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German Pages 330 [338] Year 2014
Osteuropäische Geschichte und Globalgeschichte
Geschichte
Martin Aust / Julia Obertreis (Hg.)
Franz Steiner Verlag Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa Herausgegeben vom Verband der Osteuropahistorikerinnen und -historiker e.V.
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Martin Aust / Julia Obertreis (Hg.) Osteuropäische Geschichte und Globalgeschichte
quellen und studien zur geschichte des östlichen europa Begründet von Manfred Hellmann, weitergeführt von Erwin Oberländer, Helmut Altrichter, Dittmar Dahlmann und Ludwig Steindorff, in Verbindung mit dem Vorstand des Verbandes der Osteuropahistorikerinnen und -historiker e.V. herausgegeben von Jan Kusber
Band 83
Martin Aust / Julia Obertreis (Hg.)
Osteuropäische Geschichte und Globalgeschichte
Franz Steiner Verlag
Umschlagabbildung: Nikolaj Chorunžin (1907–1979): „Seismologen“, aus: Soviet Photography. Das sowjetische Kunstfoto, Moskau 1963, Nr. 43. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2014 Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10809-6 (Print) ISBN 978-3-515-10813-3 (E-Book)
INHALTSVERZEICHNIS Martin Aust und Julia Obertreis Einleitung ..................................................................................................... 7 GLOBALGESCHICHTE INTERIMPERIAL Ulrich Hofmeister Zwischen Kontinentalimperium und Kolonialmacht Repräsentationen der russischen Herrschaft in Turkestan, 1865–1917 ..... 27 Moritz Deutschmann An den Grenzen des Völkerrechts Recht und internationale Anerkennung in den Beziehungen des Zarenreichs zum Iran ................................................................................. 49 Frank Grüner Russland in Asien Globale Verflechtungen und kulturelle Austauschprozesse in der Mandschurei und Harbin in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts .......... 69 Sören Urbansky Der Kosake als Lehrer oder Exot? Fragen an einen Mandschukuo-Dokumentarfilm über die bäuerliche russische Diaspora am Grenzfluss Argun’ ............................................... 103 EXPEDITIONEN ZUR SEE UND POLARFORSCHUNG: WISSENSCHAFTSGESCHICHTE TRANSNATIONAL Martina Winkler „Eine handelnde Nation werden“ Die erste russländische Weltumseglung, 1803-1806 ............................... 131 Birte Kohtz „Wir haben kühne Seeleute genug…“ Russländische Arktisforschung in der Mitte des 19. Jahrhunderts aus globalgeschichtlicher Perspektive ............................................................ 153 Alexander Kraus Scheitern als Chance Auch eine Vorgeschichte des Ersten Internationalen Polarjahres 1882/83..................................................................................................... 175
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Inhaltsverzeichnis
IMAGINATIONEN UND KOOPERATIONEN IM KALTEN KRIEG Andreas Hilger „Sie bringen das Licht der Sowjetkultur“ Literaturbeziehungen zwischen der UdSSR und Indien, 1945–1964 ...... 197 Sara Lorenzini Modernisierung durch Handel Der Ostblock und die Koordinierung der Entwicklungshilfe in der Ständigen Kommission für Technische Unterstützung ............................ 221 Nataša Mišković Wer erfand die Blockfreiheit? Überlegungen zur Verknüpfung von Osteuropäischer Geschichte und Globalgeschichte ...................................................................................... 237 Robert Brier Tod eines Priesters Der Erinnerungskult um Jerzy Popiełuszko aus globalhistorischer Perspektive ............................................................................................... 259 Gesine Drews-Sylla Limonovs Négritude-Lektüre in Ėto ja – Ėdička Intertextualität und weltliterarische Vernetzung ...................................... 283 KOMMENTARE Birgit Schäbler Zum Verhältnis von Regionalgeschichte (Area History) und Globalgeschichte (Global History) am Beispiel der Osteuropäischen Geschichte ................................................................................................ 307 Katja Naumann Osteuropäische Geschichte und Globalgeschichte Ein Kommentar ........................................................................................ 317
EINLEITUNG* Martin Aust und Julia Obertreis Der Boom der Globalgeschichte ist in den letzten Jahren mehrfach konstatiert worden, vor allem von ihren Verfechtern. Tatsächlich entwickelt sich die Globalgeschichte rasant und hat nicht nur Zeitschriften und Internetforen, sondern vor allem auch spannende Debatten hervorgebracht, die – ganz allgemein gesprochen – um neue räumliche Bezugs- und Verschränkungsebenen und die Überwindung des Eurozentrismus in der Geschichtsschreibung kreisen sowie, damit verbunden, bisherige Großannahmen hinterfragen.1 Wieso „Globalgeschichte“, und nicht „Weltgeschichte“ oder „Universalgeschichte“, „transnationale Geschichte“ oder anderes? Zugegebenermaßen sind diese Begriffe als Bezeichnungen für Forschungsrichtungen nicht klar voneinander zu trennen, sondern überlappen vielfach und werden in der Praxis teils synonym gebraucht. Auch haben sich, wie Dominic Sachsenmaier feststellt, um die Zeitschriften „Journal of Global History“ und „Journal of World History“ keine rivalisierenden Schulen herausgebildet, die den jeweiligen Begriff verteidigen würden.2 Dennoch lassen sich einige Charakteristika der Globalgeschichte festmachen, die sie in unseren Augen gegenüber den anderen Ansätzen für das Vorhaben dieses Bandes privilegiert: im Vergleich zur „Weltgeschichte“ und „Universalgeschichte“, die über weitaus längere Traditionen verfügen, ist sie nicht im gleichen Maße von den Hypotheken des Eurozentrismus und teleologischer Fortschrittsnarrative belastet. Der Anspruch der Globalgeschichte ist es zudem explizit nicht, in ihren einzelnen Beiträgen jeweils die „ganze Welt“ im Blick zu haben. Sie bescheidet sich damit, die Spannung zwischen lokalen, regionalen und globa *
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Die Herausgeber danken dem VOH sowie dem Herder-Institut für die großzügige Unterstützung einer Tagung zum Thema dieses Bandes, die im Februar 2011 am Herder-Institut in Marburg stattgefunden hat. Wir danken dem VOH zudem für die generöse Unterstützung der Drucklegung dieses Bandes. Dank gebührt zudem Manuel Eberhardt und Vera Achmed-Zade für die Mitarbeit an der Endredaktion und Formatierung. Als eine kleine Auswahl an Einführungen und Einblicken: Sebastian Conrad / Andreas Eckert / Ulrike Freitag (Hg.): Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen (Globalgeschichte 1), Frankfurt am Main u.a. 2007; Peer Vries (Hg.): Global History = Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 20 (2009), 2; Dominic Sachsenmaier: Global Perspectives on Global History. Theories and Approaches in a Connected World. Cambridge, UK / New York 2011; Sebastian Conrad: Globalgeschichte. Eine Einführung (Beck’sche Reihe 6079), München 2013. Sachsenmaier: Global Perspectives (wie Anm. 1), S. 77f.
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len Handlungs- und Verflechtungsebenen exemplarisch zu untersuchen. Das macht sie weniger anfällig für (über)große Erklärungsmuster, die dem Einzelfall nur wenig gerecht werden können. Sie geht in der Regel nicht von ökonomischen, politischen oder sonstigen „Weltsystemen“ aus – auch wenn Weltsystemstudien als ein Baustein ihres Fundaments gesehen werden können –, sondern versucht, globale Zusammenhänge von unten her zu rekonstruieren.3 Mit den anderen genannten Ansätzen teilt sie allerdings das Bestreben, sich von einer eurozentrischen Perspektive kritisch zu distanzieren und das Nationale als dominierende Analyseund Deutungskategorie aufzubrechen. Dass dabei auch die Globalgeschichte bislang „kein universales Anliegen“ ist, sondern vom „Westen“, vor allem von den USA aus, initiiert und geformt wird – selbst aus Asien oder Afrika stammende Historiker/innen, die in der Globalgeschichte prominent vertreten sind, arbeiten und leben in der Regel in Nordamerika –, ist dabei verschiedentlich konzediert worden.4 Hinzu kommt, was Jürgen Osterhammel und andere am Beispiel Deutschlands gezeigt haben: auch für die Globalgeschichte gilt, dass sie in bestimmten, oft national geprägten und institutionalisierten Forschungskontexten und akademischen Kulturen entsteht und damit durchaus kein global einheitliches Gesicht zeigt.5 Der vorliegende Band geht von der Beobachtung aus, dass Osteuropa als Geschichtsregion bislang keine besonders prominente Rolle in der Globalgeschichte spielt und sogar geradezu marginalisiert wird. Osteuropa ist weder ein Kontinent, noch wird es üblicherweise mit einer der großen Zivilisationen gleichgesetzt oder zu den Weltregionen gezählt. Von daher hat es anders als etwa „Asien“ nicht per se seinen festen Platz in globalgeschichtlichen Betrachtungen eingenommen.6 Der 3
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Zu „Weltsystem als Herangehensweise an Globalgeschichte“ siehe etwa: Andrea Komlosy: Globalgeschichte. Methoden und Theorien (UTB Geschichte 3564), Wien u.a. 2011, S. 188– 209. Ursprünglich gehen Weltsystemkonzeptionen in der Historiographie auf Immanuel Wallerstein zurück: Immanuel Wallerstein, Das moderne Weltsystem, Frankfurt am Main 1986–2004. In der Osteuropahistoriographie hat Hans-Heinrich Nolte Wallersteins Konzeption aufgegriffen und seinen Arbeiten zugrundegelegt: Hans-Heinrich Nolte: Zur Stellung Osteuropas im System der Frühen Neuzeit. Außenhandel und Sozialgeschichte bei der Bestimmung der Regionen, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 28 (1980), S. 161–197; Ders.: Weltgeschichte. Imperien, Religionen und Systeme 15. – 19. Jahrhundert, Wien 2005; Ders.: Weltgeschichte. 20. Jahrhundert, Wien 2009. Ders.: Geschichte Russlands, Stuttgart 2012. Deutlich etwa bei: Sebastian Conrad / Andreas Eckert: Globalgeschichte, Globalisierung, multiple Modernen. Zur Geschichtsschreibung der modernen Welt, in: Conrad / Eckert / Freitag (Hg.): Globalgeschichte (wie Anm. 1), S. 7–49, hier S. 48; siehe auch: Peer Vries: editorial: global history, in: Vries (Hg.): Global History (wie Anm. 1), S. 5–21, hier S. 16f. Vries: editorial (wie Anm. 4), S. 17. Zu Deutschland: Jürgen Osterhammel: Global History in a National Context. The Case of Germany, in: Vries (Hg.): Global History (wie Anm. 1), S. 40–58. Vgl. auch: Sachsenmaier: Global Perspectives (wie Anm. 1), S. 110–171. Hagen Schulze etwa beschrieb allerdings im Vorwort zu seiner bekannten Studie Osteuropa und Westeuropa als deutlich voneinander zu unterscheidende „Zivilisationskreise“. Hagen Schulze: Staat und Nation in der europäischen Geschichte, München 1994, S. 16f. Vgl. auch Stefan Troebst: Sonderweg zur Geschichtsregion. Die Teildisziplin Osteuropäische Geschich-
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Fokus globalgeschichtlicher Aufmerksamkeit liegt bisher auf dem Verhältnis zwischen Europa und Asien, wobei damit meist Westeuropa und Ostasien gemeint sind. Viel gelesene Autoren wie Jürgen Osterhammel oder Kenneth Pomeranz haben ihre globalhistorischen Erkundungen als Asienspezialisten begonnen. Pomeranz’ viel diskutiertes Buch „The great divergence“ ist in mehrerlei Hinsicht charakteristisch für die bisherige Globalgeschichtsschreibung. Neben der prominenten Untersuchungsachse Europa – Asien zeigt es, dass aus der Wirtschaftsgeschichte starke Impulse kommen. Zudem stellt es, wie einige weitere der besonders beachteten Forschungsbeiträge, das Narrativ von Industrialisierung und Modernisierung, die zunächst das Britische Empire und dann Europa in die Welt transportierten, in Frage.7 Wenn die Marginalisierung Osteuropas beklagt wird, so bedeutet dies nicht, dass die Region in globalgeschichtlich angelegten Synthesen vollkommen ausgeblendet wäre. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Jürgen Osterhammel beschreibt in seiner umfassenden Weltgeschichte des 19. Jahrhunderts etwa ausführlich die „Eurasischen Revolutionen nach 1900“, wobei er die revolutionären Ereignisse in Russland, dem Iran, China und dem Osmanischen Reich vergleicht.8 Christopher Bayly behandelt das Agrarsystem in Russland im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert im Rahmen seiner Argumentation für die globale Bedeutung kleinbäuerlicher Arbeit und politischer Maßnahmen zur Stabilisierung des Kleinbauerntums, das oftmals als marginal für die sich industrialisierenden Wirtschaften westlicher Staaten abgetan wurde. Es ist allerdings auch Bayly, der den Satz verliert: „Die Agrargesellschaft in Russland stand, wie gewöhnlich, irgendwo zwischen dem asiatischen und dem europäischen Modell“ und damit wiederum eine schwer zu bestimmende Zwischenposition Russlands zwischen den Großkategorien Europa und Asien konstituiert.9 Die Geschichte der Imperien gehörte von Anbeginn zu den Themenfeldern, denen die Globalgeschichte für ihre eigenen Vorhaben Relevanz zuschrieb. Inzwischen liegt eine Reihe von Synthesen vor, die Imperien wahlweise in welt- und globalgeschichtlichen Zusammenhängen verorten.10 Die Geschichte des russländischen Imperiums, seiner Eliten und seiner Untertanen stellt hier keine Ausnahme dar. Ganz im Gegenteil ist auch die Russlandhistoriographie zunehmend damit
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te, in: Zeit im Spiegel. Das Jahrhundert der Osteuropaforschung = Osteuropa 63 (2013) 2–3, S. 55–80, hier S. 75. Kenneth Pomeranz: The Great Divergence. Europe, China, and the Making of the Modern World Economy (The Princeton Economic History of the Western World), Princeton, NJ 2000. Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts (Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung), München 2009, S. 798–817. Christopher A. Bayly: Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780–1914, Frankfurt am Main 2006, S. 516–521, Zitat S. 517. Beispielsweise: John Darwin: After Tamerlane. The Global History of Empire since 1405, London 2007; Jane Burbank / Frederick Cooper: Empires in World History. Power and the Politics of Difference, Princeton, NJ 2010.
