Otto Hoetzsch 1876–1946: Wissenschaft und Politik im Leben eines deutschen Historikers [Reprint 2021 ed.] 9783112538524, 9783112538517


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German Pages 418 [417] Year 1979

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Otto Hoetzsch 1876–1946: Wissenschaft und Politik im Leben eines deutschen Historikers [Reprint 2021 ed.]
 9783112538524, 9783112538517

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GERD VOIGT OTTO H O E T Z S C H 1 8 7 6 - 1 9 4 6

A K A D E M I E

DER

W I S S E N S C H A F T E N

ZENTRALINSTITUT

FÜR

DER

GESCHICHTE

QUELLEN UND STUDIEN ZUR GESCHICHTE OSTEUROPAS HERAUSGEGEBEN

VON

EDUARD WINTER UND

HEINZ LEMKE IN Z U S A M M E N A R B E I T

MIT

A L F R E D A N D E R L E , E R I C H D O N N E R T , JOACHIM MAI, G Ü N T E R R O S E N F E L D UND GERD VOIGT (WISSENSCHAFTLICHER SEKRETÄR) R E D A K T I O N S S E K R E T Ä R : G Ü N T H E R JAROSCH

HAND X X I

DDR

G E R D VOIGT

OTTO HOETZSCH 1876-1946 Wissenschaft und Politik im Leben eines deutschen Historikers

AKADEMIE-VERLAG • B E R L I N 1978

Quelle der Abbildung: Universitäts-Bibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin Otto Hoetzsch 1926

Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 ©Akademie-Verlag Berlin 1978 Lizenznummer: 202 • 100/265/78 Einbandgestaltung: Helga Klein Gesamtherstellung: VEB Druckhaus „Maxim Gorki", 74 Altenburg Bestellnummer: 753146 6 (2087/21) • LSV 0235 Printed in GDR DDR 4 8 , - M

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Vorbemerkungen

Die vorliegende Arbeit greift aus der Geschichte der bürgerlichen deutschen Osteuropahistoriographie in der Zeit des Imperialismus einen Ausschnitt, ein Einzelschicksal, heraus. Sie behandelt das Wirken des Historikers, Publizisten und Parlamentariers Otto Hoetzsch, der in der Weimarer Republik eine Schlüsselposition in den Beziehungen der deutschen Wissenschaft zur UdSSR innehatte und eine bemerkenswerte ideologischpolitische Entwicklung durchlief. Am Ende seines widerspruchsvollen Lebens fand er den Weg an die Seite der demokratischen, antifaschistischen Kräfte und gab der entstehenden fortschrittlichen Geschichtswissenschaft auf dem Territorium der späteren DDR wesentliche Impulse. Das weit verstreute biographische Material war aus Archiven und Veröffentlichungen zusammenzutragen, erwies sich aber schließlich als ausreichend, um die für einen wissenschaftlichen Lebensbericht notwendigen Züge aufzuhellen. Es lag im Plan der Arbeit, diejenigen Institutionen der bürgerlichen deutschen Ostforschung, an denen Hoetzsch tätig war, näher zu kennzeichnen. Aus Raumgründen konnten nur die wichtigsten Personen, mit denen Hoetzsch auf deutscher und sowjetischer Seite zusammenwirkte, durch biographische Angaben charakterisiert werden. Die Untersuchung beruht auf der Dissertation des Verfassers, die stark überarbeitet wurde. Der Verfasser dankt allen, die ihm durch die Bereitstellung von Material, durch schriftliche Mitteilungen zu bestimmten Fragen, durch mündliche Hinweise oder durch die technische Anfertigung des Manuskripts halfen.

Inhalt

Kapitel I

Russophobie und Geschichtsschreibung. Zur Entstehung der imperialistischen deutschen Rußlandkunde

1

Kapitel II

Otto Hoetzsch - Jugend, wissenschaftliche Ausbildung politische Anfänge

und

Kapitel III

In Posen (1906 bis 1913)

28 49

Kapitel IV

Das

Kapitel V

Kommentator des Weltmachtstrebens

Kapitel VI

„Ostorientierung" im ersten Weltkrieg. Die Widersprüche eines Programms Zeitgenosse der Oktoberrevolution und des Diktatfriedens von Brest-Litovsk

109

Kapitel VIII

Ein Deutschnationaler

122

Kapitel IX

Otto Hoetzsch und die UdSSR. Standpunkte, Tätigkeiten, Fortschritte (1918 bis 1930)

158

Kapitel X

Vertiefte Kooperation mit der UdSSR oder Resignation? (1930 bis 1933)

229

Kapitel XI

Unter der hitlerfaschistischen Diktatur

253

Kapitel XII

Am demokratischen Neubeginn

272

Kapitel VII

Rußlandbild

14

Anhang: Verzeichnis der Dokumente

69 87

299

Schriftenverzeichnis Otto Hoetzsch

351

Quellen- und Literaturverzeichnis

368

Personenregister

390

KAPITEL I

Russophobie und Geschichtsschreibung. Zur Entstehung der imperialistischen deutschen Rußlandkunde

In der bürgerlichen deutschen Rußlandhistoriographie, dem späteren Arbeitsfeld des Berliner Universitätsprofessors Otto Hoetzsch, setzten sich an der Wende zum 20. Jahrhundert die charakteristischen Tendenzen imperialistischer Macht- und Aggressionsideologien endgültig durch. Die feindselige, nationalistische Einstellung gegen Rußland hatte sich bereits im Laufe des 19. Jahrhunderts unter den herrschenden Klassen Deutschlands, besonders in der Bourgeoisie, verbreitet. Die Ursachen dieser veränderten Haltung, die den einst gesellschaftlich fortschrittlichen Charakter und das völkerverbindende Ethos der deutschen Rußlandkunde lange vor dem Auslaufen von Bismarcks Rück Versicherungsvertrag und vor der offenen Zuspitzung der deutsch-russischen Gegensätze weitgehend zerstörten, waren vielfältig. Sie reichten bis in die Zeit der Heiligen Allianz zurück, als der Zarismus, der „Gendarm Europas", im Bunde mit der feudalen Reaktion Österreichs, Preußens und der deutschen Kleinstaaten den Kampf gegen die nationalen Volksbewegungen in Europa forcierte. Auch während des Vormärz und besonders in der Etappe der bürgerlichen Revolution von 1848/1849 fungierte das zaristische Rußland als Haupt der internationalen Reaktion. Wiederholt mischte es sich in die deutschen Angelegenheiten ein. Als Folge seiner konterrevolutionären und antinationalen Interventionspolitik, aber auch immer gefördert und begleitet von einer nicht nur antizaristischen, sondern antirussischen deutschen Publizistik, entstand in der liberalen Bourgeoisie und im Kleinbürgertum eine zwischen Furcht, Verachtung und erbitterter Feindschaft auf „Rußland" schwankende, daher auch je nach Zeiterfordernis verwertbare ideologische Ausgangslage. Nahezu die gesamte deutsche Rußlandpublizistik war stark nationalistisch orientiert und unfähig, verläßliche Aussagen über die innerrussischen Vorgänge oder über die außenpolitischen Beziehungen und Probleme zu treffen. 1 In engem Zusammenhang mit der These von der „russischen Gefahr", für die sich geraume Zeit in der zaristischen Politik die nötigen Beweise finden ließen, (Strahlte von der Publizistik das prinzipielle Unvermögen, zwischen den herrschenden Klassen und den Volksmassen des östlichen Reiches zu unterscheiden, auf größere Bevölkerungskreise Deutschlands aus. Die Formeln vom „kulturlosen Rußland" und von der „asiatischen Barbarei" waren weit verbreitet.

1

L. Müller, Das Rußlandbild der deutschen politischen Flugschriften, Reisewerke, Nachschlagewerke und einiger führender Zeitschriften und Zeitungen während der Jahre 1832 bis 1853, Phil. Diss. Mainz 1953; J. Gertler, Die deutsche Rußlandpublizistik der Jahre 1853 bis 1870. In: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, Rd. 7, (West-)Rerlin 1959, S. 72-195.

Kapitel I

2

Diese Vorgänge überschnitten sich mit Veränderungen in der deutschen Geschichtsschreibung. In ihr vollzog sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ein rapider Abbau des einst progressiven bürgerlichen Entwicklungsbegriffes. Auf der theoretischen Ebene begann die Aufspaltung der weltgeschichtlichen Zusammenhänge in die Geschichte von „Kulturkreisen" und damit der Übergang zur Abendlandkonzeption. 2 Auf dem spezifischen Feld der Rußlandhistoriographie setzten sich einige Leitgedanken durch, die in den eisernen Bestand der nationalistischen deutschen Rußlandkunde und auch der späteren „Sowjetforschung" eingingen. Ein Kernstück war die Uberbetonung des Tatarenjochs, das die Einheit Europas zerstört, Rußland in einen asiatischen Staat verwandelt und den Charakter des Volkes verdorben habe. Ein anderes wesentliches Element war die Theorie der „Europäisierung" Rußlands, die die Geschichte des Landes seit Peter I. als eine Folge westeuropäischer Einflüsse im Sinne von Ursache und Wirkung darstellte. Zwischen der Behauptung vom asiatischen Charakter Rußlands und der Europäisierungsthese existierte ein bestimmter, in der späteren Historiographie oft reproduzierter Zusammenhang: Die Vorstellung einer zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert entstandenen prinzipiellen, anhaltenden Gegensätzlichkeit zwischen Rußland und dem „Normalfall" Mittel- und Westeuropa sollte durch das Bewußtsein einer geschichtlich eingeleiteten, weiter fortzuführenden Synthese auf der Basis der bürgerlichen Gesellschaftsordnung und Lebensweise ergänzt werden. Dieses allgemeine Bild der russischen Geschichte wurde von Historikern der unmittelbar vorimperialistischen Zeit entworfen. In den Schriften von Ernst Herrmann, Theodor von Bernhardi, Franz von Löher und Alexander Brückner, deren Namen selbst Spezialuntersuchungen heute kaum noch erwähnen, sind wesentliche Inhalte der entstehenden imperialistischen deutschen Rußlandkunde schon zeitig markiert worden. 3 Im Grunde ist aus dem Kreis der bürgerlichen deutschen Historiker, die vor der Jahrhundertwende über Fragen der russischen Geschichte arbeiteten, lediglich Theodor Schiemann bekannt geblieben. Der 1887 nach Berlin gekommene reaktionäre Deutschbalte veröffentlichte zu verschiedenen Zeitabschnitten der Geschichte Rußlands umfassende Darstellungen und beschäftigte sich entsprechend seiner fortschrittsfeindlichen Gesamthaltung besonders intensiv mit dem politischen System und den Herrschaftsmethoden Nikolaj I.4 Durch seine extrem antirussische Gesinnung, seinen fanatischen 2

3

4

Vgl. I. S. Kon. Die Geschichtsphilosophie des 20. Jahrhunderts. Kritischer Abriß, Bd. 1, Berlin 1964, S. 109-136. E. Herrmann, Geschichte des russischen Staates, Bd. 3 bis 6 und Ergänzungsbd., Gotha 1846-1866 (begonnen von Ph. Strahl); Th. v. Bernhardi, Geschichte Rußlands und der europäischen Politik in den Jahren 1814 bis 1831, 3 Bde, Leipzig 1863-1877, enthält in Bd. 2 eine Geschichte Rußlands bis zum Wiener Kongreß; biographisches Material bei H.-W. Gille, Theodor von Bernhardi als Rußlandkenner. Phil. Diss. München 1964; F. v. Löher, Rußlands Werden und Wollen, 3 Bde, München 1881; A. Brückner, Peter der Große, Berlin 1879; ders., Die Europäisierung Rußlands. Land und Volk, Gotha 1888; ders., Geschichte Rußlands bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, Bd. 1, Überblick über die Entwicklung bis zum Tode Peters des Großen, Gotha 1896; ders., Beiträge zur Kulturgeschichte Rußlands im XVII. Jahrhundert, Leipzig 1887, enthält eine Reihe lesenswerter kulturhistorischer Studien. - A. Brückner ist nicht mit dem gleichnamigen angesehenen Slawisten polnischer Herkunft zu verwechseln, der von 1881 bis 1924 Professor an der Berl iner Universität war. Tli. Schiemann, Rußland, Polen und Livland bis ins 17. Jahrhundert, 2 Bde, Berlin 1886,

Russophobie und Geschichtsschreibung

3

Einsatz für die Interessen der deutschbaltischen Ausbeuterschichten, durch eine bis zu seinem Todo 192:1. währende, von militantem Geist getragene publizistische Aktivität sowie durch eine unmittelbar politische Wirksamkeit als Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes vor 1914 und als enger Vertrauter, sogar Freund Wilhelms II. wurde Schiemanns Name zum Begriff für den reaktionären, aggressiven Charakter der deutschen Rußlandkunde in ihrer ersten Phase, die der Geheimrat auch in organisatorischer Hinsicht wesentlich beeinflußte. Nach eigenem, von Hoetzsch überliefertem Eingeständnis waren alle seine wissenschaftlichen und politischen Bemühungen darauf gerichtet, einen Krieg zwischen Deutschland und Rußland zu schüren. 5 Die ökonomischen Differenzen, die zwischen dem Deutschen Reich und Rußland verstärkt seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre auftraten und bald in offene Gegensätze umschlugen, verliehen dann der ideologiegeschichtlich bereits eher nachweisbaren feindseligen Einstellung der bürgerlichen deutschen Öffentlichkeit gegen Rußland erst ihre eigentliche Bedeutung. 6 Gegen Ende der Kanzlerzeit Bismarcks begann auch das aktive Engagement der deutschen Großbourgeoisie und Militaristen im Nahen Osten, wo es mit der zaristischen Expansionsstrategie und den panslawistischen Plänen zur gewaltsamen Eroberung der Meerengen kollidieren mußte. Dieser Interessenkonflikt wurde eins der wichtigsten Motive für den Ausbruch des ersten imperialistischen Weltkrieges. Zusätzliche ökonomische Reibungsflächen zwischen dem Deutschen Reich und Rußland ergaben sich, als im Gefolge der Weltagrarkrise die exportierenden russischen Gutsbesitzer trotz der chronischen Hungersnöte in ihrem Lande erhebliche Mengen Agrarprodukte auf den deutschen Markt brachten und auf den erbitterten Widerstand der Junker stießen. Heftige Zollkonflikte waren seit Mitte der achtziger Jahre die Folge. Die in beiden Staaten betriebenen Rüstungen trugen dazu bei, die objektiven Interessengegensätze weiter zu verschärfen. Mehrere Faktoren bewirkten, daß es unter vorimperialistischen Bedingungen zu keinem kriegerischen Zusammenstoß kam. Beide Slaaten waren gezwungen, das internationale Kräfteverhältnis in Europa zu berücksichtigen und ständig die Kraft der revolutionären Bewegung, die unterschiedlichen Charakter besaß, zu beachten. Sowohl in Deutschland als auch in Rußland gab es im Lager der herrschenden Klassen Kräfte, die an der Erhaltung guter Beziehungen interessiert waren; besonders Bismarck hatte verstanden, daß ein Krieg gegen das russische Reich für den preußisch-deutschen Machtstaat mit einer Katastrophe enden könne. Daher war es bis zur vollen Durchsetzung der für den Imperialismus typischen Gesetzmäßigkeiten und bis zu dem innenpolitischen Machtzuwachs der aggressiven Kräfte möglich, ein zwar allgemein labiles, aber noch leidliches Verhältnis zwischen den beiden Staaten aufrechtzuerhalten. Bei der Beurteilung Rußlands und der deutsch-russischen Beziehungen besaß jenes 1887; ders., Geschichte Rußlands unter Kaiser Nikolaus I., 4 Bde, Berlin 1904-1919. Vgl. K. Meyer, Theodor Schiemann als politischer Publizist, Frankfurt/M. Hamburg 1956, mit Schriftenverzeichnis Schiemanns, sowie K. Zeisler, Theodor Schiemann als Begründer der deutschen imperialistischen Ostforschung, Phil.1 Diss. Halle/S. 1963. r> Mitgeteilt in einem Schreiben von Hoetzsch an Graf Westarp, 21. Januar 1915, Zentrales Staatsarchiv Potsdam (im folgenden: ZStAP), Nachlaß Westarp, Bd. 5, Bl. 15-19 (wiedergegeben im Anhang der vorliegenden Arbeit, Dok. 3). " Vgl. S. Kumpf-Korfes, Bismarcks „Draht nach Rußland". Zum Problem der sozial-ökonomischcn Hintergründe der russisch-deutschen Entfremdung im Zeitraum von 1878 bis 1891, Berlin 1968; J. Mai, Das deutsche Kapital in Rußland 1850-1894, Berlin 1970.

Kapitel I

4

politisch-ideologische Konzept, das oft als konservative Russophilie bezeichnet wurde, Gewicht. Dabei handelte es sich dem Charakter nach um eine reaktionäre, konterrevolutionäre Erscheinung. Ihre bestimmenden Motive waren das Klasseninteresse des preußischen Adels an einem „zuverlässigen" Rückhalt gegen die demokratischen Kräfte im eigenen Lande und an der Aufrechterhaltung der legitimistisch-absolutistischen Ordnung sowie sein Bestreben, die zuletzt auf dem Wiener Kongreß beschlossene Teilung Polens zu verewigen und die Machtpositionen auf polnischem Territorium zu behaupten. Die gemeinsame Niederschlagung der polnischen Erhebungen von 1830/1831 und 1863/ 1864 durch die Teilungsmächte war ebenso wie das „Kartellabkommen" von 1830, das die Auslieferung unter Polizeiaufsicht stehender russischer Personen an den Zarismus vorsah und bis 1869 angewandt wurde, Ausdruck dieser reaktionären gemeinsamen Politik Preußens und Rußlands. Die russophilen, tatsächlich nur zarenfreundlichen preußischen Konservativen beriefen sich oft auf die deutsch-russische Waffenbrüderschaft von 1813, die sie in ihrem Sinne entstellten, setzten große Erwartungen in das enge Verhältnis der beiden Dynastien und beschworen sogar eine angebliche deutsch-russische kulturelle Durchdringung. In den Jahrzehnten nach der Gründung des preußischdeutschen Kaiserreiches nahm das politische Gewicht der konservativen Russophilie ab. In den Reihen der Konservativen setzte sich die fixe Idee einer unüberwindlichen Feindschaft zwischen Deutschland und Rußland, zwischen „germanischem und slawischem Wesen" fest, eine Idee, die besonders während des Krimkrieges von der konservativen Wochenblattpartei und später von den deutschbaltischen Einwanderern verbreitet wurde. Schließlich wirkten sich die Veränderungen in der internationalen Situation aus. Rußlands Neutralität während der preußisch-deutschen Einigungskriege, die Bismarck durch Unterstützung der russischen Ansprüche auf der Londoner Pontuskonfercnz 1870 honoriert hatte, war kein Faktor von bleibender internationaler Bedeutung. 1879 optierte der Reichskanzler endgültig für Österreich, der Zweibund wurde geschlossen. Die zunehmenden Spannungen in der orientalischen Frage ließen das russisch-österreichische Verhältnis bald als hoffnungslos belastet erscheinen, während andererseits auf der Bühne der europäischen Politik die Beziehungen Frankreichs zu Rußland nach der Gründung des militaristischen deutschen Reiches notwendig enger werden mußten. Die konservative Russophilie war als Basis für die Bewältigung der Probleme in den deutsch-russischen Beziehungen umso weniger geeignet, als der Einfluß der Deutschkonservativen Partei seit den letzten Jahren von Bismarcks Kanzlerzeit ständig zurückging. Die Zahl ihrer Reichstagsmandate sank von 80 (1887) auf 72 (1893), 54 (1903) und schließlich 43 (1912). Im Grunde war es Otto Hoetzsch, der gegen starken Widerstand zum letzten Mal versuchte, ein konservativ begründetes Programm enger Beziehungen zum zaristischen Rußland durchzusetzen. Unter den neuen politischen Bedingungen des Imperialismus waren eine bis zum Tatarisierungsschema zugespitzte Abendlandvariante und ein eingefressener Antirussismus theoretische Ansatzpunkte für tiefgehende Veränderungen innerhalb der gesamten bürgerlichen Rußlandkunde Deutschlands. Diese Wandlungen standen im Einklang mit den ideologischen Erfordernissen, die der Imperialismus generell an das bürgerliche Denken stellte.7 Jetzt genügte es nicht mehr, den Ewigkeitsanspruch der bourgeoisen Gesellschaftsordnung von liberalen Standpunkten her immer neu zu behaupten und 7

Vgl. W. Heise, Aufbruch in die Illusion. Zur Kritik der bürgerlichen Philosophie in Deutschland, Berlin 1964.

Russopliobie und Geschichtsschreibung

5

die revolutionäre Arbeiterbewegung miit der sozialen Demagogie des Kathedersozialisraus zu bekämpfen. Der Imperialismus begnügte sich nicht mit bloßer Apologetik, sondern verlangte Ausweitung der kapitalistischen Herrschaft, Unterwerfung aller sozialen Schichten unter das Diktat der Monopolbourgeoisie und die Neuverteilung der Erde. Seine antinationale Expanisons- und Kriegspolitik, die nur im Interesse der ausbeutenden Minderheit lag, begann die Existenz der gesamten Nation aufs Spiel zu setzen, bedurfte ihrer aber zugleich als „Menschenmaterial" zum Vollzug der eingeplanten Raubzüge. Daher setzte sich mit Anbruch des Imperialismus ein neues Funktionsschema der Ideologie durch, neue Inhalte wurden erforderlich. Gefragt war letztlich nicht das von Philosophen und Kulturhistorikern intensiv erlebte Krisenbewußtsein mit der Vorahnung kommender Katastrophen, sondern die Uberleitung aller vorhandenen Ansätze in clie Produktion verwendbarer Herrschafts-, Mobilisierungs- und Kampfideologien. Die Bewußtseinslenkung der Volksmassen wurde wichtiger als je zuvor. Weder mit der Erwartungswelt des „Ex Oriente lux", die nur in esoterischen Kreisen der Intelligenz anzutreffen war, noch mit dem von publizistisch-literarischer Seite einsetzenden Kult um Dostoevskij war es getan. Jetzt sah sich die deutsche Rußlandkunde wie andere ideologieproduzierende Disziplinen der Aufgabe gegenüber, Arbeiter, Bauern, Handwerker und die Mehrheit des Kleinbürgertums zu der „Erkenntnis" zu verleiten, daß die wilhelminische „Weltpolitik" genau ihren subjektiven Interessen entsprach, der persönliche Einsatz also geboten war und lohnte. Die millionenfache, vor allem dauerhafte Umkehrung der objektiven Interessenlage im subjektiven, individuellen Bewußtsein arbeitete mit dem Entwurf illusionärer Gemeinschaftsideen, die den Klassenkampf „überdecken" sollten und sich gewöhnlich mit den Begriffen Volk, Nation, Rasse, Reich, Christentum, Europa und mit „raumpolitischen" Vorstellungen verbanden. Eine jeweils nach außen zielende „gerechte Mission" der fiktiven Gemeinschaft sowiie die Aufrichtung konkreter Feind- und Schreckbilder mit der aus ihnen folgenden Suggestion kollektiver und individueller Bedrohung ergänzten das neue Strukturmodell, das der imperialistischen Ideologie bereits vor 1914 zugrunde lag und für sie charakteristisch geblieben ist. Es bezweckt nicht nur, den arbeitenden Klassen die Interessen der Monopolbourgeoisie und ihrer Verbündeten als eigene Zielvorstellungen aufzudrängen, sondern sucht zugleich die revolutionäre Vorhut des Proletariats, die marxistische Partei, die die wirklichen Interessen der Nation vertritt, als vaterlandslose Gesellen, Feind des Volksganzen oder Agentur einer fremden Macht zu isolieren. Die deutsche Rußlandhistoriographie unterlag bald den Geboten dieses imperialistischen Ideologiemechanismus. Ihr Gesamtbild für die Zeit bis 1914/1917 zeigt, daß sie angesichts der Verlagerung des revolutionären Zentrums von Deutschland nach Rußland immer mehr als Kampfmittel gegen die Festigung des proletarischen Internationalismus zwischen der deutschen und der russischen Arbeiterklasse zu wirken begann. Darüber hinaus wurde die umfassendere Disziplin Rußlandkunde zunehmend als Instrument zur Feinderkundung 8 eingesetzt, unabhängig von den redlichen Motiven 8

Dieser sehr wesentliche Aspekt kann im vorliegenden Zusammenhang nicht näher untersucht werden. Es sei nur darauf verwiesen, daß sich die wachsende Feindschaft gegen Rußland und die Orientierung auf einen Waffengang in einer umfassenden landeskundlichen Bestandsaufnahme des Zarenreiches reflektierten, die mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes und des Reichsamtes des Inneren von Wirtschaftssachverständigen wie Auhagen, Borchardt und Goebel, von ausgedienten Militärs wie Krahiner, Zepelin, Albert

Kapitel I

6

zahlreicher fähiger Spezialisten, die im Besitz der ungefährlichen Illusion belassen wurden, wertneutrale Forschungsarbeit zu leisten. Daher schloß die allmähliche Durchsetzung der imperialistischen Hauptlinie in der deutschen Rußlandhistoriographie und Rußlandkunde das Erscheinen bedeutender Untersuchungen, die neue Tatsachen und Wissensgebiete erschlossen, keineswegs aus.9 Die destruktiven Tendenzen siegten im ideologiebildenden Bereich lind in den funktionellen Bestimmungen. Sie behielten auch die Oberhand über eine Reihe progressiver Ansätze zur Neugestaltung der deutschen Rußlandkunde, die in der Vorkriegszeit besonders von dem Münchner Byzantinisten Karl Krumbacher und dem Bonner Rechtshistoriker Leopold Karl Goetz ausgingen.10 Beide Wissenschaftler verlangten, mit der Unterstützung der östlichen Nachbarvölker Deutschlands Schluß zu machen und den großen Inhaltsreichtum der slawischen Kulturen zu erschließen. In der Atmosphäre von Kriegsvorbereitung und Chauvinismus verhallten ihre mahnenden Worte jedoch ungehört. Der entscheidende Faktor, der die bürgerliche deutsche Geschichtsschreibung über Rußland zu einer reaktionären Erscheinung werden ließ, war ihr ideologisches Auftreten gegen die revolutionäre Arbeiterbewegung und gegen den proletarischen Internationalismus. Durch ihren heroischen Kampf unter den Bedingungen des Sozialistengesetzes, ihre geschickte Verbindung parlamentarischer und außerparlamentarischer Kampfmethoden, durch die Disziplin ihrer Mitglieder und das hohe theoretische Niveau der Führung war die Sozialdemokratische Partei Deutschlands zum Vorbild für viele russische Revolutionäre geworden. Deutsche Sozialdemokraten unterstützten Lenin erfolgreich bei seinem Kampf um die Bildung einer revolutionären russischen Arbeiterpartei, indem sie beim Druck der „Iskra" entscheidend halfen und den illegalen Transport revolutionärer Literatur nach Rußland organisierten. 11 Der Königsberger Prozeß 1904, der nach den Verteidigungsreden Karl Liebknechts und Hugo Haases mit dem Freispruch oder geringfügigen Verurteilungen der sieben angeklagten deutschen Sozialdemokraten endete, machte die proletarisch-internationalistische Zusammenarbeit deutscher und russischer Revolutionäre beim Kampf gegen den Zarismus weithin bekannt. 12 In vielen

9

10

11 12

von Drygalski sowie von Experten für einzelne Landesteile vorgenommen wurde. Mitteilung von Tatsachen in dem beschönigenden Aufsatz von Bissing, Wilhelm Moritz Frhr. von, Geschichte der deutschen wirtschaftswissenschaftlichen Ostforschung bis 1945. In: Schmollers Jb. f. Gesetzgebung, Verwaltung u. Volkswirtschaft, 1966, H. 2, S. 179-189. Zu den wertvollsten Veröffentlichungen zählt L. K. Goetz, Deutsch-russische Handelsverträge des Mittelalters, Hamburg 1916. K. Krumbacher, Der Kulturwert des Slawischen. In: Internationale Wochenschrift f. Wissenschaft, Kunst u. Technik, 29. Februar u. 7. März 1908, wiederabgedruckt in: Ders., Populäre Aufsätze, Leipzig 1909, S. 337-372. Der Beitrag von L. K. Goetz, „Slavische Philologie" oder „Slavische Geschichte und Landeskunde"? erschien in: Münchener Neueste Nachrichten, 23. August 1908, Beilage. Vgl. A. Reisberg, Lenins Beziehungen zur deutschen Arbeiterbewegung, Berlin 1970. Der Geheimbund des Zaren. Der Königsberger Prozeß wegen Geheimbündelei, Hochverrat gegen Rußland und Zarenbeleidigung vom 12. bis 25. Juli 1904, hg. v. K. Eisner, Berlin 1904; K. Liebknecht, Der Königsberger Prozeß. Aus dem Plädoyer. In: Ders., Gesammelte Reden und Schriften, Bd. 1, Berlin 1958, S. 68-74. Vgl. IL Wohlgemuth, Die Anfänge der Beziehungen Karl Liebknechts zu den Bolschewiki (1903/1904). In: Theorie und Praxis. Wiss. Beiträge d. Parteihochschule „Karl Marx" beim ZK der SED, 1973, H. 3, S. 36-52.

Russophobie und Geschichtsschreibung

7

Teilen Deutschlands, darunter in der Hauptstadt Berlin13, lebten und arbeiteten unter schweren Bedingungen russische Revolutionäre, die die Unterstützung ihrer deutschen Klassengefährten erhielten. Die Revolution von 1905 bis 1907 war für die deutsche Arbeiterbewegung von außerordentlicher Bedeutung. Die revolutionären Marxisten studierten aufmerksam die Erfahrungen der ¡Revolution und die neuen Kampfmethoden, besonders den Massenstreik, um dessen allgemeine Anwendbarkeit heftige Auseinandersetzungen in der SPD entbrannten. Die deutsche Arbeiterklasse unterstützte mit vielfältigen Mitteln, besonders durch Solidaritätskundgebungen und Geldsammlungen, die russischen Revolutionäre. An ihrem Widerstand zerschlugen sich die Pläne des deutschen Militarismus, Truppen nach Rußland zu entsenden und dem Zarismus bei der blutigen Unterdrückung der Revolution zu helfen. August Bebel sagte auf dem Mannheimer Parteitag der SPD 1906, es sei „ganz selbstverständlich, daß die deutsche Sozialdemokratie kraft ihrer internationalen Beziehungen und ihrer internationalen Solidarität sowie aus dem Interesse heraus, einem Volke die Möglichkeit zu geben, für seine Befreiung aus den Banden des Despotismus zu kämpfen, alles aufbieten wird, um derartige Pläne der deutschen Regierung zu durchkreuzen." 14 Die wichtigste geschichtliche Auswirkung der russischen Revolution 1905/1907 auf die deutsche Arbeiterbewegung war die Entstehung einer marxistischen Linken, die in den folgenden Jahren immer stärker in der Partei hervortrat. 10 Die Linken waren konsequente Verfechter einer revolutionären Klassenpolitik und führten am entschiedensten den Kampf gegen Militarismus und imperialistischen Krieg. Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Clara Zetkin, Julian Marchlewski, Franz Mehring, Hermann Duncker, Wilhelm Pieck und andere revolutionäre Marxisten richteten auch nach 1907 ihre Blicke oft auf die russische Arbeiterbewegung und eigneten sich Erfahrungen der Bolschewiki an. Die bürgerliche deutsche Rußlandhistoriographie reagierte auf die Verlagerung des revolutionären Zentrums nach Rußland mit wesentlichen Veränderungen ihrer ideologischen Aussagen, die dem allgemeinen Mechanismus der Ideologie unter imperialistischen Bedingungen entsprachen. Die Historiker hatten vor allem die Aufgabe, im Klasseninteresse der Bourgeoisie die Leerformel von der „russischen Gefahr", die seit dem Ende des Krimkrieges und der geschwundenen Suprematie des Zarismus über die wesentlichen Fragen der europäischen Politik ihren früheren Inhalt verloren hatte, mit einer neuen Substanz zu füllen. Zur Begründung dieser angeblichen Gefahr war von verschiedenen Seiten schon lange vor der Jahrhundertwende eine bunte Palette an Motiven und Argumenten angeboten worden. Die Skala reichte von den „zwangsläufig" expansiven Naturbedingungen Rußlands über Hinweise auf das große russische Heer, das ständig in Übung gehalten werden müsse, bis zu dem räuberischen Charakter der Staatsbeamten. Das 13

14

15

Vgl. B. Brachmann, Russische Sozialdemokraten in Berlin 1895-1914. Mit Berücksichtigung der Studentenbewegung in Preußen und Sachsen, Berlin 1962. Zit. nach: August Bebel. Eine Biographie, von einem Autorenkollektiv u. Leitung v. H. Bartel, Berlin 1963, S. 193. A. Laschitza/H. Schumacher, Thesen über die Herausbüdung und Entwicklung der deutschen Linken von der Jahrhundertwende bis zur Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund). In: Beitr. zur Gesch. d. deutschen Arbeiterbewegung, 1965, S. 23-40.

8

Kapitel I

entscheidende Moment war die inhaltliche Ausweitung des Feindbegriiles vom Staat Rußland auf das russische Volk. Schon in den Schriften des Münchener Orientalisten Jacob Philipp Fallmerayer fungierte „Europa" als Idyll vor einem Barbarensturm ein typisches Beispiel für die Aufrichtung eines Schreckbildes.16 Franz von Löher warnte in seiner Geschichte Rußlands die Leser besonders vor dem „Nihilismus", worunter damals in der ausländischen Literatur die Bewegung der revolutionären Volkstümler verstanden wurde. Er übertrug also erstmals den Feindbegriff auf die revolutionären Kräfte in Rußland. Ebenso erstmals formulierte er in der deutschen Piußlandhistoriographie des 19. Jahrhunderts das Programm einer Aufteilung des Nationalitätenstaates. 17 Auch der viel gelesene Kulturhistoriker Johannes Scherr und Karl Oldenberg, zeitweise Assistent Gustav Schmollers, stellten die Narodniki nicht als Gegner des Zarismus, sondern, wie es den Klassenaufgaben der bürgerlichen Rußlandhistoriographie entsprach, als gefährliche Feinde jeder Zivilisation dar, vor denen das hochstehende Europa alarmiert werden müsse.18 Theodor Schiemann legte schließlich dem russischen Volk eine Fülle extrem negativer Züge zur Last, wobei er zugleich dessen antizaristische und antikapitalistische Erfahrungen und Bewußtseinsinhalte in biologisch determinierte, „ewige" Eigenschaften veränderte. So wurde aus den Versuchen der russischen Bauern, die Gerichtsbarkeit der Ausbeuterordnung zu umgehen, ein grundsätzlicher Mangel an Rechtsgefühl, und aus dem Kampf der arbeitenden Klassen gegen die politischen Instanzen und Methoden des Zarismus machte Schiemann einen ebenso absolut gefaßten steigenden Gegensatz zum Staat und ein Fehlen jeder festen Lebensanschauung. Oft verwendete Schiemann das Hehn entlehnte Wort vom russischen „nisus destruetivus", vom Hang zum Zerstören. In der Literatur Rußlands erblickte er den Niederschlag aller „asiatischen", unund antieuropäischen Eigenschaften des Volkes. Er lieferte nicht nur eine verzerrte Interpretation Puschkins, sondern griff die gesamte russische klassische Literatur und insbesondere Lev Tolstoj an, in dem er 1917 den geistigen Urheber der Revolution sah. Immer wieder behauptete Schiemann, daß gerade das russische Volk der eigentliche Feind Deutschlands sei. Zu Beginn des Revolutionsjahres 1917 beteuerte er mit einem Seitenhieb, der seinem Schüler Hoetzsch galt: „Gegenüber gegenteiligen, zum Teil auf bewußter Fälschung beruhenden Behauptungen sogenannter ,Kenner' Rußlands kann nicht scharf genug betont werden, daß der gefährlichste und erbittertste Feind des Deutschen Reiches und des Deutschtums überhaupt im russischen Volke zu suchen ist, wie das die Balten schon seit fünfzig Jahren richtig erkannt haben." 19 In den lfi

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Vgl. J. Ph. Fallmerayer, Gesammelte Werke, Bd. 2 u. 3, Leipzig 1861. - Zu diesen Fragen vgl. F. T. Epstein, Der Komplex „Die russische Gefahr" und sein Einfluß auf die deutschrussischen Beziehungen im 19. Jahrhundert. In: Deutschland in der Weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts, hg. v. I. Geiss u. B. J. Wendt, Düsseldorf 1973, S. 143-160. Löher, a. a. 0., Bd. 3, S. 189. J. Scherr, Die Nihilisten, Leipzig 1885; K. Oldenberg, Der russische Nihilismus von seinen Anfängen bis zur Gegenwart, Leipzig 1888. Zur Entstehung der „Nihilistenlegende" vgl. W. Düwel, Cernysevskij in Deutschland. Aus der Geschichte deutsch-russischer Kulturbeziehungen, Phil. Diss. Berlin 1958, S. 136-142. o. V., Deutschland und die Baltischen Provinzen. In: Deutsche Rundschau, Bd. 170, Januar/März 1917, S. 190. Der Beitrag stammte nachweislich von Schiemann, die Worte „russischen Volke" waren eigens hervorgehoben. Ähnliche Formulierungen wiedergegeben bei Zeisler, a. a. O., S. 124.

Russopliobie und Geschichtsschreibung

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Haßausbrüchen des Berliner Lehrstahlinhabers erreichte die Linie der Russophobie zweifellos einen Höhepunkt. Zur nationalistischen Ausweitung des Feindbegriffes gesellte sich eine veränderte Behandlung der russischen revolutionären Traditionen. Im 19. Jahrhundert war vorwiegend die Methode des Verschweigens praktiziert worden. Ernst Herrmann hatte in seinen umfangreichen Büchern die Aufstände unter Razin und Pugacev auf wenigen Seiten abgetan; die Erhebung unter Bulavin sowie alle weiteren Kämpfe der russischen Volksmassen erwähnte er gar nicht. Bernhardi hatte dem Aufstand Razins fünf Zeilen gewidmet, denjenigen unter Führung Bulavins gleichfalls nicht beachtet und den Bauernkrieg von 1773 bis 1775 auf knapp zwei Seiten gestreift. Der Aufstand der Dekabristen, mit besonderem Argwohn als hochgefährliche Offiziersfronde eingestuft, wurde von der deutschen Rußlandhistoriographie überhaupt nicht untersucht. Dem gleichen Schicksal verfiel die politische Rolle des revolutionären Demokraten Cernysevskij, von gelegentlichen Äußerungen abgesehen. Die erstaunliche Blindheit der bürgerlichen Fachhistoriker stand in krassem Gegensatz zu der großen Aufmerksamkeit, die Cernysevskijs revolutionäres Wirken in der deutschen Arbeiterbewegung fand. Marx und Engels haben sich mit seinen Werken ausführlich beschäftigt und hatten von ihnen eine hohe Meinung. Die Methode, die revolutionären Traditionen zu verschweigen, findet sich dann noch in1 den Schriften von Reeb und Pantenius. 20 Angesichts der Volksrevolution von 1905 mußten Schiemann und mit ihm andere Vertreter der imperialistischen deutschen Geschichtsschreibung der revolutionären Bewegung in Rußland und ihren Traditionen erhöhte Aufmerksamkeit zuwenden. Ein bestimmtes Grundschema trat in Funktion. Gegenüber den sozialen Triebkräften der revolutionären Massenbewegungen wurde die Ilauptlinie der offenen Diffamierung und einer konstruierten Gefahr mit der Suche nach denkbaren „Lösungswegen" verbunden, während zugleich anhand geschichtlicher Ereignisse Manöver zur Irreführung unternommen wurden. Dieses allgemeine Strukturbild war für die beiden ersten Jahrzehnte des Imperialismus typisch.'Es beließ unterschiedlichen Versionen Spielraum. Nach dem Sieg der Oktoberrevolution setzte sich ein neues Schema durch. Nunmehr wurde das russische Volk als gut, friedfertig und religiös, aber gleichzeitig als „unterjocht" und „verführt" apostrophiert. Der Antikommunismus zielte nach 1917 verstärkt darauf ab, die gewünschte Trennung zwischen revolutionärer Partei und Massen zu „begründen". Typisch für die veränderten Interpretationsmuster nach der Jahrhundertwende waren die Methoden Schiemanns, dem Haupt der imperialistischen deutschen Rußlandkunde vor 1917. Er konnte beispielsweise für seine Darstellung des Aufstandes von 1825 die Archive der Dritten Abteilung benutzen, so daß er über reichhaltiges neues, interessantes Material verfügte. 21 Durch ausführliche, aber unkritische Verwendung der Verhörprotokolle suggerierte er dem Leser, daß die Motive der Dekabristen zwar ehrenhaft, ihre Tat aber verbrecherisch gewesen sei. Zusätzlich verwischte er den qualitativen 20

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W. Reeb, Russische Geschichte, Leipzig 1903; Th. Pantenius, Geschichte Rußlands von der Entstehung des russischen Reiches bis zur Zeit vor dem Weltkriege, Leipzig 1917. Zur parallelen Methode in der russischen bürgerlicheil Historiographie vgl. M. W. Netschkina, Lenin als Historiker der revolutionären Bewegung Rußlands. In: W. I. Lenin und die Geschichtswissenschaft, übersetzt u. hg. v. B. Weißel, Berlin 1970, S. 48-49. Schiemann, Geschichte Rußlands, Bd. 1, S. 478-487, und Bd. 2, S. 35-85. Hoetzsch

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Kapitel I

Unterschied, der zwischen Dekabristen und revoltierenden Militärkolonisten bestand, indem er nacheinander die Freimaurerlogen, den Kreis um Puschkin, den Tugendbund, den Aufstand der Ulanen in Cuguev und die Empörung im Semenovskij-Rcgiment 1820 schilderte und dann, gewissermaßen „gleichwertig", die Vorgeschichte und den Verlauf des Dezemberaufstandes anfügte. Dadurch sagte er sich zwar von der überholten Schweigetaktik los, negierte aber weiterhin die geschichtliche Bedeutung der Dekabristen. Der russischen revolutionären Bewegung seiner Zeit gegenüber zog Schiemann alle Register der Verleumdung, wodurch er seine Unfähigkeit zur historisch-politischen Erkenntnis demonstrierte und am Ende seines Lebens selbst innerhalb der deutschen Rußlandkunde zur belächelten Figur wurde. In seinem Haß auf die Revolution von 1905 verwandte er faschistisch anmutende Formulierungen. Als Gegenmittel empfahl er nicht nur eine brutale militärische Konterrevolution und die Verweigerung aller nennenswerten konstitutionellen Zugeständnisse, sondern ging so weit, Wilhelm II. wenige Monate nach der Farce von Björkö (Juli 1905) Injterventionsahsichten nahezulegen, deren Notwendigkeit er mit dem Schutz für die bedrohten deutschbaltischen Großgrundbesitzer bemäntelte. 22 Der Heidelberger Historiker Arthur Kleinschmidt, dessen Schriften von Bewunderung für die Zaren und Volksverachtung durchzogen waren, hatte sich bereits 1898 mit Vehemenz für „energische Maßnahmen" gegen die revolutionären Kräfte ausgesprochen.23 Als wichtigste Wunschvorstellung, wie der Revolution der Arbeiter und Bauern im Zarenreich zu steuern sei, setzte sich in der deutschen Rußlandkunde die Hoffnung auf allgemeine Machtzunahme der russischen Bourgeoisie und damit verbundene Verfassungsänderungen durch. Die liberale Kritik am zaristischen Absolutismus wurde vorherrschend. Reformen erschienen allgemein als unumgänglich. 1899 machte sich der Freiburger Professor für Volkswirtschaft Gerhart von Schultze-Gaevernitz, ein Freund Struves, zum Sprecher der deutschen Bourgeoisie, indem er unter der bekannten Leitidee einer „Europäisierung" Rußlands für die verstärkte Einführung moderner Technik und einen vermehrten Export deutschen Kapitals eintrat. Hierin sah er die Garantie für eine Vermeidbarkeit revolutionärer Erschütterungen. 24 Aus dem Kreis um Schiemann wurde der Ruf nach Agrarreformen laut, die zu einer „Gesundung" der russischen Volkswirtschaft führen sollten.25 Die Einberufung der Duma und Stolypins Agrarreformen -erfreuten sich in der folgenden Zeit seitens der deutschen Rußlandkunde lebhafter Akklamation, teilweise auch „positiver Kritik". 26 Der Staatsrechtler Anton Palme, der noch in der hitlerfaschistischen Ostforschung eine Rolle spielte, verlangte 1910 mit Ent-

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Schiemann sprach in diesem Sinne im Oktober und November 1905 mit dem Kaiser und im April 1906 mit Tschirschky. Für den Fall des russischen Zusammenbruchs im Krieg gegen Japan dachte er an eine deutsche Okkupation Litauens und der Ostseegouvernements; vgl. Zeisler, a. a. O., S. 144-153. A. Kleinschmidt, Drei Jahrhunderte russischer Geschichte. Uberblick der russischen Geschichte seit der Thronbesteigung der Romanow bis heute (1598-1898), Berlin 1898, Einleitung. G. v. Schultze-Gaevernitz, Volkswirtschaftliche Studien aus Rußland, Leipzig 1899. K. Ballod, Die wirtschaftliche Lage Rußlands. In: Jahrb. f. Gesetzgebung, Verwaltung u. Volkswirtschaft im Deutschen Reich, 1898, H. 1, S. 41-118, IL 2, S. 1-18. W. Preyer, Die russische Agrarreform, Jena 1914.

Russopliobie und Geschichtsschreibung

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schicdenheit wirksame innenpolitische Reformen und drängte auf eine durchgreifende Neugestaltung der russischen Verfassung.27 Das „Rußlandbild" der damaligen bürgerlichen Fachleute, das von Iloetzsch weiter geformt wurde, ist in der gegenwärtigen imperialistischen Historiographie auf besonderes Interesse gestoßen. Der Tübinger Osteuropahistoriker Dietrich Geyer akzeptierte es als frühen Versuch, die industriegesellschaftliche Elle an die russische Geschichte zu legen.28 Er teilte nicht mit, daß die deutsche Rußlandkunde der Vorkriegszeit die sozialen Entwicklungsprozesse im Zarenstaat falsch beurteilte, aus ihrer eigenen Klassenbindung heraus die Potenzen der russischen Bourgeoisie weit überschätzte und vor allem die politische Tätigkeit der bolschewistischen Partei, ihre enge Verbindung zu den Volksmassen und ihre theoretischen Leistungen, nicht zur Kenntnis nahm. Otto Hoetzsch teilte diese prinzipiellen Mängel. Die durchgängige und nur verschieden begründete Revolutionsfeindschaft der imperialistischen deutschen Rußlandkunde wurde ergänzt durch den anhebenden, noch nicht generell typischen Übergang zu solchen Formen der Ideologie, die das Hauptmotiv für die gesellschaftliche Entwicklung in außergesellschaftlichen Faktoren, in der Rasse und in der geographischen Umwelt,29 vermuteten. Indem sie das bewußte Handeln der Menschen als untergeordnet oder sogar als sinnlos bezeichneten, erwiesen sie sich als Mittel der Irreführung und der Konterrevolution, waren aber gleichzeitig auch als Deckmantel für Aggressionsvorhaben zu gebrauchen. Den noch fehlenden Schritt vom biologischen Determinismus Hehns und Schiemanns zum Rassismus tat Albrecht Wirth, der 1901 dem deutschen Leser die erste rassistisch gehaltene Geschichte Rußlands zumutete. 30 Durch seinen Rassismus und den in der Auflage von 1920 offenbarten Antisemitismus, aber auch durch seine dilettantische Methode und die Terminologie gehörte Wirth unter die Vorläufer der faschistischen „Sowjetforschung". Das Bild der russischen Geschichte, das die deutschen Fachhistoriker in den beiden ersten Jahrzehnten des Imperialismus entwarfen, war trotz zunehmender Dichte in der Aufbereitung des Tatsachenmaterials und ungeachtet verschiedener wertvoller Spezialuntersuchungen in seiner Gesamtheit nicht geeignet, Gesetzmäßigkeiten im historischen Prozeß erkennen zu lassen, den Blick für die gewaltigen sozialen und revolutionären Prozesse in Rußland zu schärfen oder auch nur der deutschen Bourgeoisie eine realistische Vorstellung vom Wert der deutsch-russischen Beziehungen in Geschichte und Gegenwart zu vermitteln. In diesem Zweig der Historiographie setzten sich zunehmend nationalistische, irrationalistische und antisozialistische Konzeptionen durch. Sie bewirkten, daß sich auch die bürgerliche deutsche Geschichtsschreibung über Rußland weitgehend in das System der imperialistischen Herrschafts- und Aggressionsideologien einfügte. Ihre Organisation und institutionelle Basis entsprachen vor 1914 allerdings nicht entfernt den Anforderungen, die der Imperialismus objektiv an diesen Sektor der „Aus27 28

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A. Palme, Die russische Verfassung, Berlin 1910. D. Geyer, Oktoberrevolution. In: Revolution und Gesellschaft. Theorie und Praxis der Systemveränderung, hg. v. Th. Schieder, Freiburg/Br. 1973, S. 121-122. A. Hettner, Das europäische Rußland. Eine Studie zur Geographie des Menschen, Leipzig/ Berlin 1905. A. Wirth, Die Entwicklung Rußlands, Berlin 1901; ders., Geschichte des Russischen Reiches von 600 v. Chr. bis 1920 n. Chr., Hamburg/Braunschweig/Berlin 1920.

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Kapitel I

landswissenschaften" stellte. Nur Schiemann hatte seit 1892 eine Professur (Extraordinariat) an der Berliner Universität inne. Im Herbst des Jahres 1900 unterbreitete er dem Preußischen Kultusministerium seine Denkschrift „Einige Gedanken über die Notwendigkeit, für eine Erweiterung unserer Kunde von Rußland Sorge zu tragen". 31 In diesem zeitigsten nachweisbaren Dokument, das sich mit dem Aufbau der imperialistischen Ostforschung in Deutschland beschäftigt, konstatierte Schiemann die unzulängliche Kenntnis der russischen Sprache sowohl unter Wissenschaftlern als auch unter den Auslandsvertretungen und Staatsbeamten, ferner die geringe Ausstattung der Hochschulen mit Quellen und Literatur sowie das bisherige Fehlen jeder Art Staatsinitiative bei der Entwicklung der Rußlandkunde. Als Abhilfe für diese Mängel verlangte er vier Dinge. Es waren die Errichtung eines Ordinariats für russische Geschichte in Berlin und von Extraordinariaten in Breslau und Königsberg, die Aufnahme des russischen Staatsrechts in das Jurastudium, die Anstellung von Lektoren der russischen Sprache an den genannten Universitäten und sprachkundiger Kräfte im Staatsdienst, endlich den obligatorischen Unterricht in Geschichte und Staatsverfassung Rußlands am Berliner Orientalischen Seminar und in fakultativer Form an den Handelsschulen und Technischen Hochschulen. Schiemanns Memorandum bezweckte nicht die Vermittlung von Kenntnissen oder die Liquidation eines Wissensnotstandes, sondern war das Programm einer politischen Aktivierung der Rußlandkunde und ein Griff zum Nachwuchs. Mit der Gründung des Seminars für osteuropäische Geschichte und Landeskunde an der Universität Berlin 1902 wurden Schiemanns Vorschläge allerdings nur teilweise erfüllt. Die überlieferte Geringschätzung und Verachtung der slawischen Völker, Intrigen sowie die noch mangelhafte Einsicht der zuständigen Staatsbeamten in die Klassenerfordernisse des Staates, dem sie dienten, verhinderten, daß Schiemanns Pläne, die er ausdrücklich als Minimum bezeichnete, völlig zur Tat wurden. Das Seminar wurde zum ersten Mittelpunkt der Rußlandforschung im imperialistischen Deutschland.32 Die Zahl seiner Mitglieder stieg von 5 (1904) auf 20 (1908) und 40 (1912); in den Kriegsjahren schwankte sie um 20. Zu den ersten Zöglingen zählten die späteren Professoren Andreae, Richard Salomon,33 Walter Recke und Hoetzsch. Übungen und Kollegs fanden zu den verschiedensten Themen statt. Ballod las über Wirtschaftsgeographie Rußlands, Kretschmer über Geographie, der Archivrat Paczkowslci über staatsrechtliche Fragen Rußlands und Polens, 1908 nahmen Salomon mit einer Übung über russisch-byzantinische Beziehungen und Hoetzsch mit einer Veranstaltung über polnische Verfassungsprobleme ihre Lehrtätigkeit auf. Schiemann, seit 1902 Ordinarius für osteuropäische Geschichte und Leiter des Seminars, hielt die zentralen Vorlesungen zur russischen und polnischen Geschichte, in denen er sich auf das 18. und 19. Jahrhundert konzentrierte. Er hatte regelmäßig mehr als 100, gelegentlich sogar über 300 Hörer. Auf den Inhalt seiner Vorlesungen wirft ein Vorfall aus dem

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Zentrales Staatsarchiv, Ilist. Abt. II; Merseburg (im folgenden: ZStAM), Rep. 76 Va, Sekt. 2, Tit. IV, Nr. 61, Bd. XI, Bl. 177-184 v. Angaben aus den jährlichen Chroniken der Königliehen Friedrich-Wilhelm-Universität. Finanzielle Aspekte des Seminars bei H. Giertz, Das Berliner Seminar für osteuropäische Geschichte und Landeskunde (bis 1920). In: Jb. f. Gesell, der UdSSR u. der volksdemokratischen Länder Europas, Bd. 10, Berlin 1967, S. 183-217. F. T. Epstein, Hamburg und Osteuropa. Zum Gedächtnis von Prof. Richard Salomon, 1884-1966. In: Jahrbücher f. Gesch. Osteuropas, 1967, H. 1, S. 59-98.

Russophobie und Geschichtsschreibung

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Dezember 1901 ein bezeichnendes Licht. Provokatorische Äußerungen Schiemanns hatten zum Protest polnischer Studenten geführt, die durch Radauszenen zum Verlassen des Hörsaales gezwungen wurden. Die folgende Polizeiaktion gab den Behörden Gelegenheit, dreißig Studenten russischer Staatsangehörigkeit aus Preußen auszuweisen und die gesammelten „Erfahrungen" anderen deutschen Hochschulen mitzuteilen. 34 Durch die Tätigkeit des Berliner Seminars und seines Leiters, der eine umfangreiche publizistische Aktivität entfaltete, Verbindungen zu hohen Beamten des Staatsapparates besaß und von 1888 bis 1910 an der Kriegsakademie die geschichtlichen Vorlesungen hielt, sollte in erster Linie ein Stamm einsatzfähiger Fachleute herangebildet weiden. Otto Hoetzsch wurde einer der engsten Schüler und Mitarbeiter Schiemanns. 3''

Zu diesem „Schiemann-Skandal" vgl. Brachmann, a. a. 0., S. 1 9 - 2 1 , 134. Noch 1911 wurden unter Berufung auf die Vorkommnisse von 1901/1902 Paßbestimmungen für russische Studenten verschärft.

KAPITEL II

Otto Hoetzsch — Jugend, wissenschaftliche Ausbildung und politische Anfänge

Als Sohn eines Klempnermeisters, • unter dessen Vorfahren sich mehrere Leipziger Handwerker befanden, wurde Otto Hoetzsch am 14. Februar 1876 in der sächsischen Messestadt geboren. 1 Die Atmosphäre im Elternhaus wurde nicht so sehr durch das evangelisch-lutherische Glaubensbekenntnis, sondern bedeutend mehr durch eine enthusiastische Zustimmung zum politischen Werk Bismarcks geprägt. Hoetzsch schrieb später, daß seine Jugend auch durch die Begeisterung für Treitschkes Schriften und durch Nachklänge an Gustav Frey tags „Die Grenzboten" bestimmt worden sei, eine verbreitete nationalliberale Zeitschrift, in der sich zeitig antipolnische und antisemitische Tendenzen bemerkbar machten. Nach dem Besuch der Vorschule konnte Hoetzsch, obgleich sein Vater früh starb, das Thomasgymnasium absolvieren. Hier erhielt er eine klassischhumanistische Ausbildung. Auf das Abitur folgte ein J a h r Militärdienst in der sächsischen Infanterie, in der Hoetzsch Offiziersaspirant wurde. Zum Sommersemesler 1895 ließ er sich in die Listen der Leipziger Universität eintragen. Er wechselte 1896 nach München über, kehrte aber noch im gleichen J a h r in seine Heimatstadt zurück, wo er bis 1899 das Studium fortsetzte. 2 Er hörte geschichtswissenschaftliche, nationalökonomische und kunsthistorische Vorlesungen; auch geographische Themen fanden sein Interesse. Der prominente Leipziger Historiker Karl Lamprechl, der die Notwendigkeit wirtschaftsgeschichtlicher Studien betonte und in der bürgerlichen deutschen Historiographie eine eigene kulturgeschichtliche Methode zu entwickeln begann, war sein wichtigster Lehrer. 3 Neben Fachvorlesungen zur deutschen Geschichte kündigte Lamprecht regelmäßig Kollegs an, die anhand der jüngsten Vergangenheit Hörer aller Fakultäten in das „politische und soziale Verständnis der Gegen1

Pcrsonalangaben über Otto Edmund Gustav Hoetzsch in: ZStAM, Rep. 76, Va, Sekt. 2, Tit. IV, Nr. 51, Bd. XIV, unfol., selbstvcrfaßter Lebenslauf von 1906; ebenda, Rep. 76, Vb, Sekt. 16, Nr. 4, Bd. III, unfol., Charakteristik Hoetzschs durch ungenannten Schreiber, 1906; Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin, Universitätskurator, Pcrsonalia II 363 (Hoctzsch), sowie in den Akten der Philosophischen Fakultät, die Graduierungen betreffen; Selbstbiographie in: Deutscher Aufstieg, hg. v. H. v. Arnim/G. v. Below, Berlin/ Leipzig/Wien/Bern 1925, S. 489-492; o. V., Otto Hoctzsch zum Gedächtnis. In: RußlandStudien. Gedenkschrift für Otto Hoctzsch, hg. v. d. Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde, Stuttgart 1957; ferner die von F. T. Epstein verfaßten Angaben in: Neue Deutsche Biographie. Bd. 9. (West-)Berlin 1972, S. 371-372, und auf S. 366 f. der vorliegenden Arbeit verzeichnete weitere Beiträge.

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Vgl. die Personalverzeichnisse der Universitäten Leipzig und München, 1895 bis 1899. Zu dieser Zeit wurden die Malrikellisten noch veröffentlicht. Vgl. E. Engelberg, Zum Melhodenstreit um Karl Lamprecht. In: Studien über die Deutsche Geschichtswissenschaft, Bd. 2, hg. v. J. Streisand, Berlin 1965, S. 136-152.

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Jugend, wissenschaftliche Ausbildung und politische Anfänge

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wart" einführen sollten, ein Verfahren, das Hoetzsch in seiner eigenen späteren Lehrtätigkeit ausgiebig anwandte. Erich Mareks, der Professor für Hilfswissenschaften Gerhard Seeliger und der Privatdozent Erich Brandenburg vervollständigten den Kreis clor bekannten bürgerlichen Historiker, die in jenen Jahren in Leipzig tätig waren. Die Vorlesungsverzeichnisse zeigen, daß Themen zur osteuropäischen Geschichte nur sehr gelegentlich von einem Privatdozenten Asmus Soerensen behandelt wurden; tiefere Kenntnisse auf diesem Gebiet kann Hoetzsch während des Studiums nicht erworben haben. Die Möglichkeit zum Erlernen der russischen Sprache war an der Universität gegeben, aber auch die slawischen Sprachen eignete sich Hoetzsch erst in seiner Berliner Zeit an. Ob der junge Student bei dem berühmten Slawisten und Baltisten August Leskien oder auch bei dein Philosophen Wilhelm W u n d t gehört hat, ist zweifelhaft. Sicher ist dagegen, daß die Lehren des 1894 verstorbenen Wilhelm Roscher, der im Kampf gegen das Erkennen ökonomischer Gesetzmäßigkeiten die wirtschaftshistorische Detailforschung propagierte, das Studium von Hoetzsch beeinflußt haben. Sie wurden ihm durch Karl Büchel' vermittelt. Die Lektüre von Treitschkes Schriften blieb stets auf der Tagesordnung. Aus ihnen übernahm Hoetzsch die Verherrlichung Preußens und Bismarcks, den Kult der Macht und der Gewalt, den Antidemokratismus und die feindliche Einstellung gegen den Sozialismus/ 1 Noch 1934 widmete Hoetzsch dem Gedenken an Treitschke eine Aufsalzsammlung. Bestimmend für die Formung seiner reaktionären Ansichten war schließlich auch das Studium bei dem Geographen Friedrich Ratzel, einem Wegbereiter der Geopolitik, und dem Kolonialapologeten Ernst Hasse, der an der Leipziger Universität wirkte und 1893 Vorsitzender des Alldeutschen Verbandes geworden war. Mit Hasse verband Hoetzsch zeitweise sogar eine enge Bekanntschaft. Zu einigen seiner Studienfreunde unterhielt Hoetzsch noch in späteren Jahrzehnten Beziehungen, so zu Justus Hashagen, der ein Ordinariat in Köln erhielt, und zu William E. Dodd, der unter F. D. Roosevelt Botschafter der USA in Berlin wurde. 3 Auch seinen späteren Kollegen Karl Stählin lernte er bereits 1896/1897 in Leipzig näher kennen. Die Orientierung auf wirtschaftsgcschichlliche Fragen, die von Lamprecht ausgegangen war, bestimmte die Wahl des Promotionsthemas. Im Sommer 1899 unterbreitete Hoetzsch der Fakultät eine Arbeit, die sich anhand eines Landsteuerregisters aus dem 16. Jahrhundert mit der Struktur der Bevölkerung im Gebiet um Meißen und im Erzgebirge befaßte. Die Untersuchung, die von Lamprecht betreut wurde, fand die Zustimmung der Fakultät. Sie wurde angenommen und im folgenden J a h r auch veröffentlicht. 0 Nach der Promotion war Hoetzsch bis zum Herbst des Jahres 1900 als Bibliothekar am Historischen Institut der sächsischen Universität tätig. Er trat hier die Nachfolge des jungen Rudolf Kötzschlce an. In dieser Zeit konnte er seine Kenntnisse der Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte erweitern, Studien zur europäischen Handelspolitik betreiben und seine sprachlichen Fertigkeiten vertiefen. Die Möglichkeiten, die ihm die glänzend ausgestattete Seminarbibliothek bot, nutzte er maximal aus. '' Vgl. H. Schleier, Sybel und Treitschke. Antidemokratismus und Militarismus im historisch-politischen Denken großbourgeoiser Gcschichtsideologen, Berlin 1965. 5 6

W. E. Dodd, Diplomat auf heißem Boden, Berlin o. J. (1962), S. 258. Hoetzsch, Bcsitzverteilung und wirtschaftlich-soziale Gliederung vornehmlich der ländlichen Bevölkerung des Meißniscli-Erzgebirgischen Kreises Kursachsens in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts auf Grund eines Landsteuerregisters. Leipzig 1900.

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Kapitel II

Während des Studiums war Hoetzsch dem „KyfThäuser-Verband der Vereine deutscher Studenten" (VdSt) beigetreten. Der Verband war ein locker gefügter Zusammenschluß von Studentengruppen, die sich im Gefolge der antisemitischen Welle zu Beginn der achtziger Jahre gebildet hatten. 7 Er fungierte als Gegenstück sowohl zu den liberalen Burschenschaften, deren politische Bedeutung schwand, als auch zu konfessionellen Organisationen wie dem Wingolf oder dem Schwarzburgbund. Der Kyilhäuser-Verband wollte besonders Einfluß auf die Masse der noch nicht erfaßten Studenten, die „Finken", gewinnen. Eine gemeinsame Grundlage seiner einzelnen Vereine, denen auch zahlreiche „Alte Herren" angehörten, war unter allerlei Zeit- und Lokalkolorit stets vorhanden. Sie bestand aus grundsätzlicher und scharf betonter Feindschaft gegen die Sozialdemokratie bei gleichzeitigem Kokettieren mit Versuchen zur „Lösung der sozialen Frage", aus alldeutschem Nationalismus und einem rabiaten Antisemitismus Stoeckerscher Herkunft, der sich in Gesinnungsterror und journalistischen Exzessen, Verunglimpfungen verdienter Gelehrter und tätlichem Vorgehen gegen jüdische Studenten äußerte. Der Bericht über eine Veranstaltung des Leipziger Vereins aus dem Jahre 1881 vermittelt Eindrücke von dem allgemeinen Geist, der im Kyffhäuser-Verband herrschte: „Eine mächtige Bewegung ging durch die Studentenschaft, als es hieß, der Hofprediger würde am 17. Juni vor ihr reden. In den Vorbereitungen zeigten die Leiter des Vereins ihre Geschicklichkeit. Es fand ein Billetverkauf statt, zu dem ein ungeheurer Andrang war. Man gab Karten nur an zuverlässig aussehende Studenten ab. Als dann der 17. Juni kam, hatten in dem von über 1000 Studenten gefüllten Saal an den wichtigeren Stellen besonders stattliche Figuren Platz genommen, die jedem etwaigen Störenfried die Lust benahmen, Unruhe zu stiften. Korpsstudenten, Burschenschaftler und Angehörige aller Verbindungen hatten sich eingefunden. Stöcker sprach über das Thema ,Große Zeiten, große Aufgaben' und erzielte nicht nur jubelnden Beifall, sondern nachhaltigen tiefen Eindruck mit seinen Worten." 8 Die Nachrichten und Beiträge im Verbandsorgan „Akademische Blätter" zeigen, daß es sich bei der Kyffhäuser-Organisation weniger um ein Kollegium zur Einberufung studentischer Fidulitäten, sondern um ein Instrument zur politischen Beeinflussung und Mobilisation handelte. Reichskommerse, Kyffhäusertreffen und Bismarckhuldigungen vereinten Tausende Mitglieder, und in den lokalen Vereinen rückten immer mehr Vortragsserien in den Mittelpunkt der Tätigkeit. Hohe Militärs und Kolonialbeamte traten als gefeierte Redner auf. Seit Mitte der neunziger Jahre wurde der Verband praktisch ein Stück des imperialistischen Propagandaapparates. Auf verschiedenen Ebenen arbeitete er mit dem Verein für das Deutschtum im Ausland, mit den Alldeutschen, der Kolonialgesellschaft und dem Ostmarkenverein, später auch mit dem Flottenverein und dem Wehrverein, zusammen. Der Kyffhäuser-Verband nährte in seinen Mitgliedern das Bewußtsein, sich für Deutschlands „Weltpolitik" und für die Militarisierung des innenpolitischen Lebens einsetzen zu müssen. Die Verbreitung imperialistischer Gewalt- und Annexionsansprüche trat im Leben des Verbandes um die Jahrhundertwende an die erste Stelle; der Antisemitismus und die Diskussionen um Friedrich Naumanns Demagogie wurden überschattet. Noch 1893 hatte es in dem verbindlichen Programm des 7

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H. v. Petersdorff, Die Vereine Deutscher Studenten, zwölf Jahre akademischer Kämpfe, 3. Aufl., Leipzig 1900; H. Weber, Gcschichte des Vereins Deutscher Studenten zu Berlin vom 2.-3. Kyffhäuserfest des Kyffhäuser-Verbandes (1891-1906), Berlin o. J. (1912). Petersdorff, a. a. O., Auflage 1895, S. 71.

Jugend, wissenschaftliche Ausbildung und politische Anfänge

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Verbandes geheißen: „Wir lehnen alle Bestrebungen ab, welche eine Erweiterung der gegenwärtigen Reichsgrenzcn oder gar ein Großdeutschland bezwecken. Wir wollen weder Partikularismus noch Pangermanismus; wir wollen ein einiges deutsches Reich." 9 Die Verbandstage von 1901 und 1902 beschlossen die Ausarbeitung eines neuen Programms und setzten dafür einen eigenen Ausschuß (Hans Wendland, Paul Baecker, Hoetzsch, Ludwig Sevin und Behrend) ein. 1903 veröffentlichten sie in Form eines Taschenbuches mit zehn Aufsätzen die neuen Richtlinien. Die Bekenntnisse zur Monarchie, zum Christentum, zum Antisemitismus und zu den Kategorien der bürgerlichen Moral hatten sich ähnlich bereits in früheren Leitsätzen vorgefunden. Neu war gegenüber 1893 die Betonung des „deutschen Weltmachtgedankens". Es hieß: „,Wir aber wollen und sollen unsern Anteil nehmen an der Beherrschung der Erde durch die weiße Rasse', sagte schon Heinrich von Treitschke in seinen politischen Vorlesungen. Weltpolitik ist darum heute für ein Volkstum kaukasischer Rasse: all seine Mittel physischer und wirtschaftlicher, staatlicher und militärischer Kraft einzusetzen für das Ringen um diesen Anteil an der vielleicht letzten Verteilung der bewohnbaren Lande . . . Die Zeit ist vorbei, in der ein Volk dahinzudämmern vermochte ohne den Trieb zur Macht und doch in sicherer Unabhängigkeit; die Zeit naht, wo es ,nur Herren und Knechte' unter den Völkern der Erde geben wird. Es gibt und wird in diesen Kämpfen keine geschichtlichen Rechte geben; das Recht wird in ihnen haben, wer die Macht hat." 10 Diese imperialistische Radikalisierung im Programm des Kyffhäuser-Verbandes stammte von Hoetzsch, der in der Organisation zu leitenden Stellungen aufgestiegen war. Im Herbst 1897 hatte er sich im Leipziger Verein deutscher Studenten für eine stärkere Beschäftigung mit den Ansichten Friedrich Naumanns eingesetzt; es war seine erste nachweisbare politische Handlung. Im Januar 1898 trat er als Vorsitzender der Leipziger Gruppe des Kyffhäuser-Verbandes auf. Er präsidierte einer öffentlichen Kundgebung, die vom Verein aus Protest gegen die Sprachverordnungen Badenis einberufen worden war. Lamprecht sprach. Er behandelte die Ostkolonisation des 12. und 13. Jahrhunderts und leitete aus ihr die Notwendigkeit eines gemeinsamen deutsch-österreichischen und gegen die Slawen der Donaumonarchie gerichteten Kultur- und Wissenschaftslebens ab. „Alldeutschland zuvörderst, in der Form eines einheitlichen geistigen Lebens, das haben wir, das haben die österreichischen Studenten zu wahren und zu fördern." 11 Hoetzsch entwickelte in der Folgezeit im Leipziger Verein des Kyffhäuser-Verbandes rege Aktivität. 12 Bei einer Wallfahrt der Studenten zum sächsischen König am 23. April 1898 hielt er eine Bismarck-Rede. Im Mai sprach er über „Die geschichtliche und ethnographische Entwicklung Cisleithaniens". Im Frühjahr übernahm er im Verein die Leitung eines staatswissenschaftlichen Kurses, der sich mit Bismarck beschäftigte und bis zum Jahresende dauerte. Im September referierte er bei einem Ferienfest der Studenten und hob dabei den „prinzipiellen Unterschied zwischen Staats- und Volksgedanken" hervor. In den letzten Monaten des Jahres folgten Vorträge über die Entwicklung Englands seit 1870 und über Eduard Bernsteins Buch „Die Voraussetzung des Sozialismus 9

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Taschenbuch für die Mitglieder des Kyffhäuser-Verbandes der Vereine Deutscher Studenten, 2. Aufl., Berlin 1892, S. 22. Hoetzsch, Der deutsche Weltmachtsgedanke, ebenda, 4. Auflage, Berlin 1903, S. 59-60, 61. Vgl. Weber, a. a. O., S. 179. Die folgenden Angaben aus: Akademische Blätter, 1898/1899 bis 1900/1901.

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und die Aufgaben der Sozialdemokratie". Im Jahre 1899 ließ die politische Regsamkeit des dreiundzwanzigj ährigen Hoetzsch infolge der Dissertation vorübergehend nach. Einen gewissen Höhepunkt bildete ein vom Verein inszenierter stark besuchter Vortragsabend im Juli, auf dem Ernst Hasse über „Die Polengefahr im deutschen Westen" sprach. Im November trug Hoetzsch seine Gedanken über die USA und die Aufgaben der deutschen Außenpolitik im 20. Jahrhundert vor. Bald darauf übernahm er mit zwei weiteren Verbandsmitgliedern die Leitung eines offenbar unbedeutenden „Deutschbundes für Österreich", und im April des Jahres 1900 eröffnete er mit seinem Freund Max Maurenbrecher, damals Generalsekretär der Nationalsozialen, einen Kommers zum Semesterbeginn durch Ausführungen über das Verhältnis zu den österreichischen Studentenvereinen. Im Mai hielt er seinen ersten Vortrag über Rußland; er behandelte dessen wirtschaftliche Lage. Im Juli sprach er über Naumanns „Demokratie und Kaisertum". Mehrere Vortragsreisen hatten ihn zu den Vereinen in Halle, Jena und Berlin geführt. An der Verbandszeitschrift „Akademische Biälter" beteiligte er sich mit einigen Artikeln. Größere Wirkungsmöglichkeiten erhielt Hoetzsch, als er im Herbst des Jahres 1900 in die deutsche Hauptstadt übersiedelte. Er wurde Redakteur der „Akademischen Blätter" ; ab Oktober 1900 war er neben Paul Baecker für den Inhalt der Zeitschrift verantwortlich. Damit hatte er eine Schlüsselstellung im Kyffhäuser-Verband erhalten, die es ihm gestattete, große Teile der deutschen Studentenschaft zu beeinflussen. In den sechs Jahren bis zu seiner Berufung nach Posen konzentrierte er sich darauf, die Schulungsarbeit des Verbandes zu fundieren. Fünf Semester hindurch leitete er das Vortragswesen der Berliner Gruppe. Hier und in anderen Orten Deutschlands hielt er zahllose Reden und Referate. Hoetzsch nahm ferner regelmäßig an den jährlichen Verbandstagen teil und bereiste die einzelnen Vereine. Mehrfach wurde er für zentrale Veranstaltungen als Festredner engagiert und hielt dann die obligate Ansprache auf Bismarck oder das deutsche Heer. Mitte Dezember des Jahres 1901 leitete er in Berlin eine „Protestversammlung", clie anläßlich des Schiemann-Skandals stattfand und sich in antipolnischen Schmähungen erging; Redner waren der Kathedersozialist Adolf Wagner, der unvermeidliche Paul Samassa und der Theologiekandidat Otto Dibelius. 13 1904 verdichtete Hoetzsch seine Erfahrungen zu einem Schulungsprogramm, das er veröffentlichte und allen Vereinen des Kyffhäuser-Verbandes mit Nachdruck empfahl. 1 '' Es führte zur Sozial-, Innen- und Außenpolitik sowie zum politischen Wirken Bismarcks 36 Einzelthemen auf und stellte eine wohlüberlegte Richtlinie zur Verbreitung der bürgerlich-reaktionären Ideologie dar. Der Stoff sollte anhand der gängigen Literatur, die außenpolitischen Fragen besonders durch die Schriften von Rohrbach, Schiemann, Dietrich Schäfer und anderen Wortführern des deutschen Imperialismus, erläutert und besprochen werden. Hoetzsch erwartete, daß eine solche systematische Schulungsarbeit die von ihm mehrfach beklagte Unsicherheit der Studenten, politische Urteile zu treffen und einen Standpunkt zu beziehen, beseitigen würde. Dem gleichen Ziel ordnete er zahlreiche Beiträge in den „Akademischen Blättern" unter, vor allem seine Berichterstattung zu aktuellen Fragen. Der Chronist des Kyffhäuser-Verbandes stellte fest, daß 13

Vgl. die Ausführungen in den Akademischen Blättern, 1901/1902, S. 308-310. Samassa: „Wenn wir aus der Kulturgeschichte das streichen, was das polnische Volk geleistet hat, dann fehlt nicht so viel, als unter meinen Fingernagel geht." (S. 308).

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Hoetzsch, Unsere Arbeit nach innen und außen. Ebenda, 1904/1905, H. 3, S. 35-36.

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viele örtliche Vereine, zumal die an größeren Universitäten, die von Hoetzsch vorgeschlagenen Richtlinien befolgt hätten, so daß die J a h r e von 1904 bis 1906 zu den „arbeitsreichsten" gehörten. 1 5 Der Verband bestand 1906 aus 25 Gruppen mit etwa 1 000 Studenten und 3 000 „Alten Herren" als Mitgliedern. In diesen Vereinen erhielten viele Kräfte, die später im öffentlichen Leben Deutschlands eine Rolle spielten, ihre ersten Eindrücke von den Klassenaufgaben der bürgerlichen Wissenschaft. 1 6 In Berlin betätigte sich Hoetzsch auch im Bund der Landwirte, im Alldeutschen Verband, in der „Flotlenbewegung" u n d im Ostmarkenverein. 1900 n a h m er an der Pfingstlagung der Alldeutschen in Mainz teil, 1902 wurde er in den Vorstand der Berliner Ortsgruppe u n d 1904 in den Gesamtvorstand gewählt. 17 Unter den Haltatisten k a m er binnen kurzem zu Rang und Ehren. Man kann annehmen, daß Hoetzsch, ein Führer des Kyllhäuser-'Verbandes, zu den Leitungsgremien der anderen genannten Propagandaorgane in mehr oder minder stetem Kontakt stand. Im Juli 1903 ü b e r n a h m er die Redaktion einer weiteren Zeitschrift. Es war die von Julius Lohmeyer gegründete „Deutsche Monatsschrift f ü r das gesamte Leben der Gegenwart", ein f ü r größere Leserkreise bestimmtes kulturell-poliLisches Blatt, das Analysen u n d Synthesen zur Zeitgeschichte im weitesten Sinne enthielt. Hoetzsch leitete dieses Organ, ebenso wie die „Akademischen Blätter", bis z u m Herbst des Jahres 1906. Seine große physische Arbeitskraft befähigte ihn, in jenen J a h r e n zwei regelmäßig erscheinende Zeitschriften zu lenken u n d mit eigenen Beiträgen zu bestücken, mehrere umfangreiche wissenschaftliche Manuskripte zu verfassen, sich zu habilitieren, zahlreiche politische u n d gesellschaftliche Verbindungen zu unterhalten, eine Reihe längerer Auslandsreisen zu unternehmen und sich mit Intensität dem Studium Osteuropas zuzuwenden, wofür er dessen wichtigste Sprachen erlernte. Seine gesellschaftspolitischen Ansichten, die sich während des Studiums in Leipzig und in den Berliner J a h r e n formten, waren ein Gemisch von gemäßigt-konservativen, aggressiv-imperialistischen und sozialdemagogischen Bestandteilen. Neben die allgemeinen Grundlagen, die in der Verehrung preußischer Traditionen, im Glauben an das monarchische Prinzip sowie einem konventionellen Christentum bestanden, und neben einige Momente vorimperialistischer Provenienz trat eine auf individueller Ebene vollzogene ideologische Rezeption der „Sammlungspolitik", in welcher die Hauptgegensätze zwischen Bourgeoisie und Agrariern überbrückt wurden und sich beide verstärkt auf Expansion und inneren Antidemokratismus orientierten. Ein Kernstück seiner Ansichten war die Uberzeugung, daß Deutschland gezwungen u n d berechtigt sei, „Weltpolitik" zu betreiben. Hoetzsch griff zu den verschiedensten Argumenten, u m diesen Leitsatz zu begründen und glaubwürdig zu machen. In mehreren Artikeln aus jener

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Weber, a. a. O., S. 257-260. IG Wir nennen Erich Keup und Walter Szagunn, die am Aufbau der Ring-Bewegung teilnahmen; Hans Rocsclcr, 1919/1920 Leiter der im Entstehen begriffenen „Deutschen Welle" und später Chef des Propyläen-Verlages; Gotthold Starke, aktives Mitglied des JuniKlubs, ab 1922 Leiter der „Deutschen Rundschau in Polen", noch 1963 Legationsrat im Bonner Auswärtigen Amt; Hermann Ullmann und Fritz Ehrenfort, beteiligt am Aufbau und an der Führung des Schulzbundes. 17 Vgl. Ii. Krause, Die alldeutsche Geschichtsschreibung vor dem 1. Weltkrieg. In: Studien über die deutsche Geschichtswissenschaft, Bd. 2, S. 203-204. Siehe auch E. Krück, Geschichte des Alldeutschen Verbandes 1890-1939, Wiesbaden 1954, S. 18-19.

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Zeit18 finden sich malthusianische, sozialdarwinistische, geopolilisehe, rassistische und alldeutsch-völkische Argumente. Schon 1898 hatte er seine Leser aufgerufen, sich für eine große Auseinandersetzung im 20. Jahrhundert vorzubereiten, auf einen Kampf, der zwischen den Slaven einerseits und dem aus Deutschen und Angelsachsen gebildeten „Germanentum" andererseits stattfinden werde. Italien, Spanien und auch Frankreich, dem „Erzfeind" der deutschen Nationalisten, billigte er in diesem Zusammenhang keine sonderliche Perspektive zu. Wenn auch Hoetzsch diese Prognose in den folgenden Jahren relativierte und immer deutlicher England als den Hauptfeind des deutschen Imperialismus bezeichnete, so blieb doch die aus dem frühen Artikel hervorgehende Orientierung auf einen baldigen Weltkampf der großen Mächte bestehen. In einem „programmatischen" Beitrag aus dem Jahre 1903 nannte er die Gründe, aus denen Deutschlands Pflicht zur aktiven Vorbereitung auf einen solchen Konflikt hervorgehe. An erster Stelle war die „physische und die wirtschaftliche Kraft seines Volkes" verzeichnet. Hoetzsch schrieb von der Enge des Raums, der das deutsche Volk mit Ersticken bedrohe, vom fehlenden Ellenbogenraum für die kommenden Geschlechter, und er beteuerte, daß die Auswanderungen nach „fremdem Boden nur den Gegner für das Mutterland stärkten". 10 Neben den Malthusianismus stellte er den „Zwang wirtschaftlicher Eroberung", und die imperialistische Annexions- und Expansionspolitik zeichnete er als kaufmännische Idylle. Hoetzsch verkündete offen den Anspruch auf Märkte und neue Territorien. Er nannte speziell die Mündungsgebiete von Rhein und Scheide, also die Niederlande und Belgien, ferner „die Bergmassen der Sudeten und der Alpen", und, ohne sich räumlich festzulegen, die „Erdteile jenseits des Ozeans."20 Folglich handelte es sich um ein Mitteleuropa-Konzept, dessen Verwirklichung als Basis für weitere koloniale Eroberungen gedacht war. Hoetzsch umgab diese Universalpläne mit rassistischen Redensarten, wobei er Japan als „europäisch-germanisch befruchtet" ausgab, und, abermals idyllisierend, die Plünderung Chinas als „friedliche und gewaltsame Erschließung durch den europäischen Wettbewerb" hinstellte. Weitergehende Absichten ließen sich durch alldeutschnationalistische Theorien motivieren. Hoetzsch beleuchtete wiederholt die Lage deutschsprachiger Bevölkerungsteile im Ausland, stellte in allgemeiner Form Zusammengehörigkeitskomponenten der „Stämme", gemeinsame Kulturideale und ähnliches fest, um aus ihnen politische Postúlate ableiten zu können. Den deutschen „Weltstaat" stellte er sich nicht als Schutzverband, sondern als fest organisiertes Gefüge vor. Es war ein von Maßlosigkeit diktiertes Ziel, das jenseits aller Möglichkeiten des deutschen Imperialismus lag. Im politischen Programm von Otto Hoetzsch stellte es allerdings ein Extrem dar und wurde von ihm in der Folgezeit nicht mehr verkündet. Im allgemeinen zog er es vor, das Mitspracherecht des deutschen Imperialismus im internationalen Geschehen zu proklamieren und Besitzansprüche anzumelden. 18

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Hoetzsch, Greater Britain. In: Akademische Blätter, 1898/1899, H. 13, S. 169-171; Zum dritten Jahrzehnt der Kyffhäuser-Bewegung, ebenda, 1901/1902, H. 8, S. 117-119; Nationalstaat und Weltwirtschaft, ebendfa, H. 18, S. 287-291, und H. 19, S. 305-308; Was ist national? ebenda, 1902/1903, H. 4, S. 49-50; Das Zeitalter Wilhelms II., ebenda, H. 17, S. 269-275, und H. 18, S. 289-294; Vom deutschen Parteiwesen und seiner Zukunft, ebenda, 1906/1907, H. 7, S. 111-115, und H. 8, S. 125-128; Das Deutschtum im Auslande. In: Deutsche Monatsschrift für das gesamte Leben der Gegenwart, Bd. V, 1903/1904, S. 945 bis 955, und Bd. VI, 1904, S. 465-471, 953-957. Ders., Der deutsche Weltmachtgedanke, a. a. O., S. 59-60. Ebenda, S. 64.

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Hoetzsch war bemüht, die Arbeiterklasse über den wahren Charakter der imperialistischen „Weltpolitik" zu täuschen und sie. wenn möglich, der Botmäßigkeit bürgerlicher Parteien zu unterwerfen. Er war in Berlin Schüler und Mitarbeiter von Gustav Schmoller geworden, der ein führender Vertreter der historischen Schule in der Nationalökonomie war und zusammen mit Adolf Wagner, gleichfalls ein Berliner Lehrer von Hoetzsch, zu den Häuptern des Kathedersozialismus zählte. Diese sozialdemagogische Alternative zum innerpolitischen Terror lief auf die Beschwichtigung der Arbeiterbewegung durch kleine Zugeständnisse, die „Sozialpolitik", hinaus. Wagner, der eng mit Stoecker zusammenarbeitete, trug ein Programm vor, das in romantischer Klassenversöhnung und der Forderung nach einem „sozialen Königtum" gipfelte. Die Arbeiterklasse sollte „organisch" in die bürgerliche Gesellschaft und ihre monarchistische Staatsordnung eingefügt werden. Diese Kampfmethode der Bourgeoisie war typisch für die unmittelbar vorimperialistische Etappe, besaß aber lange NadiWirkungen. Beim Ubergang zum Imperialismus erwies sich, daß der Staats- und Kathedersozialismus als Gegenmittel gegen die revolutionäre Arbeiterbewegung nicht mehr ausreichte. Die Bourgeoisie orientierte sich nunmehr auf den Revisionismus. Hoetzsch spielte auf allen diesen Klaviaturen. Er war ein Gegner jeder auf Terror aufgebauten Innenpolitik und hat mehrfach betont, daß die Devise „Unter allen Umständen gegen die Sozialdemokratie" nicht mehr verwendbar sei. Er hatte erkannt, daß die Versuche zur gewaltsamen Unterdrückung der SPD das Gegenteil bewirkt hatten; den Inhalt der „Antisozialdemokratischen Korrespondenz", die vor der Gründung des „Reichsverbandes gegen die Sozialdemokratie" (1904) erschien, nannte er „kindliche Geschichten". Mit der Argumentation, daß die friedliche Zukunft des Volkes auf dem Spiel stehe und daß die Arbeiter „doch Deutsche" seien, verlangte er für die kommunale und zentrale Ebene die verstärkte Anwendung solcher Methoden, die einen „friedlichen Zustand und ein Zusammenarbeiten" ermöglichen könnte. Die Illusion von einer „Volksgemeinschaft", soziale Demagogie und die Forderung nach „straffem Durchgreifen" bei revolutionären Kampfaktionen verbanden sich zu einem für die liberale Herrschaftsmethode der Bourgeoisie charakteristischen Programm. Unter dem Eindruck des Crimmitschauer Streiks von 1903 rief Hoetzsch schließlich dazu auf, den Marxismus zu plündern. Er bezeichnete die marxistische Auffassung, daß die „soziale Geschichte eines Volkes in der Hauptsache aus den Kämpfen seiner Klassen besteht", als richtig und hob hervor, daß auch die marxistische Konzentrationstheorie sich als zutreffend erwiesen habe. 21 Er war in Worten bemüht, den „wirtschaftstheorelischen Grundbau des Lebenswerkes von Karl Marx" zu übernehmen, „ohne die besonderen politischen Konsequenzen, die schon Marx und seine Nachfolger daraus zogen". Hoetzsch hielt die baldige Festsetzung eines Maximalarbeitstages f ü r unumgänglich und trat f ü r Koalitionsfreiheit der städtischen Arbeiter und Handwerker ein. Auch eine leichte Erweiterung des Landtagswahlrechts betrachtete er als erforderlich, während die Anwendung des allgemeinen Wahlrechts auf den Reichstag beschränkt bleiben sollte. Der demagogische Charakter seiner Ansichten zeigte sich besonders klar, als er dem Staat eine von den Klassen unabhängige Ordnungsfunktion zuschrieb und vorschlug, daß dieser durch schiedsgerichtliches Eingreifen in Lohnkämpfe, Verstaatlichung einzelner Zweige, verschiedene Reformen und durch „Sicherung von Recht u n d 21

Ders., Die Überwindung der Sozialdemokratie. In: Akademische Blätter. 1903/1904, H. 21, S. 354-355.

