seinem Schicksal und wollen nur noch anmerken, dass Volponi, wie wir meinen, Tarquinio Marcacci als Figur konzipiert hat, an dessen sexueller Potenz, in ihrer primitivsten Form, die sexuelle Überwältigung des Anderen als ein Merkmal hervortritt, das er in seine Analyse des Faschismus einbeziehen wollte. Nach der Darstellung der ›Familiengeschichte‹ der Marcacci kehrt die Erzählung zurück zu der Geschichte ihres Sohnes Troiano, der nach seinem Abenteuer mit Norma Possanza zum Ruhm des Vaterlands zu Höherem berufen scheint. Als Held hat er sich schon ausgewiesen, als er Norma erobert und sich unterworfen hat. Als er Fossombrone verlässt – und die Geliebte ihrem Schmerz überlassen wird –, ranken sich Gerüchte um seinen Abgang nach Rom, z.B. dass er von den Leuten Geld verlangt und auch erhalten hat, wie es heißt für die Kasse der Partei. Damín berichtet zu Hause davon und fügt hinzu, um die Mutter noch weiter zu verletzen, dass Klage gegen ihn erhoben worden ist und dass Marcacci vor seinem Ausschluss aus der Partei nach Rom geflohen sei. Unvermittelt kehrt er aber seine Argumentation um und macht den Rivalen gegenüber der Mutter wieder zum Helden des Faschismus, der gegen die Reichen und die Bürger dessen Prinzipien verteidigt habe. Indirekt wird damit schon angedeutet, dass Damín den heroischen Ansprüchen in der Propaganda des Regimes Glauben zu schenken beginnt. Bestätigt wird das, als Italien seinen Krieg in Afrika 1935 beginnt und im nächsten Jahr die Proclamazione dell’Impero, die Ausrufung Italiens zum Kaiserreich durch Mussolini erfolgt. Der Anspruch auf Besitz von Territorien außerhalb Italiens, der mit dem Titel des Imperiums verbunden ist, wird von Mussolini schon in den 20er 301
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Jahren erhoben. 1932 erklärt er, dass das Jahrhundert dem Faschismus gehören und Italien zur »Führungskraft der menschlichen Civiltà« aufsteigen werde, und im selben Jahr spricht er davon, Abessinien ganz der Kontrolle Italiens zu unterwerfen. Doch der Krieg in Abessinien, der großsprecherisch angekündigt wird, erweist sich als ein Desaster, das die politische und militärische Unfähigkeit des Regimes offenbar werden lässt. 1928 hatte Italien einen Freundschaftspakt mit dem Negus ausgehandelt, in welchem Abessinien zum italienischen Protektorat erklärt worden ist, was umgekehrt aber dazu geführt hat, dass die afrikanischen Gebiete sich untereinander gegen die Ansprüche Italiens verbündeten. Als das Regime 1935 die Besetzung dieser Gebiete einleitet, trifft es auf den bewaffneten Widerstand der verbündeten Stämme. Erst nach sechs Monaten mörderischer Kriegführung wird Addis Abeba eingenommen. Im Frühjahr 1937 werden die Massaker bekannt, die der berüchtigte Maresciallo Graziani als Befehlshaber der italienischen Truppen unter den Afrikanern angerichtet hat, eine Kreatur von Mussolinis Gnaden, in dessen Befugnisse auch die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den besetzten Gebieten und Rom fielen.24 Zu welchen Missständen in Folge von Eigeninteresse und Korruption die Befehlsgewalt Grazianis geführt hat, dokumentiert der Briefwechsels des damals noch jungen Finanzexperten Enrico Cuccia und seinem damaligen Vorgesetzten in Rom Alberto D’Agostino.25 Von Interesse ist hier insbesondere, dass Enrico Cuccia, Protagonist der späteren Finanzwelt der Republik als Chef der Media Banca, über die Misswirtschaft unter dem Kommando Grazianis nach Roma berichtet, worauf der Maresciallo die Abrufung Cuccias von Rom verlangt. Die Geschichte vom Krieg in Abessinien, die bei Volponi erzählt wird unter dem Titel »Das Jahr 1936. Das Kaiserreich und seine Schätze«,26 stellt aus der Sicht Damíns so ziemlich das Gegenteil von den in der Geschichtsschreibung dokumentierten Fakten dar. Erzählt wird das Kriegsgeschehen im Wesentlichen aus der Perspektive des Jungen, der aus den Medien die Ereignisse verfolgt und für den Troiano Marcacci immer als Held im Mittelpunkt des Geschehens steht. Die Nachrichtenübermittlung durch die Presse, das Radio und den Film stellt hier die Ebene dar, auf der der Krieg in Afrika als erfolgreiches und ruhmverheißendes Unternehmen wiedergegeben wird. Damín verfolgt auf einer angehefteten Karte in seinem Zimmer die militärischen Operationen in Afrika; er stellt sich vor, was sich dort ereignet, auf den Spuren einer von ihm imaginierten Person: ein Legionär, ein Offizier, ein Goldsucher oder Kaffeepflanzer, unter der Ansammlung von Schätzen und Ernten, die auf der Karte die Bergwerke, die Schätze der Natur, die Felder, die Bestellung der schönen abessinischen Erde verzeichneten. – Er suchte darunter auch Marcacci, von dem er wusste, dass er gleich mit dort hin gegangen war, als 24 Dazu Mack Smith: Ebd., S. 666f: »Der politische ›clientelismo‹ führte unausweichlich zu großen Mängeln in den Bauvorhaben, da es eine nur begrenzte Konkurrenz bei den Ausschreibungen der Regierung gab, und der Herzog von Aosta berichtete später, das die Hälfte seiner Mitarbeiter in Abessinien korrumpiert und die andere Hälfte inkompetent war.« 25 Siehe Cuccia, Enrico: Africa Orientale, Editore Franco Angeli, 2007/8 und den Bericht darüber von Antonio Gnoli in: La Repubblica vom 30. Nov. 2007, S. 46/47. 26 »Il 1936. L’Impero e i suoi tesori«.
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Il lanciatore di giavellotto einer der ersten, an der Spitze einer Legion von Mutigen [arditi] –, die mutigste, immer in Berührung mit dem Feind, den blutrünstigen Horden mit Pfeilen und vergifteten Lanzen. [127- 28]
Die Ausrufung des Impero ist ein Ereignis, das alle mit freudiger Erwartung erfüllt. Im Kino wird gezeigt, wie die italienischen Truppen im feindlichen Territorium vorrücken. Man sah die neue Erde des Kaiserreichs, mit ihren Horizonten und Bergen, den kleinen wie den riesigen exotischen Bäumen.
Und Damín voller Zuversicht: Italien hatte nun ein Imperium; und auch er hätte einmal, in nicht langer Zeit, dort hin gehen können, um zu arbeiten, eine Keramikproduktion einzurichten, nach dem Modell des Großvaters, aber neu und anders. [130]
Dass diese Erwartungen nicht in Erfüllung gingen, sondern der afrikanische Krieg und seine Eroberungen im Gegenteil zur finanziellen Belastung des Regimes zusätzlich beitrugen, zeigen in aller Deutlichkeit die Statistiken über den Misserfolg der imperialen Politik Mussolinis.27 Die triumphale Rückkehr des zum ›console della milizia‹ aufgestiegenen Helden Damíns, den die Kapitelüberschrift als »Der Eroberer«28 feiert, offenbart die offensichtlich gewordene Distanz zwischen dem Repräsentanten der Macht und Norma und Damín, die ihn nur von weitem in Begleitung seiner hochrangigen Gattin zu sehen bekommen. Dass Norma herabgestuft wird zu einer vorübergehenden Eroberung des Helden, gehört, wie der Text vermerkt, zur Biographie des Eroberers, eine vorübergehende kleine Leidenschaft, ein kleiner Raubüberfall, von der Art, welche zählt und Ruhm bringt, aber nicht von Dauer ist im Leben eines Eroberers. [135]
Was Damín aber weiterhin an der Figur des Kriegshelden fasziniert, ist die säbelförmige Waffe, die Marcacci statt des Dolches an seiner Seite trägt; ihre Geschichte und ihr Erwerb entspricht ganz dem Traum Damíns von einem heroischen Leben und zeigt, wie weit er die Ideologie faschistischen Heldentums verinnerlicht hat. Es war ein alter koptischer Dolch, den er [Marcacci] den Händen des Rais Seium in einem Ringen Körper an Körper selbst entrissen hatte und zusammen mit seinen ›arditi‹ die beste Armee des Negus zerschlagen sowie dessen bevorzugten 27 Denis Mack Smith zur Kolonialpolitik des Impero: »Trotz aller Argumente ökonomischer Natur, die von Mussolini zugunsten der Expansion in Afrika angeführt worden sind, stellte 1939 der Handel Italiens mit seinen Kolonien kaum 2 % des Gesamtvolumens dar. Italien gab zehn mal mehr aus, als es einnahm, und die italienische Bevölkerung von New York war zehn mal größer als die des gesamten italienischen Imperiums.« (S. 667) 28 »Il conquistatore«.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte Cousin verletzt und gefangen genommen hatte, woraus eine für den ganzen Krieg strategisch entscheidende Position resultierte, wofür er die Silbermedaille für Tapferkeit vor dem Feind bekommen hatte. [133]
Mit der aus den Illusionen bürgerlicher Sozialisation hervorgehenden Faszination hinsichtlich heroischer menschlicher Größe leitet die Indoktrinierung Damíns über in die Identifizierung mit dem Helden, der sich im Kampf bewähren muss und mit der Waffe in der Hand seine Feinde besiegt. Die Kampfsituation wird auf die existentielle Ebene des Jungen übertragen. Die bogenförmig verlaufende Waffe Marcaccis assoziiert Damín mit der bäuerlichen Sichel (der ›roncola‹), die ihm als Mordwaffe dient. Damín betrachtete aufmerksam den neuen Dolch: er bewunderte ihn und hatte davor Angst, er empfand ihn als fremd im Vergleich mit dem anderen […]. Um ihn sich vertraut zu machen, verglich er ihn mit einem großen Sichelmesser der Bauern [la roncola], einen blutrünstigen Bengel. [134]
Und über diesen Vergleich identifiziert er sich mit dem Kriegshelden des Faschismus, dessen Aggression er dann gegen die Schwester und gegen sich selbst richtet. Auch er wird damit das Opfer des Regimes, wie das der Schuster Occhialini in seinem Nachruf auf Damín bekundet. [197]
3. D AS S UBJEKT
UND DER
P ROZESS
DES
E RZÄHLENS
Der psychoanalytische Prozess: die ödipale Verkettung von Trieb und Gefühl
Damín war vorangehend als Opfer sowohl des Faschismus wie auch der bürgerlichen Gesellschaft dargestellt worden. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, in wieweit er auch als das Subjekt der Erzählung Volponis betrachtet werden kann und welche Merkmale ihn dafür qualifizieren. Damit verbindet sich schließlich die Frage, welche Kriterien des Gesellschaftlichen in der Sozialisation des Subjekts in der Phase des Faschismus bestimmend geworden sind. Geht man von den Traumen aus, die das Subjekt in der frühen Kindheit erlebt hat und verarbeiten musste, so sind es im Grunde die zwei schon bekannten Momente, die den dramatischen Verlauf in der Sozialisation des Subjekts verursacht haben: die Trennung des Kindes von der Mutter, die sich als Trennungsangst über eine lange Phase der Kindheit erstreckt, und die Erfahrung des männlichen Kindes über die Beziehung der Mutter zu einem anderen Mann. In Il lanciatore di giavellotto ist der Prozess, den wir als Syndrom einer ödipalen Entwicklung im Sozialisationsverlauf des männlichen Subjekts gekennzeichnet haben, in allen seinen Phasen zu verfolgen, ein Prozess, den wir im Folgenden noch einmal rekapitulieren. hinsichtlich seiner gesellschaftlichen und politischen Relevanz im Kontext des Faschismus. Die erste Empfindung des Kindes ist aus der Erinnerung des späteren Subjekts die an der Brust der Mutter, des Fließens des Libidostroms vom Körper der Mutter zu dem des Kindes, was der Text Volponis im Bild festgehalten hat. [9] Damín zeichnet als Kunststudent mehrere Bilder von der Mut304
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ter, u.a. mit entblößter Brust, und auf einem anderen sich selbst als Cupido zu ihren Füßen.29 In der Erinnerung fixiert ist auch das Bild, wo er als kleiner Junge voll »soddisfazione« zwischen Mutter und Großvater sitzt und dazu angemerkt wird: Es war das, was er von jedem Tag erwartete und was den wahren Genuss seiner unbegrenzten Bewunderung für den Großvater und seine liebende Inbesitznahme der Mutter ausmachte. [8]30
Hier schon erscheint der Besitz der Mutter eingebettet in eine Familienszene, in der der leibliche Vater eliminiert ist, d.h. das Kind selbst dessen Platz neben der Mutter eingenommen hat, im Sinne des »Familienromans«, der die »Wahrheit« des Besitzes der Mutter garantiert.31 Doch diese »Wahrheit« kehrt sich um in die unglückselige Gewissheit des Verlusts der Mutter, die von einem anderen Mann begehrt wird und sich ihm hingibt; eine »Wahrheit«, die jetzt nicht nur die Abwendung der Mutter und die Verlassenheit des Sohns besagt, sondern vor allem die »Schuld» der Mutter als Bild in der Erinnerung des Sohnes verankert. Sie wird zur »eigentlichen und universalen Wahrheit«, die ihm alle Erscheinungen des täglichen Lebens in Erinnerung rufen. [22] Doch um dieser quälenden Erinnerung zu entgehen, beginnt Damín, das Bild der Mutter und ihres Geliebten umzuwerten und sie zunächst in den Bildern der bemalten Keramikvasen zu verklären. »Über jede Figur und Assoziation hinaus war die größte und nicht rechtfertigbare Liebe die der Mutter und des faschistischen Führers […]«. Doch gleichzeitig erscheint in diesem idealisierten Bild auch das Marcacci auszeichnende Merkmal: die Insignie des Dolches: »Hinter der Erscheinung der Liebenden in jedem Bild« sieht Damín »das Gesicht, die ganze Figur, den Dolch von Marcacci.« [23] Was hier beschrieben wird, ist der Beginn einer Identifikation Damíns mit dem Geliebten der Mutter, dem er auf dem Sportstadion begegnet, wo er die Jugend auf ihre Wettkämpfe vorbereitet, und jedes Mal fällt dem Jungen der blitzende Dolch als das Besondere der Figur Marcaccis ins Auge. [23] Diese Identifikation mit dem männlichen Wesen bezieht sich aber nicht nur auf die Schönheit der Erscheinung des Mannes, sondern im verstärkten Maß jetzt auf das negative Merkmal, die Waffe des Chefs der Faschisten, auf »eine überlegene Kraft, die der Schönheit, der Stärke und Bösartigkeit der Autorität.« [23] Damín, fasziniert von der Figur des faschistischen Führers, gesteht sich schließlich das Gefühl seiner Bewunderung ein [43], er ist aber auch unglücklich, nicht so sehr, weil seine Mutter von anderen als »puttana« 29 In Kap. XVII, S.167- 68 30 Von der Figur des Vaters heißt es im selben Kontext: »Der Vater war nicht anwesend im Bild, in welchem die Figuren und Stimmen der Familie die Wahrheit darstellten und verbürgten. So dass er auch nie in sich die Stimme des Vaters entstehen und sich entwickeln fühlte; die er vielmehr jedes Mal äußerlich und neu, wie von einem anderen Ort kommend wahrnahm.« [9] Auch hier wird von einem Bild gesprochen, das die Familienszene rahmt, aus der aber der leibliche Vater ausgeschlossen bleibt. Ein solcher Ausschluss kommt im Grunde der Tötung des Vaters gleich. Er ist jedenfalls nicht in der »verità« [Wahrheit] enthalten, die die des Besitzes der Mutter ist. 31 Verwiesen wird auf die vorangehende Anmerkung und Freuds Familienroman.
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(Hure des Faschisten) beleidigt wird, als vielmehr, weil sie der Gegenstand seiner unheilbaren »Wahrheit« ist und damit eine Person, die ihm gegenüber schuldig geworden ist. Eine neue Konstellation ergibt sich damit im Dreiecksverhältnis der Figuren. Das Subjekt, das die Mutter begehrt, wendet sich von ihr ab und dem männlichen Wesen zu, das die Mutter liebt und von dem sie wieder geliebt wird. Mit dieser Wende versetzt sich das Subjekt in die Lage, sich gegen die Mutter zu wenden und Genugtuung über ihren Schmerz zu empfinden, und sie zugleich an der Stelle des Liebhabers wieder in Besitz zu nehmen. Dass auch die Mutter unglücklich ist, spürt Damín und genießt es aus der Position eines familialen Sadismus, in den sich die der Mutter zugewandte Libido verwandelt. In einem ersten Moment wäre festzuhalten, dass die Identifikation mit dem starken männlichen Wesen lediglich darauf zielt, sich der Frau wieder zu bemächtigen, so wie das Marcacci tut, sie sich zu unterwerfen, was ja der kleine Damín schon von Anfang an will, und sie aufzugeben, wenn sie nicht mehr gebraucht wird. Das ist die Einstellung zur Frau, die das Handlungsschema des Romans als faschistisch charakterisiert und das psychoanalytisch darauf beruht, dass eine Ambivalenz vorherrschend wird, die wir in der Gefühlsökonomie der bürgerlichen Gesellschaft vorgeprägt finden und auf die wir noch eingehen werden. Die Libido ist nach Freud die Triebenergie, die sowohl das Begehren wie das Streben nach etwas, die Nähe einer Person oder den Erwerb einer Sache, zum Gegenstand hat. Sie ist das Fließen einer Energie in Richtung auf eine Person oder Sache, die aber nicht nur in einer Richtung verläuft, sondern den Weg über eine dritte Instanz einschlägt, was, wenn man so will, schon in Freuds Strukturmodell von Ich, Es und Über-Ich vorgegeben ist, wonach in dieser trinären Konstellation das Ich des Subjekts abhängig ist von der Einwilligung des Über-Ich in Bezug auf das Begehren des Es, das auf ein Ziel gerichtet ist.32 Dieser Sachverhalt findet sich wieder in der Figurenkonstellation von Damín und Marcacci mit Bezug auf Norma, der Figur, die von beiden begehrt wird. In dieser ödipalen Konstellation ereignet sich, was wir oben als Verkettung von Trieb und Gefühl bezeichnet haben und was bei Volponis Darstellung der Gefühle seiner Protagonisten als pathogenes Leiden von Anfang an zu beobachten war. Dem soll im Folgenden nachgegangen werden. Im Bild, das wir als »Heilige Familie« bezeichnet haben, ist die Dreiecksbeziehung abgebildet in der Konstellation von Mutter und Kind, die der Großvater als männliche Figur vervollständigt. Die männliche Figur bestätigt dem Kind, dass seine Liebe zur Mutter legitim und gerechtfertigt ist. Das bringt sein Wohlwollen gegenüber Damín zum Ausdruck. Der leibliche Vater ist hier schon eliminiert und ersetzt durch die großväterliche Figur, die auch als wohlwollende, hilfreiche und rettende Figur im Werk Volponis gar nicht so selten anzutreffen ist, z.B. in der Vaterfigur, die Albino in Memoriale vorm Ertrinken rettet oder in der Figur des Laokoon in Il lanciatore, der verzweifelte Anstrengungen unternimmt, um seine Söhne aus dem Würgegriff der Schlange zu befreien [156]. Die Konstellation verändert sich grundlegend, als Damín entdeckt, dass die Mutter einen Geliebten hat. Im Verhältnis zur Mutter wird die Liebe zu ihr durch den Schmerz über ihren »Verrat« überdeckt, ein Schmerz, der zunächst 32 Zum so genannten désir triangulaire siehe René Girard Mensonge romantique et vérité romanesque. Paris 1961.
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nur passiv erlitten wird. Überraschend aber ist, dass Damín gegenüber dem Geliebten der Mutter keinen Hass empfindet, sondern im Gegenteil von ihm angezogen wird und sich zunehmend mit ihm identifiziert, wie wir gesehen haben. Das Motiv dieser Identifikation kann, wie wir annehmen, darin bestehen, dass Damín sich an die Stelle des Geliebten versetzt, um die Mutter wieder zurückzuerobern, wobei aber jetzt seine Einstellung zu ihr umschlägt in ein Gefühl der Aggression und in das Bedürfnis, die Mutter bestraft zu sehen. Dennoch bleibt im Hintergrund die ursprüngliche und unzerstörbare Bindung an sie: Damín verstand das Drama der Mutter und genoss es und litt darunter auf eine widersprechende Weise, so dass sich die beiden Gefühle immer schneller und tiefgehender abwechselten und vielmehr ineinander übergingen als sich bekämpften. [67]
Erkennbar wird hier, dass zwei gegensätzliche Gefühlsebenen sich nicht nur überlagern, sondern so miteinander verschmelzen, dass die daraus resultierende Ambivalenz nicht mehr aufzulösen ist und damit letztlich der tödliche Ausgang des Konflikts unvermeidlich wird. Das soll auf der Ebene der Triebökonomie in der Konfliktbeschreibung Volponis noch einmal illustriert werden. Als Damín sich einmal seinem bewunderten Vorbild gegenüber sieht, entdeckt er voller Genugtuung, dass er diesem gleich geworden ist, »gerührt über eine Veranlagung, die seine Erinnerungen und seinen Groll besiegte« [89] – in der Verfügung über die Stärke seines Vorbilds (oder Über-Ichs), die er jetzt als Triebpotential in aggressiver Weise gegen die Mutter wendet: Der Schmerz verwandelte sich wieder in Aggression gegen die Mutter, ›troia‹ und ›puttana‹: er war so grausam und so groß, dass er sich in ihm löste wie ein Wasser oder Atem, die nicht aufzuhalten sind […] [97].
Die Triebenergie, die hier feindlich gegen die Mutter gerichtet wird, wird im gleichen Atemzug aber auch gegen den Schuster Occhialini entladen, gegen den er eine Salve von Beschimpfungen los lässt [97-98], die nicht zuletzt auch dem Antifaschisten gelten dürfte, der hier die Verteidigung der Frau in Sachen Sexualität vertritt. Damíns Aggressivität gegenüber der Mutter resultiert aus einem Gefühl der Rache, ist aber auch gepaart mit einer sadistischen Komponente, der Zufriedenheit über ihren Schmerz als gerechte Strafe. Damín hoffte, dass ihre Schmerzen noch zunähmen und dass der Schmerz und das Unglück sie reinigen und in die Familie zurückführen würden: »in die Abhängigkeit der Macht ihrer Gefühle, vor allem der seinen, des einzigen männlichen Kindes.« [108]. Selten hat Volponi in dieser Deutlichkeit seine im Grunde kritische Einstellung gegenüber Damín, dem Paradebeispiel der Ödipusthematik, zum Ausdruck gebracht, denn in dessen Erwartung von einer Rückkehr der Mutter in die Familie kehren alle Klischees wieder, die Occhialini in seinen Reden dem Faschismus und der Kirche über die Frau in der Familie angelastet hat. Diese Klischees aber sind der Fundus, aus dem Damín die Energien bezieht, mit der er die Mutter attackiert und die aus dem Über-Ich stammen, das der Chef der Faschisten Marcacci repräsentiert. Aus diesem Fundus wird auch 307
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die Aggression gespeist, die als Tötungsabsicht zunächst gegenüber der Mutter und dann in einer Art Ersatzhandlung gegenüber der Schwester Damíns Handlungsweise motiviert. Wir haben schon darauf hingewiesen, dass Damín sich mit der Waffe auf die Mutter gestürzt hätte, wenn sie auf die Offerten eines Angestellten der Kunsthochschule reagiert hätte. In der Dreiecksbeziehung zwischen dem Ich des Subjekts, dem faschistischen Täter als Über-Ich und der Schwester als dem Objekt des Begehrens entladen sich die angestauten Triebenergien schließlich im Angriff Damíns auf Vitina. Die Entladung der Triebenergien, die den Körper Damíns im Bild eines geschleuderten Speers darstellt oder eines Pfeils, der vom Bogen abgeschossen wird, verdeutlicht noch einmal, wie tiefgreifend die Ideologie des Krieges und der Waffen dessen Wesen geformt und durchdrungen hat. »Der Bogen spannte sich mit der Kraft in ihm selbst, unabhängig jetzt von seinem eigenen Willen.« Der Pfeil, den er abschießt, ist Damín selbst. Mit ihm entweicht die Wut, die sich bei seinem Absprung in Vernichtungsenergie gewandelt hat. [190]
4. D ER F ASCHISMUS
IN DER
G ESCHICHTSSCHREIBUNG
Das faschistische Regime hat sich historisch verstanden als die Kraft, die das Vermächtnis des Risorgimento wieder aufnimmt und die Einheit Italiens als Nation verwirklichen wird, um damit der Nation den Rang zu sichern, der ihr unter den großen Nationen des Zeitalters gebührt. In dieser Rückbeziehung des Regimes auf das vergangene Jahrhundert und die nicht verwirklichten Träume von einer Führungsrolle des vereinten Italien wird historisch erkennbar, dass der Faschismus sich in der Tradition des Risorgimento sieht, d.h. in der Kontinuität oder Wiederbelebung des Ancien Régimes, auf das er sich hinsichtlich seiner Geltungs- und Machtansprüche beruft. Das bezeugen in aller Deutlichkeit die Studien der von Asor Rosa herausgegebenen Letteratura italiana und darin der Beitrag Il fascismo aus der Feder von Luisa Mangoni.33 Die von der Verfasserin genannte Studie von Gioachino Volpe aus dem Jahr 1923 zeigt, wie die so unterschiedlichen Ansätze einer Sicht auf die Verhältnisse nach dem ersten Weltkrieg als vergleichbar gesehen werden mit »dem, was in Italien in dem Jahrzehnt sich ereignet hat nach 1849 […], als sich um Piemont, Cavour und den [designierten] König die Schiffbrüchigen aller möglichen Schiffbrüche sammelten […], geleitet vom ›Glauben an ein Italien ohne Adjektive‹«.34 Und 1925 beruft sich Giovanni Gentile auf die Periode der Entstehung des Einheitsstaats und auf das Beispiel der »Faschisten von 1848 und 1860«, um auf die tiefen Ähnlichkeiten hinsichtlich der Einstellungen wie der Perspektiven für die Zukunft mit dem faschistischen Regime hinzuweisen.35 33 Alberto Asor Rosa (Hrg):Letteratura italiana, Bd. I: Il letterato e le istituzioni, Turin: Einaudi 1982; und darin Luisa Mangoni: Il fascismo, S. 521- 548. 34 Ebd., S. 536. 35 Ebd., S. 536; noch an einer anderen Stelle wird gegen die dekadente »civiltà borghese« die »idealistiche Kultur, Ausdruck der Philosophie Gentiles« angeführt, »der auf diese Weise im Faschismus explizit das Einmünden des risorgimentalen und geeinten Italien verkündet hat.« (ebd., S. 539).
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Über diese Traditionslinie hinaus, die vom Faschismus zum Risorgimento gezogen wird, wird die Herleitung desselben Traditionszusammenhangs, wie Mangoni zeigt,36 noch weiter zurückgeführt bis zur Reformation und Gegenreformation37 in der Kontroverse, die Piero Gobettis Manifesto von 1922 als Einleitung zu La Rivoluzione liberale ausgelöst hat.38 Gobetti hatte in seinem Manifest gegen den Faschismus drei Feststellungen getroffen: 1. das Fehlen einer gesellschaftlichen Elite als ›classe politica‹; 2. das Fehlen eines modernen wirtschaftlichen Lebens, d.h. einer technisch fortgeschrittenen Klasse; 3. das Fehlen eines Bewusstseins und einer praktischen Ausübung der Freiheit, woraus resultiere »die Unfähigkeit der ›cittadini‹, ein Bewusstsein des Staates zu entwickeln.« Hinsichtlich des Rückgangs auf die Gegenreformation ergänzt die Autorin, dass es sich um eine historische Studie handelte, die von Reflexionen über das Risorgimento ausging, »aber im Grunde als ein ungelöstes Problem zugrunde legte das Fehlen in Italien einer ›civiltà morale e nazionale‹«, wie das Zeitalter der Reformation sie entworfen hatte.39 In unserem Zusammenhang bemerkenswert ist diese Kontroverse der 20er Jahre, weil sie einen Traditionszusammenhang sichtbar macht, der von den Fundamenten des Faschismus über das »Italia risorgimentale« im Sinne Gentiles40 zur Controriforma zurückführt, woraus eine Ideologie herzuleiten wäre, die den Übergang der Gesellschaft in die Moderne blockiert und in allen Phasen der Veränderung den rückwärtsgewandten, restaurativen Momenten der Geschichte wieder zur Herrschaft verhilft. Blockiert wird der Übergang in die Phase der Aufklärung – als Wegbereiterin der europäischen Moderne – und im Fahrwasser der Französische Revolution zur Konzeption einer anderen Gesellschaft, die mit dem Sturz des Ancien Régime auf die Tagesordnung rückt. Und das bedeutet, dass eine neue Basis zu schaffen ist für den Zusammenhalt der Gesellschaft, die auch eine neue Idee impliziert, d.h. das Gemeinwesen, das zur öffentlichen Sache erklärt wird, zur res publica. Der Politik stellt sich demnach die Aufgabe, Lösungen zu finden, wie die aus der Revolution hervorgehenden Verhältnisse geordnet, sozialisiert oder vergesellschaftet werden können. Und die Gesellschaft, die diesem Gemeinwohl entspricht, muss den politischen Rahmen schaffen, der für ihre Existenz verbindlich ist: den Staat. Die civiltà, das Gemeinwesen, das Volponi aus dieser Vergesellschaftung erwartet, ist im wesentlichen, was er als »democrazia economica« bezeichnet hat [Scritti, 142] und auf die Bildungsebene übertragen, als »cultura industriale«. Was darunter zu verstehen ist, kann der Redebeitrag entnommen werden, den Volponi 1984 im Senat verlesen hat:
36 Luisa Mangoni, in Asor Rosa, S. 525. 37 Im Italienischen Riforma und Controriforma. 38 Piero Gobetti: der von den Faschisten verfolgte und in Paris 1926 ermordete Autor von La rivoluzione liberale. Saggio sulla lotta politica in Italia Turin: Einaudi, Nuova universale 40, 1964/1983. 39 Ebd., S. 525 Diese Kritik stimmt fast wörtlich überein mit der Charakterisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse Italiens im Risorgimento, wie wir sie bei Leopardi in Discorso sopra lo stato presente dei costumi degl’Italiani gefunden und schon zitiert haben. 40 Ebd., S. 536/539.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte Die industrielle Kultur ist nicht das Ruhekissen der Arbeitgeber der Industrie oder die Last, die sie auf das Land abwälzen, wie die Regierung zu meinen scheint […]. Die industrielle Kultur ist vielmehr die Fähigkeit zur Schaffung eines großen wissenschaftlichen Forschungspotentials, das allen zugute kommt, der Schule, dem öffentlichen Dienst und der Verwaltung sowie der Arbeit in allen Bereichen. Die industrielle Kultur ist die Teilnahme aller an einem Projekt der Veränderung des Landes nach eigenem Bewusstsein, eigener Kultur und eigenen moralischen Qualitäten mehr noch als professionellen. […]. [Dialogo S. 57].
Als Schlüsselpassage dieses Textes, die die Aussage ins Politische wendet, wäre unseres Erachtens zu verstehen, dass Kultur hier in Richtung auf die gesellschaftliche Veränderung im ganzen verstanden und vertreten wird, was in diesem Sinn der politischen Zielsetzung Gramscis gleich kommt, die er unter dem Titel Riforma intellettuale e morale als ein politisches Programm definiert hat Der Weg zu einem konstituierten Gemeinwesen, den Staat, geht also von der Gesellschaft aus, die ihn will und definieren muss.41 Das aber ist das genaue Gegenteil vom Verhältnis von Staat und Gesellschaft, das der Faschismus propagiert. Verankert wird von den Ideologen des Regimes die Unterwerfung der Gesellschaft unter die Führung in der Gleichschaltung aller Institutionen im System der Korporationen. Den für das faschistische System grundlegenden Begriff, der die Gesellschaft dem Staat unterstellt, nämlich die Korporation, hat der für die Einführung des Begriffs federführende Alfredo Rocco beschrieben als »nicht nur notwendige Unterordnung der Individuen unter den Staat, sondern auch des Individuums unter die Kollektivität, deren Teil es ist, und der Kollektivität unter den Staat […]«.42 Das betrifft darüber hinaus auch die Unterordnung der Staatsbürger unter die Partei und ihren Führer. »An der Spitze, war der Duce sowohl der Chef der Partei wie der der Regierung, und diese beiden Ämter waren in kurzer Zeit völlig identisch. In der Partei ging auf diese Weise die Funktion des Staates auf.«43 Diese von der Gesellschaft unabhängige, in sich souveräne Funktion des Staates bringt Gentile in die Doktrin des Stato etico ein im Sinne eines Staates »der sein eigenes moralisches System hervorbringt und nichts und niemandem Gehorsam schuldet, was außer ihm ist, die Doktrin der Nation in Waffen, die kämpfen muss im Hinblick darauf, ihre Existenz zu rechtfertigen.«44 Doch auch schon Mazzini hatte den Staat als etwas Absolutes gesehen und gepredigt – wir zitieren wieder Mac Smith –, »dass das Individuum nur Pflichten hat, während es allein der Staat als moralische Instanz ist, der Rechte hat […]«; und: »Sein idealer Staat war einer totalitären Theokratie ähnlich, in der es keinen Unterschied gab zwischen Kirche und Staat, wie auch keinen Konflikt unter den Klassen.«45 41 Siehe dazu die Definition des Staats, wie sie Francesco De Sanctis aus den Schriften, Machiavellis abgeleitet hat, in »Machiavelli« in: Francesco De Sanctis: Saggi critici, Bd. II, hg. Von Luigi Russo, Bari: Editori Laterza, 1979, S. 368. 42 Zitiert nach Karin Priester: Der italienische Faschismus. Ökonomische und ideologische Grundlagen. Köln: Pahl- Rugenstein Verlag, 1972, S. 120f. 43 Mack Smith: ebd., S. 578. 44 Ebd., S. 609f. 45 Ebd., S. 615. Was den starken Staat oder vielleicht eher die autoritäre Führung in der Regierung betrifft, ergänzt der englische Historiker: »Die Pessimisten haben hervor-
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Aus der hierarchischen Struktur, die gesellschaftlich durch den faschistischen Staat vorgegeben ist, folgt die Abhängigkeit der Lebensbereiche, die als zivilgesellschaftliche definiert werden können, wie der Lebenserwerb der Bevölkerung, die Probleme der Wirtschaft und die der Finanzpolitik. Gesellschaft und Ökonomie werden zu Bereichen, die der Kontrolle der Führung unterworfen werden. Der faschistischen Partei gelingt es, den breit gefächerten Nationalismus der Zeit nach dem ersten Weltkrieg in ihre Bahnen zu lenken und dessen Ziele auf einen – oft widersprüchlichen und jeweils wechselnden – Nenner zu bringen, was dadurch erreicht wird, dass der Faschismus die Gesellschaft zur Nation zu vereinen verspricht. Was hier von Bedeutung wird, ist das Manöver, das der faschistischen Bewegung im damaligen Nachkriegsitalien gelungen ist mit der rhetorischen Umwandlung der Gesellschaft zur Nation.46 Von Karin Priester wird in einem aufschlussreichen Kapitel ihres Buchs der allmähliche Prozess der Annäherung der nationalistischen Tendenzen an den Faschismus beschrieben47 und bis zum Kongress von Mailand 1914 zurückverfolgt, wo Alfredo Rocco den Entwurf eines nationalen Syndikalismus einbringt, »dessen erklärtes Ziel es ist, den politischen Kampf der Arbeiterklasse zu zerschlagen« sowie ›den ganzen sozialen Bau nach den Strukturen der großen Industrie-Imperien neu zu modellieren, die sich nach 1860 immer mehr die Massen unterwerfen.‹48 Dass es aus dieser Richtung um die Interessenvertretung der großen Industrie geht, wird auch aus Äußerungen so renommierter Autoren wie Papini und Prezzolino deutlich, die dazu aufrufen, die bürgerliche Klasse, wie sie sagen, »auf[zu]wecke«, um sie als Verbündete zu gewinnen für eine »Auferstehung der industriellen Aristokratie«.49 Im Hinblick auf die Geschichte des Faschismus spielen nicht zuletzt die Widersprüche der Ökonomie des Regimes eine entscheidende Rolle. Hier knüpfen wir an das Dilemma an, das sich in den auseinanderstrebenden Interessen im Familienbetrieb der Possanzas schon gezeigt hat, nämlich, dass die vom Regime verkündete und propagierte Industrialisierung in eine Richtung geht und ein Ziel verfolgt, die der Versorgung mit Gütern des Lebensbedarfs der Bevölkerung Beschränkungen auferlegt, in Konkurrenz tritt zur Wirtschaft des Handwerks, die substantiell verwurzelt war und noch ist als Funk-
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gehoben, dass in der Geschichte mit Ausnahme eines kurzen und unstabilen Intervalls nach 1860 der Absolutismus die einzige politische Erfahrung der Mehrheit der Italiener gewesen ist. Mehr noch, während andere Nationen durch die Reformation eine starke Dosis religiöser Skepsis und Gewissensfreiheit vererbt bekamen, waren die Italiener fast alle erzogen im Schoß einer Kirche, die absoluten Gehorsam verlangte.« (S. 616) K. Priester: ebd., im Kapitel »Die Anfänge des italienischen Nationalismus bis 1914«; S. 63 Anmerkung 20, zitiert Giovanni Prezzolino: »Die Bourgeoisie ist die Nation, die bürgerliche Organisation ist die Organisation der Nation, die bürgerliche Politik ist von Rechts wegen die Politik der Nation.« K. Priester: ebd.: siehe das Kapitel 6: »Die Ausarbeitung der nationalistischen Doktrin von 1914 bis zur Fusion mit dem Faschismus 1923«, S. 113 ff. K. Priester: ebd., S. 77; zitiert aus Paolo Ungari: Alfredo Rocco e l’ideologia giuridica del fascismo. Brescia 1963 G. Papini/G. Prezzolino: Vecchio e nuovo nazionalismo. Mailand 1914, S. 23 f., zitiert bei K. Priester: ebd., S.61
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tion der Ökonomie in der Güterproduktion für das tägliche Leben. Hier wird das Problem, das sich für Italien im Risorgimento erstmalig gestellt hat, nämlich die Konkurrenz der Kulturen zwischen Industrialisierung und handwerklicher Zivilisation in einer historischen Krise wieder aktuell, in der sich die Fronten zwischen einer mit dem Faschismus kooperierenden Industrie und dem in der Tendenz eher antifaschistischen handwerklichen Sektor, folgt man Volponi, als die widersprüchlichen Orientierungen erkennen lassen, die in der Familiengeschichte der Possanza angelegt sind und dargestellt werden. Das Dilemma besteht aber darin, dass das Regime keine Handwerker mehr braucht und sie zum Verschwinden verurteilt, aber auch keine Industriearbeiter will, weil sie ja Funktionäre und Soldaten braucht, die seine Expansion betreiben.50 Um auf den Kern des Problems zurückzukommen, war von vornherein fragwürdig, aus welchen Mitteln das Regime einen zwei- oder dreifachen Kapitalaufwand hätte bestreiten wollen: das Kapital, über dessen Verteilung das Regime ja letztlich allein verfügt,51 aufzuteilen auf die unterschiedlichsten Adressaten, und zwar hauptsächlich die Industrie, den Aufbau industrieller Strukturen, die Streitkräften, die den Eroberungskrieg führen sollen und die immer wachsende Masse der Beschäftigten in der zunehmend anschwellenden Bürokratie. Was den letzten Sektor betrifft, so wird das Regime in dem Maß zu einer Art Versorgungsstaat, wie es die Anhänger seiner Politik an sich bindet, die Anwärter auf Ämter und Führungspositionen aus der Masse der Bevölkerung. Es erweist sich also schon unter dem Faschismus, was dann in der Politik der christdemokratischen Partei eine wirtschaftlich fatale Praxis werden sollte, nämlich der Klientelismus als Politik der Erfüllung von Wahlversprechen.52 Außerhalb dieses Versorgungsspektrums bleibt die Welt der meist landlosen Bauern, die auch unter der faschistischen Regie den großen Landbesitzern rechtlos ausgeliefert waren, oder hauptsächlich auch der Rekrutierung der Streitkräfte dienten, die das Regime für seine kolonialen Eroberungspläne brauchte. Erkennbar wird hier der Zusammenhang zwischen der kolonialen Eroberung und der Besiedlung des besetzten Lands. Als Mussolini Ende 1935 den Einmarsch italienischer Truppen in Afrika befiehlt, verfolgt Damín 50 Dieser Widerspruch ist als solcher schon in der Äußerung Roccos von 1914 zu registrieren, als Gegensatz nämlich von Produktion und Distribution: Die nationale Wirtschaftspolitik, so heißt es, gehe von zwei Prämissen aus, nämlich davon, dass es »ein Problem der Produktion und nicht der Distribution des Reichtums« gibt; und dass diese Wirtschaftspolitik auf internationales Terrain übergreift, nämlich als Eroberungspolitik. (Zitiert nach K. Priester, ebd., S. 77). 51 Zum Staat als ›juristische Inkarnation der Nation‹ und seine Rolle als ›ökonomischer Staat‹ sowie zur Rolle der Banken in der Wirtschaftspolitik des Regimes: siehe K. Priester: ebd.: das Kapitel »Die staatliche Organisation der italienischen Wirtschaft im Faschismus: ›salvataggi‹ und Autarkiepolitik«. 52 Dazu in Mack Smith, Kap. 11, 1.: »La struttura organizzativa del fascismo e i suoi uomini«, S. 585ff. »Der Faschismus trug auf diese Weise dazu bei, den bei den Italienern tief verwurzelten Wunsch zu befriedigen, eine respektable Anstellung in der staatlichen Verwaltung zu finden […].« (S. 585) »Die Folge dieser enormen Zunahme der Ausgaben der Regierung und des Klientelismus wurde zur Todsünde des Regimes […].« (S. 86)
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mit großer Anteilnahme die Ereignisse im Radio und im Kino. In der Berichterstattung des Regimes verläuft der Krieg reibungslos und siegreich und findet seine Krönung mit Mussolinis Ausrufung des italienischen Kaiserreichs 1936. In den Propaganda-Filmen sah man die italienischen Soldaten im Vormarsch […], bewaffnet mit Gewehren, Bajonetten und Kartuschen, begleitet von Maschinengewehren und kleinen Kanonen auf Gummirädern […]. [129]. Der Feind, das waren die Gefangenen, in ungeordneten Haufen, mit erhobenen Händen […]. [130] Alle zeigten sich in Stimmung über die Siege und die Eroberungen, weil alle erwarteten, reich zu werden in Afrika, die Arbeit zu wechseln, auszuwandern, um zu kolonisieren ›bellissime terre‹ leicht zu bearbeiten und ertragreich an Produkten. [129]
Und auch Damín träumt davon, in dieses märchenhafte Land zu gehen, »dort zu arbeiten, eine eigene Keramikwerkstatt einzurichten, nach den Regeln des Großvaters, aber neu und anders.« [130]. Als welches beispiellose Desaster sich der ›glorreiche‹ Krieg in Äthiopien entpuppte, der ja schon mit den Kolonisierungsversuchen der 90er Jahre begonnen hatte, haben wir oben schon angedeutet, als von der Misswirtschaft und Korruption unter dem Befehlshaber Graziani die Rede war.53 Eine Vorstellung davon liefert die Bilanz, die Mack Smith in der beigefügten Anmerkung von den Defiziten des kolonialen Abenteuers gibt.54 Als eine der Figuren dieses Abenteuers kann wiederum der Chef der Faschisten von Fossombrone betrachtet werden. Aus der Sicht Damíns präsentiert sich Marcacci, wie schon zitiert, als der strahlende Kriegsheld, der mit der blanken Waffe gegen die Truppen der Eingebornen angetreten ist [128]. Doch diese militärische Begabung paart sich in seiner Person auch mit der ausgeprägten Fähigkeit, sich durch erpresserische Geschäfte zu bereichern [122]. Angeblich hängt seine Abberufung nach Rom zusammen mit den Sanktionen gegen die illegale Bereicherung. Dass er aber im Krieg auf afrikanischem Boden Karriere macht und als ›console della milizia‹ aus Afrika zurückkehrt, reiht ihn eher unter die Kriegshelden ein, die die Geschichtsschreibung in der Gestalt von Graziani, dem Vize-König von Äthiopien, als Modell der Nachwelt überliefert hat.55 Die Beschreibung, die Volponi von seinem triumphalen Einzug in 53 Mack Smith beschreibt die Lage im dritten Kriegsjahr wie folgt: »Im Februar 1937 begannen Gerüchte zu zirkulieren vom erbarmungslosen Massaker von tausenden von Abessiniern, darauf zurückzuführen, dass der Duce Graziani befohlen hatte, alle gefangenen ›Rebellen‹ zu erschießen und mit Gas gegen sie vorzugehen, wie auch das Gesetz anzuwenden ›zehn Abessinier gegen jeden Italiener‹. Man erzählte auch demoralisierende Geschichten über unglaubliche Vermögen, von Firmen angehäuft, denen die Aufträge für den Bau von Straßen und Fabriken zugeschanzt worden waren, sowie von übertrieben optimistischen Berichten über die natürlichen Ressourcen Abessiniens in der Absicht, staatliche Subventionen zu erhalten. Der staatliche Klientelismus führte unvermeidlich zu beträchtlichen Defiziten [in allen Bauvorhaben].« (S. 666- 67). 54 Wir verweisen auf die schon zitierten Äußerungen dazu von Mack Smith in der Anmerkung 27. 55 Graziani, Rodolfo (1882- 1955): »Kämpfte in Tripolis und der Cirenaica und unterwarf sie mit energischer und grausamer Repression gegen die Senussi (1931). Gleiche Me-
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Fossombrone liefert, findet sich unter der Kapitelüberschrift »Der Eroberer« und »Das Schwert des Ras«56 [133]. In der Uniform des ›Konsuls der Miliz‹, an der Seite der Gattin, »Tochter eines piemontesischen Generals« und an seinem Gürtel nicht mehr den Dolch, sondern das Schwert eines äthiopischen Herrschers, das in allen Einzelheiten beschrieben wird [133]. Die Erzählung verweilt hier lange bei den Insignien der Gewaltherrschaft: dem Speer, der zur tödlichen Waffe wird, Dolch (pugnale) und Schwert (spada), sowie als Kennzeichen der faschistischen Herrschaft die Stiefel Mussolinis, die als Überschrift in Kapitel VIII57 als Thema angekündigt werden. Über den gesamten Text dieses Kapitels erstreckt sich Occhialinis Schmährede über die Stiefel der Herren, »die stupideste aller Fußbekleidungen« [79]. Mussolini selbst wird von Occhialini, trotz aller Anmaßung, charakterisiert als die »Marionette des Kapitals«, der »Hampelmann der kapitalistischen Bourgeoisie« [25]. Was das Bürgertum betrifft und seine Bedeutung und Rolle als Fundament des faschistischen Regimes, geben Äußerungen aus faschistischen Quellen selbst zu erkennen, dass der allmähliche Abfall der borghesi von der Sache des Faschismus von diesem als Verrat empfunden worden ist, was Marcacci vor seinem Abgang aus Fossombrone auch offen zum Ausdruck bringt.58 Ein offizielles Echo findet dieser Sachverhalt in der Debatte in der Zeitschrift Critica fascista Ende der dreißiger Jahre, wo Berto Ricci, einer der Redakteure, die Solidarität des italienischen Bürgertums mit dem Faschismus unterscheidet hinsichtlich zweier Phasen des Regimes, nämlich der Phase, in der das Bürgertum als ökonomische Klasse gehandelt habe, die als solche das Regime unterstützt und ermöglicht hat, jedoch in der Endphase des Regimes nur noch als »soziale Kategorie«, in die sich die Klasse aufgelöst habe.59 Es ist aufschlussreich und für die Nachkriegsgeschichte von Interesse, dass im Hinblick auf die Verluste, die das Regime der bürgerlichen Klasse eingebracht hat, diese vom Faschismus abgelassen hat. Die Geschichte des Bürgertums in Italien ist weiter zu verfolgen über die Niederlage des Faschismus und des Krieges bis zu dem Zeitpunkt, wo Volponi sie in der Tat in seinen frühen Romanen wieder aufnimmt und zu analysieren beginnt in La strada per Roma, dem Roman, in dem die Straße wieder nach Rom führt: zurück in das des Bürgertums? Wie der Titel ursprünglich lauten sollte? Man
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thoden wandte er an in der Kriegführung gegen Äthiopien (1935- 36), über das er zum Vize- König ernannt wurde. Chef des Oberkommandos, wurde er 1941 Nachfolger von I. Balbo als Kommandant der italienischen Truppen in Nord- Afrika bis er nach einer Niederlage 1941 abgesetzt wurde. Zurückgekehrt in die Politik, war er Verteidigungsminister in der Repubblica sociale. 1945 in Gefangenschaft geraten wurde er zu 19 Jahren Gefängnis verurteilt, aber 1950 amnestiert.« (Text aus Enciclopedia Zanichelli, Bologna 1992). »Il conquistatore« sowie »La spada del Ras«. »Die Stiefel. Die Rhetorik«. In der Szene im Zirkel und auf der Piazza, als Marcacci alle und insbesondere die ›soliti borghesi‹ der Undankbarkeit bezichtigt. [122]. Diese Daten entnommen aus Luisa Mangoni: ebd., S. 545. Zu ähnlichen Erkenntnissen, aus katholischer Sicht, gelangt Don Giuseppe De Luca in Frontespizio: »Für De Luca war das Bürgertum ›die Versuchung des mittleren und amphibischen Stands‹, ›vermittelnd‹ aus Natur und keine Klasse, denn natürliche Klassen gab es nur zwei: die ›wenigen Patrizier‹ und das ›unzählbare Volk‹. […].« (Ebd., S. 545).
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fragt sich, ob Volponi mit der lange verzögerten Veröffentlichung des Romans erst abwarten wollte, welche Richtung der Weg in die erste Republik nehmen würde.
5. D IE G ESCHICHTE
IM
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DES
P ASOLINI - S YNDROMS
Unter diesem Titel soll abschließend die Familiengeschichte des Romans, die wir als das Ödipusdrama der bürgerlichen Familie verstanden haben, in den gesellschaftlichen Raum zurückgeführt werden, aus dem sie hervorgegangen ist. Wir beziehen über den Roman hinaus Texte in unsere Interpretation ein, auf die wir schon hingewiesen haben und die etwa zeitgleich mit Il lanciatore entstanden und in Scritti dal margine veröffentlicht worden sind. In erster Linie von Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die beiden Artikel, die Volponi über die Ermordung Pasolinis geschrieben und veröffentlicht hat, wovon der zweite, betitelt »Das Drama popolare im Tod von Paolini« [Il dramma popolare nella morte di Pasolini],60 dieses Ereignis schon als eine Erzählung ankündigt, von der die Gesellschaft im ganzen betroffen ist. Der Vorgang wird in der Darstellung Volponis erzählt und analysiert als ein Drama oder eine Tragödie, die wie auf dem griechischen Theater zur Urteilsfindung vor dem großen Publikum aufgeführt wird. Als solche soll sie im Folgenden beschrieben werden. Der noch jugendliche Täter, »il giovane Pelosi«, steht seinen Richtern gegenüber, die seine Tat, den Mord an dem Dichter Pasolini, zu beurteilen haben. Im Licht der »öffentlichen Meinung (die dann nur eine Figur der herrschenden bürgerlichen Kultur ist«, wird die Beziehung zwischen Mörder und Ermordeten als ein Skandal begriffen, der im Grund beide schuldig werden lässt. Aber das, so der Einwand der kommentierenden Figur, kann nicht zur Grundlage eines Verfahrens gemacht werden, weil es dem Tatverhalt den Charakter als »soziales Drama« nehmen würde. »Dieses Drama ist vielmehr noch vor uns, als die glühende Materie eines Äschylos, wo alles wieder aufzunehmen und neu zu schaffen ist: die Familie, die Gesellschaft, die Freiheit.« [24] Auf dem Spiel stehen also nichts weniger als die Grundlagen der Gesellschaft, die hier genannt werden und die verhandelt werden müssen. Die Sache, um die es geht, ist die Figur Pasolinis, des Dichters und seiner Poesie, »die Existenz des poetischen Werks Pasolinis.« [24] Ist das die Substanz , um die es geht, so ist das Verhältnis des Dichters zu seiner Mutter das bedingende Moment seines poetischen Engagements, die den Zugang zu einer Welt öffnet, die anders ist als die der institutionellen Realität, die als »la normalità« abgewertet wird. Die Mutter aber wird im übertragenen Sinn identifiziert mit der zivilen Gesellschaft, als »madre-società«, was den Sinngehalt des Worts vergesellschaftet, d.h. ausdehnt auf den Raum der Gesellschaft, wo ihr in den Institutionen eine Opposition gegenüber tritt: »Die Macht: Vater und Sohn der so genannten politischen Realität (der kulturellen und sozialen)« [20]. In dieser, wenn man so will, allegorischen Repräsentation, die den psychologischen Sachverhalt überträgt auf die Ebene der gesellschaftlichen
60 Wir zitieren aus Scritti dal margine, S. 24- 29.
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Konstitution des Subjekts, wird dann auch verständlicher, was vorangehend von der Dichtung des jungen Pasolini gesagt wird, nämlich: Seine wesentlichen Merkmale haben sich herausgebildet in dem bevorzugten Verhältnis zur Mutter während der ganzen Kindheit, der Adoleszenz und der ersten Jugend. Dieses Verhältnis ist großartig, fruchtbar an Unterweisungen und Entdeckungen […]. [Und]: Über diese Beziehung […] wählt Pasolini sein Universum, das äußere und innere, und auch die Instrumente, um es zu kennen und zu ordnen […]. [24- 25]
Der rechtliche Rahmen, innerhalb dessen der Prozess über die Ermordung Pasolinis verläuft, wird hier zeitweilig verlassen, um einem Plädoyer Raum zu geben, das die »Normalität« der Institutionen der Anstiftung zum Mord am Dichter bezichtigt. Dieser Aspekt der Rede des Kommentators wechselt ab mit der Exegese des Poetischen, das vor dem Tribunal der Öffentlichkeit verhandelt wird. In der Darstellung der Entwicklung der Dichtung Pasolinis, darauf möchten wir im Vorbeigehen hinweisen, kann man unschwer auch die ursprüngliche Auffassung der Poesie Volponis wieder erkennen. Was aber die mütterliche Bindung der Poesie bei Pasolini von der eigenen ödipalen Verankerung des Universums unterscheidet, ist, dass bei Pasolini auch der Eros poetisch ist, frei im Spiel mit den Gleichaltrigen […], in der substantiellen Unschuld der Beziehungen […], innerhalb der Gemeinschaft [comunità] […] [25]. – Es ist die große Kraft gerade des politischen Dichters [poeta civile], zusammen mit der absoluten Moralität der Beziehung zur Mutter, die ihm ermöglicht, den eigenen Ödipuskomplex nicht auf ödipaler Weise zu leben, d.h. nicht als Schuld der Verletzung der Norm und in der Bereitschaft, sich zu bessern und sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren, nur um das Recht der Normalität zu bestätigen. [25]
In dieser Charakterisierung der ödipalen Thematik im Leben und Werk Pasolinis sind eine Reihe wesentlicher Motive angesprochen, die anders als bei Pasolini die Entwicklung und Sozialisierung des Subjekts im Werk Volponis kennzeichnen: die Schuldgefühle, die Versuche der Integration, das Messen an der Normalität. Hingewiesen sei auch auf die Annäherung der Termini »poeta civile« und »Beziehung zur Mutter«, die erneut die Zivilgesellschaft an die Mutter bindet. Während die mütterliche Dimension der Gesellschaft auch mit der ökonomisch notwendigen Arbeit verbunden wird, was die Bezeichnung »madre industriale« anzeigt, ist die väterliche Macht, als die beherrschende ökonomische Autorität [autorità economica], die institutionell herrschende und vorherrschende Normalität, die ihr wahres Gesicht hinter der »permissività« verbirgt und dem Menschen die Freiheit ihrer Gefühle nur vorgaukelt, die die Macht in Wirklichkeit sich als Bremse, Bindung und Regel der Unterwerfung dienstbar macht. [269] Die Homosexualität Pasolinis liegt jenseits des zu Duldenden und kann deshalb auch moralisch nicht sozialisiert werden. Dem unermüdlichen Bemühen des »poeta civile«, die Blockierung der Gefühle in der Kultur des Bürgertums aufzubrechen, setzt die Macht unüberschreitbare Grenzen. Und dass Pasolini das erkannt hat, begründet vermutlich – oder signalisiert zumindest – auch das Ende seines Glaubens an die Macht der Poe316
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sie, die mit dem Film Salò o le 120 giornate di Sodoma das Aufgeben auch einer historischen Hoffnung versinnbildlicht. Der Film über den Ekel der bürgerlichen Macht, wo die Depravierung sich aus der zynischen Nachsicht der Autorität erklärt, sollte bezeugen, dass hier auch die Macht der bürgerlichen Normalität an ihr Ende gelangt ist [27/28]. Schließlich kehrt der Kommentator zurück zu der Gerichtsszene und in einer Art unwiderrufbarem Richterspruch verkündet eine Stimme: »Er ist ausgelöscht worden im Namen der Norm und der Gesellschaft, die sie stützt und von ihr gestützt wird.« [28] Die dieses Urteil begründende Instanz hebt hervor, dass der Täter nicht allein gehandelt habe, sondern legitimiert und beauftragt von der Allgemeinheit, in Verteidigung der herrschenden Kultur [28]. – Diese ist der wahre historische und gesellschaftliche Täter, der getötet hat in kollektiver Befugnis, im Namen unserer Gesellschaft und ihrer Normen […]. [29]
Hinzugefügt wird aber auch, dass dieses Todesurteil ihr selbst gilt, der »cultura dominante« und ihrer Macht, als Schlussakte eines Prozesses, der diese enthüllt und der der Sache eine historische Bedeutung verleiht. [29] Diesem Nachruf Volponis auf den Tod Pasolinis, den er in Form eines »dramma popolare« inszeniert, geht ein Artikel voraus, der kurz und bündig Un delitto politico betitelt ist. Die Ermordung Pasolinis ist ein politisches Verbrechen, das diejenigen zu verantworten haben, die Pasolini seit langem verfolgt haben und die ihn jetzt hinrichten lassen; ein politisches Verbrechen, geplant und organisiert durch die dunkelste der Fraktionen unserer Gesellschaft, ausgeführt dann von fanatischen Gefolgsleuten und bedenkenlosen Mördern. [20]
Was politisch auf die Dauer nicht akzeptiert werden konnte, war die Kritik Pasolinis an einer Kultur, die er ab 1963 schon mit den Tendenzen einer neokapitalistischen Ära identifizierte. Mit der sich anbahnenden Vorherrschaft neuer Techniken der Massenkommunikation kündige sich an, was Pasolini als die Mutation der Kultur und den Bruch mit der historischen Kontinuität begriffen hat, nämlich die »Anziehungskraft des Neokapitalismus auf die Durchschnittsmentalität«, mit der Pasolini diesen Bruch identifiziert. Und Volponi zitiert aus einem Artikel Pasolinis aus L’Unità: Eine schreckliche ›Neue Vorgeschichte‹ wird das Fundament des Neokapitalismus sein am Ende der klassischen Anthropologie, die im Sterben liegt. Die Industrialisierung auf der Linie des Neokapitalismus wird dazu führen, die Geschichte in ihren Keimen auszulöschen… 61
Bemerkenswert ist diese Einschätzung, weil sie zeitlich zusammenfällt mit der Geburtsstunde der Neoavanguardia in Italien , in der der neu sich formierende Gruppo ’63 den Bruch nicht nur mit der traditionellen Literatur ankündigt, sondern ihn auch ausdehnt auf das Gesellschaftsverständnis insgesamt, ein Bruch also, der wie bei Pasolini und Volponi auch politisch motiviert 61 Im Text Volponis zitiert auf S. 21.
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wird. Hinzuzufügen wäre, dass diese kritische Einstellung zur literarischen Tradition zeitlich einhergeht mit der Kontestation der bürgerlichen Kultur in den Protestbewegungen der 60er und frühen 70er Jahre, parallel also zu den kritischen Analysen Volponis in den Scritti dal margine. Der Beitrag dieser Artikelserie zur Faschismusanalyse wäre in erster Linie darin zu sehen, dass hier die Sachverhalte der ökonomischen Verbindung des Kapitals mit dem Faschismus wieder aufgegriffen und in ihrer Beziehung zu einem inzwischen voll entfalteten Neokapitalismus gezeigt und beschrieben werden. Wie in dem Artikel Die große Krise und die kleinere dokumentiert, wird unter der großen Krise die Geschichte der fehl gelaufenen Einheit Italiens verstanden, die dann in die Verhältnisse des Faschismus mündet. Unter faschistischer Regie werden dann die kapitalistischen Kriterien eingeführt und durchgesetzt, die die Neuverteilung der Einkommen und des nationalen Reichtums in die Wege leiten. Die Artikel aus Scritti dal margine zeigen diesen Verlauf in mosaikartigen Bildern und anschaulichen anekdotischen Erzählungen. Sie illustrieren das Verhältnis der Politik zur privaten Aneignung von Gütern, Kompetenzen und Dienstleistungen – und entsprechend niedrigen Arbeitslöhnen, Eine der Erzählungen, unter dem Titel Der Fortsetzungsroman vom Geld – Il romanzo d’appendice monetario, fasst das in einer kleinen Geschichte zusammen. Sie handelt von der italienischen Familie, die ihre Tochter, die Lira, so teuer wie möglich auf dem Heiratsmarkt an den Mann bringen will, obwohl sie keine große Mitgift verspricht. Die Familie der Lira scheint nicht viel anderes zu haben als die Anmut und die Jungfräulichkeit der Tochter, die im übrigen keine großen Gaben und keine Bildung besitzt: sie kann gehorchen, Soßen machen, den Tisch decken und wieder abräumen. [34]
Jeder weiß aber, so der Kommentar zu dieser Heiratspolitik, dass sie, die Lira, schließlich als Dienstmagd dem Dollar anheim fallen wird, und dass der ganze Aufwand nur dazu dient, das Mädchen in einer möglichst angemessenen Weise los zu werden, sie mit einem beharrlichen Bewerber zu verheiraten und aus ihr die immerwährende Dienstmagd als Gattin zu machen, wie in vielen Ehen, die aus Interessen geschlossen werden […]. [34]
Mit dem Herausputzen der Lira aber soll schamhaft verdeckt werden, dass die Familie Stück für Stück von ihrem Ererbten verkaufen muss, nur um das Renommee zu wahren und nicht arbeiten zu müssen. Im Klartext indiziert das die Verknappung der nationalen Ressourcen und ihre Vergabe an private Aneigner und damit den Wertverlust der öffentlichen Güter und die Verringerung sozialer Ausgaben, in der Ära des Faschismus begonnen und fortgesetzt ab 70er Jahre im Klientelismus der ersten Republik, worauf die Fabel Volponis direkt anspielt. Eine zusätzliche Metapher, nämlich die Lira als Mond am Himmel der Werte, dient dazu, den Schein der Valuta als abhängig von den Gezeiten zu illustrieren. [34] Seinen Kommentar beschließt der Erzähler mit der Feststellung:
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Il lanciatore di giavellotto Und die so begriffene Verteidigung der Lira heute […] ist die Verteidigung des gegenwärtigen Systems, seiner Grenzen und seiner gesamten Ineffizienz. […] Man muss also die gesamte soziale und ökonomische Ordnung austauschen und sich aus dem Kopf schlagen die Strahlen der ›lira- luna‹, von der oben die Rede war. [35]
Der Wertverlust, den die hier zugrunde liegenden ökonomischen Systeme verursachen, zeigt sich an der Verminderung des gesellschaftlich verfügbaren Reichtums und an den Folgen einer Einkommensverteilung, die immer noch die Entlohnung unproduktiver Beschäftigung unproportional begünstigt.62 Die Analysen, die Volponi nach dem Erscheinen von Il lanciatore 1975 der Finanzmisere des christdemokratischen Regimes widmet und die wir vorangehend zusammengefasst haben, setzen ein mit den Kommentaren zur Ermordung Pasolinis im gleichen Jahr. Die Nähe dieses Ereignisses zu der im Roman behandelten Problematik rechtfertigt die Einbeziehung der Thematik dessen, was wir als das Pasolini-Syndrom gekennzeichnet haben, und das um so mehr, als der Mord an Pasolini auf die Gefährdung hingewiesen hat, die auf eine Neubelebung des Faschismus im Italien der Bombenattentate schließen lässt. Zu fragen wäre aber, in welcher Beziehung der Tod Pasolinis zu der Figur des Subjekts zu sehen ist, das Volponi in Damín offenbar darzustellen beabsichtigt als die Verkörperung eines gesellschaftlichen Bewusstseins, das zu seiner Selbstauslöschung führt. Hier erweisen sich der Lebensverlauf und die Anlagen der beiden Figuren als völlig verschieden. Ihr Tod erst bringt sie insofern wieder näher, als sie beide zu Opfern werden einer Konstellation, die der Roman im Kräfteverhältnis der Zivilgesellschaft und der ökonomischen Macht im Konflikt miteinander spiegelt. Er gibt sie wider in einer allegorischen Darstellung psychoanalytischer Konfliktmomente zwischen männlichen und weiblichen Einflüssen auf das Subjekt, die auf das Gesellschaftliche übertragen werden: in der Zuflucht der jungen Generation zu einer mütterlichen Gesellschaftlichkeit vor den Anmaßungen und der Gewalttätigkeit einer väterlichen Autorität; einer Zuflucht aber, die vor dem Realitätsprinzip der Herrschenden keinen Bestand hat und die widerständigen Jungen in die psychischen Labyrinthe treibt, aus denen sie erst mit der Befreiung aus dem Faschismus wieder herausgefunden haben. Das Scheitern und der Tod Damíns auf der einen Seite, die Weiterführung des Kampfs gegen den Faschismus im Leben Pasolinis auf der anderen, sind die paradigmatischen Beispiele der Vergesellschaftung dieser Erfahrungen. In Memoriale, dem ersten Roman des Schriftstellers, knüpft Volponis Geschichtsschreibung offenbar an die Erfahrungen an, die die Kriegsgeneration mit hinüber nimmt in eine Zeit, die für sie vom Nullpunkt wieder beginnt und die das Alte aber mit hinüber genommen hat.
62 Gemeint ist hier der schon erwähnte Klientelismus v.a. der regierenden Democrazia Cristiana, was von Gramsci aber schon in der Vorkriegsgesellschaft als der Parasitismus der nicht produktiven Einkommen gebrandmarkt worden ist.
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Kapitel 8: Le mosche del capitale Der Kampf um die italienische Industrie und der »Historische Kompromiss« Es gab in den Jahren ’57- 60 eine Phase des »blinden« Vertrauens, als ich den ganzen Tag arbeitete, damit die Fabrik fortbestand, an die ich glaubte als die Quelle des Wohlstands, der zivilen Energie, der Lehren für die öffentliche Verwaltung, die Universität, die Kommunen […]. Aus Officina prima dell’industria, in Romanzi e prose I, S. 1068- 69.
Le mosche del capitale ist der letzte Roman Volponis, sieht man ab von dem erst 1991 veröffentlichten Manuskript von 1962 La strada per Roma, den Roman, der La Repubblica borghese hätte heißen sollen. Durch die späte Veröffentlichung, so könnte man sagen, wird ein Zusammenhang hergestellt zwischen der Thematik in Le mosche del capitale, dem Kampf um die italienische Industrie, und dem Ende der ersten Republik, der Thematik, die in La strada per Roma offengelassen worden war. Das absehbare Ende der ersten Republik in den 90er Jahren ist gleichsam die Antwort auf die Frage von La strada, wohin ihr Weg nach dem Ende des Kriegs und der Befreiung vom Faschismus führen wird.
I. Die Geschichte: Die 70er J ahre, die »große Krise« und der »Compromesso storico« Die Zäsur, die mit dem Begriff der Krise verbunden ist, wie sie Volponi in seiner Schrift Die große Krise und die kleinere zugrunde legt, ist zu datieren auf den Beginn der 70er Jahre, wobei die aktuelle Krise der wirtschaftlichgesellschaftlichen Verhältnisse Italiens von Volponi verstanden wird als die Zuspitzung der »großen« Krise, die zurückgeht auf die Wurzel des Problems, das Risorgimento und den Ausschluss der unteren Klassen aus dem Konsens der nationalen Einheit. Man könne unterscheiden, so Volponi, die große, historische Krise, hervorgerufen durch das zivile und demokratische Anwachsen der Volksmassen und in seinem Gefolge den Druck auf den Staat und seine Strukturen, sowie auf der anderen Seite die kleinere Krise der nationalen Ökonomie und ihrer Systeme. [53]
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Liest man aus dieser Sicht die fünf Artikel, die in dem genannten Essay-Band unter dem Titel Un piano marginale zusammengefasst und veröffentlicht worden sind, so vermittelt das schon eine Vorstellung von den ökonomischen Problemen, die den Hintergrund von Le mosche del capitale bilden. Die Problematik des ersten dieser Essays, betitelt Der Fortsetzungsroman des Geldes [Il romanzo d’appendice monetario], wovon vorangehend schon die Rede war, handelt von der Finanzpolitik der Regierung, unter Federführung der DC, unter der die effektive Geldentwertung durch die inflationäre Vermehrung des Geldvolumens lediglich kaschiert worden ist. Der zweite Artikel der Serie Der Streit über die Arbeitskosten [La contesa sul costo del lavoro], greift das Argument der zu hohen Löhne als eine der Strategien des Kapitals auf, um die Arbeitskosten niedrig zu halten und die Gewinne der Unternehmen von den Sozialleistungen zu befreien. Hier zeichnet sich schon das Konfliktpotential ab, das die Handlung des Romans motiviert, in der Hauptsache der Antagonismus von Arbeit und Kapital sowie das Gefälle zwischen Lohn und Profit. Gemeinsam ist allen diesen Beiträgen, dass Volponi die angesprochenen politischen Themen als Momente einer Krise sieht, die die Situation der 70er Jahre – d.h. die »kleinere« Krise – als Folge lediglich der »großen« Krise, erscheinen lässt, d.h. des Ausschlusses der gesellschaftlich marginalisierten produzierenden Klassen aus der Verfügung über das Arbeitsprodukt. Daran wird die Erwartung geknüpft, dass die Situation herangereift sei für eine entscheidende historische und politische Veränderung. Die Krise ist geschichtlich, weil die demokratische Republik, die auf die Arbeit gegründet ist, endlich so stark geworden ist – auch gegen unendliche Widerstände –, um den alten Staat aus den Angeln zu heben und zu ruinieren, den fälschlichen Staat der Einheit, den in Wirklichkeit autoritären und zentralistischen Staat, gegen das Volk errichtet und ausgebaut vom historischen Block der um die piemontesischen Monarchie gescharten Kräfte, der grundbesitzenden Aristokratie, des Kapitals, der Bürokratie, der Kaste des Militärs. [Aus I margini della crisi, 44].
Der Volponi der 70er Jahre, in denen die Handlung des Romans spielt, spricht hier als Zeitzeuge und Chronist der politischen Ereignisse im Fahrwasser von ’68/69 sowie des Aufstiegs der KP zu ihren Wahlerfolgen von 1975/76. Mit einer gewissen Berechtigung kann er darauf zählen, dass sich die politische Lage zugunsten der Kräfte verändert, die dem System der vereinten Reaktion den Kampf angesagt haben. Der alte historisch Block ist zerbrochen [heißt es in »I margini della crisi« von 1976]. Der Staat ist nicht mehr in der Lage, die Volksmassen unter Kontrolle zu halten und er fesselt die Basis der produktiven Arbeit; […]; die Rendite […] verarmt das Finanzvolumen, indem sie ihm Gelder entzieht oder diese versteckt; die Bürokratie wird von der Verwaltung bedient; die Industrie ist in einer strukturellen Krise und ineffizient, die letzte auf den internationalen Märkten, weil sie keine Forschung betreibt und nicht investiert. [46]
Gestützt auf diese Einschätzung rechnet Volponi damit, dass zum Erfolg führen könnte, was das Programm der KP als »Historischen Kompromiss« propagiert: 322
Le mosche del capitale Die Krise macht aus den Massen ein Volk, weil sie die Gesamtheit des Lebens umfasst, die Lebensgründe und die Wahrheiten wie die Ängste […]. Sie macht die Situation bewusst, in der sich jeder befindet zusammen mit den anderen. In der Krise bestätigt sich Tag für Tag der Einheitswille des italienischen Volks. [47]
Und zurückgehend wieder auf die verfehlte nationale Einheit von 1860/70: Wiederentstehen tatsächlich auch alle Kräfte, die die schlechte Einheit zerstreut und begraben hat: die 50 großen Städte der Freiheit, der guten Verwaltung, der wissenschaftlichen Forschung, im Innersten aufgerufen von einer wirklich geschichtlichen Chance der nationalen Einheit als des Werks aller, ohne vorher ausgehandelte Pakte und Privilegien, nach den Vorstellungen von Leopardi und Cattaneo, von Gramsci und Gobetti.
Und Volponi schließt: Dieses Italien kann dieser Krise mit Optimismus begegnen […]. [47]
Wir haben diese Erwartungen so ausführlich resümiert, weil sie deutlich machen, welchen Hoffnungen sich der Autor der Scritti dal margine hingegeben hat in der Phase zwischen seinem Ausscheiden bei Olivetti (1971) und seiner befristeten Anstellung bei Fiat, die mit seinem Wahlaufruf zugunsten der Kommunistischen Partei (1975) ein jähes Ende findet.1 Aus dieser Erfahrung des Schriftstellers, der beginnt, sich im Kampf der KP für einen Wechsel in der Regierung des Landes zu engagieren, ergeben sich in unserem Zusammenhang wertvolle Aufschlüsse bezüglich der Interpretation der Schlüsselfigur des Romans. Sie konzentrieren sich vor allem auf die Handlungsweise Saraccinis, des Subjekts Volponis in dieser Phase des Werks, die unterschiedliche Interpretationen erfahren hat. Hat Volponi zeigen wollen, dass sein Kampf um »die Rettung der italienischen Industrie« ein illusionäres Unternehmen war, das als Politik der italienischen Linken in einer entscheidenden Phase auf einer irrtümlichen, ja falschen Strategie beruht hat? Oder ist die Figur Saraccinis so konzipiert, dass ihr Engagement in diesem Kampf nicht nur ernst zu nehmen ist – und nicht unterschwellig ironisch in Frage gestellt wird –, sondern auch in zutreffender Weise die Wendungen und Peripetien dieses Kampfes wiedergibt, wie er der Realität der »bleiernen Jahre« entsprochen hat? Auf diese Frage eine überzeugende Antwort zu finden, wird vermutlich davon abhängen, wie der Roman Volponis gelesen wird und welche Daten aus anderen Schriften des Autors hinzugezogen werden können, die ein ergänzendes Licht auf die Interpretation der Romanhandlung werfen.2 Hinge1
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Emanuele Zinato resümiert diese Episode in der kritischen Ausgabe Bd. I, S. LXXIII wie folgt: »Seit Anfang 1975 ist er [Volponi] Generalsekretär der Fondazione Agnelli; als seine Entscheidung bekannt wird, für die Kommunistische Partei zu stimmen […], verlangt die Fiat seine sofortige Demission. Nach der Wahl, die siegreich für den Pci verlaufen ist, möchte Gianni Agnelli ihn wieder in die angesehene Funktion zurückholen, aber Volponi lehnt ab.« Das trifft insbesondere auf die Lyrik ab Con testo a fronte von 1986 zu, von der – mit Bezug auf den Roman – Volponi selbst, wie Zinato berichtet, den Titel I versi del romanzo erwogen haben soll. Emanuele Zinato schreibt: »In Con testo a fronte (1986)
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wiesen sei aber noch auf eine Äußerung Volponis, in der er selbst den Protagonisten seiner Romanhandlung als negative Figur bezeichnet, wobei aber damit die negative Lebenserfahrung des Helden in seinem Roman charakterisiert wird und diese Einschätzung gemünzt ist auf die Theorie des europäischen »Bildungsromans«.3 Was dagegen dafür spricht, dass Volponi dieser Figur einen strategischen Wert im Handlungsgefüge des Romans zugedacht hat, ist die Tatsache, dass er selbst sich für die Politik der Kommunistischen Partei engagiert, die eben diese Ziele propagiert und verfolgt. Im Interview mit Emanuele Zinato in den Scritti dal margine hebt Volponi noch einmal eigens die Identität seiner Sicht mit der des Parteisekretärs der Kommunistischen Partei hervor: Es sind die Jahre, in denen Berlinguer von Sparmaßnahmen sprach und in denen die Industrie einen anderen Weg hätte einschlagen müssen, den forcierten Liberismus hätte aufgeben und eine Wirtschaftspolitik der Planung aufnehmen müssen. Die Planung ist das Wesen der Demokratie, ohne sie gibt es keine wirkliche Demokratie, gibt es Korruption und Komplizenschaft, die jetzt dramatische Ausmaße angenommen haben. [173]
Dass diese Erwartungen einer tatsächlichen Veränderung im politischen Panorama als möglich und bevorstehend eingeschätzt wurden, zeigt die Äußerung Asor Rosas in L’Unità unmittelbar nach dem Wahlerfolg der Partei 1976, in der er im Sog der Partei »Bewegungen noch größerer Tragweite« im Entstehen sah.4 Doch, so Gianfranco Bottazzi, einer der Chronisten der Autonomie-Bewegung,5 waren groß auch die Risiken, die aus der Unbestimmtheit der Ziele der außerparlamentarischen Linken resultierten, was nicht zuletzt auch Volponi so sieht, wenn er die Frage des politischen Potentials der Bewegung in den Scritti in Verbindung mit der Politik der KP charakterisiert. Volponi spricht generalisierend von den »giovani« (der jungen Generation), womit er die »Bewegung, il movimento del ’77«, in ihrer Gesamtheit meint.
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begegnen wir demselben Szenarium wie in Le mosche del capitale und derselben Art diskursiver Rede […]. Die Gedichtsammlung und der Roman sind zwei parallele Produkte ein und desselben Arbeitsprozesses.« (Romanzi e prose, Bd. III, S. XXIV). Der Zusammenhang, in dem diese Äußerung fällt, ist von Zinato in seiner kritischen Ausgabe hinreichend dargestellt worden, und zwar auch in Bezug auf die zitierte Romantheorie. Die in dem Interview mit C. Toscani geäußerte Feststellung Volponis lautet: »Saraccini ist eine Person, die Kultur hat, Erfindungsgabe, aber er ist eine Figur der Macht, eine negative Figur. Wie Julien Sorel in Rouge et Noir von Stendhal, der eine negative Person ist, aber dazu dient, um viele Dinge zu sagen und die Widersprüche einer Gesellschaft verständlich zu machen, von der er dann unvermeidlicher Weise überwältigt wird. Saraccini ist nichts anderes als eine Fliege des Kapitals«. (Bd. III, S. XI, Anm. 5). Asor Rosa schreibt: »Die Wahlen des 20./21. Juni sind Wahlen des Übergangs: sie haben Tendenzen zur Erscheinung gebracht, bestätigt und zum Teil lautstark aufgedeckt, die seit Jahren in der italienischen Gesellschaft in Gärung waren, die noch nicht als abgeschlossen zu betrachten sind, sondern ihrerseits Entwicklungen ankündigen von noch größerer Tragweite […].« Zitiert aus Gianfranco Bottazzi: Dai figli dei fiori all’autonomia. Bari: De Donato, 1978, S. 196. G. Bottazzi: Ebd., S. 196- 97.
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Es kennzeichnet sie, wie er es nennt, »die Wut der Jugendlichen« [la rabbia giovanile], die ihren Ausdruck findet in »einem gewissen Übermaß des ›Politischen‹«, was in der folgenden Äußerung präzisiert wird: Diese Universalität des Politischen ist die ästhetische Manifestation des »Kollektivs«. Sie verbindet sich mit einer systematischen Abwesenheit von »Kritik«, im historischen Sinn, und folglich auch der Analyse der fehlenden Legitimität des politischen Systems […]. [63] In ihrem Wesen noch abzuschätzen wäre aber der Wert dieser Autonomie und ihr Beitrag an Fantasie und Energie für die Erneuerung der Gesellschaft. [64- 65]
An diesem Ansatz der Beschreibung des politischen Kampfs der Bewegung gegen das Regime des Kapitalismus ist kennzeichnend, dass Volponi vom Standpunkt der älteren Generation spricht und urteilt, in gewisser Weise von dem eines Paternalismus, der den politischen Kampf gleichzeitig wieder in Verbindung bringt mit den Konflikten der Familiengeschichten, so dass die ödipale Motivation der Handlungsweise der Jungen im Hintergrund der Handlung mit bestimmend wird, wenn Volponi in Le mosche del capitale den jüngeren Saraccini mit der väterlichen Figur von Nasàpeti konfrontiert. In ihrer Kontestation des Regimes haben sich die »giovani« gegen alles aufgelehnt, auch gegen die Partei. »Und hier hat sich zu ihrer Wut der Schmerz gesellt wegen des Ressentiments gegen einen Vater, der sie enttäuscht hat, im Grunde wie alle Väter […]«. [Scritti, 64] Das aber, so schließt Volponi, »ist per se ein falsches Problem«, weil es im Grunde der Strategie zuwider läuft, die Energien und Bedürfnisse der Bewegung einzubinden in »einen Plan der Erneuerung der Republik, im Interesse einer kompletten Neuordnung des Staates […]«. [Scritti, 65]6 Exkurs zur Strukturfrage von Politik und Ökonomie
Worin aber dieser für die revolutionäre Veränderung der Verhältnisse wichtige Beitrag des movimento besteht, wird schon im Titel des zitierten Artikels Die Jugendlichen, die Währung, der Markt angedeutet, der in der Substanz die Marginalisierung der Jugendlichen, ihre Abkoppelung vom Arbeitsprozess thematisiert. Und das führt zur zentralen Thematik des Wertverlusts der Arbeit zurück, die in den Schriften über die Krise der 70er Jahre die politischen Fragestellungen wieder ins Ökonomische überleitet oder übersetzt. In Volponis Analyse der Autonomie wird im Grunde das politische Phänomen der Arbeitslosigkeit oder der aus dem Arbeitsprozess Ausgeschiedenen auf seine ökonomische Substanz zurückgeführt. Die Strategie der Unternehmen auf dem Arbeitsmarkt besteht darin, die Arbeitskosten so niedrig wie möglich zu halten und damit entsprechend den Wert der Arbeit zu senken, der bei den Lohnarbeitern als Kaufwertverlust zu Buche schlägt. Diese den Arbeitsmarkt betreffenden Probleme werden im Roman integriert in die übergreifende Thematik der Industrie, in der sich der Arbeitskampf ja abspielt. Wie die hier 6
Nach den Wahlerfolgen der Kommunistischen Partei (15.Juni 1975 und 20. Juni 1976), die in die Phase des historischen Kompromisses fallen, ist die Erwartung einer »neuen Phase der Politik« auf ihrem Höhepunkt. »Die neue Phase der Politik, die mit dem 20. Juni eröffnet wurde, wird geboren auch auf der Grundlage radikaler Hoffnungen auf einen Wandel in der Gesellschaft […].« (Gianfranco Bottazzi: Ebd., S. 201).
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diskutierten Fragen des Werts der Arbeit aus der Sicht der Industrie gesehen und beurteilt werden, erläutern im Interview mit Zinato die Äußerungen Volponis über den Geldverkehr in der Industrie, ihre Wertschöpfungen am Rande der Legalität und ihre Abhängigkeit von den Banken, kurz vom Finanzmarkt, der dem Arbeitsmarkt konträr gegenüber steht. Zum Argument der zu hohen Arbeitskosten bemerkt Volponi: Die italienische Industrie suchte die Entschuldigung dafür, dass sie nicht investierte und nicht über ausreichendes Kapital verfügte, immer in den hohen Arbeitskosten. Die italienische Industrie hat nie richtig an sich selbst geglaubt, sie ist unsicher, hat kein Kapital, greift auf die Ersparnisse der Banken zurück [die Ersparnisse, die in den Banken deponiert werden], und auf die Manöver von Mediobanca [die für den Industriesektor wichtigste Bank, die im Roman auch erwähnt wird]. Die Industrie hat sich wenig selbst finanziert […]. Es hat eine wahre Flucht aus der sozialen Verantwortung gegeben, jeder hat für sich Geld entliehen und das alleinige Ziel war, reich zu werden. Das ausgerechnet wurde in den 80er Jahren das Erste Gebot und die Fata Morgana von allen: selbst die Regierung beteiligte sich daran. Immer wurden die Arbeitskosten als Rechtfertigung der Schwächen und der geringen Leistungsfähigkeit der italienischen Industrie angeführt. [175]
Die italienische Industrie gerät – im Fahrwasser des multinationalen Kapitalismus, wie auch andere Industrieländer – zunehmend in die Abhängigkeit der Banken und des multinationalen Kapitals. Mit dieser Anknüpfung der Thematik der Wertkategorie an das, was als die Quelle des Reichtums zweiten Grades, im Sinne einer zweiten Natur, betrachtet werden kann, d.h. die den Geldverkehr steuernden Banken, wird die Dimension erkennbar, die im Handlungsgeflecht des Romans die Fäden im Hintergrund zusammenführt und nur in der zentralen Begegnung der Industriemanager mit dem Bankbeauftragten einen Augenblick in Erscheinung tritt. In keinem der Werke der Literatur wird eine ähnlich eindringliche Darstellung der über die Schicksale von einzelnen Personen und ökonomischen Verbindungen bestimmenden Macht der Banken bis in die Handlungsstruktur hinein in vergleichbarer Anschaulichkeit dargestellt wie in Volponis Le mosche del capitale. Um die Komplexität dieses gesellschaftlichen Phänomens in der erzählerischen Darstellung im vollen Umfang deutlich zu machen, greifen wir wiederum auf Texte zurück, die als Zeitdokumente in die Erzählung Volponis einzufügen wären und diese ergänzen oder illustrieren. Eines der einschlägigen Dokumente ist vermutlich die Chronik der 70er Jahre aus der Sicht des Kollektivs Primo maggio, betitelt Das Volk der Maulwürfe [La tribú delle talpe], herausgegeben von Sergio Bologna.7 Nach wie vor geht es um die Kategorie des Werts, der am Einkommen zu messen wäre, das vom Sozialprodukt auf die Arbeiter, die Produzenten entfällt. Das Sozialprodukt also ist die Summe der Leistungen, durch Arbeit erbracht und u.a. im Geldwert zu verrechnen. Es ist das Äquivalent der aufzubringenden Arbeit, dem das Geldvolumen entspricht, das in Kapital verwandelt wird oder für Ausgaben zur Verfügung steht, worunter auch der Anteil zu rechnen ist, 7
Bologna, Sergio (Hg.): La tribú delle talpe, Collettivo di »Primo Maggio«, Mailand: Feltinelli 1978.
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der auf Zahlungsansprüche gegenüber dem Staat entfällt. Der Summe des Aufkommens durch Arbeit und Dienstleistungen stehen gegenüber die Ausgaben aus den Einnahmen des Staats und die Entlohnung von Arbeit durch das Kapital. Dass es in dieser Bilanz ein Ungleichgewicht gibt, kennzeichnet das kapitalistische Regime insgesamt, die unverhältnismäßige Aneignung von Geldmengen durch das Kapital gegenüber der Arbeit; im nationale Maßstab aber auch zurückzuführen auf die Praxis der italienischen Regierungen, ihrer Wählerschaft beträchtliche Vergünstigungen einzuräumen und die Löhne der Arbeiter niedrig zu halten, den clientelismo.8 Erkennbar wird hier die Klassenstruktur des historischen Blocks, auf die Volponi in den Scritti dal margine schon hingewiesen hat. Im Kräfteverhältnis der Gesamtgesellschaft sind diese Strukturmerkmale aber auch umzudefinieren in Merkmale der gesellschaftlichen Funktionen, auf deren Interdependenz die Gesamtstruktur beruht und das wären die Funktionen des Staats, der Politik, der Ökonomie und der Kultur, die wir in Le mosche del capitale als die Bereiche wieder finden, zwischen denen oder in welchen sich der zentrale Konflikt im Kampf um die italienische Industrie abspielt, nämlich zwischen der Politik des historischen Kompromisses und der von den Banken dominierten Ökonomie. Was als »produttività sociale« bis zur Kapitaloffensive der 70er Jahre gegolten hatte und was dem Wertvolumen des Sozialprodukts entsprach, wird mit der Entflechtung der Produktion und ihrer Zerstreuung auf die Regionen in ihrer Zusammensetzung in dem Sinne neu interpretiert, dass nicht mehr die Arbeit in der Produktion sondern der Umsatz von Kapital als Quelle des Wirtschaftswachstums, des Sozialprodukts und des Reichtums zu betrachten seien.9 Das aber hat Folgen im Hinblick auf die Strukturen des Gesellschaftlichen in ihrer Gesamtheit; denn diese Dominanz des Kapitalinteresses über die Entscheidungen im Produktionsprozess droht, das Moment des Politischen aus der Mitwirkung an der Verfügung über das Sozialprodukt auszuschließen oder – aus einer anderen Perspektive gesehen – zwingt dazu hinzunehmen, dass das ökonomische Interesse sich gegenüber dem politischen durchzusetzen beginnt und teilweise direkt die Funktion des Politischen besetzt. Das ist der Zustand, den Volponi in den Scritti dal margine und dort insbesondere in Die große Krise und die kleinere beschrieben hat und den er in Der Fortsetzungsroman von der Währung als den Wertverlust des Sozialprodukts geißelt, der sich im Kaufwertverlust der Lira spiegelt, der pulzella, die auf dem Heiratsmarkt des Geldes für den Schein zu sorgen hat. Dass es 8
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Sergio Bologna (in dem hier zitierten Dokument S. 8) beschreibt an dieser Stelle das System des clientelismo, der Begünstigung in der Verteilung der Mittel des Sozialprodukts zugunsten der Wählerschichten der regierenden Democrazia Cristiana sowie der Steuerbegünstigung der ihr nahe stehenden Sektoren (Landbesitz und Handel). Der Wert der Arbeit wird damit in einer Weise in Frage gestellt, die dazu führt, den Faktor Arbeit bei der Wertzumessung des Produkts aus dem Produktionsprozess ganz auszuschließen. Dazu Giuliano Buselli und Mario Zanzani in Sistema politicosocietà in der von S. Bologna herausgegebenen Schrift: »Die gesamtgesellschaftliche Produktivität hängt immer weniger ab von der Beziehung zur Arbeiterklasse und immer mehr von der kapitalistischen Vergesellschaftung und Organisation, tendiert dazu, autonom zu werden gegenüber der Produktion.« (In Sergio Bologna, ebd., S. 101).
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auf diesem um mehr als Profite geht, nämlich um die Werterhaltung des Sozialprodukts, für die die Politik zu sorgen hat, ist in den Scritti von einem politischen Standpunkt aus immer wieder hervorgehoben worden, nicht zuletzt im Hinblick auf eine »Demokratie als Planung, die, frei gewählt, darüber entscheidet, wie und wo Italien arbeiten wird.« [175-76] Die Ausdehnung des »Wertgesetzes«, wenn es ein solches gibt, vom Bereich der Ökonomie auf den der Zivilgesellschaft, dem Ort der Umsetzung von Kapital in Güter des Gemeinwohls, wird von Bologna in seiner zitierten Schrift in diesem Sinne verstanden. Wert ist für ihn eine Kategorie, die herrührend aus dem ökonomischen Bereich menschlicher Tauschbeziehungen ihre Gültigkeit erst noch einmal bestätigt findet in der Umsetzung des Geldwerts in Leistungen der Zivilgesellschaft und deren Sozialisierungsziele. Wie der Äußerung Bolognas zu entnehmen ist, scheint diese Umsetzung in soziale Werte aber in den 70er Jahren so extrem in Frage gestellt, weil die gesellschaftlichen Strukturen selbst in ihren Funktionen als Staat, Politik und Ökonomie ihrem Wortsinn nach nicht mehr real existieren, sondern nur noch als Form vorspiegeln, was sie in Wirklichkeit nicht sind. Im Kampf um die italienische Industrie geht es im Grunde um den Antagonismus von Politik und Ökonomie, wobei auf beiden Seiten auch widerstrebende Richtungskämpfe in Rechnung zu stellen sind, so dass der Kampf auch darum geführt wird, welche der Tendenzen auf beiden Seiten sich durchzusetzen in der Lage ist, um der Politik in der Phase des historischen Kompromisses die Kräfte zuzuführen, die ihr im Kampf um die Rettung der Industrie unentbehrlich sind. Le mosche del capitale ist also das Epos von der Rettung der Industrie, vom allegorischen Kampf um die Selbstbehauptung der Industrie oder ihre Unterwerfung unter das Kapital, in dem auch das Schicksal der Republik entschieden wird. Die Figuren der Handlung werden zu allegorischen Repräsentationen von sich bekämpfenden Parteien, Organisationen und Institutionen, die darüber entscheiden, auf welchem Weg die Geschichte Italiens fortschreiten wird.10 Welches die Kräfte oder Tendenzen sind, die von den Figuren des Romans dargestellt werden, illustriert das Panorama der Scritti, insbesondere im Zeitabschnitt zwischen 1973 und 1978, vom Historischen Kompromiss bis zu dessen Scheitern mit der Ermordung Aldo Moros. 1973 ist das Jahr des Militärputsches in Chile, worauf Berlinguer reagiert im Bewusstsein, dass Ähnliches auch in Italien passieren kann, wenn die Kommunistische Partei in die Regierung eintritt,11 im selben Jahr wird das Abkommen von Bretten Woods
10 In diesem Sinn hat Luperini den Roman als einen Beitrag zur Allegoria del moderno betrachtet und gewürdigt. Siehe Romano Luperini, L’allegoria del moderno. Editori Riuniti, Roma 1990, Kapitel 14. Postilla su ›Le mosche del Capitale‹, S. 299- 302. 11 Über die Geheimdienste in Italien in der Periode von 1978 bis 1981 ist zu konsultieren die Dokumentation von L’Espresso vom 7. Januar 1994, betitelt Taci, il Sisde ti spia. I rapporti dei servizi segreti sui partiti 1978 – 1981. [Schweig, der Sisde überwacht dich. Die Dokumente des Geheimdienstes über die Parteien 1978- 1998]. – Die Artikelserie von La Domenica di Repubblica vom 13. Jan. 2008 enthält die Dokumentation über einen erwogenen Staatsstreich seitens der Streitkräfte mit Unterstützung der westlichen Geheimdienste, unter dem Decknamen Gladio, im Falle des Eintritts der Kommunistischen Partei in die Regierung nach ihren Wahlerfolgen von 1975/76.