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befasst, transimperiale, transnationale und internationale Kontexte der Geschichte des Zarenreiches auszuleuchten. Zu verweisen ist vor allem auf die komparative Imperienforschung, die die osteuropäischen Kontinentalimperien miteinander vergleicht, aber auch und zunehmend die Unterscheidung zwischen kontinentalen und maritimen Imperien in Vergleichen mit dem Britischen Empire aufgebrochen hat.11 Über den Imperienvergleich hinaus liegen auch Ansätze zu einer Geschichte transimperialer Transfers vor.12 Von englischsprachigen Autoren wird im Zusammenhang der Imperienforschung der Begriff „Eurasia“ gern und unbefangen gebraucht.13 So hat John Darwin in seiner weit rezipierten Studie „After Tamerlane. The global history of empire since 1405“ argumentiert, es habe zwischen der Mitte des 18. Jahrhunderts und den 1830er Jahren eine „Eurasian revolution“ gegeben. Damit meint Darwin das Erringen der Vorherrschaft europäischer Staaten über die Kernlande der großen asiatischen Imperien. Er führt diesen Prozess explizit nicht nur auf die industrielle Revolution und technisch-wissenschaftliche Aspekte zurück, sondern sieht den Umschwung sowohl im wirtschaftlichen Bereich als auch in Kultur und vor allem in der (Geo-)Politik. Das Russländische Reich, Polen und die Habsburgermonarchie spielen bei seinen Betrachtungen selbstverständlich eine bedeutende Rolle, etwa wenn es um die Teilungen Polens und den geopolitischen Aufstieg Russlands unter Katharina II. geht.14 Frühere Studien haben die Geschichte der 11
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Jörn Leonhard / Ulrike von Hirschhausen (Hg.): Comparing Empires. Encounters and Transfers in the long Nineteenth Century (Schriftenreihe der FRIAS School of History 1), Göttingen 2011; Jörn Leonhard / Ulrike von Hirschhausen: Empires und Nationalstaaten im 19. Jahrhundert (FRIAS Rote Reihe 1), Göttingen 2009; Benno Gammerl: Staatsbürger, Untertanen und Andere. Der Umgang mit ethnischer Heterogenität im Britischen Weltreich und im Habsburgerreich 1867–1918 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 189), Göttingen 2010; Karen Barkey / Rudi Batzell: Comparisons Across Empires. The Critical Social Structures of the Ottomans, Russians and Habsburgs during the Seventeenth Century in: Peter F. Bang / Christopher A. Bayly (Hg.): Tributary Empires in Global History (Cambridge Imperial and Post-Colonial Studies Series), Basingstoke 2011, S. 227–261; Kerstin S. Jobst / Julia Obertreis / Ricarda Vulpius: Neuere Imperiumsforschung in der Osteuropäischen Geschichte. Die Habsburgermonarchie, das Russländische Reich und die Sowjetunion, in: Comparativ. Zeitschrift für Globalgeschichte und vergleichende Gesellschaftsforschung 18 (2008), S. 27–56. Martin Aust / Ricarda Vulpius / A. I. Miller (Hg.): Imperium inter pares. Rol’ transferov v istorii Rossijkoj Imperii, (1700–1917) (Historia Rossica), Moskau 2010. In den USA und Japan hat sich Eurasien als Bezeichnung einer Untersuchungregion etabliert. Die American Association for the Advancement of Slavic Studies hat sich umbenannt in Association for Slavic, East European and Eurasian Studies. Die Zeitschrift Slavic Review trägt mittlerweile den Untertitel Interdisciplinary Quarterly of Russian, Eurasian, and East European Studies, siehe: , 12.09.2013. Am Slavic Research Center der Universität Hokkaido erscheint die Reihe Slavic Eurasian Studies, siehe: , 20.09.2013. John Darwin: After Tamerlane. The Global History of Empire since 1405, London / New York 2007, Kapitel 4 „The Eurasian Revolution“. Jürgen Osterhammel kritisiert allerdings an diesem von ihm insgesamt positiv besprochenen Werk zurecht, dass die geopolitische Dimen-
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eurasischen Völker und das Vordringen des Moskauer und Russländischen Reiches in die Steppe beleuchtet und so einen Beitrag zum globalgeschichtlich bedeutenden Thema des Zurückdrängens von nomadischer Bevölkerung zugunsten von Siedlern geleistet.15 In diesem Zusammenhang sind auch Grenzräume zwischen Imperien zu einem bevorzugten Untersuchungsgegenstand aufgestiegen.16 Während also die eurasischen Steppenlandschaften und deren Bevölkerungen sowie die „osteuropäischen“ Imperien relativ gut in der Globalgeschichte angekommen sind, scheint Osteuropa in vielen weiteren globalgeschichtlich relevanten Themenbereichen unterrepräsentiert, obwohl einschlägige Forschung vorliegt. Die jüngst produktive (deutschsprachige) Forschung zur Kulturgeschichte der Politik des Russländischen Reiches scheint noch wenig in globalgeschichtliche Arbeiten eingegangen zu sein.17 Dies betrifft auch die Beiträge zu multiethnischen und multikonfessionellen Regionen und Städten als Kontakt- und Konfliktzonen.18 Die
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sion eingehender hätte erläutert werden sollen. Jürgen Osterhammel: Rezension zu: Darwin, John: After Tamerlane. The Global History of Empire since 1405. London 2007, in: H-Soz-uKult, , 22.01.2009. In der deutschsprachigen Osteuropahistoriographie gilt Eurasien mehr als ein Diskurs, dessen Geschichte untersucht wird, als ein Begriff zur Bezeichnung eines Untersuchungsraumes, siehe jüngst: Stefan Wiederkehr, Die eurasische Bewegung. Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwischenkriegszeit und im postsowjetischen Russland (Beiträge zur Geschichte Osteuropas 39), Köln 2007, S. 193–289. Michael Khodarkovsky: Russia’s Steppe Frontier. The Making of a Colonial Empire, 1500– 1800. Bloomington, Ind. 2002; Nicholas B. Breyfogle / Abby Schrader / Willard Sunderland (Hg.): Peopling the Russian Periphery. Borderland Colonization in Eurasian History (BASEES / Routledge Series on Russian and East European Studies 38), New York, NY u.a. 2007. Sören Urbansky: Kolonialer Wettstreit. Rußland, China, Japan und die Ostchinesische Eisenbahn, Frankfurt am Main 2008; Ieda Osamu / Uyama Tomohiko (Hg.): Reconstruction and Interaction of Slavic Eurasia and its Neighbouring Worlds, Sapporo 2006; Uyama Tomohiko (Hg.): Asiatic Russia. Imperial Power in Regional and International Contexts, London 2012. Siehe die beiden repräsentativen Sammelbände: Jörg Baberowski / David Feest / Christoph Gumb (Hg.): Imperiale Herrschaft in der Provinz. Repräsentationen politischer Macht im späten Zarenreich (Eigene und fremde Welten 11), Frankfurt am Main / New York 2008; Walter Sperling: Jenseits der Zarenmacht. Dimensionen des Politischen im Russischen Reich, 1800– 1917 (Historische Politikforschung 16), Frankfurt am Main / New York 2008. Vgl. auch: Daniel Ursprung: Die Peripherie als Zentrum. Osteuropa und die Kulturgeschichte des Politischen, in: Osteuropa 58 (2008), Hf. 3, S. 145–156. Als Auswahl: Ulrike von Hirschhausen: Die Grenzen der Gemeinsamkeit. Deutsche, Letten, Russen und Juden in Riga 1860–1914 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 172), Göttingen 2006; C. M. Hann / Paul R. Magocsi (Hg.): Galicia. A Multicultured Land. Toronto, Buffalo 2005; Anna Veronika Wendland: Urbane Identität und nationale Integration in zwei Grenzland-Metropolen. Lemberg und Wilna, 1900–1930er Jahre. Vorstellung eines Forschungsprojektes, in: Hans-Werner Rautenberg: (Hg.): Wanderungen und Kulturaustausch im östlichen Mitteleuropa. Forschungen zum ausgehenden Mittelalter und zur jüngeren Neuzeit (Völker, Staaten und Kulturen in Ostmitteleuropa 1), München 2006, S. 145–162; Larry Wolff: The Idea of Galicia. History and Fantasy in Habsburg Political Culture, Stanford, CA 2010. Markian Prokopovych: Architecture, Public Space, and Politics in the Galician Capital
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jüdische Geschichte stellt ebenso einen Link zwischen dem östlichen Europa und der Globalgeschichte dar.19 Auch bei der Betrachtung von nation-building-Prozessen, die nicht den häufig als Modell gesetzten westeuropäischen entsprechen, hat die Osteuropäische Geschichte viel zu bieten, sei es bezüglich der „jungen Nationen“ wie der Ukraine (nach dem tschechischen Historiker Miroslav Hroch u.a.) oder bezüglich der im Rahmen von sozialistischer Nationalitätenpolitik erfolgenden wie etwa in Usbekistan.20 Gerade weil die (west)europäischen vermeintlichen StandardNationsbildungen durch diese Geschichten in Frage gestellt werden, bietet sich der Vergleich mit weiteren außereuropäischen Fällen an. Generell muss der Staatssozialismus als ein vorrangiges Expertisefeld der Osteuropäischen Geschichte gelten. Hier gilt es nicht nur, politische Praxis und Terror weiter in globale Zusammenhänge zu stellen,21 sondern auch, das Alltagsleben und die Auseinandersetzung mit dem „Westen“ als Herausforderung für das sozialistische Wertesystem zu beachten.22 Hinzu kommt die Ebene der marxistischen Ideologie und Geschichtsinterpretationen, in der der sowjetische Fall gro
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1772–1914, West Lafayette, ID, 2009; Robert Luft: Machtansprüche und kulturelle Muster nichtperipherer Regionen. Die Kernlande Böhmen, Mähren und Schlesien in der späten Habsburgermonarchie, in: Johannes Feichtinger / Ursula Prutsch / Moritz Csáky (Hg.): Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis (Gedächtnis – Erinnerung – Identität 2), Innsbruck 2003, S. 165–188; Diana Reynolds: Kavaliere, Kostüme, Kunstgewerbe. Die Vorstellung Bosniens in Wien 1878–1900, in: Ebenda, S. 243–258; Mark Mazower: Salonica. City of Ghosts. Christians, Muslims and Jews 1430–1950, London 2004. Exemplarisch: Frank Grüner: Patrioten und Kosmopoliten. Juden im Sowjetstaat 1941–1953 (Beiträge zur Geschichte Osteuropas 43), Köln 2008; Yuri Slezkine: Das jüdische Jahrhundert, Göttingen 2006. Andreas Kappeler: Russland als Vielvölkerreich. Entstehung – Geschichte – Zerfall (Beck’sche Reihe 1447), München 2001, S. 178f. Zur Ukraine siehe neben zahlreichen weiteren einschlägigen Publikationen dieses Autors auch: Andreas Kappeler: Der schwierige Weg zur Nation. Beiträge zur neueren Geschichte der Ukraine (Wiener Archiv für die Geschichte des Slawentums und Osteuropas 20), Wien 2003; Zu Zentralasien unter anderem: Arne Haugen: The Establishment of National Republics in Soviet Central Asia, New York 2003; Zur Sowjetunion übergreifend: Terry Martin: The Affirmative Action Empire. Nations and Nationalism in the Soviet Union, 1923–1939 (The Wilder House Series in Politics, History, and Culture), London 2001. Wenn auch eher additiv und komparativ als mit Transfer- oder Bezugsperspektive: Stéphane Courtois: Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror; München 1998, Norman M. Naimark. Stalin und der Genozid, Berlin 2010, dort S. 22–36, Ausführungen über den Genozidbegriff aus völkerrechtlicher und historiographischer Perspektive. Anregend und viel rezipiert, zur Sowjetunion: Alexei Yurchak. Everything Was forever, until It Was no more. The last Soviet Generation (Information Series); Princeton, NJ 2006, Siehe auch: Predrag Marković. Where Have all the Flowers Gone? Yugoslav Culture in the 1970s between Liberalisation / Westernisation and Dogmatisation, in: Marie-Janine Calic / Dietmar Neutatz / Julia Obertreis (Hg.). The Crisis of Socialist Modernity. The Soviet Union and Yugoslavia in the 1970s. (Schriftenreihe der FRIAS School of History 3); Göttingen 2011, S. 118–133.
