Wissenschaft und Politik: Der Fall des Münchner Historikers Ulrich Crämer (1907–1992) [1 ed.] 9783428518616, 9783428118618

Im Jahr 1940 hatte es der schon früh zur nationalsozialistischen Bewegung gestoßene Historiker Ulrich Crämer geschafft:

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German Pages 482 [486] Year 2006

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Wissenschaft und Politik: Der Fall des Münchner Historikers Ulrich Crämer (1907–1992) [1 ed.]
 9783428518616, 9783428118618

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LUDOVICO MAXIMILIANEA Universität Ingolstadt-Landshut-München Forschungen und Quellen Herausgegeben von Laetitia Boehm und Hans-Michael Körner Forschungen Band 21

Wissenschaft und Politik Der Fall des Münchner Historikers Ulrich Crämer (1907 – 1992) Von

Karsten Jedlitschka

a Duncker & Humblot · Berlin

LUDOVICO

MAXIMILIANEA

Universität Ingolstadt-Landshut-München Forschungen u n d Quellen Herausgegeben von Johannes Spörl u n d Laetitia Boehm

Die hiermit eröffnete Münchener universitätsgeschichtliche Reihe fügt sich i n die jüngeren deutschen und internationalen Forschungsbemühungen u m den weiten Komplex

der Hochschul-

und

Wissenschafts-

geschichte. Zweck und Gestaltung beruhen auf einem Desiderat, das heute u m so spürbarer wird, als die Geschichtswissenschaft der letzten Jahrzehnte

zum Teil wesentliche

neue Wege und

Fragestellungen

erarbeitet hat. . . . Nicht nur das bevorstehende 500jährige Jubiläum 1972, sondern primär die derzeitige Forschungssituation machen es dringend notwendig, endlich auch die Geschichte der ältesten bayerischen Landesuniversität u n d ihres Wirkungsradius anzugehen. . . . Diese Publikationsreihe repräsentiert ein auf längere Sicht geplantes Forschungsunternehmen,

das sich auf

eine systematische

verfassungs- u n d wirtschaftshistorischer,

Bearbeitung

wissenschaftsgeschichtlicher,

personen- u n d sozialgeschichtlicher Bezüge der Universität i n den verschiedenen Epochen ihrer Wirksamkeit

bis zur Gegenwart

richtet.

Neben den Monographien w i r d eine dokumentarische Edition zentraler Urkunden u n d A k t e n zur sachlichen und zeitlichen Ergänzung der bisher einzig vorliegenden Dokumentenbände von J. N. Mederer und C. Prantl vorbereitet. Aus dem Geleitwort

der Herausgeber zum ersten Band

KARSTEN JEDLITSCHKA Wissenschaft u n d P o l i t i k

LUDOVICO

MAXIMILIANEA

Universität Ingolstadt-Landshut-München Forschungen u n d Quellen Herausgegeben v o n Laetitia Boehm u n d Hans-Michael K ö r n e r Forschungen B a n d 21

Die Reihe erscheint i m Rahmen der Münchener Universitätsschriften (Abt. Universitätsarchiv München)

Ulrich Crämer

(Foto: T h H S t A , Thüringisches Ministerium für Volksbildung Nr. 4038, Bl. 1)

Wissenschaft u n d P o l i t i k D e r F a l l des M ü n c h n e r Historikers U l r i c h Crämer (1907 - 1992)

Von Karsten Jedlitschka

Duncker & Humblot • Berlin

D i e Philosophische F a k u l t ä t f ü r Geschichts- u n d Kunstwissenschaften der L u d w i g - M a x i m i l i a n s - U n i v e r s i t ä t M ü n c h e n h a t diese A r b e i t i m Jahre 2003 als D i s s e r t a t i o n angenommen.

B i b l i o g r a f i s c h e I n f o r m a t i o n D e r Deutschen B i b l i o t h e k D i e Deutsche B i b l i o t h e k verzeichnet diese P u b l i k a t i o n i n der Deutschen N a t i o n a l b i b l i o g r a f i e ; d e t a i l l i e r t e bibliografische Daten sind i m Internet über abrufbar.

A l l e Rechte v o r b e h a l t e n © 2006 D u n c k e r & H u m b l o t G m b H , B e r l i n Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany I S S N 0720-7662 I S B N 3-428-11861-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 © Internet: http://www.duncker-humblot.de

Parentibus fratri amicisque qui semper me adiuvabant

Zum Geleit Bereits i m Jahre 2000 ist in der Vorstandschaft im Archiv der Ludwig-Maximilians-Universität München ein Wechsel vollzogen worden. M i t dem hier vorgelegten 21. Band der 1971 eröffneten Reihe „Ludovico Maximilianea. Forschungen" fungieren nun der ehemalige und der amtierende Vorstand gemeinsam als Herausgeber dieser Reihe. Die Studie „Wissenschaft und Politik. Der Fall des Münchner Historikers Ulrich Crämer ( 1 9 0 7 - 1 9 9 2 ) " von Karsten Jedlitschka ist als Dissertation bei Herrn Kollegen Winfried Schulze am Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität vorgelegt worden. Nach seiner Tätigkeit i m Deutschen Historischen Institut in Rom hat Herr Dr. Jedlitschka i m Januar 2006 die Leitung des Archivs der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina in Halle angetreten. Seine hiermit der kritischen Öffentlichkeit anvertraute Untersuchung stellt nicht nur das Schicksal einer politisch verstrickten Historiker-Persönlichkeit vor, sondern setzt durch Erschließung großenteils bislang noch unausgewerteter Quellen einen neuen forscherlichen Meilenstein zur Aufarbeitung der Geschichte der Münchener Universität unter dem nationalsozialistischen Regime. Vorliegende Publikation ist überdies in einer zweifachen Perspektive zu sehen. Vor mehr als einem Jahrzehnt ist mit der grundlegenden und auch in Zukunft unverzichtbaren Arbeit von Helmut Böhm „Von der Selbstverwaltung zum Führerprinzip. Die Universität München in den ersten Jahren des Dritten Reiches (1933 - 1936)", die als Band 15 dieser Reihe erschienen ist, ein markanter Eckstein in der Erforschung der Geschichte unserer Universität in der NS-Zeit gesetzt worden; daran konnte die Untersuchung von Herrn Jedlitschka anschließen. Gleichzeitig ist sie im Kontext eines neuen Aufbruchs zu sehen, der diesem Aspekt bei der Erforschung der Geschichte unserer Universität gesteigerte Energien zuwies und neue Horizonte eröffnete. Getragen vom Engagement der Hochschulleitung, wofür den Rektoren Prof. Dr. Andreas Heldrich und Prof. Dr. Bernd Huber aufrichtig Dank zu sagen ist, und begleitet vom kritischen Interesse der Öffentlichkeit und der Medien, befindet sich derzeit eine Fülle von Projekten und Initiativen auf dem Weg, die, angestoßen und koordiniert von Prof. Dr. Elisabeth Kraus, das B i l d von unserer Universität in der Zeit des Nationalsozialismus korrigieren und präzisieren werden. München, i m Februar 2006 Die Herausgeber der Ludovico Maximilianea Prof. Dr. Laetitia

Boehm

Prof. Dr. Hans-Michael

Körner

Vorstand des Universitätsarchivs

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommer 2003 von der Philosophischen Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation angenommen. Für die Drucklegung wurde sie geringfügig überarbeitet. Zum Gelingen hat eine Vielzahl von Personen beigetragen. Hier ist der Ort Ihnen Dank zu sagen. Allen voran ist hier mein Doktorvater, Professor Winfried Schulze, zu nennen. M i t neugieriger Diskussionsbereitschaft, kritischen Anregungen und unruhiger Geduld hat er meine Forschungen begleitet, mir dabei stets ein großes Maß an Freiraum belassen. Bedanken möchte ich mich auch bei Professor Martin H. Geyer, der interessiert das Zweitgutachten erstellt hat. Den Herausgebern, Professor Laetitia Boehm und Professor Hans-Michael Körner, danke ich für die Aufnahme in die Reihe Ludovico Maximilianea. Eine von materiellen Sorgen unbeschwerte Zeit hat mir ein Promotionsstipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes ermöglicht, die mich bereits während meines Studiums und meines Aufenthalts an der Princeton University großzügig gefördert, durch Akademien, Kolloquien und interdisziplinären Austausch vielfältig bereichert und in ihrem Geist nachhaltig geprägt hat. Ihr und meinen beiden Münchner Vertrauensdozenten, den Professoren T i l l von Egidy und Reinhard Lorenz, gilt mein aufrichtiger Dank. Für aufmerksame Gesprächsbereitschaft und kritische Kommentare habe ich zu danken den Professoren Thomas A . Brady, Jr. und Daniel W. Wilson (Berkeley), Harold James (Princeton), Wolfgang Reinhard (Freiburg) und Ferdinand Kramer (München). Ganz besonderer Dank für anregende Diskussionen, wertvolle Hinweise und sorgfältige Lektüre gebührt Markus Friedrich, Rainer Jedlitschka, Anke Löbnitz und Mitra Sharafi. Meine Eltern haben mich wie schon im Studium auch durch die Zeit des Promovierens mit großer Anteilnahme und freundlichem Verständnis begleitet. Auch ihnen sei an dieser Stelle ganz herzlich gedankt. Rom, i m Dezember 2005

Karsten Jedlitschka

Inhalt Einleitung

17

1. Jugend und Studienjahre. Sozialisation im Zeichen bündisch-völkischer Prägung ( 1 9 0 7 - 1 9 2 9 )

33

2. Nationalsozialismus als Chance. Karriere durch die Nähe zur Macht ( 1 9 3 0 1936)

45

2.1 Weimar. I m Dienste zweier Herren: „Carl-August-Werk" und Einsatz für die „nationale Revolution" ( 1 9 3 0 - 1933)

45

2.2 Berlin. Politikberater der braunen Macht: Referent für die „Reichsreform" (1934/1935)

55

2.3 Jena. Akademische Karriere an der Thüringischen „Trutz-Universität" ( 1 9 3 4 1936)

63

2.4 Erste Spannungen im „Carl-August-Werk"

75

2.5 Dienst mit der Feder. Crämers „Politische Schriftstellerei"

80

2.5.1 „Nationalsozialismus und Philosophie"

81

2.5.2 „Führer und Gefolgschaft in der deutschen Geschichte"

86

2.5.3 Zusammenfassung

91

2.6 Weimar - Berlin - Jena. Stationen des SS-Intellektuellen

94

3. München. Höhepunkt der akademischen Karriere in der „Hauptstadt der Bewegung" (1936 - 1 9 4 5 )

97

3.1 Die Vorgeschichte. Der „Fall Oncken" und die Folgen - Ein Lehrstück nationalsozialistischer Hochschulpolitik

99

3.1.1 Die Besetzung der Ordinariate in Berlin und München. Personalpolitische Symbiose zwischen Karl Alexander von Müller und Walter Frank

99

3.1.2 Karl Alexander von Müller - „Aushängeschild des Dritten Reiches"

107

3.1.3 Interimslösung: Staatsarchivrat Eugen Franz

114

3.2 Machtprobe in München. Der Kampf um die Berufung 3.2.1 Der Konkurrent: Walter Frank und sein Kandidat Kleophanes Pleyer

117 117

3.2.2 Karl Alexander von Müller und sein Berufungsvorschlag: „Geheimrat" versus „Heißsporn"

121

3.2.3 Resümee. Walter Frank und Karl Alexander von Müller - personalpolitische Symbiose unter Vorbehalt

128

12

Inhalt 3.3 Die Vertretungszeit an der Münchner Universität

131

3.3.1 Blick in den Abgrund: Die Überprüfung durch die „Reichsstelle für Sippenforschung"

131

3.3.2 Bewährung im Dienste des „Dritten Reiches" 3.3.2.1 Rezensent

der

„Parteiamtlichen

Prüfungskommission

138 zum

Schutze des Nationalsozialistischen Schrifttums" (PPK)

139

3.3.2.1.1 Organisation und Zensurkompetenzen. Politische Zweckmäßigkeit statt ideologischer Fanatismus

141

3.3.2.1.2 Wenig Lob und harsche Rügen - Die Zensurarbeit des parteiamtlichen Lektors

149

3.3.2.1.3 Resümee

158

3.3.2.2 Herausgeber und Rezensent der Geschichtslehrerzeitschrift „Vergangenheit und Gegenwart" 3.3.2.3 Gutachter im Auftrag der SS: Der Fall Hans Joachim Beyer

160 168

3.3.3 Konflikt zwischen Mandarin und Experte. Crämers Ausscheiden aus dem „Carl-August-Werk" 3.4 Professor von Hitlers Gnaden. Die Berufung auf das Münchner Ordinariat

171 175

4. Crämers Schrifttum. Historia magistra vitae - Politikberatung als ,Rückwärtsgewandter Prophet' 184 4.1. Die Reichsstadt Straßburg und verwandte Themen 4.2 Synthese Weimar - Potsdam. Arbeiten zum Zeitalter des Absolutismus

184 188

4.2.1 Studien im Umfeld des „Carl-August-Werkes"

188

4.2.2 Preußischer Absolutismus und Nationalsozialistischer Staat

191

4.2.3 Zusammenfassung

198

4.3 Konzept einer volksgeschichtlichen Geopolitik

199

4.3.1 Deutsche „Geopolitik" und „Volksgeschichte" nach dem Ersten Weltkrieg

199

4.3.2 Crämers Überlegungen zu einer „Geopolitik Deutschlands"

205

4.3.3 Zusammenfassung

225

4.4 Der Historiker als Politikberater. Grundlinien der Crämerschen Geschichtsinterpretation

226

5. Ende des „Dritten Reiches"-Ende einer Karriere (1945-1950) 5.1 Internierung und Entnazifizierung 5.2 Self-made-man

233 233

in der Wiederaufbaugesellschaft. Der steinige Weg vom Töpfer

zum Verlagslektor

243

Inhalt 6. Exkurs. Neue Hoffnung - Der „Verband der nicht-amtierenden (amtsverdrängten) Hochschullehrer"

252

6.1 Gründung und Profil im Kontext der Neuorganisation von Beamten- und Hochschulverbänden

252

6.2 Bayern und der Kampf der „Amtsverdrängten". Der Bayerische Landesverband des V N A H

257

6.2.1 Aus der Not eine Tugend. Vom amtsenthobenen Professor zum gefragten Rechtsgutachter und Kommentator - Der Erlanger Staatsrechtler Max Wenzel

258

6.2.2 Mission vor dem Bundesverfassungsgericht - Die Nürnberger Anwältin Helene Wenzel

266

6.2.3 Lobbyist aus Berufung - Der Erlanger Verbandsvorsitzende Rupprecht Matthaei

271

6.2.4 Zwischen Sympathie und Distanz - Das Bayerische Kultusministerium . . . 6.3 Resümee und Ausblick

279 285

7. Comeback? ( 1 9 5 1 - 1 9 5 9 )

292

7.1 Ein unerwünschter Bewerber. Rückkehrversuche nach München

292

7.2 Werke aus der Nachkriegszeit

298

7.2.1 Flucht in die Provinz. Crämers Allgäu-Studien

299

7.2.2 Nachspiel. Ulrich Crämer und das „Carl-August-Werk"

307

7.2.3 Resümee

316

8. Gerichtlicher K a m p f mit Universität und Ministerium ( 1 9 6 0 - 1 9 6 5 )

318

9. Die Causa Crämer. „Akademische Vergangenheitspolitik" in Bayern

331

9.1 Wille zur Aufarbeitung? Das Verhalten von Universität, Ministerien Gerichten 9.2 Helfer in der Not? Personen und Motive

und 331 343

9.2.1 Rupprecht Matthaei und das Ehepaar Wenzel

343

9.2.2 Karl Alexander von Müller

343

9.2.3 Hans Rheinfelder

349

9.3 Resümee - „Akademische Vergangenheitspolitik" und ihre Grenzen

358

10. Brockhaus und Homer. Refugium und Weltabkehr (1966 - 1 9 9 2 )

361

Schlussbetrachtung

371

Anhang: Kurzbiographien

390

Quellen- und Literaturverzeichnis

405

Personenregister

477

Abkürzungen a.o. (Prof.)

außerordentlicher (Professor)

apl. (Prof.)

außerplanmäßiger (Professor)

AfK

Archiv für Kulturgeschichte

AHR

American Historical Review

Anm.

Anmerkung

APuZ

Aus Politik und Zeitgeschichte

Art.

Artikel

AWRK

Archiv der Westdeutschen Rektorenkonferenz

BayG 131

Bayerisches Gesetz zu Artikel 131 Grundgesetz

BayHStA

Bayerisches Hauptstaatsarchiv München

Bd., Bde

Band, Bände

BDC

Berlin Document Center

B D C OPG

Berlin Document Center, Oberstes Parteigericht

B D C PK

Berlin Document Center, Parteikanzlei

BefrG

Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus

BHE

Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten

Bl.

Blatt

BP

Bayernpartei

BRD

Bundesrepublik Deutschland

BVerfG

Bundesverfassungsgericht

BVerfGE

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

BVerfGG

Bundesverfassungsgerichtsgesetz

BVG

Bayerisches Verwaltungsgericht

C.I.C.

Counter Intelligence Corps

CSU

Christlich Soziale Union

DAG

Deutsch-Akademische Gildenschaft

DBE

Deutsche Biographische Enzyklopädie

Ders., Dies.

Derselbe, Dieselbe

DFG

Deutsche Forschungsgemeinschaft

DVjs

Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte

FAZ

Frankfurter Allgemeine Zeitung

FDP

Freie Demokratische Partei

FM

Bayerisches Staatsministerium der Finanzen

G 131

Gesetz zu Artikel 131 Grundgesetz

Gestapo

Geheime Staatspolizei

Abkürzungen GG

Grundgesetz

GjB

Goethe-Jahrbuch

GuG

Geschichte und Gesellschaft

GWU

Geschichte in Wissenschaft und Unterricht

Hg.

Herausgeber

hg.v.

herausgegeben von

HJB

Historisches Jahrbuch

HPB

Das Historisch-Politische Buch

HZ

Historische Zeitschrift

Ibid.

Ibidem

JfA

Jahrbuch für Antisemitismusforschung

JMH

The Journal of Modern History

k.w.

künftig wegfallend

KM

Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus

KZ

Konzentrationslager

MinD

Ministerialdirektor

MinR

Ministerialrat

MIÖG

Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung

NDB

Neue Deutsche Biographie

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

NL

Nachlass

NSDAP

Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei

NSDDB

Nationalsozialistischer Deutscher Dozentenbund

NSDStB

Nationalsozialistischer Deutscher Studentenbund

NSLB

Nationalsozialistischer Lehrerbund

o. (Prof.)

ordentlich(er) (Professor)

Pg.

Parteigenosse (Mitglied der NSDAP)

Phil. Fak.

Philosophische Fakultät

PPK

15

Parteiamtliche Prüfungskommission zum Schutze des nationalsozialistischen Schrifttums

REM

Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung

RfS

Reichsstelle für Sippenforschung

RKK

Reichskulturkammer

RMdl

Reichs- und Preußisches Ministerium des Inneren

RSHA

Reichssicherheitshauptamt

RuS

Rasse- und Siedlungsamt

RuSHA

Rasse- und Siedlungshauptamt

S.

Seite

SA

Sturmabteilung

SBZ

Sowjetische Besatzungszone

SD

Sicherheitsdienst

SoSe

Sommersemester

Abkürzungen SS

Schutzstaffel

SZ

Süddeutsche Zeitung

ThHStA

Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar

ThMV

Thüringisches Ministerium für Volksbildung

TU

Technische Universität

UAE

Universitätsarchiv Erlangen

UAJ

Universitätsarchiv Jena

UAM

Universitätsarchiv München

Univ.

Universität

VfZ

Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte

VNAH

Verband der nicht-amtierenden (amtsverdrängten) Hochschullehrer

VuG

Vergangenheit und Gegenwart. Zeitschrift für Geschichtsunterricht und politische Erziehung

WRK

Westdeutsche Rektorenkonferenz

WS

Wintersemester

z. B.

zum Beispiel

ZBLG

Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte

ZfG

Zeitschrift für Geschichtswissenschaft

ZfGP

Zeitschrift für Geopolitik

ZfO

Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung

ZGO

Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins

Zit., zit.

Zitat, zitiert

Einleitung „ W i r werden das wahrhaftig nicht mit dem Gedanken der Gerechtigkeit übereinstimmende Ergebnis erleben, dass hier ein Mann [ . . . ] alle Ansprüche als Beamter verliert, obwohl er doch sicherlich mit keiner Zeile seines Werkes dem NS Vorschub geleistet hat, während andere, die das nicht von sich sagen können, in hohen und höchsten Ämtern unseres Staates sitzen." 1 So klagte die Nürnberger Rechtsanwältin Helene Wenzel im Februar 1963 über das Los ihres Mandanten, des Münchner Neuzeithistorikers Ulrich Crämer. M i t ihrer Prophezeiung behielt sie Recht. Zwei Jahre später endete der jahrelange Streit des ehemaligen Professors mit der Niederlage vor dem Bundesverwaltungsgericht. I m Jahr 1940 war Crämer 3 3j ährig auf den Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Geschichte an die Ludwig-Maximilians-Universität München berufen worden. Der Jenaer Historiker, der früh zur SA und SS gestoßen war und sich als Referent im Reichsinnenministerium einen Namen gemacht hatte, übernahm das Münchner Ordinariat als Wunschkandidat seines Vorgängers, des Präsidenten der Bayerischen Akademie der Wissenschaften von Müller. Nach dem Ende des „Dritten Reiches" wurden politische Vergangenheit und Karriere in der Diktatur zum Stolperstein. Crämer wurde seiner Professur enthoben und zwei Jahre lang interniert. Obgleich er in den anschließenden Jahren beständig seine berufliche Rehabilitierung forderte, musste er sich nach mehr als einem Jahrzehnt des Kampfes geschlagen geben. Die Rückkehr ins akademische Lehramt war ihm damit endgültig verwehrt. Anhand des Lebensweges Crämers soll eine deutsche Historikerkarriere in diesem so wechselvollen 20. Jahrhundert exemplarisch dargestellt werden. Crämer dient als „geologische Bohrsonde" 2 , um - vom biographischen Kern ausgehend sein Umfeld, Institutionen wie Personen, mit in den Blick zu nehmen.

Fragestellung und Methode Der sich in den sechziger und siebziger Jahren neu orientierenden Geschichtswissenschaft galt das Genre der Biographie als überholt. I m Zeichen sozial- und strukturgeschichtlicher Fragestellungen stieß die Beschäftigung mit dem Lebens1

Bayerisches Hauptstaatsarchiv München (BayHStA) Nachlass Karl Alexander von M ü l ler ( N L v. Müller) 413, Brief der Rechtsanwältin Dr. Helene Wenzel an Karl Alexander von Müller 21. 2. 1963. 2 Hagen Schulze: Die Biographie in der „Krise der Geschichtswissenschaft", in: G W U 29 (1978), S. 5 0 8 - 5 1 8 , hier S. 513.