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aufgekündigt, das die Währungen weltweit an die Goldreserven gebunden hatte, ein Meilenstein auf dem Weg zum Neoliberismus und in dessen Gefolge zum freien Floaten der Währungen auf den Märkten der Welt. In Italien beginnt sich auszuwirken, was man die Gegenoffensive des Kapitals nach ’68/69 genannt hat und was Volponi in seinen Krisenartikeln beschrieben hat: die Verlagerung der Produktion weg von den Zentren, die Strategie der fabbrica diffusa [der ›zerstreuten Fabrik‹], damit verbunden die Schwächung der Arbeiterbewegung; schließlich die Zunahme der Arbeitslosigkeit unter den Jugendlichen, was alles dazu beiträgt, dass das Protestpotential im Fahrwasser von ’68 sich zwar verstärkt, aber sich auch die Autonomie-Bewegungen der Neuen Linken abspalten von der alten Arbeiterbewegung, v.a. der Kommunistische Partei, die den Weg in den historischen Kompromiss programmiert. Mit dem Übergang zur Phase des multinationalen Kapitalismus, mit dem die »centralità della fabbrica«, das Primat der Fabrikarbeit, abgelöst wird durch den Kapitaltransfer, der über die Banken verläuft, verändern sich auch die Prämissen in der Reorganisierung oder Restrukturierung der Arbeiterbewegung.12 Zwischen den beiden Lagern der Linken bestehen, was die Einschätzung der Kapitaloffensive betrifft, erhebliche Unterschiede und dementsprechend eine Unverträglichkeit der Ziele. Es fehlt zwar nicht an Versuchen, die neue Linke wieder in den parlamentarischen Kampf der Partei zurückzuholen. »Es ist eine Phase der teilweisen Rückkehr der Autonomie in das ›System der Parteien‹«, wie Sergio Bologna schreibt,13 doch zwischen der Autonomie und dem Organisationsprinzip der Partei gibt es schon keine grundsätzliche Verständigung mehr. Die aus dem Kampf in der Fabrik – dem so genannten Operaismus14 – mehrheitlich hervorgegangenen Gruppierungen setzen sich das Ziel, den Kampf gegen das kapitalistische System von außerhalb der parlamentarischen Institutionen auszutragen, und das im Gegensatz zur Partei, die im ›compromesso storico‹ darauf setzt, die Verhältnisse innerhalb der Institutionen zu verändern. Wichtig an dieser Auseinandersetzung – und noch immer nicht entschieden – ist, was Bologna als den Kern der noch offenen Frage beschreibt, nämlich wie die ökonomische Problematik der Krise in die Sprache der Politik übersetzt werden kann, d.h. zur Politik selbst werden kann, statt dass sie zum Gegenstand von Verhandlung gemacht wird, in die sich die Führung der KP verstrickt. Die Wiederherstellung der Arbeiterklasse steht auf dem Spiel, wenn die Politisierung der ökonomischen Verhältnisse Der Anlass dazu ist das Bekanntwerden von Akten aus britischen Archiven, die La Repubblica unter dem Titel Il golpe inglese dokumentiert. 12 Die Beschreibung des Übergangs vom Fabrikarbeiter zum sog. »gesellschaftlichen« Arbeiter (operaio sociale) in der Phase zwischen 1968 bis Mitte der 70er Jahre findet sich bei Sergio Bologna in seinem schon zitierten Artikel La tribú delle talpe in einer sehr eindringlichen Darstellung. 13 S. Bologna: Ebd., S. 22. 14 Siehe Vettori, Giuseppe: La sinistra extraparlamentare in Italia, Storia – Documenti – Analisi politica. Rom: Newton Compton Editori 1973, und Teodori, Massimo: Storia delle nuove sinistre in Europa (1956 - 1976). Bologna: Il Mulino 1976. Der Operaismus ist organisatorisch hervorgegangen aus den Publikationen von Quaderni Rossi und Potere Operaio.
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gefordert wird, wenn Bologna also einwendet: »Aber gerade diese intensive Praxis der Unterhandlung […] löst das politische Profil der Klasse auf und reduziert sie wieder auf die Figur der reinen Arbeitskraft. […] alle politischen Merkmale der Klasse werden auf die Organisation übertragen und die Klasse wird zu einem untergeordneten Moment, Materie der Partei, Arbeitskraft. Wie in einem Albtraum kehrt wieder die alte Unterscheidung zwischen politisch und ökonomisch«,15 zwischen Politik und Ökonomie. Diese Kennzeichnung des Konflikts der beiden Linken, zurückgeführt auf die Strukturmerkmale von ›politico‹ und ›economico‹, ist charakteristisch für das Verständnis, in dem die Klassenfrage gesehen und diskutiert wird, und sie ist die Brücke auch zu den Begriffskategorien, in denen Volponi das Problem im Roman aufgreifen wird. Zunehmend hat sich in der Forschung über Fragen der politischen Ökonomie das Interesse auf das konzentriert, was wir als Strukturmerkmale des Gesellschaftlichen bezeichnet haben. Im Hinblick darauf, dass auch in Volponis Roman den gesellschaftlichen Strukturen im Aufbau der Handlung und in der Konstellation der Konflikte eine wichtige Funktion zukommt, wollen wir auf einige der Hypothesen hinweisen, die in der Forschung diskutiert werden. In allen Untersuchungen steht im Mittelpunkt die Problematik von Ökonomie und Politik in ihrem Verhältnis zur Gesellschaft, wie das exemplarisch der Titel des Buches von Giuliano Amato von 1976 demonstriert: Ökonomie, Politik und Institutionen in Italien.16 Edward W. Said fügt dieser Dreiteilung noch den Sektor der Kultur hinzu,17 während Marco Revelli in dem, was er die »tipologia tripartita« nennt, d.h. »die Dreiteilung der ›sozialen Mächte‹, unterscheidet zwischen »politischer«, »ökonomischer« und »ideologischer« Macht.18 In seinem wiederholt schon zitierten Werk L’Italia del tempo presente weist Paul Ginsborg nach, dass in der einschlägigen Literatur das Verständnis von Gesellschaft mehrheitlich im Sinne von »società civile«, Zivilgesellschaft, interpretiert worden ist, also den Funktionen zugeschrieben wird, die bei Said dem Bereich der Kultur zufallen.19 In dieser Dreiteilung der strukturellen Bereiche ist das Gesellschaftliche (il sociale) ausgewiesen 15 S. Bologna: Ebd., S. 24. 16 Amato, Giuliano: Economia, politica e istituzioni in Italia. Bologna: Il Mulino 1976. 17 Edward W. Said: »Cultura e imperialismo«, in Problemi. Periodico quadrimestrale di cultura, Heft 110, (1998,) Palermo: Palumbo Editore. Said unterscheidet den Schlüsselbegriff der Kultur von den übrigen Strukturbereichen wie folgt: »Wie ich sie verstehe, bedeutet ›Kultur‹ insbesondere zweierlei. Sie bezeichnet erstens alle Praktiken, wie die Künste der Beschreibung, der Kommunikation und der Darstellung, denen eine relative Autonomie gegenüber der Sphäre der Ökonomie, des Sozialen und der Politik zukommt und die oft ästhetische Merkmale aufweisen, die hauptsächlich das Vergnügen zum Ziel haben.« An zweiter Stelle bezeichnet der Terminus nach Said den viel umfassenderen Bedeutungszusammenhang von »Perfektionierung und Erhöhung« der Sitten und Lebensgewohnheiten einer Gesellschaft. 18 Revelli, Marco: La sinistra sociale. Oltre la civiltà del lavoro. Torino: Bollati Boringhieri 1997, S. 106. 19 Ginsborg, Paul: L’Italia del tempo presente. Famiglia, società civile, Stato 1980- 1996. Turin: Einaudi 1998. Verwiesen sei auf die hier zitierte Charakterisierung der società civile von Michael Walzer, S. 181f. Zitiert wird aus Michael Walzer, Towards a Global Civil Society. Providence- Oxford 1995.
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als der Bereich der Zivilgesellschaft, zu unterscheiden also von der Gesellschaft im Ganzen, die ja alle genannten Sektoren umfasst. Betrachten wir im Folgenden noch die Ausgliederung der Strukturbereiche im Zusammenhang mit dem Begriff des Staates. Mit der Frage der Funktionen des Staates im Strukturbereich des Gesellschaftlichen wird zugleich nach der Position gefragt, in der sich der Begriff des Staatlichen situiert. Der Staat im bürgerlichen Verständnis, z.B. bei Hegel, war die Schöpfung der bürgerlichen Gesellschaft und zugleich der Garant aller Funktionen des Ganzen. Mit dem Übergang zur Massengesellschaft wird diese Bindung der Funktionen fragwürdig und der Staat seinerseits löst sich aus der Bindung an die Gesellschaft, was dann zur Folge hat, dass das Staatliche in unterschiedliche und geradezu gegensätzliche Funktionen auseinander fällt. nämlich die des Herrschaftsprinzips, wie im Faschismus und den totalitären Regimen, und die immer mehr zurückgedrängte Funktion unter demokratischen Verhältnissen. In unserem Strukturmodell ist die Instanz des Staates das Zwischenglied zwischen dem Bereich des Sozialen, in dem sich das Wirtschaftsleben abspielt, und dem Bereich des Politischen, zwischen der società civile und der società politica. Was die Linke betrifft, bleibt für die Kommunistische Partei der Staat noch von zentraler Bedeutung, nicht so sehr als Instanz der Macht als vielmehr als Ordnungsprinzip im liberal-demokratischen Verständnis. Mit Bezug auf Volponi ist schon klar geworden, dass er die Einstellung der KP im Prinzip teilt, was aber nicht ausschließt, dass er auch die Positionen der außerparlamentarischen Bewegungen der 70er Jahre für berechtigt gehalten hat, wie aus seinen Äußerungen in den Scritti dal margine wohl deutlich geworden ist, denn es gibt für ihn keinen Zweifel, dass die Politik des Parteiensystems, des »pentopartito« (der fünf Regierungsparteien), am Ende war und die Wirtschaft in den Korruptionsskandalen von Tangentopoli zu versinken drohte. Die Rettung sah er, in Übereinstimmung mit der Kommunistischen Partei, in einer Wirtschaftsplanung und in der Rückkehr zu demokratischen Verhältnissen und damit in einer veränderten Beziehung zwischen Gesellschaft und Staat. Im Staat begegnen sich die gesellschaftlichen Kräfte, die den Markt ordnen (das Moment der Planung) und die den Markt öffnen für alle, die für ihn produzieren (das demokratische Moment). Dass damit die gesellschaftlichen Verhältnisse verändert werden können, indem sie vergesellschaftet werden, dazu äußert sich Volponi im Dialog mit Leonetti, wo er den Begriff der Vergesellschaftung (socializzazione) gegenüber anderen politischen Modellen – wie Verstaatlichung oder Nationalisierung abgrenzt und wie folgt definiert: Du hast recht [äußert er zu Leonetti], die Sozialisierung ist nicht die Kollektivierung und nicht die Verstaatlichung. Und es ist gerade die Sozialisierung [im Sinne von Vergesellschaftung], die in der modernen Gesellschaft schwierig ist, insofern sie, im Unterschied zu den Gesellschaften der Vergangenheit, den Begriff des Gemeinwohls nicht kennt, durch welches das Individuum erst konstituiert wird. Die modernisierten (liberaldemokratischen) Gesellschaften haben zu ihrem Fundament den grundlegenden Wert des Individuums, seine Atomisierung; und sie verstehen eine Ethik nur sehr eingeschränkt: die hedonistische oder technologische, basierend auf dem individuellen Erfolg über die Natur und die übrigen Menschen, ohne Grenzen. Es fehlt ihnen das Verständnis [die Idee], dass das
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte Wohl des Einzelnen begründet wird durch die Beteiligung am Gemeinwohl. Es fehlt ihnen eben die Idee des Gemeinwohls. [167]
Eine wirkliche – und revolutionäre – Veränderung kann sich Volponi aber, wie er gegenüber Leonetti äußert, nur vorstellen, wenn ein neues gesellschaftliches Subjekt diese Veränderung herbeiführt, was nur, wie er sagt, im globalen Maßstab möglich sein wird: Notwendig ist ein soziales Subjekt, das ein multiplizierter Antagonist ist, auf der ganzen Welt, hier, und in der Stadt und auf dem Land; das Subjekt, das in jeder Arbeit steckt, wo noch Ausbeutung herrscht… [169].20
II. Die Fabel: der Kampf um die italienische Industrie Wie eingangs schon angedeutet, bildet den Hauptstrang der Romanhandlung die Geschichte des Präsidenten des Industrieunternehmens MFM Nasàpeti21 und seines engsten Vertrauten Saraccini, die gemeinsam sich bemühen, das Unternehmen aus der Krise zu retten, was im Laufe der Erzählung von der Ebene des Einzelfalls auf die Ebene der Allgemeinheit verlagert wird. Während die Geschichte der beiden zentralen Figuren das Thema der Vater-SohnBeziehung wieder aufnimmt und zum eigentlichen Gegenstand einer psychoanalytischen Deutung macht, mündet die Erzählung über die industrielle Krise in eine allegorisch zu verstehende epische Darstellung des Kampfs um die italienische Industrie. In dieser epischen Inszenierung sind es die Strukturelemente des Gesellschaftlichen, die das Terrain abgeben und jeweils umgrenzen, auf dem sich die Konflikte der Handlung abspielen und wo es um die Übergriffe oder Usurpationen von Bereichen geht, die anderen Bereichen streitig gemacht werden. Wir wollen diese Strukturbereiche zunächst in zwei Diagrammen darstellen, in denen im ersten die schon bekannten Momente des Strukturmodells abgebildet werden, im zweiten dann die strukturellen Momente, die den Prozess der industriellen Produktion bezeichnen, beide in horizontaler und vertikaler Anordnung zu lesen. Modell 1 Gesellschaft Ökonomie
Politik
Kultur
Staat
20 Siehe dazu die Feststellung Marco Revellis in seinem Buch La politica perduta. Turin: Einaudi 2003. Unter der Überschrift La politica in frantumi [Die Politik in Brüchen], äußert er: »Vielleicht müssten wir den Mut haben zu sagen mit größerer Klarheit , dass das ›politische Paradigma der Moderne‹ nicht mehr funktioniert.« (S. 59) 21 Die z.T. fantastische Namensgebung bei Volponi ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass er die mögliche Identifizierung der Figuren mit Personen aus dem Industriemilieu auf jeden Fall vermeiden will.
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Modell 2 Gesellschaft Arbeit MFM
Kapital INDUSTRIE
Produktion
BOVINO Banken
Staat Die horizontale Anordnung bezeichnet die Beziehungen in wirtschaftlicher Hinsicht, die vertikalen die Verbindungslinie im politischen Sinn.
1. D IE K ONFIGURATION
DER GESELLSCHAFTLICHEN ,
ÖKONOMISCHEN UND POLITISCHEN
M OMENTE
Eine Unterredung zwischen den beiden Repräsentanten der MFM, Nasàpeti und Saraccini, sowie einem Vertreter der Banken soll ein Einverständnis darüber herbeiführen, welchen Beitrag die Industrie zum Wohl der Gesellschaft leisten kann und welche Rolle und Funktion dabei die Banken zu übernehmen bereit sind. Auf die Bemerkung Saraccinis, dass die Wirtschaft, demokratischen Grundsätzen verpflichtet, dem Wohl des Ganzen zu dienen habe, entgegnet der Funktionär der Bank: Ja, ja, Demokratie, aber Sie nehmen sich doch selbst nicht ernst, wenn Sie dieses Wort so verallgemeinern. Welche Demokratie kann es denn geben in einem Land ohne Geld und ohne Entwicklung, ohne produktive Ordnung und Bewusstsein noch Respekt vor dem Gemeinwohl? Der Profit, der Ansporn wird, Wohlstand und auch Konsum, aber mehr noch Investition und Entwicklung, ist das nicht das geeignetste Maß, Stärke und Gesundheit einer Demokratie zu beurteilen?
Sind diese Äußerungen des Bankiers nachzuvollziehen, so jedoch nicht die volkswirtschaftliche Berechtigung des Profits, die aus dieser Argumentation folgt Deshalb auch die Intervention Nasàpetis: Basta, basta […] fangen Sie nicht an, uns Angst zu machen […] ihr Bankiers erhebt unglaubliche Gewinnanteile, auch jetzt, auch von uns, die wir noch nicht einmal das Grundkapital haben … Unsere Aufgabe ist jetzt, abgesehen vom Profit, den Staat zu stützen, und nicht so sehr, euch verdienen zu lassen, als vielmehr, das System aufrecht zu erhalten, so dass schließlich der Staat sich mit uns identifiziert, unser Heil als das seine betrachtet […]. [120]
In diesem Wortwechsel werden die Positionen schon geklärt, die im Kampf der Interessen zwischen der Industrie und den Banken bestimmend werden; doch in Nasàpetis Äußerungen über die Beziehung zwischen Industrie und Staat klingt schon ein Sachverhalt an, der in mehrfacher Weise ausgelegt werden kann und Einstellungen betrifft, die unvereinbar sind und im Verhältnis zwischen Nasàpeti und Saraccini auch zum Zerwürfnis führen. Was der 333
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Präsident des Unternehmens – hier noch als Fürsprecher einer liberaldemokratischen Position der Wirtschaftspolitik – gegen den Profit und zugunsten des Staats äußert, um das System zu stützen, kann auch verstanden werden als eine Art »Nationalisierung« der Industrie, die anfangs von beiden Industriellen verfochten wird, im Sinne einer nationalen Verfügung über die Kapitalinvestitionen in der Industrie, was im Grunde dem Planungsmodell Volponis entspricht und mit den Zielen des »historischen Kompromisses« nicht unvereinbar wäre. Doch fraglich wird bald schon, mit welcher Politik die Anbindung der Wirtschaft an den Staat zu realisieren wäre: im Sinne Saraccinis, der weiterhin den Kurs des historischen Kompromisses als verbindlich betrachtet oder in dem des späteren Nasàpeti, der umgekehrt den Staat politisch an die Vorgaben der Kapitalentwicklung binden möchte oder sich dazu gezwungen sieht? An diesem Punkt wird schon erkennbar, auf welchen ökonomisch konträren Fundamenten der Kampf um die Rettung der Industrie ausgefochten werden sollte. Der Chef der MFM, der metallverarbeitenden Fabrik, die vermutlich die Herstellerin von Schreib- und Büromaschinen Olivettis in Ivrea meint, startet seine Kampagne gegen die alten Strukturen des Familienkapitalismus, der, statt zu investieren, Kapital als Dividende aus der Produktion abzieht und damit in die Abhängigkeit der Banken gerät. In der Unterredung mit Saraccini bekräftigt er entschlossen seinen Kurs, zugunsten von Investitionen die Dividenden auszusetzen: »Keine Gratifikationen, keine Erhöhungen […] keine Dividenden« [24]. Voll Zuversicht bezüglich des Erfolgs dieser Maßnahme teilt das Saraccini seinen Untergebenen mit: »Alle Getreuen senkten den Kopf, als sie diese Neuigkeit erfuhren, über die sie nachdenken mussten […] Eine Sache des New Deal, erste hundert Tage.« [24] Was intern in der Fabrikleitung beschlossen wird, soll aber nach dem Willen des Präsidenten auch politisch vertreten werden. Nasàpeti plant, in die Politik einzusteigen, um von dort aus die gewünschte Reform der Industrie zu befördern. Schon jetzt könnte die Entscheidung des Präsidenten in Zweifel gezogen werden; dagegen spricht, dass sie eher im Zusammenhang zu sehen ist mit der im historischen Kompromiss verkündeten Industriereform, und ihrem Ziel, die industrielle Produktion auf nationaler Basis zu reformieren und damit die Wirtschaft aus eigenen Mitteln zu sanieren. Ein Indiz dafür wäre, dass der Präsident sich gegenüber Saraccini offen gegen den Einfluss amerikanischer Unternehmensberater äußert und damit sein Misstrauen bekundet gegenüber der multinationalen Verflechtung des Kapitalmarkts. Um die in den Erzählvorgang involvierten zwei Industrieunternehmen, die MFM (Nasàpetis) und Bovino (Deckname für Torino i.S. von Stier), zu unterscheiden, verweisen wir auf das Schema in unserem Diagramm. Die MFM charakterisiert ihre Beschränkung auf die nationale Ökonomie, angezeigt auf der horizontalen Ebene des Diagramms auf der linken Seite, der auf der entgegengesetzten Seite die erklärte Öffnung auf den multinationalen Kapitaltransfer in Bovino gegenübersteht. Während die MFM einen nationalen Kapitalismus vertritt und auf diesem Wege die italienische Industrie salvieren will, ist die Expansion auf dem Kapitalmarkt in Bovino das Merkmal eines multinationalen Kapitalismus, was Volponi schon in seinem Artikel Tripoli
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ritrovata, in den Scritti, als »das Abkommen der Fiat mit dem libysche Regierung« angedeutet hat.22 Die nationale Zielsetzung einer Sanierung der Wirtschaft fasst Nasàpeti in die Worte: Haben wir die Kraft, weiter allein zu existieren? Oder sind wir zur Zusammenarbeit mit anderen gezwungen? Und die Antwort: »Unsere Industrie wird diesen Kampf […] der Kultur und der Freiheit allein ausfechten […]« [23-24]. Saraccini, engagiert in diesem Kampf, besitzt das Vertrauen Nasàpetis, der ihn an die Spitze der Verwaltung berufen will, in die Position des amministratore delegato [Generalbevollmächtigten]. Er soll als leitender Direktor die Funktion Nasàpetis wahrnehmen, der in die Politik wechseln will. Saraccini zögert, aber die Mitarbeiter drängen ihn. Nasàpeti denkt an seine Nachfolge…er will früher oder später zurückkehren in die Politik […], will Minister werden und die Wirtschaft lenken […]. Hier drin« – in der MFM – »hat er viel gelernt. Ihm folgt die Geschichte und gibt ihm recht. [65]
Der Wechsel des Industriemagnaten in die Politik wird von Saraccini als Chance verstanden, die betriebliche Ordnung der Industrieproduktion neu zu gestalten. Für den Präsidenten arbeitet er den Plan (»il piano«) aus, der die Grundsätze eines Sanierungsprogramms fixiert. Und hier wechselt Volponi unvermittelt auf eine andere Ebene der Erzählung über, indem er die Arbeit Saraccinis an diesem Sanierungsprogramm aus dem Handlungsverlauf löst und verselbständigt in Form einer Grundsatzerklärung bezüglich der Funktion der Industrie in der Gesellschaft, ähnlich dem Traktat Anteos zugunsten einer Reform der Landwirtschaft in La macchina mondiale. Saraccini erscheint in der Rolle des Beauftragten, der für den Kampf um die italienische Industrie die Regeln ausarbeitet und die Ziele formuliert, für die dieser Kampf ausgefochten wird. Im Vordergrund: steht zunächst die Unterteilung des Plans in vier Artikel, die die Reichweite des Unternehmens bezeichnen, und das sind: »erstens: Analyse der gegenwärtigen Struktur; zweitens: Neudefinition der strukturellen Ziele; drittens: Vorgeschlagenes Organisationsmodell; viertens: Zwischenlösungen für die Phase des Übergangs. [49]. In sich stellen diese vier Punkte so etwas dar wie die Artikel einer Präambel, deren Inhalt der Bedeutung einer Grundsatzerklärung nahe käme oder eines Verfassungsentwurfs, der einem Regierungsprogramm zugrunde gelegt werden könnte (siehe den Wortlaut der Proposta Saraccinis: »Für ein Strukturprojekt der MFM« S. 49 und 53-54). Zu entnehmen wäre das insbesondere Punkt 3: ›Vorgeschlagenes Organisationsmodell‹, wo es u.a. heißt: »Die Übergangsperiode könnte, um die Bezugnahme zu erleichtern, verglichen werden mit dem Übergang von einem ›zentralen Staatsgebilde mit dezentralisierter Verwaltung‹ zu einem ›Bundesstaat‹«. [54]. Diesem programmatischen Text des »Plans« Saraccinis wird aber ein Text in Versform hinzugefügt, der die Schlüsselbegriffe des programmatischen Teils – wie »Maschine«, »Arbeit«, »Wissenschaft«, »Industrie«, »Finanzen« – auf einer Ebene 22 L’accordo Fiat-governo libico! Ein Scheinmanöver ohne kommerzielle oder politische Bedeutung: »Die Befriedigung darüber äußert sich in allen Kommuniqués, Zeitungsberichten und Manövern der Börsen: dieses Land ist immer so tüchtig und intelligent, dass es wieder einmal vermieden hat, seine Rechnung mit der Geschichte zu machen.« [Scritti dal margine, S. 48].
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wieder aufnimmt, auf der der ökonomische Sinn der Wörter durch ihre Bindung an Wörter anderer Sinnbereiche um diese bereichert und mit ihnen assoziiert wird; diese Fusion des Sinns aber , so lauten die abschließenden Verse, gelingt nur dem, der … »kämpft und Dinge, Menschen, die Fabriken, die Blumenbeete an ihrem zivilen Platz lässt und nicht isoliert.« [56] Wenn in dieser Präsentation des »Plans« so etwas zu erkennen ist wie eine Grundsatzerklärung, die vom Ökonomischen übergreift ins Politische und darin in Umrissen ein Sinnbereich sichtbar wird, der sich auf das Gesellschaftliche insgesamt erstreckt, dann trifft das auch, wie wir meinen, auf die Reden zu, die zwischen den beiden Industriellen bezüglich der Organisation der industriellen Produktion geführt werden, und insbesondere auf die jetzt beginnende Auseinandersetzung zwischen ihnen über Fragen des Personals, über die Berufung in Führungspositionen. Aus diesem Blickwinkel wäre vor allem die lange Rede zu betrachten, in der Saraccini dem Präsidenten die Prinzipien einer Führung nahe zu bringen sucht, die die unfähigen und parasitären Elemente daraus entfernt und vermeidet, dass unerwünschte Strukturen sich ausbilden, die Einfluss nehmen auf das Ganze. Hier aber beginnt der Präsident mit Abwehr zu reagieren, obwohl er ja die alte Führungsgarde des Familienkapitalismus ablösen wollte. Schon ab einem bestimmten Moment ihrer Zusammenarbeit ist er zu der Überlegung gelangt, Saraccini einen zweiten »amministratore delegato« an die Seite zu stellen, einen Mann namens Sommersi Cocchi, der wieder eine eher militärische Disziplin in die Fabrik einzuführen verspricht. Missfallen hat dem Präsidenten aber schon am Anfang ihrer Zusammenarbeit Saraccinis Äußerung über das Verhältnis des Vaters Mozarts zu seinem Sohn, die er mit der Ausbeutung im Kapitalismus verglichen hat, worauf wir noch ausführlicher eingehen werden. Nasàpeti, der sich durch diesen Vergleich auch selbst betroffen fühlt, reagiert jetzt aber in der Sache herausgefordert, weil er in der Bemerkung Saraccinis die Bedeutung des Kapitals herabgesetzt sieht. worauf er das Kapital in Schutz zu nehmen beginnt: Oh, tüchtiges und ehrliches Kapital, […]. Das allen zu essen gibt, das nie etwas verweigert …, zu allem fähig! – Und was die Industrie betrifft: gibt es allen Arbeit, produziert unendlich viele Güter, zahlreiche ansehnliche Mittel der Subsistenz und des Fortschritts. Also, diesem Saraccini, mit dieser Denkweise und den Skrupeln eines halben Intellektuellen …, mit dieser Halbkultur der Linken,
ihm, so der Präsident, muss jemand an die Seite gestellt werden, ein gestandener Techniker, geschickter Steuermann, listiger Kapitän, eine Kreatur der Macht, der ihn kontrollieren, zurückhalten, überwachen könnte […]. [4546]
Der Lobgesang Nasàpetis auf das Kapital ist nicht unbedingt als blinde Parteinahme für den Kapitalismus zu verstehen, da er auch bezogen werden kann auf die Industrie, die unmittelbar nach dem Kapital im Text genannt wird. Was den Präsidenten der MFM aber zu seiner Entscheidung zugunsten eines
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harten Vertreters der Industrie23 bewogen hat, ist die organische Verbindung des Produktionsbereichs mit den Banken, die ihm zunehmend als unabwendbare Notwendigkeit im Kapitalverkehr der Industrie erscheint. So tritt er bei der zweiten Begegnung mit den Bankvertretern, wieder im Beisein von Saraccini und jetzt auch von Sommersi Cocchi, in einer völlig reduzierten Rolle gegenüber dem mächtigeren Bankier Dea auf. Erkennbar wird, dass Dea von Anfang an Sommersi Cocchi als den Bündnispartner der Banken favorisiert und Saraccini in die Rolle des passiv Beteiligten verweist, was auch den Präsidenten einbezieht, der sich in seiner Autorität zurückgesetzt fühlt: sie wollen mir zu verstehen geben, dass auch meine Autorität unter ihrer Kontrolle und ihrem Ermessen steht, von ihnen abhängig und bedingt. [177]
Hier deutet sich ein Schritt weiter im Wechsel des Personals an, das in die Führungspositionen aufrückt und das sich dann auf der Kommandohöhe von Bovino noch differenzierter zeigen wird. Dazu der Erzähler zunächst: Dea war genau der hohe Priester gewesen, der er sein sollte. Nasàpeti dagegen der unzufriedene Tribun, der breitbeinig da sitzt, erzürnt über die Entscheidungen des Senats. [178]
Diese bitteren Einsichten seines Präsidenten werden durch Saraccinis späteren Erfahrung mit der »moderneren« Industrie in Bovino vertieft und bestätigt, worauf hier schon vorgegriffen wird. Während die Chefin von Bovino, Donna Fulgenzia, nach außen ihre Expansionspolitik glänzend vermarktet, […] organisierten sich im Inneren des Unternehmens die Gruppen integralistischer und katholischer Provenienz, die Mafien der Macht. Und schließlich wurde immer mehr vorherrschend die kurzsichtigste und opportunistischste Politik. Auf lange Sicht, nach der Ölkrise, den Bilanzen, die ins Negative absanken und dem, was daraus folgte, bekam sie [donna Fulgenzia] und ihre Familie es mit der Angst zu tun und ließ sich in die Falle locken […], sich vor den Wagen spannen, der ihr als der Gewinner vorgestellt wurde, d.h. der von Kissinger oder von Cuccia24 mit ihren auf Höheres zielenden Projekten. Aber welches war das überlegene Projekt? Das Interesse der Industrie als erste Priorität zu setzen und von jedem politischem Inhalt die öffentliche Verwaltung zu befreien, […]. [139]
Diese Bemerkungen führen uns zurück zu den beiden Strukturmodellen, von denen wir ausgegangen waren und in welchen auf der vertikalen Achse die Verbindung Gesellschaft – Politik – Staat die politischen Beziehungen anzei23 Volponi charakterisiert Sommersi Cocchi, indem er ihn selbst sprechen lässt: »Wenn ich mir eine Industrie […] vorstelle […], denke ich an eine kriegerische, nukleare Maschine, mit großer Schnelligkeit und Stoßkraft, die den Feind hinwegfegt, die vordringt und erobert, während sie ordnet und arbeitet entsprechend ihrer auf Triumph zielenden Natur…« [47]. 24 Der erwähnte Enrico Cuccia, der Präsident der Mediobanca, dem wir in Il lanciatore di giavellotto als jungem Finanzbeamten der Regierung unter Mussolini schon begegnet sind, war maßgebend auch an der Umstrukturierung der finanziellen Verhältnisse von Ivrea nach dem Tod Adriano Olivettis beteiligt.
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gen, die von der Gesellschaft zum Staat führen. Die Politik ist nach dieser Darstellung die vermittelnde Instanz zwischen Gesellschaft und Staat; aber ihren Platz hat nach obigen Zitat die Industrie eingenommen, was zur Folge hat, dass die Angelegenheiten der zivilen Gesellschaft nicht mehr über die Politik vermittelt werden und kein eigenes Gewicht mehr haben, weil sie den wirtschaftlichen Entscheidungen untergeordnet werden, die von der Industrie vorgegeben sind. Im Handlungsverlauf der Geschichte der MFM war das schon erkennbar geworden, als ihr Präsident ankündigte, dass er in die Politik einzusteigen beabsichtigt. Dieser Schritt aber ist in zweierlei Hinsicht und auf unterschiedliche Weise zu interpretieren, wie schon angedeutet im Sinne des Operaismus, dass nämlich die Belange der Fabrikarbeit zu politisieren seien und in unserem Diagramm an die Stelle der Politik rücken, zu ihrem Inhalt gemacht werden; oder, wie im oben zitierten Fall, dass das Industriemanagement die Funktion der Politik übernimmt und dessen Kompetenz von der Fabrik auf die gesamte Wirtschaft, und d.h. auch auf die Zivilgesellschaft ausgedehnt wird. Beide Varianten werden im Modell 2 unseres Diagramms in der horizontalen Linie dargestellt, auf der die beiden Typen von Industrieunternehmen einander konfrontiert werden. So wird auf der Seite der MFM die Industrie unter dem Aspekt der Arbeit und der Produktion aufgeführt, in der Erwartung ihrer nationalen Sanierung im Zuge des Compromesso storico; und auf der Seite Bovinos der Übergang des Industriemanagements zum multinationalen, nach außen expandierenden Kapitalismus, wobei das Interesse an der industriellen Produktion verlagert wird von der Bedarfsdeckung auf die Kapitalakkumulation in der Kooperation mit den Banken. Diese zweite Variante der industriellen Produktion begegnet uns auf der Ebene der Handlung dann mit dem Wechsel Saraccinis von der MFM nach Bovino, dem Unternehmen, dem die Fiat-Werke in Turin als Modell dienen und in dessen Management Volponis eigene Erfahrungen in leitender Funktion widergespiegelt werden.
2. D ER K AMPF
ZWISCHEN
DIE
A NALYSE
A RBEIT UND K APITAL : F ABEL
DER
Im Folgenden bilden wir noch einmal die beiden Diagramme ab, die wir vorangehend schon als grundlegend für das Verhältnis von Industrie und Gesellschaft betrachtet haben. Modell 1 Gesellschaft Industrie Staat
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Le mosche del capitale
Modell 2 Gesellschaft Arbeit MFM
Kapital INDUSTRIE
Produktion
BOVINO Banken
Staat In der Inszenierung des Romans verläuft dieser Kampf auf dem Boden der Gesellschaft, auf deren Koordinaten die etwas veränderten Strukturmodelle verweisen hinsichtlich des Verhältnisses der Industrie zu Gesellschaft und Staat: In Modell 1 interessiert zunächst die vertikale Ebene: die Bereiche Gesellschaft – Industrie – Staat, Nach oben bezeichnet sie die Beziehung von Produktion und Konsum, verlaufend von der Industrie zur Gesellschaft, und nach unten indiziert sie die Verankerung dieser Beziehung im bürgerlichen Staat (in der Verbindungslinie zwischen Industrie und Staat), in dem Sinne wie die italienische Verfassung besagt, dass die republikanische Ordnung auf die Arbeit gegründet ist. Hier liegt ein Modell der Gesellschaftlichkeit zugrunde, das die Ökonomie (die industrielle Produktion) im Bereich der Zivilgesellschaft situiert, aber sie einer Ordnung unterwirft, die im Rahmen der staatlichen Verfassung Geltung beansprucht und geregelt ist. Die Ökonomie ist also an die staatliche Ordnung gebunden und ihr untergeordnet. Die totale Anbindung der Wirtschaft an den Staat und dessen Kontrolle über sie wäre als Verstaatlichung zu bezeichnen, was abzugrenzen wäre von Formen der Nationalisierung und ihr Gegenteil der Privatisierung dieser Verhältnisse. Wir kommen darauf noch zurück. Ein anderes Bild ergibt sich, wenn wir zu Modell 2 übergehen und die horizontale Linie betrachten, die den Produktionsverlauf abbildet: auf der linken Seite das Industrieunternehmen MFM in der Verbindung von Produktion und Arbeit, das noch im Ansatz Ivrea repräsentieren soll, auf der rechten Bovino und die Verbindung von Kapital und Banken, in dem hauptsächlich die Fiat-Werke abgebildet werden; in der Mitte wieder die Industrie und in der Vertikalen ihre Position zwischen Gesellschaft und Staat. Während im Modell MFM die Produktion – im Sinne der Deckung des gesellschaftlichen Bedarfs – absolut vorrangig ist und dabei die Arbeit einen qualitativen Wert repräsentiert wird auf der Seite Bovinos die Arbeit von untergeordneter Bedeutung gegenüber dem Vorrang des Kapitals, das aus Krediten von Banken stammt und dorthin wieder zu seiner Vermehrung zurückfließt. Auf derselben Ebene stehen sich als hauptsächliche Gegenspieler wieder gegenüber Arbeit und Kapital im Kampf um die Verfügung über die Industrie und die Verwendung oder Verteilung des aus ihr zu schöpfenden Werts. In dieser Konfiguration der Figuren von Arbeit und Kapital, die in den verschiedensten Mitspielern ihre Verkörperung finden, spielt sich das Handlungsgeschehen ab, das in den Positionsveränderungen der agierenden Figuren verfolgt werden soll. Die beiden zentralen Figuren im Kampf um die Sanierung der italienischen Industrie, der Präsident der MFM Nasàpeti und sein engster Mitarbei339
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ter Saraccini, werden ökonomisch, politisch und biographisch in verschiedenartige Auseinandersetzungen verwickelt: zunächst als Verfechter einer Reform der industriellen Produktion, die der Reformpolitik des Compromesso storico entsprechen würde, dann zunehmend im Konflikt über die einzuschlagenden Wege, schließlich im erklärten Kampf gegeneinander, in welchem von Anfang an die Familienthematik im Verhältnis von Vater und Sohn wieder auflebt. Il professor Bruto Saraccini, wie Volponi den Protagonisten seines Romans einführt [7], ist ein junger Intellektueller , dessen Ausbildung und Karriere im Kontext einer links orientierten Sozialwissenschaft verlaufen ist und der daher wirtschaftspolitisch den Kurs der Reformpolitik in Richtung auf den historischen Kompromiss vertritt. Sein Ehrgeiz zielt über das Wirtschaftliche hinaus auf die Politik, und zwar auf eine Politik, die nach dem Vorbild Roosevelts, über die wirtschaftliche Sanierung des Landes demokratische Verhältnisse in Italien25 durchzusetzen versucht, was unter der Losung democrazia industriale zu verstehen wäre. Saraccini wollte in seinem Zweifel bewundert werden, unterstützt bei den Hindernissen auf seinem vom Schicksal vorgezeichneten unaufhaltsamen Aufstieg, der ihn unfehlbar in den Rang eines Generalbevollmächtigten bringen würde. [66]
Dieser Bemerkung ist schon zu entnehmen, dass dem Aufstiegsdrang, der alle leitenden Figuren der »mosche del capitale« beflügelt, ein industrieller Herrschaftsanspruch inhärent ist,26 was der Erzähler signalisiert, als Saraccini in Begleitung eines seiner Adlaten den Film Rosselinis vom Sonnenkönig (Il re sole), sieht, der, wie der eigentliche Titel lautet, die »Machtergreifung Ludwigs XIV« zeigt und das Ereignis in Szene setzt, in dem der junge König sich von27 seiner Bevormundung befreit und seine Alleinherrschaft beginnt. Gegenüber Saraccini kommentiert der Adlat, dass ihm dieses Schicksal beschieden sei: »[…]die Reihe ist jetzt an Ihnen…« [187-88]. Nasàpeti, der als Chef der MFM im Namen eines Unternehmens spricht, das Ivrea und Olivetti darstellen könnte, eröffnet gleich eingangs seinem Mitarbeiter Saraccini, dass er zur Weiterfinanzierung der Produktion keine amerikanischen Berater – consulenti americani – in Anspruch nehmen will. [22] Die Beratung mit Saraccini fasst er in der Frage zusammen, ob sie in der Lage seien, selbständig zu handeln oder auf die Unterstützung andere angewie25 »Er hätte ein Protagonist werden können, der erste und größte einer Erneuerung und Rationalisierung der Industrie, in einer widerspenstigen, zurückgebliebenen Nation und zugleich Motor, wenn nicht ein Lehrer der Demokratie.« [66] 26 Dieses Merkmal ist künstlerisch in der Photomontage John Heartfields nach einer Bearbeitung von G. Bosio im Umschlagcover der Ausgabe Einaudi 1989 in der Weise festgehalten, dass Herren in Direktorenkleidung an einem Gerüst in die Höhe klettern und sich dabei gegenseitig zu behindern suchen. 27 In einer Rezension des Films in Il Corriere della Sera vom 11. 01.1969 wird die Filmaussage vor allem in der Konzentration auf eine neue Herrschaftsform gesehen. Der König »entzieht stückweise, aber energisch die Monarchie der ökonomischen Macht des Adels, den Launen der Königin- Mutter und der Einmischung des Parlaments, dessen Machtbefugnisse er annulliert.«
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sen seien. Um sich auf dem Markt zu behaupten, beschließen beide, die Investitionen zu erhöhen und die Dividenden einzufrieren – »niente dividendi«. [24] Die Maßnahmen, die ergriffen werden, gipfeln schließlich in der Erwartung, dass ein Wechsel in der Politik eine andere Parteienkonstellation an die Macht bringt, die Wirtschaftsreformen durchsetzen könnte [22], womit zweifellos angespielt wird auf den sich abzeichnenden »compromesso storico«. Deutlich wird hier, dass das Wirtschaftsprogramm, das Nasàpeti vertritt, auf einen Kapitalmarkt beschränkt bleiben soll, der den nationalen Raum nicht überschreitet, also im Gegensatz steht zu dem sich ausbreitenden multinationalen Kapitalismus. Und das weist dieses Modell der Ökonomie als das aus, was wir die Nationalisierung der wirtschaftlichen Verhältnisse genannt haben, an der die parlamentarische Linke noch lange festgehalten hat. Gegen das Einvernehmen im Verfolg dieser Ziele zwischen dem Präsidenten der MFM und seinem engsten Mitarbeiter Saraccini türmen sich im weiteren Verlauf der Handlung von diverser Seite Widerstände, als Nasàpeti Saraccini, wie schon erwähnt, den Posten des Generalbevollmächtigten übertragen will. Der darüber ausbrechende Streit um die Führungspositionen unter den ehemalig verbündeten Partnern erstreckt sich über den gesamten mittleren Teil der Handlung bis zu dem Moment, wo Saraccini die MFM verlässt und das Angebot von Bovino anzunehmen bereit ist. Gegen eine Reform der Industrie, wie sie Nasàpeti vertritt, verbünden sich in dieser Phase des Konflikts die Interessen des Familienkapitalismus, der die Mentalität der Aktienbesitzer verkörpert, die nur am Profit interessiert sind und Modernisierungen scheuen. Ferner spielen bei diesen Manövern die Rivalitäten unter den mittleren Figuren des Managements eine große Rolle und Widerstreben äußert sich schließlich auch gegen die Berufung Saraccinis seitens der auf militärische Disziplin in der Industrie drängenden Interessenverbänden, die im Einvernehmen mit den Banken den Ingenieur Sommersi Cocchi. als die geeignete Figur für eine solche Position favorisieren. Die Figur, die in ihrem Werdegang dem Ex-Faschisten Radames in Bovino ähnlich ist, ergänzt im Roman das Personal der ehemaligen militärischen Führungskräfte in der Industrie der Nachkriegszeit. Charakteristisch auch hier die Kombination von wirtschaftlichen Interessen und militärischer Disziplin, die als Komponente der kapitalistischen Produktion bestätigt, was in Il pianeta irritabile als der militärischindustrielle Komplex begegnet ist. Um das Bild des industriellen Milieus im Roman zu vervollständigen, sei auf das Machtzentrum in Bovino um die Figur der alles beherrschenden Donna Fulgenzia vornimmt. Um die Figur, die den Chef der Fiat-Werke Gianni Agnelli darstellen soll, sammelt und schart sich der Interessenklüngel von Wirtschaft, Finanzen und Politik, der über viele Kanäle Einfluss nimmt auf Entscheidungen der Industrie auf nationaler Ebene. Eine spürbare Ironie eignet dem Blick auf dieses Milieu, wenn Volponi dem Papagei die Worte in den Mund legt, die diese Szene beschreiben. Der Papagei bemerkt zunächst: je besser ich dieses Bovino kenne, die so genannte Hauptstadt der Industrie, je mehr Umgang ich habe und die Ränge und die Elite ihrer Mächtigen konsultiere, desto mehr entmutigt mich das […], denn um sie [Donna Fulgenzia], in den ersten Kreisen, scharen sich konzentrisch, und fletschen die Zähne, die dicksten Hunde des Privilegs und der Autorität, der Grundrente, des Zolls, der ›economia
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte di scala‹ in ihrer brutalsten Praxis.28 Und diese Konservativen sind verbündet mit den Katholiken, mit der Dc, mit der Bank und den Finanzen, mit der Immobilienspekulation, mit dem falschen Sozialismus, in Wahrheit Paternalismus und Korporativismus, mit dem ganzen Rest der italienischen Industrie[…]. [171]
Das industrielle Führungsmilieu, i dirigenti, als welche die Wachthunde in Il pianeta irritabile identifiziert worden sind, wandeln sich bildlich hier in die cani del capitale.
3. D IE » BIOGRAFIA INDUSTRIALE « V OLPONIS DER G ESCHICHTE S ARACCINIS
IM
S PIEGEL
Nasàpeti als Vatergestalt und Donna Fulgenzia als die Verkörperung der Macht, der Saraccini erliegt.
Die Krise in der Beziehung zwischen dem Chef der MFM und seinem wegen seiner Kompetenz nach wie vor geschätzten Mitarbeiter markiert im Handlungsfortgang die Peripetie, die auf der psychologischen Ebene sich schon angedeutet hat, dass nämlich Saraccini seinen Chef als Verkörperung von Mozarts Vater Leopold gesehen und als solchen tituliert hat und sich selbst als den Sohn, der vom Vater, wie der Arbeiter vom Kapitalisten, ausgebeutet wird. »Nein, es hat ihm nicht sehr gefallen, dieser Vergleich zwischen dem Vater Mozarts und dem kapitalistischen Unternehmen. […].« [45] Die Bezeichnung »impresa capitalistica« insbesondere erregt den Unwillen Nasàpetis und mehr noch ein Gefühl der Verunsicherung in der Selbsteinschätzung einer Mission oder eines öffentlichen Auftrags, die er, wie er meint, zum Wohl der italienischen Industrie auf sich genommen hat. Dass hinter dieser Irritation mehr als ein nur psychologisches Problem zu sehen ist, berührt weniger die Frage der psychoanalytischen Deutung des Vater-SohnVerhältnisses, auf das wir wieder zurückkommen werden, als vielmehr in erster Linie den Begriff des Kapitals, der aus dem Mund Nasàpetis jetzt eine etwas andere Deutung erfährt als die des Kapitals im Sinne des Profits. Das Kapital wird als die Voraussetzung verstanden für jegliche Arbeit, die es überhaupt erst ermöglicht. Seine aufgebrachte Äußerung darüber haben wir schon zitiert, wie auch seine Zweifel an der Führungsfähigkeit Saraccinis, der seinerseits sich nicht mehr bereit erklärt, seine Arbeit neben einer Figur wie Sommersi Cocchi fortzusetzen, weil das nicht zuletzt auch das Ende ihres gemeinsamen Projekts zur Folge hätte. Als Konsequenz kündigt er an, dass er, sollte Nasàpeti an seiner Entscheidung festhalten, von sich aus die Firma verlassen werde. Der hier skizzierte Konflikt könnte als die dramatische Zuspitzung einer Situation verstanden werden, die aus der Biographie Volponis direkt in die Handlung des Romans übertragen worden ist, als nämlich 1971, zehn Jahre nach dem Tod Adriano Olivettis, Bruno Visentini als dessen Nachfolger Volponi die Stelle des Generalbevollmächtigten, im Grunde die Gesamtvertre28 Die Verbildlichung der Führungskräfte als grossi cani ist die Wiederaufnahme desselben Motivs, das in Il pianeta irritabile die Hunde als die Hüter des Besitzes identifiziert und kenntlich gemacht hat (Siehe dort, S. 145).
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tung des Unternehmens, zu übertragen bereit ist. Doch Volponi lehnt ab und reicht seine Demission ein. Um diese Wendung in der Biographie Volponis in ihrer Auswirkung auf den Handlungsverlauf des Romans zu beleuchten, sei uns erlaubt, auf Zinatos Werkausgabe zurückzugreifen, aus der wir im Folgenden zitieren: »1971 bot Bruno Visentini«, so schreibt Emanuele Zinato,29 »ihm [Volponi] die höchste Verwaltungsstelle im Unternehmen an. Angesichts der Möglichkeit, Generalbevollmächtgter – amministratore delegato – des Unternehmens zu werden, nährt Volponi Zweifel und Unsicherheit, und in einem ersten Moment lehnt er ab.« – »Doch dann überwindet er die eigenen Widerstände: er legt Visentini seine eigenen Ansichten dar. Erschreckt über die innovativen Momente des Projekts beschließt Visentini plötzlich, vielleicht auf Druck der Aktionäre und der Confindustria, ihm den Ex-Admiral Ottorino Beltrami an die Seite zu stellen. Am Ende einer stürmischen Unterredung reicht Volponi seine Demission ein.« – »Was den Ausschluss Volponi unvermeidlich gemacht hat«, so Zinato, »war sein fester Wille, das Projekt von Adriano fortzusetzen«. Was in eher literarisch transformierter Form der von Saraccini ausgearbeitete Plan zur Reformierung der Industrie vorgesehen hat,30 kommt vielleicht dem nahe, was auf der Ebene der Vergesellschaftung der Industrie Volponi im Sinne Olivettis angestrebt hat. Aber auch Nasàpeti geht aus diesem Zerwürfnis nicht unbeschädigt hervor. In drastischer Weise zeigt das die zweite Unterredung zwischen ihm, seinen Mitarbeitern und Dea, dem unumstrittenen Herrn des Bankwesens, der diesmal von vornherein die Bedingungen diktiert, unter denen zwischen Geldinstitut und Industrieunternehmen verhandelt wird. Er zieht demonstrativ Sommersi Cocchi dem nicht genehmen Saraccini vor und versichert ihm, dass er auf seine volle Unterstützung und seine weitreichenden Verbindungen zählen könne. Nasàpeti bleibt nur übrig, diese neue Macht des Bankherrn zur Kenntnis zu nehmen. [siehe S. 177/78]. Der Kredit der MFM, des Unternehmens, das mit den Plänen des Gespanns Nasàpeti-Saraccini an die Reformpolitik Adriano Olivettis anknüpfte, ist offenbar verspielt. Diese Szene beschließt den Teil der Romanhandlung, in dem das Verhältnis Saraccinis zu Nasàpeti die Tätigkeit Volponis in Ivrea (MFM) in den Roman einfließen lässt. Daran schließt sich im zweiten Teil die Episode an, in der ab 1972 Volponi in Turin, in der Fiat-Administration (Bovino) tätig war, was erzählerisch transformiert gespiegelt wird in der Beziehung Saraccinis zu Donna Fulgenzia. Anzumerken bleibt noch, dass die Faszination der Macht, der Saraccini erliegt, einem Typus von Protagonisten Volponis eher zuzuordnen wäre, der 29 Zinato, Emanuele in Cronologia des ersten Bands der Werkausgabe S. LXX- LXXI. Angemerkt seien darüber hinaus die Äußerungen von Ottiero Ottieri, auch er ein Autor der so genannten Industrieliteratur: »Paolo hatte einen eigenen Sinn der Macht, er wollte Karriere machen in der Industrie, er hatte vor, amministratore delegato zu werden und war nahe daran. Sein Arbeitsfeld war, wie im Falle Adriano Olivettis, die Personalpolitik. Darin bestand seine Betriebsutopie, denn er beabsichtigte, aus dem Arbeitsverhältnis das Terrain zu machen, auf dem der Kampf um die Demokratisierung in den Betrieben auszufechten war. Für die Arbeitgeber war das seine ›Todsünde‹«. Aus Werkausgabe, Bd. I. S. LXX- LXXI; unsere Kursivierung. 30 Siehe S. 53 bis 56 unter dem Titel Proposta di Saraccini.
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wie Guido Corsalini (in La strada per Roma) im eigentlichen Sinn den gesellschaftlichen Ehrgeiz des Subjekts Volponis verkörpert.
4. T ECRASO
ODER DER
A RBEITSKAMPF
IN DER
F ABRIK
Die Erfahrungen, die der Erzähler aus dem Leben des Fabrikarbeiters Antonino Tecraso in den Roman einfließen lässt, sind zu verstehen als die Momente der Gegenwelt der Arbeit im Kampf mit dem Kapital in seinen hier dargestellten vielfachen Erscheinungsweisen. In der Fabrikarbeit wird im Roman die Zäsur festgehalten, in der der Zyklus der Arbeitskämpfe von ’68/69 abgelöst wird oder schon abgelöst worden ist von der Gegenoffensive des Kapitals mit der Verlagerung der Produktion auf kleinere Zentren, die so genannte fabbrica diffusa, sowie mit der Einführung der Automation in den Produktionsprozess. Die Aushebung von Kanälen im Boden der Fabrikhallen (die Verkabelung für die automatische Steuerung der Maschinen), die im Roman eine Wende in der Entwicklung der kapitalistischen Produktion signalisiert, führt zu Protestaktionen der Arbeiter, in deren Verlauf Tecraso einen Hammer gegen die Fabrikwand schleudert und die Direktion ein Verfahren einleitet, um seine Entlassung durchzusetzen. Die Akte des Angeschuldigten durchläuft eine Unzahl bürokratischer Instanzen von Fabrik, Stadt und Justizbehörden und setzt eine wahre Sturzflut von Zuständigkeiten in Bewegung, was zeigt, in welchem Maß die Rechte der Zivilgesellschaft durch die Bürokratie schon beschnitten worden sind. Wieder, wie in der Inszenierung des Prozesses gegen die Mörder Pasolinis, wird ein Verfahren inszeniert, in dem die Berechtigung des Verfahrens angesichts eines kolossalen Aufwands von Mitteln und Instanzen ad absurdum geführt wird. »Die Akte Tecrasos«, so setzt die Beschreibung des furiosen Aktenumlaufs ein,31 »durchlief beschleunigt Lokale, Korridore, Ebenen, Eingangspforten der Fabrik […]« [224], worauf dann die bürokratische Fixierung des »Vorfalls« erfolgt: »Die Akte Tecrasos wird aufbewahrt im Original, aber sorgfältig photokopiert, kommentiert, mit Anmerkungen versehen, juristischen, gewerkschaftlichen, politischen, administrativen, und verteilt für weitere Anlagen und zur gebührenden Kenntnisnahme an vierundzwanzig Direktionen, zentrale und allgemeine.« [226] Tecraso entschließt sich, auf die Anschuldigung gegen ihn mit einem Schreiben zu antworten, das er an die Fabrikdirektion adressiert. Dieses Schreiben könnte als ein Manifest des Arbeiters verstanden werden, in dem die gesellschaftlichen Ansprüche der Arbeit im Prozess der Industrialisierung eingefordert werden. Politisch ist das ganz offensichtlich eine Schwäche oder Illusion, denn die Direktion setzt sich umstandslos über solche Einsprüche hinweg. In dieser Hinsicht ist der Brief auch wirkungslos, Tecraso wird entlassen und später verhaftet. Dennoch ist dem Brief ein spezifischer Wert beizumessen, da er den »Arbeitskampf in der Fabrik« in einer besonderen Weise abbildet, die wieder auch allegorisch interpretiert werden kann.
31 Siehe S. 224 bis 227
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In Tecrasos Brief an die Direktion32 wird ein Zusammenhang angedeutet, der die geforderten Rechtsansprüche stützt und thematisch zurückführt auf das, was der Brief spezifiziert: »Die Direktion – der Arbeiter – und das gesellschaftliche Verhältnis von Arbeit und Kapital«, dem man als Titel hinzufügen könnte: »Die Analyse der Rechtsverhältnisse in der Beziehung Arbeit und Kapital.« Der Rechtsbegriff, den Volponi hier zugrunde legt, zielt – über das positive Arbeitsrecht hinaus – auf ein Daseinsrecht der Lebewesen, das als Rechtsanspruch in der Vergesellschaftung menschlicher Verhältnisse im Werk Volponis eine konstitutive Rolle spielt. Darauf kommen wir in der Analyse des Briefs zurück. Was diesen betrifft, so kann er unter drei hauptsächlichen Aspekten gesehen werden, die in den Handlungsgang verflochten sind: 1.) Die Analyse der Funktionen der Figuren in diesem Prozess; 2.) Der Akt der Selbstverteidigung des Arbeiters; und 3.) Die Provokation der Direktion als Regelverletzung und Rechtsbruch. Die Anrede im Briefkopf Tecrasos – »Sehr geehrter Unterzeichner für die General-Direktion« – ist schon dahingehend zu verstehen, dass die Person des Briefschreibers hinter der Funktion, die sie ausübt, ganz und gar inexistent wird, was auch damit zusammen hängt, dass das Schreiben, das an Tecraso adressiert ist, nicht als Brief der Direktion zu verstehen ist, aber so von Tecraso interpretiert wird. Der Schriftverkehr zwischen Direktion und Arbeiter wird als ein Kommunikatiosverhältnis bezeichnet, das auf Gegenseitigkeit beruht und eine Antwort des Angeschriebenen als selbstverständlich voraussetzt. Obwohl, wie Tecraso feststellt, das Schreiben an ihn »keine Antwort verlangt […], fühle ich, so sagt er, mich als Mensch verpflichtet zu antworten«. Die Notwendigkeit ergibt sich daraus, dass Tecraso als Person angesprochen worden ist, in einem Schreiben adressiert, »wenn nicht an mich persönlich, so doch in einer Weise, die mich ganz und gar betrifft, das Individuum, das ich bin, in einem Arbeitsverhältnis mit Ihrer Gesellschaft […]«. [228] Hier werden zunächst die Merkmale aufgezählt, die die Person definieren, die zivile (standesamtliche) Person, das biographische Individuum, das soziale Individuum (der Klasse), das Individuum in seiner ökonomischen Funktion, die insgesamt Rollen darstellen, die das gesellschaftliche Subjekt von seinem nicht entfremdeten Status als sozialisiertes Individuum unterscheiden. In dieser Funktion der Rollen, die alle als allegorische Masken der Inszenierung der Existenz zu sehen sind, sind die ökonomischen Verhältnisse die Dimension, in welcher die Verteilung der Rollen mit der Arbeitsteilung vorgenommen wird und in der die Beziehung von Kapital und Arbeit, von Fabrik und Arbeiter, gesellschaftlich die Form annimmt, die in den Arbeitskämpfen von 1968/69 im Statuto dei lavoratori [dem Statut der Arbeiter] eine vorläufige Fixierung gefunden hat. Darauf bezieht sich Tecraso vermutlich, wenn er von der Direktion erwartet, dass sie zu einer Erklärung bereit ist »über meine Arbeit, meine Leistung, mein Verhalten, über mein hauptsächliches Leben, d.h. das zivile, das ich führe und von dem mein anderes, mehr persönlicheres und sekundäres Leben abhängig ist.« [228] Ist aber dieses »mehr persönliche Leben«, das hier schon als »sekundär« eingestuft wird, auch wirklich noch ein Leben, über das die Person bestimmen kann? Oder ist nicht vielmehr auch diese »Person« ein Bestandteil der Fabrik und ihrer Funktionen geworden, wie das in dem Ab32 Siehe S. 228 bis 230
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schnitt gezeigt wird, der die gesamte Existenz unter den Begriff der »biografia industriale« subsumiert?33 Was in Tecrasos Brief den zweiten Aspekt angeht, den Akt der Selbstverteidigung, als Tecraso aus Wut einen Hammer gegen die Fabrikwand schleudert, so ist diese Handlungsweise als solche zu sehen und erst zu beurteilen, wenn sie in Verbindung mit der Anschuldigung gesehen wird, dass das Schleudern des Hammers einen Akt feindseliger Aggression und der Sabotage darstellt. Um das zu widerlegen, besteht Tecraso auf der Unterscheidung zwischen seiner Funktion in der Fabrik und »meinem hauptsächlichen, d.h. zivilen Leben« [228]; und er bezeichnet jetzt diesen Teil seiner Existenz als außerhalb des Arbeitsverhältnisses liegend, wo ein Wutausbruch als »eine Geste meines persönlichen und sekundären Lebens« zu werten ist. Die Ankündigung der Entlassung schließlich und die Androhung einer gerichtlichen Verfolgung, der dritte Aspekt des Briefs, kann auf der Grundlage der von Tecraso vorgetragenen Argumentation nur als ungerechtfertigt erscheinen und darüber hinaus als die Verletzung des Vertragsverhältnisses aufgefasst werden. Ausdrücklich erklärt er: »ich will weiter mit euch zusammen arbeiten. Das ist ein vertragliches Abkommen und das ist ein Leben.« [230] Doch der Fabrikleitung gilt der Arbeitsvertrag als jeder Zeit widerruflich, sie sucht den Konflikt mit dem Arbeiter, indem sie einen Fabrikfremden als »Provocateur«, wie es heißt, findet, der bezeugt, durch den Hammerwurf gefährdet worden zu sein. Was mit der Einführung der Automation das Leben aller grundlegend verändert, ist der damit einhergehende Wandel in der Wahrnehmung des Realen und der sich daraus ergebenden Wertzumessung der Arbeit. Diese Erfahrung spiegelt das Leben und der Kampf des Arbeiters Tecraso zu einem Zeitpunkt, in dem die Automaten die menschliche Arbeitskraft ersetzen und damit die Arbeitslosigkeit zu einem Massenproblem wird. Zu den Problemen, die dadurch geschaffen werden, gesellt sich aber auch, dass die Automatisierung der Fabrikarbeit, neben den negativen Folgen für den Arbeitsmarkt, auch dazu beiträgt oder beigetragen hat, die menschliche Wahrnehmungsfähigkeit zu verändern. Schädlich – und daher zu bekämpfen – ist sie für die direkt betroffenen Arbeiter, die nicht nur von Arbeitslosigkeit bedroht sind, sondern auch den Wert ihrer Arbeit drastisch herabgestuft und entwertet sehen, was mit eingeht in den Protest Tecrasos. Das Problem des Kraftaufwands ist nie gestellt worden. Die Verausgabung nervöser Anspannung ist nie als eine Leistung, nicht einmal eine geistige, betrachtet worden […].Ah, unsere Wut auf die Stupidität der Padroni! Wieviel Sachen könnte man machen, und wieviel schöne, wenn sie uns machen ließen. Aber wen kümmert das! Die nicht, die das Leben den Vorarbeitern leicht machen und der Organisation der so genannten industriellen Kultur. [192]
Was in der industriellen Produktion verloren geht – und das betrifft über die Automation hinaus alle produktiven Leistungen des Arbeiters –, ist de Fähigkeit der Wahrnehmungen, die den Produktionsprozess begleiten und die nicht zu Buche schlagen. Diese Fähigkeiten werden verlagert aus dem Bereich der Fabrik auf das größer werdende Terrain der Arbeitslosigkeit oder der prekä33 Siehe S. 137 bis 145
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ren Beschäftigungen, in die das erzwungene Ausscheiden aus dem Arbeitsprozess Tecraso führt. Wie sich das auf die Existenzbedingungen der nachfolgenden Generation auswirkt, illustriert die Situation von Tecrasos heranwachsenden Kindern, eines Jungen und eines Mädchens. Nicht mehr zählen können sie auf das Vorbild des Vaters als Arbeiter und auf dessen Fähigkeiten; sie sind die Kinder eines selbst Arbeit Suchenden im Zustand des precariato. Die eingestreuten kurzen Lebensskizzen der beiden Kinder beschreiben Wege eines Lebenserwerbs, der nicht mehr durch feste Arbeitsverhältnisse gesichert ist, sondern über wechselnde Stationen in die Offenheit einer nicht vorhersehbaren Zukunft weisen, darin Sir Chichester vergleichbar und seinem Abenteuer. Der Sohn Tecrasos verlässt mit 14 Jahren die Schule, und als talentierter Fußballspieler gelingt ihm die Aufnahme in einen so renommierten Club wie Bayern München. Das unglückliche Ende seiner Laufbahn vermeldet der Text in einer Art Zeitungsnotiz in folgender lakonischen Mitteilung: Der Sohn spielt Fußball bei Bayern München. Während des Spiels unter eisigem Regen leidet er viel. In der zweiten Halbzeit, als auch die Anstrengungen größer werden, fällt er plötzlich am Rand des Spielfelds. Er hat alles gegeben, um der beste zu sein, der der Mannschaft am meisten zugetane und verbundene. Er stirbt, ehe man ihm eine Decke bringt. [193]
Diese extrem verkürzte Darstellung vom Leben und Tod des Sohns von Tecraso könnte dem entsprechen, was Volponi unter der Konzentration des Sinns in der Form des »versetto« oder der »Fabel« verstanden hat,34 womit die Bedeutung des Mitgeteilten in die Höhe eines beispielhaften Geschehens gehoben wird. Dem entsprechen die mysteriösen Begleitumstände der Überführung des Toten in die Heimat. Der mit den Fahnen des Vereins und der Trikolore geschmückte Sarg wird von den Fabrikarbeitern begrüßt: – »Wir sind die Realität. Wir sind die Politik, die fantascienza! Wir, die Arbeiter der Industrie […]« [194], einen Ruf, den der Vater des Toten im Gedächtnis bewahrt und in ein Bild umformt, das einen Reiter mit Pferd und Standarte zeigt; worin der Vater seinen Sohn zu erkennen meint, seine Kraft und seinen Mut: »Es ist wahr, dachte der Vater, wir können die Reiter in uns sehen und ihre mörderischen Feinde, weil wir an den Kampf gewöhnt sind. […] Mein Sohn hatte keinen potenten Reiter in sich, der ihn transformierte, man musste ihm künstliche Reiter gegeben haben, Sachen wie Maschine und feiner Sand.« [194] Das Bild von Pferd und Reiter, das hier zum ersten Mal begegnet und das in diesem Kontext vermutlich das Verhältnis von Arbeiterklasse und Industrie darstellen soll, wird in einem der letzten großen Gedichte in Nel silenzio campale unter dem Titel Il cavallo di Atene den hier schon angedeuteten Zusammenhang in das Bild der Geschichte transformieren, die vom Reiter nicht zu bändigen ist. Noch einmal wird das Bild des »cavaliere«, diesmal mit dem Adjektiv »cinese« versehen, im Text wieder aufgenommen, als vom Leben der Tochter die Rede ist, die als Dienstmädchen offenbar im Haus einer padrona Aufnahme gefunden hat und ihr dort, augenscheinlich als deren Liebhaberin, der Einstieg in die Lebewelt ermöglicht werden soll, wenn man den Anspielun34 In Il leone e la volpe, S. 107.
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gen im Text folgen darf: ihre Herrin nimmt sie mit sich ans Meer, im Koffer die Morgentoilette aus Seide, die von der padrona ihr geschenkt worden ist. [192] Als Tecraso sich von der Tochter verabschiedet und sie in die Arme nimmt, schien es ihm sicher, dass sie ihren »chinesischen Reiter« mit Fahne in sich hatte […]; was hier in Verbindung mit dem »chinesischen Reiter« auf Mao Tsetung verweist: »Mao ist seit langem tot, und die hundert Blumen werden weiter anderswo geschnitten und verkauft. Wenn seine Tochter in sich den befreienden Reiter hat, wird sie widerstehen, und auch unter der Gewalt nicht Bewusstsein und Würde verlieren.« [193] Befremdlich zunächst erscheint das kriegerische Bild des Reiters, der eher feudale Assoziationen erweckt, während er hier in Verbindung gebracht wird mit dem Arbeiterkampf und mit dem Verlauf der Geschichte, auf die diese Bildkonstellation in den Gedichten von Nel silenzio campale bezogen wird. Schon so viel wird erkennbar, dass Pferd und Reiter den Kampfgeist der Figuren bezeichnen, die sich gegen die Welt des Kapitalismus zur Wehr setzen. Bestätigt wird das, wenn wir erfahren, dass Tecrasos Tochter verhaftet worden ist unter der Anschuldigung, bewaffneten proletarischen Formationen angehört zu haben, von denen sie eine der führenden Figuren geworden war […] [240]. Mit dieser militanten Wendung im Leben der Tochter Tecrasos, der inzwischen selbst im Gefängnis gelandet ist und der Begünstigung und Zugehörigkeit zu einer bewaffneten Bande beschuldigt wird [239], endet die Inserierung der Geschichte der Kinder des Arbeiters Tecraso in die Erzählung seines Kampfs, die im Folgenden wieder aufgenommen wird. Damit kehren wir zum Arbeitskampf in der Fabrik zurück. Die Fabrik will ihn und betreibt ihn zielgerichtet, indem sie dem Arbeiter mit ihrem Rausschmiss die Arbeit verweigert, ihn in Verhältnisse freisetzt, die die Politisierung des Arbeitskampfs in den 70er Jahren zur Folge haben. An der Biographie Tecrasos ist die Geschichte dieses Arbeitskampfs abzulesen und weiter zu verfolgen über die Arbeitslosigkeit bis zu seiner Inhaftierung. Seinen Brief an die Direktion beschließt Tecraso mit einem Post Scriptum, in dem er äußert, dass er, falls er binnen 20 Tagen keine Antwort erhalte, sich frei fühlt, selbst über sein Leben zu verfügen, über das große, das euch betrifft, und das meine, sekundäre. [230] Tecraso spricht hier, wie wir dieses Nachwort verstehen, für die Arbeiter als Klasse, die ihren Kampf fortsetzen wird, auch aus der Position der Arbeitslosigkeit, auf die Tecraso zurückversetzt worden ist . Diese Bekundung eines Arbeiters ist zusammen zu lesen mit der ausführlicheren Erklärung zur Politisierung des Arbeitskampfs, die im Bewusstsein des arbeitslosen Tecraso Gestalt gewinnt und zu den gewichtigen Äußerungen von Volponi selbst zu zählen ist, wie Franco Fortini die folgenden Erklärungen eingeschätzt hat:35 Die Klasse der Arbeiter ist zerbrochen, zerstreut, verringert, betäubt und von ihrem Weg abgekommen, wenn man sie trennt von der Arbeit und der Fabrik […]. Notwendig wäre eine kleine kommunistische Partei mit allen Opfern der Erdbeben, den Vertriebenen, den Arbeitslosen, den Neidischen, den Überwältigten, den halb schon Psychoanalisierten […], und ich weiß nicht wer noch, ah ja, ir-
35 Siehe die Rezension Fortinis aus Beiträgen im Internet von Le mosche del capitale, in der er den letzten Satz unseres Zitats ebenfalls zitiert.
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Le mosche del capitale gendeinen enttäuschten Utopisten von den Hügeln der Marche, Urbanist und ExOlivettianer, Schriftsteller, Poet oder Maler. [238]
Der Kampf für die Valorisierung der Arbeit gegen ihre Abwertung durch das Kapital, vermutlich die wichtigste, sicher aber die dominierende Thematik der Allegorisierung des Arbeiterkampfs in der Fabrik, kann als ein Manifest auch gesehen werden gegen die so genannte ›Demonstration der 40.000‹ von 1980, der Angestellten der Fiat-Werke und der ihnen Nahestehenden gegen den Streik der Fabrikarbeiter. Gegen diesen Protest gerichtet ist, was der Verteidigung des Wertbegriffs der Arbeit dient, in der das Wissen vergegenständlicht und integriert ist, das die Arbeiter sich in und über die Produktion angeeignet haben, d.h. das die eigentliche Produktivkraft darstellt, die vom Kapital allein in Besitz genommen wird. Der Rausschmiss des Arbeiters Tecraso in der Darstellung des Arbeiterkampfs und dessen Kriminalisierung markiert auf der Seite der Arbeit das Ende einer Produktionsphase, dem auf der Seite des Kapitals im Roman das Scheitern der Versuche entspricht, die italienische Industrie zu sanieren. Die Biographie des Arbeiters Tecraso spiegelt diesen Niedergang aber nicht ausschließlich im Sinne einer Niederlage der Arbeit, sondern auch als den Übergang in die neue Phase des precariato, des nicht mehr gesicherten Status der Arbeit, den der letzte Teil der Biographie Tecrasos illustriert. Um die Dimension der neuen Existenzbedingungen des Prekariats noch näher zu beleuchten, könnten einige Lebensskizzen aus dem Umfeld Tecrasos vor Augen führen, wie unterschiedlich die Personen auf die neue Situation des Arbeitsverlusts reagieren. Eine erste Episode zeigt, auf welche Weise Giampiero, ein Arbeitsloser mittleren Alters mit der Situation umgeht, dass er kein Geld hat, um sich die Waren im Supermarkt zu kaufen, die er haben möchte oder braucht. Er ist einer Frau mittleren Alters beim Einkauf behilflich, die er nach Hause begleitet und der er verschiedene andere Dienste erweist, so dass sich ein Verhältnis zwischen ihnen entwickelt, das auch ihre gegenseitigen Liebesbedürfnisse befriedigt. »Beide entzündeten sich in einem durchdringenden, auf alles übergehenden Vergnügen.« [231] Eine der Episoden, die das Leben des Arbeitslosen im Umgang mit anderen in einer Beziehung der Solidarität illustrieren, ist Tecrasos Begegnung auf den nächtlichen Straßen der Stadt mit einem noch jungen Arbeiter der Fabrik, der seine Arbeit ebenfalls verloren hat.36 Tecraso bietet ihm an, bei ihm zu übernachten, was der Junge annimmt unter der Bedingung, dass er ihn nicht über seiner Geschichte ausfragt. Ich komme mit, wenn du nicht zu väterlich bist, wenn du nicht anfängst, mich nach meiner Geschichte zu fragen und was ich für Probleme habe … […] ich kann dir sagen, dass ich nicht mehr arbeite, auch weil ich seit vier Monaten arbeitslos bin… Ich kriege keine Unterstützung und ich gehe nicht aufs Arbeitsamt … Ich such etwas auf eigene Faust, und bald werde ich von hier weggehen. [237]
Dieses Fragment aus der Biographie des jungen Arbeiters, der jetzt von sich aus die Arbeit in der Fabrik verweigert, ist auch deswegen aufschlussreich, weil darin die Daten ohne Belang geworden sind, die für das Erwerbsleben 36 Siehe S. 236 bis 239
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
im Lebenslauf des Individuums sonst absolut notwendig sind, nämlich die Geschichte des Individuums und die Probleme seiner Person. Von Interesse ist darüber hinaus die hingeworfene Bemerkung »Ich suche was auf eigene Faust« [»Cerco per conto mio«], die dem Lebensverlauf des Jungen eine Wendung gibt, die der des Abgangs Aspris am Schluss von Corporale wenn nicht gleichkommt, so doch ähnlich ist, soweit Aspri als eine neue Gestalt des Subjekts im Werk Volponis zu betrachten ist. Nach ein paar Tagen verlässt der Junge die Unterkunft bei Tecraso wieder, kehrt dann nach Monaten noch einmal zurück in Begleitung eines anderen, die beide dann aus dem Blickfeld Tecrasos für immer verschwinden. Tecraso, den die Justiz der Zugehörigkeit zu terroristischen Organisationen bezichtigt, wird zu 18 Jahren Haft verurteilt, was er kommentiert: Ihr verurteilt zum Knast einen Arbeiter, der ich nicht mehr bin. [240]
Hier setzt jetzt die imaginäre Zwiesprache Tecrasos ein mit dem »cavaliere cinese«, dem chinesischen Reiter, von dem schon die Rede war im Zusammenhang mit seiner Tochter [193]; der Figur, die als ein Bestandteil der Person zu begreifen wäre und – als kämpferisches Symbol – als das Bewusstsein des Klassenkampfs, das in Tecraso und seiner Tochter verkörpert wird, sowie in dem Zellengenossen Tecrasos, der unter seinen Augen stirbt. Er hörte, Tecraso, seinen Reiter auf dem Pferd, das vorüberlief, aber von dem er nicht mehr erkennen konnte, ob es aufstieg oder vorüberging oder außer ihm seinen Erinnerungen nachging. Auch seine Erinnerung verließ ihn. [240]
Dem Reiter, der den Kampf auf sein Banner geschrieben hat und damit alle Länder durchzieht, wird eine Beschreibung gewidmet, die ihn unter die Gestalten der geschichtlichen Mythen einreiht [242]. Und an ihn richtet Tecraso die Frage nach dem Gang der Geschichte, die er selbst nicht mehr zu beantworten weiß: Reiter, du bist tüchtig und mutig, aber du weißt nicht mehr, was du machen sollst, wo du jetzt deine Mission verfehlt hast. Alles ist dir widrig gewesen und hat dich verwirrt … und du weißt nicht mehr, wohin du gehen sollst…für dich und für mich zählt nur noch zusammen zu bleiben. [242]
5. D IE K OMMANDOSTRUKTUREN
UND IHRE
D ISKURSE
Sind die Bemerkungen über den Sonnenkönig – Il re sole Rosselinis –, wie überhaupt der Sinn dieser Episode, zweideutig, da sie vom Interesse der Beteiligten als Personen diktiert sind, so sind die Reden, die Volponi den Gegenständen – den Tieren, Pflanzen, den Rohstoffen und Werkzeugen sowie den Büromaterialien – in den Mund legt, von der Zweideutigkeit frei, die den Reden der Personen im »Zeitalter des Verdachts« zu eigen sind, um einen Titel Nathalie Sarrautes zu zitieren.37 Dass Tiere, Pflanzen und Dinge sprechen
37 Sarraute, Nathalie: L’ère du soupçon, 1956.
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Le mosche del capitale
können, ist eine verfahrenstechnische Entscheidung der Schreibweise Volponis, die die Aussage der nicht-menschlichen Rede vom Verdacht der Ideologie nahezu gänzlich ausnimmt und sie damit zum Mittel der Kritik und der Denunzierung kapitalistischer Verhältnisse macht. Tiere und Dinge verkünden Sachverhalte, die dem Begriff der Wahrheit, wie Volponi ihn aus einer sich darin offenbarenden Natur ableitet, nahe kommt, wenn nicht damit identisch wird. An zwei zentralen Episoden des Dialogs zwischen den nichtmenschlichen Gegenständen soll die kritische Funktion dieser Reden gezeigt werden. In der Chef-Etage des Firmenchefs Astolfo bricht zwischen den repräsentativen Gegenständen dieser Kommandozentrale, dem Gummibaum (ficus), dem Telefon und dem Computer, ein Streit darüber aus, wem von ihnen die höchste Bedeutung zukommt im Prozess der industriellen Produktion. Jeder von ihnen repräsentiert einen der Sektoren der großen Industrie: der Gummibaum den der Rohstoffe, das Telefon, das Diktiergerät u.a. den Sektor der Kommunikation; der Computer schließlich den der Kalkulation und des Transfers von Werten (v.a. des Kapitals). In deutlich abwertender Funktion stellt dieser Disput die Verlagerung des Produktionsbegriffs, materiell und konzeptuell – von der Verarbeitung von Rohstoffen zu Gütern – auf den Bereich der Kapitalakkumulation dar, oder anders gesagt, die Umwertung von Rohstoff in Geldwert, als Metabolismus, d.h. Stoffwechsel hier bezeichnet. Im Verbund mit dem Telefon und gegen die Pflanzen gerichtet, äußert der Computer (il terminale): »Wir sind die kreative industrielle Kultur«. Wir haben keine Bindung mehr zur Natur und den Klimate der Vorfahren; […]. Wir repräsentieren den Geist und den Metabolismus des Unternehmens. Wir pumpen, transformieren, multiplizieren und verbreiten Ressourcen und Güter, Wissenschaft und Markt, Technologie und Politik. Die Manager schauen auf uns, um zu denken und zu entscheiden […]. [163]
Worauf die Pflanzen entgegnen, dass diese Tätigkeiten gar nicht mehr zur Industrie gehören: Vielleicht, im nicht mehr industriellen Bereich des Unternehmens, der sich ins rein Finanzielle gewandelt hat, in die exklusive Umsetzung von Geschäften. […]. Solange es Eisen, Gummi, Kupfer, Soda, Kohle zu transformieren gibt […], gibt es die wirkliche Industrie und gibt es uns. [163]
Schließlich lassen die Pflanzen ihrer Verachtung gegenüber der spekulativen Wertschöpfung der Herren der Produktion freien Lauf, indem sie an die Adresse des Computers gerichtet erwidern: Aber du bist so fiktiv, dass du nur deine Fiktionen verstehen und wiedergeben kannst! […]. Du bist konstruiert worden von der Negation der Industrie und ihrer Kultur. Geboren aus jenem besessenen, totalen, allmächtigen und nunmehr imperialen Zynismus, der über die Industrie herrscht als ihre Krone. Die Industrie will jeder Realität entfliehen, einschließlich der eigenen. Und du sollst ihr dabei helfen, indem du die Zeit und den Raum des Realen annullierst. [165]
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Nicht die Verarbeitung des Rohstoffs zum fertigen Produkt, sondern die Umwandlung von Materie in Kapital, wird hier beschrieben und charakterisiert als der Übergang vom Zustand materieller Realität in die Immaterialität oder Abstraktion des Geldes. Vorangegangen ist diesem Disput das Zwiegespräch zwischen dem Mond [la luna] und dem Computer [il calcolatore elettronico], das ebenso offen wie unverblümt die Angelegenheiten des Industrieunternehmens in Bovino beleuchtet. Auch diese Begegnung findet statt im Büro der Chef-Etage, wo die Strahlen des Mondes auf den Computer fallen und beide sich gegenseitig bekannt machen:38 Der Computer beginnt den Mond auszufragen: Sag mir Mond »Was glaubst du zu wissen und was kannst du machen?« Und dieser: »Wenig. Ich muss mich drehen/herumgehen und schauen, wie die Welt sich bewegt. Das Licht meiner Blicke hat eine Wirkung auf sie, ohne dass ich das will.« Und seinerseits äußert der Computer: »Auch ich schaue zu, wie die Welt läuft, ihre Kapitalströme, und habe Einfluss auf die einen und die anderen mit Daten und Projektionen.« [79] Wieder geht es um den Kontrast von Natur und Wertkategorien, von der Natur als materieller Realität der Dinge und ihrer Umwandlung in immaterielle Werte, die sich in die konkrete Macht des Kapitals verkehren. »Und was ist das Kapital?« fragt der Mond: »Der Reichtum, das Geld, die Macht, das ist es, mehr als alles andere die Macht.« [80] Von Interesse ist darüber hinaus, dass eine weitere Figur des Personals von Bovino eingeführt wird in Gestalt des Chefs des Dienstpersonals namens Radames, dessen Geschichte der Computer dem Mond erzählt und die in die Zeit des Faschismus zurückzudatieren ist. Als Major der faschistischen Repubblica Sociale von Salò war Radames nach dem Sturz Mussolinis dem Management in Bovino behilflich, Kapital und Dokumente in die Schweiz zu transferieren und die Flucht des leitenden Direktors des Unternehmens zu ermöglichen. Dieser revanchiert sich nach seiner Rückkehr an die Spitze der Firma, indem er Radames’ Einstellung als Chef des Dienstpersonals verfügt, über das der im Kommandieren geübte Ex-Faschist mit harter Hand regiert. Schon im Abessinienkrieg an der Seite des berüchtigten Marschalls Graziani hatte Radames die Ausbeutung des besetzten Landes und seiner Bewohner mit brachialer Gewalt betrieben.39 Der Beginn seiner Karriere fällt aber schon in die Zeit, in der er im Dienst eines industriellen Unternehmens die Kontakte zu einer brasilianischen Firma wahrgenommen hat, die ihm als Geschenk den Papagei überlässt. der in der Chef-Etage sein Los so bitter beklagt. Nicht nur wird hier auf die Zeit des Faschismus in Brasilien angespielt, sondern auch die Verachtung und Misshandlung der Kreaturen dokumentiert, die sich mit den Herrschaftsansprüchen des Faschismus verbindet. Die Kontinuität ehemaliger Führungskräfte des Faschismus in Funktionen der Nachkriegsindustrie, die Volponi schon in Memoriale in der Figur Pignottis denunziert hat, wird von ihm als ein Phänomen des Geschichtsverlaufs charakterisiert, das sich insbesondere in der Verbindung zeigt, die wir als den militärischindustriellen Komplex beschrieben haben. Bezüglich dieses Hintergrunds 38 Offensichtlich ist hier die Anleihe Volponis bei Leopardis berühmten Dialogo della terra e della luna – Dialog der Erde und des Monds. 39 Es handelt sich um denselben Marschall Graziani, der schon im Zusammenhang mit dem Krieg in Abessinien in Il lanciatore di giavellotto erwähnt worden ist.
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Le mosche del capitale
kommt auch der Geschichte des Radames eine besondere Bedeutung zu, die hier kurz resümiert werden soll. Radames ist die Figur, die sich in markanter Weise von der zur Schau gestellten liberalen Wirtschaftsführung Astolfos und Donna Fulgenzias abhebt, gegen die er in seinen Schmähreden offen zu Felde zieht. Sein Hass gilt den Trotteln, schwach ohne Gewissheiten, den so genannten Demokraten an der Macht, […] ohne jede Vorbereitung und Berufung zum Kommandieren, zum wahren Kommando, feste Befehle zu geben, die Leute in Reih und Glied zu bringen, sie Gehorsam zu lehren, genaue Ziele zu setzen, das Genick zu brechen den Gegnern, in Länder einzudringen und den Feinden ihre Schätze zu entreißen […]. Er hätte eine präzise Ordnung wieder eingeführt, wo wer Arbeiter ist, auch Arbeiter bleibt, und damit basta […]. Wehe wenn jetzt angefangen wird von neuer Arbeit zu sprechen und so Hoffnungen geweckt werden, auf neue Weisen zu arbeiten und zu leben. [90/91]
Diese offen faschistischen Reden sind keinesfalls Verlautbarungen der sich an demokratischen Kriterien orientierenden Firmenführung, die im Gegenteil, wie den Statements von Astolfo und Donna Fulgenzia zu entnehmen ist, in die entgegengesetzte Richtung gehen. Die unternehmerische Praxis von Bovino aber widerspricht keinesfalls den Prinzipien einer »Arbeitsteilung«, wie sie Radames versteht: Zum »Wohl des Vaterlands« wirken diejenigen, die ihm dienen im Hinblick darauf, es groß zu machen und ihnen zu Diensten: Das Volk, […] einst […] geordnet und arbeitsam, ernst und gehorsam […], das wieder zu lernen hat, welche Rolle ihm in der Geschichte Italiens zukommt. [91]
Dieser Klassengegensatz verschwindet nahezu ganz hinter der demokratischen Selbstdarstellung des Managements, tritt aber offen zutage, wie noch zu zeigen sein wird, wo das Industrieunternehmen übergeht, sich neue Märkte zu erobern und gesellschaftliche Territorien zu beanspruchen, wie in der Städteplanung, als deren Sachbearbeiter Saraccini nach Bovino berufen worden ist.
6. S ARACCINI
IN
B OVINO :
DIE
F ASZINATION
DER
M ACHT
Dass Saraccini von Donna Fulgenzia und Astolfo umworben wird, zeigt ihm in gewisser Weise, dass er gebraucht wird, dass seine Einsichten in die Notwendigkeit einer industriellen Reform nicht abzuweisen sind, was ihm die Reden Astolfos zur Genüge bestätigen. Illustriert wird das in einer Szene, in der Saraccini im Büro des Firmenchefs mit einem Bild Roy Lichtensteins konfrontiert wird, das dieser über seinem Schreibtisch angebracht hat und das einen Händedruck zeigt, der offensichtlich die beiden Sozialpartner der amerikanischen Gesellschaft im Bündnis für eine gemeinsame Zukunft des Landes darstellen soll. Der Erzähler lässt das Bild sich selbst vorstellen und hinzufügen:
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte Ich bin gekauft worden in Amerika als das, was ich bin, aber so glaub ich noch mehr als das, was ich repräsentiere, Symbol kultureller Internationalität, demokratischer, avantgardistischer und unternehmerischer. […] Die starke, leistungsfähige Industrie, die die Hand reicht der Politik, den öffentlichen Institutionen, der Welt der Arbeit, auch der Arbeiterklasse. Das Bild des »Händedrucks« wird zum Aushängeschild einer neuen Kulturpolitik des Unternehmens, wie Astolfo das sieht, eine Kunst, wie er sagt , die bei uns leider noch fehlt, weil unser Land zurückgeblieben ist, noch ohne eine fortgeschrittene industrielle Kultur. [246]
Gegenüber dieser Demonstration demokratischer Solidarität der Klassen in den USA fühlt sich Saraccini sichtlich verunsichert, vom rasanten Tempo einer Entwicklung überwältigt, das alle Gegensätze einebnet, wozu am Ende auch die Avantgarde noch beigetragen hätte. Seine Verunsicherung weicht in dem Moment, wo er sich seiner Kompetenz wieder sicher weiß, in der Nähe Astolfos, quasi im Zentrum der Macht eines Unternehmens, das sich in seinen Augen zur Herrschaft über Italien erhoben hat. »Von neuem durchdrang ihn das Wohlbehagen, im Kreis der Mächtigen zu sein […]«; nicht nur als ›dirigente e amministratore‹, sondern auch als Diener und Sänger des Hofes, Teil und Werkzeug der Herrschaft. Astolfo wird aus dieser Sicht zum Prinzen, bestellt zur Regierung des geschichtlichsten und zentralen Teils des Reiches [251], womit das Piemont und Turin als dessen Zentrum gemeint sind. Zweifellos entspricht das der Bedeutung, die dem Piemont als der Wiege der Monarchie beigemessen wird, doch gleichzeitig wird hier auch auf die industrielle Vorherrschaft angespielt, die Turin und die Fiat-Werke über Italien im nationalen Maßstab ausüben oder lange Zeit ausgeübt haben. Die wirtschaftlichen und politischen Perspektiven Astolfos zielen über den nationalen Rahmen hinaus auf die Ausdehnung seiner Macht über fremde Territorien, wie den Mittelmeerraum und offenbar Nordafrika, wenn man der Beschreibung, die diesen Gebieten und ihren Bewohnern gewidmet wird, folgen darf. »Unter diesen rangierten an erster Stelle – wegen Lebhaftigkeit und Reichtum des Gesangs […] – einige nomadische Stämme […], die hin und her wanderten zwischen den Hochebenen und der Wüste […].« [251] Die Unterwerfung unter die Normalität kapitalistischer Verhältnisse – und das bedeutet den Eingriff in die ökonomischen Lebensbedingungen dieser Völker – offenbart in zynischem Selbstverständnis seiner Praxis die Frage Astolfos an Saraccini: »Wie sollen wir verfahren, um diese nomadischen und abergläubischen Stämme […] in unsere industrielle Gesellschaft einzugliedern?« Und Saraccinis Antwort: »Mit der Stärke Ihres Reiches und unter Ihrer Führung« [252/53], begleitet von einem Schwall leerer Worthülsen, die der Vasall am Hof der Industriefürsten sich angeeignet hat. Eine Steigerung in der Verstellung bzw. der Simulation von Wirklichkeit im Verhältnis zur Macht bedeutet für Saraccini der Umgang mit Donna Fulgenzia, deren kalter Geschäftssinn sich mit hochfliegenden Plänen paart, die bedrohliche Machtgelüste hinter raffinierten mondänen Umgangsformen verbergen.. Die Faszination der Macht, die die Figur Fulgenzias in hohem Maß für Saraccini verkörpert – welcher der Erzähler eine Beschreibung widmet, die man auch als Parodie der großen Romangestalten des 19. Jahrhunderts
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Le mosche del capitale
und insbesondere Balzacs begreifen könnte40 – spornt ihn seinerseits zur Aktivierung seiner Planungstätigkeit an. Der Planungsentwurf Saraccinis ist eine Art maßstabsgerechter Abbildung der Einflusszonen, aus der sich gesellschaftliche Macht rekrutiert: eine kartographische Aufstellung der Macht […]: präzis in der Unterscheidung der Basen, in der Kolorierung der politischen Kräfte, […] wie auch der Kurven und der Bewegungen der Krisen, der Härten, Widerstände oder Erschütterungen der Konflikte. [255]
In zweifacher Hinsicht ist diese »Karte der politischen Macht« im Hinblick auf die Planungstätigkeit Saraccinis von Bedeutung; zum einen, da sie rationale Kriterien und kalkulierbare Größen in die Planung des Wirtschaftsgeschehens einführt, die von der Linken in einer Politik der Sanierung ja impliziert waren, zum anderen aber auch Rationalität dem menschlichen Handeln unterstellt, die das Engagement in der Politik beflügeln und rechtfertigen kann. Mit solchen Erkenntnissen versehen, zielt Donna Fulgenzia, die, wie angenommen wird, Gianni Agnelli, den Chef der Fiat-Werke, repräsentieren soll, auf Höheres. Sie eröffnet Saraccini, dass sie dem Reich ihrer industriellen Herrschaft noch andere Bereiche einverleiben will, »dass es nämlich ein großes Geschäft wäre, Nachrichten zu verkaufen und Kommunikatiossysteme zu erwerben«, was auf die Aneignung von Massenkommunikationsmitteln zielt, die wenig später ein anderer Freibeuter des »wilden Kapitalismus« unter seine Kontrolle bringen wird. Und darüber hinaus, so Donna Fulgenzia weiter, beginne ich, davon überzeugt zu sein, dass das große Geschäft von 2000 sein wird, Luft zusammen mit Rauch zu verkaufen, Wasser zu verkaufen, zum Trinken oder anderes, bei Zeiten Brunnen und Quellen zu erwerben. Sich auch der Wolken zu bemächtigen. [257]
In diesen Worten enthüllt der Souverän des Industriereichs von Bovino seinen Anspruch auf die Herrschaft über einen unbegrenzten Raum, über die nationalen Grenzen hinausgehend und auf die Aneignung von Ressourcen zielend, die bisher, wie Luft und Wasser, allen verfügbar waren, so dass sein Handlungsspielraum sich ins Unermessliche erweitert, im selben Maß, wie auch das Kapital die nationalen Grenzen überschreitet und beginnt, globale Verfügungsrechte geltend zu machen. Hinter der Fassade einer »industriellen Kultur« wird eine Politik erkennbar, die das Bild von Roy Lichtenstein symbolisiert: die grenzenlose Verfügungsgewalt eines neuen, multinationalen und globalen Kapitalismus. Für Saraccini stellt sich die Frage jetzt, ob er sich einer solchen »industriellen Kultur« an der Spitze des großen Industrieunternehmens zur Verfügung stellen soll oder ob er das ihm unterbreitete Angebot ablehnt. Die Entscheidung über seinen Verbleib in Bovino wird herbeigeführt, als die Unternehmensleitung ihn beauftragt, ein städtebauliches Programm zu
40 Siehe die Beschreibung auf S. 256 beginnend mit »Sopra tutto questo donna Fulgenzia è il sole…« [ Über all diesem ist donna Fulgenzia die Sonne …].