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ßen Einfluss auf die chinesische Entwicklung hatte, jedenfalls in den 1950er und 1960er Jahren.23 Dass die staatssozialistische Erfahrung nicht adäquat in die Globalgeschichte des 20. Jahrhunderts integriert ist, zeigt sich etwa dann, wenn „Kapitalismus“ als übergreifende Großkategorie verwendet wird. Sieder und Langthaler entwerfen eine Periodisierung, die sich ganz am Kapitalismus abarbeitet und damit die sozialistischen Staaten ausblendet.24 Der vorliegende Band, der aus einer gleichnamigen, vom Verband der Osteuropahistorikerinnen und -historiker e.V. (VOH) und dem Herder-Institut Marburg organisierten Tagung vom Februar 2011 hervorgeht, ist als Forum für laufende oder jüngst abgeschlossene Forschungen konzipiert, die eine Verbindung zwischen Osteuropäischer Geschichte und Globalgeschichte herstellen. Dabei firmieren die hier vorgestellten Projekte keineswegs alle explizit unter dem Label Globalgeschichte, sondern sind zumeist ursprünglich vielmehr im institutionellen und diskursiven Kontext der Osteuropäischen Geschichte angesiedelt. Unter Verwendung ganz verschiedener Ansätze wagen die Autor/innen aber, globalgeschichtliche Perspektiven zu entwerfen und teils auch, diese kritisch zu hinterfragen (am deutlichsten im Beitrag von Birte Kohtz). Die Frage, aus welcher „Ecke“, d.h. aus welcher Disziplin und/oder Regionalwissenschaft die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kommen, die Globalgeschichte betreiben, ist in der vorliegenden Literatur nicht unberücksichtigt geblieben. Immerhin herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass Globalgeschichte nicht nur eine besondere interdisziplinäre Offenheit erfordert, sondern – soweit möglich – auch das Beherrschen von Original-Quellensprachen. Zumindest sind berechtigte Bedenken geäußert worden, ob eine Auswertung von Sekundärliteratur allein den Ansprüchen einer methodisch zeitgemäßen Globalhistoriographie gerecht wird. So zeigen sich Reinhard Sieder und Ernst Langthaler skeptisch gegenüber einer Globalgeschichte, die „ausschließlich mittels Kompilation von Forschungsergebnissen Dritter vorgeht.“ Damit könne es zu einer „forschungsferne(n) Schriftstellerei“ kommen.25 Die Sekundärliteratur ist üblicherweise in westlichen Sprachen und vor allem in Englisch verfasst, und bezüglich der augenfälligen Dominanz des Englischen sind kritische Stimmen laut geworden. Während Globalhistoriker recht häufig aus dem Feld der Imperienforschung stammen oder sich mit einer bestimmten Weltregion besonders befasst haben, geht der Band von Sieder und Langthaler einen anderen Weg und versammelt bewusst Experten für 23 24
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Sachsenmaier: Global Perspectives (wie Anm. 1), S. 188f. Danach wird das lange 19. Jahrhundert überschrieben mit „liberal-kapitalistisch“, die Jahrzente ab 1910 (für die USA) und ab den 1950ern (für „Europa“) als „fordistischkapitalistisch“ und die Jahrzehnte seit den 1970ern mit „neoliberal-kapitalistisch“. Reinhard Sieder / Ernst Langthaler: Einleitung. Was heißt Globalgeschichte?, in: Dies. (Hg.): Globalgeschichte 1800–2010, Wien / Köln / Weimar 2010, S. 9–36, hier S. 23–30. Sieder / Langthaler: Einleitung (wie Anm. 24), S. 18; vgl. dazu folgende Aussage von Conrad und Eckert: „Im Gegensatz zum Generalistentum der Weltgeschichte legen die meisten globalgeschichtlich orientierten Historiker [...] Wert auf den Zugang zu Quellenmaterial in der Originalsprache.“ Conrad: Conrad et al. (wie Anm. 4), S. 34.
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bestimmte Sachthemen, die sich aus ihrem Fachgebiet und der Beschäftigung mit europäischen Regionen heraus in die Globalgeschichte hineinwagen. Der Band enthält somit auch thematische Kapitel zu beispielsweise Demographie, Arbeitsverhältnissen oder Revolutionen.26 Im vorliegenden Sammelband sind wiederum die Autor/innen der Beiträge ganz überwiegend Osteuropahistoriker, die sich in die Welt hinaus begeben und laufende Forschungsprojekte präsentieren. Dabei ist zu konstatieren, dass die Osteuropäische Geschichte als Teilfach durchaus nicht global etabliert ist, sondern sich als solches besonders im deutschsprachigen Raum entwickelt hat, und zwar seit der Wende zum 20. Jahrhundert und zunächst vor einem „ausgesprochen imperialen Hintergrund“.27 Seitdem befand sich die Teildisziplin „in Kaiserreich, Weimarer Republik, ‚Drittem Reich‘, DDR und früher Bundesrepublik durchgängig zwischen den Polen von Inanspruchnahme durch die Politik einerseits und Verwissenschaftlichungsanforderungen andererseits“, und musste sich in den Nachkriegsjahrzehnten von der politisch diskreditierten Ostforschung langsam lösen.28 Innerhalb des Teilfaches ist das Konzept der Geschichtsregion ausgearbeitet worden, das seine Wurzeln in den Beiträgen zu „Ostmitteleuropa“ in der Zwischenkriegszeit hat und auf Arbeiten von Oskar Halecki zurückgeht. Als längerfristig für die Region Ostmitteleuropa prägend sind strukturelle Faktoren wie das Magdeburger Recht für das Mittelalter oder der hohe Adelsanteil für die Frühe Neuzeit ausgemacht worden. Die Beiträge zu Ostmitteleuropa wurden zum Ausgangspunkt für geschichtsregionale Konzeptualisierungen zu anderen Regionen innerhalb der Geschichtswissenschaft, beeinflussten aber auch andere Disziplinen wie die Ethnographie oder Geographie.29 Für die Osteuropäische Geschichte lässt sich daher festhalten, dass das Nachdenken über Raumkonzepte, -begriffe und bezüge von Beginn an konstitutiv war. Dies gilt auch mit Blick auf die Osteuropäische Geschichte als Teil der Area Studies. Intensive, auch interdisziplinäre Diskussionen über den Zusammenhang von Raum und Geschichte, über imaginierte, konstruierte und kartierte Räume haben unter Osteuropaexperten stattgefunden. Hervorzuheben sind dabei unter anderem die Beiträge Karl Schlögels, der als Autor auch für die Wirkung der Ost 26 27
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Sieder / Langthaler (Hg.): Globalgeschichte 1800–2010 (wie Anm. 24). Stefan Troebst: Sonderweg zur Geschichtsregion. Die Teildisziplin Osteuropäische Geschichte, in: Zeit im Spiegel. Das Jahrhundert der Osteuropaforschung , in: Osteuropa 63, 2013, S. 55–80, S. 60–62, Zitat S. 62. Vgl. auch: Corinna R. Unger: Ostforschung in Westdeutschland. Die Erforschung des europäischen Ostens und die Deutsche Forschungsgemeinschaft, 1945–1975 (Studien zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1), Stuttgart 2007. Troebst: Sonderweg (wie Anm. 27), S. 78. Oskar Halecki: Grenzraum des Abendlandes. Eine Geschichte Ostmitteleuropas. Salzburg 1952; Werner Conze: Ostmitteleuropa. Von der Spätantike bis zum 18. Jahrhundert, München 1992; Klaus Zernack: Osteuropa. Eine Einführung in seine Geschichte (Beck’sche Elementarbücher), München 1977; Troebst: Sonderweg (wie Anm. 20), S. 63, 67–71.
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europäischen Geschichte auf eine breite Öffentlichkeit jenseits des Faches steht.30 Unter den Debatten um die in der osteuropabezogenen Forschung verwendeten Raumkonzepte ist die Ende der 1990er Jahre über den „Balkan“ und „Südosteuropa“ geführte besonders viel rezipiert worden.31 Nachdem kritische Debatten über die Politisierung von Area Studies im Kalten Krieg geführt worden sind, steht nun vor allem die Verknüpfung der Area Studies untereinander und mit der Global- und Weltgeschichte auf der Agenda. Das Centre for Area Studies der Universität Leipzig macht es sich als interdisziplinäres Forschungsinstitut zur Aufgabe, das Wissen aus den Regionalwissenschaften und über einzelne Weltregionen mit der Expertise der Fachdisziplinen sowie mit transnationalen Fragestellungen zu verknüpfen. Dabei sollten jeweils mindestens zwei Weltregionen berücksichtigt werden. In einer Arbeitsgruppe „Ostmitteleuropa transnational“ wird versucht, der multiplen Vernetzungen dieses Raumes in alle Richtungen nachzugehen.32 Die Existenz des Zentrums ist ein Beispiel für einen umfassenden Prozess der Öffnung der Area Studies zur Globalgeschichte bzw. der Annäherung beider.33 Auch die von der LMU München und der Universität Regensburg gemeinsam betriebene „Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien“ hat sich vorgenommen, Veflechtungen Ost- und Südosteuropas mit anderen Weltregionen zu untersuchen und Areas Studies zu vernetzen.34 An den Beiträgen dieses Bandes wird exemplarisch deutlich, wie die Osteuropäische Geschichte zu aktuellen Themen der Globalgeschichte beitragen kann. So sind etwa internationale Organisationen ein boomendes Themenfeld mit Forschungen zum Völkerbund oder zu den Vereinten Nationen.35 Dass Nikita 30
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Exemplarisch: Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München 2003; Jörn Happel / Christophe von Werdt / Mira Jovanović (Hg.): Osteuropa kartiert. Mapping Eastern Europe (Osteuropa 3), Zürich op. 2010. Frithjof Benjamin Schenk: Mental Maps. Die kognitive Kartierung des Kontinents als Forschungsgegenstand der europäischen Geschichte, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom LeibnizInstitut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 2013–06–05. , 11.09.2013. Mariia Nikolaeva Todorova: Imagining the Balkans, New York 1997; Holm Sundhaussen: Europa Balcanica. Der Balkan als historischer Raum Europas, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 626–665. Siehe die Website des Zentrums unter: , 12.04.2013. Vgl. auch das schriftliche Interview mit Matthias Middell, einem der Vorstandsmitglieder des Zentrums, in: Streit der Fakultäten. Debatte: Area Studies und Fachdisziplinen, in: Zeit im Spiegel. Das Jahrhundert der Osteuropaforschung = Osteuropa 63 (2013), S. 81–102, hier S. 94. Vgl. Eckert: Globalgeschichte (wie Anm. 4), S. 13. Siehe , 06.09.2013. Als Einführung: Madeleine Herren: Internationale Organisationen seit 1865. Eine Globalgeschichte der internationalen Ordnung (Geschichte Kompakt), Darmstadt 2009; Mark Mazower: Governing the World. The History of an Idea, London 2012; Akira Iriye: Global Community. The Role of International Organizations in the Making of the Contemporary World, Berkeley 2004; Aus der Umweltgeschichte: Anna-Katharina Wöbse: Weltnaturschutz.