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Sitte" einen Ausgleich der sozialen Gegensätze herbeiführen möge. Unverhüllt gab Hoetzsch die verborgene Absicht der Sozialdemagogie zu erkennen: „Mit den Massen werden die friedlichen und kriegerischen Konkurrenzkämpfe der Völker um Boden und Absatzmarkt entschieden, und die Zukunft gehört - von hier aus gesehen - dem Volke, von dem die meisten Glieder physisch und intellektuell am weitesten sind aufs innigste hängen so heute Staatssozialismus, soziale Reform im weitesten Sinne und Imperialismus in sich zusammen." 22 Zeitig hatte Hoetzsch die Anzeichen des beginnenden Revisionismus registriert und der Aufmerksamkeit seines Publikums empfohlen. 1898, nodi in Leipzig, hatte er über Bernsteins Theorien referiert. Ende 1899 folgte die erste Veröffentlichung zu diesem Thema, der sich dann weitere anschlössen.23 Hoetzsch bejubelte die Spaltungsarbeit der Revisionisten und sah in ihr ein Mittel zur „Uberwindung der Sozialdemokratie". Von Bernsteins Buch „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie" erwartete er im Jahre 1900, es werde „im Stillen das Seine tun, trotz aller lauten Gegenerklärungen und Widerlegungen, und darin liegt seine gewiß nicht zu überschätzende, aber für jeden, der seinem deutschen Volke eine ruhige innere Weiterentwicklung wünscht, hocherfreuliche Bedeutung." 24 Hoetzsch forderte die aktiven Mitglieder des Kyffhäuser-Verbandes auf, den revisionistischen Tendenzen in der deutschen Arbeiterbewegung gesteigerte Aufmerksamkeit zu schenken und alles zu unternehmen, um „jede Möglichkeit zu friedlicher Uberwindung der großen Gegensätze im Innern unseres Volkes" auszunutzer. Zugleich empfahl sich Hoetzsch bereits in jener Zeit als „Reformkonservativer". Er pries die Parteiarbeit der britischen Tories, die er mehrfach an Ort und Stelle beobachtet hatte, und wünschte einen deutschen Disraeli. Sein Interesse galt den christlichmonarchistischen Arbeitervereinen, der Organisation der Handlungsgehilfen und bäuerlichen Verbänden. Sie wollte er für die Stärkung der konservativen Parteien heranziehen, um so ein neues Gegengewicht gegen die sozialdemokratische Arbeiterbewegung zu bilden. Eine derartige konservative Massenpartei sollte sich neben der Pflege der „nationalen", imperialistischen Aufgaben besonders der inneren Kolonisation annehmen, um die deutschen Landarbeiter in ein politisches Reservoir der herrschenden Klassen zu verwandeln. Hoetzsch wies 1906 mit Nachdruck auf die entsprechenden Lehren Max Serings hin, mit dem er später in der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas zusammenarbeitete. Neben seinem redaktionellen und propagandistischen Wirken war Hoetzsch in Berlin auch um sein wissenschaftliches Fortkommen bemüht. Er besuchte Vorlesungen und Seminare von Schmoller, dem Historiker Otto Hintze und dem Ethnologen Breysig. Im Sommer 1901 wurde er auf der Basis eines Werkvertrages Mitarbeiter der an der Preußischen Akademie der Wissenschaften eingesetzten „Kommission zur Herausgabe der Urkunden und Aktenstücke zur Geschichte des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg", deren Arbeiten von Schmoller geleitet wurden. Hoetzsch stellte die Unterlagen über die innere Verwaltung des Herzogtums Cleve-Mark von 1666 bis 1697 zusammen. Das umfangreiche Manuskript war 1906 abgeschlossen. Im ersten Teil, den 22

Ebenda, S. 355. Ders., Die Krisis in der Sozialdemokratie, ebenda, 1899/1900, H. 18, S. 266-269, und H. 19, S. 282-285. 24 Ebenda, S. 285. 23

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der Verfasser als Habilitationsarbeit einreichte, wurde ein Überblick über den Aufbau der Verwaltung, das Steuerwesen und die ständischen Organe in Cleve-Mark gegeben. Der zweite Teil bestand aus einem Exkurs über die Beziehungen zwischen dem Kurfürsten und den Ständen, während der dritte Abschnitt Quellenmaterial enthielt. Die Arbeit wurde in die Veröffentlichungen der Kommission aufgenommen. 25 Hoetzsch konnte in seinem Gesuch, ihm die venia legendi zu erteilen, auf eine Reihe weiterer Veröffentlichungen hinweisen, die er in den vorangegangenen Jahren verfaßt hatte. Es handelte sich um eine kurze Geschichte der USA, die einer mehrjährigen Beschäftigung mit der englischen und nordamerikanischen Geschichte entsprungen und 1904 bei Velliagen und Klasing- erschienen war, sowie um einige Aufsätze zu landesgeschichtlichen Themen. 26 Die Philosophische Fakultät der Universität Berlin akzeptierte im August 1906 die von Hoetzsch vorgelegte Habilitationsschrift. Otto Hintze und Max Lenz schrieben die Gutachten.27 Hoetzsch wurde Privatdozent und erhielt die Lehrbefugnis für osteuropäische Geschichte, um die er ersucht hatte. Schon seit geraumer Zeit hatte er die innenpolitischen Vorgänge und die internationale Stellung Rußlands verfolgt. Sein Interesse am Zustand des Zarenreiches reichte bis in die Studienzeit zurück. Im Mai 1900 hatte er in Leipzig einen Vortrag über die wirtschaftliche Situation Rußlands gehalten und bald darauf eine Abhandlung veröffentlicht, die zwar nur auf dem Studium einiger Schriften von Miljukov, SchultzeGaevernitz und Rohx-bach beruhte, aber bereits wesentliche Elemente seiner damaligen Vorstellungen enthielt.28 Er hatte begriffen, daß sich seit den bürgerlichen Reformen aus der Herrschaftszeit Alexanders II. soziale Umgestaltungen vollzogen. Aber die Resultate dieser kapitalistischen Entwicklungsprozesse stellte er, obgleich er sich ein gewisses Tatsachenwissen angeeignet hatte, unzulänglich dar. Seine damalige Beurteilung der Klassenlage war in den entscheidenden Punkten falsch. Hoetzsch betrachtete das Reich der Romanovs als ein feudal-ständisches Staatsgebilde, in dem durch den Einfluß bürgerlicher Kräfte ein soziales Chaos entstanden sei. Er übersah völlig, daß sich die kapitalistischen Elemente in der Volkswirtschaft Rußlands nicht plötzlich, sondern im Laufe einer langen und komplizierten Entwicklung herausgebildet hatten; wesentliche Aufschlüsse darüber hätte er allerdings der Untersuchung von Tugan-Baranovskij 29 , die er offensichtlich kannte, entnehmen können. Daher begriff er nicht, daß bereits die Reformen zwischen 1861 und 1874 ein gesellschaftlicher Kompromiß zwischen den adligen Gutsbesitzern und den herandrängenden kapitalistischen Kräften waren, und 23

Ders., Stände und Verwaltung von Cleve und Mark in der Zeit von 1666 bis 1697, Leipzig 1908. 26 Ders., Die Vereinigten Staaten von Nordamerika. Bielefeld/Leipzig 1904; Der Bauernschutz in den deutschen Territorien vom 16. bis ins 19. Jahrhundert. In: Jahrb. f. Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, 1902, H. 3, S. 239 bis 271; Fürst Johann Moritz von Nassau-Siegen als brandenburgischer Staatsmann 1647-1679. In: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte, 1906, S. 89-113. Die zuletzt genannte Arbeit ging auf eine Anregung Reinhold Kosers zurück und war 1905 bereits in holländischer Sprache erschienen. 27 Vorgänge und Gutachten in: Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin, Philosophische Fakultät, Dekanat vor 1945, Nr. 1228. 28 Hoetzsch, Rußland. Ein Versuch. In: Akademische Blätter, 1900/1901, H. 6, S. 79-83, und H. 7, S. 95-98, und H. 8, S. 118-120. 23 M. Tugan-Baranowsky, Geschichte der russischen Fabrik, Berlin 1900.

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daß sich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts Bourgeoisie und Proletariat endgültig als Klassen formiert hatten und mit politischen Ansprüchen auftraten. Gerade um die Jahrhundertwende, als sich Hoetzsch dem Studium Rußlands zuwandte, entstand mit der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei die entscheidende Klassenorganisation des russischen Proletariats. Der Leipziger Autor begriff erst recht nicht, daß die Gegensätze zwischen der Bourgeoisie und dem Zarismus als ursprünglichem Willensvollstrecker des Adels geschichtlich bereits sekundär geworden waren, da beide aus Furcht vor den politisch erwachten Volksmassen ein konterrevolutionäres Bündnis geschlossen hatten. Seine Betrachtungsweise ließ auch keinen Raum für die Differenzierung der russischen Bauernschaft, so daß er den Klassencharakter der Narodniki verkannte und sich auf das gewohnte Lamento über die terroristischen Kampfmethoden beschränkte. Die scharfe Trennung der Klassen und die Zuspitzung der antagonistischen Widersprüche im zaristischen Rußland, das am Vorabend einer Revolution stand, stellten sich in der bürgerlichen Begriffswelt des sächsischen Doktoranden als ihr genaues Gegenteil, als „vollendete soziale Atomisierung", dar. Doch schon 1901 war ihm die Situation klarer geworden. Die Nachrichten von Bauernerhebungen und ausgedehnten Unruhen an den Hochschulen bewogen ihn zu der Feststellung: „Das rote Gespenst pocht in diesen Unruhen an das Thor des Zarenstaates und ist hier gefährlicher, als je in den Weststaaten, da hier die Revolutions- und die Verschwörungstechnik aufs höchste ausgebildet sind und den Führern wie den Geführten auch jegliche Spur eines Staatsbewußtseins fehlt. Der russische Student wie der russische Arbeiter und der Muschik lieben ihr Vaterland bis zum Fanatismus. Aber von den bestehenden Gewalten, die über ihnen übermenschlich und unsichtbar thronen, von den bestehenden Formen des politischen und wirtschaftlichen Lebens, trennt sie eine Welt. Die regierende Kaste hat für sie vorläufig nichts weiter als die Knute und die Nagaika, die Kaserne und Sibirien."30 Damit hatte Hoetzsch deutlich ausgesprochen, daß die werktätigen Klassen Rußlands dem herrschenden politischen System in grundsätzlicher Feindschaft gegenüberstanden, und daß sich der Zarismus nur noch durch brutale Gewalt an der Macht hielt. Die Feststellung, daß die Revolution in Rußland für die herrschende Klasse gefährlicher werden müsse als je in den Staaten West- und Mitteleuropas, darf man trotz ihrer dürftigen Begründung als eine bedeutsame Erkenntnis ansehen. Hoetzsch untersuchte in seinen ersten, der russischen Gegenwart gewidmeten Beiträgen auch die internationale Rolle des Zarenreiches, insbesondere dessen mittelasiatische und fernöstliche Unternehmungen. Dabei wurde ihm klar, daß einflußreiche Regierungskreise in Petersburg gegen militärische Abenteuer Rußlands auftraten, so daß er sich bereits einer für ihn charakteristischen Hoffnung hingab: Er erwartete, daß die Verwirklichung von S. Ju. Vittes Wirtschaftsprogramm Rußland zu einer zwei bis drei Jahrzehnte währenden zurückhaltenden Außenpolitik zwingen werde, so daß der deutsche Imperialismus in dieser Zeit sein aggressives Flottenprogramm abschließen könne. Weitere Gründe für die Möglichkeit und auch für die Notwendigkeit eines Zusammengehens mit Rußland erblickte Hoetzsch damals in Deutschlands Unvermögen, im Kriegsfalle seine Ostgrenzen militärisch ausreichend schützen zu können, und in den wechselseitigen wirtschaftlichen Chancen. Er erhob die „Forderung, weiterzugehen auf der betretenen Bahn: politische Freundschaft um der wirtschaftlichen Vorteile willen für die deutsche Industrie, günstiges wirtschaftliches Verhältnis zueinander um der politischen 30

Hoetzsch, Die innere Lage Rußlands. In: Akademische Blätter, 1901/1902, H. 2, S. 19.

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Freundschaft willen." 31 Iloetzsch hob hervor, daß die direkten Interessen Deutschlands und Rußlands nirgends ernsthaft kollidierten. Dem Berliner Seminar für osteuropäische Geschichte und Landeskunde gehörte er seit dessen Gründung an. Hoetzsch wurde ein Schüler Schiemanns, der ihm manche Anregung gab und dessen Ansichten er nach seinem eigenen Zeugnis lange teilte.32 Stets hielt er über die Vorgänge in Rußland Vorträge. So sprach er im Januar 1902 in Berlin über „Russische Weltpolitik", im November 1904 in Leipzig über Deutschlands Stellung zum fernöstlichen Krieg, im Mai 1906 in Berlin über „Die augenblickliche Lage in Rußland" und im Juli des gleichen Jahres, wieder in Leipzig, über „Die Anfänge des Parlamentarismus in Rußland". Mehrere seiner zwischen 1905 und 1907 veröffentlichten Beiträge waren Fragen gewidmet, welche die russische Revolution aufgeworfen hatte; man kann in ihnen auch einen gewissen Niederschlag seiner ersten Reisen durch Rußland erblicken. Aus diesen Artikeln lassen sich einige neue wissenschaftliche und politische Leitlinien ablesen. Gegenüber seinen Aufsätzen aus den Jahren 1900 und 1902, die auf bloßen und meist oberflächlichen Literaturkenntnissen beruhten, bildete sich nun allmählich seine geschlossene Konzeption, ein „Rußlandbild", dessen Genesis bis 1912/1913 reichte. 1904 unternahm er seine erste Reise nach Rußland. Hoetzsch hatte sich etwas genauer mit der Lage der russischen Bauernschaft befaßt. Er erkannte den Landhunger der russischen Bauern und wies auf die Folgen der Reform von 1861 hin; er gab die Ausplünderung der Kleinpächter sowie das Versagen der Bauern-Agrarbank zu. Es findet sich auch ein Hinweis auf „die in der russischen Volkswirtschaft leider so wohlbekannte Gruppe der Kulaks" 33 , in der er eine Schicht Spekulanten und Wucherer, nicht jedoch die Gesamtheit der kapitalistischen Großbauern erblickte. Weiter reichte seine damalige Einsicht nicht. Die für die erste russische Revolution typische Verknüpfung des bäuerlichen Massenkampfes gegen den halbfeudalen Großgrundbesitz mit sozialen Auseinandersetzungen innerhalb der Bauernschaft selbst, mit ihrer fortschreitenden kapitalistischen Differenzierung, blieb ihm unklar; er erkannte lediglich eine Reihe Symptome. In seiner Vorstellungswelt gab es keine unversöhnlichen Gegensätze feindlicher Klassen, sondern nur „Mißstände". Zu deren Behebung hielt er eine umfangreiche innere Kolonisation für ausreichend. Mit diesem Rezept, das möglicherweise auf direkte Anregungen von Max Sering zurückging, antizipierte er einen wesentlichen Teil des später von Stolypin verfolgten Regierungsprogramms. 34 Hoetzsch setzte seine Hoffnung auf die Stärkung der kapitalistischen Elemente im Wirtschaftsleben Rußlands. Von dieser Grundposition her und angesichts der konstitutionellen Zugeständnisse, welche die Revolution im Oktober 1905 dem Zarismus abgerungen hatte, hielt er die schrittweise Umwandlung Rußlands in eine konstitutionelle Monarchie für wünschenswert, möglich und notwendig. Seine politische Sympathie gehörte den Oktobristen, der konterrevolutionären, reaktionären Partei der russischen Großbourgeoisie, von deren Parlamentsmehrheit er wie viele andere deutsche „Rußlandkenner" eine Modernisierung des zaristischen Staates erwartete. 31

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Ebenda, S. 120. Ähnlich nur noch einmal 1902 in dem Beitrag: Deutschland und Rußland, ebenda, 1902/1903, H. 1, S. 10. Ders., Russische Probleme, Berlin 1917, S. 147. Ders., Die agrarische Lage Rußlands. In: Deutsche Monatsschrift für das gesamte Leben der Gegenwart, Bd. VIII, 1905, S. 672. Ebenda, S. 673-674. Hoetzsch

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Kapitel II Sehr deutlich geht sein Standpunkt aus einem Beitrag hervor, den er 1-907 einer

Festschrift für Schiemann beisteuerte. 3 3 E r enthielt konzentriert seine damaligen Ansichten und zeigt, wie sich bei Hoetzsch geschichtliche Untersuchung und politische Stellungnahme zu einer Einheit verbanden. Die Verfassungsprojekte von

Speranskij

und Novosil'cev, die Rolle der zemstvo, die Anfänge politischer Organisationen und eine Reihe weiterer Fragen aus der Geschichte Rußlands im 19. Jahrhundert boten ihm Stoff, um den Pseudokonstitutionalismus nach dem Staatsstreich v o m 3. J u n i 1907 mit einer historischen Kontinuität auszustatten. Dabei beging er eine Serie bezeichnender Fehler: Alexander II. sollte am Beginn seiner Herrschaftszeit Gedanken an eine „Volksvertretung" erwogen h a b e n ; Cernysevskij erschien ihm als radikaler Liberaler, und der Wirkungskreis der zemstvo sei sogar „tatsächlich unbegrenzt" gewesen; die Verfassungsentwürfe der Dekabristen fanden keine Erwähnung. Die zahlreichen Übertreibungen, Fehlurteile und Einseitigkeiten ergaben sich nicht nur aus einem ungenügenden Studium des geschichtlichen Materials oder aus dem damaligen Wissensstand der bürgerlichen Rußlandkunde, sondern noch mehr aus dem Vorsatz, eine Art historischer Entwicklungslinie zu finden, die endlich in das ultrareaktionäre Wahlgesetz vom 3. J u n i 1907 mündete. Es war eine groteske Verzerrung geschichtlicher Realitäten, den Erlaß des Oktobermanifestes von 1 9 0 5 und der russischen Staatsgrundgesetze vom 6. Mai 1 9 0 6 als die bedeutsamste verfassungsgeschichtliche Entwicklung zu bezeichnen, die sich seit der Entstehung der amerikanischen Konstitution zwischen 1 7 7 6 und 1787 abgespielt habe. 3 6 Da die von Otto Hoetzsch vertretene reaktionäre Geschichtsauffassung für die Kämpfe und die Rolle der Volksmassen keinen R a u m ließ und sie zu entstellen suchte, begriff er nicht, daß die konstitutionellen Veränderungen in Rußland lediglich Zugestandnisse des Zarismus an die Revolution waren und nach der Niederschlagung der Volksbewegung, zur Stärkung der gemeinsamen Herrschaft von Adel und Großbourgeoisie, nicht aber der Vertiefung von deren klasseninternen Differenzen dienten. Bei der Interpretation der revolutionären Strömungen Rußlands im 19. Jahrhundert bestritt Hoetzsch jeden Breitencharakter der vorproletarischen, besonders der bäuerlichen Bewegungen und deklarierte die Intelligenz zur gesellschaftlichen Hauptkraft der antizaristischen Opposition. 37 Damit schloß er sich frühzeitig einem Schema an, das, mehrfach variiert, bis in die Gegenwart zum eisernen Bestand der deutschen imperialistischen Ostforschung zählt. Indem die Intelligenz, eine in sich keineswegs einheitliche Zwischenschicht der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, zum Hauptträger der antizaristischen Kämpfe seit dem Auftreten Radiscevs erklärt wird, soll der Klassencharakter der entweder adlig, bürgerlich-demokratisch oder proletarisch bestimmten Etappen der revolutionären Bewegung in Rußland verdunkelt werden. Es ist offensichtlich, daß sich Hoetzsch dadurch in wichtigen Fragen irren mußte. Das Auftreten der bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Intelligenz in den Bünden der Dekabristen beispielsweise war nicht nennenswert und ihr Einfluß auf den Beginn/der Arbeiterbewegung in den siebziger J a h r e n gleichfalls untergeordnet. Später war diese Theorie von der besonderen

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Ders., Die historischen Grundlagen eines konstitutionellen Lebens in Rußland. Umrisse und Grundlinien. In: Beiträge zur russischen Geschichte. Festschrift für Theodor Schiemann, Berlin 1907, S. 83-109. Die „Staatsgrundgesetze" waren eine Mischung der 1832 erlassenen staatsrechtlichen Bestimmungen mit einigen von der Revolution 1905 erzwungenen Zugeständnissen. Ebenda, S. 97. Ähnliche Ideen hatte er bereits 1902 entwickelt.

Jugend, wissenschaftliche Ausbildung und politische Anfänge

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Rolle der russischen Intelligenz ein bequemer Ansatzpunkt, um den Sieg der proletarischen Revolution in das Werk weniger intellektueller Verschwörer oder einer „geistigen Elite" umzufälschen; dem stimmte Hoetzsch jedoch nicht bei. Das allgemeine Programm des dreißigjährigen Hoetzsch, seine wissenschaftliche Vielseitigkeit und politische Aktivität ließen ihn als geeigneten Kandidaten für „höhere Aufgaben" erscheinen. Er wurde an die Königliche Akademie in Posen berufen.

KAPITEL III

In Posen (1906 bis 1913)

Mit dem Übergang Deutschlands zum Imperialismus wurde auch die Unterdrückung der polnischen Minderheit in den damaligen deutschen Ostprovinzen bedeutend verschärft. Auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens setzte eine planmäßige antipolnische Politik ein. Seit der Ernennung Hohenlohes zum Reichskanzler 1894 und speziell unter seinem Nachfolger Bülow (1900-1909) wurde ein System ineinander greifender ökonomischer, administrativer und kulturpolitischer Maßnahmen entworfen und verwirklicht. Es sollte außer der Festigung des Großgrundbesitzes und der Ansiedlung potentiell revolutionärer bäuerlicher Schichten aus den westlichen und südwestlichen Teilen Deutschlands vor allem die Notwendigkeit des Kampfes gegen die konstruierte „polnische Gefahr" unterstreichen und angesichts der zunehmenden Spannungen zum zaristischen Rußland die rückwärtigen Gebiete rechtzeitig sichern. Starken Einfluß auf diese Politik besaß in der gesamten Vorkriegszeit der 1894 entstandene „Verein zur Förderung des Deutschtums in den Ostmarken", der Ostmarkenverein. Einen wesentlichen Bestandteil dieser antipolnischen Offensive des deutschen Imperialismus stellte die vom Staatsapparat eingeleitete Gründungswelle verschiedenartiger Kultur- und Bildungsinstitutionen dar. Die Notwendigkeit, das System der „Ostmarkenpolitik" durch die Potenzen des kulturellen und ideologischen Überbaus zu vervollständigen, war erstmals im März 1896 in der preußischen Abgeordnetenkammer zur Sprache gekommen. 1 Die entscheidenden Impulse gab Friedrich Althoff, die einflußreichste Persönlichkeit im preußischen Kultusministerium. Er besaß einen weitreichenden Überblick über die Möglichkeiten des preußischen und deutschen Hochschul- und Wissenschaftswesens. Neben den zuständigen Ministerien ließen besonders die Posener Oberpräsidialverwaltung und die Behörden des Oberbürgermeisters dieser Seite der Germanisierungsbestrebungen nachhaltige Förderung zukommen; der preußische Finanzminister überzeugte sich im Mai 1898 an Ort und Stelle vom Stand der Projekte und sagte ausgiebige Förderung zu. Bismarck bot noch kurz vor seinem Tode brieflich seine Protektion an. Bülow endlich verlieh der umfassenden antipolnischen Wissenschafts- und Bildungspolitik die offizielle Sanktion. In der Reichstagsrede vom 13. Januar 1902 nannte er sie „das sicherste Mittel, um die von uns beklagte Abwanderung aus dem Osten zu verhindern und deutsche Elemente nach dem Osten zu ziehen." 2

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Stenographische Berichte über die Verhandlungen der beiden Häuser des Landtags, Haus der Abgeordneten, 18. Legislatur-Periode, 3. Session, 1895/1896, 39. Sitzung, 10. März 1896, S. 1246-1250. Fürst Bülows Reden nebst urkundlichen Beiträgen zu seiner Politik, hg. v. J. Penzier, Bd. 1, Berlin 1907, S. 272-273.

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Die liberalen Vereine, die in der Provinz Posen im Laufe des 19. Jahrhunderts gebildet worden waren und als deren zeitlich letztes Beispiel die 1885 entstandene Historische Gesellschaft angesehen werden kann, wurden nun zunehmend von ausreichend dotierten Körperschaften mit oft propagandistischer Zweckbestimmung überspielt. 1898 entstand in Posen zunächst ein Komitee zur Veranstaltung wissenschaftlicher Vorträge, dessen Geschäftsführung dem später bekannt gewordenen Bibliothekswissenschaftler v. Minde-Pouet übertragen wurde, und das 1901/1902 in die stets rührige Deutsche Gesellschaft für Kunst und Wissenschaft umgebildet wurde. 3 1902 folgte die Gründung der Kaiser-Wilhelm-Bibliothek und 1904 des Kaiser-Friedrich-Museums. Zum selben Zeitpunkt setzte in der Provinz Posen die Schaffung eines bürgerlichen Volksbibliothekswesens ein. 1905 kam noch eine Zentralstelle für Volksunterhaltung hinzu. Diese spezielle Seite aus der nationalistisch-hakatistischen Offensive wurde in der weiteren Vorkriegszeit durch die Errichtung monströser Bauten und Denkmäler in Posen, die Restauration der Marienburg und andere Maßnahmen gekennzeichnet. Das Kernstück des auffällig aktivierten Posener Bildungsbetriebes sollte nach den Plänen seiner Förderer die Königliche Akademie werden, die im November 1903 ihre Tätigkeit aufnahm/* In den Spalten verschiedener akademischer Zeitschriften Deutschlands sowie in einigen kulturpolitischen Blättern und selbstverständlich in der Lokalpresse waren seit geraumer Zeit Gedanken zur Gründung einer Posener Universität erörtert worden. 5 Diese Forderung hatten unter Berufung auf die sogenannte LubranskiAkademie des 16. Jahrhunderts und auf eine vom Jesuitenorden gelenkte Universität im 17. Jahrhundert Teile der polnischen Bevölkerung erhoben. Aus anderen Motiven verlangten auch verschiedene Sprecher des deutschen Klein- und Mittelbürgertums die Schaffung einer Universität; die drei deutschsprachigen Zeitungen der Stadt Posen nahmen eine befürwortende Haltung ein. Als Hauptgegner eines solchen Plans trat der Ostmaikenverein auf, der von einer Volluniversität eine bedeutende Stärkung der nationalgesinnten polnischen Intelligenz befürchtete. Auf den Tagungen seines Gesamtausschusses vom September 1902 in Danzig und vom Dezember 1902 in Posen sowie mit Hilfe juristischer Gutachten, von denen das des Berliner Professors Heinrich Brunner

Vgl. G. v. Minde-Pouet, Von der ostdeutschen Kulturpolitik in der Provinz Posen 1898 bis 1914. In: Eine politische Tafelrunde, 1926, S. 116-128. '* Zur Geschichte der Akademie existiert bisher nur die Untersuchung von St. Z. Golgbiowski, Krölewska Niemieeka Akademia w Poznaniu. In: Studia i materialy do dziejöw Wielkopolski i Pomorza, Tom III, zeszyt 2, 1957, S. 89-201. Er behandelt vor allem die Vorgeschichte der Anstalt, ihre Tätigkeit dagegen wenig. Darüber hinaus fand sich in der Biblioteka Glöwna in Poznan unter der Signatur Rkp. 1637 ein 1943 verfaßtes ausführliches Manuskript zur Rolle der Akademie, das die faschistische Denkart seines Autors Georg v. Rauch (heute Kiel) deutlich widerspiegelt; sein Vorzug besteht in der Benutzung inzwischen verbrannter Akten. Das Manuskript fand die Billigung des Rektors der „Reichsuniversilät Posen", Carstens, konnte jedoch nicht mehr gedruckt werden. - Größere Unterlagen aus dem Archivbestand des preußischen Kultusministeriums sind im ZStAM, Rep. 76, Vb, unter Sekt. 16 vorhanden.

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5

Eine von dem deutschen Hochschulforscher Paul Ssymank aufgestellte Bibliographie zu diesem Thema nennt 224 Titel. Sie dürfte unvollständig sein, da sie erst mit 1900 einsetzt. Siehe Biblioteka Glöwna, Poznan, Rkp. 1625. Zur unmittelbaren Vorgeschichte der Akademie finden sich ferner Angaben bei D. Keil, Die preußisch-deutsche Polenpolitik der wilhelminischen Epochc vor 1914, Phil. Diss. Tübingen 1961, S. 111-113.

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Kapitel III

besondere Wirkung erzielte6, protestierten die Hakatisten gegen, den Universitätsplan und brachten ihn zum Scheitern. Der Parteikongreß der Nationalliberalen im Oktober 1902 hatte sich im gleichen Sinne ausgesprochen.7 Auch Hoetzsch gehörte zu den Gegnern einer eigenen Universität für die östlichen Provinzen Deutschlands. Die Vorgeschichte und die Struktur der Königlichen Akademie ließen sie als politisches und wissenschaftsorganisatorisches Kompromiß erscheinen. Die schließlich gewählte Form entsprach jedoch in wesentlichen Punkten den Vorstellungen des Ostmarkenvereins. Wiederholt tauchten in der Presse Bezeichnungen wie „Reformuniversität", „gehobene Volkshochschule" oder „Anstalt mit Hochschulcharakter" auf; Althoff und sein engster Mitarbeiter Friedrich Schmidt8 wähnten sich bei ihrer Schöpfung sogar auf Neuland. Die Ausbildung studentischen Nachwuchses war nicht vorgesehen, die Abgangszeugnisse berechtigten zu nichts. Als Hörer der Kollegs und Übungen, die meist abends stattfanden, schrieben sich gemäß den Absichten der Akademiegründer bildurigsbeflissene Angehörige der deutschen Mittelschichten ein. Von der polnischen Bevölkerung wurde die Akademie vollständig boykottiert. Die durchschnittliche Besuchsdauer währte zwei bis vier Semester. In einer Statistik des Jahres 1903 figurierten unter insgesamt 961 Hörern 200 Lehrer, 181 Beamte, 174 Geschäftsleute und 70 Offiziere.9 Die folgenden Lehrjahre boten ein ähnliches Bild. Von den Professoren spielten in späteren Phasen der deutschen Ostforschung neben Hoetzsch noch insbesondere der Archivar Adolf Warschauer, die Nationalökonomen Ludwig Bernhard, Waldemar Mitscherlich und Kurt Wiedenfeld 10 sowie der Agrarspezialist Friedrich Aereboe nennenswerte Rollen. Formell stand au der Spitze der Akademie ein vom Senat auf drei Jahre gewählter Rektor, der nach einer Satzungsänderung 1912 direkt vom Kultusminister ernannt wurde. Die entscheidenden Befugnisse einschließlich der Personalfragen waren in der Hand des Kurators konzentriert. In diese einflußreichste Position der neu geschaffenen Hochschule wurde der chauvinistische Oberpräsident v. Waldow berufen, der damit die Möglichkeiten der Akademie direkt und ohne lästige Umwege der polenfeindlichen „Ostmarkenpolitik" dienstbar machen konnte. Aus seinem Schriftwechsel mit dem Kultusministerium wird deutlich, daß er bis zu seiner Versetzung im Jahre 1911 das Amt des Kurators mit maximaler Aufmerksamkeit verwaltet hat. Die politische und weitgehend propagandistische Zweckbestimmung des neuen Kampfinstrumentes lag von vornherein auf der Hand und wurde auch ausgesprochen. Der in Aussicht genommene und in der Polenpolitik des deutschen Imperialismus noch unerc

II. Brunner, Die Universität Posen und die Polenfrage. In: Deutsche Monatsschrift für das gesamte Leben der Gegenwart, 1902, Juni-Heft, S. 388-396.

' E. I. Rubinstejn, IlojiHTHKa repMaHCKoro HMnepHanH3Ma B 3anaflHtix nonbCKiix 3eMJinx, Moskau 1953, S. 1 7 9 - 1 8 0 . 8 Schmidt avancierte 1918 kurzfristig zum preußischen Kultusminister und gewann dann in der Weimarer Republik unter dem Namen Schmidt-Ott als Leiter der wichtigen Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft starken Einfluß auf die Gestaltung des deutschen Hochschulwesens im weitesten Sinne. Schmidt-Ott arbeitete aufs engste mit Hoetzsch zusammen. 9 Nachweisung der bei der Königlichen Akademie zu Posen angemeldeten Hörer, ZStAM, Rep. 76, Vb, Sekt. 16, Nr. 15, Bd. 1, unfol. 10 Vgl. Zwischen Wirtschaft und Staat. Aus den Lebenserinnerungen von Kurt Wiedenfeld, (West-)Berlin 1960, S. 17-18, mit Angaben über die Akademie.

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fahrene erste Rektor, der Literaturwissenschaftler Eugen Kühnemann, erhielt im September 1903 vom Kurator den Bescheid, „daß die Akademie die deutsch-nationale Politik der Regierung fördern werde." 11 Waldow betonte, daß er die sofortige Abberufung eines jeden Dozenten beantragen werde, der dieser Erwartung nicht entspreche. Althoff verwandte dem gleichen Adressaten gegenüber etwas vorsichtigere Worte. Er hob hervor, daß die Form der politischen Betätigung dem Einzelnen überlassen bleiben sollte, und daß dies selbstverständlich auch den Eintritt in den Ostmarkenverein betreffe. Die im weitesten Sinne propagandistische Rolle, die die Akademie bei der politischideologischen Festigung der deutschsprachigen Bevölkerungsteile zu spielen hatte, geht aus einer Betrachtung ihres zentralen Arbeitsbereiches, der Lehr- und Fortbildungstätigkeit, deutlich hervor. Die Zahl der Kurse war beträchtlich; allein bis 1909 waren es 25. Besonders viele wurden für Volksschullehrer, speziell Landlehrer, und für Verwältungsbeamte veranstaltet. Eine Festschrift nannte es 1910 „eine der dankbarsten Aufgaben der Akademie, diesen wissensdurstigen Pionieren der deutschen Kultur geistige Anregung zu bieten."' 2 In steigender Zahl wurden auch Lehrer aus den westlichen und südlichen Teilen Deutschlands zu den Posener Kursen beordert, um durch Vorträge über historische, soziologische oder geographische Themen, durch Reisen in die AnsiedIungsgebiete sowie mittels Besichtigung von allerlei Anstalten, Museen und Fabriken der Stadt Eindrücke von der preußischen Ostpolitik mitzunehmen. Als beispielhaft galt der sechswöchige Sommerkurs von 1910, den der Berliner Historiker Dietrich Schäfer mit der Programmrede „Unser Recht auf die Ostmark" 13 eröffnete. Unter den geladenen Referenten befanden sich Adolf von Harnack, Erich Mareks, Albrecht Penck, die Kathedersozialisten Adolf Wagner und Gustav Schmoller sowie Gerhart von SchultzeGaevernitz. Mit einer Reise über die russische Grenze nach Kaiisch sowie einer ausgedehnten Studienfahrt durch die Provinzen Posen und Westpreußen endete der Kursus. 1911 wurde das gleiche Programm geboten, 1912 ein ähnliches. Für die Blickrichtung der Akademie ist bezeichnend, daß der zum Oktober 1914 geplante Lehrgang in erster Linie „Anregungen zum Studium Rußlands" vermitteln sollte; Studienfahrten nach Warschau und Lodz waren vorgesehen. Steigender Hörerzahlen erfreuten sich die Spezialkurse für Offiziere, die von dem Posener Generalkommando unter dem kommandierenden General von Stülpnagel lebhaft gefördert und ab 1908 regelmäßig für mittlere Chargen, die sich auf die Kriegsakademie vorbereiteten, durchgeführt wurden. Hoetzsch nahm an der Vorbereitung und Durchführung dieser Kurse bedeutenden Anteil. Sie wurden sowohl von abkommandierten als auch freiwillig teilnehmenden Offizieren besucht.14 Neben geschichtlichen und geographischen Themen stand die Vermittlung russischer, polnischer, französischer und englischer Sprachkenntnisse auf dem Programm. Audi die Fortbildungskurse für Theologen und Hilfspfarrer beider Konfessionen waren von Bedeutung, obgleich die Theologie im regulären Lehrprogramm der Akademie fehlte. Ein Bericht des Rektors aus dem Jahre 1907 nannte sogar als deren eigentliche 11

Rauch, a. a. 0., S. 28. Königliche Akademie in Posen. Festschrift zur Einweihung des Neubaus, Posen 1910. " Ein 37-seitiger Prospekt im ZStAM, Rep. 76, Vb, Sekt. 16, Nr. 21, Bd. 1. Auch der Major der Garnison Posen Erich Ludendorff nahm an diesen Veranstaltungen teil. 12

Kapitel I I I

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Aufgabe, die polnischen Zöglinge des erzbischöflichen Seminars in Posen an die Veranstaltungen der deutschen Bildungsstätte heranzuziehen. Die Akademie würde eine außerordentliche Bedeutung gewinnen, wenn „in die Kreise der katholischen Geistlichkeit, welche der Führer aller antinationalen Bestrebungen in den Ostmarken ist, wie der gegenwärtige Schulstreik auf das krasseste zeigt, deutsche aufklärende Wissenschaft eindringen würde." 15 Der Versuch scheiterte. Von den Klerikern beteiligten sich nur wenige an diesen Kursen. Sie bekräftigten damit ihre ablehnende Haltung, die sie bereits 1903/1904 in einem damals stark beachteten „Seminaristenstreik" der Akademie gegenüber bezogen hatten. Die überlieferten Angaben über die Vortragstätigkeit der Akademie vervollständigen das Bild ihres öffentlich-propagandistischen Wirkens noch. Allein in den Wintersemestern der Lehrjahre 1903 bis 1909 warteten die Dozenten mit über 400 Vorträgen auf, in erster Linie in den Kleinstädten der preußischen Ostprovinzen. Ab 1911 schalteten sie sich auch in die Arbeiten der Posener privaten Beamtenschule „mit Hochschulcharakter" ein. Ziel und Resultat dieser umfangreichen Betriebsamkeit war keineswegs eine philanthropische Wissensvermittlung, wenn sich auch ein Teil der Dozenten zu einer solchen Aufgabe subjektiv berufen fühlte. In einem Gebiet, das ökonomisch und politisch von Großgrundbesitzern bevormundet wurde, und angesichts der direkten Steuerung der Akademie durch die Organe der preußischen Staatsregierung, von deren Ministern 1902 allein 4 dem Ostmarkenverein selbst angehörten, war die demagogisch oft angekündigte kulturelle Hebung der Bevölkerung nicht zu erwarten. Halbwegs nüchtern urteilende Zeitgenossen erkannten durchaus, daß mit der Gründung einiger Institutionen im Kulturund Hochschulbereich der allgemeinen Rückständigkeit, die in der anachronistischen Junkerherrschaft wurzelte, nicht zu begegnen war. 16 Vielmehr bestand die Aufgabe der Königlichen Akademie gerade in der systematischen Beeinflussung und einer begrenzten Ausbildung derjenigen Schichten, die als Stützen der Germanisierungspolitik galten. Unabhängig von den Vorstellungen einzelner Professoren und ungeachtet deren politisch zuweilen differierender Haltung kam die Akademie diesem Klassenauftrag mit dem wichtigsten Sektor ihrer Tätigkeit, der Lehr- und Propagandaarbeit, in maximalem Umfang nach. Der Ostmarkenverein schätzte die Bedeutung der Akademie für seine Intentionen stets hoch ein. Seine führenden Mitglieder verhinderten 1911/1912 nicht nur neuerliche Universitätspläne, die jetzt sogar die Unterstützung des Oberpräsidenten Schwarzkopf genossen, sondern selbst zweitrangige Reorganisationsmaßnahmen. Dadurch unterstrichen sie erneut, daß die Wirkungsweise der Akademie den Absichten dieser aggressivsten Vorhut der imperialistischen Ostpolitik Deutschlands entsprach. Für nennenswerte Forschungsarbeiten blieb im Bereich der Akademie nur wenig Raum. Die mangelhafte Ausstattung Posens mit Bibliotheken, Labors und Forschungsstätten, die hektische Atmosphäre des forcierten „Nationalitätenkampfes" und auch der fehlende Kontakt der Dozenten zu interessierten Studenten und Nachwuchskräften verhinderten solide wissenschaftliche Untersuchungen. 17 Hinzu trat noch eine hohe Fluk15

Rauch, a. a. O., S. 47.

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Vgl. etwa II. Ganz, Die preußische Polenpolitik, Frankfurt/M. 1907. Selbst Rauch, der die Akademie als Vorläuferin der faschistischen „Rciclisuniversität Posen" (1940/1944) darstellen möchte, kann nur auf einige Werke des Germanisten Kühnemann und des Physikers Spies verweisen.

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tuation des Personals. Von den 81 Lehrkräften, die insgesamt an der Akademie wirkten und die ohnehin meist nicht der Creme der bürgerlichen Wissenschaft entstammten, blieben 42 der Akademie jeweils weniger als 3 Jahre treu. Aus diesen Gründen und aus der politischen Bestimmung der Akademie folgte, daß sich ihre richtunggebenden Angehörigen als einzigem „Forschungsthema" einer Erkundung und chauvinistischen Interpretation der „Polenfrage" zuwenden wollten. Otto Hoetzsch erwies sich dabei als Initiator. Nachdem der Dreißigjährige im Sommer 1906 vorübergehend als lecturer an der Universität Edinburgh tätig gewesen war, wurde er zum 1. Oktober als Professor der Geschichte an die Akademie berufen. 18 1909 erhielt er eine etatmäßige Professur. Er genoß das Wohlwollen des einflußreichen Althoff, der ihn mit dem ausdrücklichen Auftrag zur Behandlung der „Ostprobleme" nach Posen entsandte. In der alldeutschen „Täglichen Rundschau" hatte Hoetzsch bereits mehrfach nach dem Willen Althoffs zur Universitätsfrage Stellung genommen. 19 Auch in der Folgezeit scheint Hoetzsch als Posener Vertrauensmann des Kultusministeriums gewirkt zu haben, denn die Statutenänderungen der Akademie von 1911/1912, die zwar vom Rektor und dem Senat mit ohnmächtiger Erbitterung abgelehnt wurden, trotzdem aber in Kraft traten, stammten in erster Linie von ihm und dem Kurator Daniels.20 Mehrere Gesuche um langfristige Befreiung von seinen Lehrverpflichtungen wurden vom Kurator sowie hohen Beamten des Kultusministeriums stets mit lobenden Bemerkungen versehen und routinemäßig Wilhelm II. zur Unterschrift vorgelegt. Auch der ministerielle Auftrag, 1907 als Austauschprofessor in die USA zu gehen und dabei besonders vor deutschen Einwanderern Vorträge zu halten, weist auf die Gunst hin, in der Hoetzsch bei den übergeordneten Behörden stand. Diese Reise führte ihn durch Ohio, Wisconsin und Minnesota. In Chikago und Milwaukee sprach er vor deutschen Vereinen, im Williams College vor Amerikanern. In Posen und besonders an der Akademie entwickelte er sofort große Aktivität und machte rasch Karriere. Schon im ersten Semester bot er vier Vorlesungen und zwei Übungen an. Bis 1912 hielt Hoetzsch regelmäßig sechs bis acht Lehrslunden pro Woche. Vorlesungsverzeichnisse und Hörerstatistiken 21 zeigen, daß er die Leistungen aller seiner Kollegen überbot. Warschauer bescheinigte ihm eine „schier unglaubliche Arbeitskraft" und nannte ihn „eine keck zugreifende Persönlichkeit von hoher Begabung und zielbewußtem Streben" 22 . Der thematische Bogen seiner Lehrtätigkeit war weit gespannt. Sie umfaßte die gesamte deutsche Geschichte seit der Zeit Karls des Großen, insbesondere die Wirtschafts- und Verfassungsgeschichte im Spätmittelalter und der Neuzeit, ferner die Vergangenheit der angelsächsischen Staaten unter Einschluß Kanadas und 18

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Eine Kopie des Berufungsschreibens im ZStAM, Rep. 76, Vb, Sekt. 16, Nr. 4, Bd. III, unfol. - Vgl. zu diesem und den folgenden Kapiteln auch W. Grawicz, Otto Hoetzsch historyk wschodu, Diss. Poznan 1966 (Masch.). Vgl. seine Briefe an Althoff vom 21. Juli 1906, 19. Februar 1907, 4. Juli 1907 und 1. Oktober 1910, ZStAM, Rep. 92, Nachlaß Althoff, B 74, sowie sein Dankschreiben vom 7. Februar 1907, ebenda, Rep. 76, Vb, Sekt. 16, Nr. 4, Bd. III, unfol. Ebenda, Nr. 1, Bd. III, unfol., Brief des Kurators Daniels an den Kultusminister, 11. April 1911. Angaben über Hörerzahlen ebenda. Die „Einführung in das geschichtliche Verständnis der Gegenwart" 1906/1907 konnte Hoetzsch z. B. 157 Personen vortragen. A. Warschauer, Deutsche Kulturarbeit in der Ostmark, Berlin 1926, S. 162-163.

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selbst Mexikos, und ebenso die Geschichte Südosteuropas und der Türkei vor und nach 1453. Spezialvorlesungen über die Geschichte des preußischen Heeres und der Befreiungskriege der USA waren für Offiziere gedacht. Mehr und mehr rückten jedoch Fragen der polnischen und russischen Geschichte und Gegenwart in den Mittelpunkt seiner Kollegs und Übungen, wobei er auch die Bedeutung der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts eingehend behandelte. Besonderen Wert legte Hoetzsch seinen Vorlesungen über das „geschichtliche Verständnis der Gegenwart" bei, die er mehrfach ankündigte. Im November 1911 schrieb er darüber dem Kultusminister, „daß der Historiker, der sich mit diesen Fragen so beschäftigt wie ich und sie außerdem durch regelmäßige Reisen und Beziehungen mit der Diplomatie möglichst genau fundiert, sich solchen Wünschen aus dem Zuhörerkreise nicht entziehen darf. Sie sind allzu erklärlich, weil in der gegenwärtigen Lage auch für einen gebildeten Zeitungsleser die Orientierungsmöglichkeit ganz verloren gegangen ist; in diesem Sinne haben sich mir Beamte und besonders höhere Offiziere ausgesprochen. Ich sehe in der Abhaltung solcher Vorlesungen durch einen Historiker ein Stück der Staatsbürgerkunde, das sonst leicht ganz übersehen wird, und sehe außerdem darin eine Möglichkeit, den leider in dem letzten Jahrzehnt etwas verloren gegangenen Zusammenhang zwischen historischer Wissenschaft und gebildeter Öffentlichkeit wieder herzustellen." 23 Die Lehrarbeit an der Akademie stellte aber nur einen Teil aus dem öffentlichen Auftreten des rührigen Professors dar. Hoetzsch hielt zahllose Vorträge, über deren politischen Inhalt 1906 in einer Beurteilung geschrieben wurde: „Hoetzsch ist ein sehr wirksamer und eleganter Festredner. Seit mehreren Wintern ist er als Vortragsredner der Kolonialgesellschaft und des Flottenvereins tätig, wobei er namentlich die Fragen des Imperialismus und der Weltpolitik behandelt. Auf einem großen Kommers des Vereins deutscher Studenten in Berlin sprach er in ausgezeichneter Weise auf Heer und Marine, indem er . . . das Offizierskorps feierte und die Heldentaten der Südwestafrikaner pries. Auch bei der Treitschkefeier 1906 redete er packend und formvollendet.. .'!

Vgl. M. II. Boehm, Rechtsparteien und Rätesystem. In: Der Spiegel, 1919, II. 5/6, S. 28-33; ders., Annäherung von links und rechts, ebenda, H. 18/19, S. 23-28; ders., Konservatismus, Deutschnationale Volkspartei und Weltrevolution. In: Die Grenzboten, 1919, H. 18. Angaben dazu ZStAM, Rep. 77, Titel 856, Osten, Nr. 49, spec. I, Bd. 1, unfol. Ebenda, Nr. 17, Bd. 1.

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Kapitel V i l i

schätzt. Im Auswärtigen Amt und in der neu geschaffenen „Geschäftsstelle für die Friedensvorbereitung" wiegten sich viele Mitarbeiter in dem Glauben an ein mögliches Zusammengehen Deutschlands mit der Entente gegen die „bolschewistische Weltgefahr". Die Drohung mit der deutschen „Anarchie" und die Theorie vom Bollwerk Deutschland wurden erpresserisch gegen die Westmächte eingesetzt. Nachdem Hoetzsch, der ebenfalls solche Ansichten vorgetragen hatte, im März und April 1919 von dieser Linie abschwenkte und das Fortbestehen des proletarischen Staates vorsichtig in Rechnung zog (NPrZ, 26. 3., 9. und 16. 4. 1919), wurde er auf Beschluß des Kabinetts Scheidemann am 19. April aus dem Beraterteam gestrichen.19 Knapp einen Monat später, als die Vertragsklauseln bekannt geworden waren und nach einem Wort Brockdorff-Rantzaus ..lähmendes Entsetzen" verursacht hatten, sah sich der Innenminister dennoch veranlaßt, Hoetzsch neben Max Weber, Hesse und dreizehn weiteren Sachverständigen zur Unterkommission I D, die sich mit der künftigen Ostgrenze auseinandersetzen sollte, zusammenzurufen. Die Kommission einigte sich auf eine glatte Ablehnung des Vertragsentwurfes und begründete ihren Entscheid mit dem ganz offensichtlich von Hoetzsch inspirierten Hauptargument: „Die Friedensbedingungen berauben Deutschland und Rußland im Widerspruch zu ihrem Willen und entgegen ihren berechtigten Interessen der Sicherheit eines wechselseitigen freien Verkehrs auf dem Landwege und verweisen beide Länder lediglich auf den Seeweg. Eine derartige Beschränkung ist für zwei große Nachbarstaaten(!) von zusammen über 200 Millionen Bewohnern zu Gunsten von 20 Millionen Bewohnern des neuen Polenstaates unannehmbar." 20 Die Sachverständigen hielten es für geboten, die Bedrohung des deutschen Wirtschaftslebens in den Vordergrund zu rücken, obgleich der Handelsverkehr mit Sowjetrußland 1919 praktisch am Boden lag. Hoetzsch hatte den gleichen Standpunkt bereits eher in der Kreuzzeitung vertreten (NPrZ, 14.5. 1919). Er behauptete, daß bei Annahme des Vertrages Deutschland auf den Stand des Jahres 1700 zurücksinken werde und jeder wirtschaftliche Austausch mit Rußland, „mit dem zusammenzugehen ein Lebensinteresse für uns ist", ausgeschlossen sei. Die Gutachten der Kommission erzielten jedoch keine Wirkung. Am 22. Juni nahm die Nationalversammlung in Weimar den Versaill er Vertrag an. Seit dieser Zeit rief Hoetzsch in Reden, Broschüren und Artikeln dazu auf, den Diktatfrieden „abbröckeln" zu lassen. Zwar verknüpfte er nicht, wie es die DNVP sonst tat, die Annahme des Vertrages mit dem Ubergang Deutschlands zur republikanischen Staatsform, aber mit kaum zu überbietender Deutlichkeit skizzierte er kurz nach dem Inkrafttreten des Vertrages die einzuschlagende Taktik: „In den zahllosen Verhandlungen und Arbeiten mit den Ententekommissionen, in denen sich nunmehr die Regierungsarbeit in Deutschland abspielen wird, hat dieses sich zu mühen, Abänderungen im einzelnen herbeizuführen, damit der Vertrag innerlich sich auflöse, so, wie der Ententevertrag mit Deutsch-Österreich schon langsam zu bröckeln beginnt, so wie die Verträge von Brest-Litowsk sich schon auflösten, als unsere Beauftragten noch an ihnen arbeiteten." (NPrZ, 14. 1. 1920) Diese Taktik blieb eine Leitlinie seines außenpolitischen Wirkens in der Weimarer Republik. Otto Hoetzsch gehörte niemals zum engeren Führungskreis der Deutschnationalen, genoß aber anfangs die Gunst der aristokratischen Parteispitze und befand sich mit Hergt, 19

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Ebenda, Bl. 151, Auszug aus dem Protokoll der Sitzung des Staatsministeriums vom 19. April 1919. Ebenda, Bd. 2, Bl. 70-72, Gutachten der Arbeitskommission I D, Durchschlag.

Ein Deutschnationaler

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Helfferich und besonders Westarp in stetem Kontakt. Man muß ihn zu den aktivsten Männern aus der zweiten Reihe der Partei rechnen. Die Vorgänge innerhalb der DNVP zeigen, daß er durch seine Vorstellungen von einem deutschen „Reformkonservatismus", aber besonders infolge seiner realistischen Haltung gegenüber der UdSSR, trotz allen Eifers allmählich in der Partei an den Rand gedrängt wurde. Die Erinnerung an seine schweren politischen Zusammenstöße mit den Anhängern antirussischer, uferloser annexionistischer Konzeptionen in den Kriegsjahrcn wird diese Entwicklung beschleunigt haben. Der Kapp-Putsch, dessen Scheitern die erste schwere Krise in der DNVP auslöste, fand bekanntlich die Unterstützung vieler deutschnationaler Parteifunktionäre und prominenter Mitglieder. Auch Teile der Führung waren seit geraumer Zeit von Umsturzplänen informiert und billigten sie. Westarp war praktisch der Verbindungsmann zwischen den Putschisten und der Parteiführung. In diesem Flügel der Partei befanden sich zahlreiche alldeutsch-völkische Elemente. Eine einflußreiche Gruppe um den Parteivorsitzenden Hergt und A. von Posadowsky-Wehner beurteilte jedoch das Kräfteverhältnis der Klassen und Parteien in Deutschland, besonders die Stärke der Arbeiterklasse, realistischer, und stimmte den Putschplänen daher nicht zu. Hoetzsch zählte zu dieser Gruppe. Die Methode des gewaltsamen Umsturzes widersprach völlig seiner Grundansiclit, die angeschlagenen Machtpositionen des deutschen Imperialismus durch zähe außenpolitische Kleinarbeit und durch den Aufbau einer „reformkonservativen" Bewegung zu stärken. Von einem Sieg der Putschisten befürchtete er den Zerfall des Reiches, den Schwund des restlichen internationalen Prestiges und überhaupt den Beginn einer „Desperado- und Katastrophenpolitik", die Deutschland wie die südamerikanischen Republiken von einem Umsturz zum anderen führen werde und bei der Hauptgefahr, der „roten Flut", enden müsse. Nachdem die Führung der DNVP in den Tagen des Putsches, als sich seine Aussichtslosigkeit zeigte, eine schroffe Wendung vornahm und ihre Beziehungen zu den Abenteurern zu leugnen begann, wandte sich Hoetzsch in der Kreuzzeitung und in den „Eisernen Blättern" gegen die Putschisten.21 Ei- distanzierte sich besonders von dem stark belasteten Traub, mit dem er noch im Vorjahr einen Teil des Parteiprogramms geschrieben hatte und der nunmehr als aktiver Verschwörer hervorgetreten war. Als einige parteioffizielle Beiträge in der Kreuzzeitung die Putschisten verteidigten und eine „Rechtmäßigkeit" ihres republikfeindlichen Vorgehens beschworen, protestierte Hoetzsch bei der Redaktion und bestand darauf, seine Ansichten, nicht nur zu außenpolitischen Fragen, in der Zeitung darlegen zu können; andernfalls müsse er seine Mitarbeit einstellen.22 Anlaß der folgenden Parteikrise, in die auch Hoetzsch verwickelt wurde, war die Haltung des Hauptvereins der Konservativen, dem früheren Zentruni der Deutschkonservativen Partei, der unter Leitung Westarps und des ehemaligen Parteiführers Ernst von Heydebrand und der Lasa als hocharistokratische, erzmonarchistische Splittergruppe ohne Masseneinfluß innerhalb der DNVP bestehen geblieben war und den Putschisten seine Unterstützung geliehen hatte. Auf der Sitzung des Parteivorstandes vom 9. April :I920, drei Wochen nach der Niederschlagung des Putsches durch die geeinte Aktion 21

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NPrZ, 31. März 1920. Hoetzsch, Bindet den Helm fester! In: Eiserne Blätter, 1919/1920, H. 38/39, S. 681-683. L. Hertzman, DNVP. Right-Wing Opposition in the Weimar Republic. 1918-1924, Lincoln 1963, S. 114.

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Kapitel V i l i

der deutschen Arbeiterklasse, stellte Hoetzsch mit Karl Bernhard Ritter, Siegfried von Kardorff und Graf Kanitz sowie mit Unterstützung von Vertretern der christlich-sozialen und der gewerkschaftlichen Richtung den Antrag, den Hauptverein entweder in die Partei aufzunehmen und damit als Herd der Fraktionsmacherei zu schließen, oder ihn aufzufordern, seine Mitglieder aus der DNVP abzuziehen, was die Trennung bedeutet hätte. Da erst kurz zuvor der Landbund aus der DNVP ausgeschlossen werden sollte, zog die Parteiführung einen Kompromiß vor, so daß Heydebrand ermutigt wurde, bei Westarp schriftlich Klage über Hoetzsch zu führen und die Redaktion der Kreuzzeitung aufzufordern, ihn zu entlassen. 23 Das geschah zwar nicht, aber die internen Kämpfe mit den Umstürzlern aus dem Hauptverein hatten Hoetzsch doch belehrt und ihn veranlaßt, die Annahme einer Reichstags-Kandidatur von einer Erklärung abhängig zu machen, die er Hergt und Westarp zur Unterschrift vorlegte, um die beiden Führer der Partei wenigstens ihm gegenüber auf die Verurteilung des Kapp-Putsches festzulegen. Aus einem Schreiben, das Hoetzsch an Westarp richtete, geht hervor, daß er sich völlig aus dem innerpolitischen Leben, „an dem ich nicht sehr hänge", zurückziehen wollte und sogar den Gedanken an seinen Parteiaustritt erwogen haben muß. 24 Durch die Ereignisse um den Putsch der konterrevolutionären Militärs und Monarchisten vertiefte sich auch der Gegensatz zwischen Hoetzsch und dem anderen deutschnationalen Experten für außenpolitische Dinge aus dem akademischen Bereich, den Breslauer Völkerrechtler und Reichstagsabgeordneten Axel von Freytagh-Loringhoven, einen Deutschbalten reaktionärster Gesinnung, mit dem Hoetzsch bereits während des Krieges zusammengestoßen war. Der fanatische Rußlandhasser Freytagh-Loringhoven war Vertrauensmann der Verschwörer für Schlesien. Es ist festzuhalten, daß es zwischen Hoetzsch und diesem Vertreter des völkisch-nationalistischen Flügels in der DNVP während der Weimarer Republik zu keinerlei Zusammenwirken gekommen ist. Als 1922 in der Partei die „Rassisten-Krise" ausbrach, wurde der Name Hoetzsch abermals häufig genannt. 2 5 Der deutschnationäle Reichstagsabgeordnete Wilhelm Henning, zweiter Vorsitzender im „Verband nationalgesinnter Soldaten" und aktives Mitglied im rassistischen „Schutz- und Trutzbund", hatte als Sprecher des völkisch-alldeutschen Flügels der Partei seit einiger Zeit eine antisemitische Hetze entfaltet, die zum Hintergrund des Mordes an Rathenau gehört. So hatte er 1922 im Juniheft der „Konservativen Monatsschrift" unter der Uberschrift „Das wahre Gesicht des RapalloVertrages" über den Reichsaußenminister einen Schmähartikel veröffentlicht, aus dem Reichskanzler Wirth im Auswärtigen Ausschuß nach dem Attentat voller Empörung vortrug. Der Kanzler betonte, daß er der Schuldlosigkeit der DNVP nicht länger glauben könne, wenn sie sich nicht von Henning und seinem Kreis organisatorisch trenne. Hoetzsch, der sich intensiv für die Vorbereitung und den Abschluß des Rapallo-Vertrages eingesetzt hatte, und der Parteivorsitzende Hergt, beide Mitglieder des Ausschusses, sagten sich sofort, ohne die wüsten Beschimpfungen Hennings völlig gelesen zu haben, von ihm los. Es wurde ein Parteiausschuß eingesetzt, der die Tätigkeit der Rassisten untersuchen sollte. Sechs führende Parteimitglieder verlangten den augenblicklichen Ausschluß: Düringer und Hoetzsch; die schon vorher diesen Standpunkt eingenommen 11

Ebenda, S. 116. Heydebrand schrieb u. a. am 15. April 1920 an Westarp: „Der Mann ist keiner von uns." 2 "' ZStAP, Nachlaß Westarp, Bd. 45, Bl. 13-14R., Hoclzsch an Westarp, 25. 5. 1920. 25 Zum folgenden vgl. Hertzman, S. 143 ff.

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hatten, sowie Graf Kunitz, Friedrich Edler von Braun, Roesickc u n d selbst Hilgenberg. Obgleich die Koalitionsfähigkeit der Partei auf d e m Spiel stand, lavierte ihre F ü h r u n g wiederum. A m 18. Juli beschloß der Vorstand, Henning lediglich aus disziplinarischen G r ü n d e n auszuschließen; Hoetzsch war über diese Begründung verbittert u n d wollte sich an der Sitzung nicht beteiligen. Die Auseinandersetzung mit dem völkisch-rassistischen Flügel ging folglich weiter. Henning bildete mit den Abgeordneten Wulle u n d Albrecht von Graefe eine „Deutschvölkische Arbeitsgemeinschaft", der es gelang, den Görlitzer Parteitag 1922 zu überstehen u n d neue Anhänger zu sammeln. Da sich diese G r u p p e 1924 mit den Nazimitgliedern des Reichstags vereinigte u n d somit ihr wahres Gesicht zeigte, k o m m t d e m freilich inkonsequenten Verhalten von Hoetzsch in dieser Krise eine gewisse Bedeutung zu. Es war seine erste E r f a h r u n g mit d e m deutschen Faschismus; ein Schreiben von Graefe an Westarp v o m November 1922 enthielt die erste Denunziation durch jene Kreise, denen Hoetzsch später politisch z u m Opfer fiel. 26 Die Ereignisse hätten ihn lehren müssen, d a ß sein Vertrauen auf die K r a f t der altpreußisch-konservativen Elemente u n d ü b e r h a u p t auf die Z u k u n f t des „konservativen Gedankens" eine nutzlose Illusion war. Sein Antikommunismus u n d auch gewisse eigene antisemitische Vorbehalte 2 7 verhinderten diese Erkenntnis. Die Rednerlisten der deutschnalionalen Parteitage zeigen, daß Hoetzsch nur in den J a h r e n der revolutionären Nachkriegskrise von der P a r t e i f ü h r u n g zu programmatischen Ansprachen herangezogen wurde. Auf d e m Münchener Parteitag 1921 konnte er sein angekündigtes Referat über „Die deutschen Lebensfragen im Osten" nicht halten, da er nach Berlin zurückgerufen wurde. 2 8 E r sprach d a n n auf d e m 4. Parteitag 1922, der in der Görlitzer Stadthalle nahezu 2 000 Delegierte u n d mehr als 1 300 Gäste vereinte. Unmittelbar nach der Eröffnungsrede von Hergt trug er einen Bericht über „Deutschlands Grenzmarken- u n d Außenpolitik" vor, der auch als Flugschrift der Partei in einer Massenauflage verbreitet wurde. Hoetzsch legte ein P r o g r a m m dar, das als Hauptp u n k t e den Kampf gegen den Vertrag von Versailles, revanchistische Anspräche an den deutschen Grenzen u n d die Ausweitung des Rapallo-Vertrages enthielt. Minutenlanger frenetischer Beifall unterbrach ihn, als er Helfferich den immer mehr hervortretenden wahren Führer des deutschen Volkes nannte 2 9 ; J a h r e später, in den USA, pries Hoetzsch den 1924 tödlich Verunglückten als seinen großen Freund, u n d noch 1936 veröffentlichte er einen H y m n u s auf ihn. Die folgenden Parteitage sahen Hoetzsch nicht mehr als Sprecher. Dies ist da der Kongreß von 1925 völlig auf außenpolitische Belange orientiert war Kampf gegen Locarno galt, während 1927 sogar das Referat zu „Preußen Osten", ein typisches IIoetzsch-Thema, von einem gewissen Winterfeld, einem Ilugenbergs, abgehandelt wurde. 3 0

20 27

23 31 30

auffällig, und dem u n d der Anhänger

Graefe-Goldebee an Westarp, 4. 11. 1922, zitiert bei Hertzman, S. 157. Die einzigen antisemitischen Äußerungen finden sich in der Denkschrift über das Parteiprogramm, Bl. 55, und in der Rede vom November 1919: Wie Preußen jetzt regiert wird, Berlin 1919, S. 32-34. Wir bemerken, daß sich unter den Schülern von Hoetzsch viele Deutsche jüdischer Herkunft befanden. NPrZ, 3. September 1921. NPrZ, 26. Oktober 1922. Das Datum des Parteitages von 1926 deckte sich mit dem Einzug Deutschlands in den Völkerbund, den Hoetzsch von Berlin aus verfolgte.

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Kapitel VIII

Neben dem Antikommunismus und dem Streben nach einem eigenen „Reformkonservatismus" war die Betonung des an Ranke und Treitschke orientierten reaktionären preußischen Staatsbegriffs ein weiteres Hauptelement in der politischen Konzeption des Deutschnationalen Hoetzsch. Es war in hohem Maße gerade der Staatsbegriff, der Hoetzsch an die Partei der aggressiven Monopolboui'geoisie und der Großgrundbesitzer kettete. Als Abgeordneter der Landesversammlung gehörte er 1919/1920 zu der Kornmission, die eine neue Verfassung für Preußen ausarbeitete. 31 Sein autoritäres Denken zeigte sich dabei in der Forderung, den Präsidenten des Preußischen Staatsrates mit der Befugnis zur Auflösung des Landtages auszustatten! Ganz im deutschnationalen Sinne und auf der Basis seines Bismarck-Kultes sah er als Ziel der deutschen Politik die Wiederherstellung eines „starken Reiches". Nationale Größe war ihm keine Sache in friedlicher Arbeit geschaffener geistiger Werte oder wissenschaftlicher Leistungen, sondern sie erschien ihm als Produkt gezielter Machtpolitik. 32 Besonderen Nachdruck legte Hoetzsch auf die „historischen Werte" Preußens. In einer deutschnationalen Schrift, die sich gegen den Verfassungsentwurf von Hugo Preuß wandte 33 , nannte Hoetzsch drei Gründe, die nach seiner Meinung die Existenz des Staates Preußen erforderlich machten. Er bezeichnete Preußen als ein für die militärische „Sicherheit" des Reiches notwendiges Kernstück, ferner als ein Staatswesen konfessioneller Parität, ohne dessen Bestand in Deutschland Konfessionskämpfe ausbrechen würden, und er erwähnte die vermeintliche geschichtliche Aufgabe Preußens, die Unterschiede zwischen den westlichen und östlichen Teilen Deutschlands auszugleichen. Die drei Gründe waren typische Elemente der Preußenlegende, die von den Deutschnationalen gepflegt wurde und im Artikel 5 ihres Parteiprogramms niedergelegt war. Während das Argument vom Charakter Preußens als eines „Schutzschildes" für Deutschland auf die Bewahrung der militärischen und aggressiven Traditionen hinauslief, war die These von der Konfessionsgleichheit bereits von Franz Mehring durch seine Darlegungen über die Zweckbedingtheit der friderizianischen Religionspolitik widerlegt worden.3'1 Die Unmöglichkeit, durch die Existenz des Staates Preußen die sozialökonomisch begründeten Unterschiede zwischen dem kapitalistisch entwickelten Westdeutschland und den sprichwörtlich rückständigen Ostgebieten „ausgleichen" zu können, mußte Hoetzsch in seinem Artikel selbst andeuten. In Publikationen legte Hoetzsch dar, daß Preußen dem deutschen Reich das „pflichtbewußte", „selbstlose" Berufsbeamtentum und damit eine Klammer der nationalstaatlichen Einheit gegeben habe. Dieser Akzent der Preußenlegende bewog ihn, von 1922 bis zum Wintersemester 1932/1933 an der Berliner „Verwaltungs-Akademie" mitzuarbeiten,

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34

Hoetzsch, Germany's Domestic and Foreign Policies, S. 1 0 - 1 1 . Vgl. seine Reden zur Verfassung in: Stenographische Berichte der Preußischen Verfassungsgebenden Landesversammlung, Bd. 10, 29. Oktober 1920, Sp. 1 3 3 5 4 - 1 3 3 5 7 , und Bd. 11, 30. November 1920, Sp. 1 4 2 6 6 - 1 4 2 6 8 . Hoetzsch, Vom Deutschen Reiche in Vergangenheit und Zukunft. In: Akademische Blätter, 1919/1920, H. 21/22, S. 261 und 262. Hoetzsch, Preußen und das Reich. In: Das W e r k des Herrn Preuß. W i e soll die Reiclisverfassung nicht aussehen? Hg. v . J. V. Bredt, Berlin 1919, S. 4 3 - 5 5 . Die Schrift enthielt einen eigenen Verfassungsvorschlag der DNVP. Vgl. F. Mehring, Die Lessing-Legende, Berlin Bd. 9).

1963, S. 7 4 - 7 8

(Gesammelte

Schriften,

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die eine Fortbildungsstätte für die Beamten der Ministerien und zentralen Behörden war. Im Laufe ihres Bestehens, von 1919 bis 1933, wurden mehr als 60 000 Hörer von ihren Kursen erfaßt. Präsident der Akademie war der bürgerliche demokratische Politiker Eugen Schiffer, der 1919 Reichsfinanzminister und 1919/1921 (mit Unterbrechung) Reichsjustizminister gewesen war. Hoetzsch, neben Veit Valentin der einzige Historiker an der Akademie, leitete die Auslandsabteilung, an der ferner der Zentrumspolitiker Prälat Schreiber sowie die Legationsräte Davidson, Gaus, Kraske, Martius und Schwendemann lehrten. Mehrere Jahre gehörte er sogar zum Kuratorium eines von der Akademie begründeten „Instituts für wirtschaftliche Arbeit in der öffentlichen Verwaltung", das sich mit der Rationalisierung von Verwaltungsarbeiten befaßte. Sein erster Vortragszyklus, den er 1922/1923 hielt, betraf „Deutsch-russische Wirtschaftsfragen". Er beteiligte sich mehrmals an Spezialkursen für Beamte des Reichspostministeriums und für die Mitglieder des Vereins der Ministerialamtmänner. Auf einer Feier zum fünfjährigen Bestehen der Akademie hielten Schiffer und er die Festansprachen. 30 Im besonderen kam es Hoetzsch darauf an, die geringen Auslandskenntnisse der preußischen Staatsbürokralie aufzubessern und diese vom Kastengeist gezeichnete Schicht an die politischen Bedingungen der Republik und der parlamentarischen Demokratie heranzuführen, zumal es galt, die Wählerstimmen der Beamten den Deutschnationalen zu erhalten. Die Betonung der „historischen Aufgabe" Preußens im allgemeinen und die spezielle Pflege des engstirnig-konservativen „Beamtenethos" bei gleichzeitiger Modernisierung des Wissensstandes verband Hoetzsch mit dem Anspruch auf einen neuen deutschen Machtstaat. In seiner Rede vor der Preußischen Landesversammlung vom November 1919 wandte er sich beispielsweise gegen die Phrasen vom „Großhungern" und „Großfrieren", die der Finanzminister gebraucht hatte. Er behauptete, das Hungern sei in der Geschichte Preußen-Deutschlands nur eine „Begleiterscheinung" gewesen, die Quelle seines Ansehens und seiner Stellung in der Welt habe in der Machtpolitik gelegen: „Das ist es, was wir jetzt auch verlangen, nämlich den Wiederaufbau der deutschen Macht, die uns allein in die Lage setzen wird, die Fesseln dieses Friedensvertrages von uns abzuwälzen. (Lebhafter Beifall rechts - Widerspruch, Lachen und Unruhe bei der SPD und USPD)." 36 Wieder erhob er den Ruf nach der allgemeinen Wehrpflicht und forderte, wie Freiherr vom Stein vorwärts zu blicken. Eine Rede, die er 1925 auf einer Reichsfeier des „Vereins deutscher Studenten" hielt, zeigte an, daß Hoetzsch zum „Vernunftrepublikaner" geworden war, womit er eine für große Teile der Deutschnationalen charakteristische Haltung einnahm. Bereits 1918, in seinem Programmentwurf für die konservative Partei, war deutlich geworden, daß er sich vom Monarchismus entfernte. Spätere Auslassungen über die Monarchie blieben im Grunde lasch und bewegten sich auf der Linie, es „dem elementaren Sehnen unseres Volkes (zu) überlassen, in freiem Entschluß sich die monarchische Staatsform wiederzugeben." Hoetzsch hatte verstanden, daß die Monarchie in Deutschland nur noch eine Sache der historischen Remineszenz war. 1925 hieß es dann: „Ich blicke zurück auf die zwei Wahlkämpfe des letzten Jahres. Wahrhaftig ein kleinliches und übles Treiben, immer das gleiche in den Versammlungen der kleinen Städte und Dörfer, im qualm35

36

Angaben aus den Vorlesungs-Verzeichnissen der Verwaltungs-Akademie und den BeamtenJahrbüchern. Stenographische Berichte der Preußischen Verfassungsgebenden Landesversammlung, Bd. 5, 17. November 1919, Sp. 6668.

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Kapitel VIII

erfüllten Tanzsaal, immer dieselbe Pöbelei und auch Gemeinheit, ein Treiben, das wahrhaftig nicht dem platonischen Ideal des Weisen entspricht. Aber es ist mein Volk, das in solchen Kämpfen ringt um die Gestaltung seines Staates und neue Formen sucht in Verfassung und Wirtschaft. Und, ob ich ihn liebe oder nicht, es ist mein Staat, um den es dabei geht, der Staat meines Volkes von heute, der Staat unserer Kinder, an dem uns vieles, sehr vieles nicht gefällt, und an dem wir vieles, sehr vieles bekämpfen, der aber zunächst einmal so wie er da steht, heute uns ist die Rechts- und Machtform der Nation." 37 Es handelte sich um das typische Schwanken der Deutschnationalen zwischen prinzipieller Feindschaft auf die Republik und dem Zwang zu „konstruktiver Oppositionspolitik", die im Januar 1925 zum Eintritt der DNVP in die Bürgerblockregierung Luther führte. Die Reichstagsabstimmung über das Reichsbahngesetz am 29. August 1924, die über einen dramatischen Zerfall der deutschnationalen Fraktion in zwei nahezu gleichstarke Hälften die Annahme des Dawesplans erlaubte und damit einen wesentlichen Schritt beim Wiedererstarken des deutschen Imperialismus darstellte, hatte die Herausbildung eines „grundsätzlich oppositionellen" und eines „gouvernementalen" Flügels in der Partei offenbart. 38 Beide Gruppierungen waren eng miteinander verflochten und verkörperten zwei unterschiedliche, sich ergänzende Strategien der herrschenden Klassen gegenüber dem Staatsapparat der Weimarer Republik. Damit war die DNVP „gewissermaßen Regierungs- und Oppositionspartei in einer Person" (W. Rüge) geworden. Ihre Haltung zur Monarchie, die sie im Parteiprogramm als „Erneuerung des von den Hohenzollern aufgerichteten deutschen Kaisertums" erläuterte, ihre Einstellung zum Staatsoberhaupt der Republik, zum Versailler Vertrag und zur Übernahme der Regierungsmitverantwortung war von tiefen Widersprüchen gekennzeichnet. Der „gouvernementale" Flügel der Partei war bemüht, in die staatlichen Exekutivorgane einzudringen und den Staatsapparat zur Durchsetzung antidemokratischer Maßnahmen, zur Wiederaufrüstung und propagandistischen Massenbeeinflussung auszunutzen. Otto Hoetzsch hatte sich bereits zeitig auf „gouvernementale" Positionen gestellt. Es gibt von ihm keine rüden Beschimpfungen der Republik, wie sie von vielen anderen Deutschnationalen, etwa von Freytagh-Loringhoven auf dem 1. Parteitag 39 und später von Hugenberg, vernommen wurden. 1928 bekräftigte Hoetzsch in den USA, daß er sich bemühe, das Programm der Deutschnationalen „by peaceful constitutional and legal Cooperation in the Republic" durchzusetzen, und daß er beabsichtige, seinen am 17. Januar 1920 als Beamter auf die Reichsverfassung' geleisteten Eid „bis zum letzten" zu halten. 40 Am 6. Juni 1920 errang Hoetzsch im Wahlkreis Leipzig ein Mandat für den ersten Reichstag der Weimarer Republik; Hergt und Westarp hatten für ihn das erwähnte parteiinterne Vertrauensvotum abgegeben. In den beiden Wahlgängen des Jahres 1924 37 38

40

Hoetzsch, Deutschland als Grenzland - Deutschland als Reich, Marburg/L., 1925, S. 10. Vgl. Rüge, a. a. 0., S. 736. Vgl. J. Curtius, Die deutschnationale Volkspartci, ihre Zusammensetzung, Grundsätze, Taktik nach dem Berliner Parteitag vom 12. und 13. Juli 1919. In: Deutsche Stimmen, 1919, S. 708-717. Loringhoven verstieg sich zu Wendungen wie „die gottverfluchte, gottverdammte Republik". Hoetzsch, Germany's Domestic and Foreign Policies, S. 29. Eine Stellungnahme zum Volksentscheid über die Fürstenenteignung 1926 ist nicht überliefert.

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sowie bei der Wahl 1928 konnte sich Iloetzsch jeweils in Leipzig seinen Parlamentssitz bestätigen lassen. Zehn Jahre nahm er seinen Platz auf den Banken des Reichstages ein. An den außenpolitischen Debatten beteiligte er sich im Auftrag der Fraktion mit längeren Reden, besonders am 27. Juli 1920, 25. April 1921, 30. Mai 1922 16. April 1923, 22. März, 10. Juli und 23. November 1926, 22. März 1927, 30. Januar 1928, 6. März und 26. Juni 1930. Von 1920 bis zu seinem Parleiaustritl 1929 war er Mitglied und Schriftführer des Auswärtigen Ausschusses, in dem die DNVP anfangs mit drei, ab 1924 mit sieben und ab 1928 durch fünf Angehörige vertreten war. Die von ihm angefertigten offiziellen, inhaltsarmen Protokolle zeigen, daß er selbst bei den etwa 120 Sitzungen sehr häufig das Wort ergriff.41 Im Ausschuß hatte er die beste Gelegenheit, die Ansichten revolutionärer Arbeiterführer zu außenpolitischen Problemen zu hören. Im Auswärtigen Ausschuß arbeiteten anfangs Wilhelm Koenen und Paul Frölich, später Ernst Thälmann, Walter Stoecker, Philipp Dengel, Arthur Ewert und andere Abgeordnete der Kommunistischen Partei. Auch viele führende Politiker der anderen Parteien traten hier auf. In der ersten Legislaturperiode waren es u. a. Scheidemann und Bernstein von der Sozialdemokratischen Partei, Stresemann von seiner Deutschen Volkspartei, Spahn vom Zentrum, Haas von der Demokratischen Partei. Ab 1924 gehörten Müller, Scheidemann, Breitscheid Wels und Hilferding (SPD), Fehrenbach, Spahn, Wirth und Kaas (Zentrum), Hergt, Westarp, Tirpitz und Schiele (DNVP) zum Ausschuß. Die Außenminister Simons, Rathenau, Stresemann und Curtius gaben häufig Berichte und stellten sich zur Diskussion. Während seiner Zugehörigkeit zum Reichstag fungierte Hoetzsch als parlamentarischer Berichterstatter für den Haushalt des Auswärtigen Amtes, der sich 1925 aus 16,1 Millionen RM Einnahmen und 42,4 Mill. RM Ausgaben zusammensetzte und naturgemäß einer der kleinsten Ministerialpostcn im Staatsbudget war. Hoetzsch hatte in den Haushaltsaussprachen die finanziellen Ansprüche der sechs Hauptabteilungen, der angeschlossenen Sonderreferate und kleineren Unterabteilungen des Auswärtigen Amtes •sowie die Gehaltsansprüche seiner etwa 4 000 Beamten und Angestellten zu begründen und zu verteidigen. Es liegt auf der Hand, daß ihm diese Seite seiner Tätigkeit manchen Einblick in die Arbeitsweise des Auswärtigen Amtes und Einflußmöglichkeiten verschaffte. Spezielle Finanzwünsche einzelner Wissenschaftler, die sich gelegentlich an ihn wandten, überschritten seine Kompetenz.'*3 Als Reichstagsabgeordneter und Mitglied des Auswärtigen Ausschusses, als Angehöriger des Parteivorstandes der DNVP, langjähriger Gesprächs- und Briefpartner des Grafen Westarp und nicht zuletzt als Leser der Weltpresse war Otto Hoetzsch mehr als zehn Jahre der Weimarer Republik, von 1919 bis 1930, über alle wesentlichen außenpolitischen Fragen vorzüglich, vielfach sogar bis in die letzten Details, unterrichtet. Sein Ehrgeiz, eine politische Rolle zu spielen, war sehr groß und ließ ihn seine Einflußmöglichkeiten überschätzen. Zwar gelang es ihm, bedeutsamen Akteuren der deutschen Ostpolitik, besonders Ago von Maltzan und Brockdorff-Rantzau, seine Auffassungen mit Erfolg nahezubringen, aber Außenminister Stresemann, der im Interesse des deutschen Imperialismus die Locarnopolitik einleitete und 41

42

10

ZStAP, Reichstag, Nr. 1164-1169, Die Verhandlungen des ständigen Ausschusses für auswärtige Angelegenheilen, 1920-1930. ZStAP, Deutschnationale Volkspartei, Nr. 371, Bl. 110-R., Hoetzsch an Prof. Kaehler (Greifswald), 1. November 1927. Er bestätigte, mit Besoldungswünschen der Beamten überlaufen zu sein. Hoetzsch

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stets eine grundsätzlich antisowjetische Linie verfolgte, legte auf die angebotenen Dienste des Deutscianationalen Hoetzsch keinen sonderlichen Wert. Zum Kreis der parlamentarischen Aufgaben, die Hoetzsch wahrnahm, gehörte noch die Mitarbeit in der „Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft". Diese Organisation, deren Geschichte trotz reichen Quellengutes bisher noch nicht eingehend untersucht worden ist, war ein neuartiges Gebilde im deutschen Wissenschaftsbetrieb. Ihre Gründung im J a h r 1920 resultierte sowohl aus der allgemeinen schweren Notlage der Fachkräfte und Institutionen als auch aus dem Bestreben des Großkapitals, die Produktivkräfte der Wissenschaft rationell einzusetzen und sich dienstbar zu machen. Die Notgemeinschaft war die wichtigste staatsmonopolistische Organisation zur Lenkung der modernen Wissenschaft in Deutschland. Da sie über außerordentlich große Mittel verfügte, einen über das gesamte Reichsgebiet ausgedehnten, durchdacht aufgebauten Apparat besaß und in allen Zweigen der Natur- und Gesellschaftswissenschaften mitsprach, kam ihr eine weit höhere Bedeutung zu als der bereits 1911 gegründeten „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft". Die Notgemeinschaft förderte zahlreiche Großtaten der deutschen Wissenschaft, drosselte jedoch andererseits bestimmte Disziplinen. Ihr Präsident, der frühere preußische Kultusminister Schmidt-Ott, besaß als langjähriger Mitarbeiter Friedrich AlthofTs eine hervorragende Übersicht über die Gegebenheiten, Erfordernisse, internationalen Möglichkeiten und Zukunftsaussichten der deutschen Wissenschaft. SchmidtOtt legte auf gute Beziehungen zur sowjetischen Wissenschaft großen Wert und war in der UdSSR als Kooperationspartner sehr geschätzt. Seine Memoiren sprechen beredt von dem Einfluß, den er im deutschen Hochschulwesen, unter der Großbourgeoisie und auf Wissenschaftler von Weltruf ausübte/' 3 Da Schmidt-Ott 1913 dem ersten Präsidium der „Deutschen Gesellschaft zum Studium Rußlands" beitrat, 1920 ihr Präsident wurde und in vielen Fragen mit Hoetzsch übereinstimmte, ergab sich eine fruchtbare Zusammenarbeit. 44 Ihr Verhältnis wurde lange von der Gemeinsamkeit der Ziele und gegenseitiger Achtung getragen; erst 1931 stellten sich tiefere Unstimmigkeiten ein. Hoetzsch wurde 1920 als Vertreter des Reichstags in die Leitung der Notgemeinschaft berufen und war bis April 1922 auch Mitglied des Fachausschusses Geschichte, in dem er mit den Professoren Bresslau, Bailleu, Cichorius, v. Grauert, Mareks, Seeliger und Wilcken tätig war. 45 Er nahm an vielen Beratungen des Hauptausschusses teil und äußerte sich gewöhnlich zu Finanzfragen, die er im Reichstag zu lösen versprach. 46 Als zweiter Parlamentsvertreter besaß der Zentrumspolitiker Prälat Professor Georg Schreiber in der Leitung der Notgemeinschaft Sitz und Stimme. Ende 1929, nach einer Statutenänderung der Notgemeinschaft, berief schließlich der Reichsinnenminister Hoetzsch zum Mitglied des nur noch 15 Personen umfassenden 43 F. Schmidt-Ott, Erlebtes und Erstrebtes, Wiesbaden 1952. '''* „Er hat in sich ein Gefühl, ein instinktives Verständnis für die russische Welt. Das hat man oder man hat es nicht. Wer es nicht hat, der soll seine Hände von der Beschäftigung mit slavischen Dingen fernhalten." Hoetzsch, Friedrich Schmidt-Ott zum 70. Geburtstag. In: Osteuropa, 1929/1930, S. 677. /,r ' Vgl. die Berichte der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft über ihre Tätigkeit,

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Wittenberg, Nr. 1 (1923) bis Nr. 10 (1931). ZStAP, Reichsministerium des Innern, Nr. 26771, Bl. 60-62R., 64-70R., 209-228, 387 bis 405, 533-553, Protokolle der Hauptausschußsitzungen und Mitgliederversammlungen v o m 12. November 1927, 16. Februar 1929, 20. April 1929, 30. Oktober 1930, sämtlich mit Ausführungen von Hoetzsch.