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
entwickeln, das in einer Sitzung des gesamten Vorstands diskutiert, beanstandet und schließlich verworfen wird. Den Plan, wie die Stadt zu verändern ist, entwirft und skizziert Saraccini in einer Weise, die erkennen lässt, dass es um mehr geht als um die Stadtsanierung, dass darin – wie im Plan der Industriereform in der MFM – Grundsätze formuliert werden für einen demokratischen Neuaufbau der Stadt und ihres gesamten Umfelds. Dass dafür Mittel bereitgestellt werden müssen, wird als ein Akt der Verschwendung von Geldern betrachtet, die den Gewinn der Privatleute aus der Produktion nur schmälern würde. Besser alles beim Alten lassen. Und in Anspielung auf Olivetti: »Teofrasto [das ist Adriano Olivetti], hier in der Nähe [in Ivrea], wurde er nicht als ein naiver Träumer und ein utopischer Vergeuder von Ideen und Kapital gesehen?« [261] Als Saraccini sein Projekt dem versammelten Vorstand der Fabrikdirektoren vorträgt, trifft das auf einhellige Ablehnung. Zweckdienlicher und realistischer sei, einen palazzo [ein repräsentatives Gebäude] zu suchen, das man umbauen und nutzen könnte, um die Idee und das Programm industrieller Kultur anschaulich darzustellen, und dafür am geeignetsten sei eine Bank, in der alle Interessen gleichermaßen vertreten seien. Der ironische oder satirische Sinn, den der Erzähler diesem Vorschlag unterstellt, ist wohl darin zu sehen, dass der Industrielle mit der Errichtung des Palastes im Zentrum der Stadt zugleich die Vertreibung der Asozialen als Maßnahme der Stadtsanierung vorschlägt und als solche versteht. Warum also, so der Vorschlag, […] wählen wir nicht im historischen Zentrum einen Palast[…] ein altes und nobles Gebäude aus dem 18. Jahrhundert, verlassen, baufällig, besetzt von Leuten aus dem Süden …, Kriminellen … Prostituierten … jungendlichen Renitenten […], und räumen, säubern und restaurieren wir ihn nicht […]? [206]
Der Vorschlag wird umso bereitwilliger angenommen, als er zugleich die Errichtung der Zentralbank im Gebäude vorsieht, was die inzwischen längst vollzogene Verbindung zwischen Banken und Industrie ins Bewusstsein ruft. Als Saraccini Donna Fulgenzia den Beschluss des Vorstands mitteilt, ohne seine Enttäuschung zu verbergen, findet das keine Resonanz bei ihr; sie hält im Gegenteil den Beschluss für vertretbar und fordert Saraccini auf, bei seiner Realisierung mitzuwirken. Doch als Astolfo ihn mit der Verantwortung für die Kulturarbeit beauftragen will, ist Saraccini nicht mehr bereit, den Auftrag auszuführen. Offen äußert er, dass die Praxis der großen Industrie ihren Ansprüchen widerspricht, die treibende Kraft der Erneuerung der Kultur zu werden. Wenn ihr euch nicht von der Herrschaft befreit, so wie sie jetzt ist, seid ihr verloren, und gezwungen euren eigenen Prinzipien zuwider zu handeln … [262].
Doch kehren wir zurück zu den Erwartungen, die Saraccinis Wechsel nach Bovino begründet haben und rekapitulieren wir den Prozess bis zu seinem Rückzug und seinem Verzicht. Die Ähnlichkeit der Figur Saraccinis mit Guido Corsalini wird in Grundzügen hier wieder erkennbar, was sich auch daraus herleiten lässt, dass Volponi erst 1991 La strada per Roma veröffentlicht und Corsalini als das gereifte Subjekt vorgestellt werden könnte. Das Kriterium, das hierfür aus356
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schlaggebend wäre, ist der Erwerb von Reichtum, den Corsalini zielstrebig verfolgt und den er in der frühen Zeit sozial noch rechtfertigt, der aber als Akkumulation von Kapital, das sich gegen seine soziale Verwendung sperrt, im späten Roman nicht mehr zu rechtfertigen ist und von Saraccini auch nicht gerechtfertigt wird. Im Wesentlichen geht es nach wie vor um das Problem der Verwertung von Kapital, das hier als Thematik noch einmal zentral in den Vordergrund rückt. Saraccini wird zur Figur, die diesen Widerspruch verkörpert und daran in seiner Karriere scheitert. Das zeigt sich in den Versammlungen der Vorstandsgremien, denen er sein Industrieprogramm unterbreitet, das gegenüber den Gemeinplätzen der »cultura industriale« aus dem Mund von Astolfo und Donna Fulgenzia jetzt konkrete Gestalt gewinnt. Es besteht aus einem auf mehrere Jahre befristeten Plan [piano pluriennale economico-sociale], der die Umwelt – die städtische wie die regionale – in die Verantwortung des Unternehmens einbezieht und der als Kriterien industrieller Produktion Werte definiert wie »Entwicklung, demokratische Verhältnisse, Lebensqualität.« [249] Dass diese Werte als Ziele wirtschaftlichen Handelns von den Herren der Industrie nicht zu akzeptieren waren, lässt die Planung des Palastes erkennen, der in der Mitte der Stadt die Industrie im Verein mit der Bank repräsentieren soll, verdeutlicht aber in seinem ganzen Ausmaß dann die Ansprüche, die die Herrscher von Bovino, Fulgenzia und Astolfo, auf das gesamte Reich der Industrie erheben, nämlich die peripheren Zonen des Territoriums ihrer Herrschaft einzuverleiben. [251] Dem Industrialisierungsprojekt, wie es Saraccini vor den Industriellen vertritt und das er im Dialogo mit Francesco Leonetti als »cultura industriale« noch einmal ausführlich erläutert,41 stellt die Dynastie von Bovino das Prinzip der Herrschaft entgegen, das die Industrie, kulturell und politisch, über die Zivilgesellschaft auszuüben bestrebt ist, wodurch sie auf jeden Fall Macht darstellt und repräsentiert, eine Macht, die durch die vielfältigen, kapillaren Kanäle, wie Gramsci sagen würde, bis in die feinsten Verzweigungen gelangt, d.h. konkret »über die Mühlen der unteren Regierungsstellen, die Präfekturen, Konsulate, Prätoren« usw. [258]. Die Beschreibung dieses Systems, die sich noch über fast die ganze Seite fortsetzt, ist ein Beispiel der verbalen Akkumulation, die die Totalität veranschaulicht, in der Volponi die 41 Volponi resümiert hier seine Konzeption der »cultura industriale«, die er gegen den Missbrauch des Begriffs durch den Neokapitalismus in seinen Reden als Senator im Parlament durchzusetzen versucht hat: »Die Industriekultur ist nicht das Ruhekissen der Industrieverbände [Confindustria] oder das Gewicht ihrer Bedeutung in der Gesellschaft, wie die Regierung anzunehmen scheint, oder die Summe der Technologien, über die die italienischen Industrien verfügen oder die Menge des Profits, die sie zu erreichen verstehen. Die Kulturindustrie ist vielmehr die Fähigkeit, eine große wissenschaftliche Forschung in Gang zu setzen, die dem gesamten Land zugute kommt, der Schule, den öffentlichen Organisationen [Einrichtungen], den Verwaltungen und allen Kräften der Arbeit. Die Industriekultur ist die Teilhabe von allen an einem Projekt und an dem Werk der Transformation des Landes gemäß mehr noch eigener Bewusstheit, Kultur und moralischer Qualitäten als der professionellen. Darin zeigt sich der große Unternehmungsgeist der Erfinder, derjenigen, die neue Parameter der Wissenschaft konstruiert haben im Dienst der Entwicklung der Menschheit, nicht der Wissenschaft als Abstraktion, Herrschaft, Mittel der Ausbeutung und Formierung der Menschheit, die ihr unterworfen ist«. (S. 57)
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substantiellen Begriffe des Gesellschaftlichen verankert sieht. Gezeigt werden soll, dass im System des Geldes der Fluss der Kommunikation nicht von und zum Zentrum verläuft, sondern von oben nach unten, also von der Macht in die Institutionen und in den Bereich der Zivilgesellschaft, vorbei an der Politik, die der Macht des Geldes untergeordnet wird. Das ist der Zustand der Gesellschaft in der zunehmenden Machtkonzentration des Kapitals, den Volponi im Dialogo mit gewaltigem Wortaufwand noch einmal vor Augen führt: Die Institutionen sind das Gesicht. Ein Gesicht, grau und farblos, Verantwortlichkeit vortäuschend. Drinnen aber ist ein Gehirn, wie das von Frankenstein. In dieser Maschine, schlecht montiert, aber imstande, Handlungen von großer Stärke und weit reichender Zerstörung auszuüben, gibt es Bruchstücke zusammengewürfelter Materialien, die Überreste von Geschichte, der zurückgebliebene Kapitalismus mit seiner agrarischen Mentalität, »Parasitismus«, Korporativismus. Man sieht die Bruchstücke und Spuren von vielen Arten von Macht. Aber diese Kräfte sind niemals aufeinander gestoßen, im Sinne von Leben oder Tod, im Sinne des Überlebens des einen und der Zerstörung des anderen. Die tragische Situation fehlt [in dieser Geschichte] ganz, wenigstens in der jüngeren Geschichte unseres Landes. Wir finden die Ritzen und Schleimspuren von Allianzen, Annäherungen, Umwandlungen [trasformismi], Integrationen. Die »Macht« [il potere], wie einer Verzauberung der Geschichte entspringend, ist eine seltsame Immobilität und Kontinuität. Sie ist nicht das Produkt Jahrhunderte andauernder Kämpfe und Revolutionen.42
Volponi geht hier, wie in seinen vorangehenden Romanen, in die Geschichte Italiens zurück, wo er statt einer Revolution in der Phase des Risorgimento den typischen Transformismus der italienischen Politik findet und ihn in den drei letzten Sätzen dieses Zitats beschreibt. Es mangelt, wie er sagt, an einer revolutionären Veränderung der Machtverhältnisse, die die Umwandlung der Feudalität des Ancien Régimes in den Feudalismus des Gelds und des Grundbesitzes verhindert hätte– oder anders gesagt, die die ökonomische Bedeutung der Regionen gestärkt hätte und sie, statt sie der Herrschaft Astolfos zu unterwerfen, mit eigenen Vollmachten ausgestattet hätte. In der Frage der Eindämmung von Herrschaft geht es in diesem Zusammenhang um das Problem der Funktion des Reichtums, seines volkswirtschaftlich nützlichen Erwerbs und seiner gesellschaftlich angemessenen Verwendung, das sich so schon in La strada per Roma gestellt hat. Die soziale Funktion des Reichtums, die der Wirtschaftsprofessor in La strada Guido Corsalini und seinen Kollegen als zu befolgende Praxis zu vermitteln versuchte43 und die Guido konsequent vertreten hat, wird von Saraccini, der sich vor ähnliche Fragen gestellt sieht, nicht mehr geteilt. Der Reichtum hat seine soziale Nützlichkeit in der jüngeren Geschichte nicht erwiesen, sonder ist das, was die Gesellschaft spaltet und zu den Zuständen 42 Il leone e la volpe, S. 43. 43 La strada per Roma, S. 360. »Die Verfassung sei dem Reichtum hinderlich, so der Professor, und deshalb dem sozialen Fortschritt im Wege: Die Verfassung behindert die wahren Prinzipien von Fortschritt und Bewegung. Der Reichtum ist heute nach unserer Verfassung ein Delikt […]. Wenn wir innerhalb der Legalität bleiben wollen, müssen wir eine liberale Politik ausschließen.« [360].
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führt, die Volponi in der Vision der Stadt Bovino mit ihrer Kluft zwischen Armut und Reichtum drastisch vor Augen führen wollte. »Die Stadt ist schlimmer als die Fabrik. Auch wenn die Fabrik nicht an Schlechtigkeit und Anmaßung zu überbieten ist.« [19] Und Reichtum ist das, was auch die Industrie produzieren will, und das in erster Linie, noch vor aller Überlegung hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung. Vor dieser Einsicht in die Macht des Reichtums, der sich in die des Kaptals gewandelt hat und in der Lage ist, Teile der Arbeiter zu der Demonstration der 40.000 zugunsten des Kapitals zu mobilisieren, fühlt sich Saraccini zurückversetzt in die Rolle des passiven Zuschauers: »Saraccini sah stumm zu, an eine Säule gelehnt, auf der zentralen Straße von Bovino« [262]. Angesichts dieser Niederlage der Sache der Arbeiter, gegen deren Streik sich die Mobilisierung der »weißen Kragen« richtet, bleibt nur die Frage: Was tun jetzt mit dem Grande Cucinotto? Und was mit den Arbeitern? Die Siebenundfünfzig werden nicht wieder eingestellt. [265]44
So endet also die Geschichte, in der sich Saraccini anwerben lässt, um die Industrie in Bovino, mit den Anforderungen einer Produktion in Einklang zu bringen, die dem Reformkurs der Kommunistischen Partei entsprochen hätte. Die Unvereinbarkeit der Anforderungen bezüglich der Funktionen, die ihm übertragen werden, und den Zielen, die Saraccini, hier in der Rolle Volponis, verfolgt, führt unvermeidlich zum Abbruch seines Engagements in Bovino.45 Reduziert man diese Geschichte Saraccinis auf ihren erzählerischen Kern, in der Kooperation mit den anderen Figuren des Romans, so ist darin ein episches Moment zu erkennen: in der Geschichte von dem Versuch nämlich, die italienische Industrie aus einer Krise zu retten, die sie mit in den Sog des Niedergangs der Republik zu ziehen drohte, und sie darüber hinaus dem Zugriff des Kapitals zu entziehen, das die Wirtschaft den Bedingungen eines multinationalen Geldverkehrs zu unterwerfen im Gange war.
44 Was oder wer der Grande Cucinotto ist, wird aus dem Kontext nicht ersichtlich. Die Cinquantasette sind 57 Arbeiter, die bei den Protesten gegen die Maßnahmen der Fabrikleitung zur Automatisierung aktenkundig gemacht und entlassen werden. Siehe S. 226- 27. 45 Die Geschichte von Volponis Engagement in der Fiat- Administration noch einmal zusammengefasst resümiert Emanuele Zinato wie folgt: »Umberto Agnelli lädt ihn ein, nach Turin zu kommen und überträgt ihm die Aufgabe, für die Fiat- Werke die Beziehungen zwischen der Stadt und der Fabrik zu untersuchen,« (Bd. I, S. LXXI). Volponi hat sich in dieser Zeit schon dem Kurs des »compromesso storico« angenähert im Hinblick auf seine Strategie der »solidarietà nazionale«. (Bd. I, S. LXXXIII). »Ab Anfang 1975 ist er Generalsekretär der Fondazione Agnelli; als er öffentlich seine Entscheidung ankündigt, für die Kommunistische Partei bei den bevorstehenden regionalen Wahlen zu stimmen, fordert die Fiat- Administration seine unverzügliche Demission. Nach der Wahl, die deutlich zugunsten des Pci ausgegangen ist, möchte Gianni Agnelli ihn wieder einsetzen in das angesehene Amt, aber Volponi lehnt ab (Bd. I, S. LXXIII).
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Unter diesem Titel, der die nationale Geschichte im Sinne eines Epos’ der Moderne zusammenfasst, entfaltet sich ein Handlungsgeflecht, das die verschiedenen Phasen und Peripetien der Erzählung in den Konstellationen der Figuren und den Konflikten der Handlung etwa in folgender Form widerspiegelt: – ausgehend von den Arbeitskämpfen in der Fabrik und in der Gesellschaft von ’68/69, die mit der Durchsetzung des »Statuts der Arbeiter« von 1970 zur Stärkung der Position der Arbeit führte, – über die Gegenoffensive des Kapitals, die den Markt dem multinationalen Geldverkehr öffnete, bis – zum Versuch der Kommunistischen Partei, mit dem Historischen Kompromiss eine Wende in der italienischen Politik herbeizuführen. Auf der Ebene der Geschichte als Erzählung wäre die Figurenkonstellation so zu verstehen, dass die Figuren gesellschaftliche Sektoren repräsentieren, in denen sich hauptsächlich die sozio-ökonomischen Peripetien dieses Zeitabschnitts ereignen, und zwar Bovino als Repräsentation der ökonomischen Macht, die hier schon die Politik dominiert; die »Vierzigtausend« als die Verkörperung der Zivilgesellschaft, die die Ökonomie schon unterworfen hat; Tecraso als Repräsentant des Arbeiterkampfs, der in dieser Phase des offensichtlich anhaltenden Klassenkampfs unterliegt oder als Figur übergeht in das Lager des »Precariato«; sowie Saraccini hier als der wirtschaftliche Agent des historischen Kompromisses, Nasàpeti schließlich als die Figur des Industriellen, der im Sog des sich etablierenden Bankkapitals einschwenkt auf die Linie des multinationalen Kapitalismus Betrachten wir diese Elemente als die der Fabel zugrunde liegenden Strukturen, so könnten wir sie in das Schema der Begriffe übertragen, in dem wir jetzt die politischen Tendenzen und Strategien bezüglich der gesellschaftlich intendierten und umkämpften Veränderungen unterscheiden und konkretisieren im Hinblick auf Verstaatlichung, Nationalisierung und Privatisierung. Wir greifen dabei zurück auf die graphischen Abbildungen der gesellschaftlichen Bereiche, und zwar einerseits unter dem Gesichtspunkt, wie sie als Gesellschaftsformation integriert werden können und andererseits im Hinblick auf die jeweilige Verfügung über das Kapital. Dabei gehen wir wieder aus von den Kategorien der Verstaatlichung der gesellschaftlichen Verhältnisse, ihrer Nationalisierung sowie ihrer Privatisierung, was in den folgenden Graphiken resümiert werden soll.
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Grafik 1 Verstaatlichung der Verhältnisse
46
Industrie
Gesellschaft
Staat
Produktion
Kapital Arbeit47
Staatliche Verfügung über die öffentlichen Ausgaben48
Grafik 2 Nationalisierung
Ökonomie
Kultur
Politik
(lo Stato sociale)49
Produktion und Geldverkehr
das Gemeinwohl50 Gesellschaftlichkeit
Primat der Politik
Privatisierung
Kapital/Banken
Reichtum und Armut
Ökonomische Macht
(Neo-Liberalismus)51
Investitionen Profite
zwei Gesellschaften
Primat der Ökonomie
Grafik 3
Die graphische Darstellung zeigt in drei zeitlich unterschiedenen Momenten, unter welchen Bedingungen über die Verwendung des Kapitals im Hinblick auf die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums verfügt werden konnte, ausgehend vom Zeitpunkt, in dem die italienische Verfassung in Kraft getreten ist, nämlich 1948. Der Garant der Verfassung, in der die gesellschaftlichen Verhältnisse im Grundsätzlichen geordnet und geregelt werden, ist der Staat, worunter wir hier die »Verstaatlichung der gesellschaftlichen Verhältnisse« verstehen. Die Neuordnung dieser Verhältnisse im Moment der großen 46 Nach Gramsci fällt dem Staat die Aufgabe zu, die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Weise zu ordnen, dass sie jeweils dem Niveau der Produktivkräfte entsprechen. Gramsci dazu unter dem Titel Stato etico o di cultura: »jeder Staat ist ethisch, insofern eine seiner wichtigsten Funktionen die ist, die große Masse der Bevölkerung auf ein bestimmtes kulturelles und menschliches Niveau zu heben, ein Niveau, das den Notwendigkeiten der Entwicklung der Produktivkräfte entspricht und damit den Interessen der herrschenden Klassen.« (Quaderni 8, § 179). 47 In den Laudi in Gedichtform, die der Erzähler der Proposta di Saraccini für die Reorganisation des Unternehmens der MFM hinzufügt, werden alle wichtigen Momente des Produktionsprozesses aufgeführt: La macchina, il lavoro, la scienza, le risorse, wobei die Maschinen für das fixe Kapital stehen und zu verstehen sind (S. 54- 56). 48 Erinnert sei hier an die Rede Nasàpetis an die Adresse des Bankier, die die Verantwortung der Industrie gegenüber dem Staat dem Vertreter des Kapitals ins Gedächtnis ruft: »unsere Aufgabe ist […], den Staat aufrecht zu erhalten […]« - »il nostro compito […] è quello di tenere in piedi lo Stato […]«. (S. 120). 49 Siehe dazu den Sammelband Ai confini dello stato sociale. Manifestolibri, Roma 1995. 50 Siehe die Umschreibung des Begriffs des bene generale in der schon zitierten Rede Nasàpetis auf S. 120 sowie im Dialog mit Francesco Leonetti unter der Bezeichnung il bene comune auf S.167. 51 Cremaschi, Giorgio/Revelli, Marco: Liberismo o libertà. Dialogo su capitalismo globale e crisi sociale. Rom: Editori Riuniti 1998.
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Krisen der 70er Jahre ist, was wir als »Nationalisierung« dieser Verhältnisse bezeichnen und was die Politik des »historischen Kompromisses« auf die Tagesordnung setzte, nämlich im Ansatz eine nationale Sanierung der Ökonomie, die aber durch die Ermordung Moros schon im Vorfeld vereitelt wurde. Was sich in deren Folge abzeichnet, ist als Gegenoffensive des Kapitals die Internationalisierung des Geldverkehrs und damit einer Politik, die die zunehmende »Privatisierung des Kapitalvolumens« auf nationaler Ebene in Gang setzt. In dieser zeitlichen Abfolge verringert sich entsprechend der staatliche Einfluss auf die wirtschaftlichen Prozesse im Raum der Zivilgesellschaft. Die Kontrolle, die die »Politik« im mittleren Abschnitt über die Ökonomie zurückzugewinnen hofft, entgleitet ihr in dem Maß, wie die wirtschaftliche Macht des Kapitals auch die Politik aus ihrer Funktion verdrängt, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu ordnen. Die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, der durch das Kapital und die Arbeit geschaffen wird, liegt nicht mehr in der Zuständigkeit der Zivilgesellschaft und ihrer Politik, sondern wird bestimmt an dem Ort, wo alles Kapital zusammen fließt und an neue Adressaten umgeleitet wird, und das sind die Banken, die Kreditinstitute und Investmentfonds, im Zusammenspiel mit der Börsenspekulation. Im Zustand dieses Machtverlusts von Politik und Zivilgesellschaft befindet sich die italienische Gesellschaft zu Beginn der 90er Jahre, als Volponi im Dialog mit Leonetti über den »Stand der Dinge« – »lo stato delle cose« befragt, antwortet: In Italien haben über viele Jahrzehnte die herrschenden Mächte Gewalt, Diskrimination, Lüge betrieben; und es entstand eine trübe, sehr schwierige Situation. Die Mehrheit, die nur Machtziele verfolgt, die ausschließlich darauf bedacht ist, die eigene Macht aufrecht zu erhalten und die Instrumente ihrer Regierung dazu, hat kein Pro- gramm aufzuweisen. Eine Perspektive für das Land hat dieses Mal auch nicht das große Kapital: es ist zerbröckelt, in der Krise, theoretisch auch unvorbereitet. Es besitzt nicht mehr Wissenschaft noch Kultur.52
Dennoch verfügt das Kapital über eine Machtfülle, der sich der Machtverlust der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber sieht, einer Gesellschaft, die nicht mal mehr über das verfügen kann, was ihre Gesellschaftlichkeit (socialità) ausmacht, nämlich ihre Kultur, die vom Kapital in Besitz genommen worden ist.
III. Das Subjekt und der psychoanalytische Prozess D IE B EZIEHUNG N ASÀPETI - S ARACCINI UND DIE R ÜCKKEHR DER F AMILIENGESCHICHTE Um zur Problematik des Subjekts im Roman Volponis zurückzukehren, stellt sich zunächst die Frage, auf welche Figur die Geschichte seiner Sozialisierung überhaupt zu beziehen wäre. In erster Linie käme dafür nach unserer Einschätzung die Figur Saraccinis in Betracht, da aus seiner Sicht nahezu alle 52 Dialogo, S. 5.
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wichtigen Ereignisse der Handlung gesehen und dem Leser vermittelt werden. Ist aber diese Biographie, so wäre zu fragen, im Hinblick auf eine in die Zukunft gerichtete Perspektive von maßgeblicher Bedeutung in einem Roman, in dem der geschichtliche Prozess als noch offen zugrunde gelegt wird? Vieles spricht dagegen, dass Volponi in seinem letzten großen Roman das Scheitern seines Protagonisten – hier eines bürgerlichen Intellektuellen – als Antwort auf seine Suche nach Reintegration des Subjekts in die Gesellschaft beabsichtigt haben sollte. Eine Figur, deren Lebensgeschichte aber nachhaltiger auf die Peripetien des Romans Einfluss gewinnt als die Saraccinis, ist Tecraso, der Protagonist des Romans auf der Seite der Arbeiter. Für diese Figur hatte Volponi einen Roman vorgesehen, der – wie er sagt – schon fortgeschritten war, aber dann als Bestandteil in das neue Romanprojekt integriert worden ist, in dem er die »Mächtigen der Industrie, […] die großen Magnaten« darzustellen begonnen hat und in das er als Gegenpol die Geschichte Tecrasos in den Roman aufgenommen hat, der dann den Titel Le mosche del capitale bekam.53 Folgt man Emanuele Zinato, so ist das auslösende Moment des Romanprojekts das Ereignis gewesen, das zum Protestmarsch der Vierzigtausend geführt hat, ausgelöst »von den 35 Tagen des Herbst 1980 in den Fiat-Werken, als die Rechte der Fabrikräte aufgehoben wurden.«54 Dass das Romanprojekt von diesem Arbeitskampf in den Fiat-Werken seinen Ausgang genommen hat, wenn man Zinato vertrauen darf, unterstreicht um so mehr die Bedeutung und das Gewicht des Pols der Arbeit, den Tecraso repräsentiert, dem Volponi als weibliche Figur Iride in der gleichnamigen Erzählung der Prose minori an die Seite gestellt hat, eine militante Gewerkschaftlerin, in der er das Bild einer unentfremdeten weiblichen Gestalt gezeichnet hat im krassen Gegensatz zu dem überbelichteten Glanz von Donna Fulgenzia. Was die hier angesprochene Frage des gesellschaftlichen Subjekts betrifft, soll erst darauf eingegangen werden, wenn wir das Verhältnis der beiden Figuren näher betrachtet haben, die von Anfang an in Beziehung zueinander aufgetreten und gezeigt worden sind. Saraccini, als der aufstrebende junge, politisch interessierte dirigente industriale, in der Kooperation mit Nasàpeti, dem Firmenchef der MFM. Ihr Verhältnis, von einem anfänglich fast überschwänglichen Einverständnis bis zum Bruch in gegenseitiger Feindschaft, ist der Gegenstand der Geschichte, die auch als der psychoanalytische Prozess zu verstehen ist, in der die Familiengeschichte des Subjekts wieder aufgenommen wird. Saraccini ist eine synthetische Figur, in der sich Bestandteile einer früheren Inkarnation in Gestalt von Guido Corsalini wiederfinden, die in die Motivation der Figur und des Handelns Saraccinis mit einfließen. Eine ähnliche Auffassung von der Kontamination zweier Handlungsfiguren, bzw. der Durchdringung von zwei Ebenen der Erzählung vertritt Zinato, der allerdings Saraccini mit einer ganz anderen Figur vergleicht und damit auch eine völlig verschiedene Motivation seiner Rolle im Roman zugrunde legt, nämlich den Vergleich mit Cervantes’ Don Quijote, worauf wir aber hier nur hinweisen wollen.55 Saraccini ist ein bürgerlicher Intellektueller, einer Handwerkerfamilie entstammend, wie die Einschübe in seiner Biographie in Teil I. IV, Ab53 Siehe die Introduzione Zinatos, in Werkausgabe Bd. III, S. XIX. 54 Ebd., S. XVIII. 55 Ebd., S. XIII- XIV.
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schnitt 3 bezeugen.56 Was Saraccini als Figur darüber hinaus kennzeichnet, ist ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein, worin er Guido Corsalini vor allem ähnlich ist, und was sich exemplarisch in der Eingangsszene des Romans zeigt. Saraccini, so beginnt der Roman, blickt von der Höhe des Hügels auf die große Industriestadt herab, die sich in der Ebene unter ihm ausdehnt […]. Er ist heiter und genießt zufrieden diesen Anblick und das ihn umgebende Schweigen. [5]
Nicht allein die Anleihe ist von Interesse, die Volponi hier bei Balzacs Père Goriot macht, an dessen Ende Rastignac mit Blick auf Paris die herausfordernden Worte spricht: A nous deux, maintenant! Auch ist es das Bewusstsein einer Überlegenheit, das der Intellektuelle im Wachzustand gegenüber der im Schlaf unter ihm liegenden Stadt empfindet. Hier kündigt sich die Berufung an, die Saraccini in seiner Selbsteinschätzung zum Emissär der Gesellschaft macht, der herabsteigt, um die Welt der Industrie zu reformieren. Und in diesem Moment ähnelt er dem Helden von Cervantes. der auch auszieht, um die Übel der Welt zu bekämpfen. Das Verhältnis Saraccinis zum Chef des Unternehmens Nasàpeti wird eingangs schon im Sinne der Familiengeschichte gesehen, als Saraccini den Chef des Industrieunternehmens mit Mozarts Vater vergleicht, worauf wir schon hingewiesen haben. Damit führt die Erzählung schon unmittelbar hinein in die Charakterisierung des ambivalenten Verhältnisses aus der Sicht des Sohnes, also Saraccinis. Dieser wählt keinen Geringeren als den berühmten Musiker, um seine eigenen Qualitäten und Kompetenzen gegenüber der nur organisatorischen Funktion des Vaters ins rechte Licht zu setzen. Doch das trübt noch nicht ihre gegenseitige Zuneigung, die man psychoanalytisch erklären könnte mit dem Strom der Gefühle, der von einer Person zur anderen eine Beziehung begründet, die den anderen, folgt man Freud, jeweils zum Objekt des Begehrens macht, zum Bild der Person, die man sich im anderen wünscht.57 In seiner Liebe zum Sohn projiziert der Vater die Vorstellung auf ihn, die er sich von dessen gegenwärtigen und zukünftigen Wesen macht, mit anderen Worten, er liebt in ihm das Bild – psychoanalytisch die Imago –, mit der er den Sohn identifiziert, wobei er erwartet, dass der Sohn diesem Bild entspricht.58 Hier kündigt sich – psychoanalytisch gesprochen – der Konflikt schon an, der sich zwischen Vater und Sohn entzünden wird, wenn der eine jeweils oder auch beide nicht mehr dem Bild entsprechen, die man sich von ihnen gemacht hat. Dass der Exkurs über die Gefühlsbeziehung zwischen dem Chef des Unternehmens und seinem Untergebenen für die Handlungsentwicklung nicht ohne Belang ist, zeigt sich gerade in der Intensität, mit der die Konflikte zwischen beiden Personen ausgetragen werden, im Verlauf ih56 Le mosche, S. 144- 45. 57 Zum Freudschen Terminus der ‚Objektlibido’ siehe J. Laplanche/J.- P. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Stichwort Objektlibido und Objektwahl. Frankfurt/a. Main: Suhrkamp 1973. 58 Die in ihn gesetzten Erwartungen weiten sich aus auf grenzenlose Horizonte: »Aber es geht nicht nur darum, das Schiff zu lenken […], die Strömungen auszunutzen, die Häfen wieder herzustellen, die Wasserfläche zu vergrößern […], sondern auch die Ozeane zu kennen, die Arsenale, Märkte, Silos der ganzen Welt.« [12]
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res, wie man sagen könnte, »innerfamilialen« Beziehungskampfes, der sich über den ganzen Roman erstreckt in der dramatischen Abfolge von Einvernehmen – Krise – und Bruch des Verhältnisses, das wir gesellschaftlich wieder auf das Ödipus-Syndrom zurückführen. Was am Ausgangspunkt dieses Prozesses stand, ist die Umstrukturierung der MFM, die Nasàpeti mit der Eliminierung der konservativen Führungskader in die Wege leitet und wofür er Saraccini zur Unterstützung braucht. Als er diesem anbietet, eine führende Position zu übernehmen, weil er sich darauf verstehe, das »Schiff« des Unternehmens zu lenken [navigare], erfüllt das Saraccini mit einem Gefühl der Befriedigung, dem er sich voller Selbstliebe gänzlich überlässt: Saraccini zog sich zurück in die Wärme, die die hinreißende Liebe zum Professor um ihn erzeugt hatte […]. Eine totale und unendliche Liebe, so wollte er selbst das sehen und definieren, als Besessener, als Heerführer in seiner eigenen Sache, wie für die Stadt und für das eigene große Unternehmen. Und für seine wertvolle zivile und befreiende Zukunft. [13]
Man meint Guido Corsalini reden zu hören, der auf dem Gipfel seines Aufstiegs endlich angelangt, sich der Flut seiner Selbstzufriedenheit kaum zu erwehren weiß; so auch Saraccini, der in den Ruf ausbricht: »Domine non sum dignus… In die Höhen der Kultur aufzusteigen, die im Begriff ist, Sprache, Ziffern, Werte zu erneuern […].« [15]
In diesem Gefühlsausbruch äußert sich der Überschwang der Selbstbestätigung des Subjekts, das als »Heerführer seiner eigenen Sache« sich in der Liebe des Vaters anerkannt fühlt, die Anerkennung des eigenen Seins erfährt. Von Nasàpeti wird Saraccini geschätzt als dirigente popolare [15], sowie in seiner Vermittlerfunktion zwischen Betrieb und Politik, der Belegschaft und den Arbeitsanforderungen, Eigenschaftem, die offenbar Volponis eigene Position in Ivrea umschreiben. [74] Das Lob – im Roman aus dem Mund der ›Aktentasche des Präsidenten‹, das übergeht in die Beschreibung der Funktionen und Kompetenzen Saraccinis und anschließend in eine substantielle Kritik der italienischen Verhältnisse, ist einer Figur zugedacht, die offensichtlich nicht Saraccini ist, sondern vermutlich Volponi selbst. Um so mehr ist der gesamte Text, der sich über mehr als eine Seite erstreckt, mit besonderer Aufmerksamkeit zu lesen.59 Offensichtlich wird hier aber auch, dass Saraccini eine synthetische Figur ist, deren Funktion darin besteht, die verschiedenen Aspekte und Bereiche des Managements im Sinne der angestrebten Industriereform darzustellen. Die Zwänge, denen die Person in der industriellen Produktion unterworfen wird, reflektiert Saraccini in einer Passage, die wir als die Beschreibung der biografia industriale des Subjekts begreifen können, in welcher die Person in ihrem gesellschaftlichem Sein auf ein Wesen reduziert wird, das nur
59 Beginnend mit: »Ich wiederhole, der Präsident schätzte Saraccini hoch ein und sah in seiner Arbeit einen der wenigen wahren Motoren im Leben des Betriebs …«. [I.5., S. 74- 75].
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noch eine Funktion darstellt im Prozess industrieller Produktion,60 ein Vorgang , in dessen Vollzug die Produktion sozusagen ihr menschliches Subjekt verloren hat und es den Sachzwängen im Übergang zur Automatisierung überlassen muss. Indem die menschliche Arbeit nicht mehr in den Produktionsablauf eingreift, wird sie auf die Funktion reduziert, die sich der gesamten Macht des Kapitals gegenüber sieht. So sieht es Saraccini, wenn er feststellt: »Es gibt keine Personen mehr, weil niemand mehr als solche handelt, von niemandem gibt es ein eigenes Drehbuch.« Die Frage, ob sich das auf alle Lebensverläufe erstreckt, wird beantwortet: »Vielleicht gibt es noch Personen in volkstümlichen Milieus, aber auch dort weniger im Verhältnis zur Arbeit als in dem, was die Leute außerhalb der Arbeit machen.« [137] In den Überlegungen, die jetzt über fast drei Seiten folgen, spricht Saraccini in erster Person, was wieder die Vermutung nahe legt, dass auch hier Volponi aus eigener Erfahrung spricht und seine Reflexionen der Figur Saraccinis überlässt, was um so wahrscheinlicher ist, als diese Überlegungen das Selbstverständnis der Person behandelt, die sie mit der Rekonstitution der Biographie verknüpft. Ein Teil davon war die Selbstbestätigung des Subjekts durch die Eltern. Zwei Fäden der Biographie werden in der Analyse, der Saraccini sein Leben unterzieht, zunächst vereinzelt und schließlich in ihrem Zusammenhang untersucht. Die Vereinzelung stellt sich dar als die individuelle Biographie, der Zusammenhang als die Konvergenz der privaten Existenz mit der gesellschaftlichen. Saraccini fragt sich, wen sein Privatleben eigentlich interessieren könnte und was an seiner Karriere im Grunde ihm selbst zuzuschreiben oder zu verdanken ist. Meine industrielle Laufbahn ist so unbeholfen, so ungewiss. Es bräuchte einen Erzähler, einen Romancier, auf der Suche nach kleinen Wahrheiten, oder besser einer einzigen großen Wahrheit. [138]
Die »kleinen Wahrheiten«, die den individuellen Lebensverlauf verifizieren und bestätigen könnten, würden aber nicht genügen, um die Biographie auch gesellschaftlich als wirklich oder wahr auszuweisen. Dazu ist das Individuum selbst nicht mehr in der Lage, sondern braucht jemanden, der es dazu befähigt. [138]. Hier stoßen wir an die Grenzen eines Selbstbewusstseins, das sich nur aus der Familiengeschichte herleitet, aus einer privaten Biographie, an der Saraccini offenbar festhält, obwohl er zu ahnen beginnt, dass diese abhängig und bedingt ist vom »Modus des Produzierens, der Industrie, der Organisation der Arbeit«, die das gesellschaftliche Sein der Individuen unter kapitalistischen Bedingungen entscheidend bestimmen. Festzuhalten wäre also, dass das im Einvernehmen mit Nasàpeti gewonnene Selbstvertrauen im Moment der wirtschaftlichen Krise umschlägt in den Selbstzweifel, der auch die Wende im Verhältnis zu Nasàpeti einleitet. Dieser Zweifel an sich selbst gehört aber nicht mehr der von sich selbst überzeugten Figur des frühen Guido Corsalini an, die in einer Teilinkarnation Saraccinis uns am Anfang des Romans gegenüber getreten ist, sondern ist als ein Bestandteil der Figuren der frühen Romane zu betrachten, die wie Albino Saluccia und Anteo (in Memoriale und La macchina mondiale) an ihren enttäuschten Erwartungen zerbrochen sind. Das ist den Worten Saraccinis zu 60 Die Beschreibung des Übergangs in die biografia industriale, von S. 137 bis 140.
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entnehmen, in denen er bekennt: »Vielleicht bin ich eine Verlierer-Natur […] Vielleicht habe ich Angst, Hand anzulegen an die Macht … Ein Verzichtler …« [139]. Zu sehen sind diese Äußerungen im Zusammenhang mit der Passage in I .IV. 3, wo Saraccini in ihrem Schlussabschnitt die Geschichte seiner Familie kurz streift, von der er sagt: »Meine Familie kam aus Urbino«, Äußerungen, die uns in mehrerer Hinsicht wichtig erscheinen. Volponi hat in seiner Familie wiederholt die handwerkliche Tradition gerühmt, eine Tradition, die er in der Geschichte Italiens verstanden hat als das Entwicklungsstadium zur industriellen Form der Produktion, als deren Grundlage schlechthin. Industrie ist etymologisch abgeleitet von lateinisch »industria« und bedeutet ihrem Ursprung nach »perizia«, die Fertigkeit, die den manuellen Künsten, den »artes«, zugrunde lagen, was Volponi in den Künsten des Rinascimento, insbesondere der Malerei und der Architektur, wiederholt gerühmt hat.61 Die Kunstfertigkeit des Handwerks, die er zuletzt noch in der Tradition der Familie Possanza im Lanciatore rühmend in Erinnerung ruft, ist letztlich auch als die Basis zu sehen, die politisch den »Regionalismus« Volponis rechtfertigt, den er als Parlamentarier im Hinblick auf die wirtschaftliche Stärkung der Provinzen vertreten hat.62 In Saraccini, dem Protagonisten aus Urbino, der in seinem Lebenslauf die Entfremdung beklagt, finden wir das Subjekt wieder, das mit Gerolamo Aspri die Krise des Subjekts von Corporale und die Zweifel an sich selbst erlebt hat, die jetzt im Subjekt der Mosche wiederkehren. In der für ihn bitteren Erkenntnis, dass Nasàpeti ihm den verschlageneren Sommerso Cocchi vorzieht und ihn in gewisser Weise damit fallen lässt, veranlasst Saraccini, seinen Verzicht auf seine Ernennung zu erklären. Die allgemeine Bestürzung darüber beantwortet Saraccini mit einen Anflug resignierter Selbstironie: In der Industrie gäbe es keinen Narzissmus, d.h., dass das Persönliche reine Selbstbespiegelung sei [189], was als Widerspruch erscheint gegenüber der Auffassung in Memoriale, wo die Wirklichkeit der Fabrik fast ausschließlich aus der Perspektive des leidenden Subjekts beschrieben worden war, was jetzt aber von Saraccini als Narzissmus bezeichnet wird, d.h. als eine Einstellung, die nicht mehr interessiert, wo es um das gesellschaftlich relevante Sein des Subjekts geht. Das deutet die Antwort an, die Saraccini auf die Frage eines Kollegen gibt, was er zu tun gedenke: Nichts. Gehen. Meine Sache studieren, analysieren, mitteilen, nicht als einen Einzelfall, sondern als eine Erfahrung, mit der man sich auseinandersetzen muss, Symptom einer Negativität, die nicht zufällig ist, sondern historisch und politisch, logisch und systematisch. [189]
wobei man allerdings nicht weiß, ob das auf die Fabrik oder die Familie zu beziehen ist. Das Subjekt jedenfalls nicht in seiner Singularität, sondern als das objektive Wesen der biografia industriale. So schließt der erste Teil der Auseinandersetzung Saraccinis mit der Vaterfigur des Romans.
61 Das Lob der »Kulturzentren des alten Italien« [centri di cultura dell’antica Italia] wird noch einmal in den letzten Äußerungen Volponis im Dialogo mit Leonetti dokumentiert [S. 84- 85]. 62 Ebd., S. 85- 86.
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Was Saraccini angedeutet hat, die Selbstanalyse seiner Erfahrungen, setzt er auf den ersten Seiten des zweiten Teils ins Werk; und bedient sich dabei Argumenten, die, wie er sagt, Gedichten Pasolinis entnommen sind: Entweder du entdeckst die Macht und akzeptierst, ihr zu dienen und sie zu erobern, so wie sie ist oder du ziehst dich zurück in das verstümmelte Schmollen der ehrenhaften und besiegten Opposition … [190].
Da wir das Pasolini-Zitat nicht nachweisen können, bleibt unbestimmt, was im Folgenden noch von Pasolini ist oder schon als Schlussfolgerung Saraccinis zu betrachten wäre. Die Thematik der Aussage ist das Phänomen der Macht [potere] in der zweifachen Bedeutung des Worts, als die objektive Macht des Kapitals sowie die subjektive Macht der väterlichen Autorität, die mit dem Pasolini-Zitat wieder in Erinnerung gerufen wird. Verlangt wird vom Subjekt eine klare, unwiderrufliche Entscheidung, nämlich der Macht zu dienen oder von ihr eliminiert zu werden. Auf wen das Zitat zielt, bleibt ebenfalls ungewiss, kann sich aber nur auf Saraccini beziehen, der »sich ein bisschen herabgesetzt fühlt in seinem Selbstgefühl durch jene Verse von Pasolini«, wie es heißt. [190] Dass der Präsident der MFM Saraccini in dessen Selbsteinschätzung tief getroffen hat, dass er ihn fallen gelassen und ihm gegenüber den Machtanspruch des Kapitals geltend gemacht hat, kann und will Saraccini nicht akzeptieren, womit er aber in die Einstellung zurückfällt, in der er als Subjekt auf eine Situation reagiert, die von einer Machtinstanz verursacht ist. Nach seinem Engagement in Bovino nimmt Saraccini den Kontakt mit Nasàpeti, seinem früheren Chef, noch einmal auf, um seine Ansprüche gegenüber der Firma zu klären. Was er verlangt, ist eine materielle Absicherung oder Abfindung, wenn er die Firma verlässt. Diese überraschende Wendung signalisiert einen Umschlag in der Romanhandlung, der für diese bedeutsam ist, da er eine der Figuren betrifft, die mit ihrer Entscheidung, sich ins Privatleben zurückzuziehen, gleichsam ausscheidet aus der Dramaturgie des Geschehens und zurückgestuft wird auf die Ebene einer Nebenhandlung, d.h. eines privaten Konflikts, der sich jetzt nur noch zwischen privaten Personen abspielt, als die sich Saraccini mit der Vater-Figur Nasàpeti begegnen. Saraccini selbst wird zu einer der »Fliegen des Kapitals«, die er politisch zu bekämpfen angetreten war. Die Unterredung mit Nasàpeti leitet Saraccini mit dem Vergleich ein, der schon am Anfang ihrer Bekanntschaft den industriellen Kapitalismus mit Mozarts Vater gleichgesetzt hat und Mozart selbst mit den Fähigkeiten, den industriellen Prozess zu organisieren und in Gang zu halten. Diese personelle Konstellation erweitert Saraccini jetzt, indem er eine dritte Figur ins Spiel bringt, die Person nämlich, die Nasàpeti als seinen Nachfolger bestimmt hat und die er, um seinen ehemaligen Chef zu reizen, mit Salieri vergleicht, den Rivalen Mozarts, der diesem weit unterlegen war. Damit will er sich am »Vater« rächen, der seinen »Sohn« hat fallen lassen und der, so könnte man das Gleichnis vertiefen, wie Pasolini der rächenden väterlichen Autorität zum Opfer fällt. Dort war es die institutionelle Macht der Ressentiments, die vom Vater (potere) geschürt, die Ermordung des Sohns in die Wege leitet, während hier der Sohn zwar nicht umgebracht wird, aber der wirtschaftlichen Macht des Kapitals zu seiner Demütigung sich ausgeliefert sieht. Dass Sarac368
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cini von seinem Höhenflug in Bovino zurückkehrt in das »Haus des Vaters« und ihn um Beistand bittet, erfüllt Nasàpeti mit tiefer Genugtuung. […] er genoss das Gefühl des neuerlichen Siegs über jenen Saraccini, den dirigente der MFM, dem man nachtrauerte, voll Eifer und menschlicher Wärme. Menschliche Wärme ja, des Subalternen, des Besiegten. Dass er wieder zu ihm zurückgekehrt war, um ihm devot und besiegt Hand und Hals hinzuhalten, um sich helfen zu lassen […], [270]
das ist die Genugtuung der Volponischen Vaterfigur über das Scheitern des Sohns. Dem steht gegenüber die Befriedigung Saraccinis darüber, dass seine Verdienste durch die Abfindung anerkannt worden sind. So etwas wie bissige Ironie wird vernehmbar, wenn der Erzähler die Feststellung trifft: Saraccini war zufrieden, dass ihm gelungen war, für seine Entscheidung, [das ihm angebotene] Amt des direttore del personale abzulehnen, Anerkennung und Entlohnung gefunden zu haben. [270]
Die letzte Szene des Romans, in II.III.13, die der Beschreibung des Sterbens Nasàpetis in ganzer Länge gewidmet ist [271-77], beginnt in einer fast lyrischen Tonlage, wenn die Spatzen im Krankenzimmer des Industriellen von diesem als Sendboten des Todes wahrgenommen werden und er zu einem von ihnen sagt: Ich hätte mir gar nicht gedacht, dass der Tod diese kleine und unscheinbare Gestalt hat. Wie lieb … Du bist gekommen, mir etwas zu sagen, nicht? Mich mitzunehmen … Aber wohin? [271]
Doch diese Stimmung schlägt unvermittelt um in eine Szene tumultartiger grotesker Effekte, die den todgeweihten Agenten des Kapitals wie einen vom Teufel Besessenen am Telefon agieren lässt, in der Sorge darum, sein Kapital noch gewinnbringender in Wertpapieren anzulegen, was an grotesken Effekten der Szene einer Commedia dell’Arte ähnelt, im Schlussakt noch gesteigert, wenn Sommersi Cocchi am Bett des Toten erscheint und die ganze Hinterlassenschaft seines Herrn und Meisters in einem Sack mit sich nimmt. In seiner Gier nach Kapital in jeglicher Form wächst die Gestalt zur dämonischen Inkarnation kapitalistischer Akkumulation, die alles an sich reißt und verschlingt: Ich werde die ganze Meucci Ita kaufen, inklusive ihrer Rechte auf die Rana Galvan. Ich gebe drei Prozent der Iml Luxemburg ab und die Hälfte meines Pakets der Trav von Panama. Wir werden alle Beteiligung abbrechen und auch alle Beziehungen zu den Gewerkschaften. […] Wir werden der Regierung und dem Land zu verstehen geben, dass es keine Arbeitskosten gibt, wenn es keine Arbeit gibt. [272]
Hier wird in deutlichen Worten der Einschnitt signalisiert, der von der Phase einer nationalen Ökonomie und ihrer Konfrontation von Arbeit und Kapital in die offene Zukunft eines multinationalen Kapitalismus führt, für den Ar-
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beit und Produktion untergeordnet sind gegenüber der Beschaffung von Kapital und Kredit auf den Finanzmärkten der Welt. Wie aber sieht Volponi, an diesem Punkt seiner Erzählung angekommen, die Thematik des gesellschaftlichen Subjekts, die wir durch sein gesamtes Werk verfolgt haben? In seinem letzten Roman lässt sich dieses Subjekt nicht mehr als eindeutige Figur identifizieren. Bis zu einem gewissen Grad ist Saraccini diese Figur, die die Politik der 70er Jahre im Zeichen des Compromesso storico repräsentiert; und in dieser Funktion auch das gesellschaftliche Subjekt, das maßgeblich mit am Kampf gegen den Niedergang der ersten Republik beteiligt ist. Dass dieser Kampf nicht gewonnen wurde und die Gründe dafür, erzählt. die Geschichte, die der Roman. dokumentiert. Seine eigentliche Erzählung, das Epos vom Kampf um die italienische Industrie, wird fast von Anfang an von einer zweiten Thematik überlagert, nämlich dem Kampf zwischen Arbeit und Kapital. Als seine zentrale Figur erscheint im Roman die Gestalt des Arbeiters Tecraso, in dem die Fabrikarbeiter repräsentiert werden, die im Prozess der kapitalistischen Gegenoffensive ihre Arbeit verlieren. Ob dieses Potential als ein gesellschaftliches Subjekt zu betrachten ist, kann auf der Textgrundlage des Romans nicht oder schwerlich beantwortet werden; es bleibt der Interpretation überlassen, für die die Lektüre von Con testo a fronte hilfreich wäre, die Volponi als die Verse zum Verständnis des Romans bezeichnet hat . Angedeutet werden kann aber schon, dass Volponi, welche Gestalt auch die Reorganisation der Arbeit annehmen wird, die Arbeiterbewegung als ein geschichtliches Moment der Entwicklung sieht, die das Ende des Kapitalismus herbeiführen könnte.
IV. Die Sprache – die Schrift – die Formen des Bewusstseins Das gesellschaftliche Subjekt im Zeitalter des multinationalen Kapitalismus Die Fabel von der Vergesellschaftung des Menschen
Zu fragen ist zunächst, welche Momente der Erzählung im Roman als Fabel unserer Geschichte zu erkennen sind und auf welcher narrativen Grundlage sich die Verdichtung des Erzählten zur Fabel konstruieren lässt. Um darauf zu antworten, kehren wir zurück zu der schon erörterten Frage, auf welchen Verfahrensweisen textgrammatisch die Konstruktion eines verstehbaren Textzusammenhangs überhaupt beruht. Von einem semiotischen Aspekt der Textkonstitution ausgehend, den wir unserer Textgrammatik zugrunde gelegt haben, ist der Textaufbau dem des Satzes vergleichbar und stellt sich auf eine elementare Form reduziert dar in der Abfolge von »Subjekt« – »Objekt« – »Satzaussage«. Als semiotisch ist zu bezeichnen, dass die sprachliche Äußerung einen Prozessablauf wiedergibt, d.h. die Wahrnehmung eines Subjekts, das sich einem Gegenstand gegenüber sieht, den es erstens als solchen erkennen muss und den es zweitens in einen Bedeutungszusammenhang einzuordnen hat; ein Erkenntnisprozess also, der von der Wahrnehmung des Gegenstands über seine Verbildlichung zu seinem Verstehen, d.h. zum Erkennen des Bedeutungszusammenhangs führt, in dem der Gegenstand zu sehen ist. Das Subjekt der Wahrnehmung eignet sich den wahrgenommenen Gegenstand an, der das Objekt der Satzaussage wird. 370
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Dieser Prozess des Satzablaufs von »Subjekt« – »Objekt« – »Satzaussage« auf der Ebene des Mikrotextes, d.h. der einzelnen Sätze, wird sich, übertragen auf die Makroebene des Textes, in einer immer sich erweiternden Kette von Signifikationen zu einem Textvolumen ausgedehnt haben, das auch den Umfang der in die Kette einbezogenen Bedeutungen und Bedeutungsebenen anwachsen lässt, und dessen Sinnzusammenhang in der Textaussage zu ermitteln und/oder zu interpretieren ist. Die Konvergenz auf einen Punkt zu, in dem der gesamte Verlauf des Textes in seiner Bedeutung zusammengefasst und rückwirkend beleuchtet oder aufgehellt wird, bezeichnet Volponi einmal in einer eher isolierten Äußerung, wenn wir sie richtig interpretieren, als »favola«. Im Dialogo mit Francesco Leonetti äußert er: »Es gibt Ideen oder Formen der Antike oder von anderen Ländern, die ich interessant finde: die Fabeln, die versetti, die Utopien«.63 Bezogen auf die Textgrammatik und ihre Poetik könnten alle drei Gattungsbezeichnungen in ein und derselben Grundbedeutung verstanden werden, nämlich als Formen im Verhältnis zu einem Bedeutungsgehalt, den sie resümieren. Bezüglich der favola könnte das in zweierlei Hinsicht verstanden werden: als das Gleichnishafte der Erzählung mit allegorischer Semantik oder auch als den Sinngehalt der Erzählung, der in der Textaussage zusammengefasst wird, vergleichbar dem »Wahrheitsgehalt« bei Walter Benjamin.64 Als Vehikel der sprachlichen Kennzeichnung des Erzählgegenstands im Prozess der Wahrnehmung bedient sich Volponi in einem überproportionalen Maß der Bilder, die das Wahrgenommene vergegenständlichen sollen und dem Leser erkennbar machen. Als Primat des Bildlichen oder als Verbildlichung kennzeichnen wir das zentrale Moment im Satz, das die Wahrnehmung des Gegenstands mit seiner Bedeutung vermittelt, im Sinne der semiotischen Kette von »Gegenstand« (»Ikon«) –»Verbildlichung« (»Index«) – »Bedeutung« (»Symbol«). Das Bild, das den Gegenstand als solchen erkennbar macht, bietet Bedeutungen an, die aber erst realisiert werden durch einen entsprechenden Sinnzusammenhang im Textverlauf. In der Ausdehnung über den Satz hinaus fällt dem Bildlichen die erweiterte Funktion der Signifikation des gesamten Textes zu, in dem Sinne, dass ganze Textsegmente oder Texte in ihrer Gesamtheit unter eine Bilddimension subsumiert werden, in denen dann thematische Aspekte in einem gemeinsamen Sinnzusammenhang integriert erscheinen. In unserer Geschichte vom Kampf um die Rettung der italienischen Industrie sind das im Wesentlichen zwei Bilddimensionen, in welchen sich die Handlungselemente der Fabel als jeweils spezifischem Bildraum situieren, und das wären – –
die Unterscheidung von Tag- und Nachtdimension in der Situierung der Handlung sowie die Opposition von Macht der Naturkräfte gegenüber der Gewalt des militärisch-industriellem Komplexes
63 Dialogo, S. 107. 64 Was die zwei anderen Kategorien angeht, so wäre versetti zu verstehen als die Verdichtung von Erzählmomenten, z.B. in den Texten der Bibel; und Utopie hier im Sinne des noch nicht eingelösten Bedeutungszusammenhangs einer Geschichte.
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–
die zerstörende Kraft des potere economico gegenüber der vergesellschaftenden des Menschen in solidarischen Lebensverhältnissen.
Mit dem Bild des nächtlichen Turin, über das der Blick des einsam aus der Höhe auf die schlafende Stadt blickenden Saraccini gleitet, beginnt überhaupt der Roman Volponis. Die große Industriestadt erfüllt die Februarnacht ohne Mond, drei Stunden vor Morgengrauen. Alle oder fast alle schlafen, und auch die, die wach sind, liegen ohne Gedächtnis und verloren. [5]
Eine erste Bedeutungsebene der nächtlichen Dimension wird hier angedeutet: der Schlaf der Bewohner oder der Dämmerzustand eines Bewusstseins, das als »gedächtnislos« oder »verloren« bezeichnet wird. Beide Erscheinungen, der Schlaf und der Dämmerzustand, stellen Weisen des Unbewussten oder des Bewusstseinslosen dar, die für die Charakterisierung des Realitätsbewusstseins aller Figuren des Romans von großer Bedeutung sind. Das zeigt der Zustand auch, in dem Saraccini sich als Herr der Lage im Bewusstsein seiner Gegenwart im Realen fühlt. »Er ist [Herr über sich] erhaben und genießt zufrieden diesen Blick und das allgemeine Schweigen.« [5] – wobei auch das Schweigen die Herrschaft bezeichnet, die das Bewusstsein über die Dinge und ihre Verhältnisse ausübt, was im letzten Gedichtband Volponis Nel silenzio campale noch einmal anzuklingen scheint. In dieser Eingangsszene des Romans wird in der Anhäufung und Wiederholung des Tätigkeitsworts »dormono« [des Schlafs] – die sich über den ganzen Text erstreckt – die Nachtdimension angekündigt, in der sich u.a. die Akkumulation des Kapitals vollzieht. Die Menschen, die Familien, die Wächter, die Soldaten, die Offiziere, die Studenten schlafen, aber es schlafen auch die Arbeiter und auch die von der neuen Nachtschicht hört man nicht […] [5]. Und während alle schlafen, vermehrt sich der Wert, akkumuliert sich Sekunde für Sekunde, draußen oder in den Gebäuden. […] es wächst, getrieben vom Leben aller Dinge und aller Menschen, der Körper und der Wert des Kapitals. […]. [6]
Im Gegensatz zur Dimension des Schlafs, in der das Bewusstsein ins Unbewusste absinkt, sind die Erwartungen Saraccinis auf den Tagesanbruch gerichtet, auf die nationale Entfaltung der italienischen Industrie, die sein Werk sein wird: »Es beginnt das grandiose Unternehmen. Saraccini fühlt sich davon ergriffen voller Bewunderung.« [7] Die Szenen, in denen der Gegensatz von Erwartungen Saraccinis bezüglich einer ruhmreichen Karriere und im Kontrast dazu den Bildern der Nacht, die sein Bewusstsein immer wieder überschwemmen und die ihn heimsuchen, wie wir meinen, in den eingestreuten Bildern berühmter Maler, werden von ihm festgehalten in Form von Tagebucheintragungen, worin den. Bildern der Maler vermutlich die Funktion zukommt, deren Bedeutung als das Bedrohliche zu verbildlichen. Sie wechseln ab mit Landschaftsszenen, wie in der ersten Eintragung, und der Industrielandschaft, wie in der zweiten: »die Peripherie einer Industriestadt von Sironi«, worin die Spannung zwischen
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Natur und ländlicher Ökonomie noch in einem erträglichen Gleichgewicht bleiben, was das Gemälde Sironis über Saraccinis Schreibtisch signalisiert. Diese ja, ist eine korrekte und sichere Fabrik, gut gebaut und dauerhaft; neues Monument der neuen Kultur, historische und auch wissenschaftliche Stärke … [28].
Der mildernde Effekt des Bilds von Sironi, das die Fabrik in einem fast schon harmonischen Einklang mit ihrer Umgebung zeigt, verdankt sich dem Gemälde, nicht der Realität, an deren Stelle es getreten ist. Dass die Fabrik eine entfremdende Realität ist, die alles, auch die Person entfremdet, rufen zwei Eintragungen ins Bewusstsein, in denen sich Saraccini auf Sartres Philosophie der Selbstbehauptung beruft, »für die die Freiheit das wäre, was ein Mensch aus dem macht, was sie aus ihm gemacht haben.« [29] Hier äußert sich noch einmal das Bewusstsein der Tagdimension, in der Saraccini an den Erfolg seines Engagements glaubt. In scharfem Kontrast dazu steht das Gemälde eines umbrischen Primitiven, das die Verhöhnung Christi darstellt und nach dem Kunsthistoriker Longhi einem »Meister von 1310« zuzuschreiben ist. Wir beschreiben das Bild in allen Einzelheiten, weil es die Verbildlichung der Zerstörung ist im Gefolge der Vorherrschaft militärischer Gewalt.65 In der Vertikalen zeigt das Bild ein sehr hohes schmales Kreuz und einen lang gestreckten dünnen Christus, zu dessen Füßen sich neben den um den Gekreuzigten Trauernden eine Schar Soldaten ausbreitet, die völlig unbeteiligt sind, und aus ihrer Mitte herausragend ein Pferd und sein Reiter mit seinem Schwert, das an seiner Seite bis zum Boden reicht. Auffallend ist die dominierende Anwesenheit des Kriegers zu Pferd und seines Schwerts, das er gerade wieder in die Scheide zurückstößt, als hätte er es soeben erst gebraucht. Dass seine Erscheinung noch auf etwas Anderes hinweist, deutet die Linie an, die vom Schwert über den Fuß des Reiters zur Erde und zu einem Krater verläuft. Die Figur des berittenen Kriegers erscheint wie ein Fremdkörper im Bild des Gekreuzigten oder signalisiert gerade deshalb den auffallenden Kontrast zu der Figur Christi, die in diesem Kontext als das Opfer kriegerischer Gewalt erscheint. In den Attributen dieser martialischen Erscheinung wird offensichtlich auf Gewalt in verschiedener Form angespielt, im Reiter, seinem Schwert und schließlich im Bild des Kraters, der auf einen gewaltsamen Ausbruch und Zerstörung hinweist. Die Funktion, die dem Bild des umbrischen Meisters und generell den Bildern von Malern in den Texten Volponi zukommt, wäre, wie schon dargelegt, in der Verbildlichung des Gegenstands oder der Gegenstände zu sehen, die im Satz das Objekt der Satzaussage bilden oder dazu bestimmt sind. Übertragen auf das Bild des umbrischen Meisters wäre seine Aussage auf die nächtliche Szene des Romananfangs zu beziehen, wo die wundersame Vermehrung des Kapitals als die Leistung einer effizienten Industriegesellschaft gepriesen wird, und als eine erste Signifikation dieser industriellen Leistung wäre anzusehen ihre Macht über die Menschen und ihre Verhältnisse. Im Bild des umbrischen Meisters wird also als Gewalt (il potere) vergegenständlicht und identifiziert, was in der Wahrnehmung Saraccinis als Ruhm der kapitalistischen Industrie und als Subjekt der Aussage zugrunde gelegt worden ist. Die Verhöhnung Christi 65 Die Beschreibung des Bildes des ›Meisters von 1310‹ auf S. 29.
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versinnbildlicht die kriegerische Gewalt der Soldaten und ihres ›comandante‹, d.h. auf der einen Seite die völlige Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern, und auf der anderen die Befehlsgewalt des Kommandierenden und der strikte Gehorsam der Befehlsempfänger. was auf die kapitalistische Produktion zu übertragen wäre. Dass die Maler und ihre Bilder als narrative Momente in den Erzählvorgang eingehen, zeigt sich darin, dass Saraccini davon träumt, der Maestro von ’75 zu werden, d.h. die Geschichte dieses Zeitabschnitts darzustellen und verständlich zu machen. Die Maler sind für Volponi Zeitzeugen und ihre Gemälde die Abbildung der Menschen ihrer Epoche, die wie eine Schrift zu lesen ist. Um in diesen Zeitdokumenten lesen zu können, nimmt sich Saraccini vor, Bilder zu sammeln, wie er seinem Tagebuch anvertraut: Später wird auch er Bilder sammeln. Vor allem sucht er Bilder von Bartolomeo Schedoni, Michiel Sweerts, François Nomé, genannt Monsú Desiderio, bleicher und halluzinierender Maler von Gebäuden und Plätzen im Zerfall und von flammenden Märtyrern. [29]
Schon diese flüchtige Charakterisierung der Gewaltanwendung in den Bildern des genannten Malers66 reiht diesen ein in die Kategorie der historischen Zeugen der Gewalttätigkeit der Macht, was in düsteren Bildern die Beschreibung eines seiner Gemälde illustriert. Über anderthalb Seiten erstreckt sich die Beschreibung des Gemäldes von Monsú Desiderio, das, wie es heißt, »eine nächtliche Szene« darstellt. Um alle bildlichen Effekte zu vergegenwärtigen, muss unsere Beschreibung – Volponi folgend – detailgetreu verfahren. Das Bild präsentiert eine Nachtszene im Mondschein, [30-31] ein voller Mond glänzt, genau im Zentrum des Bildes, hoch über einem See, die Ufer rings um ihn sind verwüstet von Bränden, aus denen enorme Massen schwarzen und rötlichen Rauchs aufsteigen.
Auffallend schon der Kontrast im Motiv des Mondscheins, der eine Szene beleuchtet, die von Bränden am Ufer des Sees und der Zerstörung von Wohnstätten der Bevölkerung erzählt. Menschenscharen im Hintergrund des Bildes flüchten vor dem Feuer, während im Vordergrund die imposante Silhouette eines gotischen Tempels erscheint, und auf dem Platz davor »eine große Statue: von einem Reiter, der entschlossen, mit großen Schritten voranschreitet.« Auf der anderen Seite des Sees erhebt sich ein zweiter größerer Tempel, »vom Typus einer großstädtischen Basilika«, von dem aus ein langer Säulengang aus weißem Marmor bis zum See hinunter führt, von wo, aus einem Kahn auf dem Wasser und einem nahen Waldstück, gehörnte Teufel sich höhnisch vergnügen über die flüchtende Menschenmenge. Im Zentrum des Seeufers machen sich Gruppen von Plünderern über eine Beute her, die sie begierig einsacken; unter ihnen als Anführer die Figur eines Piraten, in dem der Maler dieser barocken Szene offenbar sich selbst darstellen wollte. Als schwierig erweist sich aber, diese Abfolge von Gewalttätigkeiten auf ein historisches Datum zu beziehen, auf das diese Szenen zuträfen, wenn sie nicht, 66 Diese Maler sind in allen großen Lexika nachgewiesen.
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was wir annehmen, auf religiöse Greuel von Verfolgung und Vertreibung anspielen, die aber wieder mit militärischen Mitteln betrieben werden. Das wird aus den Schlussbemerkungen deutlich, in denen die Intention des Malers – sein desiderio in Anspielung auf seinen Namen – darin gesehen wird, die Leiden der Verfolgten darzustellen, denen man teilnahmslos beiwohnt, »in militärischer Ordnung, mit entrollten Fahnen […]; Soldaten und Reiter immer in geringer Zahl« gegenüber der Mehrheit ihrer Opfer. Von den hier erwähnten Malern des späten Rinascimento, die man als Vertreter einer Bewegung des Widerspruchs gegen die Ideologie der Controriforma begreifen könnte,67 gehen die Tagebucheintragungen über zur Zeit der Gegenwart, von der Saraccini als der Maestro von ’75 Zeugnis geben will. Ihm aber stehen für die Abbildung der Ereignisse im wesentlichen nur die sprachlichen Mittel zur Verfügung, die von der Umgangssprache dadurch unterschieden sind, dass sie die Aussagen über die Geschichte aus ihrem Interessenkontext lösen und sie auf eine Ebene transferieren, auf dem ihr bildlicher Charakter wieder erkennbar und ihr Wahrheitsgehalt lesbar wird. Und das sind die Techniken der Sinnverlagerung aufgrund rhetorischer Operationen wie Metapher und Metonymie, die im Prozess der Verbildlichung wirksam werden: die erste hinsichtlich der zeitlichen Bezüge der Dinge oder Situationen, die miteinander in Beziehung gesetzt werden, die zweite hinsichtlich der Örtlichkeit oder der räumlichen Verlagerung vergleichbarer Situationen. Hinsichtlich der Vergleichbarkeit oder Identität von Ereignissen in verschiedenen geschichtlichen Zusammenhängen, die von Volponi gesehen und zugrunde gelegt wird, spielen diese Mittel der Verbildlichung im Geschichtsverständnis Volponis eine große Rolle. Saraccini ist die Figur, die in beiden Dimensionen des Handlungsgeschehens lokalisiert ist, in der des Tages in seiner Funktion als ›dirigente industriale‹, der engagiert ist im Kampf um die Rettung der italienischen Industrie; und in der der Nacht als das Individuum der Zivilgesellschaft, das sporadisch heimgesucht wird von den Schreckensvisionen , die aus der Tiefe seines Bewusstseins an die Oberfläche dringen. In diesem Sinn ist er der Chronist seiner Zeit, der Maestro del ’75, der sich in zwei verschiedenen Funktionen präsentiert und in zwei Formen des Bewusstseins. In seiner Funktion als Künstler, als Maler der Zeitgeschichte, muss Saraccini aber zur Kenntnis nehmen, dass ihm nicht mehr die Mittel der alten Meister zur Verfügung stehen, dass die Produktion des Malers in der Massengesellschaft nicht mehr der maestria, der Meisterschaft der Alten, zu verdanken ist, weil es keine Werkstätten mehr gibt, die im Kollektiv oder nach der Vorgabe eines bestimmten Meisters arbeiten. – die Industrie kennt keine vergleichbaren Wirkungen der Schönheit. [33] Und das genau erscheint als das Dilemma, das die Situation der Moderne charakterisiert, wenn sie entscheiden soll, ob dem Einzelnen oder dem Kollektiv die Fähigkeiten zuzuschreiben sind, Erkenntnisse über 67 Zu nennen wäre hier v.a. Annibale Carracci (Bologna 1560 – Roma 1609), ein Zeitgenosse Caravaggios, der sich gegen die Zensur zur Wehr setzen musste, die die Gegenreformation gegenüber den Malern in verschärfter Weise ausübte, worauf die Maler, und insbes. Carracci und seine Familie, mit der Rechtfertigung antworteten, dass die Malerie der Natur zu folgen habe, dem »naturale« verpflichtet sei. Siehe den Ausstellungskatalog Annibale Carracci, hg. von Daniele Benato und Eugenio Riccòmini, Mailand: Mondadori Electa, 2006, S. 21- 22.
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die Verhältnisse der Zeit zu gewinnen und zu formulieren, die denen der alten Meister gleichwertig sind. Von der Ebene des Malers und der Verschriftung des Zeitgeschehens leitet der Diskurs über auf die des Bewusstseins von Wirklichkeit im allgemeinen, wo der Verlust der kollektiven Dimension schon dazu geführt hat, dass die einzelne Person nicht mehr über die Fähigkeit verfügt, das Allgemeine zu denken, weil sie in der Funktion industrieller Produktion befangen ist. Das spiegelt das Bewusstsein Saraccinis in dem, was sein Selbstbewusstsein ist, seine Singularität (im Sinne von Sartres l’être-pour-soi).68 Diese Teilkomponente im gespaltenem Bewusstsein Saraccinis könnte verstanden werden als der kollektive Anteil in seiner Person , das, was die alten Meister in der Produktion ihrer Werke sichtbar gemacht und verwirklicht haben und was – auf die Arbeitswelt übertragen – die Arbeiter als kollektives Produktionsvermögen für Volponi verkörpern. Als Figur mit gespaltenem Bewusstsein tritt Saraccini vor die Arbeiter der MFM, die er – auch im Auftrag ihres Präsidenten – von der Notwendigkeit der neuen Produktionsziele des Unternehmens überzeugen will. Saraccini sah sich in Gedanken als der Meister dieses entscheidenden Treffens für das Jahr 1975. Aber es verlief nicht gut für diesen Meister,
weil er zu Arbeitern spricht, die statt zu kooperieren die Arbeitsbedingen in der Fabrik kontestieren, wie die von Volponi angeführten Quellen, aus denen sie ihre Informationen beziehen, bezeugen. 69 »Und so sprach er eher schlecht […].« [32] In den Widersprüchen, in die Saraccini sich bei seinem Versuch verstrickt, die Arbeiter in die Rettung der Industrie einzubeziehen, spiegeln sich im Grunde die Schwierigkeiten, der sich die Politik des historischen Kompromisses gegenüber sah, Schwierigkeiten, auf die die Umstellung der Industrie auf die nationalen Bedürfnisse stößt, die Saraccini gemeinsam mit seinem 68 Das Selbstbewusstsein gegen die Entfremdung in der Produktion zu verteidigen, ist ein Moment des Widerstandspotentials des Subjekts, das hier Saraccini zugeschrieben wird: »Saraccini denkt, dass er sich nicht ganz dem Unternehmen überlassen darf oder sich darin verlieren […]. Saraccini nimmt sich vor, immer eine externe »Person« gegenwärtig zu halten, von ihm ausgedacht und für ihn tätig, die er selbst am Leben erhalten muss und wieder erkennen in verschiedenen Handlungen, ein homogenes Wesen, das zukünftig auf lange Zeit lebendig halten und erinnern kann die Existenz eines lebenden, geschichtlichen wie unverwechselbaren Autoren.« [33] – Die hier beschworene imaginäre Figur wäre mit dem als Ich- Komponente fungierenden Chinesen Tecrasos zu vergleichen oder mit der fantasmatischen Figur des Sir Chichester, und schließlich auch mit der imaginären Figur des Autors in dem Prosastück Talete. 69 Die zitierten Quellen sind Zeitschriften und Autoren, die als erste den Kampf der Arbeiter in der Fabrik an die Öffentlichkeit gebracht haben, woraus dann die Strömungen des Operaismus hervorgegangen sind. Die Rede ist von den Arbeitern als »Lesern der bewunderten ›Quaderni rossi‹ und ›Quaderni piacentini‹, Gesprächspartner von Panzieri und Fortini, Verkünder einer gerechteren und materiellen Kultur, darauf bedacht und fähig, einen Plan der generellen Transformation auszuarbeiten […].« [31- 32]
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Präsidenten in die Wege leitet. Aber gerade dieses von Volponi immer wieder propagierte Ziel der Wirtschaftsplanung als Maßnahme gegen die Krise70 wird der Gegenstand nicht nur des Boykotts seitens der herrschenden Wirtschaftspraxis sondern auch eines Teils der Neuen Linken, die, wie die operaistische Richtung, die Einführung einer Wirtschaftsplanung für eine Maßnahme hält, die im wesentlichen nur dem Kapital zum Vorteil gereicht.71 Dass dieser Standpunkt in der Parteilinken so nicht geteilt wird, sondern von ihr an der Wirksamkeit einer Realisierung der Wirtschaftsplanung politisch festgehalten wird, zeigt, dass Volponis Argumentation in Übereinstimmung mit dem Reformkurs der Kommunistischen Partei gesehen werden kann. Das Planungselement erweist sich also als eines der entscheidenden Handlungsmoment des Romans, in dem es ja darum geht, dass durch Planung die industrielle Krise überwunden werden soll oder die Industrie überhaupt gerettet werden kann. Saraccini arbeitet also einen Plan aus, in dem er in allen Einzelheiten die Grundzüge einer Neustrukturierung der Industrie im Hinblick auf ein nationales Wirtschaftsprogramm beschreibt. Auf der Rückseite dieser Grundsatzerklärung, habe, so der Erzähler, Saraccini Verse geschrieben, versehen mit der Überschrift Lauden, Myterium, Lehrgedicht?72 [54-56] – Verse, die also nicht losgelöst von der Proposta in Prosa zu lesen sind, sondern in deren unmittelbarer Kontinuität verstanden werden sollen. Die Verse ergänzen die Geschichte insofern, als sie die andere Seite der Fabrik, die Welt der Arbeit und der Arbeiter in den Geschichtsentwurf integrieren. Von der Maschine ausgehend geht der Blick des Gedichts zum Arbeiter und zur Arbeit und von dort zur Wissenschaft, die den Arbeitsbegriff analysiert und verändert, und schließlich zur Natur und ihren Ressourcen als dem Rohstoff der verarbeitenden Industrie. Sprachlich ist wieder hervorzuheben der grammatische Übergang vom schon indizierten Gegenstand zu neuen Aussagen über denselben, abzulesen an den Schlüsselbegriffen des Textes, zunächst am Begriff der Maschine:
70 In einem Artikel im Corriere della sera vom 21. März 1977, betitelt I giovani, la moneta, il mercato, wieder abgedruckt in den Scritti dal margine, fasst Volponi die Notwendigkeit einer Planung im umfassenden Sinn des Wortes wie folgt zusammen: »Ein Plan gegen den Ausschluss und die Subalternität, die Arbeitslosigkeit, gegen die ökonomische Politik als reine Geldpolitik, gegen die Soziologie und Ökonomie der Macht und ihre Akademien, die neben sich immer die Tradition des Elends einkalkuliert und mit verwaltet hat.« [65] 71 Es ist vor allem Raniero Panzieri, der Herausgeber der von Volponi zitierten Quaderni rossi, der vom Standpunkt der Fabrikarbeiter gegen die Einführung einer Wirtschaftsplanung argumentiert hat und sich dabei auf Marx berufen kann. Wir verweisen diesbezüglich auf die Prefazione von Marco Revelli zu Raniero Pamzieri. Un uomo di frontiera (a cura di Paolo Ferrero), Edizione Punto Rosso/Carta, Milano/Roma 2005. 72 Laude ist eine italienische Gedichtform, ein mittelalterliches Loblied meist geistlichen Inhalts, u.a. bei Franz von Assisi in seinen Gedichten zum Lob der Schöpfung; mistero spielt offenbar an auf die mittelalterlichen Mysterienspiele, die eine Art ›Geheimnis‹ auf dem Volkstheater zur Darstellung brachten; poemetto i. S. von ›Lehrgedicht‹ nimmt expressis verbis Bezug auf den erklärenden Charakter in Gedichtform.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte Die Maschine gibt das Kommando, wertet, bestimmt/und das ganze System des Betriebs ist ausgerichtet/auf ihre leitende Funktion und ihre Operationen. [54]
Daraus ergibt sich, dass sich die Einstellung des Arbeiters zur Arbeit verändern muss, was sich niederschlägt in der Frage: »Die Zukunft, auf welchem Gleis wird sie fahren?« und »Wollen sie Karriere machen/oder fühlen sie sich blockiert?« Denn damit wird auch der Begriff der Arbeit in seiner Substanz verändert: »Die Arbeit ist nicht mehr wahr für die Menschen/weil die Menschen eben nicht mehr/wahr sind für die wirkliche Arbeit […]«. Das wieder hängt zusammen mit dem Rückzug der »Wissenschaft« aus der Welt der Arbeit. »Die guten Soziologen haben die, Industrie verlassen/und sind zur Universität gewechselt, wo man ›sociologia industriale‹ lehrt, um auf dem Laufenden zu bleiben […]«. In der letzten Strophe geht es um die Natur und ihr Energiepotential als das wichtigste Element der industriellen Produktion im Hinblick auf die menschliche Tätigkeit, die hier als Tagdimension ausgewiesen wird. Ihr gegenüber erscheinen die Naturkräfte als eine bedrohliche Macht, mit Explosionen aus ihrer Tiefe, die mit Blutströmen aus ihren Adern verglichen werden. Aber diese Energieströme erscheinen dann gebändigt in der organischen Natur, dem Wachstum der Pflanzen usw. die dem zivilisatorischen Wirken der Menschen wieder zugänglich sind. Das wäre, was unter der Herstellung des universalen Lebenszusammenhangs zu verstehen wäre, der in den Schlussversen angedeutet wird: eine winzige Blüte/von Licht und heilsamer Lymphe/gemeinsam der Pflanze wie allen Gliedern/einer Figur, der sich gegenüber sieht, wer schaut und sich grämt/in der Verteidigung des Tagewerks, der will und dafür kämpft,/dass die Dinge, die Menschen, die Fabriken, die Blumenbeete/einen Platz finden in der Zivilisation, zusammen und nicht jedes für sich. [55- 56]
Als langes Prosagedicht (poemetto) zu lesen ist ferner die dem Planeten gewidmete Beschreibung der vom Menschen vernachlässigten oder verdrängten Dimension des Seins. In diesem Text geht es um »das Schicksal des Planeten« im Zusammenhang mit »der menschlichen Tätigkeit auf Erden«, wie man diese philosophische Betrachtung betiteln könnte. Thematisiert wird hier die dramatische, möglicherweise tödliche Auseinandersetzung im Kampf der Mächte, die sich in der Polarität von Tages- und Nachtdimension gegenüber stehen. Der Text erstreckt sich auf den gesamten Abschnitt I. IV. 5, von S. 148 bis 155. und setzt ein mit der Beschreibung des menschlichen Universums, auf dem ein bedrohliches Schweigen lastet. Die zu Plastik gewandelte Welt im Schweigen, so beginnt der Text: In Plastik gehülltes Schweigen [silenzi plastificati]. Es knistert die kristalline Säure der oligarchischen absoluten Herrschaft, narzisstisch wie zynisch. [148]
Die Besitzverhältnisse sind das erste, was hervorgehoben wird: die Welt in den Händen der Oligarchie. [149] Das Universum aber kann niemand besitzen; es besteht aus der Gesamtheit von Lebewesen, Dingen und Phänomene, denen das Recht auf Dasein gemeinsam ist, auszudehnen auf die Gesamtheit des Universums, »das einzige bezüglich der Existenz und der Zukunft« [l’unico, il solo dell’esistenza e del futuro]; daher sind alle Begriffe, unter die 378
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das Leben gefasst werden kann, gültig nur im Hinblick auf dieses Universum: »die Geschichte, die Natur, die Wahrheit. die Realität, die Ratio, die Materie, die Wissenschaft, die Menschheit« [148]. Damit wird der Anspruch festgeschrieben, dass die genannten Begriffe ihre volle Bedeutung nur im universalen Lebenszusammenhang geltend machen können. Das »Lob des Planeten« in diesem Prosagedicht rühmt das Universale in der Vielzahl von Welten, von Arten und Gattungen, organischen und anorganischen, und darüber hinaus eine Pluralität von menschlichen Verhaltensweisen. Alle Erscheinungsweisen des Daseins, belebte und unbelebte, haben teil an der Energie, die den Planeten antreibt und in Bewegung hält. Dazu gehört auch das Erkennen der Dinge, das zu ihrem Verstehen und schließlich zum Verständnis des Universums befähigt oder dazu führen soll. Um zu zeigen, dass alle Erscheinungen des Lebens von der Energie herrührt, die aus der Materie kommt, wird an dieser Stelle des Gedichts eine Bilderfolge eingeblendet, bestehend aus einer schier endlosen Kette von Aufzählungen menschlicher Situationen, die sich als Miniatur-Bilder mosaikartig zu einem großflächigen Gemälde des Lebens zusammenfügen., wo jeweils eine Wortfolge eine gesellschaftliche Szene oder Situation in Kleinbildformat fixiert [149-50]. Als Gefahrenmomente wird im Folgenden dann die Möglichkeit einer Entgleisung des Planeten vom Erzähler in verschiedenen Variationen beschworen, aber gleichzeitig gegenübergestellt den Perspektiven des Überlebens und der potentiellen Entwicklung zu neuen Existenzweisen. Die Polarität von Gefährdung und Rettung, von Zerstörung oder Nutzung der Energien des Planeten rückt wieder in den Vordergrund der Erwägungen darüber, ob die Menschen in der Lage sind, das Energiepotential des Planeten zu nutzen, indem sie die Fähigkeit erwerben, es zu lenken und damit möglichen Naturkatastrophen vorzubeugen. Das setzt aber auch voraus, dass sie über die Kenntnisse und Techniken verfügen, die es ermöglichen, die Naturkräfte zu kontrollieren, »sie zu beherrschen« [151]. Die hier angedeutete Kontrolle über die Energien in und außerhalb des Planeten und deren Nutzung wird aber auch erst möglich oder realisierbar, wenn sich die Menschheit zu einer neuen Weise des Zusammenlebens entschließen kann und neue gesellschaftsbildende Prinzipien entwickelt, von Volponi beschrieben ausgehend von »neuen sozialen Gruppen« und neuen Wunsch- und Kenntnispotentialen, die entwickelt werden in verschiedener Weise und an verschieden Orten, individuellen und kollektiven […], getragen von libertären Impulsen zu noch nicht einmal ganz entworfenen Modellen und einer neuen Sicherheit für sich, neu aber immer ungewiss […] [153].
Als ein zwar fantastisches Muster einer solchen Gruppenbildung könnte man die Inszenierung in Il pianeta irritabile verstehen. Doch gegen die noch utopischen Perspektiven dieser Zukunftsvision steht immer noch die Realität, die im letzten Teil der Reflexion über den Planeten wieder in den Vordergrund rückt. Wieder wird die Nachtdimension beschworen samt der Magie der wundersamen Vermehrung des Kapitals, wozu entscheidend jetzt beiträgt der Faktor der Automation in der industriellen Produktion. Diese neue »Produktivkraft«, aus dem »Übel« geboren, wie es heißt – »tirata dal male« [153] –, wird der Auslöser einer Reflexion Saraccinis hinsichtlich der nächtlichen Dimension seines Bewusstseins, die er in Verbindung bringt mit dem Phä379
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nomen der Automation. Was hier thematisiert wird, ist der beängstigende Aspekt, dass das Denken des Subjekts, seine letzte Zuflucht, nicht auch noch einer automatisierten Mechanik unterliegt. Das Denken Saraccinis […], vor allem nachts, zwischen den Fantasmen des Kosmos und denen seiner im Gedächtnis gespeicherten und programmierten Körpersubstanz [wörtlich »Mark«], läuft Gefahr, Mal zu Mal nur ein verbaler Automatismus zu sein, die vibrierende und gereimte Akkumulation, die hervorquillt, ausgestoßen durch das Ressentiment über die erlittenen Zurücksetzungen und Verwirrungen, die ihn verfolgen. [153]
Diese Äußerungen sind als eine signifikante Wendung in der Problematik des Sprachverständnisses im Werk Volponis zu betrachten, wie auch als ein vermutlich bedeutender Beitrag zur Poetik des Romans. Sie stellen nämlich die bisher unhinterfragte Verbindung des Sprachgebrauchs mit der Person in Frage und damit die sprachliche Äußerung der Person als die Kundgabe der persönlichen Wahrnehmung des Subjekts, als dessen originale Bekundung von Realität. Was Saraccini jetzt erfährt, ist, dass die von ihm gespeicherten Daten der Wahrnehmung Gefahr laufen, einem Automatismus zu entsprechen, dass sie nur die Erinnerungsfetzen von Eindrücken oder Momentaufnahmen sind, die sich automatisch, d.h. unkontrolliert in der Abfolge der Worte äußern. Damit würde aber auch hinfällig werden die Unterscheidung, die im Text angelegt ist, zwischen dem Unbewussten und Gefahrdrohenden der nächtlichen Dimension und dem Tag-Bewusstsein, das diese Schatten des Realen auflöst in der Erkenntnis der Wirklichkeit; auch diese würde selbst noch den Mächten der nächtlichen Transformation des Realen zum Opfer fallen, wie Saraccini in der folgenden Äußerung konstatiert: Er sieht die Fantasmen in der Nacht und es gelingt ihm nicht, sie zu verstehen und aufzuhalten. Der Automatismus tröpfelt weiter, ohne dass etwas verändert wird […]. [153]
Die negativen Auswirkungen der Automatisierung der Produktion auf das Leben der davon Betroffenen schildern ausführlich die punktuellen Wahrnehmungen der Leute, die der Text registriert [153] – »Automatisch ist der Schlaf, das Erwachen, der Gruß, die Reise […]« [154]. Alles wird automatisch unter der Herrschaft des Profits, soweit es im Bereich des Unbewussten bleibt, d.h. dem Licht der Erkenntnis entzogen wird. Und das ist der Beweis, o großer automatischer Jupiter, des Unverständnisses und Unrechts des Betriebs […], dass sein Automatismus nur herabsteigt, um Übel zu produzieren und andere immer automatischere und entfliehende Automatismen […] [154].