2 Jcdlitschka

Einleitung

18

w e g e i n z e l n e r Personen a u f w e n i g Interesse, galt als m e t h o d i s c h d e f i z i t ä r u n d n i c h t m e h r z e i t g e m ä ß . 3 Z u B e g i n n der a c h t z i g e r Jahre setzte j e d o c h e i n W a n d e l i n der W e r t s c h ä t z u n g der h i s t o r i s c h e n B i o g r a p h i k e i n 4 , d i e i n j ü n g s t e r Z e i t geradezu zu e i n e r Renaissance des b i o g r a p h i s c h e n Ansatzes g e f ü h r t h a t . 5 D i e s e R ü c k k e h r z u m I n d i v i d u e l l e n ist als R e a k t i o n zu verstehen, u m d i e „ z u m T e i l m e n s c h e n l e e r g e w o r denen

Strukturlandschaften

der

Gesellschaftsgeschichte"

H e u t e besteht - b e i n u r w e n i g e n k r i t i s c h e n G e g e n s t i m m e n

wieder 7

zu

beleben.6

- E i n i g k e i t über d i e

V o r t e i l e eines b i o g r a p h i s c h e n Z u g r i f f s f ü r d i e h i s t o r i s c h e F o r s c h u n g . 8 D e n n d i e moderne Biographie vermag durch die Verbindung von biographischer Konkretion m i t s t r u k t u r e l l e n G e n e r a l i s i e r u n g e n eine w i c h t i g e M i t t l e r r o l l e z w i s c h e n

Mikro-

u n d M a k r o h i s t o r i e e i n z u n e h m e n . Sie k a n n s o w o h l „ s u b j e k t i v e n " als a u c h s t r u k t u 3 Vgl. dazu den Überblick bei Olaf Hähner: Historische Biographik, Frankfurt a.M. u. a. 1999, S. 1 - 1 4 . Weiter Gerhard Hirscher: Die Biographie in der Diskussion der Geschichtswissenschaften, in: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 17 (1989), S. 1 1 4 - 123; Erich Zöllner: Bemerkungen zu österreichischen historischen Biographien 1 9 4 5 - 1991, in: M I Ö G 100 (1992), S. 4 3 2 - 4 5 4 . 4 Lothar Gall: Bismarck - Der weiße Revolutionär, Berlin 1980; Hagen Schulze: Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung, Frankfurt a.M. 1981; Christian Meier: Caesar, Berlin 1982; Hans-Peter Schwarz: Adenauer. Der Aufstieg: 1 8 7 6 - 1952, Stuttgart 1986. 5 Siehe dazu beispielsweise Gerald D. Feldman: Hugo Stinnes. Biographie eines Industriellen, München 1998; Margit Szöllösi-Janze: Fritz Haber 1868-1934. Eine Biographie, München 1998; Ian Kershaw: Hitler. 1889-1936, Stuttgart 1998; ders.: Hitler 1936-1945, Stuttgart 2000; Lutz Hachmeister: Schleyer. Eine deutsche Geschichte, München 2004; Lothar Gall: Der Bankier Hermann Josef Abs. Eine Biographie, München 2004. 6

Hans Günter Hockerts: Zeitgeschichte in Deutschland. Begriff, Methoden, Themenfelder, in: HJB 113 (1993), S. 9 8 - 127, Zitat S. 117. Vgl. dazu auch Otto Gerhard Oexle: Geschichte als historische Kulturwissenschaft, in: Wolfgang Hardtwig / Hans-Ulrich Wehler (Hgg.): Kulturgeschichte Heute, Göttingen 1996, S. 1 4 - 4 0 , hier S. 14/ 15. 7

Pierre Bourdieu: Die biographische Illusion, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung 1 (1990), S. 7 5 - 8 1 . 8 Z u den methodischen Kautelen und der Diskussion über die Gattung Biographie Andreas Gestrich: Einleitung: Sozialhistorische Biographieforschung, in: Andreas Gestrich / Peter K n o c h / H e l g a Merkel: Biographie - sozialgeschichtlich, Göttingen 1988, S. 5 - 2 8 ; Hans Jörg von Berlepsch: Die Wiederentdeckung des „wirklichen Menschen" in der Geschichte. Neue biographische Literatur, in: Archiv für Sozialgeschichte 29 (1989), S. 4 8 8 - 5 1 0 ; Ernst Engelberg/Hans Schleier: Zur Geschichte und Theorie der historischen Biographie, in: ZfG 38 (1990), S. 1 9 5 - 2 1 7 ; Christoph Gradmann: Geschichte, Fiktion und Erfahrung - kritische Anmerkungen zur neuerlichen Aktualität der historischen Biographie, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 17 (1992), S. 1 - 1 6 . Siehe weiter die einleitenden Bemerkungen bei Friedrich Lenger: Werner Sombart 1863-1941, München 1994, S. 1 3 - 16 und Szöllösi-Janze: Fritz Haber, S. 9 - 15. Als kenntnisreiche Bilanz vgl. Hähner: Historische Biographik und Christian Klein: Einleitung: Biographik zwischen Theorie und Praxis. Versuch einer Bestandsaufnahme, in: ders. (Hg.): Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens, Stuttgart 2002, S. 1 - 2 2 . Siehe zudem die Überlegungen bei Oliver Braun: Ein biographisches Projekt als methodischer Hürdenlauf. Person und politisches Weltbild des CSU-Politikers Alois Hundhammer ( 1 9 0 0 - 1 9 7 4 ) , in: Geschichte und Region 11 (2002), Heft 1, S. 11 - 36, hier S. 1 8 - 2 6 und Ernst Opgenoorth: Biographie und historische (Liberalismus-) Forschung, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 15 (2003), S. 1 1 - 2 2 .

Einleitung

19

r e l l e n A s p e k t e n z u i h r e m R e c h t v e r h e l f e n . 9 N e u e r e S t u d i e n haben e i n d r u c k s v o l l belegt, dass d i e p a r a d i g m a t i s c h e D a r s t e l l u n g a u s g e w ä h l t e r F i g u r e n eine zuverlässige B a s i s f ü r generalisierende F o l g e r u n g e n u n d d i e E n t w i c k l u n g w e i t e r r e i c h e n d e r A u s s a g e n z u d e n sozialen u n d g e i s t i g e n Prozessen der Z e i t i s t . 1 0 A u c h i n der Wissenschafts- u n d insbesondere H i s t o r i o g r a p h i e g e s c h i c h t e erfreut sich d i e b i o g r a p h i s c h e G a t t u n g i n d e n letzten Jahren z u n e h m e n d e r B e l i e b t h e i t . 1 1 H i e r hat besonders d i e S e k t i o n „ D e u t s c h e H i s t o r i k e r i m N a t i o n a l s o z i a l i s m u s " a u f d e m F r a n k f u r t e r H i s t o r i k e r t a g i m Jahr 1998 e i n e n w i c h t i g e n I m p u l s gegeben. D o r t w a r i n t e i l w e i s e e m o t i o n a l e r D e b a t t e d i e p o l i t i s c h e V e r g a n g e n h e i t später bedeutender b u n d e s r e p u b l i k a n i s c h e r H i s t o r i k e r w i e T h e o d o r Schieder oder W e r n e r C o n z e d i s k u t i e r t w o r d e n . 1 2 I n d i e s e m Z u s a m m e n h a n g stellte m a n insbesondere d i e Frage,

9 Hähner: Historische Biographik, S. 3 0 - 3 3 ; Berlepsch: Die Wiederentdeckung des „wirklichen Menschen", S. 4 9 1 / 4 9 2 ; Gestrich: Einleitung: Sozialhistorische Biographieforschung, S. 11/12. 10 Siehe dazu die Maßstäbe setzenden Arbeiten von Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903-1989, 2. Aufl. Bonn 1996; Lutz Hachmeister: Der Gegnerforscher. Die Karriere des SS-Führers Franz Alfred Six, München 1998 und Michael Wildt: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002. Vgl. daneben die Überlegungen bei Edgar Wolfrum: Die Geschichte der Bundesrepublik anhand von Biographien. Heinrich Lübke, Carlo Schmid, Thomas Dehler, Franz Josef Strauß, Ludwig Erhard, in: ZfG 46 (1998), S. 4 0 - 5 4 . 11 Thomas Hertfelder: Franz Schnabel und die deutsche Geschichtswissenschaft. Geschichtsschreibung zwischen Historismus und Kulturkritik ( 1 9 1 0 - 1 9 4 5 ) , Göttingen 1998; Christoph Cornelißen: Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2001; Thomas Etzemüller: Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Umorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, München 2001. M i t einigen methodischen Mängeln Matthias Steinbach: Des Königs Biograph: Alexander Cartellieri ( 1 8 6 7 - 1955), Frankfurt a.M. u. a. 2001. Zur Einordnung siehe Margit Szöllösi-Janze: Lebens-Geschichte - Wissenschafts-Geschichte. Vom Nutzen der Biographie für Geschichtswissenschaft und Wissenschaftsgeschichte, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 23 (2000), S. 1 7 - 3 5 und Wolfgang Höppner: Mehrfachperspektivierung versus Ideologiekritik. Ein Diskussionsbeitrag zur Methodik der Wissenschaftsgeschichtsschreibung, in: Zeitschrift für Germanistik N.F. 5 (1995), S. 6 2 4 - 6 3 3 . 12

Zum regen Pressecho siehe Paul Burgard: Die unfrohe Wissenschaft, in: SZ vom 14.9. 1998, S. 13; Christian Schwenkmaier: „ A u c h Historiker haben eine Vergangenheit". Interview mit dem Geschichtswissenschaftler Hans-Ulrich Wehler über die NS-Verstrickungen seiner Zunft, in: SZ vom 19./20. 12. 1998, S. 16; Hans-Ulrich Wehler: In den Fußstapfen der kämpfenden Wissenschaft. Braune Erde an den Schuhen: Haben Historiker wie Theodor Schieder sich nach dem Krieg von ihrer Vergangenheit ganz verabschiedet?, in: FAZ vom 4. 1. 1999, S. 48. Die Beiträge der Sektion sind publiziert in den Sammelband Winfried Schulze/Otto Gerhard Oexle (Hgg.): Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1999. Weiter Johannes Fried: Eröffnungsrede zum 42. Deutschen Historikertag, in: ZfG 46 (1998), S. 8 6 9 - 8 7 4 ; Winfried Schulze: Vergangenheit und Gegenwart der Historiker, in: G W U 50 (1999), S. 6 7 - 7 3 ; Werner Lausecker: Bericht über einige Wahrnehmungen. Zur Sektion „Deutsche Historiker im Nationalsozialismus" am Deutschen Historikertag 1998 in Frankfurt am Main, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 10 (1999), 5. 1 4 7 - 1 5 6 ; Claus Leggewie: M i t l e i d mit Doktorvätern oder: Wissenschaftsgeschichte in Biographien, in: Merkur 53 (1999), S. 4 3 3 - 4 4 4 ; Michael Grüttner: Das Scheitern der Vor2*

20

Einleitung

w i e W i s s e n s c h a f t u n d U n i v e r s i t ä t e n m i t i h r e r n a t i o n a l s o z i a l i s t i s c h e n Vergangenheit u m g e g a n g e n w a r e n . D i e w e i t verbreitete B e r e i t s c h a f t z u m g n ä d i g e n Vergessen u n d a b s i c h t s v o l l e n V e r d r ä n g e n hatte i m N a c h k r i e g s d e u t s c h l a n d erneute K a r r i e r e n e r m ö g l i c h t , f ü r d i e der F a l l des früheren R e k t o r s der A a c h e n e r U n i v e r s i t ä t u n d e h e m a l i g e n S S - H a u p t s t u r m f ü h r e r s H a n s Ernst S c h n e i d e r alias S c h w e r t e e i n besonders skandalöses B e i s p i e l d a r s t e l l t . 1 3 D i e als F o l g e des H i s t o r i k e r t a g e s i n verschied e n e n B e i t r ä g e n sehr p o i n t i e r t vorgetragenen D e u t u n g e n haben z u e i n e r w e i t e r e n E m o t i o n a l i s i e r u n g der D e b a t t e i n n e r h a l b der h i s t o r i s c h e n Z u n f t geführt.

Diese

T e n d e n z hatte sich bereits i n der v o r d e m H i s t o r i k e r t a g g e f ü h r t e n K o n t r o v e r s e u m d i e V e r g a n g e n h e i t des H i s t o r i k e r s K a r l D i e t r i c h E r d m a n n a b g e z e i c h n e t . 1 4 I m Streit u m d i e Person H a n s R o t h f e l s ' hat sie i n j ü n g s t e r Z e i t e i n e n v o r l ä u f i g e n H ö h e p u n k t e r r e i c h t . 1 5 V o r d i e s e m H i n t e r g r u n d s i n d eine R e i h e v o n b i o g r a p h i s c h e n S t u d i e n z u r denker. Deutsche Hochschullehrer und der Nationalsozialismus, in: ders. / Rüdiger Hachtmann / Hans-Gerhard Haupt (Hgg.): Geschichte und Emanzipation. Festschrift für Reinhard Rürup, Frankfurt a . M . / N e w York 1999, S. 4 5 8 - 4 8 1 . 13 Zu den heftigen Debatten im Fall „Schneider/Schwerte" vgl. Claus Leggewie: Von Schneider zu Schwerte. Das ungewöhnliche Leben eines Mannes, der aus der Geschichte lernen wollte, München 1998; Peter Teppe: Überwindung - Wandlung - Anpassung - Tarnung? Arbeit am Fall Schneider/Schwerte, in: Wilfried L o t h / B e r n d - A . Rusinek (Hgg.): Verwandlungspolitik. NS-Eliten in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, Frankfurt a.M. 1998, S. 1 9 7 - 2 4 5 ; Helmut K ö n i g / W o l f g a n g Kuhlmann/Klaus Schwabe (Hgg.): Vertuschte Vergangenheit. Der Fall Schwerte und die NS-Vergangenheit der deutschen Hochschulen, München 1997; L u d w i g Jäger: Seitenwechsel. Der Fall Schneider/Schwerte und die Diskretion der Germanistik, München 1998; Joachim Lerchenmüller/Gerd Simon: Masken Wechsel. Wie der SS-Hauptsturmführer Schneider zum BRD-Hochschulrektor Schwerte wurde und andere Geschichten über die Wendigkeit deutscher Wissenschaft im 20. Jahrhundert, Tübingen 1999. 14 Die Studie von Martin Kröger/Roland Thimme: Die Geschichtsbilder des Historikers Karl Dietrich Erdmann. Vom Dritten Reich zur Bundesrepublik, München 1996 führte zu einer hitzigen Debatte, in der sich vor allem Eberhard Jäckel als Anwalt Erdmanns hervortat. Vgl. dazu: DISKUSSION. Karl Dietrich Erdmann und der Nationalsozialismus. Winfried Schulze, Eberhard Jäckel, Agnes Blänsdorf, in: G W U 48 (1997), S. 2 2 0 - 2 4 1 ; Martin Kröger/Roland Thimme: Karl Dietrich Erdmann im „Dritten Reich". Eine Antwort auf Eberhard Jäckel und Agnes Blänsdorf, in: G W U 48 (1997), S. 4 6 2 - 4 7 8 ; Eberhard Jäckel/Agnes Blänsdorf: Noch einmal zu Karl Dietrich Erdmann. Eine Erwiderung auf Martin Kröger und Roland Thimme, in: G W U 48 (1997), S. 7 4 4 - 7 4 7 ; Martin Kröger: Der Historiker als Mitläufer. Karl Dietrich Erdmann im „Dritten Reich", in: Geschichte in Köln 41 (1997), S. 9 5 - 110; bilanzierend jetzt Martin Kröger/Roland Thimme: Karl Dietrich Erdmann. Utopien und Realitäten, in: ZfG 46 (1998), S. 6 0 2 - 6 2 1 mit einer Zusammenstellung der Kontroversliteratur vor allem aus dem engeren Schüler-Kreis Erdmanns. 15 Heinrich August Winkler: Hans Rothfels - Ein Lobredner Hitlers? Quellenkritische Bemerkungen zu Ingo Haars Buch „Historiker im Nationalsozialismus", in: V f Z 49 (2001), S. 6 4 3 - 6 5 2 ; Ingo Haar: Quellenkritik oder Kritik der Quellen? Replik auf Heinrich August Winkler, in: V f Z 50 (2002), S. 4 9 7 - 5 0 5 ; Heinrich August Winkler: Geschichtswissenschaft oder Geschichtsklitterung? Ingo Haar und Hans Rothfels: Eine Erwiderung, in: V f Z 50 (2002), S. 6 3 5 - 6 5 2 . Vgl. dazu Karl Heinz Roth: Hans Rothfels: Geschichtspolitische Doktrinen im Wandel der Zeiten. Weimar - NS-Diktatur - Bundesrepublik, in: ZfG 49 (2001), S. 1061 - 1 0 7 3 . Siehe weiter die Tagungen am Centre Marc Bloch in Berlin am 15. 7. 2003 (Der Historiker Hans Rothfels (1891 - 1 9 7 6 ) - ein „Wanderer zwischen den Welten"?) und

Einleitung R o l l e e i n z e l n e r H i s t o r i k e r i m N a t i o n a l s o z i a l i s m u s i n A n g r i f f g e n o m m e n b z w . bereits v o r g e l e g t w o r d e n , d i e dabei s o w o h l d i e Z e i t v o r 1933 als a u c h n a c h 1945 m i t e i n b e z i e h e n . 1 6 D i e v o r l i e g e n d e U n t e r s u c h u n g versteht sich als B e i t r a g zu dieser Forschungsdiskussion. M e t h o d i s c h o r i e n t i e r t sich d i e A r b e i t an d e m v o n W o l f g a n g W e b e r e n t w i c k e l t e n Konzept einer „Historiographiesozialgeschichte". Ausgehend v o n den Erkenntnissen der W i s s e n s - u n d W i s s e n s c h a f t s s o z i o l o g i e , d i e d e n E i n f l u s s v o n sozialen, p o l i tischen und ökonomischen Faktoren auf Wissen und Wissenschaft

untersucht17,

fordert W e b e r i m S i n n e e i n e r „ S o z i a l g e s c h i c h t e der G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t " eine verstärkte B e r ü c k s i c h t i g u n g

lebensweltlicher Bezüge für Karriere und

wissen-

s c h a f t l i c h e P r o d u k t i o n v o n H i s t o r i k e r n . 1 8 W i e f r u c h t b a r eine solche P e r s p e k t i v e

dem Institut für Zeitgeschichte München am 16./ 17. 7. 2003 (Hans Rothfels und die deutsche Zeitgeschichte). Dazu Johannes Hürter/Hans Woller (Hgg.): Hans Rothfels und die deutsche Zeitgeschichte, München 2005. 16 Cornelißen: Gerhard Ritter; Etzemüller: Sozialgeschichte als politische Geschichte; Manfred Messerschmidt: Karl Dietrich Erdmann, Walter Bußmann und Percy Ernst Schramm. Historiker an der Front und in den Oberkommandos der Wehrmacht und des Heeres, in: Hartmut Lehmann/Otto Gerhard Oexle (Hgg.): Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften. Band 1: Fächer - Milieus - Karrieren, Göttingen 2004, S. 4 1 7 - 4 4 3 ; Eduard Mühle: Hermann Aubin, der,Deutsche Osten' und der Nationalsozialismus. Deutungen eines akademischen Wirkens im Dritten Reich, in: Hartmut Lehmann / O t t o Gerhard Oexle (Hgg.): Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften. Band 1: Fächer - Milieus - Karrieren, Göttingen 2004, S. 5 3 1 - 5 9 1 ; Anne Christine Nagel: „ M i t dem Herzen, dem Willen und dem Verstand dabei": Herbert Grundmann und der Nationalsozialismus, in: Hartmut Lehmann/ Otto Gerhard Oexle (Hgg.): Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften. Band 1: Fächer - Milieus - Karrieren, Göttingen 2004, S. 5 9 3 - 6 1 8 . Derzeit sind Biographien u. a. über Hermann Aubin, Max Hildebert Boehm, Erich Maschke, Hans Rothfels, Theodor Schieder und Reinhard Wittram im Entstehen. Vgl. Hans-Christian Petersen: „Ostforscher"-Biographien. Ein Workshop der Abteilung für Osteuropäische Geschichte der Universität Kiel und der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Malente 1 3 . - 1 5 . Juli 2001, in: ZfG 49 (2001), S. 8 2 7 - 8 2 9 ; Ulrich Prehn: M i t der biographischen Sonde ins „Herz der Bestie" vorstoßen? Ein Bericht über den Workshop „Ostforscher"-Biographien, veranstaltet von der Abteilung für Osteuropäische Geschichte der Universität Kiel und der deutschen Forschungsgemeinschaft in Malente vom 1 3 . - 1 5 . Juli 2001, in: WerkstattGeschichte 10 (2001), S. 8 4 - 8 7 ; Rudolf Jaworski/Hans-Christian Petersen: Biographische Aspekte der „Ostforschung". Überlegungen zu Forschungsstand und Methodik, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung 15 (2002), S. 4 7 - 6 2 . 17

Einen Überblick bieten die Sammelbände von Volker M e j a / N i c o Stehr (Hgg.): Wissenssoziologie, Opladen 1981 und Volker M e j a / N i c o Stehr (Hgg.): Der Streit um die Wissenssoziologie. Erster Band. Die Entwicklung der deutschen Wissenssoziologie, Frankfurt a.M. 1982, darin besonders die Einleitung Volker M e j a / N i c o Stehr: Zum Streit um die Wissenssoziologie, in: ibid., S. 11 - 2 3 . Siehe weiter Volker M e j a / N i c o Stehr: Artikel Wissenssoziologie, in: Gerd Reinhold/Siegfried Lamnek/ Helga Recker (Hgg.): Soziologielexikon, M ü n c h e n / W i e n 1991, S. 6 6 9 - 6 7 2 . Die neueste Bilanz bei Jürgen Ritsert: Ideologie. Theoreme und Probleme der Wissenssoziologie, Münster 2002, S. 2 0 5 - 2 1 3 . 18 Erste Überlegungen bei Wolfgang Weber: Ein Entwurf: Die deutsche Geschichtswissenschaft, in: Wolfgang Reinhard: Freunde und Kreaturen. „Verflechtung" als Konzept zur Erforschung historischer Führungsgruppen. Römische Oligarchie um 1600, München 1979,

22

Einleitung

sein k a n n , hat j ü n g s t d i e S t u d i e v o n T h o m a s E t z e m ü l l e r über W e r n e r C o n z e gez e i g t . 1 9 E n t s p r e c h e n d w i r d auch b e i der B i o g r a p h i e C r ä m e r s diesen

sozialen

A s p e k t e n e i n e r W i s s e n s c h a f t s k a r r i e r e besondere B e a c h t u n g geschenkt w e r d e n . O b g l e i c h i n der D a r s t e l l u n g s e l b s t v e r s t ä n d l i c h der L e b e n s w e g C r ä m e r s d i e zentrale A c h s e b i l d e t u n d so d i e C h r o n o l o g i e d e n S t o f f g l i e d e r t , s i n d d o c h d i e e i n z e l n e n A b s c h n i t t e m i t verschiedenen, sich m i t u n t e r auch ü b e r l a g e r n d e n

Themen-

s c h w e r p u n k t e n besetzt. I m S i n n e e i n e r e x e m p l a r i s c h e n B i o g r a p h i e s o l l d i e R e k o n s t r u k t i o n der k o n k r e t e n B i o g r a p h i e m i t a n a l y t i s c h e n u n d systematisierenden E l e m e n t e n der I n t e r p r e t a t i o n v e r k n ü p f t w e r d e n . D a b e i w i r d d i e A r b e i t v o n d e n f o l g e n d e n sieben F r a g e k o m p l e x e n geleitet. ( 1 ) C r ä m e r s studentische S o z i a l i s a t i o n u n d w i s s e n s c h a f t l i c h e K a r r i e r e

sollen

n i c h t n u r als T e i l der B i o g r a p h i e dargestellt, sondern a u c h i n H i n s i c h t a u f spezifische g e n e r a t i o n e l l e P r ä g u n g e n u n d M u s t e r untersucht w e r d e n . N e u e r e F o r s c h u n g e n haben d e u t l i c h g e m a c h t , m i t w e l c h e m G e w i n n eine solche P e r s p e k t i v e unter d e m L e i t b e g r i f f der „ G e n e r a t i o n " v e r f o l g t w e r d e n k a n n . 2 0

S. 7 7 - 8 1 . Diesen Ansatz hat Weber dann erfolgreich angewendet (Wolfgang Weber: Priester der Klio. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien zur Herkunft und Karriere deutscher Historiker und zur Geschichte der Geschichtswissenschaft 1 8 0 0 - 1970, Frankfurt a.M. 1984) und in weiteren Veröffentlichungen ausdifferenziert: Wolfgang Weber: Vermessung der Historiographie. Historiographiegeschichte und Sozialgeschichte der Geschichtswissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Ein Forschungsvorhaben im Rahmen des Sonderforschungsprogramms ,Wissenschaftsforschung' der Deutschen Forschungsgemeinschaft, in: Jahrbuch der historischen Forschung 1992, S. 3 4 - 3 8 ; ders.: Sozialgeschichtliche Aspekte des historiographischen Wandels 1 8 8 0 - 1945, in: Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Ernst Schulin (Hgg.): Geschichtsdiskurs. Band 4: Krisenbewußtsein, Katastrophenerfahrungen und Innovationen 1 8 8 0 - 1945, Frankfurt a.M. 1997, S. 9 0 - 107, hier besonders S. 9 0 - 9 3 . Vgl. dazu auch die ähnlichen Überlegungen bei Rüdiger vom Bruch: Historiographiegeschichte als Sozialgeschichte. Geschichtswissenschaft und Gesellschaftswissenschaft, in: Wolfgang Küttler/ Jörn Rüsen/Ernst Schulin (Hgg.): Geschichtsdiskurs. Band 1: Grundlagen und Methoden der Historiographiegeschichte, Frankfurt a.M. 1993, S. 2 5 7 - 2 7 0 und Ernst Schulin: Synthesen der Historiographiesgeschichte, in: Konrad H. Jarausch / Jörn Rüsen/Hans Schleier (Hgg.): Geschichtswissenschaft vor 2000. Perspektiven der Historiographiegeschichte, Geschichtstheorie, Sozial- und Kulturgeschichte. Festschrift für Georg Iggers zum 65. Geburtstag, Hagen 1991, S. 1 5 1 - 1 6 3 . 19 Etzemüller hat sich bei seinem Ansatz an Webers Überlegungen orientiert und diese entsprechend seiner spezifischen Fragestellung noch weiter theoretisch differenziert. Vgl. Etzemüller: Sozialgeschichte als politische Geschichte, S. 1 - 2 0 , hier besonders S. 9, 16. Eine knappe Zusammenfassung bei Thomas Etzemüller: Kontinuität und Adaption eines Denkstils. Werner Conzes intellektueller Übertritt in die Nachkriegszeit, in: Bernd Weisbrod (Hg): Akademische Vergangenheitspolitik. Beiträge zur Wissenschaftskultur der Nachkriegszeit, Göttingen 2002, S. 1 2 3 - 146. Siehe dazu auch die positive Besprechung bei Christoph Cornelißen: Auftakt zur Historisierung der Sozialgeschichte in der Bundesrepublik, in: N P L 47 (2002), S. 1 8 5 - 1 9 2 . Schließlich ist auch unter Hinweis auf die Diskursanalyse Michel Foucaults für eine stärkere Beachtung lebensweltlicher Faktoren in der Wissenschaftsgeschichte plädiert worden (Michael Maset: Diskurs, Macht und Geschichte. Foucaults Analysetechniken und die historische Forschung, Frankfurt a.M. 2002, S. 1 1 3 - 1 6 0 , besonders S. 151-160).