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Hauptausschusses''7, an dessen Arbeit er sieh bis nachweisbar mindestens 1932 beteiligte. Hoetzsch ist folglich während der gesamten Existenz der Weimarer Republik im obersten Gremium der Notgemeinschaft beratend wirksam gewesen. Eine wichtige Quelle für das Ansehen, das Hoetzsch als Kenner der außenpolitischen Materie in seiner Partei genoß, und zugleich ein Hauptinstrument für seinen Einfluß auf politische, publizistische und wirtschaftliche Kreise blieben die Wochenkommentare in der „Neuen Preußischen Zeitung". Mit der gleichen Ausführlichkeit wie im Kriege verfolgte er die internationale Politik und untersuchte die Chancen der deutschen Diplomatie. Mit dem Chefredakteur Georg Foertsch und dem Grafen \Vestarp, der die innenpolitischen Umschauen schrieb, arbeitete er in einer losen Form zusammen, obgleich er beispielsweise 1923 an keiner einzigen Sitzung der Redaktion teilnahm/'8 Das Blatt war für einen begrenzten Kreis deutscher Gutsbesitzer, für Offiziere, Beamte, Angehörige der Intelligenz und Geistliche bestimmt. Es erreichte eine Auflage von etwa 60 000 Exemplaren. Aus den Reihen der DNVP wurde die Verbreitung der Zeitung vorsätzlich als sehr gering angegeben. Ein Redakteur, Eugen Schmahl, gab als Auflage ganze 3 000 bis 4 0 0 0 Exemplare an, andere Quellen nennen Ziffern bis maximal 7 000. In der Tat führten viele Straßenhändler das Blatt der Monarchisten und des Chauvinismus nicht mehr.'49 Nach seinem Ausscheiden aus der Kreuzzeitung 1924 gelang es Hoetzsch, im ScherlBlatt „Der Tag" publizistisch Fuß zu fassen. Die Zeitung wandte sich vorzugsweise an Intellektuelle und druckte des öfteren auch Grundsatzartikel von'Hergt, Hugenberg und anderen Führern der Partei ab. Hoetzsch veröffentlichte hier seine außenpolitischen Mittwochs-Übersichten noch, im Umfang verringert, bis zum Frühjahr 1928. Später, 1931, wurde „Der Tag" Parteiorgan der DNVP. Den Weg zur Aufhebung des Versailler Vertrages, das außenpolitische Hauptziel des deutschen Imperialismus, sah Hoetzsch in der Herbeiführung einer günstigen internationalen Mächtekonstellation, die einige bisherige Ententepartner, besonders England und Frankreich, untereinander verfeinden und andere wie die USA und Italien zu Neutralen machen werde, um so die Berliner Diplomatie in die Lage zu versetzen, den französischen Druck- abzuwenden und, gestützt auf ein einsatzbereites Heer und auf der Basis eines „reformierten" Kapitalismus sowie unter Duldung der Großmächte UdSSR und USA, die entscheidenden Artikel des Vertrages auf internationaler Ebene mit Erfolg anzufechten. Hoetzsch richtete sein Augenmerk auf die großen weltpolitischen Verschiebungen und beschäftigte sich erst in zweiter Linie mit Möglichkeiten für schneller wirksame Revisionsschritte. Es war ein Programm der allmählichen Kräftesammlung und glich insofern trotz wesentlicher Unterschiede der Strategie Stresemanns, der Hoetzsch auch gelegentlich für seine Arbeit im Völkerbund belobigte. 50

47

Vgl. Neunten Bericht der Notgemeinschaft, Wittenberg,

1930,

und ZSlAP,

Reichsmini-

sterium des Innern, Nr. 26773, Bl. 13, Protokoll über die 1929 bevorstehenden Neuwahlen zum Hauptausschuß; ebenda, Nr. 2 6 7 6 9 / 1 , Bl. 385, Hoetzsch an den Minister, 5. Dezember 1929. /,s

ZStAM, Rep. 92, Nachlaß Schmidt-Ou, A L X X 1 V (im folgenden slcls: Nachlaß SchmidtOtt), Bd. 1, Bl. 288, Hoetzsch an Schmidt-Ott, 24. J a n u a r 1924.

40 Vgl. dazu U. Döser, Das bolschewistische Rußland in der deutschen Rechtspresse bis 1925, Phil. Diss., (West-)Berlm 1961, S. 27. 50

10*

Schullhcß' Europäischer Geschichtskalender, 1928, S. 52.

1918

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Kapitel Vili

In den ersten Jahren der Weimarer Republik, als der außenpolitische Spielraum des deutschen Imperialismus noch gering war, hatte Hoetzsch der Gedanke an überregionale Blockbildungen nicht ferngelegen. Im Herbst 1919 setzte er sich für eine neue von Deutschland geleitete Kontinentalpolitik ein, die Österreich, Ungarn, Sowjetrußland mit Einschluß der Ukraine erfassen und ein gutes Verhältnis zur Tschechoslowakei, zu den baltischen Völkern und zu Finnland herstellen solle. Dies sei „der gegebene Block, 200 Millionen Menschen in Mittel- und Osteuropa, die sich gemeinsam orientieren können und müssen, in gemeinsamem Interesse, in gemeinsamer Gegnerschaft, in gemeinsamem Leiden." 51 Mittel und Wege wurden nur verschwommen angedeutet. Bemerkenswert war diese Episode wegen der unverhüllt ausgedrückten Drohung, Polen zu umklammern, und wegen der plötzlichen Verbeugungen vor der Tschechoslowakei. In anderen Artikeln der gleichen Zeit kritisierte Hoetzsch die in Deutschland zweifellos herrschende Unkenntnis der tschechischen Geschichte und Literatur, hielt den Staat, im Gegensatz zu Polen, für lebensfähig und stellte ihm als neuem europäischen Machtfaktor sogleich die Bedingung, sein Einverständnis mit dem „Anschluß" Österreichs an Deutschland zu erklären. 52 Die „sudetendeutschen" Irredentisten der damaligen Jahre beurteilte er intern sehr skeptisch, setzte sich aber in Ubereinstimmung mit seinem gegen das Versailler System gerichteten nationalistischen außenpolitischen Programm für ihre Stärkung ein. Nachdem Hoetzsch im April 1921 die CSR besucht hatte, berichtete der Gesandte Sanger nach Berlin, der deutschnationale Reichstagsabgeordnete und Historiker habe es nicht versäumt, „die Vertreter der deutschen Parteien sämtlicher Schattierungen zu sehen und zu sprechen; und er hat kein Hehl daraus gemacht, daß er von diesen Besprechungen einen bedrückend peinlichen Eindruck mitnehme. Die ganze Einstellung und Orientierung der deutsch-böhmischen Politiker sei rückwärts gebunden, sie operierten mit uralten, längst abgelebten Vorstellungen, wie wenn seit sieben Jahren nichts geschehen wäre." 03 Aus dieser Erkenntnis zog er jedoch nicht die einzig richtige Schlußfolgerung, auf jegliche Unterstützung der reaktionären Elemente in der CSR zu verzichten. Vielmehr gehörte er 1922 zu den Gründungsmitgliedern von Gesellschaften, die das weitere Vordringen des deutschen Imperialismus nach Südosteuropa förderten. Im Auftrag der DNVP beteiligte er sich, neben 14 Vertretern anderer revanchistischer Organisationen und Einzelpersonen, an der Gründung des „Sudetendeutschen Hilfsvereins", und mit Georg Bernhard von der Deutschen Demokratischen Partei und dem sozialdemokratischen Publizisten Hermann Wendel rief er eine „Deutsch-Südslawische Gesellschaft'' ins Loben.'1

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Hoetzsch, Weltpolitische Probleme des Ostens. In: Die neue Rundschau, 1919, S. 1050. Hoetzsch, Tschechoslowakei und Polen. In: Die neue Rundschau, 1920, S. 273-296; ähnlich auch NPrZ 23. 7. 1919, wo sieh der überraschende Schlußsatz findet: „Und vielleicht stellen heute die Arbeiter beider Nationalitäten die Brücke zu einer äußer- und innerpolitischen Verständigung her, die das Bürgertum der beiden Staaten in jahrzehntelangen Kämpfen nicht gefunden hat." Zit. nach G. Fuchs, Die sudetendeutsche Irredenta in der Revanchepolitik des deutschen Imperialismus (1919-1923). In: Jb. f. Gesch. der sozialistischen Länder Europas, Bd. 17/1, 1973, S. 49. Siehe E. Siebert, Die Rolle der Kultur- und Wissenschaftspolitik bei der Expansion des deutschen Imperialismus nach Bulgarien, Jugoslawien, Rumänien und Ungarn in den Jahren 1938-1944, Phil. Diss., Berlin 1971, Anhang, S. 2.

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Polen gegenüber machte Hoetzsch aus seiner nationalistischen Erbitterung und Feindschaft kein Hehl. 53 Er war ein Gegner der in Versailles festgelegten Grenzen des Staates und nannte sie, wieder ganz im neurankeanischen Sinne und um mit historischen Argumenten besser ihre Haltlosigkeit suggerieren zu können, eine Verkörperung der „jagiellonischen Reichsidee". In einer brutalen Rede, die er im März 1919 vor der preußischen Landesversammlung hielt, griff er die Verständigungspolitik Hellmut von Gerlachs an, forderte mit antibolschewistischen und antipolnischen Argumenten einen verstärkten „Grenzschutz Ost" und leistete sich die ungeheuerliche Geschichtsfälschung: „Keine Stadt in der Provinz Posen ist polnische Gründung, von Posen bis zum kleinsten Nest sind es deutsche Gründungen!" 50 Uber die historische Rechtmäßigkeit der polnischen Staatsgründung verlor Hoetzsch kein Wort. Stattdessen verkündete er, Polen werde bei der Einbeziehung litauischer, belorussischer, ukrainischer und deutscher Bevölkerungsteile nicht lebensfähig sein, so „daß dann viele, die in diesem Hause sitzen, eine neue Teilung Polens erleben werden." Die Ereignisse in Versailles hatten Hoetzsch begreiflich gemacht, daß Polen in absehbarer Zeit nicht zusammenbrechen werde. Er sah sich veranlaßt, Aufstandsversuche der deutschen Minderheit als aussichtslos zu bezeichnen (NPrZ, 2. 7. 1919) und zuzugeben, daß sich Polen konsolidieren und Anziehungskraft ausüben werde (NPrZ, 16. 7. 1919). Gemäß seinen Vorschlägen in der Denkschrift vom November 1918 unternahm er nunmehr einige konkrete Schritte, um eine flexiblere revanchistische Taktik aufzubauen. Von ihm stammte der parlamentarische Antrag, die verbliebenen westpreußischen Gebiete zur „Grenzmark Posen-Westpreußen" zusammenzufassen. 57 1920 gehörte er zu den Gründern der „Deutschen Stiftung", die aus einem interfraktionellen Ausschuß der preußischen Landesversammlung hervorging und sich rasch zu der zentralen Instanz entwickelte, die den deutschen Minderheiten in den osteuropäischen Staaten, besonders in Polen, auf den verschiedensten Kanälen und in größtmöglicher Höhe Subsidien zuleitete. Unter der Urkunde vom 28. September 1920 stehen die Namen der Abgeordneten Paul Fleischer, Richard Wende, Otto Eveling, Max Winkler und Hoetzsch; wenige Wochen später bestätigte der sozialdemokratische Innenminister Severing die Gründung dieses Organs.58 Hoetzsch hatte mit dieser Tat der polenfeindlichen Politik einen sehr wesentlichen Dienst geleistet. Einschränkend muß gesagt werden, daß aus dem umfangreichen Aktenbestand der „Deutschen Stiftung" bisher sehr wenige Zeugnisse bekannt wurden, aus denen sich eine aktive Teilnahme von Hoetzsch an dem konspirativen Treiben dieser gut getarnten Institution unter Leitung Krahmer-Möllenbergs erkennen ließe.59 55

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Vgl. J. PrQdki, Die Deutschnationale Volkspartei und ihr Verhältnis zu Polen zur Zeit der Weimarer Republik (1919-1933). In: Wiss. Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Univ. Jena, Ges. u. sprachwiss. Reihe, 1965, S. 329-331. Stenographische Rerichte der Preußischen Verfassungsgebenden Landesversammlung, Bd. 1, 25. 3. 1919, Sp. 659. Die Rede wurde auch als Separatdruck verbreitet. Hoetzsch, Wie Preußen jetzt regiert wird, Rerlin 1919, S. 25-26. ZStAM, Rep. 193 B, I, Nr. 14, Bl. 1-v., 3-4v., auch ZStAP, Deutsche Stiftung, Nr. 1064, Bl. 20, und Nr. 1069, Bl. 136. Vgl. F.-H. Gentzen, Zur Geschichtc des deutschen Revanchismus in der Periode der Weimarer Republik. In: Jb. f. Gesch. der UdSSR u. der volksdemokratischen Länder Europas, Bd. 4, 1960, S. 52. Die Vorgänge beziehen sich auf Hoetzschs Interesse an der „Auslandsurbeil" der Studenten.

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Kapitel VIII

In den späteren Jaln-cn der Weimarer Republik fand sich Hoetzsch zwar notgedrungen mit dem Bestehen eines unabhängigen polnischen Staates ab, beharrte aber auf den Gebietsansprüchen und der Forderung nach Minderheitenschutz, die sich in der Praxis des deutschen Imperialismus nicht als Interesse am Schicksal loyaler Staatsbürger, sondern als Hebel der Aggression erwies. 1928 gestand Hoetzsch Polen „absolut gesicherte Unabhängigkeit" zu und bezichtigte es gleichzeitig, im Gegensatz zu dem angeblich friedliebenden Deutschland ein Herd europäischer Unruhe zu sein. 00 Als Hoetzsch 1928 auf einer ausgedehnten Vortragsreise durch die USA unter anderem für die Revision der deutschen Ostgrenze geworben halte, verfaßte der polnische Historiker Marceli Handelsman eine scharfe Replik, die ihrerseits die gewaltsame Aneignung Westbelorußlands, der Westukraine und des Gebiets um Wilna rechtfertigte, aber besonders auf die zweifelhaften Methoden und die Ziele des Berliner Professors aufmerksam machte. 61 Handelsman prangerte die Versuche an, die Aufrüstung und Annexionspolitik des imperialistischen Deutschlands zu verdunkeln, stattdessen Polen zu verteufeln und mit der Drohung nicht lokalisierbarer Konflikte Zugeständnisse auf internationaler Ebene sowie das Eingreifen der USA in die europäischen Angelegenheiten zu erzwingen. Diese Elemente im Wirken des Deutschnationalen Hoetzsch entsprachen völlig der gegen Osteuropa gerichteten Politik des deutschen Imperialismus. Das gleiche trifft für seine mehrmals erhobene Forderung zu, die Republik Österreich bei günstiger Gelegenheit Deutschland „anzuschließen". Hoetzsch verlangte es 1919, 1921, 1922, 1923, 1926 und, soweit ersichtlich zum letzten Mal, 1927. Er nannte Österreich einen „unmöglichen Staat", der zwar seine Volkswirtschaft vorübergehend konsolidieren, aber nicht zur Basis dauernder Unabhängigkeit ausbauen könne. Hoetzsch war auch Mitglied eines „Österreich-Deutschen Volksbundes" und unterstützte, mindestens bis 1925, dessen Nachfolgeorganisation, die „Deutsch-Österreichische Arbeitsgemeinschaft", die sich unter Leitung eines Freiherrn von Branca auf die Minister Emminger, Severing und Becker sowie auf den unvermeidlichen Karl Christian von Loesch, den 1. Vorsitzenden des Deutschen Schutzbundes, berufen und selbst die Fürsprache von Roda Roda und Ricarda Huch vorweisen konnte. 02 1925 erhob Hoetzsch sogar den Ruf nach den verlorenen Kolonien, auf die Deutschland ein „sittliches Recht" habe. 03 Er erwartete eine baldige Revision des Mandatssystems und forderte, den Kampf gegen die in Versailles angeblich statuierte „koloniale Schuldlüge" aufzunehmen. Die Kernstücke seines größeren außenpolitischen Programms ergaben sich aus der Ansicht vom Fortwirken derjenigen geschichtlichen Widersprüche, die bereits seit Jahrhunderten oder mindestens mehreren Jahrzehnten den Gang der internationalen Politik beeinflußt hatten. Hoetzsch gehörte in methodologischer Hinsicht dem konservativen

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Hoetzsch, Die osteuropäischen Randstaaten im zehnten Jahre ihres Bestehens. In: Osteuropa, 1927/1928, II. 12, S. 832. M. Handelsman, Prof. Hoetzsch i jego dzialalnosc w Ameryce. In: PrzegL'jd Polilvczny. 1930, S. 13-18. J. Kozenski, Organizacje propagujace ide§ Anschlussu w Austrii i w Niemczcch w latacli 1918-1932. In: Przeglisd Zachodni, 1965, H. 5/6, S. 171, 178, mit Aktennachweisen. Hoetzsch, Bedarf Deutschland der Kolonien? In: Koloniale Rundschau, 1925, H. 2, S. 37 bis 42. Andere Forderungen aus der Feder von Hoetzsch nach neuem Kolonialbesitz sind uns nicht bekannt.

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Flügel der Neurankeaner an.6'1 Dies ergab sich schon aus seiner Betonung des Machtstaatsprinzips, der damit verbundenen Lehre vom Primat der Außenpolitik und seinem Unverständnis für das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung, ferner aus seinem Versuch, die „historischen" und „sittlichen" Werte des Preußentums zu beschwören, und aus der seinem gesamten Wirken immanenten Tendenz, die Volksmassen für die „gesamtstaatlichen", angeblich nationalen Ziele zu begeistern, wofür er auch liberalisierende Mittel nicht scheute. Die Kanonisierung Bismarcks gehört gleichfalls in diesen Rahmen. Hoetzsch, der sich der Wertschätzung des führenden Neurankeaners Max Lenz erfreute 65 , hat nicht allein häufig Ranke als „Meister der deutschen Geschichtsschreibung" und als „größten Geschichtsschreiber unseres Volkes" tituliert und dessen Werk „Die großen Mächte" neben Schriften von Heeren, Lenz und Heinrich Friedjung als Standardliteratur empfohlen, sondern er hat vor allem Rankes Lehre vom Staat als lebendem Organismus kritiklos übernommen. Immer wieder finden sich Sätze wie der folgende: „Wachsen und Abnehmen dieser Staaten, die sich anziehen und abstoßen und darüber immer stärker miteinander verwachsen, das ist der Inhalt der neueren Staatengeschichte Europas." 66 Für Hoetzsch waren die Staaten „Persönlichkeiten, die nach eigenen Gesetzen lebend, von einer eigenen Idee bestimmt" in friedlichen oder kriegerischen Verhältnissen zueinander existierten und so in wellenförmiger Bewegung das Weltstaatensystem bildeten. Den Klassencharakter des Staates hatte Hoetzsch sehr wohl praktisch begriffen und am fundamentalen Unterschied der sozialistischen UdSSR zu allen anderen Hauptmächten oft genug beobachten können, aber er hatte ihn theoretisch, in der Methodologie seiner Geschichts- und Gegenwartsanalysen und in seiner außenpolitischen Sichtweise, nicht verarbeitet und im eigentlichen Sinne also nicht verstanden. Der Staat der Neuzeit oder, wie er oft schrieb, die „Staatspersönlichkeit", blieb ihm der Sammelbegriff „ewiger" Charakterzüge, die er aus der Geschichte und nach dem Verfahren des geographischen Determinismus stark aus der räumlichen Lage ableitete, und deren Äußerungen in der Außenpolitik er nachspürte. Die Folgerungen lagen auf der Hand. Hoetzsch stellte die aus dem Versailler System resultierenden Konflikte in das Koordinatennetz einer weit zurückreichenden geschichtlichen Tradition und kam so zu dem Schluß, daß sich der Vertrag als bloße Episode erweisen werde und zwangsläufig zusammenbrechen müsse. Die französische Strategie sah er aus diesem Gesichtswinkel als „eine Neubelebung der Politik des 17. Jahrhunderts in noch größerem Stile, zu noch größerem Ruhme und zu noch größeren Vorteilen als damals". 67 Den Griff der französischen Imperialisten nach dem Ruhrgebiet nannte er sogar in völliger Verkennung geschichtlicher Parallelitäten und Gesetzmäßigkeiten eine Neuauflage der Reunionspolitik Ludwigs XIV. im Gewände des 20. Jahrhunderts! Indem Hoetzsch an den jahrhundertealten englisch-französischen Gegensatz erinnerte und die Worte des älteren Pitt anführte („Die einzige Gefahr, die England zu befürchten hat, entstellt an dem Tage, der Frankreich im Range einer großen See-, Handels- und Kolonialmacht sieht"), schien es nicht schwierig, ein Fiasko des Versailler Systems zu 64

H. Schleier, Die Ranke-Renaissance. In: Studien über die deutsche Geschichtswissenschaft, Bd. 2, a. a. 0., S. 99-135. 115 Schreiben von Prof. Friedrich Lenz (Bonn) an den Vf.. 29. 5. 1966. 66 Hoetzsch, Die weltpolitische Kräfteverteilung nach den Pariser Friedensschlüssen, 5. Auflage, 1930, S. 5. «' Ebenda, 2. Auflage, 1923, S. 15.

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prophezeien. Hoetzsch erwartete, daß England nach der Niederlage seines Hauptgegners Deutschland zu dessen Wiederaufrichtung zurückkehren und das Bündnis mit Frankreich aufgeben werde. Den Aktionsradius und die Aufgaben der deutschen Diplomatie maß er daher an gewissen Konstanten, die sich aus dem erwarteten Fortwirken der englischfranzösischen und englisch-russischen Gegensätze, aber ebenso aus der englandfreundlichen Haltung der USA und der „traditionellen" deutsch-russischen Freundschaft eiv geben könnten; sein Bekenntnis zur friedlichen Koexistenz zwischen Deutschland und der UdSSR besaß hierin eine Wurzel. Die Folgerungen reichten noch weiter. Indem Hoetzsch von dem konservativen Bild eines Weltstaatensystems mit sich erneuernden Haupttendenzen ausging und die Veränderungen im Klassencharakter der Staaten übersprang, konstruierte er auch die reaktionäre Theorie einer angeblichen Wesensgleichheit zwischen der zaristischen und der sowjetischen Außenpolitik. In seinen Wochen- und Monatsübersichten hat er diese bis heute sehr verbreitete Kontinuitätstheorie mehrmals strapaziert und behauptet, daß die UdSSR in ihren Beziehungen zu den europäischen Mächten und zu China angeblich die Ziele wieder aufnehme, die vor 1914 galten. Mit solchen Konstruktionen suchte Hoetzsch zugleich seine Thesen von der „Evolution" der UdSSR zu stützen. Andererseits veranlaßte ihn die neurankeanische Grundanschaung, sowohl das Paneuropa-Programm Coudenhoves als auch bestimmte neuere Varianten der MitteleuropaKonzeption zu verwerfen. In einer Polemik mit Hans Zehrer schrieb Hoetzsch 1930, daß man von dem vorhandenen Staatensystem auszugehen habe und nicht, wie es etwa in den Zeitschriften „Volk und Reich" oder „Nation und Staat" vor sich ging, „von einem Raumbild, das der Wunsch und die Konstruktion auf die Karte in Mitteleuropa zaubert, ohne irgendwie sagen zu können, wie sich das ohne eine vollständige Umwälzung des heutigen Staatensystems verwirklichen solle, und weiter, wie selbst in diesem Falle das möglich sein solle bei der Vielfalt von Volkstümern, die dafür in Frage kommen, ihrer schon gegebenen eigenen sozialen Struktur und Selbständigkeit, Geistesart und dgl."68 Dieser Absage an die aggressiven Pläne nationalistischer „Volkstums"ideologen ließ Hoetzsch zum gleichen Zeitpunkt, da seine eigene politische Karriere zu Ende ging, eine herbe Kritik an dem führenden Paneuropa-Politiker folgen, in der es hieß: „Mit .abendländischer Schicksalsgemeinschaft auf Grund des Antibolschewismus', mit der z. B. Graf Coudenhove für seinen Paneuropaplan arbeitet, wird nach meiner Uberzeugung nichts für Möglichkeiten deutscher Außenpolitik gewonnen, im Gegenteil diese nur zu unserem Nachteil erschwert."® Großes Gewicht maß Hoetzsch dem Eingreifen der USA in die politischen Angelegenheiten Europas bei. Diese Erwartung war eine Konstante seines außenpolitischen Bildes. Hoetzsch, der 1904 ein Buch über die neuere Geschichte der Vereinigten Staaten geschrieben und das Land 1907 als Austauschprofessor bereist hatte, erblickte nach den Erfahrungen des Weltkrieges in den USA die immer mehr hervortretende führende imperialistische Macht. Da sie den Versailler Vertrag nicht unterschrieben und den Eintritt in den Völkerbund abgelehnt hatten, sah Hoetzsch in einem eventuellen europäischen Engagement der USA eine vielversprechende Möglichkeit, die Entente der euro-

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Hoetzsch, Ist deutsche Außenpolitik möglich? In: Zeitschrift für Geopolitik, 1930, H. 7, S. 527. Ebenda, S. 530.

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päischen Westmächte zu sprengen. Die H a l t u n g der Deutschnationalen zu den USA gewann großes politisches Gewicht, als 1924 die neue Reparationsregelung herannahte u n d klar wurde, daß der Dawesplan im Reichstag n u r mit einer größeren Anzahl deutschnationaler Stimmen angenommen werden könnte. Die Ansichten in der Partei u n d in der Fraktion waren sehr unterschiedlich. Mit den Phrasen von der „ausländischen Schuldherrschaft" u n d d e m über Deutschland verhängten „ f r e m d e n Zwangs regime" hatte die D N V P bei den Reichstagswahlen im F r ü h j a h r 1924, die ihr 96 Mandate eintrugen, den Dawesplan als ein „zweites Versailles" erbittert b e k ä m p f t . Andererseits strebten die bestimmenden K r ä f t e in der Partei, die Vertreter der Monopolbourgeoisie u n d der Großgrundbesitzer, nach den Erschütterungen ihrer Klassenherrschaft in den J a h r e n der revolutionären Nachkriegskrise n u n m e h r einen Ausgleich ihrer Gegensätze mit den anderen imperialistischen Mächten an. u m verstärkt a m Kampf gegen die UdSSR teilnehmen zu können u n d Kräfte gegen das revolutionäre Proletariat im Innern zu sammeln. Große Teile der herrschenden Klasse u n d viele ihrer Vertreter in der D N V P waren daher f ü r die A n n a h m e des Dawesplans, der ihnen Dollaranleihen, eine Modernisierung der Produktionsbetriebe u n d über eine verstärkte Aufrüstung den Weg zu neuer Machtpolitik verhieß. Hoetzsch stimmte im Reichstag ebenfalls f ü r die A n n a h m e des Plans, weil nach seiner Auffassung durch die damit eingeleitete Politik der Reparationskampf aus dem von Frankreich beherrschten politischen Sektor auf die wirtschaftliche Ebene verlagert, sogar entschärft, werde. 7 0 Zwei Teige vor der entsdleidenden Abstimm u n g hatte er noch Seeckt konsultiert u n d mit dem Chef der- Reichswehr politisch übereingestimmt. 7 1 Seine Begründung war zwar teilweise zutreffend u n d machte sich mit der späteren R ä u m u n g des Ruhrgebietes bezahlt, verschleierte aber auch geschickt die wahren Absichten des Dawesplans, die in einem rücksichtslosen Ausverkauf der deutschen Wirtschaft, in der forcierten Aufrüstung u n d einer rigorosen wirtschaftlichen Belastung der arbeitenden Klassen bestanden. Diesen Zielen stimmte der Deutschnationale Hoetzsch trotz gewisser Vorbehalte entweder zu oder er setzte sich über die Bedenken hinweg. Die Ja-Stimme, die Hoetzsch in der entscheidenden Reichstagsabstimmung v o m 29. August 1924 abgab, wurde schließlich der Anlaß, u m sein Arbeitsverhältnis mit der Kreuzzeitung zu lösen. Westarp u n d die Redaktion der Zeitung hatten den Dawesplan b e k ä m p f t , so daß ein Grund f ü r die Vertragsaufkündigung gegeben war. Die Redaktion bescheinigte ihm nach seinem Ausscheiden, d a ß er „in manchen Fragen eine andere Auffassung hatte, als sie die ,Kreuz-Zeitung' selbst vertrat" (NPrZ, 22. 10. 1924). Diese Umschreibung galt seiner realistischen Haltung gegenüber der UdSSR. 1923 hatte er den sozialistischen Staat z u m ersten Mal besucht u n d begann sich von dessen Aufbauerfolgen ein Bild zu machen, das der antisowjetischen Grundhaltung der f ü h r e n d e n Deutschnationalen u n d der Kreuzzeitung, die ständig viele extrem antibolschewistische Korrespondentenberichte u n d Aufsätze veröffentlichte, nicht entsprach. Nachfolger von Hoetzsch als außenpolitischer K o m m e n t a t o r wurde - bezeichnend f ü r die allgemeine Rechtsentwicklung der D N V P in der Weimarer Republik - ein Dr. Schultz-Ewerth, der letzte kaiserliche Gouverneur auf Samoa. In dieser Situation war es die Ortsgruppe der Deutschnationalen in seinem Wahlkreis Leipzig, die Hoetzsch z u m Ausscheiden aus

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Hoetzsch, Die Deutschnationalen und das Dawes-Gutachten. Reichstagsrede, Berlin 1924. II. v. Seeckt, Aus seinem Leben, 1918-1936, hg. v. F. v. Rabenau, Bd. 2, Leipzig 1940 S. 405.

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dem Reichstag aufforderte. Schon vorher war Graf Seidlitz, einer der einflußreichsten schlesischen Konservativen, gegen ihn aufgetreten. 72 Sehr deutlich glaubte Hoetzsch seine Erwartung eines amerikanischen Eingreifens bestätigt zu sehen, als er 1928 im „Institute of Politics", Williamstown (Mass.), Gastvorlesungen über die deutsche Außenpolitik hielt und anschließend auf der Route Washington-Chicago-Seattle-Los Angeles-San Diego (mit Abstecher nach Mexiko) Arizona-Colorado-Missouri-Ohio-St. Louis-Cincinatti-New York zahlreiche weitere Vorträge absolvierte.73 In Williamstown traf er auf einen Kreis von etwa 400 Diplomaten, Wissenschaftlern, Journalisten und Industriellen, die sich hier jährlich zu einem vierwöchigen postgraduate-Kurs versammelten und bei starker Anteilnahme der Presse mit ausländischen Gästen aktuelle außen- und innenpolitische Probleme diskutierten. Hoetzsch hob in einem internen Bericht hervor, daß das „Institute of Politics" eine „vortreffliche Einbruchstelle des deutschen Einflusses" sei und daß er den deutschen Standpunkt in der Räumungsfrage und „die Unmöglichkeit der deutschen Ostgrenze" besonders pointiert behandelt habe. Hoetzsch wurde von Präsident Coolidge empfangen und führte mit Senator Borah und dem Bankier Owen D. Young längere Gespräche. Sein allgemeiner Eindruck war, daß die meisten Kursus-Teilnehmer und viele weitere Persönlichkeiten, mit denen er zusammengetroffen war, von der Weltführungsrolle der USA überzeugt seien und die Aufgabe der isolationistischen Außenpolitik befürworteten. Hoetzsch sprach sich für ein möglichst intensives Auftreten deutscher bürgerlicher Politiker in den USA aus.' 4 Die Hoffnung auf eine verstärkte Teilnahme der USA an den politischen Vorgängen in Europa und speziell im Völkerbund erwies sich im Grunde als irrig. Hoetzsch hatte den Isolationismus, mit dem sich die USA die Hände frei halten wollten, um nach Erschöpfung der anderen Mächte ihnen Bedingungen diktieren zu können, offenbar nicht durchschaut. Gerade am Ende der zwanziger und zu Beginn der dreißiger Jahre hatten die Isolationisten durch große Kampagnen, die den Kriegseintritt 1917 und seine Folgen als Verlustgeschäft hinstellten, in der amerikanischen Außenpolitik eindeutig die Oberhand gewonnen. Die Locarnopolitik und die mit ihr verbundenen Probleme, besonders die Haltung Deutschlands zum Völkerbund, nahmen im außenpolitischen Denken des Berliner Professors wie der Deutschnationalen überhaupt einen wichtigen Platz ein. Im Gegensatz zu der reaktionären Parteiführung und ihren demagogischen Behauptungen, auf ein gutes Verhältnis zur UdSSR großen Wert zu legen, war Otto Hoetzsch, der den Pakt mit den nationalistischen Argumenten der Deutschnationalen gleichfalls ablehnte, doch zugleich als einer der wichtigsten Träger und Ausgestalter der Rapallopolitik ernsthaft besorgt um die Zukunft der deutsch-sowjetischen Beziehungen. Die marxistische Geschichtswissenschaft hat sich sowohl mit dem imperialistischen Charakter des Locarnopaktes, dessen Abschluß einen wichtigen Schritt bei der VorTi

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Hertzman, a. a. O., S. 227, Schreiben von Brauer an Heydebrnnd, 10. 9. 1924; Liebe, a. a. O., S. 75, Seidlilz an Westarp, 14. 4. 1924. ZStAM, Rep. 76, Va, Sekt, 2, Tit. IV, Nr. 55, Bd. VIII, Bl. 62-115, Bericht von Hoetzsch über seine Teilnahme am Institute of Politics im August 1928. Reiseberichte erschienen in der DAZ vom 4., 5., 12. und 15. 1. 1929. Seine Vorträge erschienen als Buch in New Häven 1929. Vor ihm waren Harry Graf Kessler, die Professoren Bonn, Jäckli und MendelssohnBartholdy sowie Minister Reinhold in Williamstown gewesen.

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bereitung eines neuen antisowjetischen Krieges darstellte, als auch mit der Opposition, die verschiedene Teile der deutschen Bourgeoisie dem Vertragswerk leisteten, eingehend befaßt. 70 Der aus mehreren multilateralen und zweiseitigen Abkommen bestehende Pakt wurde zwischen Großbritannien, Frankreich, Italien, Belgien. Polen, der Tschechoslowakei und Deutschland nach langwierigen Vorbereitungen auf der Konferenz vom 5. bis 16. Oktober 1925 ausgehandelt und am 1. Dezember 1925 in London unterzeichnet. Er setzte die mit dem Dawesplan eingeleitete Sammlung der imperialistischen Mächte fort, indem er die 1919 festgelegten deutschen Westgrenzen im Rheinpakt nochmals bestätigte, durch England und Italien international garantierte und dadurch die Kräfte des rasch erstarkenden deutschen Imperialismus nach Osten, gegen die UdSSR, lenkte. Die Schiedsabkommen zwischen Deutschland einerseits und Polen sowie der Tschechoslowakei andererseits, die zum Vertragssystem von Locarno gehörten, enthielten bekanntlich keine Grenzgarantien und stempelten dadurch die deutschen Ostgrenzen, deren gewaltsame oder „friedliche" Revision von den Revanchisten der Weimarer Republik mit allen verfügbaren Mitteln angestrebt wurde, zu Grenzen zweiter Ordnung. Der Locarnopakt wies neben seinem allgemeinen gegen die UdSSR gerichteten Charakter noch einen spezifischen antisowjetischen Zug auf. Seine Inkraftsetzung war an die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund geknüpft, dessen Satzung jedoch in Art. 16 jedes Mitglied verpflichtete, an gemeinsam beschlossenen Aktionen des Völkerbunds gegen andere Staaten teilzunehmen. Die Reichsregierung, der mehrere deutschnationale Minister angehörten, hatte bereits vor Konferenzbeginn versucht, für Deutschland eine Sonderregelung zum Art. 16 zu erreichen. Auf der Sitzung der Locarnokonferenz am 8. Oktober 1925 wurde in aller Offenheit darüber debattiert, daß Deutschland auf Grund dieser Bestimmung sowohl an einem Krieg gegen die UdSSR als auch an wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen teilnehmen müsse.76 Unter dem Zwang, die in der deutschen Bevölkerung und besonders unter der Arbeiterklasse stark verwurzelte Sympathie zu dem sozialistischen Land ständig berücksichtigen zu müssen und im Bemühen, erträgliche Beziehungen zur UdSSR als Trumpfkarte in den diplomatischen Auseinandersetzungen mit den Westmächten zu verwenden, versuchte Stresemann auch während der Konferenz, die Bindung an den umstrittenen Artikel der Völkerbundsatzung zu umgehen. Schließlich wagten es auch die anderen kapitalistischen Mächte nicht, eine völlige Wiederbewaffnung Deutschlands zu sanktionieren und es bereits offen in die Antisowjetfront einzubeziehen. In einer Anlage F zum Locarnopakt konzedierten die sechs Staaten dem deutschen Imperialismus, er solle an Kollektivmaßnahmen des Völkerbunds, die sich nach allgemeiner stillschweigender Ubereinkunft nur gegen die UdSSR zu richten hätten, in einem Maße teilnehmen, „das mit seiner militärischen Lage verträglich ist und das seiner geographischen Lage Rechnung trägt.'" 7 7;

' Locarno-Konferenz 1925. Eine Dokumentensammlung, hg. v. Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1962; A. Anderle, Die deutsche Rapallo-Politik. Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922-1929, Berlin 1962, Kap. IV; W. Rüge, Zur chauvinistischen Propaganda gegen den Versailler Vertrag 1919 bis 1929. In: Jahrbuch für Geschichte, Bd. 1, 1967, S. 65-106; A. S. Jerussalimski, Der deutsche Imperialismus. Geschichte und Gegenwart, Berlin 1968, S. 374-418; K. Dichtl/W. Rüge, Zu den Auseinandersetzungen innerhalb der Reichsregierung über den Locarnopakt 1925. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 1974, S. 64-88. 7li Siehe Locarno-Konferenz 1925, S. 162-172. 77 Ebenda, S. 215.

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Die sowjetische Diplomatie hatte den wahren, hinter großem pazifistischen Aufwand verborgenen Charakter der Locarnopolitik zeitig erkannt. Bereits im Dezember 1924, während der ersten Vorbereitungen für den späteren Garantiepakt, schlug die UdSSR, der deutschen Regierung vor, einen Vertrag über gegenseitige Neutralität abzuschließen. Stresemann zögerte sowohl die Antwort auf diesen Vorschlag als auch die Übermittlung eigener Angebote vorsätzlich hinaus. Am 2. Juni 1925 überreichte der sowjetische Botschafter in Berlin ein Memorandum der Regierung der UdSSR, das mit größter Deutlichkeit vor der freiwilligen vertraglichen Bindung Deutschlands an die Ententemächte warnte, die Unvereinbarkeit der Rapallopolitik mit der geplanten Orientierung Deutschlands auf die Westmächte beim Namen nannte sowie schließlich die weitere Ausgestaltung des in Rapallo eingeleiteten Kurses anregte. „Dieser Vertrag stellte das Gegenstück zu den von der Entente gewaltsam aufgezwungenen Diktatverträgen, darunter zu dem Vertrag von Versailles dar. Dieser Vertrag dient nach wie vor als Vorbild für freiwillige friedliche Abkommen zur Sicherung normaler freundschaftlicher Beziehungen zwischen den vertragschließenden Teilen." 78 Am 30. September 1925 traf der Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten, G. V. Cicerin, in Berlin ein und erkundigte sich bei der Reichsregierung nochmals dringlich, ob sie mit der UdSSR ein politisches und wirtschaftliches Abkommen auf der Basis des Rapallovertrages schließen wolle oder nicht. Die deutsche Regierung hielt es jedoch weiterhin für angebracht, bis zum Abschluß der Verträge mit den Westmächten jede Festlegung gegenüber der UdSSR zu vermeiden. Aus nationalistischen Erwägungen gehörten die Deutschnationalen zu den Gegnern des Locarnopaktes und lehnten im Reichstag die Vorlagen bekanntlich ab, obwohl sie bei ihrer Vorbereitung, wie Hoetzsch formulierte, „so weit wie möglich" mitgearbeitet hatten und sich nach dem Abschluß der Verträge mit den Worten des gleichen Kommentators sehr schnell entschlossen, „aus der neuen Lage für unser Deutschland herauszuholen, was herauszuholen ist.'"'J Die DNVP unterstützte das Wesen der Locarnopolitik, das in der Vorbereitung eines neuen Krieges bestand, bekämpfte aber das taktische Vorgehen der deutschen Diplomatie und hielt die Zugeständnisse an die Westmächte für zu weitgehend. Ihre chauvinistische Fehlbeurteilung des europäischen Kräfteverhältnisses verleitete die Partei der Monopolbourgeoisie und der Großgrundbesitzer, die baldige Inszenierung militärischer Uberfälle für möglich zu halten, um Elsaß-Lothringen und die an Polen abgetretenen Ostgebiete zurückzugewinnen. Die Deutschnationalen lehnten daher clie im Rheinpakt enthaltene Bestätigung des territorialen Status quo als „Verrat an den deutschen Lebensinteressen" ab und setzten durch ihre laute Opposition, wie es der Funktion ultrareaktionärer Kräfte im Imperialismus entspricht, die Regierung in die Lage, bei den Verhandlungen auf eine „unnachgiebige Volksmeinung" zu verweisen und Konzessionen zu erpressen. Gerade in dieser Hinsicht waren die Deutschnationalen mit den Ergebnissen der Locarnokonferenz unzufrieden. Hoetzsch forderte geradeheraus, das in Art. 2 des Rheinpakts ausgesprochene Prinzip des Gewaltverzichts durch die Iclee der Grenzrevision mit friedlichen Mitteln zu ergänzen, die im Vertragstext hätte klar ausgedrückt und als Möglichkeit fixiert werden müssen I80 Die Urteile, die Hoetzsch zu den Vorverhandlungen und zur Konferenz abgab, waren 78 79 80

Ebenda, zit. nach S. 95. Der Tag, 2. Dezember 1925. Ebenda, 25. November 1925.

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vielfällig und differenziert. Als Wortführer und Praktiker der Rapallopolitik befürchtete er eine antisowjetische Bindung Deutschlands an die Westmächte und lehnte sie ab. Zugleich betrachtete er die taktischen Resultate der in Locarno geführten Auseinandersetzung des deutschen Imperialismus mit seinen Verhandlungsgegnern als unzureichend und sympathisierte endlich mit einzelnen Elementen der Locarnopolitik, besonders dem Eintritt Deutschlands in den Völkerbund. 1925 begann die Zusammenarbeit von Hoetzsch als faktischem Leiter der Gesellschaft zum Studium Osteuropas mit der Wissenschaft der UdSSR bereits feste Formen anzunehmen. Im September 1925 war eine Delegation führender deutscher Wissenschaftler in die UdSSR gereist, um hier an den repräsentativen Feierlichkeiten zum 200jährigen Bestehen der Akademie der Wissenschaften teilzunehmen. Der Leiter der Delegation, Schmidt-Ott, besprach mit führenden Persönlichkeiten der UdSSR den wissenschaftlichen und kulturellen Austausch und unterrichtete Hoetzsch nach seiner Rückkehr sogleich über alle Möglichkeiten. In der Festigung dieser Zusammenarbeit erblickte Hoetzsch seinen persönlichen Beitrag zur Ausgestaltung der Rapallopolitik. In den Kommentaren zum Locarnopakt widmete er daher den Auseinandersetzungen um Art. 16 der Völkerbundsatzung großen Raum und verlangte dessen international gültige Ablehnung. Er machte darauf aufmerksam, daß das Schreiben der sechs Mächte über die für Deutschland modifizierte Gültigkeit des Artikels ungenügend sei, da nur der Völkerbund selbst eine rechtskräftige Interpretation geben könne. Mit scharfem Akzent richtete er an die Adresse des Berliner Kabinetts die mahnenden und kritischen Worte: „Hat die deutsche Regierung eine Vorstellung, auf welch scharfe Probe sie das Verhältnis zu Rußland gestellt hat und stellt? Ist sie sicher und kann sie sicher sein, daß sie durch den Anschluß an Locarno und Genf nicht jener hinter allem bleibenden englischen Tendenz erliegt? Jedenfalls: Wer heute den Anschluß Deutschlands an Locarno fordert, muß sich klar sein, daß mit den Sätzen Stresemanns und den platonischen Versicherungen des Reichskanzlers zur russischen Frage allein nichts gesagt ist, daß Locarno und Rapallo zusammen, wenn wir die Schlagwörter so brauchen, eine Außenpolitik und Diplomatie Deutschlands voraussetzen und erfordern von einer Geschicklichkeit und Sicherheit und Entschlußfähigkeit, wie wir sie in den letzten dreieinhalb Jahrzehnten gerade nicht erlebt haben." 81 Hoetzsch beobachtete sehr genau, wie die sowjetische Außenpolitik in das internationale Geschehen eingriff, „um sich vor drohender Isolierung und Einkreisung zu schützen." Anfang Dezember 1925, als die Locarnoverträge von der Mehrheit des Reichstags angenommen worden waren, mahnte er nochmals: „Man sei sich doch darüber klar: So wie die Dinge heute liegen, nach Locarno und gegenüber einer so offenkundigen Tendenz der russischen Außenpolitik genügt die Feststellung schlechterdings nicht mehr, Deutschland liege zwischen Ost und W e s t . . . Die Annahme des Locarno-Vertrages schließt vielmehr sehr bestimmte praktische Konsequenzen, Entschlüsse nach Osten hin, logisch, sachlich und politisch ein, und zwar zwangsläufig. Sonst kommt Deutschland wieder einmal in einer weltpolitischen Entwicklung - zu spät!" 82 Mit den „praktischen Konsequenzen" und „Entschlüssen" war der Rechts- und Wirtschaftsvertrag zwischen Deutschland und der UdSSR vom 12. Oktober 1925 gemeint, dessen parlamentarische Behandlung am 1. Dezember begann und der von der DNVP befürwortet wurde83, aber ebenso die

81 82 83

Ebenda, 11. November 1925. Ebenda, 9. Dezember 1925. Vgl. Anderle, a. a. 0., S. 161-167.

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diplomatischen Vorbereitungen für den Abschluß des späteren Berliner Vertrages vom 24. April 1926, über die Hoetzsch intern unterrichtet war. Es war ihm bekannt, daß die UdSSR am 18. Juli und am 21. November 1925 der Berliner Regierung Vertragsvorschläge unterbreitet hatte, deren eingehender Beratung Stresemann trotz weiteren Zögerns nicht mehr ausweichen konnte. Am 22. Dezember 1925 weilte der sowjetische Volkskommissar Cicerin wiederum beim Reichsaußenminister und bestand auf dem Abschluß eines Neutralitätsvertrages. Kurze Zeit später übersandte das Auswärtige Amt zwei Protokollentwürfe für einen Vertrag nach Moskau. Die Kommentare, die Hoetzsch in der Presse veröffentlichte, unterstützten diesen Prozeß. Neben der Sorge um die Zukunft der Rapallopolitik, die Hoetzsch öffentlich in seinen Presseberichten ausdrückte, waren es wiederum die allmählichen Veränderungen des internationalen Kräfteverhältnisses und die chauvinistischen Losungen der Deutschnationalen, die sein schillerndes Urteil über Locarno bestimmten. Er wiederholte ausgiebig die Formel von einer in den Verhandlungen und den Texten angeblich fehlenden „Gleichberechtigung" Deutschlands, womit die reaktionären bürgerlichen Parteien gewöhnlich die internationale Sanktion für eine verstärkte Aufrüstungspolitik umschrieben, er forderte mehrmals das imperialistische „Recht auf Revision mit friedlichen Mitteln1' und bezeichnete endlich die Festlegungen über die weitere Räumung des Ruhrgebiels durch Frankreich als völlig ungenügend. Die Auswirkungen der Locarnokonferenz auf das internationale Kräfteverhältnis sah Hoetzsch vor allem in der rasch fortschreitenden Auflösung der englisch-französischen Entente. 1925 und 1926 verfolgte er alle Anzeichen, die auf verstärkte Spannungen zwischen den beiden Staaten hinwiesen. In England, dessen Premierminister Austen Chamberlain auf der Konferenz eine dominierende Rolle gespielt und seinem Land die Rolle eines Schiedsrichters der zentraleuropäischen Angelegenheiten erworben hatte, sah Hoetzsch mit Recht den Hauptgewinner der neuen imperialistischen Politik. Er stellte die Ergebnisse der Konferenz in den Rahmen der antisowjetischen Politik Englands, zog Vergleiche mit dem englisch-russischen Gegensatz der Vorkriegszeit und kam zu dem Schluß, daß es London gelungen sei, über eine diplomatische Demütigung Frankreichs und eine vermeintliche „Befriedung" Europas die Hände für die Probleme seines Weltreiches freizubekommen, um dann, als strategisches Fernziel, die Auseinandersetzung mit der UdSSR vorzubereiten. Die nächste Aufgabe der britischen Politik sei es, „erst einmal die Ernte des Weltkrieges für das ganze Weltreich, die zum Teil noch auf dem Halm steht, bedroht von mancherlei Gefahren, in die Scheunen zu bringen. Riesige Aufgaben warten ja da: Mossul und Irak, Aegypten, indische Selbstverwaltung, Zolleinigung und dergleichen mehr. Das ist, was drängt; erst dahinter, für später, am weiteren Horizont, steht der englisch-russische'Gegensatz.Diese Deutung der internationalen Situation machte auf die Langfristigkeit der britischen Einkreisungspolitik gegenüber der UdSSR aufmerksam, unterschätzte aber andererseits die Versuche des britischen Imperialismus, möglichst rasch, wie durch die Einmischung in China, eine internationale Front gegen die UdSSR zu errichten und außerdem direkte Provokationen anzuzetteln. Tatsächlich ging bereits Mitte 1926 die englische Regierung, die an der Spitze des Kampfes gegen die UdSSR stand, durch die Veröffentlichung eines verleumderischen -„Blaubuchs" zu einem verschärften Antisowjetismus über. Im Mai 1927 kam es zu dem Uberfall auf die Handelsvertretung der UdSSR und die Räume 84

Der Tag, 25. November 1925.

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d 51

der englisch-sowjetischen Handelsgesellschaft ARCOS in London, der schließlich zu einer ernsten Bedrohung des Weltfriedens führte. Mit Befriedigung registrierte Hoetzsch 1926, daß England großes Interesse am Eintritt Deutschlands in den Völkerbund gehabt habe, um der französischen Hegemonie auf dem Kontinent ein Paroli bieten zu können und um so - die Nachgiebigkeit von Lloyd George während der Konferenz in Versailles wieder auszugleichen. Später bemerkte er, daß die Politik des konservativen Kabinetts Austen Chamberlain, sich freie Hand in der Welt zu sichern und Frankreich dafür die Suprematie in Europa zu überlassen, 1927/1928 zu einer scharfen Spannung mit den USA geführt habe und sich im Zerfall befinde. Hoetzsch erwog, daß ein englisch-amerikanischer Gegensatz in der Flottenfrage Frankreich Einfluß auf die britische Außenpolitik garantiere, wie es bei den Rüstungsvereinbarungen zwischen Chamberlain und Briand 1928 bereits der Fall war, daß jedoch andererseits eine englisch-amerikanische Entente den Vertrag von 1904 endgültig auflösen müsse, der für England längst keinen Sinn mehr habe. Von der Kleinen Entente versprach er sich die Herausbildung eines neuen Kraftzentrums, zu der es aber nur im Falle einer veränderten italienischen Balkanpolitik kommen werde. Hoetzsch rechnete sehr mit der Festigung dieses neuen Vertragssystems, das sich sowohl gegen die Restauration der Habsburger als auch gegen Frankreich und Italien richte. Die gleiche Tendenz zu Selbstständigkeit und Unabhängigkeit vom Einfluß der Großmächte beobachtete er in der islamischen Welt, in der sich der britische Kolonialimperialismus immer mehr gezwungen sehe, „allgemach zur Rüste zu gehen". Hoetzsch kam zu dem Schluß, daß die deutsche Diplomatie diese großen Verschiebungen im internationalen Kräfteverhältnis, die er bereits während des Krieges sorgfältig studiert hatte, gemeinsam mit dem Eingreifen der USA in die europäischen Konflikte und mit dem steten Machtzuwachs der UdSSR als Basis eines weltweiten außenpolitischen Programms ansehen müsse.85 Im Völkerbund sah Hoetzsch eine geeignete Ebene, auf der sich die Veränderungen im internationalen Kräfteverhältnis ausnutzen ließen.80 Nachdem er vor 1925 entsprechend der deutschnationalen Politik den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund abgelehnt und ihn verächtlich „eine Art Clearinghouse für kleinere Konflikte" genannt hatte, stellte er sich nach den Locarno-Verträgen „auf den Boden der Tatsachen". Stresemann nutzte sogleich die spezifische Stellung, die Hoetzsch in der DNVP einnahm, im Jahr 1926 zu einem geschickten Manöyer aus. Kurz vor der Abreise der deutschen Delegation nach Genf, wo die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund bevorstand, forderte er den ehemaligen Parteivorsitzenden Hergt auf, Hoetzsch an der Reise nach Genf teilnehmen zu lassen. Mit Breitscheid (SPD), Graf Bernstorff (DDP) und Prälat Kaas (Zentrum) sollte er sich nach dem Eintritt in den Völkerbund an den Kommissionsarbeiten beteiligen. Hoetzsch hatte sich, im Gegensatz zur deutschnationalen Parteiführung, für die aktive Mitarbeit Deutschlands im Völkerbund ausgesprochen und war bereit, mit Stresemann zu reisen, worin ihn auch der Politische Beauftragte der Partei, Gottfried R. Treviranus, unterstützte. Die Führung der DNVP befand sich durch Stresemanns Angebot in einem Dilemma. Eine 85 86

Hoetzsch, Die weltpolitische Kräfteverteilung, a. a. 0., 1930, S. 54. Ders., Deutschland im Völkerbund. In: Europäische Revue, 1926/1927, S. 142-151; ders., Der Gedanke des Völkerbundes als einer zwischenstaatlichen Organisation und seine Fassung durch Versailles. In: Zehn Jahre Versailles (1919-1929), Berlin 1929, Bd. 2, S. 63-78; ders., Soll Deutschland kündigen? In: Europäische Gespräche, 1931, H. 2, S. 72-82.

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Versammlung der Vertrauensleute am 25. August 1926 entschied schließlich, daß kein deutschnationaler Abgeordneter den Außenminister begleiten solle.87 Hoetzsch war ein übriges Mal in der Partei desavouiert. Neue innerparteiliche Angriffe zog er sich durch eine Reichstagsrede vom 23. November 1926 zu, die von den alldeutschen und völkischen Elementen als zu gemäßigt und als Einverständnis mit Stresemanns Außenpolitik aufgefaßt wurde. Der Landesgeschäftsführer der Deutschnationalen in Thüringen, Fleischhauer, griff im Namen des völkischen Flügels Hoetzsch in einem Denunziationsschreiben an Westarp mit aller Schärfe an, als er erklärte: „Die Einstellung von Prof. Hoetzsch ist blutmäßig von der unseren so verschieden, daß jedes Auftreten von Hoetzsch für uns schon einen Schlag ins Gesicht bedeutet." 88 Zahlreiche andere Kräfte des ultrareaktionären rassistischen Flügels verlangten von Westarp, die Wahl Hoetzschs als außenpolitischer Sprecher der Fraktion im Reichstag öffentlich zu bedauern. Westarp stellte sich jedoch vor Hoetzsch und lehnte die Angriffe, die sogar eine neue Parteikrise heraufzubeschwören drohten, ab. Diese Rückendeckung erleichterte es Hoetzsch, künftig an den Arbeiten des Völkerbunds teilzunehmen. 1927 und 1930 reiste er als Vertreter der DNVP bzw. der Volkskonservativen in den Schweizer Konferenzort. Weitere Gelegenheiten, an der Tätigkeit des Völkerbundes teilzunehmen, ergaben sich für Hoetzsch aus der Zugehörigkeit zur „Deutschen Kommission für geistige Zusammenarbeit", die viele repräsentative Vertreter der deutschen Wissenschaft vereinte.89 In ihrem Auftrag fuhr Hoetzsch mehrfach zu den Tagungen der übergeordneten „Internationalen Kommission für geistige Zusammenarbeit" nach Genf. Seine Artikel, die sich mit dem Völkerbund beschäftigten, zeigten eine Mischung pazifistischer Einflüsse und machtpolitischer Erwägungen. Da Hoetzsch die vorläufige Aussichtslosigkeit kriegerischer Gewaltmaßnahmen im System der deutschen Außenpolitik begriffen hatte, nahm er an, mit Hilfe des Völkerbundes Deutschland eine längere Friedensspanne sichern zu können. In dieser Zeit sollte das Netz der europäischen Schiedsverträge ausgebaut und ein wirksamer Mechanismus zur tatsächlichen Beilegung von Streitigkeiten geschaffen werden, um die bei einer günstigen internationalen Situation herangereifte Chance für die Revision des Versailler Vertrages um so sicherer wahrnehmen zu können. Unter dem gleichen Gesichtspunkt forderte er die deutschen Außenpolitiker mehrfach auf, sich für den Eintritt der USA und der UdSSR in den Völkerbund zu verwenden, du beide Mächte die Kopplung von Völkerbundsakte und Versailler Vertrag nicht billigen und somit nach seiner Ansicht das deutsche Revisionsstreben unterstützen würden. Er begrüßte den Briand-Kellogg-Pakt, weil er die USA nach Europa ziehe und neue Möglichkeiten für die Verhinderung von Konflikten eröffne. 1931 kritisierte er die deutschen Diplomaten, die nach seiner Ansicht nicht genug getan hätten, um die Ziele Deutschlands im Völkerbund zu erreichen; nicht einmal die theoretische Vorbereitung auf den „Hauptkampf" um den Artikel 19 der Völkerbundssatzung, der die Revisionsmöglichkeit behandelte, sei eingeleitet worden. Obgleich 87

88 ss)

M. Dörr, Die Deutschnationale Volkspartei 1925 bis 1928, Phil. Diss., Marburg/L. 1964 S. 209-211. Ebenda, S. 258. Morsbach, Die Deutsche Kommission für geistige Zusammenarbeit. In: Hochschule und Ausland, 1932, H. 7/8, S. 1-14.

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Hoetzsch die sowjetischen Abrüstungsvorschläge mit großer Aufmerksamkeit zur Kenntnis nahm 90 , wog in seiner widersprüchlichen Einstellung zum Völkerbund doch die Absicht vor, die deutsche Aufrüstung vom Bund sanktionieren zu lassen und darüber, falls erforderlich, die Liga zu sprengen. Während der Weimarer Republik unternahm Hoetzsch große Anstrengungen, um seine Lehre von den „weltpolitischen" Kräfteverschiebungen zu popularisieren und die organisatorische Basis für das Studium dieser Fragen zu festigen. Von 1920 bis zum Wintersemester 1932/1933 war er mit geringen Unterbrechungen Dozent an der Deutschen Hochschule für Politik, an der er außenpolitische Themen wie „Das osteuropäische Problem" (1920/1921), „Weltpolitik im Osten zwischen 1856 bis 1914" (1922/1923), „Das europäische Weltstaatensystem und die große Politik von 1871 bis 1925" (1925/ 1926) und „Grundzüge der Kriegsschuldfrage" (1929/1930) behandelte. 91 Die anfangs neben ihm als Dozenten für „Ostfragen" genannten Rohrbach, Sering, Stählin, Wiedenfeld, Ullmann, Axel Schmidt und Breckner überließen Hoetzsch bald das Terrain, lediglich Georg Cleinow trat weiter mit Parallelvorlesungen auf. 1922/1923 gehörte Hoetzsch zum zwölfköpfigen Vorstand der Hochschule und ab 1927 zum „Kollegium", einem der drei leitenden Gremien. Spezielle Vortragsreisen führten ihn im Auftrag der Hochschule nach Magdeburg, Goslar, Hildesheim und anderen deutschen Städten. 1926 beteiligte er sich mit Scliultze-Gaevernitz, Cleinow, Theodor Heuss und anderen Angehörigen des Lehrkörpers an einem Jugendseminar, das 600 ausgesuchte Berliner Schüler erfaßte. Einige Semester hindurch, zuletzt 1926, war Hoetzsch ferner an der Berliner Handelshochschule als Dozent eingesetzt. Seine Hörer waren zu je einem Drittel Söhne von Beamten, von „Handel- und Gewerbetreibenden", also Fabrikdirektoren oder Handwerkern, und von Angehörigen verschiedener anderer Berufsschichten wie Bauern oder Angestellten aus der Industrie. 92 Als 1923 das Auswärtige Amt mit der „Deutschen Hochschule für Politik" ein Abkommen über die Ausbildung seiner Anwärter zum konsularischen und diplomatischen Dienst schloß, trat Hoetzsch sogleich an die Spitze der fälligen neuen Kurse, die 1925 anliefen. Bis 1932/1933 vermittelte er dem diplomatischen Nachwuchs Deutschlands Elementarkenntnisse über die internationalen Beziehungen und leitete in den Räumen des Auswärtigen Amtes entsprechende Kurse. Neben ihm waren etwa 20 bis 30 weitere Lehrkräfte, Professoren und Diplomaten, an der Ausbildung beteiligt. Die zahllosen öffentlichen Vorträge, die Hoetzsch während der Weimarer Republik hielt, waren meist, wie die folgende Auswahlliste zeigt, außenpolitischen Themen ge99

'J1

92

11

Die Veröffentlichung von 24 sowjetischen Dokumenten in: Die Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken und die Genfer Abrüstungskonferenz. Amtliche Dokumente der Sowjetregierung, 2 Teile, Berlin/Königsberg 1928, dürfte auf Hoetzschs Initiative zurückzuführen sein, da er eng mit dem Osteuropa-Verlag zusammenarbeitete. M. M. Litvinovs Erklärung vor der Vorbereitenden Kommission der Abrüstungskonferenz am 19. 4. 1929 in: Abrüstung und Sicherheit (Dokumente zur Weltpolitik der Nachkriegszeit, hg. v. O. Hoetzsch u. W. Bertram, H. 2) Berlin/Leipzig 1932, S. 45-48. Zahlreiche Angaben zur Struktur dieser politischen Ausbildungsstätte und zur Tätigkeit der Dozenten finden sich in den ab 1920/1921 herausgegebenen Vorlesungsverzeichnissen der Hochschule. H. Schilar, Die Handels-Hochschule (Wirtschaftshochschule) Berlin und ihre Bedeutung als Instrument des deutschen Imperialismus. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Ges.- und sprachwiss. Reihe, 1961, H. 2/3, S. 323-346. Hoetzsch

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widmet: Referat über die Lage in Polen (Berliner Gruppe des Ostmarken-Vereins, Februar 1920); Der nahe und ferne Osten und die Außenpolitik Deutschlands (Universität Münster, November 1920); Die augenblickliche Lage des Deutschtums in den Randstaaten (Verein deutscher Studenten Berlin, Februar 1922); Das Ostproblem (Außenpolitische Woche der deutschen Presse mit Teilnahme von 70 Redakteuren, Goslar, Mai 1922); von der „Reichszentrale für Heimatdienst" organisierte Vorträge in Stolp, Köslin und Danzig (Februar 1925); Das Beamtentum in Rußland (Vierte Schulungswoche des Reichspostministeriums, Oktober 1925); Die Staatsgewalt im Sowjetsystem (Frankfurt/M., Mai 1927); Vortrag im Arbeitsring ostdeutscher Studentenverbände (Sommer 1927); Teilnahme an einer Schulungswoche der Deutschnationalen Studentenschaft über Ostpolitik (Spandau, Oktober/November 1927); Nationalpolitik und Völkerbund (Zentralstelle für studentische Völkerbundsarbeit in Berlin, Juni 1928); Sechs Rundfunkvorträge über „Die großen Mächte der Gegenwart" (Deutsche Welle, Mai 1931)93; Vortrag über die UdSSR (Arbeitsgemeinschaft „Hochschule und höhere Schule", Oppeln, Januar 1933)94. Der Kreis seiner Verpflichtungen erweiterte sich noch mehr, als er 1927 vom Kultusministerium beauftragt wurde, an der Berliner Universität das neue Fach „Außenpolitik und internationale Beziehungen" zu vertreten. Seitdem hielt er regelmäßig für Hörer aller Fakultäten Vorlesungen über „Das weltpolitische Verständnis der Gegenwart"; nach seinen eigenen Worten verwandte er dafür die Methode, die ihm seinerzeit Karl Lamprecht vermittelt hatte 90 . Er baute ein eigenes „Seminar für auswärtige Politik" auf, das neben dem Hamburger „Institut für auswärtige Politik" (Prof. MendelssohnBartholdy) und dem Frankfurter „Außenpolitischen Seminar" (Prof. Koebner) zu den wenigen Pflegestätten der neuen bürgerlich-politologischen Disziplin in Deutschland zählte. Hoetzsch ließ in seinem Seminar, das anfangs etwa 50 und 1932 94 Mitglieder hatte, wichtige politische Dokumente wie etwa den Londoner Flottenvertrag von 1930 interpretieren oder Halbmonatsberichte über die internationale Lage vortragen. Seit 1922 war er außerdem Lehrer an der Berliner Verwaltungs-Akademie, einige Jahre auch an der Handelshochschule. Wahl- und Vortragsreisen führten ihn immer wieder quer durch Deutschland, mehrfach nach England, auch in die Schweiz, nach Dänemark, Frankreich, Italien, Spanien, Portugal und 1928 in die Vereinigten Staaten. Seine Audienz im Vatikan läßt sich zwar zeitlich nicht mehr genau festlegen, fand aber sehr wahrscheinlich gegen Ende der zwanziger Jahre statt.90 Mit akademischen Kollegen, Parteiangehörigen, mit Politikern der Rechten, mit Diplomaten und ausländischen Gästen 93

Eine Stichprobe über das erste Halbjahr 1931 hat ergeben, daß in den Programmen der deutschen Rundfunkstationen eine erstaunlich hohe Zahl von Sendungen zu osteuropäischen Themen verzeichnet sind. Von den 30 Sendern wurden, besonders in der Deutschen Welle, ca. 110 derartige Sendungen ausgestrahlt. Von den Experten der Wissenschaft findet man die Namen lianisch, Spahn, Volz, Laubert, Rohrbach, Richthofen, N. v. Bubnoff, Boehm, A. Haushofer, E. Seraphim und Auhagen. 94 Zu den 600 Hörern des Vortrages gehörten Angehörige der Reichswehr, der Schutzpolizei und verschiedener Behörden sowie Mitglieder des Philologen-Verbandes und viele Schüler. Die weiteren Redner des Kurses waren die Professoren Tschermak, Winter (Prag), Recke (Danzig), Laubert und Pant. 93 Hoetzsch, Außenpolitische Bildungsarbeit an den Universitäten Nordamerikas und Deutschlands. In: Zeitschrift für französischen und englischen Unterricht, 1931, S. 203. !)C ' Kirche und Leben. Bistumsblatt Münster, 1955, H. 39, S. 2.

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pflegte Hoetzsch einen regen gesellschaftlichen Umgang. Während seine Besuche im stockreaktionären „ J u n i - K l u b " sich auf das J a h r 1 9 1 9 beschränkten 97 , darf mit Sicherheit angenommen werden, daß er im „Außenpolitischen

Komitee"

der

„Deutschen

Gesellschaft von 1 9 1 4 " , einem Mittelding zwischen wissenschaftlicher Forschungsgemeinschaft und klubartigem Debattierkreis, ständig anwesend war. 98 Dieses Komitee war dem Auswärtigen Amt in loser Form als eine Art „brains trust" angegliedert und vereinte auf seinen Abenden in einem Gebäude der Neustädtischen Kirchstraße einen nach außen abgeschirmten Kreis von etwa 5 0 bis 1 0 0 Diplomaten, Beamten, Professoren, Militärs, Kaufleuten und Bankiers. F ü r osteuropäische Fragen bestand hier immer großes Interesse, Vortragende aus dem Ausland waren hochwillkommen. 1927 war er auf Druck seiner Partei auch in das Präsidium der im allgemeinen pazifistischen „Deutschen Liga für Völkerbund" gewählt worden. Hoetzsch besaß neben seiner eigenen Lehrarbeit an der Universität, der VerwaltungsAkademie, der Hochschule für Politik, der Handelshochschule und dem Auswärtigen Amt außerdem Einblick in die Vortragskurse des Reichswehrministeriums, und zwar in der Berliner Zentrale und in den Garnisonen, und der „Reichszentrale für Heimatdienst", die ebenfalls dem Auswärtigen Amt angeschlossen war. 09 Damit übte er eine außerordentliche Breitenwirkung aus, die von keinem anderen politisch tätigen Historiker der Weimarer Republik erreicht wurde. Die private Lebenssphäre von Hoetzsch bot weitere Möglichkeiten. Sein Haus in der Bendlerstraße, günstig am Tiergarten und in der Nähe des Regierungsviertels gelegen, sah viele Träger bekannter Namen. E s sei erwähnt, daß er selbst auf dem Höhepunkt der Inflation, wie stets bei solchen Anlässen von seiner Frau unterstützt, für Hindenburg und einen Kreis geladener Gäste einen Empfang geben konnte. 100 1929 hielt er in seiner Wohnung etwa zwanzig von ihm bestimmten Persönlichkeiten aus dem Wirtschaftsleben einen vertraulichen Vortrag über die UdSSR. 1 0 1 Weite internationale Beziehungen kamen ihm zustatten. Hoetzsch war Korrespondierendes Mitglied der „School of Slavonic Studies" in London und traf bei verschiedenen

97

H.-J. Schwierskott, Arthur Moeller van den Bruck und die Anfänge des Jungkonservativismus in der Weimarer Republik. Eine Studie über Geschichte und Ideologie des revolutionären Nationalismus, Phil. Diss. Tübingen 1960, S. 101; K. v. Klemperer, Konservative Bewegungen. Zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München/Wien 1962, S. 120. Zu den damaligen Besuchern des Klubs gehörten auch die Professoren Troeltsch, Oppenheimer, Hermann Schumacher, Spahn und Freytagh-Loringhoven, die Konservativen Ilergt und Westarp, die Demokraten Georg Bernhard und Mahrholz, Brüning vom Zentrum und Rechtssozialdemokraten wie August Müller und Baumeister.

98

H. Weidmüller, Die Berliner Gesellschaft während der Weimarer Republik, Phil. Diss. (West-)Berlin 1956, S. 38-40. Die Arbeit bietet einen interessanten Uberbb'ck über die politischen Klubs, literarischen Salons und privaten Zirkel der Hauptstadt. Sie enthält viele Details über das Leben der high society Berlins. Ihr wertender Teil ist dürftig. Hoetzsch, Außenpolitische Bildungsarbeit, S. 203. M. v. Bunsen, Zeitgenossen, die ich erlebte. 1900-1930. Leipzig 1932, S. 204. - Cornelie Hoetzsch entstammte einer Bankiersfamilie; die Heirat hatte 1911 stattgefunden. Geraume Zeit, besonders in der Weimarer Republik und während des Zweiten Weltkrieges, war sie im Deutschen Roten Kreuz tätig. Mehrere Quellen bestätigen ihre Umgangs- und Konversationstalente. ZStAP, Nachlaß Dirksen, Bd. 5, Bl. 194-R., Hoelxsdi an Dirksen, 12. November 1929.

99 100

11*

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Gelegenheiten mit dem englischen Historiker Arnold Joseph Toynbee zusammen, der seit 1925 das „Royal Institute of International Relations" leitete, Berater des Foreign Office und Herausgeber des „Survey of International Affairs" war. Auch mit Alfred Zimmern, der in Oxford eine Professur für internationale Beziehungen innehatte und in Genf die „School of International Studies" leitete, arbeitete Hoetzsch zusammen. Mehrfach gehörte er zu dem Lehrkörper dieser Genfer Institution. 102 In den USA waren es besonders die „Foreign Policy Association", der Herausgeber des „Political Handbook of the World", Mallory, und der führende Osteuropahistoriker Samuel Harper, in Frankreich die Pariser „École des sciences politiques", mit denen Hoetzsch ständigen Kontakt unterhielt. Es gelang ihm, in Deutschland 1928 die interessierten Institutionen zu einer losen Gruppe zusammenzufassen, die sich den Namen „Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten" gab und an der „Deutschen Hochschule für Politik" untergebracht wurde. Es war selbstverständlich, daß Hoetzsch zum Leiter dieser politologischen Arbeitsgemeinschaft bestimmt wurde. Als Sekretär wählte er sich den jungen Diplomaten HansBerndt von Haeften, der später neben Helmuth Graf von Moltke einer der Führer des berühmten Kreisauer Kreises und ein Opfer des 20. Juli wurde ; Hoetzsch und Haeften arbeiteten mehrere Jahre zusammen. Der Ausschuß bildete mit den genannten ausländischen Institutionen ein Forschungs- und Debattier„kartell", das sich „International Studies Conference" nannte. Es stand unter den Auspizien des Völkerbundes und führte Jahrestagungen durch, zunächst 1928 in Berlin, dann in London, Paris, Kopenhagen und Mailand. Das „Kartell" nahm die Herausgabe verschiedener Handbücher und Lexika in Angriff und pflegte einen regen Erfahrungsaustausch, inwiefern sich das Studium der internationalen Politik als Hochschulfach durchsetzen lasse. An den Diskussionen nahmen auch Abgesandte der „Akademie für internationales Recht" in Haag, vom „Büro für internationale Studien" in Genf, vom „Institute of Pacific Relations" in Honolulu, von der Pariser „Commission de coordination des hautes études internationales de France" und anderer Zentren teil.103 Hoetzsch resümierte mehrfach, daß das Studium der Außenpolitik in Deutschland sehr zurückgeblieben sei. Er beabsichtigte, die zeitgeschichtliche Lehre und speziell die „Auslandskunde" im deutschen Hochschulwesen zu reformieren und sie zu wirksameren Werkzeugen im Bildungsmechanismus des deutschen Bürgertums zu machen. Er verlangte, die Nationenwissenschaft, die „Grenzlandwissenschaft" und das Studium der Außenpolitik systematisch zu selbständigen Hochschulfächern zu entwickeln, an allen Universitäten Lehraufträge für Vorlesungen über außenpolitische Themen zu vergeben und die dazugehörigen Seminare gut zu fundieren. Es war ein Lehr- und Bildungsprogramm, das den imperialistischen Staat „als einen lebendigen und nach eigenen Gesetzen und Ideen lebenden Organismus, mit all seinen Lebenswirkungen und Lebensausstrahlungen" in den Mittelpunkt rückte. Mit ihm ergänzte Hoetzsch seine Konzeption von den langsam wirkenden weltpolitischen Kräfteverschiebungen, für die der Nachwuchs der herrschenden Klassen beizeiten gerüstet sein sollte. 102

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1929 bildete Hoetzsch mit den Professoren Coupland (Oxford) und Eisenmann (Paris) den Lehrkörper der Abteilung Geschichte; unter den Ökonomen befand sich Keynes, unter den „Politologen" Jäckh. Hoetzsch, Internationale Zusammenarbeit im wissenschaftlichen Studium der internationalen Beziehungen. In: Inter Nationes, 1931, H. 3, S. 61-65; Private Aufzeichnung von Dr. Wilhelm Bertram, dem Nachfolger Haeftens, angefertigt 1947, dem Vf. zur Verfügung gestellt.

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Besonders in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre lebte Hoetzsch, wie sein Mitarbeiter Leo Loewenson treffend festgestellt hat104, ruhelos zwischen zahllosen politischen und akademischen Engagements - auf Kosten der eigenen wissenschaftlichen Leistung. Größtes Interesse brachte er der Innen- und Außenpolitik der UdSSR und den deutschsowjetischen Beziehungen entgegen. Dies war sein eigentliches Spezialgebiet, dem er sich immer wieder voller Leidenschaft zuwandte. 105 104

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L. Loewenson, Otto Hoetzsch. A Note. In: The Slavonic and East European Review, 1951/1952, Nr. 75,' S. 550. Ossietzky bemerkte 1928 sogar, daß unter allen deutschen Parteien und bürgerlichen Politikern nur Otto Hoetzsch eine umfassende Konzeption aller „Ostfragen" besitze; vgl. R. Kopiin, Carl von Ossietzky als politischer Publizist, (West-)Rerlin, Frankfurt/M., 1964, S. 145.

KAPITEL IX

Otto Hoetzsch und die UdSSR. Standpunkte, Tätigkeiten, Fortschritte

(1918-1930)

An der Mehrzahl der 23 deutschen Universitäten war während der Weimarer Republik eine Beschäftigung mit osteuropäischen Fragen, besonders mit Geschichte und Gegenwart der UdSSR, nicht möglich. Die Voraussetzungen für ein Studium der Slawistik waren nur in Berlin, Breslau, Königsberg, Leipzig und München gegeben. Osteuropäische Geschichte wurde lediglich in Berlin (Karl Stählin, Hoetzsch), Bonn (Leopold Karl Goetz, bis 1931), Hamburg (Richard Salomon1) und Leipzig (Friedrich Braun, ab 1926) gelehrt. Hinzu kam noch ein Ordinariat für „russische Volkswirtschaft" in Königsberg (Wilhelm Preyer). Die entsprechenden Literaturbestände an den Seminaren und Lehrstühlen waren allgemein gering und ließen viele Wünsche offen. Diese Situation an den Universitäten waren nicht auf ein peinliches Versehen der verantwortlichen Behörden zurückzuführen, sondern resultierte aus einer langwährenden nationalistischen Unterschätzung der slawischen Völker und war unter imperialistischen Bedingungen zudem ein Ziel der reaktionären deutschen Universitäts- und Wissenschaftspolitik. Die Leiter des Hochschulwesens und die bestimmenden politischen Kräfte an den Universitäten waren nach wie vor nicht daran interessiert, unter den Studenten und dem wissenschaftlichen Nachwuchs größere Kenntnisse über die UdSSR und die slawischen Nachbarvölker Deutschlands zu verbreiten, die Achtung vor den Leistungen dieser Nationen zu fördern oder zur Korrektur des germanozentrischen Geschichtsbewußtseins beizutragen. 2 Die wenigen Schritte, die der Staatsapparat zur Förderung der imperialistischen Rußlandkunde und „Sowjetforschung" einleitete, erfolgten aus anderen Motiven. 3 Die politische Entmachtung der Ausbeuterklassen in Rußland, der komplizierte, aber erfolgreiche beginnende Aufbau einer neuen sozialistischen Gesellschaftsordnung und die starke Ausstrahlungskraft der sowjetischen Friedenspolitik riefen unter den werktätigen Massen Deutschlands größte Anteilnahme und Bewunderung hervor/* Die freundschaftlichen, 1

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F. T. Epstein, Hamburg und Osteuropa. Zum Gedächtnis von Professor Richard Salomon (1884-1966). In: Jahrbücher f. Gesch. Osteuropas, Bd. 15, 1967, S. 59-98. Zur Einordnung der Osteuropahistoriographie in die größeren Zusammenhänge der Disziplin vgl. H. Schleier, Die bürgerliche deutsche Geschichtsschreibung der Weimarer Republik, Berlin 1975.2 Vgl. G. Voigt, Aufgaben und Funktion der Osteuropa-Studien in der Weimarer Republik. In: Studien über die deutsche Geschichtswissenschaft a. a. 0.. Bd. 2, S. 369-399. Die Oktoberrevolution und Deutschland. Bd. 1 des Protokolls der Wissenschaftlichen Tagung in Leipzig vom 25. bis 30. November 1957, Berlin 1958; Archivalische Forschungen zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, hg. v. d. Forschungsgemeinschaft „Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung", Ltg. L. Stern, Bd. 4: Die Auswirkungen der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution auf Deutschland, 4 Teile, Berlin 1959.

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vom proletarischen Internationalismus geprägten Beziehungen der deutschen Arbeiterklasse zum Sowjetstaat waren ein Faktor, der von den Regierungen der imperialistischen Weimarer Republik bei allen wesentlichen politischen Maßnahmen und Überlegungen berücksichtigt werden mußte. Die antikommunistische Beeinflussung und Aktivierung der Massen im Klasseninteresse des deutschen Imperialismus gewann daher große Bedeutung und wurde von zahllosen Propagandainstitutionen, Verbänden und Presseorganen vorgenommen. Das erforderliche Minimum an Informationen und Analysen über die UdSSR, die eine wissenschaftliche Aufbereitung des Stoffes voraussetzten, wurde vorwiegend von wenigen Spezialinstituten bereitgestellt, die außerhalb des eigentlichen Universitätsbereiches, aber in einer gewissen Verbindung mit dem Lehrkörper der Hochschulen installiert worden waren und während der Weimarer Republik die Unterstützung verschiedener Ministerien sowie Industriellenorganisationen genossen. Es handelte sich in erster Linie um das wichtige Osteuropa-Institut in Breslau und das Institut für ostdeutsche Wirtschaft in Königsberg. Das „Russische wissenschaftliche Institut", das 1923 in Berlin entstand, und das „Ukrainische wissenschaftliche Institut", das 1926 seine Tätigkeit aufnahm, hatten die Aufgabe, aktive Elemente aus den Reihen der antisowjetischen Emigration zu sammeln und waren für die Zwecke der „Öffentlichkeitsarbeit" erst in zweiter Linie zu verwenden. Antisozialismus und Slawenfeindlichkeit hatten bereits im wilhelminischen Staat das Gesicht der reaktionären deutschen Ostforschung weitgehend bestimmt, wie das Auftreten ihres damals wichtigsten Repräsentanten Theodor Schiemann deutlich zeigte. Beide Komponenten machten sich in der Weimarer Republik, jedoch mit erheblich größerer politisch mobilisierender Wirkung, als Grundmotive der bürgerlichen Osteuropakunde geltend. An zentraler Stelle stand die Beschäftigung mit dem „Fall Rot". Zahlreiche Publikationen behandelten beispielsweise die Ursachen der Oktoberrevolution. Ihre Autoren griffen einzelne Seiten aus dem historischen Prozeß heraus und stellten sie als letztlich entscheidend dar, wobei sie die Rolle der bolschewistischen Partei generell verschwiegen oder entstellten. Als derartige Momente erschienen das „Versagen" der nikolaitischen Agrar- und Wirtschaftspolitik 5 , die Schwäche der orthodoxen Kirche und der „religiösen Kultur" 6 oder die Korruption im zaristischen Staatsapparat 7 . Auch der angebliche Voluntarismus und die „Dämonie" Lenins fehlten nicht.8 Die in der gegenwärtigen „Kommunismusforschung" vorherrschenden soziologisch-historischen Theorien, etwa von der ausschlaggebenden Rolle der Intelligenz im vorrevolutionären Rußland, wurden in der Weimarer Republik erst selten vertreten. 0

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C. v. Dietze, Stolypinsche Agrarreform und Feldgemeinschaft, Leipzig/Berlin 1920. F. Haase, Russische Kirche und Sozialismus, Leipzig/Berlin 1922; N. v. Bubnoff, Kultur und Geschichte im russischen Denken der Gegenwart, Berlin/Breslau 1927. S. Gogel, Die Ursachen der russischen Revolution vom Jahre 1917, Berlin 1926, wie die vorherigen Titel Publikation des Osteuropa-Instituts zu Breslau. K. Wiedenfcld, Lenin und sein Werk, München 1923; H.-J. Seraphim, Lenin. In: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4. Aufl., Erg.bd., Jena 1929, S. 678-685. Vgl. H.-J. Seraphim, Geistige und ökonomische Grundlagen des Bolschewismus. In: Schmollers Jahrbuch f. Gesetzgebung, Verwaltung u. Volkswirtschaft im Deutschen Reiche, 1928, S. 25-60; F. Braun, Uber die russische „Intelligenz". In: Kultur- und Universalgeschichte. Festschrift für W. Goetz, Leipzig/Berlin 1927. Beide betrachteten die Intelligenz als dehnbare „Gesinnungsgemeinschaft".