Mit der Entscheidung des Kapitals, den Fortschritt der Industrie auf die Mechanismen der Automation zu gründen, ist nach Volponi die Grenze dessen überschritten, was menschliche Tätigkeit im Sinne der Industrie leisten kann, was etymologisch Industrialisierung überhaupt bedeutet, in der die bewusste Steuerung des Produktionsprozesses als unerlässlich zu betrachten ist. Dass der Kapitalismus des Kommandos dafür kein Verständnis aufbringt und sich 380
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gegen die Einsicht sperrt, dass die Natur nicht nur Rohstoff ist, sondern auch Substanz des Lebens auf dem Planeten, fasst der Erzähler in einen Ausruf zusammen, in dem die Irritation nicht zu überhören ist: Ah! Wann kapieren jene endlich die von ihnen angeeignete Natur [als] existentielle Vernunft, körperliche Funktion, Aufgaben und Pflichten, und wann fügen sie sich, wenn auch nicht davon überzeugt, diesem so klaren und unabwendbaren Verständnis, dem göttlichen, menschlichen, geschichtlichen, politischen ökonomischen, sozialen, kulturellen, konföderierten, heilsamen? [151]
In diesem Ausruf sind alle Kategorien begrifflich enthalten, unter denen die Natur als integraler Bereich des Lebenszusammenhangs zu begreifen ist, woraus wir vor allem den Begriff der »existentiellen Vernunft« [ragione esistenziale] herausheben, weil er der Natur und allem, was sie umfasst, ein Daseinsrecht zuspricht, das die Tierfiguren im Roman als solches geltend machen. Ausgehend von diesen Einsichten, die das Prosagedicht über den Planeten vermittelt, kommen wir wieder zurück zur Sprache Volponis und der Technik der: Häufung sprachlicher Termini, in der sich die spezifische Wahrnehmung seines Erzählers äußert und wovon auch der automatisierte Redegebrauch betroffen ist. Zwei Arten der Aufzählung können wir voneinander unterscheiden: die Aufzählung, die als kontrolliertes Stilmittel angewendet wird, um den Zusammenhang von Situationen oder Verhältnissen in ihrem möglichst weiten Umfang anzuzeigen, und das im positiven wie im negativen Sinn; in beiden Fällen ist allein maßgebend der Versuch, die Dinge aus ihrer Vereinzelung zu lösen und sie in ein Ganzes einzufügen, an einem Ort, wo ihr Sein und ihre Tätigkeit in einem umfassenderen Lebenszusammenhang deutlich wird. Davon zu unterscheiden wäre die Aufzählung oder die Aneinanderreihung von Satzteilen, die als automatische Rede im Text zu erkennen sind und einem automatisierten Sprachverhalten entsprechen, das Volponi ganz offensichtlich kritisch meint und verurteilt, weil es die Reden von Personen betrifft, aus deren Bewusstsein das entfremdete Subjekt spricht oder die Redeweisen, die einwandfrei sich als eingeübte ideologische Diskurse zu erkennen geben. Das vielleicht eindeutigste Muster dieser Redeweise ist die KommandoSprache, in der die automatisierte Form der Kundgebung, die vom Adressaten völlig absieht, einen Abstand schafft, durch den die Natur des Anderen ignoriert oder negiert oder auch gänzlich ausgelöscht wird. Das ist, was mit der Natur geschieht, die in der industriellen Produktion als Rohstoff verarbeitet wird und die in den Reden der Pflanzen und Tiere im Roman wieder zur Sprache kommt. Die Konfrontation dieser Reden mit der KommandoSprache der Fabrik soll im Folgenden näher betrachtet werden. Die Szene, in der sich die Figuren des Naturbereichs dem Kommando Radames’, des Ordnungsbeauftragten der Fabrikdirektion, ausgesetzt sehen und darunter zu leiden haben, unterscheidet noch zwischen der Pflanze, dem ficus (Gummibaum), und dem Tier, dem pappagallo (Papagei), dem jeweiligen Bildbereich, in dem die Aussagen zu situieren sind. Auch hier geht es um den Wettstreit um Anerkennung eines Wesensbestandteils. Als Gegenstände in der Vorstandsetage der Fabrikdirektion repräsentieren beide die Momente des Wohlstands und Wohlbefindens einer Führungselite, ohne selbst dazu zu 381
Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
gehören, wobei der Gummibaum gegenüber dem Papagei, den er als Proletarier einstuft, sich als höherrangig fühlt. »Wir sind es nämlich«, so äußert die Pflanze, die wir für die Seelen und Körper sorgen, für die Motivierungen und die Intelligenz … stattdessen werden wir vernachlässigt, verächtlich behandelt von jenem Major Radames und auch angegriffen von dem dummen ›indio von Papagei‹… schwarz ja, wie schwarz die Wälder des Dschungels sind, aus dem er kommt. [218]
Unterschiedlich in der Tat sind die Leistungen, die den beiden Naturwesen abverlangt werden, dem Gummibaum, der sich als Spender von Gaben rühmt, die als Ruhe, Muße und Genuss so etwas wie den Bereich der Muse und der Poesie bezeichnen, und dessen Beitrag zur Kultur in einer Schrift oder einen »Alphabet« besteht, wie es im Folgenden heißt, ein Alphabet [aufgrund seiner grünen Blätter] ruhig, geordnet, weich, grün, eben pflanzlich, das schon viele Male in der Geschichte zu trösten wusste Göttinnen und Götter, Nymphen und Faunen, Schäfer und Schiffbrüchige, Poeten, Ritter, Prinzessinnen, im Wald verirrte Mädchen. [218]
Erkennbar wird aus diesen Äußerungen, dass die Welt der Pflanzen hier den Bereich des Naturschönen darstellt und abbildet, was als eine ihrer Bedeutungen erst einmal festgehalten werden soll. Wichtiger dagegen ist der Bildbereich, der die Welt des Papageis darstellt, die den gesamten Umfang umfasst, der den Begriff der Dritten Welt bezeichnet , der ursprünglichen Natur als Rohstoff und der von der Industrie benötigten Energie-Ressourcen. Eingeführt wird der Papagei durch sich selbst als Vertrauter und Berater des Firmenchefs Astolfo, in dessen Büro er sich befindet, und als Urheber der Ideen, Pläne und Maßnahmen der Reformpolitik, die Astolfo ankündigt und realisieren will. Dass der Papagei den Anspruch erheben kann, das politische Reformprogramm der Wirtschaftsbosse inspiriert und vorgedacht zu haben, ist auf eine Verfahrensweise des Erzählers zurückzuführen, die das Verständnis der ökonomischen Operationen und ihrer Planung in ein Subjekt verlagert, dessen Bewusstsein die Herkunft der Materie – hier der Rohstoffe – spiegelt, die in der Produktion verarbeitet werden, womit das Triebpotential in der Motivation des ökonomischen Handelns bewusst gemacht wird, sprachlich formuliert und/oder denunziert werden kann. Diesem erzähltechnischen Mechanismus entsprechen die Reden des Papageis, die die Erfahrung der am Produktionsprozess Beteiligten ins Politische übertragen, sie also in eine andere Sprache übersetzen, d.h. sie metonymisch auf eine Ebene verlagern, auf der die beiden Gehalte vergleichbar, wenn nicht bedeutungsgleich werden. Die sprachliche Angleichung von Gehalten und Bedeutungen –darauf haben wir schon hingewiesen – ist als metaphorisch zu bezeichnen, wenn zwei zeitlich auseinander liegende Phänomene miteinander verglichen werden, als metonymisch dagegen, wenn räumlich nahe liegende Dinge durch eine Nachbarschaftsbeziehung zu einer Bedeutungseinheit konvergieren. Sie sind in Volponis Texten grundlegend hinsichtlich einer Schreibstrategie, die die Beziehungen zwischen den Dingen oder ihren Zusammenhang sichtbar 382
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machen will, ihre Wesensgleichheit oder Homologie dem Leser nahe zu bringen beabsichtigt mit Hilfe aneinander gereihter Begriffsketten oder Verlagerung auf andere, höher gelegene Begriffsebenen. Diese Begriffsverlagerung wäre in den Reden des Papageis in zweierlei Hinsicht bedeutsam: zum einen, wie in den oben gezeigten Reden, bezüglich der Erfahrungen im Produktionsprozess und deren Übersetzung ins Politische, zum anderen hinsichtlich der Fronarbeit der Dritten Welt, die sie für die industrielle Produktion in den Metropolen zu leisten haben. Den Leidensweg der Opfer schildert die lange Rede des Papageis, der sich, wie angedeutet, in das Subjekt der Täter verwandelt und in dieser Gestalt sowohl als Opfer wie als Täter spricht. Seine Erfahrungen gehen zurück auf seine Herkunft aus den Wäldern des Amazonas, wo er als Augenzeuge in einer Station der christlichen Mission den Abtransport von exotischen Tieren, worunter auch Menschen zu verstehen wären, sowie Rohstoffen aus den eroberten Kolonien selbst erlebt. Das Bewusstsein des Opfers, das in das Bewusstsein der Täter eindringt und sich an seine Stelle setzt, rekonstruiert die Perfektion, mit der die »Kolonisatoren« die Wege, Techniken und Stationen der Ausplünderung der Dritten Welt betrieben haben und noch weiter betreiben. Diese Bewusstseinmetamorphose wird bis zu dem Punkt entwickelt, an dem sich das Bewusstsein des Opfers mit dem der rohesten Elemente der »Zivilisatoren« und sogar mit dem der Folterknechte zu identifizieren scheint, wie es im Text weiter heißt, mit den Sklavenhändlern, den Suchern nach Edelsteinen, den Jägern auf Tiere, Insekten, Frauen und Kinder. Unter den Urhebern der kolonialen Ausplünderung macht der Papagei u.a. die faschistischen Regime aus, die hier erneut im Zusammenhang mit der Industrie gesehen werden oder umgekehrt, in welchem die Industrie als eines der Antriebpotentiale des Faschismus verstanden wird. Trotz dieser Erfahrungen versteht sich der Wortführer der Dritten Welt zugleich auch als das Sprachrohr Astolfos, dem er die Ideen des gesellschaftlichen und politischen Fortschritts im Industriezeitalter in den Mund legt und um dessen Erfolg bei ihrer Durchsetzung er sich besorgt zeigt. Wie wird jetzt der Doktor Astolfo all seine Projekte der Erneuerung und der Kultur voranbringen können […], allein, ohne die Ratschläge und ohne den Zuspruch von jemandem wie mich, erfahren, motiviert, von unten, emigriert, stark geworden im Kampf mit allen Widrigkeiten […], natürlichen, historischen, menschlichen […]? [220]
Wieder ist es die sprachliche Umsetzung der Bewusstseinsinhalte, die die Äußerungen auf zwei Ebenen verständlich machen, d.h. das Bewusstsein der Dritten Welt als fähig erweisen, die Sprache der Natur in die des Industriezeitalters zu übersetzen und die Erkenntnisse und Erfahrungen der Welt der Arbeit unter anderen Bedingungen wieder in den Prozess der Zivilisation zu integrieren. So jedenfalls verstehen wir die noch immer verschlüsselte Passage, in der der nachdenklich gewordene Intellektuelle des Amazonas, der Papagei, seinen Bildungsweg von den Wäldern des Amazonas über die Universität in die Politik beschreibt. Ausgehend von einem inneren Antrieb, Gefühl und Gedanken, mit Hilfe der semiotischen Analyse einer sekundären Sprache der Wälder, gelangt er dazu, die Zeichen des rohen Alphabets eines Gemeinwesens an der Grenze 383
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zur Kolonisierung durch den Handel zu entschlüsseln, und diese Sprache gedenkt der Linguist des Amazonas – hier ähnlich dem Imitator der Vogelstimmen –, an einer amerikanischen Universität zu lehren, um sie erlernbar und den Menschen zugänglich zu machen. Über diese Phasen des Erwerbs eines zivilisatorischen Status wäre dem Papagei auch eine Kandidatur möglich, »als neutral, aufgeschlossen, engagiert, aber jenseits der Parteien der Welt […] für das Amt als Generalsekretär der Uno…«. [222] In dieser Progression deutet der Repräsentant der Dritten Welt einen Weg der Befreiung an, der über die Emanzipation der Produzenten der ausgebeuteten Länder zu ihrer Mitsprache in der weltweiten Vernetzung der Vereinten Nationen führt; und im Namen der auf die Natur gegründeten Reproduktion des Lebens denunziert er die Kräfte der Unterdrückung des Fabriksystems und das Kommando, das Radames, der faschistische Aufseher, über die ihm Ausgelieferten führt. In dieser Konstellation der antagonistischen Welten stoßen in Form der Gewalt die Kräfte aufeinander, die wir in der Polarität der Mächte unserer Fabel zugrunde gelegt haben. Um das System der Industrie der Nachkriegszeit in der Kontinuität des Faschismus zu zeigen, hat Volponi sicherlich der Figur des Faschisten Radames eine so ausführliche Beschreibung zukommen lassen,73 die in der Situation des faschistischen Terrors der 70er Jahre als gerechtfertigt erschien. Der Papagei, unter der Obhut seines Quälgeists, schildert seine Gefangennahme wie folgt: »O weh, wie niederträchtig war der Kolonist, der mich fing, […] einer von denen mit Stiefeln bis zu den Knien, von der Sorte von Radames […], wenn es nicht er selbst war, der auch die Spedition der begierigen Kolonisten anführte… […] Er hat sich mir immer in den Weg gestellt, mich misshandelt, und umso mehr, als er die Zuneigung und die Achtung des Doktor Astolfo zu mir bemerkte« [86/87]. Und so wird Radames vom Erzähler charakterisiert: Der Chef der Wachen ist ein schweigsamer, aber kurz angebundener Typ, er zeigt offen, dass er keine Sympathien für den Papagei hat […]. Er ist ein Mensch, sehr hart und genau, er hat etwas von einer Maschine. […] Er spricht nicht, sondern weist mit Zeichen seine Untergebenen an, junge, große Männer in Uniform […] [82].
Radames’ Zugehörigkeit zu den Truppenteilen Mussolinis in der letzten Phase des Regimes, in der so genannten ›Repubblica sociale di Salò‹, ist schon erwähnt worden, ebenfalls seine Teilnahme im Abessinien-Krieg an den räuberischen Feldzügen an der Seite des Marschalls Graziani. Und aus dem Mund des Papageis erfahren wir, dass Radames sich im Krieg gegen ihn in guter Gesellschaft wusste, dass seine Einstellung geteilt wurde von einem einflussreichen Teil der Unternehmensführung. [90] Diese unterschwellige Feindschaft und Ablehnung muss der Papagei in Rechnung stellen, wenn er – wie die parlamentarische Linke des ›compromesso storico‹ – seine Mitarbeit an der Stabilisierung der Verhältnisse offen bekundet, denn, auch wenn sie gelänge, wäre er kompromittiert und mit ihm die politischen Kräfte, die er repräsentiert. 73 Insbesondere in I.II.6., S. 82- 94 und II.II.3, S. 216 ff.
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In diesem Dilemma und er noch immer anhaltenden offenen Konfrontation findet die Fabel vom Kampf der Mächte um die Gestaltung der Zukunft im Roman ein vorläufiges Ende. Damit stellt sich aber auch, was die Herrschaft des Kapitalismus betrifft, die Frage, worauf der Begriff der gesellschaftlichen Wirklichkeit beruht, den dieser für sich beansprucht. Die Frage, in der sich das Verhältnis von gesellschaftlicher Wirklichkeit zur Sprache in einem größeren Zusammenhang noch stellen wird, wollen wir abschließend an einer Szene illustrieren, in der Astolfo, der Firmenchef von Bovino, mit dem von ihm unterhaltenen Schriftsteller namens Tozzo, den er seinen »Hund« nennt, über die Frage diskutiert, was ein Schriftsteller heute überhaupt noch erzählen kann.74 Von der Höhe der Chef-Etage mit Blick auf die Stadt, die auch Astolfo hässlich und entstellt findet, provoziert er Tozzo mit der von ihm gestellten Frage. Aus der Defensive zunächst antwortet dieser, dass nichts mehr zu erzählen sei, wenn das Kapital alles für sich in Anspruch nehme: Sie würden die Stadt für sich haben wollen, das Erzählen, alles, was zusammenführt…Alles für sich. so dass nichts mehr zu unterscheiden ist….dass es kein anderes Leben gibt… Deswegen glauben Sie nicht mehr an den Roman…
In einer kapitalistischen Totalität ist das Einzelne nicht mehr zu unterscheiden, was gerade die Literatur nicht. will, wie Tozzi äußert: Jeder Roman wäre ein Angriff auf Ihre Totalität…ein Stück daraus weggenommen…und entlegene Dinge zu erzählen in einer bestimmten Sprache von außen, wäre nutzlos und würde sich wiederholen. Eben deshalb muss man Ihrem Ganzen Bruchstücke entreißen, auch zerbrochene und vermischte… [122].
Das Einzelne muss dem Globalen des Kapitalismus entrissen werden. Nicht nur das Fremde und Entfremdete sondern auch das Hybride ist aus dem Globalen in seinen Lebenszusammenhang zurückzuführen. Die Bestandteile dieser Poetik des universalen Lebenszusammenhangs werden aber von Astolfo nicht anerkannt, da für ihn nur ein Roman von Interesse wäre, der der »fortgeschrittenen Kulturindustrie« [cultura industriale avanzata] entspräche, ein »neuer Roman über die Stadt«, den aber der Film schon überholt hätte [122]. Es gäbe nichts mehr aus dem zivilen bürgerlichen Leben, das noch interessieren könnte, wie ehemals Madame Bovary. Es gibt nichts zu erzählen. Erzählt wird nicht mehr. Die Erzählung, wenn Sie wollen, sind die Bücherressorts des Supermarkts. [123]
Ausschlaggebend in diesem Disput aber ist die Bemerkung Astolfos, dass Tozzo nicht dazu da sei, Romane zu schreiben. »Sie sind vielmehr hier, um zu erfinden [immaginare]…um Gedichte zu schreiben, bemerkte Astolfo, wenn Sie wollen, Projekte, Hypothesen…« [122], was so viel besagen soll, dass der Poesie als der Fähigkeit der Imagination sehr prosaische und zweckdienliche Funktionen zugeschrieben werden, wie die Produktion von Bildern, die – wie Astolfo zu Saraccini bemerkt hat – der Publizität der Firma und ihrem Ansehen zu dienen haben. 74 I. IV.4., S. 121- 124.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte Ich möchte also, so Astolfo, dass Sie erfinden könnten und eine Geschichte so immaginieren [oder verbildlichen], dass sie das Wesen des Unternehmens trifft, unserer Planungen wie unserer Produkte, kurz, dass sie ein Bild vermittelt, überzeugend und publikumsnahe, leicht übertragbar. [215]
In dieser etwas verklausulierten Debatte, in der Astolfo, der Mann der Praxis und der Prosa, absolut dominiert, geht es auf der einen Seite um den von Astolfo hervorgehobenen Gegensatz von città und fabbrica, Stadt und Fabrik, von Zivilgesellschaft und Produktion, wenn man so will; andererseits um die Form, in der über beide jeweils gesprochen werden kann. Was die Stadt angeht, hat Astolfo schon bemerkt, dass der Stoffbereich des bürgerlichen Romans, für den er als Modell Madame Bovary nennt, erschöpft sei und dass das Private des bürgerlichen Lebens nicht mehr von Interesse ist. Das wird von ihm noch einmal bekräftigt, wenn er die Frage stellt: »Wo findet man die Stadt als Einheit der Zivilgesellschaft? Sicher nicht in der Präfektur oder im Rathaus«, wo nur die Dokumente der zivilen Existenz aufbewahrt werden. »Alles trennt … die Schule, die Wohnorte, das Geld … das Auto vereint mehr als die Straßenbahn […], v.a der Fußball und der Sport vereinen …« [123]. Gesprochen wird mehr über das Trennende als das Verbindende, so Astolfo. An diesem Punkt aber wendet Tozzo ein: »Dann kann man also die Stadt erzählen … das, was vereint, und das, was trennt …« [123]. Beide Momente sind Kriterien der Literatur, wobei das Trennende – als der Widerspruch – von größerer Bedeutung wird als das Verbindende, weil letzteres immer fundiert ist und bleibt in der Globalität der Zweckrationalität, für die Astolfo spricht. In der Stadt gibt es beides, das Trennende und das Verbindende, wie Tozzo feststellt; für die Fabrik, so setzt er zögernd zu einem Definitionsversuch an, der zur Frage des Erzählens zurückkehrt, kann es nur den Roman geben, der den Kampf, der in ihr ausgetragen wird, erzählt, d.h. in Anspielung auf Tolstois großen Roman, den Krieg: Die Fabrik erzählen … Krieg und Frieden … die Fabrik und ihr Volk, Adel und Knechte … Napoleon und seine Armee als Bedrohung … Wer wäre Napoleon? Der Bürgermeister? Die kommunistische Partei? Die eingreifende Regierung, unfähig zu kapieren? [123]
In dieser stichwortartigen Aufzählung von erzählerischen Momenten des Tolstoischen Romans, dessen Figurenkonstellation der Text im wesentlichen paraphrasiert, wird thematisch die Brücke geschlagen zurück zum Gegenstand von Le mosche del capitale, dem Krieg nämlich, der latent in der Fabrik herrscht, und zur Erzählung vom Kampf um die Sanierung der italienischen Industrie. Dass diese Geschichte nicht mehr im Stil von Madame Bovary erzählt werden kann, hat Volponi schon angesprochen, als er die Problematik der Biographie des Subjekts (Saraccinis) behandelt hat, im Zusammenhang insbesondere mit dem Bewusstsein der Person, das durch die Automation selbst mit in den Sog der Automatisierung des Wahrgenommenen hineingezogen wird. Wir werden auf die in der Debatte mit Astolfo angeschnittenen Themen wieder zurückkommen, speziell bezüglich der Fragestellung, welche Bedeutung Volponi der Verschriftung von Wahrnehmung im Erzählvorgang zu386
Le mosche del capitale
misst und worin sich dabei Prosa und Poesie als Aussageformen unterscheiden. Dass Astolfo, der Mann der Praxis, von Tozzo, der Figur des Schriftstellers, erwartet, dass er Poesie schreibe zum Ruhm kapitalistischer Ökonomie, gehört nicht zuletzt zu den Fragestellungen einer solchen Analyse.
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Kapitel 9: Die Natur als das Reich des Elementaren Con testo a fronte
I. Die Ausgrenzung von Natur und Tierwelt aus der Kultur der Gesellschaft Der Titel des Gedichtbands, mit dem sich dieses Kapitel beschäftigt, indiziert im Wortlaut schon die Intention, die den Gedichten zugrunde gelegt worden ist. Con testo a fronte ist ein quasi programmatischer Titel und besagt so viel wie, dass der Text der Gedichte mit den gesellschaftlichen Verhältnissen konfrontiert werden soll oder auch umgekehrt. Die Gedichtsammlung will also, wie Volponi selbst bestätigt hat, die Kritik ergänzen, die Le mosche del capitale am Wahrheitsanspruch der Verhältnisse geübt hat.1 Die Kontestation dieses Wahrheitsanspruchs besteht darin, die Gültigkeit der Kriterien menschlicher Ordnung auf ihren Wahrheitsgehalt in der Sprache zu überprüfen. Und diese Überprüfung der gesellschaftlichen Ansprüche vollzieht sich auf der Ebene der Sprache, in der sich der Grad der Bedeutung der Wörter hinsichtlich der Wirklichkeit, die sie ausdrücken, erweisen muss. Unterschieden haben wir hinsichtlich des Bedeutungsniveaus der Wörter zwischen dem Niveau des institutionellen Sprachgebrauchs, den Volponi ursprünglich durch den poetischen Gebrauch des lyrischen Subjekts in Frage gestellt hat; und dann durch das Niveau, das er am Grad der Realität der Dinge gemessen als das eigentliche Bedeutungsniveau bezeichnet. Der Entwertung der Dinge im Ökonomischen und daher auf der Ebene der Wörter, stellt Volponi in dieser Phase die Wiederherstellung der Wirklichkeitsbeziehung der Sprache durch die Zurückführung der Wörter auf das Bedeutungsniveau des Elementaren entgegen, das auf die vernachlässigte oder verdrängte Natur zurückzubeziehen wäre. Die Frage des Verhältnisses von gesellschaftlicher Wirklichkeit und Wahrheit des sprachlichen Ausdrucks stellt sich letztlich wieder mit Bezug auf die Kriterien des universalen Lebenszusammenhangs. Die Ausgrenzung der Natur und des Tierreichs aus der Kultur des Menschen hat Volponi schon in seiner frühesten Lyrik beklagt und daraus eine Schuld des Menschen hergeleitet, wie dem Gedicht Die Grenziehung der Schuldner [Il giro dei debitori] zu entnehmen war. Diese Separierung des Menschen nimmt der Prosatext Natura ed Animale [Natur und Tierreich] in 1
Dazu E. Zinato: »Bezeichnend ist, dass Volponi in der Phase der Zusammenstellung des Bandes an einen Titel wie Die Verse zum Roman I versi del romanzo gedacht hat. Siehe Romanzi e prose, Bd. III, S. XXIV.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Scritti dal margine (von 1982) wieder auf, der ebenfalls diese Trennung als einen Verlust charakterisiert. Tiere und Natur sind ihrer ursprünglichen Kondition entfremdet und ihres Daseinsrechts beraubt worden, indem sie den Zwecken des Menschen und dessen willkürlichem Umgang unterworfen worden sind; aber nicht zuletzt auch zum Schaden der menschlichen Kultur. Der Mensch bleibt allein in seiner Welt, die er geschaffen hat, um sie zweckdienlich auszubeuten. Was verloren gegangen ist, so Volponi, ist schwerwiegend für die menschliche Zivilisation, wenn Natur und Tierwelt in ihrer Ursprünglichkeit nur noch in der Poesie überleben und die Tiere nur noch in Bildern und Assoziationen oder Vergleichen [104], in Bildern also, die in der Erinnerung fortleben oder auf Spuren hindeuten eines gemeinsamen Ursprungs oder Zusammenlebens mit den Menschen. Ursprünglich, so heißt es, »war das Tier ein vom Menschen vor allem gesuchter Gefährte«. [105] Seine phylogenetischen Reflexionen führen den Autor dann zu der Feststellung: Der Mensch ist das Tier, dem es gelungen ist, über die Instinkte hinaus aufgrund der Programme der Spezies, sich zu organisieren und zu verändern, sich anzupassen […]. [105]
Die Entwicklung des Menschen bis zu seiner heutigen Erscheinungsweise fasst Volponi in den Bemerkungen zusammen: Im Ergebnis haben wir einen Körper, ausgestattet in vielfacher Weise, mit Fähigkeiten einer Maschine, mit so viel Organen und einer unseren Operationen entsprechenden funktionalen Dimension: Fähigkeiten erworben eben über die Operationen, nach tausendfachen Versuchen, die notwendig waren für unser TätigWerden. [105]
Der Verlust von tierischen Körperfunktionen wird ausgeglichen durch den Erwerb von Fähigkeiten der Orientierung unter wechselnden Umweltbedingungen. Und dazu gehört die Überwindung der primitiven Animalität im Prozess der Verinnerlichung ihrer Anlagen in der körperlichen Verfassung des Menschen [106]. Deshalb ist aber noch nicht erwiesen, dass die Natur überholt ist, ersetzt durch ein besseres Organisationsprinzip, womöglich eine künstliche Konditionierung des Lebens.2 Das Stichwort »artificiale«, das hier fällt, weist schon voraus auf den Begriff, der bei Volponi die Konzeption des »Elementaren« ersetzen wird und entsprechend den Begriff der elementaren Natur ablöst durch den der »natura artificiale«, unter der er vor allem die nukleare Beschaffenheit der Materie versteht.3 Darauf werden wir ausführlich im nächsten Kapitel zurückkommen. In diesem Zusammenhang aber geht es Volponi um das Festhalten am Elementaren der Natur, sprachlich und materiell, das den falschen Begriffen der Sprache der Institutionen entgegengesetzt wird. Der hier zugrunde liegende Artikel Natura ed Animale, aus Scritti dal margine, ist die wohl ausführlichste Darstellung von Volponis Naturbegriff in wissenschaftlicher Hinsicht; eingeleitet wird sie durch den Verweis auf die 2 3
Scritti, S. 106 Scritti, S. 107.
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Die Natur als das Reich des Elementaren
durch Plutarch überlieferte Erzählung vom Tod des Gottes Pan. Dieses Ereignis der frühen Geschichte in der Auslegung des griechischen Philosophen wird von Volponi interpretiert als der Übergang von der antiken Auffassung der Natur, die Pan als ihr Gott verkörpert, zum Prozess einer Degradierung und Entmachtung der Natur, den die mittelalterliche Theologie in die Wege geleitet hat, ein Prozess, der zur Denaturalisierung alles Irdischen und seiner Unterwerfung unter die Symbole christlicher Heilsgeschichte führte. Die Religion, und insbesondere die christliche, so Volponi, hat keine große Beziehung zur Natur, […], wahr ist jedenfalls, dass sie aus ihren Schönheiten geradezu Versuchungen und Sünden macht und dass sie das Tierische von sich entfernt und es als mangelhaftes Sein verurteilt […] – Daher sind Natur und Tierreich im Lauf der Jahrhunderte eher zu abstrakten oder fremden Realitäten geworden […], oft auch bloße Begriffe oder Objekte der Kontemplation, der Geringschätzung, der Nostalgie, von unbestimmten Beziehungen […]. [108]
Angedeutet wird hier schon, was im gleichen Text dann als Prozess der Verinnerlichung, der Einverleibung des Animalischen in die Körperlichkeit des Menschen wie folgt beschrieben wird: Aber die Natur und das Tier, vertrieben aus ihrer Bestimmung einer ursprünglichen Mütterlichkeit und Brüderlichkeit, von Gefährten und Führern zugleich, sind aufgenommen worden ins Innere, hinabgestoßen, sedimentiert, absorbiert von den Innereien, von der Schleimhaut der Seele des Menschen […], eingelagert jedes Element, jeder Aspekt, jeder Ton, jede Stimme der Natur, die Winde, die Strände, die Flüsse, die Wälder, die Berge, die Vulkane, wie um sich zu befestigen – und was verinnerlicht worden ist, ist nicht etwas nur Vorübergehendes – sondern bleibt im Inneren bewahrt, ist eine flüssige, nicht auszulöschende Konstante geworden […], nicht zu tilgend und immer wiederkehrend und reaktiv […]. [109/110]
Auffallend ist, dass das Fließen der Energie, das hier angedeutet wird, vom Animalischen auf den Menschen übertragen erscheint, und, was vorwegzunehmen ist, später auch von Volponi in der Kernenergie für die anorganische Materie zugrunde gelegt wird. Die zitierten Ausführungen sind einem Vortrag entnommen, den Volponi vor Psychoanalytikern gehalten hat und worin er die Herleitung der menschlichen Triebenergie aus dem Animalischen in die Nähe zu Freuds LibidoTheorie rückt und sich dabei auf die Strukturhypothese Freuds hinsichtlich der Funktionen von Ich, Es und Über-Ich beruft. Die Psychoanalytiker, so Volponi, kennen schon das Runde und die Dynamik dieser inneren Natur, die der Mensch sich angeeignet hat und die jedenfalls ihn jetzt begleitet […]; gleichsam wie ein anderes Organ, erworben, modifiziert in der Mutation, ein neues Vermögen des menschlichen Seins […]. 110]
Diese »interiore natura«, die Volponi wenig später als »anima« bezeichnet, sei von den Literaturen der Antike und der Klassik besungen und erhoben 391
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worden zu einem » großen generativen und libidinösen Trieb« [grande spinta generativa e amorosa], dem der Mensch jedoch in seinem Inneren begegnet als einem ambivalenten Wesen, als seiner anima, mit der er eins zu werden wünscht, die er aber auch als etwas wildes und gegnerisches erlebt, »außer als einen innewohnenden Antagonisten, wild und anders, ein unterwerfbares Wesen, liebenswürdig, geliebt, ersehnt, zurückgestoßen, gefürchtet, lebendig jedenfalls im Willen, es zu besitzen und im eigentlichen Begehren, sich mit ihm zu paaren.« [110]. Das Verhältnis des Menschen zu seiner »Seele« wird hier beschrieben als die Begegnung, wie sie die Geschichte von Amor und Psyche in psychoanalytischer Hinsicht illustrieren könnte, d.h. im Verhältnis von Ich und Es als Basis der Triebökonomie. An die Adresse der Psychoanalytiker gerichtet, kommentiert Volponi die Konvergenz von Animalität und Mensch: Dass diese zwei großen Triebkräfte, die jetzt nicht mehr äußerlich wirken, im Innern des Menschen wiederentstanden sind, scheint, so Volponi, unabweisbar. [110] Wiederholt kommt Volponi in seinen Ausführungen auf die Kernaussage zurück, dass es der Poesie und den Poeten vorbehalten ist, die Natur und die Tiere am Leben zu erhalten und sie in ihrer Sprache wieder zu Gehör zu bringen. Nicht nur Wächter, und ihnen ähnlich, sondern auch im Zwiegespräch Brüder der noch existierenden Tiere sind die Poeten – mit Auge noch und Ohr für den Flug und den Gesang der Vögel, für ihre Migration in Schwärmen oder auch in Einsamkeit, für die unglaubliche und erstaunliche Leistung im Überfliegen [von weiten Strecken] […], im Verteidigen, Jagen, Überleben, in der Aufzucht ihrer Jungen, in ihrer Unterweisung. [111]
Dass es dabei auch vordringlich um die Kritik der Gesellschaft geht, die die Tiere aus ihrem Begriff von Kultur ausgeschlossen hat, wird am Ende des Textes deutlich, wo Volponi den Prozess der Verdrängung des Animalischen aus der Psyche des zweckorientierten Menschen als die Rückkehr des Bestialischen beschreibt und denunziert. Der Mensch muss seine eigene Animalität erkennen, sie aus sich herauslassen und in Einklang bringen. Das Tier außer ihm verbleibt nunmehr nur […] als ein melancholisches Wesen, preisgegeben, im Vergleich zu dem, was ein reicheres und glücklicheres Leben für alle sein könnte […] oder schlimmer noch, dass das unterworfene Tier, statt eines Gefährten, behandelt und abgerichtet wird wie eine Geisel oder ein Sklave. […] [113]
Den Menschen aber, die sich zu Herren und Herrschern über das »Tierische« erheben, droht der Absturz in die Bestialität unterhalb des »Animalischen«. [113]
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Die Natur als das Reich des Elementaren
II. Die Poesie im Licht der »natura elementare« 1. D IE K RISE DER P OESIE UND DER W IDERSPRUCH ZUR R EALITÄT DER I NSTITUTIONEN Krise der Poesie besagt in unserem Zusammenhang , dass die Poesie in ihrem Widerspruch zur geltenden Realität der Institutionen festhält an der elementaren Natur als der Dimension des Realen, des Ursprungs, aus dem alles Leben hervorgegangen ist, dass aber dieser Ursprung verschüttet und vergessen worden ist im Lauf der Zivilisation – und insbesondere von der Moderne –, d.h. nicht mehr erkennbar wird hinter der Fassade von Bildern, Begriffen und Vorstellungen, die das dahinter Verborgene vergessen lassen, ja mehr noch ins Unbewusste abgedrängt haben. Dem Prozess der Verdrängung liegt wieder zugrunde, was wir am Ursprung der poetischen Produktion Volponis gefunden haben, nämlich das Syndrom der Angst, das Gefühl, von seinen Ursprüngen getrennt zu werden und seine Identität zu verlieren. Dieses Gefühl erscheint jetzt verdichtet zur befremdeten Empfindung der Leere, die mit der Abgrenzung des Gesellschaftlichen von der Natur auch das Poetische in eine unüberbrückbare Ferne zum menschlichen Selbstverständnis rückt. Dieses Befremden reflektiert der Dichter in der Komposition ohne Titel [S. 155156], der er als Titel die zwei folgenden Verse voranstellt: Poesia, sei stata fatta tante volte eppure non sei ancora imparata …
Poesie, so oft bist du schon gemacht worden aber gelernt hat man dich noch nicht …
Mit diesem Anspruch auf die Geltung der Poesie im Leben der Menschen leitet Volponi das Gedicht ein, das als ein Schlüsseltext betrachtet werden kann hinsichtlich der Bindung der Poesie an den Begriff der elementaren Natur. Die Poesie ist die Gattung der Literatur – oder besser die Schreibweise oder das Verfahren der Verschriftung des Realen, durch welche die Natur in die Sprache der menschlichen Kommunikation eingeführt oder übersetzt wird. Dieser »Übersetzungsvorgang« besteht im Wesentlichen darin, dass, was als das Elementare in der Natur betrachtet wird, was sie in ihrer Substanz konstituiert, verstanden wird als das, was auch im Menschen gleichartig ist und daher eine Entsprechung in der Sprache findet, in der sich das Sein der Natur enthüllt, die ihr die Bedeutung verleiht, die ihre ursprüngliche oder elementare ist. Doch die Poesie hat sich, wie oben bemerkt, von der gesellschaftlichen Kultur in einer Weise entfernt – und umgekehrt die Kultur von der Poesie –, dass ihre Beziehung auf die Natur nicht mehr verstanden wird. Ihre Funktion besteht daher darin, das institutionalisierte Verständnis des Realen zu »dekonstruieren«. Zunächst aber wird in diesem Gedicht die Funktion der Poesie in ihrem eigentlichen Wesen charakterisiert – wir zitieren den ersten Versabschnitt in voller Länge, um die verschiedenen Aspekte dieses literarischen Schlüsseltextes zu vermitteln:
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte […] è il tuo senso che tiene distolte parti e fattura di te, l’inviolata
[…] es ist dein Sinn, der von dir losgelöst hat Teile und das von dir Gemachte, die unverletzte Natur, ungewiss und unbearbeitet
natura, incerte e incolte
Das Wesen der Poesie ist, dass sie das von der Natur Gemachte dem Zugriff der auf Nutzen bedachten Zivilisation entzieht, da diese dem von ihr Hervorgebrachten keinen Dank weiß: l’utilità e l’usanza, ingrata al tuo seme ogni fioritura; cosí la messe copiosa ti è negata dall’orgoglio di prendere inizio e misura sempre nuovi e dalla paura di non apparire ogni volta mutata [S 1, V.1- 9]
der Nutzen und der Gebrauch, ungedankt deinem Samen jegliche Blüte; so dass dir versagt bleibt die reichliche Ernte vom Stolz, immer aufs Neue anzufangen und Maß zu nehmen und von der Angst, nicht jedes Mal verändert zu erscheinen
Der Wert der Poesie besteht also darin, dass sie immer von neuem auf dieses Ursprüngliche zurückgreift und nur befürchten muss, dass man es jeweils für etwas anderes hält. Der »Sinn« der Poesie oder ihre Bestimmung liegt also darin, die unverletzte Natur zu offenbaren und zu vermitteln, von der sie aber nicht zeigen kann, was losgelöst von ihr ist; der Nutzen und der Gebrauch, den die Kultur von ihr machen wird und was die Kultur als Blüte und Frucht ihrer zivilisatorischen Schöpfung für sich beansprucht. oh meditata paura! mente senza concetto! oh luna immobile, pozza, buca nel petto di tutto; barca nel deserto, palma nel mare specchio, immagine del vero che non appare oh vergine presuntuosa e inibita, giovanetto senza maestro, amore ripulsa affetto tutti, avvinti di sé, come avvinti a legare quell’unica avvinzione, avere prendere dare legna, tronco, zattera, trave, letto parte, sito, luogo intero, tetto… [S 2, V. 1- 10]
oh wohl bedachte Angst! Geist ohne Begriff! oh unbeweglicher Mond, Wasserlache, Loch in der Brust aller Dinge, Boot in der Wüste, Palme im Meer, Spiegel, Bild des Wahren das nicht erscheint, oh Jungfrau voll Erwartungen und frustriert, Jüngling ohne Meister, Liebe, Zurückweisung, Zuneigung alles, in sich verschlungen, verschlungen um zu binden die einzige Umschlingung, haben, nehmen, geben Holz, Baumstamm, Floß, Balken, Bett Teil, Sitz, ganzer Ort, Dach…
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Die Natur als das Reich des Elementaren
Der noch vorbewusste Zustand, in dem die Poesie die Dinge der Natur widerspiegelt oder erfasst, präsentiert sie ohne Ordnung, welche die Logik der Vergesellschaftung erst einführt; und sie präsentiert sie damit im Raum ohne Begrenzung, d.h. einer Mehrdimensionalität, die in der Unordnung der Bilder ihren Ausdruck findet. Der Vers, in dem wir den Schlüssel zum Verständnis des Ganzen vermuten, ist die Definition der Poesie als »Bild des Wahren das nicht erscheint«; einer Definition, die einerseits das Poetische mit der ursprünglichen Natur verbindet, die nicht mehr erscheint, andererseits die Poesie in der modernen Zivilisation lokalisiert, wo verborgen bleibt, was die elementare Natur ihrem Wesen nach immer noch ist und was hinter der Fassade der modernen Bilder unerkennbar geworden ist. Die Poesie ist das Vermögen, das aufdeckt und vermittelt, was aus der noch unverstandenen Natur kommt; sie ist das Jungfräuliche mit großen Ansprüchen, das Ursprüngliche ohne Lehrmeister; sie ist die triebhafte Veranlagung [amore ripulsa affetto], die alles miteinander verbinden will im Raum der Dinge Holz, Baumstamm, Floß, Balken, Bett , in dem die Poesie sich bewegt. Dieser Raum der Dinge und der Gegenstände ist auch der Raum, in dem sich die Ströme des Begehrens bewegen und kreuzen, was auch auf den Fluss der Wörter bezogen werden kann, auf die Verbindung und Lösung der Wörter im Satz, wie im dritten Versabschnitt zu lesen wäre: punto distante, incrocio, ciò che appare che avviene, prende, lascia, dispare [S 3, V. 1- 2]
entlegener Punkt, Kreuzung, was erscheint was sich ereignet, nimmt, lässt, verschwindet
Im Ansatz kündigt sich hier schon die Bewegung der Dinge im entgrenzten Raum an, der auch der Raum der Libido-Ströme und der Begriffe werden wird. Der vierte und fünfte Versabschnitt dagegen nehmen Bezug auf die Poesie der institutionalisierten Kultur und ihre Beschränkung auf die zivilen Angelegenheiten der bürgerlichen Gesellschaft: mentecatto, maestro, ladro, compare; la poesia intanto resta a conservare le stagioni e le novità della morte … [S 4, V. 1- 3] Non un verso che s’accenda e cominci: piuttosto la poesia immota dell’aria tutto ciò che ti passa e che non vinci dentro la foglia scritta; solitaria [S 5, V. 1- 4] sopra la pianta, l’ultima che penda a lato della selva […] [S 6, V. 1- 2]
Schwachkopf, Meister, Dieb, Gevatter die Poesie dient inzwischen um aufzubewahren die Jahreszeiten und die Todesnachrichten … Kein einziger Vers der sich entzünde und anfinge: dagegen die Poesie der unbeweglichen Luft alles was dir passiert und du nicht besiegst auf dem geschriebenen Blatt; dem einsamen an der Pflanze, der letzten die noch hängt am Rand des Waldes […]
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
woran im Versabschnitt 7 die Aussage knüpft, dass am Alphabet der Zeichen der Natur weiter geschnitten wird: tagliano intorno all’orlo dell’epistola alfabetica; […] [S 7, V. 1- 2]
sie schneiden am Rand der Epistel des Alphabets; […]
Zu verbinden ist in dieser parataktischen Konstruktion der Satzteile die Schrift auf dem Blatt der Pflanze – la foglia scritta – mit der epistola alfabetica als der in der Natur erkennbaren Schrift. Das Gedicht endet in Versabschnitt 9 mit dem Bild des sich bewegenden Rads im unbegrenzten Raum: dei raggi di ogni ruota naturale; la poesia dal fondo suo risale: – il verso, pena materiale, la discaglia e slala […] mentre dal fondale salgono voci, ancora. [S 9, V. 1- 4]
von den Strahlen jedes natürlichen Rads; die Poesie steigt wieder auf aus ihrem Grund: – der Vers, die Mühe des Materials, macht sie flüssig […] während aus der Tiefe immer noch aufsteigen Stimmen.
Schwierigkeiten bereiten auf den ersten Blick die Kontaminierung des Vokabulars der Natur auf dem »Schriftblatt« [foglia scritta] – mit der Schrift, als welche die Zeichen der Natur verstanden werden; darüber hinaus vielleicht auch bezüglich der Teile der Natur, die nicht mehr erscheinen, weil sie vermutlich durch die Entwicklung überholt worden sind, und jene, die nur hinter den modernen Begriffen verborgen sind und wieder sichtbar gemacht werden können; eine Unterscheidung, die durch den Text nicht erklärt werden kann, doch vielleicht auch nicht wesentlich scheint, da die Natur selbst in die Evolution einbezogen ist. Bleibt als Kern unseres Definitionsversuchs die Klärung der Differenz zwischen der Poesie der elementaren Natur und der Poesie der zivilen Angelegenheiten, von denen in den Versabschnitten vier und fünf die Rede ist. Offensichtlich ist die Ironie, wo von den faits divers der Gesellschaft gesprochen wird und von den Jahreszeiten der frühen Dichtung Volponis. An diesen Themen und Problemen entzünde sich keine Poesie, sie sei vielmehr die Dichtung, die kein Luftzug mehr bewegt [la poesia immota dell’aria], die von deinen psychischen Problemen handelt, auf ein Blatt geschrieben, das aus der Natur getilgt wird, wie in Vers 1-2 von Verssequenz sieben angedeutet wird. Was aber die Poesie der modernen Literatur insgesamt betrifft, die schon im ersten Versabschnitt angesprochen wird, sind die kritischen Anmerkungen von Bedeutung, dass sie die Originalität, das Einmalige und Eigene des Ausdrucks und das Neue auf dem literarischen Markt zum Kriterium der poetischen Kreativität gemacht habe –»den Stolz immer wieder von Neuem anzufangen« und »die Angst, nicht jedes Mal neu zu erscheinen«. Die Sucht der individuellen Originalität, die als das Zeichen eines Kulturverfalls gedeutet wird, führt nicht nur zu keiner Erkenntnis, sondern hindert auch die Stimmen, die aus der Tiefe kommen, sich vernehmbar zu machen. Das Postulat einer kollektiven Schöpfung, einer »poesia corale«, die der epischen Literatur der Antike gleichrangig oder vergleichbar wäre, verbindet sich hier mit der Poetik einer Wiederanknüpfung an die Natur. 396
Die Natur als das Reich des Elementaren
Die Eliminierung der Analogien aus der Schrift, der Metaphern der Umgangssprache, die die Wortbedeutung grundlegend verändern, ist eine der Forderungen des Gedichts Il percorso [S. 117-119] Niente diverso; né altro sembiante né altra figura piú distante. [S 1, V. 1- 2]
Nichts Anderes; noch etwas Ähnliches noch eine weiter entfernte Figur.
Postuliert wird, dass die Dinge und die Individuen durch sich selbst oder in sich selbst gedeutet werden und nicht durch etwas Anderes; nicht das Andere, Analoge, Ähnliche in den Dingen und Individuen sondern sie selbst sind das, was dem Elementaren der Natur entspricht, ist was als Selbstzweck oder Recht auf Dasein in den universellen Lebenszusammenhang eingebracht werden muss. Ausgehend von diesem Postulat wendet sich das Gedicht zurück in die Prähistorie, um die Entstehung der Schrift aus den noch nachweisbaren Phänomenen der Natur zu erforschen, aus den Spuren, die durch Ausgrabungen im Erdinneren aufgedeckt und gesichert werden konnten. Charakteristisch für die interdisziplinäre Forschungsweise Volponis ist die Terminologie des Grabens, Vertiefens, Ausgrabens, die von der Archäologie und den geologischen Befunden auf die poetische Erforschung der Sprache übertragen wird, im Hinblick darauf, den Entstehungs- und Entwicklungsprozess der Sprache aus den wahrnehmbaren Phänomenen der Natur, den synästhetischen Effekten, zu rekonstruieren und bis zur Ausbildung kommunikativer Fähigkeiten in der Vergesellschaftung des Lebens zu verfolgen. Das Instrumentarium dieser Forschung sind die noch heute wahrnehmbaren Zeichen der Natur, die das Leben, das Verhalten und den Zustand der Naturphänomene, insbesondere der Elemente Erde, Feuer, Wasser, Luft sowie der Welt der Tiere dokumentieren und noch heute verstehbar machen. Auf diese Quellen der Erkenntnis greift Volponi zurück, wenn er wie in der folgenden Beschreibung des Vogelflugs den Verschriftungsvorgang im Raum der Luft darstellen will: Gli uccelli ancora in tanti sbrancati per canto e coraggio dietro la loro scrittura vanno a capo sopra di me per ripuntarmi contro la terra nello stesso luogo parente che si congiunge con l’aria e con la riga del volo a tratti vocale calato a posare sul dorso [S 1, V. 8- 17]
Die Vögel noch zahlreich vereinzelt im Gesang und voll Mut hinter ihrer Schrift sammeln sich über mir um auf die Erde zu verweisen auf denselben verwandten Ort der mit der Luft sich vereint und mit der Zeile des Flugs stellenweise stimmhaft gelandet auf dem Rücken ruhend
Der Vogelflug ist die Verbildlichung der Schrift, die die Tiere im Medium der Luft produzieren und wie es in zwei anderen Versen des Gedichts heißt – die noch einmal verwandelt/das Leben in Schrift [S 4, V. 9-10]. Aus der Luft aber, die das Unbeständige, zuweilen auch Fantastische verbildlicht, fällt die Schrift rücklings auf die Erde, was vermutlich verdeutlichen soll, dass sie dort auf das Feste stößt, das sie fixiert. Luft und Erde sind miteinander asso397
Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
ziierte Elemente, weil sie als Medien fungieren, auf denen die Schrift erscheint. Im Verlauf des Gedichts wird der Erde noch ein weiteres Element an die Seite gestellt: das Wasser. Im Element des Wassers, das – wie zum Teil auch die Nacht auf das Unbewusste verweist – vollzieht sich die Umwandlung chemischer Substanzen, auf die Schrift übertragen die Verbindung von semantischen und syntaktischen Elementen zu neuen Bedeutungen. Das Herabsinken eines Blattes in das Wasser könnte diesen Vorgang verdeutlichen, der, wie oben zitiert: […] un’altra volta trasforma la vita in scrittura. Posidonia riprende l’alfabeto di foglie: tornano i suoi nodi a ridisporsi lungo l’eroso anticlinale [S 4, V. 9- 13]
wieder verwandelt das Leben in Schrift. Posidonia bedient sich des Alphabets der Blätter : sie beginnen wieder sich zu umschlingen längs der ausgewaschenen abschüssigen Bahn
Der einer Neuzusammensetzung der Materie vergleichbare Prozess linguistischer Operationen, der sprachlich von der Menge der kombinierbaren und in der Aussage zu integrierenden Information abhängt, ist grundlegend für die Interpretation beider Phänomene, die Volponi auf die Theorie der Zeichen gründet. Die in beiden Bereichen sich vollziehende Evolution, im Titel der Komposition Il percorso schon angedeutet, bezieht schließlich den Menschen mit ein, dessen Entwicklung stammesgeschichtlich (phylogenetisch) und individualgeschichtlich (biographisch oder ontogenetisch) in ihrer Parallelität betrachtet werden als ein »erdgeschichtlicher wie persönlicher Verlauf« [un percorso miocenico e personale], wie einer der Verse besagt [S 2, V. 1]. Die Existenz des Menschen wird in der Geschichte der Tiere vorweggenommen und/oder verbildlicht, wobei mit der Verbildlichung eine Identität vorausgesetzt wird, die in der Interiorisierung des Vegetativen und Animalischen im Menschen eine Entsprechung findet. Se batti per accompagnare l’ucello, inseguirlo tu stesso animale [S 3, V. 1- 2]
Verfolgst du den Weg des Vogels so folgst du als Tier dir selbst
worüber die Funde in der Erde von Skeletten und Fossilien hinreichend Auskunft geben: Parte di quelli anch’io fui [S 4, V. 16]
Ein Teil von diesen war auch ich
in dem Stadium nämlich, als eine erste Spur von Bewusstsein als menschliches Sein im Ich, das ich bin, zur Erscheinung kam, aufsteigend aus der Nacht und den Wassern des Unbewussten, das der Raum ist, aus dem das Ich als das Andere hervorgegangen ist. Ancora resta un lembo con il sapore di quell’acqua infinite somiglianze alla deriva,
Noch bleibt ein Stück von der Nacht mit dem Geschmack von jenem Wasser; unbegrenzte Ähnlichkeiten fließen dahin
398
Die Natur als das Reich des Elementaren numerazioni continue di esemplari; esemplare io stesso staccato dentro una piccola coscienza ogiva al margine di un vorticoso ciclo di iscrizioni e di affreschi sulla viva calce della presenza […]. [S 5, V. 1- 9]
fortwährende Anhäufungen von Exemplaren; ein vereinzeltes Exemplar ich selbst in einem kleinen spitzbögischen Bewusstsein am Rand eines wirbelnden Zyklus von Inschriften und Fresken auf dem frischem Kalk der Gegenwart […]
Das Erwachen des Bewusstseins aus der Nacht des Bewusstlosen und seine ursprüngliche Verbundenheit mit dem Vegetativen und Animalischen, schließlich sein Überleben oder seine Wiederbelebung im Bewusstsein des poetischen Subjekts erinnern in wesentlichen Passagen an Rimbauds ähnliche Erfahrung und seine Feststellung in Une saison en enfer: »Le moi est un autre«. Dieses Andere des Ich ist das Bewusstsein, durch das sich das Sein der Dinge noch immer in der Schrift äußert als Erinnerung und Zeugnis im frischen Kalk der Gegenwart. Pagina bianca – Die weiße Seite [S. 20-21] ist die Komposition, in der Volponi den Prozess der Versprachlichung mittels der Zeichen der Natur zu deuten versucht als ihr Sichtbarwerden auf einer leeren Fläche, worauf die Schriftzeichen sich einschreiben wie auf einer Schnee bedeckten Oberfläche, die der pagina bianca entspricht. Der Vorgang wird beschrieben im Hinblick auf ein Subjekt, das einen noch vorbewussten Zustand repräsentiert, in dem die Zeichen sich noch ungeordnet wie in einem undurchdringlichen Wald dem wahrnehmenden Bewusstsein präsentieren, einem Bewusstsein, das in sich wie in einer Festung eingeschlossen ohne Begriffe und ohne Gewissheit [senza certezza] ist, presa dentro un’antica neve ove continua a non giungere suono; solo un moto molliccio e senza la scorza del seme e del rotondo affusto verbale […] [V. 5- 9]
eingeschlossen im Schnee der Prähistorie wo es noch keinen Klang gab; nur ein noch ungefestigtes Tönen und ohne die Rinde des Samens und des runden Gestells auf dem die Wörter ruhen […]
eine Wortmasse ohne Konturen, ancora non vicino alla neve, emergenza di un gomito, svolta, affondo di tutta la mummia, della parvenza […] [V. 13- 15]
noch nicht nahe der Oberfläche, dem Erscheinen eines Ellbogens, einer Biegung, eines Ausfalls von jeglicher Gestalt und Erscheinungsweise […]
Das Magma der noch unartikulierten Wortmasse, die in einer Art Gärung begriffen ist, aber sich nicht zu verstehbaren Worten verbindet, wird am Ende
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
wieder charakterisiert in der Verbildlichung des Walds, als Raum oder Ort der elementaren Wortbildung: Ah durissima selva, minuto capricorno stellare, foglia, fiore, lattescenza … tutti rabbrividiscono in soccorso l’uno dell’altro, in trepida confluenza, ma senza giungere a toccarsi, mai a unire […] nemmeno l’ombra, la traccia, la tendenza a rientrare in sé, sfogliarsi, rifiorire. [V. 32- 39]
Ah härtester Wald, kleiner Steinbock des Gestirns, Blatt, Blume Milchigkeit… alle bereit sich zu helfen gegenseitig, in erregtem Zusammenfließen, aber ohne dass es gelingt sich zu berühren, sich je zu vereinen […] nicht einmal den Schatten, die Spur, die Tendenz in sich zurückzukehren, sich zu entblättern, wieder zu blühen
Ungewiss bleibt hier, auf welche Materie sich das Getrennt-Bleiben bezieht, auf die der Elemente – und hier wäre anzumerken, dass sprachlich das Elementare mit nichts Anderem zu vergleichen ist – oder im Vorgriff schon auf ihre atomare Beschaffenheit, wo die Verbindung von Atomkernen zur Entstehung neuer Materie führt, d.h., auf das Sprachliche bezogen, zu neuen Wortverbindungen und folglich neuen Bedeutungen.
2. D IE F UNKTION
DES
E LEMENTAREN
IN DER
TEXTHERSTELLUNG
Diese Funktion soll in den folgenden Gedichten von Con testo a fronte näher untersucht werden, und zwar im Hinblick einerseits auf die sprachlichen Zeichen, die auf die Naturphänomene verweisen, und andererseits hinsichtlich der Bedeutung, die diesen Termini in der Textherstellung zukommt. Gesucht wird das Wesen oder Sein des Gegenstands, das nicht mit Eigenschaften oder Attributen anderer Gegenstände verglichen werden kann, d.h. in seinem Geltungsbereich eine spezifische Bedeutung repräsentiert. Wegweisend in dieser Hinsicht – und nahezu programmatisch – ist das erste Gedicht der Sammlung, das ohne Titel geblieben ist. Um seine Problemstellung zu illustrieren, sei das Gedicht in seinem ganzen Wortlaut wiedergegeben. Seine Thematik ist der Wahrnehmungsprozess in semiotischer Hinsicht, d.h. bezüglich der Frage, wie etwas, das noch nicht erkannt ist, wahrgenommen wird und welche Bedeutung man ihm schließlich zuerkennt. Die Fragestellung kann – bezogen auf den Sinn des Titels Con testo a fronte – verstanden werden als die Kontestation der institutionalisierten Begriffe des Realen, deren Bedeutung in einer neuen Wahrnehmung auf das Elementare der gesellschaftlichen Ereignisse zurückgeführt werden sollen. Das erste Gedicht (ohne Titel) des Gedichtbands Con testo a fronte : Di un piccolo colore mai visto si screzia la mesta luna della mia cecità: si muove a cercarlo la mente
Über eine kleine noch nie gesehene Farbe liegt im Zwist der betrübte Mond meiner Blindheit: der Verstand setzt sich um es zu suchen
400
Die Natur als das Reich des Elementaren
per arrivare a comprendere se sia nuovo o affatto inesistente: un’impossibile tinta, sia naturale che artificiale un punto che abbia un tremore nel mentre che appare e si spegne che quale segno s’integne di una dimensione reale, [V. 1- 13] o che trapassi come il segnale del vuoto che in sé ritegne la mente o altro materiale, probabile essenza o segnale di un’altra dimensione o della sua minaccia? Là, dalla parte di quel colore o lì dentro la sua faccia? [V. 14- 21]
in Bewegung um zu verstehen ob es etwas Neues ist oder überhaupt Inexistentes: eine unmögliche Färbung, natürlich oder künstlich, ein Punkt mit einem Tremor im Moment wo er erscheint und erlischt, ob es sich färbt wie ein Zeichen von einer realen Dimension, oder vorüberzieht wie das Zeichen des Leeren das es in sich birgt der Verstand oder ein anderes Material wirkliches Sein oder Zeichen einer anderen Dimension oder ihrer Bedrohung? Dort, auf der Seite von jener Farbe oder auf ihrem Gesicht?
Die Aussage des titellosen Gedichts, auf das Wesentliche reduziert, ist: Eine nie vorher gesehene Farbe ist daraufhin zu prüfen, was sie überhaupt darstellt und ob, was sie darstellt, etwas Neues oder vielleicht Inexistentes ist, etwas Natürliches oder Künstliches; und schließlich im Hinblick darauf, ob das Zeichen, das sie repräsentiert, auf eine dimensione reale oder auf un’altra dimensione verweist. Dieses Kriterium der gesellschaftlichen Geltung des Wortgebrauchs wird in den Gedichten kritisch oder polemisch gegen den herrschenden Sprachgebrauch gerichtet, auf den der Gedichtband insgesamt schon im Titel zielt. Die Voraussetzung für diese Kritik, die letztlich den Wirklichkeitsbegriff der zeitgenössischen Gesellschaft in Frage stellt, ist aber der Bewusstseinswandel des Subjekts, das sich auf eine andersartige und abweichende Erfahrung seiner Lebenswirklichkeit berufen kann. In der Romantik schon äußert sich dieser Widerspruch im Medium der Sprache, worin zunehmend nicht mehr die Erfahrung des Individuums mit dem vergesellschafteten Sprachgebrauch in Einklang zu bringen war. Die Philosophen der Romantik erklärten das Subjekt – unter Berufung auch auf Kant – für ermächtigt, seine Lebenserfahrung als die eigentliche Wirklichkeit in seiner Existenz zu betrachten und sie gegen die wachsende Macht kapitalistischer Zweckrationalität zu verteidigen, die die Feststellung des Wirklichen für sich reklamierte. Die Konflikte des europäischen Imperialismus und die beiden Weltkriege haben die Diskrepanz und den Widerspruch zwischen herrschender Wirklichkeit und Lebenserfahrung der Massen in einer Weise vertieft, die im Existentialismus und der Phänomenologie der Nachkriegszeit einen neuen Ausdruck gefunden haben. Von ihnen reklamiert wird ein Bewusstseinswandel , der in der Literatur im Grunde schon wiederholt beschrieben worden war, wie z.B. in Rimbauds Une saison en enfer, in Mallarmés Igitur oder schon in der Antike in den Mythen des Abstiegs in die Hölle, den Hades oder die Unterwelt.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Die Kritik an der Konzeption von gesellschaftlicher Wirklichkeit geht also einher mit einem Bewusstseinswandel, der in Contesto a fronte in mehreren Gedichten eingehend behandelt und analysiert wird. Verwiesen sei hier auf die Gedichte auf S 3, 8, 11, 22, 102. Ein Kriterium, das diesen Wandel anzeigt, ist der Übergang von der Nachtdimension in die des Tages, den die Gedichte als den Wechsel vom Zustand der Ruhe und des Unbewussten in den des Tätigen und Bewussten beschreiben. Doch das Verhältnis beider Zustände und Dimensionen zueinander wird als gleichwertig oder – wie im Folgenden Gedicht – als parallel begriffen. [S. 7]; auch dieses Gedicht ohne Titel: La notte è parallela al giorno [
Die Nacht ist parallel zum Tag;
aber: La notte non è sicura, proprio come un soggetto che cerca sempre misura fra origine e ritorno Il giorno invece è un oggetto che pesa e si oppone intorno alla sua stessa parvenza. [V. 9- 15]
Die Nacht ist nicht sicher, gerade wie ein Subjekt das immer ein Maß sucht zwischen Ursprung und Rückkehr. Der Tag hingegen ist ein Objekt dessen Gewicht sich widersetzt dem eigenen Schein.
Festzuhalten ist, dass die Nacht hier mit dem Subjekt identifiziert wird, das in einem Zustand der Ungewissheit gesehen wird, einem Moment also, der psychoanalytisch noch zu deuten sein wird. Der Tag dagegen wird mit dem Objekt gleichgesetzt, in das das Tagewerk das Subjekt verwandelt, entgegen den Vorstellungen von sich selbst, an denen es festhält. Die Charakterisierung beider Dimensionen wird wesentlich ausführlicher in Come perso [Wie verloren] [S. 94-99] weiter geführt. Die Nacht wird hier als die Dimension des Schlafzustands dargestellt, mit dem die Dimension des Vergessens, des Auslöschens, des Todes assoziiert werden, ohne dass diese von vornherein negativ bewertet erscheinen. La notte passa sopra il mio corpo […] e dilagando sommerge ogni senso […]
Die Nacht senkt sich über meinen Körper […] und sich ausbreitend überschwemmt alle Sinne […]
Und im Nebel eingehüllt das Bewusstsein mischiato tra i vuoti di quel poco di luce e di coscienza [I, S 4, V. 54/56, 61- 62]
vermischt in die Leere des wenigen Lichts und Bewusstseins
Werden hier die Leere des Bewusstseins und der Mangel des Lichts als Merkmale der Nacht angeführt, so ist es in den folgenden Versen das Versinken der Geschichte im Vergessen; ihr ist gegeben: 402
Die Natur als das Reich des Elementaren di sotterrare i vivi nell’ombra di ogni storia, di far riemergere i morti [I, S 4, V.81- 83]
die Lebenden zu begraben im Schatten aller Geschichte, die Toten wiederzuerwecken
Außer der Geschichte, die in der Nacht verschwindet, ist es schließlich auch das Leben, das im Dunkeln verlischt: La notte è piú della morte: è il sogno l’abisso che non si colma [II, S 5, V. 1- 2]
Die Nacht ist mehr als der Tod: sie ist der Traum der Abgrund der sich nie füllt
Diese Seinsdimensionen des Lebens werden aber durch Bilder der Morgenröte abgelöst, die das Leben und die Existenz der Dinge als unerschöpflich und unvergänglich erscheinen lassen: L’alba è la pecora mansueta
Der Morgen ist das friedliche Lamm
und l’aurora il gregge che riconosce il mite dorso collinare. [II,S 5, V. 4; 6- 7]
die Morgenröte die Herde die wieder erkennt den sanften Rücken des Hügels.
Wir werden wieder zurückkommen auf das Gedicht, das nicht nur die Nachtdimension in den Bildern des Textes so eindrucksvoll darstellt, sondern auch wesentliche Aufschlüsse darüber liefert, wie über die Sprache der Bilder sich ein Text bildet, der mit der Rückführung auf das Elementare auch das gesellschaftliche Subjekt neu konstituiert. Dieses Ziel aber verfolgt Volponi, wenn er die Terminologien des Sprachgebrauchs von den ideologischen Verfremdungen und den eingefahrenen rhetorischen Techniken säubern will, die der Erkenntnis des Realen und seiner sprachlichen Artikulierung im Wege sind. Das sprachliche Verfahren, das dabei als hauptsächlicher Gegenstand seiner Sprachkritik ins Blickfeld rückt, sind die Techniken und Mittel des Vergleichens, die letztlich dazu führen, das Verglichene in seinem Dasein und seiner Funktion zu identifizieren. Sprachlich-rhetorisch dienen dazu alle Stilmittel, die eine Analogie zum Ausdruck bringen zwischen verschiedenen Dingen, Bereichen oder Personen, wie hauptsächlich die Metapher. Welche Schlussfolgerungen Volponi aus seiner Ablehnung und negativen Wertung der Analogien zieht, soll in der Komposition untersucht werden, die einen Begriff derselben Ordnung schon im Titel führt. Parallelo, der Titel der längeren Komposition [S. 141-145] – und ein Begriff der Geometrie – ist sprachlich zu den rhetorischen Figuren zu zählen, die das Nebeneinander von Linien bezeichnen, aber auch die Verschiedenheit von Phänomenen bis hin zu einer grundsätzlichen Gegensätzlichkeit, wenn die Phänomene miteinander in Beziehung gesetzt und verglichen werden, wie z.B. die Tages- und Nachtdimension in den zitierten Gedichten. Auf der Parallelität beruht nach Volponi, wie wir gesehen haben, von Natur aus die 403
Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Zeiteinteilung im Wechsel von Tag und Nacht, Sommer und Winter, Wachund Schlafzustand. Doch die Zeitdimension ist, wie schon angedeutet, auf die Geschichte insgesamt auszudehnen, sie umfasst, wie wir annehmen können, den geschichtlichen Verlauf auf Erden, dem der Verlauf der Zivilisation, wie der Titel besagt, als ein paralleler Verlauf an die Seite oder gegenübergestellt wird, als ein regno parallelo, das nicht vorangekommen ist, sondern stagniert, wie der erste Vers der Komposition besagt: Il parallelo è una nomenclatura di ristagni [S 1, V. 1]
Das Parallele ist die Bezeichnung für den Stillstand
und der letzte Versabschnitt setzt ein mit der Aussage: Il parallelo non consente il romanzo esso è la sola lingua e il solo tempo storia e realtà del proprio disavanzo [S 6, V. 1- 3]
Das Parallele schließt aus den Roman es ist die einzige Sprache und die einzige Zeit Geschichte und Wirklichkeit des eigenen Stillstands
Auf diese Definition des Stillstands in der Geschichte, der, wie wir meinen, die menschliche Zivilisation bezeichnet, stützen wir unsere Interpretation des Gedichts, das auf verschiedene Momente der Geschichte anspielt, hauptsächlich aber auf die christliche Passionsgeschichte, wenn im zweiten längeren Versabschnitt die Rede ist di un dio terreno cui non valga un padre onnipotente che tre dita della destra leva paziente, raggi e fagli dell’unità insalvabile seppur certa, […] [S 1, V. 5- 8]
von einem irdischen Gott dem nicht wert ist ein allmächtiger Vater der drei Finger der Rechten geduldig hebt, Strahlen und Risse der unrettbaren Einheit dennoch gewiss, […]
Das geschichtliche Moment der Leidensgeschichte Christi, die noch zweimal in den Gedichten dieser Sammlung behandelt wird, teilt sich in den Widerspruch und Gegensatz der Leidensgeschichte des historischen Subjekts und dem Herrschaftsanspruch des Vaters über eine Gesellschaft, die sich nicht entwickeln kann und historisch in dem Zustand verharrt, den das Gedicht als Stagnation und als die Wiederholung immer derselben gewaltförmigen Verhältnisse beschreibt: il parallelo cade, per taglio infossa dentro di sé senso, giro della percossa ruota propria, oggetto e soggetto; precipita e smarrisce l’iniziale concetto [S 4, V. 11- 14]
das Parallele fällt und verschlingt in sich den Sinn, den Lauf des zerschlagenen eigenen Rads, Objekt und Subjekt; stürzt und verliert die ursprüngliche Bestimmung
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Die Natur als das Reich des Elementaren
In diesen Sturz ist das Subjekt aber einbezogen: dietro l’effetto – in Auswirkung della precipitazione la caduta dal letto nel sogno senza fine […] [S 4, V. 20- 21]
des Sturzes der Fall aus dem Bett in den Traum ohne Ende […]
und dieser Traum ohne Ende ist der einer Zivilisation, die noch nicht realisiert worden ist – […] sognare di cadere, di cadere nel sogno per perdersi e quasi sciogliersi per non arrivare [S 4, V. 36- 37]
[…] träumen zu fallen, zu fallen im Traum um sich zu verlieren und quasi sich aufzulösen um nicht anzukommen
in einer Realität, in der auch die Worte ihren Wert verloren haben, ma lasciare cadere e sentirla precipitare la parola solo la parola che cade; cosí nel parallelo sempre accade che le parole siano ancora piú rade e pesanti, niente di esse persuade che non il peso immenso, che evade sempre piú rapido da sé e dalle strade dal getto plumbeo che radente invade; [S 4, V. 38- 45]
sondern fallen zu lassen und es stürzen zu hören nur das Wort das Wort das fällt; so geschieht es immer im Parallelen dass die Wörter noch spärlicher sind und voller Last, nichts in ihnen überzeugt außer das immense Gewicht, das entweicht immer rascher aus sich und aus den Straßen aus dem bleiernen Strahl der zerstörend eindringt;
Der Verlust der Bedeutung der Wörter, der hier so eindringlich dargestellt wird, ist aber die Folge des bleiernen Gewichts, das über den Verhältnissen lastet, die wieder zurückgefallen sind in den frühhistorischen Zustand der ungebändigten Natur, sotto l’impero e la capigliatura di sole e luna […] disteso o sprofondato tra la melma impura di crateri e di sponde […] [S 6, V. 8- 11]
unter der Herrschaft und dem Zuschnitt von Sonne und Mond […] ausgedehnt oder im Schutt errichtet des unreinen Schlamms von Kratern und Ufern […]
Unter den Verhältnissen der zerstörerischen Unordnung ist vermutlich aber nichts anderes zu verstehen als die gesetzlose Praxis der politischen und ökonomischen Verhältnisse, die Volponi schon in Corporale und Le mosche del capitale aufgedeckt und dargestellt hat und die das Ende der ersten Republik besiegeln. Der Bedeutungsverlust der Wörter besagt u.a. auch, dass die Wörter keine Realität mehr bezeichnen, dass sie nicht mehr mit den Dingen über405
Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
einstimmen, auf die sie verweisen. Das drückt unmissverständlich das auf Parallelo folgende kurze Gedicht ohne Titel aus, und zwar schon in seinen ersten Versen: Gli uccelli furono ingannati dall’uva dipinta di Zeusi [Seite 146, V. 1- 2]
Die Vögel wurden betrogen von den von Zeusi gemalten Trauben
Erzürnt, so heißt es, flogen sie weiter, um neue Verhältnisse – filari orti e seminati – zu suchen. Die Aussage dieser kleinen Erzählung könnte man so verstehen, dass die Abbildung des herrschenden Realen der Verdopplung des Falschen gleich käme. Die Fälschung der historischen Wahrheit durch die Metaphern, die die realen Ereignisse in einem völlig anderen Licht erscheinen lassen, wird in der abschließenden Sequenz von Parallelo noch einmal als stilistisches Mittel der Aussage über die Wirklichkeit der Verhältnisse in einer entschiedenen Wendung gegen das Denken in Analogien artikuliert: Il parallelo non consente il romanzo: esso è la sola lingua e il solo tempo storia e realtà del proprio disavanzo; il parallelo non è un bando: appare senza mai terra per ogni verso, di collina o di pianura mai città o una boscosa serra […]
Das Parallele ist für den Roman nicht geeignet: es ist allein die Sprache und das Zeitmaß die Geschichte und die Realität des eigenen Defizits; das Parallele ist keine Ausschreibung: es erscheint immer ohne Erde in jeder Wendung, von Hügeln oder Ebenen nie Stadt oder waldliche Anpflanzung […]
[S 6, V. 1- 7]
die hier im Gegensatz gemeint sind. Als eine vergleichbare Darstellung von Fälschung historischer Wirklichkeit durch die Sprache der Institutionen könnte man das Gedicht verstehen, das die Kreuzigung Christi in der Version der kirchlichen Dogmatik zum Gegenstand hat, betitelt Il legno della croce [Das Holz des Kreuzes] [S. 37-38]. Vermutlich liegt dieser Darstellung – wie dem gekreuzigten Christus in Io fui una volta sulla terra [Ich war einst auf der Erde] [45-48] – das Gemälde der Kreuzigungsszene von Patinier zugrunde oder eines der schon in Le mosche zitierten Maler.4 Das Bild des Gekreuzigten im Gemälde wird in starken Kontrast gezeigt zur vermutlichen Realität der historischen Szene: Quale metafora rese verde il corpo accese di fiamme le piaghe rosse […] [V. 1- 3]
4
Welche Metapher machte grün den Körper gerötet von den Flammen die roten Wunden […]
Siehe im ersten Teil: II, 1, 28- 34.
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Die Natur als das Reich des Elementaren
Im Folgenden werden dann die Umgebung der Szene, die Landschaft, die Soldaten, die Trauernden, kurz angedeutet und angemerkt: […] intorno al legno di quel giorno piantato a croce e chiodi già sacro nelle lodi degli angioli […] [V. 12- 16] nuvole fonde vapore del sangue che nel rossore si spande monta gonta […] perenne su tutta la gente metafora che non sente metafore o piú sineddochi di quella grande scena, [V. 90- 92; 94- 97]
[…] rings um das Holz jenes Tages aufgerichtet als Kreuz mit den Nägeln schon geheiligt im Lobpreis der Engel […] Wolken verbreiten den Dunst des Bluts das in seiner Röte aufsteigt und sich ergießt […] immerwährend auf alle Menschen Metapher die nichts spürt Metaphern oder Synekdochen jener großen Szene,
Und die Spezifizierung wird geradezu ins Burleske fortgesetzt: pittura per pitturare fino a vanificare il rosso con il rosso il fosso con il fosso il chiodo con il chiodo il legno con il legno signore non sono degno resto solo con il segno che vale solo un pegno per un futuro regno [V. 100- 109]
Bild um zu malen bis zur Banalisierung das Rote mit dem Roten den Graben mit dem Graben den Nagel mit dem Nagel das Holz mit dem Holz Herr ich bin nicht würdig ich bleibe allein mit dem Zeichen das nur wert ist als Unterpfand für ein künftiges Himmelreich
In dieser Aufzählung der Attribute des Kreuzes wird das Eigentliche als Metapher spielerisch reduziert auf dasselbe und damit der Vergleich ad absurdum geführt, wozu noch beiträgt, dass der vorletzte Vers abwertend gelesen werden kann im Sinne von ›nichts wert sein‹. Nahezu die gleiche Szene findet sich in dem Patinier zugeschriebenen Gemälde des Gekreuzigten im Gedicht ohne Titel [S. 45-48] mit den ihm in den Mund gelegten Versen: Io fui una volta sulla terra: l’ho vista; ora sono una figura di genere dentro un paesaggio tardo surrealista… [S 1, V. 1- 3]
Ich war einmal auf Erden: ich habe sie gesehen; jetzt bin ich ein Genrebild in einer spätsurrealistischen Landschaft…
Zu bemerken wäre gleich, dass hier das Gemälde – wie im vorangehenden Bild der gleichen Szene – nicht mehr die Funktion hat, wie die gemalten Bilder im frühen Werk Volponis, die dargestellte Wirklichkeit als historische zu 407
Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
bezeugen und zu bestätigen, sondern vielmehr den realen Vorgang der Leidensgeschichte metaphorisch zu verklären und damit geschichtlich zu verfälschen. Die Darstellung, die abwechselnd den im Bild erscheinenden Christus selbst reden lässt und das Gemälde von Patinier beschreibt, setzt ein mit der Rede des Gekreuzigten im Anschluss an die drei ersten Verse, worin dieser beklagt, dass »meine Gedanken« nicht verstanden worden sind und immer so ausgelegt werden, wie sie auf dem Gemälde Patiniers interpretiert werden: Pura, fantasiosa pittura piú o meno ripresa da una scrittura […] [S 2, V. 46- 47] Non ho dunque di fronte e accanto che qualche dipinto? Il mio mondo è perso e finto, il suo scenario mi confonde […] [S 3, V.1- 4]
Ein reines Fantasie- Gemälde mehr oder weniger einer Schrift entnommen […] Ich habe mir gegenüber also nichts als ein Gemälde? Meine Welt ist verloren und erfunden, sein Szenarium ist entstellend […]
Im letzten Teil des Gedichts wird dann noch einmal auf die Schrift hingewiesen, die dem Gemälde zugrunde liegt und darin auf die Szene der cattura, die Gefangennahme Christi, gegen die noch einmal eingewendet wird: Nessuno vuole raccontare
Niemand will erzählen
come avvennero le catture
wie die Gefangennahme verlaufen ist
che mutarono il mondo nelle pitture…
die die Welt veränderte in den Gemäl-
[…]
den… […]
sempre e solo pitture e pitture …
immer nur Gemälde, Gemälde…
[S 6, V. 13- 15; 20].
Ist schon in den Gedichten, die die Leidensgeschichte Christi zum Gegenstand hatten, die interessierte Darstellung und Interpretation der Geschichte als Fälschung geschichtlicher Wirklichkeit thematisiert worden, so wird in Ancora verso Roma [S. 39-43] die Geschichtsthematik insgesamt als hinterfragbar und neu zu begründen begriffen und problematisiert. Die Geschichte besteht, wie sie Volponi hier versteht, aus einer Ansammlung oder Kette von Geschichten i.S. von Erzählungen, die – wie die Metapher und das Gleichnis – das Geschehen, das sie erzählen, im Grunde interpretieren, es als analog zur Wirklichkeit begreifen und behaupten. Wir heben das hervor, weil wir damit auch die größeren Erzählungen formal unter die Verfahren einordnen, die nicht die Wirklichkeit selbst sondern etwas von ihr Tradiertes abbilden oder darstellen. Diesem Kriterium sind wir schon begegnet, als davon die Rede war, dass das Reale in der literarischen Darstellung ein Reales zweiten Grades ist, auf das wir aber erst zurückkommen, wenn vom Verhältnis von Erkenntnis und Literatur oder Imagination gehandelt wird. Was hier aber als neuer Aspekt hinzukommt, ist die Interpretation des Realen auf der Grundlage der Neukonstitution der Sprache oder umgekehrt die durch die Sprache zu schaffende Neukonstitution des Realen i.S. des Virtuellen. Volponi versucht in Ancora verso Roma die Entstehung der Sprache und ihre Konstituierung zu verbinden mit der Ausbildung der sprachlichen Fähigkeiten des Menschen und damit der Geschichte seiner Entwicklung bis zur 408
Die Natur als das Reich des Elementaren
Person, die sich in der Sprache als grammatikalische Erscheinung manifestiert, als ich, es oder wir. Das relativ lange Gedicht lässt sich unterteilen in das, was wir ein »Seestück« nennen könnten, die Fahrt eines Schiffes über das Meer (Teil I), und in die Rückwendung in die Vergangenheit oder zu den Ursprüngen der Geschichte (Teil II und III). Die Fahrt des Schiffes über das Meer ist die Allegorie, die erzählt, wie aus den Elementen – das Flüssige = das Wasser, das Feste = die Erde, das Luftige = das Reich der Vögel – das Bewusstsein entsteht und damit die ordnende Kraft oder Fähigkeit, die das Elementare in die Sprache übersetzt. Das Schiff oder das ordnende Bewusstsein durchquert die Wasser als das ursprüngliche Element – das Flüssige und Fließende – der bewegten Materie. Nella lingua ondulata del mare dell’altro versante senza Gibilterre che l’anima nasconde, tutto pare che naviga e scorre […] i flutti che il vento incalza scuri oltre i meridiani e l’orizzonte di un pomo non riconoscibile battono sempre intorno alla fronte: [I. S 1, V.1- 4; 8- 11]
In der gewellten Zunge des Meeres der anderen Seite ohne Gibraltar wo die Seele sich verbirgt, erscheint alles was auf dem Meer fährt und fließt […] die Fluten die der Wind in Bewegung setzt dunkel jenseits der Meridiane und der Horizont der Wasserfläche der nicht erkennbar ist schlagen beständig um die Stirn:
Die Beschreibung dieses ersten Versabschnitts enthält im Wesentlichen alle Momente, die dem Element des Wassers und des Meeres zuzuordnen sind, das Fließen der Fluten, die Wellen, der Wind, der die Fluten bewegt; eine erste Anspielung auf die Sprache, in die das zu übersetzen ist, könnte man in der lingua ondulata sehen, womit der beschriebene Vorgang so interpretiert werden kann, dass damit auch Kategorien der Grammatik erkennbar werden, nämlich das Fließen der Wortfolge im Strom der Satzsequenzen, die der Wind als die bewegende Energie der Aussageintention in Bewegung hält. Die zweite Verssequenz setzt ein: il varco è mobile, digitale, líquido, tutto rincorre e scuote; […] Emergono segni come terre trasparenti, dipinti a strisce in equilibrio sopra un rapido film: una sintomatica pellicola dove stinte si succedono le voci delle speranze, immagini in sequenza […] [I. S 2, V. 1- 2; 5- 10]
der Übergang ist gleitend, digital, flüssig, alles ist ein Verfolgen und Schütteln; […] Auftauchen Zeichen wie die Erde transparent, gemalt wie Striche im Gleichgewicht über einem schnellen Film: ein symptomatischer Film wo verblichen sich folgen die Stimmen der Hoffnung, Bilder in einer Folge […]
Vom Wasser aus wird in Umrissen etwas sichtbar, was aussieht wie das Land, die Erde als das Element des Festen, das sich im Bewusstsein als etwas abhebt wie auf einem Film, aber noch nicht erkennbar wird, Bilder in Bewegung und akustische Effekte in der noch unbestimmten Wahrnehmung. Ist das der »Übergang« zum Festen und den Zeichen des Landes und der Land409
Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
schaft, so erscheinen in der folgenden Verssequenz der Raum und die Beschaffenheit der Luft als Phänomen des Bewusstseins: accanto al paesaggio la rimata neve è contro tutto ciò che si deve ai raggi gamma, alle citere: ecco rinata la consueta paura l’identica figura di piume e di cera […]
neben der Landschaft der gereimte Schnee ist gegen alles das sich verdankt den Gamma- Strahlen, den Zithern: so ist entstanden die gewohnte Angst die identische Figur aus Federn und Wachs […]
[I. S 2, V. 12- 16]
Die Oberfläche der Landschaft wird zuweilen von einer Schneedecke überzogen, die, wie wiederholt schon angemerkt, die Fläche bezeichnet, auf der als Schrift die Poesie erscheint und sich abhebt; die im Grunde aber auch in Frage stellt, was sich als Reales der Verhältnisse unter der Decke der Schrift verbirgt, was der Erkenntnis sich entzieht, die im Element der Luft in der Abstraktion von den Dingen situiert ist. Auffallend ist, dass Volponi hier die Erkenntnis in der Höhe der Luft lokalisiert, während er ihre Ursprünge in den Elementen selbst begründet sieht und schon immer polemisch gegen die Luft oder die Höhe als den Raum der poetischen Erkenntnis argumentiert hat. Als negatives Exempel jedenfalls wird hier der Mythos von Ikarus und Dädalus zitiert, der den Absturz in die Tiefe der Figur bezeichnet, die mit Flügeln aus Federn und Wachs die Erhebung in die Sphären des Lichts unternimmt. In der vierten Verssequenz verbildlicht diese Suche nach dem Bild, das die Erkenntnis des eigenen Bewusstseins ermöglicht, die Phase, in der das Schiff das Land erreicht, auf dem sich das Leben auf festem Boden weiter entwickelt und differenziert, l’ansimare del proprio corpo appena fuori da una conchiglia dai gesti smemorati […] [I. S 2, V.30- 32]
das Atmen des eigenen Körpers kaum außerhalb einer Schale von urzeitlichen Gesten […]
Die letzte Verssequenz des ersten Teils kehrt wieder zurück zum Element der Luft, in der sich die Vögel bewegen, die in Begleitung des Menschen auf der Zugfahrt nach Rom in allen Richtungen die Luft durchqueren und damit eine Schrift erkennbar werden lassen, die im Raum vergesellschafteter Kommunikation als Sprache lesbar wird: molti ucelli volano incontro in felice formazione augurale tra le rive di giunchi e le rotte insenature sotto la collina […] [I. S 2, V. 39- 42]
viele Vögel fliegen uns entgegen in vorausdeutend glücklicher Formation zwischen den schilfbewachsenen Ufern und den unterbrochenen Windungen unter den Hügeln […]
Erkennbar wird zugleich die Geschlossenheit dieser Bilder des Elementaren in einer idealen, d.h. poetischen Verbindung der Elemente Wasser, Erde,
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Die Natur als das Reich des Elementaren
Luft, die die körperliche Beschaffenheit des Bewusstseins signalisieren und dessen Entstehung die Allegorie der Schifffahrt erzählt hat. Der zweite und dritte Teil der Komposition weist eine weniger geschlossene narrative Linie auf und berichtet im Grunde, wie wir die Fabel fortsetzen können, von den Abenteuern des Bewusstseins mit seinem Eintritt in die Geschichte und dort von seiner Rückkehr zu den Anfängen, die offensichtlich die der Genesis des Alten Testaments sind. Può essere un ritorno quando in cima a un alto albero non riconosci se quell’oscuro triangolo sia un uccello o una foglia o un nido abbandonato [II. S 1, V. 1- 5]
Es kann eine Rückkehr sein wenn du über einem hohen Baum nicht erkennen kannst ob das dunkle Dreieck ein Vogel ist oder ein Blatt oder ein verlassenes Nest
Entscheidend scheint hier, dass der Gegenstand, der vermutlich ein Symbol alttestamentarischer Geschichte ist, nicht erkennbar wird, dass er also im ersten Moment der Wahrnehmung nicht als Gegenstand zu unterscheiden ist, und was Volponi offenbar hier auf die Wahrnehmung der Menschen der Genesis bezieht, die das Wahrgenommene für ein Sakrales hielten, das die Anwesenheit Gottes bezeugte. Unvermittelt wechselt der Text über, wie wir meinen, zu der Problematik der Erklärung des nicht erkennbaren Phänomens, die der Poesie, schon in den Anfängen des Lebens, zugefallen ist: i foglietti di appunti per la poesia o per il mercato della pittura di ogni figurazione mortale […] nessuno riconosce i primi feritori eppure ancora presenti al male [II. S 1, V. 12- 14; 17- 18]
die Blätter der Notizen für die Poesie oder für den Markt der Gemälde von jeder Figuration des Sterblichen […] niemand kennt die ersten Verursacher des Übels obwohl sie noch gegenwärtig
und um sie zu benennen, sind Dichtung und Malerei berufen – und von letzterer werden mehrere der bekannten Maler zitiert,5 die die Menschheitsgeschichte in der Folge der Vertreibung aus dem Paradies gemalt und bekundet haben, so dass daraus Gemälde der Landschaft entstanden und geblieben sind battuti ancora dalle nostre tracce custoditi per l’incanto da serpenti piumati e letterari parenti della prima persona. [II. S 1, V. 49- 52]
gezeichnet von unseren Spuren bewacht für den Zauber von Schlangen befiedert und literarisch Verwandte der ersten Person.
Und diese ist, wenn wir mehrere Zeilen überspringen und im Kontext des Alten Testaments bleiben, die Person
5
Genannt werden Allegretto, Lippo Vanni, Jacopino Dalmasio, Michiel Sweerts, Guido Cagnacci, Annibale Guercino, Poelenburg, Tassi, Schedoni. [S. 41].
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte come l’unico grandioso male [II, S 2, V.14]
als das einzige grandiose Übel
Auch hier wäre wieder eine Anmerkung angebracht bezüglich des Begriffs der »Person«, die wie der anschließende Text besagt, die des alttestamentarischen Kains sein könnte, aber zivilisationsgeschichtlich auch die zivilrechtliche Person bezeichnen könnte, d.h. die Abspaltung eines eigenständigen Seins in der Vergesellschaftung des Menschen und dessen Perfektionierung in der bürgerliche Gesellschaft. Als solche könnte die »Person« aber auch grammatikalisch als prima persona in der Textproduktion erscheinen, die also in erster Linie den Gang der Geschichte bezeugt. Wieder geht es hier um die Geschichte der gesamten Menschheit und die Determinierung ihres Verlaufs durch ein Ereignis, das nur im alten Testament mit seinen fatalen Konsequenzen überliefert worden ist, nämlich der Brudermord Kains. Zweideutig ist Volponis Darstellung dieser gesamten Episode, in der es vermutlich um die Erklärung geht, wie das Übel il male – in die Welt und damit in die Geschichte gekommen ist. Es scheint so, dass Volponi Kain, den Brudermörder, als den Schöpfer der diamantina bellezza, was immer das sei, feiert und diese in der Natur verewigen will. An den schon zitierten Vers: bezüglich des Übels schließt unmittelbar an der Anfang des dritten Teils: […] l’unico grandioso male: Caino il fratello coraggioso di Abel.
[…] das einzige grandiose Übel: Kain der mutige Bruder Abels.
worauf im nächsten Vers folgt: Nell’alone del sangue sale la diamantina bellezza che l’ora mattutina spande dalla collina e che per sempre vi resterà uguale, fissa nel materiale di quella forma. [III. S 1, V. 1- 7]
Im [heiligen] Schein des Blutes steigt auf die diamantene Schönheit die ausbreitet die morgendliche Stunde über den Hügel und die für immer gleich dort bleibt, gefestigt im Material jener Form.
Der Zusammenhang zwischen der Bluttat Kains, dem «Übel», und der der Natur zugeschriebenen Schönheit ist zugegebenermaßen rätselhaft und ist wohl nur als Widerspruch oder Antinomie konzipiert für ein Geschichtsverständnis, das die Natur von dem «Übel» frei spricht, das in der Geschichte des Menschen wütet. In dieser Richtung wäre die alttestamentarische Fabel zu verstehen, die den Ewigen als den Verursacher des Dramas mit ins Spiel bringt, was die Verse der ganzen ersten Verssequenz von Teil III zum Ausdruck zu bringen scheinen: L’immateriale misura dell’eterno concede la bellezza dell’ora: bene parlava, bene diceva, bene ancora di piú prometteva, [III. S 1, V. 8- 11]
Das immaterielle Maß des Ewigen gewährt die Schönheit der Stunde: gut war seine Rede, gut das was er sagte, gut noch mehr was er versprach,
412
Die Natur als das Reich des Elementaren
Zu vermuten ist, dass Volponi in diesem zweiten Teil der Abenteuer des Bewusstseins die Figur des Kain und seine Geschichte dazu benutzen wollte, um ein Moment der Konstitution des Subjekts schon in der Phase seines Ursprungs zu charakterisieren. Die Tat Kains wäre dann zu verstehen als die Aggression gegen den Herrn und die Herrschaft, durch die das Subjekt noch in Abhängigkeit und Knechtschaft gehalten wurde, als es aus dem Paradies schon vertrieben sein Schicksal in der Welt selbst bestimmen musste. Die positive Wertung der Figur Kains wäre dann zu interpretieren als die Verurteilung der Position Abels, des Braven und Guten, der sich der Herrschaft unterworfen hat. Das Leid, das den Vertriebenen aber noch bevor steht, ist der Fluch, den der Ewige den Ungehorsamen auflädt, als er sie aus dem Paradies vertreiben lässt. Es ist das Los, das Masaccio auf seinem Gemälde der Vertreibung aus dem Paradies für die Nachwelt festgehalten hat. Offenbar handelt es sich in den letzten Sequenzen des Gedichts um eine Anspielung auf den Menschen, der aus dem Paradies vertrieben worden ist, von einem Mächtigen, der seine Gaben nur den Seinen vorbehält, cosí si faceva leccare come il miele quel miele che nascondeva; soltanto alle ombre concedeva […] [III. S 1, V. 12- 14];
so ließ er sich lecken wie der Honig den Honig den er versteckte; nur den Schatten gewährte er [ihn] […]
während den aus dem Gemeingut vertriebenen Menschen die Welt bleibt, die sie sich selbst erbauen müssen. Wie diese Menschen die Welt betreten, wird im Bild der abschließenden Verse angedeutet: ogni mattino nasce sghembo, altrove la luce quando il suo piede tra l’erba vacillante procede. [III. S 2, V. 10- 13]
jeder Morgen beginnt schief, woanders das Licht wenn sein Fuß im Gras zögernd voranschreitet.
Der Aufstieg des Bewusstseins aus der Nacht des Unbewussten wird noch einmal erzählt in den Versen ohne Titel Il vento si è disteso [Der Wind hat sich gelegt] [S. 22], wo die Versprachlichung der Wahrnehmung im Sinne der Poesie des Elementaren geschildert wird .und als Schlüsselbegriff jetzt die bewegende Kraft des Windes bestimmend ist. Der Wind ist das bewegende Element im Raum der Natur, in dem aber auch die Eigenschaften und Veranlagungen einbezogen sind, die im Menschen als die der Psyche betrachtet werden, das Bewusstsein und das Unbewusste. Die Energie der Bewegung hebt aus dem Dunkel des Unbewussten, der Tiefe des Körpers, das Bewusstsein ans Licht. Il vento si è disteso sotto la luce di Vespero cosí che piú lento è asceso il buio dai fossi al tenero verde di ogni scosceso
Der Wind hat sich ausgeweitet im Licht des Abends so dass langsamer heraufgestiegen ist das Dunkel aus der Tiefe an das zarte Grün jedes abschüssigen
413
Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte Höhenkamms […]6
crinale […] [S 1, V. 1- 6]
Die Umwandlung des Dunklen in Bewusstsein wird noch einmal angedeutet im ergänzenden Bild der Versenkung ins Innere und des Grabens […] come disceso dentro di sé, ripreso intero il profondo scavo […] [S 1, V. 7- 9]
[…] als Abstieg in sich selbst im Vollzug des Grabens in der Tiefe […].
Daraus entspringt das Bewusstsein als die Spiegelung des Lichts auf den Gegenständen in der Tiefe des Unbewussten, die es zum sprechen bringt [S 1, V. 11-14]. In dieser Beschreibung des Übergangs vom Unbewussten in die Dimension des Bewusstseins ist nicht zuletzt auch impliziert die Thematik und Dialektik der Tag- und Nachtdimension als Phänomen der Wahrnehmung, die wir am Anfang von Le mosche del capitale als Weisen des Weltverständnisses analysiert haben.