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Chruschtschow während einer UN-Vollversammlung im Oktober 1960 wütend mit seinem Schuh auf den Tisch schlug und den gerade eine Rede haltenden philippinischen Delegierten Lorenzo Sumulong beschimpfte, ist eine gern zitierte Anekdote, die Einblicke in die Kulturgeschichte der Diplomatie im Kalten Krieg geben kann.36 Darüber hinaus ist aber die Rolle der Sowjetunion in der UNO (in der sie insgesamt drei Sitze hatte) noch recht spärlich und vor allem hinsichtlich der Konfrontation mit den USA beleuchtet.37 Von Interesse sind selbstverständlich auch internationale sozialistische Vereinigungen wie die Komintern, die bereits recht gut erforscht sind und in einer Globalgeschichte sozialistischer Organisationen aufgehen sollten.38 Auch die Geschichte von Wissenschaft und Technik (history of science and technology) und die Wissens- und Wissenschaftsgeschichte stellen prominente Felder der Globalgeschichte dar. Für die Osteuropäische Geschichte geht es hier nicht nur darum, die Beiträge von aus Osteuropa stammenden Forschern und Wissenschaftlern zu internationalen Forschungsfeldern herauszuarbeiten, sondern auch, das Eingebundensein von Gelehrten aus der Region in transnationale, häufig europäische, Netzwerke zu erhellen.39 Ein weiteres relevantes Thema ist hier die Wissenschafts- und Technikeuphorie der kommunistischen Herrscher, die eng mit der marxistischen Ideologie zusammenhing und von der Sowjetunion aus nicht nur die „Satellitenstaaten“ in Europa, sondern auch China und weitere außereuropäische Länder beeinflusste.40 Als ein weiteres Beispiel seien die Geschichte von Migrationen und daraus entstehende Kontaktwelten und Handelszonen genannt. Allein die Migrationsbe
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Umweltdiplomatie in Völkerbund und Vereinten Nationen 1920–1950 (Reihe „Geschichte des Natur- und Umweltschutzes“ 7), Frankfurt am Main u.a. 2012. Susanne Schattenberg: „Die Sache mit Chruschtschows Schuh“, in: DAMALS. Das Magazin für Geschichte und Kultur 37, 2005, S. 8–11. Siehe als Forschungsüberblick: Sunil Amrith / Glenda Sluga: New Histories of the United Nations, in: Journal of World History 19 (2008) Hf. 3, S. 251–274. Anstelle eines Überblicks zur Komintern mit Konzentration auf die Sowjetunion und deutsche Akteure: Aleksandr Ju Vatlin: Die Komintern. Gründung, Programmatik, Akteure (Geschichte des Kommunismus und Linkssozialismus 10), Berlin 2009; neben weiteren Publikationen in dieser Reihe: Sobhanlal Datta Gupta: Komintern und Kommunismus in Indien. 1919–1943 (Geschichte des Kommunismus und des Linkssozialismus 17), 2. Aufl. Berlin 2013. Siehe etwa: Martin Kohlrausch / Katrin Steffen / Stefan Wiederkehr (Hg.): Expert Cultures in Central Eastern Europe. The Internationalization of Knowledge and the Transformation of Nation States since World War I. (Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau 23), Osnabrück 2010. Klassisch zur Technikeuphorie der Bolschewiki und Experten in der frühen Sowjetunion am Beispiel des Elektrifizierungsplanes: Karl Schlögel: Jenseits des Großen Oktober. Das Laboratorium der Moderne. Petersburg 1909–1921, Berlin 1988, S. 277–313; Einschlägig für die Sowjetunion und darüber hinaus zudem die Arbeiten von Paul R. Josephson, darunter: Paul R. Josephson: Totalitarian science and technology (The control of nature), Amherst, N.Y 2000; Siehe auch das Themenheft Kooperation statt Konfrontation. Wissenschaft und Technik im Kalten Krieg in: Osteuropa 59 (2009), Hf. 10.
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wegungen innerhalb des Russländischen Reiches und der Sowjetunion sind der Betrachtung wert, wenn wir etwa an die Kolonisation Sibiriens durch slawische Siedler denken oder an Taschkent, die Hauptstadt Usbekistans, als lebendigen Ort der Begegnung verschiedener Nationalitäten infolge der Ost-Evakuierungen in der Sowjetunion während des Zweiten Weltkrieges. Zu denken ist auch an die Entstehung russischsprachiger Communities etwa in Israel, den USA oder Deutschland, die seit dem Internetzeitalter zunehmend international miteinander vernetzt sind, oder die Geschichte der Polonia, der polnischen Diaspora im 19. und 20. Jahrhundert, die unter anderem in Chicago und Paris konzentriert ist. Unerwartete, virile Begegnungsorte stellen im vorliegenden Band Frank Grüner und Sören Urbansky mit Harbin und der Region Trechreč’e vor. Der erste Block von Beiträgen in diesem Band ist an der Nahtstelle von Imperial- und Globalgeschichte angesiedelt und verhandelt interimperiale Geschichte zwischen Russland und Asien. Den Anfang macht Ulrich Hofmeister mit einer Untersuchung des russischsprachigen Turkestandiskurses. Seitdem das Zarenreich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nach Zentralasien expandierte, generierten Bürokraten, Militärs und Wissenschaftler einen Diskurs, in dem Hofmeister drei Stränge identifiziert. Der erste hob auf die Legitimation der russländischen Expansion und die Ebenbürtigkeit Russlands mit den übrigen europäischen Kolonialmächten ab. Im Zeichen der zivilisatorischen Mission sei es Russlands Aufgabe, analog vor allem zur britischen Herrschaft in Indien den Fortschritt nach Zentralasien zu bringen. Der zweite Diskursstrang bezog sich nicht auf die synchrone Ähnlichkeit Russlands mit anderen Kolonialmächten, sondern betonte in einer diachronen Perspektive die Eigentümlichkeit der russischen Reichsbildung. Demzufolge unterscheide sich die russische Imperiumsbildung durch eine ausgesprochene Affinität zwischen Russen und den östlichen Völkern, die unter die Herrschaft des Imperiums gerieten. Impliziert war die Individualität Russlands und der vermeintlich naturwüchsige Charakter seiner Herrschaftsbildung und Expansion. Den dritten Strang des russischen Turkestandiskurses bildet ein im Zeitverlauf wechselhafter Bezug zu China. Dieser lag um so näher, als das chinesische Ostturkestan demographische und religiöse Gemeinsamkeiten mit dem russischen Turkestan aufwies. Während China anfangs als imperialer Partner in der Beherrschung der Region wahrgenommen wurde, zeichnete man das Reich der Mitte besonders ab 1900 und vor dem Hintergrund seines Souveränitäts- und Kontrollverlustes eher als Quelle von Destabilisierung. Moritz Deutschmann verortet das russisch-iranische Verhältnis vom Vertrag von Turkmančaj 1828 bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs in der Geschichte des Völkerrechts. Das Völkerrecht des 19. Jahrhunderts ist von einem signifikanten Wandel des Subjekts von der Gemeinschaft der christlichen Staaten zu der der zivilisierten Staaten gekennzeichnet. Deutschmann zeigt in seinem Text, wie es vor allem dem russischen Völkerrechtler Fedor Fedorovič Martens gelang, Russland im völkerrechtlichen Diskurs als zivilisierten Staat zu verankern, der ein gewichtiges Wort über die Verortung nicht-christlicher Staaten auf einer Skala mitzureden hatte, die von „zivilisiert“ über „halb-zivilisiert“ bis zu „barbarisch“ reichte. Staaten, die in europäischen Augen als nicht vollends zivilisiert galten,
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sahen sich mit europäischen Instrumenten wie der Konsularjurisdiktion und ungleichen Verträgen konfrontiert. Am russisch-iranischen Beispiel kann Deutschmann die Facettenhaftigkeit dieser Völkerrechtsgeschichte aufweisen. Einerseits wirkte der Zivilisationsbegriff des Völkerrechts herrschafts- und staatsbildend auf Russland wie auch den Iran. Russland selber zementierte mit seinem Agieren seine Zugehörigkeit zum Club der europäischen Großmächte. Dem Iran wiederum lieferte das Völkerrecht eine Blaupause zur Entwicklung staatlicher Reformen. Andererseits konnte Russland die Konsularjurisdiktion und ungleiche Verträge als Instrumente einer informellen Herrschaft über den Iran nutzen. Im Unterschied zu anderen informellen Imperiumsbildungen der Europäer in der Welt gelang es Russland jedoch nicht, die Asymmetrie der Herrschaftsverhältnisse in ökonomische Gewinne russischer Kaufleute umzumünzen. Den ökonomischen Nutzen des informellen russischen Imperiums im Iran verbuchten muslimische und armenische Akteure, die beiderseits der Grenze agierten. Frank Grüner verortet Globalität lokal. Die in der Mandschurei gelegene Stadt Harbin schildert er als Mikrokosmos der Verflechtungen zwischen Russland, China und Japan in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Eisenbahn als globalisierendes Verkehrsmittel brachte die Welt nach Harbin. Als extraterritorialer Stützpunkt des russischen Eisenbahnimperialismus und Zentrums der Ostchinesischen Eisenbahngesellschaft zog Harbin weitgespannte Erwartungen der russischen Obrigkeit, nicht zuletzt des Finanzministers Sergej Vitte, auf sich, ein Herzstück des transkontinentalen Verkehrs zu werden. So wenig diese russischen Hoffnungen sich realisierten, so sehr entwickelte sich Harbin zu einer multiethnischen Stadt, die Migranten aus Russland und China anzog. Die Stadt kann weder als russisch noch chinesisch, weder als europäisch noch asiatisch beschrieben werden. In ihr verknüpften sich die Geschichten der Kontinente und Kulturen. Der Handel und Schmuggel von Opium hielt eine rege Untergrundwirtschaft in Schwung. 1932 geriet Harbin in den Orbit japanischer Imperiumsbildung und des japanischen Mandschukuoregimes. Sören Urbansky knüpft unmittelbar daran an mit einem japanischen Filmfragment aus dem Jahr 1939. Es dokumentiert Alltagsszenen aus dem Leben russischer Kosaken, die die Zeitläufte in die Mandschurei geführt hatten. Die Verknüpfungen russischer und chinesischer Geschichte, die Frank Grüner in seinem Beitrag schildert, scheinen auch hier noch einmal auf, wenn der Film Chinesen als Teil der Kosakengemeinschaft zeigt. Die Intention des Filmes bleibt offen. Denkbar ist, dass er Teil kolonialethnographischer Dokumentarfilmserien im japanischen Imperium war. In dem Fall ginge es um die Visiualisierung von Differenz aus dem Blickwinkel einer zivilisatorischen Höherrangigkeit. Es lässt sich jedoch auch nicht ausschließen, dass er künftigen japanischen Neusiedlern in der Mandschurei als Anschauungs- und Lehrmaterial dienen sollte. Der zweite Teil des Sammelbandes wendet sich der Geschichte des Wissens zu und fokussiert Unternehmungen, die darauf zielten, die Welt zu vermessen und das Wissen von ihr zu vermehren. Den Auftakt macht Martina Winkler mit ihrem Beitrag über die erste russische Weltumsegelung, zu der 1803 die Schiffe „Nadežda“ und „Neva“ von der russischen Marinebasis Kronstadt aus aufbrachen.