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Kapitel I X

Zum desorientierenden Geschichtsbild gesellte sich die Verzerrung der sowjetischen Zeitgeschichte. Die Beweggründe waren sehr verschiedenartig. Sie reichten v o m Unverständnis des bürgerlichen Autors für die historischen Aufgaben der revolutionären Arbeiterbewegung 1 0 über die Absicht, glaubwürdige „ E r k l ä r u n g e n " für die Stabilität und Kontinuität der U d S S R zu finden 1 1 bis zur vorsätzlich haßerfüllten Diffamierung. 1 2 Besondere Angriffspunkte waren der Charakter der Staatsmacht in der U d S S R , die führende Rolle der K P d S U sowie die Errichtung der sozialistischen Ordnung mit ihren Erfolgen und Problemen. Charakteristische Methoden wurden angewandt, die sich seitdem im Repertoire der imperialistischen „Sowjetforschung" gehalten h a b e n : Die Diktatur des Proletariats wurde in die Herrschaft einer angeblich neu entstandenen „ K l a s s e " von Partei- und Wirtschaftsfunktionären umgefälscht, tatsächliche Schwierigkeiten zum Wesen des Sozialismus erklärt, Informationen über sehr verschiedenartige Dinge zum „ B e w e i s " vorgefaßter Thesen geordnet. Die reale Gefahr, in der sich das Herrschaftssystem der deutschen Großbourgeoisie durch die Anziehungskraft des sozialistischen Aufbaus in der U d S S R und durch den proletarischen Internationalismus befand, verwandelte sich bei den Ideologen der „Sowjetforschung", entsprechend dem allgemeinen Funktionsmechanismus der Ideologie im Imperialismus, in eine Bedrohung „Deutschlands" schlechthin. Sie wurde im MarxismusLeninismus 1 3 , in der wachsenden wirtschaftlichen Stabilität der U d S S R 1 4 oder in der sozialistischen Erneuerung kultureller und moralischer Werte 1 5 vermutet. Die Skala 10

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K. Stählin, Die russische Revolution. In: Schriften der Deutschen Gesellschaft für Politik an der Universität Halle-Wittenberg, H. 1, Bonn/Leipzig 1920, S. 99-125; R. Salomon, Zur Lage der Geschichtswissenschaft in Rußland. In: Zeitschrift für osteuropäische Geschichte, N. F., Bd. 2,1932, S. 382-402. E. Hanisch, Aus der Literatur über die russische Revolution und den Bolschewismus. In: Jahrbücher für Kultur und Geschichte der Slawen, 1925, S. 222-235; L. Zaitzeff, Sowjetrußland als Ständestaat. In: Osteuropa, 1930/1931, S. 95-108. Zahllose Beiträge von E. Jenny in: A. B. C. Nachrichtenblatt über Ostfragen und ihre politisch-wirtschaftlichen Auswirkungen in Deutschland, hg. v. Generalsekretariat zum Studium des Bolschewismus, 1920-1922; H. Klibanski, Der Kommunismus in Rußland und die Diktatur des Proletariats, Berlin 1919; P. v. Sokolowski, Die Versandung Europas . . . eine andere, große russische Gefahr, Berlin 1929; Welt vor dem Abgrund, hg. v. I. H'in, Berlin 1931, ein großenteils von Il'in selbst verfaßtes Machwerk; H. Koch, Staat und Kirche in der Sowjet-Union. In: Das Notbuch der russischen Christenheit, hg. v. K. Cramer, Berlin 1930. Jenny war zu Beginn der Weimarer Republik Mitglied im Präsidium der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas, Klibanski Mitarbeiter des Breslauer Osteuropa-Instituts, Sokolowski lange Zeit Direktor des Herder-Instituts in Riga. Il'in war die wichtigste Figur im „Russischen wissenschaftlichen Institut" in Berlin und bis zu seinem Tode 1954 „Hegelforscher" in der Schweiz, während Hans Koch (gest. 1959) einer der erbittertsten Antikommunisten klerikaler Prägung war und stets in wichtigen Positionen der imperialistischen deutschen Ostforschung wirkte. H.-J. Seraphim, Bolschewismus. In: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, a. a. O., S. 200-239. H. v. Eckardt, Die Kontinuität der russischen Wirtschaftspolitik von Alt-Moskau bis zur Union der S. S. R. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 55, 1926, H. 3; G. Cleinow, Roter Imperialismus, Berlin 1930. N. v. Arseniew, Bolschewismus und Religion. In: Welt vor dem Abgrund, a. a. O., S. 437-458.

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war auf die reale Situation der verschiedenen Bevölkerungsschichten Deutschlands zugeschnitten und brachte die mehrfache Zielrichtung des Antikommunismus zum Ausdruck. Beiträge über die „Zerstörung" von Familie und Religion wandten sich an das Kleinbürgertum und christlich gebundene Leser, Angriffe auf das Außenhandelsmonopol und Schriften gegen die Industrialisierung und die Kollektivierung sollten in deutschen Unternehmerkreisen die Ansicht von einem wirtschaftlichen Chaos in der UdSSR verbreiten und ihr Interesse am Osthandel vermindern, während die systematische Entstellung des Marxismus-Leninismus in erster Linie für die sozialdemokratischen Arbeiter und die politischen Organisationen des deutschen Proletariats bestimmt war. Gemeinsam war allen Stoßrichtungen die Vorspiegelung einer Gefahr, die der betreffenden sozialen Gruppe drohe, und daher die Tendenz zur politischen Aktivierung und Mobilisierung. Die „Argumente" von der Bedrohung des Individuums und vom Gegensatz zwischen „westlicher" Freiheit und „östlicher" Unfreiheit, die die Totalitarismusdoktrin inhaltlich begründeten und in der Weimarer Republik Verbreitung fanden, sind für die imperialistische „Sowjetforschung" bis zur Gegenwart charakteristisch geblieben. In den vierzehn Jahren der Republik wurde jedoch das antikommunistische Grundmotiv der deutschen Osteuropakunde einerseits von den Auswirkungen der Rapallopolitik, die extrem antisowjetische Kräfte zur Zurückhaltung veranlaßte, und andererseits vom Revanchismus, der sich gegen kapitalistische Nachbarstaaten richtete, stark überdeckt. Es darf auch nicht übersehen werden, daß es progressiven bürgerlichen Kräften gelang, den geschaffenen organisatorischen Rahmen der reaktionären Ostforschung auszunutzen und in deren Publikationsorganen oder Schriftenreihen nützliche, informative Arbeiten zu veröffentlichen. 16 Antiimperialistische Vorstellungen über die UdSSR gingen im bürgerlichen Bereich von demokratischen Publizisten und Journalisten aus, unter denen Alfons Goldschmidt, Helene Stöcker, Arthur Holitscher und Paul Freiherr von Schoenaich herausragten. 17 Die Gesellschaft der Freunde des neuen Rußland, die 1923 gegründet wurde, vereinte viele Angehörige der Intelligenz, die von der Notwendigkeit guter Beziehungen zur UdSSR überzeugt waren und sich oft vorbehaltlos um ein tieferes Verständnis der neuen Gesellschaftsordnung bemühten. 18 Ihre Zeitschrift „Das Neue Rußland" griff mehrfach die Auffassungen reaktionärer deutscher „Sowjetexperten" direkt an. Otto Hoetzsch nahm im vielschichtigen System der antikommunistischen deutschen Ostforschung eine spezifische Stellung ein. Er hatte sich bereits in den Kriegsjahren unter großen Teilen der deutschen Öffentlichkeit den Ruf erworben, ein guter Kenner der osteuropäischen Geschichte zu sein und in Fragen der Politik gegenüber Rußland ein ausgewogenes, von Sach- und Landeskenntnis getragenes Urteil abzugeben. Während der Weimarer Republik beschäftigte er sich mit der Gegenwart der UdSSR äußerst intensiv und durfte zu Recht in dieser Hinsicht als eine der bestinformierten 16

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F. T. Epstein, Die marxistische Geschichtswissenschaft in der Sowjetunion seit 1927. In: Jahrbücher f. Kultur u. Geschichte der Slawen, 1930/1931, S. 78-203. Vgl. Treffpunkt Zukunft. Bürgerliche Stimmen zur Sowjetunion, hg. v. W. Tenzler, Berlin 1967; R. Greuner, Gegenspieler. Profile linksbürgerlicher Publizisten aus Kaiserreich und Weimarer Republik, Berlin o. J. (1969). Dazu noch immer am besten die kleine, leider seltene Schrift von H. Münch, Die Gesellschaft der Freunde des neuen Rußland in der Weimarer Republik, Manuskriptdruck, o. 0., o. J. (Berlin 1959).

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Kapitel IX

Persönlichkeiten im bürgerlichen Lager gelten. 1923 besuchte er zum ersten Mal den sozialistischen Staat. Weitere Reisen führten ihn 1926, im Oktober 1929, im Frühjahr 1930, im April und Mai 1931, im August 1932, im August 1933 und dann nochmals im Oktober 1934 in die UdSSR. Mit Ago von Maltzan, in dessen gastlichem Haus er oft verkehrte 19 , mit dem Grafen Brockdorff-Rantzau und dessen Nachfolger in der Leitung der Moskauer Botschaft, Herbert von Dirksen, stand er auf vertrautem Fuß. In Volkskommissariaten, Organen des Bildungswesens und bei anderen Institutionen des sowjetischen Staates war er ein willkommener Gast. Im Unterschied zu vielen anderen führenden Personen aus der Deutschnationalen Volkspartei, die von der Notwendigkeit guter Beziehungen zur UdSSR nur sprachen, handelte er in diesem Sinne. Er nahm festen Kontakt zu wissenschaftlichen Institutionen und gesellschaftlichen Organisationen der UdSSR, auf und bereitete zahlreiche gemeinsame Unternehmungen vor. Sein völliges Unverständnis für die geschichtliche Aufgabe und die revolutionären Ziele der Arbeiterbewegung und für den wissenschaftlichen Sozialismus hinderte ihn nicht daran, mit bedeutenden Marxisten eine Zusammenarbeit anzubahnen. Die Tatsachen des sozialistischen Aufbau, die er vielfach aufmerksam zur Kenntnis nahm, und die Beziehungen zur marxistischen sowjetischen Wissenschaft, die er knüpfte und die der UdSSR von Nutzen waren, veränderten in einem stets sehr widersprüchlichen Prozeß sein Bild von dem Staat der Arbeiter und Bauern. Hoetzsch erfüllte seine frühere Vorstellung von einer notwendigen „Ostorientierung" Deutschlands allmählich mit einem neuen Inhalt und bekannte sich mit Nachdruck zur friedlichen Koexistenz von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung. Diese Züge in Hoetzschs Biographie ließen ihn nicht nur zu einer Ausnahmeerscheinung unter den Deutschnationalen werden, sondern auch zu einem „Sonderfall" innerhalb der weitgehend reaktionären deutschen Rußlandkunde und „Sowjetforschung" der Weimarer Republik, der er andererseits in mancher Hinsicht verhaftet blieb.20 Die Vorgänge in der Philosophischen Fakultät um die Neubesetzung des Lehrstuhls für osteuropäische Geschichte, die vom Frühjahr 1916 bis August 1920 dauerten und symptomatisch waren für die ständigen Fraktionskämpfe und Querelen in der Fakultät während der Weimarer Republik, hatten abermals gezeigt, daß Hoetzsch trotz seiner konservativ-nationalistischen Grundhaltung unter den Professoren der Berliner Universität weitgehend isoliert war und auf eine bis zur Erbitterung gesteigerte Ablehnung stieß. Als Hauptopponenten seiner Berufung als Nachfolger Schiemanns traten neben diesem die Historiker Schäfer, Delbrück und Friedrich Meinecke sowie der Slawist Brückner auf - alle, trotz untereinander verschiedener Standpunkte, Gegner von Hoetzsch in den entscheidenden Fragen der Kriegsziele und der außenpolitischen Orientierung Deutschlands. Die großen Auseinandersetzungen spielten in die Aussprachen am Fakultätstisch herein, wobei sie sich mit Protokollfragen und Intrigen mischten. Nachdem Uebersberger wiederum abgelehnt hatte, schlug Schiemann ausgerechnet Johannes Haller, den schärfsten Widersacher von Hoetzsch, vor, und in der Kommissionssitzung vom 14. Februar 1918, zum Zeitpunkt der Verhandlungen in Brest-Litovsk, ergänzten 10 20

W. v. Blücher, Deutschlands Weg nach Rapallo, Wiesbaden' 1951, S. 95. Vgl. E. Engelberg, Die deutsche bürgerliche Geschichtsschreibung zur Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, hg. v. d. Parteihochschule „Karl Marx" beim ZK der SED, Berlin 1967.

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Meinecke und Brückner die Kandidatenliste durch den Straßburger Historiker Karl Stälilin, der sich mit osteuropäischer Geschichte so gut wie nicht befaßt hatte, und den Krakauer Gelehrten Oskar Halecki sowie drei weitere Polen. Der Geograph Albrecht Penck, Verfechter weit nach Osten ausgreifender „Mitteleuropa-"Pläne, und der Historiker Otto Hintee, die der Beruf ungskommission gleichfalls angehörten, bezogen eine abwartende Haltung. 21 Nachdem der bemerkenswerte Vorschlag, die Professur für osteuropäische Geschichte überhaupt zu streichen und durch eine Kanzel für Fragen der türkischen und südosteuropäischen Vergangenheit zu ersetzen, „um dadurch die sonst vielleicht bevorstehende Ernennung von H. verhindern zu können", keinen Anklang gefunden hatte, verliefen sich die Beratungen der Fakultätsangehörigen erwartungsgemäß im Sande. Im November 1919 teilte Schiemann dem Dekan mit, daß er nunmehr doch seine Ablösung für geboten halte und er, da Hoetzsch kein ernstliches wissenschaftliches Interesse habe, einen anderen geeigneten Kandidaten gefunden habe.22 Er meinte Stählin, der seit dem April 1919 eine Honorarprofessur für osteuropäische Geschichte an der Leipziger Universität innehatte. Schon am 17. November tagte wieder die für die Neubesetzung des Ordinariats zuständige Fakultätskommission. Sie neigte anfangs dem Standpunkt Otto Hintzes zu, der angeregt hatte, den Lehrstuhl für osteuropäische Geschichte „infolge der großen politischen Umwälzung" zu streichen, mit dieser Auffassung jedoch nicht durchgedrungen war. Die Aversion gegen Hoetzsch, der zu dieser Zeit bereits die Möglichkeit einer Koexistenz mit Sowjetrußland andeutete, setzte sich sogleich wieder durch. Die Kommission - Delbrück, Meinecke, Tangl, Schultzc - und bald darauf die Fakultät beantragten, Stählin den Lehrstuhl anzuvertrauen. Die Begründung mußte schwach sein. Stählin hatte sich fast immer mit der Geschichte Großbritanniens beschäftigt, so claß man nur auf zwei kleinere Arbeiten verweisen konnte, um seine Berufung auf den wichtigen Posten zu motivieren 23 ; in einer von ihnen hatte er zu der Kontroverse zwischen Haller und Hoetzsch Stellung genommen und die Angriffe des Tübingers zurückgewiesen. Ohne Zweifel besaß Hoetzsch die größeren Fachkenntnisse und wurde durch politische Machenschaften, von denen Stählin nichts bekannt sein konnte, benachteiligt. Eine briefliche Demarche bei Delbrück blieb ohne Erfolg (Anhang, Dokument 5). Am 22. April 1920 wurde Stählin zum Lehrstuhlinhaber ernannt, Schiemann glaubte sein Ziel erreicht zu haben. Inzwischen war in der Preußischen Landesversammlung eine Aktion angelaufen, deren Ziel es war, eine größere Anzahl im Kaiserreich zurückgesetzter oder sogar aus verschiedenen Gründen offen diskreditierter Extraordinarien mit einem personengebundenen Lehrstuhl zu versehen. Ein parlamentarischer Beschluß lag bereits vor. Das Kultusministerium hatte eine Liste der betreffenden Professoren aufgestellt und drängte im Mai 1920 die Berliner Philosophische Fakultät, die auf sie entfallenden sechs Vorschläge, unter denen sich auch Hoetzsch und der Historiker Hans Herzfeld befanden, zu beraten. Stählin trat für die Rangerhöhung seines Kollegen ein, und auch Delbrück entschloß 2t

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Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin, Philosophische Fakultät, Dekanat vor 1945, Nr. 1467, Bl. 345-346. Zu diesem Zeitpunkt war Schmidt-Ott preußischer Kultusminister. Ebenda, Nr. 1468, Bl. 278, Schiemann an den Dekan, 11. November 1919. Ebenda, Bl. 285-288 R., Vorschlag der Fakultät vom Dezember 1919. Vgl. K. Stählin, über Rußland, die russische Kunst und den großen Dichtcr der russischen Erde, Heidelberg 1913; ders., Zur Beurteilung der russischen Geschichte, a. a. 0.

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Kapitel IX

sich, seine gewichtige Stimme für ihn in die Waagschale zu werfen.27* Obgleich die Abstimmung wiederum zuungunsten von Hoetzsch ausfiel, setzte sich das Ministerium, in dem Hoetzsch mit dem Staatssekretär und Orientalisten Professor Carl Heinrich Becker sowie mit Regierungsrat Erich Wende bekannt war, über die Meinung der Fakultät hinweg. Am 6. Juli 1920 ernannte es ihn zum ordentlichen Professor und Inhaber eines persönlichen Ordinariats. 25 Zahlreiche Fakultätsmitglieder, unter ihnen Delbrück, der Philosoph Erdmann, der Althistoriker Eduard Meyer und Ernst Troeltsch, „äußerten ihr Bedauern" über das Verfahren des Ministeriums. Wenige Wochen später wurde Stählin zum ersten und geschäftsführenden Direktor des Seminars für osteuropäische Geschichte und Landeskunde, Hoetzsch zum zweiten Direktor berufen. Eine Festlegung besagte, daß wichtige Entscheidungen von beiden Institutsleitern gemeinsam getroffen werden sollten. Karl Stählin hatte bei seiner Berufung nach Berlin bereits das 55. Lebensjahr erreicht.26 1910 hatte er Rußland bereist. Er verband universalgeschichtliche Interessen mit künstlerischen und literarischen Neigungen, betrat aber im Gegensatz zu Hoetzsch kaum die Arena der politischen Öffentlichkeit. Er hing liberalen Ideen an, sympathisierte mit der Sozialdemokratie und erhob später als einer der wenigen Hochschullehrer öffentlichen Protest gegen die Hetzkampagnen, die von der reaktionären Rechten gegen Reichspräsident Ebert angezettelt wurden. 27 Der süddeutsche Demokrat bejahte die Republik und hielt Vorträge vor Angehörigen des Reichsbanners. Er war ein Gegner des Chauvinismus28 und hat imperialistischen Aggressionstheorien keinerlei Konzessionen gemacht. Nach dem Inhalt seiner Schriften und nach den überlieferten Erinnerungen darf man sagen, daß Stählin bestimmte positive Traditionen des bürgerlichen deutschen Gelehrten verkörperte, aber auch dessen Illusionen über den Charakter der Weimarer Republik und sein Unverständnis gegenüber dem wissenschaftlichen Sozialismus teilte. Während die Ansichten von Hoetzsch und Stählin zu innenpolitischen Fragen differierten, glich sich ihre Auffassung vom Verhältnis Deutschlands zur UdSSR weitgehend; Loewenson hat bemerkt, daß Schiemann, der am 26. Januar 1921 starb, mit der Haltung seines Nachfolgers höchst unzufrieden gewesen sein würde! Stählin war fest überzeugt von der Notwendigkeit harmonischer und dauerhafter Beziehungen der beiden Staaten. Er unterstützte die Bemühungen von Hoetzsch, mit der sowjetischen Wissenschaft zusammenzuarbeiten. Nachdem Hoetzsch während und unmittelbar nach der Novemberrevolution Aufrufe

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Ebenda, Nr. 35, Protokoll der Fakultätssitzung vom 20. Mai 1920. Ebenda, Universitätskurator, Personalia H 363, Schreiben des Kultusministers Haenisch (SPD) an den Rektor, 6. Juli 1920, Abschrift. Biographisches bei L. Loewenson, Karl Stählin, 1865-1939. A Chapter of German Historiography on Russia. In: The Slavonic and East European Review, Bd. 28, 1949/1950, S. 152-160; Nachruf in der Historischen Zeitschrift, Bd. 163, 1941, S. 82-99 (Willy Andreas). Vgl. H. Schützler, Wissenschaftliche Beziehungen der Berliner Universität zur Sowjetunion in der Zeit der Weimarer Republik. In: Forschen und Wirken. Festschrift zur 150-Jahrfeier der Humboldt-Universität zu Berlin 1810-1960, Bd. I, Berlin 1960, S. 535. In seinen Schriften über Elsaß-Lothringen kritisierte er scharf die deutsche Politik und Verwaltung. Er hatte daher eine Kontroverse mit deutschen Nationalisten auszutragen. Äußerungen Stählins zum deutsch-polnischen Verhältnis sind uns nicht bekannt.

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zum gemeinsamen Vorgehen der Entente und Deutschlands gegen Sowjetrußland erlassen hatte, begann er ab März/April 1919 seine Haltung vorsichtig zu ändern. Er beobachtete nach wie vor sorgfältig die Ereignisse in Rußland, wobei er die Greuelund Sensationsnachrichten, die unaufhörlich in den Spalten der deutschen Presse erschienen, voller Mißtrauen verwarf und bemüht war, solide bürgerliche Informationsquellen ausfindig zu machen. Stets hatte Hoetzsch vor Augen, daß mit der Oktoberrevolution eine demokratische Umwälzung in der Agrarstruktur Rußlands eingeleitet worden war, die nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte. Dem Dekret über den Grund und Boden maß er bereits Ende 1917 große geschichtliche Bedeutung zu. 1918 wies er, wenn auch noch selten, auf die unbedingte Dauerhaftigkeit der Agrarrevolution hin (z. B. NPrZ, 3. 4. 1918). Er begriff, daß die Versuche, mit einer militärischen Intervention die Macht der Ausbeuterklassen wiederherzustellen, keine Erfolgschancen besaßen. Im Juli 1919 schrieb er: „Und trotz alledem hält sich die Sowjetregierung noch, ist Lenins Herrschaft, wenigstens von außen gesehen, unerschüttert. Stürzen könnte sie nur jemand, der die Bauern unbedingt für sich gewänne, der Rußland wirklich zu einer Bauerndemokratie machen würde. Jede Reaktion, die dies nicht anerkennt und in der Agrarfrage keinen festen und klaren Standpunkt einnimmt, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Eine Umkehr zu den alten Verhältnissen ist in keinem Lande möglich, in dem der Krieg getobt hat, am allerwenigsten da, wo, wie in Rußland, der Krieg das unterste zuoberst gekehrt hat." (NPrZ, 16.7.1919) Dieser Gesichtspunkt bewog ihn weit mehr als die militärische Kraft der Roten Armee, die Feldzüge der Entente und der russischen Konterrevolution höchst skeptisch, meist aber als aussichtslos zu beurteilen. Das zeigte sich während des gesamten Jahres 1919 und erst recht 1920. Schon im Frühjahr 1919, als Hoetzsch selbst noch zum militärischen Vorgehen aufrief und Deutschland als „Bollwerk gegen die Überflutung Europas" pries, meldete er gleichzeitig Bedenken gegen die Aggressionspolitik an (NPrZ, 12.2.1919). Im Juni schrieb er, daß die Entente in ganz Osteuropa und besonders im russischen Raum „trotz aller ihrer Macht der Dinge nicht Herr" werden könne (NPrZ, 4. 6. 1919). Die Mission Bullitts wertete er als Friedensfühler und als Anzeichen für das baldige Ende der bewaffneten Intervention (NPrZ, 7. 7. 1919). Kurze Zeit später hatte er erkannt, daß Kolcak trotz seiner zu diesem Zeitpunkt noch bedeutenden Macht bereits verloren sei (NPrZ, 16. 7. 1919). Dem Vorstoß Denikins sagte er Wochen vor der Zerschlagung des Unternehmens, sogar in einem Moment vorübergehender offensiver Erfolge Denikins, das gleiche Schicksal voraus (NPrZ, 15.10.1919). Die Siege der Roten Armee führten ihn jetzt sogar zu dem Schluß, daß die Macht der Bolschewiki militärisch nicht ernsthaft gefährdet sei und daß sich auch der oft vorausgesagte wirtschaftliche Zusammenbruch, den Hoetzsch selbst prophezeit hatte, nicht zeige. Im Januar 1920 zog er Bilanz: „Bis zum Schwarzen und Kaspischen Meer ist der Bolschewismus vorgedrungen, und Westsibirien ist in seiner Hand. Er hat Kjachta besetzt (11. Januar), östlich des Baikalsees ist das Land in der Hand der Sozialrevolutionäre; Koltschak soll gestürzt sein. Von innen heraus ist der Bolschewismus also, wie sich wieder zeigt, nicht zu stürzen. Von außen aber hat er immer weniger zu fürchten.. . Was die Entente wirklich im Osten will, weiß sie selbst nicht, nur das sieht sie ein, daß es ihr nicht gelingt, an Stelle der Sowjetregierung die konstituierende Versammlung zu setzen, die dem angelsächsischen Kapitalismus die Tore weit öffnen würde. Das beweist die heutige Lage des Bolschewismus in Rußland, daß das russische Volk weder den Zarismus noch die Ausbeutung durch das angelsächsische und andere Kapital will."

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(NPrZ, 21.1. 1920) Während Hoetzsch somit seit dem Frühjahr 1919 Intervention und bewaffnete Konterrevolution als aussichtslos und zum Scheitern verurteilte Kampfmethoden begriff, dachte er doch stets an eine Evolution des Bolschewismus, an eine „Gesundung" Rußlands „von innen heraus". Die Elemente des widersprüchlichen Bildes, das sich Hoetzsch in den ersten Nachkriegsjahren von Sowjetrußland zurechtlegte, bestimmten seine Urteile über die deutschsowjetischen Beziehungen dieser Zeit. Im März und April 1919, geraume Zeit vor der Ubergabe des Vertragsentwurfes in Versailles, vollzog er eine sichtbare Wendung. Seitdem empfahl er nicht mehr eine antisowjetische Einheitsfront der Entente und Deutschlands, sondern bestand auf unbedingter Neutralität seines Landes in den Interventionskämpfen, riet zum Abwarten und deutete, teilweise schon sehr klar, die Möglichkeit der Koexistenz an. In dem Kommentar vom 26. März 1919, als die Intervention im Baltikum bereits begonnen hatte, stellte er eine für ihn typische Überlegung an: „Was geschieht, wenn die Entente uns einen Gewaltfrieden aufdrängt und so dem Bolschewismus von innen heraus Tür und Tor öffnet? Wir können dann, wenn wir gezwungen sind, diesen Frieden abzulehnen, nicht gleichzeitig Feinde der Entente und Feinde der Bolschewiki sein." (NPrZ, 26. 3. 1919) Daraus leitete er sofort die Aufgaben ab, das „russische Problem politisch zu erfassen", zuverlässige Angaben über Sowjetrußland zu beschaffen und das Auswärtige Amt aufzufordern, für eine denkbare Änderung der außenpolitischen Situation gerüstet zu sein. Am 9. April ging er einen Schritt weiter. Er sprach von der Notwendigkeit eines gesundeten und wiedererstarkten Rußlands, „mit dem zusammenzugehen uns in Zukunft ebenso notwendig ist, wie es in der Vergangenheit notwendig gewesen wäre". Und noch deutlicher hieß es am 16. April: „Würde sich wirklich, woran wir ja nicht glauben, die bolschewistische Wirtschafts- und Staatsordnung in Rußland behaupten, so wäre das für uns kein Grund, mit diesem Rußland nicht gute Beziehungen zu suchen, vorausgesetzt, daß eine bolschewistische Regierung auf jede Bedrohung und jeden Angriff gegen uns verzichtet und, was ebenso wichtig ist, diesen Verzicht auch zu gewährleisten in der Lage ist. . . Auch hier hat Graf Rantzau das Problem trefflich formuliert: ,Nachdem die Furcht vor der Unterjochung der russischen Wirtschaft durch deutsches Kapital jeden Daseinsgrund verloren hat, sollten sich das deutsche und das russische Volk auf das besinnen, was sie einander zu bieten haben'." (NPrZ, 16. 4. 1919) Tatsächlich war Hoetzsch über den Standpunkt Brockdorffs hinausgegangen. Während der Außenminister in einer Denkschrift vom April 1919 die Aufnahme von Handelsbeziehungen oder vorsichtigen politischen Kontakten zu Sowjetrußland nur als mögliches Druckmittel gegen die räuberischen Forderungen der Entente einkalkulierte, letztlich aber doch ablehnte 29 , betonte Hoetzsch ausdrücklich die durch die Geschichte gebotene Notwendigkeit, mit Rußland unter allen Umständen, also auch mit Sowjetrußland, „zusammenzugehen". Obgleich er grundsätzlich mit einer „Evolution" rechnete, schloß er doch das Fortbestehen des sozialistischen Staates nicht aus seinen Berechnungen aus. Das Schreckgespenst der „weltrevolutionären Umsturzpläne", die Furcht

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H. Heibig, Die Träger der Rapallo-Politik, Göttingen 1958, S. 21 ff.; G. Rosenield, Sowjetrußland und Deutschland 1917-1922, Berlin 1960, S. 242-244; vgl. Deutsch-sowjetische Beziehungen von den Verhandlungen in Brest-Litowsk bis zum Abschluß des Rapallo-YcrIrages. Dokumentensammlung, Bd. 2, 1919-1922, Berlin 1971.

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vor dem nahenden Friedensdiktat, seine alte außenpolitische Leitidee von der deutschen Ostorientierung, die Spekulation auf ein „nachbolschewistisches" Rußland, seine unbestimmten Ahnungen von der Kraft des jungen sozialistischen Staates und die mangelhafte Informationslage, die er lange beklagte - alle diese Momente ließen sein Urteil stark schwanken. Die deutsche Aggression im Baltikum hat Hoetzsch bekämpft. Er kritisierte die Berliner Regierung und warf dem Friedensausschuß in Weimar, in dem das Verhältnis zu Sowjetrußland besprochen worden war, vor, daß seine Diskussionen „der Schwierigkeit des Problems nicht gerecht" geworden seien. Im Juni hob er hervor, daß nach dem Zerfall Österreich-Ungarns und des osmanischen Reiches keine nennenswerten Gegensätze mehr zwischen Deutschland und Rußland beständen (NPrZ, 4. 6. 1919). Die Teilnahme deutscher Söldner an dem Unternehmen Avalovs, das von der chauvinistischen Presse Deutschlands bejubelt wurde, erregte seine besondere Verbitterung (NPrZ, 17. 9., 8.10., 15. 10. 1919). Er warf der Regierung vor, eine völlig unklare und haltlose Politik betrieben, sinnlose Siedlungsversprechen gegeben und, da die Entente inzwischen auf dem Rückzug der Truppen bestand, eine schwere Niederlage der deutschen Politik heraufbeschworen zu haben. Hoetzsch verlangte, daß Deutschland „in den innerrussischen Kämpfen vollständig neutral" zu sein habe und „unzweideutige Beweise" geben müsse. Mit seiner Forderung, zwischen der deutschen Politik und den im Dienste Avalovs kämpfenden deutschen Landsknechten einen „scharfen Strich" zu ziehen (NPrZ, 15. 10. 1919), stand er in seinen Kreisen allein. 1920 hat Otto Hoetzsch erst recht jeden Gedanken an eine militärische Intervention abgelehnt. Als Maltzan zu Beginn des Jahres die Chancen eines bewaffneten Vorgehens Deutschlands im Bunde mit den Ententemächten berechnete und hierzu auch Hoetzsch konsultierte 30 , konterte er mit einem langen Kommentar in der Kreuzzeitung (NPrZ, 25. 2. 1920). Zu diesem Zeitpunkt setzten sich bereits viele Vertreter der deutschen Industrie und des Handels für die Aufnahme wirtschaftlicher Beziehungen zu Sowjetrußland ein. Hoetzsch, der stets hellhörig solche Stimmen registrierte, befürwortete als erste Maßnahme die Entsendung einer Studiendelegation, die auch im Auswärtigen Amt erwogen, aber immer wieder verhindert wurde. Er wünschte den Verhandlungen um den Austausch der Kriegsgefangenen „besten Fortgang", berichtete über die Tätigkeit von Viktor Kopp, Vertreter Sowjetrußlands in Berlin für die Aufnahme von Wirtschaftsbeziehungen und die Rückkehr der russischen Kriegsgefangenen, schrieb, „daß man einmal anfangen müsse", und warnte vor neuerlichen Interventionsplänen: „Die Verbindung mit der Entente gegen den Bolschewismus, die gleichfalls von manchen Seiten gefordert wird, lehnen wir auch ab, einfach deshalb, weil sie vollständig aussichtslos ist. Die Entente denkt, wie immer wieder gesagt werden muß, nicht daran, mit den Waffen gegen den russischen Bolschewismus aufzutreten, den sie militärisch für unüberwindlich hält, und daher hat die Idee eines gemeinsamen Kreuzzuges für die Kultur seitens der bisher verfeindeten Länder gegen den Bolschewismus keinen Boden unter den Füßen." (NPrZ, 25. 2. 1920) Hoetzsch forderte vom Kabinett eine Ostpolitik auf lange Sicht, die sowohl das Scheitern der gegenrevolutionären Bestrebungen als auch das Ende der Blockade um Sowjetrußland und die Notwendigkeit wirtschaftlichen Austausches zwischen dem sozialistischen und den kapitalistischen Staaten berücksich-

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Blücher, a. a. O., S. 90-91; Rosenfeld, a. a. 0., S. 274-275.

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tigen müßte. Er verunglimpfte zugleich die geplante Auswanderung deutscher Facharbeiter nach Sowjetrußland als „unverantwortlich leichtsinnig".31 Seit dem Sieg Sowjetrußlands über die polnischen Interventen begann Hoetzsdi, seinen Empfehlungen mit aller Vorsicht neue Akzente aufzusetzen. Er gebrauchte nunmehr häufig die Wendung, daß Rußland trotz wirtschaftlichen Ruins und anhaltenden Bürgerkrieges als außenpolitische Macht „wieder da" sei (NPrZ, 4. 8. und 11. 8. 1920). Auf einen Vorwurf der deutschnationalen „Eisernen Blätter" gab er zu verstehen, daß er bei einem Fortbestehen der Sowjetmacht ebenfalls den Beginn politisch-diplomatischer Schritte für möglich halte und befürworten würde (NPrZ, 11. 8.1920). Trotz unaufhörlichen Schwankens und zahlreicher Widersprüche deutete sich ein allmählicher Wandel seiner Auffassungen an, wenn er auch erst nach einem weiteren Jahr den Widerstand gegen politische Beziehungen zum Sowjetstaat einstellte. Da Hoetzsdi den Meldungen der deutschen und internationalen Agenturen sowie den Berichten der Emigranten mit ausgeprägtem Mißtrauen begegnete, befand er sich stets auf der Suche nach verläßlichen Informationsquellen. Der in der Literatur erwähnte Besuch in der Moabiter Gefängniszelle Karl Radeks (1919) läßt sich nicht exakt beweisen. Hoetzsch las regelmäßig die Presseorgane der bolschewistischen Partei und der Sowjetregierung, aus denen er häufig zitierte. 1920 benutzte er auch besonders den „Daily Herald" und den „Manchester Guardian", die im Gegensatz zu den deutschen Blättern über wohlunterrichtete Korrespondenten verfügten. Hoetzsch war damals Mitglied in der wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung des Osteuropa-Instituts Breslau32, das ihm als Lieferant aktueller Materialien, statistisdier Unterlagen und ähnlichem diente; zu einer nennenswerten Zusammenarbeit mit dieser widitigen Zentrale der imperialistischen deutschen Ostforschung kam es nie. Eine von Hoetzsch im Juni 1920 einberufene Konferenz aller an den „Ostfragen" tätigen deutschen Institutionen zeigte, daß er über eine Fülle von Kontaktmöglichkeiten verfügte. 33 Neben Vertretern reaktionärer oder mindestens sehr dubioser Organisation befanden sich auch einige Abgeordnete solcher Vereine unter den Teilnehmern, die auf ein nüchternes Urteil über Sowjetrußland Wert legten. Ende des Jahres 1920 wohnte Hoetzsch einem Vortrag bei, den Viktor Kopp vor deutschen Industriellen hielt.34 Obgleidi er sich im März 1921 über die Presseagentur „Ost-Expreß" 35 wohlwollend äußerte und sie als „vorsichtig und gut orientiert" bezeichnete, hat er sich noch bis zum Sommer 1921 über den mangelhaften Nachrichtenfluß und die Verbreitung tendenziöser Meldungen beklagt. Erst nach dem Wirtschaftsabkommen zwischen Deutschland und Sowjetrußland vom Mai 1921 sah er

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Dazu vgl. E. Wasilewitsch, Zur Teilnahme deutscher Facharbeiter und Spezialisten an der Industrialisierung der UdSSR (1926-1932). In: Jahrbuch f. Gesch. d. sozialistischen Länder Europas, Bd. 18/1, 1974, S. 194-196. Clara Zetkin warf Hoetzsch in einer Reichstagsrede (Juli 1920) sogar vor, seine Urteile aus den trüben Quellen der „Antibolschewistischen Liga" gewonnen zu haben; vgl. C. Zetkin, Gegen die Politik von Spa - für ein Bündnis mit Sowjetrußland. In: Ausgew. Reden u. Schriften, Bd. 2, Berlin 1960, S. 225-227. ZStAM, Rep. 76, Va, Sekt. 4, Tit. X, Nr. 97, Bl. 239, 339 R., Mitgliederverzeichnisse des Osteuropa-Instituts Breslau aus dem Jahr 1922. Ebenda, Rep. 76, Vc, Sekt. 1, Tit. 11, Teil X, Nr. 26, Bd. VII, Protokoll der Konferenz vom 8. Juni 1920. Stenographische Berichte des Deutschen Reichstags, Bd. 347, 24. Januar 1921, S. 2072. Nähere Angaben über sie bei Döser, a. a. 0., S. 86.

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Möglichkeiten, „uns endlich eine authentische, vollständige und sachlich exakte Kenntnis der heutigen Zustände in Sowjetrußland zu vermitteln, die wir trotz der Flut vorliegender Nachrichten - wir bemühen uns, alles darüber auf den Markt kommende zu verfolgen - bis heute nicht haben." (NPrZ, 25. 5.1921). Anläßlich der konterrevolutionären Meuterei in Kronstadt stimmte er nicht in den Jubel der antisowjetischen deutschen Presse ein. Er nannte die Erhebung „keine geringfügige Revolte", die jedoch den Bestand der Sowjetmacht nicht gefährden könne (NPrZ, 16. 3.1921). Die Deutsche Gesellschaft zum Studium Rußlands, die Hoetzsch de facto leitete, war bereits unter den Bedingungen des Brester Friedens leicht reaktiviert worden. An der Jahreswende 1917/1918 ergaben Gespräche von Hoetzsch mit dem preußischen Kultusminister Schmidt-Ott, dem hohen Ministerialbeamten Professor Becker, dem Vorsitzenden des „Deutsch-Russischen Wirtschaftsausschusses", Friedrichs, den Professoren Auhagen, Sering und Schumacher sowie dem Verleger Crayen Übereinstimmung über die Notwendigkeit, die Arbeiten der Gesellschaft wieder beginnen zu lassen. Am 2. Februar 1918 fand die erste Präsidialsitzung statt, an der Auhagen, Hoetzsch, der Schatzmeister der Gesellschaft, Herrmann, und Ernst Jenny, Rittergutsbesitzer und extremantikommunistischer Publizist, teilnahmen.311 Es wurde beschlossen, die Vorbereitung eines Jahrbuches und einer eigenen Zeitschrift der Gesellschaft weiter zu betreiben und Vortragsabende zu veranstalten; Sering hatte als erstes Thema eines solchen Abends das Dekret über den Grund und Boden vorgeschlagen. Die Beratung ergab ferner, daß die Gesellschaft zu einer Zentralstelle für „Material aus Rußland" ausgebaut werden solle. Hoetzsch betonte, daß die Gesellschaft einen wissenschaftlichen Charakter behalten und als Forschungsinstitut wirken müsse, wobei sie in enger Fühlung mit „der Praxis bzw. den am Wirtschaftsverkehr Interessierten arbeiten solle." (Anhang, Dokument 4) Am 12. Juli tagte im Berliner Herrenhaus die Hauptversammlung. Sie beschloß, den Namen in „Deutsche Gesellschaft zum Studium Osteuropas" zu verändern, legte Maßnahmen zur Mitgliederwerbung fest und nahm Wahlen vor.37 Fürst Hatzfeldt blieb Präsident, Sering Vizepräsident und Hoetzsch Schriftführer. Mitglieder des Präsidiums wurden Paul M. Hermann, C. H. Becker vom Kultusministerium, W. v. Crayen vom Verlag Göschen, Friedrichs vom „Deutsch-Russischen Wirtschaftsausschuß", ferner der Rektor der Landwirtschaftlichen Hochschule, Otto Auhagen, und Jenny. Die tatsächliche Wirksamkeit der Gesellschaft blieb sehr gering. Zum ersten Vortragsabend, der am 31. Mai 1918 im Großen Saal des Künstlerhauses stattfand, hatten sich 400 Personen eingefunden. Auhagen sprach über „Agrarrevolution und Agrarreform in der Ukraine" und zeigte Lichtbilder. Jenny, der in der Ukraine ein Gut besessen hatte, äußerte sich über „Die heutige Lage in der Ukraine". 38 An einem zweiten Abend, dem 12. Juli, sprach der ehemalige Lektor an der Universität Moskau, Arthur Luther, über „Die geistige und politische Vorstellungswelt der Bolschewiki". Sein Vortrag, von An-

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ZStAM, Rep. 76, Vc, Sekt. 1, Tit. 11, Teil X, Nr. 26, Bd. VI, Protokoll der Präsidialsitzung vom 2. Februar 1918. Ebenda, Bd. VII, Einladung zur Hauptversammlung. Ebenda, Bd. VI und VII, Ankündigungen. Bemerkenswert ist, daß als einziges führendes Mitglied der Gesellschaft Sering zu den Gründern und Führern der Deutsch-Ukrainischen Gesellschaft gehörte, einer obskuren Verbindung, hinter der die räuberische Großbourgeoisie und die Finanzoligarchie standen. Ihr Leiter war Rohrbach. Gründungsbericht in Bd. VII der zitierten Aktenserie. Hoetzsch

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fang bis Ende ein Produkt des Antibolschewismus, wurde auch gedruckt.39 Weitere Leistungen hatte die Gesellschaft 1918 nicht vorzuweisen. Nach der deutschen Novemberrevolution trat die Gesellschaft lange nicht in Erscheinung. Hatzfeldt zog sich 1919 vom Präsidium zurück, da ihm die Sorge um seinen bedrohten schlesischen Großgrundbesitz näher lag als die Beschäftigung mit dem fernen Sowjetstaat. Jenny, der diesen Kummer nicht mehr zu haben brauchte, trat in die Dienste der „Antibolschewistischen Liga" und schrieb Dutzende von brutal-aggressiven Hetzartikeln. Hoetzsch selbst wandte sich der parteipolitischen und parlamentarischen Tätigkeit zu und erwog erst im November 1919, „ob nicht trotz der Unsicherheit der Verhältnisse im Osten die Wiederaufnahme der Tätigkeit unserer Gesellschaft geboten erscheint"/' 0 Zu dieser Zeit war es ihm gelungen, Schmidt-Ott zur Übernahme der Präsidentschaft zu bewegen sowie neben dem Unterstaatssekretär Prof. Becker noch dessen engen Mitarbeiter Geheimrat Krüss in den engeren Ausschuß der Gesellschaft einzubeziehen. Am 8. Juni 1920 kam es dann zu der erwähnten Konferenz „der an den Ostfragen arbeitenden Vereinigungen und Gesellschaften". Sie fand unter Leitung von Hoetzsch statt und diente sowohl allgemeinen Informationszwecken als auch dem Versuch, die Kräfte der deutschen Ostforschung zu zentralisieren. Neben Schmidt-Ott, Hoetzsch, Crayen und Dr. Hahn von der einladenden Gesellschaft waren die Historiker Stählin und Salomon, Prof. Schott vom Osteuropa-Institut Breslau, Syndikus Busemann vom Deutsch-Russischen Verein zur Pflege und Förderung der Handelsbeziehungen, Dr. Georg Koch und Wilhelm von Bulmerineg (Deutsch-Finnländische Vereinigung), Schient vom Rumänischen Seminar der Universität Leipzig, ein Mitarbeiter der Auslandsabteilung des Deutschen Roten Kreuzes, je zwei Vertreter des „Deutschen Schutzbundes" und des „Reichswanderungsamtes" sowie einige Abgesandte des Reichswehrministeriums, des Deutschen Überseedienstes und einer undurchsichtigen „Russisch-Deutschen Gesellschaft" anwesend. Eingeladen, jedoch nicht erschienen, waren die Mitarbeiter der Institute in Königsberg und Wien, der Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes, der „DeutschUkrainischen" und „Deutsch-Georgischen Gesellschaft", des Ungarischen Instituts an der Universität Berlin, des „Deutsch-Ukrainischen Wirtschaftsverbandes", des „Zweckverbandes Ost" und der Spezialist für internationale Hochschulfragen, v. Salvisberg. Hoetzsch schlug vor, die wissenschaftlichen Institutionen zu einem „Kartell" zu vereinigen und mit den Wirtschaftsverbänden und publizistisch-propagandistischen Organisationen eine lose Zusammenarbeit anzubahnen. Der Dilettantismus müsse bekämpft und die Arbeit auf eine feste Grundlage gestellt werden. Er kündigte an, daß seine Gesellschaft demnächst das erste Heft einer neuen Zeitschrift herausbringen werde, in deren Redaktionsgremium aber noch Angehörige anderer Arbeitsstätten, besonders des Breslauer Osteuropa-Instituts, eintreten sollten. Da das Ziel, ein Zentralarchiv für alle einlaufenden Nachrichten und Unterlagen zu schaffen, vorläufig nicht zu erreichen war, regte er eine ständige gegenseitige Benachrichtigung und einen Austauschverkehr an. Er fand die Zustimmung von Salomon, Stählin und Busemann, stieß aber auf den

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A. Luther, Ein Jahr Bolschewismus, Leipzig 1919. Uber ihn vgl. E. Wolfgramm, Slawisten in der Ostforschung. In: Auf den Spuren der „Ostforschung". Wiss. Zeitschrift d. KarlMarx-Universität Leipzig, Sonderband I, 1962, S. 157-159. ZStAM, Rep. 76, a. a. 0., Bd. VII, Hoetzsch an Unterstaatssekretär Becker, 29. November 1919.

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Widerstand von Schott, der als Leiter des Osteuropa-Instituts Breslau starken Rückhalt in der Großindustrie besaß und eigene Pläne verfolgte. Die Konferenz, die der erste Versuch zur Zentralisierung der bürgerlichen deutschen Ostforschung war, und das „Kartell", das nur ein Jahr bestand und keine Resultate zeitigte, erwiesen sich als Fehlschlag. Im Jahr 1921 hielt die Stagnation der Gesellschaft an. Obgleich das Auswärtige Amt erstmals eine größere Summe bereitstellte, kam die Herausgabe der seit langem geplanten Zeitschrift abermals nicht zustande und verzögerte sich noch bis 1925. Die Gesellschaft laborierte auch an ihrer ärmlichen Unterbringung und mußte sich auf wenige Vortragsveranstaltungen beschränken. Während der Weimarer Republik, besonders in ihrer ersten Hälfte, aber auch noch nach Beginn des ersten sowjetischen Fünfjahrplans, vertrat Otto Hoetzsch häufig die Ansicht von einer bevorstehenden antisozialistischen „Evolution" der UdSSR. Bereits im Dezember 1918 drückte er seine Hoffnung auf ein künftiges bürgerlich-demokratisches Rußland aus, mit dem Deutschland sofort ein engeres Bündnis eingehen könnte (NPrZ, 4. 12. 1918). Aus Lenins berühmtem Bericht auf dem VIII. Parteitag der KPR(B), der besonders das Verhältnis zu den Mittelbauern behandelte, las Hoetzsch eine Wendung zum „gemäßigten Sozialismus auf nationaler Grundlage" heraus (NPrZ, 9. 4.1919). Die Weitsicht Lenins und die Politik der bolschewistischen Partei, die sich 1919 einer außerordentlich schwierigen Situation gegenübersah und bündnispolitische Probleme von größter Tragweite lösen mußte, verstand Hoetzsch in keiner Weise. Er hat sie vielmehr entstellt. Die vom VIII. Parteitag ausgegebene Orientierung auf eine maximale Steigerung der Produktivkräfte drehte er in eine Politik des „wirtschaftlichen Ruins" um, und der Kurs auf ein festes Bündnis mit den Mittelbauern, das die proletarische Diktatur festigte und den weiteren Vormarsch der sozialistischen Revolution im Lande sicherte, erschien ihm sogar als ein erster Sieg der kapitalistischen Kräfte. Er träumte damals von einer bürgerlichen Regierung Rußlands, die eine entschiedene Agrarpolitik betreiben und durch Konzessionen den Weg für den Kapitalismus öffnen würde, „durch den dieses Land ja durchgehen muß, wenn es überhaupt wieder eine Wirtschafts- und Machteinheit werden soll" (NPrZ, 16. 7.1919). Hoetzsch gab zwar, da er zur gleichen Zeit die Aussichtslosigkeit der militärischen Konterrevolution und der ausländischen Intervention erkannte, die reaktionäre Erwartung eines unmittelbar bevorstehenden kapitalistischen Umschwungs sehr rasch wieder auf, die These einer angeblich notwendigen „Evolution" legte er aber keineswegs zu den Akten. In einer Reichstagsrede vom 27. Juli 1920 beschwor er neuerlich das Bild eines künftigen russischen Staates, der vom Bund einer „bäuerlichen Demokratie" mit der Intelligenz getragen werden würde. 41 Zwei Monate vor dem Abschluß des Rapallovertrages behauptete er noch, daß „die bäuerlichen Elemente allmählich in die Höhe kommen, und dann ist es nur noch eine Personenfrage, ob sich dieser endgültige Wandel mit oder ohne gegen die bolschewistischen Machthaber vollzieht" (NPrZ, 22. 2.1922). Die antikommunistische Theorie einer „Evolution" des Sowjetstaates war eine der wichtigsten Kategorien, mit der die bürgerliche Ideologie in ihren verschiedenen Varianten auf die gesellschaftlichen Veränderungen in Sowjetrußland nach dem Sieg der Oktoberrevolution, auf das Scheitern der bewaffneten Konterrevolution und schließlich auf den Ubergang zur Neuen ökonomischen Politik reagierte. Sie durchzog in unterschied41

Stenographische Berichte des Deutschen Reichstags, Bd. 344, 27. J u l i 1920, S. 300 D bis 301 A.

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liehen Abwandlungen das Schrifttum über die UdSSR, das von der traditionellen bürgerlichen „Rußlandforschung", von der sozialreformistischen Publizistik und Geschichtsschreibung sowie von antisowjetischen Emigranten, speziell aus dem Lager der 1917 endgültig gescheiterten Paktiererparteien und der Kadetten, produziert wurde. Sie war im Grunde die wesentlichste ideologische Position, die in den zwanziger Jahren die Vertreter des flexiblen Antibolschewismus aus den verschiedenen politischen Lagern untereinander verband. Ihre Wortführer verwiesen gewöhnlich auf die Ergebnisse der demokratischen Agrarumwälzung, die durch die Aufteilung des Großgrundbesitzes einerseits einen großen Teil der Dorfarmut in Mittelbauern verwandelt und diese zum Hauptteil der Landbevölkerung gemacht hatte, andererseits clas Gewicht der Kulaken in der Volkswirtschaft des Landes gleichfalls zu deren Gunsten erheblich erhöht hatte. Die Dialektik der Agrarrevolution in den Sowjetrepubliken war jedoch komplizierter. Sie brachte es mit sich, daß die Vernichtung des Großgrundbesitzes zu einer Spaltung der Rourgeoisie führte. Die städtische Rourgeoisie unterstützte die Gutsbesitzer in ihrem Kampf gegen die Sowjetmacht und beschleunigte dadurch noch ihren eigenen Untergang. Dagegen förderten die Kulaken, die dörfliche Rourgeoisie, die Enteignung des Großgrundbesitzes in der Absicht, sich zu bereichern und zur sozial führenden Schicht des Landes aufzusteigen. Dieser zeitweilige Widerspruch zwischen den Hauptgruppen der Rourgeoisie, den Lenin analysierte, wurde von vielen werktätigen Rauern, die mit den komplizierten Tendenzen des Klassenkampfes in Sowjetrußland ungenügend vertraut waren, nicht verstanden. Unter den neuen Redingungen der Revolution wurden die Kulaken zum Zentrum aller gesellschaftlichen Kräfte, die eine Restauration der bürgerlichen Ordnung erstrebten. Dieser Umstand begünstigte bei ausländischen bürgerlichen Reobachtern, die die scharfe klassenmäßige Differenzierung in der russischen Rauernschaft gewöhnlich nicht zur Kenntnis nahmen, die reaktionäre Illusion von einer durch „die Rauern", also die Kulaken, möglichen „Evolution" des Sowjetstaates. Hoetzsch fand sich 1919 sogar bereit, auf der Rasis seiner abwegigen Vorstellung eines russischen Frühkapitalismus die Evolutionsthese mit einer weit in die Geschichte zurückreichenden Entwicklungslinie demokratischer Kräfte und Ansätze auszustatten 42 ; selbst die Städteordnung und der Adelsbrief Katharinas II. wurden zu Teilen einer solchen angeblichen Tradition. Wie andere damalige Theoretiker der „Evolution" beging Hoetzsch sowohl in dieser Schrift als auch in späteren Äußerungen den entscheidenden politischen und methodologischen Fehler, die Zusammenhänge zwischen demokratischen Teilschritten und sozialistischem Gesamtcharakter der nach dem Oktober 1917 eingeleiteten revolutionären Umwälzungen nicht zu durchdenken. Seine Remerkung, das „Rauerntum" sei „an sich nicht sozialistisch, sondern nur mit der bolschewistischen Regierung dadurch verknüpft, daß sie ihm in ihrer radikalen Agrarreform das Land der Großgrundbesitzer preisgab", war nicht falsch, aber ungenügend. Hoetzsch berücksichtigte zwar, daß Sowjetrußland auch nach der Oktoberrevolution ein kleinbäuerliches Land blieb und eine Rückkehr zum Großgrundbesitz, wie er immer betonte, ausgeschlossen war, aber er verstand damals noch nicht, daß die Mittelbauern ein Lebensinteresse an der Stärkung der Sowjetmacht hatten und sich in zunehmendem Maße bereit fanden, der umfassenden bolschewistischen Ründnispolitik zu folgen und Schritte zum Sozialismus hin zu machen. Die KPdSU verfolgte seit dem Ende des „Kriegskommunismus" konsequent das Ziel, ' a Hoetzsch, Die Versuche der Demokratisierung im alten Rußland, Oldenburg/Berlin 1919.

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die Voraussetzungen zur sozialistischen Umgestaltung zu schaffen und die Bauern durch den möglichst raschen Aufbau einer maschinellen Großindustrie, die Bildung von Genossenschaften, die verstärkte Teilnahme an der Arbeit der Sowjets und andere bedeutsame Maßnahmen von dieser Notwendigkeit zu überzeugen. Trotz der von allen „Evolutionstheoretikern" ausgiebig betonten Elemente eines vorübergehenden politischen Rückzugs, die der NÖP eigen waren, verschärfte sich im Laufe der zwanziger Jahre der objektive Klassengegensatz zwischen Mittelbauern und Kulaken, der eine wesentliche Bedingung für die Politik der Kollektivierung war. Die entschiedene Politik der KPdSU bei der Errichtung der Grundlagen des Sozialismus, die ständige Festigung der Diktatur des Proletariats und die Klassenauseinandersetzungen innerhalb der Bauernmassen entzogen allen antisozialistischen Erwartungen, Spekulationen und Unterstützungsversuchen für eine konterrevolutionäre „bäuerliche Demokratie" den Boden. Hoetzsch hat erst spät, nach dem beginnenden Ubergang der UdSSR zur Industrialisierung und unter dem Eindruck seiner Beziehungen zu staatlichen und wissenschaftlichen Institutionen der UdSSR, die ihn die Stabilität der Sowjetmacht erkennen ließen, von der reaktionären Idee einer großbäuerlich bestimmten Evolution der UdSSR Abstand genommen. In der Phase seiner engsten Zusammenarbeit mit der sowjetischen ^Vissenschaft, in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre, hat er diese Auffassungen nur selten, auch in deutlich abgeschwächten Formen, vertreten. Das etwa gleichzeitige Fiasko seiner eigenen „reformkonservativen" Ansichten wird dazu beigetragen haben. Bedeutsam für die Beurteilung der damaligen Evolutionstheorien ist schließlich ihr Platz im jeweiligen, auf die UdSSR bezogenen politisch-ideologischen Konzept. Erbitterte Feinde der UdSSR verwendeten die Pseudoprognose eines inneren klassenmäßigen Umschwungs, um eine Kontaktaufnahme mit bestimmten Schichten der Bevölkerung der UdSSR vorzuschlagen, bei der Ausgestaltung der politischen Beziehungen zwischen Deutschland und der UdSSR eine Abwartetaktik zu empfehlen oder den Ruf nach politischer Aktivierung der im Sowjetstaat verbliebenen einstigen Anhänger der bürgerlichen Ordnung zu erheben. So hielt es beispielsweise der antisowjetische Emigrant Boris Bruckus, Mitarbeiter des Osteuropa-Instituts Breslau, 1925 für erforderlich, daß „der Kampf der freien mit der sozialistischen Wirtschaft einmal vom Boden der Wirtschaft auf den Boden der Politik übertragen werde. Hier muß die entscheidende Schlacht früher oder später geschlagen werden, soll Rußland aus seinem tiefen wirtschaftlichen und kulturellen Verfall emporsteigen." 43 Anders verhielt es sich mit dem Gewicht der Evolutionstheorie im politischen Denken solcher deutschen „Ostexperten", die wie Hoetzsch, Stählin, Braun oder Salomon, auf die gesellschaftlichen und politischen Vorgänge in der UdSSR nicht mit erbittertem Haß, sondern mit verschiedengradiger Skepsis sahen und die Errichtung der sozialistischen Gesellschaft im Grunde als ein interessantes soziales Experiment mit ungewissem Ausgang betrachteten. Bei diesem Personenkreis war der Evolutionsgedanke mehr Ausdruck des Zweifels an der Überlegenheit des Sozialismus über den Kapitalismus und drückte das Unverständnis des bürgerlichen Beobachters für die tiefen revolutionären Umgestaltungen in der UdSSR, besonders für die geschichtliche Rolle des Proletariats, aus. Otto Hoetzsch, der die wichtigsten politischen Maximen der reaktionären Deutschnationalen Volkspartei vertrat, löste sich nur 43

B. Brutzkus, Agrarenlwicklung und Agrarrevolution in Rußland, Berlin 1925, S. 249. Dieses vom Osteuropa-Institut Breslau veröffentliche Buch erhielt in: Das Neue Rußland, 1926, H. 5/6, S. 41, die verdiente Abfuhr.

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zögernd von der antikommunistischen Evolutionstheorie, hat sie aber niemals als Grundlage seines eigenen, von Zweckmäßigkeitserwägungen bestimmten außenpolitischen Programms gegenüber der UdSSR oder gar als Basis für sein erfolgreiches Zusammenwirken mit der sowjetischen Wissenschaft akzeptiert. Indem er 1920/1921 die Erwartung eines raschen konterrevolutionären Umschwungs aufgab, hatte er ein gedankliches Hindernis beseitigt, das ihn an der Fürsprache normaler Beziehungen zwischen Deutschland und Sowjetrußland gehindert hatte. Dem schloß sich eine zweite Korrektur an. Hatte er noch im Mai 1921 das Handelsabkommen sehr kritisch beurteilt, die Lieferfähigkeit Sowjetrüßlands bezweifelt, „diplomatisch-politische Beziehungen mit einem bolschewistischen Staatswesen" verworfen und den Vertrag wegen der fehlenden Rechtsgarantien als einen nur unzulänglichen Versuch begrüßt (NPrZ, 25.5.1921), so gab er im September gänzlich andere Hinweise: „Die Betrachtung des russischen Problems ist auch damit für Deutschland nicht erschöpft, daß man feststellt, mit dem Bolschewismus sei nicht zu paktieren und er habe nichts zu exportieren." (NPrZ, 14. 9. 1921) Zu diesem Zeitpunkt war die Normalisierung der deutschsowjetischen Beziehungen über alle Schwierigkeiten hinweg einen Schritt vorangekommen. Im Januar 1921 wurde bei der Handelsvertretung der RSFSR in Berlin das Büro für ausländische Wissenschaft und Technik (BINT) gegründet, das die Aufgabe hatte, Kontakte zu deutschen und ausländischen Wissenschaftlern herzustellen. Das Abkommen vom Mai 1921 bot die Möglichkeit, den wirtschaftlichen Austausch beginnen zu lassen. Die Ankunft des sowjetischen Bevollmächtigten Vertreters Krestinskij in Berlin und die von Professor Kurt Wiedenfeld in Moskau stand bevor. Im Sommer und Herbst des Jahres wurden verschiedene gemischte deutsch-sowjetische Gesellschaften gebildet, die den Transport zu Lande und in der Luft sowie die Verarbeitung der in Sowjetrußland angefallenen Schrottmengen übernahmen. Schließlich nahm im Oktober 1921 eine spezielle Kommission des Volkskommissariats für Bildungswesen in Berlin die Arbeit auf. Sie sollte zu den kulturellen Organisationen Deutschlands Verbindungen herstellen. Man kann mit Sicherheit annehmen, daß Hoetzsch im Reichstag und besonders im Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten diesen Verlauf der Dinge unterstützte. Anfang November verlangte er: „Immer wichtiger wird für uns das Problem der deutsch-russischen Beziehungen, die große deutsch-russische Orientierung für die Zukunft, der man sich, wie Äußerungen des Grafen Bernstorff und Theodor Wolfis zeigen, auch im deutschen Liberalismus immer entschiedener zuwendet. Es genügt nicht, von der selbstverständlichen Interessengemeinschaft Deutschlands und Rußlands zu sprechen, sondern es heißt, im einzelnen darüber nach der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Seite nachzudenken." (NPrZ, 9. 11. 1921) Die Aufnahme politischer Beziehungen lehnte er jetzt nicht mehr ab, hat sie aber auch noch nicht direkt gefordert. Mit seinem Verlangen, auch die kulturelle Ebene in das System der deutsch-sowjetischen Beziehungen aufzunehmen, ging er über das von der Reichsregierung abgesteckte Feld hinaus. Die aus Anlaß der schweren Hungersnot in den Wolgagebieten eingeleitete offizielle deutsche Hilfsaktion hat Hoetzsch lebhaft gefördert. Gegenüber der proletarischen Solidarität und der Tätigkeit der Internationalen Arbeiterhilfe waren die Ausmaße der staatlichen Hilfeleistung bekanntlich gering, da selbst in diesem Moment die reaktionären Elemente im Auswärtigen Amt und in anderen mit der Aktion befaßten Stellen ihre antisowjetische Haltung nicht aufgaben. 44 Hoetzsch setzte sich in der Zeitung für 41

Vgl. die Darstellung bei Rosenfeld, a. a. 0., S. 337-343.

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humanitäre Maßnahmen ein und schrieb, daß die Hilfe des deutschen Volkes ihm das russische nur enger verbinden werde (NPrZ, 3. 8. 1921). Am gleichen 3. August nahm er an der Besprechung teil, die vom Deutschen Roten Kreuz einberufen worden war und die Entsendung einer medizinischen Hilfsexpedition beschloß. Mit Gerhart Hauptmann, dem Nobelpreisträger Professor Nemst, Bankiers wie Salomonsohn und Wassermann, sowie Vertretern anderer Parteien gehörte er zu einem aus der Beratung hervorgegangenen kleineren Komitee, das die Details der Hilfsaktion festlegte.45 Bei der abschließenden Zusammenkunft am 8. August, an der 37 Personen teilnahmen, vertrat er die DNVP und seine Frau den „Vaterländischen Frauenverein". Der Diplomat Wipert von Blücher hat in seinen Memoiren überliefert, daß die Bewilligung der Mittel durch den Reichstag in erster Linie auf den Einfluß zurückzuführen gewesen sei, den Hoetzsch im Parlament ausübte. 46 In den Monaten vor dem Abschluß des historischen Vertrages von Rapallo hat Hoetzsch nahezu pausenlos „getrommelt". Zu Beginn des Februar 1922 forderte er eine „wohlüberlegte und aktive Rußland-Politik", die von amtlicher und wirtschaftlich-privater Seite koordiniert zu erfolgen habe, zugunsten weltpolitischer Vorteile Opfer bringen müsse und in Genua ausnützen sollte, daß sich Deutschland und Sowjetrußland als besiegte Staaten in der gleichen Lage befänden (NPrZ, 1. 2. 1922). Etwas später betonte er sogar, daß es keinerlei Anzeichen für eine Schwächung der sowjetischen Staatsmacht gäbe und daß man also nicht warten dürfe, „bis in Rußland eine Regierung entsteht, die uns und ganzen Welt paßte" (NPrZ, 22. 2. 1922). Drängend fügte er hinzu: „Kommt die Konferenz in Genua zustande unter Hinzuziehung Deutschlands und Rußlands als gleichberechtigter Teilnehmer, so stehen die beiden, gleichgültig welche Staatsform bei einem gilt, eben nebeneinander, und wenn nicht in gleicher, so doch in ähnlicher Lage, und wir wären Toren, wollten wir nicht, was uns diese Lage günstiges gewähren könnte, ausnutzen. Wir kommen in der Ostpolitik nicht mehr mit der Mahnung, abzuwarten und zu beobachten, aus. Es hilft kein Mundspitzen mehr, es muß gepfiffen werden." (Ebenda) Er wandte sich an Rathenau und forderte von ihm, sich zu einer aktiven Politik gegenüber Sowjetrußland zu bekennen. Der Außenminister solle sich von dem Plan eines internationalen Finanzkonsortiums zum „Wiederaufbau Rußlands", dem Hoetzsch vorher selbst angehangen hatte (NPrZ, 9. 11. 1921), lossagen. Anfang April erinnerte er Rathenau und das Kabinett abermals an ihre Pflicht, aus der Teilnahme Deutschlands als völkerrechtlichem Subjekt in Genua „etwas zu machen" (NPrZ, 5. 4. 1922). Sein ständiger Einsatz für aktive politische Verhandlungen mit der sowjetischen Regierung trug ihm, als sich gerade die sowjetische Delegation auf der Durchreise in Berlin befand, von der „Deutschen Zeitung", einem Organ seiner eigenen Partei, den Vorwurf der „vorurteilslosen Nächstenliebe" ein.47 Hoetzsch begrüßte den am 16. April unterzeichneten Vertrag zwischen Deutschland und Sowjetrußland. Seinen allgemeinen Eindruck legte er in der Kreuzzeitung mit den Worten nieder: „An dieser Stelle ist immer eine aktive Rußlandpolitik gefordert worden. In Genua ist in dieser Richtung gehandelt worden. Aus dem Zwang der Lage hat sich diese Notwendigkeit ergeben, und sogar unsere Regierung hat eingesehen, daß Entschluß und Tat notwendig waren. Das liegt durchaus in der Linie, die wir hier immer ein45

ZStAP, Reichsministerium des Innern, Nr. 9398, Bl. 5, 7 - 8 R. ''6 Blücher, a. a. 0., S. 151/152. 47 Deutsche Zeitung, 2. und 3. April 1922.

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gehalten und gefordert haben, und wir sind daher mit diesem Vertrag nach Grundsatz und Willen, die darin bestätigt werden, einverstanden . . . Aber es war ein richtiges Gefühl, wenn schließlich die öffentliche Meinung Deutschlands so gut wie einhellig diesen Vertrag billigte als Zeichen eines Willens, der Aktivität, einer richtigen Orientierung für unsere politische und wirtschaftliche Zukunft." (NPrZ, 26. 4.1922) In der außenpolitischen Debatte des Reichstags am 30. Mai bekräftigte er seinen Standpunkt, sprach jedoch nur in seinem eigenen Namen und lediglich zu einigen Punkten im Auftrag der Fraktion. Er sagte: „Ich für meine Person habe mich davon überzeugt, daß es richtig war, am Ostersonntag diesen Vertrag zu schließen, ich für meine Person habe mich davon überzeugt, daß es richtig war, ihn zu dieser Zeit und mit diesem Inhalt abzuschließen."48 Aus einem interessanten Briefpassus Westarps geht hervor, daß der Vertrag unter den Abgeordneten der Deutschnationalen sehr unterschiedlich beurteilt wurde. Der Graf schrieb Anfang Juni an Heydebrand: „In der Fraktion ist eine starke Richtung vorhanden, die im Gegensatz zu Hoetzsch den Vertrag als solchen mißbilligt. Die Verhandlung über die Ratifikation steht noch bevor, und dabei wird wohl ein Teil der Fraktion gegen die Ratifikation stimmen. Ich persönlich glaube, mich mehr der Hoetzschen Auffassung anschließen zu wollen.'"'0 Noch am 1. Juli, als der Rapallovertrag dem Reichstagsausschuß für auswärtige Angelegenheiten zur Abstimmung vorlag, enthielten sich die deutschnationalen Mitglieder der Stimme; Hoetzsch scheint sich entgegen seiner Auffassung dem Fraktionszwang gebeugt zu haben. 50 Da der Vertrag bei der Abstimmung im Plenum schließlich doch eine starke Majorität der Deutschnationalen fand, darf man mit Schlösser und Hertzman hier einen nachhaltigen Einfluß von Hoetzsch annehmen. Es verdient Erwähnung, daß der andere „Ostexperte" der DNVP, Axel von Freytagh-Loringhoven, noch 1925 die Billigung der Rapallopolitik wütend bekämpfte und den Tag ersehnte, „an dem Rußland das kommunistische Joch abwirft und von der roten Flagge wieder zum Zarenadler zurückkehrt." 51 Die von Hoetzsch damals vertretenen Ansichten zum Vertrag von Rapallo beschränkten sich jedoch nicht auf eine grundsätzliche Zustimmung, sondern waren differenzierter. Sie enthielten zunächst eine Reihe unangebrachter Einwände. In einem Artikel in der „Weltwirtschaftszeitung" bezweifelte er, ob sich der Vertrag wie vorgesehen auf alle Sowjetrepubliken ausdehnen lasse, da ihr staatsrechtliches Verhältnis zur RSFSR angeblich „völlig unklar" sei und in der Ukraine angeblich „volle Anarchie" herrsche.52 Das vor der Konferenz von Genua geschlossene Abkommen der vier Sowjetrepubliken nahm Hoetzsch offenbar nicht ernst. Ein Interview, das er im Mai 1922 der „Izvestija" gab, benutzte er zu weiteren Angriffen. Er spielte die noch fehlende Sühne für den

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Stenographische Berichte des Deutschen Reichstags, Bd. 355, 30. Mai 1922, S. 7710 D, Aufzeichnung Westarps für Heydebrand, 2. Juni 1922, zitiert nach K. Schlösser, Die Deutschnationale Volkspartei und die Annäherung Deutschlands an Sowjetrußland 1918 bis 1922, Phil. Diss. Mainz 1956, S. 153. ZStAP, Reichstag, Nr. 1165, Bl. 99, Protokoll der Ausschußsitzung vom 1. Juli 1922. Deutsche Zeitung, 15. Dezember 1925, zitiert nach A. Anderle, Die deutsche RapalloPolitik. Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922-1929, Berlin 1962, S. 165. Vgl. ferner Stenographische Berichte des Deutschen Reichstags, Bd. 388, 12. Dezember 1925, S. 4823. Hoetzsch, Deutsch-russische Wirtschaftsbeziehungen. In: Weltwirtschaftszeitung, 1922, Nr. 31, 4. 8. 1922, S. 601.

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Mord an Mirbach hoch und klagte den Sowjetstaat der Einmischung in deutsche Angelegenheiten an, um von ihm entsprechende „Garantien" zu verlangen. ),! Andererseits machte Hoetzsch auf interessante Aspekte aufmerksam. Er beurteilte den Rapallovertrag in taktischem Sinne als ein Gegengewicht gegen den am 17. März 1922 geschlossenen Warschauer Vertrag zwischen Polen, Lettland, Estland und Finnland, der sich gegen Sowjetrußland richtete, aber bei französischer Oberhoheit auch das Eingreifen Englands in die europäische Politik behindern sollte. Den mit Rapallo errungenen Sieg über die französische Diplomatie motivierte Hoetzsch auch mit dem zwischen den Partnern vereinbarten Verzicht auf den Ersatz der Ki'iegsschäden, der die Forderung Frankreichs auf Rückerstattung der russischen Vorkriegsschulden vor der Welt als steril und unerfüllbar nachweisc. y ' Schon im Mai 1922 wies er darauf hin, daß Rapallo als Vorbild für Abkommen der R S F S R mit England, Belgien und der CSR dienen werde (NPrZ, :I0. 5. 1922) - hier zeichnete sich ihm der Vertrag von Rapallo erstmals als Modell für eine friedliche Koexistenz größeren Ausmaßes ab. Den deutschen Politikern empfahl Hoetzsch 1922 mehrfach, Rapallo als Rahmenvertrag aufzufassen und ihn auszubauen. Er entwarf eine ganze Skala von Problemen, die in weiteren Verhandlungen geklärt werden sollten: Rcchtsgarantien, Schutz der Ausländer und ihres Privateigentums, Garantien für die Einhaltung geschlossener Verträge, Steuergesetzgebung (NPrZ, 24. 5.1922). Es waren die Fragen, die nach langem Zögern durch die deutsche Seite mit den Abkommen vom 12. Oktober 1925 zu einer gewissen Regelung gelangten. Zum Ausbau des Rapallovertrages gehörte der Beginn des kulturellen und wissenschaftlichen Austausches, für Hoetzsch immer ein äußerst wesentliches Element der russisch-deutschen Interessengemeinschaft. Er hatte sich eingehend über die Ergebnisse unterrichtet, die der Berliner Ordinarius und Mitarbeiter des Kultusministeriums, der Physiker Wilhelm Westphal, bei seinem Aufenthalt in Petrograd und Moskau im Oktober 1922 erreicht hatte. Westphal, der mit Hoetzsch auch aus der Fakultät bekannt war, hatte die Reise auf Einladung des sowjetischen Geographen und Pädagogen A. P. Pinkevic sowie durch Vermittlung Gor'kijs angetreten, um die Beziehungen zu wissenschaftlichen Institutionen Sowjetrußlands neu zu knüpfen. Unterredungen führten ihn u. a. mit Volkskommissar A. V. Lunacarskij und dem damaligen Leiter der Hochschulabteilung, M. N. Pokrovskij, zusammen. Westphal hielt verschiedene Vorträge und traf, besonders mit Forschungsinstituten der Physik, erste Vereinbarungen. Im Frühjahr und Sommer 1923 unternahm Hoetzsch weitere Anstrengungen, um die kulturell-wissenschaftlichen Beziehungen zur U d S S R auszubauen und selbst in die UdSSR zu reisen. Ein Schreiben an Brockdorff-Rantzau vom 28. Juni 1923 gibt darüber näheren Aufschluß (Anhang, Dokument 6). Er unterhielt bereits Kontakte zu dem Kulturattache der Botschaft der U d S S R in Berlin, Grjunberg, und zu dem Sekretär der Russischen Akademie der Wissenschaften, dem Indologen S. F. Ol'denburg. Mit Schmidt-Ott legte er die nächsten Schritte fest und versicherte sich der Mitarbeit weiterer Fachkräfte. Anfang September 1923 teilte Hoetzsch schließlich Legationsrat Hilger an der deutschen Botschaft in Moskau mit, daß er nach einem kurzen Aufenthalt in War53

55

Der T e x t wurde von den M3BecTHH nicht abgedruckt und erschien nur in der N P r Z v o m 17. Mai. Hoetzsch, Deutschlands Grenzmarken- und Außenpolitik, Berlin 1922, S. 17, und: Deutschrussische Wirtschaftsbeziehungen, a. a. 0., S. 601.

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schau die Städte Moskau, Char'kov und Petrograd besuchen werde und über Estland oder Helsinki zurückfahren werde. Grjunberg hatte ihm für Moskau und Petrograd eine Unterkunft im Haus der Gelehrten in Aussicht gestellt.55 Hoetzsch traf am 20. September 1923 in Moskau ein und blieb etwa einen Monat in der UdSSR. Seine Reise zählte zu den ersten, die von bürgerlichen deutschen Wissenschaftlern in die UdSSR unternommen wurden. Hoetzsch führte eine Reihe informativer Besprechungen; in einer Unterredung mit Volkskommissar G. V. Cicerin kam zum ersten Mal der Gedanke einer gemeinsamen Historikerwoche zur Sprache. Hoetzsch nahm auch an einer Sitzung des Petrograder Sowjets teil, wo er eine Rede Zinov'evs hörte. Er besuchte nicht nur die Universität, den Kreml sowie die großen Museen und Galerien der Hauptstadt, sondern studierte auch die Moskauer Landwirtschaftsausstellung und die Arbeit verschiedener Sowjetorgane. Nach seiner Rückkehr hielt er in Berlin einen öffentlichen Vortrag und berichtete nach zweimonatiger „Bedenkzeit" in der Kreuzzeitung (NPrZ, 9. und 16. 1. 1924). Seine Eindrücke von der Reise waren großenteils positiv und haben sein Urteil über die UdSSR weiter beeinflußt. Der antibolschewistischen Propaganda in Deutschland hielt er entgegen, daß ihm niemand Potemkinsche Dörfer habe zeigen wollen, daß er völlige Bewegungsfreiheit genossen und stets das Gefühl absoluter persönlicher Sicherheit empfunden habe. Besonders würdigte er die Nationalisierung der Kunstschätze. Zum Erstaunen vieler verblendeter Leser betonte er, daß von einem Niedergang und von Hungersnöten keine Rede sein könne; überall in der Union hatte er einen „kräftigen Willen zum Leben" verspürt, und die Kinder „sehen besser aus als leider Gottes in meinem Vaterlande". Seine politischen Schlußfolgerungen dagegen blieben, wie es auch bei Westphal der Fall gewesen war, weiter stark von antikommunistischen Vorbehalten getrübt. Die KPdSU verglich er wider besseres Wissen mit einem Orden. Er beklagte das Verschwinden der „alten Kulturschicht" und das angebliche Fehlen einer neuen, die mit dem sozialistischen Bildungsideal nicht zu schaffen sei. Dennoch sah er sich zu dem, frühere Äußerungen korrigierenden, politischen Eingeständnis veranlaßt, daß „nach meiner Uberzeugung der Rätegedanke tatsächlich mit dem Volke verankert" sei und daß die Bauernschaft ein Lebensinteresse am Bestand des Sowjetsystems habe. Seine Reiseberichte enthielten kein Wort über irgendeine antisowjetische Opposition. Hoetzsch lehnte abermals „alle Interventionsspielereien gegen Sowjetrußland durchaus und unbedingt ab", bekräftigte den Nutzen der friedlichen Koexistenz und propagierte die wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit, „für die ich trotz allem Voraussetzungen und Boden nur günstig getroffen habe" (NPrZ, 16.1.1924). Vor seiner Reise, aber bereits nach dem Abschluß des Rapallovertrages, war Hoetzsch, der mit einer „Evolution" Sowjetrußlands rechnete, an einer gewissen Förderung der Emigration durchaus interessiert gewesen. Als im August und September 1922 die Sowjetorgane gezwungen waren, auf der Grundlage des Strafgesetzbuches der RSFSR aus Petrograd, Moskau und Kiev etwa 160 aktive Konterrevolutionäre aus den Reihen der Professoren, Ärzte, Agronomen und Schriftsteller, zumeist Kadetten, entweder in die nördlichen Landesteile umzusiedeln oder mit ihrem gesamten Besitz ins Ausland auszuweisen56 und eine größere Gruppe von ihnen, wahrscheinlich auf Betreiben der 55

ZStAP, Auswärtiges Amt, Deutsche Botschaft Moskau, Nr. 394, Bl. 4 - R., Hoetzsch an Hilger, 7. September 1923.

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Vgl. S. A. Fedjukin, BeJiHKHÄ OKTaSpt h HHTeJiJiMreHipiH, Moskau 1972, S. 287.

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deutschen Botschaft in Moskau57, nach Berlin reiste, verwandte sich Hoetzsch dafür, diesen Kräften in Deutschland Unterkunft und Arbeitsmöglichkeiten zu verschaffen. Nachdem er Mitte November vom Eintreffen der Professoren Kenntnis erhalten hatte, organisierte die Osteuropa-Gesellschaft zunächst einen Empfang, dem sich mehrere Besprechungen im Kultusministerium anschlössen.58 Am 21. November berieten die leitenden Mitarbeiter des Ministeriums Krüss und Wende, die Professoren Hoetzsch und Westphal sowie der Landtagsabgeordnete der DDP und Chefredakteur der Berliner Volkszeitung, Dr. Otto Nuschke, mit dem Sprecher der russischen Professoren, Jasinskij, die Zukunft der Gruppe. Es wurde die Gründung eines „Russischen Wissenschaftlichen Instituts" beschlossen, das für die in Berlin ansässigen Emigranten Lehrkurse und für die deutsche Öffentlichkeit Vortragsabende durchführen sollte. Das Kultusministerium und das Auswärtige Amt, das sich bald in die Verhandlungen einschaltete, waren sorgfältig darauf bedacht, den unpolitischen Charakter des Unternehmens zu unterstreichen und sich nach außen hin unbeteiligt zu geben. Die Gesellschaft zum Studium Osteuropas wurde beauftragt, vor der Öffentlichkeit als Schirmherr des Instituts aufzutreten und die Vermittlung der Gelder, die von den beiden Ministerien zur Verfügung gestellt wurden, zu übernehmen. Hoetzsch wurde als einziger Deutscher in den „Senat" des Instituts entsandt und hat ihm, später nur noch formal, bis 1932/1933 angehört. Am 21. Dezember 1922 wurde die sowjetische Botschaft von den Plänen unterrichtet. Kulturattache Dr. Z. G. Grjunberg, der bereits informiert war, erhob gegen die getroffene Regelung Westphal gegenüber keine Einwände. Zu dieser Zeit waren bereits 20 Millionen Reichsmark vorhanden, ein trotz der nahenden Inflation hoher Betrag. Das „Russische wissenschaftliche Institut" wurde anfangs sogar mit dem Anspruch, eine eigene Universität zu sein, aufgezogen. Als Hörerkreis kamen ungefähr 1 500 Studenten, meist ehemalige Angehörige der konterrevolutionären Armeen, in Frage; bei der Eröffnung am 17. Februar 1923 war unter etwa 250 Personen auch General Vrangel' anwesend. Der Lehrkörper setzte sich aus 30 bis 40 Professoren und Dozenten zusammen, die sich auf eine philosophische, rechtswissenschaftliche und volkswirtschaftliche Abteilung verteilten. Von den „Koryphäen" der Emigration waren 1922/1923 der Religionsphilosoph N. A. Berdjaev, der Historiker G. V. Vernadskij, der Philosoph S. L. • Frank, die Ökonomen S. N. Prokopovic und P. B. Struve, der einstige „legale Marxist", vertreten. Die Vorlesungen fanden in den Räumen der alten Schinkelschen Bauakademie statt, in der auch die „Deutsche Hochschule für Politik" untergebracht war. Das preußische Kultusministerium bestand mit Rücksicht auf die Beziehungen zur UdSSR darauf, daß keinerlei Verbindung zur Berliner Universität zustande komme, daß bestimmte Amtsbegriffe nur im internen Bereich des Instituts verwendet wurden und aus den absolvierten Kursen keinerlei Berechtigung zum Besuch deutscher Hochschulen erwachse. Sehr bald trat eine gründliche Wendung ein. Bereits Ende 1922 hatten Beauftragte der amerikanischen und der tschechischen Regierung versucht, die bekanntesten Emi57

58

ZStAM, Rcp. 76, Vc, Sekt. 2, Tit. XXIII, Lit 1, Nr. 134, unfol., Brief der Nazibeauftragten Reyher und Hamm an Prof. Vahlen im Kultusministerium, 20. Juni 1933. Das deutsche Generalkonsulat in Petrograd hatte nachweislieh die Hände im Spiel, wie aus seinem Schreiben vom 9. November 1922 an das AA hervorgeht, ZStAM, Rep. 77, Tit. 1811, Nr. 24, Bd. XXIV, Bl. 44-45. ZStAM, Rep. 76, Vc, Sekt. 2, Tit. XXIII, Lit. 1, Nr. 134, Hoetzsch an den Kultusminister 18. November 1922, und Aktenvermerk vom 21. November.

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granten aus Deutschland abzuziehen. Die amerikanischen Gelder, die der damalige deutsche Völkerbundskommissar, Generalkonsul Moritz Schlesinger, beschaffte, taten rasch ihre Wirkung. 59 Der Personalbestand des Instituts schmolz in kurzer Zeit zusammen. Prokopovic ging mit seinem „ökonomischen Kabinett" nach Prag, viele andere Dozenten wanderten in die USA ab. Bald bestand das Institut nur noch aus 14 Lehrkräften. Die Zahl der Studenten war von anfangs 600 auf 60 zurückgegangen. 1925 regte Hoetzsch in nüchterner Beurteilung der Situation an, das Institut in seinem bisherigen Umfang zu liquidieren und es in eine kleine Forschungsstelle umzuwandeln, deren Mitarbeiter auf der Basis staatlicher Stipendien im deutschen Interesse tätig sein sollten, ohne das Recht auf Herausgabc eigener Nachrichtenblätter zu besitzen und ohne sich in den Lehrbetrieb deutscher Hochschulen einmischen zu dürfen. Er verlangte vom Auswärtigen Amt, das Eigentumsrecht des deutschen Staates an den materiellen Grundlagen des Instituts, insbesondere an seiner wertvollen Bibliothek, klarzustellen, eine Kontrolle des Instituts durch die Osteuropa-Gesellschaft zu organisieren und beizeiten Vorsorge zu treffen für eine vielleicht notwendig werdende endgültige Einstellung der Subsidien.60 Das Mißtrauen war berechtigt, denn zu dieser Zeit war die Versicherung der Emigranten, unpolitische Arbeit zu leisten, bereits vergessen. In einem Verzeichnis von 34 deutschsprachigen Vorträgen, die im ersten Quartal 1927 gehalten wurden, finden sich Themen wie „Die religiösen Verfolgungen und der Kampf um die religiöse Freiheit in- Rußland" (Puzino), „Uber das Scheitern des Kommunismus an den Grundgesetzen des wirtschaftlichen Daseins" (Il'in) und „Die russische Agrarrevolution, ihre historischen Grundlagen und Auswirkungen" (Bruckus).61 Mehrere Briefe von Hoetzsch zeigen, daß er es ablehnte, die Publikationen der Emigranten ernst zu nehmen. Inzwischen hatte er eine große Arbeit geleistet, um die wirklichen kulturell-wissenschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und der UdSSR zu fördern. Im Frühjahr 1923 war er maßgeblich an der Bildung des sogenannten Westphal-Komitees beteiligt gewesen, das führende Professoren der verschiedensten Gebiete vereinte. Die Liste des Komitees nennt 44 Namen, unter ihnen die Nobelpreisträger Einstein, Haber, von Laue, Nernst und Planck, ferner Adolf von Harnack, Ulrich von Wilamowitz• Moellendorf, den Kinderarzt und Mitbegründer der modernen Kinderheilkunde Adalbert Czerny, den Althistoriker Eduard Meyer, den Geologen Felix Pompeckij und aucli Sombart und Spranger. Hoetzsch gehörte dem Komitee mit weiteren elf Mitgliedern der Osteuropa-Gesellschaft an, unter denen sich Schmidt-Ott, Sering, Stählin, Jonas und der Generaldirektor der Preußischen Staatsbibliothek, Milkau, befanden. 62 Die repräsentative Vereinigung sollte, gesteuert durch das Präsidium der Osteuropa-Gesellschaft, die Ausweitung des wissenschaftlichen Verkehrs mit der UdSSR in die Hand nehmen und besprach hierfür am 29. Oktober 1923 die dringendsten Fragen mit dem Ständigen

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Ebenda, Schlesinger an Hoetzsch, 10. November 1923, Abschrift. Schlesinger, später selbst Ausschußmitglied, sprach von 10 000 Dollar. Nachlaß Schmidt-Ott, Bd. 1, 145-151, Hoetzsch an die Kulturabteilung des AA, 30. Oktober 1925, Durchschlag. Siehe auch die Beiträge von Frank, Karsavin und Bruckus in dem Sammelband: Der Staat, das Recht und die Wirtschaft des Bolschewismus, hg. v. F. v. Wieser/L. Wenger/ P. Klein, Berlin 1925. Namensliste im Nachlaß Schmidt-Ott, Bd. 1, Bl. 273-274.