Einleitung (2) Daran anknüpfend wird bei der Interpretation von Crämers Publikationen darauf zu achten sein, inwieweit er auf Grund seiner spezifischen Prägungen bestimmten Fragestellungen und Trends folgte und inwiefern in seinen Arbeiten programmatische Züge zu beobachten sind. Dabei wird für die Nachkriegszeit zudem analysiert, ob und wie er in seinem Werk den Übergang von der nationalsozialistischen Diktatur in die junge Bundesrepublik wissenschaftlich verarbeitet hat. (3) Bezogen auf sein Werk, aber auch auf seine Karriere i m „Dritten Reich" wird die Verbindung zwischen Wissenschaft und Politik, also der Grad der Kooperation bzw. Kollaboration eines Wissenschaftlers mit dem nationalsozialistischen Regime herausgearbeitet. Wie zu zeigen sein wird, ist Crämer als ein Prototyp jener „Experten" anzusehen, die sich als „Politikberater" bereitwillig und vorauseilend den neuen Machthabern zur Verfügung stellten, um die damit verbundenen Karrierechancen wahrzunehmen. (4) Daneben werden anhand des Falles Crämer Mechanismen und Charakteristika der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik analysiert. Die Arbeit leistet damit einen Beitrag zur Modifizierung der Forschungskontroverse, „ob es sich bei der NS-Diktatur um ein zielgerichtetes, totalitäres und monokratisches oder um ein von Fall zu Fall improvisierendes polykratisches Herrschaftssystem konkurrierender Personen- und Machtgruppen handelt" 2 1 . Es gilt die These zu erhärten, dass die Rivalität der hochschulambitionierten Institutionen und Personen bei fehlender Kompetenzabgrenzung die Herausbildung lokaler Machtzirkel begünstigte (polykratische Elemente), die ihren Einfluss maßgeblich aus dem persönlichem Zugang zur nationalsozialistischen Führungsspitze bezogen (monokratische Elemente)? 2 20 Vgl. dazu v.a. die Arbeiten von Herbert: Best und Wildt: Generation des Unbedingten. Weiter Andreas Schulz: Individuum und Generation - Identitätsbildung im 19. und 20. Jahrhundert, in: G W U 52 (2001), S. 4 0 6 - 4 1 4 ; Andreas Schulz/Gundula Grebner: Generation und Geschichte. Zur Renaissance eines umstrittenen Forschungskonzeptes, in: dies. (Hgg.): Generationswechsel und historischer Wandel, München 2003, S. 1 - 2 3 ; Jürgen Reulecke (Hg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003. 21 Horst Möller: Zeitgeschichte. Fragestellungen, Interpretationen, Kontroversen, APuZ B 2 / 8 8 , S. 3 - 16, Zitat S. 8.

in:

22 Zur Kontroverse zwischen „Polykratie" und „Monokratie" vgl. die Überblicke bei Klaus Hildebrand: Das Dritte Reich, 5. Aufl. München 1995, S. 1 3 5 - 1 4 3 , 1 7 8 - 1 8 8 , 1 8 9 - 2 0 8 und Ulrich von Hehl: Nationalsozialistische Herrschaft, 2. Aufl. München 2001, S. 6 0 - 6 6 . Die Gegenüberstellung der Positionen der Hauptkontrahenten findet sich in einem Sammelband dargestellt, in dem die Beiträge einer Tagung des Deutschen Historischen Instituts in London abgedruckt wurden: Gerhard Hirschfeld/Lothar Kettenacker (Hgg.): Der „Führerstaat": Mythos und Realität. Studien zur Struktur und Politik des Dritten Reiches, Stuttgart 1981, S. 4 3 - 7 2 [Position Hans Mommsens] und S. 7 3 - 9 6 [Position Klaus Hildebrands]. Ein ausführlicher Abriss findet sich bei Ian Kershaw: Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick, Reinbeck bei Hamburg 1989, S. 1 2 5 - 164, die historiographische Ergründung des Begriffes „Polykratie" bei Peter Hüttenberger: Nationalsozialistische Polykratie, in: GuG 2 (1976), S. 4 1 7 - 4 4 2 . Den neuesten Stand bieten Michael Ruck: Führerabsolutismus und polykratisches Herrschaftsgefüge - Verfassungsstrukturen des NS-Staates, in: Karl Dietrich Bracher /Manfred Funke / Hans-Adolf Jacobsen (Hgg.):

24

Einleitung

Ein Anliegen der Arbeit ist es ferner, am Beispiel Münchens für den Bereich der nationalsozialistischen Hochschulpolitik nachzuweisen, dass diese polykratischen Strukturen für die erfolgreiche Infiltration des akademischen Hoheitsraumes geradezu funktional waren und die zu konstatierenden Abstufungen in der Zustimmung zum Regime bzw. die fehlende totale Gleichschaltung der Universitäten nicht etwa als Ausdruck gelungener Resistenz gewertet werden dürfen. (5) Aus dieser Fragestellung ergibt sich auch die Notwendigkeit, institutionellen und personellen Netzwerken an der Münchner Universität und i m Hochschulwesen allgemein nachzuspüren. 23 Informelle „Seilschaften" und Kartelle waren eine wesentliche Größe i m von polykratischer Zerklüftung geprägten nationalsozialistischen Verwaltungsalltag. Sie waren das „soziale K a p i t a l " 2 4 , das regimenahen Wissenschaftlern wie Crämer in diesem darwinistisehen Konkurrenzsystem Halt gab, Karrieren ermöglichte oder aber verhinderte. 25 Auch für die Nachkriegszeit wird die Untersuchung von informellen Netzwerken wie offiziellen Interessenvertretungen und Verbänden breiten Raum einnehmen. Hier werden bislang im Dunkeln gebliebene Aspekte der Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte erstmals ausgeleuchtet. In diesem Zusammenhang stellt die Arbeit eine Reihe für die Universitäts- und Lokalgeschichte bedeutender Personen neu vor oder ergänzt bzw. korrigiert ihre Biographie in wesentlichen Zügen. Zu erwähnen sind insbesondere die Historiker W i l l y Andreas, Walter Frank, Kleophanes Pleyer und Karl Alexander von Müller, der Germanist Hans Tümmler, das Juristenehepaar Max und Helene Wenzel, der Mediziner Rupprecht Matthaei und der Romanist Hans Rheinfelder. 2 6

Deutschland 1 9 3 3 - 4 5 . Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, 2. Aufl. Bonn 1993, S. 3 2 - 5 6 ; ders.: Zentralismus und Regionalgewalten im Herrschaftsgefüge des NSStaates, in: Horst Möller/Andreas Wirsching/Walter Ziegler (Hgg.): Nationalsozialismus in der Region, München 1996, S. 9 9 - 1 2 2 und Joachim Rohlfes: Der Nationalsozialismus - ein Hitlerismus?, in: G W U 48 (1997), S. 135-150. 23 Die Erforschung solcher Netzwerke ist unlängst auch von Winfried Schulze gefordert worden. Vgl. das Interview in Rüdiger H o h l s / K o n r a d H. Jarausch (Hgg.): Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus, Stuttgart / München 2000, S. 4 0 4 - 4 3 4 , hier S. 432/433. 24 Zum Begriff des „sozialen Kapitals" als „Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind" siehe Pierre Bourdieu: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Reinhard Kreckel (Hg.): Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983, S. 1 8 3 - 1 9 8 , hier S. 1 9 0 - 195. 25 Vgl. dazu die Überlegungen bei Rainer Paris: Solidarische Beutezüge. Zur Theorie der Seilschaft, in: Merkur 45 (1991), S. 1167-1174. Eine aktuelle Bilanz bietet die Studie von Mark Häberlein: Brüder, Freunde und Betrüger, Berlin 1998. Weiter Madeleine Herren: „ D i e Erweiterung des Wissens beruht auf dem Kontakt mit der Außenwelt." Wissenschaftliche Netzwerke in historischer Perspektive, in: ZfG 49 (2001), S. 1 9 7 - 2 0 7 . Wolfgang Reinhard hat in anderem Zusammenhang auf den analytischen Wert von Verflechtungsanalysen hingewiesen (Reinhard: Freunde und Kreaturen). 26

Siehe dazu auch die Kurzbiographien im Anhang.

Einleitung (6) Da einige Verlagshäuser für den Fall Crämer eine wichtige Rolle spielen, bietet die Biographie zudem neue Erkenntnisse zur Verlagsgeschichte, so z. B. durch die Offenlegung von Netzwerken i m Verlagsbereich und die Analyse der jeweiligen Verlagsprogramme. Gerade die Verlage erfüllten über verschiedene Reihen und Zeitschriften eine wichtige Funktion bei der nationalsozialistischen Durchdringung von Wissenschaft und Universität. Auch die Frage der Kontinuitäten bzw. des Umgangs mit der eigenen Vergangenheit nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches" wird in diesem Zusammenhang thematisiert. (7) Schließlich analysiert die Arbeit, in Anlehnung an das von Norbert Frei etablierte Paradigma der „Vergangenheitspolitik", den Umgang von Universität und Kultusministerium mit der eigenen nationalsozialistischen Vergangenheit als „akademische Vergangenheitspolitik". 27 Für den bayerischen Raum wurde diesen Fragen bislang nicht nachgegangen. Alle diese Dimensionen helfen, den Lebensweg Crämers verstehen und seinen Wert für die historische Forschung einordnen zu können. Die leitenden Fragestellungen finden in der Arbeit insofern ihren Niederschlag, als die personenorientierte Darstellung immer wieder durch exkursartige Abschnitte durchbrochen wird. Deskriptiv-biographische Passagen wechseln mit strukturell-analytischen Teilen. Abschnittsweise eingeschaltete Zwischenresümees arbeiten jeweils zentrale Linien der Interpretation heraus. Aus konzeptionellen Erwägungen wird die Analyse und Interpretation von Crämers wissenschaftlichem Schrifttum in einem eigenen Kapitel ausgegliedert. I m Schlussabschnitt werden dann in einer systematisierenden Zusammenschau alle Aussagedimensionen nochmals aufgegriffen und eine abschließende Gesamtinterpretation unternommen.

Quellenlage und Forschungsstand Obwohl kein Nachlass Crämers vorliegt, ist die Quellenlage günstig. Die wichtigste Grundlage bilden die Personalakten der Universitäten Jena und München sowie der Kultusministerien in Weimar und München. Durch Parallel- und Komplementärüberlieferung konnten Lücken weitestgehend geschlossen werden. Besonders ergiebig waren die beiden Personalakten des bayerischen Kultusministeriums, weil in ihnen sowohl die Unterlagen des Spruchkammerverfahrens 1947/1948 als auch der umfangreiche Schriftverkehr zu Crämers Klage gegen die 27 In seiner grundlegenden Arbeit hat Norbert Frei den Begriff der „Vergangenheitspolitik" als Bezeichnung für ein ganzes Bündel praktisch-politischer Maßnahmen wie Amnestien und Reintegrationsangebote für die politisch Belasteten im Dienste einer Stabilisierung der jungen Bundesrepublik gewählt, der inzwischen als anerkanntes Paradigma der zeitgeschichtlichen Forschung gelten kann (Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der B R D und die NS-Vergangenheit, München 1996). Bernd Weisbrod hat dieses Konzept auf den akademischen Bereich übertragen und damit der zukünftigen Forschung wichtige Impulse geliefert. Vgl. dazu die Beiträge im Sammelband Bernd Weisbrod (Hg): Akademische Vergangenheitspolitik. Beiträge zur Wissenschaftskultur der Nachkriegszeit, Göttingen 2002.

26

Einleitung

Universität aus den Jahren 1960 - 1 9 6 6 überliefert sind. Dieser aus Verwaltungsakten bestehende Quellenbestand konnte durch die Auswertung diverser privater Korrespondenzen wesentlich ergänzt werden. Besonders ertragreich waren hier die Nachlässe der Historiker W i l l y Andreas und Karl Alexander von Müller sowie des Romanisten Hans Rheinfelder. 28 Da die Nachlässe von Müllers und Rheinfelders für die vorliegende Studie erstmalig ausgewertet wurden, konnte eine Vielzahl bislang unbekannter Dokumente einbezogen werden. Für den institutions- und personengeschichtlichen Hintergrund sind neben den Münchner Akten Unterlagen des Bundesarchivs herangezogen worden. Daneben wurden noch eine Reihe kleinerer Bestände in weiteren Archiven ausgewertet. Die heterogene Provenienz der Archivalien bot zusammen mit Crämers Publikationen eine verlässliche Quellenbasis für die vorliegende Studie. Lediglich das Privatleben Crämers muss aus Mangel an entsprechenden Unterlagen etwas blass bleiben. Auch die Literaturlage für die vorliegende Arbeit ist grundsätzlich als günstig zu beurteilen. Obgleich die Person Crämer bislang weitgehend übersehen wurde 2 9 , bieten die Forschungen in diesem sich besonders dynamisch entwickelnden Bereich der Zeitgeschichts- bzw. Wissenschaftsgeschichtsforschung eine solide Grundlage. Allerdings trügt der Eindruck, dass die Beschäftigung mit der Rolle der Historiker i m Nationalsozialismus erst durch den 42. Historikertag in Frankfurt richtig in Gang gekommen sei. Vielmehr war dieser Historikertag das Resultat vorangegangener Forschungen. Denn die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Rolle der Universitäten im Nationalsozialismus hat bereits in der ersten Hälfte der achtziger Jahre eingesetzt. Über den Forschungsstand informieren verschiedene Bilanzen 3 0 , so dass i m Folgenden nur die wichtigsten Titel genannt zu werden 28 Daneben fanden sich auch in den Nachlässen der Historiker Franz Schnabel und Max Spindler, des Indologen Walter Wüst, des Gräzisten Wolfgang Schadewaldt und des Juristen Carl Schmitt wichtige Manuskripte und Korrespondenzen. 29

Eine Ausnahme bildet die Untersuchung von Daniel W. Wilson, die sich bedingt durch die Fragestellung allerdings nur am Rande mit der Person Crämers befasst (Daniel W. W i l son: Tabuzonen um Goethe und seinen Herzog. Heutige Folgen nationalsozialistischer Absolutismuskonzeptionen, in: D V j s 70 (1996), S. 3 9 4 - 4 4 2 ) . Karen Schönwälder (Karen Schönwälder: Historiker und Politik. Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1992) und Ursula Wolf (Ursula Wolf: Litteris et Patriae: Das Janusgesicht der Historie, Stuttgart 1996) ziehen für ihre Studien zwar einige Publikationen Crämers heran, gehen jedoch nicht näher auf seine Person ein. 30 Manfred Funke: Universität und Zeitgeist im Dritten Reich. Eine Betrachtung zum politischen Verhalten von Gelehrten, in: APuZ B 12/ 1986, S. 3 - 1 4 ; Helmut Seier: Die Hochschullehrerschaft im Dritten Reich, in: Klaus Schwabe (Hg.): Deutsche Hochschullehrer als Elite 1915-1945, Boppard 1988, S. 2 4 7 - 2 9 5 , hier S. 2 4 7 - 2 4 9 ; Peter Chroust: Deutsche Universitäten und Nationalsozialismus, Forschungsstand und eine Fallstudie: Karrieremuster und politische Orientierung der Gießener Professorenschaft ( 1 9 1 8 - 1945), in: Jürgen Schriew e r / E d w i n Keiner/Christophe Charle (Hgg.): Sozialer Raum und akademische Kulturen. Studien zur europäischen Hochschul- und Wissenschaftsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1993, S. 6 1 - 1 1 2 , hier S. 6 1 - 8 6 ; ders.: Gießener Universität und Faschismus. Studenten und Hochschullehrer 1918-1945, M ü n s t e r / N e w York 1994, Bd. 1, S. 1 - 3 2 ; Margit Szöllösi-Janze: „ W i r Wissenschaftler bauen m i t " - Universitäten und Wis-

Einleitung brauchen. Für den Bereich der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik sind in erster Linie die Beiträge von Geoffry J. Giles, Reece C. Kelly, Helmut Seier, Horst Möller, Peter Lundgreen, Klaus Schwabe, der Artikel von Hartmut Titze, die neuere Bilanz von Michael Grüttner und ein Sammelband von Renate KniggeTesche zu nennen. 31 Daneben sind in den letzten Jahren eine Reihe von Darstellungen zur Geschichte einzelner Universitäten und Institutionen erschienen. 32 I m

senschaften im Dritten Reich, in: Bernd Sösemann (Hg.): Der Nationalsozialismus und die deutsche Gesellschaft. Einführung und Überblick, Stuttgart/München 2002, S. 1 5 5 - 1 7 1 . Den neuesten Stand, verbunden mit der Formulierung von Forschungsdesiderata, bieten die Beiträge der Sammelbände Rüdiger vom Bruch/Brigitte Kaderas (Hgg.): Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002 und Frank-Rutger Hausmann (Hg.): Die Rolle der Geisteswissenschaften im Dritten Reich 1933 - 1945, München 2002. 31 Geoffry J. Giles: Die Idee der politischen Universität. Hochschulreform nach der Machtergreifung, in: Manfred Heinemann: Erziehung und Schulung im Dritten Reich. Teil 2: Hochschule, Erwachsenenbildung, Stuttgart 1980, S. 5 0 - 6 0 ; Reece C. Kelly: Die gescheiterte nationalsozialistische Personalpolitik und die mißlungene Entwicklung der nationalsozialistischen Hochschulen, in: Manfred Heinemann (Hg.): Erziehung und Schulung im Dritten Reich, Teil 2: Hochschule, Erwachsenenbildung, Stuttgart 1980, S. 6 1 - 7 6 ; Helmut Seier, Helmut: Universität und Hochschulpolitik im nationalsozialistischen Staat, in: Klaus Malettke (Hg.): Der Nationalsozialismus an der Macht: Aspekte nationalsozialistischer Politik und Herrschaft, Göttingen 1984, S. 1 4 3 - 1 6 5 ; ders.: Nationalsozialistisches Wissenschaftsverständnis und Hochschulpolitik, in: Leonore Siegele-Wenschkewitz / Gerda Stuchlik (Hgg.): Hochschule und Nationalsozialismus. Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsbetrieb als Thema der Zeitgeschichte, Frankfurt a.M. 1990, S. 5 - 21; ders.: Die nationalsozialistische Wissenschaftspolitik und das Problem der Hochschulmodernisierung, in: Hochschule und Nationalsozialismus. Referate beim Workshop zur Geschichte der Carolo-Wilhelmina am 5. und 6. Juli 1993, hg.v. Walter Kertz, Braunschweig 1994, S. 5 5 - 6 7 ; Horst M ö l ler: Nationalsozialistische Wissenschaftsideologie, in: Jörg Tröger (Hg.): Hochschule und Wissenschaft im Dritten Reich, Frankfurt a.M. 1984, S. 6 5 - 7 6 ; Peter Lundgreen: Hochschulpolitik und Wissenschaft im Dritten Reich, in: ders.(Hg.): Wissenschaft im Dritten Reich, Frankfurt a.M. 1985, S. 9 - 3 0 ; Klaus Schwabe: Deutsche Hochschullehrer und Hitlers Krieg ( 1 9 3 6 - 1 9 4 0 ) , in: ders./Martin Broszat (Hgg.): Die deutschen Eliten und der Weg in den Zweiten Weltkrieg, München 1989, S. 2 9 1 - 3 3 3 ; Hartmut Titze: Hochschulen, in: Dieter Langewiesche / Heinz-Elmar Tenorth (Hgg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. V: 1 9 1 8 - 1945. Die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Diktatur, München 1989, S. 2 0 9 - 2 4 0 , hier S. 2 2 4 - 2 4 0 ; Michael Grüttner: Wissenschaft, in: Wolfgang Benz/ Hermann Graml /Hermann Weiß (Hgg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus, 2. Aufl. München 1998, S. 1 3 5 - 153; Renate Knigge-Tesche (Hg.): Berater der braunen Macht. Wissenschaft und Wissenschaftler im NS-Staat, Frankfurt a.M. 1999. 32