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Drei Jahre dauerte das Unternehmen, von dem neben dem Reisebericht des Kommandanten der „Nadežda“ – dem Deutschbalten Adam Johann / Ivan Fedorovič Kruzenštern – auch mannigfaltige Karten, Kupferstiche, wissenschaftliche Abhandlungen und ethnographische Abbildungen überliefert sind. Die Motivation der russischen Weltumsegelung lässt sich nicht auf einen Nenner bringen. So sehr es um das Prestige im Kreis der welterschließenden europäischen Mächte ging, so sehr spielten auch handfeste logistische Überlegungen eine Rolle, die auf eine direkte Versorgung der Stützpunkte der Russisch-Amerikanischen Kompanie im Pazifik zielten. Wie dem auch sei, gewährt der Reisebericht Kruzenšterns Einblick in die globale Selbstverortung der Expeditionsteilnehmer. Die Welt wird in diesem Bericht als ein zeitlich-räumliches Ganzes dargestellt, dessen Erkundung in der Anknüpfung an und Fortschreibung von europäischem Weltwissen geschieht. Birte Kohtz greift diesen Aspekt auf, indem sie sich kritisch mit dem etablierten Narrativ eines Niedergangs russischer Arktisforschung im 19. Jahrhundert auseinandersetzt. Dieses Narrativ ruht auf einem methodischen Nationalismus auf, der Arktisgeschichte als Erzählung tapferer Helden auf entbehrungsreichen Expeditionsreisen hervorbringt. Demzufolge seien auf den verheißungsvollen Beginn russischer Arktisforschung im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts mit allein 25 bedeutenden Fahrten Flaute, Niedergang und Bedeutungslosigkeit gefolgt. Birte Kohtz setzt dem eine Wissensgeschichte entgegen, die die Zirkulation und Diskussion des auf den Fahrten generierten Wissens in grenzüberschreitenden Netzwerken der Arktisforschung plausibel macht. Dabei kann sie Akteure aus dem Zarenreich in die Wissensgeschichte der Arktisforschung im ganzen 19. Jahrhundert einschreiben. Auch wenn es dabei um die Exploration und Beschreibung einer weithin unerforschten Weltregion, der Nordpolargegend ging, sei – so Kohtz – die damit verbundene Wissensgeschichte eine zwar supranationale, jedoch intrakulturell europäische. Die Globalität der Wissensgeschichte erscheint Kohtz vor diesem Hintergrund als ein nicht eingelöstes Desiderat. Von der Praxis der Wissenschaft handelt auch Alexander Kraus’ Beitrag über den Vorlauf zum Ersten Internationalen Polarjahr 1882/83. Was Birte Kohtz dem methodischen Nationalismus der Geschichtsschreibung über die Arktisforschung entgegensetzt, beleuchtet Alexander Kraus aus der Perspektive einer individuellen Enttäuschung: die Internationalisierung der Wissenschaft. 1875 von einer österreichisch-ungarischen Nordpolarexpedition retour, entwickelte Carl Weyprecht die Idee, die Polarforschung international zu vernetzen. Weyprecht stieß sich am Rummel um jene Helden der Arktisforschung, die punktuell im Glanzlicht medialer Aufmerksamkeit standen, ohne der Forschung langfristigen Nutzung zu bringen. Dass Weyprecht hier aus einer Kränkung heraus aktiv wurde, tut dem Resultat keinen Abbruch. 1881 auf einer internationalen Konferenz in St. Petersburg beschlossen, wurde 1882/83 das Erste Internationale Polarjahr abgehalten, das die internationale Vernetzung und Systematisierung der Polarforschung wesentlich voranbrachte. Die dritte Sektion des Bandes greift die enorme Auffächerung auf, die der jüngeren Geschichtsschreibung des Kalten Krieges zugrunde liegt. Jenseits einer altetablierten bipolaren Politikgeschichte der Blockkonfrontation zielt die jüngere
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Geschichtsschreibung des Kalten Krieges darauf, die Regionen der sogenannten Dritten Welt in eine multipolare Geschichte seit 1945 einzubeziehen. Zugleich weitet sich der thematische Zugriff auf kulturgeschichtliche Fragestellungen aus. Die Beiträge greifen diese Ansätze auf. Andreas Hilger beleuchtet die Literaturbeziehungen zwischen Indien und der Sowjetunion zwischen 1945 und 1964. Den Bolschewiki nicht unähnlich, schrieb auch die indische Politik in den 1940er und 1950er Jahren den Schriftstellern die Aufgabe zu, Ingenieure der Seele im Dienst von Gesellschaft und Nation zu sein – jedoch verbunden mit größeren literarischen Freiheiten als im ersten sozialistischen Staat der Erde. Der Boden für einen indisch-sowjetischen Literaturaustausch war jedoch erst bereitet, als die Kommunistische Partei Indiens 1951 dem Kampf gegen den jungen indischen Staat abschwor. In Form von wechselseitigen Übersetzungen, Anthologien und Lesereisen erfuhren die indisch-sowjetischen Literaturbeziehungen einen gewissen Grad der Institutionalisierung. Kulturelle Missverständnisse und gegenseitige Enttäuschungen ließen sich jedoch kaum vermeiden. Der offizielle sowjetische Literaturapparat mochte die indische Nachfrage nach einer Vielfalt russischer Literatur jenseits des ideologischen Kanons nicht nachvollziehen. Das Potential der Außendarstellung im Medium der Literatur verspielte die sowjetische Seite, indem sie in der Literatur nichts weiter als eine nachgeordnete Funktion sah, die die universelle Mustergültigkeit und globale Überlegenheit des sozialistischen Gesellschaftsmodells zu demonstrieren hatte. So verfehlte das sowjetische Literaturangebot häufig die indische Nachfrage. Sara Lorenzini nimmt den Faden der Außendarstellung des sozialistischen Projekts in der Welt auf, indem sie die Ständige Kommission für Technische Unterstützung im Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe untersucht. Die Geschichte dieser Institution begann 1957. Ihr primärer Auftrag lag darin, den aus der Dekolonisation hervorgegangenen neuen Staaten ökonomisch zu helfen und Industrieanlagen bereitzustellen, resp. zu verkaufen. Alsbald rückte aber auch der Import von Rohstoffen und Lebensmitteln aus Asien und Afrika auf die Agenda des Gremiums. Den Literaturbeziehungen ähnlich, stellt sich auch die Geschichte des Technologietransfers und der Entwicklungshilfe zwischen dem sozialistischen Block und dekolonialisierten Staaten als eine Geschichte von Missverständnissen und unbefriedigter Nachfrage dar. Der Bedarf an Halb- und Halbfertigwaren, den die Entwicklungsländer 1964 auf einer Konferenz der UN für Handel und Entwicklung formuliert hatten, traf die Ständige Kommission für Technische Unterstützung unvorbereitet auf dem falschen Fuß. Jedoch gelang es in den 1970er Jahren, im Rahmen der UN trilaterale Wirtschaftskooperationen zwischen West, Ost und Süd auf den Weg zu bringen. Sara Lorenzini betont dabei vor allem den ideologiefernen, fachökonomisch ausgerichteten Diskurs in der Kommission. In diesem verhältnismäßig nüchternen Arbeitsstil sieht sie ein Argument für die Konvergenz von Ost und West auf dem Feld der Wirtschaftsbeziehungen zu blockfreien Staaten. Die Frage nach Ursprung und Genesis der Blockfreiheit greift Nataša Mišković in ihrem Beitrag auf. Aus der Dreiecksgeschichte zwischen dem jugoslawischen Präsidenten Josip Broz Tito, dem indischen Premierminister Jawahar-
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lal Nehru und dem ägyptischen Präsidenten Gamal Abdal Nesser hebt Mišković insbesondere die bereits zeitgenössische jugoslawisch-indische Kontroverse um den Anspruch, die Blockfreiheit erfunden zu haben, hervor. Was auf der Konferenz in Bandung 1955 in eine institutionelle Form gegossen wurde, sieht Mišković jedoch weder als Novum der Geschichte des Kalten Krieges noch als Prinzip internationaler Politik, auf das Jugoslawien oder Indien ein ideelles Patent anmelden könnten. Der Gedanke der Blockfreiheit – so Mišković – resultierte aus der Verknüpfung von Internationalismus, Antikolonialismus und Sozialismus in der Zwischenkriegszeit. Miškovićs Text leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Überwindung bipolarer Perspektiven in der Geschichtsschreibung des Kalten Krieges. Handlungsspielräumen von Akteuren außer den beiden Supermächten werden deutlich. Robert Brier nimmt in seinem Beitrag eine globalhistorische Verortung eines Phänomens vor, das bislang einen exklusiven Platz in der Zeitgeschichtsschreibung Polens eingenommen hatte: den Erinnerungskult um den ermordeten Priester Jerzy Popiełuszko. Mitarbeiter des polnischen Staatssicherheitsdienstes hatten den katholischen Geistlichen im Oktober 1984 ermordet. Popiełuszkos Beisetzung geriet zu einem weithin sichtbaren Zeichen der Kritik der Oppositions- und Gewerkschaftsbewegung am bestehenden Regime der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei. Im Norden Warschaus gelegen, entwickelte sich Popiełuszkos Grab im folgenden zu einem frequentierten und sichtbaren Ort, an dem sich Religion, Nation und Regimekritik verbanden. Darüber hinaus kann Brier in seinem Text zeigen, wie der Bezug auf Popiełuszko Eingang in einen globalen Diskurs der Menschenrechte fand. Nicht nur, dass Ronald Reagan in seinen Reden das Thema der Menschenrechte mit Popiełuszko verknüpfte. Amerikanische Politiker unterschiedlicher parteipolitischer couleur wie Edward Kennedy und George Bush sowie Regierungschefs und Minister aus dem westlichen Europa machten auf ihren Reisen in den späten 1980er Jahren Station in Warschau, um Popiełuszko ihre Referenz zu erweisen und den Verweis auf ihn gleichzeitig in die Erzählung des globalen Engagements des Westens für Menschenrechte einzuschreiben. Zudem wurden Popiełuszko, Bujak und Michnik der Robert F. Kennedy-Menschenrechtspreis verliehen, der ferner auch an Menschenrechtsaktivisten aus El Salvador und Südafrika ging. Das ritualisierte Gedenken an Popiełuszko steht damit mitten in der Globalgeschichte des Menschenrechtsdiskurses der 1980er Jahre. Die Menschenrechte kommen auch in Gesine Drews-Syllas Text über Eduard Limonovs ersten Roman Ėto ja – Ėdička (dt. Fuck off, Amerika) aus dem Jahr 1979 zur Sprache, stehen hier jedoch in ganz anderen Zusammenhängen. In Limonovs Roman fließen autobiographische Notizen eines emigrierten Sowjetbürgers in New York, Fiktion und Literaturtheorie ineinander. Der Protagonist schreibt und handelt aus einer narzisstischen Disposition heraus. Als sowjetischer Emigrant findet er ebenso wenig Zugang zur New Yorker Bohème wie einen Zufluchtsort in den etablierten Kreisen der russischen Emigration. Mit der isolierten sozialen Position des Autors und Protagonisten korreliert die postmoderne Unverbundenheit und Uneindeutigkeit zwischen Autor, Text und Leser. In der literarischen Operationalisierung dieser Konstellation sind zwei Phänomene relevant:
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weltliterarische Intertextualität – der Text ist reich an weltliterarischen Querverweisen und Zitaten – und die Verhandlung von Négritude als drittem Identifikationskonzept, das sich in Ablehnung der gleichermaßen als menschenverachtend wahrgenommenen – hier ist der Bezug zum Thema Menschenrechte – Politik der USA und der Sowjetunion als Bezugspunkt anbietet. In einem Exkurs über Vernetzungsansätze in jüngeren literaturwissenschaftlichen Debatten um Weltliteratur und in der Diskussion von Migrationserfahrung macht Drews-Sylla den Roman Limonovs in doppelter Hinsicht ertragreich für die Globalgeschichtsschreibung. Zwei Kommentare von Katja Naumann und Birgit Schäbler, beide NichtOsteuropa-Expertinnen, sind den Beiträgen dieses Bandes an die Seite gestellt, um eine Perspektive von außerhalb der Teildisziplin zu eröffnen. Beide Kommentatorinnen bestätigen die Beobachtung der Marginalisierung Osteuropas in der Globalgeschichtsschreibung. Schäbler, Spezialistin für die Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens, plädiert unter anderem dafür, die Osteuropäische Geschichte als Regionalgeschichte im Sinne einer Area History zu bezeichnen, für die sie ein Paradebeispiel sei. Sie betont zudem den Stellenwert transregionaler Studien und bescheinigt den Regionalexpert/innen „eine besondere Sensibilität für Machtverhältnisse“, die der Globalgeschichte zugute komme. Naumann, spezialisiert auf Global- und Historiographiegeschichte, warnt unter anderem deutlich davor, osteuropäische Weltgeschichtsschreibung als Aufforderung zur Diskussion und als Korrektiv für die west-zentrierte Globalgeschichte zu vernachlässigen und stellt am Beispiel russischsprachiger Weltgeschichtsschreibung in der Sowjetunion den Zusammenhang zwischen solchen akademischen Unterfangen und politischen Ambitionen heraus. Der vorliegende Band soll dazu beitragen, den Austausch zwischen osteuropabezogener Historiographie und Globalgeschichte weiter zu verstärken. Was kann dies dem Fach Osteuropäische Geschichte nutzen? Das bisher oft dominierende Narrativ „Russland und Europa“ kann gewinnbringend erweitert oder sogar abgelöst werden, wenn außereuropäische Vergleichsfälle herangezogen und damit neue Perspektiven eröffnet werden. So erscheinen beispielsweise die modernen Stadtgründungs- und Infrastrukturbauprojekte wie etwa Magnitogorsk im Ural oder die gigantischen Staumauern und Wasserkraftwerke, die „Goßbauten des Kommunismus“, nicht mehr so exzeptionell, wenn man sie mit dem Staudammbau in China oder der aus dem Boden gestampften Stadt Brasília vergleicht.41 Ein weiteres Beispiel sind die Prozesse der Urbanisierung und Verstädterung: dass sie in Osteuropa etwas später abliefen als in den meisten Ländern Westeuropas und ein Höhepunkt erst seit den 1930er Jahren und nicht schon um 1900 erreicht wurde, hat dazu beigetragen, die Urbanisierung etwa Russlands im 20. Jahrhundert als 41
Stephen Kotkin: Magnetic Mountain. Stalinism as a Civilization. Berkeley u.a. 1995; Klaus Gestwa: Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus. Sowjetische Technik- und Umweltgeschichte, 1948–1967, (Ordnungssysteme 30), München 2010; Zu Brasília: James Holston: The Modernist City. An Anthropological Critique of Brasília. Chicago 1989.