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Sekretär der Russischen Akademie der Wissenschaften, Ol'denburg,®3 der sich auf einer Informationsreise durch Europa befand. Es wurde beschlossen, zunächst den völlig darniederliegenden Austausch von Publikationen wieder aufzunehmen, Vortrags- und Arbeitsreisen von Professoren anzubahnen und dem Wunsch der sowjetischen Wissenschaft nach besserer Unterrichtung nachzukommen. Das Präsidium der Gesellschaft wandte sich zu diesem Zweck an Vertrauensmänner verschiedener deutscher Universitäten, um über sie die Beziehungen auf eine breite Basis zu stellen. Mehrere der angeschriebenen Wissenschaftler erklärten ihre Bereitschaft, unter ihnen der Leiter des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, Bernhard Harms, der sogleich einen sowjetischen Gelehrten einlud, ferner der Münchner Slawist Berneker und der betagte Bonner Historiker L. K. Goetz, der selbst gern als Austauschprofessor in die UdSSR reisen wollte. Der Marburger Professor Jacobsohn sagte die Hilfe der theologisch-philosophischen Fakultät zu. Der Senat der Universität Halle-Wittenberg stand „prinzipiell auf dem Standpunkt, daß es durchaus wünschenswert erscheint, einen Zusammenhang zwischen unserer und der russischen Gelehrtenwelt herzustellen, wenn er sich auch nicht verhehlt, daß in der Frage des ,Gelehrtenaustausches' bei der allmählichen Politisierung der Gelehrtenwelt in Rußland große Schwierigkeiten zu überwinden und eine gewisse Vorsicht zu beobachten sein wird."6* Die Gesellschaft hatte damit über ihre Vertrauensmänner manchen Universitätsangehörigen ermuntert, die wissenschaftlichen Kontakte zur UdSSR zu festigen. Der Schriftenaustausch, 1924 in eine vertragliche Form gebracht, führte schon nach kurzer Zeit zu bedeutsamen Ergebnissen. Die Russische Akademie der Wissenschaften sandte bis Mitte 1925 80 große Kisten mit neuer Literatur, die an die entsprechenden Schwesterinstitute der preußischen Akademie verteilt wurden. Die „Kniznaja Palata" lieferte Literatur, die an fünf deutsche Bibliotheken mit Slavica-Beständen weiterbefördert wurden; sie erhielt auf dem Wege korrekter Verrechnung Bücher und Zeitschriften in gleicher Bogenzahl. Nach einem neuen Vertrag 1927 stiegen die Ziffern stark an.65 Die UdSSR hatte seit dem Ende der Interventions- und Bürgerkriege ein ausgeprägtes Interesse an einem geregelten wissenschaftlichen Austausch mit den hochentwickelten kapitalistischen Staaten bewiesen, weil diese Seite aus dem Leben der Völker zum Leninschen Konzept der friedlichen Koexistenz von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung unverzichtbar hinzugehört.®6 Die wechselseitigen Beziehungen in Wissenschaft, Kunst und Kultur im weitesten Sinne erwiesen sich als Mittel, um nicht nur das Verhältnis zwischen der UdSSR und den kapitalistischen Staaten zu verbessern, sondern auch um freundschaftliche Kontakte des Sowjetvolkes mit fortschrittlichen Kräften 63

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S. F. Ol'denburg (1863 — 1934) — Orientalist, arbeitete zu Fragen der Ethnographie, Religion, Kunst und Folklore Indiens, Chinas und Indonesiens sowie verschiedener Völker Rußlands und Europas, Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften seit 1901, 1904—1929 Ständiger Sekretär der Akademie; Mitglied des ZK der Kadettenpartei, Minister für Volksbildung in der Provisorischen Regierung 1917, seit Ende 1917 mehrere Gespräche m i t W . I.Lenin über die Arbeit der Akademie, deren Umwandlung in die Akademie der Wissenschaften der UdSSR er tatkräftig unterstützte; ab 1925 Herausgeber der Zeitschrift „HayHHblö paÖOTHHK", seit 1930 Direktor des Orientalischen Instituts. Nachlaß Schmidt-Ott, Bd. 1, Bl. 255-264, verschiedene Schreiben an die Gesellschaft. I. Dzuck, Der deusch-sowjetische Buchaustausch in der Weimarer Republik. In: Zentralblatt für Bibliothekswesen, 1966, S. 577-588; Nachlaß Schmidt-Ott, Bd. 1, 168-169, Aufzeichnung über den Buchaustausch. Vgl. A. Joffe/M. Narinski, Zusammenarbeit zum Nutzen der Völker, Moskau 1973.

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anderer Länder herzustellen. Bereits in den zwanziger Jahren haben die Wissenschaftsbeziehungen grundsätzlich dazu beigetragen, den internationalen Erkenntnisstand in verschiedenen Disziplinen zu heben und wissenschaftsorganisatorische Erfahrungen zu vermitteln. Sie waren darüber hinaus geeignet, die marxistisch-leninistische Weltanschauung an fortschrittliche Kreise anderer Länder heranzutragen und eine inhaltlich oft scharfe Auseinandersetzung mit antisozialistischen oder sogar slawenfeindlichen nationalistischen Ansichten zu führen, die von reaktionären Kräften in die Wissenschaftsbeziehungen getragen wurden. Lenin hat persönlich viele Anregungen gegeben, um den wissenschaftlichen Austausch mit anderen Ländern in Gang zu bringen oder ihn zu verstärken. 67 Auf seine Initiative ging auch die umfangreiche Bibliographie zurück, in der die seit 1914 in deutscher Sprache veröffentlichte wissenschaftliche Literatur erfaßt und für Sowjetrußland verfügbar gemacht wurde, eine mehrjährige verdienstvolle Arbeit, die unter Leitung des früher in Petersburg und nunmehr in Leipzig ansässigen Osteuropa-Historikers Friedrich Braun, Korrespondierendem Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften, seit 1921 geleistet wurde. 68 Um die Mitte der zwanziger Jahre, zu Beginn der sozialistischen Industrialisierung, verstärkte sich das Interesse der UdSSR an engeren wissenschaftlichen und kulturellen Beziehungen zum Ausland. Es galt, für die Industrialisierung des Landes die Mitarbeit hochqualifizierter Fachleute zu sichern, und zwar nicht nur für die faszinierenden Aufgaben in Technik, Städtebau und Verkehrswesen, sondern auch in der Geologie und Physik, bei der geographischen Erkundung noch unerschlossener Landesteile durch gemeinsame Expeditionen, schließlich auch in verschiedenen Bereichen der Medizin. 69 1925 wurde die Allunionsgesellschaft für kulturelle Verbindungen mit dem Ausland (VOKS) gegründet, zu deren Hauptaufgaben es auch gehörte, die Erfahrungen und Errungenschaften der sozialistischen Wissenschaftspolitik im Ausland bekanntzumachen und dadurch die Auseinandersetzung mit antisowjetischen Haltungen oder Ressentiments zu unterstützen. Zu den frühesten Partnern der VOKS gehörte die deutsche Gesellschaft der Freunde des neuen Rußland, die 1923 entstanden war. Ähnliche demokratische Gesellschaften oder Institutionen wurden später in England, Frankreich, Japan, Schweden, der Tschechoslowakei und Kanada, in den USA, Brasilien, Uruguay, Mexiko, Australien und den Niederlanden gegründet. 1929 unterhielt die VOKS Kontakte zu 77 Ländern, während die diplomatische Anerkennung der UdSSR zu diesem Zeitpunkt erst von 25 Staaten vollzogen worden war. Bekanntlich gelang es der UdSSR, die Isolierung auf wissenschaftlichem Gebiet, die durch die antisowjetische Einkreisungspolitik der imperialistischen Mächte entstanden war, zu durchbrechen, ohne den internationalen Wissenschaftsorganisationen, die oft dem antisowjetischen Völkerbund an67

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Siehe dazu G. Kröber/B. Lange, Sowjetmacht und Wissenschaft. Dokumente zur Rolle Lenins bei der Entwicklung der Akademie der Wissensehaften, Berlin 1975. Systematische Bibliographie der wissenschaftlichen Literatur Deutschlands für die Jahre von 1914 bis 1921, 7 Bde, Leipzig 1922-1924; vgl. 0 . Feyl, Die bibliothekarische Zusammenarbeit zwischen Deutschland und der Sowjetunion und ihre nationale und internationale Rolle (1920-1930). In: Deutschland Sowjetunion. Aus fünf Jahrzehnten kultureller Zusammenarbeit, Berlin 1968, S. 157-163. A. E. Ioffe, MewßyHapoAHHe cbh3h coBeTCKOii H a y K H , TexHHKH h KyntTypH, 1917—1932, Moskau 1975; M. S. Kuz'min, flenTejibHOCTb napTHH h coBeTCKoro rocyßapcTBa no pa3bhthh MewsynapoAHMx, HayHHtix h KyjibTypHtix CBHseöCCCP, 1917—1932, Leningrad 1971.

Hoetzsch und die U d S S R (1918 bis 1930)

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gegliedert waren, diskriminierende Konzessionen machen zu müssen. Großen Anteil an diesem wesentlichen Erfolg hatte die kluge Intelligenzpolitik der Sowjetmacht, die es verstand, viele bereits vor 1917 wissenschaftlich tätige Gelehrte zur loyalen Zusammenarbeit mit dem sozialistischen Staat zu führen.' 0 Die besondere Aufmerksamkeit der U d S S R bei der Anbahnung wissenschaftlicher Kontakte und fester Beziehungen richtete sich auf Deutschland. Die Weimarer Republik besaß im Gegensatz zu anderen kapitalistischen Staaten mit dem Vertrag von Rapallo, den Wirtschafts- und Rechtsabkommen von 1925 und mit dem Berliner Vertrag eine brauchbare Grundlage für den Ausbau von Wissenschaftsbeziehungen mit der U d S S R . 7 1 Unter der deutschen Intelligenz herrschte auf Grund des politischen Kräfteverhältnisses ein relativ großes Interesse an den Vorgängen und gesellschaftlichen Umwälzungen in der U d S S R , und das Gewicht progressiver deutsch-russischer Wissenschaftsbeziehungen aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg war noch immer spürbar. Der Kreis um Hoetzsch und Schmidt-Ott war für die sowjetische Seite aus mehreren Gründen sehr attraktiv. Ihm standen viele führende Wissenschaftler aus nahezu allen Disziplinen, darunter Gelehrte von Weltruf, nahe, und er verfügte über vorzügliche Kontakte zu den Führungsinstanzen der Weimarer Republik, besonders zum Auswärtigen Amt und zum Reichsinnenministerium, das die Oberaufsicht über die Notgemeinschaft innehatte, ferner zum Reichstag. Dieser Kreis war durch die zahlreichen Verbindungen, die Schmidt-Ott zur Bourgeoisie unterhielt und 1925 durch seinen Eintritt in den Aufsichtsrat der IG Farben krönte, finanziell immer gut situiert und konnte, ebenfalls ab 1925, eine eigene Monatszeitschrift vorweisen, die im In- und Ausland rasch bekannt wurde und sowjetischen Autoren zur Verfügung stand. Die Reise, die Hoetzsch 1923 in die U d S S R unternommen hatte, und die ersten Berührungen mit der sowjetischen Wissenschaft trugen dazu bei, der Gesellschaft größeres Ansehen zu verleihen. Die Jahresversammlung v o m 27. Februar 1924, die dem Botschafter der U d S S R ihr Beileid zum Tode Lenins übermittelt hatte, stellte eine leichte Aufwärtsentwicklung fest und wählte neue Leitungsgremien. Im Präsidium und im Hauptausschuß, den statutenmäßig obersten Organen, waren nunmehr 49 Personen vertreten, und zwar 22 Professoren oder Mitarbeiter von Bildungsinstitutionen, 7 Abgesandte des Staatsapparates und 9 Repräsentanten der Bourgeoisie, darunter 6 Großkapitalisten; die restlichen 11 Personen sind nicht klar zu klassifizieren. Die Gesellschaft zählte etwa 300 Mitglieder; Neuwahlen hatten in dreijährigem Abstand zu erfolgen. 1923 und 1924 machte sich das Desinteresse der Ministerien weiterhin stark bemerkbar. Obgleich die Gesellschaft in der Besprechung mit Ol'denburg ein realistisches Programm abgesteckt und einen Apparat zur Verwirklichung der Vorhaben aufgebaut hatte, konnte sie lediglich einige Vortragsabende durchführen. Die Taktik der deutschen Regierung, die Wirtschaftsverhandlungen mit der U d S S R zu verschleppen und den Ausbau des Rapallovertrages durch Provokationen wie den Überfall auf die sowjetische Handelsvertretung zu hintertreiben, wirkte sich auf der kulturellen Ebene empfindlich aus. Hoetzsch beklagte sich bei Schmidt-Ott, daß nur Westphal ihre Angelegenheiten 70

Vgl. dazu vor allem S. A. Fedjukin, BeflHKHii OKTHÖpt, a. a. 0 .

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I. V. Chrenov, Zu den deutsch-sowjetischen Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen im ersten Jahrzehnt der Sowjetmacht, und I. K. Kobljakov, Zu den Anfängen der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit zwischen der Sowjetunion und Deutschland. I n : Deutschland Sowjetunion. Aus fünf Jahrzehnten, S. 36-53.

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Kapitel IX

fördere, während die höchsten Beamten des Kultusministeriums und des Auswärtigen Amtes sich in keiner Weise anstrengten. Er beschwerte sich, daß „heute noch nicht begriffen wird, welche Bedeutung die osteuropäische Frage und ihre Förderung für Deutschland hat und was namentlich dabei auch ein Kultusminister tun kann." 72 Außerdem zeigte sich, daß die Führung der Gesellschaft keineswegs geschlossen seinen Kurs guthieß. Als im Januar 1925 mit Professor Eugen Varga zum ersten Mal ein führender Vertreter der marxistischen Wissenschaft in der Osteuropa-Gesellschaft einen öffentlichen Vortrag halten sollte, suchte Auhagen die Veranstaltung zu torpedieren. In einem empörten Brief warnte er Schmidt-Ott, daß Varga „stimmungmachend für das bolschewistische System" auftreten werde, zumal sich das Auditorium' „zu grossem Teil aus Jugendlichen und sonstigen nicht mit dem nötigen kritischen Urteilsvermögen ausgestatteten Personen zusammensetzt". 73 Der Präsident bedeutete ihm, daß die Gesellschaft auf die Hilfe der sowjetischen Botschaft, deren Mitarbeiter Varga war, angewiesen sei, wenn der von allen Seiten gewünschte Austausch wissenschaftlicher Bücher und Zeitschriften in Gang kommen solle. Auhagen mußte zur Kenntnis nehmen, daß die weiterreichenden Ziele der Gesellschaft mit den von ihm vorgeschlagenen Vorträgen in kleinstem Rahmen nicht zu erreichen seien. Bereits hier wurde klar, daß die verdienstvollen Seiten aus der Tätigkeit der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas im Grunde das Werk weniger Personen - Hoetzsch, Schmidt-Ott, Jonas - waren. Die Gleichgültigkeit der Reichsbehörden und der Angriff aus den eigenen Reihen ließen Schmidt-Ott sogar den Gedanken an seinen. Rücktritt erwägen. Im Laufe des Jahres 1925 besserte sich die Situation, die seit zwölf Jahren geplante Zeitschrift konnte erscheinen. In das Redaktionsgremium von „Osteuropa" wurden die Professoren Sering, Schumacher, Auhagen (alle Berlin), Wiedenfeld (Leipzig), Salomon (Hamburg), Mann (Königsberg) und Goebel (Hannover), der Leipziger Slawist Luther, der Breslauer Herausgeber der „Zeitschrift für osteuropäisches Recht", Schöndorf, sowie der Verlagsbuchhändler Karl Siegismund aufgenommen. Hoetzsch hatte die Gesamtleitung. Es war ein unterschiedlicher Herausgeberkreis, der sich die wissenschaftlichen Sporen bereits in der Ostforschung der Vorkriegszeit erworben hatte, und der die Entwicklung der UdSSR reserviert, aber aufmerksam, teilweise jedoch mit offener Feindschaft beobachtete. Wiedenfeld, Sering und besonders Schumacher hatten während des Krieges alldeutsch-annexionistische Positionen eingenommen, Luther war ein ressentimenterfüllter Emigrant deutscher Herkunft, der wenig produktive Salomon nahm eine schwankende Haltung ein, Goebel und Schöndorf traten überhaupt nicht hervor. Die Last der Redaktionsarbeit lag, wie auch die Archivunterlagen zeigen, bei Hoetzsch und seiner Berliner Kopfstelle. Er bestimmte den Charakter der Zeitschrift und veröffentlichte in ihr zahlreiche Ubersichten und Artikel. Zweifellos war es sein Verdienst, daß „Osteuropa" in ihren ersten Jahrgängen (1925/ 1926 bis 1929/1930), die redaktionell von Hans Jonas betreut wurden, etwa 40 Originalbeiträge sowjetischer Politiker, Wissenschaftler und Pädagogen veröffentlichte. Orientierende Uberblicke zu Grundfragen der politischen Entwicklung in der UdSSR schrieben Volkskommissar A. N. Lunacarskij, das Mitglied des Kollegiums im Volkskommissariat für Justiz, Ja. N. Brandenburgskij, der Mitgründer der Kommunistischen Akademie, Prof. I. M. Rejsner, das Mitglied des Kollegiums im Volkskommissariat für auswärtige 7:2 73

Nachlaß Schmidt-Ott, Bd. 1, Bl. 302, Hoetzsch an Schmidt-Ott, 24. November 1923. Ebenda, Bl. 218 - v., Auhagen an Schmidt-Ott, 10. Januar 1925.

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Angelegenheiten, F. A. Rotstejn, der Leiter des Instituts für Weltwirtschaft und Weltpolilik bei der Kommunistischen Akademie, Eugen Varga, sowie J. Pase-Ozerskij, der im wissenschaftlichen Leben der Ukrainischen SSR eine leitende Funktion ausübte. 74 Diese Beiträge machten die bürgerlichen Leser der Zeitschrift „Osteuropa" mit wichtigen politischen und gesellschaftlichen Errungenschaften des sozialistischen Staates bekannt und richteten sich damit unmittelbar gegen die antibolschewistische Propaganda in Deutschland, der „Osteuropa" selbst auch Tribut zollte. Viele bedeutende Wissenschaftler der UdSSR, die ihre Kenntnisse und Fähigkeiten in den Dienst der Sowjetmacht gestellt hatten, machten mit den Fortschritten ihrer Disziplin unter sozialistischen Verhältnissen bekannt. Unter ihnen befanden sich der Siedlungsgeograph A. A. Jarilov, der Organchemiker A. E. Cicibabin, die Kunsthistoriker F. J. Smit (Theodor Schmit, Direktor des Staatlichen Instituts für Kunstgeschichte, Leningrad), A. V. Bakusinskij und G. N. Cubinasvili, der berühmte Maler, Kunstwissenschaftler und langjährige Direktor der Tretjakovgalerie, I. £ Grabar', der angesehene Experte für Sprachen und Kulturen der orientalischen Völker auf dem Territorium der UdSSR, N. F. Jakovlev, und die Orientalisten J. N. Borozdin und S. Dlozevskij (Direktor des Historisch-archäologischen Staatsmuseums in Odessa.).75 Der Vizepräsident der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, A. E. Fersman, und ein leitender Mitarbeiter des Volkskommissariats für Gesundheitswesen veröffentlichten Beiträge zu den Möglichkeiten einer deutsch-sowjetischen Zusammenarbeit auf wissenschaftlichem Gebiet.76 Dem großen Interesse der deutschen Öffentlichkeit an den Methoden und Fortschritten der sowjetischen Pädagogik trug „Osteuropa" u. a. durch den Abdruck einer mehrteiligen Serie aus der Feder des Pädagogen A. P. Pinkevic Rechnung, der ausführlich über die verschiedensten Seiten der sowjetischen Erziehungswissenschaften informierte. 77 Die Geschichtswissenschaft 74

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A. N. Lunacarskij, Die Entwicklung der Wissenschaft in der RSFSR. In: Osteuropa, 1925/ 1926, S. 297-306; J. Brandenburgskij, Ehe und Familie in der Sowjetgesetzgebung. Ebenda, S. 734-738; I. M. Rejsner, Die Diktatur des Proletariats im Arbeiter- und Bauernstaat. Ebenda, 1926/1927, S. 649-663; F. A. Rotstejn, Die auswärtige Politik der UdSSR. Ebenda, 1927/1928, S. 126-135; E. Varga, Zehn Jahre Sowjetwirtschaft. Ebenda, S. 135-144; J. Ozerskij, Organisation und Stand der wissenschaftlichen Arbeit in der Ukraine. Ebenda, 1928/1929, S. 219-235. (Die Namen der sowjetischen Autoren erscheinen hier in wissenschaftlicher Transkription.) A. A. Jarilov, Die Fragen der inneren Kolonisation der Sowjetunion und ihr Studium. Ebenda, 1926/1927, S. 418-422; A. E. Cicibabin, Die Chemie in der Sowjetunion während der letzten zehn Jahre. Ebenda, S. 465-474; F. Smit, Der Werdegang der russischen Malerei. Ebenda, 1928/1929, S. 477-493; A. Bakusinskij, Die russische Lackmalerei. Ebenda, 1929/1930, S. 10-23; G. N. Cubinasvili, Die georgische Kunst - Hauptlinien ihrer Entwicklung. Ebenda, S. 759-769; I. E. Grabar', Die Entwicklung der altrussischen Malerei. Ebenda, 1928/1929, S. 449-452; N. F. Jakovlev, Die Entwicklung des Nationalschrifttums der Völker des Orients in der Sowjetunion. Ebenda, 1925/1926, S. 473-491; I. N. Borozdin, Die Krim-Republik. Ebenda, 1927/1928, S. 327-342; S. Dlozevskij, Die Ausgrabungen von Olbia. Ebenda, 1929/1930, S. 468-473. A. E. Fersman, Die Russische Forscherwochc in Berlin. Ebenda, 1926/1927, S. 462-465; J. Gol'denberg, Wege und Ausblicke der Zusammenarbeit Deutschlands und Sowjetrußlands auf dem Gebiete der Gesundheitspflege. Ebenda, S. 474-481. A. P. Pinkevic (1883-1932) - 1919-1921 Stellvertretender Vorsitzender der Kommission zur Verbesserung der Lage der Wissenschaftler, Professor in Moskau. Die sieben „Pädagogischen Briefe" erschienen in loser Folge von 1927 bis 1929. Hoetzsch

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spielte in diesem Spektrum sowjetischer Artikel eine untergeordnete Rolle; zu nennen ist lediglich der Beitrag des Historikers M. A. Polievktov, der ein bekannter Fachmann für die geschichtlichen Beziehungen zwischen dem russischen und dem georgischen Volk war und in „Osteuropa" die deutschen Historiker über die Ergebnisse und Pläne der Geschichtswissenschaft in seiner Heimatrepublik unterrichtete. 78 Die verdienstvolle Veröffentlichung von Artikeln sowjetischer Autoren, die in dieser Dichte von keiner ähnlichen bürgerlichen deutschen Zeitschrift erreicht wurde, fand ein schlagartiges Ende, als mit dem Jahrgang 1930/1931 unter veränderten politischen Bedingungen ein neuer verantwortlicher Redakteur, Klaus Mehnert, bestimmenden Einfluß auf „Osteuropa" zu nehmen begann.' 9 Seit Beginn ihres Erscheinens öffnete die Zeitschrift in beträchtlichem Maße reaktionären Emigranten, darunter den Mitarbeitern des „Russischen wissenschaftlichen Insli78

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M. A. Polievktov, Die Geschichtswissenschaft in Georgien in den Jahren 1917-1927. Ebenda, 1928/1929, S. 171-183. Bis zur endgültigen faschistischen Gleichschaltung der Osteuropa-Gesellschaft und ihrer Zeitschrift erschien pro Jahrgang nur noch ein einziger sowjetischer Beitrag. - Einen nachdrücklichen Versuch, das politische und wissenschaftliche Erbe von Otto Hoetzsch für die eigene Tradilionspflege der imperialistischen Ost- und „Kommunismusforschung" umzuformen, unternahm 1975 die Stuttgarter Gesellschaft für Osteuropakunde in ihrem Monatsblatt; siehe: Osteuropa, 1975, H. 8/9. Der Band erschien zum 50. Jahrestag der von Hoetzsch begründeten Zeitschrift. Auf etwa 280 Seiten enthielt er an Artikeln: F. T. Epstein, Otto Hoetzsch und sein „Osteuropa" 1925-1930, S. 541-554; J. Unser, „Osteuropa". Biographie einer Zeitschrift, S. 555-602; F. Kuebart, Otto Hoetzsch - Historiker, Publizist, Politiker. Eine kritische biographische Studie, S. 603-621; ferner mehrere schriftliche Erinnerungen an Hoetzsch, den Wiederabdruck einiger Artikel aus den ersten Jahrgängen der Zeitschrift mit Kommentaren heutiger „Sowjetexperten" und sogar lange Passagen aus der Kontroverse zwischen Hoetzsch und Haller aus dem Jahr 1917. Qualität und Aussagen der Beiträge sind unterschiedlich. Einige Autoren, besonders Epstein, treffen viele richtige Feststellungen. Die mitgeteilten biographischen Angaben stimmen. Der Versuch als Ganzes muß jedoch entschieden zurückgewiesen werden. Hoetzsch arbeitete mit der damaligen Osteuropa-Gesellschaft und ihrer Zeitschrift bewußt für die Durchsetzung der friedlichen Koexistenz zwischen Deutschland und der UdSSR, bekämpfte die Gegner der Koexistenz und stellte sich zunehmend auf den Boden der Tatsachen. In den Spalten der heutigen Nachfolgezeitschrift und auf den Tagungen ihrer Trägerorganisation überwiegt bei der Beschäftigung mit der UdSSR die vorsätzliche Suche nach sozialen Konflikten, nationalen Gegensätzen und ideologischen Widersprüchen. Der flexible Antisowjetismus ist allerdings völlig ungeeignet, um der friedlichen Koexistenz zwischen einem sozialistischen und einem kapitalistischen Staat Nutzen zu bringen. Es geht auch nicht an, das für Hoetzschs Leben und Tätigkeit charakteristische Schwanken zwischen reaktionären und progressiven Tendenzen nicht zur Kenntnis zu nehmen, seine Erfolge im Wissenschafts- und Kulturaustausch mit der UdSSR auf ein Minimum zu reduzieren und den Endpunkt seiner inneren Entwicklung, die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit deutschen Kommunisten und die Wendung zur Idee der deutsch-sowjetischen Freundschaft, zu verschweigen. Dadurch soll Hoetzsch in einen Durchschnittsostforscher mit einigen seinerzeit abweichenden, heute gut verwendbaren Ansichten verwandelt werden. Starke Anleihen bei der marxistischen Geschichtswissenschaft können die Einseitigkeit in der Interpretation nicht aufheben. - Der erste Rückgriff auf Hoetzschs im bürgerlichen Lager bisher verfemten Vortragstext von 1946 findet sich bei O. Anweiler, 25 Jahre Osteuropaforschung Wissenschaft und Zeitgeschichte, in: Osteuropa, 1977, H. 3, S. 183-191.

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tuts", ihre Spalten, brachte mehrfach geopolitische Artikel und ließ in den wirtschaftspolitischen und kulturellen Übersichten von Auhagen und Luther offen antisowjetischen Tendenzen Spielraum, die allerdings ihre Grenzen fanden. Als Ende 1925 der Emigrant Karzavin und E. Hurwicz vom Osteuropa-Institut Breslau feindselige Artikel veröffentlichten und Luther ein Buch des emigrierten Schriftstellers Chodasevic pries, protestierten die Vorsitzende der VOKS, Kameneva, und ihr Mitarbeiter Kaplan sofort und machten Schmidt-Ott darauf aufmerksam, daß unter solchen Umständen die Mitarbeit sowjetischer Autoren nicht in Frage kommen könne. Brockdorff-Rantzau schaltete sich vermittelnd ein und drängte den Präsidenten der Gesellschaft gleichfalls, für die Korrektur der redaktionellen Linie Sorge zu tragen. 80 Ende 1927 erfolgte von der sowjetischen Botschaft ein weiterer Protest, dem ebenfalls für eine gewisse Zeit Erfolg beschieden war; in einer Aufzeichnung vom Präsidium der VOKS hieß es, daß „Osteuropa" in den letzten Monaten des Jahres 1927 nur zwei direkt sowjetfeindliche Beiträge gebracht habe. 81 Die Leitung der Gesellschaft wurde so nachdrücklich daran erinnert, daß die Aufnahme enger kultureller Beziehungen zwischen Deutschland und der UdSSR mit einer antisowjetischen Haltung nicht zu vereinbaren war. Sie sah sich nach einer gewissen Zeit veranlaßt, Luther die Abteilung „Geistiges Leben" der Zeitschrift aus der Hand zu nehmen. „Osteuropa" war nicht nur in Deutschland, sondern in der gesamten kapitalistischen Welthälfte die erste und für. lange Zeit einzige Zeitschrift, deren bürgerliche Autoren sich auf der Grundlage des Begriffs unpolitischer Wertfreiheit zum Ziel gesetzt hatten, dem Leser zeitgeschichtliche Analysen zur Innen- und Außenpolitik, zu kulturellen Problemen und sozialen Vorgängen der UdSSR, in geringerem Maße auch Polens und der baltischen Republiken, zu vermitteln. Hoetzschs Maxime, die Zeitschrift „unabhängig von jedem politischen oder gar parteipolitischen Standpunkte" zu leiten, stellte sich in der Praxis als Objektivismus heraus, der geschichtliche Gesetzmäßigkeiten und Notwendigkeiten in einem gewissen Maße anerkannte, sie aber vom subjektiven Handeln der Menschen trennte und deren revolutionäre Organisationen bekämpfte. Die Angaben und Daten in „Osteuropa" waren dem Auswärtigen Amt von Nutzen, da es den Vertrieb von etwa einem Viertel der Auflage (200 Hefte bei einer Gesamtauflage von 850 im Jahre 1931) besorgte. Hoetzsch stellte 1928 in den USA mit Befriedigung fest,daß seine Zeitschrift dort von vielen Interessenten gelesen wurde. Er faßte sogar den Plan, eine englischsprachige Parallelausgabe herauszubringen, um in Westeuropa und den USA die deutsche Ostpolitik motivieren zu können; das Projekt blieb jedoch in den Anfängen stecken.82 Zum Bezieherkreis gehörten 1931 die Außenministerien von Rumänien, Schweden, Norwegen und Lettland, die Botschaft der USA in Berlin, der französische Militärattache in Riga, mehrere ausländische Telegraphen-Agenturen, Zeitungen und Bibliotheken wie die schwedische Generalstabsbibliothek oder die Biblio-

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Nachlaß Schmidt-Ott, Bd. 1, 209. Kameneva an Schmidt-Ott, 8. April 1926, und Bl. 207 bis 208, Brockdorff-Rantzau an Schmidt-Ott, 17. April 1926. Chodasevic kehrte später in die UdSSR zurück. Central'nij gosudarstvennij archiv Oktjabr'skoj revoljucii, Moskau, f. 5883, op. 6, d. 129, Bl. 153 (mitgeteilt v. G. Rosenfeld). Nachlaß Schmidt-Ott, Bd. 5, Bl. 6, Bericht über die Tätigkeit der Gesellschaft im Geschäftsjahr 1932/1933.

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thek des Kriegs-Museums in Vincennes. In der UdSSR hatten im Jahr 1932 etwa 60 Abonnenten die Zeitschrift bestellt. Das Jahr 1925 brachte ferner Ansätze zu einer Zusammenarbeit zwischen der Osteuropa-Gesellschaft und der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolga-Deutschen. Nachdem der von Hoetzsch 1922 angestrengte Versuch, mit Hilfe der „Deutschen Stiftung" deutschsprachige Zeitschriften in Sowjetrußland zu reorganisieren, gescheitert war83, stellte er sich 1925 auf den Boden der staatlichen Tatsachen. Als sich im Juni 1925 der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare der Wolgadeutschen ASSR, V. Kurc (Kurz), in Berlin aufhielt, wurde die Bildung eines speziellen „Komitees zur Pflege der kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und der Republik der Wolga-Deutschen" beschlossen.84 Es war vorgesehen, einen wechselseitigen Buchaustausch zu beginnen, Lehrer und wissenschaftliche Kommissionen in das Wolgagebiet zu entsenden und Studenten dieser Republik, also sowjetischen Staatsangehörigen, bestimmte materielle Erleichterungen an deutschen Hochschulen zu gewähren. Das Abkommen war bedeutsam, da durch ein Dekret des Volksbildungskommissariats der RSFSR vom Dezember 1925 der weitere Aufschwung des national-kulturellen Lebens der deutschen Minderheit gewährleistet und beispielsweise das Germanistische Seminar der Universität Saratov zum Zentrum für die Erforschung und Lehre der deutschen Sprache in der UdSSR erklärt wurde. 85 Der Beschluß über die Bildung des gemeinsamen Komitees wurde vom Auswärtigen Amt gutgeheißen und am 8. Juli 1925 auch vom Kultusministerium bestätigt, aber in der typischen Manier der deutschen Ministerialb ürokratie durch das Ansinnen einer inoffiziellen Teilnahme der evangelischen Kirche und des katholischen Weihbischofs verfälscht.86 Anschließend wurde das Abkommen der sowjetischen Regierung zur Bestätigung zugeleitet. Im März und April 1926 kam es in Berlin zu neuen Verhandlungen, an denen der Vorsitzende des Exekutivkomitees der ASSR der Wolga-Deutschen, Svab (Schwab), und der Volkskommissar für Bildungswesen, Senfel'dt (Schönfeldt), teilnahmen. 87 Die Gespräche fanden kurz vor dem Abschluß des Berliner Vertrages statt und führten zu dem Ergebnis, einen größeren Bücherbestand an die Wolga zu überführen, beim Aufbau von Volksbüchereien zu helfen und die noch ungeklärten Vergünstigungen für Studenten im Auge zu behalten. Die tatsächliche Effektivität des Komitees war sehr gering. In den folgenden Jahren führte es in der Osteuropa-Gesellschaft nur ein Schattendasein und wurde kaum erwähnt. Nachdem Ende 1929 der LandwirtschaftsAttache an der Botschaft in Moskau, der bereits mehrmals mit antisowjetischen Störaktionen aufgetretene Otto Auhagen, in den Verlauf der Kollektivierung im Wolgagebiet eingegriffen hatte, verschärfte sich die Situation beträchtlich und führte zu einem diplomatischen Protest der UdSSR gegen das Treiben Auhagens. Die 1925/1926 geschaffenen Ansatzpunkte für einen von der sowjetischen Regierung gebilligten Kulturaus83

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ZStAP, Deutsche Stiftung, Nr. 1070, Bl. 536-537 R., Briefwechsel von Hoetzsch mit Krahmer-Möllenberg vom Juni 1922. Nicht gezeichnete Texte des Abkommens im Nachlaß Schmidt-Ott, Bd. 1, Bl. 194-195, und im Rep. 76, Vc, Sekt. 1, Tit. 11, Teil I, Nr. 26 C, unfol., Datum vom 8. Juni 1925. Vgl. den Bericht über die Reise von Prof. Zeiss nach Saratov und Uralsk im März 1926, Nachlaß Schmidt-Ott, Bd. 1, Bl. 85-98. ZStAM, Rep. 76, Vc, Sekt. 1, Tit. 11, Teil I, Nr. 26 C, von Krüss gezeichnete Aktennotiz vom 8. Juli 1925. Ebenda, Jonas an Kultusminister Becker 16. März 1926, Schmidt-Oll an Becker 7. April 1926, Jonas an Becker 7. April 1926.

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tausch mit der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen waren durch das antisowjetische Verhalten reaktionärer Kräfte auf der deutschen Seite verschüttet. Mitte der zwanziger Jahre hatte sich der Kreis um Hoetzsch formiert, der die Ausgestaltung der kulturellen Beziehungen zur UdSSR leitete. Einer der engsten Mitarbeiter von Hoetzsch war Hans Jonas. Der 1883 in Saarbrücken Geborene hatte vor dem Krieg in Freiburg und München geschichtliche Studien betrieben, war 1915 in russische Kriegsgefangenschaft geraten und in einem Lager bei Cita (Ostsibirien) interniert worden. Hier erlernte er die russische Sprache, sammelte Unterlagen über den Aufenthalt der deutschen Kriegsgefangenen in Rußland 88 und vertrat seit 1917 deren Interessen bei den Behörden und den neutralen Hilfsorganisationen. Im Frühjahr 1918 wurde er zum Delegierten des im Auftrage der deutschen Regierung tätigen schwedischen Roten Kreuzes ernannt. Seit Februar 1920 nahm er als Leiter einer Unterabteilung des deutschen Roten Kreuzes die Belange aller im Transbaikal- und Amurgebiet lebenden deutschen Staatsangehörigen und der Bürger aus den österreichisch-ungarischen Nachfolgestaaten wahr. Seine Verhandlungen mit dem Regime des Ataman Semenov führten zum Rücktransport der kriegsgefangenen deutschen und österreichischen Soldaten, der via Wladiwostok erfolgte; die Aktion war im Dezember 1921 beendet. In dieser Zeit arbeitete er mit dem Leiter des Gesundheitswesens der Fernöstlichen Republik, F. N. Petrov, zusammen, der 1929 an die Spitze der VOKS trat. 1922/1923 lieh Jonas, nach Berlin zurückgekehrt, seine Dienste der „Reichszentralstelle für Kriegs- und Zivilgefangene" und nahm seine historischen Studien wieder auf. 1922 wurde er Mitglied des Seminars für osteuropäische Geschichte und Landeskunde und Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas. Während seine Arbeit als Assistent des Universitätsseminars auf das Jahr 1924/1925 beschränkt war, dauerte seine Tätigkeit als Generalsekretär der Osteuropa-Gesellschaft bis 1930. Seit 1925 wirkte er auch in der Leitung des Königsberger „Wirtschaftsinstituts für Rußland und die Oststaaten". Sein Name war mit allen Schritten der Gesellschaft zum Studium Osteuropas eng verbunden. Jonas besaß ausgeprägte organisatorische Fähigkeiten und begleitete Hoetzsch mehrfach in die UdSSR, wo er ihm bei Verhandlungen und Vertragsabschlüssen assistierte. Er schrieb mehrere sehr sachlich gehaltene Aufsätze informierenden Charakters.89 Leo Loewenson, Assistent am Universitätsseminar von 1925 bis 1933, stammte aus W7ürzburg und hatte vor dem Krieg an der Berliner, Moskauer und Petersburger Universität Geschichte und Rechtswesen studiert. 1911 hatte er in der russischen Hauptstadt sein Staatsexamen bestanden, 1912 war er Ordentliches Mitglied am Archäologischen Institut in Petersburg geworden.00 Von 1922 bis 1924 unterrichtete er Geschichte und 88

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Dokumente zur Geschichte der Kriegsgefangenen des Weltkrieges, hg. im Auftrag der Reichsvereinigung ehem. Kriegsgefangener v. J. Givens u. H. Jonas, Berlin/Königsberg 1931. H. Jonas, Die Entwicklung der Geschichtsforschung in der Sowjet-Union seit dem Ausgang- des Weltkrieges. In: Zeitschrift für osteuropäische Geschichte, N. F., Bd. 1, 1931, S. 66-83 und 386-396; ders., Die Organisation der Wirtschaft. In: Die rote Wirtschaft, hg. v. G. Dobbert, Berlin/Königsberg 1932, S. 29-50. Vgl. ZStAP, Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Nr. 1417, Bl. 168-v., Hoetzsch und Stählin an den Kultusminister, 10. Juni 1925. Siehe auch P. Kleeb, Leo Loewenson (1884-1968) als Rußlandhistoriker. In: Jahrbücher f. Gesch. Osteuropas, 1969, S. 259-268.

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Latein an der Schule des von Emigranten in Berlin eingerichteten „Russischen Akademischen Vereins". Seit mehreren Jahren war er bereits Mitglied des Seminars. Hoetzsch und Stählin setzten sich stets für Loewenson ein, ihr letztes befürwortendes Schreiben über die Verlängerung seiner Assistenz stammte vom 6. Dezember 1932.91 Loewenson erwarb sich nicht nur große Verdienste um den Ausbau der damals in Deutschland bedeutendsten Bibliothek über die russische Geschichte, sondern verfaßte auch selbst eine Anzahl wissenschaftlicher Beiträge. Sie behandelten die russische Kulturgeschichte des 17. Jahrhunderts oder galten dem Bekanntmachen neuer sowjetischer Literatur; Loewenson war auch seit 1925 ständiger Mitarbeiter an den von Albert Brackmann und Fritz Härtung herausgegebenen „Jahresberichten für deutsche Geschichte", in denen er die deutschen Leser über Forschungsergebnisse der sowjetischen Historiographie informierte. Loewenson wurde 1933 wie zahllose andere deutsche Wissenschaftler ein Opfer des nazistischen Gesetzes zur „Wiederherstellung des Berufsbeamtentums". Die rechtzeitige Emigration ermöglichte es ihm, auf dem Gebiet der Osteuropaforschung tätig zu bleiben.92 Das Zusammenwirken der beiden Seminardirektoren Stählin und Hoetzsch war gut. Wissenschaftliche oder politische Kontroversen zwischen ihnen sind nicht bekannt, Anträge zur Gestaltung der Institutsarbeit trugen gewöhnlich beide Unterschriften. Außerdem bestand eine gewisse Arbeitsteilung. Während Stählin in seiner monographischen Serie „Quellen und Aufsätze zur russischen Geschichte", die einige Bücher von ihm selbst enthielt, vorwiegend Arbeiten zur Feudalzeit herausgab, konzentrierte sich Hoetzsch in seinen „Osteuropäischen Forschungen" auf Untersuchungen zur Geschichte Rußlands und Osteuropas im 19. Jahrhundert und in der neuesten Zeit. Unter den insgesamt 34 Bänden der beiden Serien befanden sich viele wertvolle Werke. Von den vorgelegten Quellen müssen die Tagebücher des Afanassij Nikitin, der Briefwechsel Ivans IV. mit Kurbskij, Radiscevs berühmte „Reise" und eine Briefauswahl Puskins erwähnt werden. Unter den Auspizien von Hoetzsch und Stählin wurden die ersten Bücher der fortschrittlichen deutschen Osteuropaforscher Martin Winkler und Georg Sacke93 sowie eine Gruppe Arbeiten zur russischen Außenpolitik nach dem Krimkrieg94 veröffentlicht. Nur wenige der Bände trugen das Stigma des Antikommunismus. Eine ähnliche Verteilung der Aufgaben machte sich auch in der Lehrarbeit von Hoetzsch und Stählin bemerkbar. Die Universitätsverzeichnisse zeigen, daß Hoetzsch die Geschichte Polens und Südosteuropas behandelte und mit Überblicksvorlesungen 91

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ZStAP, ebenda, Bl. 289-291, Stählin und Hoetzsch an den Verwaltungsdirektor der Universität. Seine Stelle wurde 1933 von Werner Philipp eingenommen, der vorher ein undurchsichtiges, mit ausländischen Studenten besetztes „Deutsches Heim" im Schloß Köpenick geleitet hatte. Loewenson war noch bis 1964 als Bibliotheksleiter der Sehool of Slavonic and East European Studies in London tätig. M. Winkler, Peter Jakovlevic Caadaev. Ein Beitrag zur russischen Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts, Berlin/Königsberg 1927; G. Sacke, W. S. Solowjews Geschichtsphilosophie, ebenda 1929. I. Grüning, Die russische öffentliche Meinung und ihre Stellung zu den Großmächten 1878-1894, Berlin/Königsberg 1929; F. Eckhart, Die deutsche Frage und der Krimkrieg, ebenda 1931; Ch. Friese, Rußland und Preußen vom Krimkrieg bis zum Polnischen Aufstand, ebenda 1931; E. Schüle, Rußland und Frankreich vom Ausgang des Krimkrieges bis zum italienischen Krieg 1856-1859, ebenda 1935.

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zur russischen Geschichte auftrat, während Stählin gewöhnlich zu Spezialthemen der Vergangenheit Rußlands las. Die Darstellung der deutsch-russischen und deutsch-sowjetischen Beziehungen blieb Hoetzsch vorbehalten. Am Seminar waren regelmäßig etwa 80 oder 90 Studenten eingeschrieben; die Mitgliederzahlen des von Meinecke geleiteten Historischen Seminars der Universität betrugen vergleichsweise mehr als 600 (1927). Im Wintersemester 1929/1930 kletterte die Hörerzahl am Osteuropäischen Seminar auf 100, um mit dem Sommersemester 1933 ruckartig abzusinken. 1934/1935, nach der Emeritierung Stählins und kurz vor der Vertreibung von Hoetzsch, waren nur noch 27 Studenten angemeldet. Die Ausstattung der Bibliothek war für die damalige Zeit beachtlich. Sie bestand 1927 aus 14 000 Bänden und wurde in den folgenden Jahren um je etwa 2 000 Neueingänge vermehrt, so daß sie gegen Ende der Republik etwa 25 000 Bände stark war. Mit dem Rückgang der Studentenzahlen nach der faschistischen Machtübernahme korrespondiert auch der plötzliche Bestandsabfall der Bibliothek. Für 1934/1935 wurden nur noch knapp 16 000 Bände angegeben; offensichtlich mußte ein großer Teil der Bibliothek an Nazidienststellen oder Hetzinstitutionen abgeliefert werden. Der Abbruch der kulturellen Beziehungen zur UdSSR und die Diffamierung des von Hoetzsch gesteuerten Kurses hatten zur Folge, daß seitdem pro Jahr nur noch etwa 150 Neuzugänge verbucht werden konnten. Die heftigen Klagen des 1936 neu ernannten Institutsdirektors Uebersberger, der ein überzeugter Parteigänger der Nazis war und das Berliner Seminar zum Zentrum der faschistischen Ostforschung erheben wollte, fanden kaum Gehör.n;> Neben den Vorlesungen, Übungen und Sprachkursen fanden am Seminar noch gesonderte Veranstaltungen statt. So wurden z. B. während der Historikerwoche 1928 die Gäste aus der UdSSR in den Räumen des Seminars feierlich empfangen. Das Wintersemester 1928/1929 begann mit einem Vortrag des sowjetischen Orientforschers N.M. Nikol'skij. Stählin trug 1931/1932 nach der Rückkehr aus dem sowjetischen Mittelasien in mehreren Sitzungen den Mitgliedern aus seinem Reisetagebuch vor. Karl Stählin hatte sich nach kurzer Zeit in das Arbeitsgebiet der russischen Geschichte eingefunden. Er veröffentlichte eine Anzahl kleinerer Arbeiten und begann 1923 mit der Publikation einer mehrbändigen Geschichte Rußlands bis 1917, deren letzte Teile noch kurz vor seinem Tode 1939 erschienen.96 Während der Einleitungsband dieses Werkes stark an Kljucevskij und Platonov erinnert, machte sich in den Kapiteln über das 18. Jahrhundert und besonders über die Zeit vom Tode Katharinas II. bis zum Ende Nikolaj I. das eigene Quellenstudium Stählins, das er in sowjetischen Archiven betrieben hatte, bemerkbar. Er widmete den sozialen Gegebenheiten in der Geschichte

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Vgl. ZStAP, Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Nr. 1417, Bl. 347-348, 357-359, 389-390, Schreiben Ueberbergers an das Ministerium vom 24. 12. 1935, 3. 6. 1936, 31. 12. 1936. Er träumte sogar von der Mission des Berliner Seminars als der führenden Osteuropa-Institution der ganzen Welt. Stählin, Die russische Revolution, a. a. 0., S. 99-125; Peter der Große. In: Meister der Politik, Stuttgart/Berlin 1922, S. 67-108; Rußland und Europa, Berlin 1925; (Schriften des Reichsbundes demokratischer Studenten Deutschlands und Deutsch-Österreichs, 6); Soziale und geistige Wandlungen im Ablauf der russischen Geschichte. In: Rußland, Auslandsstudien, Bd. 2, Königsberg 1926, S. 11-29; Russisch-Turkestan gestern und heute. In: Zeitschrift für Politik, 1933, S. 720-733; und das Hauptwerk: Geschichte Rußlands von den Anfängen bis zur Gegenwart, 4 Bände in 5 Teilen, Berlin/Königsberg 1923-1939.

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Rußlands großen Raum und bemühte sich, die Rolle kultureller Vorgänge und Ereignisse zu betonen. Während der Weimarer Republik gehörte Stählin dem Präsidium der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas an, hielt sich mehrfach in der UdSSR auf und veröffentlichte 1934, bereits nach seiner Emeritierung, einen Bericht über seine Reise durch Turkestan. 97 Zum siebenten und zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution wünschte er, über Hoetzsch hinausgehend, der UdSSR öffentlich weitere Aufbauerfolge. 98 Stählin gehörte auch der humanistisch-pazifistischen Gesellschaft der Freunde des neuen Rußland an, in der sich viele demokratische Kräfte aus der deutschen Intelligenz zusammengeschlossen hatten. 99 Die Bedeutung der Oktoberrevolution als Beginn eines neuen Abschnitts in der Weltgeschichte und das Wesen des sozialistischen Aufbaus in der UdSSR hat Stählin nicht verstanden. Wiederholt deutete er idealistisch-mystische Momente in die Geschichte Rußlands und der UdSSR hinein, vor allem im Schlußband seiner Geschichte Rußlands, den er in den Jahren der hitlerfaschistischen Diktatur schrieb. Typisch für seine bei der Behandlung historisch-politischer Hauptfragen oft auftretenden verschwommenen Formulierungen war seine 1926 erhobene „Warnung an den menschewistischen Sozialismus, nicht dem kleinbürgerlichen Philistertum zu verfallen, sondern ein Sauerteig zu werden; ein dauernder Ansporn uns allen, mit Taten zu beweisen, daß die Gleichsetzung des plutokratischen Götzen mit dem lebendigen Gott der Geschichte auf einer fehlerhaften Perspektive beruht. Darin soll für uns die positive welterneuernde Wirkung des russischen Bolschewismus bestehen." 100 Die Zukunft der UdSSR dachte auch er sich 1924 in der Gestalt einer „innerlich befriedeten russischen Bauernrepublik". Die Ursachen für den Sieg des Leninismus vermutete er wie die Weißemigranten in der Orthodoxie. Viele seiner Äußerungen über das geschichtliche Verhältnis zwischen Rußland und Westeuropa waren entstellender Natur, stießen aber trotzdem auf erbitterte Kritik slawenfeindlicher Nationalisten. 101 Hoetzsch übte auf die Studenten des Seminars starken Einfluß aus, so daß sich mit E. H. Carr sehr wohl von einer Hoetzsch-Schule sprechen läßt.102 Mehrere Quellen bezeugen, daß er lebhaft und fesselnd vortrug. Seine Mittwochs-Vorlesungen zum „außenpolitischen Verständnis der Gegenwart", die er für Hörer aller Fakultäten las, wurden zeitweise von 1 000 Studenten besucht und waren in dieser Beziehung die mit Abstand begehrtesten der Universität.103 Auch George W. Kennan, der nach dem zweiten Weltkrieg als einer der bedeutendsten Diplomaten und außenpolitischen Strategen der USA die imperialistische Containment-Politik entwarf und in den fünfziger Jahren die Stärke der UdSSR realistisch zu beurteilen begann, hörte die damaligen Vorlesungen Hoetzschs. 97

Stählin, Russisch-Turkestan gestern und heute, Berlin/Königsberg 1934. Vgl. Stählin, Rußland und wir. In: Das neue Rußland, 1927, H. 9/10. 99 Central'nij gosudarstvennij archiv Oktjabr'skoj revoljucii, Moskau, f. 5283, op. 6, d. 1, Bl. 12 ff., Erich Baron an Kameneva, 15. 4. 1924. Baron schrieb, daß 1924 die Professoren Stählin, Gustav Mayer, A. Vierkandt und A. Walther der Gesellschaft beitraten (mitgeteilt von G. Rosenfeld, Berlin). 100 Stählin, Soziale und geistige Wandlungen, a. n. 0., S. 28/29. 101 ygi Osteuropäische Korrespondenz, 1927, H. 4, S. 11-12, Rezension von Harald Laeuen zu: Rußland. Auslandsstudien, Königsberg 1926. 102 E. H. Carr, Die historischen Grundlagen der sovetischen Außenpolitik. In: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, (West-)Berlin, Bd. 1, 1954, S. 239. 103 Nachlaß Schmidt-Ott, Bd. 4, Bl. 209, Hoetzsch an Schmidt-Ott, 5. Januar 1931. 98

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Die Kollegs zur Geschichte Osteuropas, die der Berliner Professor anbot, waren thematisch sehr umfassend. Mehrmals behandelte er im Überblick die Geschichte des polnischen Volkes. Unter den Ankündigungen finden sich die Geschichte des gesamten Südosteuropa oder einzelner Völker, besonders der Serben und Bulgaren, mehrmals spezielle Probleme wie die Geschichte der orientalischen Frage. Im Wintersemester 1920/1921 las Hoctzsch über das bemerkenswerte Thema „Osteuropäische Wirtschaftsprobleme in ihrer Beziehung zu Deutschland". Zu diesem Zeitpunkt machte die Anknüpfung wirtschaftlicher Kontakte zwischen den Sowjetrepubliken und Deutschland Fortschritte, und der politisch äußerst engagierte Historiker Hoetzsch reagierte augenblicklich. Aus der Geschichte der UdSSR behandelte Hoetzsch alle Epochen. 1921 bis 1923 las er einen vierteiligen Zyklus über die russische Geschichte bis 1917, 1924/1925 faßte er den gesamten Stoff in einem Semester zusammen, später folgten mehrere kürzere Zyklen, darunter „Russische Geschichte 1881-1929", und Spezialvorlesungen über rechts- und verfassungsgeschichtliche Probleme der russischen Geschichte. Besondere Berücksichtigung fanden die letzten Jahrzehnte des Zarenreiches, über die sich Hoctzsch auch in seinen wenigen geschichtswissenschaftlichen Veröffentlichungen aus der Weimarer Republik äußerte.104 Dabei zeigte sich, daß die in seinem Rußlandbild der Vorkriegszeit vorherrschende Hinneigung zu den Oktobristen unter dem Zwang der geschichtlichen Tatsachen dahingeschwunden und auch sentimental verklärt nicht mehr spürbar war. übernommen hatte er jedoch die Heroisierung Stolypins und die Uberbewertung der nationalen Spannungen, die ihm für den Untergang des zaristischen Reiches wichtiger schienen als die Klassenkämpfe. Die Memoiren S. Ju. Vittes bezeichnete Hoetzsch als „höchst subjektiv" und als Erzeugnis eines konservativen Bürokraten, der ein bedeutender Finanzpolitiker, schwach in der Führung auswärtiger Angelegenheiten, aber trotzdem „der begabteste und stärkste russische Staatsmann in den letzten Jahrzehnten der russischen Geschichte" gewesen sei. Hoetzsch lehrte die Hörer seiner Vorlesungen, die Vergangenheit Rußlands und die sowjetische Gegenwart als integrierenden Bestandteil der Weltgeschichte zu sehen und die traditionelle Unterschätzung der slawischen Völker zu überwinden. Der von N. S. Trubeckoj verkündeten Absage an die germano-romanische Kultur und seiner geschichtsphilosophischen Wendung nach Asien stand Hoetzsch, wie verschiedenen anderen geistigen Strömungen in der russischen Emigration auch, sehr distanziert und kritisch-ablehnend gegenüber. Die Lehre der Eurasier nannte er mehr negativ als positiv ausgebildet, von stark propagandistischem Gehalt, kaum geeignet zur Bewältigung praktischer Aufgaben. Bemerkenswert fand er, „wie sehr damit die orientalische Frage und alles, was sich damit für den Slawophilen verband, vor diesen Ausblicken nach Asien, die allerdings nur in dämmernde Fernen weisen, zurücktreten muß". 10 ° Die in Deutschland verbreitete Unkenntnis

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Hoetzsch, Der Panslawismus in Rußland, Serbien und Österreich. In: Handbuch der Politik, 3. Aufl., Bd. 2, Berlin/Leipzig 1920, S. 60-66; Einleitung zu: S. Ju. Witte, Erinnerungen, Berlin 1923, S. 7-23; Rußland, Südosteuropa und Vorderasien. In: Weltgeschichte der neuesten Zeit 1890-1925, hg. v. P. Herre, Bd. 1, Berlin 1925, S. 281-330. - Hoetzsch verfaßte in der Weimarer Republik, bedingt durch seine zahllosen politischen Engagements und seinen hektischen Lebensstil, keine größere geschichtswissenschaftliche Arbeit. Nach 1935 schrieb er eine großangelegte Geschichte Rußlands unter Alexander II. N. S. Trubetzkoy, Europa und die Menschheit, München 1922, S. 7.

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Rußlands und der UdSSR erschien ihm nach den Erfahrungen des ersten Weltkrieges immer als schwere latente Gefahr, die zu einer geschichtlichen Katastrophe in den Beziehungen der beiden Völker mit unabsehbaren Auswirkungen führen könne. Seit 1924 hielt er mehrmals, zuletzt noch im Wintersemester 1932/1933, Vorlesungen, die sich mit der Geschichte der UdSSR ab 1917 beschäftigten. Hoetzsch vermittelte den Studenten 100 den Grundsatz, bei der Beurteilung der Beziehungen zwischen Deutschland und der UdSSR in erster Linie von den wirtschaftlichen und außenpolitischen Notwendigkeiten auszugehen, die er freilich in einem bestimmten Maße nur durch die entstellende Optik deutschnationaler außenpolitischer Zielsetzungen zu erkennen vermochte. Sein allgemeines außenpolitisches Fernziel - die Revision des in Versailles, Saint-Germain, Neuilly, Trianon und Sèvres errichteten Nachkriegssystems - wollte er durch ein enges Verhältnis zur UdSSR, durch die Einbeziehung der USA in die europäischen Auseinandersetzungen und durch die geschickte Ausnutzung aller sich bietenden internationalen Möglichkeiten erreicht wissen. In der UdSSR sah Hoetzsch aus diesem Gesichtswinkel den einzigen Staat, zu dem Deutschland angesichts der feindseligen Politik Frankreichs und Englands ein gutes Verhältnis herstellen könne und infolge seiner „Mittellage zwischen West und Ost" auch herstellen müsse. Manchen von der UdSSR unterbreiteten Vorschlag zum Ausbau der deutsch-sowjetischen Kulturbeziehungen griff Hoetzsch mit dem persönlichen Motiv auf, dadurch die entscheidenden Artikel des Versailler Vertrags, besonders Art. 231, der die Alleinschuld Deutschlands und seiner Verbündeten am Ausbruch des Krieges konstatierte, schrittweise unterminieren zu können. Uber die taktische Absicht hinaus, die UdSSR in den nationalistischen Kampf gegen Versailles einbeziehen zu wollen, wurde Hoetzschs nachhaltiger und erfolgreicher Einsatz für gute Beziehungen zwischen der UdSSR und der Weimarer Republik auch von seinem Blick für ökonomische Zusammenhänge und Erfordernisse bestimmt. Direkte Berührung mit den am Osthandel interessierten Wirtschaftskreisen ist auf zwei Ebenen nachweisbar. In den Leitungsorganen der Gesellschaft zum Studium Osteuropas waren mehrere führende Angehörige der Finanz-, Industrie- und Handelsbourgeoisie vertreten. 1923/1924 waren es die Bankiers Blinzig (Deutsche Bank) und A. List (Bleichröder), die Großindustriellen Felix Deutsch (Vorsitzender des Direktoriums der AEG), Görz (Siemens-Werke Berlin) und Flohr (Vulkanwerft Hamburg), Kapitän Widenmann (Generaldirektor des Deutschen Überseedienstes) sowie Franz von Mendelssohn (Präsident der Berliner Handelskammer) und Busemann vom Deutsch-Russischen Verein zur Pflege und Förderung der Handelsbeziehungen, einer Organisation der kleineren und mittleren Industriebetriebe, die mit mehr als 100 Handelskammern und einigen Hunderten Werken zusammenarbeitete. 107 Nachdem sich die Handelsbeziehungen verdichtet hatten, die Deutsche Bank 1925 kurzfristige Kredite gegeben und die Reichsregierung 1926 an der Ausfallbürgschaft für den 300-Millionen-Kredit teilgenommen hatte, bot sich 1927 ein etwas verändertes Bild. Die Bankiers Hans Pilder (Dresdner Bank), Arthur Salomonsohn (Disconto-Gesellschaft) und Pinkes (Bankhaus Mendelssohn) sowie der in der Großindustrie beschäftigte deutschnationale Syndikus Paul Lejeune-Jung MdR waren 106

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Zu mehr als 50 Dissertationen schrieb Hoetzsch Gutachten. Viele der Doktoranden werden seine engeren Schüler gewesen sein. Nachlaß Schmidt-Ott, Bd. 1, Bl. 270-272, Verzeichnis der Mitglieder von Präsidium und Ausschuß der Gesellschaft; Stand von Anfang 1924.

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neu in die Leitung der Gesellschaft eingetreten, Flohr und Busemann waren ausgeschieden.108 Hoetzsch hatte auf dieser Basis Gelegenheit, seine Ansichten führenden Vertretern der deutschen Großbourgeoisie vorzutragen. Deutsch sprach sich im Jahre 1925 in einem Interview für die „Entwicklung der Beziehungen mit Rußland" aus und betonte, er schließe mit der UdSSR soviel Geschäfte wie möglich ab.109 Auch die Siemens-Schuckert-Werke waren am Export in die UdSSR unmittelbar interessiert. Die zweite, wichtigere Kontaktebene ergab sich durch die Zusammenarbeit von Hoetzsch mit dem Königsberger „Wirtschaftsinstitut für Rußland und die Oststaaten". 110 Diese 1922 nach dem Rapallovertrag gegründete, der Königsberger Ostmesse angeschlossene Einrichtung, die nicht mit dem dortigen „Institut für ostdeutsche (später: osteuropäische) Wirtschaft" verwechselt werden darf, sah als ihre Hauptaufgabe die praktische Anbahnung von Verträgen sowie die ständige Information der deutschen Industrie und ihrer sowjetischen und osteuropäischen Kontrahenten an. Das Wirtschaftsinstitut besaß Zweigstellen in Essen (Leiter von Berg) und Berlin, wo seine Interessen vom Generalsekretär der Osteuropa-Gesellschaft, Hans Jonas, wahrgenommen wurden. Es verfügte über etwa 20 erfahrene Mitarbeiter, ein Spezialarchiv mit Bibliothek, Kartotheken von etwa 60 000 Wirtschaftsadressen (1930) sowie eine Auskunfts- und Korrespondenzstelle, die schriftliche Gutachten abgab und Wirtschaftsnachrichten über das Wölfische Telegraphenbüro der deutschen Presse zuleitete. 1923 beantwortete das Institut mehr als 5 000 Anfragen. Seine Zeitschriften „Der Osteüropa-Markt" und „Osteuropäische Landwirtschafts-Zeitung" enthielten stets einen umfangreichen russischsprachigen Teil, der „Osteuropäische Holzmarkt" erschien in zwei Ausgaben und die „Technische Rundschau" nur in russisch. Außerdem gab es einen „Vertraulichen kaufmännischen Nachrichtendienst", eine „Nord-Ost-Korrespondenz", verschiedene periodisch erneuerte Adreßbücher und eine eigene Schriftenreihe mit Monographien zur wirtschaftlichen Situation in der UdSSR und den osteuropäischen Staaten heraus. Die Archivquellen zeigen, daß die Mitarbeiter des Wirtschaftsinstituts an vielen geschäftlichen Abschlüssen zwischen der deutschen Industrie und sowjetischen Interessenten vermittelnd und beratend beteiligt waren, ein Umstand, der ihnen bei der Großbourgeoisie und besonders bei Conrad v. Borsig den lächerlichen Vorwurf einer „bolschewistischen Gesinnung" eintrug.111 Berg schrieb in einem Bericht, daß er ab 1925 die Verträge der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie mit den großen Kohle- und Stahlvereinigungen Donugol' und Jugostal' in der Ukrainischen SSR, mit sowjetischen Koks- und Benzoltrusts, mit der Hauptmetallkommission der UdSSR, Vertretern des Ural-Kusnezker-Kombinates und zahlreichen anderen sowjetischen Unternehmen nicht nur angebahnt, sondern die Verhandlungen auch geleitet und zum Abschluß gebracht habe. Den Wert der von ihm und dem Wirtschaftsinstitut besorgten Exportaufträge bezifferte er auf über 100 Millionen

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ZStAM, Rep. 76, Vc, Sekt. 1, Tit. 11, Nr. 26 C, unfol., Verzeichnis der Mitglieder von Präsidium und Ausschuß der Gesellschaft, gewählt Februar 1927. Anderle, a. a. O., S. 186. Archivgut im ZStAM, Rep. 120, C XIII, Fach 1, Nr. 186, und im Staatsarchiv Dresden, Sächsisches Wirtschaftsministerium, Nr. 206. Vgl. ferner: Bericht über die Berliner Tagung des Wirtschaftsinstituts für Rußland und die Oststaaten, o. V., Berlin 1924. - Das Institut wurde durch eine eigene Trägergesellschaft finanziert und erhielt Zuschüsse vom Auswärtigen Amt (jährlich 12 000. -) und von der Notgemeinschaft. Nachlaß Schmidt-Ott, Bd. 1, Bl. 181-183, Schmidt-Ott an Hoetzsch, 27. Juni 1925.

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Reichsmark.112 Das Institut bemühte sich, „schwarze" Vermittler aus dem deutschsowjetischen Wirtschaftsverkehr auszuschalten und von der sowjetischen Handelsvertretung in Berlin, die auf die Dienste derartiger Zwischenagenten keinen Wert legte, als wichtigstes Organ für den Umgang mit deutschen Werken betrachtet zu werden.113 Eine lange Besucherliste zeigt, daß das Königsberger Wirtschaftsinstitut vom Botschafter der UdSSR und seinen engsten Mitarbeitern, von führenden Persönlichkeiten aus dem Obersten Volkswirtschaftsrat und aus Außenhandelsunternehmen, von Professoren und Werkdirektoren aus der UdSSR besichtigt und konsultiert worden war; das Verzeichnis nennt etwa 100 Namen.114 Bei der Vermittlung von Außenwirtschaftsbeziehungen, die die UdSSR in der Phase der beginnenden Industrialisierung benötigte, hat sich dieses Institut beachtliche Verdienste erworben. Der Ende 1928 von reaktionären Vertretern der Monopolbourgeoisie gegründete „Rußland-Ausschuß der deutschen Wirtschaft" degradierte das Institut sofort zu seinem Hilfsinstrument. Es mußte jede eigene operative Tätigkeit einstellen und hatte nur noch informierende Handlangerdienste für die im Ausschuß vereinten Monopole oder an verstärkten Wirtschaftsbeziehungen zur UdSSR kaum interessierten Institutionen zu leisten; der bisherige Leiter, von Berg, wurde entlassen.115 Hoetzsch arbeitete seit 1925 mit dem Wirtschaftsinstitut zusammen. Anfang Mai fand in Berlin eine Beratung statt, an der von der Osteuropa-Gesellschaft Schmidt-Ott, Hoetzsch und Jonas, aus Königsberg der Direktor der Ostmesse, Konsul Wiegand, Oberbürgermeister Lohmeyer sowie vier Mitarbeiter des Wirtschaftsinstituts teilnahmen. Es wurde eine Arbeitsgemeinschaft der beiden Körperschaften beschlossen. Hoetzsch gelang es, den bei der Ostmesse stationierten „Osteuropa-Verlag" zur Übernahme seiner Publikationspläne zu veranlassen, so daß nunmehr die seit vielen Jahren vorbereitete Zeitschrift „Osteuropa", die Neue Folge der „Osteuropäischen Forschungen" und Stählins Serie „Quellen und Aufsätze zur russischen Geschichte" gesichert waren. Die Königsberger Seite verschaffte sich für das Präsidium des Wirtschaftsinstituts die nominelle Mitarbeit des prominenten Schmidt-Ott und die faktische des bekannten Reichstagsabgeordneten Hoetzsch. Auch der Vorsitzende des Börsenvereins deutscher Buchhändler, Geheimrat Siegismund, trat namens der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas

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Staatsarchiv Dresden, a. a. 0., Bl. 13-22, Bericht des Leiters der Essener Geschäftsstelle des Wirtschaftsinslituts für Rußland und die Oststaaten, Dr. von Berg, über seine Tätigkeit und seine Erfahrungen auf dem Gebiete des Geschäftsverkehrs mit Russland seit Gründung der Geschäftsstelle, ohne Datum (Ende 1927). Ebenda, Bl. 101-104, Bericht über die beratende Tätigkeit des Wirtschaftsinstituts von Mai bis September 1928, streng vertraulich. ZStAM, Rep. 120, a. a. O., Bl. 230-232, enthalten in einem längeren Tätigkeitsbericht vom März 1930. Staatsarchiv Dresden, a. a. O., Bl. 108-109, Vereinbarung zwischen dem Rußland-Ausschuß der deutschen Wirtschaft und dem Wirtschaftsinstitut für Rußland und die Oststaaten, 20. November 1928; im ZStAM, Rep. 120, a. a. 0., befindet sich Bl. 68 ein streng vertraulicher Anhang zu dieser Vereinbarung, der die Verteilung der Gelder regelt. - Zu Tätigkeit und Rolle des Ausschusses vgl. G. Höhne, Der Rußlandausschuß der deutschen Wirtschaft. In: Jenaer Beiträge zur Parteiengeschichte, 1968, Nr. 24, S. 59-71, und K. Laser, Der Rußlandausschuß der Deutschen Wirtschaft 1928-1941. In: ZfG, 1972, S. 1382 bis 1400.

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dem Präsidium bei.116 Jonas übernahm sogar die Leitung der Berliner Zweigstelle und wurde mit der Redaktion des „Eildienst Ost" (EDO) beauftragt, blieb aber zugleich weiter Generalsekretär der Osteuropa-Gesellschaft. Damit besaß Hoetzsch eine ideale Möglichkeit, um sich über alle Einzelheiten des Wirtschaftsaustausches zwischen Deutschland und der UdSSR zu informieren und auf diesen einzuwirken. Er stand in der Liste von Beziehern vertraulicher Sonderberichte des Instituts.117 Die Präsidialsitzungen führten ihn mit den wichtigsten Personen des ostpreußischen Wirtschaftslebens zusammen, aber auch mit Generaldirektor Borbet vom Bochumer „Verein für Bergbau- und Gußstahlfabrikation", mit dem Präsidenten der Sächsischen Staatsbank, Degenhardt, dem Generaldirektor des „Verbandes der Deutschen Raiifeisen-Genossenschaft", Justizrat Dietrich MdR, den Leitern der Industrie- und Handelskammern von Königsberg, Dortmund, Tilsit und Essen, mit Generaldirektor Reuter von der Duisburger Demag und anderen Industriellen. 118 Der frühere Reichskanzler Wirth und Reichsminister a. D. von Raumer gehörten gleichfalls zum Präsidium des Königsberger Wirtschaftsinstituts. Hoetzsch hielt im Frühjahr 1928 vor diesem Gremium einen Vortrag über die Aufgaben des Instituts, der Berg als Grundlage für seine Vermittlungsarbeit unter der sächsischen Industrie diente.119 Auch im Juni 1929 hat er noch an einer Präsidialsitzung teilgenommen. Nachdem der Rußland-Ausschuß seine Hand auf die Königsberger Leitstelle gelegt hatte, scheint Hoetzsch lediglich noch mit Jonas, der Ende 1930 Direktor der gesamten Ostmesse wurde, Kontakt gehalten zu haben. Engere Beziehungen zum Wirtschaftsinstitut oder zu dessen Hintermännern aus dem Rußland-Ausschuß der deutschen Wirtschaft gehen aus den .Quellen dieser Jahre nicht mehr hervor. Obgleich die Behandlung des deutsch-sowjetischen Wirtschaftsverkehrs nicht zum eigentlichen Aufgabenkreis seiner Zeitschrift „Osteuropa" gehörte, hat Hoetzsch doch mehrfach dazu Stellung genommen. Einem allgemeinen Hinweis auf die „von Natur und Schicksal zu gegenseitiger Ergänzung" bestimmten Wirtschaftsstrukturen folgten im gleichen ersten Heft der Zeitschrift Ausführungen über die Abkommen vom Oktober 1925, die Hoetzsch „in Ausgestaltung des Rapallo-Vertrages eine gesicherte Grundlage für die Tätigkeit unserer Auslandsvertretungen" nannte. 120 Er zog eine oberflächliche Parallele zu dem deutsch-russischen Handelsvertrag von 1894 und meinte, daß die Abkommen zum ersten Mal den Verzicht der UdSSR auf das angebliche „Recht der Revolution" und eine evolutionäre Annäherung an „Selbstverständlichkeiten des modernen Kulturstaates" zeigten. Hoetzsch begrüßte den 300-Millionen-Kredit, weil „sowohl die Wirtschaftsinteressen wie die politischen Momente gleichmäßig beide Länder aufeinander zu und zu diesem Abschluß treiben". Er rechnete sich aus, daß die staatliche Ausfallgarantie zu einer allgemeinen Interessengemeinschaft der beteiligten deutschen Firmen führen könne, die der sowjetischen Handelsvertretung gegenübertreten könne. 121 Im Jahre 1926, bei seinem zweiten Aufenthalt in der UdSSR, förderte Hoetzsch offen116

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Nachlaß Schmidt-Ott, Bd. 1, Bl. 202-204, Sitzung der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas und des Wirtschaftsinstituts, Königsberg 2. Mai 1925, Protokoll. ZStAM, Rep. 120, C XIII, Fach 1, Nr. 186, Bl. 174. Ebenda, Bl. 71v., Namensverzeichnis des Präsidiums. Staatsarchiv Dresden, a. a. O., Bl. 101 und 103. Hoetzsch, Deutschland und Rußland. In: Osteuropa, 1925/1926, S. 2-3, und: Das neue deutsch-russische Vertragswerk, ebenda, S. 27-28. Hoetzsch, Der „Berliner Vertrag" vom 24. April, ebenda, S. 344.

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sichtlich die ostpreußische Wirtschaftsdelegation, die unter Leitung seines deutschnationalen Reichstagskollegen Professor Preyer und des Königsberger Oberbürgermeisters Lohmeyer in Moskau weilte. Im Vachtangov-Theater kam es zu einem repräsentativen Abend der „russisch-deutschen Annäherung", an dem der stellvertretende Volkskommissar der UdSSR für auswärtige Angelegenheiten, M. M. Litvinov, sowie sein Mitarbeiter B. Stejn, Vertreter des Volkskommissariats für Finanzen und anderer sowjetischer Behörden, ferner die Leitung der VOKS, Mitglieder der deutschen Botschaft unter Botschaftsrat Hey, zahlreiche Professoren und Wirtschaftsexperten, im ganzen 700 Personen, teilnahmen. Nach Ansprachen von 0 . D. Kameneva und M. M. Litvinov, die beide das gute Verhältnis der UdSSR zu Deutschland betonten und den Ausbau der Zusammenarbeit befürworteten, hielt Hoetzsch den Hauptvortrag zu dem Thema „Betrachtungen über eine deutsche Auffassung von der rassischen geschichtlichen Entwicklung im besonderen und über die russisch-deutschen geistigen Beziehungen im allgemeinen". Er machte den Versuch, die Ideen Rankes auf die russische Geschichte anzuwenden und mit der vergleichenden Methode Gemeinsames und Unterschiedliches aus der europäischen und russischen Vergangenheit herauszuarbeiten. Er unterstrich, daß sich „die Erforschung und Darstellung der russischen Geschichte als ein Teil der europäischen Geschichte in die geistigen Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland" einordne. Nachdem er symbolische Worte seines Vorzugsschriftstellers Dostoevskij über die Kraft des russischen Volkes zitiert hatte, wandte er sich der Gegenwart zu und schloß den Vortrag mit einem Bekenntnis zur Zusammenarbeit: „Das russische und deutsche Volk sind beide heute und in Zukunft eng miteinander verbunden. Beide Völker arbeiten mit allen Kräften für den Wiederaufbau, für die Rekonstruktion, für die Unabhängigkeit und die Gleichberechtigung in der Welt. Durch den Krieg voneinander getrennt, haben sie sich bald von neuem wieder gegenseitig gefunden, und keinen Punkt zu Konflikten oder Streitigkeiten zwischen beiden kann es geben."122 Preyer sprach anschließend über „Ostpreußen und die UdSSR", Professor Bronskij vom Volkskommissariat für Finanzen behandelte die Situation in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit der beiden Staaten. Nachdem Hoetzsch 1927 mit Genugtuung das gemeinschaftliche Auftreten der UdSSR und Deutschlands auf der Genfer Weltwirtschaftskonferenz erwähnt hatte123, verstärkte er in den Jahren der großen Krise seine Bemühungen um Ausbau der ökonomischen Zusammenarbeit. Jetzt ging er dazu über, der deutschen Wirtschaft die großen aus dem Fünfjahrplan erwachsenden Möglichkeiten vor Augen zu führen. Er mahnte, die polemischen und antisowjetischen Pressekampagnen aufzugeben und stattdessen konkrete Schritte zu unternehmen, um Exportaufträge zu erhalten und die schwer bedrohte deutsche Industrie zu retten. 1930 hieß es in einem seiner Beiträge: „Man muß die Fragen anfassen, die wirtschaftlichen und die Rechtsfragen, die damit zusammenhängen. Man soll etwas tun, die Verhandlungen über diese Dinge allmählich wieder in Gang zu bringen, wenn auch die russische Seite begreifen muß, daß das übermäßig vom Reparationskampf beanspruchte Deutschland im Augenblick weder viel Zeit noch gar viel Kapital für die Wirtschaftsbeziehungen zu Rußland zur Verfügung hat. Damit sind diese nicht in die Ecke gestellt, sondern sie sollen eben schon jetzt wenigstens wieder überlegt werden. Daß damit für die deutsche Seite das Außenhandelsmonopol und der Fünfjahrplan nun einmal gegebene Faktoren sind, die wir nicht ändern können, sollte man über122 123

Hoetzsch, „Russisch-deutsche Annäherung", ebenda, 1926/1927, S. 51. Hoetzsch, Rußlands außenpolitische Lage und Außenpolitik, ebenda, 1927/1928, S. 416.

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all erkennen. Ich habe nicht den Eindruck, als wenn schon überall in der deutschen Industrie Klarheit darüber bestände und Erkenntnis genug, was für die Wirtschaftsarbeit mit Rußland der Fünfjahrplan bedeutet, offen läßt, möglich macht, und was nicht!" 124 Sein Appell an die Industriellen und damit an den 1928'gegründeten „Rußland-Ausschuß der deutschen Wirtschaft", das Außenhandelsmonopol als Realität hinzunehmen und die Versuche zu seiner Umgehung einzustellen, war ebenso wichtig wie sein Auftreten gegen die Lügen von einem sowjetischen Dumping. Er hielt den Erfindern dieser Behauptung entgegen, daß die Spanne zwischen Inlands- und Auslandspreis seit jeher gerade zur kapitalistischen Kartellpraxis gehöre und daß die UdSSR weder die Absicht noch die ökonomische Kraft habe, sich auf die Dauer ein kostspieliges Dumping leisten zu können. Er nannte diese Lügen Übertreibungen, die aus antisowjetischen Gesichtspunkten heraus entstanden seien; tatsächliche konjunkturbedingte Preisdifferenzen, die in der gesamten Weltwirtschaft auftreten, könnten jederzeit auf dem Verhandlungswege überbrückt werden.125 Im Verlaufe der zwanziger Jahre entwickelte sich Otto Hoetzsch zu einem konsequenten bürgerlichen Anhänger der friedlichen Koexistenz von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung. Die Gründe, die ihn zu dieser Haltung veranlaßten, waren mannigfaltig und ihrerseits einem gewissen Wandel unterworfen. Zweifellos bewogen ihn noch immer Elemente aus dem Programm der „Ostorientierung", ein gutes Verhältnis Deutschlands zur UdSSR anzustreben. Er war erfüllt von der Idee einer geschichtlich gebotenen Interessengemeinschaft zwischen Rußland und Deutschland, deren grundsätzliche Möglichkeit er im Fehlen historisch oder geographisch bedingter, wirklich schwerwiegender Gegensätze zwischen den beiden Ländern und Völkern, fast noch mehr in den gegenseitigen vorteilhaften Ergänzungen in Wirtschaft und Kultur erblickte. Gerade diese wesentliche geschichtliche Einsicht hat Hoetzsch dem Präsidenten der Notgemeinschaft vermittelt, der ihm an Kenntnis der russischen Vergangenheit und der sowjetischen Gegenwart naturgemäß bedeutend nachstand. „Tief durchdrungen bin ich davon, daß Rußland und Deutschland vor anderen aufeinander angewiesen sind", sagte Schmidt-Ott am 27. August 1925, zum Zeitpunkt der Diskussionen um Locarno, zu einem Vertreter der sowjetischen Agentur ROSTA.126 In Hoetzschs Überlegungen war dieses letztlich schon im Programm der „Ostorientierung" enthaltene Element mit dem Versuch gekoppelt, den aggressiven Charakter der imperialistischen deutschen Rußlandpolitik vor dem ersten Weltkrieg zu bagatellisieren. 1924 reichte er dem 1. Unterausschuß des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses für die Schuldfragen des Weltkrieges, der sich mit den Kriegsursachen beschäftigte, ein umfangreiches Gutachten über die deutsch-russischen Beziehungen von 1871 bis 1914 ein.127 Darin schrieb er, daß das Verhältnis der beiden Staaten am Vorabend des Krieges durch ein „sonderbares Bild", das die natürliche Interessenlage verschoben habe, gekennzeichnet gewesen sei: ,,a)

124 123 126 127

Hoetzsch, Gegenwartsprobleme der Sowjetunion, ebenda, 1929/1930, S. 381-382. Ebenda, 1930/1931, S. 121-122; und 1931/1932, S. 2 - 3 . Nachlaß Schmidt-Ott, Bd. 1, Bl. 180. Hoetzsch, Die deutsch-russischen Beziehungen von 1871-1914. In: Archiv des Auswärtigen Amtes, Bonn, Akten des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses für die Schuldfragen des Weltkrieges, Bd. 12, (benutzt wurde der Film Serien-Nr. 2787, Teil 5, Aufnahmen 5 4 4 1 4 5 bis 544 268). Zum Untersuchungsausschuß vgl. Schleier, a. a. 0., S. 190 bis 195.

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stärkste gegenseitige wirtschaftliche Interessengemeinschaft, b) Abwesenheit jeder direkten politischen Reibungsfläche, im Gegenteil nachwirkend immerfort der gemeinsame Standpunkt zur polnischen Frage, dafür c) eine allmählich unheilbar werdende Spannung zwischen Deutschland und Rußland indirekt aus dem russisch-österreichischen Gegensatz und direkt aus der entstehenden deutsch-türkischen Verbindung." 128 Die deutsche Orientpolitik erscheint in dem internen Schriftstück als historisch berechtigt und verständlich, der Krieg zwischen Rußland und Deutschland schließlich als vorübergehende tragische Verirrung der beiden Länder, die auf der russischen Seite durch den Panslawismus und die Aggressionsrichtung gegen Deutschlands Verbündeten Österreich-Ungarn, deutscherseits durch die mangelnde Weitsicht von Bismarcks Nachfolgern verursacht worden sei. So wurde das Geschichtsbild einer die Jahrhunderte überspannenden und notwendigen deutsch-russischen Interessengemeinschaft benutzt, um den Imperialismus als Schuldigen am Ausbruch des Weltkrieges „verschwinden" zu lassen. Das Bekenntnis zu einer Politik der friedlichen Koexistenz erforderte allerdings Überlegungen und ideologische Fortschritte von einer ganz anderen Qualität als das Bemühen, die unter den neuen Bedingungen noch akzeptablen Elemente aus dem Programm der „Ostorientierung" weiterzuverwenden. Die wichtigste Voraussetzung, um ein normales Verhältnis zum Sowjetstaat zu gewinnen, war die Bereitschaft, das sozialistische Land als gleichberechtigte internationale Macht zu akzeptieren, alle Gedanken an Intervention und außenpolitische Isolierung aufzugeben und sich in die Existenz eines proletarischen Staates, der eine Herausforderung an die kapitalistische Welt darstellte, zu finden. Hoetzsch hat diese Schritte in den ersten Jahren der Republik getan; bestimmte Teilerkenntnisse formulierte er sehr zeitig, noch während der antisowjetischen Interventionskriege. Seine Uberzeugung von der Möglichkeit der Koexistenz kleidete er zu jener Zeit häufig in die Worte, daß die Umwälzungen der Revolution endgültig seien, das russische Volk eine Restauration der gestürzten Gewalten nicht zulassen werde und ein Krieg gegen die UdSSR, die einzige theoretisch denkbare Alternative zur Koexistenz, daher sinnlos sei. Hoetzsch flüchtete sich bei der Verteidigung seines bürgerlichen ideologischen Standortes in die antikommunistische Evolutionstheorie, die ihn jedoch nicht daran hinderte, das Erstarken des sozialistischen Landes, die Verbesserung des Lebensstandards und die immer engere Verbindung der werktätigen Massen mit ihrem Staat aufmerksam zu beobachten. Trotz mancher gegenteiligen Behauptung aus seiner Feder, sogar noch während des ersten Fünfjahrplanes, hieß es 1926 nach der Analyse des Nationaleinkommens in einem seiner Aufsätze: „Jedenfalls wird man sagen können, daß es heute dem Sowjetstaat gelungen ist, der Masse der Bevölkerung, den Arbeitern und Bauern, eine Lebenshaltung zu sichern, die materiell nicht oder nicht wesentlich unter der Lebenshaltung im zaristischen Rußland liegt." 129 Hoetzsch begriff, daß der sozialistische Staat trotz der immer wieder drohenden imperialistischen Umkreisung und trotz immenser Schwierigkeiten beim Aufbau der neuen Gesellschaftsordnung nicht nur weiter existieren, sondern sich festigen werde. Parallel zu diesen Überlegungen gelangte er zu der Ansicht, daß die friedliche Koexistenz mit der UdSSR für Deutschland von außenpolitischem, ökonomischem und kulturell-wissenschaftlichem Nutzen sein könne. Dieser Gedanke des Nutzens, der die Interpretation der friedlichen Koexistenz als begrenzte Zusammenarbeit voraussetzte, drängte 128 129

Hoetzsch, Die deutsch-russischen Beziehungen, Bl. 7. Hoetzsch, Monatsübersiclit. I n : Osteuropa, 1925/1926, S. 588.