Als Beispiele einer inzwischen sehr breiten Forschung zur Universitätsgeschichte: Eckhard John/Bernd Martin u. a. (Hgg.): Die Freiburger Universität in der Zeit des Nationalsozialismus, Freiburg 1991; Eckart Krause / Ludwig Huber/Holger Fischer (Hgg): Hochschulalltag im „Dritten Reich". Die Hamburger Universität 1 9 3 3 - 1945, 3 Bde., Hamburg/Berlin 1991; Chroust: Gießener Universität und Faschismus; Hans-Werner Prahl: UNI-Formierung des Geistes. Universität Kiel im Nationalsozialismus, 2 Bde, Bidersdorf 1995; Anne Chr. Nagel (Hg.): Die Philipps-Universität Marburg im Nationalsozialismus. Dokumente zu ihrer Geschichte, Stuttgart 2000; Henrik Eberle: Die Martin-Luther-Universität in der Zeit des Nationalsozialismus 1933-1945, Halle 2002; Steven P. Remy: The Heidelberg Myth: The Nazification and Denazification of a German University, Cambridge Mass./London 2002. Das

28

Einleitung

Zusammenhang mit diesen Untersuchungen hat man auch bald begonnen, die Geschichte einzelner Disziplinen genauer zu untersuchen. Dieser Trend hat inzwischen fast alle geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächer erfasst. 33 ambitionierte Vorhaben Helmut Heibers, eine Gesamtdarstellung deutscher Universitäten unter dem Nationalsozialismus zu erarbeiten, blieb leider ein Torso. Als materialreiches Nachschlagewerk sind die erschienenen Bände jedoch ein unverzichtbares Hilfsmittel (Helmut Heiber: Universität unterm Hakenkreuz. Teil I: Der Professor im Dritten Reich. Bilder aus der akademischen Provinz, München u. a. 1991; ders.: Universität unterm Hakenkreuz, Teil II: Die Kapitulation der Hohen Schulen, Bd. 1, München u. a. 1992; ders.: Universität unterm Hakenkreuz, Teil II: Die Kapitulation der Hohen Schulen, Bd. 2, München u. a. 1994). Einen ersten Bilanzierungsversuch unternimmt Michael Grüttner: Die deutschen Universitäten unter dem Hakenkreuz, in: John Connelly/Michael Grüttner (Hgg): Zwischen Autonomie und Anpassung. Universitäten in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, Paderborn u. a. 2003, S. 6 7 - 100. Grüttner hat zudem eine hilfreiche Zusammenstellung von Kurzbiographien wichtiger Akteuere der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik erarbeitet ( M i chael Grüttner: Biographisches Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik, Heidelberg 2004). Schließlich ist hier der ertragreiche Sammelband von Hartmut Lehmann/ Otto Gerhard Oexle (Hgg.): Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften. Band 1: Fächer - Milieus - Karrieren, Göttingen 2004 zu nennen. Für außeruniversitäre Institutionen liegen vor Frank-Rutger Hausmann: „Deutsche Geisteswissenschaft" im Zweiten Weltkrieg. Die „ A k t i o n Ritterbusch" ( 1 9 4 0 - 1945), Dresden / München 1998; Notker Hammerstein: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Wissenschaftspolitik in Republik und Diktatur, München 1999; Michael Fahlbusch: Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften" von 1931-1945, Baden-Baden 1999; Michael Fahlbusch: Die „Südostdeutsche Forschungsgemeinschaft". Politische Beratung und NS-Volkstumspolitik, in: Winfried Schulze/Otto Gerhard Oexle (Hgg.): Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, München 1999, S. 241 - 2 6 4 ; Doris Kaufmann (Hg.): Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme und Perspektiven der Forschung, Göttingen 2000; FrankRutger Hausmann: „ A u c h im Krieg schweigen die Musen nicht". Die Deutschen Wissenschaftlichen Institute im Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2001; ders.: „Termitenwahn" - Die Bedeutung der Gemeinschaftsforschung für die NS-Wissenschaft, in: Georg Bollenbeck/Clemens Knobloch (Hgg.): Semantischer Umbau der Geisteswissenschaften nach 1933 und 1945, Heidelberg 2001, S. 5 8 - 7 9 ; Ulrike Kohl: Die Präsidenten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Max Planck, Carl Bosch und Albert Vogler zwischen Wissenschaft und Macht, Stuttgart 2002; Hans-Walter Schmuhl: Hirnforschung und Krankenmord. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung 1937-1945, in: V f Z 50 (2002), S. 5 5 9 - 6 0 9 ; Susanne Heim (Hg.): Autarkie und Ostexpansion. Pflanzenzucht und Agrarforschung im Nationalsozialismus, Göttingen 2002. 33 So liegen inzwischen für die Archäologie, Germanistik, Pädagogik, Philosophie, Rechtswissenschaften, Romanistik, Soziologie, Theologie und sogar ausgefallene „Orchideenfächer" wie Keltologie und Musikwissenschaft entsprechende Studien vor. Vgl. jeweils nur beispielhaft: Für die Archäologie Uta Halle: „ D i e Externsteine sind bis auf weiteres germanisch!" Prähistorische Archäologie im Dritten Reich, Bielefeld 2002. Für die Germanistik Joachim Lerchenmüller/Gerd Simon: I m Vorfeld des Massenmordes. Germanistik im Zweiten Weltkrieg, 2. Aufl. Tübingen 1997; Christa Hempel-Küter: Germanistik zwischen 1925 und 1955. Studien zur Welt der Wissenschaft am Beispiel von Hans Pyritz, Berlin 2000. Zur Pädagogik Wolfgang Keim: Erziehung unter der Nazi-Diktatur. Bd. 1: Antidemokratische Potentiale, Machtantritt und Machtdurchsetzung, Darmstadt 1995; Carsten Heinze: Die Pädagogik an der Universität Leipzig in der Zeit des Nationalsozialismus 1 9 3 3 - 1945, Bad Heilbrunn/Obb. 2001. Zur Philosophie Christian Tilitzki: Die deutsche Universitätsphilosophie

Einleitung I n d i e s e m K o n t e x t ist auch schon r e l a t i v f r ü h das Interesse an der V e r g a n g e n h e i t der H i s t o r i k e r als d e n p r o f e s s i o n e l l e n G e s c h i c h t s i n t e r p r e t e n e r w a c h t . D i e ersten S c h r i t t e i n diese R i c h t u n g s i n d M i t t e der sechziger Jahre v o n H e l m u t H e i b e r u n d Ferdinand Werner unternommen w o r d e n . 3 4 Deren Ansätze wurden dann i n einer z w e i t e n W e l l e v o n W o l f g a n g Weber, K l a u s Schreiner, M i c h a e l B u r l e i g h u n d v o r allem Winfried

S c h u l z e neu a u f g e n o m m e n u n d als eigener

Forschungsbereich

e t a b l i e r t . 3 5 I n der F o l g e haben eine R e i h e v o r n e h m l i c h j ü n g e r e r W i s s e n s c h a f t l e r dieses G e b i e t d e t a i l l i e r t vermessen u n d s i n d d a b e i z u g r u n d l e g e n d e n , w e n n a u c h u n t e r s c h i e d l i c h e n N e u b e w e r t u n g e n gelangt. H i e r s i n d i n erster L i n i e d i e A r b e i t e n in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, 2 Bde., Berlin 2002. Zur Rechtswissenschaft Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. 3: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914-1945, München 1999; AnnaMaria Gräfin von Lösch: Der nackte Geist. Die juristische Fakultät der Berliner Universität im Umbruch von 1933, Tübingen 1999; Herwig Schäfer: Juristische Lehre und Forschung an der Reichsuniversität Straßburg 1941 - 1944, Tübingen 1999; Hans-Christof Kraus: Rechtswissenschaftsgeschichte als Zeitgeschichte. Z u einigen neueren Veröffentlichungen, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 4 (2001), S. 2 5 7 - 2 6 2 ; Michael Stolleis: Das Zögern beim Blick in den Spiegel. Die deutsche Rechtswissenschaft nach 1933 und nach 1945, in: Hartmut Lehmann / O t t o Gerhard Oexle (Hgg.): Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften. Band 1: Fächer - Milieus - Karrieren, Göttingen 2004, S. 1 1 - 3 1 . Zur Romanistik Frank-Rutger Hausmann: „ A u s dem Reich der seelischen Hungersnot". Briefe und Dokumente zur romanistischen Fachgeschichte im Dritten Reich, Würzburg 1993; ders.: „ V o m Strudel der Ereignisse verschlungen". Deutsche Romanistik im „Dritten Reich" ( 1 9 3 3 - 4 5 ) , Frankfurt a.M. 2000. Zur Soziologie Carsten Klingemann: Soziologie im Dritten Reich, Baden-Baden 1996; ders.: Moderne Soziologie im Dienst des Nationalsozialismus, in: Lothar Mertens (Hg.): Politischer Systemumbruch als irreversibler Faktor von Modernisierung in der Wissenschaft, Berlin 2001, S. 9 - 3 1 . Zur Theologie Kurt Meier: Die Theologischen Fakultäten im Dritten Reich, B e r l i n / N e w York 1996. Zur Keltologie Joachim Lerchenmüller: ,Keltischer Sprengstoff'. Eine wissenschaftsgeschichtliche Studie über die deutsche Keltologie 1 8 9 0 - 1945, Tübingen 1997; Sabine Heinz (Hg.): Die Deutsche Keltologie und ihre Berliner Gelehrten bis 1945. Beiträge zur internationalen Fachtagung Keltologie an der Friedrich-Wilhelms-Universität vor und während des Nationalsozialismus vom 2 7 . - 2 8 . 03. 1998 an der Humboldt-Universität zu Berlin, Frankfurt a.M. u. a. 1998. Zur Musikwissenschaft Pamela M . Potter: Die deutscheste der Künste. Musikwissenschaft und Gesellschaft von der Weimarer Republik bis zum Ende des Dritten Reiches, Stuttgart 2000. Eine Vielzahl von Tagungen unterstreicht den Forschungstrend. Vgl. die Tagungen „Universitäten und Hochschulen im Nationalsozialismus und in der frühen Nachkriegszeit", 14./ 15. 6. 2002 in Düsseldorf; „Südostforschung im Schatten des Dritten Reiches (1920-1960). Institutionen - Inhalte - Personen, 2 4 . - 2 6 . 10. 2002 in München und die Sektion „Naturwissenschaft im Nationalsozialismus" des 44. Historikertages 2002. 34 Helmut Heiber: Walter Frank und sein Reichsinstitut für die Geschichte des neuen Deutschlands, Stuttgart 1966; Karl Ferdinand Werner: Das NS-Geschichtsbild und die deutsche Geschichtswissenschaft, Stuttgart 1967. 35 Weber: Priester der K l i o ; Klaus Schreiner: Führertum, Rasse, Reich. Wissenschaft von der Geschichte nach der nationalsozialistischen Machtergreifung, in: Peter Lundgreen (Hg.): Wissenschaft im Dritten Reich, Frankfurt a.M. 1985, S. 1 6 3 - 2 5 2 ; Michael Burleigh: Germany Turns Eastwards. A Study of „Ostforschung" in the Third Reich, Cambridge 1988; Winfried Schulze: Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1993 [zuerst 1989]. Die impulsgebende Bedeutung dieser Studie unterstreicht Fritz Fellner (vgl. die Rezension Fritz Fellners, in: M I Ö G 102 (1994), S. 183-186).

30

Einleitung

von Karen Schönwälder, W i l l i Oberkrome, Ursula W o l f , Götz A l y , Ingo Haar und Peter S c h ö t t l e r z u n e n n e n . 3 6 Es w a r e n v o r a l l e m diese S t u d i e n , d i e d i e D e b a t t e z u n e h m e n d i n d i e ( h i s t o r i s c h interessierte) Ö f f e n t l i c h k e i t trugen, was s c h l i e ß l i c h z u r entsprechenden S e k t i o n a u f d e m F r a n k f u r t e r H i s t o r i k e r t a g 1998 führte. W ä h r e n d diese A r b e i t e n eher u n i v e r s i t ä t s - u n d m e t h o d e n g e s c h i c h t l i c h o r i e n t i e r t w a r e n , w ä h l e n d i e neuesten U n t e r s u c h u n g e n m e h r h e i t l i c h d e n b i o g r a p h i s c h e n

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Arbeiten

p r o f i t i e r e n d a v o n , dass auch d i e F r a g e n der E n t n a z i f i z i e r u n g , des N e u b e g i n n s u n d der d a m i t v e r b u n d e n e n p e r s o n e l l e n K o n t i n u i t ä t e n i n W i s s e n s c h a f t u n d H o c h s c h u l e n der B u n d e s r e p u b l i k i n d e n letzten Jahren verstärkt erforscht w u r d e n . 3 7 A u f der 36 Schönwälder: Historiker und Politik. Zu Schönwälders Thesen vgl. weiter auch dies.: „Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften", in: Forum Wissenschaft (1985), S. 2 8 - 3 0 und dies.: „Taking Their Place in the Front-line„(?): German Historians during Nazism and War, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 25 (1996), S. 2 0 5 - 2 1 7 ; Wolf: Litteris et Patriae; W i l l i Oberkrome: Reformansätze in der deutschen Geschichtswissenschaft der Z w i schenkriegszeit, in: Michael Prinz/Rainer Zitelmann (Hgg.): Nationalsozialismus und M o dernisierung, Darmstadt 1991, S. 2 1 6 - 2 3 8 ; ders.: Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1 9 1 8 - 1945, Göttingen 1993. Die zentralen Thesen nochmals pointiert zusammengestellt jetzt bei ders.: Historiker im „Dritten Reich". Zum Stellenwert volkshistorischer Ansätze zwischen klassischer Politik und neuerer Sozialgeschichte, in: G W U 50 (1999), S. 7 4 - 9 8 ; Götz A l y : Rückwärtsgewandte Propheten. Willige Historiker - Bemerkungen in eigener Sache, in: ders.: Macht Geist - Wahn. Kontinuitäten deutschen Denkens, Berlin 1997, S. 1 5 3 - 1 8 3 ; Ingo Haar: „Revisionistische" Historiker und Jugendbewegung: Das Königsberger Beispiel, in: Peter Schöttler (Hg.): Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918-1945, Frankfurt a.M. 1997, S. 5 2 - 103; ders.: Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf ' im Osten, Göttingen 2000; Peter Schöttler: Die historische „Westforschung" zwischen „ A b w e h r k a m p f ' und territorialer Offensive, in: ders. (Hg.): Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918-1945, Frankfurt a.M. 1997, S. 2 0 4 - 2 6 1 ; ders.: Deutsche Historiker im Nationalsozialismus - 10 Thesen, in: Werkstattgeschichte 17 (1997), S. 9 3 - 9 7 . Eine wesentliche, impulsgebende Rolle scheint dabei der Zeitschrift „1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts" zugekommen zu sein, die einige wesentliche Studien zuerst präsentierte, z. B. Manfred Asendorf: Was weiter wirkt. Die ,Ranke-Gesellschaft.Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben', in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 4 (1989), Heft 4, S. 2 9 - 6 1 oder Angelika Ebbinghaus/Karl Heinz Roth (Hgg.): Vorläufer des „Generalplan Ost". Eine Dokumentation über Theodor Schieders Polendenkschrift vom 7. Oktober 1939, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 7 (1992), Heft 1, S. 6 2 - 9 4 . Siehe auch die Forschungsberichte bei Christoph Cornelißen: Geschichtswissenschaft und Politik im Gleichschritt? Zur Geschichte der Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert, in: N P L 42 (1997), S. 2 7 5 - 3 0 9 und Irmlinde Veit-Brause: Eine Disziplin rekonstruiert ihre Geschichte: Geschichte der Geschichtswissenschaft in den 90er Jahren, in: N P L 43 (1998), S. 3 6 - 6 6 . 37 Siehe hierzu Mitchel G. Ash: Verordnete Umbrüche - Konstruierte Kontinuitäten. Zur Entnazifizierung von Wissenschaftlern und Wissenschaften nach 1945, in: ZfG 43 (1995), S. 9 0 3 - 9 2 3 ; ders.: Wissenschaftswandel in Zeiten politischer Umwälzungen: Entwicklungen, Verwicklungen, Abwicklungen, in: Internationale Zeitschrift für Geschichte und Ethik der Naturwissenschaften, Technik und Medizin 3 (1995), S. 1 - 2 1 ; Peter Respondek: Besatzung, Entnazifizierung, Wiederaufbau. Die Universität Münster 1945-1952, Münster 1995; Mathias Beer: Im Spannungsfeld von Politik und Zeitgeschichte. Das Großforschungsprojekt

Einleitung B a s i s dieser i m E n t s t e h e n b e g r i f f e n e n A r b e i t e n w i r d es d a n n m ö g l i c h sein, e i n G e s a m t b i l d der E n t w i c k l u n g deutscher G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t i m „ D r i t t e n R e i c h " u n d i n der f r ü h e n B u n d e s r e p u b l i k zu e n t w e r f e n . T r o t z der starken Resonanz dieses T h e m a s u n d der Z a h l der bereits v o r l i e g e n d e n S t u d i e n , s i n d F o r s c h u n g s l ü c k e n n i c h t zu übersehen. So f e h l t f ü r d i e M ü n c h n e r U n i v e r s i t ä t , d i e als H o c h s c h u l e der „ H a u p t s t a d t der B e w e g u n g " eine besondere R o l l e spielte, b i s l a n g eine verlässliche G e s a m t d a r s t e l l u n g . 3 8 D i e e i n z i g e , v e r t i e f t a r c h i v a l i s c h e Q u e l l e n auswertende A r b e i t v o n H e l m u t B ö h m endet bereits m i t d e m Jahr 1 9 3 6 . 3 9 D a r ü b e r hinaus l i e g e n l e d i g l i c h B e i t r ä g e z u a u s g e w ä h l t e n D i s z i p l i n e n oder Personen v o r . 4 0 D i e s e D e f i z i t e haben a l l e r d i n g s j ü n g s t z u r I n i t i i e r u n g eines P r o j e k t s geführt, das m a n c h e L ü c k e zu schließen v e r s p r i c h t . 4 1

„Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa", in: V f Z 46 (1998), S. 3 4 5 - 3 8 9 ; ders.: Die Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa. Hintergründe - Entstehung - Ergebnis - Wirkung, in: G W U 50 (1999), S. 9 9 - 1 1 7 ; Peter Chroust: Demokratie auf Befehl? Grundzüge der Entnazifizierungspolitik an den deutschen Hochschulen, in: Renate Knigge-Tesche (Hg.): Berater der braunen Macht. Wissenschaft und Wissenschaftler im NS-Staat, Frankfurt a.M. 1999, S. 1 3 3 - 1 4 9 ; Sylvia Paletschek: Entnazifizierung und Universitätsentwicklung in der Nachkriegszeit am Beispiel der Universität Tübingen, in: Rüdiger vom Bruch/Brigitte Kaderas (Hgg.): Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 3 9 3 - 4 0 8 ; Kai Arne Linnemann: Das Erbe der Ostforschung. Zur Rolle Göttingens in der Geschichtswissenschaft der Nachkriegszeit, Marburg 2002; Carola Sachse: „Persilscheinkultur". Zum Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Kaiser-Wilhelm/Max-Planck-Gesellschaft, in: Bernd Weisbrod (Hg): Akademische Vergangenheitspolitik. Beiträge zur Wissenschaftskultur der Nachkriegszeit, Göttingen 2002, S. 2 1 7 - 2 4 6 . 38 Für die zwei anderen bayerischen Landesuniversitäten liegen bereits neuere Untersuchungen vor. Zu Erlangen Alfred Wendehorst: Geschichte der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg 1 7 4 3 - 1993, München 1993; Jürgen Sandweg: Der Verrat des Geistes: der Fall der Universität Erlangen im „Dritten Reich", in: Geschichte der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg 1 7 4 3 - 1993. Geschichte einer deutschen Hochschule. Ausstellungskatalog, hg. v. Christoph Friedrich u. a., Erlangen 1993, S. 9 9 - 1 2 6 ; Friedrich Lenger: Die Erlanger Historiker in der nationalsozialistischen Diktatur, in: Helmut Neuhaus (Hg.): Geschichtswissenschaft in Erlangen, Erlangen/Jena 2000, S. 2 6 9 - 2 8 7 . Z u Würzburg Peter Baumgart (Hg.): Die Universität Würzburg in den Krisen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Würzburg 2002. 39 Helmut Böhm: Von der Selbstverwaltung zum Führerprinzip. Die Universität München in den ersten Jahren des Dritten Reiches ( 1 9 3 3 - 1936), Berlin 1995. Eine knappe Zusammenfassung seiner Ergebnisse bei ders.: Die Universität München nach 1933, in: Lothar Mertens (Hg.): Politischer Systemumbruch als irreversibler Faktor von Modernisierung in der Wissenschaft, Berlin 2001, S. 7 3 - 9 9 . 40 Manfred Heim: Die Theologische Fakultät der Universität München in der NS-Zeit, in: Münchener Theologische Zeitschrift. Vierteljahresschrift für das Gesamtgebiet der katholischen Theologie 48 (1997), S. 371 - 3 8 7 ; Winfried Becker: Der Einbruch des Nationalsozialismus an der Universität München. Situationsberichte des Geschichtsstudenten Hans Rall an Professor Max Buchner, in: Konrad A c k e r m a n n / A l o i s S c h m i d / W i l h e l m Volkert (Hgg.): Bayern vom Stamm zum Staat. Festschrift für Andreas Kraus zum 80. Geburtstag, 2 Bde., München 2002, Bd. 2, S. 5 1 3 - 5 4 6 ; Stefan Rebenich: Alte Geschichte in Demokratie und

32

Einleitung

Trotz der großen Bedeutung bürokratischer Apparate für die nationalsozialistische Herrschaftsausübung weist auch deren Erforschung immer noch große Lücken auf. 4 2 So fehlen beispielsweise Studien, die das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (REM) oder das bayerische Kultusministerium auf der Basis des neuesten Forschungsstandes in Organisation und Personal darstellen. 43 Auch hier waren von Fall zu Fall ergänzende Archivrecherchen zu leisten.