III. Die Subjektproblematik im Licht der Entwicklungsgeschichte 1. D IE
MENSCHHEITSGESCHICHTLICHE
E NTWICKLUNG
Der Rückgang in die Geschichte, den wir im Werk Volponis in seiner Tendenz verfolgt haben, die Sprache aus ihren Ursprüngen zu verstehen und ihre Entwicklung daraus abzuleiten, verbindet sich automatisch, wie in den vorangehenden Gedichten gezeigt, mit der Geschichte der zivilisatorischen Entwicklung der Menschheit. In diesen Gedichten ist Volponi wiederholt in die christlich überlieferte Geschichte des Alten und Neuen Testaments zurückgegangen, um darin das Problem der Vergesellschaftung aus historischer Perspektive zu beleuchten. Jedes Mal ging es dabei um das grundlegende Problem der Beziehung von Herrschern und Beherrschten oder kritischer gesehen von Herrschaft und Unterwerfung, was Volponi insbesondere in den alttestamentarischen Verhältnissen kritisch kommentiert hat. Um in Volponis Geschichtserforschung so etwas wie eine Entwicklungslinie zu erkennen, sollten wir von vornherein ausschließen, dass er von einem zielgerichteten Verlauf der Geschichte ausgeht, wie etwa Augustinus in Civitas Dei. Woran die Veränderungen im Geschichtsverlauf bei ihm gemessen werden, ist das Kriterium der Vergesellschaftung, der Grad, in welchem es der menschlichen Zivilisation gelingt oder gelungen ist. die Natur und das Universum in ihren Lebenszyklus zu integrieren und, was das Gesellschaftliche betrifft, in welchem Maße die Herrschaftsverhältnisse des Menschen über den Menschen reduziert worden sind, bzw. abgeschafft werden können.
6
Das Bild scheint den Vorgang so zu beschreiben, dass das Dunkle im Sinne des Unbewussten aus der Tiefe ans Licht emporsteigt und zum Bewusstsein wird.
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Die Natur als das Reich des Elementaren
Eines der titellosen Gedichte [S. 106] spricht diese utopische Erwartung an, im Hinblick darauf, dass eine Phase der Geschichte zu Ende geht: Le tracce dell’ultimo sovrano si perdono dietro le mura di roccia là dove era piú sicura la città sulle spalle di un dio eretto. [V. 1- 4]
Die Spuren des letzten Souveräns verlieren sich hinter den Felsmauern dort wo sicherer war die Stadt auf den Schultern eines aufragenden Gottes
Die auf Gott gestützte Souveränität ist zu Ende und der Blick auf die Landschaft, die wieder einen fast bukolischen Anblick darbietet, hebt sich lieblich ab von der düsteren Seite der Herrschaft nel senso della corte [V. 14]
im Sinne des Hofes
wo den Herrscher der Tod erwartet, an dem Ort, an dem er die Herrschaft ausgeübt hat, […] spregevole come la sorte di un orrido suolo. [V. 17- 18]
[…] verächtlich wie das Geschick schrecklichen Bodens.
Die Herrschaft über ein Territorium ist verbunden mit der Unterwerfung seiner Bewohner, worauf der Ausdruck »orrido suolo« offenbar anspielt; sie beschränkt sich nicht auf den Grundbesitz der Herrschenden, sondern wäre auszudehnen auf alle unterworfenen Territorien, in der Moderne auf die Herrschaftsbezirke des Kapitals. Das wird die längere Komposition, betitelt Territorio e figura, noch eindringlich vor Augen führen. Zum Problem wird aber, wie die Herrschaft über das Territorium, das dem Menschen zur Benutzung und Pflege überlassen ist, abgelöst werden kann durch andere Einstellungen im Hinblick auf die Beherrschung des Lebensraums. Und damit rückt die Frage des Gesellschaftlichen, der Vergesellschaftung der zivilen Verhältnisse des Menschen durch die Politik wieder in den Vordergrund der Überlegungen Volponis. Die Beziehung zwischen ziviler Gesellschaftlichkeit und der Macht des Politischen findet wiederholt ihren Ausdruck in der Verbildlichung von Pferd und Reiter oder Wagen und Wagenlenker, das Bild, das in Simile [S. 18-19] wieder auftaucht und wo das Gesellschaftliche, also das Pferd, schwächer als der Reiter dargestellt wird: dove il cavallo è piú piccolo del cavaliere sceso a inginocchiarsi: stupito e accorto vuol vedere perché si lamenta e si toglie al reale piacere di montarlo e di correre […] [S 2, V. 5- 8]
wo das Pferd kleiner ist als der Reiter der abgestiegen ist und sich niederkniet: erstaunt und besorgt zu sehen warum es sich beklagt und sich dem wirklichen Vergnügen des Reiters entzieht aufzusitzen und zu galoppieren […]
Offensichtlich ist hier, wie wir meinen, dass der hier dargestellte Reiter die vorherrschende Gewalt der Politik über die Zivilgesellschaft repräsentiert und 415
Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
dass letztere allen Grund hat, sich über die Last dieses Zustands zu beklagen. Dieses ungleiche Verhältnis wird im Bild des Wagenlenkers und des Rads – auriga und ruota [S.107-108] – wieder aufgenommen in diesem titellosen Gedicht mit den Anfangsversen Un auriga e una ruota sopra una stella immota [S 1, V. 1- 2]
Ein Wagenlenker und ein Rad über einem unbewegten Planeten
vermutlich die Erde, über deren Luftraum sich beide befinden: Il primo di spalle con il viso rivolto verso i bassi movimenti del cielo, senza sfiorare la terra, sopra gli scorrimenti di nuvole […]; [S 1, V.6- 10]
Der erste rücklings mit dem Blick gerichtet auf die unteren Bewegungen des Himmels, ohne zu streifen die Erde, über den vorbeiziehenden Wolken […];
das Rad dagegen sempre meno celere del giro, come se di un altro impatto non dovesse piú cingere niente: [S 1, V. 14- 17]
immer weniger schnell in seiner Umdrehung, als ob es von einem anderen Anstoß nicht mehr mit bewegt würde:
Der Reiter ist zum Wagenlenker geworden, der über den Wolken sein Gefährt durch die Lüfte steuert, offensichtlich ohne Orientierung, denn nach unten blickend sucht er den Kontakt mit der Erde, auf die er den Wagen offenbar zurückzulenken versucht; das Rad aber scheint fast zum Stillstand gekommen zu sein. Das sind die Fakten, auf die die enigmatische Fabel, die sie enthält, beschränkt bleibt. Legt man die Semantik von Wagen und Wagenlenker zugrunde, die hier den Text verschlüsselt, dann liegt nahe, dass der Wagen das Vehikel der gesellschaftlichen Verhältnisse bezeichnet, die dem Wagenlenker außer Kontrolle geraten sind, und dass die Verlangsamung des Rads den drohende Stillstand der gesellschaftlichen Entwicklung oder deren Rückbildung signalisieren könnte. Was zur Entschlüsselung beitragen könnte, wären die Bemerkungen des erzählenden Subjekts, das in der ersten Person über den Sinn der Fabel reflektiert: Non so se guardare l’auriga o seguire la ruota; perché da me dipende il modo in cui la stella diriga l’uno e l’altra […] [S 2, V. 1- 4]
Ich weiß nicht ob ich dem Wagenlenker oder dem Rad folgen soll; denn von mir hängt die Weise ab in welcher der eine oder der andere den Planeten lenkt […]
Diesen Reflexionen des Bewusstseins, als welches wir die Stimme des Subjekts identifizieren, kann entnommen werden, dass es allein dem Menschen 416
Die Natur als das Reich des Elementaren
auferlegt bleibt, die Geschicke der Gesellschaft – und des Rads, das sie dreht – zu bestimmen. Die Geschichte vom Menschen, der allein über die Zukunft der Gesellschaft entscheidet und damit über den Lauf der Geschichte bestimmt, wird wieder aufgenommen und abschließend behandelt in Il cavallo di Atene, dem sicher bedeutendsten Gedicht von Nel silenzio campale.
2. D IE
LEBENSGESCHICHTLICHE
E NTWICKLUNG
Der Prozess, in dem Volponi dem ideologischen Sprachgebrauch als dem Eigentlichen die Rückführung der Wortbedeutung auf das Elementare der Natur entgegensetzt, kann ausgedehnt werden auf den Verlauf der Entwicklung der menschlichen Zivilisation und ihr Hervorgehen aus der Natur. Die Spuren davon sind in der geschichtlichen Ausformung der Sprache zu suchen. Demselben Prozess zuzuordnen ist aber auch die Entstehung und Entfaltung des gesellschaftlichen Subjekts, das, wie wir gesehen haben, mit der Ausbildung des Bewusstseins einhergeht und sie begleitet. Den Verlauf der Ausbildung dieses Bewusstseins haben wir im Bild der Seefahrt in Ancora verso Roma schon verfolgen können und damit die Parallelisierung von Ontogenese – den individuellen Lebensverlauf – und Phylogenese – den menschheitsgeschichtlichen Verlauf der Bewusstseinsbildung. In Il percorso deutet Volponi diese einander bedingenden Verlaufslinien in den Versen an: Un percorso miocenico e personale era scavato […] [S 2, V.1- 2]
Ein frühgeschichtlicher und persönlicher Lebensverlauf war vorgezeichnet […]
auf dem Weg der Entwicklung des Menschen. Von Bedeutung aber wird bei Volponi, dass mit der geschichtlichen Erfahrung des Subjekts, mit der Erkenntnis also, dass sein Bewusstsein nicht das der Person ist, sondern über diese hinausgeht, auch die persönliche Lebensgeschichte, das psychologische Drama, nicht sein individuelles bleibt, sondern verallgemeinerbar wird. An diesem Punkt setzt das Gedicht an mit dem etwas barocken Titel Appunti sul raschiare dell’insonnia e sulle sue finzioni – Notizen über das Kratzen der Schlaflosigkeit und über ihre Fiktionen [S. 11-13], das die Schrecken der Kindheit, das Psychodrama, wieder aufgreift und es im Bewusstseinswandel aufzulösen versucht. Die Schlaflosigkeit des Titels beschreibt ein Zwischenstadium zwischen dem Schlaf, der die fantasmi wieder erweckt, und dem Wachzustand, der sie aber nicht vertreiben kann. Der Bewusstseinswandel kündigt sich im Gedicht an mit der Anspielung auf ein politisches Datum: Dalle prime notti del ’69 […] e del sogno in la turrita coscienza curva d’ansia e letizia […] [S 1, V. 1 und 15- 16] l’insonnia detta e si arresta,
Mit den ersten Nächten von ‘69 […] und dem Traum im türmereichen Bewusstsein gekrümmt vor Angst und Freude […] erhebt die Stimme die Schlaflosigkeit
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
gradualmente per ogni spigolo o cornice [S 1, V. 38- 39]
und verweilt, gemächlich bei jeder Kante und jedem Rahmen
Evoziert wird die Heimsuchung des erinnernden Subjekts im Haus der Familie, dem Ort, wo das Bewusstsein der Schlaflosigkeit zurückgekehrt ist. Doch nicht mehr ist es die Angst und die Erinnerung an die Schrecken der Kindheit, sondern das gewandelte Bewusstsein, das jetzt das Wort ergreift: Adesso non sei piú tu che mandi a dire:
Jetzt bist es du nicht mehr der mir zu sprechen befiehlt: ich wende mich im Schlaf an einen nächtlichen Besucher an ein väterliches Fantasma; es sind diese anderen die zu mir sprechen von ihren kleinen Bänken der Ehrlichkeit in der Arbeit, im Kampf […] die mich warnen und mir klare Nachrichten übermitteln über den Ort, die Distanz, den Abgrund …
mi rivolgo nel sonno a un visitatore notturno proprio un fantasma paterno; sono questi altri che mi parlano dai loro piccoli banchi di onestà nel lavoro nella lotta […] che mi avvertono e mi danno notizie chiare sul luogo, la distanza, il precipizio ... [S 2, V. 1- 8]
Es sind Nachrichten, die die Solidarität mit den Anderen zum Ausdruck bringen und nicht mehr nur Bedrohliches übermitteln und die damit auch das Bewusstsein des Subjekts zu den Anderen öffnet, es zum Bewusstsein auch der Anderen macht. In welchem Maß diese Befreiung aus der Gefangenschaft des Individualbewusstseins auch einen Fortschritt in der Vergesellschaftung des Subjekts auf dem Wege der Vermenschlichung der Verhältnisse mit sich bringt, macht das Gedicht deutlich, das im Titel schon auf eine geschichtliche Parallele verweist, nämlich Cattura [S. 138-140]. In diesem Text wird die Gefangenschaft des Individuums in der bürgerlichen Gesellschaft mit der Gefangennahme Christi gleichsetzt und die Abhängigkeit mit dem bürgerlichen Syndrom des Ödipus-Komplexes motiviert. Wie schon in vielen anderen Gedichten wird die Macht dieser Entfremdung im Bereich der Nacht lokalisiert und mit einer Reihe von Symptomen – wie vor allem die paura [die Angst] – assoziiert, die dem mütterlichen Bereich zugeordnet waren, aber schließlich auf die kapitalistischen Verhältnisse übertragen werden: La notte è madre di un edipo fabbricante [S 2, V. 6] La notte è il pieno di tutta l’incoscienza istintiva, calcolata, accumulata … la notte è industriale continuazione di sé, della propria materia senza mai ordine, senso, orario, dimensione. [S 2, V. 1- 5]
Die Nacht ist die Mutter eines ÖdipusFabrikanten Die Nacht ist die Gesamtheit alles Unbewussten des instinktiven, kalkulierten, angesammelten … die Nacht ist die industrielle Fortsetzung von sich selbst, der eigenen Materie ohne Ordnung, Sinn, Zeitmaß, Dimension.
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Die Natur als das Reich des Elementaren
Die Nacht ist das zentrale Bildmotiv dieser Komposition, von dem abgeleitet sind die zwei ebenso zentralen Schlüsselbegriffe, des Unbewussten und des Mütterlichen, die hier dem Licht der Erkenntnis gegenübergestellt werden, woraus auch erkennbar wird, wie immer mehr das rationale Moment des universalen Lebenszusammenhangs für Volponi zentral wird gegenüber dem Irrationalen und Vorbewussten im Prozess der Vergesellschaftung. Diese semantische Festlegung überträgt sich jetzt entscheidend auf den Begriff und die Dimension der Nacht, und von dort weiter auf die geographischen Aspekte der Erde und noch weiter auf die noch ungewissen Bewegungen im Himmelsraum; aber auch hier wieder, weil sie durch die Dunkelheit der Wahrnehmung des Bewusstseins entzogen sind.7 Die Nacht ist die Dimension des Anderen, Unbekannten: altro e diverso posto: della terra e del cielo … senza profili ne doline: rotte le sue righe, perdute oltre i suoi fiati, negati gli sguardi […] sopra quel fondo nero, […] pieno e perduto tra i propri disastri nel buio e nella paura di sé, travolto dai carri delle costellazioni oltre ogni vicinato e sentiero, […]
ein anderer und verschiedener Ort: der Erde und des Himmels … ohne Profile und Absenkungen: gebrochen ihre Linien, verloren auch ihre Kraft, verweigert der Anblick […] über jenem schwarzen Grund […] voll und verloren zwischen den eigenen Desastern; im Dunklen und der Angst vor sich selbst, umgewälzt von den Wagen der Konstellationen jenseits jeder Nachbarschaft und jedes Pfads, […]
[S 1, V. 10- 13; 16; 19- 22]
Die Dinge, Gegenstände, Räume, auf der Erde wie im Himmelsraum, sind in ihren Konturen und ihrer Beschaffenheit nicht erkennbar, sobald sie ins Dunkel getaucht sind und deshalb bedrohlich oder im psychoanalytischen Sinn auch unheimlich,8 was bezüglich der Semantik der Dunkelheit, den Übergang erlaubt von der Dimension des Räumlich-Gegenständlichen zu der des Lebensbereichs des Subjekts, zur Familiengeschichte und zur Bedeutung, die dem Begriff des Dunklen dort beigemessen wird. Mit der Familiengeschichte assoziiert ist, wie wohl hinreichend gezeigt worden ist, was wir als das Ödipus-Syndrom bezeichnet haben, nämlich der gesamte Bereich des Mütterlichen, das über die Familie in die ökonomische und politische Sphäre des gesellschaftlichen Lebens transferiert wird und die Auswirkungen hat, die in den verschiedenen Werken Volponis dokumentiert worden sind. Die Bezie7
8
So erkennbar in den folgenden Versen: Cosí almeno pare la notte/che cancella/quei corpi e quegli uccelli e il simile/modo di posare, riunire e colorarsi […] [S 1, V. 31- 34]. So wenigstens erscheint die Nacht/die auslöscht/jene Körper und jene Vögel und die uns vertraut scheinende/Weise sich zu setzen, sich zu versammeln und zu färben […]. Wir verweisen hier wieder auf den Begriff des Unheimlichen bei Freud und auf Anmerkung 11 in diesem Kapitel.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
hung zur Industrie des männlichen Subjekts dieser Geschichte wird wohl durch die Berufspraxis Volponis selbst am einwandfreisten dokumentiert. Schon in Poesie e poemetti 1946-66 war in Agendina und in Canzonetta con rime e rimorsi die Familiengeschichte in Verbindung mit dem Kapital gebracht worden, das sie bestimmt, und wo im ersten Gedicht der ältere Bruder als »Fähnrich der Industrie« bezeichnet und als solcher charakterisiert worden ist [S. 181], und im zweiten die Figuren von Venus [Venere] und Ödipus [Edipo] identifiziert werden als Figuren des Kapitals, parte del capitale.9 In Cattura wird diese Beziehung zum Kapital als eine Dimension der Existenz dargestellt, die im Bereich des Unbewussten situiert ist, was hier das Bild der Nacht signalisiert. Die folgende Beschreibung der Nachtdimension – im hier behandelten Gedicht über die »insonnia« – fasst alle Aspekte des komplexen Bildbereichs zusammen und charakterisiert zudem die Figur des Ödipus im Licht des Kapitals. Wir knüpfen im Folgenden wieder an das Bild des Mütterlichen von Cattura [S 2, V.6 von S. 139], wobei wir jetzt die Funktion des Mütterlichen in den Kontext der Sozialisation zurückversetzen in Beziehung zu der Figur des Ödipus als Fabrikanten: La notte è madre di un edipo fabbricante imitatore e cultore, amante di se stesso per sfuggire al grembo e alla fine materna e anche a se medesimo nella riproduzione e merce di se stesso venduta, presa da altri, consumata e quindi da sé continuamente staccata, allontanata, non mantenuta, posseduta, sentita, sognata. [S 2, V. 6- 12]
Die Nacht ist die Mutter eines ödipalen Fabrikanten eines nachahmenden und ausführenden, in sich selbst verliebten, [der], um dem Schoß der Mutter zu entfliehen und ihren Zwecken und auch sich selbst in der Reproduktion und Vermarktung seiner selbst, [sich] verkauft, von anderen genommen und verbraucht und folglich von sich selbst immer abgelöst, entfernt nicht unterhalten, besessen, gefühlt, geträumt.
Diese Verse charakterisieren ein Subjekt, das im Dienst der Kapitalakkumulation zum Fabrikanten aufgestiegen, d.h. als Industriekapitän selbst zur Herrschaft gelangt ist, wobei seine Herkunft aus den ödipalen Verhältnissen der Familie und der Bindung an die Mutter genealogisch in dieser Beschreibung festgehalten wird. Was aus dieser Verbindung erwachsen ist, hat Volponi vielleicht nirgends deutlicher beschrieben als in den politischen Analysen, die wir als das Pasolini-Syndrom gekennzeichnet haben – und wo er u.a. den italienischen Kapitalismus wie folgt charakterisiert:
9
Und weiter im direkten Anschluss daran: »und jeder wird geboren, arbeitet, singt und stirbt/entlang der Kette der Mühen/um zu wachsen und sich zu salvieren/im Kapital des Kapitals.« [S. 191] »ciascuno nasce, lavora, canta e muore/lungo la catena della pena/per crescere e saldarsi nel/capitale del capitale.« [S 8, V. 8- 11]
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Die Natur als das Reich des Elementaren Es ist vielleicht nicht uninteressant hinzuzufügen, dass unser Kapitalismus geringerer Kategorie ist, reduziert und blockiert durch eine Art Ödipus, der ihn fixiert hat auf der Ebene des Narzissmus und in der Selbstliebe des Klimas der großen Profite ermöglicht durch die soziale Notwendigkeit, die Einheit des Landes wenigstens in der jüngeren Geschichte herzustellen […].10
In unserem Gedicht kommt Volponi auf diese Erkenntnisse zurück und fügt sie ein in die Familiengeschichte des Subjekts, die damit zu einem Bestandteil der Sozialgeschichte wird, die wir hier verfolgen. In der folgenden großen Komposition, die die Phasen der lebensgeschichtlichen Entwicklung des Subjekts vor Augen führt, kann gezeigt werden, wie Volponi den lebensgeschichtlichen Verlauf in die gesamtgeschichtliche Entwicklung einmünden lässt, die er in einem Ursprungsmythos, wie wir das nennen wollen, fundiert. Insonnia inverno 1971 – Schlaflosigkeit Winter 1971 [S. 54-76] ist eine umfangreiche Erzählung, in der die biographische Familiengeschichte mit ihren traumatischen Momenten einmündet in einen Geschichtsverlauf, der aus einer Art mythisch-poetischen Konzeption des Lebens herzuleiten wäre, und zwar, worauf vieles hindeutet, aus einer Art irdischen Paradieses, in dem die Merkmale einer vollkommenen Vergesellschaftung aller Lebensbeziehungen gegeben sind und aufgezeigt werden, wovon Ansätze Volponi offenbar in den zivilisatorischen Tendenzen der Zeit gesehen hat, die als die franziskanische Kultur zu bezeichnen wäre. Die explizitesten Bemerkungen darüber finden sich im Dialog mit Leonetti, woraus wir zitieren: Was mich interessiert und mir gefällt, ist in der Philosophie und der Literatur die Utopie. Leider bin ich kein Meister der Utopie. Sie geht über meine Kräfte. Vielleicht erlaubt mir meine Fantasie nicht, obwohl sie wachsam ist, eine neue Idee des Sonnenstaats [Città del Sole] zu entwerfen. Ich würde mir wünschen, eine gänzlich verschiedene Vorstellung des Lebens des Menschen auf der Erde darstellen zu können. Ein irdisches Paradies der Zukunft zu immaginieren, wo wir errichten könnten die neuen Städte, die neuen Industrien, die neuen Universitäten ... [106].
Was mit Bezug auf diese Utopie die zivilisatorische Bedeutung von Franz von Assisi betrifft, so sind Volponis Äußerungen über ihn nicht minder von Interesse: Das Beispiel von San Francesco ist noch immer aktuell, und heute mehr den je. Das Cántico delle creature, die erste Poesie unserer Literatur, ist vielleicht immer noch die schönste. Es ist eine klare, materiale Schrift, nahe den Dingen, die uns verhilft, die Materie in uns aufzunehmen, zu benutzen, zu spüren, um sich mit den Füßen wirklich auf der Erde zu fühlen, um keine Angst vor dem Tod zu haben, um zu arbeiten, um Wohlgefallen am Universum zu haben, an seinen Schönheiten, an seinen Schätzen, an seinem Erbarmen und seiner Großmut. [S. 99]
Insonnia ist, wie schon erläutert, der Zustand des Bewusstseins zwischen Wachen und Schlafen, der dazu führt, dass Bilder das Bewusstsein heimsuchen, die eine eher leidvolle Erfahrung wieder beleben. Diese Erfahrung vergegenwärtigt in diesem langen Gedicht eine Folge von 12 Bildern oder Sta10 Aus Scritti dal margine und darin La grande crisi e la crisi minore, p. 55.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
tionen – jeweils mit einer römischen Ziffer im Text gekennzeichnet –, die zugleich eine Entwicklung aufzeigen vom Individualbewusstsein und seiner Schrecken zu einem kollektiven Bewusstsein gesellschaftlicher Erfahrung und das impliziert eine Geschichte des Kampfs und des Widerstands gegen politische Gewalt, worauf schon das vorangestellte Motto von Puschkin aufmerksam gemacht hat. In diese Geschichte sind die jeweiligen Bilder der Weltzustände eingeblendet, die Stationen auf dem Weg zur Vergesellschaftung repräsentieren. Die Geschichte also als Verlaufsgeschichte der menschlichen Zivilisation, und das bedeutet als Geschichte der Vergesellschaftung des universalen Lebenszusammenhangs. Zugleich spiegeln die Stationen Momente und Konfliktkonstellationen des Volponischen Werkes selbst, worauf wir eigens hinweisen werden. Die Station I. beschwört noch einmal die Konflikte der frühen Poesie herauf, die Situation im väterlichen Haus und die damit verbundenen Schrecken der Kindheit: Quando la notte altro non era che un’abitudine di casa, un’ala materna che si chiudeva. [I. V.1- 3]
Als die Nacht noch nichts anderes war als eine Gewohnheit im Haus, eine mütterlicher Umarmung die uns umfing.
Heraufbeschworen wird hier das Familiendrama mit der mütterlichen Umarmung und der bedrohlichen Erscheinung des Vaters, Quel vecchio che cresce addosso al male che scorge e addensa l’immagine e le voci ai finestrini di una personale segretezza [I., V. 46- 48]
Jenes Alten der mit dem Bösen wächst der erblickt und verdichtet das Bild und die Stimmen an den Fenstern eines persönlichen Geheimnisses
Sind die Rollen in der Familie verteilt, so fällt der Mutter die Umklammerung zu, dem Vater aber das Einlassen des Bedrohlichen von außen, des Unheimlichen im Sinne Freuds.11 Das ist die erste und ursprünglichste Manifestation der Gewalt, die von außen in die Familie eindringt. Sopraggiunge come ogni sera quella voce che entrava dentro, recando spavento, la casa al polso freddo del vento e che stringeva chi stava aspettando […] [I., V. 94- 97] L’orrore si accostava all’orlo della tavola che obbligava stretti a cenare […] [I., V. 104- 106]
Auftaucht wie jeden Abend jene Stimme die eindrang und Schrecken verbreitete, im Haus mit dem kalten Puls des Winds und die erdrückte wer sie erwartete Der Schrecken näherte sich dem Rand des Tisches und zwang uns eng aneinandergerückt zu essen […]
11 Siehe Freuds Interpretation von E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann in Das Unheimliche (Sigmund Freud, Studienausgabe, Frankfurt/M 1970, Bd. 4).
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Die Natur als das Reich des Elementaren
Die väterliche Hand, die dann erscheint, ist sozusagen die Exekutive einer Macht, die sich lähmend der Familie mitteilt, eppure quella stessa mano l’implacabile grossa destra che spartiva e comandava ogni lato e che per intero consumava anche il tempo nel senso di quel fatale scomporsi degli atti e del fiato: quella mano si muoverà per sempre contro ciascuno di me […] [I., V. 114- 121]
und jene selbe Hand die unerbittliche große Rechte die nach jeder Seite verteilte und kommandierte und die gänzlich verbrauchte auch die Zeit im Sinne jenes fatalen Auseinanderbrechens der Akte und der Energie: jene Hand wird sich für immer richten gegen jede Bewegung von mir […]
Aus dieser bedrückenden häuslichen Atmosphäre auszubrechen, davon träumt das Kind und in den Momenten der insonnia erscheinen dann die Motive, die in der ersten Phase des Prosawerks literarisch bestimmend geworden sind: die partenza – der Weggang aus der Familie und der Aufbruch in die Welt des Lebenserwerbs. L’insonnia costruisce cumuli di carte sul pavimento, appunti ritagli versi […] ignoti paesaggi e intorni vi corrono i treni. [I., V. 17- 18; 21- 22]
Die Schlaflosigkeit konstruiert eine Menge Papiere auf dem Fußboden, Notizen, Bildausschnitte, Verse […] unbekannter Landschaften und um sie herum fahrende Züge.
In der Nacht der insonnia kommen dem Kind die ersten Gedanken, gegen sein Verhängnis anzukämpfen und zu schreiben; und dieser Impuls wird in einer für die Dichtung Volponis charakteristischen Form artikuliert, wenn es heißt: Scrivere poi … è la penna che sputa; è piuttosto dare forte e male con la testa, con la piú sottile curva della fronte contro un muro; [I., V. 137- 140]
Schreiben aber … ist die Feder die spuckt; ist eher mit aller Gewalt mit dem Kopf, der dünnsten Kurve der Stirn gegen eine Mauer zu rennen;
eine Motivation des Schreibens, die im Titel desselben Gedichtbands dann abgeändert wird in Con testo a fronte, im Sinne von »mit dem Text gegen die Verhältnisse«. Station II. könnte betitelt werden Die Wege der Befreiung und die Selbsterforschung, was die Thematik der beiden ersten Romane Volponis (Memoriale und La macchina mondiale) wieder aufnehmen würde, bezogen auf die Entdeckung und Erkundung der Welt der Arbeit und der in diese zu integrierenden Protagonisten, von denen ihre Anpassung erwartet wird: 423
Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte Ciascuno pronto ad agire e ad uscire a farsi prima una riverenza a celebrare tutti i suoni dell’orghestra: [II., V. 1- 3]
Jeder bereit zu handeln und auszugehen eine Verbeugung zu machen zu begrüßen alle Töne des orghestra:12
und was bedeutet, dass sich anzupassen das Gebot ist und sempre soltanto in quegli spazi e fiera
immer nur in solchen Räumen und Jahrmärkten man sein eigenes Gesicht erkennt,
si riconosce la propria faccia, [II., V. 14- 15]
und die Welt, wie sie wirklich ist; und nur auf dem Wege durch die zu erkundende Wirklichkeit wäre auch zu finden quell’immagine di sé che la stagione i rimorsi sottraggono di continuo … [II., V. 33- 34]
das Bild von sich selbst das die Gezeiten die Gewissensbisse ständig uns entziehen …
Abschied zu nehmen gilt es schließlich von der Welt der Märchen der Kindheit, die in der Erinnerung immer noch wiederkehrt: La bellezza del mondo dovrà naufragare qui nel coperto umano […] [II., V. 81- 82]
Die Schönheit der Welt muss versinken hier wo das Menschliche verdeckt bleibt […]
In Station III. ist es Die Erkenntnis des Schmerzes – La ricognizione del dolore –, wie man im Sinne Gaddas diese Phase der Erkenntnis nennen könnte, die in den Bildern der hier genannten Maler des Barock als die Erfahrung des Subjekts zur Erscheinung kommt. Etwas rätselhaft wird auch diese Erfahrung eingeleitet mit der Bemerkung Il dolore tiene sempre da dietro battendoci la schiena sí che oltre che respirare è impossibile nel vetro guardando riconoscerlo … […] [III., V. 1- 4]
Der Schmerz überfällt uns immer von hinten die Schulter uns klopfend derart dass außer zu atmen es unmöglich ist ihn im Spiegel blickend zu erkennen … […]
Zwei der wiederholt schon erwähnten Maler des Barock werden mit ihren Bildern dann genannt, die offenbar skurrile oder erschreckende Gestalten darstellen, und zwar Bartolomeo Schedoni und Michiel Sweerts, zwei flämische Maler, die in Italien gewirkt haben.
12 Dieser Vers ist im Original kursiv. Der Terminus »orghestra« findet sich so im Text.
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Die Natur als das Reich des Elementaren il putto schedoniano l’insinuante Sweerts il fanatico cavalier Formica o la naturale invidia della potenza […] [III., V. 5- 7]
der Putto von Schedoni der insinuante Sweerts der fanatische Ritter Formica oder der natürliche Neid auf die Macht […]
wobei allerdings nicht erkennbar wird, mit welchen Figuren hier der Schmerz oder das Leid zu identifizieren ist und ob diese Täter oder Opfer sind; allein in der Gestalt der Dido, der an der Küste zurückgelassenen mythologischen Figur, wird der Bezug zur Thematik des Leids offensichtlich: Dido abbandonata tra le rovine dell’azzurra e affranta costa [III. V. 12- 13]
Dido, verlassen zwischen den Ruinen der blauen und zerklüfteten Küste
Dieses Bild weist konkret auf den Schmerz hin, der in dieser Figur verkörpert werden könnte. Vorherrschend in der Darstellung bleibt aber das Groteske oder Abartige der Charakterisierung der Gestalten und ihres Milieus, nicht unähnlich der Welt in den Bildern von Hieronymus Bosch, wie die Darstellung, die unter der Inschrift erscheint: speculum humanae salvationis con figure: un onirico bagno dove un peccatore a stento risale dalle onde trattenuto per un piede dalla bocca di un pesce di vetro […] [III., V. 21- 25]
»Spiegel der menschlichen Erlösung« mit Figuren: ein onirisches Bad wo ein Sünder mühsam den Wellen entsteigt an den Füße festgehalten vom Maul eines Fisches aus Glas […]
Die Bilder dieser Groteske werden durch die Inschrift, die auch zu übersetzen wäre mit »Spiegel des menschlichen Heils«, in einen offenbar gewollten Kontrast gebracht zu den Entstellungen, die durch das Leid und den Tod den Menschen widerfahren. Ikarus und Prometheus sind Figuren, die das Scheitern der menschlichen Erhebung über das Schicksal verkörpern. Der Weg, der dem Subjekt bleibt, ist der, sich seiner selbst zu vergewissern, den Weg nach Innen zu gehen: Ma quale altra dimora oltre che dentro di sé può avere assegnato il fato in un tempo come questo? [III., V. 75- 77]
Aber welchen anderen Ort außer dem in uns selbst kann uns das Schicksal angewiesen haben in einer solchen Zeit?
Mit dieser Anweisung endet diese Station, die eine Wende andeutet, die im Prosawerk etwa mit Corporale zusammenfällt.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Station IV., die mit dem Schlüsselwort Alba in den ersten Versen beginnt, spielt offensichtlich an auf den Morgen als die Zeit des Arbeitsbeginns, bezogen hier auf die Welt der Fabrik – in Memoriale schon angesprochen und behandelt – jetzt aber übertragen auf die Epoche der Industriegesellschaft, in der das Selbstgefühl des Individuums verloren geht oder abgewertet wird. Das Individuum zählt nicht mehr im Produktionsprozess: »tutto il problema della valutazione dell’efficienza è automatizzato e presto lo sarà anche quello della potenzialità promozionale« [IV., V. 19- 21]
»das ganze Problem der Bewertung der Arbeitsleistung wird automatisiert und bald wird es auch das sein der Werbestrategien«
Das Selbstgefühl des Arbeiters schwindet in dem Maß, wie sein Gedächtnis die Verdoppelung seiner Existenz in der Namenlosigkeit der Automation registriert: La memoria è l’elemento dello sdoppiamento, ormai indispensabile, invocato: durante il primo tetro esperimento smarrisce se stesso e definisce il peso smembrato di sé quale maestro minore anonimo del 1971. [IV., V, 132- 137]
Das Gedächtnis ist das Element der Verdopplung, ab jetzt unverzichtbar, aufzurufen: während der ersten trüben Erfahrung verliert es das Selbst und definiert das körperlose Gewicht von sich als kleiner anonymer Meister von 1971.
Kein Meister ist mehr da, der das Bild des Subjekts der in der Fabrik arbeitenden Masse malen könnte. Station V. setzt ein mit den Versen Vi furono maestri nel Trecento detti ad esempio »Sottile«, »Arcano«; [V., V. 1- 2]
Im Trecento [dem 14. Jh.] gab es Meister z.B. den »Sottile« [den Subtilen] oder den »Arcano« [den Kundigen bezüglich der Geheimnisse]
von ihnen ist nicht bekannt, ob es Personen oder Werkstätten waren, überliefert aber sind noch ihre Werke; die Industrie dagegen ist nicht mehr in der Lage, Anstöße des Schönen [impeti di bellezza] zu vermitteln; Il maestro del 1971 non ha ebbrezza né direzione: l’avvenire è incerto [V., V. 11- 12]
Der Meister von 1971 hat keine Euphorie noch ein Ziel: die Zukunft ist ungewiss
Die Richtungslosigkeit der Kunst wird hier mit der Ungewissheit der Zukunft in Verbindung gebracht, weshalb die noch anhaltende Epoche keine absehbare zivilisatorische Entwicklung erkennen lässt. Es ist die Epoche der Herrschaft des Kapitals. 426
Die Natur als das Reich des Elementaren Solo il denaro è senza limite né ragioni e con la sua spiccante asprigna […] o scorrevole salute seta valuta suona e veste la nuova innocenza.
Nur das Geld ist ohne Grenzen noch Rechtfertigung, und mit seiner aufdringlich herben oder fließenden Gesundheit gibt es den Ton an und bekleidet die neue Unschuld
[V., V. 25- 29]
Die Station VI. greift noch einmal in die Epoche zurück, die Volponi schon immer als den Anbruch einer zivilisatorischen Blüte betrachtet hat und deren »Meister« er feiert, wie u.a. in diesen Versen Dante. Neben den großen Malern des Trecento/Quattrocento verkörpert Dante den Umbruch, der mit der Verweltlichung der Heilsgeschichte Maßstäbe für eine neue zivilisatorische Entwicklung geschaffen hat. Neben dem Vorbild antiker Menschlichkeit, ist es, was das Bild des Menschen angeht, dessen Rückversetzung in die Dimension des Irdischen, die den Übergang zu einer Zivilisation der Moderne in die Wege leitet. Die Bedeutung Dantes wird darin gesehen, dass er die Erneuerung des Lebens in der vita nova ins Irdische verlegt und damit auch eine Wende in der geschichtlichen Existenz des Menschen ankündigt. Epochal besteht die Erneuerung der Künste in der Naturalisierung, wie wir es nennen können, der Darstellung des Menschen, weg von dem ikonischen Symbolcharakter der Figuren, zu einem lebensnahen Ausdruck; sie besteht in der Rückkehr zur Natur als Norm künstlerischen Schaffens, als die in den Dingen selbst und im Menschen erkennbaren Form oder Gestalt, die Volponi als ihre bellezza rühmt, senza fonte né corso né foce specchio d’ogni forma misura e ragione [VI., V. 3- 4]
ohne Quelle noch Verlauf noch Mündung Spiegel jeder Form, jedes Maßes, jeder Vernunft
In den Künstlern der jeweiligen Epoche ist der Grad der Vergesellschaftung abzulesen, der ihre Zivilisation kennzeichnet. Volponi vergleicht diese zivilisatorischen Standards, indem er dem Meister von 1971 den Meister von 1310 gegenüberstellt, der in seiner Kreuzigungsszene, wie er sagt, mescolava alle terre dubbio e paura sopra il legno dolce ben tagliato e piallato e la bravura
lo compensava insieme con le nuove rime del volgare [VI, V. 12- 15]
dem Irdischen beimischte Zweifel und Angst auf dem Holz das gut zugeschnitten und gehobelt ist und die Meisterschaft des Handwerks verrät wie Dantes Reime die Qualität der Volkssprache
Was kann der Meister von 1971 dem entgegensetzen? Der Mensch dieser Zeit ist nicht mehr erkennbar, weil er seinem Wesen entfremdet ist, wie die abschließenden Verse bezeugen:
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte L’io va segmentato, diviso in parcella secondo l’one best way tayloriana;
Das Ich ist zerstückelt, in Parzellen geteilt nach der Berechnung der Taylorschen Methode; die Erfahrung festgehalten auf der Karteikarte der menschlichen Persönlichkeit. Jede Fähigkeit manueller oder mentaler Arbeit misst sich am Gold des Kapitals. Die Poesie bewegt sich auf dem Terrain zwischen den Säuren und Dämpfen der Krise, Die Malerei verbraucht und stellt aus die Restbestände.
l’esperienza articolata nella cartella della personalità umana. Ogni capacità di lavoro manuale e mentale si fonde nei lingotti del capitale. La poesia va e viene altrove tra gli acidi e i vapori della crisi, La pittura brucia ed espone i residuati. [VI, V. 24- 32].
Station VII. und VIII. präsentieren Momentaufnahmen des modernen Lebens. Die erste Station rückt den Kunstbetrieb der Weltstadt London ins Visier und demonstriert, wie die Malerei – der Spiegel dessen, was die Zeit von sich sichtbar macht – auf dem Markt gehandelt und verkauft wird, d.h. in Reichtum umgewandelt wird. Nelle vetrine degli antiquari al centro
In den Auslagen der Antiquariate im Zentrum herrschen vor der Geruch und das Licht des Goldes
prevalgono l’odore e la luce dell’oro [VII., V. 16- 17]
Der Kunstmarkt ist Umschlagplatz des Gewinns; ein Ort finanzieller Transaktionen, wo die Bilder den Abglanz des Profits der Epoche repräsentieren: […] la luminosa porzione storica sapiente del profitto. [VII., V. 31- 32]
[…] der leuchtende Anteil historisches Wissen des Profits.
Das zweite zeigt als einen Aspekt der zeitgenössischen Wirklichkeit den Mailänder Flughafen Linate in nächtlicher Beleuchtung. Worauf es Volponi hier ankommt, ist vermutlich, auf den Kontrast hinzuweisen im simulacro des Wirklichen, nämlich die Welt der modernen Apparatur im Lichterglanz und das verödete Terrain der Peripherie, in das das Bild der Landschaft transformiert erscheint. Das Motto, das dieser enigmatischen Darstellung entspräche, wäre in den Versen zusammenzufassen: Le trompe- l’œil diventa tema e contorno secondo il suo nome di oggetto. [VIII, V. 21- 22]
Das simulacro wird zum Thema und Umfeld unter dessen Namen das Objekt sich präsentiert.
Die drei folgenden Stationen IX. X. und XI. werden unter dem gemeinsamen Thema des speculum humanae salvationis [Spiegel des menschlichen Heils] in einer Bildfolge präsentiert, worin die verschiedenen Aspekte der zeitgenössischen Welt zum größten Teil in ironischer bis grotesker Zuspitzung ab428
Die Natur als das Reich des Elementaren
gebildet erscheinen. In allen Bildern, einschließlich dem der letzten Station XII, wird das beherrschende Thema die Gewalt politischer Macht, wie im Puschkinschen Motto angedeutet, zum Gegenstand der Darstellung gemacht und in Station IX als ein Palast dargestellt, auf der die lateinisch schon zitierte Inschrift prangt: »Spiegel des menschlichen Heils«. In Station X wird die organisierte Masse heterogener Elemente, die durch die Macht geeint worden ist, als Parodie der sozialisierten bürgerlichen Gesellschaft inszeniert und vorgeführt. Intorno lo stesso labirinto di rappresentazioni, le stessi teorie filanti di organi intrecciati, morso, percorso e tutti i flutti agitati
Ringsum dasselbe Labyrinth von Abordnungen, dieselben vorüberziehenden Züge verflochtener Organe verbissen, durchdrungen und all die Fluten bewegt vom selben Meer voll Ungeheuer.
dallo stesso mare pieno di mostri. [X., V. 1- 4]
In Station XI., wo wie auf einem Gemälde die Repräsentation der Macht als Souveränität abgebildet wird, erscheint der Souverän inmitten seiner Satelliten, Höflingen der Krone, den Blick auf die Augen des Souveräns gerichtet, um darin, gefiltert »durch die verschiedenen Brillen der Macht« die »Wahrheit« zu ergründen, auf der die »Autorität« beruht, legitimiert durch die substantielle Macht des Geldes. [XI., V.1-50] Und in Station XII. wird in einer Art Apotheose die Macht des Goldes als Inbegriff der Souveränität gefeiert, als die Legitimierung politischer Macht, aus der Gesellschaft überhaupt erst hervorgehe, mithin als Ursprung und Ausgangspunkt der Vergesellschaftung. In einem Nachsatz zu einer längeren Verssequenz wird dazu ergänzt: ein Kodex des neunten Jahrhunderts habe die Existenz einer Schrift nachgewiesen, die alle Zeichen der Schriftkultur und damit Informationen über die geschichtliche Vergangenheit enthalte und aufbewahre. Doch die politische Macht sei von jeher bestrebt gewesen, diese Informationen zurückzuhalten, nicht zu verbreiten, und im Interesse der Macht die »Zeichen« und ihre »Bedeutung« voneinander zu trennen, um ihre Entschlüsselung zugunsten eines zivilen Verständnisses von Vergesellschaftung zu verhindern: 13 Accumulando distorcendo usando come motto e ragione universali in quella cinica babele che ha come unica uscita l’intangibile porta del potere, l’imperscrutabile ma pratica incidenza fidele quale sopravvivenza regolata della vita
[Zeichen und Bedeutungen, die die Macht] anhäuft und verkehrt als Begriffe in ihrer universalen Geltung mittels jener zynischen babylonischen Begriffsverwirrung die als einzige Bestimmung die unberührbare Pforte zur Macht beinhaltet und die unergründbare aber praktisch bewährte Weise bezeichnet das Leben der Gesellschaft in geregelten
13 Der gesamte Text dazu auf S. 76.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte civile … [XII., V. 26- 31]
Bahnen zu halten …
Von Interesse ist in diesem Abriss der historischen Phasen der Vergesellschaftung, welchen Momenten der Geschichte Volponi in seiner Verlaufsskizze besondere Aufmerksamkeit schenkt, wobei offensichtlich wird, dass die Geschichtsbilder des Alten und Neuen Testaments in auffallender Weise als Bezugsebenen gewählt werden, um sie von der eigenen Geschichtsauffassung abzusetzen. Unsere These ist, dass Volponis Interesse am Geschichtsverlauf dort einsetzt, wo in der Geschichtsschreibung die offensichtlich theologischen Quellen der Geschichtsdeutung abgelöst werden von einer Geschichte des Menschen jenseits der Schöpfungsgeschichte, beginnend mit der Vertreibung aus dem Paradies und der damit verbundenen Auseinandersetzung mit der Natur als ihrem Ursprung. Dieser »Naturalismus« der Geschichtsauffassung Volponis findet seine Bestätigung und Legitimierung, wie noch zu sehen sein wird, in der Naturphilosophie der griechischen Antike, dem Materialismus von Demokrit über Epikur bis Lukrez. Begegnen sich hier zwei Hauptströmungen der Naturphilosophie, wie wir beide bezeichnen können, so ist zunächst die naheliegende Beziehung Volponis zu der Strömung zu betrachten, die ihren Ausgang von der franziskanischen Anbindung des Glaubens an die Natur nimmt. Hier wären die Gründe zu suchen, weshalb Volponi in dieser Laienbewegung eine geschichtliche Zäsur sieht, die eine revolutionäre Wende bezeichnet, nämlich zu einer Entwicklung, die im Grunde auch die Trennung von der klerikalen Tradition und der Geschichtsinterpretation der katholischen Kirche mit einschließt. Als ihren Ausgangspunkt wäre jedenfalls die historisch jüngere Geschichte einer Vertreibung zu sehen, die die Bauern nämlich von den Territorien, die in den Besitz der sich ausbreitenden feudalen Herrschaft übergingen. In Verbindung mit diesem Anwachsen der franziskanischen Laienbewegung wäre dann auch die Beachtung zu sehen, die von Volponi der Malerei des Trecento/Quattrocento geschenkt wird, die in ihren Werken den Beginn einer irdischen Existenz des Menschen als Leidensgeschichte darstellen, die von Volponi als die Verbildlichung eines historischen Subjekts interpretiert wird. In die Logik der hier zitierten Geschichte werden wir in Un ordine industriale eine weiteres Modell und Paradigma der Vergesellschaftung einbeziehen, nämlich die der Herrscher von Babylon im Kontext der Geburt Christi, mit der hier das Ende des Tyrannen in Zusammenhang gebracht wird. Die Bedeutung, die Volponi dem Leben und der Leidensgeschichte Christi zukommen lässt, ist vermutlich darin zu sehen, dass er in ihm die Figur eines Revolutionärs gesehen und gewürdigt hat, auf den letztlich auch die Idee der Erneuerung des Lebens zurückzuführen ist, die exemplarisch Dantes Vita Nova verkörpert. Gegenüber der spätmittelalterlichen Malerei, die natürlich das Leben und den Tod Christi quasi exklusiv zu ihrem Gegenstand macht, werden in den Darstellungen der von Volponi zitierten Maler des 14. und 15. Jahrhunderts, vor allem von Masaccio, die irdischen und weltlichen Entsprechungen der Leidensgeschichte gesehen und dargestellt hinsichtlich der Lebensbedingungen der einfachen Menschen, durch die das Geschehen in die eigene Zeit versetzt erscheint. Dem Bild des Menschen, der von diesen Ma-
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Die Natur als das Reich des Elementaren
lern, wie Volponi in seinem Essay über Masaccio äußert,14 in einer universell gültigen Form abgebildet worden sind, wird in der Phase der Rückbeziehung auf die Antike die Darstellung des Menschen im Rinascimento an die Seite gestellt. Mit beiden Konzeptionen vom Menschen verbindet sich jedenfalls eine Vorstellung der Gesellschaft, die eine neue Form der Zivilisation als für den Menschen erreichbar und erstrebenswert impliziert. Das Gemeinsame oder Vergleichbare dieser beiden Gesellschaftskonzeptionen liegt in dem, was wir als ihren »Naturalismus« bezeichnen, d.h. eine grundsätzliche Fundierung des gesellschaftlichen Lebens in der Erforschung und den Erkenntnissen der Natur. Un ordine industriale – Eine industrielle Ordnung [S. 85-93] beschreibt den Aufstieg zur Macht und den Fall des babylonischen Herrschers, wobei dieser Geschichte gleichsam allegorisch die Genese und die unaufhaltsame Entfaltung und Ausbreitung des Kapitalismus unterlegt wird. Darin deutet Volponi den sich immer mehr abzeichnenden Trend zur Präsidialherrschaft an, dessen Ursprung zurückgeführt wird auf das Niveau der Vergesellschaftung im babylonischen Reich. In seiner Allegorisierung des »ordine industriale«, im weiteren Sinne der Herrschaft des Kapitals, nimmt das Gedicht %ezug auf die Geschichte Babylons auch als Erzählung. Volponi stellt Babylon als den Ort dar, in dem sich die Entfaltung der Macht in beispielloser Weise dem Gedächtnis der Geschichtsschreibung und der Legendenbildung eingeschrieben hat, verbunden mit dem Anspruch, mit dem Bau der Stadt auch die Himmelsräume zu beherrschen. Ökonomisch ist Volponis Babylon der Ort der Produktion des Überflusses [I., V. 7ff], eines Überflusses, der sich akkumuliert und zu Kapital verwandelt [I., V. 15ff]. Im Licht der alttestamentarischen Überlieferung erscheint Babylon schließlich als das sprichwörtliche Sündenbabel und sein Herrscher als das apokalyptische Tier; und in der Modernisierung des Phänomens als Erscheinungsweise der Herrschaft, i.S. von Alleinherrschaft. Die Geschichte babylonischer Machtentfaltung wird in der Erzählung Volponis verfolgt über die Phase des Endes der römischen Republik und der Machtansprüche Cäsars, die die imperiale Phase der römischen Geschichte einleitet, zur modernen Geldwirtschaft des 19. Jahrhunderts, wo mit dem Aufschwung der Warenproduktion die Herstellung von Gütern umschlägt in die Akkumulation von Kapital und diese mündet in die Phase des Imperialismus des 20. Jahrhunderts. Zur Wahl seiner Darstellungsmittel könnte man sagen, dass Volponi – wie in den vorangehenden Kompositionen – die einfache Ausdrucksweise des epischen, erzählerischen Stils sucht, die wieder dem kollektiven Publikum entsprechend die komplizierten Verhältnisse in Elemente einer Fabel übersetzt, um zu erreichen, dass Bruchstücke der Erzählung im Gedächtnis haften bleiben, wie z.B. durch die refrainartige spielerische Wiederholung des Wortstamms Babilon in: Babilon Babilon Babilonente come sottrarti al Cesare presidente? Babilon Babilon Babilanno chi ti rivela il suo inganno?
14 Volponi, Paolo: »Il principio umano della pittura- scienza,« in: Romanzi e prose, Bd. I, S. 1048- 1058.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
oder Babilon Babilon Babilomento chi ti spiega il suo tradimento? [I., V. 97- 101]
Das Gedicht ist in zwei große Abschnitte unterteilt, wovon der erste von der Kapitalherrschaft handelt, der zweite dagegen von der Kontamination der Geschichte Babylons mit den Ereignissen um die Geburt Christi. Der erste Teil setzt ein mit: Un ordine industriale prende dalla presidenza la struttura, deinde un ordine babilonesco. Cesare incoronato dalle tende per un qualunque Tizio Impresa ha emesso un comunicato. Babilonia teme e sorride, presa scientifica manuale perforata miniatura unità fase cultura… Oh! Babilonia Babilonia, Babilonia sorte del flusso e creatura ordinata, ordinante e della via della produzione e del conforto, officina e assistenza del torto… [I., V. 1- 14]
Eine industrielle Ordnung greift Platz auf Befehl des Präsidenten, d.h. eine babylonische Ordnung. Cäsar gekrönt vom Militär [den Zelten] als beliebige Person für das Amt der Geschäftsführung hat ein Gebot erlassen. Babilonia fürchtet und lächelt, betrachtet als durchlöcherte wissenschaftliche Geschichte Miniatur, Einheit, Phase, Kultur… Oh! Babilonia Babilonia, Babilonia dem Fluss entsprungen und Kreatur geordnet und ordnend die Wege der Produktion und des Komforts Werkstätte und Assistenz des Falschen…
Was auffällt, ist von Anfang an die vermischte, teils positive, teils negative Charakterisierung des komplexen Phänomens Babilonia, als Ursprung einer produktiven Ordnung, aber auch als Werkstätte des Schiefen und Falschen.. Die folgenden zwei Verssequenzen, die die Figur Cäsars in den Mittelpunkt rücken, charakterisieren sein gesellschaftliches Wirken und seine öffentliche Funktion: Cesare maggioritario e telefonico ha emesso un verso sulla lira, nella azienda in tempo reale, codificato diffuso in memoria microfilmato spiegato in intervista la circolarità della Krisis, la necessità di ripristinare il capitale, la sua scienza e la sua politica [I., V. 15- 29]
Cäsar, Präsident der Mehrheit hat telefonisch einen Beschluss über die Lira kundgetan im Betrieb in gegebener Zeit kodifiziert verbreitet im Gedächtnis durch Mikrofilme und Interviews die Zirkolarität der Krise die Notwendigkeit das Kapital wieder herzustellen, seine Wissenschaft und seine Politik
und dann in einer Folge gereimter Wörter:
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Die Natur als das Reich des Elementaren Ecco spiegato l’ordine di un ordine. La sua ragione è un fato, filmato codificato simulato, memorizzato inciso collegato. [I., V. 33- 36]
Jetzt ist erklärt der Befehl einer Ordnung. Ihre Grundlage ist Schicksal, gefilmt, kodifiziert, simuliert, ins Gedächtnis aufgenommen eingeprägt verbunden.
Offensichtlich ist, dass Cäsar, d.h. der Machthaber, zunächst als Präsident eines Industrieunternehmens angesprochen wird, zugleich ist er aber auch schon der Präsident der Mehrheit des Volkes von Babylonien, der die Finanzen des Betriebs regelt und Maßnahmen verkündet, um die Autorität des Kapitals wiederherzustellen, es zur Wissenschaft und zur Politik zu erheben. In der dritten längeren Verssequenz ist es das Volk von Babylonien, das in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt: Uniti i babilonesi inseguono automatici nel fervore dell’irreverenza il potere la potenza il calore il colore del presidente distante imprenditore […] scherani e prediletti, alleati, favore politico e finanziario, la corsa delle consociate, l’appoggio e il fervore delle nuove investiture. [I., V. 44- 52]
Vereint folgen die Babylonier automatisch der Macht im Sog der Gesetzlosigkeit die Kraft die Wärme die Farbe des ihnen fernen Präsidenten- Unternehmer […] alle zusammen, Gefolgsleute und Favoriten, auf der Jagd nach Gunst politische und finanzielle, das Rennen der Mitverschworenen, die Unterstützung und der Eifer der neuen Investituren.
Diesen Bildern der von der Macht im Bann gehaltenen Massen und der nach Anteil daran gierenden Funktionäre stellt das Gedicht im zweiten Teil die Szenen um die Geburt Christi entgegen, die mit verschiedenen Momenten des Ereignisses in Verbindung gebracht werden können, ohne dass eine zentrale Motivierung erkennbar wird. Zweifellos ist es die »Armut«, die in der Figur des infante der Macht des Reichtums gegenübertritt als ein Wert, der in der kapitalistischen Ökonomie schon immer gering geschätzt worden ist und der in der Entlohnung der Arbeit so niedrig wie möglich gehalten werden muss. Die Armut ist das, was draußen bleibt – fuori, nell’ordine stolto della natura [I., V. 74]
draußen, in der törichten Ordnung der Natur
und vorangehend wird dieses Ausgeschlossen-Sein als die Mittellosigkeit der Abhängigen, der Habenichtse, beschrieben, der Opfer des ökonomischen Systems der Herrn, das mit den Geschäften des Herrn Julius Cäsar, um Brechts Romantitel zu zitieren, in die Welt des römischen Imperiums Einzug gehalten hat. Dass deren Ordnung als «töricht» gesehen wird, ist aus der Sicht der Herren verständlich; dass aber auch der Wert der Dinge in der Anhäufung von Kapital angeeignet und aus dem Verkehr abgezogen wird, ist die Lehre, die aus der babylonischen Geschichte gezogen werden kann: 433
Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte Babilon Babinonic Babilore della teoria del valore del valore valsente Babilon Babilonie Babilente, del valore del presidente…! […] che come quel valore valsente tanto strinse e tanto raccolse che perfino la terra e la sua pittura e ogni altra cosa e aria travolse
Babilon Babinonic Babilore der Theorie der Valore des valsierenden Werts Babilon Babilonie Babilente, des Werts des Präsidenten…! […] der wie der valsierende Wert soviel umfasste und um sich sammelte dass er sogar die Erde und ihre Malerei und alle anderen Dinge und die Luft umwälzte so dass sie zu etwas anderem wurden…
e che per essa divennero diverse… [I., V. 141- 145; 153- 157]
Im spielerischen Tonfall und mit Effekten der Lautmalerei wird hier noch einmal zusammengefasst, was allegorisch schon in der Erzählung von den Fliegen des Kapitals gezeigt und gedeutet worden ist, dass nämlich die Dinge und überhaupt das Sein der Natur, in Kapital verwandelt, ihren eigenen Wert verlieren. Diese Systematik der Werttransformation auf der Stufe der babylonischen Zivilisation wird, wie gesagt, mit einem anderen, völlig verschiedenen Wertsystem konfrontiert, das unmissverständlich die zivilisatorischen Ansprüche des Christentums meint, das gegen die materialisierten Werte der Spätantike ins Feld geschickt wird. Zugrunde gelegt wird diesem Vergleich die Geschichte der Geburt Christi – mit den Bildern des in Windeln gewickelten Kinds in der Krippe und in den Figuren der Geschichte die Konfrontation des Tyrannen mit dem infante. Der manchmal schwer verständlichen oder nachzuvollziehenden Kombination von Satzverbindungen kann jedenfalls entnommen werden, dass Volponi den Vergleich der beiden Figuren in Bildern berühmter Maler zu illustrieren beabsichtigt, in der Konfrontation des Tyrannen mit dem infante: con l’infante traditor presidente; l’infante perenne, il sacro fasciato tiranno [II, V. 54- 55]
mit dem Kind verräterischer Präsident; dem ewigen Kind, dem Sakralen in Windeln gewickelten Tyrannen
In der Distanz über die Bilder bekannter Maler, die wie Cimabue und Giotto namentlich zitiert werden, wird dieser Einbruch des Göttlichen in das Irdische, wie wir diese Geburtsszene glauben verstehen zu können, mit kaum verhohlener Ironie nicht als der Gegensatz zur Welt des Reichtums sondern eher als der Übergang in eine andere Welt der Unterwerfung dargestellt. Sempre babilonaggine esaltata e offerta il perenne infante di Cimabue e di Giotto […] il vero di uomini e di terre
Immer von Babylon gefeiert und angeboten das ewige Jesus- Kind von Cimabue und Giotto […] die Wahrheit des Menschen und des Irdischen
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Die Natur als das Reich des Elementaren di padri e case egli stesso a disagio tra le infantili fasce nel broncio con un dito in bocca spinto a sortire dall’ordine divino, a cercare aria a prendere, notare darsi capire…
der Väter und des Häuslichen, das Kind etwas verstört zwischen den Windeln mit schmollendem Mund mit einem Finger im Mund gedrängt dazu, aus der göttlichen Ordnung herauszutreten und Atem zu schöpfen, sich vernehmen zu lassen und verständlich zu machen…
[II., V. 61- 62; 70- 75]
Und im Anschluss an dieses fast genrehafte Gemälde der Geburtsszene fährt Volponi fort, die Maler zu zitieren, die an dieser so populären Ausmalung der Geburt Christi beteiligt waren – […] tutti i grandi maestri del colore della soc. f.lli Fabbri Editori sempre lo stesso infante in ogni secolo passato o recente, al medesimo posto, l’istesso infante […] l’istesso che non vede e non sente l’infante istituito rivelato e statuato, il perenne infante presidente che beve latte, si scalda e si monda senza vederti né sentirti e la sua onda allontanano da te ogni vivente. [II., V. 76- 90]
[…] alle großen Maler der Farbe der Firma Gebrüder Fabbri Editori [haben gemalt] immer dasselbe Kind in den vergangenen Jahrhunderten und dem heutigen am selben Platz; dasselbe Kind […] dasselbe, das nicht sieht und nicht hört das von den Institutionen offenbarte und mit einem Status versehene immerwährende Kind als Herrscher, den man stillt, wärmt und wechselt ohne dass er dich sieht oder hört doch sein Anblick dich entfernt von allem Lebendigen
Die Wendung, die hier die Erzählung von der Geburt Christi nimmt, bezieht sich nicht auf die Figur des leidenden Christus, sondern, wie hier deutlich geworden, auf ihre Inanspruchnahme durch die triumphierende Institution der Kirche, die mit ihren Malern im Gefolge Christus zum Sohn Gottes und damit zum neuen Herrscher über die Welt gemacht haben, zum perenne infante presidente – zum ewigen Kind als Vorsitzender – und in dieser Eigenschaft zu dem, der nicht sieht und nicht hört. Dass dieser Christus über die Geschichte zu herrschen bestimmt ist, hindert die ihm unterworfenen Menschen erneut daran, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und ihre Zukunft selbst zu gestalten. Mit dieser Herrscherfunktion wird die Untertänigkeit wieder eingeführt, die die Solidarität zwischen den Vereinzelten gar nicht erst aufkommen lässt. Die Rückkehr zur Thematik des weltlichen Präsidenten markiert eine Zäsur auch im Text der letzten drei Verssequenzen. Die Problematik der Herrschaft und damit der Fremdbestimmung der menschlichen Beziehungen bleibt in der Moderne dieselbe wie bei ihrer Entstehung, nur dass ihre Bin435
Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
dung an hoch entwickelte Formen der Kapitalakkumulation die Gesellschaft noch abhängiger macht von der Kontrolle des Geldmarkts, die die Geldentwertung oder den Absturz der Valuta ins Unermessliche verhindern könnte. Die Frage des valore, des Werts der Dinge, der Arbeit, der menschlichen Beziehungen, die am Gedichtanfang aufgeworfen worden ist, bleibt im Zentrum der Entwicklung menschlicher Zivilisation und der Vergesellschaftung zukünftiger Verhältnisse. Erneut wird die Verantwortung dafür der Politik zugewiesen, der Revolutionierung der ökonomischen Verhältnisse, als der politischen Funktion des gegenwärtigen Zeitalters. Ah! se tu riuscissi a tergerti dalla fronte e dal costato il sudore batterico del valore; a volgerti verso il gelo sottile di queste colline fuori dell’evento babilonesco […] [II., V. 91- 96]
Ah! wenn es dir gelänge dir abzuwischen von der Stirn und von den Rippen den Schweiß voll Bakterien des Werts; dich dem dünnen Frost auszusetzen der Hügel außerhalb des babylonischen Geschehens […]
und im Stil der volkstümlichen gereimten Poesie endet das Gedicht: oh notte notte notte! le cose sono divise e rotte e notte, tutta la notte le lecca e le inghiotte. [II., V. 112- 115]
oh Nacht Nacht Nacht! die Dinge sind geteilt und kaputt und die Nacht, die ganze Nacht leckt sie auf und verschluckt sie.
Die Erforschung der zivilisatorischen Entwicklung im Geschichtsverlauf, den wir bisher verfolgt haben, wird noch einmal aufgenommen, wenn wir die Geschichtsthematik im Zusammenhang mit dem Problem untersuchen, in welcher Weise Volponi das gesellschaftliche Subjekt in diese Entwicklung involviert sieht und welche Zukunftsperspektiven er für die Neukonstitution dieses Subjekts für möglich hält.
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Kapitel 10: Die Lyrik des Spätwerks Nel silenzio campale Über das Sein der Dinge die lukrezische Wende in der Naturauffassung Der Wandel des Begriffs der Natur in der Naturwissenschaft
In Etna: Natur und Wissenschaft [Etna: natura e scienza], dem Artikel von 1983 aus Scritti dal margine, stellt sich Volponi die Frage, welche Bedeutung der Wissenschaft nicht nur in der Erforschung und Erkenntnis der Natur zuzubilligen sei, sondern auch in ihrer Einstellung hinsichtlich des Verhältnisses der Gesellschaft zur Natur. Im Hinblick darauf, dass der Fortschritt der Naturerkenntnis in erster Linie der Wissenschaft zu verdanken ist, ist von besonderem Interesse, zu welchen Ergebnissen die einschlägigen Wissenschaftsdisziplinen in jüngerer Zeit gelangt sind. Gesellschaftlich hat sich die Kompetenz der Wissenschaft behauptet und legitimiert mit der Konstruktion der Atombombe und der Landung auf dem Mond, die beide die Herrschaft über die Natur beeindruckend vor Augen geführt haben; Erfolge, die letztlich aber auch dem Kapital zu verdanken sind, das über die Naturkräfte verfügt und sie sich unterworfen hat. Spätestens hier wird offensichtlich, dass der Natur nicht mehr der Wert des Elementaren zukommt, an dem alle anderen Werte zu messen waren. Die Natur ist nur noch Rohstoff, aus dem die menschliche Produktion die Güter schafft, die den eigentlichen Wert erzeugen, nämlich den Wert des Geldes, der alle anderen Werte äquivalent macht und damit in sich selbst entwertet. Was als »elementar« betrachtet worden ist, nämlich die naturgegebene Materie, wird in ein Produkt verwandelt und damit zu etwas künstlich Erzeugten, denen jetzt der Wert des Artifiziellen zuzuschreiben ist. Volponi schreibt in diesem allarmierenden Dokument: »Für die Menschen ist zukünftig vorherrschend – und das in einem nicht zu überbietenden Maß – die Sorge um ihr Verhältnis zur Wissenschaft und Industrie«, d.h. zur ›Macht des Künstlichen‹, der alles Produzieren unterworfen wird.« »Und das geschieht alles außerhalb der Natur oder gegen sie. – Die Schönheiten der Natur werden angeeignet als etwas jenseits von ihr, im Zeichen jener höchsten Wertkategorie des Künstlichen.« [120] Das Bedauern über den Verlust der Natur – und des Elementaren –, das in der folgenden Beschwörung der Hirtenwelt fast nostalgisch mit anklingt, ist aber nicht nur rückwärts gewendet zu lesen, denn versteckt mit angedeutet wird auch die Wendung zu einem anderen Gebrauch des Artifiziellen als dem aus der Sicht des Kapitals.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte Auch die Völker, die von der Weidekultur lebten und jetzt ihre Weideflächen in Beton umgewandelt finden, ohne dass sie das Artifizielle für ihre eigenen Zwecke nutzen können und nicht einmal mit Hilfe des Künstlichen Abhilfe zu erfinden wissen, auch sie wissen sehr wohl, dass die Welt nicht mehr ihre ist, dass sie anderswo ist, in der Macht des Künstlichen derjenigen, die sogar den Mond verändert haben, dem sie den Blick und das Gemüt genommen haben. [120]
In dieser Skizze der vorindustriellen Hirtenwelt ist mit Aufmerksamkeit die Wendung zu lesen, in der das Artifizielle nicht nur als etwas Zerstörerisches verstanden wird, sondern auch als der Zugang zu einer Erkenntnis des Neuen in den Händen und zur Verfügung der Produzenten. Zerstörerisch wird dieses Potential nur – und hier wechselt der Analytiker wieder auf die Ebene der Verschriftung zurück – wenn sie dazu genutzt und monopolisiert wird, um die Poesie des Mondes zu zerstören. Daran knüpft dann die Frage: »Hat der Poet, der seit undenklichen Zeiten als ein Übertreter der Grenzen und als ein ortsbekannter Kranker gegolten hat, noch die Aufgabe, über die Natur zu wachen und sie zu offenbaren?« Augenscheinlich nicht, denn heute ist auch dem größten Dichter nicht mehr möglich, die Natur noch in ihrer früheren Gestalt wahrzunehmen, weil das ihm seine Augen, sein Gehör und seine Zunge oder Sprache verwehren. Angespielt wird hier auf so etwas wie die Grundlegung einer Poetik zweiten Grades, wenn die Welt insgesamt zu einem Produkt des Artifiziellen wird: Die Herrschaft des Artifiziellen kennt nur das Künstliche, das immer wiederholte und multiplizierte Künstliche, egal ob gewöhnlich oder sublim. [121]
Die Welt insgesamt wird zum Produkt des Artifiziellen: Der Schlaf, der Geschmack, der Appetit werden ganz natürlich durch Kunstmittel hervorgebracht. Die Menschen haben Anteil an der Konstruktion, am Gebrauch und am Austausch der Künstlichkeit auf künstliche Weise, wie sie auf dieselbe Weise auch ausgeschlossen werden können aus einer oder allen Phasen [des Künstlichen]. Die Natur ist ein Kunstprodukt geworden verbunden mit seinen diversen Erscheinungen: Energie, Krise, Produkt, Entgelt. [121]
Die Abwertung der Natur als Makrobereich beruht im Grunde darauf, dass sie als Gegenstand der Erkenntnis einem Wandel unterliegt: Die Natur nicht verloren als feste Ordnung und äußerer Kanon, sondern als erster Ort der Erkenntnis und der Ratio, [so dass damit] verloren gegangen ist der Sinn der Sprache, der Geschichte, der Person, der Arbeit, jegliches Beziehungssystem. [121]
Das besagt, dass nicht die Natur als Bereich des universellen Lebenszusammenhangs verschwindet oder ausgeklammert wird, sondern dass ihr Stellenwert für den gesamten gesellschaftlichen Bereich ein anderer wird, daraus resultierend, dass sich die Dinge – inklusive Natur und Tiere – nicht mehr an der Oberfläche der Phänomene abbilden, also nicht mehr in den Bildern der real existierenden Gegenstände, sondern dass die Erkenntnis in den mehrdimensionalen Raum der Materie vordringt, in der der wissenschaftlichen For438
Die Lyrik des Spätwerks
schung neue Dimensionen des Realen erschlossen werden. Diese neue und im Werk Volponis letzte Phase der Naturerkenntnis und seines Materialismus wird anhand der Gedichte des letzten Gedichtbandes Nel silenzio campale in ihrer Gesamtheit auf die Sprache angewendet und übertragen, wogegen es in Con testo a fronte noch im wesentlich darum ging, die Verhältnisse der kapitalistischen Produktionsweise auf der Grundlage der Natur des Elementaren anzugreifen und zu kontestieren. Wenn die Wissenschaft, so schließt Volponi, nicht in der Lage ist, die Materie selbst zu erforschen und ihre Dimensionen in den Lebenszusammenhang einzubeziehen, dann sei es kein Wunder, dass sie nach dem Zusammenhang ihrer Erkenntnisse befragt, in der Art einer Stammbuchweisheit antwortet, das sei ein unergründliches Geheimnis Gottes – »mistero imperscrutabile di Dio«. [121] Die Natur kann nur zusammen mit den Menschen gerettet werden, indem man sie [ihre Zeichen ] mit dem anderen [auf das sie verweisen] wieder einbringt in die Einheit der Sache und der Person [die sie wahrnimmt oder denkt] und dann summiert und multipliziert, so gut man kann. [122]
Volponi beschließt seinen Exkurs über die Wissenschaft mit einer darüber hinausgehenden Einbeziehung der geschichtlichen Dimension in den Prozess der Evolution, in die alle Bereiche des Lebens, die wir unterschieden haben, involviert sind. In seiner Zukunftsvision sind die möglichen Mutationen im Bereich der Natur noch nicht erschöpft. Im Gegensatz dazu aber haben sich die Verhältnisse im gesellschaftlichen Makrobereich so verfestigt, oder geradezu verhärtet, dass sie den Fluss der Energien im Körper der Gesellschaft hemmen, ja sogar drohen zum Stillstand zu bringen, was sich, wie Volponi sagt, in der Wissenschaft manifestiert. Die bedrohliche Vision einer Wissenschaft, die die Armen auf der Erde zurücklässt, um mit den Reichen in den Weltraum zu entfliehen, bringt den Analytiker zurück auf die Erde der kapitalistischen Zustände. Auch die Wissenschaft ist verändert, aber fast nur, um sich selbst zu bereichern und die Menschen von sich und ihren Magiern abhängig zu machen. Welche Wissenschaft wäre das, die, falls es ihr gelänge, diese Welt als erschöpft auszugeben und andere Welten statt ihrer zu propagieren, in der Lage wäre, wie sie vielleicht wollte, im Augenblick des Starts zur Reise nur einen Teil der Menschen mit sich zu nehmen? [122]
Das wäre die Wissenschaft im Zeitalter einer postmodernen Arche Noa.
I. Die Semiotik des Mehrdimensionalen 1. D ER
SEMIOTISCHE
A NSATZ
IN
N EL
SILENZIO CAMPALE
In Con testo a fronte hat Volponi, wie er selbst bezeugt, die Poesie u.a. als Medium der Aussage dazu benutzt, um gegen die Prosa der Verhältnisse, die er in Le mosche del capitale denunziert hat, Einspruch zu erheben. Dieselbe Funktion fällt ihr auch noch im letzten Gedichtband Nel silenzio campale, zu. 439
Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Die Gesellschaft, gegen die sie sich richtet, wird dieselbe bleiben, aber der Gegenstand, den sie hinterfragt, ist ein anderer. Es handelt sich nicht mehr darum, die Begriffe und Kategorien der institutionalisierten Sprache zurückzuführen auf das, was sich als das Wirkliche hinter dem Falschen oder der verfälschten Wortbedeutung verbirgt; vielmehr geht es jetzt darum, die Mechanismen aufzudecken, mittels derer die Wirklichkeit sprachlich im Umfeld der Dinge als zu entschlüsselnde Zeichen zu erfassen sind. Es geht also darum, über die Zeichen die räumlichen und zeitlichen Erscheinungsbedingungen erkennbar zu machen, in welchen Dinge und Ereignisse sich präsentieren, d.h. die Dinge selbst ins Blickfeld zu rücken, wie die Phänomenologie das gefordert hat, im Hinblick darauf, was der schon zitierte französische Dichter Francis Ponge »la raison des choses« genannt hat.1 Es sind also nicht mehr die Zeichen neu zu interpretieren, um über sie das Elementare in oder an den Dingen zu ergründen; die Zeichen selbst verweisen vielmehr jetzt auf die Erscheinungsbedingungen der Dinge, auf ihre zeitlich-räumlichen Koordinaten, und damit auf ihre materielle Existenz. Gefragt wird nach ihrer materiellen Beschaffenheit, die erst, wenn sie erkannt ist, weitere Aussagen über ihre Wirkung in bestimmten Konstellationen erlaubt, was sprachlich Auswirkungen hat auf die Konstruktion von Sätzen und die Ermittlung von Bedeutung. Die Semiotik der Zeichen wird abgelöst durch eine Semiotik der Materie oder vielmehr ihrer Aggregatzustände, was wir mit einem Ausdruck von Lukrez als eine »Semiotik der Natur der Dinge« bezeichnen können. Für die Poesie der letzten Gedichtsammlung Volponis hat das Konsequenzen, die wir zusammenfassend hier darstellen wollen. Wie der Titel der Sammlung anzudeuten scheint, sind, was die ursprüngliche Natur und das Elementare waren, verstummt; sie erscheinen nicht mehr als Zeichen auf der Fläche der Schrift, die auch nicht mehr als alleiniger Träger der Schriftzeichen anzusehen ist, weil neue Dimensionen des Räumlichen und Zeitlichen dazu gekommen sind. Gefragt wird nach der Natur der Dinge (rerum natura), in einem offenen, nicht mehr geometrischen Raum: im Raum oder dem Raum-Zeit-Kontinuum des Denkens und der Imagination. In dieser räumlichen Dimension der Zeit und der zeitlichen Dimension des Raums erscheint die Welt, das Produkt der menschlichen Zivilisation, eingebettet in einen Himmelsraum der Planeten, von denen die Erde einer unter vielen ist und mit welchen sie in einen ihre Existenz bedingenden Zusammenhang rückt, der als solcher vorher nicht wahrgenommen worden ist. Aus dieser Sicht verliert natürlich das, was als menschliche Zivilisation betrachtet worden ist, den Vorrang absoluter Geltung und damit auch die normgebende Kompetenz bezüglich der Maße und Gewichte, der geometrischen Figuren, der urteilenden Begriffe und Kategorien. Das menschliche Denken sieht sich mit Kriterien konfrontiert, die seine Hervorbringungen quantitativ und qualitativ, als Produkte wie als Werte relativiert, was sich auf alles Menschliche überträgt, und in erster Linie auf die Sprache und die Wissenschaft. Auf dieser veränderten Sicht vom Zusammenhang von Universum, Natur und Gesellschaft beruht schließlich der Vorrang, der bei Volponi jetzt der wissenschaftlichen Erkenntnis vor allen anderen menschlichen Befähigungen eingeräumt wird, und darin insbesondere der Erforschung der Materie und 1
Zu Francis Ponge: siehe Lothar Knapp: »Originalité et filiations de l’œuvre de Ponge«, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte, Heft ¾, 1985, S. 379- 395.
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Die Lyrik des Spätwerks
der materiellen Beschaffenheit alles Seins. Wie wiederholt schon angesprochen, konzentriert sich das Interesse Volponis mit zunehmender Einsicht in die Bedingtheit des menschlichen Seins auf das Gebiet der Physik, insbesondere die nuklearen Prozesse in der Materie und auf die Auswirkungen dieser Vorgänge auf die Mikrobereiche des Körpers und die Makrodimensionen des Planetarischen. Hinzu kommt, wie wir schon angedeutet haben, der Bereich der raum-zeitlichen Dimensionen, in der wir die Geschichte des Menschen situieren, die Entwicklung der menschheitsgeschichtlichen wie der lebensgeschichtlichen, mit der wir uns am Ende unserer Untersuchung noch einmal eigens und eingehend beschäftigen werden. Hingewiesen sei hier noch einmal auf das, was wir die Strukturhypothese bezüglich des Zusammenhangs der hier untersuchten Bereiche genannt haben, weil in den Texten Volponis der Übergang von einem zum anderen Bereich die Verfahrensweisen kennzeichnet, in der sich auch sprachlich das Abweichen von einer absolut gültigen oder geltenden Norm manifestiert. Diese Veränderungen im materiellen Bereich der Natur, inklusive des planetarischen Raums, haben Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Makrobereich, die Kultur und darin den Prozess der Versprachlichung des Realen, der gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse. Die sprachlichen Zeichen, mittels derer die Phänomene der gegenständlichen Wirklichkeit in die verschriftete Sprache übersetzt worden sind, verweisen nicht mehr auf diese Gegenstände selbst, sondern auf das, was durch sie bewirkt wird, in doppelter Hinsicht: das, was sie selbst bewegt und das, was sie ihrerseits bewegen oder verursachen. Der Gegenstand, auf den die Zeichen verweisen, ist nichts Reales erster Ordnung mehr, nichts unmittelbar Sichtbares, sondern ist das, was das Reale bewegt, worauf die Zeichen verweisen als ein Sachverhalt zweiten Grades, in einem System der Zeichen, das wir deshalb ebenfalls »zweiten Grades« nennen. In dem Incontro con la Pantera – der Begegnung Volponis mit der Gruppe dieses Namens (1990 in Siena) ist u.a. debattiert worden, in welcher Weise die Realität der Welt und der Dinge in der Literatur von Volponi dargestellt wird, wobei Gabriella Contini, Volponis Verse zitierend »fiktiv ist mein Schnee wie auch meine Pflanze« – »finta è la mia neve quale la mia pianta« – bemerkt: »Volponi selbst erklärt, dass die Literatur eine System sekundärer Simulation ist«, was Romano Luperini aufgreift und ergänzt: »Die Literatur ist in der Tat auch Erfindung, ein Artefakt zweiten Grades«.2 Wir übernehmen diese Charakterisierung des Verhältnisses von literarischer Fiktion zur Realität des Dargestellten und ergänzen lediglich, dass die Formulierung »zweiten Grades« bei Volponi an das geknüpft ist, was Contini die »simulazione secondaria« genannt hat. Wenn Bilder, Metaphern, Vergleiche als simulazioni ersten Grades zu betrachten sind, so sind die durch die Bilder vermittelten Gegenstände, die wiederum auf etwas anderes verweisen, als »simulazioni secondarie« im eigentlichen Sinn zu bezeichnen. Das, was Luperini bezüglich der Semiotik des Elementaren als »realismo allegorico« verstanden und in der Literatur der Moderne dargestellt hat,3 würde im Bezugsfeld einer Semiotik zweiten Grades auch einbeziehen, was als virtuell zu bezeichnen ist, »un reale virtuale o immaginario«. 2 3
»La letteratura, è vero, è anche invenzione, artificio di secondo grado« in Scritti dal margine, S. 166/170. Siehe R. Luperini, in L’allegoria del moderno, TeiI I: Per un’ermeneutica materialistica.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Die Bezeichnung »Semiotik ersten und zweiten Grades« nimmt Bezug auf die Unterscheidung zwischen elementarer Natur und der modifizierten Konzeption der »Natur der Dinge«. Dieser Lukrez entlehnte Terminus und seine Übernahme in das Begriffssystem Volponis verändert dessen Grundlagen in entscheidender Weise, nicht nur hinsichtlich der Kriterien der Versprachlichung des Realen, sondern auch bezüglich der Begriffe von Raum und Zeit und schließlich hinsichtlich des Subjekts im Werk Volponis, das in die veränderten Raum-Zeit-Koordinaten zu integrieren ist, d.h. in den Makrobereich des planetarischen Systems, aus dem die Menschen sich gesellschaftlich ausgegrenzt haben. Die Frage wird hier von Bedeutung, aus welcher Perspektive der auf seinen Bereich der Zivilisation beschränkte Mensch den Raum und die Zeit gesellschaftlich wahrnimmt und wie sich in seiner Vorstellung Raum abbilden lässt, der sich außerhalb oder unterhalb der perspektivisch bedingten Sehweise befindet. Erkennbar werden jetzt die Begrenzung der perspektivischen Wahrnehmung und ihr Ungenügen bezüglich der Naturerforschung. Von Interesse wird, wie Raum und Zeit – im Sinne eines Zeitraums – abgebildet und versprachlicht werden sollen, die nicht sichtbar gemacht werden können, es sei denn in abstrakter Form, mit Hilfe technischer Apparate und Prozeduren, die also in einer Dimension lokalisiert sind, die nur in der menschlichen Vorstellung, im Modell sozusagen, zu vergegenständlichen sind, d.h. in einem imaginären Raum und einer imaginären Zeit, und denen als Modus des Seins eine imaginäre Realität zukommt. Als imaginär zu bezeichnen ist sie nur insofern, als sie als Gegenstand nicht zu begreifen ist, während ihre Existenz vorausgesetzt werden muss, da sie sich an der Wirkung, die sie ausübt, zu erkennen gibt. Die von der Naturwissenschaft zu erforschende Realität des Gegenstands ist seine Natur als Materie, als materielles Phänomen, das sich kundgibt und erkennen lässt an der Art und Potenz seiner Wirkung, die Rückschlüsse auch auf seine Beschaffenheit zulässt. Und an der Wirkung, die sich in der Veränderung des Zustands anderer Phänomene – und u.U. des eigenen Zustands – manifestiert, wäre abzulesen, was als Natur des Dings in seiner materiellen Beschaffenheit zu verstehen ist. Die Begriffsbildung einer »Natur der Dinge« entlehnen wir Lukrez’ großem Lehrgedicht De rerum natura, in dem wir die Konzeption eines Naturbegriffs finden, dem in entscheidenden Punkten auch die veränderte Naturauffassung bei Volponi entspricht. Es sei mir gestattet, aus Kindlers Literaturlexikon Passagen zu zitieren, die in Grundzügen die Lehre Lukrez’ aus den Büchern 1 und 2, sowie 5 und 6 resümieren. Wir lesen dort: »Philosophisches Lehrgedicht in sechs Büchern«. »Je zwei Bücher bilden eine thematische Einheit. Buch 1 und 2 handeln von der Natur des Mikrokosmos, d.h. vom Aufbau der Welt aus Atomen und ihren Bewegungen, Buch 5 und 6 von der des Makrokosmos: von der Zusammensetzung der Atome zu Körpern, vom Universum und seinen Bewegungen, der Kosmogonie und Kulturentstehung […]. Das innere, so flankierte Buchpaar ist der Natur des Menschen gewidmet: dem Wesen der Seele, des Geistes und der Sinneswahrnehmungen.« Zitieren darf ich noch die Passage über die Furcht vor dem Tod, weil sie einen Schlüsselbegriff der psychoanalytischen Thematik im Werk Volponis berührt, nämlich das gleichnamige Syndrom der »Angst/paura«. »Die Mensch-
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heit soll von der Furcht vor dem Tod befreit werden, die für alle Schlechtigkeit und alles Unglück der Menschen verantwortlich gemacht wird.«4 Volponi versteht wie Lukrez – und über diesen zurückgehend auf Demokrit – die Materie in ihren jeweiligen Erscheinungsweisen als die jeweils verschiedene Ansammlung und Bewegung von kleinsten Teilchen, deren Fluss die Energien erzeugt oder frei setzt, die die Veränderungen in der Materie bewirken. Es gibt also keine ein für allemal konsolidierte Materie und folglich auch keine festen Elemente, sondern die Materie selber ist im Fluss, der als das Fließen von Energien zu verstehen ist. Und dieses Verhältnis von Masse und Energie ist, wie das Zitat bei Lukrez besagt, nicht nur maßgebend für den planetarischen Bereich des Makrokosmos sondern gleichermaßen für den Mikrokosmos im Körper von Menschen und Tieren. Was die organische Natur von der anorganischen unterscheidet, ist die Steuerung von Bewegungsabläufen im Körper, die über die Sinneswahrnehmungen vermittelt sind. Durch die Wahrnehmung bildet sich das aus, was als Bewusstsein bezeichnet werden kann, d.h. die Fähigkeit, Dinge im Raum abzubilden, die Vorstellung von Räumlichkeit zu entwickeln und in ihr die Dinge zu lokalisieren. Die Wahrnehmung, die auf den Raum beschränkt bleibt, in dem die Dinge erscheinen, sieht sich vor neue, ungeahnte Schwierigkeiten gestellt, wenn sie die Räumlichkeit überschreiten will, die der Erfassung des Gegenstands im Wege steht, den sie in einem Raum verfolgt, der außerhalb des Vorstellbaren liegt oder vielmehr in der Dimension des Imaginären situiert ist, mit der er identisch wird. Die Dimension des Imaginären ist also die des Raums und der Zeit, die außerhalb der Dinglichkeit der Wahrnehmung liegen u.a in der Tiefe der Materie oder von Körpern, die der Wahrnehmung nicht zugänglich ist und Gegenstände betrifft, deren Realität ebenfalls nur imaginär oder, wie man sagen könnte, virtuell ist, womit. wir in den Bereich der Semiotik vordringen, in denen die sprachlichen Zeichen sich nicht mehr auf konkrete Gegenstände beziehen, sondern über das Gegenständliche hinaus auf Verhältnisse, die sie bewirkt haben oder auf solche, die noch gar nicht existieren, aber möglich sind und deshalb als virtuell bezeichnet werden können. Mit der veränderten Naturkonzeption geht einher der Übergang von der Semiotik des Elementaren zur Semiotik der Natur der Dinge und damit des offenen Raums, in dem das Imaginäre und das Virtuelle situiert sind. Die Semiotik beschreibt, wie wir dargestellt haben, den Prozess der Versprachlichung der Wahrnehmung vom sinnlichen Erfassen des Gegenstands oder Ereignisses über seine Einordnung in einen Bildraum bis zur Zuschreibung einer Bedeutung, die letztlich vom Subjekt und seiner Sicht der Dinge zu ent4
Artikel von Richard Mellein über De rerum natura von Titus Lucretius Carus (97 v.Chr. – 55 v.Chr.), Kindlers Neues Literaturlexikon, Studienausgabe Bd. 10, 1996. – Wir erlauben uns, folgende Bemerkungen noch zu zitieren: »Darin EPIKUR folgend, dem viermal in den Vorworten […] gefeierten Meister, sieht Lukrez in der Todesfurcht eine Folge der Religion, der mythischen, anachronistischen Vorstellung von Göttern, die rächend oder belohnend in das Leben der Menschen eingreifen würden. Diese Vorstellung hält den Erkenntnissen vom wahren Wesen der Natur (»naturae species ratioque«), wie sie besonders DEMOKRIT gewonnen hat, nicht mehr stand; denn jetzt steht fest, dass die Natur ausnahmslos der eigenen Kausalität, d.h. den Gesetzen der Materie, folgt.« (S. 702).
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scheiden ist. Was im Verlauf des Vorgangs bedeutsam wird, sind die Momente der perspektivischen Einstellung des Blicks und die gesellschaftlich relevante Zuschreibung der Bedeutung des Wahrgenommenen. Die Realität, die der Wahrnehmung des Subjekts zukommt, hängt letztlich davon ab, in welchem Maße sie vergesellschaftet wird, d.h. verallgemeinert werden kann. Die veränderte Wahrnehmung der Dinge setzt aber einen Raum voraus, der nicht mehr der geschlossene Raum der Wahrnehmung mit der beherrschenden perspektivischen Sicht auf die Dinge ist, die den geometrischen Prinzipien der Raumordnung entspricht; er ist der offene Raum der unbegrenzten Ausdehnung oder der Tiefendimension der noch unerforschten Materie. Die Erforschung der unbegrenzten Raumdimensionen und des noch unbekannten Inneren der Materie – der Körper und der Planeten – wird das bestimmende Kriterium für einen Naturbegriff, der Organisches und Unorganisches als Materie begreift und sie damit unter die Totalität des Seins subsumiert, die den Zusammenhang der Lebewesen und der Dinge konstituiert und gewährleistet. Dieser Zusammenhang, den wir als universal charakterisiert haben, könnte darüber hinaus die Annahme bekräftigen, dass in den noch unbekannten und unerforschten Raumdimensionen Verhältnisse zu finden sind, die die Rationalität des Ganzen, im Sinne der Funktionalität der Teile, bestätigen. Einer solchen Annahme wäre zu widersprechen, wenn sie Rationalität im Sinne eines schon geordneten Ganzen verstände, was jedoch nicht gemeint ist, wenn Ratio als eine Funktion des Daseins verstanden wird, das auch im Chaos von Gewaltverhältnissen bestehen bleibt oder zumindest nicht beseitigt werden kann. Rationalität ist in diesem Sinn die Fähigkeit der Selbsterhaltung, die erst in einer zu schaffenden Ordnung zur Geltung kommt, in einer »Ordnung der Dinge«, die Lukrez’ unter dem Begriff der rerum natura verstanden hat. Die Ordnung der Dinge – ordo rerum – ist die Ordnung oder auch die Unordnung oder das Chaos, in der die Dinge materiell existieren; die Ordnung der Begriffe – ordo idearum – bildet dagegen die Ordnung ab, in der in der Sprache von den Benutzern die Dinge geordnet werden. Die Semiotik der Natur der Dinge ist die Vermittlung beider Ordnungen und kann zeigen, wie das System der sprachlichen Zeichen die Dinge im Raum der gesellschaftlichen Beziehungen abbildet, d.h. sprachlich darstellt oder repräsentiert. Dieser Raum aber hat sich, wie wir festgestellt haben, verändert, ist der unbegrenzte Raum des Planetarischen und des Inneren der Materie geworden, der nur zugänglich gemacht werden kann mittels neuester Technologien und hoch entwickelter Geräte. Es ist der Raum schließlich, der jenseits des geometrisch Begrenzbaren und perspektivisch durch den Blick Kontrollierbaren situiert ist und nicht mehr dem Blick entspricht, den das zivilisierte Subjekt durch das Fenster seiner Behausung auf die Landschaft oder die Ansammlung von Menschen wirft, wie das von Volponi zitierte unpersönliche Subjekt in dem Gedicht Figure per un romanzo – Figuren für einen Roman – in Nel silenzio campale. Wie aber werden Gegenstände, Menschen, Situationen in dieser Raumdimension sprachlich oder zeichentheoretisch dargestellt oder abgebildet? Die sprachlichen Zeichen, haben wir festgestellt, verweisen nicht mehr auf die Gegenstände selbst, sondern auf das, was durch sie bewirkt wird, was sie selbst bewegt und was sie ihrerseits bewegen oder verursachen. Hier dringt die sprachliche Darstellung schon in das ein, was bildlich als das Innere der 444
Die Lyrik des Spätwerks
Materie zu bezeichnen wäre, nämlich das Triebpotential des Energieflusses, der den nuklearen Bereich der Körper bildet und in die gesellschaftlichen Beziehungen transferiert wird. Der Bildbereich des Nuklearen wäre demnach die Verbildlichung der Dimension der menschlichen Triebökonomie und repräsentierte in diesem Sinn das Erkenntnisprinzip der Libido-Theorie der Psychoanalyse gegenüber dem Erkenntnisanspruch der Psychologie, den Volponi in seiner Analyse der Gefühle schon immer in Frage gestellt hat. Während der geometrische Raum die begrenzte Dimension der menschlichen Wahrnehmung bezeichnet, die der Blick durchs Fenster in innen und außen, oben und unten, rechts und links unterteilt und auf die Unterscheidung der Flächen, Räume und Territorien im irdischen Maßstab beschränkt, verlieren diese Kriterien ihre Geltung im außerirdischen, unbegrenzten Raum und im Mikrokosmos des Nuklearen, die wir mit den Triebenergien im Sinne der Psychoanalyse identifiziert haben. Die Vieldimensionalität des unbegrenzten Raums hebt die Festlegung von Positionen der Gegenstände auf, was sich auf die Begriffe überträgt, die die Gegenstände erkennbar machen und identifizieren. Und diese sprachlichen Verhältnisse wiederum werden bestimmend für den semiotischen Prozess der Versprachlichung und Deutung des Wahrgenommenen unter den Bedingungen veränderter Koordinaten. Wie sich das konkret im Sprachlichen niederschlägt und welche Begriffe und Kategorien für die Konstitution von Texten maßgeblich werden, soll im Folgenden vorerst nur angedeutet werden. Die Vieldimensionalität drückt sich sprachlich zunächst aus im Fließen der Wörter, das in keiner festgelegten Ordnung oder Richtung verläuft, wo aber an bestimmten Merkmalen die Richtung einer Bewegung erkennbar wird, die man als Vektor dieser Bewegung in der Tendenz auf einen Gegenstand verstehen kann. Der Mehrdimensionalität des Bewegungsverlaufs entspräche grammatikalisch die Mehr- oder Vieldeutigkeit des daraus resultierenden Textes, das was semiotisch die Unabschließbarkeit der Interpretation, »la semiosi illimitata« (die unbegrenzte Semiose) bezeichnet wird Am Beispiel des schon zitierten Schlüsseltextes Figure per un romanzo kann gezeigt werden, dass ein Text als Geschichte fast unerzählbar wird, wenn man ihn nicht in Sequenzen unterteilt, die erst ermöglichen, die Teile im Hinblick auf ihre Lesbarkeit als Ganzes zusammenzufügen oder zu rekonstruieren. Das bedeutet aber, dass die Geschichte selbst letztlich mehr- oder vieldeutig bleibt und ihr Verständnis vom Leser selbst zu bestimmen ist, was der kollektiven Rezeption von Literatur, die Volponi propagiert, nahe kommt, weil sie den Leser oder den Benutzer der Literatur am Verständnis des zu Beschreibenden kreativ beteiligt. Mit der neuen Konzeption der Natur ist zwangsläufig eine veränderte Sicht des Menschen auf die Dinge verbunden. Von Bedeutung wird die Frage, aus welcher Perspektive der auf seinen Lebensbereich beschränkte Mensch den Raum und die Zeit wahrnimmt, die außerhalb oder unterhalb seiner perspektivisch bedingten Sehweise liegen und nicht sichtbar gemacht werden können, es sei denn in abstrakter Form, mit Hilfe technischer Apparate und Prozeduren, die das Gegenständliche sozusagen im Modell wiedergeben, d.h. in einer imaginären Raum-Zeit-Dimension, der lediglich eine imaginäre Realität zukommt. Als imaginär ist sie nur zu verstehen, wenn sie als Gegenstand nicht zu begreifen ist, doch ihre Existenz vorausgesetzt werden muss, da sie sich an der Wirkung, die sie ausübt, zu erkennen gibt. Die von der Naturwissenschaft zu erforschende Beschaffenheit der Materie ist also die 445
Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
»Natur der Dinge«, die sich kundgibt und erkennen lässt an der Art und Potenz ihrer Wirkung, die Rückschlüsse auch auf ihre Beschaffenheit ermöglicht.