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sich ihm verstärkt um die Mitte der zwanziger Jahre auf und blieb in den folgenden Jahren ständiges Thema seiner Publizistik. Außenpolitischen Gewinn versprach er sich von einer Einbeziehung der UdSSR in den Kampf gegen das Versailler System und von der Möglichkeit, gute Beziehungen zur UdSSR als Atout in den Auseinandersetzungen mit den imperialistischen Westmächten zu verwenden. Hoetzsch riet den verantwortlichen Politikern der Reichsregierung, die Bolschewiki zu unterstützen, da jede andere Regierung in Moskau ententefreundlich sein müsse. Die Hintergedanken, die Hoetzsch mit vielen anderen bürgerlichen Politikern der Weimarer Republik teilte, gingen nicht in Erfüllung. Die UdSSR lehnte das System der internationalen Nachkriegsbeziehungen stets ab, da es darauf angelegt war, alle wesentlichen Fragen ohne den Sowjetstaat und gegen seine Interessen zu regeln. Das Versailler System sollte die Herrschaft der imperialistischen Siegermächte über die Völker der kolonialen und unterdrückten Gebiete sanktionieren und trug mit dem schweren Widerspruch zwischen Siegern und Besiegten den Keim eines neuen Weltkrieges in sich. Ihre klare Beurteilung der politischen Nachkriegsordnung veranlaßte die UdSSR jedoch in keiner Weise, die Versuche des deutschen Imperialismus zur Rückgewinnung seiner früheren Machtpositionen in irgendeiner Weise außenpolitisch zu unterstützen. Die irrealen Hoffnungen der Berliner Politiker, die UdSSR zu gemeinsamen Schritten gegen Polen bewegen zu können, erfüllten sich ebenso wenig. Mit seiner Ansicht vom ökonomischen Nutzen guter Beziehungen zur UdSSR ist Otto Hoetzsch bei denjenigen Teilen der deutschen Bourgeoisie, auf die sich sein Einfluß erstreckte, offenbar durchgedrungen. Er hat sie auch großen Teilen der deutschen Öffentlichkeit intensiv nahegebracht. Dieser Gedanke gewann in seinen Veröffentlichungen während der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre zusehends an Gewicht und dominierte schließlich in der Zeit der Weltwirtschaftskrise. Um 1930 gelangte Hoetzsch dann zu einer vertieften Auffassung der friedlichen Koexistenz, indem er sie als ein Grundprinzip der sowjetischen Außenpolitik gegenüber allen Ländern, nicht nur Deutschland, zu verstehen begann. Der entscheidende Umschwung in der Tätigkeit der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas, die Hoetzsch leitete, war 1925 erfolgt. Die Feierlichkeiten zum 200jährigen Bestehen der Akademie der Wissenschaften in Leningrad und Moskau gab hohen Repräsentanten der UdSSR Gelegenheit, mit weltberühmten deutschen Wissenschaftlern, die in der Osteuropa-Gesellschaft mitwirkten oder ihr mindestens nahestanden, zusammenzutreffen und ihnen das Interesse der UdSSR an engen wissenschaftlichen Beziehungen mit Deutschland zu erläutern. Die Delegation der deutschen Universitäten und Akademien, die nach mehreren politischen Querschüssen schließlich zustande kam und die größte ausländische Abordnung zu den Feierlichkeiten war, wurde von Schmidt-Ott geleitet.1M Otto Hoetzsch gehörte ihr, offensichtlich auf Wunsch der DNVP wegen der bevorstehenden Verhandlungen in Locarno, nicht an und konnte dadurch auf die wichtigen Gespräche keinen direkten Einfluß nehmen. Auf einer der Festveranstaltungen kam es zunächst zu einem Zusammentreffen des deutschen Hirn130 Vgl. R. Ludloff, Der Aufenthalt deutscher Hochschullehrer in Moskau und Leningrad 1925. In: Wiss. Zeitschrift d. Friedrich-Schiller-Univ. Jena, Sprach- u. ges.wiss. Reihe, 1956/1957, S. 709-721, und C. Grau, Die deutschen Universitäten und die 200-Jahrfeier der Akademie der Wissenschaften der UdSSR 1925. In: Deutschland Sowjetunion. Aus fünf Jahrzehnten, S. 172-178. 14

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forschers Professor Oskar Vogt 131 mit N. P. Gorbunov. 132 Nachdem der sowjetische Wissenschaftsorganisator und Staatsmann von den Zielen und den Möglichkeiten der Notgemeinschaft erfahren hatte, setzte er sich sofort mit dem Staats ob erhaupt der UdSSR, M. I. Kalinin, in Verbindung, der dann noch am gleichen Abend mit Schmidt-Ott im Beisein von Ol'denburg und Lunacarskij eine Unterredung führte. Am folgenden Tag fand eine Arbeitsberatung statt, an der von der sowjetischen Seite Gorbunov, Lunacarskij, Ol'denburg und der Physiker P. P. Lazarev, von der deutschen Delegation Schmidt-Ott, Max Planck, der bedeutende Indologe Heinrich Lüders, Eduard Meyer und Vogt teilnahmen. Die Besprechung ergab volle Einmütigkeit in der Frage, die Beziehungen über die gegenseitige Information und den Schriftenaustausch hinauszuführen zur Phase der gemeinschaftlichen Zusammenarbeit. Lunacarskij billigte den Plan gemeinsamer Forschungsexpeditionen. Gorbunov regte an, sowjetische Stipendiaten an deutsche Institute zu entsenden, was Schmidt-Ott zu vermitteln versprach. Ol'denburg und Schmidt-Ott wurden gebeten, miteinander in Verbindung zu bleiben und binnen drei Monaten konkrete Abschlüsse zu treffen. 133 Während seiner Anwesenheit in der UdSSR traf der Präsident der Notgemeinschaft auch mit dem Sprachforscher N. Ja. Marr zusammen und zeigte sich von den Schätzen der öffentlichen Staatlichen Bibliothek in Leningrad beeindruckt. Der Generalsekretär der Osteuropa-Gesellschaft, Jonas, der ihn als Dolmetscher und Berater begleitet hatte, reiste nach dem Ende der Feierlichkeiten, mit Empfehlungen hoher Persönlichkeiten der UdSSR versehen, in die ASSR der Wolga-Deutschen und von dort nach Novosibirsk weiter. 134 Hoetzsch wurde von Schmidt-Ott nach seiner Rückkehr schriftlich und mündlich informiert (Anhang, Dokument 7). Schon nach kurzer Zeit, am 1. Oktober 1925, trafen 131

Oskar Vogt (1870-1959) - wurde 1923 zur medizinischen Behandlung des erkrankten Lenin herangezogen, nach 1925 Aufbau und Leitung eines neurophysiologischen Spezialinstituts in Moskau, Professor in Berlin und Moskau, 1925 Korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR; verbarg 1933 die Frau eines SPD-Reichstagsabgeordneten im Institut für Hirnforschung in Berlin-Buch, wurde denunziert und vorübergehend verhaftet, mehrere Haussuchungen durch die SA (vgl. ZStAP, Reichsinnenministerium, Nr. 26787, 26788); seit 1937 Direktor des Instituts für Hirnforschung und Allgemeine Biologie in Neustadt/Schwarzwald; Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin und der Leopoldina zu Halle; 1950 gemeinsam mit seiner Frau Nationalpreis der DDR I. Klasse. Vogt gehörte in der Weimarer Republik zu den bedeutendsten Fürsprechern einer deutsch-sowjetischen Zusammenarbeit auf wissenschaftlichem Gebiet. 132 n p Gorbunov (1892-1938) - Ingenieur, Spezialist auf dem Gebiet der geographischen Wissenschaften, Staatsfunktionär; Mitglied der KPdSU seit 1917, 1919 Leiter der Wissenschaftlich-technischen Abteilung des Obersten Volkswirtschaftsrates, 1919/1920 Mitglied des Revolutionären Kriegsrates der 14. und 13. Armee, 1920-1922 Leiter der Geschäftsstelle des Rates der Volkskommissare und des Rates für Arbeit und Verteidigung, persönlicher Sekretär W. I. Lenins; erwarb sich bedeutende Verdienste bei der Heranführung bürgerlicher Gelehrter an die Sowjetmacht und beim Aufbau der Sowjetwissenschaft, 1923-1929 Rektor der Zweiten Moskauer Staatlichen Universität, 1928-1932 Vorsitzender der Wissenschaftlichen Kommission für Chemisierung, gehörte zu den Organisatoren der Akademie für Landwirtschaftswissenschaften; 1935 Mitglied und Ständiger Sekretär der Akademie der Wissenschaften. 133 F. Schmidt-Ott, Erlebtes und Erstrebtes, a. a. O.. S. 222-223. Nachlaß Schmidt-Ott, Bd. 1, Bl. 175-v., Jonas an Schmidt-Ott' 2. Oktober 1925.

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sie in Berlin mit Gorbunov zusammen und versicherten ihn der Mithilfe der deutschen Wissenschaft bei der Erforschung des Pamir. Am 19. Oktober wurden die Pläne zum Ausbau der deutsch-sowjetischen Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen im Berliner „Automobil-Klub" von Hoetzsch, Schmidt-Ott, Jonas, Meyer, Planck, Seeberg, Vogt und anderen Professoren beraten. 133 Botschafter Brockdorff-Rantzau sagte brieflich seine uneingeschränkte Unterstützung zu und bestätigte, daß Kameneva von der eingeleiteten Zusammenarbeit große Ergebnisse erwarte. Aus dem Schreiben ist auch ersichtlich, daß die Mitarbeit deutscher Autoren an dem von der VOKS herausgegebenen, in mehreren Sprachen gedruckten und in viele Staaten versandten Informationsbulletin von Jonas organisiert worden war.136 Im Laufe des Oktober war schließlich der Volkskommissar für Bildungswesen, Lunacarskij, in Berlin und führte mit den Leitern der Osteuropa-Gesellschaft Gespräche. Auf einem Empfang, der zu seinen Ehren stattfand und etwa 100 Wissenschaftler vereinte, hielt Hoetzsch eine bedeutsame Rede und legte mit dem Blick auf die Locarnoverträge, in dieser Klarheit zum ersten Mal, ein Bekenntnis zur friedlichen Koexistenz von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung ab, indem er sagte: „In einer schweren Stunde, fast zur selben Stunde, da sich das Schicksal des Locarno-Vertrages erfüllt, möchte ich persönlich, als Feind dieses Vertrages, im Namen der hier versammelten Gelehrten, die verschieden zu ihm stehen, unseren Gast versichern, daß für uns alle die große Vorteilhaftigkeit und sogar unbedingte Notwendigkeit ernsthaftester gegenseitiger Unterstützung unserer Völker ebenso klar ist. Der Unterschied in der sozialen Ordnung kann daran nicht hindern. Wie auch die einzelnen unter uns den Prinzipien gegenüberstehen mögen, die der Sowjetmacht zugrunde liegen, sind wir alle doch überzeugt, durch Tatsachen überzeugt, von der Stärke dieser Macht und vom Vertrauen der Volksmassen in der Union zu i h r . . . Ohne uns in die inneren Angelegenheiten ihres Landes einzumischen, wünschen wir ihm von Herzen Ruhe und Wachstum, überzeugt davon, daß seine Wiedergeburt und wachsende Macht nur eine Quelle für das Wohl des deutschen Volkes sein können." 137 In einem Interview an die „Izvestija" forderte Hoetzsch im März 1926, die einseitige Bindung Deutschlands an die Westmächte, wie sie Locarno bedeutet habe, durch einen Vertrag mit der UdSSR auszugleichen und Locarno damit die antisowjetische Spitze zu nehmen. 138 Er befürchtete wie andere Angehörige seiner Partei, daß durch den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund der Artikel 16 zur Anwendung gelangen und das freundschaftliche Verhältnis zur UdSSR gefährden könnte. In der Reichstagsdebatte über den Berliner Vertrag setzte er sich daher für dessen Ratifikation ein.139 Mit besonderer Genugtuung vermerkte er, daß im Notenwechsel mit der UdSSR die deutsche Auffassung vom Artikel 116 des Versailler Vertrages niedergelegt, von der UdSSR bestätigt und, was am wichtigsten sei, von der Entente nicht dementiert worden sei, so daß der von ihm in Verkennung der Tatsachen für möglich gehaltene Beitritt der UdSSR zu 133 136

137 138

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14*

ZStAP, Auswärtiges Amt, Deutsche Botschaft Moskau, Nr. 396, Bl. 139, Kurzprotokoll. Nachlaß Schmidt-Ott, Bd. 1, Bl. 153-v., Brockdorff-Rantzau an Schmidt-Ott, 23. Oktober 1925. A. V. Lunaöarskij, Ha 3ana«e, Moskau/Leningrad 1927, S. 18—19. H 3 B e c T H H , 11. März 1926, Interview der Abgeordneten Scholz, Graf Reventlow, Hoetzsch. Stenographische Berichte des Deutschen Reichstags, Bd. 390, 10. Juni 1926, S. 7437 D bis 7438 B.

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den Signatarmächten des Vertrages vorläufig ausgeschlossen sei. Hoetzsch ging über die herrschende deutschnationale Auffassung vom Charakter des Berliner Vertrages als eines notwendigen Ausgleichs zu Locarno hinaus, als er im Reichstag betonte: „Es ist deshalb von unserem Standpunkt diesen Dingen gegenüber kein Fehler, wenn dieser deutsch-russische Vertrag auch unabhängig von Locarno und vom Völkerbund gedadit werden kann als eine gegenseitige Abmachung und Verpflichtung der beiden Staaten zur Aufrechterhaltung guter Beziehungen untereinander und zur Aufrechterhaltung des Friedens in Europa." 1 '' 0 1926 zeigten sich die ersten Resultate der gefaßten Beschlüsse. Die Mitarbeit sowjetischer Autoren an der Zeitschrift „Osteuropa" war in Gang gekommen. Eine Reihe bekannter sowjetischer Wissenschaftler trat in öffentlichen Veranstaltungen der Osteuropa-Gesellschaft mit Vorträgen auf. Unter ihnen befanden sich Prof. I. G. Aleksandrov, der an der Ausarbeitung des GOELRO-Plans, an der Projektierung des Dnjeprostroj und vielen anderen energetischen Großobjekten führend beteiligt war, ferner der Polarforscher Prof. A. I. Tolmacev, der an der II. Moskauer Staatlichen Universität tätige Pädagoge A. P. Pinkevic, dessen Arbeitsergebnisse in Deutschland auf anhaltendes Interesse stießen, und Prof. R. L. Samojlovic, der sich mit der Erforschung der arktischen Gebiete der UdSSR beschäftigte und sich 1928, als er die „Krassin-Expedition" zur Rettung der verunglückten italienischen Luftschiffbesatzung U. Nobiles leitete, internationale Achtung erwarb. Auch das Künstlerehepaar Olga Gsovskaja und V. Gajdarov, Schüler Stanislavskijs, befanden sich unter den Gästen der Gesellschaft. Der Maler S. M. Kolesnikov sprach über die Ausstellung seiner Bilder in Berlin. Die Vorträge, an Zahl gering, waren sorgfältig vorbereitet und in jedem Fall ein Erfolg. In diesem Jahr sprach mit Ivan Il'in zum letzten Mal ein Emigrant in einer Veranstaltung der Gesellschaft; seitdem gab Hoetzsch den Mitgliedern des „Russischen wissenschaftlichen Instituts" und anderer Organisationen der Emigration keine Gelegenheit mehr, die Tribüne der Osteuropa-Gesellschaft zu mißbrauchen. Großes Aufsehen erregte die Ausstellung byzantinisch-russischer Monumentalmalerei, die 1926 in Berlin, Königsberg, Köln und Hamburg gezeigt wurde. In einem Bericht der sowjetischen Botschaft an die VOKS hieß es, daß die Ausstellung eine große Rolle bei der Festigung der kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und der UdSSR gespielt und „kolossalen Eindruck" gemacht habe. 141 0 . D. Kameneva dankte SchmidtOtt für seine Eröffnungsrede und für die Hilfe, die er den sowjetischen Organisatoren bei den Vorbereitungsarbeiten gewährt hatte. Einen Schritt weiter ging die Gesellschaft, als sie Publikationen der in der UdSSR lebenden tatarischen Völker, also Zeugnisse von der erfolgreichen sozialistischen Politik in der nationalen Frage, der deutschen Öffentlichkeit unterbreitete. 1 '' 2 wo Ebenda, S. 7438 B. Central'nij gosudarstvennij archiv Oktjabr'skoj revoljucii, Moskau, f. 5283, op. 6, d. 14, Bl. 128-129, N. Rajvid (Botschaft der UdSSR in Deutschland) 6. 11. 1926 an VOKS, zit. nach G. Rosenfeld, Die Rapallo-Partner. Die Sowjetunion im Kampf um die friedliche Koexistenz mit Deutschland 1922-1933, Phil. Habil., Berlin 1965 (Masch.), Bl. 274. Zur Ausstellung vgl. J. Irmscher, Begegnungen zwischen deutscher und sowjetischer Altertumswissenschaft in der Weimarer Zeit. In: Oktoberrevolution und Wissenschaft, hg. v. Präsidium der Deutschen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1967, S. 91. 142 Vgl. A. Jürgens, Russische Bücher für Deutschland. In: Mitteilungen des Verbandes der deutschen Hochschulen, 1926, S. 96/97. Die Ausstellung war von Prof. Jakovlev (UdSSR) 141

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Im September 1926 regte Oskar Vogt an, als erste größere Aktion deutsch-sowjetischer Gemeinschaftsarbeit in Berlin eine Woche sowjetischer Naturforscher anzuberaumen. Er schlug vor, etwa zwanzig der hervorragendsten Gelehrten zu Vorträgen über ihre neuesten Forschungsergebnisse einzuladen und diesem ersten Versuch im Turnus von einigen Jahren die Vertreter anderer Fachdisziplinen folgen zu lassen. Seine Gedanken wurden von Max Planck, dem Ständigen Sekretär der Preußischen Akademie der Wissenschaften, und vom Leiter der „Rußland-Abteilung" im Auswärtigen Amt, Dirksen, sofort gutgeheißen.143 Der Plan nahm rasch feste Gestalt an. Im Oktober wurde auf einer Sitzung von Professoren, Mitarbeitern des Auswärtigen Amtes und der Notgemeinschaft eine Liste der einzuladenden sowjetischen Gäste aufgestellt. Es wurde beschlossen, die Forscherwoche im Juni 1927 stattfinden zu lassen und sie unter Vermittlung der Deutschen Botschaft in Moskau auf dem Regierungswege vorzubereiten. Schmidt-Ott unterstrich die politische Bedeutung der Woche; ein anderer Teilnehmer der Beratung hob hervor, daß diese wissenschaftliche Aktion auch den wirtschaftlichen Beziehungen der beiden Staaten nutzen würde.144 In einem wesentlichen Schreiben vom 1. November 1926 (Anhang, Dokument 9) drang Hoetzsch darauf, Volkskommissar Semasko unbedingt einzuladen, eine direkte Korrespondenz mit den sowjetischen Wissenschaftlern zugunsten offizieller Verhandlungen zurückzustellen und die Gesellschaft eindeutig als Träger der Veranstaltung zu benennen. Er benutzte die Gelegenheit, um Schmidt-Ott einen Plan vorzutragen, den er bereits mit Brockdorff-Rantzau, Hilger und dem in der UdSSR tätigen deutschen Mediziner Prof. Zeiss besprochen hatte. Es handelte sich um die völlige Zusammenfassung der deutsch-sowjetischen Wissenschaftsbeziehungen in den Händen der Gesellschaft, wofür die Schaffung einer Außenstelle der Gesellschaft in Moskau erforderlich gewesen wäre. Hoetzsch schlug in Übereinstimmung mit den sowjetischen Interessen in der Frage vor, einen führenden deutschen Orientalisten mit dieser Aufgabe zu betrauen, hielt aber auch die Vertretung durch einen Archäologen oder Hygieniker für denkbar. 145 Da die UdSSR auf die Zusammenarbeit mit der OsteuropaGesellschaft großen Wert legte, hätte die Verwirklichung des Plans dem Ausbau der wissenschaftlichen Beziehungen zweifellos einen großen Auftrieb gegeben, zumal die deutsche Botschaft in der UdSSR keinen Kulturattache besaß. Hoetzsch konnte die Widerstände jedoch nicht überwinden. Hilger sandte ihm eine hinhaltende Antwort146, und aus den Unterlagen der späteren Jahre ist gleichfalls nicht ersichtlich, daß das Projekt vom Auswärtigen Amt oder der Botschaft ernsthaft verfolgt worden wäre. Nach dem Tode Brockdorffs wob Hoetzsch in seinen von großer Ergriffenheit getragenen Nachruf einige kritische Worte über die Vernachlässigung der kulturellen Arbeit durch den Botschafter ein.1,17

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zusammengestellt worden, die Bücher wurden anschließend auf dem Tauschwege für Deutschland erworben. Nachlaß Schmidt-Ott, Bd. 1, Bl. 41-v., Vogt an Schmidt-Ott, 9. September 1926. Ebenda, Bl. 29-35, Vorbesprechung über die Veranstaltung einer russischen Forscherwoche in Berlin im Jahre 1927. Ebenda, Bl. 25-28v., Hoetzsch an Schmidt-Ott, 1. November 1926, und im Schreiben vom 3. Dezember 1926, ebenda, Bl. 17. ZStAP, Auswärtiges Amt, Deutsche Botschaft Moskau, Nr. 398, Hilger an Hoetzsch, 23. Dezember 1926. Hoetzsch, Botschafter Graf Brockdorff-Rantzau. In: Europäische Gespräche, 1929, H. 1, S. 8/9.

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Mit einer ausführlichen Unterrichtung des Außenministers Stresemann und der Sicherung des notwendigen Geldbetrages in Höhe von etwa 30 000 RM wurden die vorbereitenden Arbeiten für die Naturforscherwoche abgeschlossen.148 Sie fand programmgemäß vom 19. bis 25. Juni 1927 in Berlin statt. Die Abordnung der sowjetischen Wissenschaft, die vom Volkskommissar für Gesundheitswesen der RSFSR, N. A. Semasko, geleitet wurde, bestand aus je fünf Px*ofessoren der Medizin und Biologie, zwei Chemikern, vier Geologen und drei Physikern. Die markantesten Persönlichkeiten waren die Geochemiker A. E. Fersman und V. I. Vernadskij, der Physiker A. F. Ioffe und der Pflanzenphysiologe D. N. Prjanisnikov. 149 Der berühmte Tierphysiologe I. P. Pavlov konnte der Einladung infolge einer Erkrankung nicht folgen. Die Woche wurde im Beisein des sowjetischen Botschafters mit einem feierlichen Akt in der alten Aula der Berliner Universität eröffnet; Ansprachen hielten ein Vertreter der Reichsregierung, der preußische Kultusminister Becker, Prof. Semasko sowie die Rektoren der Universität und der Technischen Hochschule. Die Vorlesungen der sowjetischen Gäste fanden in den entsprechenden Instituten der Universität statt. Es kam zu zahlreichen Begegnungen mit deutschen Fachkollegen, zur Besichtigung der Arbeitsstätten und zu Gesprächen über den Ausbau der beiderseitigen Beziehungen. Der Text der Vorträge wurde später in' deutscher Sprache veröffentlicht. 150 Volkskommissar Semasko äußerte seine Zufriedenheit über den Verlauf der Woche und machte darauf aufmerksam, daß der Erfolg der deutschen Wissenschaft in Frankreich Besorgnis hervorgerufen habe. lDl Schmidt-Ott und Hoetzsch, die Leiter der tragenden Organisationen, teilten die Zufriedenheit des sowjetischen Staatsmannes und nutzten die Woche sofort aus, um neue gemeinsame Arbeitsvorhaben in Angriff zu nehmen. Nicht weniger als vier große deutsch-sowjetische Expeditionen wurden vorbereitet, die Forschungen an der Westküste des Ochotsker Meeres, in der Wüste Karakum, im Pamirgebiet und in der Burjat-Mongolischen ASSR betrafen. In die komplizierten Vorbereitungsarbeiten wurden ganze Gruppen deutscher Experten einbezogen; die OsteuropaGesellschaft bereitete vor, vermittelte und sicherte den ministeriellen Rückhalt. Schmidt148

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ZStAP, Auswärtiges Amt, Deutsche Botschaft Moskau. Nr. 410, Bl. 82-85, Schmidt-Ott und Hoetzsch an Stresemann, 19. Januar 1927, Abschrift. Gedrucktes Vorlesungsverzeichnis der Russischen Naturforscherwoche, Berlin 1927, enthalten im Nachlaß Schmidt-Ott, Bd. 2. - A. E. Fersman (1883-1945), Entdecker zahlreicher Mineralien und Bodenschätze; V. I. Vernadskij (1863-1945), Mitbegründer der modernen Geochemie, Biogeochemie und Radiogeochemie, entwickelte neue Methoden zum Auffinden von Lagerstätten nutzbarer Mineralien, Staatspreis 1943; A. F. Ioffe (1880-1960), seit 1920 Mitglied der Akademie der Wissenschaften, bis 1951 Direktor des Physikalisch-Technischen Instituts und seit 1954 des Instituts für Halbleiterforschung, Wegbereiter zahlreicher technischer Neuentwicklungen, Staatspreis 1942; D. N. Prjanisnikov (1865-1948), erforschte die Bedeutung des Stickstoffs für Pflanzen und die Verwendung des Kunstdüngers, Leninpreis 1926, Staatspreis 1941, zweimal Leninorden. Die Naturwissenschaft in der Sowjet-Union. Vorträge ihrer Vertreter während der „Russischen Naturforscherwoche" in Berlin 1927, hg. im Auftrage der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas von O. Vogt, Berlin/Königsberg 1929. - Vgl. die Darstellung von U. Kretzschmar, Die Russische Naturforscherwoche in Deutschland (19.-25. Juni 1927). In: Jahrb. f. Gesell, der UdSSR und der volksdemokratischen Länder Europas, Bd. 9, 1966, S. 97-119. Nachlaß Schmidt-Ott, Bd. 2, Bl. 134-135, Jonas an Schmidt-Ott, 8. Juli 1927.

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Ott ließ durch die Notgemeinschaft bedeutende Geldbeträge bereitstellen und ermöglichte dadurch die Durchführung der Expeditionen in den folgenden Jahren. Am bekanntesten von ihnen wurde die Alaj-Pamir-Expedition. 152 Auch der Austausch von Assistenten machte nach der Naturforscherwoche Fortschritte. Jonas erzielte z. B. in Gesprächen mit dem Limnologen Prof. Behning (Saratov) und dem Physiker Prof. Gol'dman (Kiev) Klarheit über die langfristige Entsendung deutscher wissenschaftlicher Nachwuchskräfte an Forschungsstätten der UdSSR. Die rege und erfolgreiche Tätigkeit hatte zur Folge, daß die Gesellschaft zu diesem Zeitpunkt ihre Organisationsstruktur zu festigen vermochte. In Königsberg konnte nach langen, von Prestigekämpfen gezeichneten Verhandlungen eine eigene Landesgruppe konstituiert werden. In ihrem Vorstand befanden sich der Slawist Prof. Paul Rost, der Historiker Dr. Martin Winkler, die Professoren Preyer und Schultz, der Oberbürgermeister, mehrere Industrielle und die Leiter des „Wirtschaftsinstituts für Rußland und die Oststaaten." 1d3 Den stärksten Einfluß übte Winkler aus. Die Landesgruppe nahm sich vor, die Kenntnis der UdSSR in Ostpreußen durch Vorträge, Studienreisen, Veröffentlichungen und zweckdienliche gesellschaftliche Veranstaltungen zu fördern. Sie war eifrig darauf bedacht, sich von dem Königsberger „Deutsch-Russischen Klub" abzugrenzen, der unter Leitung von Prof. Rogowski (Handelshochschule) eine begrenzte Zusammenarbeit mit dem Konsul der UdSSR hergestellt hatte und in seinen Plänen, nach den spärlichen Angaben zu urteilen, über die Ziele der Osteuropa-Gesellschaft hinausging. In Hamburg wurde unter Leitung des Historikers Richard Salomon eine Ortsgruppe der Gesellschaft aufgebaut. Nach Besprechungen von 0 . D. Kameneva mit führenden Kölner Stadtpolitikern 154 kam noch eine Landesgruppe Rheinland hinzu. Das starke Interesse der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie am Handel mit der UdSSR und die immer größer werdende Aufmerksamkeit, die der Sowjetunion in Deutschland geschenkt wurde, veranlaßten Oberbürgermeister Adenauer, sich an die Spitze der Landesgruppe zu stellen.153 Zum ersten Mal trat diese hervor, als eine von der UdSSR zur Verfügung gestellte Ikonen-Ausstellung am 3. Mai 1929 in Köln eröffnet wurde. Hoetzsch sprach bei dieser Gelegenheit im Kölner Kongreßgebäude „vor einem erlesenen Auditorium von mehr als 400 Personen" zu dem Thema „Deutschland und Rußland". Die Mitgliederstärke und die Eigeninitiative der drei Landesgruppen blieben stets gering. Sie fungierten mehr als Leitstellen für die Betreuung sowjetischer Gäste und für Ausstellungen, die zuvor in der Hauptstadt gezeigt worden waren. Nur selten wurden in ihnen Vorträge gehalten. Die Leitungswahlen vom Februar 1927 hatten gegenüber dem Stand von 1924 gewisse Verschiebungen gebracht. Im Präsidium und Hauptausschuß waren nunmehr 152

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W. Rickmer Rickmers, Alaj! Alaj! Arbeiten und Erlebnisse der Deutsch-Russisehen AlaiPamir-Expedition, Leipzig 1930 Nachlaß Schmidt-Ott, Bd. 2, Bl. 174, Liste des Vorstandes. Der Band enthält die Unterlagen zu den vorherigen Besprechungen. Diese hatten im Mai 1928 stattgefunden und die Bildung einer Gesellschaft zur Förderung der Verbindung des Rheinlandes mit dem Osten bezweckt. Fünfzig Jahre Osteuropa-Studien. Zur Geschichte der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas und der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde, Stuttgart 1963, S. 16/17. Die Schrift verschweigt behutsam, daß Besprechungen Adenauers mit Kameneva vorausgegangen waren; zu ihnen vgl. Nachlaß Schmidt-Ott, Bd. 2, Bl. 35-v.. Adenauer an SchmidtOtt, 12, November 1928.

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Kapitel I X

24 Wissenschaftler (vordem 22), 15 leitende Mitarbeiter des Staatsapparates (gegenüber 7), 8 Großindustrielle und Bankiers (früher 6) sowie 3 weitere Sprecher wirtschaftlicher Interessentenkreise, 4 Verleger und Redakteure sowie 2 Großagrarier vertreten. 156 Unter den Wissenschaftlern befanden sich der Religionshistoriker Adolf von Harnack, damals Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft, der Physiker Max von Laue, der führende Archäologe Gerhart Rodenwaldt, der Kunsthistoriker Theodor Wiegand, die Slawisten Erich Berneker, Richard Trautmann und Max Vasmer, der Direktor der Berliner Staatsbibliothek, Fritz Milkau, und die Historiker Goetz, Salomon und Stählin. Besonders augenfällig war die verstärkte Aufnahme von Mitarbeitern des Auswärtigen Amtes, das der Gesellschaft regelmäßig beträchtliche Geldsummen überwies; Hoetzsch hatte die Zuwahl der Politiker mit voller Absicht forciert. Die Leiter der Ost-Abteilung, der „Rußland-Abteilung", der Kulturabteilung sowie drei weitere Angehörige des Amtes besaßen nunmehr in den obersten Organen der Osteuropa-Gesellschaft Sitz, Stimme und gewichtigen Einfluß. Die Zusammensetzung der leitenden Gremien zeigt, daß die Verbindung von Wissenschaft, Staatsämtern und Monopolorganisationen weitere Fortschritte gemacht hatte und wie bei vielen anderen Verbänden der Weimarer Republik auch am Beispiel der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas nachweisbar ist. Die Berliner geschäftsführende Kopfstelle wurde durch eine Schülerin von Hoetzsch, die Historikerin Irene Grüning, verstärkt, die von 1927 bis 1931 als Assistentin der Gesellschaft arbeitete und Jonas unterstützte. 157 Bedeutsam für die Beurteilung der Gesellschaft ist ihr Verhalten anläßlich des zehnten Jahrestages der Oktoberrevolution. Es zeigte sich, daß die Initiativen der sowjetischen Seite und die in Deutschland herrschende Sympathie zur U d S S R die ursprünglichen Pläne der Gesellschaft sprengten und ihre Leiter veranlaßten, ein stark beachtetes Auftreten führender marxistischer Historiker aus der U d S S R in Deutschland zu ermöglichen. Es war dem Kreis um Hoetzsch klar, daß die Gesellschaft zum Jubiläum der Oktoberrevolution „etwas tun" müsse. Das Präsidium plante, eine kleine Ausstellung neuer sowjetischer geschichtswissenschaftlicher Literatur zu arrangieren und in ihrem Rahmen drei Vorträge, von dem Historiker M. N. Pokrovskij sowie einem Geographen und einem Ökonomen, stattfinden zu lassen. Ausdrücklich wurde es als „unmöglich" bezeichnet, „eine Veranstaltung vorzusehen, die eine innere Anteilnahme an dem Revolutionsereignis ausdrückt". Die von Hoetzsch vorgeschlagene begrenzte Würdigung wurde vom Präsidium am 19. Oktober 1927 gutgeheißen. „Im übrigen soll von dem Jubiläum keine Notiz genommen werden." 158 Die an Schmidt-Ott und Hoetzsch ergangene Einladung, zu den Festtagen in die U d S S R zu kommen, wurde unter dem fadenscheinigen Vorwand, keine Zeit zu haben, abgelehnt. 109 Stattdessen wurde Jonas beauftragt, nach Moskau zu reisen und dort die vorbereitenden Arbeiten für die Ausstellung zu erledigen.

150

157

158 169

ZStAM, Rep. 76, Vc, Sekt. 1, Tit. 11, Teil L Nr. 26 C, Mitgliederverzeichnisse von Präsidium und Hauptausschuß, gewählt Februar 1927. Nachlaß Schmidt-Ott, Bd. 2, Bl. 191-193, Hoetzsch an Schmidt-Ott, 4. März 1927, und Nachruf auf I. Grüning i n : Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 1955, S. 466/467. ZStAM, Rep. 76, a. a. 0 . , Bericht über die Präsidialsitzung vom 19. Oktober 1927. ZStAP, Auswärtiges Amt, Deutsche Botschaft Moskau, Nr. 400, BL 137, Hoetzsch an Legationssekretär Schliep, 2. November 1927.

Hoetzsch und die UdSSR (1918 bis 1930)

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Uber seinen Aufenthalt in der sowjetischen Hauptstadt, der vom 6. bis zum 19. November 1927 dauerte und in die Tage der Feierlichkeiten fiel, hat der Generalsekretär einen ausführlichen und interessanten Bericht verfaßt. 160 Er verhandelte zunächst mit 0 . D. Kameneva, die das Projekt billigte und sich sofort bereit erklärte, die V O K S als Materialsammelstelle für die Ausstellung und als Absender der Buchsendungen einzuschalten. Sie schlug vor, in Kürze eine Besprechung von Beauftragten der in Frage kommenden Volkskommissariate anzusetzen. J o n a s begriff schnell, daß der in Berlin abgesteckte Rahmen zu eng- war und daß die Zustimmung der sowjetischen Regierungsorgane notwendig sei. Daraufhin setzte er sich mit dem Volkskommissar für das Bildungswesen, A. V. Lunacarskij, und seinem Stellvertreter M. N. Pokrovskij, dem Leiter des sowjetischen Archivwesens, in Verbindung. Beide begrüßten den Plan einer Ausstellung und sagten J o n a s weitgehende Hilfe zu. Lunacarskij beauftragte den Leiter des Staatsverlages, A. B. Chalatov, von den Publikationen des Verlages ausreichend Exemplare bereitzustellen. Pokrovskij brachte einen von J o n a s gestellten schriftlichen Antrag im Kollegium des Volkskommissariats zur Sprache und erreichte, daß alle in Frage kommenden Dienststellen zur Unterstützung verpflichtet wurden. Im Staatsverlag fand J o n a s gleichfalls offene Türen vor. Chalatov überreichte ihm einen teilweise erst in Druckfahnen vorliegenden Katalog, in dem J o n a s sogleich mehrere Tausend Buchtitel anstrich. Chalatov ordnete an, die Literatur über die Berliner „Mezdunarodnaja K n i g a " der Gesellschaft zuzuleiten und ihr als Geschenk zu überlassen. Es war der Grundstock für die geschichtswissenschaftliche Ausstellung der U d S S R vom J a h r e 1928 und zugleich der erste größere Bestand an sowjetischer gesellschaftswissenschaftlicher Literatur, der nach Deutschland gelangte. Trotz einiger Kriegsverluste wird er noch heute in der Deutschen Staatsbibliothek aufbewahrt. In den Verhandlungen mit den Mitarbeitern des Staatsverlages wurde J o n a s auch für die Zukunft weitestes Entgegenkommen auf allen Gebieten des sowjetischen Buchwesens zugesichert. Der Verlag erklärte sich in einem Vertrag bereit, der OsteuropaGesellschaft von geplanten historischen Publikationen, besonders Aktenveröffentlichungen, zu unterrichten und ihr seine Literatur regelmäßig zuzusenden. Darüber hinaus traf J o n a s mündliche oder schriftliche Vereinbarungen mit dem Kunstwissenschaftler Prof. Kogan, mit Prof. I. N. Borozdin von der Wissenschaftlichen Allunionsvereinigung für die Erforschung des Ostens und mit dem führenden Pädagogen Prof. A. P. Pinkevic. Dadurch gewährleistete er, daß die Ausstellung auch die neueste Literatur zur Kunstgeschichte und Orientkunde sowie zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften zeigen konnte. Dem Entgegenkommen der sowjetischen Seile und seinem eigenen geschickten Auftreten hatte J o n a s noch weitere Erfolge zu verdanken. M. N. Pokrovskij erklärte sich einverstanden, im Falle eines Vertrages mit der preußischen Archivverwaltung erstmalig Originaldokumente aus sowjetischen Archiven ins Ausland zu senden; Schmidt-Ott hatte diese Frage bereits bei dem Leiter der Archivverwaltung, Prof. Kehr, sondiert. Das von Pokrovskij angeregte Abkommen sollte auf der Basis gegenseitigen Nutzens der sowjetischen Geschichtswissenschaft die Bearbeitung von deutschen Unterlagen zur Geschichte der internationalen revolutionären Bewegung und der deutsch-russischen Beziehungen 160

Nachlaß Schmidt-Ott, Bd. 2, Bl. 104-117, Bericht über die Vorarbeiten für die Ausstellung „Die Geschichtswissenschaft in Sowjet-Russland von 1917-1927" während meiner Anwesenheit in Moskau vom 6. November bis zum 19. November :I 927.

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ermöglichen. Pokrovskij, der zu dieser Zeit bereits schwer leidend war und ständige ärztliche Hilfe beanspruchen mußte, sagte ferner zu, in Berlin Vorlesungen zu halten und seine seit dem Kriegsausbruch abgerissenen Verbindungen zur deutschen und ausländischen Wissenschaft wieder aufzunehmen. Er konfrontierte die vom Präsidium der Berliner Osteuropa-Gesellschaft gefaßten sehr begrenzten Beschlüsse mit dem Gegenvorschlag, eine Gruppe von mindestens sechs Historikern unter Leitung Lunacarskijs zu Vorlesungen nach Deutschland einzuladen. Er selbst beabsichtigte, seine Konzeption der russischen Geschichte vorzutragen, während der Volkskommissar wahrscheinlich über den historischen Materialismus und seine Weiterentwicklung in der UdSSR zu sprechen wünsche. Der Gedanke eines mehrtägigen deutsch-sowjetischen Historikertreffens stammt demnach, wie aus dem Bericht von Jonas hervorgeht, von Pokrovskij. Um die in Deutschland verbreiteten Behauptungen von einem angeblichen Terror gegen die nichtmarxistische Wissenschaft in der UdSSR zu bekämpfen, schlug er außerdem vor, in die Delegation auch Vertreter der bürgerlichen Geschichtsschreibung aufzunehmen. Jonas nahm diese weitgehenden Vorschläge, die über seine Vollmachten hinausgingen, zur Kenntnis und sicherte ihre Prüfung zu. Er stellte privaten Kontakt zu den Historikern M. M. Bogoslovskij, A. A. Novosel'skij und dem bedeutenden Wirtschaftshistoriker S. V. Bachrusin her, die Polcrovskijs Anregungen begrüßten und ihre Mitarbeit bei der vorgesehenen Ausstellung versprachen. Der Generalsekretär kehrte sichtlich beeindruckt nach Berlin zurück und faßte seine allgemeinen Erfahrungen in den Worten zusammen: „Abschließend möchte ich bemerken, daß das Ansehen der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas in den zwei Jahren, die seit meinem letzten Aufenthalt in Moskau verflossen sind, in den sowjetrussischen amtlichen und wissenschaftlichen Kreisen bedeutend gewachsen ist. Der Name der Gesellschaft ist nicht nur bekannt, sondern man hält sie auch für ein .ernsthaftes' Unternehmen, mit dem man auf dem Gebiet der wissenschaftlichen und kulturellen Verbindung jederzeit zusammenarbeiten kann. Viel hat zu diesem Urteil die Aufnahme beigetragen, die zahlreiche russische Professoren, die einzeln nach Deutschland kamen, in der Gesellschaft gefunden haben. Die Abwicklung der russischen Forscherwoche hat uns in den Kreisen der Naturforscher und Ärzte bekannt gemacht und schließlich hat die Zeitschrift ,Osteuropa', die in Rußland überraschend gut bekannt ist, dazu beigetragen, von der Gesellschaft die Vorstellung einer wissenschaftlich arbeitenden Institution zu erwecken, mit der in Verbindung zu stehen dem allgemeinen und persönlichen Interesse des Staates und dem Einzelnen nur von Vorteil sein kann." 161 Dieses Urteil wurde durch den weiteren Verlauf der Dinge bestätigt. Nachdem sich das Präsidium der Gesellschaft noch am 3. Februar 1928 gegen eine neue Veranstaltung vom Range der Naturforscherwoche aussprach und den Rahmen weiterhin eng halten wollte162, sah es sich im März veranlaßt, einer von der UdSSR vorgeschlagenen Namensliste zuzustimmen. Neben M. N. Pokrovskij waren der Leiter des Marx-Engels-Instituts in Moskau, D. B. Rjazanov, der Herausgeber der Werke von Marx und Engels und Fachmann auf dem Gebiete des sowjetischen Archivwesens, V. V. Adoratskij, der Verfasser von Arbeiten zur Geschichte der KPdSU, V. I. Nevskij, der Vorsitzende der Russischen Vereinigung wissenschaftlicher Forschungsinstitute für Gesell161 102

Ebenda, Bl. 117. ZStAM, Rep. 76, a. a. 0., Bericht des Regierungsrates Niessen über die Sitzung vom 3. Februar 1928.

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schaftswissenschaften (RANION), V. M. Frice, die Professoren S. M. Dubrovskij, N. M. Lukin und E. B. Pasukanis sowie als Vertreter bürgerlicher Schulen S. F. Platonov, A. E. Presnjakov, der sich in seiner ideologisch-politischen Entwicklung auf dem Wege zum Marxismus befand, M. M. Bogoslovskij, M. K. Ljubavskij und D. N. Egorov vorgesehen. Aus der Ukraine waren M. Grusevskij und der Marxist S. Ju. Semkovskij, aus der Belorussischen SSR Prof. V. I. Piceta nominiert. Jonas bestätigte, daß diese sechzehn Wissenschaftler die Reiseerlaubnis erhalten hatten und nach Deutschland kommen wollten.163 Persönliche Gründe, Krankheiten und die Vorbereitungen zum Internationalen Historikerkongreß in Oslo führten jedoch zu einigen personellen Änderungen in der sowjetischen Delegation. Auf deutscher Seite bildete sich auf Initiative der Osteuropa-Gesellschaft alsbald ein größeres Komitee, das für einen würdigen Rahmen des bevorstehenden Ereignisses sorgte. Neben Schmidt-Ott, Hoetzsch und Jonas, der in verdienstvoller Art die gesamten „Kleinarbeiten" bewältigte, gehörten zu dem vorbereitenden Komitee der Rektor der Universität, Norden, der Generaldirektor der Staatsbibliothek, Krüss, der Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, Adolf von Harnack, und die Professoren Auhagen, Brackmann, Breysig, Delbrück, Ebert, Goetz (Bonn), Goldschmidt, Härtung, Kehr, Heinrich Maier, Mareks, Meinecke, Eduard Meyer, Oncken (München), Rodenwaldt, Salomon (Hamburg), Schumacher, Sering, Stählin, Vasmer, Vogel, Wiegand, Wilcken und Wulff. Die Begegnung mit der sowjetischen Wissenschaft hatte mithin nicht nur große Gelehrte wie Harnack, den Altphilologen Eduard Norden und den Papyrologen Ulrich Wilcken begeistert, sondern selbst tonangebende Geschichtsideologen wie Delbrück und Meinecke in ihren Bann geschlagen; andere Komiteemitglieder wie Auhagen, Brackmann und auch Vasmer waren an einer wirklichen Zusammenarbeit mit den sowjetischen Historikern nicht interessiert, sondern traten dem Komitee aus allgemeinen Repräsentationspflichten oder dem Wunsch bei, mit Historikern der alten, bürgerlichen Schulen ins Gespräch zu kommen. Es wurde beschlossen, die Historikerwoche und die Ausstellung am 7. Juli 1928 beginnen zu lassen. Die Preußische Akademie der Wissenschaften und die Staatsbibliothek stellten die erforderlichen Räume zur Verfügung. In Anwesenheit des sowjetischen Botschafters N. N. Krestinskij wurde die Woche zum festgesetzten Termin im überfüllten Festsaal der Akademie eröffnet. Neben den Mitgliedern des vorbereitenden Komitees und allen deutschen Professoren für osteuropäische Geschichte waren auch die Historiker Veit Valentin (Potsdam), Fritz Kern (Bonn), Gustav Mayer (Berlin) und Hans von Eckardt (Heidelberg) sowie der ehemalige badische Staatspräsident Prof. Willi Hellpach erschienen. Das Reichskabinett ließ sich lediglich durch zwei Ministerialdirektoren des Auswärtigen Amtes, Freytag und Dirksen, vertreten. Als erster Redner sprach Hoetzsch. Er verlas die Begrüßungstelegramme, die von der Vorsitzenden der VOKS, 0 . D. Kameneva, und von Botschafter Brockdorff-Rantzau eingegangen waren, und schloß sich ihren Wünschen nach einem erfolgreichen Verlauf der Woche und nach gegenseitiger geistiger Anregung an. Hoetzsch äußerte seine Freude, seine bereits 1923 in einem Gespräch mit Volkskommissar G. V. Cicerin entstandene „Lieblingsidee" einer deutsch-sowjetischen Historikerwoche nun verwirklicht zu sehen. Er betonte, wie wichtig es sei, die Leistungen der sowjetischen Geschichtswissenschaft, 163

H. Jonas, Die russische Historikerwoche und die Ausstellung der russischen geschichtswissenschaftlichen Literatur 1917-1927 in Berlin. In: Osteuropa, 1927/1928, S. 752.

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die Schwerpunkte ihrer Forschungen und ihre Editionsprinzipien sowie den Aufbau des Archivwesens kennenzulernen. Er erwartete von der Woche, daß sie „Austausch und Zusammenarbeit in der Geschichtswissenschaft der beiden Staaten" fördern werde. Aus seiner Feindschaft gegen den Marxismus und den historischen Materialismus machte Hoetzsch kein Hehl. Er ging so weit, den historischen Materialismus bewußt falsch zu bezeichnen als eine „ . . . rein ökonomische Erklärung des historischen Prozesses, die für alle Menschen, ohne Unterschied der Nationalitäten, gleich verlaufen und nach gleichen Gesetzen der Entwicklung und mit gleichen Folgen auslaufen soll in der weltrevolutionär zu gewinnenden Herrschaft des Proletariats, der Werktätigen hin über die ganze Welt." 104 Es zeigte sich, daß Hoetzsch wie viele andere bürgerliche Historiker die marxistische Geschichtsbetrachtung, die er zu bekämpfen versprach, nicht begriffen hatte; er setzte sie mit einem platten ökonomischen Determinismus gleich und schrieb ihr einen lebensfremden Schematismus zu. Diesem Zerrbild stellte er in äußerst summarischer Form Gedanken Herders und Rankes entgegen, wobei er überging, daß gerade Ranke die russische Geschichte aus den europäischen Zusammenhängen ausgeklammert hatte. Seine Ausführungen wurden noch verworrener, als er auf das russisch-westeuropäische Verhältnis zu sprechen kam und Zitate von Ju. Samarin und V. 0 . Kljucevskij anführte, „dessen großer Name auch auf diese Historikerwoche fällt und dessen Sonne über den nichtmarxistischen Kollegen aus Rußland noch leuchtet." Nach seiner Rede begrüßte der preußische Kultusminister Becker die sowjetische Delegation, während Botschafter Krestinskij an die Kette der Bemühungen erinnerte, zwischen Deutschland und der UdSSR auch auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Forschung eine Zusammenarbeit herzustellen, die auf anderen Ebenen zum Nutzen der beiden Nationen und der Welt bereits: geschaffen sei. M. N. Pokrovskij 165 gab in seiner Ansprache einen gedrängten Überblick über die Leistungen der deutschen Wissenschaft bei der Erforschung der russischen Geschichte. Er würdigte die Arbeiten von Gerhard Friedrich Müller, August Ludwig von Schlözer und besonders von Gustav Evers, „der, wie es eben einem Gelehrten zusteht, ungewöhnlich neue, originelle, für seine Zeit revolutionäre Anschauungen in so einfacher Form zum Ausdruck brachte, als ob es sich um für jedermann altbekannte Tatsachen handelte". Pokrovskij bezog auch die rechtshistorischen Untersuchungen von Leopold Karl Goetz in sein positives Urteil ein und äußerte sich selbst über die Bücher Schiemanns 16i 105

Ebenda, S. 749. M. N. Pokrovskij (1868-1932) - Historiker, Partei- und Staatsfunktionär; studierte Geschichte, u. a. bei V. 0. Kljucevskij, 1891 Geschichtslehrer; intensive Beschäftigung mit dem Marxismus, seit 1905 Mitglied der KPdSU, aktiver Teilnehmer der Revolution 1905/ 1907, vom V. Parteitag 1907 zum Kandidaten des ZK gewählt; schrieb in französischer Emigration die „Russische Geschichte seit den ältesten Zeiten" (1909/1912) und andere Untersuchungen, August 1917 Rückkehr nach Rußland, kämpfte während der Oktoberrevolution in Moskau, 1917/1918 Vorsitzender des Moskauer Sowjets, seit 1918 Stellvertreter des Volkskommissars der RSFSR für Bildungswesen; leitete zu verschiedenen Zeiten die Kommunistische Akademie, das Institut der Roten Professur, das Institut für Geschichte an der Akademie der Wissenschaften der UdSSR sowie wichtige geschichtswissenschaftliche Zeitschriften; trotz verschiedener unrichtiger Auffassungen zur russischen Geschichte erwarb er sich bedeutende Verdienste beim Aufbau der sowjetischen Geschichtswissenschaft, bei der Ausbildung von Historikern sowie bei der Neuordnung des Archivwesens; Mitglied des ZEK der UdSSR; 1929 Akademiemitglied.

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anerkennend, wobei er dessen unheilvolle politische Rolle offensichtlich schwer unterschätzte. Schließlich kam Pokrovskij auf die Tätigkeit der sowjetischen Archive, die geplante Aktenpublikation zur Vorgeschichte des Weltkrieges und das Verhältnis der marxistischen zur bürgerlichen Geschichtswissenschaft zu sprechen. Er betonte, daß die Marxisten von der Richtigkeit ihrer Methode überzeugt seien und es als Herabsetzung des historischen Materialismus empfinden würden, wenn ihm durch Zwangsmaßnahmen Geltung verschafft werden sollte. Diese grundsätzliche Feststellung, die eine Antwort an Hoetzsch darstellte, ergänzte Pokrovskij durch die folgende Erläuterung: „Wir betrachten als unsere Vorgänger sämtliche großen Entdecker und Dolmetscher historischer Tatsachen, die auf unserem Gebiet in den Reihen der vergangenen Generation gewirkt haben. Sowohl Schlözer wie Evers, Solowjew und Kljutschewski sind unsere Vorläufer. Wir beugen uns nicht in blinder Ergebenheit vor ihrer Autorität, wir üben Kritik an ihnen, wir sind aber weit davon entfernt zu leugnen, daß wir von ihnen vieles gelernt haben, und daß ohne ihre Vorarbeiten unsere Arbeiten unmöglich gewesen wären." 166 Damit hatte Pokrovskij eindeutig die Haltung der marxistischen Historiker zum bürgerlichen geschichtswissenschaftlichen Erbe klargestellt und die im kapitalistischen Ausland verbreiteten Legenden von der Kulturfeindlichkeit der Bolschewiki entschlossen bekämpft. Die feierliche Eröffnung der Historikerwoche wurde mit einem Rundgang durch die Ausstellung der sowjetischen Geschichtsliteratur abgeschlossen. In sechzehn Abteilungen wurden etwa 2 000 Werke gezeigt. 700 von ihnen betrafen die russische, 440 die allgemeine und etwa 150 die Literaturgeschichte. Den Besuchern wurde ein von der Osteuropa-Gesellschaft zusammengestellter bibliographischer Katalog des Materials überreicht.167 Die Ausstellung enthielt außerdem eine Fülle photographierter Dokumente, vom Vertrag Novgorods mit dem Großfürsten von Tver' 1265, über einen Brief Yorcks an Alexander I. bis zu Zeugnissen der Oktoberrevolution, sowie Tabellen über den Aufbau des sowjetischen Archivwesens, Lehrpläne der Universität Minsk und andere Unterlagen. Trotz Einspruchs der sowjetischen Seite hatten es die Veranstalter abgelehnt, das Original der „Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes" mit eigenhändigen Bemerkungen Lenins zu zeigen. Die Ausstellung hatte allein in der Woche vom 7. bis 14. Juli einen Besuch von 1010 Personen zu verzeichnen. Anschließend wurde sie im Sekretariat der Gesellschaft aufgestellt. Während der Historikerwoche hielten die Professoren168 aus der UdSSR folgende Vorträge: M. N. Pokrovskij: Die Entstehung des russischen Absolutismus;

Jonas, a. a. O., S. 758. 107

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Die Geschichtswissenschaft in Sowjetrußland 1917 bis 1927. Bibliographischer Katalog, hg. v. d. Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas, mit einem Vorwort von Otto Hoetzsch, Berlin/Königsberg 1928. V. V. Adoratskij (1878-1945) - Mitglied der KPdSU seit 1904, aktiver Teilnehmer der revolutionären Bewegung, 1920-1929 stellvertretender Leiter der Zentralen Archiwerwaltung der UdSSR, 1931-1939 Direktor des Marx-Engels-Lenin-Instituts, arbeitete zu Fragen aus der Geschichte des Marxismus; Delegierter des XVI., XVII. und XVIII. Parteitages der KPdSU, seit 1932 Akademiemitglied. S. M. Dubrovskij (1900-1970) - Teilnehmer an der Februarrevolution und an der Oktoberrevolution, seit 1918 Mitglied der KPdSU, gehörte zu den ersten Absolventen des

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V. V. Adoratskij: Das Archivwesen der Russischen Sozialistischen Föderativen SowjetRepublik ; S. M. Dubrovskij: Die Stolypinsche Agrarreform 1 9 0 6 - 1 9 1 6 ; D. N. Egorov: Das Bibliothekswesen in der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken; M. I. Javorskij: Westeuropäische Einflüsse auf die Ideengestaltung der sozialen Bewegung in der Ukraine im zweiten und dritten Viertel des 19. Jahrhunderts; M. I. Javorskij: Die Ergebnisse der ukrainischen Geschichtsforschung in den Jahren 1917 bis 1927; M. K. Ljubavskij: Die Besiedlung des großrussischen Zentrums; E. B. Pasukanis: Cromwells Soldatenräte; V. I. Piceta: Die Agrarreform in den östlichen Bezirken des litauisch-weißrussischen Staates in der zweiten Hälfte des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts; S. F. Platonov: Das Problem des russischen Nordens in der neueren Historiographie; V. A. Jurinec: Der soziale Prozeß im Spiegel der ukrainischen Literatur des 20. Jahrhunderts ; D. N. Egorov: Zur Kritik der mittelalterlichen Geschichtsschreibung Westeuropas.

Instituts der Roten Professur, stellvertretender Direktor des Internationalen Agrarinstituts und Professor an den Historischen Fakultäten der Universitäten Moskau und Leningrad, Mitglied des Präsidiums der Bauern-Internationale; verfaßte zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten, besonders zur Geschichte der Agrarverhältnisse und der Bauernbewegungen in Rußland sowie zu theoretischen Fragen des historischen Materialismus. D. N. Egorov (1878-1931) - Mediävist, beschäftigte sich besonders mit der sozialökonomischen Geschichte Westeuropas und erwarb sich mit seinem Hauptwerk über die Kolonisation Mecklenburgs (1915) Verdienste bei der Erforschung neuen Quellenmaterials; trotz methodologischer Bindung an die vorrevolutionäre Geschichtsschreibung loyales Verhältnis zur Sowjetmacht, unterrichtete in den zwanziger Jahren an Arbeiterfakultäten und war u. a. stellvertretender Direktor der Lenin-Bibliothek. M. K. Ljubavskij (1860-1936) - Schüler und Nachfolger V. 0. Kljucevskijs an der Universität Moskau, arbeitete auf der theoretischen Grundlage der historischen Rechtsschule zur Ethnogenese der Slawen, zur Geschichte des litauischen Staates, zur Geschichte der Geographie und zu anderen Themen, Korrespond. Akademiemitglied seit 1917, Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR seit 1929. E. B. Pasukanis (1891-1937) - Mitglied der KPdSU seit 1918, 1920-1923 im Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten tätig; gehörte zu den ersten Mitarbeitern der Kommunistischen Akademie, wurde später ihr Vizepräsident; seit 1928 Mitglied der Kommission zur Herausgabe von Dokumenten aus der Epoche des Imperialismus, seit 1931 Direktor des Instituts für Sowjetaufbau und Rechtswesen, beschäftigte sich auch mit Fragen aus der Geschichte des Staates und des Rechts in England; 1936 Stellv. Volkskommissar der UdSSR für Justiz. V. I. Piceta (1878-1947) - arbeitete besonders zu Problemen der Agrargeschichte Litauens und Belorußlands, auch zu Themen des russischen Feudalismus sowie der Slawenkunde; Akademiemitglied seit 1946, 1947 stillvertretender Direktor des neu gegründeten Instituts für Slavenkunde bei der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. S. F. Platonov (1860-1933) - seit 1890 Professor für russische Geschichte an der Universität Petersburg, publizierte vorwiegend zu Fragen aus der Zeit der „Wirren" (Ende des 16. Jh. und Beginn des 17. Jh.), verfaßte 1901 auf konservativ-monarchistischer Grundlage ein „Lehrbuch der russischen Geschichte", das ihm im Ausland den Ruf des führenden bürgerlichen russischen Historikers eintrug.

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Die Vorlesungen 169 wurden in jedem Falle von wenigstens 90, mehrfach von über 200 Hörern besucht. Neben namhaften deutschen Historikern pflegten sich im Vollsitzungssaal und im Festsaal der Akademie zahlreiche Geschichtslehrer der höheren Schulen, Dozenten der verschiedensten Hochschulen und viele Studenten einzufinden, darunter Schweizer, Holländer, Amerikaner und Japaner. Der Zyklus bot, wie aus den Themen ersichtlich ist, sowohl Überblicke als auch neue Forschungsergebnisse zu Spezialfragen. In dem Referat von V. V. Adoratskij wurden alle für den deutschen Hörer wesentlichen Fragen des sowjetischen Archivwesens in großer Ausführlichkeit dargestellt, besonders der Aufbau, die Arbeitsweise und die wissenschaftliche Tätigkeit der Archive sowie die Bestände des Zentralarchivs, des Staatlichen Archivs der Oktoberrevolution und des Moskauer Historischen Archivs. Adoratskij berichtete über die Aktenveröffentlichungen zur Geschichte der revolutionären Kämpfe in Rußland seit dem 18. Jahrhundert und über geplante Publikationen, die sich besonders auf die auswärtige Politik des Zarismus, die Tätigkeit der revolutionären Demokraten und der Narodniki und auf die wichtigsten Fragen der Oktoberrevolution bezogen. 170 Seine materialreiche Ubersicht wurde im Jahr 1929 durch einen Beitrag des deutschen Historikers und Archivars Heinrich Otto Meisner noch erweitert, 171 so daß die deutsche Geschichtswissenschaft ausreichend über das Archivwesen der UdSSR und seine wissenschaftliche Tätigkeit unterrichtet war. Der Vortrag D. N. Egorovs war von ähnlichem Nutzen. Er unterrichtete über die Hilfe, die die Sowjetmacht dem Bibliothekswesen gab, und über den Aufbau, die Bestände und Benutzungsmöglichkeiten der Lenin-Bibliothek, in der mehrere deutsche Forscher wie Salomon, Winkler und Jonas bereits gearbeitet hatten. M. N. Pokrovskij unterzog in seinem Referat die verschiedenen Theorien über die Entstehung des russischen Absolutismus einer differenzierten Kritik. 172 Er behandelte die Erklärungen, die N. I. Kostomarov, M. A. Djakonov, K. D. Kavelin, B. N. Cicerin, 169

Aus der historischen Wissenschaft der Sovet-Union. Vorträge ihrer Vertreter während der „Russischen Historikerwoche", veranstaltet in Berlin 1928 von der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas, hg. v. Otto Hoetzsch, Berlin/Königsberg 1929 (Osteuropäische Forschungen, N. F. 6); die beiden zuletzt genannten Vorträge sind in dem Band nicht enthalten. An Darstellungen der Historikerwoche vgl. A. Schellbach, Die Beziehungen deutscher und sowjetischer Historiker in der Weimarer Republik am Beispiel der sowjetischen Historikerwoche 1928 in Berlin. In: Kulturelle und wissenschaftliche Beziehungen zur Sowjetunion (1922-1932), Halle/S. 1965, S. 38-49, Manuskriptdruck; L.-D. Behrendt, Das erste Auftreten der sowjetischen Geschichtswissenschaft in der internationalen Arena. Die sowjetische Historikerwoche 1928 in Berlin. In: Jahrbuch für Geschichte, Bd. 17, Berlin 1977, S. 237-265; ders., Pokrovskij und Deutschland. Zur internationalen Wirksamkeit der sowjetischen Geschichtswissenschaft. In: Oktoberrevolution und Wissenschaft, Berlin 1967, S. 116-123.

170

Sein Berliner Vortrag scheint die erste in Deutschland gedruckte Arbeit dieses bedeutenden marxistischen Historikers gewesen zu sein. Vgl. auch R. P. Konjusaja, yieHHÜ-MapKCHCT, In: Bonpocbi HCTopHH K n c c , 1963, Ii. 8, S. 9 5 - 9 7 . H. 0. Meisner, Uber das Archivwesen der Sowjet-Republik. In: Archivalische Zeitschrift, Bd. 38, 1929, S. 178-196.

171

172

Vgl. PyccKan HCTopHqecKaa JimepaTypa B Knacc0B0M ocßemenHH, 2 Bde, hg. v. M. N. Pokrovskij, Moskau 1927,1930.

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Kapitel IX

S. M. Solöv'ev und V. 0 . Kljueevskij zu diesem Problem gegeben hatten. Pokrovskijs eigene materialistische Analyse krankte an der Grundschwäche seiner Geschichtskonzeption, der übertriebenen Bedeutung, die er der Rolle des Handelskapitals zuschrieb. Er führte die Ausbreitung der Geldwirtschaft im russischen Dorf bis in das 14. Jahrhundert zurück und gelangte zu dem irrigen Schluß, daß die Nachfahren von Ivan Kaiita und die ersten Zaren aus dem Hause Romanov wie die letzten Capetinger, die Valois, Tudors und Habsburger feudale Senioren gewesen seien, „die die größte progressive Kraft ihrer Zeit, das Handelskapital, rechtzeitig am Rockschoß zu fassen vermochten und dadurch über alle hinter ihnen zurückgebliebenen Feudalherren den entscheidenden Sieg errangen." 173 Der ukrainische Marxist M. I. Javorskij behandelte Themen, deren Kenntnis auch in den engen Zirkeln der deutschen Fachwissenschaft äußerst gering war. Er skizzierte die Geschichte der revolutionären Bewegung in der Ukraine und verdeutlichte ihren engen Zusammenhang mit den Klassenkämpfen in Rußland. Mit seinen Ausführungen über das Scheitern der Geschichtsansichten M. S. Grusevskijs wandte er sich gegen die gerade auch in Berlin ansässigen ukrainischen bürgerlich-nationalistischen Emigranten. Die Aufnahme von Verbindungen zwischen der deutschen und sowjetischen Geschichtswissenschaft blieb nicht auf die Vorträge der Gäste beschränkt. Am 8. Juli trafen sich die Gelehrten aus der UdSSR mit den Historikern aus Berlin und anderen deutschen Städten zu einem lebhaften Gedankenaustausch. Am 10. Juli besichtigten sie das Geheime Staatsarchiv in Dahlem, wo Prof. Kehr eine Ausstellung vorbereitet hatte, in der neben einigen Briefen preußischer Könige an Zaren auch Dokumente über Lassalle, Bakunin und Herzen zu sehen waren. Am 11. Juli gab die Osteuropa-Gesellschaft einen Empfang, auf dem Pokrovskij und Botschafter Krestinskij ihren Dank für die Veranstaltungen aussprachen. Eine von reaktionären deutschen Elementen auf den gleichen Tag festgesetzte Hetzkundgebung in der Technischen Hochschule Charlottenburg konnte den erfolgreichen Verlauf der Historikerwoche nicht beeinträchtigen. Am folgenden 12. Juli führte Generaldirektor Krüss die sowjetische Delegation durch die Staatsbibliothek. Am Abend fand im Seminar für osteuropäische Geschichte und Landeskunde eine Zusammenkunft mit den deutschen Osteuropa-Experten statt; Hoetzsch nutzte die Gelegenheit zu einer verspäteten 25-Jahrfeier des Seminars. Bei einem Besuch im Reichsarchiv Potsdam erregten der Nachlaß Lassalles, Aktenstücke,zum Weltkrieg und über den Vertrag von Brest-Litovsk das besondere Interesse der sowjetischen Historiker, die anschließend noch eine Fahrt nach Sanssouci, zur Siedlung Alexandrovskoe und zum Blockhaus Nikolskoe unternahmen. Zum Abschluß der Woche fand am 13. Juli in den Räumlichkeiten der sowjetischen Botschaft Unter den Linden ein feierlicher Empfang statt, zu dem auch der deutsche Reichskanzler Hermann Müller, die Reichsminister Groener und Dietrich, mehrere Staatssekretäre und neben Hoetzsch die Reichstagsabgeordneten J. V. Bredt (Wirtschaftspartei), G. Schreiber (Zentrum) und Marie Lüders (Deutsche Demokratische Partei) erschienen. Unter den Vertretern der Großindustrie bemerkte man Mamroth von der AEG und Meinhardt vom Osram-Konzern. Die Historikerwoche bedeutete einen vollen Erfolg. Der sowjetische Historiker 1.1. Mine, der im Sommer 1928 für längere Zeit in Berlin weilte, bemerkte in der Zeitschrift „Istorik-Marksist", daß der im kapitalistischen Ausland verbreiteten Vorstellung von 173

Aus der neueren Literatur über die geschichtswissenschaftlichen Auffassungen Pokrovskijs

vgl. 0. D. Sokolov, M. H. ÜOKpoBCKHö h coBeTCKaa ncTopHnecKaH Hayna, Moskau 1970.

Hoetzsch und die UdSSR (1918 bis 1930)

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der politischen „Handlangerfunktion" der marxistischen Geschichtswissenschaft ein ernsthafter Schlag versetzt, die Lüge von der gewaltsamen Unterdrückung der bürgerlichen Wissenschaft widerlegt und gezeigt worden sei, daß die Marxisten nicht nur die Geschichte der Revolution, sondern eine breite Skala wissenschaftlicher Probleme erforschen. Die Zusammensetzung der Delegation habe allein schon bewiesen, daß in der U d S S R die Gelehrten der verschiedenen Nationen gleichberechtigt Schaffensfreiheit genossen. 174 Der Erfolg der Woche offenbarte sich auch in dem erzwungenen vollständigen Schweigen der antisowjetischen Emigration, die weder im akademischen Rahmen noch in der Öffentlichkeit auftrat. Pokrovskij legte in den „Izvestija" seine positiven Eindrücke nieder. Als wichtigstes Ergebnis nannte er die entstandene dauerhafte Verbindung zwischen den Historikern der beiden Staaten. Er äußerte die Erwartung, daß es in der U d S S R bald zu einer „Moskauer Woche deutscher Gelehrter" bei Teilnahme verschiedener Disziplinen kommen werde.17:> Hoetzsch und Schmidt-Ott waren mit dem Verlauf der Woche gleichfalls zufrieden, zumal die sowjetischen Professoren auch in Leipzig, Hamburg und Königsberg mehrere Vorträge halten konnten. In der deutschen Presse war über das Ereignis nur in mäßigem Umfang berichtet worden. Kurze Mitteilungen oder Kommentare erschienen in der „Vossischen Zeitung", dem „Vorwärts", in der „Deutschen Zeitung", dem „Berliner Tageblatt", dem „Berliner Börsenkurier", der „Deutschen Allgemeinen Zeitung", der „Frankfurter Zeitung" und im Zentralorgan der K P D , der „Roten Fahne" (10. und 12. Juli 1928). Das Blatt der S P D , „Vorwärts", und die Deutsche Zeitung" äußerten sich abfällig. Die DAZ meinte, daß die Woche stark im Zeichen des Marxismus gestanden habe und daß Vertreter der idealistischen Richtungen gefehlt hätten. Eine offenbar unter der bürgerlichen Intelligenz verbreitete Ansicht drückte die „Vossische Zeitung" am 21. Juli a u s : „ E s kann zusammenfassend gesagt werden, daß die ganze Veranstaltung von einem äußerst regen wissenschaftlichen Leben in Rußland, gerade auch auf den gegenwartsabgewandten historischen Gebieten, zeugte. Nur bei einzelnen Gegenständen, insbesondere natürlich, wenn objektive ideologische Kulturwerte behandelt werden, wird eine gewisse Brutalisierung der Probleme durch die geschichtsmaterialistische Festlegung für unser Gefühl bemerkbar, im allgemeinen erweist sich aber auch die strengmarxistische Methode, von vernünftigen Leuten gehandhabt, als elastisch genug, den Differenzierungen der Historie nachzugehen - ganz abgesehen von den prizipiellen Vorzügen, die diese Methode ihrerseits gewissen Problemen gegenüber mitbringt und vor anderen voraushat." Während einige andere große Blätter die Historikerwoche ignorierten, blieb es den Zeitungen der Rechten vorbehalten, verleumderische Behauptungen aufzustellen. Die Kreuzzeitung hielt Hoetzsch „befremdlich warme Töne" vor und glaubte ermahnen zu müssen, „daß es eine sowjetrussische Wissenschaft weder gibt noch überhaupt geben kann!" 1 7 6 Die gleichfalls deutsch-nationalen, also Hoetzsch parteipolitisch nahestehenden „Eisernen Blätter" diffamierten die Historikerwoche plump als propagandistische Mache und beteuerten, daß diese „Erkenntnis" nunmehr in Deutschland Fuß gefaßt habe. 177

174

1,6

1.1. Mine, MapKCHCTbi Ha HCTopn^ecKofi Helene B EepjiHHe H VI MejKRyHapoßHOM KOHrpecce HCTOPHKOB B HopBerHH. I n : McropHK-MapKCHCT, 1928, H. 9, S. 84—90. M3BecraH, 18. J u l i 1928.

177

NPrZ, 12. Juli 1928. o. V., Geschichte und Propaganda. Zur Kritik der russischen Historikerwoche in Berlin. In: Eiserne Blätter, 1928, S. 564-566.

15

Hoetzsch

176

218

Kapitel IX

Als Bilanz läßt sich festhalten, daß aus dem ursprünglichen Plan der Osteuropa-Gesellschaft, mit einer kleinen Ausstellung und drei Vorträgen des zehnten Jahrestages der Oktoberrevolution zu gedenken, ein wichtiges Ergebnis geworden war, das der Bedeutung der großen Revolution, gemessen an der Situation innerhalb der deutschen Intelligenz und Bourgeoisie, gerecht wurde. Das Entgegenkommen der sowjetischen Wissenschaft, das Interesse unter den deutschen Gelehrten und der Öffentlichkeit an der Entwicklung der UdSSR sowie das einsichtige Verhalten von Hoetzsch, Schmidt-Olt und Jonas waren zu einer für beide Seiten nützlichen Tat zusammengeflossen. Die Berliner Woche war das erste Auftreten einer marxistischen Historikergruppe aus der UdSSR im kapitalistischen Ausland.178 Da die sowjetischen Wissenschaftler klug operierten und offensiv handelten, war es ihnen gelungen, die auf gesellschaftswissenschaftlichem Gebiet um die UdSSR errichtete „Blockade", die im Grunde aus Furcht und Ignoranz bestand, erstmals zu durchbrechen. Wenige Wochen später beteiligte sich die sowjetische Geschichtswissenschaft mit einer ähnlich repräsentativen Delegation am VI. Internationalen Historikerkongreß in Oslo und erzwang damit endgültig ihr Erscheinen in der internationalen Arena.179 Die interessierten Kräfte in Deutschland hatten durch die Berliner Woche die Möglichkeit erhalten, das Leistungsvermögen der marxistischen Wissenschaft kennenzulernen und hatten davon regen Gebrauch gemacht. Otto Hoetzsch blieb seitdem mit Repräsentanten des historischen Materialismus in ständiger Verbindung. Fortwirkende Ergebnisse des Treffens zeigten sich in den ersten Absprachen, die Hoetzsch und Pokrovskij über die deutsche Ausgabe der sowjetischen Aktenpublikation zur Vorgeschichte des Weltkrieges trafen, sowie in Abkommen der beiderseitigen Archivverwaltungen. Der Leihverkehr zwischen den Archiven und die Arbeit sowjetischer Historiker in deutschen staatlichen Archiven, die beide zwischen 1928 und 1930 einen Aufschwung erlebten und von Prof. Paul Kehr gefördert wurden, gingen auf die Verhandlungen während der Berliner Woche zurück.180 Die Abkommen wurden überprüft und erweitert, als Pokrovskij ein Jahr darauf, am 10. Juli 1929, abermals in Berlin weilte und mit Hoetzsch, Schmidt-Ott, Jonas, Kehr, Mertz von Quirnheim und Müsebeck, beide vom Reichsarchiv, zusammentraf (Anhang, Dokument 12); der neu ernannte Generaldirektor der Staatsarchive, Brackmann, hatte sich „entschuldigen" lassen. Es wurde vereinbart, die bereits stark angestiegenen Benutzungswünsche zu koordinieren, den Versand von Archivalien zugunsten der Herstellung von Photokopien einzuschränken und die deutschen Forscher in Zukunft mit einer Befürwortung auszustatten. Die sowjetische Seite legte besonderen Wert darauf, das gesamte in deutschen Archiven lagernde Material zur Geschichte des Sozialismus und der revolutionären Bewegung zu erhalten. Der Leiter des Marx-Engels-Instituts in Moskau, D. B. Rjazanov, konnte die Abkommen ausnutzen, um Material für die Gesamtausgabe der Werke von Marx und

178

179

180

Vgl. dazu: 50 JieT coBeTCKoit HCTopHHecKoii nayKH. XpoHHKa iiay^HOit WH3HH 19171967, hg. v. A. I. Alatorceva u. G. D. Alekseeva, Moskau 1971. Vgl. O^epKH HCTopHH HCTopiwecKoit H a y K H B CCCP, Bd. 4, hg. v. M. V. Neckina (u.a.), Moskau 1966, S. 177-179. Unterlagen im ZStAM, Rep. 178, VII, Nr. 2, D 6, Bd. 1, Urkunden- und Archivalien-Leihverkehr mit Rußland, 1927-1941, auch Rep. 178, IV, Nr. 19, Bd. 1. Vgl. den instruktiven Aufsatz von R. Franz/R. Groß, Wissenschaftliche Beziehungen zwischen sowjetischen und deutschen Archiven in den Jahren 1917-1933. In: Archivmitteilungen, 1966, S. 81-90.

Hoetzsch und die UdSSR (1918 bis 1930)

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Engels sammeln zu lassen. Diese Zusammenarbeit wurde abgebrochen, als Brackmann die Leitung der preußischen Archivverwaltung fest in der Hand hatte und entsprechend seinem Programm vom forcierten Ausbau der imperialistischen Ostforschung die weitere Arbeit sowjetischer Forscher in dem ihm unterstellten Bereich untersagte. 181 Sogar in der Haltung des führenden deutschen geschichtswissenschaftlichen

Organs,

der von Meinecke gelenkten Historischen Zeitschrift, läßt sich ein gewisser Einfluß der Historikerwoche erkennen. U m 1 9 2 8 zeigte sich in der HZ eine lebhaftere Resonanz auf die Arbeiten der sowjetischen Historiographie. Georg Lenz veröffentlichte einen sehr anerkennend gehaltenen Artikel über das Marx-Engels-Institut in Moskau. Die Zahl der Rezensionen nahm für einige J a h r e zu, wobei Fritz T . Epstein und die linksliberale Historikerin Hedwig Hintze aufmerksam die sowjetischen Untersuchungen zur Geschichte der Französischen Revolution verfolgten. J o n a s veröffentlichte einen Bericht über die Berliner Woche. 1 8 2 Unterdessen zeichneten sich bereits neue Arbeitspläne der Gesellschaft ab. Im Februar 1 9 2 8 war Schmidt-Ott von S. F . Ol'denburg eingeladen worden, in der U d S S R mehrere Vorträge über Aufbau und Wirkungsweise der Notgemeinschaft zu halten. E r nahm das Angebot sofort an und reiste Ende August, von J o n a s begleitet, ab. E r sprach in Leningrad, Moskau, Char'kov und Tbilisi. In einem Schreiben aus Batumi teilte er mit, daß er überall mit großen Ehren empfangen worden sei und mit zahlreichen hohen Persönlichkeiten gesprochen habe, darunter mit Volkskommissar Semasko, mit M. M. Litvinov, B . Stejn, mit dem Stellvertreter Gorbunovs, Voronov, dem Vorsitzenden

des

Rates der Volkskommissare der Grusinischen S S R , Macharadze, und dem grusinischen Volksbildungskommissar Kandelakiski. 1 8 3 Im Auftrag der Osteuropa-Gesellschaft schloß er mit dem Bibliotheksausschuß im Volksbildungskommissariat der R S F S R und mit der Lenin-Bibliothek einen vorläufigen Vertrag über den Leihverkehr zwischen den wissenschaftlichen Bibliotheken der R S F S R und Preußens. Das Abkommen, das dann vom Präsidium der Gesellschaft bestätigt und der Staatsbibliothek zugleitet wurde, regelte auch den Austausch von entbehrlichen

Buchbeständen,

Handschriften und

anderem

Bibliotheksmaterial. Weitere Verabredungen sahen archäologische Grabungen und zoologische Unternehmen vor. Im Interesse der Osteuropa-Gesellschaft wurde ein Abkommen zur Unterstützung grusinischer Wissenschaftler bei ihrem Aufenthalt in Deutschland, für den Austausch wissenschaftlicher Manuskripte, deutsche Mitarbeit bei medizinischen Forschungen im Kaukasus und ähnliche Fragen geschlossen. In Char'kov erklärte sich J . Pase-Ozerskij im Namen der Wissenschaftler der Ukrainischen S S R zur Zusammenarbeit mit der Gesellschaft bereit. Damit hatte sich der Aktionsradius der Berliner Vereinigung, ohne die praktischen Auswirkungen dieser Vereinbarungen

überschätzen

zu wollen, auf zwei weitere Unionsrepubliken ausgedehnt. Nachdem das Präsidium am 23. November 1 9 2 8 die Ergebnisse der Reise gutgeheißen hatte (Anhang, Dokument 10), zeigten sich sehr bald die positiven Auswirkungen. Die Gesellschaft wurde zu der „Deutschen Technischen W o c h e " herangezogen, die vom

181

)82

183

15*

ZStAM, Rep. 178, VII, Nr. 2, D 6, Bd. 1; der Abbruch erfolgte 1930; 1941 gab Brackmann noch einen rückblickenden Bericht. H. Schleier, Die Historische Zeitschrift 1918-1943. In: Studien über die deutsche Geschichtswissenschaft, a. a. 0., Bd. 2, S. 264/265. Nachlaß Schmidt-Ott, Bd. 2, Bl. 58-60 v., Schmidt-Ott an (wahrscheinlich) Stresemann, 27. September 1928, Durchschlag.

220

Kapitel I X

„Verein deutscher Ingenieure" in Moskau veranstaltet wurde und für die sozialistische Industrialisierung der U d S S R von unmittelbarem Interesse war. Jonas teilte im Dezember 1928 Schmidt-Ott mit, daß Vorträge über Fragen der Elektrifizierung, über die Industrialisierung der Landwirtschaft, die Anwendung der Chemie in allen Industriezweigen, den Wohnungs- und Industriebau sowie zu neuen Rationalisierungsmethoden auf dem Programm stehen würden. Außerdem werde die sowjetische Seite von den deutschen Fachleuten u. a. Gutachten für den Bau von Untergrundbahnen und Straßen anfordern und den Berliner Professor Ries speziell bitten, zur Organisation und Rationalisierung landwirtschaftlicher Großbetriebe zu sprechen.184 Die Gesellschaft nahm beratend und vermittelnd an der Vorbereitung der Woche teil, die im Januar 1929 in Anwesenheit hoher sowjetischer Regierungsvertreter eröffnet wurde; auch der neu ernannte deutsche Botschafter Dirksen war erschienen. Großes Aufsehen erregten zwei Ausstellungen, die von der Gesellschaft in Deutschland gezeigt wurden; das Material hatten verschiedene Museen und Kunstinstitute aus der UdSSR zur Verfügung gestellt. In Berlin, Köln, Hamburg, Frankfurt/M. und München wurden im Frühjahr 1929 nach sorgfältiger Vorbereitung russische Ikonen des 12. bis 18. Jahrhunderts gezeigt; Lunacarskij hatte für den Ausstellungskatalog das Vorwort geschrieben. Der sowjetische Kunsthistoriker I. E. Grabar' begleitete die hochversicherten, in 36 Kisten verpackten Kunstschätze. 185 Neben den Zeitungsmeldungen liegen uns zwei gewichtige Stimmen vor, die das außergewöhnliche Echo dieser Ausstellung bezeugen. Der Bonner Kunsthistoriker Paul Clemen richtete an Schmidt-Ott einen begeisterten Brief, in dem er mitteilte, daß die Ikonen in Köln innerhalb weniger Tage von über 4 000 Personen besichtigt worden seien und daß er alle seine Schüler in die Ausstellung gesandt habe. 186 Aus München schrieb die Akademie der Bildenden Künste, daß die Gesamtzahl der Besucher mit etwa 10 000 nicht zu hoch gegriffen sein dürfte. Presse und Rundfunk hätten „zum Teil sehr eingehend und einhellig rühmend, ja teilweise fast enthusiastisch" berichtet. Die Akademie dankte der Osteuropa-Gesellschaft für die Vermittlung der Exponate. 187 Die andere große Ausstellung, die im Frühjahr und Sommer 1930 in Berlin, Köln, Nürnberg, und München gezeigt wurde, enthielt Werke der altkaukasischen Kunst vom 4. bis 18. Jahrhundert. Sie waren von einer Kommission unter Leitung des Kunsthistorikers Cubinasvili 188 ausgewählt worden. Volkskommissar Kandelaki teilte Schmidt-Ott mit, daß es sich um Kopien von Wandmalereien des 10. bis 17. Jahrhunderts, um Abklatsche von Reliefsteinplastiken, um silbergetriebene Ikonen, Buchillustrationen aus Handschriften des 9. bis 19. Jahrhunderts, Nadelmalereien und um eine Übersicht über 18

'' Ebenda, Bl. 10-11 v., J o n a s an Schmidt-Ott, 12. Dezember 1928. I. E . Grabar' (1871-1960) - studierte bei Repin, schulte sich an der Kunst von Monet und Seurat, war Herausgeber und z. T. Autor der ersten Geschichte der russischen K u n s t (1909/1916), leitete 1913 bis 1925 die Tretjakov-Galerie, bis zu seinem Tode Direktor des Kunsthistorischen Instituts der Akademie der Wissenschaften der U d S S R , zweimal Leninorden, Staatspreis 1941.

185

Nachlaß Schmidt-Ott, Bd. 3, Bl. 188-189, Clemen an Schmidt-Ott, 5. April 1929, Abschrift. Ebenda, Bl. 176-178, Bericht der Akademie der Bildenden Künste, 31. Mai 1929, Abschrift. 188 p r o f . G. N. Cubinasvili, Direktor des Forschungsinstituts für die Geschichte der georgischen K u n s t in Tbilisi, wurde 1963 von der Karl-Marx-Universität Leipzig mit der Würde eines Ehrendoktors geehrt.