Diktatur: Der Fall Helmut Berve, in: Chiron 31 (2001), S. 4 5 7 - 4 9 6 ; Linda-Marie Günther: Helmut Berve, Professor in München 6. 3. 1 9 4 3 - 1 2 . 11. 1945, in: Jakob Seibert (Hg.): 100 Jahre Alte Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München (1901 - 2 0 0 1 ) , Berlin 2002, S. 6 9 - 1 0 5 ; Wolfgang Günther: Alexander Graf von Stauffenberg, Professor in München 1948-1964, in: Jakob Seibert (Hg.): 100 Jahre Alte Geschichte an der LudwigMaximilians-Universität München ( 1 9 0 1 - 2 0 0 1 ) , Berlin 2002, S. 1 0 7 - 1 2 7 ; Maximilian Schreiber: Nationalsozialismus und Altertumskunde. Die Klassische Philologie in München im Dritten Reich, unveröff. Magisterarbeit Universität München 2002. 41 Die NS-Geschichte der L M U . Rektorat vergibt neuen Forschungsauftrag, in: Münchner Uni Magazin 3 / 2 0 0 2 , S. 4 - 6 ; Stefanie Harrecker: Die Universität München und die NSZeit. Der Beitrag des Universitätsarchivs zur Erforschung der Hochschule im „Dritten Reich", in: Bayernspiegel 4 (2002), S. 10/ 11. Erste Ergebnisse finden sich in dem Sammelband Elisabeth Kraus (Hg.): Studium, Lehre und Forschung an der Universität München von 1930 bis 1950 - Ausgewählte Aspekte [erscheint 2005]. 42 A u f einige drängende Forschungsdesiderata weist Jan Erik Schulte hin. So fehlen beispielsweise für zentrale Ämter und Ministerien wie das Propaganda- und Luftfahrtministerium, die Deutsche Arbeitsfront oder die einzelnen Gliederungen der N S D A P dem neueren Forschungsstand entsprechende Studien (Jan-Erik Schulte: Die Konvergenz von Normenund Maßnahmenstaat: Das Beispiel SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt, 1925-1945, in: Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus 17 (2001), S. 1 5 1 - 1 8 8 , hier S. 181 Anm. 15). Zwei für die Biographie Crämers zentrale Ämter sind überhaupt erst in jüngster Zeit untersucht worden (Diana Schulle: Das Reichssippenamt: Eine Institution nationalsozialistischer Rassenpolitik, Berlin 2001; Isabel Heinemann: „Rasse, Siedlung, Deutsches Blut": Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die nationalsozialistische Rassenpolitik im besetzten Europa, Göttingen 2003). 43

Für das von den Nationalsozialisten neu geschaffene R E M als zentraler Behörde der Wissenschafts- und Hochschulpolitik ist man nach wie vor auf den Aufsatz von Helmut Seier: Der Rektor als Führer. Zur Hochschulpolitik des Reichserziehungsministeriums 1 9 3 4 - 1945, in: V f Z 12 (1964), S. 1 0 5 - 1 4 6 angewiesen. Für das Bayerische Kultusministerium werden in dem Jubiläumsband Tradition und Perspektive. 150 Jahre Bayerisches Kultusministerium, hg. v. Bayerischen Staatsministerium für Unterricht, Kultus, Wissenschaft und Kunst, München 1997 wichtige Entwicklungen skizziert, daneben sind die Beiträge von Winfried Müller zu nennen (Winfried Müller: Gauleiter als Minister. Die Gauleiter Hans Schemm, A d o l f Wagner, Paul Giesler und das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus 1 9 3 3 - 4 5 , in: Z B L G 60 (1997), S. 9 7 3 - 1021; ders.: Das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus: Verwaltung und Personal im Schatten der NS-Politik, in: Hermann Rumschöttel/ Walter Ziegler (Hgg.): Staat und Gaue in der NS-Zeit. Bayern 1933-1945, München 2004, S. 1 9 7 - 2 1 5 ) . Eine detailliertere Darstellung von Politik und Personal unter der nationalsozialistischen Diktatur ist aber nach wie vor ein dringendes Desiderat der Forschung.

1. Jugend und Studienjahre. Sozialisation im Zeichen bündisch-völkischer Prägung (1907-1929) Ulrich Crämer wurde am 11. Dezember 1907 als zweites Kind des Studienrats Dr. Hermann Crämer und seiner Frau Paula Crämer, geborene Geibel, in Krefeld geboren. 1 Crämer berichtet selbst über seine Vorfahren: „ D i e von mir seit Jahren nebenbei betriebene Ahnenforschung ergibt für beide Seiten [der Eltern] bei etwa 70 unmittelbaren bisher festgestellten Ahnen als Berufe zumal in früheren Jahrhunderten Bauern, zum größten Teil aber Handwerker, in den letzten drei Generationen vorwiegend Akademiker. Abgesehen von einer Linie, die bis etwa 1840 katholisch war, bekannten sich alle übrigen Ahnen (in zwei Linien sogar bis zur Reformationszeit zurückzuverfolgen) zum Protestantismus." 2

Während des Ersten Weltkrieges besuchte er von 1914 bis 1917 die Vorschule, dann das Realgymnasium in Krefeld, wo er i m Frühjahr 1926 die Reifeprüfung ablegte. Schon als Gymnasiast zeigte Crämer den Drang zu wissenschaftlicher Forschung und literarischer Produktion, der auch bald erste Früchte trug. Seine Untersuchung zur Geschichte und Bedeutung der Eiben in seiner Heimat wurde in den in seiner Geburtsstadt ansässigen „Blättern für Denkmalpflege und naturwissenschaftliche Erforschung des Niederrheins" veröffentlicht. 3 Seinen wissenschaftlichen Neigungen entsprechend verschmähte Crämer ein reines „Brotstudium" und nahm zu Beginn des Sommersemesters 1926 das Studium der Geschichte, Kunstgeschichte, Philosophie, Deutschen Literatur und der Volkswirtschafts- und Gesellschaftslehre in Heidelberg auf. Schon nach zwei Semestern wechselte er für ein Jahr an die Universität Königsberg, woran sich ein Jahr an der Wiener Universität anschloss. Nach einem weiteren Semester in Rostock beendete er sein Studium mit der Promotion bei dem Heidelberger Historiker 1

Hermann Crämer, geboren am 5. 10. 1868 in Eisfeld, gestorben am 20. 10. 1930 in Krefeld; Paula Crämer, geboren am 23. 8. 1872 auf der Domäne Unterrohn ( U A M O-N-IO Crämer, Lebenslauf 14. 5. 1934). 2 U A M O-N-IO Crämer, Lebenslauf 14. 5. 1934. 3 Ulrich Crämer: Alte Eiben am Niederrhein. Die Natur am Niederrhein, in: Blätter für Denkmalpflege und naturwissenschaftliche Erforschung des Niederrheins 1 (1925), Heft 2, S. 1 2 - 1 8 ; wiederabgedruckt in: Die Heimat. Mitteilungen des Vereins für Heimatkunde in Crefeld 4 (1925), S. 2 5 2 - 5 8 . Der Beitrag wurde sogar in Teilen ins Holländische übersetzt von J.D.H. van Uden: Een verdwijnende boomsoort. Buiten, in: Geillustrreerd weekblad aan het buitenleven gewijd 20 (1926), Nr. 35, S. 4 1 6 - 4 1 7 .

3 Jcdlitschka

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1. Jugend und Studienjahre (1907- 1929)

W i l l y Andreas. 4 Über die Gründe für die Wahl Heidelbergs schweigen die Quellen. Es wird wohl der hervorragende Ruf der Universität am Neckar, der in den zwanziger Jahren auch außergewöhnlich viele ausländische Studenten anzog, die Entscheidung Crämers bestimmt haben. Insbesondere das Historische Seminar hatte prominente Namen vorzuweisen. 5 A n Crämers Studienjahren sind zwei Aspekte hervorzuheben. Das ist zum einen die Mitgliedschaft in der „Deutsch-Akademische Gildenschaft ( D A G ) " , einer bündisch verfassten Korporation mit volkstumspolitischer Ausrichtung. Zum anderen ist in diesem Zusammenhang die starke Prägung durch ständestaatlich-autoritäre Gedanken zu nennen, wie sie Crämer vor allem an der Universität Wien beim bekannten Soziologen Othmar Spann vermittelt bekam. Die Sozialisation im bündisch-reaktionären Studentenmilieu der Weimarer Republik und die intensive Beschäftigung mit dem ständestaatlichen Theorien Spanns führten Crämer ausgesprochen früh in die nationalsozialistische Bewegung. Damit bestätigt er die in der neueren Forschung öfters aufgestellte Vermutung über einen engen Zusammenhang zwischen jugendbewegt-bündischer Sozialisation in den Studienjahren und frühem Anschluss an die nationalsozialistische Bewegung in geradezu idealtypischer Weise. 6 Bereits in seinem zweiten Königsberger Studiensemester hatte Crämer zur D A G gefunden. Diese im Jahre 1920 gegründete Gildenschaft, die in etwa 30 Universitätsstädten des Deutschen Reiches und Österreichs Mitgliedsgilden hatte, strebte einen Kompromiss zwischen jugendbewegten Denk- und Lebensweisen und dem Stil der traditionellen Korporationen an. Von vornherein standen dabei deutschvölkische und männerbündlerische Ideen i m Mittelpunkt. 7 A b dem Jahr 1924, als die 4 U A M O-N-IO Crämer, Lebenslauf 14. 5. 1934. 5

Vgl. Jansen: Professoren und Politik, S. 31 - 35, 2 9 8 - 3 0 8 und die Beiträge in dem Sammelband von Jürgen Miethke (Hg.): Geschichte in Heidelberg. 100 Jahre Historisches Seminar. 50 Jahre Institut für Fränkisch-Pfälzische Geschichte und Landeskunde, Berlin u. a. 1992. 6 Stellvertretend der prägnante Aufsatz von Ulrich Herbert „Generation der Sachlichkeit". Die völkische Studentenbewegung der frühen zwanziger Jahre in Deutschland, in: Frank Baj o h r / W e r n e r J o h e / U w e Lohalm (Hgg.): Zivilisation und Barbarei. Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne, Detlev Peukert zum Gedenken, Hamburg 1991, S. 1 1 5 - 144. Herbert betont die prägende Kraft völkischer Bünde und nationalistischer Zirkel im studentischen M i lieu der Weimarer Republik. Seine Studie bezieht sich hauptsächlich auf den völkisch orientierten „Deutschen Hochschulring", der vor allem in der ersten Hälfte der 20er Jahre dominierend gewesen sei. Ähnlich der D A G veranstaltete dieser Grenzlandexkursionen und Schulungswochen. Für die Unübersichtlichkeit dieses rechten völkisch-nationalistischen Spektrums spricht die Tatsache, dass Herbert die Rolle der D A G übersieht. Ein Grund mag darin zu finden sein, dass diese ihre Wirksamkeit erst Ende der 20er Jahre voll entfaltete. 7

Karl-Eckhard Hahn: Geschichte der Deutschen Gildenschaft, in: Schriften der Deutschen Gildenschaft. Sonderheft 3 (1998), S. 2 3 - 6 5 , hier S. 2 3 - 4 7 ; Werner Kindt (Hg.): Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933. Die bündische Zeit, Düsseldorf/Köln 1974, S. 1371-1387; Gladen: Korporationsverbände, S. 9 2 - 9 6 ; Jürgen Reulecke: „Hat die Jugendbewegung den Nationalsozialismus vorbereitet?" Zum Umgang mit einer falschen

1. Jugend und Studienjahre (1907- 1929)

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akademischen Berufe trotz ökonomischer Prosperität weiterhin überfüllt blieben und auch die traditionell als Karriere- und Statusvehikel verstandenen Burschenschaften ihren Mitgliedern nicht mehr Einkommen und gesellschaftliches Ansehen garantieren konnten, gewannen diese Art bündischer Gruppierungen in besonderem Maße an Attraktivität. 8 Die Hochschulgilden sind allgemein dem breiten Strom der sog. „Konservativen Revolution" zuzurechnen, jener von Armin Möhler erstmals analysierten Gruppe von völkisch-nationalistisch ausgerichteten Intellektuellen, die im rechten Spektrum einen starken Einfluss auf politisches Denken und Handeln ausübten. 9 Es ist nun nicht unerheblich, dass es innerhalb der studentischen Korporationen vor allem die aus den antirepublikanischen Wehrverbänden und Freikorps erwachsenen Hochschulgilden waren, die sich besonders radikal und militant als Propagandisten völkisch-rassistischer Gedanken exponierten und sich gewissermaßen als Avantgarde einer neuen völkischen Gemeinschaft verstanden. Dem korrespondierte eine bewusst autoritäre Organisationsstruktur nach dem Führerprinzip, rassische Ausschlusskriterien und militärischer D r i l l in obligatorischen Wehrsport-, Schieß- und Fechtübungen. Die Gemeinschaft der Gildenbrüder verbanden an germanischem Brauchtum angelehnte Kulte und Riten, die regionalen und reichsweiten Treffen wurden beispielsweise als „ T h i n g " bezeichnet. 10 Ihre politischen Ziele fanden aber auch in konkreten Aktionen ihren Niederschlag. So engagierte sich die D A G beispielsweise in den Jahren 1919 und 1923 als paramilitärischer Verband in den Grenzkämpfen im Baltikum, Oberschlesien und Kärnten und wirkte später auch an antirepublikanischen Kampagnen wie der Agitation gegen den „Young-Plan" m i t . 1 1 Gerade die ostpreußische Gilde „Skuld" - benannt nach einer Schicksalsgöttin der germanischen Mythologie - zeichnete sich durch besondere Radikalität aus. Sie organisierte bereits ab 1925 Schulungen und Vorträge über Fragen der „Volksgemeinschaft" und des „Auslandsdeutschtums", die mit regelmäßigen Fahrten in deutschsprachige Dörfer außerhalb des Reichsgebietes vom Baltikum bis nach Kroatien verbunden waren. 1 2 Ob Crämer mit den ebenFrage, in: Wolfgang R. Krabbe (Hg.): Politische Jugend in der Weimarer Republik, Bochum 1993, S. 2 2 2 - 2 4 3 , hier S. 223 - 225. 8 Michael H. Kater: Die Studenten auf dem Weg in den Nationalsozialismus, in: Jörg Tröger (Hg.): Hochschule und Wissenschaft im Dritten Reich, Frankfurt a.M. 1984, S. 2 6 - 3 7 , hierS. 2 9 / 3 0 . 9 Hahn: Geschichte der Deutschen Gildenschaft, S. 5 9 - 6 3 ; Haar: Königsberger Beispiel, S. 58. Zum Begriff „Konservative Revolution" vgl. A r m i n Möhler: Die Konservative Revolution in Deutschland 1918 - 1932. Ein Handbuch. Hauptband und Ergänzungsband in einem Band, 4. Aufl. Darmstadt 1994 und die kritische Auseinandersetzung mit diesem Konzept bei Stefan Breuer: Anatomie der Konservativen Revolution, 2. Aufl. Darmstadt 1995. Zuletzt zur Diskussion Frank-Lothar Kroll: Konservative Revolution und Nationalsozialismus. Aspekte und Perspektiven ihrer Erforschung, in: Kirchliche Zeitgeschichte 11 (1998), S. 3 3 9 - 3 5 4 . 10 Detailliert zu der bislang in der Forschung vernachlässigten D A G vgl. Hahn: Geschichte der Deutschen Gildenschaft; Haar: Königsberger Beispiel, S. 5 4 - 6 9 . 11 Haar: Königsberger Beispiel, S. 55 bzw. 59; Kindt: Die deutsche Jugendbewegung, S. 1371-1373. Bei Gladen: Korporationsverbände finden die völkisch-militanten Züge der D A G keine Erwähnung (ibid., S. 9 2 - 9 6 ) .

3*

1. Jugend und Studienjahre ( 1 9 0 7 - 1929)

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falls i n der K ö n i g s b e r g e r G i l d e „ S k u l d " a k t i v e n J u n g h i s t o r i k e r n W e r n e r C o n z e u n d T h e o d o r Schieder näher b e k a n n t g e w o r d e n ist, lässt sich aus d e m v o r h a n d e n e n M a t e r i a l n i c h t k l ä r e n . Es scheint aber angesichts der ü b e r s i c h t l i c h e n M i t g l i e d e r anzahl, der engen B i n d u n g der G i l d e n b r ü d e r u n d deren e x k l u s i v e n

Anspruchs

wahrscheinlich.13 W a s genau C r ä m e r z u m W e c h s e l an d i e K ö n i g s b e r g e r U n i v e r s i t ä t u n d z u m E i n t r i t t i n d i e D A G veranlasst hat, ist n i c h t b e k a n n t . V o r d e m H i n t e r g r u n d seines w e i teren L e b e n s w e g e s lassen sich j e d o c h d i e M o t i v e m i t h o h e r W a h r s c h e i n l i c h k e i t erschließen. D i e A l b e r t u s - U n i v e r s i t ä t erfreute sich als „ G r e n z l a n d u n i v e r s i t ä t " b e i v ö l k i s c h ausgerichteten S t u d e n t e n eines besonders g u t e n Rufes. Z u d e m lehrte d o r t H a n s R o t h f e l s , der als „ A b g o t t der n a t i o n a l i s t i s c h e n S t u d e n t e n " 1 4 eine R e i h e a m b i t i o n i e r t e r j u n g k o n s e r v a t i v e r H i s t o r i k e r u m sich s c h a r t e . 1 5 U n t e r seiner A n l e i t u n g w u r d e d o r t das P a r a d i g m a e i n e r v o l k s t u m s p o l i t i s c h e n G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g entw i c k e l t . Ü b e r seine S c h ü l e r u n t e r h i e l t der G r e n z l a n d h i s t o r i k e r R o t h f e l s w i e d e r u m g u t e K o n t a k t e z u r D A G , deren E x k u r s i o n e n er ab 1929 b e t r e u t e . 1 6 Es d ü r f t e v o r

12 Vgl. Haar: Königsberger Beispiel, S. 5 7 / 5 8 ; Hahn: Geschichte der Deutschen Gildenschaft, S. 3 8 - 4 0 . 13 Der D A G gehörte auch der völkische Historiker Rudolf Craemer an (Haar: Königsberger Beispiel, S. 83), der nicht mit Ulrich Crämer verwechselt werden sollte, wie das beispielsweise bei Wolf: Litteris et Patriae öfter geschieht.

•4 Heiber: Walter Frank, S. 67. 15 Die problematische Mittlerrolle Rothfels' zwischen etablierter Zunft und rechtsradikalen Studenten ist in der Forschung bis in die jüngste Gegenwart kontrovers diskutiert worden. Vgl. dazu Hans Mommsen: Hans Rothfels, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.): Deutsche Historiker, Bd. 9, Göttingen 1982, S. 1 2 7 - 1 4 7 ; Oberkrome: Volksgeschichte, S. 9 6 - 9 8 , 1 3 3 - 1 4 6 ; Lothar Machtan: Hans Rothfels und die sozialpolitische Geschichtsschreibung, in: ders. (Hg.): Bismarcks Sozialstaat. Beiträge zur Geschichte der Sozialpolitik und zur sozialistischen Geschichtsschreibung, Göttingen 1994, S. 1 6 1 - 2 0 8 ; Winfried Schulze: Hans Rothfels und die deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, in: Christian Jansen u. a. (Hgg.): Von der Aufgabe der Freiheit. Politische Verantwortung und bürgerliche Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Hans Mommsen zum 5. November 1995, Berlin 1996, S. 8 3 - 9 8 ; Karen Schönwälder: „Lehrmeisterin der Völker und der Jugend". Historiker als politische Kommentatoren 1933 bis 1945, in: Peter Schöttler (Hg.): Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918-1945, Frankfurt a.M. 1997, S. 1 2 8 - 165, hier S. 137/ 138; Etzemüller: Sozialgeschichte, S. 2 2 - 2 6 . Die Bewertung des Verhältnisses bzw. der Nähe Rothfels' zum Nationalsozialismus ist umstritten. So äußert beispielsweise Wolfgang Neugebauer Kritik an einer zu einseitigen Sicht der revisionistischen Elemente in Rothfels' Geschichtsauffassung (Wolfgang Neugebauer: Hans Rothfels (1891 - 1976) in seiner Zeit, in: Dietrich Rauschning/Donate v. Neree (Hgg.): Die AlbertusUniversität zu Königsberg und ihre Professoren, Berlin 1995, S. 2 4 5 - 2 5 6 ) . Dagegen betonen gerade neuere Studien im Kontext der jüngsten Auseinandersetzung um die Rolle der Historiker im „Dritten Reich" ihre Kritik am Königsberger Wirken von Rothfels (Haar: Königsberger Beispiel, S. 5 2 - 5 4 , 7 0 - 8 1 ; Haar: Historiker im Nationalsozialismus, S. 7 0 - 1 0 5 ) . Zur scharfen Auseinandersetzung zwischen Haar und Winkler vgl. die Literaturhinweise in der Einleitung. 16 Haar: Königsberger Beispiel, S. 70; Neugebauer: Hans Rothfels, S. 253, 255; Schulze: Hans Rothfels, S. 8 7 - 9 0 .

1. Jugend und Studienjahre ( 1 9 0 7 - 1929) a l l e m diese „ h o c h g r a d i g p o l i t i s i e r t e S u b k u l t u r " i m U m f e l d der D A G 1 7 u n d der N a c h w u c h s h i s t o r i k e r u m R o t h f e l s 1 8 g e w e s e n sein, d i e C r ä m e r n a c h K ö n i g s b e r g g e z o g e n hatte. I n seinen späteren S t u d i e n sollte er sich i n T h e m e n s t e l l u n g u n d M e t h o d e diesen h i e r neu d i s k u t i e r t e n u n d e r p r o b t e n V o l k s t u m s - u n d g e o p o l i t i s c h e n F r a g e s t e l l u n g e n v e r p f l i c h t e t zeigen. A u c h d i e v o n R o t h f e l s f a v o r i s i e r t e E p o c h e des preußischen A b s o l u t i s m u s w i r d e i n e K o n s t a n t e i n seinen F o r s c h u n g e n

bilden.19

W a r e n es d o c h v o r a l l e m d i e V o r l e s u n g e n R o t h f e l s ' , d i e i h n i n seiner K ö n i g s b e r g e r Z e i t besonders b e e i n d r u c k t hatten, w i e er Jahrzehnte später d e m B o n n e r H i s t o r i k e r Walther Hubatsch berichtete. 20 N e b e n C r ä m e r s M i t g l i e d s c h a f t i n der D A G ist n o c h e i n z w e i t e r A s p e k t seiner S t u d i e n z e i t v o n B e d e u t u n g . N a c h seiner K ö n i g s b e r g e r Z e i t w e c h s e l t e der j u n g e H i s t o r i k e r f ü r z w e i Semester an d i e U n i v e r s i t ä t W i e n . D a d i e H o c h s c h u l g i l d e n i n a l l e n größeren U n i v e r s i t ä t s s t ä d t e n vertreten w a r e n , k o n n t e er sich a u c h d o r t w i e d e r G l e i c h g e s i n n t e n i n der G i l d e „ G r e i f " anschließen, w o er z u m „ 1 . C h a r g i e r t e n " befördert w u r d e . 2 1 W i e K ö n i g s b e r g w a r auch d i e U n i v e r s i t ä t W i e n i n j e n e n Jahren

17 A u f diese besondere Bedeutung der Universität Königsberg hingewiesen zu haben, ist das Verdienst Haars (Haar: Königsberger Beispiel, Zitat S. 53). Dagegen bleiben den Studien von Hartmut Boockmann: Die Königsberger Historiker vom Ende des 1. Weltkrieges bis zum Ende der Universität, in: Dietrich Rauschning / Donata v. Neree (Hgg.): Die Albertus-Universität zu Königsberg und ihre Professoren, Berlin 1995, S. 2 5 7 - 2 8 1 , Gerd Brausch: Die A l bertus-Universität vom Ersten Weltkrieg bis zum 400jährigen Jubiläum, in: Hans Rothe/ Silke Spieler (Hgg.): Die Albertus-Universität zu Königsberg. Höhepunkte und Bedeutung. Vorträge aus Anlaß der 450. Wiederkehr ihrer Gründung, Bonn 1996, S. 1 2 3 - 1 4 0 und Kasimir Lawrynowicz: Albertina. Zur Geschichte der Albertus-Universität zu Königsberg in Preußen, hg. v. Dieter Rauschning, Berlin 1999, S. 3 6 5 - 3 8 4 diese Zusammenhänge verborgen. 18 Zur starken Ausstrahlung Rothfels' und der Bedeutung der um ihn versammelten „Rothfels-Gruppe" junger Historiker in Königsberg vgl. Thomas Etzemüller: Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, München 2001, S. 2 2 - 2 4 , 4 4 - 4 8 , 2 3 6 - 2 5 0 . 19 Crämer dürfte tief beeindruckt von den überlaufenen Vorlesungen Rothfels über „Der deutsche Staatsgedanke von Friedrich dem Großen bis zur Gegenwart" gewesen sein (vgl. die Aufstellung der Vorlesungsverzeichnisse der Universität Königsberg bei Klaus-Dieter Schlechte: Ostdeutschland in Forschung und Lehre an den Hochschulen der Bundesrepublik Deutschland ( 1 9 4 5 - 1988) mit einem Anhang zur Lehre an den Hochschulen in Königsberg und Danzig ( 1 9 0 0 - 1 9 4 5 ) , Bonn 1990, S. 224; zu Vorlesungsthemen der preußischen Geschichte für die Jahre 1 9 2 7 - 1930 Ibid., S. 2 2 4 - 2 2 7 ) . 20

Crämer an Hubatsch 22. 11. 1974. Dieser Brief fand sich mit zwei weiteren Schreiben lose eingelegt in einem Exemplar von Walther Hubatsch: Masuren und Preußisch-Litthauen in der Nationalitätenpolitik Preußens 1 8 7 0 - 1920, Marburg 1966, das mit einer persönlichen Widmung Hubatschs an Crämer versehen ist. Es handelt sich um einen zufälligen Fund in einem Antiquariat, Kopien der Briefe befinden sich im Besitz des Verfassers (künftig zitiert als „Korrespondenz Hubatsch"). Leider ist ansonsten die Überlieferungslage der Bestände der Universität Königsberg sehr unbefriedigend, für die Jahre 1927-1928 fehlen fast alle Studentenmatrikel und Unterlagen der Philosophischen Fakultät. Daher können Crämers Vorlesungs- und Seminarbesuch nicht rekonstruiert werden (Auskunft des Archiwum Panstwowe w Olsztynie an den Verfasser 9. 7. 2002).