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grundlegenden strukturellen Faktor zu vernachlässigen.42 Zudem sind angesichts der Tatsache, dass der Stadt-Land-Gegensatz in Ost- häufig anders ausgeprägt war als in Westeuropa und sich spezifische Mischungsverhältnisse ruralen und urbanen Lebens ergaben, Thesen von einer „Verstädterung ohne Urbanität“ oder einer „defizitären Urbanisierung“ formuliert worden.43 Im globalen Kontext betrachtet aber würden sich sicher ganz andere Bewertungen ergeben.44 Inwiefern kann umgekehrt die Globalgeschichte davon profitieren, Osteuropa mehr Aufmerksamkeit zu schenken? Im Feld der Globalgeschichte besteht durchaus die Gefahr, mit der Verwendung von Großkategorien wie „Europa“ zu stark zu verallgemeinern. Dem kann das differenzierte Einbeziehen Ost-, Ostmittel- und Südosteuropas entgegenwirken. Wie auch zahlreiche Regionen „Südeuropas“ waren und sind große Teile Osteuropas agrarisch geprägt, so dass ihre Betrachtung für die Neuzeit ein Gegengewicht zum verbreiteten Bild des urbanen, industrialisierten Europa bilden kann. Zwischen Europa und Asien sowie zwischen Europa und dem Nahen Osten steht Osteuropa nicht als eine schwer definierbare Zwischenzone, sondern als Großregion mit vielen Ebenen der Kontakte, Begegnungen und auch Zusammenstöße sowie als Brücke Europas zu anderen Teilen der Welt. Aus globalgeschichtlicher Sicht können neue räumliche Bezüge in den Blick kommen: Grenzräume zwischen Imperien wie Turkestan und die Mandschurei in den Beiträgen von Ulrich Hofmeister und Frank Grüner sind dafür treffende Beispiele. Wie einige Beiträge dieses Bandes zeigen – etwa die von Ulrich Hofmeister, Martina Winkler und Birthe Kohtz – spielt das Europäische bzw. das EuropäischSein aber letztlich bei allem Bemühen, über die Grenzen Europas hinauszuschauen, doch eine große Rolle für viele der untersuchten Akteure und Diskurse. Die Selbstinszenierung und Fremdwahrnehmung als Europäer sowohl in den Zentren als auch an den Peripherien des Russländischen Reiches und der Sowjetunion bilden einen zentralen Bezugspunkt und sind für historiographische Deutungen wichtig. Diese Ebene an den historiographischen Klassiker „Russland und Europa“, die Reformdebatten und „Westler vs. Slavophile“-Debatten rückzukoppeln, bleibt eine Herausforderung.
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Anna Veronika Wendland stellt fest: „Die urbane Hochmoderne setzt in der Fläche in Osteuropa später ein und dauert länger als im Westen.“ Anna Veronika Wendland: Urbanisierung und Urbanität als Forschungsproblem in der Geschichte Ost- und Südosteuropas, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte (2012), S. 53–62, hier S. 57. Ebd., S. 60. Vgl. Ebd., S. 62.
GLOBALGESCHICHTE INTERIMPERIAL
ZWISCHEN KONTINENTALIMPERIUM UND KOLONIALMACHT Repräsentationen der russischen Herrschaft in Turkestan, 1865–1917* Ulrich Hofmeister „Ist das hier Asien? – nein; Europa? – schon gar nicht; es sieht ganz anders aus als Russland, aber auch nicht wie Buchara!“ Der krimtatarische Intellektuelle Ismail Gasprinskij1 beschreibt lebhaft, wie er auf seiner Zentralasienreise im Jahr 1893 nahe daran war, die Orientierung zu verlieren, als er in der Grenzstation zwischen der russischen Provinz Turkestan und dem Emirat Buchara aus dem Zug stieg. Plötzlich war er von einer unüberblickbaren Masse an Menschen unterschiedlichster Herkunft umdrängt: „Russische Offiziere, Soldaten, eine Vielzahl farbenprächtiger Bucharer, Armenier, Perser und einige Afghanen drängten sich auf dem Bahnsteig und bildeten ein lebhaftes ethnographisches Kaleidoskop. Abseits bieten ein russischer Bürger mit abgefülltem Kwas, ein Bucharer mit Teppichen, ein weiterer mit Obst und ein tatarischer Kutscher aus Kasan lautstark ihre Dienste an. Man sieht eine solche Vielfalt an Trachten, Gesichtern und Figuren, dass man vergisst, wo man sich befindet.“2
Gasprinskij war nicht der einzige, dem es schwer fiel, die russischen Gebiete Zentralasiens einzuordnen: War das nun Asien oder Europa, ein fester Bestandteil Russlands oder eine Kolonie? Dieses Gebiet aus Steppen, Gebirgen, Wüsten und Flussoasen mit seiner muslimischen Bevölkerung, die vom Zusammenspiel von Nomaden und Sesshaften geprägt war, war in den drei Jahrzehnten vor Gasprinskijs Reise schrittweise vom Zarenreich erobert worden. Der Großteil der Region wurde als „Generalgouvernement Turkestan“ unter russische Militärver * 1
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Die Arbeit an diesem Artikel wurde durch die großzügige Unterstützung der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius ermöglicht, für die sich der Autor herzlich bedankt. Ismail Gasprinskij bzw. İsmail Gaspıralı (1851–1914) war ein krimtatarischer Pädagoge und Politiker. Er propagierte die Einheit der turksprachigen Bevölkerung des Zarenreichs und eine Erneuerung des islamischen Schulwesens. Auf ihn geht die Reformbewegung des Džadidismus zurück, die einen Anschluss des Islam an die westliche Moderne anstrebte. Siehe Stanislav M. Prozorov (Hg.): Islam na territorii byvšej Rossijskoj imperii: Ėnciklopedičeskij slovar’, Moskva 2006, S. 110f.; zu Gasprinskijs Reise nach Zentralasien siehe Edward J. Lazzerini: From Bakhchisarai to Bukhara in 1893: Ismail Bey Gasprinskii’s Journey to Central Asia, in: Central Asian Survey 3 (1984), Hf. 4, S. 77–88. Ismail Gasprinskij: Ot Bachčisaraja do Taškenta, in: Terdžiman 11 (1893), Hf. 29–43, hier Hf. 34.
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waltung gestellt, das Emirat von Buchara und das Khanat von Chiwa konnten als russische Protektorate zumindest formell ihre Unabhängigkeit bewahren, während das Khanat von Kokand aufgelöst und an Turkestan angegliedert wurde. In Zentralasien überlagerten sich die jahrhundertelange Kontinentalexpansion Russlands und das koloniale Ausgreifen Europas. Nationale und imperiale Ideologien rechtfertigten gemeinsam das russische Vordringen, und unterschiedliche historische und weltpolitische Analogien und Modelle wurden zur Erklärung der russischen Präsenz in der Region herangezogen. Ein Erkenntnisinteresse globalgeschichtlicher Forschungsansätze ist es, wie globale Strukturen und Systeme sich auf lokaler oder regionaler Ebene manifestieren.3 Im Folgenden wird anhand der russischen Herrschaft in Zentralasien gezeigt, wie große, teilweise globale Ordnungsmuster im regionalen Kontext in Dienst genommen wurden, um ein konkretes Herrschaftsverhältnis zu erklären. Dafür wird anhand von Zeugnissen zeitgenössischer russischsprachiger Publizisten, Politiker und Beobachter untersucht, in welche globalen Metaerzählungen die Eroberung Zentralasiens eingeordnet wurde, welche welthistorischen Prozesse für Analogien herangezogen wurden, und mit welchen Staaten sich das Zarenreich in Zentralasien verglich. Diese unterschiedlichen Orientierungsmuster und ihr Verhältnis zueinander sollen im Folgenden dargestellt werden. I. KOLONIALE EROBERUNGEN Das wichtigste globale Bezugssystem für die Positionierung der russischen Herrschaft in Zentralasien war der Kolonialismus der westlichen Großmächte.4 Die 3
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Sebastian Conrad / Andreas Eckert: Globalgeschichte, Globalisierung, multiple Modernen: Zur Geschichtsschreibung der modernen Welt, in: Sebastian Conrad / Andreas Eckert / Ulrike Freitag (Hg.): Globalgeschichte: Theorien, Ansätze, Themen, Frankfurt am Main / New York 2007, S. 7–49, hier S. 29. Die Sichtweise Zentralasiens als einer Kolonie des Zarenreichs dominiert auch in der wissenschaftlichen Literatur der letzten Jahre. Siehe u.a. Michael Khodarkovsky: Russia’s Steppe Frontier: The Making of a Colonial Empire, 1500–1800, Bloomington 2002; V. L. Gentške / R. Ch. Murtazaeva / Ė. M. Džabbarova (Hg.): Istorija Uzbekistana: Učebnoe posobie, Taškent 2004; Svetlana Goršenina: Izvečna li marginal’nost’ russkogo kolonial’nogo Turkestana, ili vojdet li postsovetskaja Srednjaja Azija v oblast’ post-issledovanij, in: Ab Imperio (2007), Hf. 2, S. 209–258; Bachtijar Babadžanov: Andižanskoe vosstanie 1898 goda i „musul’manskij vopros“ v Turkestane (vzgljady „kolonizatorov“ i „kolonizirovannych“), in: Ab Imperio (2009), Hf. 2, S. 155–200; Daniel R. Brower: Turkestan and the Fate of the Russian Empire, London 2003; Robert D. Crews: Civilization in the City: Architecture, Urbanism, and the Colonization of Tashkent, in: James Cracraft / Daniel Rowland (Hg.): Architectures of Russian Identity, 1500 to the Present, Ithaca 2003, S. 117–132; Alexander S. Morrison: Russian Rule in Samarkand, 1868–1910: A Comparison with British India, Oxford 2008; Jeff Sahadeo: Russian Colonial Society in Tashkent, 1865–1923, Bloomington 2007; Julija Obertrajs: „Mertvye“ i „kul’turnye“ zemli: diskursy učenych i imperskaja politika v Srednej Azii, 1880-e-1991 gg, in: Ab Imperio (2008), Hf. 4, S. 191–230; Adeeb Khalid:
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Expansion des Zarenreichs nach Zentralasien wurde in eine globale Bewegung der „Kolonisierung“ (kolonizacija) eingeordnet. Diese, so schrieb die Enzyklopädie von Brockhaus und Efron 1895, werde „in den letzten vier Jahrhunderten gewöhnlich nur von zivilisierten Völkern betrieben“ und bestehe darin, dass sich einzelne europäische Staaten bemühten, „möglichst viele Ländereien auf den neuen Kontinenten einzunehmen, möglichst viele Kolonien zu gründen, andere, mit ihnen konkurrierende Staaten zurückzudrängen und sämtliche nur irgend mögliche Vorteile aus der Herrschaft über die Kolonien und dem Handel mit ihnen ausschließlich für eigene Zwecke zu nutzen.“5
Auch wenn diese Enzyklopädie die russische Kolonisierung als Sonderfall abseits des europäischen Kolonialismus behandelte, waren Analogien der Eroberung Zentralasiens zum Kolonialismus naheliegend. Das russische Vordringen fand in direkter Konkurrenz zur größten damaligen Kolonialmacht statt: Großbritannien bemühte sich zur selben Zeit, von Indien her kommend, seinen Einfluss nach Afghanistan und Zentralasien auszudehnen. Dieses „Great Game“, wie das mehrere Jahrzehnte dauernde Ringen um Einfluss in Zentralasien genannt wurde, hat mit dem 1901 erschienenen Roman „Kim“ von Rudyard Kipling ein großartiges literarisches Denkmal erhalten. Wenn es auch kein direktes russisches Äquivalent für den Ausdruck „Great Game“ gibt, wurde das Geschehen in Zentralasien in der russischen Presse doch aufmerksam verfolgt und das russische Vordringen als Teil des weltweiten Strebens um Einfluss gesehen.6 Bereits in der Anfangsphase der Eroberungen hatte sich der einflussreiche konservative Publizist M. N. Katkov7 dafür ausgesprochen, Turkestan den Status einer russischen Kolonie zuzusprechen. Anstelle der Ozeane, die zwischen den westlichen Kolonialmächten und ihren Kolonien liegen, trennten „unermessliche Wüsten“ das Zarenreich von seinen neuen Besitzungen. Daher könne man Turkestan auch nicht als integralen Bestandteil Russlands betrachten. Vielmehr solle man Zentralasien „als abhängiges und entferntes Herrschaftsgebiet [behandeln],
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Backwardness and the Quest for Civilization: Early Soviet Central Asia in Comparative Perspective, in: Slavic Review 65 (2006), Hf. 2, S. 231–251; Andreas Kappeler: Russlands zentralasiatische Kolonien bis 1917, in: Bert Fragner / Andreas Kappeler (Hg.): Zentralasien: 13. bis 20. Jahrhundert. Geschichte und Gesellschaft, Wien 2006, S. 139–160. N. R.: Kolonizacija, in: F. A. Brokgauz / I. A. Efron (Hg.): Ėnciklopedičeskij Slovar’, Bd. XV, Sankt-Peterburg 1895, S. 736–740, hier S. 739, 737. Zum Great Game: Jennifer Siegel: Endgame. Britain, Russia and the Final Struggle for Central Asia, London 2002; Alex Marshall: The Russian General Staff and Asia, 1860–1917, London 2006, Kap. 7. Michail Nikiforovič Katkov (1817–1887) war als Herausgeber der Zeitung Moskovskie Vedomosti („Moskauer Nachrichten“) ein führender Vertreter des russischen Konservativismus und Nationalismus, der sich besonders in seiner scharfen Ablehnung der polnischen Nationalbewegung äußerte. Zentralasien hingegen stand nicht im Mittelpunkt seines Interesses. P. A. Nikolaev (Hg.): Russkie pisateli 1800–1917: Biografičeskij slovarʹ, Moskva 1992, Bd. 2, S. 506–513.