2. D IE
SEMIOTISCHEN
F RAGESTELLUNGEN
IN DEN
G EDICHTEN
L’attesa [Die Erwartung] L’orlo [Der Rand ] Intinto [Das Fließen der Energie ]
In L’attesa [S. 19-22] geht das Ende der Erwartung auf gesellschaftliche Veränderungen einher mit der Absage an die Sprache und Semiotik der elementaren Natur. Das Subjekt, das hier spricht, fragt sich, was es noch zu erwarten habe von einer Schrift, die sich nicht mehr entziffern lässt auf der weißen Fläche der Erscheinungen (des zu beschreibenden Blatts), die bislang durch den Schnee verbildlicht worden ist. Cosa aspetto che transiti, che passi affondando in questa siepe nevosa; che scivoli, veleggi, o che sorvoli la grandiosa e nuova superficie terrestre […]? [V. 1- 4]
Was ist zu erwarten von dem, was vorüberzieht und seine Spuren hinterlässt auf dieser schneebedeckten Hecke; das gleitet, segelt oder überfliegt die großartige und neue Oberfläche der Erde […]?
Der Schnee war bisher die Fläche, auf der die Schrift des Elementaren sich abgebildet hat; hier ist aber die Rede von einer neuen Oberfläche, die jetzt den Raum bezeichnet, in dem die Dinge sichtbar gemacht werden können, die die geometrische Fläche verdeckt hatte. Vermutlich ist es der Blick aus der Vogelperspektive, der, wie in L’orlo, auf die geophysikalische Gestalt Italiens fällt, ein Blick, der in der wahrgenommenen Landschaft nur Umrisse von Gegenständen erkennen lässt, wie […] Una ben stagliata cosa contro la testa nera della collina boscosa: che sia una persona, dei dintorni che pure non riconosco, chiusa dentro i panni; un animale sperduto e solitario […] [V. 6- 10]
[…] Ein sich deutlich abhebendes Wesen gegen den schwarzen Kopf, des bewaldeten Hügels das eine Person sein könnte, deren Umgebung ich aber nicht erkennen kann, eingehüllt in Tüchern; ein Tier verirrt und einsam […]
und noch andere mögliche Erscheinungen werden aufgezählt, darunter eine abgefeuerte Rakete ohne Zünder, ein Zug Nomaden des Kaukasus, ein Militärtrupp der Volksarmee und schließlich
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Die Lyrik des Spätwerks […] un gruppetto di giovani, che crollano di continuo intorno e dentro le parole e le grida, intimiditi dalla perfezione, quindi inspiegabile, della neve: soggettoverbo- guida? [V. 12- 15]
[…] ein Grüppchen junger Leute, die taumeln beständig um und in den Wörtern und den Schreien eingeschüchtert von der Perfektion, folglich unerklärlich, des Schnees: Subjekt- VerbFührung?
Vermutlich bezieht sich diese rätselhafte Beschreibung junger Leute wieder – abweichend von der Aufzählung der beobachteten Erscheinungen auf der Erdoberfläche – auf das Phänomen der Schrift, was durch den Schnee und die grammatischen Termini nahe gelegt wird. Die Perfektion wäre dann zu deuten als die des neuen Sprachmediums und der Fläche, auf der die Schrift erscheint, das Taumeln auf der Ebene der Wörter und Laute als der beständige Wechsel der Bedeutung in den Kombinationen von Wörtern und Satzsequenzen, so dass eine Subjekt-Verb-Sequenz nicht erkennbar zu werden scheint. In dem hierauf folgenden Versabschnitt [von Vers 26 bis 43] wird deutlich gemacht, dass der Raum, in der die Szene situiert ist, nicht mehr der geschlossene, geometrische Raum ist, sondern der neue offene Raum, in der die Figuren der zwei Schwimmer wie Astronauten schwerelos schweben: una coppia di nuotatori nell’aria, all’altezza delle finestre, stretta dalla bande di un dialogo a voce alta, fitto nell’ebrezza? [V. 26- 28],
zwei Schwimmer in der Luft, auf der Höhe der Fenster, dicht an den Rändern eines Dialogs mit lauter Stimme, gedrängt in der Trunkenheit?
ihre Physiognomie wie in einem Zerrspiegel verformt, beide bärtig, aber mit unterschiedlichen Stilen im Schwimmen und Rezitieren, die sich schließlich zu erkennen geben als Marx und Freud, a loro agio in quegli abiti e in quel moto nell’aria del tutto possibile […] [V. 37- 38]
in ihrem Element in diesen Kleidern und in der Bewegung in der Luft wo alles noch möglich ist […]
Diese Begegnung im schwerelosen Raum wird nicht näher kommentiert, aber könnte so verstanden werden, dass beide mit ihren umwälzenden Entdeckungen Wesentliches zur Veränderung der Welt und im Übergang zu einer neuen Stufe der Zivilisation beigetragen haben. Die beiden Schwimmer in der Luft sind zugleich Figuren einer Erzählung, die beliebig fortgesetzt werden kann, soweit sich die Rezeption dafür interessiert. In der Sequenz zwischen Vers 44 und 56 wird ein noch unbekannter Raum angedeutet, in dem offenbar als Schriftzeichen ein Gegenstand erscheint, der nicht zu identifizieren ist:
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte una grande sfera, potente, mega alla velocità del carro stellare. [V. 48- 49]
eine große Kugel, potent, riesig von der Geschwindigkeit des Himmelswagens.
was auf einen Planeten hindeutet, der auch die Erde sein könnte, wenn man sie anders wahrnimmt und sprachlich in den Lebensbereich des Irdischen einbezieht, was wohl der Vers besagen soll: »Nessuno potrebbe segnalarla: alfa. Omega« [V. 50], i.S. von niemand könnte sie einordnen in das schon existierende Alphabet, denn sie ist der Aggregatzustand einer Materieansammlung, die als Gegenstand nicht oder noch nicht zu definieren ist [V. 5356]. Wieder aufgenommen und weitergeführt wird das, nachdem in der Verssequenz 57 bis 76 das Subjekt noch einmal den Durchgang des Bewusstseins durch die Dimension der Nacht in Erinnerung bringt, die es jetzt aber nicht mehr als bedrohlich wahrnimmt: Non ho cercato un riparo per salvarmi attraverso i varchi che il tramonto indicava, a paro ormai della notte, sotto i palchi del buio impenetrabile […] [V. 57- 61
Ich habe keinen Schutz gesucht um mich zu retten im Übergang der die Dämmerung ankündigte zur Nacht unter der Decke der undurchdringlichen Dunkelheit […]
Nichts Bedrohliches zeigt sich mehr in der Erinnerung an die »Schrecken des Sakralen, kein Terror und keine Beleidigung«. [V. 69-70] Nichts dergleichen erscheint im Durchgang durch die Nacht; der Schnee löst sich am Morgen auf in leichte Wolken, die wie Filter ihn von Rückständen reinigen – und auf das Sprachliche übergehend und die auch die Schrift reinigen von den verbrauchten Formen und Normen
[…] cui deve ciascuna lettera regolarsi con le addotte consimili righe […] stendere una frase, ripetere le dotte immagini e sentenze e lieve rinnovare le insopportabili, corrotte scritte, da recitare per le antiche e coeve verità da spartire […] [V. 82- 89]
[…] denen jeder Buchstabe sich fügen muss in der entsprechenden Zeilenfolge […] sich fügen auch, um:[…] einen Satz zu bilden, zu wiederholen die gelehrten Bilder und Sentenzen und geringfügig Schreibweisen, um zu verbreiten die antiken und zeitgenössischen Wahrheiten, die alle teilen sollen […]
Und in der folgenden Verssequenz [V. 93-104] wird in Form von gehäuften Verneinungen aufgezählt, was das Subjekt erwartet, nämlich die gewaltsame Zerstörung des Alten [V 93-104]. Die längere Schlusssequenz des Gedichts [V. 105-133] bestätigt mit dem Verschwinden des Schnees, d.h. der Fläche, auf der die Schrift erscheint, dass die Dinge und Gegenstände der herrschenden Verhältnisse selbst schon der Abfall einer konsumierenden Gesellschaft sind, den die Schriftzeichen des Kulturverfalls nur noch wiederholen können in ihren entleerten Sinngehalten:
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Die Lyrik des Spätwerks Presto la neve cedette a invisibili
Bald wich der Schnee unsichtbar werdenden gewöhnlichen Spuren, schrecklichen täglichen Zerstörungen, unzerbrechlichen Plastikresten […]
ordinarie tracce, a terribili morsi quotidiani, a infrangibili riflessi di plastiche […] [V. 105- 108].
Die nicht mehr zu ordnende Menge der Gegenstände, die sich im Raum der Gesellschaft angesammelt haben, werden schließlich, in die Sprache der Musik übersetzt, als Laute und Töne dargestellt, die zu keinem Einklang gelangen, sondern nur noch als Kakophonien wahrzunehmen sind: […] melodie flebili assolo di solisti o di trepidi amabili
[…] klägliche Melodien Solos von Solisten oder zitternden liebenswürdigen Anfängern, Übenden, unerbittlichen harten Profis, die die Fäden zittern lassen bis sie verlieren die selektiven Filter von Schnee und Eis, nicht mehr voll Zauber, den Späteren nicht mehr zur Verfügung, um aufzubrechen, sich zu befreien, den Empfindsamen, immer beschäftigt, heimgesucht, besiegt von den Motiven der universalen Nutzlosigkeit, nicht frei von Erfahrungen, Philosophien […]
principianti, ripetitori, implacabili duri esecutori da far tremare i fili fino a spogliarli di quei selettivi filtri di neve e ghiaccio, non più vivi d’incanto, non piú offerti ai tardivi a partire, a liberarsi: agli emotivi sempre trattenuti, ossessi, vinti dai motivi della universale inutilità, non privi di esperienze, filosofie […] [V. 118- 128]
Von diesen Verlusten der nutzlos gewordenen Kultur betroffen, so schließt diese Komposition, kann die gegenwärtige Generation nicht mehr ihre Erneuerung erwarten und abwartend lediglich in der Position verharren, die im Text im Bild des stillstehenden Pferdes bezüglich des Fortgangs der Geschichte angedeutet wird: Allora meglio un cavallo fermo sui clivi prossimi: lasciarlo indisturbato. Ed evasivi riflettere gli inganni, gli errori, gli ossessivi risvolti e contenuti, i sali, gli aromi aggiuntivi. [V. 130- 133].
Dann besser ein Pferd still stehend auf den nahen Hügeln: es ungestört lassen. Und ausweichend zu reflektieren über den Betrug, die Irrtümer, die beständigen Wendungen und Inhalte, das Salz und die hinzugefügten Aromen.
Die verändert Raumperspektive im Hinblick auf die Wahrnehmung der Realität thematisiert das lediglich 14 Verse zählende Gedicht L’orlo [der Rand oder Saum], [S. 30] in dem die Landschaft bzw. das Territorium nicht mehr 449
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im geometrischen Maßstab sich dem Blick darbieten, sondern nur als undifferenzierte kompakte Masse aus großer Entfernung wahrgenommen werden, in diesem Fall als die geophysikalische Gestalt Italiens. Vedo ormai dalle mura di Urbino il paesaggio intero, terrestre e marino di tutta l’Italia nella sua naturale grandezza fisica […] [V. 1- 4]
Ich sehe jetzt von den Mauern Urbinos die gesamte Landschaft, Land und Meer von ganz Italien in seiner natürlichen physikalischen Größe […]
Und was dabei für den Betrachter sichtbar wird, ist eine durch die physikalische Gestalt und Beschaffenheit der Halbinsel vorgegebene Lebensform, die Ökonomie und Zivilisation des Territoriums in einer Weise vorbestimmt, dass daraus so etwas abzulesen ist wie eine zivilisatorische Berufung, die sich jeweils an den geophysikalischen Bedingungen eines Territoriums zu orientieren hat, eine der Natur entsprechende Lebensform der Bewohner bedingt. [V. 7-9] Keineswegs ist darunter eine geschichtlich vorherbestimmte Determinierung Italiens oder eines bestimmten Teils des Territoriums zu verstehen, was Volponi ja schon vom Ansatz her als nicht akzeptierbar betrachtet hat. Angedeutet wird vielmehr die Möglichkeit einer Entwicklung, die Volponi an vielen Stellen seines Werks schon als die naturgegebene in konkreter Form bezeichnet hat. Bedeutsam ist hier, dass mit der Öffnung des Raums der Wahrnehmung eine quasi globale Sicht auf die gegebenen Verhältnisse ermöglicht wird. Ein Schlüsseltext für das Verständnis einer veränderten Semiotik auf der Grundlage des Begriffs der Natur der Dinge ist das Gedicht mit dem zunächst rätselhaften Titel Intinto [S. 44-45]. Zu beobachten ist hier, wie das Reservoir der Zeichen ausgewechselt wird bezüglich ihrer Funktion und ihres Verweischarakters, und zwar vom Verweisen auf die von ihnen bezeichneten Dinge oder Personen zum Verweisen auf die von Dingen und Menschen bewirkten Tätigkeiten – bzw. die von der Natur selbst ausgelösten Effekte. Zu zeigen ist das insbesondere an der Verssequenz von 40 bis 47. Das erzählerische Moment des Gedichts ist gegeben im Blick des Subjekts auf eine in lauter Sequenzen zerstückelte Landschaft mit See, Felsen und Feldern. Sein Blick fällt auf die Landschaft als Bildraum, in dem einzelne szenische Ansichten präsentiert werden, die man als wechselnde Bildausschnitte betrachten könnte. Die Beschreibung des Bildraums erstreckt sich auf die Verssequenz von Vers 5 bis 39, also auf die weitaus größte Sequenz. Im Abschnitt zwischen Vers 48 und 63, der das Gedicht abschließt, werden die beiden semiotischen Verfahren einander gegenübergestellt, worin wir eine Art Dialektik des Alten und des Neuen sehen können, des analytischen Verfahrens der klassischen Semiotik und des beschreibenden Verfahrens einer Wahrnehmung, die sich auf die Unterscheidung von Aggregatzuständen der Materie bezieht. Die ersten vier Verse des Gedichts sind eine Umschreibung des Subjekts und seines beobachtenden Bewusstseins: La mente materiale [das materielle Instrument der Wahrnehmung], so heißt es, ist vergleichbar einer Pumpe, die ins Erdinnere dringt und als »pensiero« [Denken] zutage fördert, was es dort wahrgenommen hat. Was hier das Räumliche anbelangt, das ja alle Dimen450
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sionen umfasst die Tiefe, die Höhe, die Ferne, die Nähe in ihrer nicht abgrenzbaren Form , so könnte die Landschaft, die beschrieben wird, auch etwas Unterirdisches oder auch rein Imaginäres darstellen. Signifikant aber ist, dass die Landschaft ohne belebte Wesen, Mensch oder Tier, in einer beständigen Bewegung gesehen wird, also in einem Fließen begriffen ist, das dem Fließen des Wassers entspricht, aber auch aus einer Kraft herrührt, die der Materie insgesamt innewohnt und sich dem Energiefluss im Inneren der Körper als äquivalent erweist. Was also an Bewegungsabläufen in der hier beschriebenen Landschaft zu beobachten ist, könnte sich auch auf Umwälzungen im Inneren der Erde beziehen und schließlich, wenn das nicht als zu gewagt erscheint, als die Verbildlichung von Abläufen im Inneren des Atoms. Die zum Teil gewaltsamen Bewegungsabläufe könnten das rechtfertigen: suo pensiero, dal lato aperto del lago va a infrangersi contro l’orlo tagliente della costa, duro quanto presago. [V. 4- 6].
[das] Denken [oder Bewusstsein], auf der Seite zum See wird sich brechen am scharfen Rand der Küste, hart wie vorahnend
La tazza del lago è a metà della discesa dei campi, al centro dei loro avallamenti, sull’orlo tratteggiato in quei frangenti dove si congiungono e si interrano come non conseguenti. [V. 11- 16]
Der See, in Form einer Tasse, befindet sich in der Mitte des Abstiegs zu den Feldern, an den Absenkungen am Rand jener Brandungen wo sich vereinigen und versinken als nicht vereinbar [die Felder, von denen oben die Rede war].
Die Absenkungen an der Seite eines vortice indomabile – eines unzähmbaren Strudels – bäumen sich wieder auf im Rücken mit einem Beben [fremito], das sich auf das Wasser überträgt, auf dem eine Art Netz sichtbar wird […] di segnali, frementi quanto vani, dispersi dalla stessa frequenza che li accende [V. 30- 33]
von Zeichen, so bebend wie vergeblich, auseinander getrieben von derselben Frequenz die sie ausgelöst hat.
In diesem chaotischen Wirbel von Bewegungen werden aber schon Anzeichen von Signalen sichtbar, die so etwas wie einen geordneten Ablauf anzeigen wollen, aber die wieder zurückgerissen werden in den Strudel, aus dem sie hervorgegangen sind. Der Vorgang, der uns gezeigt wird, spielt sich nicht nur in einem offenen Raum ab, sondern auch in der Vieldimensionalität der Zeit. Die Szene, die die ungeordnete Bewegung vor Augen führt, ist in die Zeit zurückzuversetzen, wo sich die Materie zu konsolidieren begann, bzw. reflektiert einen Vorgang, der sich noch heute fortgesetzt bei der Umformung von Materie ereignet. Die Verse 34 bis 39 verbildlichen diesen Vorgang nicht nur als Chaos sondern auch als einen mörderischen Kampf ums Überleben von Tieren und Pflanzen.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Der Übergang zu einer Ordnung wird ab Vers 40 beschrieben, und zwar mit der Entdeckung und Entwicklung von Zeichen, die den zivilisatorischen Fortschritt ermöglichen, der dann zur Verschriftung weiter führt. Die zwei folgenden Verssequenzen sind in diesem Zusammenhang bedeutsam, weil sie exemplarisch das Moment der Einführung der Zeichen illustrieren. Aus der Formierung der Materiemasse zu einer erkennbaren Gestalt – oder als ein Objekt – entsteht das Zeichen, das das Objekt darstellen soll und repräsentiert. Così è tritato l’arco di una sfera di terra quale può disporsi nella misura adatta a comprendere una realtà naturalmente vera. [V. 40- 43]
So wird zermahlen der Bogen einer Erdkugel was sich dazu eignet in einer Weise verständlich zu machen eine von Natur aus wahre Realität.
Così è segnato, flesso,
So wird mit einem Zeichen versehen, gebogen, so wird durchdrungen und unterschieden vorn, oben, nahe platziert, in den Fluss eingetaucht [was vorher unbestimmt und ungeordnet war].
così è penetrato e distinto, tenuto davanti come sopra, presso, intinto. [V. 44- 47]
Nur an dieser Stelle erscheint das Titelwort »intinto«, und das verleiht ihm in diesem Kontext eine Bedeutung, die näher zu erläutern ist, die nämlich auf das vorangehend definierte Fließen der Materie und den Fluss der Energien verweist. Das Flüssige – il liquido – ist das Fließende der Materie, das interiorisiert im Menschen, als das Fließende des Bewusstseins sich manifestiert, »l’intinto«, das in den Fluss getauchte und von ihm getragene Bewusstsein. Dieses Bewusstsein, so meinen wir, ist der Blick des Subjekts, das die sogennannte »Landschaft« in zeitlich verschiedenen Aggregatzuständen und aus räumlich unterschiedlichen Perspektiven wahrnimmt und in Zeichen übersetzt, die in die Beschreibung als »Landschaft« eingehen. Der Schlussabschnitt der Komposition kommt noch einmal zurück auf das Problem der Semiotik, nämlich auf die Frage der Herkunft der Zeichen und darauf, ob die Bedeutung den Zeichen von Natur aus zukommt oder erst über die Erfahrung der Menschen im Prozess der Kultur geschaffen wird.5 Volponi modifiziert diese Problemstellung, indem er auf die herrschende Meinung zielt, dass alle Zeichen denselben Mechanismen unterliegen wie die Verkehrszeichen [V. 50-51] also wie diese rein funktional zu verstehen seien. Dieser Ansicht, die eine bloße Technik von Signalen zugrunde legt [V. 52], widerspricht er, wie selbstverständlich auch der Auffassung, dass die Bedeutungen von Natur aus gegeben und daher göttlichen Ursprungs seien, wogegen er die Figur des Prometheus ausspielt als Widersacher der Götter und Bekämpfer des Mythos [V. 53-56]. Dass die Bedeutungen der Zeichen vom Menschen erst geschaffen werden, ist natürlich unbestreitbar, aber erklärt 5
Das ist das Problem, das Platon schon im Kratylos aufgegriffen und behandelt hat, ausgehend von der Ansicht des Kratylos von der natürlichen Richtigkeit der Bezeichnungen, eine These, die von Sokrates angefochten wird.
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noch nicht, wie es zur Identifizierung von Zeichen und Bedeutung gekommen ist oder jeweils kommt, wie im Erkennenden der Schritt zur Identifizierung des Objekts als etwas Bedeutendem zu verstehen ist. Und dieses vermittelnde Glied ist für Volponi das in den Strom getauchte und dort sich selbst mit bewegende Bewusstsein, »la mente materiale« des Anfangsverses, worauf das Intinto des Gedichttitels verweist. Volponi ist sich natürlich bewusst, dass durch dieses Zwischenglied der Verlauf des semiotischen Erkenntnisprozesses nicht verändert wird, was er auch in den letzten sieben Versen eindeutig zum Ausdruck bringt. Qui sopra qualsiasi uomo cosciente sa che ogni segno, traccia, sporgenza è manovrabile per essere stato di un altro visto, appreso, adattato da altri in infiniti modi differenti. Insieme sono ed hanno comunque in comune la sorte di essere stati fatti, usati, messi. [V 57- 63]
Jeder bewusst denkende Mensch weiß, dass jedes Zeichen, jede Spur, alles Herausragende manövrierbar ist, weil von einem anderen schon gesehen, gelernt, von anderen angepasst in unendlich verschiedenen Weisen. Zusammen sind sie und haben gemeinsam die Herkunft, gemacht, gebraucht, gesetzt zu sein.
Wenn der Zeichencharakter auf den Text insgesamt und die Literatur ausgedehnt werden kann, dann bestätigt Volponi in diesen Versen, dass die in den Zeichen übermittelten Bedeutungen von den am Kommunikationsprozess Beteiligten sowohl erst hervorgebracht wie in ihrem Verständnis auch reproduziert werden. Angedeutet wird auch, was im Fahrwasser Derridas die Dekonstruktivisten als Verfahren der Kontestation von Bedeutung und damit von Textinterpretationen praktiziert haben und was dazu führte, dass von der Kritik alle überhaupt denkbaren Bedeutungszuschreibungen in der Textinterpretation in Frage gestellt wurden, weil sie auf immer wieder weiterführende Zusammenhänge der Wortbedeutung gestoßen ist oder hingewiesen hat. Die Theoretiker der Dekonstruktion haben daraus den Schluss gezogen, den Volponi natürlich nicht nachvollzieht, dass, wenn die Aussagen im Satz und die Interpretation eines Textes grundsätzlich in ihrer Bedeutung hinterfragt werden können, die Literatur nichts mehr über die Bedeutung des Realen aussagen kann, d.h. dass ihre Texte überhaupt ohne Beziehung zur gegenständlichen Wirklichkeit sind. Diese Auffassung, die die Literatur als Fähigkeit menschlicher Versprachlichung des Realen im Grunde negiert und die sie auf die bloße Kunstfertigkeit der Literarizität einschränkt, ist auch nicht vereinbar mit der Tendenz der Erweiterung des Literaturbegriffs und der Textauslegungen, die von den verschiedenen Strömungen der Nachkriegskritik propagiert worden sind, bis hin zur These einer »semiosi illimitata«, einer unbegrenzten Auslegungsfreiheit der Texte, die neue Wege der Exegese sprachlicher Zeichen und versprachlichter gesellschaftlicher Verhältnisse öffneten. Das auch ist der Sinn, der den letzten Versen des Gedichts zugrunde zu legen ist. die wir vorangehend zitiert haben. Dieses Bekenntnis zur Offenheit der Zeichen für die Zwecke der menschlichen Verständigung verbindet sich mit der entschiedenen Feststellung,
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dass die Bedeutung der Zeichen von Menschen gemacht ist und nicht auf schon feststehende Bedeutungen verweist.
II. Die Poetik des Seins der Dinge Der Wandel in der Bedeutungsebene der Zeichen: von der Semiotik des Elementaren zur Semiotik des Virtuellen/Imaginären
Um die Literaturkonzeption an einem konkreten Beispiel zu illustrieren, die nicht mehr die gegebene Realität der gesellschaftlichen Verhältnisse direkt abbildet, sondern vermittelt über die Transformation einer »Semiotik zweiten Grades«, ist wohl kein Text dieses letzten Gedichtbandes geeigneter als die extrem verschlüsselte und zum Teil rätselhafte Komposition unter dem programmatischen Titel »Figure per un romanzo« [Figuren für einen Roman]. Damit der Leser die von uns zitierten Passagen in ihrem Textzusammenhang erkennen und verfolgen kann, halten wir es für angebracht, den gesamten Text des Gedichts in unserer Übersetzung wiederzugeben. Der Titel suggeriert, dass es sich um einen Roman handelt, also um eine Geschichte, deren Figuren aber keine Personen sind sondern Gegenstände des Alltags, durch die die Geschichte wahrgenommen und erzählt wird – offenbar durch den eintretenden Fremden, vermutlich den Leser der Geschichte selbst, der die Fäden des Geschehens aufnehmen und in einen Zusammenhang bringen soll. Kontrahenten des Konflikts sind die Jacke über der Stuhllehne am Mittagstisch und die Gegenstände Tisch, Speisereste, Flasche, die Produkte also des Konsums, die dem Konsumenten in Gestalt der Jacke gegenübertreten. Der substantielle Konflikt ist also der, der in der Konsumgesellschaft zwischen den Verbrauchern und den Gütern, die verbraucht werden, entsteht und sich zu einer Krise ausweitet, in der der Wert der Güter reduziert wird auf das simple Niveau des Abfalls, womit sie definitiv verloren gehen und aus dem Verwertungszusammenhang des Lebens ausgeschieden werden. Aus diesem Konflikt des Vordergrunds resultiert die Geschichte oder die Fabel vom Konsum und der Entwertung der Dinge, im Disput zwischen der »Zweckrationalität der Produktion« und dem »Eigenwert der Dinge«. Doch dieser Strang der Erzählung, der zweifellos der dominierende ist, verliert sich in Abzweigungen oder Nebensträngen, die in andere Geschichten einmünden, die hier nur kurz angedeutet seien, die aber von nicht geringerer Wichtigkeit sind für den Gesamtzusammenhang des Romans. Zu nennen wäre einerseits, was als Bestandteil einer Theorie des Romans zu bezeichnen wäre, und andererseits, was das Verhältnis von poetischer Erkennt-nis und politischer Macht betrifft; das erstere in der Inkongruenz von perspektivischer Wahrnehmung und der Vieldimensionalität des Universums, das zweite als die Fabel von Machthaber und Poet.
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Die Lyrik des Spätwerks Figure per un romanzo/Figuren für einen Roman [S. 26- 27]6 Ein historischer, moralischer Roman ist im Entstehen: er handelt und spricht [von einer Geschichte] zwischen der Jacke auf einem Stuhl nach dem Mittagessen und dem Tisch, den [Speise]Resten, der Flasche – sie erzählend [die Geschichte] dem gerade eingetretenen Fremden – und der schwindende Rest des Lichts der sich auflösenden Distanz lohnt nicht mehr zu messen und zu bewahren; nunmehr nur noch der Widerschein eines guten Möbels [der bürgerliche Besitz], ein Atemzug/Seufzer, um sie zu beschlagen [die Geschichte], das Gold filtriert im Halbdunkel und dann in der Organdiseide weich und umschmeichelnd eingeschnürt/um sie still zu stellen [die Geschichte] für immer. Die Stunde, die Lust ist gekommen … und der Roman wirft jetzt die erste Frage auf, und um sie zu versprachlichen beginnt er mit kleinen Lauten/Tönen, Schlägen/Rhythmen, Redundanzen.
Die Jacke, die Reste, die Flasche bewegen sich zum Fenster hin, sie erforschen unter sich die Dringlichkeit wie für eine Probe: der Tisch, der beauftragte Fremde, die nicht angemessene Strömung zwischen einem Extrem und dem anderen: Subjekt, Objekt, alte neue Distanz vermeiden sich; negieren nicht nur als vorherrschend jegliche Beziehung, Verbindung, Sinn und Ausdruck die dem Fenster eigen, als leer und als unstatthaftes Eindringen aus einem entfernten materiellen Bereich von Handlungen und Meinungen die einfließen, und zusammen schlagen sie vor die grandiose Bedingung des Maßes und der Besonnenheit, der sicheren Befriedigung jeglichen kleinen Mangels wie der friedlichen Berufung standzuhalten dem Dunkel und dem Blitz und der Zeit der Kasernierung; Milde, Gnade und die Akte der Vergütung einer fatalen Gerechtigkeit, in der irdischen Kommunikation der Teile, Qualität, Fähigkeit, Erfindung. Der Roman handelt von einem Konflikt. Die Jacke macht wieder geltend das Gewicht des Gebrauchs, den Wert der Qualität, den Konsum, und weist Speisereste und Flasche hin auf die enge Verbindung von Wegen und Orten, desselben Abfalls und der gleichen materiellen Erosion in Richtung auf eine gemeinsame angemessene Verwendung zum Wohle der anderen. Die Reste sprechen von Ungleichheit, Verschwendung, Betrügerei und die Flasche erinnert, schöpfend aus ihren Folien rund wie sie eines fließenden Gedächtnisses, Subjekt, einmal in den Städten tausendjähriger Epochen, Häusern und Karawanen wie sie aufgenommen und von allen befragt worden sei: sie spricht und hört zugleich zu.
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Das Gedicht trotz der hier vorherrschenden Sprache der Prosa besteht aus Versen, die in drei jeweils längeren Verssequenzen gegliedert sind.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte »Ihr sagte ein großer Herrscher – siehe du gibst mir und nimmst alles von mir. Ein Poet – nie, nie leer und von mir abgewendet, nie schweigend. So nimmst du meinen Geist [animo] auf ganz, lebendig und sprechend, und wie von einer dichten Menge von Winden, guten Gedanken, ruhmreichen Klippen königlicher Häfen. Mit mir wirst du leben und mit mir wirst du begraben. Ich vergänglicher Körper eines Königs der Sterblichen. Du dagegen entnimmst Zahlen und Gestirne dem himmlischen Gewölbe.«7 Die Jacke faltete sich auf der Tasche des Portemonnaies. Die Reste zählten sich in Schweigen nunmehr abgelegt im Bewusstsein des materiellen Wohlgeruchs, hinfort beraubt jeglicher Weisheit und jeglichen Geschmacks, nur noch ein verstecktes Krümchen ihrer Natur, zerstreut aller Stolz [Eigenwert].
Der Roman mit dem noch unbestimmten Inhalt, denn er ist erst im Entstehen begriffen, kann also ganz verschiedene Thematiken zum Gegenstand haben oder Thematiken, die ganz verschieden interpretiert werden können, was beides dem Prinzip der Öffnung entspricht, das dem veränderten Verständnis der Textkonstitution zugrunde liegt. Und diese Öffnung, außer dem Verstehen der Texte, bezieht sich auch, wie ebenfalls schon bemerkt, auf die Öffnung des Raums und der Zeit, wovon in unserem Kontext zunächst erst einmal das räumliche Moment von Interesse ist. In der Beschreibung des Raums, in dem die Szene spielt, wird unterschieden zwischen einem Innenraum – oder besser einem bürgerlichen Interieur –, in dem ein Fenster den Blick nach außen ermöglicht, auf einen Raum, der offenbar unbegrenzt ist, wenn er auch nicht weiter gekennzeichnet wird. Von draußen aber dringt kaum Licht mehr in das Interieur, wo vom schwindenden Rest des Lichts die Rede ist [V. 5-6], was die Vermutung rechtfertigt, dass die Außenseite die zunehmende Dunkelheit der Himmelsräume repräsentiert oder jedenfalls Räume, die keine perspektivischen Ausblicke mehr erlauben und damit den beherrschenden Blick des Menschen auf die Welt der Dinge unwirksam machen. Im Inneren des Hauses ist das Möbelstück, das die häusliche Kultur des Bürgertums verbildlicht, nur noch schwach vom verlöschenden Licht beleuchtet und repräsentiert nur noch den Wert, den die Erinnerung an die gelebte Vergangenheit lebendig hält. Die Geschichte, die von dieser Familie handelt, kann nicht mehr erzählt werden, sie ist still gestellt für immer. Und an diesem Punkt genau setzt die Frage an, die der Roman bezüglich der Geschichte stellen will. Die Gegenstände – Jacke, Reste, Flasche – bewegen sich auf das Fenster zu und schauen angestrengt hinaus auf den offenen Raum, wie wenn sie ihn erforschten – ›scrutare‹ i. S. von ›absuchen‹ im Text. Und was jetzt dem beobachtenden Bewusstsein – dem Fremden – erkennbar wird, ist, dass zwischen den Dingen in der menschlichen, sprich bürgerlichen Umwelt keine Beziehung besteht und vor allem nicht aus dem Blickwinkel des Fensters, dessen Dominanz von ihnen schlichtweg negiert wird; die Dinge negieren als die Kommunikation bestimmend »jegliche Beziehung, Verbindung, Sinn und Ausdruck«, die durch das Fenster gestiftet wäre [V. 18-20]. Denn dieser Blick aus dem Fenster ist nicht nur durch seine perspektivische Begrenzung beschränkt, sondern auch von den Voraussetzungen seiner Entstehung mit vorweggenommenen 7
Text im Original kursiv.
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Die Lyrik des Spätwerks
Einstellungen belastet – dem Einfließen aus einem entfernten materiellen Bereich von Handlungen und Meinungen [V. 20-21], was für den Beobachter jetzt fraglich werden lässt, ob die Geschichte auf dieser Grundlage weiter erzählt werden kann. Die Erzählung leitet nämlich über auf die Seite der Dinge aus der Sicht des beobachtenden Bewusstseins und öffnet dem Leser die Einsicht in eine Welt von potentiellen Werten, die der Text umschreibt als die »grandiose Bedingung« des Seins der Dinge und des Fließens der Energie und damit der »sicheren Befriedigung jeglichen kleinen Mangels« [V. 22-24]. Was damit gemeint ist, ist mit Gewissheit nicht zu sagen, sondern bleibt der Interpretationsfreiheit der Leser anheim gestellt. Unser Versuch der Deutung stützt sich sprachlich wieder auf das vermittelnde Element der Bilder, deren Funktion darin besteht, wie wir textgrammatisch zu zeigen versucht haben, die wahrgenommenen Gegenstände über das Bildliche einer Bedeutung zuzuführen. Die grandiose Bedingung des Seins ist die der Totalität des Zusammenhangs der Dinge, deren Maßverhältnisse, wie die einer Maschine, auf Anforderungen reagiert, die vom Mangel hervorgerufen und signalisiert werden, wobei die hier genannten Qualitäten, wie die »Besonnenheit« für »prudenza« als »Sensibilität« oder sensible Reaktion und die »sicura soddisfazione« als die Befriedigung des Mangels interpretiert werden könnten. Die Beschaffenheit der Materie, ihre Qualitäten und Aggregatzustände, sucht Volponi, wie schon dargelegt, auf die im Kernbereich der Materie gebundenen Energien zurückzuführen. Die hier im Bild enthaltene Beschreibung eines Kraftpotentials, das im Zustand gebundener Energie einer wirtschaftlichen und friedlichen Verwendung zugeführt werden kann, wäre zu übertragen, wie wir meinen, auf den Text, wo die Rede ist von der friedlichen Bestimmung, »standzuhalten dem Dunkel und dem Blitz und der Zeit der Kasernierung« [V. 24-25], womit Bildelemente zu assoziieren wären wie die der Atomenergie, die im Dunklen unter Verschluss gehalten wird [»in guarnigione«], damit sie sich nicht gewaltsam entlädt, bildlich angedeutet durch »il lampo«, den Blitz. Wir zögern selber, eine solche Interpretation für diese Textpassage vorzuschlagen, für möglich halten wir dagegen, die Bilder als Verweise auf den Sachverhalt festzuhalten, wenn sie vereinzelt darauf bezogen werden: »das Dunkel« als der Innenraum der Materie, und »der Blitz« als die Entladung der Energie. Die Interpretation in dieser Richtung könnte gestützt werden, woran wir erinnern, durch den Blick des forschenden Bewusstseins aus dem Fenster auf den Raum, der im Dunklen bleibt, insofern er auf den Himmelsraum gerichtet ist oder auf das Inneres der Materie, die sich dem Auge nicht direkt erschließen. Im Zusammenhang dieses Forschungsinteresses aber kann die Geschichte des Romans weiter erzählt werden, was im Ansatz dann auch in der Fabel vom Geist in der Flasche und dem Imperator geschieht. Die dritte Verssequenz wendet den Blick zunächst wieder auf den primär gesellschaftlichen Konflikt zurück: die allegorische Darstellung des Widerspruchs zwischen Konsumenten und Konsumgütern im Zwist der »figure per un romanzo«. Die Figur der Jacke, die über das Geld verfügt, verteidigt das in den kapitalistischen Gesellschaften und inzwischen weltweit herrschende Prinzip des Konsums als Priorität des Produzierens mit den gängigen, hier reproduzierten Argumenten, während die dem Abfall überlassenen Güter dieses Regime der Reproduktion des Lebens politisch in Frage stellen. Als ihr 457
Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Wortführer rückt die Flasche in der vierten Verssequenz in den Vordergrund und erzählt die Fabel von dem Geist, der der Flasche entsteigt und der vom Imperator empfangen und in dessen Rede gewürdigt wird. Zu verstehen ist diese Fabel als Bestandteil der Geschichte von der Beschaffenheit der Dinge, und der Geist, der aus der Flasche entweicht, als das Bewusstsein, wie wir meinen, das die Materie repräsentiert und das die Rede des Herrschers als das Gut würdigt, welches dem Poeten als Vermächtnis übertragen wird. Dieses Bewusstsein, so erinnert sich die Flasche, hat Geltung gehabt über Jahrtausende in den Völkern der früheren Zeiten. Doch was dieses Gut gewesen war und noch ist, dieser Frage muss der Leser als der Fremde im Text wieder selbst nachgehen. Angespielt darauf wird lediglich, wenn unter der »fluente memoria« des Bewusstseins, der Fluss der Energie in der Materie verstanden wird, die sich im Bewusstsein der Menschen spiegelt oder reproduziert. Ist es der Geist aus der Flasche, der die Völker früherer Zeiten belebt und begleitet hat, so wäre es ein Bewusstsein, das in allen Menschen die gleichen Empfindungen und Reaktionen hervorruft, ein den Menschen Gemeinsames, das einem kollektiven Bewusstsein zu vergleichen wäre, nicht unähnlich einer gemeinsamen »Vernunft« im Sinne der Philosophie des Averroismus.8 Ist noch in Erinnerung, dass Volponi in der frühen Poesie die Trennung von der Natur im Prozess der Sozialisation als die Separation von einem umfassenden Sein empfunden hat, dann wird vielleicht verständlicher, wenn wir die Vereinzelung der Empfindungen und der entsprechenden Veranlagung darauf zurückführen, was aus der Sicht der averroistischen Lehre von der menschlichen Psyche schon angelegt war. In ihrem Licht ist nicht nur Volponis kritische Einstellung zur Psychologie als Wissenschaft der »Seele« zu sehen, sondern auch die Einwände gegen die Konstitution der Person als Individuation, als gesellschaftlich unstatthafte Vereinzelung. In der Fabel vom Geist aus der Flasche und dem Imperator wird die »Geschichte« des Romans schließlich auf die Ebene der Beziehung gerückt zwischen gesellschaftlicher Macht und dem gesellschaftlichen Bewusstsein vom Sein und Bestand der Dinge. Die Fabel wird erzählt aus der zeitlichen Distanz der Geschichte, in der die Äußerungen menschlicher Erfahrung zusätzlich an Gewicht gewinnen, d.h. als Fabel erzählt werden können. Der Imperator als die Figur des Herrschers gelangt in der Fabel zu einer Art Übereinkunft mit dem Bewusstsein bezüglich der Bedürfnisse einer Vergesellschaftung, die das Überleben der menschlichen Zivilisation ermöglicht, die sonst der Zerstörung anheim fiele, wie die abschließende Verssequenz der Entwertung des Seins der Dinge signalisiert. Dabei wird die Funktion des Herrschens in Volponis Fabel die einer utopischen Figur in einer antizipierten Zukunft, die neu und einmalig ist, weil ihre Alternative sonst die Zerstörung der menschlichen Gesellschaft wäre. In diesem Zusammenhang wird auch die Figur und die Funktion des Poeten wieder aufgewertet und damit die literarische Funktion neu definiert. Der Poesie – oder der Literatur insgesamt – fällt in diesem Zukunftsentwurf die Aufgabe zu, das Bewusstseins des Seins der Dinge, das allein lebenserhaltend ist, zu wecken und zu propagieren. Dieses 8
Die Philosophie des Averroismus, ein Zweig der Scholastik des 13. Jahrhunderts in Paris, ist die Schule des arabischen Aristoteles- Interpreten Averroes, dessen Lehre von einer einheitlichen überindividuellen menschlichen Vernunft (intellectus agens) die Grundlage geworden ist einer Doktrin des »Monopsychismus«.
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Die Lyrik des Spätwerks
rettende Prinzip formuliert und äußert der einsichtige Herrscher in den Worten: »Mit mir wirst du leben und mit mir wirst du begraben./Ich vergänglicher Körper eines Königs der Sterblichen. Du dagegen der du entnimmst/Zahlen und Gestirne dem himmlischen Gewölbe.« [V. 46-48] In den letzten Worten des prophetischen Spruchs werden auch der planetarische Raum und die Gestirne in die Bewusstseinsbildung des Ganzen einbezogen. Eine Konsequenz, die sich aus der Veränderung des Naturbegriffs ergibt, ist, dass auch das Sein des Menschen in der Darstellung der Gedichte eine einschneidende Veränderung erfährt. Und das betrifft in der Substanz die Konzeption, die die bürgerliche Kultur seit der frühen Neuzeit sich vom Menschen als Individuum und noch radikaler als Person gemacht hat, wodurch das gesellschaftliche Phänomen der Separierung von der Natur und die psychologische Problematik der Vereinzelung in der Vergesellschaftung des Menschen maßgeblich in die Richtung der Entfremdung gedrängt worden ist, die die frühe Dichtung Volponis so eindringlich geschildert hat. Was in der Poesie des frühen Volponi als Separierung und Vereinzelung im Sinne eines existentiellen Traumas erscheint und was im späteren Werk als »cognizione del dolore«, die Welterkenntnis mittels des Schmerzes, festgeschrieben hat, wird in den nächsten Phasen der Entwicklung des Werkes zwar in Frage gestellt und als Relikt bürgerlicher Gefühlskultur verworfen und bekämpft, bleibt aber als Erfahrung im Hintergrund und auch immer verbunden mit der Kritik Volponis an den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen. In einem der Schlüsseltexte unseres Gedichtbands, betitelt Per questi versi – [Für diese Verse] [S. 28-29], kommt der gealterte Poet zurück auf diese frühe Problematik von Separierung und Vereinzelung, auf die Geschichte, die jetzt bezüglich der Erfahrung des Subjekts als dialektischer Prozess gesehen wird. Es geht um die Frage der Identität bzw. des Seins der Person, über deren Konstituierung die Sozialisierung entscheidet. Zwei Phasen dieser Sozialisation werden unterschieden: eine frühe, die zur Separierung des noch jugendlichen Subjekts in der traumatisierenden Situation der Familie führt, sowie die spätere politische Sozialisierung, die diese frühe Erfahrung in Frage stellt und negiert. Das Sein der Person ist ein relatives Sein und gesellschaftlich vermittelt, was die ersten Verse in der folgenden Aussage formulieren: Ciò che di me sopravvive alla mia paura appartiene interamente agli altri. Non debbo nemmeno più giudicarlo pesarlo: solo farlo riconoscere e farlo prendere dagli altri. Nemmeno più curarlo a mio giudizio; non più osservarlo resistere e disporsi nei modi convenienti; nemmeno per guardarlo cedere e guastarsi. [V. 1- 11]
Das was von mir meine Angst überlebt gehört gänzlich den anderen. Ich darf es nicht einmal mehr beurteilen und abwägen: nur erkennen und hinnehmen lassen von den andern. Nicht einmal mehr daran denken in meinem Urteil; nicht mehr es beobachten widerstehen und sich einstellen in einer passenden Weise; noch nicht einmal um es anzusehen nachzugeben und daran kaputt zu gehen.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Das sich erinnernde Subjekt nimmt eine Trennung seines Seins vor und beansprucht für sich die traumatische Erfahrung des leidenden Ich, das sich mit seiner Angst identifiziert. Diese ist seine ursprüngliche Existenz, getrennt von dem sozialisierten Leben der Anderen, das es damals verworfen hat und das es jetzt als den Bestandteil der Anderen am eigenen Sein anerkennt Damit aber muss es auch als real und tatsächlich akzeptieren, wogegen es sich in seiner primären Sozialisation zur Wehr gesetzt hat, was die Verse 5 bis 11 zum Ausdruck bringen. Eine Art dialektischer Umkehrung hat sich ereignet, darin bestehend, dass mit der Anerkennung des kapitalistischen Wiederaufschwungs in der Nachkriegszeit seitens des späteren Subjekts der reale Geschichtsverlauf gegen die illusorische Wirklichkeit des frühen Subjekts als gültig bestätigt wird, und dass damit die Auffassung des frühen Subjekts von der Einheit von Natur und Welt als widerrufen erscheint, als Wiederbelebung lediglich eines Mythos, der auf die frühkindliche, d.h. symbolische Auslegung der Wirklichkeit zurückgeht. Es scheint hier, dass Volponi mit dieser Umkehrung die Berechtigung des Mythos selbst in Frage stellen wolle, d.h. die Auffassung vom universellen Lebenszusammenhang, die im Grunde dieser Mythos beinhaltet und die von Anfang an die Substanz des Poetischen im Werk Volponis ist und es auch bleiben wird. Mit dieser Begründung des Poetischen aber war untrennbar verbunden die Erfahrung des Leids des frühen Subjekts, die nicht zu negieren ist, die aber jetzt als die Welterfahrung aus der Perspektive der »cognizione del dolore« in Frage gestellt wird. Das späte Subjekt, indem es das, was es erfahren hat, in die Sozialisierung der Anderen integriert, distanziert sich damit von der Einstellung, seine Erfahrung vom Standpunkt des Leids zu beurteilen. Non più temere, ormai avido e imparziale accidenti e malanni [V. 12- 13]
Nicht mehr fürchten, hinfort begierig und ungerührt Vorfälle und Unheil
Die hier angedeutete Integration in das Leben der Anderen propagiert die Überwindung des Leids und wird quasi zum Programm gemacht – trotz der nicht zu übersehenden Einwände gegen die Unparteilichkeit [imparziale] der anderen – was das nächste Gedicht Una misura zum Gegenstand machen wird – gegenüber: disagio, mortificazione, impotenza – Unbehagen, Demütigungen, Unvermögen [V. 17]. Die zweite Verssequenz [V. 21-34] wiederholt die oben getroffene Feststellung in der Aussageform […] che i dispersi elementi della persona che ritenni mia ormai e per il corpo e per la mente sono usciti da me […] [V. 23- 26]
[…] dass die verstreuten Elemente der Person die ich als meine betrachtet habe nunmehr als Körper und Geist aus mir geschieden sind […]
dass sie aber in die Geschichte eingegangen sind, in der die Zivilisation in eine Richtung abtrieb, in der die zerstörerischen und tödlichen Momente der Herrschaft dominierten. 460
Die Lyrik des Spätwerks […] per la debole e ria
aus Gründen des schwachen und schuldigen Existenzbewusstseins und der wütenden Gier der Fortpflanzung, die die Theorie der Geschichte verhängt als Zahn für Zahn wie eine tödliche Falle auf allen Wegen aufgestellt,
coscienza della vita e per la furente brama di generazione che la teoria della storia ha disposto e dente per dente come una tagliola, messo su ogni via,
und mit Bezug auf die Menschen schließt die Sequenz. per tutto questo che vale proprio niente, ancora continuano in cieca compagnia. V. 29- 34].
um all dessen was eigentlich nichts wert ist, fahren sie fort in blinder Gefolgschaft.
Die Zerstreuung der Person auf die verschiedenen Momente des Sozialisierungsprozesses, die das Thema ist, das Volponi hier neu in die literarische Darstellung einführt, wird mit einer Geschichtsperspektive verbunden, in der der Sozialisierungsvorgang noch einmal neu bewertet wird. Das spätere Subjekt, das hier wieder spricht, kehrt den geschilderten Vorgang der Integration der Person in die Gesellschaft wieder um, indem es den frühen Anteil des traumatisierten Ich an der Person politisch aufwertet gegen Interpretationen, die ihn als Krankheit oder normwidrig im öffentlichen Diskurs diskriminieren [V. 35-45]. Die Kritik am Sozialisationsprozess in der Phase des Kapitalismus weitet sich in Una misura – [Ein Maß] [S. 53] aus zur Kritik an der Konzeption des Lebens, das unter den Bedingungen kapitalistischer Rationalität nicht mehr als Leben, d.h. nicht mehr als lebenswert gesehen wird. Der Titel Una misura bezeichnet ein anderes Maß im Sinne eines anderen Lebens oder – wie man es auch im Sinne der vita nova Dantes verstehen könnte, als die Erneuerung des Lebens in der irdischen Existenz. Der Gegenstand der Analyse ist die Problematik der Gefühle in der bürgerlichen Sozialisation im Übergang zu einer Kultur der Sinne, parallel zu Volponis Entdeckung und Erforschung der Beschaffenheit der Materie. Die grundsätzliche Veränderung dieses Übergangs wäre darin zu sehen, dass das Gefühlspotential verlagert wird in die wahrnehmenden Fähigkeiten der Sinne als Funktionen menschlicher Orientierung in der Welt: Wahrnehmung und Orientierung in Begriffen von Sensibilität – Reaktionsfähigkeit – Verstehen – Solidarität. Volponis Analyse setzt mit der Feststellung ein, dass die Gefühle zwar immer noch beobachtet und beschrieben werden können, dass sie aber nicht mehr empfunden und verstanden werden.9 Ogni emozione ormai posso solo osservarla, reggerla per descriverla correttamente
9
Jede Gefühlsregung kann ich nunmehr nur beobachten, sie festhalten um sie korrekt zu beschreiben
Verweis auf die Figur der Sapho.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte con una frase aderente e che stamparla
mit einem passenden Satz und der zu drucken leicht und unmittelbar sei, nicht im Verstand, sondern auf der Druckerbank, um sie dort niederzulegen
sia facile e immediato, non nella mente, ma sul banco pronto davanti, a depositarla [V. 1- 5]
Die Verbindung, die hier zum Buchdruck schon angedeutet wird, führt unmittelbar zur Literatur als dem Ort bürgerlicher Kultur, dem die Pflege und Verfeinerung des Gefühlspotentials der Gesellschaft im besonderen Maß anvertraut ist. Aber der Weg der Institutionalisierung, den die Literatur eingeschlagen hat,10 hat diese gesellschaftsbildende Funktion eher umgekehrt in die Festschreibung von Wahrnehmungen und Erfahrungen, die die Literatur zunehmend von den existentiellen Erfahrungen der Menschen entfernt und abgelöst hat. Diese rückentwickelte Funktion wird im Gedicht in der Formulierung umschrieben:– »am Faden des dünnen Speichels meiner bewusstseinslosen Auszehrung« – [»nel filo dell’esile saliva della mia incosciente/consunzione«] [V. 6-7]. Um die Gefühle noch am Leben zu halten, bedarf es Maßnahmen, die von außen her auf sie einwirken: die Religion = Frömmigkeit sowie Schule und Politik = Moral und Gesetze. [V. 8] Wird hier auf die Kulturindustrie angespielt, so wird in den folgenden Versen die durch die Massenmedien noch geschürte zurückgebliebene Sensibilität des Publikums charakterisiert: come andrebbe per consuetudine demente
als ginge es [für die Literatur] darum, sie [die Gefühle] in ihrer schwachsinnigen Beständigkeit in ihrer Gegenwart Schritt für Schritt mildern zu wollen, zu verzärteln, zu zerlegen, als ein abgegriffenes Sprichwort zu behandeln, das immer leerer wird: Klang der von nichts mehr spricht und zu niemanden und häufig lügt gegen die Wahrheit der Zeit. […]
alla sua presenza che si volesse via via temperarla, carezzarla, scomporla, ricorrente proverbio, sempre più svuotato: suono che non parla più di niente e per nessuno e che spesso mente contro la verità del tempo. […] [V. 10- 15]
Die auf die Drucklegung und über diese auf die Verschriftung der Gefühle Bezug nehmenden Verse weisen darauf hin, dass die im Druckkasten vorhandenen Buchstaben die freie Entfaltung der Sätze und der sprachlichen Sequenzen behindern: […] tanto che attente non più stanno in ordine le prime lettere
[…] so sehr dass wie zu erwarten, die ersten Lettern nicht mehr an ihrem
10 Wogegen sich Sartre in einem Artikel schon in der frühen Nachkriegszeit ausgesprochen hat. Siehe Jean- Paul Sartre: »La nationalisation de la litteratur«, in: Le Temps Modernes, Nr. 2, Nov. 1945.
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Die Lyrik des Spätwerks e a mutarla quasi di senso […]
Platz sind und ihren Sinn [den der Gefühle] quasi verkehren […]
[V. 16- 18];
wenn zwei Konjunktionen, die die Sätze verbinden sollen, sich in den Abständen der bleiernen Lettern verlieren und das Gefühl in diesen Abständen verschwinden lassen, so scheint sich darin ein »intelligente disastro«, ein verständliches Unheil zu manifestieren, che voglia annunciare e anche prepararla, un’altra superficie o un’altra gravità nella nascente ignota fase, contraria e micidiale come immaginarla […] [V. 21- 23].
das offenbar ankündigen und vorbereiten will, eine andere Oberfläche oder eine andere Schwere mit der Geburt einer unbekannten Phase, gegensätzlich und tödlich, wie sie zu imaginieren wäre […]
Diese paradox scheinende Verbindung von Neuem, das zugleich als »Unheil« und »tödlich« bezeichnet wird, ist aber das, was als eine »andere Oberfläche« und als ein verändertes Maß von einer Zukunft erwartet wird, die das Leben lebenswert macht. Oberfläche meint hier zugleich die Welt auf der sich die veränderten Verhältnisse neu formieren wie die Fläche, auf der sie die Schrift wieder abbilden kann. Die Schlusssequenz, von Vers 24 bis 31, beschwört eine Welt, in der die bürgerliche Gefühlskultur einer Wahrnehmung des Wirklichen weichen wird, vor der allerdings die Gegenwart des Tatsächlichen zurückschreckt, weil sie an nichts anderes gewöhnt ist als das, was sie kennt und an eine Veränderung der irdischen Verhältnisse nicht mehr glauben kann: abbiamo sempre voluto fare preda dell’indulgente gusto a non vivere, ad adagiarci soltanto per ingannarla: la vita, singola e universale, nel panico travolgente di non potere avere mai una misura giusta e mai adoperarla, che in ogni caso contro di sé, brutale e furente si sarebbe rovesciata: mai la vita, mai affrontarla: patire, provare, descrivere, ripetere, e sempre impertinente ritrarsi, approfittare, godere, deprecarla.
wir haben immer uns zu eigen machen wollen die nachlässige Gewöhnung nicht zu leben, uns abzufinden es vorzutäuschen: das Leben, das einzelne und universale, in einer uns mitreißenden Angst nie ein richtiges Maß finden zu können und nie es anwenden zu können, da es jedenfalls gegen sich selbst, brutal und voll Wut sich umgekehrt hätte: das Leben nie, niemals sich ihm stellen: erleiden, probieren, beschreiben, wiederholen, und immer frech sich in Szene setzen, Profit machen, genießen, es verwerfen.
[V. 24- 31].
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Das Phänomen der Angst aus der Kindheit des Subjekts kehrt hier wieder, verallgemeinert und angewachsen zu einer Angst der Menschheit davor, ihre Existenzweise zu verändern, in das Leben zu verwandeln, das wert ist, gelebt zu werden, in welchem sich der entfremdete Wert des Einzelnen und des Universalen aus der Vereinnahmung durch das Kapital befreien kann. Hier wieder begegnen wir dem Motiv, das Volponis Auffassung vom vergesellschafteten Leben mit der Intention Lukrez’ vergleichbar macht, die Menschen von der Angst zu befreien, die sie vor den Göttern und den Mächten haben, die sie ihrer eigenen Unwissenheit zu verdanken haben. Die Rationalität, die sich hier gegen die zweckentfremdete Vernunft der Macht, der ökonomischen und politischen, wendet, ist bei beiden Autoren die Ratio, die der Natur der Dinge inhärent ist, d.h. die Vernunft, die den Lebewesen ihr Daseinsrecht verleiht. Una misura ist das Gedicht, das diesem Daseinsrecht die Vernunft des universalen Lebenszusammenhangs zugrunde legt und die Verschriftung des Realen für ein anderes Leben programmiert, wie es die historischen Avantgarden exemplarisch in der Formulierung Rimbauds als Kampfparole verkündet haben: »changer la vie!«
III. Subjekt und Geschichte? Das Gedicht, betitelt La meccanica – [Die Mechanik] [S. 23-25], weist im Titel schon auf einen Schlüsselbegriff der Lebenskonzeption Volponis hin, der in einem frühen Romantitel schon erschienen war, nämlich La macchina mondiale, und der die organischen Funktionen der gesellschaftlichen Existenz des Menschen gedeutet hat als im wesentlichen gelenkt und getragen von mechanischen Abläufen im Organismus. Der Begriff, der in diesem Gedicht wieder aufgegriffen wird, weist jedoch auf ein Verständnis von Mechanik hin, das in der Phase der kapitalistischen Zweckrationalität jegliche progressive und befreiende Bedeutung verloren hat und ausschließlich den Zwecken der Akkumulation von Kapital im Privatbesitz unterworfen ist. Um es mit einem Wort zu sagen, es handelt sich in der Phase kapitalistischer Industrialisierung um eine falsche oder verfehlte »meccanica«, welche statt gesellschaftlichen Nutzen zu produzieren den Status der zivilen Existenz abgewertet hat. Ohne Umschweife und radikal beschreibt das Gedicht die Verschlechterung dieser Fähigkeit und damit auch der Dienstleistungen, die der Kollektivität zugute kommen sollten. Non si possono più intraprendere viaggi, né sono praticabili percorsi di conoscenza; non ci sono più luoghi di contrasti e di formazione non la veemenza dei maestri […] […] la lingua stessa è tramandata così come la scienza è finita con una fissione, tradita la rivoluzione […] […] l’esperienza proibita, l’identità filtra-
Man kann keine Reisen mehr unternehmen, noch Bekanntschaften aufrechterhalten; es gibt keine Orte mehr der Kontraste und der Bildung, nicht mehr die Strenge der Meister […]; […] die Sprache selbst ist vorgefertigt, wie auch die Wissenschaft fixiert ist, verraten die Revolution […] […] die Erfahrung ist verboten, die Identität gefil-
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Die Lyrik des Spätwerks ta tra le norme e l’assenza dei personaggi […] [V. 1- 12]
tert zwischen den Normen und der Abwesenheit der Personen […].
Diese Formulierungen, die in ihrer Radikalität eher paradox anmuten, sind aber zu lesen als die Formulierung totaler Entfremdung. Der negativen Charakterisierung des kapitalistischen Managements wird die kreative Fähigkeit der vergesellschafteten Organisation der Produktion in der dritten Verssequenz entgegengesetzt: tecnica e strategica, tattica preveggenza dei valori, mezzi, straordinaria impresa, urgenza di materiali, capi d’incontrastata fede e competenza, capaci di comandare a oltranza pur nella dura vertenza politica, sociale e amministrativa nonché nell’emergenza sindacale […] [V. 42- 52]
technische und strategische Voraussicht der Werte, Mittel des außergewöhnlichen Unternehmens, Dringlichkeit der Materialien, Produktionsleiter von unfraglicher Zuverlässigkeit und Kompetenz, fähig zu führen in allen Lagen, auch in den harten Auseinandersetzungen, politischen, sozialen und administrativen, sowie den gewerkschaftlichen Fragen […].
In dieser stichwortartigen Aufzählung von Anforderungen an eine nicht mehr kapitalistisch organisierte Produktionsweise werden vor allem die kreativen Leistungen hervorgehoben, die den eigentlichen Bereich der Produktion, die Planung und Organisation der Arbeit betreffen, in welchen Volponi die demokratischen Leistungen einer sozialisierten Ökonomie von Anfang an gesehen hat und die er fundiert sieht in den kreativen Fähigkeiten der Arbeiter, in ihrer geschärften Wahrnehmung der realen gegenständlichen Bedingungen der Produktion, in der der eigentliche Wert der Güter und Produkte real geschaffen wird, ehe er in der kapitalistischen Verwertung als Wert der Ware neu definiert und entfremdet wird. Die Dienstleistungen, die in der ersten Passage zitiert worden sind, sind solche zur Ware umdefinierten Güter, die dem Konsum dienen und allein als Waren zur Reproduktion des Kapitals genossen werden können. Sie sind keine Güter mehr im Sinne von »Lebensmitteln«, sondern dienen allein der Reproduktion der schlechten Verhältnisse, aus denen, um mit Adorno zu sprechen, kein gutes Leben hervorgehen kann Die Bedrohung, die nicht nur der Gesellschaft sondern der Welt überhaupt aus dieser Verfälschung der Werte erwächst, wird aus der Perspektive ihrer mögliche Zerstörung in der folgenden Verssequenz beschworen: eppure muto il mondo transita bruciando, e senza luce ed il suo polo attra-
und dennoch die Welt zieht vorüber verbrennend, und ohne Licht und ihr Pol legt
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte cca sulla morbida desinenza dell’ansia, cupida e distratta, inevitabile essenza, dello spirito civile astratta cecità, disparità, clemenza messa a recitare tragedie borghesi, l’apparenza dei ruoli, la carriera e la trama come conoscenza del vero, norma, […] [V. 21- 33]
an an der weichen Endung der Angst, gierige und zerstreute, unvermeidliche Essenz, des zivilen Geistes abstrakte Blindheit, Ungleichheit, Milde beim Rezitieren bürgerlicher Tragödien, den Schein der Rollen, die Karriere und die Intri ge als Erkenntnis des Wahren, der Norm […].
Das Gedicht schließt mit der Zuversicht, dass gegen den zivilen Verfall dieser Gesellschaft ein Subjekt sich erhebt: uno che insorga e stravolga ogni senso della sua stessa esistenza e di quella generale, civile, che trapassa ogni singola coscienza.
eines das aufsteht und umstürzt den Sinn seiner eigenen Existenz und der allgemeinen, zivilen, der jedes vereinzelte Bewusstsein überwindet.
[V. 99- 102]
Die Alternative zu diesem Verfall wäre eine immerhin denkbare Utopie, in der aber selbst schon die Widersprüchlichkeit des Zukünftigen enthalten ist. In La dimora – [Die Wohnstätte] [S. 54-55] ist es eine utopische Dimension von Ort und Zeit, in der die Heimstätte des Menschen auch als »città« vorgestellt oder vorerst als reines Gedankenspiel angedeutet wird. Die Beschreibung dieser Stadt erfolgt über weite Strecken in negativen oder verneinenden Termini, wie incontenibile (uneingrenzbar) oder incontentabile (nicht zufriedenstellbar), was die Unbestimmtheit von Verhältnissen anzeigt, die noch nicht real sind, aber zum Teil auch auf die Offenheit und Unbegrenztheit der Raum-Zeit-Dimensionen bezogen werden kann. Die Feststellung der Eingangsverse ist schon in Form von Bedingungssätzen formuliert: Se la città è incontenibile anche la regressione è incontentabile […]. [V. 1- 2]
Wenn die Stadt uneingrenzbar ist, so ist auch das Zurückkehren zum Alten unbefriedigend […].
Die beiden Sätze sind in einer logisch nicht unmittelbar erkennbaren Beziehung zueinander zu verstehen, was illustrieren könnte, was Volponi unter »congiunzione«, der freien Verbindung von Sätzen versteht11 oder in diesem Gedicht unter »consonanza« von »due grida in una incomprensibile/voce« [die Konsonanz zweier Schreie in einer unverständlichen Stimme] [V. 2728]. Die beiden Bedingungssätze sind in ihrer Geltung in sich selbst zu verstehen und erst in zweiter Linie in Abhängigkeit voneinander. Sie besagen jeweils Dinge, die für sich gelten und die nur der Leser – der Fremde in Figu11 Siehe in Una misura, Vers 18.
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Die Lyrik des Spätwerks
re per un romanzo – in einen Zusammenhang bringen kann oder bringen soll. Die Stadt ist also nicht eingrenzbar, was der von Volponi propagierten Offenheit des Raums entspricht. Wenn es sich andererseits um eine utopische Konstruktion handelt, dann soll auch nicht in der geschichtlichen Vergangenheit nach Modellen gesucht werden. Unter diesen Voraussetzungen wird der Begriff der Utopie eingeführt und beschrieben come un vecchio ramo e immutabile, teso verso un alto colore credibile […] un punto stabile crescente e aperto, raggiungibile e, per certo, sicuro e manovrabile. [V. 5- 8]
wie ein alter Ast und unveränderbar, gerichtet auf eine hohe glaubhafte Farbe […], ein fixierter Punkt, wachsend und offen, erreichbar und gewiss, sicher und manovrierbar.
Diese z.T. widersprüchliche und rätselhafte Charakterisierung oder Umschreibung des Begriffs einer veränderbaren Situation geht zunächst aus von einem unveränderlichen Phänomen, dem Ast eines Baums, dem aber eine Dynamik der Bewegung inne ist, auf einen Punkt gerichtet, von dem aus die Bewegung nach allen Richtungen offen ist und dadurch von den in die Bewegung einbezogenen Kräften verwendbar oder manipulierbar wird: da condurre il più lontano possibile avanti, indietro: a incommensurabile sito, spazio, corpo, file di tutte le cose e di ogni pensabile residuo, pena, scena; […] [V. 9- 13]
um so weit wie möglich weiterzuführen, nach vorn, zurück: zu unermesslichen Orten, Räumen, Körpern, Reihen aller Dinge und jeglichen denkbaren Überresten, Schmerzen, Szenen; […]
Das aber ist in der Substanz die Umschreibung des offenen Raums und der Vieldimensionalität der Poetik des Seins der Dinge, wie sie Volponi, wie wir meinen, im Sinne der »rerum natura« Lukrez’ verstanden und in der letzten Phase seines Werks zugrunde gelegt hat. Die Offenheit einer Entwicklung auch des menschlichen Seins, wie sie in der Erkenntnis durch eine veränderte Wahrnehmung als möglich erscheint, wird aber im selben Gedicht in seiner zweiten Hälfte auch interpretiert als bedingt durch die Notwendigkeit, die materiell die Existenz der gegenständlichen Welt innerhalb stringenter Grenzen hält. Dass die menschliche Zivilisation an Grenzen gestoßen ist, die erst aus der Sicht materieller Notwendigkeit überhaupt veränderbar erscheinen, wird in den folgenden Versen unmissverständlich formuliert: Non più la poesia, non il più affidabile progetto di scienza né la più sottile astuzia, né l’indulgenza più adattabile possono più aiutare a un qualsiasi gentile modo, non più a un’adatta e stabile
Nicht mehr die Poesie, nicht das begründete Projekt der Wissenschaft, auch nicht der feinste Scharfsinn oder die angepassteste Nachsicht können mehr zu einem freundlichen Einvernehmen verhelfen, auch nicht zu einer angemessenen und stabilen
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte dimora: no, no, solo la più vile delle paure, […], la più insensata […] [V. 18- 26]
Heimstatt: nein, nein, allein die niedrigste der Ängste, […],die unsinnigste […]
ist noch in der Lage, die Menschen der gegenwärtigen Zivilisation in geeigneter Weise zu sozialisieren. Die Zustände, die bis zum Ende des Gedichts als die in dieser Zivilisation herrschenden beschrieben werden, sind die einer Gesellschaft und ihrer Stadt, die auf die Stufe der primitiven Natur zurückgeworfen, wieder auf diesem Niveau mit ihrer Rekonstitution beginnen muss: die Stadt in principio come bella, pronta fecondabile foresta con albero di caffè, d’immobile come di mobile valore, mai raggiungibile,
im Prinzip als schöner, schnell fruchtbar zu machender Wald mit Kaffee- Bäumen, von unbeweglichem wie von beweglichem Wert, nie zu erreichen, [der Schlussvers endet mit einem Komma]
[V. 42- 45]
Per un bronzo museale – [Für ein Bronzedenkmal im Museum] [S. 56-57] ist das Gedicht, das die Thematik einer anderen Vergesellschaftung des Menschen verbindet mit dem möglichen Verlauf der Geschichte, der das Überleben der Menschheit sichern könnte. Der Titel ist die Anspielung auf eine Figur, die, wie aus vielen Details erhellt, den antiken Philosophen Sokrates repräsentiert, der aber nicht genannt wird, weil Volponi offenbar die Individualisierung der Figur vermeiden will, die die kollektive Erfahrung und ihre Vernunft im Sinne der Ratio versinnbildlichen soll. Sokrates ist diese Figur des kollektiven – universellen – Verstands, der Ratio als Erfahrung und des Verstehens in der Verbindung von Einzelnem und Universalen, in der Sartreschen Formulierung von »universel singulier«. Diese Verbindung im Modus der Erkenntnis wird ausgedehnt auf die historische Erkenntnis und den Verlauf der Geschichte, die nach denselben Prinzipien der kollektiven Erfahrung zu analysieren wäre, wenn es ihr gelänge, historisch die Kontrolle über die Macht zu erringen und zu konsolidieren. Die Bronzefigur, die der Erzähler im Museum der Akropolis sieht und bewundert, und mit der er in einen Dialog eintritt, ist selbst die Figur des Dialogs, si dispone a dialogare con senno, conoscenza e individuale atteggiamento, ma all’istante a versare un intero poema corale […] [V. 3- 6]
sie schickt sich an zu einem Dialog mit Verstand, Kenntnis, in individueller Weise, aber dann auch in Art eines kollektiven Gedichts […]
Ihre Rede vereint also das Einzelne und das Allgemeine oder transformiert das Singuläre ins Universale, und sie fügt wieder zusammen, was in der Existenz zerstreut worden ist, wovon in Per questi versi gehandelt worden war. Von dieser »ricongiunzione« [Wiederzusammensetzung], die im Begriff »pensiero fisso« synthetisiert, was in den Phänomenen getrennt ist, handeln 468
Die Lyrik des Spätwerks
die folgenden Verse, die die Wirkung der Rede der Figur beschreiben, in der sich der Erfahrungswert der Dinge in neuen Begriffen dokumentiert. Sie handelt: […] Di una vocale ricongiunzione, di un pensiero fisso sul trono perenne, secolo per secolo, sulle mura, sulla materiale composizione della città e dei campi […] [V. 9- 11]
[…] Von einer vokalen Wiederzusammenfügung, eines festen Gedankens [im immerwährende Wertehorizont der Dinge bezüglich] der Mauern, der materiellen Zusammensetzung der Stadt und der Felder […].
Sie macht aber auch deutlich, […] quale comune, incolmabile distanza tra l’essere e il sono in ogni istante, per miseria o gloria […] [V. 13- 15]
[…] welche gewöhnliche, unüberbrückbare Distanz besteht zwischen dem Sein und dem ich bin, in jedem Moment, zu unserem Elend oder Ruhm […]
Aber in dieser Rede sind auch die Machtverhältnisse gemildert, die Ausübung der Macht vereinbar mit dem Wohl der Gesellschaft: […] Il tuono
[…] Der Donner [der Macht vereinbar mit] dem Denken, mit der Arbeit auf dem Acker, mit dem Übel, das geteilt wird.
a reggere con un teorema, lavorare la terra, spartire il male. [V. 16- 17]
Dass in der Figur Sokrates gefeiert wird, geht einwandfrei aus den Versen hervor, in denen die Figur als »Schüler« bezeichnet wird, der seine Mitbürger wie ein »Meister« befragt und vor dem der Erzähler wieder als Fragender steht; an dem Ort der Akropolis, der Festung auf dem Felsen, der unbefestigt jedem Angriff ausgesetzt ist, aber den Zeiten widerstanden hat [2. Verssequenz]. Die zwei abschließenden Sequenzen sind wieder der eigentlichen Größe des antiken Philosophen gewidmet, dem verstehenden Denken, das die Erfahrungen der Menschen ergründet und für sie selbst verständlich macht. Und dieses Denken wird in den Versen in Bildern des Lichts und seiner Strahlen sowie des Blicks dargestellt, der die Dinge in ihrer sinnlichen Erscheinungsweise erfasst, exemplarisch wiedergegeben in den Versen: Tu ti concentri piuttosto che sui suoni sul silente accadere ai raggi interno e dentro la corrente, infinita sempre, sempre più vasta, rapida e sfuggente […] [V. 35- 38]
Du konzentrierst dich statt auf die Töne eher auf das schweigende Geschehen der Strahlen im Inneren des Stroms, unendlich immer und immer umfassender, schneller und fliehender […]
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Der Strom, der hier im Inneren der Dinge lokalisiert wird, ist an anderen Stellen des Werks Volponis als das Fließen der Energien charakterisiert worden und verweist jetzt erneut auch auf die nukleare Beschaffenheit der Materie, wenn die Distanz der Neutronen im Inneren des Atomkerns bildlich bezogen und gleich gesetzt wird mit der »incolmabile distanza tra l’essere e il sono« [der unausfüllbaren Distanz zwischen dem Sein und dem Ich bin] [V. 14]. Dem Terminus »corrente« (Strom) begegnen wir wiederholt im letzten Gedichtband Volponis – und in dem hier einschlägigen Sinn v.a. in I cardini [Strophe 3] sowie in Le cose di Mao [V. 7], auf welche Passagen wir wieder zurückkommen. Der Blick des antiken Denkers dringt ein in das Innere der Erscheinung und erfasst den Strom der Bewegung wie erhellt durch Strahlen, die den Strom erkennbar machen, von dem die Erscheinungen getragen und bewegt werden. Natürlich sind das – trotz allem Anspruch auf Konkretheit – bildhafte Vergleiche, die die Imagination aber auf Vorgänge lenken, die sich im Inneren der Materie und damit auch unserer Körper abspielen. Das Strömen der Energie macht nicht halt an den Grenzen der vereinzelten Körper, sondern greift über auf die angrenzenden Bereiche der Materie, was auf die psychischen Vorgänge zu übertragen ist und dort auf die Energieströme, die Freud und die Psychoanalyse als Libido bezeichnet haben. Diese Rückbeziehung des Strömens der Materie auf die psychischen Verhältnisse und Vorgänge nimmt Volponi aber in der letzten Verssequenz vor, wenn er die Kontrolle und die Steuerung der Ströme auf die Figur bezieht, die als Sokrates den Geist, den Verstand oder die Ratio verkörpert. Das Prinzip der Ratio, die Kraft des Verstandes, die den Fluss der Energien lenkt, aber auch die Flüsse, die die Oberfläche der Erde durchziehen, kontrolliert, ist das Vermächtnis des antiken Philosophen, das Volponi sich zu eigen macht und das er in diesem Gedicht in der Figur des Denkens im Sinne des Verstehens kollektiver Erfahrung neu zu interpretieren versucht. Das längste Gedicht der Sammlung, betitelt Il cavallo di Atene [Das Pferd von Athen] [S. 33-43], ist auch die Komposition, die am beziehungsreichsten und philosophischsten die Konzeption des veränderten Naturbegriffs beleuchtet und letztlich dessen Bedeutung illustriert hinsichtlich der Geschichtsauffassung und Geschichtsinterpretation Volponis. In diesem Gedicht werden die verschiedenen Ebenen der Thematik dieses Bandes – und z.T. auch des ganzen Werkes – in einer Weise zusammengeführt, die wieder die Strukturbereiche des Gesellschaftlichen im Sinne des universalen Lebenszusammenhangs in den Vordergrund treten lässt. Im Zentrum der Thematik steht die Frage, in welchem Verhältnis zur Geschichte, und deren Bestimmung, das Gesellschaftliche, also Ökonomie, Politik und Kultur, zu sehen sind, bzw. in welcher Richtung sie den Lauf der Geschichte zu lenken vermögen. Wie in anderen Gedichten kann auch hier die Erzählung in mehrere Handlungssequenzen unterteilt werden, was auch zu fragen erlaubt, ob es hier um mehrere Erzählungen geht oder ob die übergeordnete Geschichte nicht nur auf verschiedene Weise interpretiert werden kann, im Sinne der von Volponi vertretenen Offenheit der Texte. Die Geschichte, auf die der Titel des Gedichts hindeutet, spielt im Museum auf der Akropolis in Athen, das der Vater mit zwei Kindern, Junge und Mädchen, besucht. Der Protagonist dieser Erzählung aber ist eine Reiterstatue und ihre beiden Komponenten: das ungestüme, im Sprung vom Boden abhebende Pferd und die kleine Figur eines noch kindlichen Reiters, des ca470
Die Lyrik des Spätwerks
valiere oder fantino, der vom Erzähler von Anfang an mit jeweils einem der beiden Kinder des Besuchers identifiziert wird. Die Mehrdeutigkeit oder funktionale Verschiedenheit der Figuren zeigt sich daran, dass nicht nur die Kinder des Besuchers in verschiedenen Funktionen erscheinen, sondern auch der Besucher gleich in mehreren Rollen auftritt und fungieren muss, nämlich in der des Vaters sowie des Erzählers und schließlich, in der Beziehung zu den Kindern, als das Pferd, auf dem sie sitzen. Der Rollenwechsel der Figuren signalisiert die Beziehungen, in denen sie als allegorische Momente in jeweils verschiedenen Konfigurationen von Raum und Zeit erscheinen: die Statue z.B. im Raum des Museums in einer anderen Bedeutung als im Raum der Geschichte. In dieser Hinsicht kann auch von einer Geschichte der Statue gesprochen werden, einer Geschichte also, die in eine andere Richtung tendiert als die Erzählung vom Museumsbesuch. Als laterales narratives Moment wäre auch die Beziehung zu sehen zwischen dem piccolo fantino, dem kleinen Reiter und dem Schmetterling, die gegen Ende des Gedichts der Geschichte eine erneut sich verzweigende Wendung gibt. Eingeleitet aber wird das Gedicht mit der Eröffnung, die im Grunde einer thematischen Einleitung in den Gesamtzusammenhang des Erzählvorgangs gleich käme, was zu entscheiden aber dem Leser wieder selbst überlassen bleibt, nämlich dem Bekenntnis zum Kommunismus, entnommen einem Pasolini-Zitat12 als Incipit des ganzen Gedichts: »Ich bin Kommunist aus Prinzip der Bewahrung«, wie man diese paradox klingende Formulierung übersetzen könnte: – »Sono comunista per spirito di conservazione«. [V. 1] Diesem einleitenden Vers Pasolinis widmet Volponi die ersten beiden Sequenzen, d.h. nicht weniger als 44 Verse, in denen er Pasolini als den »poeta civile« – den politischen Dichter würdigt, der die historische Krise der 60er Jahre in den italienischen Verhältnissen schon als die definitive Wendung zum Niedergang der Republik angekündigt hat. In zusammenhanglosen Stichworten, als ob schon die bloße Aneinanderreihung der angesprochen Missstände ausreichten, die schwerwiegenden Anschuldigungen gegen den Verfall der Republik zu artikulieren, kennzeichnen die hingeworfenen Äußerungen einen Zustand der gegenwärtigen Geschichte, gegen den der Rückgriff im Gedicht auf die antike Reiterstatue als die strukturelle Thematisierung des Gesamtzusammenhangs zu begreifen wäre. In der einleitenden ersten Verssequenz dienen die Anspielungen auf Pasolinis vernichtende Zeitkritik Volponi dazu, den Ausgangspunkt zu bezeichnen, von dem er den Blick zurückwendet in die Antike und in die Ursprünge einer Geschichtsverständnisses, das in der Konstellation der Reiterstatue das Verhältnis des Menschen zu seiner Geschichte thematisiert. Die Solidarisierung mit Pasolinis Kritik rechtfertigt Volponi in den abschließenden Äußerungen der ersten Verssequenz: Pasolini si sentiva ferito; colpa e delusione opprimevano il suo cuore e anche la sua intenzione di opporsi, di avvertire; la sua stessa disperazione
Pasolini fühlte sich verletzt; Schuld und Enttäuschung bedrückten sein Herz und sein Wille, sich zu widersetzen, zu warnen; seine Verzweiflung
12 Das Pasolini zugeschriebene Zitat konnten wir bisher noch nicht identifizieren.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte gli dava la coscienza della vita e la concrezione della propria vitalità: quindi la destinazione civile e letteraria sopra l’espressione di sé. [V. 16- 21]
gab ihm das Bewusstsein des Lebens und die Konkretheit der Lebenskraft: und folglich die zivile und literarische Bestimmung im Ausdruck von sich selbst.
In der zweiten Verssequenz macht sich Volponi Pasolinis Aussage zu eigen. Auch ich fühle mich, so äußert er, per lo stesso spirito di conservazione, spinto a rivelarmi al mio tempo [V. 24- 25]
aus demselben Geist der Erhaltung gedrängt, mich meiner Zeit zu offenbaren
aber nicht, wie Pasolini, im Sinne einer Religion, sondern eher einer Utopie che si scansa e si oppone ad ogni pratica corrente, corsa, operazione di avanzata ricerca, analisi, conclusione: graduale, pratica, anche se nell’impostazione di una prevedibile, praticabile trasformazione […] [V. 35- 39]
die sich distanziert und widersetzt jeder gängigen Praxis, dem Lauf oder den Operationen fortgeschrittener Forschung, Analyse und ihren Schlussfolgerungen: gradualer, praxisbezogener, im Hinblick auch auf eine voraussehbare, praktikable Veränderung […].
Diese im Prinzip radikale Absage an die politischen Programme auch der Großmächte, die sich als »progressiv« und »avanciert« ausgeben, inklusive der Sowjet-Union, erstreckt sich bis auf das Ende des zweiten Versabschnitts, worauf erst mit Vers 45 die eigentliche Geschichte beginnt: […] la materia ancora informe, fredda della statua equestre del Museo di Atene [V. 46- 47]
[…] die noch ungeformte, kalte Materie der Reiterstatue des Museums von Athen […]
Die folgenden Verse beschreiben in Kürze die Thematik der Reiterstatue: sta al centro di uno spazio un grande cavallo in corsa, criniera al vento, le quattro zampe lanciate in alto per saltare oltre l’evento […] [V. 48- 51)
in der Mitte eines Raums ein großes Pferd im vollen Lauf, die Mähne im Wind, die vier Hufe in der Höhe, um über das Ereignis zu springen
Und unmittelbar anschließend an die vorausdeutende Bemerkung:
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Die Lyrik des Spätwerks Non è subito chiara l’immagine, completa e stupefacente della formazione cavallo e cavaliere [V. 53- 54]
Nicht ist sofort klar das vollständige und verblüffende Bild der Konstellation von Pferd und Reiter
Zunächst ist es der Erzähler, der sich in der Gestalt des Besuchers und Vaters erklärt: Cavallo e cavaliere sono ormai dentro la mia testa a pari del mio parere. Sfrenati e instabili sopra il mio fiato. Sono io il cavallo impazzito, e sopra il mio dorso afferra la criniera uno dei miei figli, senza sito o l’uno o l’altra. [V. 61- 66]
Pferd und Reiter sind nunmehr in meinem Kopf, auf der Ebene meiner Gedanken. Ungezügelt und unstabil, über meinem Atem. Ich bin das verrückt gewordene Pferd, und auf meinem Rücken ergreift die Mähne eines meiner Kinder, ohne Sitz, das eine oder das andere.
Die Konstellation der Figuren wechselt mit der Umdefinierung ihrer Rollen. Der Vater, weiterhin als Erzähler, fungiert als die Inkarnation des Pferdes, und die Kinder abwechselnd als Reiter: I miei figli ancora bambini sono stati messi sulla schiena selvaggia di quel cavallo [V. 77- 79]
Meine Kinder noch klein sind gesetzt worden auf den Rücken jenes wilden Pferdes
Für einen Augenblick kehrt die Beschreibung zurück in die Vergangenheit der Familiensituation, in der der Vater – hier im Bild des Pferdes auf der häuslichen Wiese – ausbricht aus der friedlichen Szenerie: rotta la catena di una domestica, affettuosa doma per la casa e per la contrada: sentieri, carreggiate, sella, soma. Ero il solo cavallo nel campo davanti ai miei figli. [V. 82- 86]
zerrissen die Kette einer häuslichen, liebevollen Zähmung für das Haus und die Umgebung: Wege, Fuhrwerke, Sattel, Traglast. Ich war das einzige Pferd auf dem Feld vor meinen Kindern.
Was hier als Pferd oder Vater in der häuslichen ökonomischen Funktion und in der Familienfürsorge charakterisiert wird, zeigt sich in den folgenden Passagen aber auch in seiner wilden, ungezügelten Leidenschaft. [V. 87-100] Dann aber geht die Darstellung der Konstellation von Pferd und Reiter ab Vers 101 unvermittelt über zur Beschreibung einer Situation, die wir als die eines Krisenmoments der Geschichte verstehen können: I miei figli hanno dovuto montare e anche reggere e controllare
Meine Kinder haben ein Pferd besteigen und es lenken und kontrollieren müssen,
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte un cavallo imprudente e balzano: a esso care soprattutto le corse sfrenate e le gare [V. 101- 104]
das rücksichtslos und bizarr, vor allem den ungezügelten Lauf und die Wettrennen liebt
Und diese Charakterisierung wird auf eine Landschaft bezogen, in der die Spuren der Zerstörung oder Behinderung auf Kriegszustände schließen, die nahe legen, den Zusammenhang mit der Reiterstatue als die Konfiguration des Krieges zu verstehen, jedenfalls als den Ritt durch eine Landschaft, in der in blindem Lauf sich die entfesselte Gewalt der Zerstörung Bahn gebrochen hat. Die Passage mündet in die Beschreibung des entkräfteten, durch die Anstrengung erschöpften oder im Krieg beschädigten Pferdes, »unruhig, zerbrechlich, ungestüm, mit Ausbrüchen und Sprüngen aus dem Gespann« [V. 115-16], an das das erschöpfte Pferd wieder gewöhnt werden muss. [V. 114123] In einer neuen Konfiguration, wird anschließend die Figur des Pferdes jetzt allein oder in einer Situation gezeigt, in der man die Figur als Verkörperung der Zivilgesellschaft sehen und verstehen könnte Nel cavallo con fantino in Atene
Am Pferd mit dem kleinen Reiter in Athen gibt es keine Zügel, Steigbügel noch Ketten.
non ci sono briglie, né staffe né catene. [V. 124- 25]
eine Charakterisierung, die auf die politischen Verhältnisse der Gesellschaft vorausdeutet, die in der folgenden Verssequenz [V. 124-144] im Bild des sich selbst überlassenen Pferdes beschrieben wird. Wir zitieren diese Beschreibung relativ ausführlich, weil sie in seltener Präzision die Merkmale einer Gesellschaft vor Augen führt, die wie die neoliberistische die Züge der globalisierten kapitalistischen Gesellschaften widerspiegelt: Il cavallo è nudo e sciolto e non tiene nulla sopra o accanto a sé; il cavaliere si sostiene alla sua stessa paura, premendo contro le vene più grosse per tenere alta e bene la testa, la vista, l’andatura, le carene del procedere a sorvolare pietre e le terrene fosse o le trasversali alture, dense e piene d’insidie, falle, lame, frane […] [V. 126- 133]. – Il cavallo non ha posizione né direzione né si può capire dove appoggerà la congiunzione con la terra per un’altra spinta e per
Das Pferd ist nackt und ungezügelt und hat nichts über oder neben sich; der Reiter hält sich fest an seiner eigenen Angst, sich pressend gegen die dicksten Venen, um hoch und gut zu halten den Kopf, den Blick, die Gangart, […], um zu überspringen Steine, das flache Gelände, Gräben oder die quer verlaufenden Erhöhungen, dicht und voll von Hinterhalten, Lücken, sumpfigen Niederungen, Erdrutschen […] Das Pferd hat keine Position und keine Orientierung, noch weiß es, wo es die Verbindung mit der Erde finden soll zu einem wei-
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Die Lyrik des Spätwerks l’assunzione di altro volo e transito in sospensione. [V. 136- 39].
teren Anlauf und zu einem neuen Flug und einer Vorwärtsbewegung im Verharren.