1. Jugend und Studienjahre ( 1 9 0 7 - 1929)

38

w e g e n ihres K l i m a s , i n das sich schon f r ü h a n t i s e m i t i s c h e S t r ö m u n g e n m i s c h t e n , unter v ö l k i s c h - r e c h t s e x t r e m e n Studenten b e l i e b t . 2 2 H i e r lehrten d i e r e n o m m i e r t e n u n d f ü r i h r e n a t i o n a l e E i n s t e l l u n g b e k a n n t e n H i s t o r i k e r der „ W i e n e r S c h u l e " O t t o Brunner und H e i n r i c h Ritter v o n Srbik. Für die Lehrveranstaltungen Srbiks sind B e s u c h e C r ä m e r s belegt. E r hörte i m S o m m e r s e m e s t e r 1928 S r b i k s f ü n f s t ü n d i g e n Vorlesung „Geschichte Europas

1815-1848"

u n d besuchte z u d e m eine seiner

Ü b u n g e n . 2 3 D e r e i g e n t l i c h e G r u n d f ü r d i e W a h l dieses Studienortes aber d ü r f t e i n der Person des w e i t über W i e n hinaus b e k a n n t e n S o z i o l o g e n O t h m a r Spann geleg e n h a b e n 2 4 . D e r Student C r ä m e r w a r v o n d e n ständestaatlichen L e h r e n des schon f r ü h m i t d e m N a t i o n a l s o z i a l i s m u s s y m p a t h i s i e r e n d e n Spann t i e f b e e i n d r u c k t u n d v e r s ä u m t e k e i n e seiner L e h r v e r a n s t a l t u n g e n . O f f e n b a r f i e l er Spann b a l d auf, er förderte d e n e i f r i g e n Studenten, u n d es entstand eine „ e n g e V e r b u n d e n h e i t " , d i e a u c h i n d e n f o l g e n d e n Jahren fortbestehen s o l l t e . 2 5

21

Vgl. U A M O-N-IO Crämer, Lebenslauf 14. 5. 1934. Zwischen der Münchner und Wiener Gilde bestand Namensgleichheit, allerdings war die Münchner Gilde „Greif" bereits 1920 gegründet worden, während die Wiener erst 1926 folgte. Der Greif war ein beliebtes Motiv der Wandervogelbünde (Paulgerhard Gladen: Geschichte der studentischen Korporationsverbände. Bd. 2, Würzburg 1985, S. 9 4 - 9 6 ; Hahn: Geschichte der Deutschen Gildenschaft, S. 25; Aufstellung der verschiedenen Hochschulgilden in: Schriften der Deutschen Gildenschaft 40 (1998), Sonderheft 3, S. 9 5 - 1 0 4 , hier S. 9 8 / 9 9 ) . 22 Vgl. dazu Brigitte Lichtenberger-Fenz: Österreichs Universitäten und Hochschulen Opfer oder Wegbereiter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft?, in: Gernot Heiß/Siegfried Mattl / Sebastian M e i s s l / E d i t h Saurer/Karl Stuhlpfarrer (Hgg.): Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938-1945, Wien 1989, S. 3 - 1 5 , hier S. 5 - 9 . 23 Universitätsarchiv Wien (UAW), Studentenakte Ulrich Crämer. Vgl. dazu auch Gernot Heiß: Von Österreichs deutscher Vergangenheit und Aufgabe. Die Wiener Schule der Geschichtswissenschaft und der Nationalsozialismus, in: Gernot Heiß/Siegfried Mattl/Sebastian M e i s s l / E d i t h Saurer/Karl Stuhlpfarrer (Hgg.): Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938-1945, Wien 1989, S. 3 9 - 7 6 , hierS. 3 9 - 5 0 . 24

A u f die Popularität der Vorlesungen Spanns unter Studenten aller Fakultäten weist J. Hanns Pichler (Hg.): Othmar Spann oder die Welt als Ganzes, W i e n / K ö l n / G r a z 1988, S. 53 u.ö. hin. Zur Philosophie an der Wiener Universität, in der Spann die zentrale Figur war, vgl. Hans Sluga: Die verfehlte Sendung. Die Philosophie und der Nationalsozialismus, in: Kurt R. Fischer/Franz M . Wimmer (Hgg.): Der geistige Anschluß. Philosophie und Politik an der Universität Wien 1930-1950, Wien 1993, S. 9 - 3 5 ; Klaus Detholff: Konservative Revolution und Philosophie in Österreich, in: Kurt R. Fischer/Franz M . Wimmer (Hgg.): Der geistige Anschluß. Philosophie und Politik an der Universität Wien 1 9 3 0 - 1950, Wien 1993, S. 5 3 - 5 8 . 25

UAW, Studentenakte Ulrich Crämer; vgl. auch Crämers Aussage in seinem Entnazifizierungsverfahren 4. 7. 1949 (BayHStA M K 43500). Spann gab Crämer später auch die Möglichkeit, Rezensionen in den von ihm (mit)herausgegebenen Zeitschriften zu veröffentlichen (Ulrich Crämer: Rezension von Gerhard Ritter: Die Staatsauffassung des Freiherrn vom Stein. Ihr Wesen und ihre Wurzeln. Festrede zur Reichsgründungsfeier in Freiburg am 18. 1. 1927, Berlin 1927, in: Nationalwirtschaft. Blätter für organischen Wirtschaftsaufbau 3 (1929/30), S. 318/319; ders.: Rezension von Erich Botzenhart: Die Staats- und Reformideen des Freiherrn vom Stein. Ihre geistigen Grundlagen und ihre praktischen Vorbilder, Tübingen 1927, in: Nationalwirtschaft. Blätter für organischen Wirtschaftsaufbau 3 (1929/30), S. 319/320; ders.: Rezension von Rudolf Wissel: Der soziale Gedanke im alten Handwerk,

1. Jugend und Studienjahre (1907- 1929) Was waren nun die zentralen Elemente der „Ständestaatstheorie" des Wiener Soziologen? Spann lehnte die demokratische Staatsform, in der das „Niedere über das Höhere" herrsche, vehement ab. Sein Ideal war - als „dritter Weg" jenseits von Demokratie und Marxismus - der Ständestaat. Seit der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre war er ein gefragter Redner i m europäischen Ausland und vor allem in Deutschland, wo er von fast allen Hochschulen zu Vorträgen eingeladen wurde. I m Jahre 1927 gründete er zusammen mit dem späteren NS-Chefideologen Alfred Rosenberg den „Kampfbund für deutsche Kultur", in dem sich rechtsextreme Außenseiter des Weimarer Kulturlebens zusammenfanden. 26 I m „Austrofaschismus", dem 1934 in Österreich etablierten Herrschaftssystem, das sich am italienischen Faschismus orientierte, konnte Spann durch seine Ständelehre großen politischen Einfluss erlangen. Aber auch für den Nationalsozialismus hatte er zeitweilig eine große Bedeutung. Es wird vermutet, dass seine Gedanken auch auf Passagen in Hitlers „ M e i n K a m p f abgefärbt haben. 27 Vor allem in der Sudentendeutschen Partei Konrad Henleins stießen die Theorien Spanns auf große Resonanz. 28 Und auch in den Hochschulgilden hatte Spann viele Anhänger. 2 9 In der Forschung besteht weitgehend Einigkeit über die große Nähe Spanns zu nationalsozialistischen Staatsvorstellungen bzw. den Eingang Spannscher Gedanken in die synkretistische Ideenwelt des Nationalsozialismus. Das Maß der wohl trotzdem zu konstatierenden Distanz ist in der Forschung jedoch Gegenstand heftiger Kontroversen. Spann geriet nach dem „Anschluss" Österreichs zunehmend in Konflikt mit dem „Dritten

Berlin /Weimar o.J. (1930), in: Nationalwirtschaft. Blätter für organischen Wirtschaftsaufbau 3 (1929/30), S. 567/568). 26 Zum „Kampfbund für deutsche Kultur" im allg. vgl. Jan-Pieter Barbian: Literaturpolitik im „Dritten Reich". Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfelder, Frankfurt a.M. 1993, S. 2 2 - 2 5 , Bollmus: A m t Rosenberg, S. 2 7 - 3 9 und neuerdings im Zusammenhang mit der Untersuchung der NS-Linguistik Gerd Simon: Blut- und Boden-Dialektologie. Eine NS-Linguistin zwischen Wissenschaft und Politik. Anneliese Bretschneider und das „BrandenburgBerlinische Wörterbuch", Tübingen 1998, S. 1 7 - 2 8 . 27 Norbert J. Schürgers: Politische Philosophie in der Weimarer Republik. Staatsverständnis zwischen Führerdemokratie und bürokratischem Sozialismus, Stuttgart 1989, S. 2 6 3 - 2 6 5 ; Karl Dietrich Bracher: Das Zeitalter der Ideologien, Stuttgart 1984, S. 173; Kurt Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, München 1978, S. 34. Vgl. ausführlich Klaus-Jörg Siegfried: Universalismus und Faschismus. Das Gesellschaftsbild Othmar Spanns, Wien 1974 und Martin Schneller: Zwischen Romantik und Faschismus. Der Beitrag Othmar Spanns zum Konservativismus der Weimarer Republik, Stuttgart 1970. 28 Dem an den Lehren Othmar Spanns orientierten sog. „Kameradschaftsbund" gehörte fast die gesamte Führungsriege der Sudentendeutschen Partei an. Vgl. dazu Christoph Boyer/Jaroslav Kueera: Die Deutschen in Böhmen, die Sudentendeutsche Partei und der Nationalsozialismus, in: Horst Möller/Andreas Wirsching/Walter Ziegler (Hgg.): Nationalsozialismus in der Region, München 1996, S. 2 7 3 - 2 8 5 und zur sich anschließenden Diskussion die Beiträge von Christoph Boyer/Jaroslav Kueera: Alte Argumente im neuen Licht, in: Bohemia 38 (1997), Heft 2, S. 3 5 8 - 3 6 8 ; Vaclav Kural : Zwischen Othmar Spann und A d o l f Hitler, in: Bohemia 38 (1997), Heft 2, S. 3 7 1 - 3 7 6 ; Ralf Gebel: Zwischen Volkstumskampf und Nationalsozialismus, in: Bohemia 38 (1997), Heft 2, S. 3 7 6 - 3 8 5 . 2

9 Hahn: Geschichte der deutschen Gildenschaft, S. 52, 60.

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1. Jugend und Studienjahre (1907- 1929)

Reich", als universalistisch-christliche Modelle der Ständeherrschaft vor allem dem Sicherheitsdienst der SS (SD) zunehmend als gefährliche Umformung der nationalsozialistischen Lehre galten. Dort waren daher seit 1935 Überlegungen angestellt worden, den um den Wiener Soziologen entstandenen Kreis von Wissenschaftlern, die eigene Interpretationen zum Nationalsozialismus zu entwickeln suchten, zu zerschlagen. Unmittelbar nach dem „Anschluss" Österreichs, der von Spann noch mit Jubel begrüßt worden war, wurden die Mitglieder dieser Gruppe verhaftet, Spann selbst seiner Professur enthoben und zusammen mit seinem Sohn zeitweise im Konzentrationslager Dachau interniert. Nach seiner Entlassung zog er sich vollkommen aus der Öffentlichkeit zurück und wartete auf seinem Landsitz das Ende des Krieges ab. 3 0 Sein Schüler Crämer hatte hingegen Erfolg i m neuen Regime. Nach dem Wechsel an die Universität Rostock zum Sommersemester 1929 trat er dem an den Hochschulen zunehmend erfolgreichen Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund (NSDStB) bei. M i t den Erfolgen des NSDStB wurden die Grenzen zwischen D A G und NSDStB immer fließender. Wie Crämers Beispiel zeigt, waren Doppelmitgliedschaften üblich. 3 1 In Rostock hatte er sich im Februar 1929 auch der gerade gegründeten Gilde „Hutten" angeschlossen, in der er das A m t des „Fuchsmajors" bekleidete. 3 2 Diese Randunschärfen zwischen D A G und NSDStB unterstreichen die grundlegenden Unterschiede zwischen Gildenschaften und traditionellen Korporationen, die gerade in den letzten Jahren der Weimarer Republik zu den schärfsten Konkurrenten des NSDStB zählten. Der Zeitpunkt von Crämers Eintritt in den NSDStB ist wohl kein Zufall, markiert doch das Jahr 1929 in der Geschichte des NSDStB den Durchbruch an den Universitäten. In den Jahren zuvor hatte der NSDStB noch einen schweren Stand und nur wenig Einfluss gewinnen können. 3 3 Nach dem Wechsel des Vorstandes erstarkte er unter dem neuen Vorsitzenden Baidur von Schirach, der einen Kurs der Verständigung mit den stu30 Walther K i l l y / R u d o l f Vierhaus (Hgg.): Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. 9, Darmstadt 1998, S. 385. Hachmeister weist darauf hin, dass es sogar einen Befehl zur Liqidierung Spanns gegeben habe, der allerdings nicht ausgeführt worden sei (Hachmeister: Gegnerforscher, S. 16/17). 31 So war beispielsweise schon ein Jahr zuvor der Bonner Geschichtsdoktorand Ernst Anrieh, ebenfalls Mitglied der D A G , in den NSDStB eingetreten. M i t drei weiteren Gilden gründete er schließlich die „Deutsche Gildenschaft Ernst Wurche", die sich dann im Frühjahr 1930 korporativ in den NSDStB eingliedern ließ (vgl. Reulecke: Jugendbewegung, S. 225). A u f die fließenden Übergänge zwischen bzw. Doppelmitgliedschaften in Gildenschaft und NSDStB verweisen übereinstimmend Haar: Königsberger Beispiel, S. 56; Herbert: Generation der Sachlichkeit, S. 137/ 138; Herbert: Best, S. 4 2 - 6 9 und Reulecke: Jugendbewegung, S. 2 2 5 - 2 3 0 .

32 U A M O-N-IO Crämer, Lebenslauf 14. 5. 1934. Die Rostocker Hochschulgilde „Hutten" war am 17. 2. 1929 neu gegründet worden (nach der Aufstellung der verschiedenen Hochschulgilden in: Schriften der Deutschen Gildenschaft 40 (1998), Sonderheft 3, S. 9 5 - 1 0 4 , hierS. 98). 33 Michael Grüttner: Studenten im Dritten Reich, Paderborn 1995, S. 31; Jarausch: Deutsche Studenten, S. 157.

1. Jugend und Studienjahre (1907- 1929) dentischen Korporationen verfolgte. Die Wahlen zu den Studentenausschüssen wandelten sich dann seit 1928/29 zu einem nationalsozialistischen „Triumphzug" ohnegleichen. 34 A n der Universität Rostock war der NSDStB besonders erfolgreich. 3 5 Auch für die Gründe des einsemestrigen Aufenthalts Crämers in Rostock ist man auf Vermutungen angewiesen. Rostock war eine kleine Universität, die meist als „Sprungbrett" für junge Dozenten auf dem Weg zu einem Ruf an eine renommierte Universität diente. So hatte hier in den frühen zwanziger Jahren auch Crämers Heidelberger Lehrer W i l l y Andreas gelehrt. Es liegt nahe anzunehmen, dass dieser den Kontakt für seinen Schüler vermittelte. Crämer besuchte in Rostock vor allem die Veranstaltungen des Neuzeithistorikers und Bismarckforschers Wilhelm Schüssler. 36 Wie mit Othmar Spann blieb Crämer auch mit Schüssler, der große Stücke auf den jungen Nationalsozialisten hielt, in den folgenden Jahren in Kontakt. 3 7 I m letzten Semester seines Studiums kehrte Crämer 1930 schließlich an den Neckar zurück, um dort bei W i l l y Andreas seine Promotion mit einer Arbeit über Straßburg i m 16. und 17. Jahrhundert abzuschließen. Es scheint, dass die vielen Universitätswechsel und das zeitintensive völkische Engagement schließlich doch ihren Tribut forderten. War die Dissertation mit dem Titel „Verfassung und Verwaltung Straßburgs von der Reformation bis zum Fall der Reichsstadt (1521 — 1681 ) " 3 8 noch mit „sehr gut" bewertet worden, konnte Crämer in den mündlichen

34 Grüttner: Studenten, S. 11, 1 9 - 3 1 ; Jarausch: Deutsche Studenten, S. 1 5 2 - 1 6 3 ; Michael H. Kater: Studentenschaft und Rechtsradikalismus in Deutschland 1 9 1 8 - 1935. Eine sozialgeschichtliche Studie zur Bildungskrise in der Weimarer Republik, Hamburg 1975, S. 111-144. 35

Überblickt man den Stimmanteil der Nationalsozialisten bei den AStA-Wahlen an den einzelnen Hochschulen in den Jahren 1 9 2 8 - 1933, so liegt Rostock mit 35,0% im Jahr 1929 und 56,1 % im Jahr 1932 mit den Universitäten Erlangen und Jena an der Spitze studentischer Zustimmung zum Nationalsozialismus. Vgl. Tabelle 25 bei Grüttner: Studenten, S. 496. Zur Entwicklung des NSDStB allg. Grüttner: Studenten, S. 1 9 - 3 0 und Michael Grüttner: Studenten im Dritten Reich, in: Walter Kertz (Hg.): Hochschule und Nationalsozialismus. Referate beim Workshop zur Geschichte der Carolo-Wilhelmina am 5. und 6. Juli 1993, Braunschweig 1994, S. 6 9 - 7 7 . Die Mitgliederzahl entwickelte sich jedoch bis 1933 nur schleppend: Nach Berechnungen von Geoffry J. Giles hatte der NSDStB im Dezember 1932 reichsweit lediglich 8.800 Mitglieder (Geoffry J. Giles: Students and National Socialism in Germany, Princeton 1985, S. 94). 36 37

Universitätsarchiv Rostock, Studentenakte Ulrich Crämer.

Vgl. dazu Schüsslers Rolle für Crämers weiterer Karriere unter Kapitel 3.2.2. Zur Universität Rostock fehlt bislang eine umfassende Studie, die Personal und wissenschaftliches Profil genauer darstellt. Knappe Hinweise bieten 575 Jahre Universität Rostock. Mögen viele Lehrmeinungen um die eine Wahrheit ringen, hg. v. Rektor der Universität Rostock, Rostock 1994, S. 116-131, hier besonders zur Geschichtswissenschaft S. 118/119; Gerhard Heitz u. a. (Hgg.): Geschichte der Universität Rostock 1419-1969. Festschrift zur Fünfhundertfünfzig-Jahr-Feier der Universität, Bd. 1, Berlin (Ost) 1969, S. 2 1 3 - 2 2 9 . Ein kursorischer Überblick bei Paul Kretschmann: Universität Rostock, Köln / W i e n 1969.

42

1. Jugend und Studienjahre (1907- 1929)

Prüfungen nicht vollkommen überzeugen. Sein Doktorvater sprach ihm in „Neuere Geschichte" noch ein „ I - I I " zu, während er sich in den Nebenfächern „Soziologie" bei Prof. Carl Brinkmann und „Neuere deutsche Literaturgeschichte", die er beim Doktorvater von Goebbels, Max Freiherr von Waldberg, ablegte, mit einem „gut" zufrieden geben musste. Überraschend ist das schlechte Abschneiden im Fach „Mittlere Geschichte", wo Karl Hampe Crämers Leistungen als „kaum besser als ausreichend" ( I I I - I V ) bewertete. Offenbar hatten Gildenschaft und NSDStB Crämer nicht genügend Zeit zur Vorbereitung der mündlichen Prüfungen gelassen. Als Gesamtergebnis konnte der ehrgeizige Wissenschaftler schließlich nur ein „magna cum laude" erreichen. 39 Noch vor der Einleitung des Promotionsverfahrens im Februar 1930 war Crämer - zusammen mit seiner Mutter, der Vater war kurz zuvor verstorben - in die NSDAP eingetreten. 40 Dies kann zu diesem Zeitpunkt nur als ein eindeutiges Bekenntnis zu den ideologischen Zielen der Partei interpretiert werden. Es verdeutlicht Crämers Heimat i m nationalistisch-revisionistischen Milieu der studentischen Opposition gegen die Republik von Weimar. Opportunistische Motive sind auszuschließen, da der Erfolg der „Bewegung" noch keineswegs abzusehen war. 4 1 Crämers Parteieintritt liegt sogar noch vor den Septemberwahlen des Jahres 1930, deren erfolgreicher Ausgang der NSDAP den ersten Schub neuer Mitglieder, die sog. „Septemberlinge", verschaffte. 42 Aber auch nach diesem Datum war das Bekenntnis zur NSDAP noch lange nicht selbstverständlich. Erst die „Machtergreifung" führte zum massenhaften Eintritt der sog. „Märzgefallenen" in die Partei. 4 3

38 Ulrich Crämer: Die Verfassung und Verwaltung Straßburgs von der Reformationszeit bis zum Fall der Reichsstadt ( 1 5 2 1 - 1 6 8 1 ) , Frankfurt a.M. 1931. Die Publikation hatte sich auf Grund der Aufnahme in die renommierte Reihe „Schriften des Wissenschaftlichen Instituts der Elsaß-Lothringer im Reich an der Universität Frankfurt / Neue Folge" etwas verzögert, worum Crämer die Fakultät um Verzeihung bat (vgl. U A H H - I V - 7 5 7 / 2 8 , Briefe Crämers an die Fakultät vom 16.3. und 10. 4. 1931 (= fol. 607 + 608). Zur Interpretation von Crämers Straßburg-Arbeiten siehe Kapitel 4.1. 39 Universitätsarchiv Heidelberg ( U A H ) , H - I V - 7 5 7 / 2 6 , fol. 6 9 - 7 5 . Das Gutachten von Andreas datiert vom 24. 4. 1930. 40 B A Berlin-Lichterfelde B D C PK Ulrich Crämer, politische Beurteilung Gauleitung München 12. 11. 1937. Crämer erhielt die Mitgliedsnummer 231132. 41 Grundlegend die Studie von Jürgen W. Falter: Hitlers Wähler, München 1991. Falter bietet neben der detaillierten Schilderung des Aufstieges der NSDAP zur Massenpartei eine Differenzierung der Anhängerschaft nach sozialen, demographischen und konfessionellen Kategorien. Die Mitgliederzahl hinkte der Wahlentwicklung in den Jahren 1 9 2 8 - 1930 stark hinterher, erst nach 1931 stiegen die Parteieintritte überproportional an (Falter: Hitlers Wähler, S. 3 4 0 - 3 4 8 ; Thamer: Verführung und Gewalt, S. 1 7 2 - 183). 42