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als Kolonialgebiet, oder als das, was England seine ‚dependecies‘ nennt.“8 Mit dieser Forderung konnte sich Katkov jedoch nicht durchsetzen: Offiziell hat sich das Zarenreich nie als Kolonialmacht deklariert. Dennoch wurde Turkestan in der Publizistik und auch in halboffiziellen Publikationen immer wieder als Kolonie bezeichnet. Der gesamte vorrevolutionäre russische Zentralasien-Diskurs war von Bezugnahmen zum westlichen Kolonialismus geprägt. Vor allem mit der britischen Herrschaft in Indien und der französischen in Nordafrika wurde RussischTurkestan immer wieder verglichen. Das hatte zum einen den ganz praktischen Grund, dass man sich im Zarenreich erhoffte, vom Beispiel der Westeuropäer lernen zu können. Das Zarenreich war in dieser Hinsicht in einen internationalen Experten-Diskurs eingebunden, in dem etwa Ethnologen, Geographen und Naturwissenschaftler genauso wie Verwaltungsbeamte und Armeeangehörige vertreten waren, die die unterschiedlichsten Kolonialgebiete bereisten und die dortigen Verhältnisse untersuchten und miteinander verglichen. So bereiste etwa der russische General A. N. Kuropatkin, der spätere Kriegsminister und Generalgouverneur von Turkestan, Mitte der 1870er Jahre Algerien,9 während der spätere indische Vizekönig Lord Curzon in den 1880er Jahren Turkestan besuchte.10 Der Militärgeograph M. I. Venjukov11 bereiste nicht nur die russischen Gebiete Zentralasiens, sondern auch Tunesien, Algerien, den Senegal und Indochina und verfasste eine Reihe von Werken über diese Länder. Solche Reisen dienten dem Erfahrungsaustausch zwischen den Eliten europäischer Staaten, die sich vor die gleichen Aufgaben und Probleme gestellt sahen und ungeachtet aller politischen Differenzen daran interessiert waren, voneinander zu lernen. Was die Bevölkerungsstruktur, die naturräumlichen Gegebenheiten und die Verwaltungsordnung betrifft, hatte Turkestan gewisse Ähnlichkeiten mit den französischen Kolonialgebieten im Maghreb. Wichtiger als Impulsgeber für die russische Herrschaft in Turkestan war allerdings Großbritannien. Dies lag an der geographischen Nähe und der historischen, sprachlichen und kulturellen Verwandtschaft Turkestans mit dem britisch dominierten Afghanistan sowie mit Indien. Doch auch der Erfolg Großbritanniens als mächtigste Kolonialmacht seiner Zeit führte dazu, dass Großbritannien besonders oft als Vorbild für das Zarenreich 8 9 10 11
Moskovskie Vedomosti, 04.07.1867. Aleksej Nikolaevič Kuropatkin: Alžirija, Sankt-Peterburg 1877. George Nathaniel Curzon: Russia in Central Asia, London 1889. Michail Ivanovič Venjukov (1832–1901) war Geograph im Dienste des Generalstabs der russischen Armee, für den er unterschiedliche Gebiete Asiens bereiste. Er war einer der aufmerksamsten Kommentatoren des russisch-britischen Verhältnisses und sprach sich für eine weitere Expansion des Zarenreichs in Asien aus. Da er immer wieder Missstände in der Verwaltung kritisierte, geriet er wiederholt in Konflikt mit dem Staat. Ab 1877 lebte er in Westeuropa, von wo aus er seine Reisen und seine publizistische Tätigkeit fortsetzte. Siehe V. A. Esakov: Michail Ivanovič Venjukov, 1832–1901, Moskva 2002; Marshall, General Staff (wie Anm. 6); M. K. Baschanov: Russkie voennye vostokovedy do 1917 g.: Biobibliografičeskij slovar’, Moskva 2005, S. 47–50.
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genannt wurde. Dabei wurden die Verhältnisse in Britisch-Indien und in Turkestan als so vergleichbar angesehen, dass viele Beobachter meinten, man könne aus der britischen Herrschaftspraxis direkte Schlüsse für Turkestan ziehen. M. A. Terent’ev,12 Orientalist in der Asienabteilung des russischen Generalstabs, erklärte etwa 1875: „Wenn England Erfahrungen machen muss, dann können wir die fertigen Schlüsse daraus verwenden, ohne die unangenehmen Erfahrungen wiederholen zu müssen.“13 Und im gleichen Tonfall schrieb N. A. Maev,14 Statistiker in der Verwaltung Turkestans: „Lasst uns schauen, was unsere europäischen Brüder in Indien machen und welche Lehre sie uns erteilen – natürlich gegen ihren Willen!“15 Von solchen praktischen Überlegungen abgesehen bot die Einordnung der russischen Zentralasienpolitik in die weltweite koloniale Expansion des Westens zudem eine willkommene Möglichkeit, das Vorgehen des Zarenreichs international zu rechtfertigen. Die Blaupause für diese Art von Argumenten lieferte Außenminister A. M. Gorčakov16 in einer berühmt gewordenen Zirkulardepesche aus dem Jahr 1864, in der er den russischen Botschaftern in Europa eine Sprachregelung vorgab, wie sie in ihren Gastländern das russische Vordringen in Zentrala 12
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Michail Afrikanovič Terent’ev (1837–1909) stand als militärischer Orientalist im Dienste der russischen Armee. Von 1867 bis 1873 war er in Turkestan, wo er verschiedene Posten in der Militärverwaltung Turkestans innehatte. 1895 bis 1900 erneut in Turkestan als Militärrichter. Er verfasste eine Geschichte der Eroberung Zentralasiens sowie mehrere Wörterbücher für zentralasiatische Sprachen. Er vertrat die Überzeugung, dass es möglich sei, die Einheimischen für die russische Lebensweise zu gewinnen, zentral dabei seien das russische Schulwesen und die russische Justiz, die den Einheimischen nähergebracht werden sollten. Siehe Baschanov, Vostokovedy (wie Anm. 11), S. 233–235. Michail Afrikanovič Terent’ev: Rossija i Anglija v Srednej Azii, Sankt Peterburg 1875, S. 346. Nikolaj Aleksandrovič Maev (1835–1896) war langjähriger Herausgeber der Turkestanskie Vedomosti („Turkestaner Nachrichten“), der offiziellen Zeitung der Verwaltung Turkestans. Er war ein aktives Mitglied mehrerer Turkestaner wissenschaftlicher Vereinigungen und verfasste zahlreiche Werke zur Landeskunde Turkestans. Er sprach sich für ein respektvolles Miteinander von Russen und Einheimischen aus, das langfristig zu einer Veränderung der einheimischen Gesellschaften führen sollte. Siehe Boris V. Lunin: Istoriografija obščestvennych nauk v Uzbekistane: Bio-bibliografičeskie očerki, Taškent 1974, S. 223–229. Nikolaj Aleksandrovič Maev: Naše položenie v Srednej Azii, in: Materialy dlja Statistiki Turkestanskogo Kraja 3 (1874), S. 435–448, hier S. 435. In der konkreten Herrschaftspraxis konnte Britisch-Indien sowohl als Vorbild als auch als Negativ-Beispiel dienen. So war einer der Gründe, warum die russische Verwaltung jede christliche Mission in Turkestan unterband, die Tatsache, dass sie den Aufstand in Indien von 1857 als Reaktion auf die Missionstätigkeit der Briten interpretierte. Die britischen Investitionen in das Bildungswesen wurden hingegen immer wieder als vorbildlich bezeichnet. Für eine detaillierte Gegenüberstellung der russischen und der britischen Herrschaftspraxis siehe Morrison, Rule (wie Anm. 4). Aleksandr Michajlovič Gorčakov (1798–1882) war von 1856 bis 1882 Außenminister des Zarenreichs. Bei der Eroberung Zentralasiens, die fast vollständig in seine Amtszeit fällt, nahm er aus Rücksicht auf Großbritannien eine eher bremsende Haltung ein. Siehe Viktor A. Lopatnikov: P’edestal: Vremja i služenie kanclera Gorčakova, Moskva 2003.