Das Pferd, so heißt es schließlich, ist kein Objekt, das Gefühle erregt, es ist das gesellschaftliche Sein, das in einem Zustand erscheint, den der Text charakterisiert als »verrückt, entfesselt, beherrscht von seiner eigenen Verlorenheit oder Verderbtheit« – »folle, sfrenato, invasato dalla perdizione/di sé« [V. 141-42]. Dieser Verbildlichung des Pferds, das die sich selbst überlassene Zivilgesellschaft verkörpert, ist für den Leser, der mit den politischen Schriften Volponis vertraut ist, zu entnehmen, dass hier Lebensverhältnisse gespiegelt werden, die, wie es im Text heißt, »wild«, d.h. ohne Ordnung und ohne Orientierung den privaten Interessen und ihrer Durchsetzung freien Lauf lassen, Interessen also, die durch die Politik, die im Bild der schwache, fast hilflose »fantino« vertritt, nicht mit dem Allgemeinwohl vermittelt werden. Offensichtlich ist, was die politischen Analysen Volponis schon erwiesen haben, dass der Ökonomie, d.h. der Kapitalvermehrung, die Herrschaft über die Zivilgesellschaft zugefallen ist und dass die Politik – der kleine Reiter – die Zügel über das gesellschaftliche Geschehen verloren hat. Einer erneut veränderten Konstellation der Figuren begegnen wir in der Verssequenz [V. 145-164], wo die beiden Komponenten der Reiterstatue in einer neuen Beziehung zueinander gesehen werden, und zwar im Verhältnis sich ergänzender gesellschaftlicher Kräfte, in einer Phase, in der zwei Momente eines zivilisatorischen Fortschritts, wie wir meinen, in einer abgestimmten Folge gezeigt und beschrieben werden; und zwar der Bau von religiösen Kultstätten und menschlichen Wohnbereichen, nachdem kriegerische Auseinandersetzungen bis zu dem Punkt geführt haben, wo eine nationale Einigung im Prozess der Vergesellschaftung auf einem bestimmten Territorium möglich geworden ist. Diese Phase der Konstruktion menschlicher Siedlungen wird angedeutet durch Termini wie Backsteine, Marmor, Blei und Städte, Aquädukte, Landhäuser und schließlich auch eines Tempelbaus – mattone, marmo, piombo und città, acquedotti, ville pomone [sic] sowie tempio olimpico. Dieser Fortschritt der Zivilisation ist aber erst ermöglicht worden durch die kriegerischen Auseinandersetzungen in der Vergesellschaftung des Menschen: d’attaco, conquista, assedio, occupazione di una immensa, appetita, fertile nazione di popoli civili, bravi, sereni in congiunzione di opere e propositi […] [V. 150- 153].
von Angriff, Eroberung, Belagerung, Besetzung einer immensen, angestrebten, fruchtbaren Nation von zivilen Völkern, tüchtigen, in friedlichem Übereinkommen von Werken und Vorhaben […].
Der kriegerische Verlauf der Geschichte wird hier nicht negativ gesehen, sondern in dieser Phase die Übereinstimmung von Politik und Gesellschaft gewürdigt, die einen Fortschritt der Zivilisation beinhaltet. Das fassen die 475
Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Bemerkungen zusammen, die die Diskrepanz zwischen dem Reiter ausdrücken, der das Pferd beherrscht, und den schwachen Kindern auf dem Rücken des Pferdes. [V. 135-161] In der folgenden Verssequenz [V. 165-198] ist es wieder die Figur des Vaters, die in dieser Episode als die Instanz auftritt, die die politische Macht verkörpert, wobei die Einleitung dieser Episode schon signalisiert, dass es um seine kritische Selbsteinsicht und die Liquidierung seiner Macht in der Gesellschaft geht: Io ormai sono il cavallo di Atene per sempre: molto male e niente bene che sia. [V. 165- 66]
Ich bin jetzt das Pferd von Athen, für immer: sehr böse und in keiner Hinsicht gut.
Die Einsicht ihrer zivilen Ohnmacht, zu der die Vaterfigur gelangt, nähert sie der Gestalt des sokratischen Philosophen an, als welche sie am Ende des Gedichts auch in Erscheinung tritt. In dieser Doppelfunktion spricht der Erzähler jetzt als Vater, der die Kinder warnt und belehrt, sowie als das Pferd, das über die Gewalt in der Gesellschaft urteilt und sie verwirft. Non posso proprio cambiare per aiutare i miei figli; non posso fare altro che portarli alla perdizione: sta a loro scartarmi e scalarmi da quale che sia fianco, curva verso il basso […]; a loro, solo a loro capire che la mia destinazione e corsa non è la loro. [V. 167- 172]
Ich kann mich selbst nicht ändern, um meinen Kindern zu helfen; ich kann sie nur ins Verderben führen: es ist an ihnen, mich auszuspielen und mich von welcher Position auch immer herabzustufen[…]; an ihnen und allein an ihnen zu verstehen, dass meine Bestimmung und mein Lauf nicht der ihre ist.
Diese implizite Verurteilung politischer Macht als gesellschaftlicher Gewalt wird wenig später wieder aufgenommen und diese Gewalt mit der ungezügelten, militanten Potenz der Reiterstatue identifiziert, die sich zerstörerisch gegen das vergesellschaftenden Prinzip der Zivilisation richtet: nella corsa sempre più accanita mano a mano che si allontana dal principio e che non ha più nessuna coscienza e nemmeno ambita la colloca davanti a sé […] [V. 185- 88]
in ihrem immer verbissenerem Lauf, im selben Maß, wie sie sich von diesem Prinzip entfernt und kein Bewusstsein mehr hat und auch nicht mehr will es von sich weisend […]
Der zur Einsicht gelangte Vater empfiehlt seinen Kindern die Lektüre der griechischen Philosophen, vor allem des Parmenides [V. 173-184], der vermutlich als Begründer eines antiken Materialismus und Vorläufer von De-
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Die Lyrik des Spätwerks
mokrit und Epikur hier genannt und in Erinnerung gebracht wird;13 doch von der Belehrung ausgenommen werden bestimmte Prinzipien der Freudschen Psychoanalyse, die hier ausgeklammert werden, weil der Vergleich der Triebkräfte mit dem Bild von Pferd und Reiter hier nicht das Psychische betrifft, sondern die Strukturmomente des Gesellschaftlichen. Die folgende Verssequenz [V. 199-214] beginnt: Il cavallo è nel mondo mentre il suo piccolo cavaliere è nella storia […] [V. 199- 201]
Das Pferd ist in der Welt, während sein kleiner Reiter in der Geschichte ist […].
Diese Formulierung bringt exakt auf einen Nenner, worin die Funktion und damit die Bedeutung der beiden Komponenten der Reiterstatue zu sehen sind. Das Pferd, das wir mit der Gesellschaft identifiziert haben, mit den Entwicklungstendenzen, die als gesellschaftsbildendes Potential zur Entfaltung im Prozess der Zivilisation drängen und zum Teil oder in bestimmten Perioden in ungehemmter Gewalt sich Bahn brechen, ist, was wir als den realen Geschichtsverlauf bezeichnen können, den das Pferd im eigentlichen Sinn verkörpert, als die Energien, die in der Geschichte zur Vergesellschaftung drängen. Das besagt die Formulierung des »in der Welt Sein«. Der Reiter dagegen, dem wir als der Identifizierung mit der Politik schon begegnet sind, ist als das Vermögen zu verstehen und wird als solches bezeichnet, das die sich entwickelnden Tendenzen in der Gesellschaft in die Bahnen lenkt, in denen sich das Politische im Verlauf der Geschichte manifestiert und artikulieren muss. In der Geschichte ab Französischer Revolution aber, in deren Verlauf Volponi auch die italienische Geschichte sieht und beurteilt, hat sich dieses politische Vermögen zunehmend verloren oder zurückgebildet auf die Wahrnehmung ökonomischer Interessen, die dann die politische Klasse zu dem reduziert, was der piccolo cavaliere im Gedicht repräsentiert: […] pietà e paura lo tengono sospeso, fermo da non cadere sul pavimento pulito di questa epoca [V. 201- 03]
[…] Pietät und Angst halten ihn aufrecht, damit er nicht fällt auf das saubere Pflaster dieser Epoche
Die kurze Verssequenz [V. 215-227], die Volponi den Perspektiven einer Zukunft widmet, die das Überleben der Menschheit sichern soll, beginnt quasi programmatisch mit den Versen:
13 Mit seinem Lehrgedicht, betitelt Über die Natur, ist Parmenides jedenfalls der erste einer Reihe berühmter Philosophen der Antike, die als Begründer des Wissens gelten, das wir aus heutiger Sicht als die Domöne der Naturwissenschaften betrachten. Von Parmenides – über Platos Dialoge Parmenides und Timaios, Demokrit, Epikur und Lukrez – reicht die Kette der illustren Vertreter der Naturerkenntnisse der Antike, die noch heute in den modernen Wissenschaften nachwirken und unser Bild von der Natur mitbestimmen.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte Un pianeta artificiale, funzionante, equilibrato, con principi, leggi, convinzioni [V. 215- 16]
Ein künstlicher, funktionierender Planet, im Gleichgewicht, mit Prinzipien, Gesetzen, Überzeugungen
kurz mit einer Grundsatzerklärung, die darauf zielt, die Beherrschung der Politik durch die Ökonomie der Interessen zu beseitigen. Näher zu betrachten ist zunächst der Begriff des »Künstlichen«, der in das neue Narturverständnis eingegangen ist, mit seinen auf viele Bereiche sich ausdehnenden Bezügen. Eine grundsätzliche Veränderung in der Wortbedeutung des Realen vom »Eigentlichen« über das »Elementare« bis zum Begriff der »Natur der Dinge« hat zur Folge, dass auch die »reale« Natur nicht mehr Realität ersten Grades ist, sondern, wie schon gesagt auf etwas verweist, das in den Dingen selbst zu finden ist. »Künstlich« sind also die Bedeutungen, die sprachlich dem gegenständlich Realen gegeben werden. Das »Künstliche« sind aber auch die Merkmale dieses Realen selbst und die Mittel und Instrumente, die zu dessen Hervorbringung erforderlich sind. Das Künstliche ist schließlich das veränderte Verständnis des Menschen, das aus der Erkenntnis der »Natur der Dinge« hervorgeht: die Erkenntnis der Funktionen des Organischen auf der Grundlage der Natur der Dinge, und was aus dieser gemacht werden kann im Sinne einer neuen kreativen Fähigkeit des Menschen: foreste vergini, vulcani, deserti, abissi, del tutto nuovi, noti alla sola invenzione. [V. 219- 20]
Urwälder, Vulkane, Wüsten, Abgründe, ganz und gar neue, nur der Erfindung zu verdanken.
Erinnert das an den Erfindungsgeist, den Anteo in La macchina mondiale verkörpert und propagiert hat, so die politische Programmierung der Planung an Le mosche del capitale und die Scritti dal margine der 70er Jahre: Un pianeta costruito e programmato, e anche pianificato nella sua organicità e funzionalità […] [V. 221- 23].
Ein konstruierter und programmierter Planet, und auch geplant in seiner Organizität und Funktionalität […]
Die Rückwendung Volponis zu einem nuklearen Materialismus steht im Einklang mit der Kreativität des Menschen und der Konstruktion einer Welt, die zu erfinden ist. Zu einem veränderten Naturverständnis gehört aber ein neues Verhältnis zu den Begriffen von Raum und Zeit. Die Sicht aus dem Inneren der Statue als Raum, der verschieden wahrgenommen wird, behandelt der längere Versabschnitt [V. 227-77], einsetzend mit den Versen: Ma il cavallo perso nella corsa e dentro il peso del bronzo e nella cavità della statua, accecato nel nero vuoto dell’orbita […]
Aber das Pferd, verloren in seinem Lauf und im Inneren des Gewichts der Bronze, in der runden Höhlung der Statue, blind in der schwarzen Leere der Augenhöhle […],
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Die Lyrik des Spätwerks appare nella visione certa di un irraggiungibile vero sito […] [V. 227- 32]
erscheint der realen Wahrnehmung als ein unerreichbarer wirklicher Ort.
Der Blick von außen auf das sichtbare Volumen des Pferdes, der zunächst hier festgehalten wird, kann nicht die Grenze überschreiten, die seinem Eindringen in das Innere gesetzt sind, das »unerreichbar/irraggiungibile« bleibt, wenn es nicht durch künstliche Mittel dem Auge erschlossen wird. Die Besucher – die mille visitatori – sehen das Pferd nur von außen und betrachten es als Kunstwerk, worauf der Erzähler oder das Pferd selbst mit der Bemerkung reagiert: io resto fuori, […]
ich bleibe draußen [d.h. außerhalb dieser Urteile, die die Kunst betreffen], […] mir selbst entfremdet und dem Abenteuer, Richtmaß jeden Urteils und der entlegensten Richtungen […]
tolto a me stesso e alla ventura messo di ogni giudizio e delle più deserte direzioni […] [V. 241; 244- 46]
Doch das Urteil der Leute, das hier angesprochen wird, zählt und ist entscheidend: ma tra la gente è il senso […] il sentore, il rapporto, l’intelligente rispetto, la misurata, palmare accortezza. [V. 250; 257- 58].
aber die Leute bestimmen den Sinn […] die Bedeutung die Beziehung, den Respekt des Verstands, das angemessene, augenscheinliche Verständnis
Die hier nur flüchtig gestreifte Äußerung über die Kompetenz des Publikums in den Fragen der Kunst wird am Ende des Gedichts von ausschlaggebender Bedeutung hinsichtlich der Geschichte der Reiterstatue insgesamt. Im letzten Abschnitt dieser Verssequenz kommt der Vater wieder zu Wort, der sich besorgt zeigt über das Los des Sohnes: Io dal margine della folla guardo e posso solo e soltanto guardare il figlio mio al galoppo sulla cavalla: […] la vita, la sua sorte e ogni falla dell’esistenza … cavalcare rischiosamente per esserci, sulla spalla insistere di sé per scegliere e fare atti dell’esistere e altri, come una farfalla […]
Ich sehe vom Rand der Menge aus […] meinen Sohn im Galopp auf der Stute […] das Leben, sein Los und jedes Versagen der Existenz …reiten mit Risiko um zu existieren, auf dem Pferderücken sich zu behaupten, um wählen und auszuführen Gesten des Existierens und andere, wie ein Schmetterling
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte ali battere e inseguire e dimostrare […] una sequenza di atti vitali […] [V. 262- 69]
mit den Flügeln schlagend zu verfolgen […] eine Reihe vitaler Handlungen […]
In dieser Beschreibung der Risiken der Existenz, die hingenommen werden, um sich auf dem Pferderücken zu behaupten, wird vor allem die Handlung des Reitens in Frage gestellt und damit der Sinn der Allegorie der Reiterstatue. Fast beiläufig wird der Vergleich mit dem Schmetterling eingeführt und dessen Existenzweise der des Reiters entgegengesetzt, dem Begriff des »cavalcare« der des »svolazzare« [V. 276] i. S. einer nicht zielgerichteten Bewegung. Den Schmetterling, der im Museumsraum auftaucht, verfolgt der kleine Reiter auf seinem großen Pferd mit gespannter Aufmerksamkeit, als ob er von ihm erlernen könnte die Regel, den Sinn, den Verlauf der Existenz »a coglierne la regola, il senso, il corso«. [V. 285] Immer kleiner wird der fantino und immer ähnlicher dem Schmetterling. In dieser Situation reagiert der Vater, indem er das Tier, das sich an der Wand niedersetzt, mit einer Handbewegung auffliegen lassen will. Der Schmetterling aber fällt zu Boden und verendet. Der Vater hebt ihn auf und wirft ihn in den Abfallbehälter. Diese im Grunde rätselhafte Episode in der großen Erzählung von der Reiterstatue wird über Andeutungen hinaus nicht weiter kommentiert oder ausgeführt. Sie ist aber als ein Bestandteil der umfassenderen Geschichte zu sehen, deren Zusammenhang wieder von den Interpreten zu ermitteln ist. Doch gibt es einen Widerspruch in der narrativen Struktur dieser Episode, den wir in der Konzeption des kleinen Reiters vermuten. Einerseits wird er so dargestellt, als ob er selbst wünscht, in die Existenzweise des Schmetterlings überzuwechseln, andererseits widersetzt er sich zusammen mit dem Kustoden des Museums, wie noch zu zeigen sein wird, dem Begehren des Vaters, ihn vom Pferd herunterzunehmen, d.h. die Konfiguration des Reiterdenkmals aufzuheben. Diesen Konflikt aber, mit dem die Fabel vom Cavallo di Atene ohne Lösung endet, schildert die Schlusssequenz [V. 321-354], die noch einmal die multifunktionale Bedeutung der Vaterfigur in den Vordergrund rückt. In den Eingangsversen äußert diese Figur: Io posso vivere come cavallo, oppure anche come statua e anche come un uomo uscitone per l’amore e l’educazione; ma non posso vivere in nessuna forma se volessi convincermi a fare attenzione ai miei piccoli cavalieri. [V. 321- 27]
Ich kann leben als Pferd oder auch als Statue und auch als Mensch, der aus ihr herausgetreten ist aus Gründen der Liebe und der Erziehung; aber leben kann ich in keiner Weise, wenn ich mich überzeugen ließe, auf meine Kinder zu achten.
Aus den Versen, die folgen, geht unmissverständlich hervor, dass der Vater darauf drängt, das Kind aus der Konstellation des Reiters herauszunehmen, […] di calare da quel torrione
[…] herunter zu lassen von diesem Turm
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Die Lyrik des Spätwerks senza fessure né scale, né logo prensile o d’appoggio, il piccolo fantino; il minuto corridore senza redini né frustino [V. 331- 34]
ohne Spalten noch Treppen […] noch Stützen den kleinen Reiter; den winzigen Renner ohne Zügel und Peitsche
Der Erzähler reiht den offenbar nicht entfremdeten kleinen Reiter unter die Schüler des Sokrates ein [V. 339] und erwartet vom Kustoden des Museums, dass er ihn vom Pferd herunternimmt. Doch nicht dieser allein sondern auch der fantino selbst weisen dieses Ansinnen zurück. Sie finden beide die Befürchtungen des Erzählers unberechtigt und ironisch endet die Aussprache mit der Bemerkung: Il giorno che correranno una gara insieme l’uno o l’altro cadrebbe fino a dover essere abbattuto. [V. 349- 50] .
Wenn der Tag gekommen ist, dass sie gemeinsam einen Kampf bestreiten, wird der eine oder der andere fallen, so dass er getötet werden muss.
Die Alternative, die hier angedeutet wird zwischen der Trennung von Pferd und Reiter, d.h. der Auflösung des Verhältnisses von politischer Macht und dem Verlauf der Geschichte einerseits und dem Fortbestehen dieses Machtgefälles andererseits, wird im Gedicht selbst nicht zugunsten des einen oder anderen entschieden, obwohl die väterliche Position in diesem Dilemma als die von Volponi selbst begünstigte anzusehen ist. Die historisch noch unentschiedene Frage, ob es den Gesellschaften im globalen Maßstab gelingen wird, das Gewicht der praktisch unkontrollierbar gewordenen politischen Macht durch demokratische Prinzipien, d.h. durch die Politisierung der Instanzen der Zivilgesellschaft, zu verringern oder schließlich auszugleichen, bleibt in diesem geschichtlich bedeutenden Gedicht Volponis offen. Es trägt offensichtlich den real existierenden Verhältnissen der globalisierten Vorherrschaft des Kapitals Rechnung, die nicht einfach auf dem Wege von Reformen zu beseitigen ist. Bestimmend bleibt aber für Volponi die historische Perspektive einer »società regolata«, einer Gesellschaft im Sinne Gramscis, in der die Bestandteile des Politischen und des Gesellschaftlichen – »la socientà politica e la società civile« zur Einheit verschmelzen. Ein Weg zu dieser neuen Ordnung im Weltmaßstab ist oder war rückblickend für Volponi die Chinesische Revolution und ihr langer Marsch unter der Führung von Mao Tse Tung. Den Verlauf dieser welthistorisch bedeutenden Phase und das Scheitern ihres großen »Steuermanns« [il timoniere] fasst Volponis letztes Gedicht in seinem letzten Gedichtband unter dem Titel Le cose di Mao – [Die Dinge Maos] zusammen. Die von Volponi in dieser Fabel erzählte Geschichte kann unter zwei Aspekten gesehen und verstanden werden; zum einen als der Rückzug des Steuermanns aus der Funktion der Macht in das, was man als die Bewegung bezeichnen könnte, und was noch zu untersuchen wäre, zum anderen als das Scheitern Maos und seiner Politik. Thematisch von Bedeutung ist ferner der im Titel angesprochene Begriff der Dinge, der gleichfalls verschiedene Interpretationen zulässt, nicht zuletzt auch unter dem Aspekt der »Natur der Dinge« im Sinne Lukrez’. Wir schlagen vor, um es vorwegzunehmen, den Begriff zu interpretieren als die Ge481
Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
samtheit der Dinge, die die Menschen benötigen, um zu leben, mit anderen Worten als den Bedarf an Lebensgütern der Massen in den vom Kapital ausgebeuteten Ländern, um diesen Begriff dem der Bedürfnisse dieser Menschen an die Seite zu stellen. Zu ergänzen wäre, dass erst der Bedarf an solchen Gütern den Bedürfnissen der am Existenzlimit lebenden Massen ihren ökonomischen Wert verleiht, der auf die Güterproduktion übertragen, den eigentlichen Gebrauchswert der Produkte bestimmt oder bestimmen sollte. Dass dem nicht so ist, liegt bekanntlich daran, dass die Wertbestimmung nicht nur über die Äquivalenz von Tauschwerten erfolgt, sondern zusätzlich noch über den Kapitalmarkt vermittelt wird. Das aber gilt es abzuschaffen, und eine solche radikale Veränderung kann nicht über Reformen verlaufen oder evolutionär gedacht werden, sondern wird einen revolutionären Verlauf der Geschichte erforderlich machen. Eine solche Entwicklung hat Volponi schon in Il cavallo di Atene angedeutet, als er sprach von Un pianeta artificiale, funzionante, equilibrato, con principi, leggi, convenzioni, […] del tutto nuovi, noti alla sola invenzione. […] Un pianeta senza moneta, senza mandati né prezzi, senza costi, senza banche. [V. 215- 16/220/225- 26]
Ein mit Mitteln der Kunst funktionierender Planet im Gleichgewicht, mit Prinzipien, Gesetzen, Übereinkommen […] die völlig neu sind, erkennbar nur durch Erfindung. […] Ein Planet ohne Geld, ohne Wechsel ohne Preise, Kosten und Banken.
Werden in dieser Skizze Grundzüge einer politischen Verfassung der Zukunft angekündigt, die an die Erfindungsgabe der Menschen appelliert, so gründen sich solche wegweisenden Perspektiven auf die Zäsur der Wirtschaftskrise der 70er Jahre mit ihrer Rückwirkung auf den Arbeitsmarkt und den daraus erwachsenen Protestbewegungen der Jugendlichen. Als Ausweg aus dieser strukturellen Krisensituation hat Volponi in I giovani, la moneta, il mercato von 197714 eine Wirtschaftsplanung für unumgänglich gehalten und wiederholt reklamiert, wie noch in Le mosche del capitale, als das einzige Mittel der Sanierung des Arbeitsmarkts, und das lief im Grunde darauf hinaus, das System überhaupt zu ändern.15
14 In Scritti dal margine, S. 63- 68. Zitate S. 65- 67. 15 Diese Erfordernisse fasst der Artikel wie folgt zusammen: »Um ihre Energie zu zügeln, wäre eine einfache historische Maßnahme ausreichend, z.B. die Initiative – schon im Gang in der Linken eines Plans der Erneuerung der Republik. Unter der Bedingung, dass es ein Plan ist, mutig genug, den gesamten »Staat«, mit kleinem oder großen Anfangsbuchstaben, neu zu ordnen in allen seinen Formen und auf jeder Ebene: ein Plan der konstruktiven Freiheit, der institutionellen wie produktiven Fantasie, genährt aus den schmerzhaften Quellen der neuen Kultur, die aufgedeckt hat oder auch nur verweigert hat die alten Mechanismen, die immer jede öffentliche Struktur umgewandelt hat in eine leere Formel des Sakralen.« [Scritti dal margine, S. 65].
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Die Lyrik des Spätwerks Ein Plan gegen die Ausgrenzung und die Subalternität, die Arbeitslosigkeit, gegen die Wirtschaftspolitik verstanden als Geldpolitik, gegen die soziologischen und wirtschaftlichen Wissenschaften der Herrschenden und ihre Akademien, die immer die Verzweiflung in ihrem Gefolge hatten. [S .65]
Was unter den »cose di Mao« konkret zu verstehen ist, gehört zu den Dingen, die jeweils nur in ihrem begrifflichen Kontext zu erkennen und zu deuten ist. In einer groben Einschätzung wäre das die Politik Mao Tse tungs und was als solche in diesem Gedicht dargestellt wird. Das Gedicht setzt quasi am Ende von Maos Lebensverlauf ein, wo der Parteiführer und Initiator der Kulturrevolution von seinen Gegnern und den Kräften, die sich ihm entgegenstellten, zum Rückzug gezwungen wurde. Was über Maos Politik und die Kulturrevolution verlautbar wurde und in welchem Maß sie im öffentlichen Diskurs verurteilt und gebrandmarkt worden ist, können wir in diesem Zusammenhang nicht einbeziehen in die Darstellung der Geschichte Maos als Figur einer Erzählung Volponis, von der wir nicht sicher sind, ob wir sie zu den Protagonisten der historischen Fabeln im Werk Volponis zählen können. Volponis Mao ist nicht gänzlich verschieden von dem Führer der Chinesischen Revolution und ihrer Ziele, was seine ausführliche Besprechung von Edoarda Masis vor Ort recherchierten und dokumentierten Bericht Per la Cina in Scritti dal margine dokumentiert Auf diese Besprechung und ihre Charakterisierung der Ereignisse um die Kulturrevolution werden wir uns im Folgenden beziehen. Das Gedicht Volponis beginnt: Quando Mao capì che il suo governo angelico e perfetto non giovava che a qualche giovanetto di buona ispirazione scese dal suo palazzo e dal primo parapetto si tuffò nel grande fiume con vigorose bracciate a petto della più forte corrente. [V. 1- 7]
Als Mao verstanden hatte dass seine Regierung engelhaft und perfekt nur nutzte ein paar Jugendlichen guten Willens stieg er herab von seinem Palast und vom untersten Geländer stürzte er sich in den großen Fluss mit kräftigen Armbewegungen in die stärkste Strömung.
Die Episode, die diesem Anfang zugrunde liegt, ist kein Moment der Fabel, sondern eine in der Geschichte überlieferte Begebenheit, nämlich Maos Durchquerung des Yangtse am 16. Juli 1966. Dass Mao sich der stärksten Strömung anvertraut, ist zugleich zu verstehen im Sinne der politischen Strömungen, von denen im Gedicht mindest drei unterschieden werden: die der Masse des einfachen Volks, die des westlichen Lagers sowie die Strömung des natürlichen Wassers, auf die Volponi zurückgreift, um einen neuerlichen Anfang zu signalisieren. Die Geschichte Volponis basiert, wie gesagt, auf Edoarda Masis Per la Cina und ihrer Darstellung der dramatischen Wendung in der chinesischen Revolution mit der Spaltung in den 60er Jahren zwischen der maoistischen Linken und der Partei-Rechten, im Laufe der Entwicklung dann von Deng Hsiao-Ping repräsentiert. In seiner langen Besprechung des Buchs konzentriert sich Volponis Interesse vor allem auf die gesellschaftlichen Kräfte, die 483
Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
sich gegenüber stehen, an deren Potential und deren Zielsetzungen er die Chancen einer Durchsetzung hinsichtlich des weiteren Verlaufs der Revolution zu rekonstruieren versucht. Deng steht für eine Strömung der Partei, die die Steigerung der chinesischen Produktion für absolut vorrangig hält vor der weiteren Liquidierung der nach wie vor existierenden konservativen Institutionen. Erkennbar wird hier, dass die Rechte schon unter Mao eine Linie verfolgt, die aus dem nominell »kommunistischen« China »eine industrielle und militärische Macht nach westlichem Vorbild« [87] machen sollte. Das Programma Generale von Deng zum Regierungsprogramm erklärt, »beseitigt oder entkräftet das Wort und die Doktrin Maos« [87], und fördert »die praktische Verschmelzung von Staat und Produktion«. [88] Die Zuspitzung der Situation entfacht von neuem, was Volponi den Klassenkampf in dieser Phase der chinesischen Revolution nennt: den drohenden »Colpo di Stato« [Staatsstreich] seitens der revisionistischen Parteispitze, die die Armee mobilisiert und ihre publizistische Kampagne gegen Mao verstärkt; ihr gegenüber steht die Commune von Shanghai, die an den revolutionären Prinzipien festhält, sowie die jungen Militanten der Kulturrevolution, wie schließlich auch der Widerstand der Arbeiter in den Fabriken, die den neuen Kurs Dengs nicht einfach hinnehmen, der die Fabrik wieder zum exklusiven Ort der Produktion machen soll.16 Volponi fasst zusammen: »Im Gang ist ein tiefgreifender revisionistischer Prozess, von welchem das Buch [der Masi] auf das genaueste alle Richtungsänderungen registriert und verfolgt […]: Punkt für Punkt die große restaurative Offensive gegen die jüngsten Direktiven Maos und gegen Prinzipien und Bewegung der Kulturrevolution.« [Scritti, S. 91]. Wichtig auch sind die Bemerkungen zur Kulturrevolution im Hinblick auf das Verständnis des Begriffs im Kontext der europäischen Linken, z.B. der italienischen, wo der Begriff eher den Anteil der Kultur an einer revolutionären Veränderung bezeichnet, wie häufig auch Gramscis »riforma intellettuale e morale« das Programm einer intellektuellen und moralischen Reform verstanden worden ist. Dass eine kulturelle Revolution aber nicht auf die Kultur beschränkt werden kann, sondern zur Revolutionierung der gesamten Verhältnisse beitragen muss, darauf weist Volponi hin, wenn er aus einer anderen Schrift der Autorin zitiert: Auf der Arbeitsteilung aus Gründen kultureller Ungleichheit beruht die Beschränkung der Kultur als Instrument der Macht der einen über die anderen (die chinesischen Arbeiterstudenten sprechen vom Privatbesitz der Kultur). [Scritti, S. 93]
16 Die Reaktionen des Westens, hier als Äußerungen der ›Sinologen‹ gekennzeichnet, werden in Volponis Rezension wie folgt charakterisiert: »Die Sinologen des Westens lieben und preisen das nationale Moment und womöglich auch das ›nazionalpopolare‹. Sie sorgen sich um die Schäden, die durch den Wahnsinn der Vierer- Bande der chinesischen Produktion zugefügt werden und sie begrüßen die Parole der hundert Blumen. Sie solidarisieren sich mit den Bürokraten, die in den Rang von verfolgten Intellektuellen gehoben werden, und auch mit den armen alten Schriftstellern und Künstlern, die man wirklich verfolgt und die jetzt schamlos instrumentalisiert werden.« [Scritti, S. 90].
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Die Lyrik des Spätwerks
Und Volponi fügt hinzu: Die Masi besteht auf der Notwendigkeit der Wiederaneignung der intellektuellen Funktion seitens der Gesamtheit des Volks als die tiefgreifende Entdeckung der chinesischen Erfahrung […]. [Scritti, S. 93]
Mao hat sich, als er in den Fluss gesprungen ist, von einer Politik verabschiedet, die als »engelhaft« und »perfekt« bezeichnet worden ist. Offenbar gehört diese ironische Bemerkung zu der parodistischen Einkleidung, die am Ende des Gedichts wieder spürbar wird. Aus dieser Perspektive wird aber Volponis Mao-Figur mehr oder weniger im ganzen Gedicht gesehen und dargestellt. Mao ist der Protagonist einer Fabel, die, wie gesagt, in verschiedenen Handlungskontexten figurieren könnte, von denen das Gedicht aber diejenige wählt, die die Figur im Rückzug von der Macht zeigt, in der Rückkehr in die Bewegung, die von den verschiedenen Strömungen – correnti – im Bild des Flusses versinnbildlicht werden. In der zweiten Verssequenz werden mit der Kennzeichnung dieser Strömungen auch die Parteiungen im Klassenkampf dieser Phase erkennbar gemacht. In den folgenden Versen hat Mao die verschiedenen politischen »Strömungen« vor Augen, an die er sich in seiner Rede abwechselnd wendet. Entsprechend unterteilen wir die Verssequenz in vier Abschnitte, hinsichtlich der Strömungen, die unterschieden werden Almeno – pensò – sappiate buttarvi al fiume del mondo e della brutta gente, degli egoisti e dei pavidi, dell’occidente, dei soggetti al feudale dominio del capitale,
Wenigstens – dachte er – werft euch gekonnt in den Strom der Welt und der schlechten Leute, der Egoisten und der Furchtsamen, der westlichen Welt, der Leute unterworfen der Herrschaft des Kapitals,
Das wären die Anhäger einer westlichen Zivilisation bürgerlichen Charakters delle repubbliche socialiste in difetto
der sozialistischen Republiken mit ihren Mängeln theoretischen oder kulturellen, des Kommunismus der Bürokratie,
teorico e culturale, del comunismo della burocrazia,
die Verfechter einer sozialistischen Demokratie und eines bürokratischen Kommunismus d’ogni popolo negletto nella sua stessa ignoranza o del possesso di pochi sulla scienza, delle bombe per distruggere più volte il mondo ancora solo per il sospetto di uno solo vivo infetto di comunismo, comunque ribelle.
vom Volk vernachlässigt in seiner Unwissenheit oder im Besitz von wenigen die Wissenschaft der Bombe um mehrfach die Welt zu zerstören allein aus dem Verdacht eines einzigen Lebenden infiziert vom Kommunismus oder jemand der jedenfalls rebelliert.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
die von den Herrschenden angeeignete Wissenschaft als militärischindustrieller Komplex Basta! Mi abbandono al diletto di essere portato, tanto piacevole da superare il bene dell’intelletto. Ma abbandonato a un fiume del mondo, a un letto d’acqua e terra naturale e comune. [V. 8- 26]
Genug! Ich überlasse mich dem Wunsch getragen zu werden, mit Behagen um zu überwinden das Gut des Intellekts. Einfach mich überlassend einem Fluss der Welt, einem Bett des Wassers und der Erde natürlich und allen gemeinsam.
Und das wäre die Rückkehr zu einer Strömung, die dem Fluss der noch im Werden begriffenen Welt entspräche. In diesen Bildern des durch den Strom schwimmenden Mao, des von der Kommandobrücke herabgestiegenen Steuermanns, werden auf der einen Seite die Kräfte und Tendenzen der in die chinesische Revolution eingreifenden Mächte als Agenten des Klassenkampfs anschaulich gemacht, und zwar über die internen Fraktionen hinaus auch die internationalen Machtkomponenten. Andererseits werden sie alle als Strömungen verstanden und verbildlicht, die den politisch-ideologischen Sinn der Wortbedeutung wieder auf die Ebene des Naturverständnisses zurückführen, auf den Strom der die Natur belebenden Energie, und übertragen, auf das Fließende der Ereignisse. Aus dieser Perspektive des Bildverständnisses erscheint auch die Bedeutung der Figur Maos in einem etwas veränderten Licht, indem sie nämlich wieder zurückgenommen wird in den Fluss, aus dem seine Geschichte hervorgegangen ist, integriert wieder in die Komponenten, die in seine Figur eingegangen sind. Dabei bleibt aber in der Lebensgeschichte der Figur offen, warum Volponi den Sprung Maos in den Fluss als Ausgang seiner Erzählung gewählt hat Dieser Frage, d.h. der Interpretation des Rückzugs Maos, widmet sich die zweite Hälfte des Gedichts. Mao entsteigt dem Strom, den er offenbar flussaufwärts in Richtung auf seine Entstehung durchschwommen hat, an einer flachen Stelle, einem sandigen Ufer, wo er sich am Ast eines jungen Bäumchens ans Land gleiten lässt. Die fast idyllische Umgebung, die den »vecchio maestro« selbst als Teil der Natur und als ihren Verkünder erscheinen lässt, signalisiert offenbar so etwas wie Ursprung und Substanz der Kräfte, die dem Fluss entspringend sich als Strom ihren Weg durch die Länder und Kontinente suchen und sich dem Denken und den Willensäußerungen der Menschen mitteilen.17 Der Schluss des Gedichts [V. 44-56] ist den Worten Maos vorbehalten, die wieder der Auslegung der Interpreten offen bleiben. Spricht daraus die Resignation des Parteiführers, der das Scheitern der Revolution anerkennt oder die Erwartung einer Entwicklung der Geschichte im Sinne der Prinzipien der Revolution, niedergelegt im »roten Buch«? Der dem Wasser entstiegene Mao schaudert:
17 Dem Bild des Fließens und des Flusses wird in einer kurzen Passage die Verbildlichung des Lichts an die Seite gestellt, die auf die Erkenntnisse im roten Buch, der Mao- Bibel, anspielen [V. 38- 43].
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Die Lyrik des Spätwerks Rabbrividiva Mao stretto all’alberetto della riva. Qui sono giunto – pensò non altro mi aspetto che questa morbida sabbia. […] Vi affonderebbe anche il mio libretto, eppure un qualsiasi governo ne muterà ogni elemento e misura chissà per quale progetto. Boh – disse Mao – Questo è ciò che ho detto, non altro. Boh! E se ne andò scaldandosi come un poveretto. [V. 44- 47; 50- 56]
Es schauderte Mao geklammert an das Bäumchen des Ufers. Hier bin ich gelandet – dachte er – nichts anderes erwartet mich als dieser weiche Sand […] Dort würde auch mein Büchlein versinken, und dennoch, irgendeine Regierung wird daran verändern jedes Element und jedes Maß wer weiß für welchen Zweck. Boh – sagte Mao – Das ist was ich gesagt habe, nichts anderes. Boh! Und er ging weg sich aufwärmend wie ein armer Alter.
Der »povero vecchio«, von seinen Gegnern diffamiert als »von der Viererbande gelenkt« – »manovrato dai quattro malvagi«,18 weist noch im Weggehen hin auf die Gültigkeit der Prinzipien, seines »libretto rosso«, so dass daraus zu schließen wäre, dass Mao – und mit ihm Volponi – an seine Wiederentdeckung glauben. Anzumerken wäre hier, dass aus der Feder von Luigi Malerba unter dem Titel Cina Cina eine Darstellung erschienen ist, die die Episode von Maos Sprung in den Yangtse aus einer exklusiv kritischen Sicht beleuchtet, während Volponis Inszenierung sie noch im Licht einer Poesie präsentiert, die auch in ihrer parodistischen Einkleidung noch erhalten bleibt. Verwiesen sei auf Malerbas Textausschnitt unter dem einschlägigen Titel La Grande Favola Cinese.19 Dass Le cose di Mao den letzten Gedichtband Volponis beschließt, könnte nahe legen, dass er der Figur Maos eine exemplarische Bedeutung zumessen wollte, aber möglicher Weise in einem Sinn, der das Heroische seiner Tat umkehrt in ihr Scheitern, was geschichtlich die Figur in die Serie der im Werk Volponis gescheiterten Sozialisationsversuche einreihen würde.
18 Zitiert aus Scritti, S. 88. 19 Luigi Malerba: Cina Cina. Presentazione di Romano Luperini, Lecce: Piero Manni 1985.
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Kapitel 11: Die Geschichte und der universale Lebenszusammenhang I. Die Subjektproblematik 1. E RNEUERUNG
DER
M ENSCHHEIT
ODER
A POKALYPSE
In den Gedichten von Nel silenzio campale war das Subjekt immer auch die Instanz, in deren Bewusstsein die Dinge sich spiegelten und aus deren Blickwinkel sie dargestellt wurden. Kennzeichnend für dieses Bewusstsein ist, dass es einem Subjekt angehört, das an der Vereinzelung seiner Existenz im Leben der Gesellschaft leidet und das mit größter Anstrengung versucht, diese Vereinzelung, die sich als Existenzangst äußert, zu überwinden. Die Symptome dieser Angst oder des Gefühls, allein gelassen zu sein, sind die aus der frühen Kindheit herrührenden Fantasien der Bedrohung, die sich aus der Familiensituation übertragen haben auf die Existenz im gesellschaftlichen Raum, wo Krieg und Gewalt zur realen Bedrohung geworden sind. Die Bilder dieser Bedrohung sind bei Volponi in der Dimension der Nacht lokalisiert als dem Bereich des Irrationalen und Bewusstlosen, die einen unheilvollen Einfluss auf den Gang der irdischen Geschicke haben. An der Thematik von zwei Gedichten des letzten Gedichtbands wollen wir zeigen, in welchem Maß diese Vereinzelung die Wahrnehmung des Subjekts beschränkt, im Hinblick v.a. auf die Erkenntnis dessen, was wir den universalen Lebenszusammenhang genannt haben. Davon ausgehend ist die Vereinzelung aber auch zu verstehen als die gesellschaftliche Entfremdung des Subjekts, als seine Ausgrenzung aus der Gesellschaft, wovon immer mehr Individuen und in absehbarer Zukunft die Masse der aus dem Arbeitsprozess Ausgeschiedenen betroffen sind. Aus dieser Sicht wäre umgekehrt die Erkenntnis des universalen Lebenszusammenhangs als der Durchbruch zu einem unentfremdeten gesellschaftlichen Zustand zu begreifen. Im Gedicht, betitelt Tormenta – [Schneesturm] [S. 46], fühlt sich das Subjekt gefangen oder verfolgt von der Nacht, in der es sich bewegt, orientierungslos wie in einem Schneesturm, wenn man den Gedichttitel auf diese Situation beziehen kann: La notte resta fissa, attenta alle mie mosse, accesa o spenta una stella sul capo […] [V. 1- 3]
Die Nacht ist aufmerksam meinen Bewegungen auf der Spur, ob ein Stern über mir leuchtet oder nicht
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Von dieser Nacht und ihren störenden oder zerstörenden Einwirkungen auf das Subjekt spricht dann der mittlere Teil des Gedichts, das schließlich in die Beschreibung eines Bewusstseins mündet, das verzweifelt versucht, einer Dunkelheit zu entfliehen, […] un luogo, che non veda e non senta, che profondi colui che tenta con quel suo piccolo nirvana un campo e una sementa sua propria che di luce arroventa oltre le strade, l’ordine, l’argomenta con una verde pupilla che alimenta un disco inafferrabile, diverso, una Tormenta aliena, di fera combustione anche se spenta. [V. 16- 22].
[…] in der man nicht sieht und nicht fühlt, in der in die Tiefe gezogen wird wer sucht mit seinen geringen Vermögen ein eigenes Feld oder eine eigene Saat mit der ihm innewohnenden Glut jenseits der Straßen, der Ordnung, der Argumente mit einer grünen Pupille und darin erscheinend eine Scheibe nicht zu erfassen, anders, ein Schneesturm entfremdet, von wilden Flammen wenn auch erloschen.
Wir haben versucht, diesen schwierigen Text auf der Grundlage erkennbarer Schlüsselwörter zu rekonstruieren, wobei wir einräumen, dass die Interpretation des gesamten Textes nicht als gesichert gelten kann. Zu vermuten wäre, dass die Textaussage dem nahe kommt, was wir als Igitur-Effekt in Anlehnung an Mallarmé beschrieben haben, nämlich die Erwartung des Subjekts, dass ein Lichtfunken in die Tiefe des Bewusstseins dringt, der ihm das Verständnis eines Planeten ermöglicht, der anders ist, diverso. Der Zwischenteil von Vers 3 bis 14 beschreibt eine chaotisch verlaufende Bewegung aus der Höhe (nuvola) in die Tiefe (pozzi), vermutlich durch die Dimension der Nacht i. S. des Bewusstseins, das in seiner eigenen Nacht befangen ist, in den »fondamenta/stesse della sua propria notte« [V. 11-12]. Nicht viel einfacher ist der Text des zweiten Gedichts, betitelt Uno strale [Ein Strahl] [S. 31], in dem das Licht als Indikator der wahrnehmenden Erkenntnis thematisiert wird. In dem kurzen Gedicht von nur 19 Versen ist es die Behinderung des Lichts auf seinem Weg über die real existierenden Verhältnisse zum Bewusstsein des Subjekts, die als »politischer und literarischer Schmerz« [V. 1] gekennzeichnet und beschrieben wird. Und wieder ist es die Nacht, die als die Dimension erscheint, die den Erkenntnisvorgang blockiert. Zugrunde liegt eine Bildkonstellation, in der das Subjekt wie aus einer belagerten Festung beim Herannahen der Nacht ein Signal aussendet, das durch den Körper hindurch seine Bahn sucht, um zum Bewusstsein zu gelangen, aber daran gehindert wird durch die Krankheitssymptome des Körpers:»eine rheumatische Kontraktion oder eine Virusinfektion« [V. 3-4], die in der Horizontalen der Verschriftung die Nachricht – hier im Medium des Films [pellicola] – blockieren und in der Vertikalen den Pfeil daran hindern, den Körper zu passieren:
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Die Geschichte und der universale Lebenszusammenhang […] da impedirne la presa che può ricondurlo vicino, strumento reale di contatto, braccio, piede, estesa mano, e anche mentale condotto fino a un punto fermo, a difesa di ogni vera presenza, del diritto ambientale […] di una rispettosa luce che seppure artificiale capace sarà di cedere, di assecondare la discesa del lume astrale dentro la favilla animale.
[…] zu verhindern die Verbindung die ihn zurückführt mittels der realen Körperkontakte, Arm, Fuß, ausgestreckte Hand und auch mittels mentaler Kanäle zu einem festen Punkt, von dem aus verteidigt werden kann die wahre Präsenz und das Recht der Umwelt […] eines gebührenden Lichts, wenn auch künstlich fähig durchzulassen, und zu ermöglichen den Einfall des Lichts der Gestirne in den animalischen Funken.
Das Stichwort des »animalischen Funkens« führt zurück zur Thematik von Natura ed animale aus Scritti dal margine und wirft die Frage wieder auf, in welchem Verhältnis das Gesellschaftliche zur Natur und dem Animalischen zu sehen ist. Unsere Analyse kehrt also zurück zu der schon behandelten Abhandlung Volponis, aus der wir erneut zitieren: Die Natur und die Tiere sind in Wirklichkeit weit entfernt von unserer Welt und sicher ihrerseits ihrer Wirklichkeit, ihren ursprünglichen, einheitlichen Bedingungen entfremdet [103].
Willentlich habe sich der Mensch, was Volponi schon in den frühen Gedichten beklagt, von ihnen getrennt: In der eigenen Zivilisation und Kultur bleibt der Mensch allein […]. Alles ist zurückgestuft auf die Funktion von Instrumenten, Mitteln, Ressourcen, Energie oder Stützpunkten für einen hektischen Lauf nach außen. [Scritti, S. 103/104].
Es genügt nicht, die Individuen wieder anzupassen an die Verhältnisse, wie sie sind, die in Wahrheit dahin tendieren, die Natur zu zerstören und die menschlichen Beziehungen zurückzuführen in die Barbarei. Seine diesbezüglichen Ausführungen beschließt Volponi, indem er aus einem Artikel des Economist zitiert, der die Auslöschung des Menschen und das Überleben eines widerwärtigen tierischen Zwitters beschreibt: die Rückentwicklung des animalischen Seins auf die Stufe aggressiver Bestialität und primitiver Dämonie als Manifestation des verdrängten Unbewussten und als das apokalyptische Ende der Zivilisation Als Überlebende stehen sich Ratten und eine hybride Kaninchenart im tödlichen Kampf gegenüber.»Es ist«, so Volponi, »als ob in uns die schlüpfrige Ratte der Kloaken« wiedererstanden wäre, »die hässlichste Art des von uns verinnerlichten Tiers«, und als würden die Menschen in dieser Inkarnation ihre geschichtliche Existenz besiegeln, »im Kampf gegeneinander, um Böses den anderen zuzufügen […] und als solche Raumschiffe
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
zu besteigen […], um zu anderen Galaxien zu gelangen, mit einem einzigen Ziel, nämlich die Galaxie des Golds zu finden.« [114] Die Chancen des Überlebens der Menschheit im Zeitalter der atomaren Technologie werden von Volponi unterschiedlich beurteilt. In Il pianeta irritabile, wo bereits ein atomarer Konflikt stattgefunden hat, wird am Beispiel der vier Überlebenden eine Art neue Gruppenbildung angedeutet. Diese in sich widersprüchliche Situation bringt eine im Grunde eher zuversichtliche Einstellung Volponis bezüglich eines veränderbaren Laufs der Geschichte zum Ausdruck. Als Beleg dafür wäre sein Engagement bei der Parteigründung von Rifondazione comunista anzuführen, aber darüber hinaus auch die Biographien der Arbeiterfiguren im Werk Volponis, wie die des Antonino Tecraso in Le mosche del capitale oder seines weiblichen Pendants Iride, der Titelfigur aus Prose minori, und nicht zu vergessen die Fabelgestalt des Sir Chichester, die wie keine andere Figur Volponis die Zuversicht und die fast unzerstörbare Hoffnung des historischen Subjekts in seinem Werk verkörpert.1 Sir Chichester wird zur Figur, die die gesamte Geschichte der Rekonstitution des Subjekts im Werk Volponis bildlich zusammenfasst und in einer narrativ kondensierten Form zum Ausdruck bringt. Die Schlüsselbegriffe dieser Peripetien sind die als Motive des Handlungsverlaufs schon hinreichend kommentierten Bilder: Das Leben als Schifffahrt, als eine Überquerung der Meere im Gegensatz zur Fortbewegung auf dem Land; der Durchgang durch die Nacht als die Dimension des Unbewussten; die Himmel als die Leere des Unendlichen; die Wale als inoffensive Begleiter des Seefahrers; die historische Zeit als der Durchgang durch die Mythen und Religionen, die als die Schwächen der Menschheit gekennzeichnet werden. An diesen Wendungen in der Rekonstitution des historischen Subjekts im Geschichtsprozess, die die Meerüberquerung von Sir Chichester verbildlicht, wird Volponi festhalten. Dieser Sicht aber diametral entgegengesetzt, im Hinblick auch auf den Geschichtsverlauf, ist die Geschichte eines weiteren Überlebenden in einem mörderischen Endzustand der Zivilisation, nämlich der enigmatischen Figur des Talete aus den Prose minori, der eine der atomaren Zerstörung vergleichbare Situation zugrunde liegt. Talete gehört zu den Erzählungen der Prose minori, in denen einer rätselhaften Situation eine Bedeutung zugemessen wird, die offen ist oder dem Leser zur Auslegung überlassen bleibt. Das betrifft vor allem den Schluss der Erzählung, deren Ausgangspunkt ein mörderischer Krieg ist, in dem sich die Überlebenden, auf die Stufe von Kannibalen zurückgefallen, gegenseitig auffressen, wohl auch, weil es keine anderen Lebensmittel mehr gibt. Talete allein widersteht diesem bestialischen Trieb und demonstriert bis zuletzt die Herrschaft des Menschen über sich selbst oder
1
Um das noch einmal in Erinnerung zu rufen, sei uns gestattet, die betreffende Passage aus dem Dialog mit Francesco Leonetti erneut zu zitieren. »Sir Chichester, der um die Welt gefahren ist in seinem kleinen Boot. Allein, in den tiefen Nächten der Ozeane, halb wach, halb schlafend, an sein Kissen geklammert; dieser Mensch hat, unter unglaublichen Himmeln und auf Kontakt mit den Mäulern der Wale, die Welt durchfahren, die Zeit, die Mythen und die Schwächen des Menschen und so zurückgegeben dem Menschlichen die universale Dimension der Existenz [wörtlich: die ganze Dimension der universalen Existenz]…«. [S. 86]
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Die Geschichte und der universale Lebenszusammenhang
seine elementaren Bedürfnisse, indem er zuerst ein Ohr, dann das andere abschneidet und es verzehrt, um seinen Hunger zu stillen. Diese Aussage, in der Drastik ihrer Bildersprache, ist ein Beleg mehr für die Auffassung eines apokalyptischen Endes der menschlichen Zivilisation Doch die Schlussfolgerung, die der Erzähler aus der Fabel zieht, als Moral der Geschichte, ist nicht eindeutig und in ihrer Mehrdeutigkeit auch rätselhaft. Die Geschichte endet damit, dass der Erzähler die Spuren des Überlebenden bis zu dessen Verschwinden aus der Geschichte verfolgt. Aber: Die letzten Schlachten und das Ende sind nie je beschrieben noch erzählt worden. Und dennoch wusste man von einem Überlebenden, der sich entfernte, indem er fortwährend nach rückwärts blickte, auch als er den Horizont passierte, beladen mit Aufzeichnungen. Er ließ sich nach langer Zeit nieder an einem Ort und hinterließ die Erzählung, und begnügte sich damit, anerkannt zu sein als der gelehrteste der Provinz und auch als der beste Reiter.2
Die Kürze des Textes und das Weglassen von Teilen, die für dessen Verständnis erforderlich wären, lassen Raum für verschiedenartige Auslegungen. Eine, die an vorangehende Themen im Werke Volponis anknüpft, ist die Wende am Ende von Il pianeta irritabile vom Überleben der Tiere in einer Art Neuformierung gesellschaftlicher Existenz. In unserem Text ist es Talete, der hier überlebende Mensch, der in seiner Erzählung die Geschichte des Vergangenen festhält und übermittelt, von der man aber nicht weiß, was sie enthält. Ungewiss bleibt auch, wem er sie hinterlässt und ob dieser Adressat nicht einfach nur der Leser ist, der wieder selbst entscheiden muss, ob und wie die Geschichte weiter geht. In der Figur des Talete vereinigen sich, wie wir meinen, zwei Handlungsmomente des Werkes, die uns schon in zwei anderen Konfigurationen des letzten Gedichtsbands begegnet sind. Trifft unsere Vermutung zu, so würde auch die etwas rätselhafte Charakterisierung der Titelfigur als erudito im Sinne des Wissenden sowie als cavaliere im Sinne des Reiters eine Deutung finden. Die Figur des Wissenden wäre dann aus dem sokratischen Prinzip der Selbsterforschung und Selbsterkenntnis des Menschen zu erklären; und die Figur des Reiters wäre der Figur aus Il cavallo di Atene anzunähern, die ihre Ansprüche auf die Lenkung der Geschichte aufgegeben hat, die hier lediglich noch einmal zitiert wird. Wie die Geschichte danach verläuft, bleibt auch hier wieder offen, wie der Geschichtsverlauf bei Volponi überhaupt. Die hier anklingende Skepsis findet eine Bestätigung in gewisser Weise in zwei Texten der Prose minori, deren narrative Auslegung auf Volponis Beobachtung der Vogelwelt zurückzuführen ist. Und das sind Guerra di piume sopra la città – Krieg der Vögel über der Stadt und Cosa insegnano quei gabbiani – Was uns die Möven lehren, beide von 1984. Der Krieg der Vögel – die Krähen gegen die Tauben – um die Luftherrschaft über die Stadt ist dem Fabelreservoir der Tiergeschichten zuzurechnen, womit Volponi die narrative Literatur der Moderne bereichert hat. Evident ist die Homologie, d.h. die Wesengleichheit zwischen Arten der Tierwelt – die Aggressivität der Krähen hier – und dem menschlichen Verhalten im Zustand kriegerischer Konflikte. Schwierig dagegen ist die Charakterisierung der beiden Kontra2
Prose minori, Bd. III, S. 761.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
henten, da es in Volponis Fabelwelt keine von vornherein designierten Guten oder Bösen gibt, sondern in den Konflikten die gesellschaftlichen Widersprüche zur Darstellung gelangen, die selbst erst einmal analysiert werden müssen. Die Krähen, die von außerhalb der Stadt in das Stadtinnere eindringen, also Vögel der Äcker und Felder sind, attackieren die Tauben, die Bewohner der Stadt, und vertreiben sie in wiederholten Kämpfen von ihren angestammten Plätzen.3 Die Frage stellt sich für Volponi, welches die Gründe für das Verhalten der Tiere sind, was aber eine andere Antwort verlangt als die Aussage über die ihnen zugeschriebenen Eigenschaften. Die Fabeln Volponis sind nicht im traditionellen Sinn Geschichten von Tieren, die menschliches Verhalten simulieren, sie sind Weisen des Erzählens, die – wie schon dargelegt – das Sein der Dinge in ihrer materiellen Beschaffenheit und ihren Reaktionen offenbaren wollen. Volponi greift in seinen Erzählungen das auf, was die Leute über das Verhalten der Tiere sagen, d.h. er greift auf deren Erfahrungen zurück und bringt seine eigenen Beobachtungen ein, die sich speziell mit den räumlichen Beziehungen zwischen ländlichen, d.h. landwirtschaftlichen Anbauflächen und den von Menschen bewohnten Zonen beschäftigen. Dass die Lebensräume der Tiere zunehmend durch menschliche Ansiedlungen eingeengt werden, gehört zu den Beobachtungen, die in verschiedenen Texten der Prose minori zu finden sind. Dass sich damit auch die Verhaltensweisen der Tiere verändern, wird schon in Krieg der Vögel gezeigt und dargestellt, in viel extremer Weise aber in Was uns die Möven lehren. Das Ereignis des Einfalls der Möwen in die Stadt Urbino wird mit genauer Angabe des Datums festgehalten: der Morgen des 8. Januars im Jahr, in dem die Tauben von Panik befallen wurden und die Bewohner der Stadt befürchteten, dass dieser starrsinnige Wahnsinn der Tauben eine Art Vorahnung einer Naturkatastrophe sein musste […].4
Auch hier wird das Ereignis mit einem Angriff motiviert, hier der Möwen gegen die Tauben, es wird aber darüber hinaus von den Leuten ausgelegt als das Herannahen einer Katastrophe oder einer entscheidenden Veränderung: Absolute Neuheit, die der Möwen. Historisches Ereignis. Anzeichen eines Wechsels und unbekannter Fatalitäten und auch von Krankheiten. [Und die Leute beginnen zu argwöhnen]: ›Das heißt sicher, dass die Möwen nichts mehr zu fressen finden im Meer und an der Küste […]‹ – ›Es wandeln sich die Gewohnheiten‹ [war die allgemeine Schlussfolgerung]. ›Etwas musste sich ja ändern in einer Welt wie dieser‹.5
Die erzählerische Ankündigung einer Naturkatastrophe, die den Lauf der Geschichte verändern würde, ist Bestandteil einer apokalyptischen Vision und eines zivilisatorischen Umbruchs im Werk Volponis. Unberührt davon – und in gewissem Widerspruch dazu – treffen wir aber immer wieder auch auf die 3 4 5
Prose minori, Bd. III, S. 732- 35. Prose minori, Bd. III, S. 736- 39. Prose minori, Bd. III, S. 737 und S. 738.
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Die Geschichte und der universale Lebenszusammenhang
Bekundung von Hoffnung und Erwartungen bezüglich eines zivilisatorischen Wandels. So auch in der Geschichte der Möven, denn diese endet nicht in der angekündigten Katastrophe, sondern mittels einer Art Deus ex machina, nämlich eines eines auftauchenden Falkens, der in der Meinung der Leute einen Umschlag verkündet. Die Figur des Falken dient zur Verbildlichung eines wissenschaftlichen Projekts: der Umwandlung des Terrains in einen »Naturpark, als der wirklichen Umwelt von Menschen und Tieren« – »parco naturale, come vero ambiente dell’uomo e degli animali«. [739]
2. SEIN
UND
B EWUSSTSEIN
Die Wandlungen des Subjekts und die Fantasmen des Über- Ich
Die Begriffsbildung von Sein und Bewusstsein haben wir dem philosophischen Vokabular Sartres entlehnt und benutzen sie weiter im Sinne des Sartreschen Begriffs von »Sein« als die anerkannte, institutionalisierte, kurz vergesellschaftete Geltung von Wesen und Dingen, dem der Begriff der »Existenz« gegenübersteht als das bloße »Dasein« der Lebewesen im Sinne der reinen Singularität. In diesem Sinne kann auch dem Vergangenen noch ein Sein zukommen, wie auch dem Zukünftigen im Entwurf des Seinsmodus’ des »Möglichen«. Von Sartre und der Phänomenologie entlehnt haben wir ferner den Begriff des »Bewusstseins« in der Bedeutung von »Bewusst-Werden« von etwas im menschlichen Geist, von etwas also, ohne das es kein »Bewusstsein« gäbe. Die Aufnahme des Gegenstands in das Bewusstsein ist ein Moment der Wahrnehmung des Subjekts, das wir im Zusammenhang mit dessen Konstitution in sprachlicher und psychoanalytischer Hinsicht. beschrieben haben. Im Prozess der Wahrnehmung ist es der Übergang von der Verbildlichung des wahrgenommenen Gegenstands zu dessen Verstehen und über den Begriff zur Zuschreibung einer Bedeutung des Gegenstands in einem Textzusammenhang. Die Funktion der Erschließung von Bedeutung und Sinn der Wahrnehmung im Textzusammenhang fällt im Erzählvorgang den Handlungsfiguren zu, die die Bewusstseinsträger sind in den jeweiligen Handlungskonstellationen. Sprachlich sind sie die Subjekte der Textkonstitution, d.h. die Instanzen, auf die sich die Satzaussage bezieht; psychoanalytisch, d.h. in der Semiotik der Subjektkonstitution, sind sie die Protagonisten der Handlung, aus deren Sicht das Geschehen gesehen und letztlich beurteilt wird. Mit den Handlungsfiguren ändert sich auch das Bewusstsein, das wir in den verschiedenen Phasen des Werks als die Sicht auf die Welt der Helden Volponis unterschieden haben. In der Phase der frühen Lyrik war es das poetische Bewusstsein der Kindheit, das noch bis zum Übergang in die Phase des Erwerbslebens die grundlegenden Bilder vom Sein der Welt bestimmt und lebendig gehalten hat. Es war das frühkindlich-mythische oder auch fantastische Bewusstsein, das die Bilder der Natur und der Tiere in die Welt der Erwachsenen hinübergerettet hat und ihr als Widerstand und Widerspruch entgegengesetzt worden ist. In diesem Bewusstsein ist aber auch der Konflikt mit den Eltern präsent geblieben und noch bis in die Phase von Corporale virulent. Die Rückbeziehung auf Natur und Tierwelt kann auch verstanden werden als die Zuflucht zu einer Geborgenheit, die für das Kind nicht mehr 495
Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
gegeben war und sich in den Bildern der Trennung und Separierung vom Ganzen der Natur ausgedrückt hat. Der Ursprung und die Gründe dieses Trennungskonflikts sind in Die Grenzziehung der Schuldner mit dem Schlüsseltext Cousine Fuchs erzählt und analysiert worden, worin schon als Kern das Familiendrama enthalten war. Mit dem Eintritt ins Erwerbsleben wird der Zwiespalt des poetischen Bewusstseins, das sich in der frühen Kindheit geformt hat, im Kontrast zur existierenden Wirklichkeit dem Subjekt der frühen Romane in schmerzlicher Weise bewusst. Volponi lässt in Memoriale einen jungen Arbeiter, der aus Kriegsgefangenschaft heimkehrt, über seine Erfahrungen berichten. Seine Einstellung in der Fabrik, die er als die Wiederaufnahme in die Gesellschaft sehnlich erwarte hat, scheitert an seiner Krankheit, die dazu führt, dass er der Fürsorge mildtätiger Institutionen anheim fällt. Albino ist die Figur, die das Bewusstsein der Reintegration der durch den Krieg aus der Gesellschaft Ausgeschlossenen verkörpert. Dass diese Rückkehr in die Gesellschaft nicht gelingt, ist symptomatisch für die Lebenswege auch der anderen Figuren der ersten Romane, die viel bewusster als Albino ihren Eintritt in die wieder herzustellende Gesellschaft suchen. Alle aber sind bemüht, die Wirklichkeit, in die sie gestellt werden, auf ihren Anspruch auf gesellschaftliche Veränderung zu prüfen, d.h. sie kennzeichnet das Bewusstsein zu erfahren, wie die gegenständliche Welt eigentlich beschaffen ist. Am deutlichsten wird das an dem leidenschaftlich verfolgten Projekt Anteos, des tragisch endenden Helden von La macchina mondiale. Anteo ist verzweifelt bemüht, den herrschenden Bedingungen des Lebens in der Landwirtschaft durch eine Reform zu begegnen, die nicht nur die Besitzverhältnisse sondern auch den Charakter der menschlichen Arbeitskraft bahnbrechend verändern würde. In seinem Traktat versucht er, die wissenschaftliche Welt davon zu überzeugen, dass die Realität des Bestehenden mit wissenschaftlichen Mitteln zu reformieren ist. Bei seinem Eintritt in die Arbeitswelt muss Volponis Held aber erkennen, dass die Natur nicht mehr als der poetische Zufluchtsraum zu erfahren ist, sondern konkret als der zu bestellende Boden landwirtschaftlicher Arbeit, deren Bedingungen er, ökonomisch und gesellschaftlich, wie Albino die der Fabrik, nicht akzeptieren kann. Die Verifikation der gesellschaftlichen Realität verläuft auch in diesem Roman negativ, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass die ausgebliebene Bodenreform in der Landwirtschaft in Italien die Besitzverhältnisse unverändert gelassen hat. Der in der Geschichte Anteos schon angedeutete Zwiespalt zwischen altem und neuem Bewusstsein, zwischen dem Festhalten an einem Naturverständnis, das zwar nicht mehr das poetische ist, aber als ein wissenschaftliches noch in diesem verankert bleibt, diesen Zwiespalt finden wir wieder in La strada per Roma, hier aber verteilt auf die zwei Figuren, Guido und Ettore, in denen die Bewusstseinsspaltung geradezu exemplarisch vorgeführt wird. Guido, der den Weg in die Welt der Geschäfte über den Einstieg in die Bankkarriere wählt; Ettore, der als überzeugter Republikaner sich mit den Bedürfnissen der mittellosen Bauern als Landschullehrer solidarisiert. Gemeinsam ist beiden – aufgrund ihrer gemeinsam verlebten Kindheit und Jugendzeit – der Wille, sich am Aufbau der neuen Republik zu beteiligen, an der Wiedererrichtung des Gemeinwohls, der res publica. Doch gerade im Hinblick auf den Begriff des Gemeinwohls ist dessen Verständnis bei beiden 496
Die Geschichte und der universale Lebenszusammenhang
völlig gegensätzlich. Während Guido darunter den Reichtum versteht, der zu verteilen ist, aber privat angeeignet werden soll, besteht das Gemeinwohl für Ettore in der Durchsetzung von sozialer Gerechtigkeit, die den Begriff der Solidarität einbezieht. Diese Gegensätze aber sind unüberbrückbar und führen schließlich zur Trennung der beiden Freunde, die zu Figuren entgegengesetzter politischer Lager werden und deren Bewusstseinsformen repräsentieren. Das Bewusstsein Ettores, das die Solidarität der Menschen als Ziel der Sozialisation vorwegnimmt, ist die Form, die dem Bewusstsein des universalen Lebenszusammenhangs am nächsten kommt. Ihr absolut entgegengesetzt ist das Bewusstsein Guidos, des Durchsetzungsvermögens des starken Einzelnen, der das Selbstbewusstsein des Individuums als Wertkriterium der Sozialisierung propagiert und kultiviert. Gerolamo Aspri in Corporale ist die Figur, an deren Existenz die Ablösung des Subjekts von seinen Bindungen an die bürgerliche Gesellschaft demonstriert wird; eine Ablösung von unterschiedlichen Bindungen, denn in dieser Figur fließen die Komponenten der Sozialisation zusammen, die alle zum Bruch mit den bürgerlichen Verhältnissen drängen oder ihn schon vollzogen haben: Aspri als Familienvater, der der Ehegemeinschaft entflieht; Gerolamo, der im Dialog mit Overath das Trauma seiner eigenen Kindheit liquidiert; der von der Kommunistischen Partei sozialisierte Intellektuelle. der als Murieta den Übergang in die revolutionäre Aktion vollzieht; und schließlich der aus dem Berufsleben ausscheidende Erbauer des Refugiums, der als Marginalisierter ein prekäres Dasein fristet und ohne Angaben über seinen Verbleib aus unserem Blickfeld entschwindet. Der hier beschriebene Bewusstseinswandel geht einher mit einer Wahrnehmung der gegenständlichen Wirklichkeit, die in der vorangehenden Phase schon bezüglich ihres Geltungsanspruchs in Frage gestellt worden ist. Während die Verifikation des Realen in der Lyrik vom Bedürfnis diktiert war zu prüfen, wie weit die gesellschaftlichen Verhältnisse der Sprache entsprochen haben, die sie ausdrückte, schlägt dieses Bedürfnis beim Helden von Corporale um in die Negation des Wahrheitsanspruchs der von der Gesellschaft sanktionierten Sprache. In Aspris Bewusstsein ist mustergültig der Prozess des Übergangs von der noch erkennbaren alten Form des Bewusstseins zur neuen zu beobachten. Einerseits fährt er fort, wie die Figuren der frühen Romane, die Diskrepanzen zwischen Sprache und institutioneller Realität aufzudecken und sie zu denunzieren, andererseits beginnt er Zweifel zu hegen an seiner Wahrnehmung und der Beschaffenheit eines Bewusstseins, das selbst noch über die geregelte Grammatik an die sprachliche Logik der Institutionen gebunden ist. Aspri sucht nach einer Sprache, die losgelöst von grammatischen Zwängen, die Öffnung zu räumlich und zeitlich unbegrenzten Dimensionen der Lebensbezüge ermöglicht, eine Sprache, in der man leben und sich bewegen kann wie in einem geräumigen Haus. Das Haus als Zufluchtsort vor einer falschen Wirklichkeit ist, wie wir wissen, der Gegenstand, den Aspri im letzten Teil des Romans zu bauen oder zu finden sucht, wobei er aber, wie die Helden der frühen Romane, scheitert. Der hier sich andeutende Ansatz aber der Erneuerung der Sprache wird nicht aufgegeben, sondern weiter verfolgt und voll entfaltet in der Lyrik des späten Werks, im Übergang von den experimentellen sprachlichen Verfahren zu dem, was wir nicht zögern als Volponis Beitrag zur neoavantgardistischen Erneuerung der Sprache zu bezeichnen. 497
Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Die Romane des Zyklus der im eigentlichen Sinn historischen Werke – Il sipario ducale; Il pianeta irritabile; Il lanciatore di giavellotto – sind, was die Bewusstseinsformen des Subjekts angeht, von sekundärer Bedeutung, sie können aber punktuell Einsichten bekräftigen und vertiefen, die zur Geschichte des Subjekts gehören. Im unmittelbaren Zusammenhang mit dem politischen Geschehen wird in Il sipario ducale der Bombenanschlag von Mailand dargestellt als die Reaktivierung des faschistischen Terrors gegen den Bestand der Republik, die in den anarchistischen Kampfgefährten aus dem spanischen Bürgerkrieg, Vivés und Subissoni, ihre engagiertesten Verteidiger findet. In dieser Einstellung als militante Verfechter des Republikanismus, den Volponi, wie wir wissen, selbst vertritt, sind sie Verkörperungen eines Bewusstseins, in dem sich der Fortschritt der Zivilgesellschaft in der Geschichte Italiens spiegelt.. Offensichtlich wird hier die Beziehung zur Thematik von La strada per Roma, dem Roman, für den Volponi u.a. den Titel La Repubblica borghese vorgesehen hatte, voraussehend, dass die Republik der Nachkriegszeit nicht die Republik des Gemeinwohls und des zivilen Fortschritts werden kann. Ein mit den Protagonisten der frühen Werke vergleichbares Subjekt gibt es in Il pianeta irritabile nicht, wo als Handlungsfiguren die Gruppe der vier Überlebenden des Staatszirkus’ dargestellt wird, deren Marsch ins Ungewisse wir im Roman verfolgen. Eher am Rande oder als Episode wird die Geschichte des Imitators der Vogelstimmen erzählt, seine Begabung, die Sprache der Vögel zu verstehen, sie zu entziffern und auf Tonbändern festzuhalten. Statt seine Arbeit für das Studium der Sprache der Natur zu nutzen, stellt sie der militärisch-industrielle Apparat in den Dienst der Überwachung und Entschlüsselung aller sprachlichen Äußerungen, die als subversiv eingestuft werden und unter Verschluss zu halten sind. Unschwer ist in der Figur des Vogelstimmen-Imitators eine Funktion der Subjektentwicklung zu erkennen, die Sprachkritik nämlich von einer Position von außerhalb des institutionellen Sprachgebrauchs sowie die Suche nach einem veränderten Zusammenhang sprachlicher Zeichen, an deren Erforschung die Neoavantgarden beteiligt sind. Mit Il lanciatore di giavellotto kehren wir zurück zu den Anfängen der Geschichte des Subjekts, zum Familiendrama, das sich im Verlauf des Werks zur Tragödie des Ödipus gewandelt hat. Dass die Familiengeschichte tragisch endet, führt Volponi zurück auf die Widersprüche der Sozialisation im Faschismus, in dessen Sog die Familie geraten ist. Die Widersprüche und die Entzweiung im Sozialisationsmilieu verursachen, nach Volponis Darstellung, die Zerrissenheit des jugendlichen Subjekts, aus der sich dessen fatale Handlungsweise erklärt. Das Resultat, aus Volponis Sicht, ist der Eintritt der Nachkriegsgeneration in eine Existenz an einer Art Nullpunkt gesellschaftlicher Erfahrung, wie das die Protagonisten des frühen Werks dokumentieren. In Le mosche del capitale, dem letzten Roman Volponis, wäre Saraccini als eine Figuration des Subjekts zu begreifen, wenn man ihn als die Figur versteht, die noch einmal die Erwartungen darstellt, die Volponi selbst noch bis zu einem gewissen Grad für realisierbar gehalten hat. Saraccini wäre den Figuren zu vergleichen, die wie die Helden der frühen Romane an die Verwirklichung einer Sache glauben, an der sie bis zu dem Moment festhalten, wo ihr Scheitern offensichtlich wird. Aber die Überzeugung bezüglich der Sache, die Saraccini vertritt, ist nicht mehr ungebrochen, sondern von Anfang 498
Die Geschichte und der universale Lebenszusammenhang
an schon vermischt mit den Anlagen, die Guido Corsalini als Figur der Selbstbehauptung und des beruflichen Erfolgs ausgezeichnet haben. Es scheint, als hätte Volponi in der Figur des Saraccini eine Art Synthese der beiden Veranlagungen präsentieren wollen, was wir aber hier nicht mehr analysieren können. Eine andere Figur des Romans könnte Volponi dagegen für die Rolle des Subjekts vorgesehen haben, als er nämlich, erst im Laufe der Niederschrift, im Zentrum des Romans den Arbeiterkampf in der Fabrik in die Handlung einfügt und damit dessen Gewicht innerhalb der Erzählung geltend macht. Und diese Figur ist der Arbeiter Tecraso, der gegen die Installation automatischer Vorrichtungen in der Fabrik protestiert und wegen Gewalttätigkeit strafrechtlich verfolgt und ins Gefängnis geworfen wird. Vom Arbeiter zum Arbeitslosen herabgestuft, ist er einer der vielen precari, die ohne Versorgungsansprüche ihre Existenz fristen und deren Daseinsrechte in der Repubblica borghese politisch nicht mehr vertreten werden. Sie münden in den Strom, den Volponi in Le cose di Mao beschrieben hat oder, konkreter gesagt, werden Bestandteil der politischen Bewegung, von der Volponi hoffte, dass sie in der Rifondazione comunista in den 90er Jahren zur Erneuerung der Partei beitragen würde.6 So wird das Bewusstsein der aus dem Arbeitsprozess Ausgeschiedenen auch der tragende und bestimmende Teil des Bewusstseins des Subjekts in Nel silenzio campale, wo der Titel schon darauf hinzudeuten scheint, dass die Sprache der Bedürfnisse der Menschen verstummt ist, besiegt von den Interessen der Kapitalakkumulation. Nach dem Scheitern des Versuchs, die italienische Industrie vor dem Absturz in den Sumpf von Tangentopoli7 zu bewahren und die gesellschaftlichen Verhältnisse durch den historischen Kompromiss zu stabilisieren – was Volponi in Le mosche del capitale als Drama in Szene gesetzt hatte – bezeichnet das »Schweigen über der Kampfstätte«, wie man den Titel des letzten Gedichtbands übersetzen könnte, den Übergang in die Phase, in der eine andere Sprache zu finden ist, d.h. das Subjekt lernen 6
7
Welche Erwartungen Volponi bezüglich der Gründung von Rifondazione comunista hegte, sind den Äußerungen zu entnehmen, die er im Interview mit Emanuele Zinato in Scritti dal margine, S. 177- 79 gemacht hat und die wir hier wie folgt zusammenfassen: »Seit Jahren schon will sich die kommunistische Partei [il Pci] als eine gut bürgerliche Partei präsentieren, die die allgemeine Ordnung dieser Gesellschaft nicht stört. Das ist auch die gegenwärtige Politik Occhettos [des letzten Parteisekretärs der Partei vor ihrer Auflösung], und es war auch bis zu einem gewissen Grad die Politik Berlinguers, als er die Wahlen gewann, aber keine Bedingungen stellte und die Regierung Andreotti überließ, und sich zurückzog wie einst Hannibal.« [177] – »Die Lehre, die zu ziehen ist, ist, dass die Politik nicht allein die Sache der Parteien ist, und noch weniger die der Anzahl von Parlamentariern. Die parlamentarische Vertretung der Wähler, die ohne Verbindung zur Kultur der Basis ist, nützt wenig.« [178] – »Auch die kommunistischen Parteien, die wir kannten, erschöpften sich in der Sorge für sich selbst. Auch Rifondazione sollte weniger eine Partei als eine breite Bewegung der Basis sein; stattdessen hat sie in allen Belangen den alten Vorgaben der Apparate und den Parteiinteressen den Vorzug gelassen. Es muss eine vollständig neue Politik gefunden werden, die von außen die Institutionen erneuert. […] Die Debatten und die Initiativen […] müssen von unten kommen.« [179] Die Prozesse gegen die Korruptionsaffären in der italienische Industrie seit 1991 ff.
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muss, sich an Werten zu orientieren, die jenseits der bürgerlichen Sozialisierung liegen. Der Verlust der Illusionen ist bildlich gleichzusetzen mit dem Abstieg in die Leere des Bewusstseins, wie sie in Tormenta und Uno strale dargestellt wird. Die Geschichte, die den Titel des Gedichtsbands im wahrsten Sinne des Worts illustriert, ist die, wo Talete, der Protagonist der Erzählung aus den Prose minori, am Ende des Kriegsgemetzels das Schlachtfeld verlässt und mit sich die Aufzeichnungen nimmt, die offenbar der Nachwelt die Geschichte der Kriege des 20. Jahrhunderts übermitteln sollen. Der utopische Rest der Erzählung liegt vermutlich in der Hoffnung auf die Erneuerung des Menschen, die zu gründen wäre auf die revolutionäre Veränderung seiner Sprache und diese auf die veränderte menschliche Wahrnehmung und die veränderte Struktur seiner Gefühle. Diese Mutation der menschlichen Sinnesorgane hätte auch zur Folge die Umstrukturierung des psychischen Apparats, wenn wir auf die psychoanalytischen Kriterien zurückkommen dürfen. Das Problem, das sich hier stellt, ist, wie sich die Liquidierung der bürgerlichen Gefühlskultur auf die Veränderung der Wahrnehmung des Menschen auswirkt, wenn die Wahrnehmung über die Sinnesorgane als die primäre, wenn nicht die einzige Funktion des Psychischen anzusehen ist. Aus verschiedenen Äußerungen Volponis kann geschlossen werden, dass die schwerwiegenden Pathologien des Gefühlslebens, verursacht durch die bürgerliche Sozialisation, in einem Gemeinwesen, in dem das – den kapitalistischen Systemen inhärente – Profitstreben nicht mehr auf der Erziehung lastet, nicht mehr das Verhältnis zu den Mitmenschen bestimmt, sofern es nicht mehr von den Gefühlen konkurrierender Einzelner schon seit der Kindheit diktiert sein wird, sondern einer Solidarität weicht, von der sich die Einzelnen getragen fühlen. Dieser gesellschaftliche Begriff der menschlichen Verbundenheit ist die Frucht einer dem Menschen innewohnenden Sensibilität, die die Aufklärung schon als das gesellschaftsbildende Vermögen des Menschen par excellence ausgewiesen hat.8 Die Sensibilität im Verein mit der noch auszubildenden menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit ist die Basis eines Gefühlspotentials des Gemeinwesens, das soziale Gerechtigkeit zum Programm erhebt. Die Richtung zu dieser neuen Vergesellschaftung haben ab den 70er Jahren schon Figuren im Werk Volponis angezeigt, die von ihm als wegweisend betrachtet worden sind. Es wird sicher nicht erstaunen, wenn als erster der Reformator aus Assisi zu nennen wäre, für Volponi der Lehrmeister franziskanischer Kultur im Sinne ihrer laizistischen Impulse gegen klerikale Vorherrschaft. »Francesco, so schreibt er, ist ein Häretiker, ein Materialist«, die kirchliche Lehre verlassend, »weil das ganze Christentum keine große Beziehung zur Natur hat.«9 Darin aber besteht seine erste Vorbildfunktion, dass er die Natur wieder in den Lebenszusammenhang der menschlichen Gesellschaft zurückgeholt hat. Doch Franz von Assisi ist darüber hinaus auch die Inkarnation eines revolutionären Bewusstseins, das in fast allen Hinsichten dem entspricht, was Volponi dem Subjekt der neuen Vergesellschaftung zugedacht hat. Dieses Bewusstsein umfasst alle Bereiche des menschlichen Lebens, Poesie, Ökonomie, Politik: 8 9
Siehe die Artikel Sensibilité und Humanité in der französischen Encyclopédie von D’Alembert und Diderot. Aus dem Dialog mit Francesco Leonetti, S. 101.
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Die Geschichte und der universale Lebenszusammenhang Sein Beispiel müsste, wie ich meine, auch heute noch der Ökonomie des Universums dazu verhelfen, sinnvoll zu sein, in ihrer Beziehung zur Natur, zur Umwelt, nicht nur bezüglich ökologischer Probleme, sondern auch der Probleme der Philosophie, der Existenz, des menschlichen Daseins, seiner Ausdrucksfähigkeit […].
Und was die Zukunft betrifft, fügt Volponi hinzu: San Francesco ist die Idee des Glücks und der Wahrheit des Neuen, der Revolution, der möglichen Gegenwart… Eine Revolution, die sich ereignet, indem man die Art zu handeln verändert. Andererseits, falls die Menschheit sich nicht ändert, wird sie zum baldigen Untergang verurteilt sein […].10
Eine zweite, im Vergleich zu Franz von Assisi, eher bescheidene Figur, die die existentielle Dimension des modernen Subjekts repräsentiert, ist der wiederholt schon zitierte und nur einmal bei Volponi erwähnte Sir Chichester, von dem man nichts anderes weiß, als was Volponi in den wenigen Zeilen über ihn sagt: »dass er in seinem Schiffchen um die Welt gefahren ist. Allein, in den tiefen Nächten der Ozeane, halb wachend, halb schlafend […]«.11 In der Kürze des Textes steckt die Vieldeutigkeit dieser Fabel, die einerseits die Offenheit des neu zu entdeckenden Horizonts andeutet, andererseits aber auch den Durchbruch zu einem neuen Bewusstsein bezeichnet, was wir dem Mallarmé-Syndrom an die Seite stellen. Eine dritte Figur schließlich, die die historischen Einsichten der Gedichte des letzten Bands in ihrer Gestalt zusammenzufassen scheint, ist die des sokratischen Ich-Ideals des Subjekts, wie wir diese Bewusstseinsform nennen wollen, weil sie das Verstehen des Anderen als die Einsicht in die Selbsterfahrung vermutlich verkörpern sollte. Es ist die nicht namentlich genannte Figur in Per un bronzo museale, von der der Erzähler sagt: Eri tu dunque l’alunno già sul punto d’interrogare o il più buono dei maestri […]? [V. 18- 19]
Warst du also der Schüler als du zu fragen begannst oder nicht vielmehr der beste aller Meister […]?
Und wonach er fragt, der Meister, ist das. was noch nicht gesagt ist, was noch nicht bewusst im Individuum existiert oder noch unbewusst im Strom des Lebenszusammenhangs verborgen ist: Tu ti concentri piuttosto che sui suoni sul silente accadere ai raggi intorno e dentro la corrente infinita […] [V. 35- 37]
Du konzentrierst dich mehr als auf die Töne auf das schweigende Geschehen im Licht der Strahlen um und in der unendlichen Strömung […].
10 Ebd., S. 99- 100. 11 Ebd., S. 86.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
In den drei Figuren, die aber noch um andere exemplarische Gestalten des Werks Volponis oder des Universums seiner Leitbilder zu erweitern wären – zum Beispiel Pasolini und Adriano Olivetti –, sind am markantesten erkennbar das Profil und die Struktur eines Bewusstseins, das wir einem Subjekt zuschreiben, das Volponi vermutlich als das einer zukünftigen Vergesellschaftung betrachtet hat.
II. Der universale Lebenszusammenhang und die Gesellschaft 1. D IE S TRUKTUR
DES
G ESELLSCHAFTLICHEN
Um die Strukturen dessen, was wir den universalen Lebenszusammenhang genannt haben, in Erinnerung zu rufen, seien die beiden Modelle, von denen wir ausgegangen sind, im Folgenden noch einmal als Diagramme abgebildet. Wir haben unterschieden zwischen dem Modell der Kategorien, in die wir die Strukturen unterteilen, und das Modell der Entwicklung des Gesellschaftlichen im Hinblick auf seinen historischen Verlauf. Das kategoriale Modell umfasst auf drei Ebenen: Universum Kosmos Natur
Gesellschaft Zivilisation
Unter »Zivilisation« verstehen wir den vergesellschafteten Gesamtzusammenhang im Sinne von Gesellschaftsformationen. Das Modell der Entwicklung des Gesellschaftlichen umfasst die Bereiche
Ökonomie
Gesellschaft Politik Gesellschaftsformation
Kultur
Als Gesellschaftsformation wären die Formen der politischen Verfassung von Gemeinwesen als Staaten oder Zusammenschlüssen von solchen zu verstehen, die sich auszeichnen durch einen mehr oder weniger ausgeprägten Grad zivilisatorischer Vollkommenheit. Diese Daten rufen wir in Erinnerung, um anhand dieser Begriffe auf die Konzeption des Ganzen zurückzukommen, das Volponis Geschichtsbild als verankert erweist im Projekt der Moderne im Sinne von Habermas’ Interpretation der historischen Zäsur von europäischer Aufklärung, bürgerlicher Revolution und Formierung moderner Gesellschaften.12 In dieser Rückbezie-
12 Siehe Jürgen Habermas: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. Leipzig: Reclam Verlag 1990; sowie J. Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M: Suhrkamp 1985, S. 27f.
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Die Geschichte und der universale Lebenszusammenhang
hung auf die Prinzipien der Moderne kann letztlich der leitende Begriff des Lebenszusammenhangs seine für uns legitimierende Begründung finden. In der Geschichte der Neuzeit, die in Europa mit der Bildung von Nationalstaaten beginnt – in England, Frankreich, Spanien, den nördlichen Niederlanden – und die Grundlagen einer staatlichen Ordnung des gesellschaftlichen Lebens legt, markiert der revolutionäre Übergang zur Herrschaft des Bürgertums – für den Kontinent mit dem Ereignis der Französischen Revolution – eine neuerliche Zäsur mit dem Ende des Ancien Régime und dem, was als die eigentliche Moderne zu bezeichnen ist. Was Habermas unter dem Projekt der Moderne versteht, hat seine Wurzeln in der europäischen Aufklärung, in England im Sensualismus, in Frankreich in der Encyclopédie von D’Alembert und Diderot, in Deutschland in Kants philosophischen Kritiken. Mit der Kontestation des Alten setzt sich ein neues Zeitbewusstsein durch, das Habermas umschreibt als den politischen Durchbruch der Moderne im Titel des Eingangskapitels der oben zitierten Schrift: Das Zeitbewusstsein der Moderne und ihr Bedürfnis nach Selbstvergewisserung. Im zweiten Kapitel dieser Schrift, überschrieben Hegels Begriff der Moderne, geht es nach Habermas um die Aufhebung des Gegensatzes der für die Moderne konstitutiven Begriffe von Subjektivität und Vernunft13 und darum, wie es heißt, die Vernunft als »Macht der Vereinigung« zu erweisen. Denn Subjektivität und Vernunft sind bezüglich der Bildung von Gesellschaft noch nicht von sich aus im Einklang, sondern müssen politisch erst in Übereinstimmung gebracht werden. Die Subjektivität als Antrieb zur Gesellschaftsbildung, von der Politik ursprünglich getrennt, wird wirksam erst, wenn politisch sich die Vernunft als praktisches Handeln mit ihr verbunden hat. Der Trennung dieser Bereiche, d.h. von Gesellschaft und Politik oder Staat, die wir als Strukturmomente ebenfalls unterschieden haben, widmet Habermas in dem genannten zweiten Kapitel eine Analyse, die auch für uns von Interesse ist.14 Die Vermittlung zwischen dem privatrechtlichen Sektor der Ökonomie und der gesamtgesellschaftlichen Sphäre des Staats ist einer Vernunft auferlegt, die die Aufklärung auf die neuen bürgerlichen Verhältnisse insgesamt überträgt.15 13 Habermas: Der philosophische Diskurs, S. 34. 14 Habermas: Der philosophische Diskurs, S. 50. In der traditionellen Auffassung von Politik, die auf Aristoteles zurückgeht, so Habermas, werden bis ins 19. Jahrhundert Staat und Gesellschaft als eine »umfassende Sphäre« betrachtet. »Die Ökonomie des ›ganzen Hauses‹, eine auf der agrarisch- handwerklichen Produktion beruhende Subsistenzwirtschaft, die durch lokale Märkte ergänzt wird, bilden nach dieser Vorstellung die Grundlage einer politischen Gesamtordnung.« Diese Begriffe, so Habermas, gelten nicht mehr für moderne Gesellschaften, »in denen sich der privatrechtlich organisierte Warenverkehr der kapitalistischen Ökonomie aus der Herrschaftsordnung herausgelöst hat. […] das Soziale hat sich vom Politischen, die entpolitisierte Wirtschaftsgesellschaft vom bürokratisierten Staat getrennt.« Die klassische Lehre von der Politik »zerfällt deshalb, seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, in eine politischökonomisch begründete Gesellschaftstheorie auf der einen, in eine vom modernen Naturrecht inspirierte Staatstheorie auf der anderen Seite.« [S. 50; Kursivierung von uns.]. 15 Habermas: Der philosophische Diskurs, S. 51: »Unter Hegels Beschreibung erscheint die bürgerliche Gesellschaft einerseits als eine »in ihre Extreme verlorene Sittlichkeit«, als ein ›dem Verderben Angehöriges‹. Andererseits findet sie, ›die Schöpfung der
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Ist in unserem Zusammenhang davon auszugehen, dass die Zäsur in der geschichtlichen Entwicklung auf dem Kontinent mit der Französischen Revolution anzusetzen ist und dass mit der Überwindung des Alten das Zeitalter der Moderne im Sinne ihrer Modernität beginnt, dann ist in diese Konzeption auch das Projekt der Moderne einzubeziehen, das nach dem zweiten Weltkrieg nicht nur in Sartres Zeitschrift Les Temps Modernes, sondern auch in Vittorinis Il Politecnico und seinen Postulaten der Progettazione16 eine zeitgemäße Neubelebung gefunden hat. Die Wende, die sich in der Aufklärung ankündigt, in der die Erneuerung des Wissens darauf zielt, den Zusammenhang der Erkenntnisse auf allen Wissensgebieten in einer neuen Synthese zusammenzufassen, exemplarisch dokumentiert in der französischen Encyclopédie, bekundet das Bestreben des revolutionären Bürgertums, sich über die Welt als Ganzes Gewissheit zu verschaffen und das separate, dogmatisch verwaltete Wissen der Tradition zu verwerfen oder auszuwechseln gegen die empirischen Erkenntnisse bezüglich der neu sich formierenden Gesellschaft und der sich entfaltenden Naturwissenschaften. Aus dieser neuen Allgemeinheit der wissenschaftlichen Erkenntnis ergeben sich die Prinzipien, die das revolutionäre Bürgertum als den politischen Willen der ganzen Gesellschaft verkündet hat, dessen Ausdruck die Menschenrechte sind. Auf diesen Prinzipien und ihrer Verwirklichung in der sich konstituierenden bürgerlichen Gesellschaft beruht auch das Projekt der Moderne, das nach Habermas noch nicht eingelöst worden ist. Wie aus dem Vorangehenden schon erkennbar geworden ist, war die Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft von Konflikten begleitet, die auf den sie begründenden Widersprüchen von offenbar nicht zu vereinbarenden Ansprüchen beruhten: dem Anspruch einerseits der Entfaltung der Subjektivität und andererseits der Vernunft, die der Subjektivität Grenzen setzte. Verändert hat sich auch, dass der Begriff der Vernunft, wie ihn die Aufklärung gegen die Macht der Vorurteile ins Feld geführt hat, nicht mehr einer moderneren Ratio entsprach, die einen neuen Widerspruch aus sich entlässt, nämlich den zwischen Rationalität im Sinne eines Daseinsrechts, einer raison der Existenz, wie sie in Sartres Philosophie begründet wird, und einer Zweckrationalität, die allgemein dem menschlichen Handeln ökonomisch zugrunde gelegt wird und sich letztlich aus der kapitalistischen Ordnung der Zwecke herleitet. Auf die »ragione« im existentiellen Sinn nimmt Volponi Bezug in einem Artikel betitelt La ragione immobile [Die unbewegliche Ratio],17 wo er aus Sartres Einleitung zur Critique de la raison dialectique die Passage zitiert, in der dieser unterscheidet zwischen einer »positivistischen Ratio der modernen Welt‹, auch ihre Berechtigung in der Emanzipation des Einzelnen zu formeller Freiheit: die Entfesselung der Willkürlichkeit des Bedürfnisses und der Arbeit ist ein notwendiges Moment auf dem Wege, um ›die Subjektivität in ihrer Besonderheit zu bilden.« 16 Nach Zinato propagiert und fördert Vittorini in den Schriften von Il menabò di letteratura eine Linie der literarischen Erforschung der zeitgenössischen Verhältnisse unter der Bezeichnung der »progettazione« in dem Sinne, dass die Literatur teil hat an der Erforschung und Erkenntnis der modernen Industriegesellschaft. [E. Zinato: »Il Menabò di Letteratura: La ricerca letteraria come riflessione razionale«, in: Studi novecenteschi, Nr. 39, Juni 1990]. 17 Scritti, S. 75.