So wurden sie etwas abschätzig von Goebbels bezeichnet, zit. nach Thamer: Verführung und Gewalt, S. 176. Zur Mitgliederentwicklung Falter: Hitlers Wähler, S. 3 0 - 3 4 . 43 Während sich bis zu den Septemberwahlen 1930 129.000 Personen der N S D A P angeschlossen hatten, stieg die Zahl der Mitglieder zwischen dem 14. 9. 1930 und der „Machtergreifung" am 30. 1. 1933 auf 849.000 an (Thamer: Verführung und Gewalt, S. 174). Erst nach der erfolgreichen Machtübernahme setzte der Ansturm auf die Partei ein (Jürgen

1. Jugend und Studienjahre (1907- 1929) Sein früher Parteieintritt exponiert Crämer auch innerhalb der Historikerschaft ganz erheblich. Vor 1933 war nach derzeitigem Forschungsstand kein Ordinarius i m Fach Geschichte Parteimitglied geworden. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass die Anfälligkeit für den Nationalsozialismus unter den Jungwissenschaftlern deutlich größer war als bei den Ordinarien, stellt Crämers früher Eintritt in die NSDAP auch innerhalb des akademischen Nachwuchses eine Ausnahmeerscheinung dar. 4 4 Auffällig ist daneben Crämers Mobilität. Diese zeigte sich nicht nur in dem häufigen Wechsel seiner Studienorte, sondern auch in einer ausgesprochen regen Reisetätigkeit. Eine Reihe größerer Reisen führten ihn nicht nur durch Deutschland und das Elsaß. Der Student besuchte neben den Niederlanden, Frankreich und Belgien sogar die baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland. Ob es sich dabei, wie zu vermuten, um von der D A G im Rahmen ihrer volkstumspolitischen Erziehungsarbeit organisierte „Grenzland-Exkursionen" in das Baltikum handelte, lässt sich nicht verifizieren. 4 5 Weiter zog es Crämer aber auch nach Ungarn, in die Tschechoslowakei, nach Bulgarien und sogar bis nach Konstantinopel, wie er später stolz berichtete. 46 Crämers Mobilität überrascht angesichts der großen und oft existenziellen materiellen Not der Studenten in den letzten Jahren der Weimarer Republik. Selbst in der relativen Wohlstandsphase der zwanziger Jahre musste ein Drittel der Studenten um das „nackte Überleben" kämpfen - mit erschreckenden Folgen für ihre Ernährung und Gesundheit. 47 Anscheinend erhielt Crämer i m Gegensatz zur Mehrheit seiner Kommilitonen großzügige Unterstützung von seinem Elternhaus. 48 Er scheint sehr zielbewusst gewesen zu sein, wie sein zügiges mit Promotion abgeschlossenes Studium trotz der vielen Studienortwechsel beweist. Das rasche Studium hebt ihn auch aus dem Gros seiner Kommilitonen heraus, neigten diese doch im Zeichen der Weltwirtschafts- und Überfüllungskrise der akademischen Berufe dazu, ihre Studienzeiten eher zu verlängern, um die drohende Arbeitslosigkeit hinauszuschieben. 49

W. Falter: Die „Märzgefallenen" von 1933. Neue Forschungsergebnisse zum sozialen Wandel innerhalb der NSDAP-Mitgliedschaft während der Machtergreifungsphase, in: GuG 24 (1998), S. 5 9 5 - 6 1 6 ) . 44 Vgl. Schulze: Geschichtswissenschaft, S. 3 4 / 3 5 . 45 Vgl. Haar: Königsberger Beispiel, S. 6 5 - 6 9 . 46 BayHStA M K 43500, Lebenslauf April 1936. 47 Zur Situation der Studenten vgl. Konrad H. Jarausch: Deutsche Studenten 1 8 0 0 - 1970, Frankfurt a.M. 1984, S. 142/ 143; Kater: Studentenschaft, S. 4 3 - 5 6 . 48 Dass Crämer ein Stipendium bekommen hätte, kann mit großer Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden. Da er in seinen Lebensläufen sonst jedes Detail auflistet, hätte er das sicherlich nicht unerwähnt gelassen. Einen Hinweis auf entsprechende Unterstützung von Seiten seiner Eltern bietet zudem die Widmung der Dissertation Crämers „ D e m Andenken meines Vaters, des treuesten Freundes und unermüdlichen Förderers" (Ulrich Crämer: Verfassung und Verwaltung Straßburgs, S. V). 49 Jarausch: Deutsche Studenten, S. 1 2 9 - 132; Kater: Studentenschaft, S. 9 5 - 1 0 9 .

44

1. Jugend und Studienjahre (1907- 1929)

Bemerkenswert an diesem ersten Lebensabschnitt Crämers sind einerseits das trotz des mehrfachen Wechsels des Hochschulortes zügig absolvierte Studium und andererseits der auffällig frühe Weg in die nationalsozialistische Bewegung, wesentlich vorbereitet durch die bündisch-völkische Sozialisation in der D A G und die Ausrichtung an den ständestaatlichen Theorien Othmar Spanns. Der Parteieintritt erfolgte nach Lage der Dinge zweifellos aus ideologischer Überzeugung, nicht aus sozialen oder wirtschaftlichen Motiven. Denn die oftmals zur Relativierung ideologischer Überzeugung beim Beitrittsentschluss herangezogenen Argumente der Sorge vor materieller Not oder Angst vor sozialer Deklassierung scheiden bei Crämer aus. Finanziell scheint er abgesichert gewesen zu sein und als Mitglied der D A G verstand er sich innerhalb der Studentenschaft als Angehöriger der exklusiven deutschvölkischen Elite. Damit bestätigt Crämer das Sozialisationsmuster aufstrebender Wissenschaftler jener Jahre, wie der ungefähr gleichaltrigen Historiker Anrieh, Conze und Schieder, die ebenfalls in der Königsberger D A G aktiv waren. Crämers späterer Eintritt in den NSDStB in Rostock ist keinesfalls als Absage an das völkische Studentenmilieu der D A G zu interpretieren, sondern stellt vielmehr eine Intensivierung dieses Engagements dar, wie die weiteren Kapitel zeigen werden.

2. Nationalsozialismus als Chance. Karriere durch die Nähe zur Macht (1930-1936) 2.1 Weimar. Im Dienste zweier Herren: „Carl-August-Werk" und Einsatz für die „nationale Revolution" (1930-1933) Offensichtlich hatte Crämer seinen Doktorvater von seinen wissenschaftlichen Fähigkeiten überzeugt. Als Leiter des in Weimar angesiedelten „Carl-AugustWerks" sorgte Andreas dafür, dass sein Schüler dort unter der Verleihung eines Stipendiums der „Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft" ab 1. Juli 1930 vom Thüringischen Ministerium für Volksbildung einen Forschungsauftrag über die „Politik Carl Augusts von Weimar" erhielt. 1 Dieses Forschungsprojekt war Teil des schon länger institutionalisierten Vorhabens „Carl August: Darstellungen und Briefe zur Geschichte des weimarischen Fürstenhauses und Landes", das i m Jahr 1915 zur Hundertjahrfeier der Erhebung Sachsen-Weimars zum Großherzogtum vom damaligen Großherzog Wilhelm Ernst gestiftet und von dem Historiker Erich Mareks geleitet worden war. 2 I m Jahr 1930 war die Leitung des Projekts auf Mareks Schwiegersohn W i l l y Andreas gewechselt. 3 Die bruchlose Fortsetzung der wissenschaftlichen Tätigkeit und die finanzielle Absicherung Crämers war in der Zeit der globalen Wirtschaftskrise ein großer Gunstbeweis. Immerhin blieb dem jungen Historiker damit das Schicksal Tausender arbeitsloser Akademiker in jenen Jahren der „Überfüllungskrise" der akademischen Berufe erspart. Ohne jegliche berufliche Perspektive mussten sich viele seiner Kommilitonen mit Hilfsarbeiten

• BayHStA M K 43500, Lebenslauf Crämers A p r i l 1936. 2

Vgl. W. Daniel Wilson: Tabuzonen um Goethe und seinen Herzog. Heutige Folgen nationalsozialistischer Absolutismuskonzeptionen, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 70 (1996), S. 3 9 4 - 4 4 2 , hier S. 396 und passim. Siehe auch W. Daniel Wilson: Das Goethe-Tabu. Protest und Menschenrecht im klassischen Weimar, München 1999. Während Wilsons kenntnis- und detailreichen Arbeiten unter dem Gesichtspunkt der Erschließung neuer Archivbestände und Rekonstruktion der Geschichte des „Carl-August-Werks" von grundlegender Bedeutung sind, haben seine teilweise stark pointierten Interpretationen von Seiten der germanistischen Forschung Kritik erfahren. Vgl. die Rezension von Hans-Jürgen Schings, in: Goethe-Jahrbuch 116 (1999), S. 4 2 4 - 4 2 8 und die Bemerkungen von Katharina Mommsen: Goethe und unsere Zeit, in: Goethe-Jahrbuch 116 (1999), S. 2 7 - 4 0 , hier S. 2 7 / 2 8 . Für die hier interessierende archivalische Rekonstruktion des „Carl-August-Werks" haben diese Kritikpunkte jedoch keine Bedeutung. 3

Wilson: Tabuzonen um Goethe, S. 396.

2. Nationalsozialismus als Chance

46

durchschlagen und lebten in extremer materieller Not. 4 Insbesondere die Situation des wissenschaftlichen Nachwuchses an den Universitäten war zu Beginn der dreißiger Jahre „miserabel", wie Michael Grüttner neuerdings nochmals kollektivbiographisch herausgearbeitet hat. 5 Crämer sollte bis ins Jahr 1939 i m „Carl-August-Werk" arbeiten, allerdings in unterschiedlicher Intensität, wie noch zu schildern sein wird. In der ersten Phase vom Juli 1930 bis zur Machtergreifung zeigte er sich ausgesprochen diensteifrig und fleißig. Sicherlich hatte die Notlage vieler seiner ehemaligen Kommilitonen eine disziplinierende Wirkung auf Crämer. Zumal seine Stelle nur befristet vergeben war und immer wieder verlängert werden musste, wobei er auf eine entsprechend positive Begutachtung durch Andreas angewiesen war. Alle zwei Monate dokumentierte er seinen Arbeitsfortschritt in ausführlichen Arbeitsberichten. Halbjährlich musste zudem bei der Notgemeinschaft Bericht erstattet werden. Die Verlängerung des Stipendiums hing darüber hinaus wesentlich von der Beurteilung durch den Heidelberger Doktorvater ab. 6 Der sah in seinem Schüler in erster Linie eine billige Arbeitskraft. Bereits ein halbes Jahr später kam es daher zu einer ersten Verstimmung. Nachdem sich Crämer einen Überblick über die Bestände im Staatsarchiv Weimar verschafft hatte, fasste er den Entschluss, neben der Edition der Korrespondenzen auch eine Monographie über die Außenpolitik Carl Augusts zu erarbeiten. Diese wollte er dann auch als Habilitationsleistung einreichen. 7 Das Vorhaben stieß auf große Zurückhaltung bei Andreas, der selbst an einer Biographie des Weimarer Herzogs arbeitete und in Crämers Recherchen im Grunde nur eine Zuarbeit zu seinem eigenen Projekt sah. A u f einen entsprechenden Brief Andreas' hin beeilte sich der junge Wissenschaftler geflissentlich, die Bedenken des Heidelberger Ordinarius zu zerstreuen. „ N i e " habe er in Betracht gezogen, Andreas' Biographie etwas vorwegzunehmen. „ I m Gegenteil" würde der „politische Herzog" j a recht besehen nur einen sehr kleinen Teil dieser „ebenso genialefn] wie vielseitigefn] Persönlichkeit" darstellen. 8 Wie sehr das Verhältnis zwischen Andreas und Crämer einem streng hierarchisch strukturierten Dienstverhältnis glich, zeigte sich im Sommer 1931. Da das Ministerium keine Mittel für Archivreisen nach Dresden, Berlin und Wien zu Verfügung stellen wollte, sah sich Crämer nicht 4

Jarausch: Deutsche Studenten, S. 1 3 6 - 139; Kater: Studentenschaft, S. 9 5 - 1 0 9 .

5

Michael Grüttner: Machtergreifung als Generationenkonflikt. Die Krise der Hochschulen und der Aufstieg des Nationalsozialismus, in: Rüdiger vom Bruch /Brigitte Kaderas (Hgg.): Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 3 3 9 - 3 5 3 . 6 Grundlage der Rekonstruktion dieses Kapitels ist die Korrespondenz W i l l y Andreas' mit Crämer aus den Jahren 1 9 3 0 - 1936, die sich weitgehend vollständig im Nachlass Andreas' befindet. Durchschnittlich alle zwei bis drei Monate sandte Crämer detaillierte Arbeitsberichte an Andreas, denen er die im jeweiligen Zeitraum erstellten Exzerpte und Briefabschriften beilegte. Vgl. Generallandesarchiv Karlsruhe 69 N Andreas (künftig G L A Karlsruhe N L Andreas) 798.

7 G L A Karlsruhe N L Andreas 798, Crämer an Andreas 3.2. 1931. 8 G L A Karlsruhe N L Andreas 798, Crämer an Andreas 27. 2. 1931.

2.1 Weimar (1930-1933)

47

in der Lage, die von Andreas gewünschten Recherchen zu unternehmen. Andreas wies Crämer jedoch kurzerhand an, unter „schleunigster schriftlicher Vorbereitung" des Besuches trotzdem zu reisen und die Archivalien „ i n kürzester Frist an Ort und Stelle" durchzusehen, um eine „empfindliche Störung" von Andreas' „eigenein] Plänen" zu vermeiden. Er hielt es für „keinen unbilligen Vorschlag", wenn Crämer mit der Bahn in der dritten Klasse reisen und „überdies liebenswürdigerweise" kein Tagegeld verlangen würde. Er gehe davon aus, dass Crämer über „irgendwelche akademischen oder studentischen Beziehungen" eine billige Unterkunft finden könnte. Bei dieser Gelegenheit ließ Andreas noch wissen, dass er bei der Erstellung der Exzerpte künftig mehr Sorgfalt von Crämer erwarte, gerade die französischen Texte würden „recht viele Lesefehler" enthalten. Andreas besorgte schließlich einen Zuschuss zu den Fahrtkosten, für die Unterbringung aber hatte Crämer selbst zu sorgen. 9 Diese Episode zeichnet ein anschauliches B i l d der Situation des jungen Wissenschaftlers in seiner vollkommenen Abhängigkeit vom Projektleiter. Immer die Situation seiner arbeitslosen Kollegen vor Augen, musste er dies wohl oder übel akzeptieren. Schließlich sah er in der Mitarbeit beim „CarlAugust-Werk" die einzige Möglichkeit, „einst die akademische Laufbahn einschlagen zu können" 1 0 . Andreas missfiel auch das Streben Crämers nach eigenständigem Arbeiten, das sich in Vorschlägen bezüglich der Briefauswahl und Änderung der Gesamtkonzeption der Edition artikulierte. U m seinen Bearbeiter besser kontrollieren zu können, hielt er ihn i m Frühjahr 1932 an, die Exzerpte stärker zu raffen und ihm nun monatlich Kopien zuzusenden. 11 Crämer musste sich erneut fügen. Entsprechend den Instruktionen arbeitete er sich mit großem Fleiß durch die Bestände des Thüringischen Staatsarchivs und des Goethe- und Schillerarchivs in Weimar, des Preußischen Geheimen Staatsarchivs und des Hohenzollerschen Hausarchivs in Berlin sowie des Sächsischen Geheimen Staatsarchivs in Dresden. Sogar aus Archiven in Paris, Petersburg (Leningrad) und Wien ließ er sich Briefabschriften zusenden. Regelmäßig gingen die Ergebnisse seiner umfangreichen Studien in Form von Arbeitsberichten und Abschriften an den autoritären Projektleiter nach Heidelberg. 1 2 Nun war aber das „Carl-August-Werk" nicht der einzige Bereich, in dem sich der junge Wissenschaftler engagierte. Bereits in Heidelberg in die NSDAP eingetreten, fand er auch in Weimar schnell Anschluss an den dortigen Ortsverein. I m August 1930 wurde Crämer Mitglied der SA. Bereits im Dezember wechselte er zur SS. Dort war er, wie er später schrieb, zuerst nur „inoffizielles" Mitglied, bis er zwei Jahre später auch offiziell in den Schwarzen Orden aufgenommen wurde. 9 G L A Karlsruhe N L Andreas 798, Crämer an Andreas 4. 7. 1931; Andreas an Crämer 7 . 7 . 1931; Crämer an Andreas 31. 7. 1931.

•o G L A Karlsruhe N L Andreas 798, Crämer an Andreas 14. 3. 1932. 11

G L A Karlsruhe N L Andreas 798, Ergebnisse der Besprechungen zwischen Andreas und

Crämer vom 8., 9., 11. und 14. 4. 1932; Crämer an Andreas 15. 4. 1932. •2 Vgl. G L A Karlsruhe N L Andreas 798, Arbeitsberichte vom 30. 6. 1932, 30. 9. 1932 und 31. 12. 1932.

2. Nationalsozialismus als Chance

48

S t o l z betonte er später, a u c h i n der „ V e r b o t s z e i t " der SS - d i e p a r a m i l i t ä r i s c h e n O r g a n i s a t i o n e n der N S D A P w a r e n i m A p r i l 1932 unter d e m P r ä s i d i a l k a b i n e t t B r ü n i n g verboten, aber bereits i m J u l i nach d e m Sturz des e r f o l g l o s e n K a n z l e r s w i e d e r zugelassen w o r d e n 1 3 - angehört z u haben. D e r frühe E i n t r i t t i n d i e SS, d i e z w e i f e l los d e n harten K e r n der B e w e g u n g d a r s t e l l t e 1 4 , e x p o n i e r t C r ä m e r w i e d e r u m i n bes o n d e r e m M a ß e . E r steht d a m i t i n n e r h a l b der deutschen H i s t o r i k e r s c h a f t

konkur-

renzlos an vorderster S t e l l e . 1 5 N a c h d e m K r i e g suchte C r ä m e r seine S S - M i t g l i e d s c h a f t m i t der Suche n a c h „ k a m e r a d s c h a f t l i c h e m A n s c h l u s s " z u e r k l ä r e n . 1 6 D a s ist angesichts der aus d e m e l i t ä r e n Selbstverständnis f o l g e n d e n strengen A u s w a h l k r i t e r i e n u n d der gegenüber d e n S A - u n d P a r t e i m i t g l i e d s c h a f t e n z a h l e n m ä ß i g ausgesprochen k l e i n e n G r u p p e der S S - A n g e h ö r i g e n l e i c h t als e x k u l p i e r e n d e A r g u m e n t a t i o n s s t r a t e g i e z u d u r c h s c h a u e n . 1 7 S i c h e r l i c h ist i n R e c h n u n g z u stellen, dass es f ü r C r ä m e r i n W e i m a r besonders l e i c h t g e w e s e n war, G l e i c h g e s i n n t e z u treffen. D e n n d i e N a t i o n a l s o z i a l i s t e n hatte sich i n T h ü r i n g e n - u n d h i e r insbesondere i n W e i m a r - schon f r ü h g r o ß e n Z u s p r u c h s erfreuen k ö n n e n . D a b e i p r o f i t i e r t e n sie n i c h t z u l e t z t v o n d e m h i e r besonders ausgeprägten v ö l k i s c h - r e c h t s k o n s e r v a t i v e n M i l i e u . 1 8 I n d e m v o m 13 Kolb: Weimarer Republik, S. 1 3 4 - 1 3 7 ; Dieter Gessner: Die Weimarer Republik, Darmstadt 2002, S. 104/105.

14 Crämer erhielt bei der SS die Mitgliedsnummer 43881 ( B A Berlin-Lichterfelde B D C Parteikartei). Aus seinen Angaben gegenüber dem K M vom März 1939 ergibt sich, dass er vom 20. 8 . - 2 0 . 12. 1930 der SA angehörte, danach „inoffiziell" zur SS wechselte und dieser dann offiziell am 1.3. 1932 beitrat (BayHStA M K 43500, Angaben gegenüber dem K M im Zusammenhang mit den Berufungsverhandlungen am 5. 3. 1939). Im August 1933 wurde er zum Rottenführer, im Januar 1934 zum Unterscharführer befördert (BayHStA M K 43500, Verteidigungsschrift Crämers an Spruchkammer München 30. 4. 1948). 15

Wie erwähnt, war von den Ordinarien der Geschichtswissenschaft kein einziger vor 1933 zur NSDAP gestoßen (Schulze: Geschichtswissenschaft, S. 3 4 / 3 5 ) . Und selbst gegenüber der Gruppe der sog. „Gegnerforscher" des SD wie dem Bauernkriegsforscher Günther Franz, der der N S D A P und SA erst im Jahr der Machtergreifung, der SS erst 1935 beitrat, oder SD-Historikern wie Rudolf Levin, Hermann Löffler, Hans Schick und Walter Wache steht Crämer mit seinem frühen Eintritt ausgesprochen exponiert da (zu den Personen im Einzelnen Joachim Lerchenmüller: Die Geschichtswissenschaft in den Planungen des Sicherheitsdienstes der SS. Der SD-Historiker Hermann Löffler und seine Denkschrift „Entwicklung und Aufgaben der Geschichtswissenschaft in Deutschland", Bonn 2001, S. 3 0 - 5 0 , 53-57). 16 BayHStA M K 43500, Verteidigungsschrift Crämers an die Spruchkammer München 30. 4. 1948. 17

Die bei Dienstantritt Heinrich Himmlers im Januar 1929 aus 280 Männern bestehende SS wuchs von 2.000 Mann im Jahr 1930 auf 30.000 Mann im Jahr 1932 an. Zum Zeitpunkt der „Machtergreifung" betrug die Stärke der Eliteformation 52.000 Mitglieder (Ermenhild Neusüss-Hunkel: Die SS, Hannover/Frankfurt a.M. 1956, S. 8). 18

So Justus H. Ulbricht: Kulturrevolution von rechts. Das völkische Netzwerk 1900-1930, in: Detlev Heiden /Gunther Mai (Hgg.): Nationalsozialismus in Thüringen, W e i m a r / K ö l n / W i e n 1995, S. 2 9 - 4 8 . Zur Frühgeschichte der NSDAP in Thüringen Donald R. Tracey: Der Aufstieg der N S D A P bis 1930, in: Detlev Heiden /Gunther M a i (Hgg.): Nationalsozialismus in Thüringen, W e i m a r / K ö l n / W i e n 1995, S. 4 9 - 7 4 .