186

187

Hoetzsch und die UdSSR (1918 bis 1930)

221

die geschichtliche Entwicklung der georgischen Architektur handele.189 Jonas reiste eigens nach Tiblisi, um die organisatorischen Einzelheiten festzulegen. Nachdem die Regierung der UdSSR ihr Einverständnis erteilt hatte, konnten die Werke nach Deutschland geführt und gezeigt werden. Die Besucher der Ausstellung erhielten einen tiefen Eindruck von der in Deutschland weithin unbekannten Kultur der alten kaukasischen Staaten und ihrer Pflege durch die Sowjetmacht. Der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare der SSR Grusinien, Macharadze, dankte der Osteuropa-Gesellschaft für ihre Mitarbeit an der Ausstellung. Neben ihren größeren, arbeitsaufwendigen Unternehmungen verwirklichte die Deutsche Gesellschaft zum Studium Osteuropas im Sinne des kulturell-wissenschaftlichen Verkehrs eine Vielzahl kleinerer Schritte. 1926/1927 vermittelte sie Gastvorträge sowjetischer Gelehrter an der Technischen Hochschule in Berlin-Charlottenburg. 1928 war sie mitbeteiligt an einer Ausstellung des ukrainischen Architekten N. Toporkov und sogar an einem Konzert. Im gleichen Jahr bahnte sie Vorträge von Prof. Oskar Vogt in Tiblisi an. 1929 veranlaßten Hoetzsch und Jonas in Gesprächen mit Semasko und dem Leiter des Medizinischen Staatsverlages, Saratovcev, daß die deutsch-sowjetische Zeitschrift zu Fragen der Medizin in ein Jahrbuch umgewandelt und damit erhalten werden konnte. Die Liste der deutschen Teilnehmer für den Internationalen Orientalisten-Kongreß in Moskau wurde mit Hilfe der Gesellschaft zusammengestellt, die auf Wunsch der sowjetischen Veranstalter auch einige ausländische Gelehrte für Einladungen empfahl. 1929 unterstützte sie den sowjetischen Chemiker Prof. Bloch, der im Auftrag Gorbunovs in Deutschland Unterlagen zu einer geplanten „Akademie für chemische Forschungen" sammelte. 1930 erleichterte sie die Arbeiten von fünf grusinischen Wissenschaftlern, die sich auf Grund des zwischen Schmidt-Ott und Kandelaki geschlossenen Abkommens für längere Zeit in Deutschland aufhielten. Im gleichen Jahr vermittelte sie dem grusinischen Volksbildungskommissariat auf dessen Wunsch eine neu verfaßte Grammatik der deutschen Sprache; das Kommissariat hatte den Kauf von 6 000 Exemplaren garantiert. Von 1927 bis Ende 1931 traten mehrere Persönlichkeiten aus der UdSSR mit öffentlichen Vorträgen in der Osteuropa-Gesellschaft auf. Es waren die Schriftstellerin Sejfullina, der Mitarbeiter im Volkskommissariat der RSFSR für Gesundheitswesen, Strasun, die Professoren Pase-Ozerskij, Grabar', Cubinasvili und Samoilovic, der Polarforscher Cuchnovskij, der Regisseur V. I. Pudovkin, der Mitarbeiter im Volkskommissariat der RSFSR für Bildungswesen, J. Meksin, und der stellvertretende Abteilungsleiter im Volkskommissariat der UdSSR für Finanzen, Nagler. Weitere Vorträge sind wahrscheinlich, lassen sich aber nicht mehr genau ermitteln. Interessant ist es auch, einen Blick zu werfen auf diejenigen Pläne der Gesellschaft, die nicht verwirklicht werden konnten. Einige wesentliche Dinge zeigen die weitreichenden Ziele der Gesellschaft, aber auch ihre Grenzen. Der von Hoetzsch 1926 energisch verfolgte Plan, eine Außenstelle der Gesellschaft in Moskau zu schaffen und gleichzeitig in Berlin ein Haus für sowjetische Gäste einzurichten, wurde bereits genannt. Das Präsidium war in dieser Zeit nach dem Abschluß des Berliner Vertrages auch entschlossen, in russischer Sprache eine Korrespondenz über neue Ereignisse aus der deutschen Wissenschaft, Kunst und Literatur ins Leben zu rufen; ein Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes hatte sich schon zur finanziellen Hilfe bereit erklärt. Auf der gleichen 159

Nachlaß Schmidt-Ott, Bd. 3, Bl. 162-164, Kandelaki an Schmidt-Ott, 3. August 1929, Abschrift.

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Kapitel IX

Präsidialsitzung vom 7. Juli 1926 trug Jonas einen Plan vor, über die „Deutsche Welle" russischen Sprachunterricht und die Vorträge der Gesellschaft ausstrahlen zu lassen.190 Im März 1927 wurde erwogen, wie an den höheren Schulen Preußens der RussischUntcrricht eingeführt werden könnte. 1928 regten der linksliberale Historiker Gustav Mayer und Rjazanov 191 an, „Deutsche Berichte über das Gesamtgebiet der russischen Geisteswissenschaften" herauszugeben, um größere Kreise in Deutschland kontinuierlich mit qualifizierten Informationen zu versorgen. Der Plan lag dem Präsidium vor, stieß aber wegen des „verlegerischen Risikos" auf Ablehnung. Eine große Ausstellung ukrainischer Kunst, für die 1929 von der ukrainischen Sektion der VOKS ein detailliertes Programm aufgestellt worden war, wurde mehrfach verschoben und fand schließlich nicht statt. Dem gleichen Schicksal verfiel eine „Schwarzmeerwoche", die unter maßgeblicher Teilnahme von N. Ja. Marr192 bereits bis in die Einzelheiten festgelegt war und ein neues bedeutsames Ereignis zu werden versprochen hatte. Der Tod des Berliner Althistorikers Eduard Meyer, der an der Spitze des vorbereitenden deutschen Komitees gestanden hatte, verhinderte endgültig die Verwirklichung.193 Das Scheitern dieser und einiger anderer Vorhaben war auf verschiedene Gründe zurückzuführen. Neben der stets schweren Überlastung der Berliner Geschäftsstelle, die, bei ständiger Anleitung durch Hoetzsch, nur aus Jonas, Grüning und wenigen technischen Kräften bestand, machte sich nach wie vor das Desinteresse der deutschen Ministerien lähmend bemerkbar. Hoetzsch klagte mehrfach über die Haltung der Behörden, die zwar die Gesellschaft als „verlängerten Arm" benutzten, weitergehende Vorschläge aber vorsätztlich sabotierten. So schrieb er im Dezember 1926, als er gerade den Gedanken einer Moskauer Zweigstelle verfolgte, daß das Kultusministerium und Becker persönlich die Gesellschaft niemals ernstlich gefördert, sondern eher gehemmt hätten. 194 Das Auswärtige Amt interessierte sich z. B. für die Schwarzmeerwoche „demonstrativ wenig", für eine systematische Zusammenarbeit mit der marxistischen Wissenschaft der UdSSR erst recht nicht. Hoetzsch konnte zwar gewöhnlich mit wohlwollendem Verständnis, aber nicht mit einer in die Zukunft weisenden Initiative der obersten Behörden rechnen. Es darf ferner nicht übersehen werden, daß auch er selbst aus antikommunistischen Beweggründen nicht gewillt war, jeden Vorschlag der sowjetischen Seite zu akzeptieren, son190

191

192

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194

ZStAM, Rep. 76, Vc, Sekt. 1, Tit. 11, Teil I, Nr. 26 C, Bericht über die Präsidialsitzung v. 7. Juli 1926. D. B. Rjazanov (1870-1938) - 1920-1931 Direktor des Marx-Engels-Instituts, Mitglied der Kommunistischen Akademie; förderte mit großem Erfolg die Sammlung von Material zur Marx-Engels-Forschung und leitete die Herausgabe zahlreicher Arbeiten von bedeutenden Führern der internationalen Arbeiterbewegung; in seinen eigenen Veröffentlichungen machten sich infolge seiner menschewistischen Vergangenheit schwerwiegende theoretische Fehler bemerkbar. N. Ja. Marr (1864-1934) - bedeutender Philologe, Archäologe und Ethnograph, Akademiemitglied seit 1909, 1919-1934 Leiter des Instituts für Geschichte der materiellen Kultur. Seine „Neue Lehre von der Sprache" (ab 1924) wurde später von der marxistisch-leninistischen Wissenschaft der UdSSR einer kritischen Diskussion unterzogen. Unterlagen im Nachlaß Schmidt-Ott, Bd. 3. Siehe dazu Irmscher, Deutsche und sowjetische Altertumswissenschaft, a. a. 0., S. 92-93, und ders., Der Allhistoriker Eduard Meyer und die sowjetische Wissenschaft. In: Deutschland Sowjetunion. Aus fünf Jahrzehnten, S. 209 bis 216. Nachlaß Schmidt-Ott, Bd. 1, Bl. 192, Hoetzsch an Schmidt-Ott, 3. Dezember 1926.

Hoetzsch und die UdSSR (1918 bis 1930)

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dem auf der Welle der Freundschaft und Sympathie zur UdSSR weitergeführt wurde. Recht deutlich offenbarten sich die verschiedenen Einflüsse, als im Frühsommer 1931 das Volkskommissariat der UdSSR i für Außenhandel über einen Mitarbeiter der Berliner Handelsvertretung und über den sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Dr. Kurt Rosenfeld, wenig später ein Mitgründer der SAP, an Hoetzsch mit dem Angebot herantrat, in Berlin ein großes deutsch-sowjetisches Institut für Rechtsforschung zu begründen.190 Zu diesem Zeitpunkt hatte bereits eine schwere innere Krise der Gesellschaft begonnen. Hoetzsch nahm den Vorschlag nur „vorläufig zur Kenntnis", sah sich aber nach wiederholtem Drängen aus der UdSSR im August 1932 genötigt, bei seinem Aufenthalt in Moskau mit Krestinslcij und Litvinov über den Plan zu sprechen. Obgleich das Volkskommissariat für das neue Institut schon die erstaunliche Anzahl von 10 000 Bänden nach Deutschland transportiert hatte, den weiteren Ausbau der Bibliothek auf 30 000 Werke vorgesehen und außerdem zugesagt hatte, einen jährlichen Betrag von 20 000 RM für die Besoldung zweier Angestellter und für Drucklegung bereitzustellen, so daß deutscherseits nur die Bildung eines Kuratoriums und die Beschaffung von Räumlichkeiten vonnöten gewesen wären106, wurden die Dinge weiter verschleppt, bis es für jedes Zusammenwirken mit der UdSSR zu spät war. Die Chance, für die man eineinhalb Jahr zur Verfügung gehabt hatte, war vertan worden. Trotzdem berechtigen die Quellen zu der Feststellung, daß die Deutsche Gesellschaft zum Studium Osteuropas von etwa 1925 bis 1931 der Mittelpunkt für die Beziehungen zwischen der bürgerlichen deutschen und der sowjetischen Wissenschaft war. Gemessen an der geschichtlichen Tragweite und an der Breitenwirkung waren diejenigen Beziehungen, die sich auf der Basis des proletarischen Internationalismus entfalteten, ungleich bedeutsamer als viele von der Osteuropa-Gesellschaft eingeleitete Schritte. Die linksbürgerlich-pazifistische Gesellschaft der Freunde des neuen Rußland und der 1928 entstandene proletarische Bund der Freunde der Sowjetunion bemühten sich erfolgreich, ein wahrheitsgetreues Bild der UdSSR in Deutschland zu verbreiten und leisteten im Kampf gegen Antisowjetismus und Kriegsgefahr trotz mancher Irrungen, die in der Gesellschaft der Freunde auftraten, eine äußerst bedeutsame Arbeit.197 Die Unterlagen zeigen, daß die großbürgerliche, den Deutschnationalen und der Deutschen Volkspartei nahestehende Osteuropa-Gesellschaft das gemeinschaftliche Wirken mit diesen beiden Organisationen abgelehnt hat. Gelegentlich kam es zu Spannungen, jedoch nicht zu ernsten Konflikten.198 Die sowjetischen Partner waren sich über die komplizierte Situation in Deutschland im klaren. Ein 1928 in der VOKS angefertigter Bericht empfahl, das Schwergewicht der Arbeit auf die Gesellschaft der Freunde des neuen Rußland zu legen, die aber bisher noch recht inaktiv sei und ungenügend geleitet werde. Die Osteuropa-Gesellschaft wird als „äußerst nützlich" bezeichnet. Sie arbeite energisch, habe 195 106

m

198

Ebenda, Bd. 4, Bl. 171-172, Hoetzsch an Schmidt-Oll, 15. Juni 1931. ZStAP, Auswärtiges Amt, Deutsche Botschaft Moskau, Nr. 404, Bl. 271-R., Curtius an den Volkskommissar für Außenhandel, Rozengolc, 2. September 1932. Ein Brief in dieser Angelegenheit auch ZStAM. Rep. 76, a. a. 0., Hoetzsch an Leist (Kultusministerium) 22. Januar 1932. H. Münch, a. a. 0.; C. Reiner, Aus der Arbeit des Bundes der Freunde der Sowjetunion. In: Jahrb. f. Gesch. der UdSSR und der volksdemokratischen Länder Europas, Bd. 4, 1961, S. 77-121. Nachlaß Schmidt-Ott, Bd. 3, Bl. 42, Sering an die Gesellschaft der Freunde des neuen Rußland, Generalsekretär Baron, 25. Oktober 1930, Durchschlag.

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Kapitel IX

immer Geld und konnte mit den Forscherwochen große Erfolge buchen. Das richtige Urteil der VOKS lautete: „Dennoch glauben wir, daß wir uns in unserer Arbeit in Deutschland hauptsächlich auf die Gesellschaft der Freunde des neuen Rußland stützen sollten. Wenn wir uns auch bemühen, die Gesellschaft zum Studium Osteuropas auszunutzen, weil sie sich einer größeren Autorität erfreut und des Bolschewismus nicht verdächtigt werden kann, so verstehen wir dennoch, daß im Falle einer jähen Veränderung der politischen Situation diese Gesellschaft unbedingt den Kurs des Auswärtigen Amtes verfolgen und ihr Verhältnis ändern wird, während die Gesellschaft der Freunde des neuen Rußlands uns ihrem Geist nach viel näher steht. Aber damit die Gesellschaft der Freunde diesen Zweck erfüllt, den wir von ihr erwarten, muß sich ihre Arbeit gründlich ändern." 190 Die objektive spezifische Funktion der Gesellschaft zum Studium Osteuropas im Rahmen der deutsch-sowjetischen Kulturbeziehungen war es, - entgegen ihrer anderslautenden Satzung und entgegen den Absichten mancher ihrer Mitglieder oder Leiter - , der UdSSR die erwünschte Hilfe hochqualifizierter Wissenschaftler zu vermitteln und sowjetischen Persönlichkeiten das Auftreten in Deutschland, damit die Kontaktaufnahme zu weiteren Kreisen, zu erleichtern. Auf diesem Felde hat die Gesellschaft Bedeutendes geleistet. Otto Hoetzsch war der Mittelpunkt des engeren Zirkels. Er griff viele sowjetische Initiativen auf und verbreitete unter den Intellektuellen seiner diversen Wirkungsebenen die Ansicht von der Möglichkeit guter wissenschaftlicher Beziehungen zur UdSSR, darüber hinaus vom Nutzen der friedlichen Koexistenz für das imperialistische Deutschland. Die Urteile, die Hoetzsch über den sozialistischen Aufbau in der UdSSR abgab, lassen sich nicht auf einen Nenner bringen. Handgreiflich spürt man bei der Durchsicht seiner Aufsätze das Schwanken des bürgerlichen Beobachters, der sich den verschiedensten, meist reaktionären Einflüssen seiner Umgebung ausgesetzt sah. Hoetzsch hat mehrere derjenigen Theorien und Thesen vertreten, die von der imperialistischen deutschen Ostforschung und ihrem historiographischen Sektor aufgestellt worden waren. Es wäre leicht, aus seinen Veröffentlichungen Passagen über den „Terrorcharakter" des sowjetischen Staates, über eine fortschreitende „Verelendung" der Volksmassen oder über die Diktatur des Proletariats als bloßer „Diktatur einer Minderheit" zusammenzustellen. Bis in die Zeit des ersten Fünfjahrplans behauptete er, daß die Wirtschaft der UdSSR nicht vorankomme und gegenüber der Vorkriegszeit keinen wesentlich höheren Lebensstandard gewährleisten könne. Noch in einem Artikel zum zehnjährigen Bestehen der Sowjetmacht nannte er die UdSSR „krypto-kapitalistisch" und meinte, daß sie trotz des Gemeineigentums an den Produktionsmitteln und der Planwirtschaft die generelle Wiederherstellung des Kapitalismus „im volkswirtschaftlichen und privatwirtschaftlichen Sinne" nicht habe verhindern können. Zwischen 1925 und 1930 nahm er auch mehrmals Zuflucht zu einer modernisierten Variante der Evolutionstheorie, indem er nicht näher definierte Rückwirkungen der kapitalistischen Weltwirtschaft auf die UdSSR vermutete. 1929 hieß es in diesem Sinne: „Bleibt Frieden und führen die großen weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Zusammenhänge wirklich unter Führung Nordamerikas zu einer Ordnung von gewisser Dauer, so wird das 139

Central'nij gosudarstvennij archiv Oktjabr'skoj revoljucii, Moskau, f. 5283, op, 6, d. 52, Bl. 10-20, Bericht über die Arbeit in Deutschland, 10. 10. 1928, von J. Rajzin, Referent der VOKS für Deutschland (mitgeteilt von G. Rosenfeld, Berlin).

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auch auf Rußland zwingend im Sinne der Evolution zurückwirken." 200 Nach seiner Ansicht war die erfolgreiche Verwirklichung der Industrialisierung nur auf Kosten der Diktatur des Proletariats, die wirtschaftliche Autarkie nur auf Kosten der sozialistischen Produktionsverhältnisse zu erreichen. Hoetzsch nahm wie mancher andere bürgerliche Beobachter während der Industrialisierung und Kollektivierung an, daß die UdSSR für ihr Programm des sozialistischen Aufbaus nicht mit politischen Konzessionen an das Ausland, sondern mehr mit soziologischen Verschiebungen, mit der Bildung von Schichten und Gruppen, die dem Sozialismus fremd gegenüberständen, bezahlen müßte. Tatsächlich verhielt es sich umgekehrt. Die Sicherung des Friedens, an der auch Hoetzsch durch seine Unterstützung der Rapallopolitik mitwirkte, schwächte nicht den Sozialismus, sondern schuf Voraussetzungen für seine weitere Stärkung. Die konsequente Handhabung des Außenmonopols durch den sozialistischen Staat schloß spontane wirtschaftliche „Verflechtungen" mit dem Kapitalismus aus. Die Auseinandersetzungen in der KPdSU unterzog Hoetzsch einer ebenso verfehlten und verzerrten Interpretation. Sie erschienen ihm als „Zerfall" der Partei, und zeitweise erwartete er eine Spaltung. Den Sieg der leninistischen Kräfte über die parteifeindlichen Gruppen führte er auf persönliche Eigenschaften J. W. Stalins und auf das in der Parteiführung angeblich herrschende Gefühl, entweder zu siegen oder gemeinsam unterzugehen, zurück. Von einem wirklichen Verstehen der erbitterten, für die gesamte internationale Arbeiterbewegung entscheidenden Auseinandersetzungen war Hoetzsch meilenweit entfernt. Man gewinnt bei der Lektüre seiner Artikel den Eindruck, daß Hoetzsch im Trotzkismus das Wesen des „echten" Bolschewismus sah. Der Aufbau des Sozialismus in einem einzelnen Lande und die dafür notwendige entschlossene Politik des Zentralkomitees, die über alle gegnerischen Richtungen triumphierte, wurde dann als „Rückkehr zum Kapitalismus" hingestellt - ein bis in die Gegenwart verbreitetes, zur Übernahme ultralinker Behauptungen geeignetes Verfahren des flexiblen Antikommunismus. Das Programm der Industrialisierung und Kollektivierung und besonders den ersten Fünfjahrplan hat Hoetzsch andererseits sehr ernst genommen. Er richtete zwar seinen Blick weiterhin stark auf Schwierigkeiten des sozialistischen Aufbaus und beschwor eifrig das Bild einer von Not gezeichneten UdSSR, ließ jedoch die Frage nach den unmittelbaren Perspektiven der Sowjetunion jetzt oft unbeantwortet; viele seiner Darlegungen enden mit Fragezeichen. Die Vorstellung einer antisozialistischen „Evolution" begann um 1930 aus seinen Artikeln zu verschwinden. In mehreren Aufsätzen, so etwa in der Einleitung zu dem 1932 veröffentlichten Sammelband „Die rote Wirtschaft", ist davon keine Rede mehr. 201 Stattdessen ging Hoetzsch nunmehr dazu über, die sozialistischen Grundlagen des Staates - das Gemeineigentum an den Produktionsmitteln, die Diktatur des Proletariats, das Außenhandelsmonopol - stärker zu betonen. Er warnte vor übereilten Prognosen nach Gelingen oder Scheitern des Fünfjahrplans und wies die bürgerlichen Leser seiner Zeitschrift darauf hin, daß das Proletariat der UdSSR hinter seinem Staat stehe und die noch vielfach spürbaren Mängel in dem Bewußtsein, 200 201

Hoetzsch, Monatsübersicht. In: Osteuropa, 1928/1929, S. 779. Hoetzsch, Gegenwartsprobleme der Sowjetunion, a. a. 0 . ; Einleitung zu: Die rote Wirtschaft. Probleme und Tatsachen, hg. v. G. Dobbert, Berlin/Königsberg 1932, S. 1-11. Die 16 Beiträge kamen zu sehr verschiedenartigen Schlußfolgerungen, wie am besten aus einem Vergleich der Ansichten von Cleinow und Generaldirektor Püppelmann hervorgeht.

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Kapitel IX

das Schicksal des Landes selbst zu bestimmen, ertrage. Bei einer seiner Reisen hatte sich Hoetzsch die bemerkenswerte Frage aufgedrängt, „ob denn das Glück notwendig sei für den, der einen völlig neuen Aufbau von Wirtschaft und Gesellschaft zu einem großen Ziele wolle?" Immer wieder betonte er, daß im Gegensatz zu seinen Besuchen von 1923 und 1926 jetzt überall Glaube, Idee, Programm und zentraler Wille spürbar seien. „Fällt das nicht jedem auf, der mit einem Gefühl für dergleichen aufmerksam die Augen eines Soldaten oder Arbeiters ansieht, der ein Gespäch mit dem Droschkenkutscher oder mit einem weither gekommen Bäuerlein führt, wie das dem der russischen Sprache Kundigen im ,Haus des Bauern' in Moskau lcicht und lehrreich möglich ist?" 203 Solche Beobachtungen führten Hoetzsch zu der Erkenntnis, daß die UdSSR in eine neue Entwicklungsetappe eingetreten sei. Der Übergang von der Neuen ökonomischen Politik zum planmäßigen Aufbau des Sozialismus spiegelte sich bei ihm im Ersatz der Evolulionsthese durch den Gedanken von der UdSSR als „Wanderer zwischen zwei W e l t e n . . . zwischen der kapitalistischen Welt von heute und einem sozialistischen Ideal". Dies war keine Akzentverschiebung, sondern ein bedeutsamer Unterschied. Unter dem Druck der geschichtlichen Tatsachen begann Hoetzsch die sozialistische Zukunft der UdSSR zu ahnen. Man erkennt diese Veränderung auch an den Worten von einer „künftigen gigantischen weltwirtschaftlichen Konkurrenz eines sozialistischen Rußlands" und an der prophetisch klingenden Warnung, die er 1931, zehn Jahre vor dem verbrecherischen faschistischen Uberfall auf die UdSSR, seiner Klasse ins Stammbuch schrieb: „Eine bewaffnete Intervention der kapitalistischen Welt freilich wäre das beste Mittel, den Bolschewismus in seiner heutigen Form zu sichern, weil sie dann mit ihm das Unabhüngigkeitsgefühl und den Patriotismus der Russen unlösbar verbindet. Ein neuer Krieg aber in Europa auch nur annähernd im Stile des Weltkrieges würde allerdings der beste Bundesgenosse des Bolschewismus werden, würde ihm die Schleusen und Wege öffnen zur Herrschaft in Europa, die ihm verschlossen bleiben, wenn Europa und in ihm vor allem Deutschland nicht nur die Kraft hat, materiell, sozial und politisch die Ordnung in seinem Sinne aufrecht zu erhalten, sondern auch mit eigenen schöpferischen Ideen und eigener sittlicher Kraft dem weltanschaulichen Ansturm aus dem Osten zu widerstehen." 203 Hier hat Hoetzsch mit seltener Deutlichkeit ein Kernstück seiner politischen Uberzeugung ausgedrückt: Frieden mit der UdSSR, nun nicht mehr allein aus Gründen wirtschaftlichen oder außenpolitischen Nutzens, sondern weil ein Krieg die Herrschaft der Bourgeoisie in Deutschland und Europa gefährden oder sogar beseitigen würde. Eine solche Ansicht läßt darauf schließen, daß er eine zukünftige starke sozialistische UdSSR vor Augen hatte und selbst ihre militärische Überlegenheit über „Europa" ahnte. Aber es blieb bei ungewissen Mutmaßungen. Hoetzsch fand nicht zu einem eindeutigen Urteil über die sozialistische Perspektive und die Leistungsfähigkeit der UdSSR, sondern kleidete seine Gedanken in den Ruf nach „schöpferischen Ideen und eigener sittlicher Kraft". Ein unvoreingenommener Blick auf das Scheitern seines „Reformkonservatismus" hätte ihn von der Fragwürdigkeit solcher Ideale überzeugen können. Eine Reihe Aufbauerfolge aus der Zeit des ersten Fünfjahrplanes hat Hoetzsch gerecht gewürdigt. Er beschrieb die außerordentliche Bautätigkeit, die Fortschritte im Verkehrs202 203

Hoetzsch, Gegenwartsprobleme der Sowjetunion, a. a. 0., S. 370. Hoetzsch, Das russische Problem - Versuch einer Orientierung. In: Osteuropa, 1930/1931, S. 452-453.

Hoetzsch und die UdSSR (1918 bis 1930)

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wesen, in der Textilindustrie und in der Lebensmittelversorgung. Nach seiner Reise 1931 betonte er, daß der Konsum der Bauern hoch sei, daß für die Arbeiter alles getan werde, daß Armeeangehörige, Angestellte und Kinder gut genährt seien. Trotzdem behauptete er, daß der Lebensstandard unter dem Niveau von 1923 liege. Hoetzsch beobachtete das Ansteigen der graphischen Produktion und vermerkte mit Erstaunen, daß allein der Staatsverlag eine Jahresleistung von 4 Milliarden Druckbogen vorweise. Er verfolgte den Kampf gegen das Analphabetentum und sah, „daß ein starker Bildungstrieb durch das Volk geht". Besonders beeindruckte ihn der überall spürbare „Wille zum Kinde". Er machte sich Gedanken über die „keineswegs verbrauchten physischen und geistigen Kräfte" des russischen Volkes und den „trotz Zerstörung und Not kräftigen Willen zum Leben". Parallelen zwischen der Massenarbeitslosigkeit in Deutschland und dem wirtschaftlichen Aufstieg in der UdSSR drängten sich auf. Bei der Beurteilung der sozialistischen Kulturrevolution überwogen Feindseligkeit und totales Unverständnis. Hoetzsch verunglimpfte die sowjetische Kulturpolitik, die einen „kollektiven, genormten Menschen" anstrebe. Besonders nach dem Besuch von Großbetrieben und angegliederten Wohnsiedlungen erging er sich in törichten Vergleichen mit einem mittelalterlichen Grangium, einer klösterlichen Zwangsdienstgenossenschaft. Er bezeichnete die „Standardisierung des Städte- und Wohnungsbaus als Voraussetzung und Grundlage einer kommenden völlig mechanisierten Gesellschaftskultur", und es lag auch ganz im Sinne der von ihm sonst bekämpften plumpen antikommunistischen Parolen, den sowjetischen Arbeiter als „angebundenen Sklaven" der Produktion hinzustellen. In dieser Hinsicht übertrug Hoetzsch die Realitäten des Kapitalismus auf die neue Gesellschaftsordnung, deren prinzipiell humanistischen Charakter er nicht verstand. Er machte sich nicht die Mühe, die Mißstände in seinem Heimatland, die gerade während der Weltwirtschaftskrise noch nicht gekannte Ausmaße annahmen, mit mehr als nur einigen Klagelauten anzuprangern. Nach den großen Auseinandersetzungen während des ersten Weltkrieges, in denen sich Hoetzsch von den antirussischen maßlosen Expansionsplänen distanzierte, ihre Träger angriff und das eigene Programm einer „Ostorientierung" verfocht, waren die Jahre 1925 bis 1930 der zweite Einschnitt in seiner komplizierten ideologischen Entwicklung. Er setzte sich aktiv für die Politik der friedlichen Koexistenz zwischen der imperialistischen Weimarer Republik und der sozialistischen UdSSR ein und erkannte die Zweckmäßigkeit dieser Politik. Der lange Zeit führende Deutschnationale blieb ein Gegner der revolutionären Arbeiterbewegung, gehörte aber nicht zu den militanten Einpeitschern des Antikommunismus und übertrug diesen nicht auf das Gebiet der zwischenstaatlichen Beziehungen. Antikommunistische Ressentiments hinderten ihn an einer wirklich konsequenten, energischen und vorurteilsfreien Zusammenarbeit mit der UdSSR und verleiteten ihn zu krassen Fehlurteilen über ihre Innen- und Kulturpolitik, während andererseits die nüchterne Einsicht in den friedliebenden Charakter der sowjetischen Außenpolitik, seine Reisen in die UdSSR und die direkte Berührung mit dem Aufbauenthusiasmus und mit der marxistischen Wissenschaft seine antikommunistischen Grundpositionen in gewisser Weise abbauten. Den realistischen Elementen seines politischen Denkens, die ihn bis zur engen Zusammenarbeit mit bedeutenden marxistisch-leninistischen Wissenschaftlern führten, stand eine zähe Bindung an das ideologische Zubehör des flexiblen Antisowjetismus entgegen, besonders an die „Evolutionstheorie" und an die Versuche, das sozialistische Menschenbild zu entstellen. In diesen immer sehr wider-

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Kapitel IX

sprüchlichen Prozessen verlagerte sich schließlich das Schwergewicht auf die praktischen Schritte, die Hoetzsch zwischen 1925 und 1930 für die Ausgestaltung der Rapallopolitik auf den Ebenen des Wissenschafts- und Kulturaustausches unternahm. Sie wiederum gewannen starkes Eigengewicht und hatten mit den. gängigen deutschnationalen Ansichten vom Verhältnis zur UdSSR nichts mehr gemein. Sie beschleunigten nicht nur Hoetzschs Entfremdung von seiner Partei, sondern brachten vor allem dem internationalen Gewicht der UdSSR und dem Aufbau der sozialistischen Gesellschaft direkten Nutzen.

KAPITEL X

Vertiefte Kooperation mit der UdSSR oder Resignation ?

(1930-1933)

Ende der zwanziger Jahre ging die parteipolitische Laufbahn von Otto Hoetzsch zu Ende. Nachdem es Hugenberg, dem Hauptexponenten der alldeutsch-ultrareaktionären Strömung in der DNVP, mit Hilfe seines Pressekonzerns immer mehr gelungen war, den Parteiapparat der mittleren Ebene in die Hand zu bekommen und in der Führung ergebene Anhänger zu sammeln, verschärften sich die Spannungen zwischen den verschiedenen Gruppen der Partei zusehends. Der Hugenbergflügel drängte auf Beseitigung des Parlamentarismus und rückte die Forderung nach einem „starken Parteiführer" in den Vordergrund, während andere Teile der Partei die auch von Hoetzsch vertretene „peaceful constitutional and legal Cooperation in the Republic" für notwendig hielten und sich auf dieser Basis 1925 und 1927/1928 an der Regierung beteiligt hatten. Der für das Gesamtverhalten der Partei grundlegende Konflikt spitzte sich zu, als der Vorsitzende des Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbandes, Walter Lambach, Mitte 1928 in einem Artikel die Berechtigung monarchistischer Hoffnungen in Frage stellte und vermerkte, daß nicht nur für die Jugend Kaiser und Könige zu „Film- und Bühnenangelegenheiten" geworden seien, sondern daß auch nachdenkende Konservative selbst nicht mehr an eine Wiederherstellung der erblichen Monarchie glaubten. 1 An diesen nur selbsverständlichen Feststellungen entzündete sich eine hitzige Parteidiskussion, die mit der Maßregelung Lambachs endete. Das Vordringen der rassistisch-völkischen Elemente um Bang, Everling und Freytagh-Loringhoven, die Sonderbestrebungen angeschlossener Verbände und das diktatorische Machtgebaren Hugenbergs, dem sich besonders die Reichstagsfraktion la:nge widersetzte, verschärften die Konflikte. Die Kompromißtaktik des Parteivorsitzenden Westarp war nicht mehr in der Lage, die Situation zu meistern. Hugenberg benutzte schließlich die schwere Niederlage der Deutschnationalen bei den Reichstagswahlen vom Mai 1928, nach denen ihre Mandatszahl von 111 auf 78 sank, zum endgültigen Griff nach der Parteiführung. Ein geheimer Vertretertag der Partei vom 20./21. Oktober 1928, auf dem seine Anhänger aus den Landesverbänden dominierten, wählte ihn zum Parteivorsitzenden und degradierte Westarp zum Fraktionsleiter.2 Hugenberg begann sofort mit der von ihm mehrfach angekündigten „Säuberung" der Partei. Er liquidierte die Parteileitung, ein spezielles Organ zwischen dem Vorsitzenden und dem Vorstand, und ließ am 9. Dezember den Vorstand neu nominieren. Unter den neun nicht wiedergewählten Mitgliedern befanden sich der Führer der Opposition, der ehrgeizige Reichstagsabgeordnete Treviranus 3 , der Großgrundbesitzer 1

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Vgl. W. Rüge, Deutschnationale Volkspartei, a. a. 0., S. 739, und die Darstellung des „Falles Lambach" bei Dörr, a. a. 0., S. 394-403. Einzelheiten bei Dörr, a. a. 0., S. 442-465. Gottfried Reinhold Treviranus, 1924-1932 MdR, enger Mitarbeiter Westarps, 1930 Mit-

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Kapitel X

und frühere Reichsinnenminister v. Keudell, der Wirtschaftspolitiker und katholische Industriesyndikus Lejeune-Jung, der später ein Opfer des 20. Juli 1944 wurde, ferner der Angestelltenführer Lambach, der Rostocker Universitätsprofessor Brunstäd und Hoetzsch.4 Damit hatte die erste große Parteispaltung der Deutschnationalen faktisch begonnen, die in ihren Einzelheiten mehrmals beschrieben worden ist.0 Die Haltung von Hoetzsch in den Parteiauseinandersetzungen von 1920, 1922 und 1924 hatte bereits angezeigt, daß er mit dem von Hugenberg eingeschlagenen Kurs der Deutschnationalen nicht übereinstimmen konnte. Die entscheidenden Gründe für sein am 9. Dezember 1928 begonnenes Ausscheiden aus der reaktionären DNVP waren seine Vorstellungen von einem deutschen „Tory-Konservatismus", die nie den Absichten der Parteiführung entsprochen hatten, und vor allem sein positives Verhältnis zur UdSSR. Das von Hugenberg betonte Führerprinzip in der Partei und sein Obstruktionskampf gegen die Republik ließen sich mit der von Hoetzsch verfolgten politischen Linie ebenso wenig vereinbaren wie der aggressive Antisowjetismus des Industriemagnaten. Gerade eine der bedeutsamsten Leistungen des deutschnationalen Ostexperten Hoetzsch, die „Russische Historikerwoche" 1928, war von der Kreuzzeitung und den deutschnationalen „Eisernen Blättern", einem Organ des Hugenberg-Konzerns, grob diffamiert worden. Hugenberg erklärte in dieser Situation, Deutschlands Aufgabe bestehe im „Schutz der zivilisierten Menschheit vor dem Bolschewismus", der „nicht nur eine Besonderheit Rußlands, sondern eine seelische Erkrankung der industriellen Menschheit" sei.6 Hoetzsch schloß sich der Oppositionsgruppe an und trat mit ihr in der Reichstagsfraktion dem Antrag Hugenbergs, die Parteipolitik allein und über die Fraktion hinweg bestimmen zu wollen, entgegen. Die Entscheidung fiel bei den Kämpfen um den Young-Plan. Das von der Hugenbergführung der DNVP, dem Stahlhelm, den Alldeutschen um. Claß und der NSDAP beantragte „Volksbegehren" gegen den Young-Plan und besonders der § 4 des von ihnen geplanten „Freiheitsgesetzes", der die Unterzeichnung von Reparationsverträgen als Landesverrat unter Strafe stellen sollte, war der direkte Anlaß zur Parteispaltung. Im September 1929, als Hitler seinen demagogischen „Entwurf eines Gesetzes gegen die Versklavung des deutschen Volkes" veröffentlicht und die Zustimmung Hugenbergs gefunden hatte, stellten sich in der Fraktion vier Abgeordnete - Keudell, Klönne, Lindeiner, Hoetzsch - gegen das Gesetz und damit gegen das Paktieren mit den Nazis.' Vorstandssitzungen, der Parteitag in Kassel und langwierige Auseinandersetzungen in der Fraktion konnten trotz der versöhnlerischen Vermittlungstaktik Westarps den Konflikt nicht beenden. Nachdem sich bei der Abstimmung im Reichstag 11 Abgeordnete der Stimme enthalten und damit zur Ablehnung des „Freiheitsgesetzes" beigetragen

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gründer und Vorsitzender der Volkskonservativen Vereinigung, März 1930 bis Mai 1932 im Kabinett Brüning, seit Oktober 1930 Reichskommissar für die „Osthilfe", später Reichsverkehrsminister. NPrZ, 9. Dezember 1928. Die neue Vorstandsliste war von einem Ausschuß der Landesverbandsvorsitzenden aufgestellt worden. Vgl. Rüge, a. a. O., S. 741-743; A. Mahlke, a. a. 0., Bl. 283-294; K.-D. Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, Villingen 1960, S. 309-322. Vgl. Hugenberg, Brief an amerikanische Wirtsehaflskreise, Berliner Lokalanzeiger, 25. März 1929, zit. nach Rüge, S. 742, Bracher, a. a. O., S. 318.

Kooperation oder Resignation? (1930 bis 1.933)

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hatten, traten am 3. Dezember 1929 nacheinander die Fraktionsmitglieder Hartwig, Lambach, Hülser, Treviranus, Lejeune-Jung, Klönne, Lindeiner, Schlange-Schöningen, Keudell, Hoetzsch, Mumm und Behrens aus der Deutschnationalen Volkspartei aus, Westarp verzichtete auf den Fraktionsvorsitz. 8 Da die Sezessionisten ihre Mandate nicht niederlegten, entstanden neue parlamentarische Splittergruppen. Fünf der Ausgeschiedenen bildeten den „Christlich-Sozialen Volksdienst", während Treviranus, Lindeiner, Lejeune,Keudell, Klönne und Hoetzsch zunächst mit der „Landvolk"fraktion in einer „Christlich-Nationalen Arbeitsgemeinschaft" kooperierten und am 28. Januar 1930 die „Volkskonservative Vereinigung" gründeten. 9 Damit war die erste Spaltung der DNVP beendet. Mitte 1930 folgte bereits eine zweite, noch ernstere Abspaltung, nach der die Partei Hugenbergs dann offen Kurs auf die Harzburger Front nahm. Hoetzsch unternahm bei den Volkskonservativen einen neuen politischen Anlauf. Die erste öffentliche Kundgebung der neuen Gruppe, die am 28. Januar 1930 „sehr passend" (Klemperer) im Gebäude des Herrenhauses in der Leipziger Straße stattfand, ließ durch Treviranus die Sammlung der „nicht-doktrinären Rechtsparteien" und durch andere Redner - Lambach, E. Jung, Gereke, Klönne und Schlange-Schöningen - die „Fortentwicklung der Verfassung im christlich-konservativen Sinne" verkünden. 10 Hoetzsch hielt das Schlußwort und feierte den angeblichen Sieg der „Tory-Demokratie" in Deutschland. In einem gleichzeitig geschriebenen Artikel distanzierte er sich von Hugenberg und den Nazis, forcierte - charakteristisch' für die Schwäche der Volkskonservativen - die Rückbesinnung auf völlig vergessene, unter imperialistischen Bedingungen zweitrangig gewordene politische Philosophen wie Friedrich Julius Stahl, Hermann Wagner, Victor Aimé Huber und einen Pfarrer Todt, um dann seine verzweifelte Hoffnung auf einen neuen Weg der Rechten in die Worte zu fassen: „Volkskonservative Ideologie heißt, nach den positiven geistig-sittlich-religiösen Kräften suchen, und sie zu Formen und Ausdruck und Wirkung bringen, die die Lebensprobleme unserer Zeit, der Gegenwart lösen können, und im kapitalistischen System, das die Grundlage auch der konservativen Wirtschaftsauffassung ist, die reformerischen Forderungen und Kräfte herauszuarbeiten und herauszustellen, ohne die der Kapitalismus keine Zukunft gegen den Sozialismus auf der Welt hat." 11 Hoetzsch sah also in der neuen Splittergruppe eine Möglichkeit, um den Kapitalismus in Deutschland politisch zu reformieren und gegen die revolutionäre Arbeiterbewegung halten zu können. Im Juli 1930 unterzeichnete er mit Lettow-Vorbeck, Lindeiner-Wildau, Treviranus, Lambach, Lejeune-Jung, Hermann Ulimann, Westarp und einigen anderen den Gründungsaufruf für die Volkskonservative Partei, die am 23. Juli entstand und die kurz vorher aus der DNVP ausgeschiedene starke Westarp-Gruppe aufnahm. Hoetzsch setzte sich mit Nachdruck dafür ein, im Programm der Partei die Forderung nach einer Monarchie überhaupt nicht mehr zu nennen - unter dem Zwang der Ereignisse hatte der Vernunftrepublikaner die

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Der Leipziger Ortsverein der DNVP sprach Hoetzsch einstimmig seine Mißbilligung aus, NPrZ vom 12. Dezember 1929. Vgl. W. Methfessel, Volkskonservative Vereinigung, in: Die bürgerlichen Parteien in Deutschland, a. a. O., Bd. 2, S. 799-805; E. Jonas, Die Volkskonservativen 1928-1933. Entwicklung, Standort und staatspolitische Zielsetzung, Düsseldorf 1965. Das Manifest der Versammlung in: Germania, Nr. 45, 28. Januar 1930. Hoetzsch, Deutsche Tory-Demokratie. In: Politische Wochenschrift für Volkstum und Staat, 1930, H. 7, S. 150.

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Reste seines „Gefühlsmonarchismus" aufgegeben oder mochte sich mit dem Gedanken an Hindenhurg als Ersatzmonarchen beschieden haben. Treviranus, der Vorsitzende der Volkskonservativen Vereinigung, besaß zu jener Zeit das Vertrauen der Monopolgruppe um Otto Wolff, Klöckner, Silverberg und Pferdmenges, die Brüning unterstützte, während Hugenbergs DNVP im Einverständnis mit den mächtigen Monopolisten Kirdorf, Thyssen und Flick ein Bündnis mit der NSDAP anstrebte und Brüning abzulösen gedachte. Die Basis der Volkskonservativen blieb stets schwach, die Finanzierung trotz Zuwendungen von der Monopolbourgeoisie unzureichend. Zum Aufbau eines eigenen Parteiapparates kam es nicht. Die Bemühungen Westarps, mit der Christlichnationalen Bauern- und Landvolkpartei um Schiele und Gereke sowie mit dem Christlich-Sozialen Volksdienst um Mumm, Behrens und Hülser vor den Reichstagswahlen eine Einheitsfront der konservativen Splitterparteien zustande zu bringen und sich auf Brüning als gemeinsames Idol zu einigen, hatten keinen Erfolg. Bei den Reichstagswahlen vom 14. September 1930 erlitt die Volkskonservative Partei eine vernichtende Niederlage, nur vier Abgeordnete gelangten per Reichsliste in das Parlament. Hoetzsch, der kandidiert hatte, wurde zu seiner großen Enttäuschung nicht wiedergewählt. Das Ausscheiden aus dem Reichstag, dem er seit 1920 angehört hatte, bedeutete praktisch das Ende seines parteipolitischen Werdeganges. Seine Wahl in den 20 Personen umfassenden „Führerring" der Volkskonservativen im Februar 1931 und seine Tätigkeit in einer „Nationalpolitischen Arbeitsgemeinschaft", die im Juli 1931 gebildet wurde, blieben ohne Bedeutung. 12 Seinen Artikeln, die er für die volkskonservativen „Briefe nach Ostdeutschland" schrieb, war das gleiche Schicksal beschieden.13 Da Hoetzsch, der sich vom Hugenberg-Kurs der Deutschnationalen getrennt hatte, das Ausmaß der faschistischen Gefahr nicht begriff, aber andererseits auf dem Boden des Nationalismus blieb und den um ihre Existenz kämpfenden werktätigen Massen verständnislos gegenüberstand, mußte seine politische Haltung wie die der Volkskonservativen überhaupt nahezu zwangsläufig in Resignation enden. Seine Lösung von den volksfeindlichen Doktrinen des deutschen Imperialismus, die mit seinem Auftreten gegen den Antisowjetismus an einem entscheidenden Punkt begonnen hatte, war inkonsequent und in den Anfängen stecken geblieben. Der Beschluß des volkskonservativen „Führerringes" vom 5. Juni 1932, nach dem Sturz Brünings die politische Tätigkeit in kleine, durch persönliche Freundschaften zusammengehaltene Kreise zu verlegen, war das Eingeständnis der Niederlage; Hoetzsch war bei der Beratung anwesend und ergriff auch das Wort. Sein parteipolitisches Fiasko, das sich über mehrere Jahre hinzog, hinderte ihn nicht an einer weiterhin lebhaften wissenschaftsorganisatorischen Tätigkeit. Eine letzte wissenschaftliche Stätte zur Pflege „preußischer Traditionen" und des Bismarck-Kults hatte Hoetzsch in der Historischen Reichskommission gefunden, die 1928 reorganisiert worden war und seitdem unter Leitung Friedrich Meineckes arbeitete. 12

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Angaben bei Jonas, S. 141-142. Hauptzweck der Arbeitsgemeinschaft war die Herausgabe eines Informationsblattes „Briefe nach Ostdeutschland", das „für die Politik der Regierung in den dem Radikalismus zuneigenden Kreisen des Ostens ein besseres Verständnis hervorrufen" sollte. Nahezu alle Beiträge in den „Briefen", die von 1931 bis April 1933 erschienen, waren ungezeichnet. Aus einem in der letzten Nummer abgedruckten Aufsatz geht hervor, daß Hoetzsch diesen und andere verfaßt haben muß.

Kooperation oder Resignation? (1930 bis 1933)

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Sie stellte ein 1 o die res G r e m i u m zur Verteilung historischer Forschungsaufträge d a r w u n d hatte die Aufgabe, Quellen zur neueren deutschen Geschichte zu veröffentlichen. Mitglieder waren die Historiker Brandenburg, Delbrück, Finke, Goetz, Hansen, Härtung, Hintze, Hoetzsch, Mareks, Gustav Mayer, Mcinecke, K. A. von Müller, Oncken, Schreiber u n d Schulte, die Nationalökonomen Herkner u n d H e r m a n n Schumacher, der Jurist Triepel u n d die leitenden Archivare Mertz von Quirnheim, P a u l Kehr u n d Riedner, später ihre Amtsnachfolger Brackmann u n d von Haeften. Hoetzsch w a r auf ausdrückliches Verlangen der D N V P in die Kommission aufgenommen worden u n d fungierte längere Zeit als ihr Schriftführer. Er stand d e m pseudodemokratisch-flexiblen Meinecke distanziert gegenüber u n d hatte in der Anfangsphase der Kommission, im März 1928, eigene detaillierte Vorschläge zu deren Tätigkeit eingereicht. I h m schwebte eine auf J a h r z e h n t e berechnete umfassende Forschungsarbeit zu allen wesentlichen Fragen der neueren deutschen Geschichte unter Einschluß der Kriegsjahre u n d der Weimarer Republik vor. Die Kommission sollte als „freie Akademie der deutschen Geschichtsforschung" Themen anregen, ihre Bearbeitung fördern u n d Akten veröffentlichen. Hoetzsch h a t t e die Wirksamkeit der Verfassungen von 1866, 1.871 u n d 1919, die Tätigkeit der Rcichsministerien u n d ihr Verhältnis zu den Ländern, handels- u n d sozialpolitische Probleme, den Abschluß der von Miquel angeregten u n d durch M a n f r e d Laubert betriebenen „Ostmarkenforschungen", ferner die Beziehungen zwischen Staat u n d Kirche und selbst die Geschichte der Parteien, „im besonderen auch der Arbeiterbewegung in ihrer Berührung mit dem Staate", ins Auge gefaßt. Die gesamte deutsche Außenpolitik sollte hinzutreten. Hoetzsch betonte, daß das außenpolitische Arbeitsfeld durch die verfügbaren ausländischen Aklenmassen völlig neu zu bestellen sei. Noch vor seinen konkreten Vereinbarungen mit M. N. Pokovskij bot er sich an, die Vermittlung zu sowjetischen Archiven zu übernehmen. E r wollte erreichen, „das Bild der preußischdeutschen auswärtigen Politik zunächst f ü r die Zeit von 1856 bis 1871, sodann f ü r die Zeit von 1871 bis 1890 neu zu schaffen, unabhängig (!) von den überkommenen Vorstellungen u n d auf Grund eben sowohl des ins Riesige wachsenden Materials wie der sich aus d e m Ausgang des Weltkrieges ergebenden Distanz des Urteils." 1 5 Es w a r ein außerordentlich großes Programm, mit dessen A n n a h m e u n d Verwirklichung sich die „Historische Reichskommission" zweifellos wissenschaftsorganisatorische Verdienste erworben hätte. Aber obgleich Hoetzsch eine scharfe T r e n n u n g u n d exakte Absprachen mit den vielen anderen geschichtswissenschaftlichen Publikationsinstituten Deutschlands forderte, täuschte er sich über die Chancen seines Planes gründlich. W e d e r die unterschiedlichen wissenschaftlich-politischen S t a n d p u n k t e der Kommissionsmitglieder, die v o m aggressiven Alldeutschtum Schumachers bis zur linksbürgerlich-demokratischen Konzeption des Engels-Biographen M a y e r reichten, noch die einsetzende Finanzkrise des Reiches ließen ein derartiges umfangreiches Vorhaben als möglich erscheinen. Hoetzsch m u ß t e sich auf die Herausgabe diplomatischer Akten zur auswärtigen Politik Preußens von 1858 bis 1871 beschränken, die er zusammen mit Oncken u n d Branden14

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Vgl. H. Schleier, a. a. O., Bl. 168-172, viele Details bei H. Heiber, Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands, Stuttgart 1966, bes. S. 131-158. ZStAP, Reichsministerium des Inneren, Nr. 26808/2, Bl. 284-291, Bemerkungen zu den Vorschlägen der Herren Meinecke, Brandenburg und Delbrück für den Arbeitsplan der Historischen Reichskommission, von Otto Hoctzsch. Hoclzsch

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bürg vornahm. Der erste dieser von jüngeren Historikern zusammengestellten Bände erschien 1932; Hoetzsch war an mehreren Bänden beteiligt.16 Seinen Bemühungen war es zu danken, daß zahlreiche Dokumente aus dem Moskauer Centrarchiv veröffentlicht werden konnten. Die Serie war im Grunde das einzige von der Historischen Reichskommission mit Erfolg eingeleitete Unternehmen. Alle anderen größeren Publikationspläne kamen über die Stadien der Materialsammlung und der ersten wissenschaftlichen Bearbeitung nicht hinaus. Hoetzsch blieb wahrscheinlich bis zum Ende der Reichskommission 1934/1935 in ihr tätig. Bemerkenswert war sein Widerstand gegen die 1931 vorgesehene Aufnahme des reaktionären österreichischen Historikers Heinrich von Srbik, die dadurch nicht zustande kam. 17 Im gleichen Jahr 1931 gab er in Verbindung mit Stählin, Salomon und Goetz, die wie er selbst Experten für die russische Geschichte waren, den ersten Jahrgang der wieder begründeten „Zeitschrift für osteuropäische Geschichte" heraas, die seit 1914 nicht mehr erschienen war. Im ersten Heft der Neuen Folge vermerkte Hoetzsch, daß es bereits unmittelbar nach dem Krieg und erst recht in den folgenden Jahren der Weimarer Republik zweifellos möglich gewesen wäre, die Zeitschrift als „ein Organ zur Geschichte des deutschen Ostens" fortzuführen. Das genügte ihm jedoch nicht. Hoetzsch wollte die gesamte Geschichte Osteuropas in der Zeitschrift behandelt wissen. Es war seine ausdrücklich betonte Absicht, erst nach einer größeren Verständigung mit der sowjetischen Geschichtswissenschaft die Vierteljahrsschrift wieder herauszugeben. Dieser Zeitpunkt schien ihm nach der Historikerwoche 1928 und nach mehreren eigenen Reisen in die UdSSR gekommen. Obgleich Hoetzsch mit verschiedenen Teilen seiner Ideologie und seiner politischen Tätigkeit dem deutschen Revanchismus diente und auch die riesigen Geldbeträge kannte, die für die beabsichtigte Revision der 1919 festgelegten Ostgrenzen jederzeit zur Verfügung standen, trennte er in dieser Frage Politik und Wissenschaft. Er lehnte es ab, die Zeitschrift in ein Organ zur weiteren Ausarbeitung des antislawischen, in erster Linie gegen die Existenz des polnischen Staates und gegen die historischen Leistungen des polnischen Volkes gerichteten revanchistischen Geschichtsbildes zu machen.18 Die ersten Jahrgänge der neuen Zeitschrift (1931 bis 1933) hinterließen einen zwiespältigen Eindruck. Sie wurden den gesteckten Zielen nicht gerecht. Im Gegensatz zu der Monatsschrift „Osteuropa" aus der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre kam es hier zu keiner nennenswerten Mitarbeit sowjetischer Historiker.19 Die Geschichte der UdSSR seit der Oktoberrevolution wurde nahezu vollständig vernachlässigt, Neuerscheinungen der sowjetischen marxistischen Geschichtswissenschaft nur selten rezensiert. Andererseits waren auch offen antisowjetische Beiträge kaum vertreten. 20 Die Zeitschrift widmete sich 16

17 18

19

20

Die auswärtige Politik Preußens 1858-1871. Diplomatische Aktenstücke, hg. v. d. Historischen Reichskommission u. Leitg. v. E. Brandenburg, 0 . Hoetzsch, H. Oncken, Bd. 3, Oldenburg 1932, Bd. 1 (1933), Bd. 4 (1933), Bd. 7 (1934). ZStAP, a. a. 0., Bl. 70-80 v., Protokoll der ordentlichen Sitzung vom 10. März 1931. Vgl. G. Voigt, Aufgaben und Funktion der Osteuropa-Studien in der Weimarer Republik, a. a. 0 . Als Ausnahme A. Savic, Die Agrarwirtschaft der Klostergüter des russischen Nordens im 14. bis 17. Jahrhundert. In: Zeitschr. f. osteurop. Gesch., N. F., Bd. 1, 1931, S. 483-502, und Bd. 2, 1932, S. 16-36. R. Salomon, Zur Lage der Geschichtswissenschaft in Rußland, ebenda, Bd. 2, 1932, S. 385-402.

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besonders der russischen und polnischen Geschichte vom 16. bis 19. Jahrhundert und berücksichtigte dabei verfassungs-, kultur- und kirchengeschichtliche Fragen, weniger sozialökonomische Aspekte. Wissenschaftlichen Wert besaß die Wiedergabe einer Reihe interessanter Quellen, die im vollständigen Text oder, wie von Stählin in einer gelungenen Form demonstriert, in Exkursen geboten wurden. 21 Von Bedeutung waren ferner einzelne rechtsgeschichtliche Arbeiten und weitere Artikel.22 Der Berliner Slawist Aleksander Brückner steuerte aus seiner umfassenden Kenntnis der polnischen Geschichte kulturhistorische Aufsätze bei.23 Nützlich waren schließlich mehrere Ubersichten über den Forschungsstand auf bestimmten Gebieten, besonders ein von Hans Jonas sachlich geschriebener Beitrag über die Geschichtsforschung in der UdSSR.24 Mit dem Blick auf die unumgängliche Auseinandersetzung zwischen marxistischer und bürgerlicher Geschichtsideologie hatte Hoetzsch, der als Autor wenig in Erscheinung trat, in der Einführung geschrieben: „Im Ringen der beiden Auffassungen miteinander kann und soll unsere Wissenschaft von der geschichtlichen Entwicklung Osteuropas gefördert werden . . .'l2ä Tatsächlich war die Neue Folge der „Zeitschrift für osteuropäische Geschichte" kein Forum der Auseinandersetzung, sondern, mit den genannten Einschränkungen, durchgängig ein Organ der bürgerlich-konservativen Historiographie; nicht zufällig stand an der Spitze des ersten Heftes ein Beitrag von S. F. Platonov, einem in der UdSSR lebenden Autor, der unter Historikern der kapitalistischen Länder als Haupt der noch verbliebenen bürgerlichen russischen Geschichtsschreibung galt. Hoetzsch öffnete die Zeitschrift sogar einem Vertreter der ukrainischen bürgerlich-nationalistischen Emigration. 26 In diametralem Gegensatz zu solchem Verhalten vertiefte er jedoch 1930 und 1931, nach dem Ausscheiden aus der DNVP und dem Reichstag, zum Zeitpunkt politischer Resignation, seine Zusammenarbeit mit der sowjetischen Geschichtswissenschaft und war bereit, sie in die Phase einer planmäßigen Kooperation zu führen. Zwischen 1929 und 1934, als in der UdSSR der erste Fünfjahrplan erfolgreich verwirklicht und der zweite Plan begonnen wurde, als eine Weltwirtschaftskrise die kapitalistischen Staaten erschütterte und in Deutschland der Hiterfaschismus seine blutige Diktatur errichtete, reiste Hoetzsch sechs Mal in die UdSSR. Vor 1933 ließen ihn die sowjetischen Partner mehrfach ihr Interesse an einer vertieften Zusammenarbeit erkennen und übermittelten ihm konstruktive Vorschläge. 21

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23

24 25 26

S. Jakobson, „Baron Alexander von Herzen" und die preußische Polizei, ebenda, Bd. 1, 1931, S. 378-386; L. Loewenson, „1681-1683. Geschriebene Zeitungen aus Rußland", ebenda, Bd. 2, 1932, in vier Fortsetzungen; Iv. Stählin, Aus den Berichten der III. Abteilung S. M. höchsteigener Kanzlei an Kaiser Nikolaus I., ebenda, Bd. 2, 1932, und Bd. 3, 1933, in vier Teilen. So I. A. Stratonov, Die Reform der Lokalverwaltung unter Ivan IV, ebenda, Bd. 3, 1933, S. 1-19; V. Frank/E. Schüle, Graf P. A. Suvalov. Russischer Botschafter in Berlin, ebenda, S. 525-559. A. Brückner, Die Kultur des alten Polen, ebenda, S. 161-193; ders., Aus dem religiösen Leben der Cechen und Polen, ebenda, S. 491-508. Siehe S. 189, Anm. 89. Ebenda, Bd. 1, 1931, S. 6. D. Dorosenko, von 1926 bis 1931 Leiter des „Ukrainischen Wissenschaftlichen Instituts in Berlin", danach in Prag ansässig; vgl. G. Voigt, Das Ukrainische Wissenschaftliche Institut in Berlin (1926-1945). In: Zur Ukraine-Politik des deutschen Imperialismus, Manuskriptdruck, Jena 1969, S. 118-156.

lfl*

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Das Jahr 1930 brachte den Abschluß des Vertrages über die Herausgabe der sowjetischen Aktenpublikation zur Vorgeschichte des Weltkrieges, an deren deutscher Ausgabe Hoetzsch aus politischen Gründen interessiert war. Die Grundlage des Aktenwerkes bildete eine Verfügung, die das Präsidium des Zentralexekutivkomitees der UdSSR am 22. Juni 1929 erlassen hatte. Sie sah vor, Dokumente zur Geschichte der russischen Außenpolitik von 1904 bis 1917 zu veröffentlichen und die Aktenstücke zur unmittelbaren Vorgeschichte des Weltkrieges sowie über das internationale Geschehen in den Kriegsjahren als vorrangig zu betrachten. Für die Herausgabe wurde eine Historikergruppe gebildet, die direkt dem ZEK unterstand. Die Leitung oblag M. N. Pokrovskij; Mitglieder der Kommission in ihrer ersten Zusammensetzung waren E. A. Adamov, V. V. Adoratskij, V. V. Maksakov, E. B. Pasukanis, F. A. Piotstejn und A. B. Chalatov.27 Als Mitglieder der Kommission oder als Herausgeber einzelner Bände arbeiteten später ferner A. I. Avtokratova, V. V. Al'tman, E. S. Al'tsuler, J a . A. Berzin, G. I. Vaks, B. G. Veber, B. J a . Galina, E. M. Glazer, E. D. Grimm, S. R. Dimant, A. S. Erusalimskij, N. M. Lukin, S. A. Levina, F. 0 . Notovic, A. L. Popov, 0 . I. Stanislavskaja, L. A. Teleseva. Ein besonders großes Arbeitspensum bei der Vorbereitung der umfangreichen Aktenpublikation leisteten Adamov, Popov, Rotstejn und Erusalimskij. Im Februar 1932 faßte das Zentralexekutivkomitee der UdSSR einen weiteren Beschluß über die Dokumentenveröffentlichung, in dem die bisherige Arbeit der Kommission bestätigt und die Fortführung beschlossen wurde.28 Die sowjetischen Historiker beabsichtigten anfangs, diplomatische Akten über die gesamte Zeit vom Berliner Kongreß 1878 bis 1917, unterteilt in drei Serien, herauszugeben. Die Fülle des vorhandenen Materials zwang jedoch zur Konzentration auf die Vorgeschichte des Weltkriegs und auf das diplomatische Geschehen in den Kriegsjahren. Pokrovskij verfolgte das Ziel, die Eroberungsabsichten aller imperialistischen Mächte zu enthüllen und den Imperialismus als System, nicht als Politik einzelner Interessengruppen, anzuklagen. In seinem Vorwort zum ersten Band, das Hoetzsch laut Vertrag über die Aktenpublikation vollständig abdrucken ließ, hieß es: „Für den Kampf gegen den Imperialismus muß man sicher und ganz genau wissen, wie er handelt, welcher Art sein Vorgehen und seine Methoden sind. Und wenn die Eroberungstätigkeit der Imperialisten unwiderleglich durch eine Reihe unumstößlicher Dokumente festgestellt sein wird, werden wir natürlich eine Anklageakte erhalten, - aber eine Anklageakte nicht gegen eine einzelne Person oder gar gegen ein einzelnes Land, sondern gegen eine Klasse, und zwar diejenige, welche die Macht in allen großen Ländern 1914 in Händen hatte und bis jetzt in den meisten von ihnen in Händen hat." 29 Pokrovskij be27

Mitgeteilt in: ApxHBHoe ReJIO, 1929, H. 2, S. 113. Vgl. V. A. Dunaevskij, CoBeTCKaH HCTOp a o r p a $ H H HOBOÜ HCTopHH CTpaH 3 a n a Ä a , 1917-1941, Moskau 1974, S. 222-225. Eine erste Kommission zur H e r a u s g a b e von Weltkriegsdokumenten in der Z u s a m m e n s e t z u n g Pokrovskij, V. P. Volgin, N. M. L u k i n und R o t s t e j n war bereits im Mai 1927 an der K o m munistischen A k a d e m i e eingesetzt worden, vgl. M3BeCTHH v o m 21. Mai 1927. Vgl. ferner E . Stoecker, L e b e n und Wirken A. S. Erusalimskijs. Ein Beitrag zur Geschichte der Beziehungen zwischen den Historikern der Deutschen Demokratischen Republik und der Sowjetunion, Phil. Diss., Berlin 1974, S. 45-49.

28

npaBfla, 28. Februar 1932.

29

Vorwort von M. N. Pokrovskij z u : Die Internationalen Beziehungen im Zeitalter des Imperialismus. Dokumente aus den Archiven der Zarischen und der Provisorischen Regierung, hg. v. d. Kommission beim Z E K der Sowjetregierung unter d. Vors. v. M. N.

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tonte, daß es darüber hinaus gelte, die an der Entfesselung des Krieges konkret Schuldigen mit den Methoden des Historikers zu suchen und namhaft zu machen. Der klare leninistische Standpunkt setzte die sowjetischen Historiker in die Lage, mit ihrem Werk „MeJKßyHapoflHBie oraomeHHH B anoxy HMnepHaJiH3Ma. ^oKyMeHTH H3 apxHBOB ijapcKoro H BpeMeHHOro npaBHTejibCTB 1878-1917 r r . " eine beispielhafte wissenschaftliche objektive Aktenpublikation vorzulegen. Die Editionstechnik stand auf hohem Niveau, alle bedeutsamen Dokumente wurden nach klaren Richtlinien ausgewählt und in chronologischer Folge abgedruckt. Allein die fünf Bände der ersten Reihe, die das Material von Januar bis Juli 1914 umfaßte, enthielten über 2 200 Stücke. Die Verhandlungen mit der Berliner Gesellschaft zum Studium Osteuropas über die deutsche Ausgabe der sowjetischen Aktenpublikation waren während der Historikerwoche 1928 begonnen worden und zogen sich bis zum Sommer 1930 hin. Es waren komplizierte Urheber- und vertragsrechtliche Fragen zu klären. 30 Hoetzsch und Jonas reisten 1929 und 1930 nach Moskau, wo sie am 30. Juni 1930 mit dem Staatsverlag den Vertrag unterzeichneten. 31 Er sali vor, zunächst eine Reihe von zwölf Bänden über die Zeit vom :l. Januar 1911 bis zum November 1915 zu veröffentlichen; die Publikation weiterer Bände war in Aussicht genommen. Der Osteuropa-Gesellschaft wurden alle Rechte für die deutsche und andere nichtrussische Ausgaben übertragen; in einem speziellen Vertrag trat sie ihrerseits die Rechte an den Verlag Reimar Hobbing ab. Die Herstellung der Bände erfolgte in enger Zusammenarbeit zwischen der sowjetischen und deutschen Seite. Hoetzsch, der als Herausgeber der deutschen Ausgabe zeichnete, erhielt zu festgesetzten Terminen von der sowjetischen Kommission das Manuskript des Bandes. Er hatte für eine druckreife Übersetzung zu sorgen, die ergänzenden Anmerkungen für den deutschen Leser zu schreiben und die Satzkorrekturen zu lesen. Dokumente in englischer oder französischer Sprache sollten gleichfalls in deutscher Übersetzung erscheinen. Der Druck beider Ausgaben erfolgte in Deutschland; für die russische Ausgabe stellte der Staatsverlag die Matern, clie deutsche Seite das Papier sowie die Druckkapazität der Hartungschen Druckerei in Königsberg zur Verfügung. Da die UdSSR der internationalen Berner Übereinkunft zum Schutze von Werken der Literatur und Kunst (1886) nicht angehörte, wurde vereinbart, daß die russischsprachige Ausgabe der einzelnen Bände nicht vor der deutschen erscheinen solle. Der sowjetische Vertragspartner verpflichtete sich ferner, von allen vorgesehenen ZweitveröiTentlichungcn einzelner Dokumente der deutschen Seite Mitteilung zu machen. Bei der Herausgabe der Serie ließen sich Hoetzsch und seine Mitarbeiter von der Absicht leiten, Material für den nationalistischen Kampf gegen das Versailler System zu erhalten. Die Aktenpublikation war seitens des Auswärtigen Amtes und mit voller Billigung von Hoetzsch als Stoß gegen den Artikel 231 des Versailler Vertrages gedacht und sollte die Hauptverantwortung des deutschen Imperialismus am Ausbruch des Krieges bagatellisieren. Hoetzsch schwebte vor. die sowjetischen Dokumente zusammen mit den Aktenserien der anderen europäischen Staaten zur Grundlage einer internationalen,

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31

Pokrovski, einzig berechtigte deutsche Ausgabe namens der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas hg. v. Otto Hoetzsch, Reihe 1, Bd. 1, Berlin 1931, S. XIII. Nachlaß Schmidt-Ott, Bd. 3, Bl. 130-140, Rechtsgutachten von Marwitz, Münk, Schoenberg und Moehring, 19. September 1929. Ebenda, Bd. 6, Bl. 74-79, Text des Vertragsentwurfs. Das Original des Vertrages ist in den Bänden nicht enthalten.

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unter Leitung eines amerikanischen Historikers angefertigten Expertise zu machen, die dann ihrerseits bei einer günstigen Situation die französische und deutsche Regierung veranlassen sollte, durch eine zweiseitige Deklaration den Artikel 231 des Versailler Vertrages für nichtig zu erklären.32 Durch einen solchen „moralischen Pakt" sollte eine der Grundlagen des Vertrages zerstört werden. Der Inhalt der Bände entsprach den Erwartungen allerdings nicht. Der herausgebende Verlag beklagte sich im Dezember 1931 bei Hoetzsch: „Schon bei unseren allerersten Besprechungen wurde von Ihrer Seite betont, daß die Veröffentlichung des Russenwerkes aus dem Grunde eine überragende Bedeutung für Deutschland besitze, weil es für Widerlegung der ,Kriegsschuldlüge' neues und schlagkräftigtes Material beibrächte. Aus diesem Grunde sei unser Auswärtiges Amt lebhaft daran interessiert und werde sein Interesse materiell ausgiebig bekunden. Dieser Gesichtspunkt wurde dann auch in der Propaganda für das Werk stark betont, aber leider bereitete der Band I den mit Bekämpfung der Kriegsschuldlüge befaßten Kreisen eine berechtigte Enttäuschung, denn er enthält auch nach unserer Ansicht kein einziges (!), wirklich neues und schlagkräftiges Dokument, welches auch die voreingenommenen Feinde und Neutralen von ihrem Irrtum überzeugen müßte." 33 Hoetzsch zog sich in seiner Antwort auf eine Kritik der wesentlich durch Alfred von Wegerer gesteuerten „Kriegsschulddiskussion" zurück und verteidigte den Inhalt des ersten Bandes, der nach seiner Ansicht doch wenigstens keine Stücke über direkte Angriilsprojekte Deutschlands enthalte.34 Die Briefschreiber „übersahen", daß die von einer sowjetischen Historikergruppe zusammengestellten Dokumente in erster Linie eine Abrechnung mit der Politik des Zarismus und der Provisorischen Regierung darstellten und schon von der Provenienz der Quellen her ein Urteil über die Vorkriegspolitik des wilhelminischen Deutschlands nicht zuließen. Trotz verschiedener Schwierigkeiten, die bei einem so langwierigen, von zwei Staaten getragenen Unternehmen unvermeidlich sind, ging die Zusammenarbeit zwischen Hoetzsch und der Moskauer Historikerkommission erfolgreich vonstatten. Bis 1943 konnten auf dem deutschen Buchmarkt sechzehn Bände erscheinen, die ein reichhaltiges Quellenmaterial über die Politik der zaristischen Regierung enthielten. 35 Hoetzsch bestätigte die exakte Arbeit der sowjetischen Wissenschaftler, als er 1931 nach dem Erscheinen des ersten Bandes in einer Rede sagte: „Die Dokumente werden ohne Einschränkung veröffentlicht. Vorgelegt wird eine vollständig unbeeinflußte wissenschaftliche Ausgabe der Akten eines im Kriege der Entente angehörenden Staates. Selbstver32 33

34 33

Hoetzsch, Revision und Kriegsschuld. In: Der Weg zur Freiheit, 1931. H. 7, S. 105. Nachlaß Schmidt-Ott, Bd. 6, Bl. 11-13, Verlag R. Hobbing an die Deutsche Gesellschaft zum Studium Osteuropas, 1. Dezember 1931. Ebenda, Bl. 1-10, Hoetzsch an Verlag Hobbing, 10. Dezember 1931. Die deutsche Ausgabe erschien in drei Reihen. Die Dokumente des Jahres 1914 bis zum Kriegsausbruch wurden zur Reihe I zusammengefaßt und erschienen in fünf Bänden von 1931 bis 1934. Die folgenden sechs Halbbände, die das Material vom Kriegsbeginn bis zum Herbst 1915 enthielten, bildeten die Reihe II und erschienen bis 1936. In den Jahren 1939 bis 1943 wurden weitere fünf Halbbände veröffentlicht. Sie faßten die Dokumente von Frühjahr 1911 bis Ende 1913 zusammen und stellten die Reihe III dar, die allerdings nicht abgeschlossen werden konnte. Der Historiker besitzt also mit dieser Aktenpublikation in deutscher Ubersetzung zahlreiche Dokumente über die Tätigkeit der zaristischen Diplomatie von der Verschärfung der Konflikte in Südosteuropa 1911 bis zum Eintritt Bulgariens in den Weltkrieg 1915.

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ständlich wurde und wird auch von den russischen Herausgebern nicht irgendwie vor der Veröffentlichung bei den früheren Verbündeten Rußlands angefragt, und an ihr ist keine Person tätig, die in einem Amte oder irgendwie sonst an der Vorkriegs- und Kriegspolitik Rußlands beteiligt gewesen wäre." 36 Hoetzsch betonte ausdrücklich, daß er „nicht ein einziges Mal Veranlassung gehabt habe, in den russischen Anmerkungen irgend etwas zu beanstanden." 1931 veröffentlichte er im ersten Band der „Zeitschrift für osteuropäische Geschichte" die ausführliche Einleitung, die Pokrovskij der russischsprachigen Ausgabe der Bände vorangestellt hatte. 37 Trotz der politischen Hintergedanken, die Hoetzsch und das Auswärtige Amt mit der Aktenserie verbanden, war sie ein weiterer Beweis für die Möglichkeiten, die sich der deutsch-sowjetischen Zusammenarbeit selbst bei Untersuchungen zur neueren Geschichte boten. Hoetzsch demonstrierte in der Praxis, wie töricht und böswillig die Annahme war, „daß es eine sowjet-russische Wissenschaft weder gibt noch überhaupt geben kann". Die Reisen, die Hoetzsch im Zusammenhang mit der Aktenpublikation unternahm, nutzte er stets aus, um das Leben in der Sowjetunion zu studieren. Er sah sich antireligiöse Filme an, die er nicht ungünstig beurteilte, erlebte in einer Moskauer Vorstadtkirche den Ostergottesdienst und besichtigte Kunstschätze, so etwa die von Morozov und Sculcin gesammelten Werke des französischen Impressionismus. Sein besonderes Interesse fanden das Marx-Engels-Institut, das er ein Museum der deutschen Geschichte nannte, ferner das Haus der Bauern in Moskau und das Museum der Roten Armee. Hoetzsch weilte im Lenin-Mausoleum und besuchte eine Reihe von Fabriken. 1931 hatte er Gelegenheit, die Großbetriebe Krasnyj Putilovec in Leningrad, Avtostroj bei NiznijNovgorod sowie eine Moskauer Gummifabrik kennenzulernen; von dem Frankfurter Stadtbaurat May ließ er sich dessen Pläne für Wohnsiedlungen im Avtostroj und in Magnitogorsk erläutern. Am 1. Mai stand Hoetzsch auf der Tribüne des Roten Platzes, wenige Meter von den führenden Persönlichkeiten der UdSSR entfernt. Die Militärparade und die Demonstration der Moskauer Werktätigen haben ihn sehr beeindruckt. In seinem Reisebericht schrieb er, daß sowohl die Soldaten und Offiziere als auch die Fabrikarbeiter, Jugendorganisationen und Kinder in Haltung und Kleidung vorzüglich gewirkt hätten und sehr diszipliniert aufgetreten seien. Gewissen Schreibern hielt er die Frage vor, welcher ausländische Lehrmeister denn nun eigentlich der sowjetischen Bevölkerung diese Disziplin anerzogen haben sollte?38 Im Jahre 1932 besichtigte er erstmals einen Kolchos und ein Staatsgut. Er fuhr auch zum Dneprostroj und beschrieb das gigantische Baugelände. „Großes und Positives ist hier geleistet, in einer Weiträumigkeit, die ihresgleichen nur in Nordamerika findet.. ." In der Osteuropa-Gesellschaft, die Hoetzsch noch immer mit Eifer leitete, vertieften sich Mitte 1931 die in ihr latent stets vorhandenen Gegensätze zur offenen Krise. Vor dem Hintergrund einer allgemeinen Zuspitzung des Klassenkampfes in Deutschland und angesichts der ungeheuren Anziehungskraft, die unter den drückenden Bedingungen der Weltwirtschaftskrise von der UdSSR auf die deutsche Arbeiterklasse und auch immer mehr auf die bürgerliche Intelligenz ausging, drängten die antisowjetischen Kräfte in der Gesellschaft nach vorn. Bereits im Dezember 1928 hatte der bekannte Berliner Sla•lc Hoetzsch, Revision und Kriegsschuld, S. 101. Zeitschrift für osteuropäische Geschichte, Bd. 1, 1931, S. 355-376. 38 Hoetzsch, Eindrücke und Probleme von einer abermaligen Rußlandreise (August 1932). In: Osteuropa, 1932/1933, S. 1-10. 37

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vist Max Vasmer, der eine Reihe bedeutsamer Arbeiten zur russischen Kulturgeschichte und zu sprachwissenschaftlichen Fragen verfaßt hat, mit einem intrigranten Brief gegen das verdienstvolle Wirken von Hans Jonas Stellung genommen (Anhang, Dokument 11). Er bezichtigte ihn der Unwissenschaftlichkeit, der „Sowjetpropaganda" und des Dilettantismus. Vasmer, der dem Präsidium der Gesellschaft angehörte, aber nie mit einer eigenen Initiative hervorgetreten war, griff auch Schmidt-Ott an. Der Präsident zähle zu den Leuten, die „ohne die geringste Kenntnis der russischen Sprache und des vorbolschewistischen Rußlands über ihre ganz oberflächlichen Eindrücke vom Flugzeug oder Eisenbahnwagen aus in der Gesellschaft begeisterte Vorträge über die Sowjet-Union hielten". Vasmer schrieb, es sei „höchste Zeit, daß die unverantwortliche Tätigkeit der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas irgendwie eingedämmt wird. Wenn das nicht geschieht, dann ist sowohl die deutsche Politik im Osten (!) wie die OsteuropaForschung gefährdet." 39 Vasmers damalige Position wird noch klarer, wenn man weiß, daß er sich im gleichen Jahr im Auftrag der in Leipzig befindlichen revanchistischen „Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung" und mit Hilfe des Auswärtigen Amtes bemühte, in der UdSSR und den baltischen Republiken ein Netz von „Vertrauensleuten" zu knüpfen, die er zur Mitarbeit an einem „volkswissenschaftlichen" Handwörterbuch heranzog. Seinem an der Leningrader Ermitage tätigen Verwandten, ferner einem Moskauer Bischof, Prof. Wulffius am „Herder-Institut" in Riga sowie Mittelsmännern in Tartu, Moskau, Saratov und anderen Orten ließ er nach Art eines Geheimdienstes durch die Kurierpost des Auswärtigen Amtes, also unter Mißbrauch der diplomatischen Verbindungsmöglichkeiten, Briefpakete und andere Unterlagen zugehen.40 Er motivierte sein Treiben mit den Worten, daß es „eine mit den reaktionären und politisch meist einflußlosen russischen Emigranten nicht zu identifizierende nichtkommunistische öffentliche Meinung in Rußland" gäbe. Den Emigranten „half" der Gelehrte freilich auch. Er fand Wege, um kostbare Bibliotheken emigrierter oder ausgewiesener Personen, darunter diejenige des nationalistischen ukrainischen Historikers D. Dorosenko, illegal aus der UdSSR zu verschleppen oder zu einem Spottpreis aufzukaufen. 41 Derartige Praktiken eines führenden und angesehenen deutschen Wissenschaftlers waren mit den von Hoetzsch aufgebauten korrekten Beziehungen völlig unvereinbar. Das traf ebenso auf die antisowjetischen Wühlereien von Otto Auhagen, Landwirtschaftsattache an der deutschen Botschaft in Moskau und Präsidialmitglied der Osteuropa-Gesellschaft, zu. Auhagen hatte in die Kollektivierung im Wolgagebiet eingegriffen und nutzte die angespannte Situation, die 1929 in der UdSSR herrschte, aus, um mit Wissen der Botschaft eine größere Anzahl Bauern zum Verlassen der Sowjetunion zu bewegen. Im Novemberheft von „Osteuropa" veröffentlichte er einen Aufsatz, der beträchtliches Aufsehen erregte; Anfang 1930 mußte er von dem diplomatischen Posten abberufen werden. Der Artikel hatte den Unwillen von Iloctzsch erregt, der den Druck jedoch 39

40

41

ZStAM, Rep. 76, Vc, Sekt. 1, Tit. 11, Teil I, Nr. 26 C, Vasmer an Ministerialdirektor Richter, 11. Dezember 1928. ZStAP, Auswärtiges Amt, Deutsche Bolschaft Moskau, Nr. 401, Bl. 49-R., Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung (Prof. Friedrich Metz) 23. Februar 1928 an Graf Podewils im AA; nachfolgende Stücke bestätigen das Einverständnis des Amtes. ZStAP, Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Nr. 1455. Das Seminar für slavische Philologie, bes. Bl. 1-R., 4-R., 18-19R., 20-23, 34-R., 74, 85, 89.

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nicht verhinderte.142 1930 reihte sich der 1. Vizepräsident der Osteuropa-Gesellschaft, Max Sering, in die antisowjetische Front ein. Wie Vasmer und Auhagen war auch er in den deutsch-sowjetischen Wissenschaftsbcziehungen noch nie mit einer verdienstvollen Initiative oder Tat hervorgetreten. Stattdessen verbreitete er im Herbst 1.930 Gerüchte über die Verhaftung der sowjetischen Professoren Prjanisnikov und Jarilov, die überhaupt nicht erfolgt war. Sering überredete andere deutsche Wissenschaftler zu einer internationalen „Protestaktion", die mit einem Fiasko endete. Schmidt-Ott war daraufhin gezwungen, sich bei der sowjetischen Botschaft zu entschuldigen.43 Hoetzsch begriff, daß die Aktionen von Auhagen und Sering ihre „Schatten" auf die Gesellschaft geworfen hatten. 44 Zur gleichen Zeit entschloß sich der langjährige Generalsekretär der Gesellschaft, Jonas, seinen Posten niederzulegen und die Leitung der Königsberger Ostmesse zu übernehmen. Sein Schritt scheint aus persönlichen Gründen erfolgt zu sein; das Auswärtige Amt tat nichts, um ihn der Gesellschaft zu erhalten. Schmidt-Ott und Hoetzsch betrachteten sein Ausscheiden als „einen kaum zu ersetzenden Verlust für unsere Bestrebungen". Der Nachfolger Otto Schiller, bisher Mitarbeiter am Königsberger Wirlschaftsinstitut, wurde von vornherein nur provisorisch angestellt, da das Auswärtige Amt beabsichtigte, mit ihm den vakanten Posten des Moskauer Landwirtschaftsattaches zu besetzen. Die Quellen enthalten keinen Beleg, daß Schiller bis zu seinem Abgang an die Botschaft (Mai 1931) etwas Nennenswertes für die Gesellschaft geleistet habe. Die antisowjetischen Querschüsse aus den eigenen Reihen, der Zusammenbruch seiner letzten parteipolitischen Hoffnung und das Ende seiner parlamentarischen Tätigkeit, ferner die mit der Aktenpublikation verbundene Überlastung und das lähmende Desinteresse der Reichsbehörden, mit denen er jetzt bereits einen zermürbenden Kleinkrieg um den Generalsekretär der Gesellschaft austragen mußte - alle diese Momente führten bei Otto Hoetzsch zu einer schweren Erschütterung. Im Dezember 1930 bot er dem Präsidium der Gesellschaft seinen Rücktritt an, blieb aber auf Bitten von Schmidt-Ott im Amt/,D Im Februar 1931 folgte-ein neuer Alarmruf. Hoetzsch schrieb dem Präsidenten, daß er am Ende seiner Kraft sei und „einfach die Verantwortung physisch und geistig nicht aushalten und darum auch zu tragen nicht in der Lage" sei.46 Die Krise vertiefte sich, als bald darauf der chauvinistisch-faschistische „Bund zum Schutze der abendländischen Kultur", der bei Papen und dem Kaliindustriellen Rechberg politischen Rückhalt besaß, einen schweren öffentlichen Angriff gegen die Gesellschaft führte (Anhang, Dokument 14). Die Leiter dieser Hetzorganisation, Werner von Alvensleben, einst politischer Stabschef der in der Ukraine eingesetzten deutschen Militärverwaltung, einer der Hauptaktionäre der NPrZ, und der ehemalige Ministerialdirektor v. Kameke, nahmen einen in der Osteuropa-Gesellschaft am 25. Februar 1931 gehaltenen Vortrag des berühmten sowjetischen Regisseurs V. I. Pudovkin zum Anlaß, um mittels eines „Offenen Briefes" in der „Täglichen Rundschau" und später durch Artikel im „Ring" Schmidt-Ott und Hoetzsch zu bezichtigen, „offene Revolution, Aufruf 42 43

44 45 40

ZStAP, Nachlaß Dirksen, Bd. 5, Bl. 197-198, Hoetzsch an Dirksen, 17. November 1929. Nachlaß Schmidt-Ott, Bd. 3, Bl. 30-32, Briefwechsel, und Bl. 6, Botschaft der UdSSR (Brodovskij) 19. Dezember 1930 an Schmidt-Ott. Ebenda, Bd. 4, Bl. 210, Hoetzsch an Schmidt-Ott, 5. Januar 1931. Ebenda, Bd. 3, Bl. 8 - 9 , Protokoll der Präsidialsitzung v o m 17. Dezember 1930. Ebenda, Bd. Bl. 193-195, Hoetzsch an Schmidt-Ott, Vi. Februar 1931.

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an die Massen, Verhöhnung des Heiligen, kurz, bolschewistische Propaganda" begünstigt zu haben. Heinrich von Gleichen, führender Rechtsextremist und Gründer des Potsdamer „Juni-Klubs", schlug in die gleiche Kerbe.47 Die Wegbereiter des Faschismus gingen gegen die Gesellschaft mit wüsten Beschimpfungen wie der folgenden vor: „Aber wir protestieren dagegen, daß durch eine Veranstaltung, wie sie die Deutsche Gesellschaft zum Studium Osteuropas veranstaltet hat und deren Bedeutung durch die Anwesenheit des deutschen Außenministers noch unterstrichen wird, dieser kultur- und religionsfeindlichen Propaganda in unserem Vaterlande die Wege geebnet und die Gefahren dieser Propaganda verdunkelt werden. Wir protestieren dagegen, daß der Wunsch des sowjetrussischen Botschafters, ,die deutsch-russischen Kulturbeziehungen weiter zu befestigen', ohne Widerspruch hingenommen wird." 48 Das Präsidium versuchte, durch höfliche Antwortbriefe und „Richtigstellungen" den Charakter der Gesellschaft zu erläutern, ohne natürlich mit diesen traditionellen Methoden abgefeimte Verleumder aus dem Feld schlagen zu können. Hoetzsch wurde 1931 innerhalb seiner Gesellschaft noch an einem zweiten Punkt sehr konkret mit der faschistischen Gefahr konfrontiert. Das „Russische wissenschaftliche Institut", das er von 1922 bis etwa 1925 protegiert hatte und dessen „Senat" er noch immer angehörte, war zu einer Zentrale der antikommunistischen und antisowjetischen Propaganda geworden. Von dem früheren heuchlerischen Versprechen, sich jeglicher politischen Arbeit zu enthalten, war längst keine Rede mehr; Hoetzsch erhielt jetzt die Quittung für seinen verblendeten Versuch, die guten Beziehungen zur sowjetischen Wissenschaft mit der „menschlichen" Unterstützung aktiver Emigranten im gleichen Hause vereinbaren zu wollen. Bei der Durchsicht der Akten erhält man den Eindruck, daß es sich bei diesem Institut in seiner Verfassung von 1931/32 um einen direkten Vorläufer der Antikomintern gehandelt hat.49 Ein im Reichsinnenministerium angefertigter Schriftsatz enthüllt den Charakter und die Tätigkeit dieser „Forscher". Es heißt in ihm: „Auf Anregung einer höheren deutschen Reichsbehörde übernimmt das Russische Wissenschaftliche Institut die Aufgabe, authentisches Material aus russischen kommunistischen Quellen über die Bolschewisierung Deutschlands herauszusuchen und zusammenzustellen. Es gilt, die Richtlinien der kommunistischen Zentrale in dieser Angelegenheit sowie die Parteibeschlüsse, die Resolutionen der III. Internationale, Ausführungen einzelner Führer und ganz besonders die Methoden der Bolschewisierung nach authentischen Quellen festzustellen und zu beleuchten." 50 Andere Aufgaben des Instituts bestanden in der „Analyse des Kulturbolschewismus", in Untersuchungen über die Lage der Arbeiter, über die rechtliche Stellung der Ausländer in der UdSSR, über die Zukunft des sowjetischen Landmaschinenbaus und seine Rückwirkung auf den deutschen Maschinenexport und ähnlichem mehr. Die Herstellung eines russisch-deutschen

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Der Ring, 7. März 1931, sowie Ausgabe vom 18. April, und Tägliche Rundschau vom 2. März 1931. Nachlaß Schmidt-Ott, Bd. 5, Bl. 51-54, Alvensleben und Kameke 2. März 1931 an SchmidtOtt. ZStAM, Rep. 76, Vc, Sekt. 2, Tit. 23, Lit. 1, Nr. 134; ZStAP, Reichsinnenministerium, Nr. 26764, und verstreute Angaben im Nachlaß Schmidt-Ott, Bände 4 und 5. ZStAP, Reichsinnenministerium, Nr. 26764, Bl. 243, Übersicht über die laufenden Aufgaben des Russischen wissenschaftlichen Instituts, ohne Datum und Unterschrift, offenbar Frühjahr 1931.