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Die Geschichte und der universale Lebenszusammenhang
Naturwissenschaften« und einer »ragione nuova«, die als »dialektisch« gekennzeichnet wird. In Übereinstimmung mit Sartre identifiziert Volponi die » positivistische Ratio« mit der »unbeweglichen Ratio« des Kapitalismus und die »ragione nuova« als »dialektische« mit dem Daseinrechts der Existenz. [75] Als Herrschaftsvernunft wird also die Zweckrationalität in allen Bereichen aufgespürt und denunziert, in denen die Institutionen der Zivilgesellschaft von kapitalistischen Interessen majorisiert werden, und das besagt, wo die Daseinsrechte i. S. der Vernunft von Personen oder der Rationalität von Institutionen ihre Geltung verloren haben. Das Herrschaftsdenken dominiert in der Weise, dass es die Rationalität des Ganzen auf sich konzentriert hat, d.h. dass es die gesellschaftliche Vernunft der Subjekte in ökonomische Zweckrationalität hat aufgehen lassen.
2. P OLITIK
UND
Ö KONOMIE
Die Historiker unseres Zeitabschnitts haben nahezu übereinstimmend den Beginn der großen Krise der 70er Jahre als die Reaktion auf die politischen Ereignisse zwischen 1968 und 1970 gesehen, die Zäsur, die mit dem Erfolg des Arbeiterkampfs gegen die große Fabrik den Weg zu demokratischen Verhältnissen zu eröffnen schien. Auf diesen Erfolg folgte umgehend die groß angelegte Gegenoffensive des Kapitals, in Italien u.a. mit der Verlagerung der großen Produktion auf kleinere, regional verstreute Industrien, die so genannte fabbrica diffusa. Diesen Wendepunkt, der die Geschichte der Republik in eine Phase von quasi faschistischen Herrschaftsmethoden zurücklenkte, hat Volponi, in La grande crisi e la crisi minore [Die große Krise und die kleinere] in Scritti dal margine,18 in exemplarischer Klarheit und Weitsichtigkeit beschrieben: Zu unterscheiden ist einerseits die höherrangige, große historische Krise, hervorgerufen durch das zivile und demokratische Wachstum der Volksmassen und 18 Gramsci beschreibt in H 4, § 38, unter dem Titel »Die Beziehungen zwischen Struktur und Superstruktur«, die Verschiedenheit dessen, was in Volponis Artikel »La grande crisi e la crisi minore« in den darin enthaltenen Begriffen zum Ausdruck kommt und was bei Gramsci als der Unterschied zwischen »permanenten« und »okkasionellen« Strukturmomente gekennzeichnet wird. Bei Gramsci heißt es: »Beim Studium einer Struktur muss man unterscheiden zwischen dem, was permanent ist, und dem, was [dem Augenblick geschuldet also] okkasionell ist. Was okkasionell ist. ist der Gegenstand der politischen Kritik, was permanent ist, der Gegenstand einer geschichtlich- gesellschaftlichen Kritik; was okkasionell ist, ist, was der Beurteilung der Gruppen und politischen Persönlichkeiten dient; was permanent ist, dient dagegen dazu, die großen gesellschaftlichen Gruppierungen zu beurteilen. Beim Studium einer geschichtlichen Periode wird die große Bedeutung dieser Unterscheidung erkennbar: es gibt eine Krise, die sich manchmal über Jahrzehnte hinzieht. Das bedeutet, dass in der Struktur unheilbare Widersprüche in Erscheinung treten, dass die politischen Kräfte, die im positiven Sinn operieren zur Erhaltung der Struktur selbst, bemüht sind, sie in gewissen Grenzen zu sanieren; […].« [Siehe Volponis Artikel in Scritti dal margine, S. 53- 59].
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte ihr entsprechender Druck auf den Staat und dessen Strukturen, und andererseits die sekundäre Krise der nationalen Ökonomie samt ihrer Systeme und Untersysteme. – Die erste ist eine positive Krise, weil sie ihre Lösung findet in der Eroberung und Wiederherstellung des Staats seitens der lebendigsten und authentischsten Kräfte des Landes. […] Die zweite ist eine negative Krise, weil sie genau im umgekehrten Sinn verläuft, indem sie mit ihren Mechanismen dazu tendiert, den normalen Ablauf zu blockieren oder zumindest dazu beiträgt, gemäß ihrer andersartigen Logik, die befreienden Wirkungen zu behindern. [53]
In dem, was als politisch-ökonomische, also kleinere Krise verstanden wird, geht es um einen Gesellschaftszustand, in dem die Menschen Minderungen einschneidender Art hinnehmen müssen, um einen Qualitätsverlust an Lebensverhältnissen also, der ihnen als gesellschaftlichen Subjekten zuteil wird. Wenn wir davon ausgehen, dass die Menschen die materiellen Bedingungen ihres Lebens nicht nur erleiden, sondern auch an ihrem Zustandekommen beteiligt sind, so sind sie auch – ob passiv oder aktiv – die Subjekte ihrer Geschichte. So jedenfalls haben die Autoren der Aufklärung schon den Menschen verstanden, als das Subjekt seiner Gesellschaft und der Zeit, in die er als das mitbestimmende und verantwortliche Wesen gestellt ist. Mit Bezug auf Kant und Hegel hat Habermas das in Der philosophische Diskurs der Moderne in der Formulierung zusammengefasst, dass die Moderne in ihrem Bedürfnis nach »Selbstvergewisserung« sich auf das Prinzip der Subjektivität gründet, das sich politisch und gesellschaftlich, wie er ausführt, auf die verschiedensten Bereiche des Lebens bezieht.19 Als historische Wegbereiter des Prinzips der Subjektivität nennt Habermas »Reformation, Aufklärung und französische Revolution«, und in philosophischer Hinsicht Decartes »Cogito ergo sum« und Kants Fundierung der Moral und des ästhetischen Urteils im Selbstbewusstsein des Subjekts.20 Ob diese Grundlegungen allerdings »als Quelle für normative Orientierungen ausreichen«, wird vom selben Autor allerdings als die Problematik der Moderne offen gelassen. Aber auch aus italienischen Quellen ist die gesellschaftliche Relevanz des Primats der Subjektivität hinreichend zu belegen; und in erster Linie in der Begründung eines revolutionären Subjekts in der Philosophie der Praxis bei Gramsci. Für Gramsci ist das Bewusstsein des Menschen in der Arbeitswelt gespalten in den Teil, der sein praktisches Handeln begleitet, und den Bereich, der für sein Selbstverständnis in der Gesellschaft bestimmend wird, ein Bewusstsein also, dessen Teile nicht übereinstimmen, sondern widersprüchliche Bilder des Realen liefern und im Grunde als »widersprüchliches« Bewusstsein bezeichnet werden kann. Das genau ist das Bewusstsein, das Volponi auch seinem Subjekt zugrunde legt.21 Den Prozess der revolutionä19 Habermas: Der philosophische Diskurs, S. 27. Unterschieden werden hier hinsichtlich des Prinzips der Subjektivität folgende Aspekte: »a) Individualismus: in der modernen Welt kann die unendlich besondere Eigentümlichkeit ihre Prätentionen geltend machen; b) Recht der Kritik: das Prinzip der modernen Welt fordert, dass, was jeder anerkennen soll, sich ihm als ein Berechtigtes zeige; c) Autonomie des Handelns: es gehört der modernen Zeit an, dass wir dafür stehen wollen, was wir tun […].« 20 Habermas: Ebd., S. 27/29. 21 In dem langen Gedicht Insonnia inverno 1971 [Schlaflosigkeit Winter 1971] aus Con testo a fronte beschreibt Volponi als eine der Ursachen des Schmerzes diese Spaltung
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Die Geschichte und der universale Lebenszusammenhang
ren Klärung dieses Bewusstseins versteht Gramsci als einen politischen Prozess, der nicht zuletzt über die Phase eines grundlegenden Wandels der gesellschaftlichen Verhältnisse führt.22 Als Prozess, den wir als Rekonstitution des Subjekts im Werk Volponis bezeichnet haben, entspricht er genau dem, was bei Gramsci die Entwicklung zur »soggettività politica« besagt. Das Subjekt, das auf gesellschaftliche Veränderung drängt, ist uns schon in den Romanfiguren Volponis in den verschiedensten Variationen begegnet. In der Phase der politischen Krise der 70er Jahre identifiziert Volponi es in den außerparlamentarischen Bewegungen, in denen er den Kampf der Jugend für eine andere Republik sieht und anerkannt hat, den er in I giovani, la moneta, il mercato [Die Jugendlichen, das Geld, der Markt] in Scritti dal margine so charakterisiert: Man sollte also festhalten, dass die Jugendlichen nicht mehr nur Rowdies oder rebellische und unfertige Familiensprosse sind, sondern dass gerade in der Substanz ihrer Gewalt und ihrer Wünsche Anlagen von politisch-gesellschaftlichem Interesse zu sehen sind, eine Art Berufung. Um ihre Energien in die richtigen Bahnen zu lenken, genügte die einfache Umlenkung auf die Geschichte, z, B. die in der Linken schon im Gang befindliche Initiative der Erneuerung der Republik.« [65]
Die Bewegungen der Jugendlichen, die die Lohnarbeit verweigern und sich als neue politische Kraft der Linken profilieren, wird von Sergio Bologna, einem der Wortführer der Bewegung der 70er Jahre, als ein Kampf beschrieben, der sich im Namen einer »neuen Subjektivität« gegen ein Wertsystem – ›un sistema di valori‹ – richtet, das als Wert nur anerkennt und sanktioniert, was in den Dienst der herrschenden Ideologie genommen werden kann.23 Signifikant an dieser Charakterisierung der Werteskala, die vom Regime des Polizeiterrors gegen die Jugendproteste als die gesellschaftlich allein gültige mit Gewalt durchgesetzt wird, ist, dass ein bestimmter Typus der intellektuellen Funktion Anerkennung findet, während, was als neue Subjektivität von der Bewegung vertreten und gefordert wird, marginalisiert bleibt und illegalisiert wird. Verteidigt und legitimiert Volponi die politischen Implikationen des Kampfs der Neuen Linken, so gilt das weniger oder auch schlechthin gar nicht bezüglich der theoretischen Voraussetzungen, die die autonomen Strömungen zum Teil ihren Zielen zugrunde gelegt haben, zum Beispiel die Theorie der Bedürfnisse, die abgeleitet aus Agnes Hellers Schriften24 die Motivation des Kampfes herleiten aus den nuovi bisogni oder auch den bides Bewusstseins wie folgt: »Einen weiteren Schaden verursacht das Bewusstsein des Widerspruchs,/der in dem Trug begründet ist/des zerknirschten Genusses des Schmerzes./ /Un altro danno produce la coscienza/della contraddizione insita nell’inganno/del contrito godimento del dolore. [S V, V. 36- 38]. 22 Die folgenden Bemerkungen Gramscis aus den Gefängnisheften deuten das an: »Der kritische Prozess des Selbstverständnisses verläuft also über einen Kampf politischer ›Hegemonien‹, von sich bekämpfenden Richtungen, zunächst im Bereich der Ethik, dann der Politik, um schließlich zu einer höheren Ausformung des eigenen Bewusstseins des Wirklichen zu gelangen.« [Heft 11, § 12]. 23 Sergio Bologna: La tribù delle talpe, S. 10. 24 Heller, Agnes: Theorie der Bedürfnisse bei Marx, Hamburg: VSA Verlag 1980.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
sogni radicali, die, da sie unbefriedigt bleiben, als revolutionär verstanden werden.25 Ansätze zu einer solchen Auffassung könnte man allenfalls, wenn man will, in Aspris »revolutionärem« Projekt in Corporale erkennen. Die Subjektproblematik bei Volponi ist, wie hier schon erkennbar, untrennbar verbunden mit der Entwicklung eines politischen Bewusstseins seiner Figuren. Dass dieser Prozess in verschiedenen Phasen dargestellt und analysiert wird, aber in seinem Werk nicht zu einem Abschluss gelangt, ist sicher von größerer Bedeutung als eine Zukunftsperspektive, die den politischen Verhältnissen nicht entspricht. Volponis Weitsicht und sein analytischer Sinn erweisen sich gerade in der realistischen Beschreibung und eher negativen Charakterisierung der Verhältnisse, in denen sich das Ende der ersten Republik spiegelt und worin die Geschichte des Subjekts in seinem Werk unabgeschlossen endet. Ihre abschließende Darstellung findet seine Geschichte in der Figurenkonstellation des letzten großen Romans, Le mosche del capitale. Drei Figuren stehen für die Welt der italienischen Industrie: sie repräsentieren den Präsidenten eines großen Industrieunternehmens (Nasàpeti), einen seiner führenden Manager (Saraccini) und einen der protestierenden Arbeiter (Tecraso). Den Präsidenten charakterisiert, dass er das Idustrieunternehmen mit einer der großen Banken liiert, die damit die Abwicklung der Kapitaltransaktionen in die Hand bekommt; der für die Produktion verantwortliche Manager wird zunächst dargestellt als die Kraft der Erneuerung industrieller Kompetenz, aber zuletzt eher bloß gestellt als das Instrument der Interessen der Kapitaleigner – auch er also »eine Fliege des Kapitals«,26 die Geschichte des Arbeiters Tecraso und seine Funktion skizziert Volponi selbst wie folgt: ein rausgeschmissener und entlassener Arbeiter, am Rand des Terrorismus lebend, mit Arbeitslosenunterstützung, Krankheit, Rebellion, und der sich seiner Identität beraubt sieht in einer Welt, die ihn ausgestoßen hat.27
Diesem Arbeiter stellt er in der Figur der Iride, deren Geschichte er in Prose minori erzählt, eine Arbeiterin an die Seite, deren Funktion in der Fabrik so etwas darstellt wie die Arbeitermacht der alten »centralità operaia«, der früheren Machtposition der Arbeiter in der Fabrik. Sie wird gesehen als die Figur dieser Macht, die der Gegenoffensive des Kapitals in den 70er Jahren zum Opfer fällt. Aspekte dieser Gegenoffensive werden in der hier skizzierten Figurenkonstellation mit abgebildet, nämlich die Einführung der Automation in den Fabriken und als deren Folge der Verlust von Arbeitsplätzen sowie der Eingriff der Banken und Finanzinstitute in die Produktionsprogramme der Unternehmen. Die sozio-politischen Analysen der Linken haben in diesen Maßnahmen eine grundlegende Veränderung des Verhältnisses von Fabrik und 25 Siehe dazu Gianfranco Bottazzi: Dai figli dei fiori all’autonomia. I giovani nella crisi fra marginalità ed estremismo. Bari: De Denato 1978, siebtes Kapitel: Giovani e teoria dei bisogni. 26 Siehe Romanzi e prose, Bd. III, S. XI; im selben Band III, S. XIX die Äußerungen von Volponi über das doppelte Romanprojekt, das schließlich in: Le mosche del capitale zusammengeführt worden ist. 27 Romanzi e prose, Bd. III, S. XIX.
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Gesellschaft gesehen und daraus gefolgert, dass. nicht der Antagonismus der Arbeiter im Verhältnis zur Fabrik verändert ist, sondern dass sich grundlegend das Verhältnis von Fabrik und Gesellschaft geändert hat.28 Das ist auch entschieden die Auffassung von Volponi, der den Kampf der Arbeiter gegen das Kommando in der Fabrik bis zuletzt unterstützt und legitimiert hat. Nicht zu akzeptieren ist nach Volponi, dass die Fabrik, d.h. der materielle Ort der Produktion, von der Gesellschaft getrennt wird und gänzlich in die Regie des Kapitals übergeht, dass damit auch die Arbeiter in der nicht mehr zu legitimierenden Lohnarbeit festgehalten werden. Ist das ›Wertgesetz‹ nicht mehr gültig, nämlich die Bindung des Lohns an die Arbeitszeit dann ist die Arbeitsleistung auch nicht mehr als Tauschwert, ›valore di scambio‹, zu entgelten, sondern als Gebrauchswert, ›valore d’uso‹. Die Strukturen des Gesellschaftlichen
Unter diesem Titel kommen wir auf den von Hegel angesprochenen Widerspruch zwischen der Subjektivität und der gesellschaftlichen Vernunft in der bürgerlichen Gesellschaft zurück, einen Widerspruch, der sich darin äußert, dass das Subjekt in seiner Vereinzelung verharrt und nicht in einen Zusammenhang integriert werden kann. Dieser Zusammenhang ergibt sich für Volponi aus der politischen Integration aller gesellschaftlichen Momente in der Republik als der Form des Gemeinwohls. Wir greifen, um das zu illustrieren, noch einmal auf unser Strukturmodell zurück. In der Forschung zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft setzen die meisten Analysen an am Wendepunkt zur Herrschaftsperiode des Bürgertums im Anschluss an die französische Revolution. Damit beginnt auch die begriffliche Differenzierung zwischen Staat, Politik und Gesellschaft, die bei Hegel zugrunde gelegt wird. Auf die Unterscheidung von Zivilgesellschaft in Abgrenzung zur politischen Gesellschaft haben wir schon in der Darstellung von Paul Ginsborgs Analysen zur Geschichte Italiens hingewiesen. In diesem Zusammenhang von Interesse ist, wie einer der führenden Politiker der 80er Jahre, Giuliano Amato, die gesellschaftlichen Strukturen unterteilt in, wie der Titel seines Buches lautet, Economia, politica e istituzioni in Italia.29 Der herkömmlichen Unterscheidung von Ökonomie und Politik wird hier ein Strukturbereich an die Seite gestellt, nämlich die Institutionen, denen im Grunde keine strukturelle Eigenständigkeit zukommt, in dem vielmehr ein Bereich des Gesellschaftlichen verstaatlicht und der Kompetenz der Zivilgesellschaft entzogen wird, in die Zuständigkeit des Staates übergeht und damit von der Politik abhängig wird. Festzuhalten wäre also, dass hier der Bereich gesellschaftlicher, i.S. demokratischer Zuständigkeit eingeschränkt erscheint von den anderen beiden Strukturen. Aber nicht nur die Kompetenzen einer demokratischen Gesellschaft erscheinen beschnitten, sondern zunehmend auch der Strukturbereich der Politik. Demonstriert worden ist das am Scheitern des Sanierungsprogramms in Le mosche del capitale , wo Wirtschaftsverbände und Banken die Befreiung der Industrie von den Profitinteressen des Kapitals verhindern. Im Kampf gegen die Kapitalinteressen steht Volponi in den 70er Jahren erklärtermaßen 28 Siehe M. Messori/M. Revelli,: »Centralità operaia«, in: La tribú delle talpe, S. 72/73. 29 Amato, Giuliano: Economia, politica e istituzioni in Italia, Bologna: Mulino 1976.
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auf der Seite der Kommunistischen Partei, was sich im Roman spiegelt im Sinne einer politischen Parteinahme zugunsten des Historischen Kompromisses. Aus den Stellungnahmen in Scritti dal margine in den 70er Jahren ist unzweideutig zu erkennen, dass Volponi den Kampf der Linken und ihrer Parteien gegen ihre Eliminierung aus der Politik mit allen Kräften unterstützt hat, dass er auch im Parlament dafür eingetreten ist, dass der Politik das Gewicht zurück gewonnen wird, das ihr die Ökonomie – und v.a. die Interessen des Kapitals – streitig gemacht haben. Die Finanzpolitik, die zum beherrschenden Moment der alle Bereiche umfassenden Krise geworden ist, wird als Ursache der Verarmung ganzer Bevölkerungsteile denunziert und als Folge der Profitsteigerung und Kapitalmaximierung entlarvt: »Der Schrecken der Inflation blockiert das Land«. [35] Der drohende volkswirtschaftliche Ruin ist einem Wirtschaftssystem zu verdanken, das die Geldwirtschaft in den Rang oberster Priorität erhebt und damit die Geldvermehrung als Primat der Wirtschaftspolitik propagiert. Gegen den Vorrang der Geldvermehrung als Vorgabe des Wirtschaftens wird der Güterbedarf der Gesellschaft gesetzt, die Produktion und die Dienstleistungen, die allen zugute kommen und das Gemeinwohl begründen. Und das Gemeinwohl ist das Gut, das mit den Mitteln der Politik zu erringen ist. Die Politik ist die Lenkung der Republik gemäß Prinzipien und Programmen, die zu wählen und durchzuführen sind, und nicht nach Vereinbarungen im Hinblick auf jeweils gegebene Umstände […]. [35- 36]
Die politische Geschichtsschreibung der 70er und 80er Jahre kommt zu denselben Schlussfolgerungen wie Volponi, was die Entmachtung und Überwältigung gesellschaftlicher Kompetenzen durch die ökonomischen Interessen angeht, die zunehmend auch das Terrain des Politischen okkupiert haben oder beanspruchen. Diese Verlagerung der Dimensionen dokumentieren nachhaltig die Analysen Marco Revellis,30 die die von Volponi angezeigten Verhältnisse in ihrer geschichtlichen Bedeutung illustrieren. Revellis Untersuchung geht davon aus, dass der Grad der Vergesellschaftung der republikanischen Verhältnisse, ihre civiltà, geschichtlich bedroht wird durch die Politik, die im Begriff ist, auch die Gesellschaftlichkeit, die socialità, der noch bestehenden italienischen Republik aufzuheben oder zu zerstören. Welche Veränderungen das bewirkt hat, versucht Revelli aufzuzeigen, indem er in seiner Analyse31 auf die Verfassungsgrundsätze von 1948 zurückgeht, in denen die uns interessierenden Schlüsselbegriffe alle angesprochen, nämlich die drei Bereiche des Gesellschaftlichen, der Wirtschaft und der Politik. Das Gesellschaftliche als die umfassendste Kategorie ist fundiert in einem Vertragsverhältnis in Begriffen von »Pakt« und »Verfassung«, das alle Bereiche bindet; der Bereich der Wirtschaft (»lavoro e capitale«) ist auf dem Boden der Gesellschaft situiert, aus der er hervorgegangen ist und deren Wohlergehen – Armut oder Reichtum – durch ihn maßgebend bestimmt wird; das Politische schließlich wird in der Funktion der Vermittlung oder Administration des Ganzen als des Gemeinwohls gesehen, das der Staat und die Verfassung ga30 Revelli, Marco: La sinistra sociale. Oltre la civiltà del lavoro, Turin: Bollati Boringhieri 1997. 31 Ebd., S. 9.
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Die Geschichte und der universale Lebenszusammenhang
rantieren sollen. Das Gesellschaftliche ist die umfassendste Kategorie des menschlichen Zusammenlebens, die vergesellschaftete Gestalt und Struktur aller übrigen Bereiche, in die auch die Natur einzubeziehen ist sowie die Bedingungen des Universalen von Raum und Zeit. In seinen Analysen geht Revelli dann in die Geschichte zurück, um die Verhältnisse, die er beschreibt, aus ihrer Entstehung und in ihrer Entwicklung verständlich zu machen. Auf diese genetischen Momente im Prozess der Gesellschaftsbildung sei ebenfalls kurz hingewiesen. Im dritten Teil seiner Untersuchung, betitelt Il disagio della politica [Das Unbehagen der Politik], beschreibt Revelli die lange Geschichte des modernen Nationalstaats -, die in zwei Verlaufsphasen unterteilt werden: eine erste Phase »die Unterwerfung der verschiedenartigen sozialen Mächte (auf einem Territorium) unter eine einzige ›souveräne‹ Machtinstanz«, und dann eine zweite Phase, »die sukzessiven Versuche, diese Macht unter die Kontrolle des regierten Gemeinwesens zu bringen«,32 d.h. sie zu vergesellschaften. Es handelt sich, wie Revelli selbst einräumt, um ein Modell, das den beschriebenen Geschichtsverlauf eher »idealiter«, d.h. in einer stark verkürzten Sicht wiedergibt, und zwar so, dass im ersten Schritt die Entstehung eines nationalstaatlichen Gebildes zugrunde gelegt wird – und das war nur möglich unter einer Monarchie wie in Spanien, Frankreich und England –, welche die »poteri sociali«, die gesellschaftlichen Machtgruppierungen, einem souveränen Herrschaftsprinzip unterwarf und sie damit neutralisierte oder funktionalisierte. In einer zweiten Phase dann, die Revelli als ein Postulat der Moderne begreift und als eine Aufgabe der Politik, die schrittweise Unterwerfung der souveränen Machtansprüche unter die politische Kontrolle der Gesellschaft. Auch hier wird wie bei Volponi der Politik die Verantwortung für das Ganze zugeschrieben, jedoch als einer Instanz, die ihrerseits funktional ist hinsichtlich aller übrigen Bereiche des Gesellschaftlichen. In der Nachfolge der Ansprüche des »Souveräns« ist die Politik im modernen Staat in ihrer Funktion neu zu definieren als eine zu erneuernde Funktion der Öffentlichkeit, die – worauf Volponi drängt und woran er festhält – erst neu geschaffen werden muss, als Raum der Öffentlichkeit, als »res publica«, worunter Volponi die »Republik« versteht. Und mit der Frage, inwieweit die Republik als das Ganze zu betrachten ist, wäre die Frage zu verbinden, als was das Ganze zu denken ist. Nach Zinato wäre das Ganze als Körper-Metapher zu verstehen, als der »CorpoMondo«, »die Gesamtheit des Existierenden«. Und das führt zurück zum Begriff der Natur als dem Raum, der in das Gesellschaftliche integriert werden muss oder umgekehrt, in dem das Gesellschaftliche zu situieren ist. Zu korrigieren wäre an der Metapher der Körperlichkeit, dass sie einen ›organischen‹ Zusammenhang der Teile impliziert, der nicht einmal mehr auf die Natur zutrifft, deren Funktion, wie Zinato bemerkt, reduziert worden ist auf »einen Energievorrat, Nutzeffekt und Ökologie-Faktor im Dienst des Kapitals«.33 Die Umdeutung des Naturverständnisses vom Organischen der Körpersubstanz zur Materie als Energiepotential ist der Erkenntnis zu verdanken, die das Gesellschaftliche im Verhältnis zur Natur neu zu bestimmen zwingt, was 32 Ebd., S. 103. 33 Siehe E. Zinato: »La recente poesia di Paolo Volponi fra corpo e storia«, in: Hortus, Nr. 15, 1994, S. 76 f.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
nicht zuletzt zurückzuführen ist auf die Loslösung des Menschen von der Natur, die. Volponi als einen Verlust beklagt. Nachdrücklich bringt das die gewichtige Stellungnahme Volponis in Natura ed Animale zum Ausdruck, wo der Natur, die noch mit dem Tierreich, dem Animalischen, verbunden war, eine natura artificiale gegenüber tritt, die erst durch die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften, und v.a. der Physik, dem zeitgenössischen Bewusstsein erschlossen worden ist. Diese Mutation der Natur verkündet im zitierten Artikel die von Plutarch tradierte Botschaft, dass Pan, der Gott der Natur, tot ist [107], ein zu beklagender Zustand, dem zufolge diese Natur nur noch in der Poesie überlebt. [104]. Wie diesen Andeutungen zu entnehmen ist, findet sich nach Volponi der Geschichtsverlauf an einem Punkt, wo das Alte beginnt, seine Geltung zu verlieren, aber das Neue noch nicht eingegangen ist ins Bewusstsein der Zeit. Der Verlust der Natur und des Tierreichs signalisiert auch einen Schritt des Wachstums und der Zivilisation, des Wohlstands, des Glücks, wie einige meinen und wie in gewisser Hinsicht festzuhalten ist. [106]
Festzuhalten ist, dass die alte Natur nicht spurlos verschwunden ist, »überholt und ersetzt durch einen Lebensraum, der vollkommener wäre« [107]; und nicht misszuverstehen das neue Naturverständnis, wenn es nur dazu dient, was zu befürchten ist, den Zwecken und Absichten des »militärischindustriellen Komplexes.« [107] Was die Dinge, Erscheinungen und Fabeln der alten Natur betrifft, sind sie zu imaginären Momenten eines überkommenen Zeitalters geworden, Bestandteile eines Systems von Gedanken, in dem die Realität des Alten noch als Ganzes erscheint.34 Dieser Zusammenhang von Ideen, des ordo idearum, der von Leopardi als Ideologie bezeichnet worden ist, erzeugt oder bewirkt den Zusammenhang der Dinge, den ordo rerum, der die Dinge der Erkenntnis zugänglich macht,35 so dass als Zusammenhang das System von Wahrnehmungen zu bezeichnen ist, das deren Ein- oder Zuordnung in das Ganze gewährleistet. Den Begriff des Ganzen können wir also verstehen als eine antizipierte oder noch zu entwerfende Ordnung der Dinge auf der Basis einer wissenschaftlichen Grundlegung der zeitgemäßen Erfahrung von Geschichte, 34 Das geschichtliche Absinken von Bildwelten in die kollektive Erinnerung und ihre Einstufung als literarisches Traditionsgut beschreibt Volponi anschaulich in der folgenden Passage desselben Artikels: »Daher sind Natur und Tierreich im Lauf der Jahrhunderte eher zu abstrakten oder fremden Realitäten geworden […], oft auch bloße Begriffe oder Objekte der Kontemplation, der Geringschätzung, der Nostalgie, von unbestimmten Beziehungen […].« [108] 35 Das Ganze, als das der Zusammenhang des ›Unendlichen‹ jeweils gedacht werden kann, wird von Edoardo Sanguineti in seinen Studien über Leopardi als eine Konstruktion ausgewiesen, die sich nur in einem ideologischen System manifestieren kann: »Ohne ›System‹ gibt es kein ›Reden über irgend etwas‹, gibt es keine ›Ordnung‹, keinen ›Zusammenhang von Ideen‹ (ordo et connexio idearum). Aber die Notwendigkeit des ›Systems‹ ergibt sich durch die ›Dinge‹ selbst, denn in den Dingen selbst steckt ein bestimmtes System, sie sind geordnet nach einem System, einem Entwurf, einem Plan (ordo et connexio rerum).« [Edoardo Sanguineti: »Il nulla in Leopardi«, in E.S.: Il chierico organico, S. 99–112, hier 103].
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den wir unserer Konzeption des universalen Lebenszusammenhangs zugrunde legen. Ein solcher Zusammenhang ist, wie das auch Leopardi verstanden hat, natürlich kein zeitloser, sondern kann von einem ihm folgenden aufgehoben, negiert, auf jeden Fall verändert werden. Grundlegend ist jedoch, dass der epochale Wandel der Gesellschaftsformation von dem Bedürfnis begleitet ist, das Ganze der historischen Situation neu zu denken, was sich im Zeitalter der Aufklärung z.B. in dem monumentalen Dokument der französischen Encyclopédie niedergeschlagen hat. Hinsichtlich Volponis Geschichtsauffassung stellt sich deshalb die Frage, in wieweit er an eine revolutionäre Veränderung der Gesellschaft denkt und wieweit diese Veränderung noch mit dem »Projekt der Moderne«, zu vereinbaren ist. Diesen Fragen wollen wir in der Analyse nachgehen, die uns noch einmal zurückführt in die Politik im Verhältnis zu den übrigen Bereichen unserer Strukturhypothese.
3. D AS S TRUKTURPROBLEM : V ORRANG DES »P OLITISCHEN « ODER DES »S OZIALEN «? Die Strategien, die von der Linken im Kampf um die gesellschaftlichen Veränderungen in Italien verfolgt worden sind, unterscheiden sich in der Substanz und auf eine Formel gebracht darin, dass die einen eine Politisierung des Sozialen zum Programm erheben – und das sind im wesentlichen der frühe Operaismus und in seinem Gefolge Teile der Autonomie , während der spätere Operaismus und verschiedene andere Strömungen umgekehrt die Sozialisierung des Politischen verfochten. Erneut rücken zwei der Schlüsselbegriffe unseres Strukturmodells ins Zentrum der Auseinandersetzung der 70er Jahre, hier die Priorität des Gesellschaftlichen gegenüber dem Politischen, d.h. die der Bewegung gegenüber der Macht und Kompetenz der Partei. Wie Volponi diese Strategiekonzepte der neuen Linken gesehen und beurteilt hat, ist daran abzulesen, wie er sie in Corporale in den beiden Schlüsselfiguren des Romans gespiegelt hat. Wie er zwanzig Jahre später die Rolle der Politik einschätzt, registriert der Dialog mit Francesco Leonetti 1994 aus der Sicht der gescheiterten ersten Republik. Die Überschrift des ersten Kapitels dieses Dokuments lautet Lo stato delle cose [Der Stand der Dinge]. Volponi geht gleich in medias res: In Italien haben die herrschenden Mächte in zu vielen Jahrzehnten mit Gewalt, Diskriminierung und Lüge geherrscht; und es ist eine trübe, sehr schwierige Situation entstanden. Die Mehrheit, die nur den Machterhalt im Auge hat, die ausschließlich darauf bedacht ist, ihre eigene Kraft und ihre Machtinstrumente zu bewahren, hat für das Land kein Zukunftsprojekt. Und diesmal auch nicht das große Kapital: es ist zersplittert, in der Krise, auch theoretisch unvorbereitet. Es besitzt weder Wissenschaft noch Kultur. [5]
Das Kapital, das die Ökonomie beherrscht, ist in Wahrheit eine Figur ohne Wissenschaft und ohne Kultur. Also müssen die neuen Erkenntnisse der Linken diesem Land einen Entwurf und ein Zukunftsprojekt vermitteln. Die Demokratie ist das Programm und der
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte »Plan«: es gibt keinen anderen Weg. […] Der Intellektuelle hat die Aufgabe zu diskutieren und, was er kann, an Wissen weiterzugeben. […] Das Programm ist ein kollektiver Text, der alle umfasst und alle betrifft, alle Bedürfnisse, Notwendigkeiten, Tendenzen, Veranlagungen der Leute. [6]
Bestandteil alles eines Projekts der Demokratisierung, die eine demokratische Wirtschaftsplanung voraussetzt: Was eine solche Planung aber verhindert, ist die kapitalistische Marktwirtschaft, die nicht nur in Italien die wirtschaftlichen Verhältnisse zerrüttet hat, sondern im Weltmaßstab die nationalen Ökonomien zerstört und eine neue Armut erzeugt hat: es vermehrt sich eine absolute Armut, die ganze Populationen umfasst. Dem Kapitalismus ist es [aber] nicht gelungen, den gesamten Bereich der universalen Entwicklung unter seine Herrschaft zu bringen; er beschränkt sich darauf, eine bewaffnete »Festung« zu halten gegen den Rest der Welt. [8]
Seine Äußerungen zum »Stand der Dinge« im Jahre 1994 beschließt Volponi, indem er auf den Zusammenhang verweist, der zwischen den Strukturmomenten jenes Zeitpunkts noch zu ergründen ist: Und es fehlt uns aber noch ein historisches und soziologisches Fundament, das uns hilft, die gegenwärtige Gesellschaft in ihrer Gesamtheit zu verstehen. [13]
Doch der Zusammenhang der Strukturelemente ist zu suchen in den in diesen sich manifestierenden Tendenzen bezüglich einer Entwicklung, in der bestimmte Elemente der Struktur bestimmend werden für den weiteren Verlauf der Geschichte. Natürlich ist dieser Verlauf nicht vorauszusehen und noch weniger vorauszusagen. Es hängt also von den Prognosen ab, die das wissenschaftliche Kalkül der Faktoren als den main-stream der Entwicklung ermittelt, der erkennen lässt, was geschichtlich als möglich und/oder wahrscheinlich erscheint und dessen Eintreffen aus den Prämissen der Ausgangssituation herzuleiten wäre. Für Volponis Prognosen ist grundlegend seine politische Überzeugung, dass das kapitalistische System nicht mehr funktionsfähig ist, d.h. mehr Schäden und Kosten verursacht als Profit und ökonomisch verwertbaren Reichtum erzeugt. Aus den Erfahrungen, die er als einer der leitenden Direktoren in Ivrea und dann kurze Zeit als Beauftragter für die Städtesanierung bei Fiat gewonnen hat, ist seine Einsicht herzuleiten, dass die Finanzgebaren der italienischen Industrie und ihre Verstrickung in die Bankgeschäfte maßgeblich zum Ende und dem Ruin der ersten Republik beigetragen haben. In Scritti dal margine und dem Artikel Die Jugendlichen, das Geld, der Markt nimmt Volponi die Kritik an der defizitären industriellen Entwicklung wieder auf und appelliert an die parlamentarische Linke, sich den Protestaktionen der Jugendliche anzuschließen: Bemerkenswert an seinen Äußerungen ist, dass Volponi nicht die Zugehörigkeit der Jugendlichen zu mehr oder weniger radikalen Gruppierungen interessiert, sondern dass er die Inhalte und Ziele ihrer Aktionen gegen das Kapital aufgreift und ihre Richtigkeit bestätigt, die im Grunde ja mit seiner eigenen Kritik übereinstimmen. Das Problem der historischen Perspektive, die Volponi aus den Lebensläufen seiner Figuren jeweils zu ermitteln versucht hat, wird gebunden schließlich, wie aus den Äußerungen in Scritti dal margine erkennbar, an die 514
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Lebensbedingungen der Masse der Arbeitssuchenden und der in der kapitalistischen Marktwirtschaft Ausgeschlossenen. Doch der Zweifel an der Überlebensfähigkeit der kapitalistischen Wirtschaftsordnung schlägt nicht um in die Erwartung einer absehbaren Veränderung kapitalistischer Verhältnisse. Vorherrschend bleibt auch in den Gedichten von Con testo a fronte die Skepsis, dass unter der Regie des Kapitals eine veränderbare Ökonomie überhaupt denkbar ist. Ähnlich den großsprecherischen Verheißungen Monetas in Il pianeta irritabile nimmt das Gedicht Petra Pertusa e mista, wo der Ordnung der Abtei gleichen Namens die der kapitalistisch organisierten Fabrik gegenübergestellt wird, Bezug auf die Projekte des Kapitals im neuen Jahrtausend. die an die Expansionsparolen Monetas oder den Imperialismus Astolfos erinnern. Arriva qualcuno dal raggio sul verso
Jemand kommt im Sonnenstrahl gegen Abend des Tages, der mit lauter Stimme spricht, verloren im Strahlenglanz: in der Gewissheit eines kommenden fruchtbaren Jahrtausends, ein immenses Universum räumlich, […] energetisch, eines weitreichenden Werts, rekonvertierbar ganz und gar marktorientiert, […] exakt, großzügig, nie abweisend die Zukunft, der neuen Geschichte, […]
del giorno che parla a voce alta, perso dentro l’abbaglio: certo ormai di un immerso fruttuoso duemila, immenso universo spaziale, […] energetico, valore esteso, riconverto nel tutto mercantile, […] esatto, generoso, mai avverso il futuro, storico, nuovo […] [S 2, V. 1- 7 und 12- 13]
Diese Versprechungen einer neuen großartigen Welt ähneln, wie gesagt, denen, die Moneta, der Chef der Atommacht, in Il pianeta irritabile, den ihn bekämpfenden Tieren gemacht hat, um sie sich gefügig zu machen. In dieser neuen Welt des Kapitals situiert Volponi jetzt die Figur des linken Intellektuellen, mit der er sich am Ende [Verssequenz 12] selbst identifiziert. Kennzeichnend ist hier die ironische Distanz oder vielmehr die Skepsis, mit der er jetzt die Tätigkeit des engagierten Reformers sieht und seine Erfolgschancen beurteilt. È un »intellettuale« libero Volponi? E a noi che ci fa poco o tanta la sua libertà? Saranno meno fissi e meno soli i piantoni? La finiranno i capi di sparare sanzioni? Cesseranno di premiare crumiri e spioni?
Ist er ein freier »Intellektueller« Volponi? Und was soll uns im Grunde seine Freiheit? Werden deshalb die Wachtposten weniger unbeweglich und einsam sein? Hören deshalb die Vorarbeiter auf Strafen zu verhängen? Werden sie deshalb aufhören, Streikbrecher und Spione zu prämieren?
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte Perseguiranno meno i poveri terroni? Un Direttore di sinistra non fa discriminazioni? […] Ma chi deciderà tutte le organizzazioni? Un intellettuale libero potrà capire tutto ma non potrà che scrivere, avvertire il sottile costrutto [S 12, V. 1- 13.]
Verfolgen sie deshalb weniger die terroni?36 Ein Direktor der Linken macht etwa keine Diskriminationen? […] Aber wer entscheidet über die ganze Organisation? Ein freier Intellektueller kann alles verstehen aber er wird nur schreiben können, aufzeigen die subtilen Zusammenhänge.
In selbstironischer Radikalität brandmarkt Volponi schließlich die Einstellung des Intellektuellen, der sich Illusionen hingibt: Cosa ne dicono gli intellettuali? Che gli operai oramai sono misti agli impiegati e piccoli professionisti visti o non visti il colletto, la residenza, i consumi, e il reddito netto. [S 14, V. 23- 27]
Was sagen die Intellektuellen? Dass die Arbeiter jetzt gleich sind den Angestellten oder kleinen Selbständigen ob sie einen Kragen tragen oder nicht bezüglich der Wohnung, des Konsums, des Nettoverdienstes.
Was aber das Subjekt betrifft, das Volponi nach wie vor als die Macht versteht, die allein zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse befähigt und in der Lage ist, so lassen die folgenden Verse keinen Zweifel daran, dass es noch existiert und nicht in der integrierten Gesellschaft aufgegangen ist. Non è vero che siamo tutti uguali, noi siamo una serie di impiastri stesi fra i civili e gli animali Proletari, tutt’al più firmatari e mastri di appelli, denunce, manifesti. E allora attenti ai molti saggisti e poetastri verbo della maggioranza silenziosa che non castri noi, veri, in vera stanza non c’incastri a fianco dei quarantamila padronali. [S 13, V. 12- 20]
Es ist nicht wahr, dass wir alle gleich sind, wir sind nichts als Heftpflaster verbindend Menschen und Tiere. Proletarier, allenfalls Unterzeichner und Meister. von Appellen, Anzeigen, Manifesten. Deshalb Vorsicht, ihr vielen Schreiber und Dichterlinge Wortführer der schweigenden Mehrheit, dass ihr uns nicht, die wirklichen Arbeiter, zu den Vierzigtausend zählt, die für die Arbeitgeber demonstriert haben.37
36 Als terrone wird abwertend der Fabrikarbeiter aus dem Süden bezeichnet. 37 Die ›Demonstration der 40 000‹, d.h. der Angestellten und Zulieferer der Fiatwerke gegen den Streik der Arbeiter von 1980, ist in Le mosche del capitale beschrieben worden in Teil II, Abschnitt 11, S. 262 ff.
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Auf der Suche nach einer politischen Kraft, die nach dem Scheitern des kommunistischen Machtimperiums in der Sowjet-Union und dem Ende des Parteiensystems der ersten Republik die Ansprüche auf eine nicht mehr kapitalistische demokratische Gesellschaft aufrecht erhält und sie vertritt, hat Volponi bei ihrer Gründung in den 90er Jahren seine Erwartungen in die Rifondazione Comunista gesetzt. Auf die Frage Leonettis, was für ihn, nach den geschichtlichen Erfahrungen, »essere comunista« [»Kommunist sein«] bedeute, hat Volponi geantwortet, dass das eine Frage an die Geschichte ist. Betroffen seien davon die Prinzipien und Grundlagen einer Gesellschaft, die im Weltmaßstab durch das Potential der Arbeit erkämpft werden muss. Aus dieser Stellungnahme seien abschließend folgende Auszüge noch einmal zitiert. Auf die Frage, was für ihn »essere comunista« bedeute, antwortet Volponi: Es bedeutet, den Blick offen zu halten gegenüber der geschichtlichen und sozialen Realität unseres Landes, wie der aller Länder der Welt. Kommunist sein heißt, noch zu glauben an die Gerechtigkeit, die Freiheit, die Notwendigkeit einer grundlegenden Umwandlung der Organisation des politischen, sozialen und kulturellen Lebens der Menschen. Es heißt, daran festzuhalten, dass der Kapitalismus nicht das letzte Los ist, das der Menschheit beschieden ist […]. Kommunist sein heißt ferner, dafür Sorge zu tragen, dass Wissenschaft und Kultur von niemanden in Besitz genommen werden können, sondern den Menschen gehören, die willens sind, Veränderungen zu planen und auszuführen. Vertrauen also zu haben in das Leben, Hoffnung bezüglich einer Welt, in der die Menschen das Recht haben, erhobenen Hauptes auf der Erde zu sein, mit offenen Augen, auf der Suche nach einen Weg zu einem Verständnis untereinander und füreinander: [59- 60]
III. Die Funktion der Schrift in einer erneuerten Zivilisation Avantgarde und Masse Der Geschichtsverlauf, den wir im Werk Volponis bis zum Ende der ersten Republik verfolgt haben, ist in seinen Augen aber kein Endpunkt einer Entwicklung, sondern der Übergang in eine noch offene Zukunft, in der sich auch die Einheit Italiens in einem neu zu begründenden gesellschaftlichen Zusammenhang als zukunftsträchtig erweisen würde. In diesen Zusammenhang wären alle Bereiche zu einem Ganzen vereint, die wir in unserem Strukturmodell als Bestandteile des Gesellschaftlichen betrachtet haben, und das waren neben der Zivilgesellschaft, die Bereiche der Ökonomie, die Zuständigkeiten der Politik und diese alle umfassend der Bereich der Kultur, den wir als den Bereich bezeichnen, in dem die Sprache und die Schrift als Strukturmerkmale dominieren, d.h. der Versprachlichung und Verschriftung der gesellschaftlichen Lebensbedingungen zugrunde liegen. Die für Volponi offene Geschichte sollte in eine Phase münden, in der das Gesellschaftliche im Sinne der Einheit der genannten Bereiche als historisch realisierbar erscheint im Hinblick auf die Errichtung eines nicht mehr entfremdeten Gemeinwesens. Hier stellt sich die Frage zunächst, ob dieser erwartete Zustand der Entwicklungslinie entspricht, die wir bislang im Werk Volponis verfolgt und analysiert haben. Und darüber hinaus, ob er auch der 517
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Auffassung entspricht, die u.a. Habermas vom Geschichtsverlauf als dem noch unvollendeten Projekt der Moderne verstanden hat, womit schließlich auch die Frage wieder relevant wird, ob der Zyklus der Moderne über die allgemein als Postmoderne definierte Zeitgrenze hinaus zu verlängern ist. Die Frage der Wiederherstellung des »Gemeinwesens« ist geknüpft an die der Rekonstitution des gesellschaftlichen Subjekts und diese an die Vergesellschaftung des Menschen auf einer höheren Stufe der Civiltà (der Gesellschaftlichkeit). Beides bedingt schließlich im Bereich der Kultur ein verändertes Verhältnis der Schrift zur gesellschaftlichen Wirklichkeit, d.h. die Erneuerung der literarischen Funktion, die die neoavantgardistischen Strömungen in Italien schon seit den 60er Jahren zum Programm erhoben haben. Dass diese Strömungen bis in die neunziger Jahre hinein die literarische Kritik in Italien noch maßgeblich bestimmen, wird an den Publikationen von Luperinis Zeitschrift Allegoria sowie an der Veröffentlichung der beiden Bände des Gruppo ’9338 erkennbar, und bezeugen darüber hinaus die Stellungnahmen zur Geschichte der Avantgarde von Franco Fortini, Edoardo Sanguineti, Romano Luperini, Guido Guglielmi u.a.. In seinen Äußerungen auf die Fragen von Rocco Capozzi39 über seine Zugehörigkeit zur Neoavanguardia hebt Volponi zunächst das diese kennzeichnende Merkmal des Bruchs mit einer Literatur hervor, die er als käuflich im Sinne des Warenkonsums bezeichnet: Nur sehr wenige sind sich bewusst, dass sich die Kultur verkauft hat und dass man sie folglich verweigern und eine andere konstruieren muss; dass es wenigstens notwendig sei, an den Prinzipien der Realität und der Wahrheit festzuhalten, die immer mehr verloren gehen und in Verwirrung geraten. – Wer heute Schriftsteller sein will […], muss neue Materialien finden und einen anderen Kontakt mit den Wörtern suchen und mit der Kommunikation […]. [166] Vor allem nach den Eingriffen der Neoavanguardia ist es möglich geworden, klarer den Wert der Schriftsteller einzuschätzen, zu verstehen und zu überprüfen mit den geeigneten Mitteln, wer gut war oder nicht. [169] Ich verdanke der Neoavanguardia viel – ich habe es immer gesagt. [170]
Bezüglich der Utopie im Zusammenhang mit der avantgardistischen Sicht der Dinge zitiert Capozzi Benjamins Auffassung, dass die Utopie geschichtlich gebunden sei an ein jeweiliges Defizit der gesellschaftlichen Situation, und er fragt, ob Volponi diese Auffassung noch für gültig halte. Die Antwort ist: Natürlich ist sie noch gültig. Es geht darum, sie wieder brauchbar zu machen, sie wieder in Projekte einzubringen, für sie handhabbare Formen zu finden. [167] Ich glaube an die Möglichkeit, eine Welt zu konstruieren, die anders ist als die existierende, auch in einer ›künstlichen‹ Zivilisation. Aber die große Lüge der 38 Unter dem Titel Gruppo ’93 sind publiziert worden: »La recente avventura del dibattito teorico letterario in Italia«, hg. von Filippo Bettini und Francesco Muzzioli, sowie: »Le tendenze attuali della poesia e della narrativa. Antologia di testi teorici e letterari«, hg. von Anna Grazia D’Oria; beide im Verlag Piero Manni, Lecce (mit unsicheren, weil widersprüchlichen Erscheinungsdaten), 1990 und 1989. 39 Capozzi, Rocco: Scrittori, critici e industria culturale dagli anni ’60 ad oggi. Lecce: Piero Manni 1991
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Die Geschichte und der universale Lebenszusammenhang Industrie besteht heute darin, eine neue Welt zu versprechen, die falsch und fiktiv ist, indem man die existierende ruiniert bis zur Erschöpfung jeglicher Ressourcen, menschlicher und natürlicher. [172]
Aus diesen Äußerungen geht der enge Zusammenhang hervor, der hier sichtbar wird zwischen dem Bruch mit der Konsumliteratur im Schriftverständnis der Neoavantgarden und einer Zukunftserwartung der Schriftsteller, die sich an einer noch nicht existierenden Realität orientieren. Diese Zukunftserwartung ist gegründet auf eine Geschichtsperspektive, die bestimmt wird von einer fortschreitenden, d.h. unaufhaltsamen Dynamik zivilisatorischer Veränderung der Gesellschaften, die die Menschheit zum Zeitpunkt krisenhafter Zuspitzung der kapitalistischen Verhältnisse vor eine geschichtlich zwangsläufige Entscheidung stellt zu wählen zwischen einer gesellschaftlichen Veränderung oder einem Rückfall in primitive Zustände, die atomare Konflikte, wie die von Il pianeta irritabile, in bedrohliche Nähe rücken. Der historische Prozess wird also in die Zuständigkeit des Menschen zurückgegeben, als Geschichtsverlauf, der weder durch eine Vorsehung bedingt noch durch einen quasi notwendig sich ergebenden Fortschritt des Menschengeschlechts verstanden werden kann Ein Prozess vielmehr, der wovon Volponi ausgeht allein auf eine neue Vergesellschaftung des Menschen zu gründen ist, die hauptsächlich darin besteht, den Menschen mit der Gesellschaft als seinem eigenen Wesen zu versöhnen. Dem zugrunde liegt die Frage, was denn «das menschliche Wesen» oder anders gesagt das »Sein des Menschen« ist? Und die Antwort darauf im Sinne Volponis wäre: nichts anderes als das »Gesellschaftliche« oder in marxistischen Termini »das gesellschaftliche Individuum«.40 Es ist das Wesen, das durch die Vergesellschaftung des Menschen erzeugt und erst geschaffen wird, ein »Gesellschaftliches«, das seinerseits zu definieren wäre und von Volponi verstanden wird als das »Gemeinwohl«: il bene comune. Und dieses gesellschaftliche Sein des Menschen ist die Synthese oder das Koexistieren einer dialektischen Beziehung zwischen Vereinzelung und Zusammengehörigkeit, die das Schicksal von Individuen einer jeweiligen Gesellschaft in verschiedenartiger Weise besiegeln als Ausschluss oder Marginalisierung des Einzelnen oder seiner Integration und Aufnahme in die Gesellschaft. Diese Dialektik aber hat im ganzen Werk Volponis dem zugrunde gelegen, was wir als die Konstitution des Subjekts bezeichnet und analysiert haben, als die Versuche der Figuren Volponis, ihr Sein in Übereinstimmung zu bringen mit den Anderen, als Einzelne Aufnahme zu finden im Allgemeinen, in einer Figur, die Sartre als das singulier universel bezeichnet hat. Die Aufnahme und Integration des Individuums in die Gesellschaft, der Prozess der Vergesellschaftung, obliegt in Termini unseres Strukturmodells der Politik, von der die Ausgrenzung des Anderen, als des Fremden vorgenommen und entschieden wird; der Kraft oder Instanz also, die die Gesellschaft im eigentlichen Sinne als das Zusammengehörige hervorbringt. In diesem gesellschaftlichen Raum erfolgt die Bildung und Ausbildung der am 40 In diesem Sinne ist bei Marx in den Thesen über Feuerbach die These 6 zu lesen: »Feuerbach löst das religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf. Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.«
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Prozess der Produktion beteiligten Menschen, die aber ökonomischen Verhältnissen unterworfen werden, in denen die Teilung der Arbeit Verfügungsrechte über die produzierten Güter erzeugt, die sich in Geldwerten niederschlagen. Der Produktionsprozess verändert sich damit tendenziell von der Erzeugung von Gütern für den Bedarf zur Warenproduktion zugunsten des Profits und der Akkumulation von Kapital. Der gesamte Bereich des Ökonomischen unterliegt auf der Ebene der industriellen Produktion einer Transformation von der Bedarfsdeckung an Gebrauchsgütern zu einer zweckrationalen Produktion von Waren. Bezogen auf die Produktion kultureller Güter, ist dieser Umschlag in die Warenproduktion von sämtlichen Avantgarden als die Vermarktung von Kunst und Literatur verstanden und denunziert worden. Gegen diese Vermarktung des künstlerischen Produkts und die Tatsache, dass sich der Schriftsteller wie alle Künstler auf dem Markt verkaufen muss – was Baudelaire schon als Prostitution bezeichnet hat – haben die frühen Avantgarden bereits in der Weise reagiert, dass sie den Bruch mit der Literatur proklamierten, die von Marktbedingungen abhängig geworden war. In verschiedenen Phasen der Literaturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts lassen sich solche Brüche konstatieren, die alle mehr oder weniger radikal eine Revolutionierung der Schriftkultur propagierten, die als avantgardistisch zu kennzeichnen wären. Alle diese Brüche sind auch sozial motiviert als Reaktion von Kunst und Literatur auf gesellschaftliche Krisen. Als erste dieser Krisen wären die gescheiterten Revolutionen von 1848 zu nennen und in ihrem Gefolge die Transformation der Schriftkultur, die in Frankreich von Baudelaire bis Rimbaud zu datieren sind; die zweite Welle dieser Transformation wäre anzusetzen – vor und nach dem ersten Weltkrieg – mit dem geradezu weltweiten Phänomen der historischen Avantgarden;41 eine dritte Phase avantgardistischer Umwälzung der Schrift ist unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg zu datieren als die Tendenz der Rückkehr zu einer Stufe Null der literarischen Produktion, wovon als bekanntestes Beispiel Roland Barthes’ Le degré zero de l’écriture zu betrachten wäre. Diese Tendenz setzt sich fort in Frankreich mit dem Nouveau Roman und der Gruppe Tel Quel. In Italien setzt in den 60er Jahren die Kontestation der herrschenden Literatur ein, die unter der Etikette der Neoavantgarde vom Gruppo’63 initiiert wird und weiter bestimmend bleibt bis zu der Strömung, die als Gruppo ’93 den Bruch mit den institutionalisierten Schreibweisen erneuert. Volponis Beitrag zur Erneuerung der Schriftkultur ist, wie hinreichend erkennbar, in den Kontext der Kontestation des Bestehenden zu situieren. Für ihn ist die Bedeutung, die der Schrift in der Kultur der Gesellschaft zukommt, in Funktion darauf zu sehen, welche Rolle sie spielt bei der Revolutionierung zivilgesellschaftlicher Verhältnisse, und das bedingt auch ihren Beitrag zur Veränderung der Schriftkultur, die aus einem veränderten Verhältnis zur sprachlichen Kommunikation erwächst. In dieser Hinsicht sind die Modifikationen zu werten, die maßgeblich werden in Volponis Transformation der Kategorien und Verfahrensweisen der Schrift, die wir im Folgenden zu spezifizieren versuchen. Für Volponi hat die Literatur primär die Funktion, den Zusammenhang der Dinge im Universum von Raum und Zeit sichtbar zu machen und ihn in 41 Siehe Asholt, Wolfgang/Fähnders, Walter: Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909- 1938). Stuttgart/Weimar : Metzler Verlag 1995.
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der Darstellung der jeweiligen Wirklichkeit zur Geltung zu bringen, was auch einschließt und bedingt, dass die Ordnung der Dinge im Spektrum von Raum und Zeit ausgedehnt wird auf die Welt des Menschen und auf seine Beziehung zum Anderen. Wird der|›Zusammenhang‹ als Kriterium zugrunde gelegt, dann bezeichnet das den Gegensatz zur Vereinzelung, Isolierung, Herauslösung oder Fragmentierung von Situationen oder Handlungsabläufen sowie die Beschränkung von Wirklichkeit auf die Darstellung des Singulären oder die individuelle Wahrnehmung. Gegenüber der Verirrung im Labyrinth der Vereinzelung wird die Öffnung zur Gemeinsamkeit des Allgemeinen erwartet, wird im Sinne der Wirklichkeitserkenntnis eine corale (vielstimmige) Wahrnehmung und die Anteilnahme an einem kollektiven Geschehen postuliert. Wir zitieren, um das zu verdeutlichen, aus dem Prosatext L’invito antico alle storie [Der antike Zugang zu den Geschichten] von 1993,42 in dem Volponi eine Art Poetik des Romans ankündigt und darin eine kollektive Rezeption des für ein Massenpublikum bestimmten Textes zugrunde legt. Es heißt dort: Viele der Romane, die wir lesen, bestehen lediglich aus individuellen Episoden, psychologischen Problemen, Darstellung von Gefühl. Sie sind keine wirklichen Analysen, keine Konfrontationen, Reproduktionen eines Teils der Gesellschaft, sie wollen nicht die Konfrontation mit der offensichtlichen Wirklichkeit, die vor uns sich abspielt. Es sind wenige, die sich realen Problemen des Augenblicks stellen. […] Oder die eine reale oder imaginäre Alternative bieten. Die Analyse und die Kritik eines Zusammenhangs […], sind im Grunde die Funktionen des großen Romans, der sich immer mit der Analyse einer geschichtlichen Situation beschäftigt hat, wobei er von einem Punkt ausging, eine erzählerische Strecke durchlief, an einem anderen Punkt anlangte und die Gründe dieses Verlaufs darlegte. [772 Kursivierung von uns]
Klingt letztere Feststellung wie die Erfüllung einer Forderung der aristotelischen Poetik, so kann sie aber auch verstanden werden als das Durchlaufen eines Raums der Erzählung, in dessen Verlauf die Wahrnehmung vom Punkt der ursprünglichen Realität in eine Dimension überleitet, in der eine veränderte Wahrnehmung der Ausgangssituation erst erkennbar wird. Denn das ist eine der Erwartungen, die die Avantgarde an die veränderte Schreibweise knüpft. In diese Richtung weist jedenfalls die Kritik an der verfremdenden Wahrnehmung, die die Institutionen den ihnen Untergebenen aufdrängen, einer simulazione des Realen, die als die »offizielle« (ufficiale) Wirklichkeitserkenntnis ausgegeben wird. Im selben Text lesen wir: Die Gleichmacherei hat alle ein bisschen der Konfrontation mit der Wahrheit entrissen. Die Simulation ist vorherrschend. Alle müssen wir an ein »offizielles« Land glauben, das, was uns von der Presse und dem Fernsehen vorgesetzt wird, mit welchen keine Beziehung besteht. – Gesehen werden müssen dagegen die Probleme unserer aufgegebenen Kulturen, unserer zerstörten Städte, der Territorien, die wir nicht zu regieren verstehen, einer zerstörten städtischen Peripherie … [773].
42 Romanzi e prose, Bd. III, S. 771- 74.
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Paolo Volponi – Literatur als Spiegel der Geschichte
Die Diskrepanz zwischen einer »offiziellen« gesellschaftlichen Wirklichkeit und der Wahrheit der Verhältnisse ist das Gefälle, das durch die Erneuerung der Schriftkultur aufgedeckt und bewusst gemacht werden soll. Dieser Erneuerung stellen sich aber Probleme, die bis in die Wurzeln der Sprachbildung und die Fundamente des gesellschaftlichen Sprachgebrauchs hinabreichen, nämlich in die zu unterscheidenden Prozesse der Versprachlichung und der Verschriftung der gesellschaftlichen Realität. Den hier genannten Kriterien wollen wir im Folgenden nachgehen, indem wir sie unter den Gesichtspunkten analysieren, die schon die Richtung anzeigen, in die unsere Untersuchung münden wird:
Die Versprachlichung der Zeichen der neuen Realität: das Lesen auf der Ebene der »Signifikanten« (i.S. von signifiant) – eine Semiotik des Verstehens und der Selbstverständigung Die Verschriftung der sprachlichen Zeichen: die Techniken und Verfahrensweisen der Schrift und die Sinnebenen des Realen Das Schriftverständnis bei Volponi
Als Versprachlichung können wir den Prozess bezeichnen, der ausgehend von einem gegebenen historischen Ursprung die kollektive Erfahrung der Menschen in eine Sprache überträgt oder darin fixiert, in der die Praxis ihrer gesellschaftlichen Kommunikation sich geformt und ausgebildet hat. Darin einbezogen ist, auf einer gehobeneren Ebene, die Verständigung darüber, was der Mensch ist in der Welt, die ihn umgibt, die Frage also des Seins des menschlichen Wesens im Verhältnis zu seiner Umwelt. Diese Frage stellt sich erneut in dem Moment, wo im Prozess der Zivilisation – und in der Phase des Kapitalismus – das Wesen des Menschen diesen selbst als entfremdet erscheint, als verstreut oder zerstreut auf unendlich viele kleinste Teile, die sich nicht mehr zu einem Ganzen zusammenfügen. Hier also stellt sich in der Gegenwart selbst schon auf der elementaren Ebene des Lebens. wieder die Frage der Versprachlichung des menschlichen Seins. Die Sprache, der sich die Menschen bedienen, um sich zu vergesellschaften, ist also als ein Instrument zu betrachten und als ein solches zu definieren, von dem die Menschen Gebrauch machen. Um immer komplizierteren Anforderungen gerecht zu werden, bildeten die Menschen mit Hilfe der Grammatik die Sprache aus zu einem Organ, das über den instrumentalen Gebrauch hinaus immer mehr zu einem Wesen an sich wurde, geschaffen dazu, die Dinge zu bezeichnen, ihnen Namen zu geben und damit, über sie zu herrschen. Und um dieses Werk zu ermöglichen, die Ordnung der Dinge zu erstellen, unterwarfen sie die Sprache selbst dieser Ordnung, in einem Prozess, der modern ausgedrückt, als Alphabetisierung bezeichnet wird und den die Kritiker der Sprachentwicklung wie Derrida als »Logozentrismus« des Sprachgebrauchs und als dessen Missbrauch denunziert haben.43 Die Herrschaft über die Dinge mittels der Macht der Worte, in denen der Verstand (als Logos) dominiert – und der in der Philosophie ab Plato die Kompetenz über den Sprachgebrauch für sich reklamiert hat – wird von Derrida und seinen Mitstreitern gründlich in Frage gestellt. Partei ergriffen wird von ihnen für einen Sprachgebrauch, der sich in 43 Siehe Derrida, Jacques: Grammatologie. Frankfurt a.M. 1974.
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der Schrift selbst entwickelt und entfaltet. Diese Abgrenzung oder Distanzierung von der Autorität des Wortes wird von den Avantgarden fast durchgängig geteilt und wird gewendet, was Volponi betrifft, gegen die Ansprüche des »offiziellen« Sprachgebrauchs, wie wir gesehen haben. Das Plädoyer für die Schrift und ihren spezifischen Gebrauch der Sprache ist aber gebunden an die Voraussetzungen einer veränderten Auffassung und Wahrnehmung der Zeichen – der sprachlichen wie der dinglichen , die der Umsetzung in der Schrift zugrunde liegen. Die Frage, die sich bezüglich eines neuen Schriftverständnisses stellt, ist, wie die Menschen die Zeichen wahrnehmen und interpretieren, was zurückführt in die Analyse der psychoanalytisch orientierten Semiotik des Verstehens. In der Schule Lacans – darunter z.T. Autoren von Tel Quel wie Kristeva – ist die Wahrnehmung der Wirklichkeit als eine Leistung des Subjekts verstanden und dargestellt worden, die von dessen Sozialisation bedingt ist und auf die Erfahrungen zurückgeführt wird, die in das Verständnis der Zeichen eingehen, in sein Verständnis des Realen allgemein. Der Begriff der Erfahrung – ausgehend von der individuellen, subjektiven, aber mündend in die kollektive – wird damit zu einer Kategorie des neuen Schriftverständnisses, die dem autoritärem Wort und dem herrschenden Logozentrismus entgegengesetzt wird.44 Das Verständnis von Literatur – von Texten im neuen Schriftverständnis – ergibt sich also nicht daraus, dass der Text entlang der schon als Bedeutung festgelegten Begriffe (Wörter und Bilder) gelesen wird, also nicht entlang der Signifikate, sondern auf der Ebene der im Text noch verborgenen und zu entdeckenden Potentiale der Sprache, die wir als das neu zu erschließende Signifikante verstehen können, auf dem das neue Schriftverständnis aufbaut und beruht. Was den Begriff der Verschriftung betrifft – als die neue Manifestation des Sprachlichen auf der Ebene von Texten –, so verstehen wir darunter insbesondere die Ausweitung der Sprache in Raum und Zeit, die Überwindung der Linearität des Textverlaufs, die Überführung der Bedeutung des Worts in die imaginäre Dimension der nicht mehr direkt erkennbaren Phänomene. Dass sich das schon in der mittleren Phase der Poesie Volponis ankündigt, charakterisiert De Santi als Aufhebung der Linearität wie folgt: »Der Ausdruck meidet unwillig eine zu lineare Ordnung auch in der Lyrik: und so üben die Seitenlinien der nicht bremsbaren semantischen Ausweitung einen Druck auf die Ränder des von vorangehenden Versen schon angeschnittenen kleinen Bildes au«.45 Charakteristisch für dieses Verfahren ist die Tendenz der Erweiterung des Rahmens, in dem das jeweils Einzelne erscheint, wobei im Einzelnen das Allgemeine gesucht wird, was in der Annahme eines Zusammenhangs der Dinge gründet, den wir als universalen Lebenszusammenhang gekennzeichnet haben. Es geht Volponi also darum, den Zusammenhang mit dem Ganzen sichtbar zu machen, die Totalität eines Seins, an dem die singulären Phänomene und die Menschen partizipieren, und die sich schon bei Mallarmé, dem wiederholt zitierten gleichgesinnten Autor, findet. Auf diesen sei verwiesen, wo es um das »ästhetische Erfassen des Gesamtzusammenhangs« geht, der Totalität. »Mallarmés großes Projekt der Verein-
44 Siehe Zima, Peter V.: »Dekonstruktion: Theorie und Praxis«, in Zima, Literarische Ästhetik. Tübingen: Francke UTB 1991. 45 Gualtiero De Santi in seiner Nota in Volponis Poesie e poemetti 1946-66, S. 200.
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heitlichung der Welt«.46 Im Einzelphänomen gibt es eine Kohärenz mit dem Allgemeinen in dem, was Mallarmé »les grandes significations unifiantes« nennt und das einen dialektischen Zusammenhang stiftet, der auch von Volponi vorausgesetzt wird. Die Kohärenz ergibt sich daraus, dass bei Mallarmé »der Dualismus von Sinnlichem und Abstraktem, von Körperlichem und Begrifflichem« aufgehoben wird durch das, was bei Volponi die Potentialität des Wortes ist, das Vermögen der Sprache, Sinnlichkeit und Denken zu vereinen, was bei Volponi der substantivierte Ausdruck il corporale bezeichnen könnte.47 Diese Dialektik wird aber von Derrida und den Dekonstruktionisten grundsätzlich in Frage gestellt, worin sich der fundamentale Gegensatz offenbart zwischen dem Prinzip der Dekonstruktion und dem Ganzheitsdenken Volponis und Mallarmés, der sich als so grundsätzlich erweist, dass sich an dieser Differenz die Divergenz zweier Linien der literaturgeschichtlichen Entwicklung nachweisen lässt, die ihren Ursprung in der Romantik hat und in der Freisetzung des Subjekts als autonome Urteilsinstanz. Die Folge davon ist, dass es in der Kontestation von sprachlichen Bedeutungen für die Interpreten der Dekonstruktion keine Grenzen mehr gibt, an denen ihre Zurückführung von Bedeutung zu einer ursprünglichen oder verallgemeinerbaren Aussage gelangt. Und das ist eine Charakteristik, die allen dekonstruktionistischen Verfahre gemeinsam ist, einschließlich der Avantgarden, die die herrschenden Verhältnisse grundsätzlich in Frage stellen. Hier sind wir an dem Punkt angelangt, wo sich auch bezüglich des Ganzheitsdenkens Volponis die Frage stellt, in wieweit er dieser avantgardistischen Tendenz zuzurechnen ist, im Hinblick darauf auch, dass der Suche nach dem Allgemeinen im Besonderen und insbesondere nach dem kollektiven Wesen im Subjekt in allen Phasen seines Werks sein eigentliches Interesse gewidmet war. Dieser Widerspruch im Denken Volponis führt uns in historischer Hinsicht zu der abschließend zu behandelnde Frage, in welcher Beziehung die Avantgarden zur Modernität zu sehen sind und welche Position darin dem Analytiker des universellen Lebenszusammenhangs zuzuschreiben ist. Die historische Funktion der Avantgarden und die Kontestation der kapitalistischen Modernität
Dieser Untersuchung könnten wir in Form einer Hypothese die Feststellung vorausschicken, dass die Avantgarden als eine Kritik der Moderne zu verstehen sind, die in der Form ihrer Darstellung der Realität sich im wesentlichen allegorischer Mittel bedienen, wie das der Titel von Luperinis L’allegoria del moderno von 1990 nahe zu legen scheint und wie das Sanguinetis Charakterisierung der Avantgarde im Sinne eines »realismo allegorico« bestätigen würde. Dieser Hypothese wäre im Folgenden nachzugehen. Romano Luperini leitet seine Untersuchung damit ein, dass er in hinreichender Deutlichkeit die Begriffe definiert, die er seinen Ausführungen zu46 Das Zitat und die folgenden Ausführungen zu Mallarmé bei Peter V. Zima, Dekonstruktion. S.338 ff. 47 Siehe dazu Igor Tchehoff, Universität Stockholm: Paolo Volponi e il dilemma della scrittura »carnale«. www.ruc.dk/cuid/publikationer/publikationer/ XVI- SRKPub/LWP/ LWP08- Tchehoff/.
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grunde legt, nämlich erstens die Unterscheidung zwischen Moderne und Modernität und zweitens ihre Beziehung zur Allegorie, die im Titel des Buches angesprochen wird. Wenn die beiden ersten Begriffe auch oft als bedeutungsgleich angesehen und verwendet werden, so zeigt Luperini, dass sie sowohl in literarischer wie in gesellschaftlich-politischer Hinsicht zu unterscheiden sind, und zwar literarisch im Sinne der Modernität Baudelaires, die in künstlerischer Hinsicht auch die gesamte Moderne einbezieht und die wissenschaftlich-technologische Umwälzung der Kultur ab etwa 1850 umfasst, während der Begriff der Moderne eher gesellschaftlich zu verstehen ist, und den kapitalistisch geprägten Lebensstil des Bürgertums bezeichnet, vom Aufschwung des Kapitalismus an bis in die Postmoderne, die, wie der Autor betont, strukturell keine Veränderung aufweist. Die Allegorie, die dieser Periode zugeordnet wird, ist in ihrer Bedeutung bezüglich der Moderne ebenfalls zu differenzieren, nämlich im Hinblick darauf, ob sie als Gattungsbegriff bezogen wird auf die künstlerische Darstellungsweise der Epoche, oder ob sie als Mittel und Methode der Kritik Anwendung findet, um die Zeit, die sie zugrunde legt, zu demaskieren, in ihrem Schein bloßzustellen, wie das die Allegorie Benjamins über das Paris des Passagen-Werks exemplifiziert.48 Wie literaturgeschichtlich die Avantgarden einzuschätzen sind und welche Funktionen ihnen zukommen, illustrieren wohl am zutreffendsten die kritischen Betrachtungen Franco Fortinis in Due avanguardie.49 Unter Berufung auf Lukács stellt Fortini fest, dass die historische Avantgarde sich gründet auf die Negation der Kategorie der Vermittlung und diese Negation herzuleiten ist aus ihrem Ursprung in der Romantik und aus einem ausgeprägten Sinn für den Widerspruch und den Konflikt [»un senso molto vivo della contraddizione e del conflitto« 95]. »Der Widerspruch aber schließt die Dialektik aus: er ist das Nebeneinander oder der polare Gegensatz zwischen absoluter Subjektivität und absoluter Objektivität, zwischen abstrakter Irrationalität – d.h. Verweigerung des Diskursiven, Dialogischen, Kommunikativen zugunsten des Assoziativen, der memoire involontaire und des Traums – und abstrakter Rationalität […]« [95] Herausgehoben werden hier die beiden in der italienischen Debatte wiederkehrenden Momente der Herleitung der Avantgarde aus der Romantik und die daraus resultierende Autonomisierung des Subjekts, das sich der Vermittlung seines Widerspruchs über die Formen der literarischen Kommunikation entzieht, womit auch die Dialektik ausgeschaltet wird, die den Widerspruch an die konkreten Verhältnisse bindet, die kontestiert werden. Fortini hält den Avantgarden vor, dass sie in der Subjektivität ihres Protestes verharren und damit auch ihre sprachlichen Aussagen ihres Inhalts entleeren, ihres eigentlichen Werts, der nach wie vor in der Substanz des Poe-
48 Siehe Luperini, Romano: L’allegoria del modeno. Saggi sull’allegorismo come forma artistica del moderno e come metodo di conoscenza. Rom: Editori Riuniti 1990, darin die Einleitung: Moderno, postmoderno, e altre avvertenze. Hingewiesen sei darauf, dass der Untertitel des Werks schon hinreichend die oben spezifizierten Begriffe definiert. 49 In Fortini, Franco: Verifica dei poteri. Parte prima: L’istituzione letteraria. VI. Due avanguardie. Mailand: Il Saggiatore 1974/1965, S. 95.
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tischen liege, in der »poesia-valore«; wie es Fortini nennt.50 Dieser Wert aber sei den entfremdeten – oder wie er sagt verdinglichten – Verhältnissen entgegenzusetzen, die der Kapitalismus geschaffen habe; »denn immer größer ist die Dimension aktiver sozialer Mystifikation geworden und immer schwieriger ein tendenziell universaler Gebrauch der poetischen Wahrheit«. Die Poesie ziehe sich entweder in die Sphäre des Privaten zurück oder stelle sich, im besten Fall ungewollt, in den Dienst der Ideologie. Fortini geht schließlich so weit zu erklären, dass »die Poesie als Wert zu negieren, dem Sachverhalt gleich komme […], die Hypothese der Revolution zu negieren.«51 Edoardo Sanguineti, einer der Wortführer der Neoavanguardia in Italien, bestätigt in seinen Verlautbarungen über die Avantgarde die von Fortini angemerkte Verweigerung jeglicher Vermittlung, wofür in seinem Text der Ausdruck der Unmittelbarkeit/immediatezza steht. Sanguineti erklärt:»Was die Avantgarde ausdrückt, ist also, in privilegierter Weise, eine generelle Wahrheit sozialen Charakters, und nicht einfach eine spezifische Wahrheit ästhetischer Natur.« Und im Folgenden wird die Vermittlung über die Sozialwissenschaften zurückgewiesen. »Es handelt sich nicht um eine spezifische soziologische Interpretation, in Verbindung mit einer besonderen Methode und einer bestimmten Perspektive: es geht vielmehr darum, dass die Avantgarde sich an der Wurzel in der Form der Kontestation konstituiert, und dass diese Kontestation im Akt selbst, in dem sie sich auf ästhetischem Terrain erzeugt, unmittelbar die gesamte Struktur der sozialen Beziehungen in Frage stellt.«52 Was die Literatur betrifft, die von der Avantgarde neben den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen in Frage stellt wird, so sind es nicht nur die literarischen Werke und der Beruf des Schriftstellers, die als hinfällig erklärt werden, sondern die literarische Kultur schlechthin, die als Kultur der bürgerlichen Klasse in ihrem Geltungsanspruch historisch der Vergangenheit zugehörig eingeordnet wird und ihr damit die Fähigkeit bestritten wird, das Wissen über den Menschen und seine Geschichte über den Stand der bürgerlichen Kultur hinaus zu befördern.53 Im Kontext der Fragen, die Luperini in seiner Allegoria del modeno aufgeworfen hat, wird in einem Beitrag der Zeitschrift das Problem und die Geschichte der Avantgarde wieder aufgenommen und hinsichtlich der Situierung der avantgardistischen Strömungen im Panorama von Moderne und Modernität diskutiert. Guido Guglielmi verfolgt in Tradizione dell’Avanguardia54 die Entwicklung der Avantgarden in Italien in der Nachkrieggeschichte von der Krise des Neorealismus bis zur Gruppe ’93, der letzten avantgardistischen Strömung, wobei er versucht, diese Entwicklung in einer 50 Gegen die Avantgarde wendet Fortini ein: »Die fundamentalen Formneuerungen der historischen Avantgarde sind heute einfache Mittel des Ausdrucks geworden, bloße Redewendungen der heutigen Kommunikation.« [S. 98] 51 Fortini: Ebd., S. !79/180. 52 Zur Problematik und den Zitaten siehe Edoardo Sanguineti: Ideologia e linguaggio, Mailand: Feltrinelli 2001/1970; aus diesem Werk: Avanguardia, società, impegno, S. 62- 63. 53 Sanguineti, Edoardo: Ebd., darin: Per una critica dell’avanguardia poetica in Italia, S. 116f. 54 Guglielmi, Guido: »Tradizione dell’Avanguardia«, in: Allegoria, Heft 15, 1993.
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Die Geschichte und der universale Lebenszusammenhang
historischen Perspektive zu situieren. Von Interesse ist dabei, dass er die Frage der Periodisierung der Strömungen zurückdatiert schon in das 19. Jahrhundert und dabei den Wandel von einer klassischen Kulturtradition zu den Geburtswehen der Moderne in der Romantik z.B. bei Leopardi ins Blickfeld rückt und hier schon die Phänomene nachweisen kann, die die Modernität als Erneuerung in künstlerischer Hinsicht auszeichnet. Was uns hier von Bedeutung erscheint, ist der Hinweis darauf, dass die Umbrüche im Literaturverständnis des 19. Jahrhunderts als Bestandteil der Modernität zu werten sind und nicht als Kritik an dieser zu verstehen sind, selbstverständlich auch, wo sie gegen die Modernisierung der kapitalistischen Verhältnisse gerichtet sind. Die Frage, die noch zu beantworten bleibt, ist, in welcher Position Volponi sich in den Strömungen der Avantgarden befindet und welche Einstellung er zur Problematik der Modernität hat. Auf die Frage des Herausgebers von Scritti dal margine, in welchem Sinne für ihn das politische Potential der Generation von 1977 in der Substanz mehr noch als die Manifestation eines veränderten Begriffs des Poetischen zu verstehen sei, antwortet Volponi, indem er auf die imaginäre Dimension ihres politischen Diskurses verweist. Weil wir keine Tafeln oder Rezepte haben; mit Dogmen und Dekreten errichtet man keine neue Gesellschaft, sondern in einer kulturellen Debatte, in die die Fantasien, die Fähigkeiten und Ideen aller eingebracht werden. Es war der Fehler des realen Sozialismus, die Form der Gesellschaft durch Dekrete vorzuschreiben. Leonetti sagte, was ich in einem meiner Artikel zitiert habe, dass, was morgen sein wird, noch keine vorgefertigte Form hat […]. In uns ist ein Impuls, ein Gedanke, eine Fähigkeit […], die uns befähigen zu handeln, Entscheidungen zu treffen, die ihre Richtigkeit Schritt für Schritt erweisen werden. [177]
Liest man diese Äußerungen losgelöst von dem Kontext, in den sie stehen, so könnte man den Eindruck gewinnen, dass Volponi hier politisches Handeln der Spontaneität von Impulsen überlassen wollte, was aber der Intention zuwider läuft, die insgesamt in Scritti dal margine vorherrscht, nämlich, dass der Weg zu einer Demokratisierung der Gesellschaft nur über die Planung verlaufen kann, als das rationale Moment menschlichen Handelns. Was dagegen an den zitierten Äußerungen interessiert, ist, was wir als die Sinnverlagerung auf der semantischen Ebene vom Begriffsfeld der Politik zu dem der Poesie bezeichnen können, d.h., dass, was der Politik zugeschrieben werden müsste, als Qualität und Substanz der Poesie gekennzeichnet wird, die dadurch gesellschaftlich aufgewertet und mit Inhalt gefüllt wird. Von Bedeutung ist also, dass das Poetische als menschliche Befähigung und die Poesie als die gesellschaftliche Substanz der Kultur in den Seinsbereich der Vergesellschaftung wieder eingefügt werden. Eine Sinnverlagerung anderer Art vollzieht sich in der Verlagerung des Schlüsselbegriffs der ›Produktion‹ von der Ebene der politischen Ökonomie auf die der Dimensionen des Kulturellen, in den Bereich einer generellen gesellschaftlichen Leistungsfähigkeit. Welche Funktion der Ökonomie schließlich im Modell der Vergesellschaftung zugeschrieben wird, erhellt aus der Feststellung über das Primat der Produktion im Prozess der Reproduktion der Lebensbedingungen. Nicht der Kapitalmarkt rettet die Ökonomie des Landes,
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»gerettet wird sie, indem man die Maschine der Produktion in Bewegung setzt.«55 Und das geschieht, indem die Wissenschaft selbst zur neuen, umfassenden Produktivkraft wird. Im Hinblick auf das Modell einer vergesellschafteten Menschheit ist es die Wissenschaft als Produktivkraft, die dem Menschen das Wissen vermittelt, um seinen Platz auf dem Planeten neben den Tieren als seinen Mitbewohnern und in deren Gesellschaft wieder zu finden. Die Wissenschaft wird eine veränderte Welt erschaffen, die auch die Ressourcen und Potentiale der Kunst in das Ganze einbezieht und für die deshalb die Qualifikation als mondo artificiale als angemessen erscheint. Die Tiere als Protagonisten sind eine Instanz der Wahrheit der Welt gegen die Simulation, gegen die Sophistikation und die Lüge, zu der die Welt geworden ist. […] Ich hätte keine Schwierigkeit, in einer ganz neuen künstlichen Welt zu leben, wo alles von der Wissenschaft produziert und gelenkt wird. Aber das ist eine Illusion,[…] Die Wahrheit ist, dass diese Welt und ihre Ressourcen verbrannt werden, ausgebeutet und zerstört ihre Wälder, ihre Flüsse und ihre Tiere, allein um des Lebens der Menschen willen, das nur noch Simulation ist.56
Durch diese herbe Kritik und ihren Pessimismus hindurch kommt in dieser Beschreibung der modernen Welt so etwas wie eine utopische Erwartung zum Ausdruck, die nicht ausschließt, dass die Illusion einer Welt des Menschen, die sich der Wissenschaft, d.h. der Leistung des Menschen als seines Produkts verdankt, noch denkbar ist, im Bereich d er Möglichkeit zu situieren ist. Hier stoßen wir auf die Unsicherheit im Denken Volponis, die auch auf die Frage auszudehnen ist, wie der Autor des Pianeta irritabile die Modernität als Phänomen der Industriegesellschaft letztlich beurteilt. In den zitierten Äußerungen gibt es versteckte Hinweise darauf, dass Volponi das Bild einer Welt beschwört, die mit der Änderung ihrer Institutionen und mit einem veränderten Begriff der Politik den Anforderungen entspricht, die die Aufklärung, um mit Habermas zu sprechen, als Projekt der Moderne verstanden und beschrieben hat. Diese Welt muss aber auch in Einklang gebracht werden mit der Utopie Volponis, die Momente historischer Vergangenheit einbezieht, in der sich Phasen gelungener Zivilisation als exemplarisch in der Erinnerung fixiert haben. Es gibt in meiner Literatur eine Vorliebe für die Apenninen im Sinne einer Liebe für ihre Heiligen und Poeten, und es gibt in meinem Leben auch eine Art rückwärtsgewandte Liebe für ihre Höfe und Klöster. […] Bei mir sprechen die Tiere und die Dinge: Gegenwart und kreatürliche Unschuld gebe ich den Tieren wie den wunderbaren Dingen, die vom Menschen gemacht worden sind, der Landschaft und den Pflanzen. Das ist die Wahrheit der Welt, das ist ihre Wirklichkeit.57
An dieses Bekenntnis schließen sich die Äußerungen an, die Volponi im Dialog mit Leonetti bezüglich seiner Liebe zur Utopie gemacht hat:
55 Scritti, S. 179. 56 Scritti, S. 180. 57 Scritti, S. 180.
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Die Geschichte und der universale Lebenszusammenhang Meine Fantasie, obwohl sie wachsam ist, lässt vielleicht nicht zu, dass ich eine neue Idee des Sonnenstaats [Città del Sole] entwerfe. Ich hätte mir gewünscht, es wäre mir eine gänzlich andere Darstellung des Lebens der Menschen auf Erden gelungen. Ein künftiges Irdisches Paradies, wo wir die neuen Städte, die neuen Industrien, die neuen Universitäten errichten werden...58
Das Futur im letzten Nebensatz verrät vielleicht, dass Volponi noch immer den Glauben an eine mögliche Welt bewahrt, in der er seine neuen Städte, Industrien und Universitäten errichten kann, was bedeutet, dass er bis zuletzt auch an der Idee einer Erneuerung der Gesellschaft festgehalten hat, die – wie wir sehen – in der Konzeption der Modernität fundiert bleibt. Die historische Dimension, in der Volponi die Geschichte des Menschen auf Erden konzipiert und lokalisiert, reicht von seiner Vertreibung aus dem Paradies, mit der im Gemälde Masaccios seine Existenz auf Erden beginnt, und führt in seinem Werk zu zwei alternativen Endstationen, die als Hypothesen nicht nur der Imagination des Autors entspringen, sondern in zwei möglichen und eher wahrscheinlichen geschichtlichen Situationen zu fundieren sind, nämlich die Zerstörung des Planeten in einem atomaren Konflikt, was in einem der Werke Volponis als Schreckensvision beschworen wird, oder der Prozess der strukturellen und revolutionären Veränderung der Gesellschaft, was der Logik der Modernität eher entsprechen würde als ein Bruch mit der kapitalistischen Moderne. Das gesellschaftliche Subjekt dieses Prozesses, dessen Geschichte Volponi bis hierher verfolgt hat, ist nicht mehr der arbeitende Mensch, der aus dem Paradies vertrieben worden ist, sondern das wissende Subjekt der Kollektivität, die neue Produktivkraft in der Gesellschaft der nachkapitalistischen Geschichte, was Volponi in den Scritti dal margine schon angedeutet hat.
58 Dialogo, S. 106.
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Anhang U RBINO
R INASCIMENTO Ä USSERUNGEN V OLPONIS
UND DAS
AUTOBIOGRAFISCHE
Aus: Paolo Volponi: Cantonate di Urbino1 Man sollte nach Urbino gehen im September, zwischen dem 10. und 20. des Monats. In dieser Zeit wird man mit großer Wahrscheinlichkeit, außer der Stadt, die leer ist und deswegen offener und durchlässiger, Tageszeiten finden von einem einzigarten Reiz, offen zur Küste und zu den Apenninen, in endlosen Reihen von Hügeln und strömenden Linien, unter einem tiefblauen Firmament wie an keinem anderen Ort. Wenn Sie, die lokale Gelegenheit nutzend, früh aufstehen, finden Sie vor sich, im Blick von den Türmen, die apenninische Landschaft, im Gold der frühen Morgensonne und in der Ebene zwischen den Vertiefungen und Schluchten, eingetaucht, in weiße dünne Nebel wie in ein unwirkliches Meer, Wunder oder Gemälde des frühen Rinascimento. Aus einem dieser Morgen ist sicherlich das Bild von Urbino geboren, das Projekt der Città ideale, entstanden aus den bodenständigen Elementen des Territoriums, vermessen und gebaut in einem perfekten Verhältnis von Raum, Gebäuden, Material, gesellschaftlichen Funktionen und beseelt von einer gemeinsamen Kultur, von allen geteilt und verstanden. Das Urbild davon ist ohne Zweifel der »umanesimo rinascimentale«: die neue Sicht der Geschichte und des menschlichen und sozialen Lebens in Anlehnung an die Klassiker des Denkens und der Kunst der Griechen und Römer und zugleich der Prinzipien der »scienza nuova«, der neuen Wissenschaft, gewonnen aus der Arithmetik, der Astronomie, der Geometrie, der Malerei, der Kraft der Arbeit und der Maschinen. So tritt der ganze Mensch aus der Plattheit der Devotionstafeln und der Angst heraus, aus den inneren Windungen und Winkeln des zur Verteidigung zusammengepferchten Orts, im Inneren gespalten durch die Ecken und Türmen der Korporationen und der Nachbarschaften, und findet sich mit neu gewonnenem Bewusstsein als Bewohner des Territoriums und des Platzes (piazza). [11-12] Mein Urbino ist das innerhalb der Mauern der Stadt, wo ich geboren wurde und aufgewachsen bin bis zum Zeitpunkt, wo sich die Welt völlig änderte, sich verkehrte mit dem Krieg und den endlosen Veränderungen, die er mit sich brachte. [36] Hier habe ich die Welt der Arbeit kennen gelernt, zuerst vor allem in der harten und anstrengenden meines Vaters, eines kleinen Keramikfabrikanten, 1
Übersetzung des Verfassers
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pflichtbewusst und guten Muts mit und unter den Arbeitern des Betriebs, aber unwirsch und finster angesichts der Wechsel, den Geldgeschäften und Schikanen der Sparkasse […]. Und dann in den Werkstätten des Handwerks entlang der Mauern der Stadt: der Schmied mit Stallungen, der Mechaniker, der Schuster, der Tischler, die Schneiderin, die gelegentlichen Maurer, die Straßenpflasterer, die Klempner der Kommune … [38] Mit all den Eindrücken, die ich empfing, wenn ich so in den Straßen und außerhalb der Mauern herumstreifte, den Gedanken, Begegnungen, den Auseinandersetzungen und Kämpfen der Leute […] lernte ich wenig und war schlecht in der Schule. Ich war bedrückt und widerspenstig. Der Schmerz, den ich empfand, wurde gemildert, nur ab und zu, wenn der Anblick der beständigen und wechselnden Schönheit der Erde, der ganzen Landschaft und jeder Jahreszeit mich aufatmen ließ ... Ich versenkte mich in ihren Szenarien und Höhlen in einer Weise, dass ich mich eins fühlte mit ihrem Leben und Strömen. [39] Schließlich kam die Stunde, in der die Verkehrung der Welt, die die Grausamkeit und Härte des Kriegs bewirkt hatte, die Wende herbeiführte, in der unter unseren Mauern und noch bei verschlossenen Toren sich unseren Augen präsentierte die Ansammlung von Truppen und Waffen des größten Heeres, das in der Geschichte je ausgerüstet wurde. Dieses Heer drang ein in die Stadt und verbreitete sich überall, bis in unsere Vorstellungen und geheimen Gedanken. Es brachte die Freiheit und diese versetzte uns in die Lage zu denken und für uns selbst zu sorgen. Und gerade das ist nötig, um zu vermeiden, dem Alten nachzuhängen, einer Nachsicht, die alles wieder zurückversetzt in der Zeit, die leeren Schatten, die nur von alten Akzenten widertönen. Umso mehr, als Urbino sich zu begnügen scheint mit dem verzauberten Bild von sich selbst: am gedächtnislosen Rand seiner Plätze und allem, was sie umgibt. Es geht darum zurück zu gewinnen und wiederzubeleben die ehemals ihr zugeschriebenen Positionen, die Stadt und ihr Territorium einer neuen Kultur zu öffnen, aufzuhalten ihre Musealisierung und aufzuhören mit der Rhetorik der Selbstbespiegelung. Das wirkliche Problem von Urbino heute ist, eine zivile gesellschaftliche Bestimmung zu finden, jenseits und außer der, ein Zentrum guter Studien zu sein und ein Ort, den man gesehen haben sollte. [40-41]
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Literaturverzeichnis I. Z UM W ERK
ALLGEMEIN
Monographien
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Wolfgang Hallet, Birgit Neumann (Hg.) Raum und Bewegung in der Literatur Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn 2009, 414 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1136-6
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Mareen van Marwyck Gewalt und Anmut Weiblicher Heroismus in der Literatur und Ästhetik um 1800 Februar 2010, 314 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1278-3
Elena Stepanova Den Krieg beschreiben Der Vernichtungskrieg im Osten in deutscher und russischer Gegenwartsprosa 2009, 342 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1105-2
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