2.1 Weimar (1930-1933)

49

ebenso stürmischen wie krisenhaften wirtschaftlichen Strukturwandel seit den zwanziger Jahren besonders stark betroffenen Land konnten extremistische Bewegungen von rechts und links leicht Anhänger mobilisieren. M i t den Folgen der Weltwirtschaftskrise verschärfte sich die Lage dramatisch. 19 Thüringen hatte bald eine der höchsten Arbeitslosenquoten des Deutschen Reiches. 2 0 Es war daher kein Zufall, dass es das erste Land war, das mit Wilhelm Frick im Januar 1930 einen nationalsozialistischen Minister erhielt. M i t Frick als Innen- und Volksbildungsminister wurde Thüringen zur „Probebühne der Machtergreifung", zum „Experimentierfeld" 2 1 einer nationalsozialistischen Regierungspolitik mit Entlassungen von republiktreuen Beamten und Lehrern, massiven Eingriffen in die Bildungsund Kulturpolitik und Konflikten mit der sozialdemokratischen Reichsregierung. 22 In der „Ära Frick" erfuhr Thüringen einen „ersten Vorgeschmack nationalsozialistischer Staatspolitik", die das gesellschaftliche und politische Leben in diesem Land nachhaltig polarisierte und vergiftete. 23 Die Kleinräumigkeit der Verhältnisse tat ein übriges zur Radikalisierung der Auseinandersetzungen. Nach dem Sturz der Regierung Frick im Frühjahr 1931 war das Parlament wegen fortdauernder Tumulte und offener Ausschreitungen weitgehend gelähmt. SA-Aufmärsche und politische Gewalt prägten die letzten Jahre der Republik. Nach einem turbulenten Wahlkampf für die Landes- und Reichstags wähl, in dem Hitler durch mehrere Auftritte die Anhänger der NSDAP mobilisiert hatte, übernahm im August 1932 mit Fritz Sauckel bereits wieder ein Nationalsozialist die Regierung im Kleinstaat. Der

19

Bislang fehlt eine umfassende Gesamtdarstellung der Geschichte Thüringens in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus. Einen Überblick geben die knappen Darstellungen bei Bernhard Post: Thüringen unter nationalsozialistischer Herrschaft 1 9 3 2 - 1945: Staat und Verwaltung, in: Andreas Dornheim /Bernhard Post/Burkhard Stenzel: Thüringen 1933-1945. Aspekte nationalsozialistischer Herrschaft, Erfurt 1997, S. 9 - 5 2 , hier besonders S. 1 1 - 1 6 ; Herbert Hömig: Thüringen unter dem Nationalsozialismus, in: Dietrich G i l l e / A u g u s t Wilhelm Kaiser (Hgg.): Thüringen unter dem Sternenbanner. A p r i l bis Juni 1945, Wiesbaden 1990, S. 1 3 - 2 7 ; Reinhard Jonscher: Kleine thüringische Geschichte. Vom Thüringischen Reich bis 1945, Jena 1993; Jürgen John/Reinhard Jonscher/Axel Stelzner: Geschichte in Daten. Thüringen, München / B e r l i n 1995. Den derzeitigen Forschungsstand referieren Jürgen John/Gunther Mai: Thüringen 1918-1952. Ein Forschungsbericht, in: Detlev Heiden / Gunther M a i (Hgg.): Nationalsozialismus in Thüringen, W e i m a r / K ö l n / Wien 1995, S. 5 5 3 - 5 9 0 , hier S. 5 5 4 - 5 6 7 . 20 Jonscher: Geschichte, S. 237. 21 Hildegard Brenner: Die Kunstpolitik des Nationalsozialismus, Reinbeck bei Hamburg 1963, S. 22. 22 Vgl. dazu Günter Neliba: Wilhelm Frick und Thüringen als Experimentierfeld für die nationalsozialistische Machtergreifung, in: Detlev Heiden/Gunter M a i (Hgg.): Nationalsozialismus in Thüringen, W e i m a r / K ö l n / W i e n 1995, S. 7 5 - 9 6 ; ders.: Wilhelm Frick Reichsinnenminister und Rassist, in: Ronald Smelser/ Enrico Syring/Rainer Zitelmann (Hgg.): Die Braune Elite II. 21 weitere Biographische Skizzen, Darmstadt 1993, S. 8 0 - 9 0 und ausführlich ders.: Wilhelm Frick. Der Legalist des Unrechtsstaates. Eine politische Biographie, Paderborn u. a. 1992. 23 Karl Dietrich Bracher: Die Auflösung der Weimarer Republik, 5. Aufl. Königstein i. Ts. 1978, S. 167, 320. 4 Jcdlitschka

50

2. Nationalsozialismus als Chance

neue thüringische Volksbildungsminister Wächtler ordnete beispielsweise im Herbst einen Hass-Wechselspruch gegen den Versailler Vertrag und die Kriegsschuldlüge an. 2 4 Dieses Klima der Polarisierung und politischen Gewalt ist der Kontext, in dem Crämers früher Eintritt in die SS gesehen werden muss. Dennoch reicht dies zur Erklärung nicht aus. Wie gezeigt, war Crämer aus der bündischen D A G über den NSDStB zur NSDAP gestoßen. Bündische Sozialisation bedeutet aber gerade nicht ein Aufgehen in der Masse, sondern die Vorstellung von elitärer Auserwähltheit. In der SA hatte es ihn deshalb nicht lange gehalten. Der elitäre Gestus der SS entsprach weit mehr seinem Selbstverständnis und Ehrgeiz als die Straßenkämpferattitüde der SA. Noch knapp zwei Wochen vor der „Machtergreifung" hatte der junge SS-Mann die Gelegenheit, A d o l f Hitler persönlich kennen zu lernen. Stolz berichtete er später von dem nächtlichen Treffen auf dem Marktplatz von Weimar. Der „Führer" habe ihn und seine drei Begleiter „durch Handschlag" begrüßt und „eine Reihe von Fragen" an jeden persönlich gestellt. 2 5 Hitlers Besuch am siebzehnten Januar 1933 hing mit der NSDAP-Gauleitertagung zusammen, die am Tag zuvor noch ganz i m Zeichen des Gregor-Strasser-Konfliktes in der Goethe-Stadt stattgefunden hatte. 2 6 Offenbar war Hitler in Weimar geblieben, um der „Reichsgründungsfeier" der nationalsozialistischen Landesregierung gemeinsam mit Reichswehr, Polizei, SA, SS und Stahlhelm beizuwohnen. 2 7 Als dann wenig später die Nationalsozialisten die Macht übertragen bekamen, war der SS-Angehörige Crämer selbstverständlich zur Stelle. Nachdem am 27. Februar der Reichstag in Flammen aufgegangen war, wurde er als „Hilfspolizeibeamter" in Thüringen eingesetzt. 28 Er war damit einer der ca. 50.000 Hilfspolizisten, die Göring i m Zusammenhang mit der „Reichstagsbrandverordnung" rekrutierte und die in den meisten Ländern zur Unterstützung der regulären Polizei aufgestellt wurden. Der größte Teil dieser Ordnungskräfte entstammte wiederum der SA und SS. Die mit Pistole oder Karabiner bewaffneten Hilfspolizisten sollten eigentlich Versammlungen, Lokale und Einrichtungen von Partei-Organisationen sichern helfen, dienten jedoch von Anfang an mehr der Verfolgung politischer Gegner. 29 In 24 Jonscher: Geschichte, S. 2 3 7 - 2 3 9 ; John/Jonscher/Stelzer: S. 2 2 9 - 2 3 1 . 25

B A Berlin-Lichterfelde 9. 11. 1937.

BDC

Oberstes Parteigericht

Geschichte in Daten,

(OPG), Lebenslauf

Crämers

26 Vgl. Udo Kissenkoetter: Gregor Strasser - NS-Parteiorganisator oder Weimarer Politiker?, in: Ronald Smelser/Rainer Zitelmann (Hgg.): Die Braune Elite I. 22 Biographische Skizzen, 3. Aufl. Darmstadt 1994, S. 2 7 3 - 2 8 5 ; Kolb: Weimarer Republik, S. 139/ 140. 27

John/Jonscher/Stelzner: Thüringen, S. 234/235.

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U A M O - N - 1 0 Crämer, Lebenslauf Crämers 14.5. 1934.

29

Friedrich Wilhelm: Die Polizei im NS-Staat. Die Geschichte ihrer Organisation im Überblick, Paderborn u. a. 1997, S. 4 7 / 4 8 ; Albrecht Tyrell: A u f dem Weg zur Diktatur: Deutschland 1930 bis 1934, in: Karl Dietrich Bracher u. a. (Hgg.): Deutschland 1933-45.

2.1 Weimar (1930-1933)

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Thüringen fand das seinen Ausdruck in einer groß angelegten Verhaftungswelle vor allem gegen Funktionäre der KPD, von denen allein von März bis Juni knapp 1.000 inhaftiert wurden. Für deren Internierung wurde auf dem Flughafen Nohra bei Weimar das erste deutsche Konzentrationslager errichtet. 3 0 Ob sich Crämer an Aktionen gegen missliebige Politiker und kommunistische bzw. sozialistische Parteifunktionäre beteiligte, ist mit dem zur Verfügung stehenden Material nicht zu klären. 3 1 In „vaterländischer Opferbereitschaft" versah er, wie er später nicht zu betonen vergaß, seinen Dienst als SS-Angehöriger über den gesamten Zeitraum des sog. „Machtausbaus" 3 2 hinweg, von den letzten, nur noch „halbfreien" Wahlen am 5. März über die Gleichschaltung der Länder und den „Tag von Potsdam" bis zum sog. „Ermächtigungsgesetz", mit dem Hitler am 24. März endgültig den Rechtsstaat aushöhlte und die Phase der Konsolidierung seiner Macht abschloss. 33 Crämers Einsatz bot die Gewähr dafür, dass, wie der Reichsinnenminister Frick anerkennend schrieb, „gewissenlose Elemente" von ihren „staatsgefährdenden Absichten" abgehalten worden waren und „Ruhe, Ordnung und Sicherheit" in Weimar gewährleistet blieben. 3 4 Die eigentliche Stunde schlug für den SS-Intellektuellen Crämer aber nach den ersten revolutionären Monaten. Als Scharführer des Weimarer SS-Sturms 1 / I I / 14 wurde er i m M a i zum Schulungsleiter des Rasse- und Siedlungsamtes der SS er-

Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, 2. Aufl. Bonn 1993, S. 1 5 - 3 1 , hier S. 2 0 / 2 1 . 30

John/Jonscher/ Stelzner: Geschichte in Zahlen, S. 2 3 6 - 2 3 9 . Zur Einrichtung der ersten Konzentrationslager als Folge der Verhaftungswelle nach dem Reichstagsbrand Wilhelm: Polizei im NS-Staat, S. 5 3 - 6 0 . 31 A u f eine entsprechende Anfrage der Münchner Spruchkammer teilte die Kriminalpolizeistelle Weimar mit, dass keine Auskünfte gegeben werden könnten, da die gesamte Einwohnerkartei durch Kriegseinwirkung verloren gegangen sei (BayHStA M K 43500, Schreiben der Thüringischen Kriminalpolizei Dienststelle Weimar an die Berufungs- und Spruchkammer München V I I 3 1 . 5 . 1947). Auch in den Personalakten des Thüringischen Volksbildungsministeriums und den Unterlagen des ehemaligen B D C finden sich keine Angaben zur Crämers Hilfspolizeitätigkeit in Weimar. 32

Diese Phase der Etablierung und Absicherung der an die Nationalsozialisten „übergebenen" bzw. von diesen „ergriffenen" Macht wird in der Literatur übereinstimmend als zusammenhängender Abschnitt angesehen. Unterschiede finden sich lediglich in der Wahl des jeweiligen bezeichnenden Begriffes. So spricht Bernd-Jürgen Wendt von den „Stufen der Machteroberung" (Bernd-Jürgen Wendt: Deutschland 1933-1945: Das „Dritte Reich", Hannover 1995, S. 6 7 - 1 2 6 ) , Hans-Ulrich Thamer von „Machtausbau" (Thamer: Verführung und Gewalt, S. 2 3 1 - 3 3 6 ) , Albrecht Tyrell von einem „Machteroberungsprozeß" (Tyrell: A u f dem Weg zur Diktatur, S. 15) und Klaus Hildebrand von der „Errichtung der totalitären Diktatur" (Klaus Hildebrand: Das Dritte Reich, 4. Aufl. München 1991, S. 1 - 1 4 ) . 33 Genauer vom 28. 2 . - 3 1 . 3. 1933, wie Crämer anlässlich einer späteren Bewerbung im April 1939 anfügte (BayHStA M K 43500).

34 B A Berlin-Lichterfelde B D C 203 Ra, Akten des Obersten Parteigerichts der N S D A P zum Fall Ulrich Crämer (OPG Crämer), Abschrift Dankesschreiben Fricks an Crämer 31. 3. 1933.

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2. Nationalsozialismus als Chance

nannt. 3 5 Das Rasse- und Siedlungsamt der SS (RuS), ab 1935 Rasse- und Siedlungshauptamt (RuSHA), eines der drei ältesten SS-Hauptämter, war für den ideologischen Kernbereich des Nationalsozialismus zuständig. 3 6 Die „Rasse" sollte im Sinne der Reinerhaltung der „arischen Rasse" durch die „Aufnordung des deutschen Volkes" beschützt werden, wozu durch die Neugewinnung von Lebensraum durch „Siedlung", also Ostsiedlung und Germanisierung eroberter Gebiete, die Basis zu schaffen war. Das RuS, bereits i m Dezember 1931 gegründet, war zuständig für Ehegenehmigungen und Rasseexamina der SS, für die rassische Selektion von „Volksdeutschen" und „Fremdvölkischen", für die Requisition und Neuverteilung von beschlagnahmtem Grund und Boden in den besetzten Gebieten, und für die weltanschauliche Schulung der SS-Leute. Die Schulung war gerade in der ideologischen Formierungsphase der dreißiger Jahre bis etwa 1938 ein vordringliches Anliegen. Hierfür wurden als „Schulungsleiter" bevorzugt Männer von theoretischer Ausbildung rekrutiert, die auf allen Ebenen vom „SS-Sturm" bis zum „SSAbschnitt" in wöchentlichen „Schulungsabenden", manchmal auch verbunden mit Exkursionen, die SS-Angehörigen weltanschaulich und rassisch unterwiesen. Wegen ihrer Kenntnisse waren hierfür u. a. Historiker besonders geeignet. Dass Kandidaten weltanschaulich absolut zuverlässig sein mussten, versteht sich von selbst. 37 Da war der Altparteigenosse und bewährte SS-Historiker Crämer geradezu ein idealer Kandidat. Er hatte zudem nicht nur studiert, sondern empfahl sich durch die Professionalität des eine Universitätslaufbahn anstrebenden Spezialisten. Seine Aufgabe bestand in der ideologischen Schulung der SS-Mitglieder, hauptsächlich durch Vorträge. Mindestens zwei solcher Schulungen sind belegt. Ende Oktober hielt Crämer verschiedene Vorträge beim Schulungslehrgang des RuS für den X V I I I . SS-Abschnitt im Lager Crawinkel bei Ohrdruf, Anfang 1934 sprach er vor dem SS-Oberabschnitt Mitte in Weimar. 3 8 Daneben dürfte er selbst an weiteren Schulungen teilgenommen haben. Leider sind auf Grund der Quellenlage keine Aussagen zum Inhalt der Crämerschen Vorträge zu machen. 3 9 Die beiden Haupt-

35 Vgl. Crämers Zusammenstellung „Tätigkeit in der National-Sozialistischen Deutschen Arbeiter-Partei (NSDAP)" 14. 5. 1934 (UAJ M 633). 36

Heinemann: „Rasse, Siedlung, deutsches Blut", S. 4 9 - 125; Isabel Heinemann: „Another Type of Perpetrator": The SS Racial Experts and Forced Population Movements in the Occupied Regions, in: Holocaust and Genocide Studies 15,3 (2001), S. 4 8 7 - 5 1 1 , hier S. 503 Anm. 15; Schuller: Reichssippenamt, S. 3 1 1 - 3 2 5 ; Horst Gies: Zur Entstehung des Rasseund Siedlungshauptamts der SS, in: Paul Kluke zum 60. Geburtstag. Dargebracht von Frankfurter Schülern und Mitarbeitern, Frankfurt a.M. 1968, S. 1 2 7 - 1 3 9 , hier S. 1 3 5 - 1 3 9 ; Hans Buchheim: Die SS - das Herrschaftsinstrument, in: Hans B u c h h e i m / M a r t i n Broszat/Hans A d o l f Jacobsen / Helmut Krausnick: Anatomie des SS-Staats, 6. Aufl. München 1994, S. 1 5 - 2 1 2 , hier S. 197-207. 37 38

Heinemann: „Rasse, Siedlung, deutsches Blut", S. 6 2 - 7 6 .

Nach seinen eigenen Angaben hielt Crämer vom 28. 1 0 . - 1. 11. 1933 im Lager Crawinkel und am 2. 2. 1934 vor dem SS-Oberabschnitt Mitte in Weimar Lehrvorträge (UAJ M 633, Zusammenstellung „Tätigkeit in der National-Sozialistischen Deutschen Arbeiter-Partei (NSDAP)" 14. 5. 1934). Eine Übersicht der einzelnen SS-Abschnitte bietet Koehl: The Black Corps, S. 258/259.

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schulungsgebiete des RuS waren Rasseideologie und der Bereich der Vor- und Frühgeschichte (mit der Mystifizierung von Germanentum und deutscher Kultur). Crämer dürfte wohl eher im Bereich der historischen Schulung eingesetzt worden sein. Auch wenn seine Vorträge nicht dokumentiert sind, lassen sich doch i m Vergleich mit der Arbeit anderer SS-Historiker für das RuSHA unter Vorbehalt Rückschlüsse auf die Art von Fragestellung und Argumentation ziehen. 4 0 Neben anderen ist hier der SD-Historiker Hermann Löffler zu nennen. Wie Crämer begann auch er seine Karriere als Schulungsleiter im RuS. 4 1 Seine im Jahr 1936 erarbeitete Studie über den Begründer der schwedischen Wasa-Dynastie Gustav I. gibt einen Eindruck dessen, was in den vom RuS veranstalteten Schulungen geboten wurde. Löffler verformte hier den Schwedenkönig zur Verkörperung des SS-Männlichkeitsideals. Als Manifestation des „nordischen Menschen" setzte er ihn in Parallele zum von Himmler verehrten deutschen König Heinrich I. Die angebliche bäuerliche Lebensart des Schweden wurde als „Lebensquell der nordischen Rasse" im Sinne des Wehrbauerntums gefeiert. 42 Ähnliches wird vom Schulungsleiter Crämer erwartet worden sein. Die SS-Ideologie war durch die Geschichte zu legitimieren, vorzugsweise durch die Skizze von „herrenhaften" Vorbildgestalten. Dabei sollten die Schulungsleitern darauf achten, dass ihre Interpretationen auch dem Verständnis „einfacher Männer" gerecht würden. Die so geschulten SS-Männer sollten auf diese Weise zu „Träger[n] und Verbreiterin] des deutschen Lebensgefühls werden, das alle fremdvölkische Suggestion auf die Dauer von selbst ausscheidet" 43 . I m Ergebnis musste das zu einer Vergewaltigung der Geschichte mit empirisch unhaltbaren und logisch verworrenen Argumenten führen. 4 4 Wie andere Beiträge zeigen, 39 Es sind keinerlei Akten zur Tätigkeit Crämers im RuS(HA) überliefert. Nach seinen eigenen Angaben verlief seine SS-Karriere in folgenden Schritten: März 1932 Eintritt als Anwärter in die SS im SS-Sturm 1/11/ 14 Weimar, 2. 5 . - 1 2 . 9. 1933 „diensttuender Scharführer" im SS-Sturm 1 / I / W e i m a r ; 19. 5. 1933 Ernennung zum Schulungsleiter des Rasse- und Siedlungsamtes SS; 31.8. 1933 Beförderung zum SS-Sturmmann; 12. 9. 1933 Versetzung in den Stab der 47. SS-Standarte; 9. 11. 1933 unter Umgehung der Beförderung zum SS-Rottenführer Beförderung durch den Reichsführer SS zum SS-Scharführer; 19. 11. 1933 Versetzung in den Stab des SS-Sturmbanns 1/47; ab Februar 1934 SS-Scharführer z.b.V. im Stab des SSSturmbanns 1/47 Weimar (UAJ M 633, Zusammenstellung „Tätigkeit in der National-Sozialistischen Deutschen Arbeiter-Partei (NSDAP)" 14. 5. 1934). 40 Zur Schulungspraxis der SS und ihrem Curriculum ist kein einschlägiger Quellenbestand überliefert. Zur Organisation und Bedeutung der SS-Schulungen siehe die Studien von Jürgen Matthäus (Jürgen Matthäus: Ausbildungsziel Judenmord? Zum Stellenwert der weltanschaulichen Erziehung' von SS und Polizei im Rahmen der ,Endlösung', in: ZfG 47 (1999), S. 6 7 3 - 6 9 9 ; ders.: Die „Judenfrage" als Schulungsthema von SS und Polizei. „Inneres Erleben" und Handlungslegitimation, in: ders./Kwiet, Konrad /Förster, Jürgen (Hgg.): Ausbildungsziel Judenmord? „Weltanschauliche Erziehung" von SS, Polizei und Waffen-SS im Rahmen der „Endlösung", Frankfurt a.M. 2003, S. 3 5 - 8 6 ) . 41

Lerchenmüller: Geschichtswissenschaft, 5 7 / 5 8 . Auch der Bauernkriegsforscher Günther Franz startete seine Karriere im SD als Schulungsleiter im RuS (ibid., S. 3 3 / 3 4 ) . 42 43

Vgl. Lerchenmüller: Geschichtswissenschaft, S. 6 2 - 6 5 .

Vgl. dazu die Analyse der entsprechenden Richtlinien des RuSHA bei Lerchenmüller: Geschichtswissenschaft, S. 6 2 / 6 3 .

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2. Nationalsozialismus als Chance

die an späterer Stelle analysiert werden, war auch Crämer zu entsprechenden Interpretationen der Vergangenheit durchaus bereit. 4 5 Auch wenn sich die „Tatrelevanz" ideologischer Indoktrination nur sehr schwer empirisch und methodisch fassen lässt, bleibt doch festzuhalten, dass die Schulungstätigkeit des RuS der Legitimation, Multiplikation sowie dem Training der SS-Ideologie und damit der Verfestigung von Stereotypen und Feindbildern diente. Damit war sie ein wesentliches Element der Stabilisierung des nationalsozialistischen Systems und schuf die Basis für den später vor allem gegen die Sowjetunion exekutierten menschenverachtenden „Weltanschauungskrieg" sowie schließlich auch der „Endlösung der Judenfrage" 46 . Auch ohne konkrete Belege ist hier den in dieser Schulung tätigen SS-Intellektuellen eine Mitverantwortung zuzuweisen. Die SS und das RuSHA boten ideale Voraussetzungen für vielversprechende Karrieren ehrgeiziger Nachwuchswissenschaftler. So avancierte der Bauernkriegsforscher Günther Franz schnell zum „Obergutachter" der wissenschaftlich-ideologischen Gegnerforschung des SD, mit dem Franz spätestens seit Anfang 1939 zusammenarbeitete. 47 Löffler wechselte 1938 in die SS-Forschungsgemeinschaft „Das Ahnenerbe", blieb aber weiterhin dem SD verbunden und erstellte beispielsweise unter nachrichtendienstlichen Fragestellungen Dossiers über die universitäre Geschichtswissenschaft, die historischen Zeitschriften und deren ideologische Kongruenz. 4 8 Ähnliche Karrieren verfolgten eine Reihe anderer Referenten des RuSHA wie Joseph Otto Plaßmann oder der Germanist Ernst Schneider, die im „Ahnenerbe" reüssierten. 49 Auch dem Historiker Crämer hätte eine solche Karriere offengestanden. Allerdings hatte er andere Pläne. Einerseits wollte er, weiterhin als zuständiger Mitarbeiter mit dem „Carl-August-Werk" betreut, seine in diesem Rahmen begonnene Studie über die politische Korrespondenz des Herzogs abschließen, um sich mit dieser 44 Vgl. dazu auch den Tätigkeitsbericht Löfflers, den dieser im Juli 1938 nach einer zweijährigen Arbeit als Schulungsleiter des RuSHA verfasste (Lerchenmüller: Geschichtswissenschaft, S. 6 5 / 6 6 ) . Weiter hierzu Matthäus: Ausbildungsziel Judenmord?, S. 687. 4