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Wörterbuches, die unter Vasmers Leitung erfolgte, und die Beschäftigung mit dem Flachs- und Hanfanbau in der Sowjetunion waren demgegenüber Beiwerk. Das erste Produkt dieser „Arbeit", ein voluminöses Machwerk mit dem Titel „Welt vor dem Abgrund", erschien 1931 im faschistischen Eckart-Verlag. Als Herausgeber zeichnete Ivan Il'in, der Leiter des Instituts. Das Buch, das man nur mit Widerwillen in die Hand nimmt, „belegte" die Standardthesen vom unaufhörlichen Rückgang der sowjetischen Volkswirtschaft, vom Terror als Stütze der Rätemacht, von der kommunistischen „Beamtenherrschaft". Es wurde nicht nur während der Weltwirtschaftskrise im Kampf gegen die deutsche Arbeiterklasse verwendet, sondern diente auch der späteren Nazipropaganda als Vorlage und Nachschlagemittel. Angesichts der schweren Finanzlage im deutschen Staatsapparat erschien die Existenz des Instituts im ersten Halbjahr 1931 ernstlich bedroht. In dieser Situation war es Max Sering, der sich unaufhörlich für sein Weiterbestehen verwendete. Er intervenierte bei Reichsinnenminister Wirth und überschwemmte anschließend die Reichskanzlei sowie sämtliche Reichsministerien und das Preußische Kultusministerium mit seinen Denkschriften. 51 Er hatte Erfolg. Wirth war bereit, mit den interessierten „Behörden und sonstigen Stellen" zu verhandeln, der Reichsfinanzminister und das Auswärtige Amt stellten vorübergehend neue Gelder zur Verfügung, und schließlich kam es am 30. Mai und Mitte Juni zu Ressortbesprechungen. Schmidt-Ott, der auf der zweiten dieser Beratungen den Vorsitz führte, war einverstanden, „daß aus politischen, sozialen und wissenschaftlichen Gesichtspunkten heraus versucht werden soll, das Institut noch etwa 1 bis IV4 Jahr in seiner Tätigkeit zu erhalten, um inzwischen die Möglichkeit cles Abbaues und der Versorgung der Mitglieder auszunutzen." 52 Durch Mittel des Auswärtigen Amtes, des Reichsernährungsministeriums, der Notgemeinschaft, des Reichsinnen- und des Preußischen Kultusministeriums wurde die weitere Existenz des von „einer höheren deutschen Reichsbehörde" gesteuerten Emigranteninstituts gewährleistet. Die „Möglichkeit des Abbaues" blieb auf dem Papier stehen, da 1932 nichts gegen seine neuerlichen antikommunistischen Aktionen geschah; der „Abbau" wäre ohnedies nur eine Neufirmierung gewesen. Während Millionen Arbeitsloser um ihre Existenz kämpften, war für ideologische Verführung, ähnlich wie für Brackmanns Programme, immer Geld vorhanden. Otto Hoetzsch nahm in diesen wichtigen internen Auseinandersetzungen einen Standpunkt ein, der schon Jahre früher notwendig gewesen wäre. Im März 1931 drang er in einem Schreiben an Schmidt-Ott darauf, das „Russische Wissenschaftliche Institut" mit sofortiger Wirkung zu liquidieren, ihm die Gelder zu sperren und die Bibliothek zu entziehen, da sie deutsches Reichseigentum war. Er wandte sich gegen Sering und machte dem Präsidenten plausibel, daß die Mitglieder des Instituts von ihren Kenntnissen und ihrer politischen Haltung her nicht befugt seien, über die UdSSR zu schreiben und erst recht nicht, wie Sering behauptet hatte, „im Sinn der deutsch-russischen Beziehungen in der Zukunft wirklich wertvolle Kräfte" seien.53 Hoetzsch hat sich an den Stützungsmaßnahmen nicht beteiligt. Anfang Juli wiederholte er seine Forderung, die Hilfe für die Emigranten einzustellen.

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Ebenda, Bl. 137-139, Sering an Wirth, 15. April 1931. Ebenda, Bl. 257-258, Aktenvermerk über die Sitzung. Nachlaß Schmidt-Ott, Bd. 4, Bl. 183-185, Hoetzsch an Schmidt-Ott, 12. März 1931.

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Der Streit um die Zukunft des Instituts, der im Grunde ein Kampf für oder gegen den Antisowjetismus war, führte endgültig zum Bruch zwischen Hoetzsch und den anderen Leitern der Osteuropa-Gesellschaft. Zum 4. Juli 1931 erklärte er seinen Rücktritt vom Posten des geschäftsführenden Vizepräsidenten.54 Er beabsichtigte, nur noch die wissenschaftliche Leitung der Aktenherausgabe und mit dem Generalsekretär die Redaktion von „Osteuropa" in der Hand zu behalten. Die mehr als zehnjährige Zusammenarbeit mit Schmidt-Ott hatte ein jähes Ende gefunden. Zweifellos lagen die Gründe tiefer als in Zahlungsmodalitäten oder in Kompetenzschwierigkeiten, wie sie in den letzten Briefen der beiden Persönlichkeiten anklangen. Hoetzsch, der mehrfach die UdSSR bereist hatte, von der Friedenspolitik der Sowjetunion tief überzeugt war und auf der anderen Seite lange Zeit genauen Einblick in die Bestrebungen des Auswärtigen Amtes besessen hatte - Hoetzsch wird gefühlt haben, daß die Reichsregierung bereit war, die letzten Reste des Rapallo-Erbes über Bord zu werfen. Er erwartete, daß die von ihm begründete und de facto geleitete OsteuropaGesellschaft, ein „verlängerter Arm" des Amtes, spätestens im Herbst 1931 ihre gesamte Tätigkeit einstellen und sich auflösen müsse. Die Perspektivlosigkeit seiner Volkskonservativen Partei kam hinzu. Hoetzsch verfiel der Resignation. Er verließ die Arena, statt gerade in diesem Moment den Kampf aufzunehmen, die Zusammenarbeit mit der UdSSR zu vertiefen und Verbindung zu denjenigen Kräften des deutschen Bürgertums zu suchen, denen das Verhältnis zur UdSSR mehr war als nur eine Sache kühler Berechnung. Sein Rücktritt beschleunigte indirekt die Veränderungen im Charakter der Gesellschaft, die eng mit dem Auftreten des neuen Generalsekretärs verbunden waren. Der damals 24-jährige Klaus Melinert, geboren in Moskau, hatte längere Zeit als Austauschstudent in den USA verbracht und 1930 bei Hoetzsch und Härtung mit einer Arbeit über den russisch-japanischen Krieg promoviert. Seit 1929 hielt er sich jedes Jahr für mehrere Wochen in der UdSSR auf. Mehnert beobachtete auf seinen Reisen systematisch bestimmte Bereiche des gesellschaftlichen Lebens in der Sowjetunion. 1931. waren es, wie er Schmidt-Ott aus Moskau mitteilte, das Gewerkschaftswesen, die Genossenschaften, die Organisation des Binnenhandels, der Komsomol und die Verhältnisse an den Hochschulen. Im Herbst 1932 verlebte er wiederum seinen Urlaub in der UdSSR, und zwar nach eigenen Worten „vor allem zum Studium der militärischen Massenausbildung außerhalb der roten Armee". Mehnert war keineswegs der in der deutschen Ostforschung verbreitete Typ des nationalistischen Slawenfeindes. Er besaß einen Blick für verborgene Zusammenhänge und einen packenden Stil. Spekulationen über Gelingen oder Scheitern des Fünfjahrplans, über Möglichkeiten zu einer Restauration des Kapitalismus oder heuchlerische Trauer über den Sturz der Ausbeuterklassen lagen ihm fern. Mehnert war über das in Deutschland sprunghaft ansteigende Interesse am „russischen Problem" und die an den Hochschulen entstandenen neuen Studiengruppen bestens informiert. Er wußte, daß sich angesichts der Massenarbeitslosigkeit und der Verelendung großer Bevölkerungsschichten das bisherige antisowjetische Schema von der Not, dem Terror und dem Hunger zu verschleißen begann. Daher vertauschte er den Säbel gegen das Florett. Er war bereit, bestimmte Aufbauleistungen in der UdSSR zuzugeben, um das Wesen der „bolschewistischen Gefahr" desto wirkungsvoller in den psychischen Bereich verlegen zu können. Mit seinem 1932 veröffentlichten Bestseller 5

'* Ebenda, Bd. 4, Bl. 157-158v., Hoetzsch an Schmidt-Ott, 4. Juli 1931.

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„Die Jugend in Sowjetrußland" zielte er darauf ab, dem deutschen Leser die „Bedrohung des Individuums" vor Augen zu führen. Mehnert begnügte sich nicht damit, die antikommunistische Leerform mit einem neuen Inhalt zu füllen. Seine in der UdSSR gesammelten Erfahrungen bog er geschickt in Ansatzpunkte für die lügnerische Totalitarismus-Doktrin um. Diese Absicht geht besonders deutlich aus einer brieflichen Polemik mit dem in Moskau tätigen Korrespondenten Arthur W. Just hervor, der noch nicht begriffen hatte, daß er im Klasseninteresse der Bourgeoisie neue Argumentationsformen anwenden müßte. Mehnert dagegen begann, in der UdSSR „die Attribute der kommenden Entwicklung in Deutschland" zu suchen: „Einsatzbereitschaft des Einzelnen fürs Ganze, Disziplin, Einheitlichkeit, Gruppengefühl, Opferwilligkeit, Kompromißfeindschaft". 55 Damit sprach er bestimmte schwankende Teile der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Jugend an, deren Denken er vernebelte. Mehnert war zu dieser Zeit Anhänger von Strassers „Schwarzer Front" und Mitarbeiter von Zehrers „Tat"-Kreis. 56 Der neue Generalsekretär der Osteuropa-Gesellschaft war bestrebt, sie aus einem Organ des Kulturaustausches in ein politisches Kampfinstrument zu verwandeln. Er unternahm ausgedehnte Vortragsreisen, die ihn 1931 u. a. zum Rostocker Herrenklub, an die Universität München und die TH Sluttgart, 1932 nach Breslau, Gießen, Marburg, Rostock und Oxford führten. Adenauers Stellvertreter Bonner lud ihn nach Köln ein, denn die „in der Presse langsam stärker werdende Aufklärung über den Arbeitermangel Sowjet-Rußlands erregte bei der Jugend stärkstes Interesse". 57 Mehnert kam beflissen den Anforderungen nach. Unumwunden erklärte er das Ziel seiner Propagandareisen: „Ich bin von den verschiedensten Menschen während meiner Reise ununterbrochen auf das eifrigste über sowjetrussische Verhältnisse ausgefragt worden und will meinerseits alles versuchen, damit unsere Gesellschaft, wenn möglich noch stärker als bisher diesem Interesse Rechnung trägt, um zu verhindern, daß Unberufene zu seiner Befriedigung herangezogen werden." 08 Zugleich stellte er, was Hoetzsch stets fern gelegen hatte, eine engere Verbindung zu den in Prag ansässigen antisowjetischen und ukrainisch-nationalistischen Emigranten her. Er besuchte mehrere auf der Burg und im Clementinum untergebrachte Institutionen und zeigte sich sehr befriedigt über die Förderung, die das Außenministerium der CSR der weißgardistischen Emigration entgegenbrachte. Mehnerts dynamisches Auftreten führte zu Konflikten mit Schmidt-Ott, der ihn mehrfach rügte und zur Vorsicht mahnte. :j9 Der Präsident der Osteuropa-Gesellschaft brachte zu dieser Zeit den deutsch-sowjetischen Wissenschaftsbeziehungen kein sonderliches Interesse mehr entgegen. Bereits im Februar 1931 hatte er Reichsaußenminister Curtius die Gründe genannt, die zu seinem Sinneswandel führten. In dem bemerkenswerten Schreiben hieß es: „Die gesamte Tätigkeit der Deutschen Gesellschaft zum Studium

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Nachlaß Schmidt-Ott, Bd. 4, Bl. 10-15, Briefwechsel zwischen Mehnert, Just und SchmidtOtt, Juni und Juli 1932, Abschriften. Die Mitarbeit an der „Tat" zog sich bis 1936 hin. Durch Aufsätze wie etwa „Komintern und Sowjetunion", 1935/1936, H. 7, gab sich Mehnert als Hitler-Anhänger zu erkennen. Nachlaß Schmidt-Ott, Bd. 4, Bl. 61, Bonner an Sclimidt-Ott, 8. Januar 1932. Ebenda, Bl. 84-85, Aktennotiz über meine Reise nach Süddeutschland 23.-29. November 1931. Vgl. die entschuldigenden Briefe Mehnerts vom November 1931 und Februar 1932, ebenda, Bd. 4, Bl. 94 und 45.

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Osteuropas habe ich während meiner mehr als zehnjährigen Leitung als eine Förderung unserer Beziehungen zu Rußland im Dienste des Auswärtigen Amtes ansehen zu dürfen geglaubt. Ich habe es dabei als ein besonderes Ziel erachtet, das Gewicht der deutschen Wissenschaft im Sinne der Zusammenarbeit mit den russischen Gelehrten zur freundlichen Gestaltung unserer Beziehungen zu dem östlichen Nachbar einzusetzen. Die Bedeutung dieses von den maßgebenden Persönlichkeiten auf russischer Seite (Kalinin, Litwinow) ausdrücklich anerkannten Bestrebens ist durch das Ausscheiden mir nahestehender russischer Staatsmänner (Gorbunow, Semaschko) wie durch verschiedene Auffassungen innerhalb der deutschen Gelehrtenwelt ernstlich gefährdet, wodurch die von Seiten der Sowjetunion unterstützte .Gesellschaft der Freunde des neuen Rußland' beträchtlich an Boden gewonnen hat." 60 Damit bestätigte Schmidt-Ott, daß viele deutsche Wissenschaftler, offensichtlich auch aus den Reihen der Gesellschaft, die von ihr gezogenen Grenzen überschreiten und ein engeres Verhältnis zur UdSSR herstellen wollten. Er war nicht in der Lage, einer solchen Entwicklung zu folgen, sträubte sich andererseits aber auch gegen die neue Taktik Mehrierts. Sein Hinweis auf die personellen Veränderungen in der sowjetischen Staatsführung war unbegründet, denn die UdSSR unterbreitete 1931/1932, wie die Beispiele der großen ukrainischen Kunstausstellung und des deutsch-sowjetischen Forschungsinstituts für Rechtsfragen zeigten, neue weitgehende Vorschläge. Semaskos Nachfolger, Volkskommissar M. F. Vladimirskij, brachte den wissenschaftlichen Beziehungen zu Deutschland das gleiche Interesse entgegen wie sein Vorgänger in der Leitung des Volkskommissariats. Das Ausscheiden von Jonas und Hoetzsch sowie die Angriffe auf die Führung der Gesellschaft bewogen Schmidt-Ott, zum 15. Januar 1932 vom Präsidium zurückzutreten. Die Osteuropa-Gesellschaft war damit endgültig steuerlos geworden. In den folgenden Wochen kam es zu komplizierten Verhandlungen um die personelle Reorganisation der Gesellschaft. Sie wurden von Jonas geleitet. Er setzte sich auch mit Hoetzsch in Verbindung und erhielt von ihm die Zusage, wieder in die Leitung eintreten zu wollen. Hoetzsch verzichtete auf den Präsidentenstuhl, da er als Herausgeber der Aktenpublikation, der Zeitschrift und der „Osteuropäischen Forschungen" ohnehin die Hauptlast trage. Er forderte jedoch die Berufung zum ersten Vizipräsidenten, um damit den reaktionären Sering, der sich auch 1932 unentwegt für die Hetzinstitutionen der Emigranten verwandte, von der Leitung auszuschließen. Er schlug vor, Schumacher zum zweiten und Jonas zum dritten Vizepräsidenten wählen zu lassen. Mit der Kandidatur des ehemaligen, im Oktober 1931 zurückgetretenen Reichsaußenministers Curtius für den Posten des Präsidenten war er einverstanden, auch Krüss wurde genannt. 61 Wenige Tage später ergriff die Botschaft der UdSSR die Initiative, um die Krise in der Osteuropa-Gesellschaft einer günstigen Lösung zuzuführen. Sie hatte die Vorgänge mit Sorge verfolgt und war nun bemüht, die noch immer wertvolle Stütze des deutsch-sowjetischen Wissenschaftsaustausches zu erhalten. Auf Wunsch ihres leitenden Mitarbeiters Girsfel'd kam am 11. Februar 1932 ein Gespräch mit Mehnert zustande. 62 Der sowjetische Beauftragte erkundigte sich nach den Aussichten für das Reehtsfor60 61 62

Ebenda, Bl. 191-192, Schmidt-Ott an Curtius, 25. Februar 1931, Durchschlag. Ebenda, Bd. 5, Bl. 23-R., Jonas an Schmidt-Ott, 6. Februar 1932. Ebenda, Bd. 4, Bl. 46-48, Mehnert an Schmidt-Ott, 11. Februar 1932.

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schungsinstitut, konnte aber, da die Angelegenheit deutscherseits verschleppt wurde, keine befriedigende Antwort erhalten. Sodann unterbreitete er Mehnert den Vorschlag, in Moskau und Berlin je eine Woche der Naturwissenschaft zu veranstalten. Die UdSSR sei bereit, die bedeutendsten Mediziner, Physiologen und Biologen unter Leitung des Volkskommissars für Gesundheitswesen zu entsenden. Mehnert wich auf die schlechte Finanzlage aus und sagte, daß die Gesellschaft eine kulturhistorische Woche vorziehen würde. Außerdem „pflegte man in Deutschland die Befürchtung zu hegen, daß bei einer solchen Gelegenheit von der Sowjetunion nicht die bedeutendsten Persönlichkeiten ins Ausland entsandt werden, sondern diejenigen, welche mit den Ansichten des Systems am vollkommensten übereinstimmen". Girsfel'd besaß den Takt, diese äußerst unangebrachte Entgleisung höflich zu korrigieren. Schließlich teilte er mit, daß sich die Botschaft naturgemäß für die personellen Dinge in der Gesellschaft interessiere. Er fragte an, ob nicht Hoetzsch zum Präsidenten gewählt werden könne. Als Mehnert bemerkte, daß man an eine beruflich nicht mit osteuropäischen Fragen befaßte Persönlichkeit denke, brachte Girsfel'd das Gespräch auf die Kandidatur von Curtius. Abschließend betonte der Vertreter der Botschaft, man würde Curtius „als Präsidenten, falls Prof. Hoetzsch nicht gewählt würde, ganz besonders begrüßen." Dieses Gespräch zeigte außerordentlich klar, daß die sowjetische Seite Hoetzsch sehr schätzte und entschlossen war, der Gesellschaft einen Rettungsanker zuzuwerfen. Darüber hinaus macht es deutlich, daß in der Art der Verhandlungsführung zwischen den Generalsekretären Jonas und Mehnert große Unterschiede bestanden. Nach diesen Klärungen erfolgte am 9. März 1932 die Neuwahl der Leitung. Curtius wurde zum Präsidenten, Hoetzsch zum ersten Vizepräsidenten und Sering entgegen den Erwartungen zum zweiten Vizepräsidenten gewählt. Der Gesellschaft gehörten zu diesem Zeitpunkt 315 Mitglieder an. Ihre Bibliothek bestand aus etwa 8 000 Bänden. Sie bezog 92 Zeitschriften, darunter 35 aus der UdSSR. Die Auflage von „Osteuropa" war auf 1 300 gestiegen. Otto Hoetzsch glaubte nicht mehr an die Möglichkeit einer erfolgreichen Arbeit. An Dirksen schrieb er: „Ich halte ihn (Curtius - V.) für durchaus geeignet, aber ob ich in der Lage bin, meine Arbeit an der Gesellschaft in der früheren Weise wieder aufzunehmen, steht nicht fest, oder genauer gesagt, ist mir mehr als zweifelhaft. Mit den Einzelheiten behellige ich Sie nicht. Im ganzen sehe ich keine Möglichkeit für eine ersprießliche und vorwärtsführende Arbeit meinerseits, habe immer weniger Zeit für solche Dinge und habe in den Auseinandersetzungen des letzten Jahres auch Lust und Freude an der Gesellschaft durchaus verloren." 63 Sein Wiedereintritt in die Leitung geschah demnach nicht aus politischer Einsicht, sondern fast wider Willen, aus der Gewöhnung an eine langjährige vertraute Arbeit. Er sah sich einer veränderten Situation gegenüber. Manche seiner Mitarbeiter wie der Kultusminister Becker und der Verleger und Jurist Siegismund waren nicht mehr am Leben. Jonas, der Mitglied des Präsidiums geblieben war, stand kaum noch zur Verfügung. Mehnert sah seine Aufgabe darin, die Freundschaft zur UdSSR aufzufangen und zu kanalisieren. In Moskau arbeitete Just gegen die Gesellschaft.64 Sie war in sich zerrissen und konnte, da die profaschistischen und nazistischen Elemente immer mehr in sie einsickerten und weder bei Hoetzsch 63 64

ZStAP, Nachlaß Dirksen, Bd. 7, Bl. 228 R., Hoetzsch an Dirksen, 23. Februar 1932. ZStAP, Auswärtiges Amt, Deutsche Botschaft Moskau, Nr. 402, Bl. 167-168, Aktennotiz über eine Besprechung mit Just, 17. Februar 1932.

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noch anderen Präsidialmitgliedern wie Curtius, Schumacher oder gar Auhagen auf sichtbaren Widerstand stießen, nur noch wenige positive Leistungen vollbringen. 65 Zu diesen zählten Ende des Jahres 1932 eine bedeutsame Ausstellung über die Belletristik in der UdSSR und besonders die deutsch-sowjetische Medizinerwoche, die vom 28. November bis 3. Dezember stattfand. Hier gelang es den Rapallo-Kräften in der Osteuropa-Gesellschaft zum letzten Mal, mit Hilfe eines Aktionskomitees von Berliner Medizinern und unter dem Protektoi'at der sowjetischen Botschaft führende Gelehrte der beiden Staaten zusammenzubringen. Von deutscher Seite nahmen die Professoren F. Kraus', F. H. Lewy, Sauerbruch, Goldschmidt, v. Bergmann, Krückmann, Neufeld, Lichtwitz, Roessle, Gohrband t, Zondek, Pick und 0 . Vogt tätigen Anteil an der Woche. Aus der UdSSR waren unter Leitung des Volkskommissars M. F. Vladimirskij die Chirurgen Fedorov und Burdenko, die Therapeutiker Pletnev und Koncalovskij, der Pathologe Bogomolec, die Biochemiker Palladin und Zbarskij, der Bakteriologe Marcinovskij, der Ophthalmologe Averbach, der Hygieniker Batkis, der Tuberkuloseforscher Gol'cman, der Venerologe Bronner und die Anatomen Vorobev und Abrikosov nach Deutschland gereist. Auf dem Programm der Woche standen zahlreiche Vorträge sowie Besichtigungen von Krankenhäusern und Instituten. Die sowjetischen Gelehrten, die sich besonders für die Bekämpfung von Berufskrankheiten interessierten, reisten nach Abschluß der Woche nach München weiter, wo sie das „Deutsche Museum" und weitere Forschungsstätten besuchten. Für die Haltung der deutschen Seite ist kennzeichnend, daß zwar viele Begegnungen der teilnehmenden Wissenschaftler stattfanden, jedoch keinerlei offizieller Empfang erfolgte.06 Hoetzsch beschränkte sich 1932 darauf, mit Melinert „Osteuropa" zu redigieren, Monatsübersichten sowie Artikel zu schreiben und die notwendigsten Präsidiumspflichten zu erfüllen. Nennenswerte Schritte zum Ausbau der wissenschaftlichen Beziehungen unternahm er nicht; die Medizinerwoche ging, wie aus dem Gespräch zwischen Girsfel'd und Mehnert ersichtlich, auf sowjetische Anregung zurück. Größeres Interesse brachte er nur noch der Aktenpublikation entgegen. Er befand sich in regelmäßiger Verbindung mit der sowjetischen Historikerkommission, darunter mit A. S. Erusalimskij, der die Bände für die Jahre 1904 bis 1911 zusammenstellte. Trotz seiner allgemeinen Resignation zeichnete sich zu Beginn der dreißiger Jahre in den Urteilen, die Otto Hoetzsch über die Außenpolitik der UdSSR und über die Beziehungen Deutschlands zur UdSSR abgab, eine bemerkenswerte Wendung ab. Stärker als zuvor unterstrich er nun den auf die Sicherung des Friedens gerichteten Charakter der sowjetischen Außenpolitik, den er, ohne den inneren Zusammenhang zwischen Sozialismus und Frieden erkennen zu können, vorwiegend aus dem Interesse der UdSSR ableitete, die Rekonstruktion der Volkswirtschaft und den sozialistischen Aufbau ungestört von internationalen Komplikationen vollziehen zu können. Hoetzsch nahm besonders das im Februar 1929 in Moskau von der UdSSR, Estland, Lettland, Polen und Rumänien, später noch von der Türkei und Litauen unterzeichnete Protokoll über die vorfristige Inkraftsetzung des Kellogg-Pakles zum Anlaß, um die Friedenspolitik der UdSSR hervorzuheben und ihren ohne Zutun des Völkerbundes mit dem „Ostpakt" erzielten Erfolg zu würdigen. 67 Er erwartete, daß die sowjetische Diplomatie ihren feierlichen 65 66 67

Nachlaß Schmidt-Ott, Bd. 5, Bl. 3-7, Tätigkeitsbericht der Gesellschaft 1932/1933. Ebenda, Bl. 9-16, 17-19, 21-R., Programm der Medizinerwoche und Briefwechsel. Osteuropa, 1928/1929, S. 312/313, und im Artikel: Der Ostpakt, ebenda, S. 382.

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Verzicht auf den Krieg durch einen positiven Entscheid zur Beilegung von Streitigkeiten überhaupt erweitern werde; in dem zwischen der UdSSR und Deutschland geschlossenen Schlichtungsabkommen vom 25. Januar 1929 sowie in dem sowjetischen Entwurf zur Abriistungsfrage sah er verheißungsvolle Ansätze zu einer internationalen Ubereinkunft über die Regelung von Streitfällen. 1930 und 1931, als in Deutschland eine antisowjetische Kampagne die andere jagte, hat Hoetzsch mehrfach die Aufrichtigkeit der sowjetischen Friedenspolitik hervorgehoben. 08 1931 schrieb er: „Und wenn die russische Politik unausgesetzt das Wort ,Frieden' im Munde führt, so kann man ihrer Aufrichtigkeit dabei durchaus glauben. Um den Sowjetstaat nach dem Fünfjahrplan so aufzubauen, wie man will, braucht man unter allen Umständen Frieden, macht man eine betont friedliche Politik, die sogar Niederlagen und Demütigungen hinnimmt." 09 Hoetzsch wandte sich mit solchen Worten gegen das Schreckgespenst von der aggressiven UdSSR. Auch seine positiven Äußerungen über die sowjetischen Abrüstungsvorschläge, deren Veröffentlichung in deutscher Sprache wahrscheinlich von ihm angeregt wurde70, zeigen, daß er die Grundlage für den Kampf der UdSSR um die Gewährleistung der friedlichen Koexistenz mit den kapitalistischen Staaten, ihr Streben nach Verständigung und Zusammenarbeit, erkannt hatte. Der Gedanke, die UdSSR „im Lebensinteresse Deutschlands" vom Versailler System fernzuhalten und so ein Atout gegen die Westmächte in der Hand zu halten, wurde noch verschiedentlich ausgesprochen.71 Er wurde jedoch deutlich überlagert durch die neue Sicht des deutsch-sowjetischen Verhältnisses als eines Modellfalls für die friedliche Koexistenz in größerem Rahmen. Hoetzsch erläuterte mehrmals, daß in den Verträgen zwischen Deutschland und der UdSSR zum ersten Mal die Prinzipien erarbeitet wurden, die die sowjetische Diplomatie dann auch anderen Staaten gegenüber anwandte. So habe der Rapallo-Vertrag erstmals die Annullierung der Kriegsschulden und den Verzicht auf den Krieg, die Grundidee des Kellogg-Paktes, statuiert. Mit den Verträgen von 1925 habe die UdSSR begonnen, ihre wirtschaftlichen und rechtlichen Beziehungen zum Ausland in international anerkannten Normen zu fixieren. Auch im deutsch-sowjetischen Schiedsabkommen von 1929 sah Hoetzsch ein Modell; er hob hervor, daß es die erste derartige Ubereinkunft mit der UdSSR war.72 Von diesen Überlegungen her arbeitete Hoetzsch heraus, daß Deutschland im Interesse einer dauerhaften Friedensregelung die Pflicht habe, seine Beziehungen zur UdSSR nicht auf dem bereits abgesteckten Feld zu belassen, sondern sie zur wirklichen internationalen Zusammenarbeit zu erweitern. Anläßlich des Prozesses gegen die Orlov-Bande hatte er verlangt, die antisowjetischen „Nachrichtenzentralen" auf deutschem Boden zu liquidieren und das Verhältnis zur UdSSR von derartigen Störungen freizuhalten. 73 1930 forderte er, für die deutschsowjetischen Beziehungen eine eindeutige „Generallinie" zu finden.74 Deutschland müsse 68

Hoetzsch, Außenpolitik und internationale Beziehungen Rußlands im Jahre 1929, in: Osteuropa, 1929/1930, S. 307; Das russische Problem, ebenda, 1930/1931, S. 443. 09 Ebenda. 70 Vgl. S. 153, Anm. 90. 71 Hoetzsch, Das heutige Rußland und seine Beziehungen zu den anderen Staaten. In: Jahrbuch für auswärtige Politik, 1931, S. 23. 72 Vgl. die Äußerungen in Osteuropa, 1928/1929, S. 330-331, 385, und 1932/1933, S. 484 bis 485. 73 Ebenda, 1928/1929, S. 786-787. v ' Hoetzsch, Gegenwartsprobleme der Sowjetunion, a. a. O., S. 380-382.

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sich als Bindeglied zwischen der UdSSR, Europa und Nordamerika verstehen. Es müsse versuchen, die UdSSR an den Völkerbund heranzuführen. Möglichkeiten für eine verstärkte Zusammenarbeit mit der Sowjetunion auf internationaler, nicht nur zweiseitiger Ebene sah Hoetzsch in der Abrüstungsfrage, in der Ausweitung des Kellogg-Paktes und des Schiedsgedankens, in den Arbeiten der Weltwirtschaftskonferenz und in der Verstärkung der technischen Hilfe für die UdSSR. Das Programm trug Merkmale einer neuen Qualität, auch wenn man berücksichtigt, daß es zwischen dem von Hoetzsch verfälschten Abrüstungsgedanken („Rüstungsgleichheit") und der sowjetischen Politik in dieser Frage keinerlei Gemeinsamkeit geben konnte. Mit seinem Mahnruf, die Potenzen Deutschlands auf internationaler Ebene für die UdSSR in die Waagschale zu werfen, hatte er sich zu einer Auffassung der Rapallo-Politik bekannt, die der Reichsregierung völlig fern lag. Hoetzsch verlangte ferner, daß sich das deutsche „Rußlandgeschäft" auf die neuen Bedingungen umstelle. Er begrüßte 1931 die bekannte Reise der Großindustriellen und trat in diesem Zusammenhang für die Verlängerung des Berliner Vertrages sowie gegen die Phrasen von einer „Wandlung der Rapallo-Politik" auf.75 Mitte des Jahres polemisierte er gegen die schwerindustrielle „Deutsche Bergwerkszeitung", die einen auf längere Sicht geplanten wirtschaftlichen Austausch mit der UdSSR und besonders die Lieferung von Produktionsmitteln abgelehnt hatte.7® Im Oktober 1931 trat Hoetzsch dem elfköpfigen Präsidium der „Arbeitsgemeinschaft zum Studium der sowjetrussischen Planwirtschaft" (Arplan) bei.77, deren Arbeiten er jedoch mit sichtlicher Reserve gegenüberstand. Ein intensives Studium der sowjetischen Planwirtschaft mit dem obersten Gesichtspunkt, einzelne ihrer Methoden auf das kapitalistische Deutschland zu übertragen und der Wirtschaftskrise durch den ersten Versuch einer Planifikation zu begegnen, überschritt den Rahmen seiner Zielsetzung, zumal in der äußerst heterogen zusammengesetzten Arplan auch einige Vertreter der marxistischen Wissenschaft, unter ihnen Hermann Duncker, wirkten. Hoetzschs oberstes Ziel blieb es stets, Frieden mit der UdSSR zu halten. 1930 hatte er den Abgeordneten des Reichstages die eindringlich mahnenden Worte zugerufen: „Ich bin - und darin stimme ich mit dem kommunistischen Redner durchaus überein ein geschworener Feind jeder Bestrebung, Erörterung und Bewegung, die darauf hinausgeht, unter Gründen des Ressentiments und des Gefühls, wie der Ausdruck lautet, Deutschland in die Antisowjetfront einzuspannen. Wir wären wahnsinnig, wenn wir uns auf eine derartige Kombination einließen, die ganz auf unserem Rücken ausgetragen würde, von der wir gar nichts hätten und die mit einer totalen Niederlage in Rußland selbst (!!) enden würde." 78 Wir wissen, daß ihn die verschiedensten Motive zu dieser konsequenten Haltung veranlaßten: Ehrliche Sympathie zum russischen Volk, die Furcht vor dem Ende der Ausbeuterherrschaft im Kriegsfalle, der Gedanke an den wirtschaftlichen und außenpolitischen Nutzen. Bedenkt man ferner, daß sich Hoetzsch 1931 aus der Osteuropa-Gesellschaft zurückzog, damit sein Instrument zur Pflege der Beziehungen praktisch aus der Hand gab und auch nach seinem Wiedereintritt in die Leitung nur 75 70 77

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Osteuropa, 1930/1931, H. 7, S. 424-425. Ebenda, S. 601-602. Brief v. Prof. F. Lenz (Bonn) an den Vf., 29. Mai 1966. Lenz war Vorsitzender der Arplan. Stenographische Berichte des Deutschen Reichstags, Bd. 428, 26. Juni 1930, S. 5866 B.

Kooperation oder Resignation? (1930 bis 1933)

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mit halbem Interesse in ihr arbeitete, so wird die ganze Kompliziertheit seiner Gedankengänge und seiner Position sichtbar. Er war zu einer erweiterten Konzeption des deutschsowjetischen Verhältnisses vorgedrungen, resignierte aber im entscheidenden Moment, da er offensichtlich an der Politik des Auswärtigen Amtes und an der inneren Entwicklung seiner Osteuropa-Gesellschaft verzweifelte. Die Widersprüchlichkeit des bürgerlichen Wissenschaftlers tritt klar zutage. An seiner festen Uberzeugung vom Nutzen der Rapallo-Politik hat er jedoch bis zuletzt festgehalten. Auch 1932 unterstrich er, „daß bei allen Schwierigkeiten ein Staat mit privatkapitalistischer Organisation seiner Volkswirtschaft und ein kommunistischer Staat nebeneinander existieren können". 79 In diesem Jahr bildeten Studenten und Absolventen des Seminars für osteuropäische Geschichte und des im gleichen Hause (Dorotheenstraße 7) untergebrachten Slavischen Seminars eine „Slavistische Arbeitsgemeinschaft an der Universität Berlin". 80 Sie war eine jener locker gefügten Studiengruppen, die sich während der Krisenjahre an vielen deutschen Hochschulen bildeten und ein neues Verständnis der UdSSR, ihrer Krisenfestigkeit, Kultur und Außenpolitik erstrebten. Hoetzsch hatte mit seinen Fakultätskollegen Stählin und Vasmer der Gründung der Arbeitsgemeinschaft zugestimmt und stand ihrer Tätigkeit wohlwollend zur Seite. Zu Vorstandsmitgliedern des neuen Gremiums wurden die Doktoren Raissa Bloch, Michael Gorlin, Wolfgang Leppmann 81 , Mehnert und Leopold Silberstein sowie Friedrich Schwarlz gewählt; auch die wissenschaftlichen Nachwuchskräfte v. Busse, Landau und Schnittkind beteiligten sich an der Leitung der Gruppe. Die Arbeitsgemeinschaft nahm am 9. Mai 1932 ihre Tätigkeit auf und benutzte die Räume der „Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas". Neben der ordentlichen Mitgliedschaft, die an ein Studium der Slawistik oder der osteuropäischen Geschichte gebunden war, bot sie mittels der „ständigen Gastschaft" auch anderen Kräften Gelegenheit zur Mitarbeit. Die Teilnehmer trafen sich zu Diskussionsnachmittagen oder -abenden, auf denen sektionsweise zunächst Fragen der slawischen Romantik, das Nationalitätenproblem bei den Slawen und Dokumente des russischen Mittelalters behandelt wurden. Sehr bald rückte die „aktuelle Sektion" in den Mittelpunkt der Arbeitsgemeinschaft. Sie besprach gemeinsam mit einigen Angehörigen des Königsberger Wirtschaftsinstituts für Rußland und die Oststaaten, das in Berlin eine Zweigstelle besaß, die Probleme des deutsch-sowjetischen Wirtschaftsverkehrs, der Kreditvergabe und der Teilnahme deutscher Fachleute am sowjetischen Wirtschaftsaufbau. Im Dezember 1932 unterstützten einige Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft den Aufbau einer Ausstellung über die Belletristik in der UdSSR, die von der Osteuropa-Gesellschaft eine Woche hindurch in Berlin gezeigt wurde und starken Anklang fand. Leppmann und Gorlin hielten täglich in den Räumen der Ausstellung Vorträge und gaben den Besuchern Erläuterungen. Der geplante Versand der Exponate in andere Städte Deutschlands konnte nicht mehr erfolgen. Nach der Errichtung der hitlerfaschistischen Diktatur löste sich die Arbeitsgemeinschaft auf. 79 80

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Die rote Wirtschaft, a: a. O., S. 9. Die Berliner Slawistische Arbeitsgemeinschaft. In: Slavische Rundschau, 1932, S. 411-412; Notizen in: Osteuropa, 1932/1933, S. 251-252. Wolfgang Leppmann (1902-1943) - Sohn eines bekannten Berliner Nervenarztes, studierte Slawistik und osteuropäische Geschichte in Berlin, Göttingen, Wien und Prag, promovierte 1930 bei Hoetzsch, 1931-1934 dessen Assistent bei der Herausgabe der sowjetischen Aktenpublikation in deutscher Sprache, wurde aus „rassischen Gründen" verfolgt, verbarg sich in Berlin, wurde später verhaftet und 1943 in Auschwitz ermordet.

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Kapitel X

In jenen letzten Wochen der Weimarer Republik veröffentlichte Hoetzsch unter seinen vielen kleineren Beiträgen, die ständig in „Osteuropa" erschienen, auch eine Rezension zu der zwölfbändigen Lenin-Ausgabe, die der fortschrittliche Verlag für Literatur und Politik (Wien und Berlin) 1932 herauszugeben begonnen hatte. Hoetzsch kannte die Arbeiten Lenins gut und hatte sich seit 1917 mit ihnen beschäftigt. Er stand der revolutionären leninistischen Theorie stets fremd und voller Ablehnung gegenüber, mehrmals ließ er sich zu antikommunistischen Ausfällen verleiten. Unter dem Einfluß seiner engen Zusammenarbeit mit sowjetischen marxistischen Historikern begriff er aber zunehmend die grundlegende Bedeutung von Lenins Arbeiten für das Verständnis der gesamten sowjetischen Gegenwart. Seine Beurteilung Lenins unterlag einem völligen Wandel. Während er den großen Revolutionär 1917 als „Aufrührer" und „Anarchisten" sah, 1918 bereits als „weitaus stärkste und mächtigste Persönlichkeit der bolschewistischen Revolution" bezeichnete, rechnete er ihn 1930 zu den „wirklich großen Staatsmännern der Geschichte". In der Rezension, die im Dezember 1932 erschien, nannte er schließlich das systematische Studium von Lenins Schriften „unbedingt notwendig für das Verständnis des Bolschewismus nicht nur nach der praktischen Seite, sondern auch nach der Seite der Theorie." 82 Am Ende der Republik, in einer Periode schwerster politischer Kämpfe der fortschrittlichen Kräfte gegen die drohende Errichtung der faschistischen Diktatur, in einer Phase eigener Resignation, empfahl er seinen bürgerlichen Lesern das sorgfältige Studium von Lenins Arbeiten. Er begrüßte das Erscheinen der neuen Ausgabe, die „für die Einleitung in das Studium, das erste Studium Lenins und des Leninismus gut ist. . . So ist diese Auswahl in 12 Bänden ein glücklicher Griff. Sie kann nur empfohlen werden." 83 Die Rezension glich in keiner Weise den haßerfüllten Angriffen auf das Werk Lenins, die in der imperialistischen deutschen Ostforschung seit der Oktoberrevolution überwogen und bald in der gleichgeschalteten faschistischen Publizistik und Presse dominieren sollten. Ihr Verfasser nahm auch nicht zu den Methoden der später verbreiteten „flexiblen" Leninverfälschungen Zuflucht.84 Die einzige wesentliche kritische Anmerkung, die Hoetzsch zu den ersten Bänden der Lenin-Ausgabe vortrug, galt den Kürzungen, die der Verlag in den Texten vorgenommen hatte! In den Jahren 1930 bis 1933 erfolgte noch keine Lösung der schweren Widersprüche, die das Denken und Handeln des einstigen Deutschnationalen Hoetzsch charakterisierten. Die fortschrittliche Linie in seiner Entwicklung wurde gekennzeichnet durch seine Bereitschaft zu einer vertieften Zusammenarbeit mit der sowjetischen Wissenschaft, durch seine Unterstützung der sowjetischen Friedenspolitik und, wie seine Beurteilung der Leninschen Arbeiten zeigte, durch einige bedeutsame Einzelerkenntnisse. Hoetzsch hatte die volksfeindliche Partei der deutschen Monopolbourgeoisie, die DNVP, verlassen, verstand aber das Wesen der erbitterten sozialen und politischen Auseinandersetzungen in keiner Weise und wurde von den profaschistischen Elementen in seiner näheren Umgebung überspielt. 82 83 84

Osteuropa, 1932/1933, S. 178. Ebenda. Vgl. R. Bauermann/H.-J. Rötscher, Leninismus und Klassenkampf. Philosophische und politische Positionen des gegenwärtigen Antileninismus, Berlin 1973.

KAPITEL XI

Unter der hitlerfaschistischen Diktatur

Ein Jahrzehnt hatten sich die Beziehungen zwischen Deutschland und der U d S S R überwiegend in dem Rahmen bewegt, den der Vertrag von Rapallo 1922 und der Berliner Neutralitätsvertrag 1926 abgesteckt hatten. Die deutsche Arbeiterklasse ließ in dieser Zeit keine gegen die U d S S R gerichteten militärischen Abenteuer zu. Die antisowjetischen Tendenzen wuchsen jedoch in den letzten Jahren der Weimarer Republik beträchtlich an. Die Feindschaft gegen die U d S S R hatte sich in allen politisch wichtigen Institutionen der Republik tief eingefressen, das Kabinett Papen sondierte bereits die Möglichkeiten einer offen antisowjetischen Blockbildung mit Frankreich. 1 Durch die Errichtung der faschistischen Gewaltherrschaft kam die in der deutschen Innen- und Außenpolitik seit 1917 immer vorhandene antisowjetische Komponente schließlich voll zum Durchbruch. Der Kampf gegen die UdSSR wurde nunmehr das erklärte oberste außenpolitische Ziel des deutschen Imperialismus. In ihren offiziellen Erklärungen, auch gegenüber dem Botschafter der UdSSR am 28. April 1933, beteuerte die Hitlerregierung Friedensabsichten. Das Kabinett ratifizierte das Protokoll über die Verlängerung des Berliner Vertrages. Die politische Wirklichkeit bot jedoch schon kurze Zeit nach dem 30. Januar 1933 ein völlig anderes Bild. Die blutige Verfolgungswelle gegen die deutschen Kommunisten und Antifaschisten richtete sich auch gegen die UdSSR. Die Antisowjethetze in der Presse nahm größte Ausmaße an und steigerte sich besonders nach der Reichstagsbrandprovokation. Wahrheitsgetreue Berichte über die U d S S R wurden verhindert und konnten nicht mehr erscheinen. Die Gesellschaft der Freunde des neuen Rußland wurde in den ersten Tagen der Diktatur sofort verboten, ihr verdienstvoller Generalsekretär Erich Baron verhaftet und am 26. April 1933 ermordet. Der Vertrieb der führenden sowjetischen Zeitungen' in Deutschland war seit Mitte März nicht mehr möglich. Zahlreiche sowjetische Bürger sahen sich Repressalien ausgesetzt oder wurden Opfer faschistischer Terrorakte. Botschafter Chincuk sprach am 26. September 1933 im Auswärtigen Amt vor und protestierte gegen 113 Anschläge, die auf sowjetische Bürger verübt worden waren, wobei in 16 Fällen die diplomatische Immunität sowjetischer Staatsangehöriger verletzt wurde. Der Botschafter protestierte gegen 23 Uberfälle auf sowjetische Handelsorgane und gegen weitere 74 individuelle Verstöße. Er forderte von der Berliner Regierung eine klare Entscheidung darüber, ob Deutschland an der Erhaltung guter Beziehungen zur U d S S R überhaupt noch interessiert sei. Der Hitlerfaschismus hatte nicht nur begonnen, einen bisher noch unbekannten Mani1

Vgl. G. Rosenfeld, Die Errichtung der faschistischen Diktatur in Deutschland und ihre Auswirkung auf die deutsch-sowjetischen Beziehungen. I n : Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität Berlin, Ges. u. sprachwiss. Reihe, 1970, S. 121-126.

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pulationsapparat zur Vorbereitung eines Krieges gegen die UdSSR aufzubauen. Hinter dem Schleier durchsichtiger Friedensbeteuerungen hatte er auch auf der außenpolitischdiplomatischen Ebene aggressive Schritte unternommen und das Zusammenspiel mit dem internationalen Finanzkapital intensiviert; Hugenbergs berüchtigtes Memorandum, das er am 14. Juni 1933 der Internationalen Wirtschaftskonferenz in London vorlegte, kündigte die geplante Eroberung von „Siedlungsland" im Osten an. Am 15. Juli schloß der deutsche Faschismus mit England, Frankreich und Italien in Rom einen Viermächtepakt, der den Versuch zur Bildung eines antisowjetischen Blödes darstellte, wegen innen- und außenpolitischer Widerstände jedoch faktisch nicht in Kraft trat. Wie zahlreiche andere Angehörige der bürgerlichen deutschen Intelligenz hatte auch Otto Hoetzsch weder den Klassencharakter der nationalsozialistischen „Bewegung" noch ihre furchtbare Gefährlichkeit erkannt. Im Februar 1932 sandte er Dirksen einen Brief, in dem er sich über die „Zauderpolitik" Brünings beklagte, den Reichskanzler verzweifelt mit Bethman Hollweg verglich und meinte, daß man sich nicht „mit aller Kraft und Hingabe" für dieses Kabinett einsetzen könne (Anhang, Dokument 17). Ganz offensichtlich erwartete Hoetzsch damals einen baldigen Niedergang der NSDAP. Bestimmte Teile seiner außen- und machtpolitischen Konzeption wie der Antiversailles-Komplex, der gegen Polen gerichtete Revanchismus, die Ablehnung einer konsequenten bürgerlichen Demokratie und die Feindschaft gegen den proletarischen Internationalismus bewirkten, daß er 1933 der faschistischen Demagogie, besonders dem „Tag von Potsdam", zum Opfer fiel. Hoetzsch versuchte, sich dem faschistischen Terrorregime anzupassen. Er trat dem NS-Lehrerbund bei, nahm an dessen „Schulungsveranstaltungen" teil und leistete 1934 den vorgeschriebenen Eid auf Hitler. Im Herbst 1933 veröffentlichte er einen schändlichen Artikel, der plastisch zeigt, zu welchen Tiefpunkten die Kapitulation vor dem Faschismus führte. 2 Hoetzsch gab die Errichtung der Diktatur als logisches Ergebnis der deutschen Geschichte aus, nannte sie „Durchbruch und Sieg der Jugend", „Neuaufbau der sozialen Gliederung" im Sinne einer Auflösung des kapitalistischen Systems. Der Historiker verzerrte die deutsche Geschichte in unerhörter Weise, als er neben Adolf Stoecker und Adolf Wagner auch Friedrich II., Bismarck und die großen Reformer von 1807/1813 für die Ahnenreihe des Blutregimes in Anspruch nahm. Erinnerungen an die Reichsreform von 1495 und an die Kreisordnung von 1521 wurden bemüht, um die Einsetzung faschistischer „Reichsstatthalter" zu legitimieren! Hoetzsch erklärte sich mit Rusts „tiefer und eindringender Piede" vom 6. Mai 1933 in der Berliner Universität einverstanden und machte sogar der Blut-und-Boden-Mystik Zugeständnisse. Ähnlich tausenden anderer Intellektueller begriff er nicht, daß die Verfolgung der revolutionären Arbeiterbewegung der erste Schritt auf einem Wege war, der in kurzer Zeit zur Ausschaltung aller nichtfaschistischen Kräfte und zur Vorbereitung eines neuen Weltkrieges führen mußte. Es war vorherzusehen, daß dieser Politik auch die bürgerlichen Anhänger des Rapallokurses und damit er selbst zum Opfer fallen mußten. Dem amerikanischen Botschafter William E. Dodd, einer lauteren Persönlichkeit, die zu jener Zeit von vielen deutschen Professoren aufgesucht wurde, gab Hoetzsch im Juli 1933 zu verstehen, daß er mit der Hitlerherrschaft einverstanden sei. Der gut informierte und aufmerksam beobachtende Diplomat vermerkte in seinem Tagebuch: „Fast alle Universitätsprofessoren lassen sich offenbar willig einschüchtern; man merkt jedoch, 3

Hoetzsch, Die deutsche nationale Revolution. Versuch einer historisch-systematischen Erfassung. In: Vergangenheit und Gegenwart, 1933, S. 353-373.

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daß es mehr die Angst ist, ihren Posten zu verlieren, als ein freiwilliges überlaufen." 3 Eine solche Generalisierung enthält viel Wahres, wird aber den Bindungen der bürgerlichen deutschen Intelligenz an die Klasseninteressen der Großbourgeoisie nicht gerecht. Im Denken von Hoetzsch hatten gerade die reaktionärsten Seiten seiner Konzeption vorübergehend gesiegt. Der Wunsch, sich zu „halten", hatte sein überlaufen nur beschleunigt. Die militaristische Aggressionsideologie, den Antisemitismus und Rassismus hat Hoetzsch nicht übernommen. Der erwähnte Artikel blieb, wenn man von einigen versti'euten Bemerkungen absieht, der einzige, den er zum Lobe des Hitlerregimes schrieb. Überblickt man sein Verhalten bis zur Mitte des Jahres 1935, so erkennt man, daß er im besonderen nicht gewillt war, das Kernstück seiner wissenschaftlichen und politischen Ansichten, die Notwendigkeit eines guten Verhältnisses zur UdSSR, preiszugeben. An dieser Konstante seiner Überzeugungen hat er trotz des profaschistischen Schwankens unerbittlich festgehalten. Es gelang ihm, auch nach Emchtung der Diktatur in die UdSSR zu reisen. Vom :l. bis 18. August 1933 hielt er sich in Moskau auf. Zu diesem Zeitpunkt waren sich die politischen FührungsOrgane der UdSSR völlig darüber im klaren, daß in Europa eine angespannte internationale Lage entstanden war und sich ein neuer Kriegshcrd herausbildete. Die Verantwortung der UdSSR für die Erhaltung des Friedens stieg. Ihre verantwortlichen Staatsmänner betonten 1933 zunehmend, daß die Sicherheit nur durch Verpflichtungen gewährleistet werden könne, die alle Länder oder die Länder eines bestimmten Gebiets übernehmen würden. Als zuverlässigste Form der Sicherheit bezeichnete die UdSSR schließlich gegenseitige regionale Beistandspakte. Im Dezember 1933 verabschiedete das ZK der KPdSU einen Beschluß über die Notwendigkeit des verstärkten Kampfes um die kollektive Sicherheit. Das Dokument sprach von der Möglichkeit, daß die UdSSR dem Völkerbund beitreten könne, und es sah den Abschluß eines Regionalpaktes der europäischen Staaten zur gegenseitigen Verteidigung bei einer Aggression vor. Im gleichen Monat leistete die XIII. Tagung des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale einen wesentlichen Beitrag zur Bestimmung der neu entstandenen Situation. Es beschloß die Thesen „Der Faschismus, die Kriegsgefahr und die Aufgaben der kommunistischen Parteien", in denen der Faschismus erstmals als „die offene terroristische Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals" charakterisiert wurde. In ihren Beziehungen zum faschistischen Deutschland ließ sich die UdSSR auch während des Jahres 1933 von den Prinzipien der friedlichen Koexistenz zwischen Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung leiten. Der Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten M. M. Litvinov teilte im Mai 1933 Botschafter Dirksen mit, daß die UdSSR noch immer großen Wert auf gute Beziehungen zu Deutschland lege. Die UdSSR beobachtete aufmerksam die Klassenauseinandersetzungen in Deutschland und bemühte sich, die erforderliche Neuakzentuierung ihrer Außenpolitik, die Ende 1933 endgültig erfolgte, mit größter Umsicht und mit einem Maximum an Informationen vorzubereiten. Zugleich war der Sowjetstaat daran interessiert, die wenigen vom Faschismus noch nicht zerstörten Verbindungen, darunter auf kulturpolitischem und wissenschaftlichem Gebiet, aufrechtzuerhalten und fortzuführen. 3

W. E. Docld, Diplomat auf heißem Boden, Berlin o. J. (1962), S. 42.

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Die im August 1933 erfolgte Reise von Otto Hoetzsch, der in der UdSSR seit über zehn Jahren als Kooperationspartner bekannt war, ist in diesen Zusammenhängen zu sehen. Der Aufenthalt diente der Fortführung der Aktenpublikation. Die erste Serie der sowjetischen Akten, bestehend aus fünf Bänden, war zum Zeitpunkt der Reise entweder erschienen oder im Druck. Es handelte sich nun darum, das Material der „Kriegsserie", die die Dokumente von August 1914 bis Oktober 1915 enthalten sollte, zu veröffentlichen. Die sowjetischen Historiker hatten für diese Bände, wie Hoetzsch dem Auswärtigen Amt und Botschafter Nadolny berichtete4, umfangreiche Unterlagen gesammelt; verschiedene Stücke, insbesondere zur Meerengenfrage, waren allerdings schon in anderen deutschen Publikationen enthalten. Die Kommission kam den Wünschen von Hoetzsch, Überschneidungen möglichst zu vermeiden 5 und die Herausgabe der weiteren Bände zu beschleunigen, sehr entgegen. Hoetzsch, der zeitweise von Mehnert begleitet wurde, hatte Zutritt zu den Archivbeständen und konnte ein Abkommen treffen, das die Veröffentlichung von sechs weiteren Halbbänden in deutscher Sprache garantierte. Er war beeindruckt von dem Entgegenkommen der sowjetischen Partner, die trotz der faschistischen Provokationen gegen die UdSSR und des bevorstehenden Reichstagsbrandprozesses die Beziehungen zur deutschen Wissenschaft, als deren Repräsentant Hoetzsch galt, nicht abzubrechen gedachten. In seinem Bericht hieß es: „Die Verhandlungen waren bei allen technischen Schwierigkeiten diesmal insofern leichter, als die russische Seite in jeder Beziehung entgegenkommend und verhandlungswillig war. Die erheblichen nachher zu besprechenden Schwierigkeiten einer Einigung hatten ihre sachlichen Gründe. Aber die Verhandlungen wurden von der russischen Seite ersichtlich in dem Willen und Auftrage geführt, es nicht zu Schwierigkeiten kommen zu lassen." 6 Der Präsident des Staatsverlages, Tomskij, schaltete sich in die Verhandlungen ein; das Abkommen lag angesichts seiner politischen Bedeutung auch Mitarbeitern des ZK der KPdSU vor, wie Hoetzsch berichtete. Während des Jahres 1934 konnten dank der Vereinbarung die ersten Bände der „Kriegsserie" erscheinen, die restlichen folgten 1935 und 1936. Nach außen zeichnete die Gesellschaft zum Studium Osteuropas weiter für sie verantwortlich. Tatsächlich waren sie auf deutscher Seite das Werk ausschließlich von Hoetzsch und einigen Ubersetzern, von denen Dr. Erich Boehme die größte Arbeit leistete. Diese Bücher stellten nach der faschistischen Machtübernahme eines der letzten Beispiele deutsch-sowjetischen Zusammenwirkens im wissenschaftlichen Bereich dar, wobei das Unternehmen seitens der sowjetischen Institutionen ersichtlich als Probestein für kulturpolitische Schritte und noch verbliebene Möglichkeiten auf der staatlichen Ebene betrachtet wurde. Hoetzsch äußerte noch mehrfach seine Genugtuung über die Zusammenarbeit. Im März 1934 schrieb er Nadolny, „daß sich, wie überhaupt in der ganzen Arbeit, die russische Kommission durchaus loyal, entgegenkommend und eifrig bewiesen hat." 7 Er teilte mit, daß Außenminister Neurath und sein Staatssekretär die Fortführung der Aktenpublikation gebilligt hätten. 4

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ZStAP, Auswärtiges Amt, Deutsche Botschaft Moskau, Nr. 405, Bl. 135-138, Hoetzsch 8. Dezember 1933 an Nadolny mit vertraulicher Aufzeichnung; Bl. 183-192, Bericht von Hoetzsch über seine Reise, 30. August 1933. Ebenda, Nr. 406, Bl. 130-132, Botschaf« an Hoetzsch, 18. Juni 1934. Ebenda, Nr. 405, Bl. 183-184. Ebenda, Nr. 406, Bl. 138-139R., Hoetzsch an Nadolny, 10. März 1934.

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Von der letzten Reise, die Hoetzsch im Oktober 1934 in die UdSSR unternahm, sind keine Unterlagen bekannt. Fest steht nur, daß er abermals über die Dokumentenveröflentlichungen verhandelt hat. 8 Der Niedergang der Osteuropa-Gesellschaft, der etwa 1931 begonnen hatte, führte nach 1933 binnen kurzem zu ihrer Gleichschaltung. Im April 1933 beeilte sich Generalsekretär Mehnert, durch eine besondere Denkschrift die Ministerien und Parteiinstanzen zu versichern, daß die Gesellschaft schon immer den Plänen Hitlers entsprochen habe. Er behauptete: „Der Sowjetunion gegenüber hat sie - ihre verantwortliche Leitung sowohl als ihre Mitarbeiter - eine Haltung eingenommen, die genau den von Herrn Reichskanzler Hitler in seiner Reichstagsrede vom 23. März 1933 formulierten Richtlinien entspricht: Pflege guter Beziehungen zu Rußland bei gleichzeitiger Bekämpfung des Kommunismus in Deutschland. Gerade die Vernichtung des Kommunismus in Deutschland hat den Weg frei gemacht für Beziehungen zu Rußland, die durch innenpolitische Hemmungen nicht mehr gestört zu werden brauchen." 0 Diese Auslassungen waren inhaltlich falsch. Die Führungsgruppe der Gesellschaft - Schmidt-Ott, Hoetzsch und Jonas - hatte sich in der Zeit ihres aktivsten Einsatzes veranlaßt gesehen, ihren latent immer vorhandenen Antikommunismus zurückzustellen. Die Ansichten von Otto Hoetzsch unterlagen darüber hinaus bestimmten progressiven Veränderungen. Trotz einiger publizistischer Gegenbeispiele darf man diesem Personenkreis keine aktive „Bekämpfung des Kommunismus in Deutschland" zur Last legen. Mehnert unternahm mit seinem Memorandum im Grunde den Versuch, sich vom Rapallo-Erbe der Gesellschaft loszusagen. Hoetzsch, der sich zu dieser Zeit bei den Faschisten anbiedern wollte, leitete das Schriftstück u. a. an den neuen Hochschuldezernenten im faschistischen Kultusministerium, Prof. Vahlen, weiter und ersuchte ihn um eine Unterredung. 10 Die erste Maßnahme der Machthaber bei der Gleichschaltung der Osteuropa-Gesellschaft galt dem „Russischen wissenschaftlichen Institut", dessen wichtigste Personen ohnehin schon auf faschistischen Positionen standen. 11 In Vahlens Auftrag machte sich der Deutschbalte Armin von Reyher, ehemaliger Oberst der zaristischen Armee, daran, die Verhältnisse am Institut und in der Osteuropa-Gesellschaft zu sondieren. Mit einem Angehörigen der Kanzlei Rosenberg, der den Namen Sergius Wiegand von Hohen Aesten führte, nahm er eine Bestandsaufnahme des Instituts vor und erklärte in mehreren Schriftsätzen, hier das gegebene „Forschungs- und Propagandainstitut für die nationale Regierung, das durch objektive und gründliche Arbeit dieser Regierung wertvolles Kampfmaterial liefert", gefunden zu haben. Er empfahl, von hier aus die antibolschewistische Propaganda in der deutschen Presse und im Vortragswesen zu steuern

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Kurzer Hinweis lediglich ZStAM, Rep. 76, Vc, Sekt. 1, Tit. 11, Teil I, Nr. 26 C, Tätigkeit der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas im Sommer 1934, S. 2. Ebenda, Denkschrift über die Deutsche Gesellschaft zum Studium Osteuropas, April 1933, S. 3-4. Ebenda, Hoetzsch an Vahlen, 3. Juli 1933. Das Schreiben bestätigt auch Mchiicrts Autorschaft an der Denkschrift. Unser, a. a. 0., S. 584, macht aus dem Schriftstück einen Versuch Mehnerts, „Standort und Aufgabe der Gesellschaft zu formulieren, um die Existenzberechtigung von Gesellschaft und Zeitschrift auch unter dem Nationalsozialismus nachzuweisen". Die folgenden Vorgänge aus ZStAM, Rep. 76, Vc. Selu. 2, Tit. 23, Lit. 1, Nr. 134.

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und Spezialaufgaben ..wie z. B. Anfragen einzelner Regierungsstellen, besondere Untersuchungen usw." erledigen zu lassen. Vahlen teilte er in diesem Zusammenhang Anfang Juni 1933 mit, daß er es für zweckmäßig halte, die Osteuropa-Gesellschaft, die er bereits visitiert hatte, und speziell Hoetzsch „noch nicht anzurühren". Vielsagend setzte er hinzu: „Das weitere wird sich später von selbst ergeben". 12 Reyher begnügte sich damit, das „Russische wissenschaftliche Institut" im August 1933 in einen selbständigen Eingetragenen Verein umzuwandeln und sich selbst zum Präsidenten bestimmen zu lassen. In jenen Monaten tat sich Il'in durch besondere Aktivität hervor. Er verfaßte u. a. ein Machwerk mit dem Titel „Richtlinien der Komintern zur Bolschewisierung Deutschlands", das sofort an die Reichskanzlei und das Reichsinnenministerium geleitet wurde. Der Leiter der Gestapo, Diels, lobte die öffentlichen Vorträge Iljins, von deren „Niveau" er sich selbst überzeugte. Nach dem Beginn des Reichstagsbrandprozesses begriff auch Goebbels die Bedeutung des Instituts. Er setzte einige Mitarbeiter aus der „Ostabteilung" seines Ministeriums auf Reyhers Schöpfung an. Abteilungsleiter Eberhard Taubert, der bei der Vorbereitung des Reichstagsbrandprozesses seine Hände maßgeblich im Spiel hatte, sowie Adolf Ehrt und ein Meier-Benneckenstein von der „Deutschen Hochschule für Politik" brachten das Institut mit seinen Mitarbeitern und der Bibliothek von mehr als 12 000 Bänden an sich. Reyher, der sich an höherer Stelle über die Intrigen beschwerte, erfuhr Ende Oktober von der Gestapo, daß er bei weiterer Widerspenstigkeit mit der Verhaftung rechnen müsse. Goebbels ließ ihm schriftlich mitteilen, daß er von der Leitung des „Russischen wissenschaftlichen Instituts" entbunden und der Verein aufgelöst sei. Reyhers Platz nahm Ehrt ein, der 1933 einen ganzen Konzern antikommunistischer Institutionen errichtet hatte. Der ehemalige klerikale Ostforscher13 hatte bereits das „Zentralkomitee der Deutschen aus Rußland" und ein katholisches „Institut für Erforschung des Bolschewismus und Atheismus" unter seine Kontrolle gebracht; später kamen noch die katholische Gruppe „Pro Deo", das faschistische „Institut zum Studium der Judenfrage" und einige Verlage dazu. Das Gebilde nannte sich „Gesamtverband deutscher antikommunistischer Vereinigungen". Ehrts Tätigkeit war für die Etablierung der Gewaltherrschaft von großer Bedeutung. 1933 überschwemmte er Deutschland mit einer Flut von antikommunistischen Broschüren niedrigsten Typs, die einen angeblich für 1932/1933 geplanten gewaltsamen Umsturzversuch der KPD glaubhaft machen sollten, um so die Errichtung der Hitlerdiktatur als „nationale Rettung" erscheinen zu lassen. Etwas später bildete Ehrt aus den verschiedenen Gruppen die als „Antikomintern" bekannt gewordene Institution, die formal selbständig blieb, tatsächlich jedoch eine Sektion von Tauberts Abteilung im Propagandaministerium war.14 Sie entfaltete besonders 1936 im Zusammenhang mit dem Nürnberger Parteitag eine äußerst breit angelegte demagogische Aktivität und trug wesentlich zur antisowjetischen und antisemitischen Aufhetzung großer Bevölkerungsteile bei.

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Ebenda, Reyher an Vahlen, 6. Juni 1933. Adolf Ehrt, geb. 1902 Saratov, 1923-1926 Kaufmann, seit 1927 Beschäftigung mit Rußlandkunde und „Ostdeutschtum", 1931 Diss. über das Mennonitentum in Rußland, 1932 Mitglied der NSDAP, wurde 1933 zum Leiter der Antikomintern ernannt, ab 1936 Herausgeber von „Das Volk", verschwand Ende der dreißiger Jahre von der politischen Bühne. Vgl. I. D. Franz, Zur propagandistischen Vorbereitung des faschistischen Uberfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941, Diss. A, Rostock 1970.

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Die faschistische Neuformierung der Osteuropa-Gesellschaft erfolgte auf dem Wege ihrer Durchsetzung mit regimetreuen Führungselementen. Das erste Anzeichen war der Wechsel im Generalsekretariat. Im Mai 1934 ging Mehnert als Korrespondent mehrerer deutscher Blätter, darunter der,,Münchner Neuesten Nachrichten", der „Leipziger Neuesten Nachrichten" und des Hamburger „Fremdenblattes", nach Moskau. An seinen Platz trat Werner Markert, ein ehemaliger Schüler des liberalen Leipziger Osteuropa-Historikers Friedrich Braun, nunmehr Mitglied der NSDAP und aktiver SAMann. Im April 1934 hatte er ein Programm veröffentlicht, das die imperialistische deutsche Ostforschung auf Aggressionshilfe und Feinderkundung orientierte.15 Kurze Zeit nach seinem Amtsantritt in der Osteuropa-Gesellschaft, die auf Wunsch und Initiative Mehnerts erfolgte, sah sich ihr Präsident Curtius veranlaßt, nach Kontaktnahme mit ungenannten Dienststellen der NSDAP und im Einvernehmen mit Yahlen einen neuen Beirat zu bilden. Die Liste ist aufschlußreich.16 Sie zählt 32 im Beirat vertretene Behörden und Verbände sowie die Namen von 20 Einzelpersonen auf. Es war vorgesehen, daß neben dem Auswärtigen Amt und allen diplomatischen Missionen in Osteuropa die Reichsministerien für Propaganda, Inneres, Wirtschaft, Ernährung (!), Reichswehr und Luftfahrt, die preußischen Ministerien für Kultus und Inneres, die Oberste SA-Führung, der Verbindungsstab von Rudolf Heß, der „Bund Deutscher Osten", der „Reichsstand der deutschen Industrie" und die „Wehrwissenschaftliche Gesellschaft" im Beirat vertreten waren. Auch die Osteuropa-Institute in Breslau, Königsberg und Danzig erhielten Sitz und Stimme. Unter den Einzelpersonen finden wir die Professoren Auhagen, Sering, Stählin, Vasmer, Wiedenfeld und Zeiss, dazu Botschafter Dirksen, den Königsberger Satrapen Erich Koch, Oberstleutnant Oskar von Niedermayer und Konsul Jonas. Die aktiven Anhänger des Hitlerstaates überwogen die Mitläufer bei weitem; vier Beiratssitze wurden von Militärs eingenommen. Das Präsidium, nunmehr nur noch dekorativ, sollte weiterhin aus Curtius, Hoetzsch und Schumacher, der im Januar 1933 Sering als Vizepräsidenten abgelöst hatte, bestehen. Der Beirat trat schon 1934 mehrfach zusammen, nachweislich am 8. November und 6. Dezember. Er kontrollierte die Tätigkeit der Gesellschaft und erteilte Richtlinien. Auf einer dieser Beratungen sprach der „Reichsführer" des „Bundes Deutscher Osten", Theodor Oberländer, über „Die Erfahrungen seiner letzten Ostreise und über Fragen der Ostarbeit". Ungeachtet der vollzogenen Gleichschaltung spielte die „Deutsche Gesellschaft zum 15

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W. Markert, Das Studium Osteuropas als wissenschaftliche und politische Aufgabe. In: Osteuropa, 1933/1934, S. 395-401. Unser reduziert in ihrem Beitrag, besonders S. 598, die eindeutigen faschistischen Bekenntnisse des nach 1945 in der BRD wieder maßgebenden „Sowjetexperten" Markert und anderer Autoren auf terminologische Zugeständnisse, die unter Anpassungszwang zustande gekommen seien und den „rein wissenschaftlichen Charakter" der Zeitschrift bis 1939 gewährleistet hätten! Die Anwendung dieses altbekannten Verfahrens war nichts als ein verspäteter Versuch, neofaschistischen Kräften in der BRD zu erhöhter Reputation zu verhelfen. Von den führenden Ideologen der NPD ist Peter Kleist aus der faschistischen Osteuropa-Gesellschaft der Vorkriegsjahre hervorgegangen. Enthalten in ZStAM, Rep. 76, Vc, Sekt. 1, Tit. 11, Teil I, Nr. 26 C. Unser bemerkt S. 592 (mit Quellenangabe), daß Mitte 1935, also nach Hoetzschs Entlassung, besonders das faschistische Reichskriegsministcrium am Fortbestand der Gesellschaft und ihrer Zeitschrift interessiert gewesen sei.

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Studium Osteuropas" in den Jahren der faschistischen Diktatur keine wesentliche Rolle. Die Berliner Kopfstelle beschränkte sich auf die Herausgabe der Zeitschrift, die bis 1939 erschien, auf einige Vorträge und Diskussionsabende in loser Folge. Der von Curtius 1934 erwogene Plan, den sowjetischen Arktisforscher und Hauptredakteur der Großen Sowjet-Enzyklopädie, 0 . J u . Smidt, sowie N. J a . Marr zu Vorträgen zu verpflichten, wurde nicht verwirklicht. Nach dem deutsch-polnischen Nichtangriffsvertrag von 1934 orientierte sich die Gesellschaft auf das östliche Nachbarland; eine in der B R D 1963 erschienene Gedenkschrift gibt dieses Bemühen bombastisch als „Beitrag der Gesellschaft zu einem grundlegenden Wandel der deutsch-polnischen wissenschaftlichen und kulturellen Beziehungen" aus. 17 Es fanden einige Vorträge polnischer Professoren statt, darunter des Warschauer Historikers Oskar Halecki, der seinen Arbeiten die Idee von der Rolle Polens als einer Vormauer der Christenheit zugrunde legte und in Berlin über den Begriff der osteuropäischen Geschichte sprach. Hoetzsch begleitete die Schwenkung zum Arbeitsgebiet Polen mit der Herausgabe eines Sammelbandes eigener Artikel. 18 Er enthielt fünf schon früher veröffentlichte Aufsätze, darunter die Arbeit über Russisch-Turkestan (1913) und den im hakatistischen Geist verfaßten Beitrag über das deutsch-polnische Verhältnis seit 1772 (1913), ferner die Nachrufe auf Platonov, Pokrovskij und Brockdorff-Rantzau sowie zwei neu geschriebene Artikel, die den Beziehungen Brandenburg-Preußens zu Polen von 1640 bis 1815 bzw. dem Thema „Der deutsche Osten in Geschichte und Gegenwart" galten. Der letztgenannte Aufsatz trug konzeptionellen Charakter. Er stand im Zusammenhang mit einer damals von der bürgerlichen Osteuropahistoriographie international geführten Diskussion, die 1932 durch einen Vortrag des Prager deutschen Historikers Josef Pfitzner eingeleitet worden war 19 und dem Begriff „osteuropäische Geschichte" galt. Pfitzner hatte den Versuch unternommen, eine Gesamtgeschichte Osteuropas unter dem Hauptaspekt des Verhältnisses der Slawen zur westeuropäischen „abendländischen" Kultur zu skizzieren. Er legte seinen Ansichten die in der deutschen Ostforschung seit langem ausgearbeitete Theorie der fortschreitenden Europäisierung Osteuropas zugrunde und kam zu dem chauvinistischen Schluß, daß es keine gemeinsame Geschichte der Slawen, sondern nur ein in sich abgestuftes gemeinsames rezeptives Verhalten zu den „abendländischen Hochkulturformen" gebe. Die Diskussion wurde dann auf dem VII. Internationalen Historikerkongreß fortgesetzt, der im August 1933 in Warschau tagte. In der stark besuchten Osteuropa-Sektion legte der tschechoslowakische Historiker Bidlo in einem großangelegten Referat auf der Basis bürgerlicher Kulturkreistheorien seine Gedanken über die osteuropäische Geschichte als einer von der oströmisch-byzantinischen Kultur her bestimmten Einheit dar. 20 Es entwickelte 17 18

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Fünfzig J a h r e Osteuropa-Studien, a. a. 0 . , S. 24. Hoetzsch, Osteuropa und Deutscher Osten. Kleine Schriften zu ihrer Geschichte, Berlin/ Königsberg 1934. J . Pfitzner, Die Geschichte Osteuropas und die Geschichte des Slawentums als Forschungsproblem. I n : Historische Zeitschrift, Bd. 150, 1934, S. 21-85. Verkürzte Wiedergabe in der Zeitschrift für osteuropäische Geschichte, 1934, S. 89-92. J . Bidlo, Was ist osteuropäische Geschichte? I n : Slavische Rundschau, 1933, S. 361-370; ders., Bemerkungen zur Verteidigung meiner Konzeption der Geschichte der slavischcn Völker. I n : Bulletin d'information des sciences historiques en Europa Orientale, VI, Nr. 3/4, Warschau 1934, S. 95-119. Wiedergabe des Vortrags v o m Warschauer Kongreß in der Zeitschrift für osteuropäische Geschichte, 1934, S. 92-100.

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sich eine lebhafte Aussprache, in der Handelsman und Halecki die eigene Bedeutung Polens hervorhoben und der Emigrant P. Savickij den „eurasischen" Standpunkt verteidigte. Hoetzsch, der auf dem Kongreß bereits einen der ausführlichsten Vorträge gehalten hatte 21 , antwortete mit Bemerkungen, die er dann zu dem erwähnten Aufsatz erweiterte22. Nach dem Eingeständnis, daß sich Polen seit 1919 nicht als der erwartete „Saison-Staat" erwiesen habe, sondern im Gegenteil ein bedeutsamer Faktor der europäischen Politik sei, erfüllt von einer starken Tendenz zur nationalen Einheit und zur außenpolitischen Unabhängigkeit, kam Hoetzsch auf Begriffsbestimmungen zu sprechen. Er grenzte sich von Pfitzner und Bidlo ab und verwarf auch den von der revanchistischen deutschen Historiographie in Mode gebrachten Begriff „Ostmitteleuropa", der nicht ausreiche, um die Trennungslinie zwischen Randstaatengürtel und Sowjetunion zu kennzeichnen. Hoetzsch stellte, wie bereits früher, mit Entschiedenheit fest, daß es sich bei der gesamten slawischen Welt geschichtlich und kulturell um einen Teil Europas handele. Er hob die Entstehung der Nationen und ihrer staatlichen Individualitäten als wichtigsten Ansatzpunkt für die Betrachtung der osteuropäischen Geschichte hervor. Territorial steckte er, wie schon 1913, das kontinentale Gebiet zwischen Elbe und Ural mit der südlichen Begrenzungslinie Erzgebirge - Sudeten - Karpathen - Donaumündung als Osteuropa ab, wobei er eine gewisse Willkür bei der geographischen Bestimmung geschichtlicher Vorgänge einräumte. Die Vergangenheit der slawischen Völker auf diesem Territorium in ihrer Wechselwirkung mit der deutschen Ostexpansion, dem osmanisch-islamischen Druck von Süden und der tataro-mongolischen Invasion von Osten mache den Inhalt der osteuropäischen Geschichte aus. Hoetzsch schrieb, daß sich gegen einen solchen „Versuch einer Begriffsbestimmung und Begrenzung Osteuropas" zwar viel einwenden lasse, daß er aber allen wichtigen Gesichtspunkten des Historikers zu ihrem Recht verhelfe: „Rasse und Raum, Wanderung und Siedlung, Volkstum und Staat, Staatsideen, Staatenkämpfe und Staatensystem, Religion, Kultur und Weltanschauung, Rezeption und friedliche Durchdringung, Differenzierung und Integrierung." 23 Dieses methodologische Grundbild besaß gegenüber den starren Schemata von Pfitzner und Bidlo den Vorzug einer gewissen Elastizität. Es war noch immer vorwiegend dem staatlichen Bereich und den außenpolitischen Berührungsflächen zugewandt; die grundlegende materielle Sphäre der Gesellschaft und die Rolle der Volksbewegungen berücksichtigte es kaum. Hoetzsch entwertete dieses allgemeine Bild in entscheidender Weise, indem er ihm den Begriff des „deutschen Ostens" einordnete mit der für die imperialistische Ostforschung typischen Dreistaffelung in das ausschließlich deutsch besiedelte Gebiet, in eine Zone deutsch-slawischer „Gemengelage" und in den Raum der deutschen „Kulturausstrahlung". Hoetzsch machte sich somit die imperialistische These vom Volks- und Kulturboden zu eigen, die sich in den Händen der Faschisten als Aggressionshebel erwies.24 Er heroisierte die bäuerliche Ost-

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Hoetzsch, Föderalismus und Fürstengewalt (Absolutismus) in der Geschichte Osteuropas vom 16. bis 18. Jahrhundert. Ebenda, 1934, S. 1-38. Hoetzsch, Der deutsche Osten in Geschichte und Gegenwart. In: Osteuropa und Deutscher Osten, a. a. 0., S. 390-431. Ebenda, S. 399. Vgl. G. Voigt, Aufgaben und Funktion der Osteuropa-Studien in der Weimarer Republik, a. a. 0., S. 388-390.

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kolonisalion als „Großtat des deutschen Volkes", beschwor die Erinnerung an den Ordensstaat und zog von hier aus die obligate Linie zum preußischen Staat Friedrichs II. und zum deutschen Kaiserreich von 1871. Hoetzschs Sammelband wurde in der Zeitschrift „Nation und Staat" just zum Zeitpunkt seiner Entlassung mit sehr lobenden Beiworten versehen. 25 Der Rezensent sprach von tiefschürfenden Untersuchungen und nannte Hoetzsch einen gewissenhaften Historiker, sogar einen abgeklärten Staatsmann. Theodor Schieder stimmte seine Antwort auf einen anderen Ton. In der revanchistischen Monatsschrift „Volk und Reich" kritisierte er, daß Hoetzsch die vom „Bund Deutscher Osten" geprägte Formel von der „einheitlichen deutschen Ostfront", die von Tilsit bis Passau reiche, nicht übernommen lmbe.26 Die Anleihen beim Faschismus konnten Hoetzsch auf die Dauer vor der Amtsenthebung nicht retten. Zu sehr war sein Name mit der Tradition guter Beziehungen zur UdSSR verbunden. Nachdem seine Kollegen Stählin und Braun bereits im Frühjahr 1933 pensioniert worden waren und sich der Hamburger Ordinarius Salomon in die Emigration retten konnte, war er der letzte führende deutsche Osteuropahistoriker, der noch einen Lehrstuhl innehatte. 27 Die Welle der Entlassungen und personellen Umbesetzungen, die 1935 u. a. zur faschistischen Reorganisation des Breslauer Osteuropa-Instituts und zum Einzug fanatischer Hitleranhänger wie Johannes von Leers, Franz Lüdtke, Theodor Oberländer und Bolko von Richthofen in das Redaktionsgremium der Zeitschrift für osteuropäische Geschichte führte 28 , erreichte jetzt folgerichtig auch Hoetzsch. Eine in der Antikomintern entstandene Zusammenstellung vermeintlicher „Propagandastellen des Kommunismus auf dem Gebiet der Sowjetforschung" hatte bereits 1934 den Namen Hoetzsch mehrmals genannt und die Osteuropa-Gesellschaft als „klassisches Beispiel des Zusammenwirkens aller uns feindlicher Elemente" bezeichnet.282 Eine Art Vorankündigung der Entlassung erschien in einer neuen Zeitschrift des Osteuropa-Instituts Breslau, in der im März 1935 ein Oskar Eugen Günther den reaktionären Deutschbalten Theodor Schiemann als besten Kenner der russischen Geschichte bezeichnete und „alle jene" angriff, „die gegenwärtig ohne eigentliche Kenntnis der russischen Geschichte den Bolschewismus wie eine geschichtlich abstrakte Erscheinung betrachten".281' Es kann als sicher gelten, daß der Schlag gegen Hoetzsch von dem Kreis um Taubert, Ehrt und Greife, also aus dem faschistischen Propaganda25

Nation und Staat, 1934/1935, S. 553. Volk und Reich, 1934, S. 958-960. 27 Hoetzsch war im April 1933 Nachfolger Stählins als Ordinarius geworden; Vorgänge im Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin, Philosophische Fakultät, Dekanat (vor 1945), Nr. 1477. - Kritisch über die Rolle der faschistischen Ostforschung urteilt W. Philipp, Nationalsozialismus und Ostwissenschaften. In: Nationalsozialismus und die deutsche Universität. Universitätstage 1966, (West-)Berlin 1966, S. 43-62. 28 Als Symbolfiguren für die Kontinuität der imperialistischen Osteuropaforschung waren auch Manfred Laubert (Breslau) und Walter Recke, der langjährige Leiter des OstlandInstituts in Danzig, für das Redaktionsgremium benannt worden. 28:1 Bundesarchiv Koblenz, NS 43, Nr. 17, ungezeichnete und undatierte Zusammenstellung verdächtiger Institutionen und Personen; durch Vergleiche mit anderen Schriftstücken auf 1934 datierbar. -sb 0. E. Günther, Ostraum-Forschung. In: Ostraum-Berichte, hg. v. Osteuropa-Institut Breslau, 1935, S. 1-7. 26

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ministerium und dessen angeschlossenen Institutionen, geführt wurde. Am 14. Mai 1935 teilte Vahlen schriftlich in schneidender Kälte Hoetzsch mit, daß er auf Grund von § 6 des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" und mit Wirkung vom 1. September 1935 aus dem Lehrkörper der Berliner Universität entlassen sei.29 Nach den Worten des sowjetischen Historikers A. S. Erusalimslcij war dieses Ereignis, zeitlich kurz nach cler Vertreibung Hermann Onckens von der Berliner Universität, ein für die politische Situation an den faschistischen Hochschulen charakteristischer Vorgang. Erusalimskij nannte in der „Pravda" Hoetzsch einen bürgerlichen Historiker und Politiker aus dem nationalistischen Lager, der die Oktoberrevolution und den Weg der UdSSR zum Aufbau des Sozialismus zwar nicht verstanden habe, der aber die Tatsachen aufmerksam zur Kenntnis nahm und aus ihnen, wie der sowjetische Historiker aus Gesprächen mit Hoetzsch bestätigte, eigene interessante Teilerkenntnisse abzuleiten verstand. 30 Erusalimskij berief sich auf die „Neue Zürcher Zeitung", die Hoetzsch ein „Opfer der vorherrschenden antirussischen Tendenzen in der nationalsozialistischen Politik" genannt hatte. Hoetzsch selbst war der Schritt der Machthaber unerwartet gekommen. Er verzichtete sofort auf seinen Posten in der Osteuropa-Gesellschaft, legte die Leitung ihrer Zeitschrift nieder und beendete seine Lehrtätigkeit an der Universität. Auch aus dem Fachorgan für osteuropäische Geschichte, das 1936 sein Erscheinen wieder einstellte, schied er aus. Obgleich kein Publikationsverbot ausgesprochen wurde, waren seine Möglichkeiten nunmehr aufs äußerste beschnitten. Die „Hochschule für Politik" hatte er bereits in den ersten Monaten nach der faschistischen Machtübernahme verlassen. Der Versuch, mit Hilfe des Botschafters Dodd eine Gastprofessur an der Universität Chicago zu erhalten, scheiterte.31 Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes erklärten Hoetzsch, daß niemand im Ausland Vorträge über politische Themen nach 1914 zu halten habe, andernfalls er sich die Konsequenzen selbst zuschreiben müsse. Dodd, selbst Historiker, trug im Januar 1936 in sein Tagebuch ein, daß Hoetzsch auch nicht objektiv genug sei, um an einer amerikanischen Universität über deutsche und internationale Außenpolitik, etwa aus der Zeit von 1865 bis 1915, zu lesen. Der Entlassung folgte eine Kette von Diffamierungen und Maßregelungen. Ihr Zweck war es, in der deutschen Öffentlichkeit die mit dem Namen Hoetzsch verknüpfte Auf23

Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin, Universitätskurator, Personalia II. 363 (Hoetzsch). Die Darstellung bei W. Laqueur, Deutschland und Rußland, (West-)Berlin 1965, ist chronologisch unrichtig.

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A. S. Erusalimskij, Cy^tSanpo