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sien begründen sollten. Gorčakov deutete dabei die russischen Eroberungen als andauernde Vorwärtsverteidigung wider Willen: Das Zarenreich sei ständig den Angriffen von wilden Nomadenvölkern ausgesetzt, deren Unterwerfung die einzige Möglichkeit sei, die Ruhe im eigenen Reich zu sichern. Um seiner Argumentation größere Überzeugungskraft zu verleihen, verwies Gorčakov darauf, dass sich das Zarenreich nicht alleine in dieser Situation befinde: „Dies war das Los aller Staaten, die diese Bedingungen antrafen. Die Vereinigten Staaten in Amerika, Frankreich in Afrika, Holland in seinen Kolonien, England in Ost-Indien – alle wurden weniger aus Ehrgeiz als aus Notwendigkeit auf diesen Weg der Vorwärtsbewegung gezogen, auf dem es sehr schwierig ist, wieder anzuhalten.“17
Das Argument, dass die Eroberung Zentralasiens nur ein unbeabsichtigter Effekt der Verteidigung Russlands gegen die wilden Steppenbewohner sei, wurde nun zu einem Leitmotiv des russischen Zentralasiendiskurses. Zusätzlich zur politischen Legitimation des Vorrückens nach Zentralasien diente der Verweis auf die Kolonialmächte aber auch der Hebung des Prestiges des Zarenreichs. Der Status einer Kolonialmacht bedeutete internationale Anerkennung als Großmacht und als zivilisiertes Land. Wenn sich Russland nun immer wieder mit Großbritannien in eine Reihe stellte, war das durchaus auch ein Versuch, am Prestige der erfolgreichsten Kolonialmacht teilzuhaben. So erklärte der Publizist L. A. Polonskij18 1868 in einem Artikel über Turkestan: „Die europäische Zivilisation nach Asien zu tragen – das ist die große historische Aufgabe, die zwei Großmächten zuteil geworden ist: England und Russland.“19 Die gemeinsame Nennung von Russland und England als Großmächte, der Verweis auf Europa und schließlich die Stilisierung der Eroberung zu einer „großen historischen Aufgabe“ machen deutlich, wie sehr die Anerkennung als gleichrangige Kolonialmacht auch eine Prestigefrage war. Gerade auch angesichts der immer wieder aufflackernden Gefahr eines Krieges zwischen Großbritannien und dem Zarenreich wurden die beiden Kontrahenten in der russischen Öffentlichkeit 17
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A. M. Gorčakov: Circular Despatch Addressed by Prince Gortchakow to Russian Representatives abroad, 21. November 1864, in: Parliamentary Papers: Accounts and Papers C-704/Correspondence Regarding Central Asia 2 (1873), S. 70–75. Die deutsche Übersetzung ist zitiert nach Otto Hoetzsch: Russland in Asien: Geschichte einer Expansion, Stuttgart 1966, S. 27. Leonid Aleksandrovič Polonskij (1833–1913) war Schriftsteller und Journalist und publizierte unter verschiedenen Pseudonymen in zahlreichen Petersburger Blättern. In den 1870er Jahren war er für den innenpolitischen Teil der führenden liberalen Zeitschrift Vestnik Evropy („Bote Europas“) verantwortlich. In zahlreichen Artikeln befasste er sich mit der Außenpolitik des Zarenreichs, Zentralasien gehörte hingegen nicht zu den Schwerpunkten seiner journalistischen Tätigkeit. Siehe Nikolaev, Pisateli (wie Anm. 7), Bd. 5, S. 52f. Zur Darstellung der Eroberung Zentralasiens durch den Vestnik Evropy: N. I. Plotnikova: „Vestnik Evropy“ o sredneaziatskoj politiki Rossii (60–70 gg. XIX v.), in: Vnešnjaja politika Rossii i obščestvennoe mnenie, Moskva 1988, S. 91–106. L. A-v [Leonid Aleksandrovič Polonskij]: Naši dela v Turkestanskom krae, in: Vestnik Evropy 3 (1868), Hf. 6, S. 769–808, hier S. 769.
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als prinzipiell gleichwertige Großmächte dargestellt, die in Zentralasien übereinstimmende Interessen hätten. Der angesehene Völkerrechtsexperte F. F. Martens20 forderte daher etwa 1880 eine friedliche Verständigung zwischen Großbritannien und Russland: „Die Ebenen und Berge Zentralasiens ermöglichen dem russischen und dem englischen Volk die freie Entfaltung all ihrer körperlichen und geistigen Kräfte. Beide Völker müssen hier einander die Hand reichen und durch eine auf gegenseitigem Vertrauen und Respekt ruhende Handlungsweise den asiatischen Völkern zeigen, dass ihr Interesse dem unermüdlichen Kampf gegen Barbarei und der Einführung öffentlicher Ämter zur Sicherung der zivilisatorischen Erfolge gilt. Indem sie einander vertrauensvoll die Hände reichen und die hässlichen Vorurteile vergangener Zeiten vergessen, werden das russische und das englische Volk beweisen, dass echte Zivilisation in Wahrheit auf gemeinsamem Einsatz für ein gemeinsames, hohes, dem 19. Jahrhundert würdiges Ziel beruht.“21
Auch hier wird das Zarenreich als europäische Großmacht dargestellt, die Großbritannien ebenbürtig ist und dieselben Interessen vertritt: die Verbreitung der europäischen Zivilisation in Asien. II. KONTINENTALE AUSBREITUNG RUSSLANDS Doch das Verhältnis des Zarenreichs zu Europa war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts keineswegs eindeutig.22 Vorstellungen eines russischen Sonderweges führten dazu, dass auch die russische Herrschaft in Turkestan nicht bedingungslos in den Prozess der kolonialen Überseeausbreitung Europas eingeordnet wurde. Vor allem die Tatsache, dass das russische Zentrum von seinen zentralasiatischen Randgebieten nicht durch eine klare geographische Barriere getrennt war, ermöglichte es, auch ein grundlegend anderes Narrativ aufzubauen. Diese Darstellung betonte nicht den globalen Kontext der Eroberung Turkestans, sondern vielmehr die Tradition einer genuin russischen kontinentalen Ausbreitung nach Asien, die tief in die Geschichte zurückreiche. So lehnte es der Publizist D. I. Zavališin23 20
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Fedor Fedorovič Martens bzw. Friedrich Fromhold Martens (1845–1909) war Jurist und Diplomat baltischer Herkunft im Dienste des russischen Außenministeriums. Er spielte eine führende Rolle bei der Entwicklung des humanitären Völkerrechts. Siehe Martin Aust: Völkerrechtstransfer im Zarenreich: Internationalismus und Imperium bei Fedor F. Martens, in: Osteuropa 60 (2010), Hf. 9, S. 113–125. Fedor Fedorovič Martens: Rossija i Anglija v Srednej Azii, Sankt Peterburg 1880, S. 90f. Kursiv im Original. Vera Tolz: Russia: Inventing the Nation, London / New York 2001; Mark Bassin: Geographies of Imperial Identity, in: Dominic Lieven (Hg.): The Cambridge History of Russia, Vol. 2, Cambridge 2006, S. 45–63. Dmitrij Irinarchovič Zavališin (1804–1892) war Offizier und Publizist, der den Dekabristen nahestand. 1826 wurde er nach Sibirien verbannt und blieb dort auch nach Ablauf seiner Strafdauer. Nachdem er Missstände in der Lokalverwaltung angeprangert hatte, wurde er aus
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im Jahre 1865 ab, sich zu sehr an den europäischen Kolonialmächten zu orientieren und sprach von einem „fundamentalen Unterschied“, der zwischen der Kolonialexpansion der Europäer und der Ausbreitung des Zarenreichs bestehe: Die Eroberungen der Europäer seien völlig willkürlich und hätten keine moralische Begründung, während die russische Expansion nach Zentralasien historisch gerechtfertigt sei: „Seit die asiatischen Horden Russland überschwemmt, zugrunde gerichtet und unterjocht hatten und seinen berechtigten Widerstand auslösten, seit damals existiert jene unaufhörliche Gegenbewegung, die sich bis in die Gegenwart fortsetzt und noch lange nicht zu Ende ist. Diese Bewegung lässt sich naturgemäß in drei Stadien unterteilen: 1) der Sturz des Jochs; 2) die Unterwerfung der eigenen Unterdrücker; 3) die Sicherung der Grenzen, wobei verlässliche Sicherheit nicht anders als durch unmittelbaren Besitz erreicht werden konnte.“24
Zavališin greift hier also auch auf Gorčakovs Argument der Vorwärtsverteidigung gegen die wilden Nomadenstämme zurück. Wie Gorčakov erwähnt er dabei zwar auch den kolonialen Kontext, für Zavališin ist allerdings die diachrone Linie entscheidend: Er sieht die Eroberung Zentralasiens als Teil eines langen historischen Prozesses, der seinen Ursprung bereits in der Abwehr der Mongolen hat. Die Ausbreitung des russisch besiedelten Territoriums nach Osten, Süden und Norden wurde seit der Mitte des 19. Jahrhunderts immer mehr zum „grundlegenden Faktum der russischen Geschichte“ stilisiert.25 Der Orientalist A. E. Snesarev26 hielt diese Bewegung sogar für „so natürlich“, dass sich für ihn die Frage stellte, „warum wir diese Bewegung erst so spät begonnen haben.“27 Auch die Eroberung Zentralasiens wurde als Teil dieser organischen Bewegung des russischen Volkes gedeutet, die neben dem westlichen Kolonialismus die zweite große Rahmenerzählung ist, in die die russische Herrschaft in Zentralasien eingeordnet wurde. Der Kontakt zwischen den Russen und ihren asiatischen Nachbarn wurde dabei als freundschaftliche Vermischung der Völker dargestellt, während die Europäer in ihren Kolonien viel distanzierter aufträten. So grenzte auch der Militärgeograph
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Sibirien in das europäische Russland verbannt – ein einzigartiger Fall in der russischen Geschichte. Von 1864 bis zu seinem Tod lebte er in Moskau. Siehe Nikolaev, Pisateli (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 297–300. Dmitrij Irinarchovič Zavališin: Po povodu zanjatija Taškenta, in: Sovremennaja letopis’ 1865, Hf. 37. Siehe Willard Sunderland: Taming the Wild Field: Colonization and Empire on the Russian Steppe, New York 2004, S. 170, 209f. Das Zitat stammt aus Vasilij Osipovič Ključevskij: Kurs russkoj istorii, Sočinenija, Bd. 1, Moskva 1956, S. 31. Andrej Evgen’evič Snesarev (1865–1937) war Offizier und Orientalist im russischen Generalstab. Er diente mehrere Jahre in Turkestan und arbeitete sowohl zu wissenschaftlichen als auch zu geheimdienstlichen Zwecken über Indien. Er nahm auf der Seite der Bolschewiki am Bürgerkrieg teil und wurde später zu einem der führenden sowjetischen Indologen. Marshall, General Staff (wie Anm. 6), S. 154–157; Baschanov, Vostokovedy (wie Anm. 11), S. 217f. Andrej Evgen’evič Snesarev: Indija kak Glavnyj Faktor v Sredne-Aziatskom Voprose: Vzgljad tuzemcev Indii na angličan i ich upravlenie, Sankt Peterburg 1906, S. 15.
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Venjukov die „freundschaftliche“ russische Herrschaftspraxis von der der Briten ab und verwies dabei auf die „historische Erfahrung“ Russlands: „Wir sind nicht die Engländer, die sich bemühen, sich in Indien auf keinen Fall mit der einheimischen Rasse zu vermischen, und die das früher oder später mit dem Verlust des Landes bezahlen dürften, zu dem sie keine verwandtschaftlichen Bindungen haben. Unsere Stärke lag dagegen bisher gerade darin, dass wir die unterworfenen Völker assimiliert haben und uns freundschaftlich mit ihnen vermischt haben. Es ist wünschenswert, dass diese historische Erfahrung auch in Zukunft nicht vergessen wird, vor allem bei unserer Ankunft am Oberlauf des Amu-Darja.“28
Der Orientalist Terent’ev sah ebenfalls die Geschichte als Beleg dafür, dass die Russen den von ihnen unterworfenen Völkern weniger distanziert gegenübertreten, und sprach von einer „Politik der staatsbürgerlichen Gleichberechtigung“, von der „besonderen Großherzigkeit“ und der „Selbstaufopferung“ Russlands. Diese Politik sei die „ganze [russische] Geschichte hindurch durchgeführt worden und ist eine ihrer glänzenden Auszeichnungen“.29 Dabei wurde die größere Nähe zu den unterworfenen Völkern nicht nur als Ergebnis der russischen Politik dargestellt, sondern zu einer inhärenten Eigenschaft des russischen Volkes stilisiert. Ein Beispiel dafür lieferte etwa der Orientalist N. P. Ostroumov.30 Er betonte 1908 den „weichen Charakter des russischen Volkes“ und führte diesen darauf zurück, dass sich die Russen „im Laufe der Jahrhunderte mit den asiatischen Völkern angefreundet“ hätten. Die Bestimmung des russischen Volkes bestehe darin, „seinen asiatischen Nachbarn die Kultur zu bringen.“31 Ähnlich äußerten sich auch schon im Jahre 1875 die Sankt-Peterburgskie Vedomosti („St. Petersburger Nachrichten“) anlässlich der bevorstehenden Annexion des zentralasiatischen Khanates von Kokand. Sie erklärten die „tiefe ehrliche Friedensliebe“ zu einem Teil des 28
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Michail Ivanovič Venjukov: Postupatel’noe dviženie Rossii v Srednej Azii, in: Sbornik gosudarstvennych znanij, Bd. 3, Sankt Peterburg 1877, S. 58–106, hier S. 61. Der AmuDarja, im Altertum Oxus genannt, ist einer der beiden größten Flüsse Zentralasiens. Sein Oberlauf bildete die Grenze zwischen dem russischen und dem britischen Einflussbereich und markiert noch heute einen großen Teil der Nordgrenze Afghanistans. Terent’ev: Rossija (wie Anm. 13), S. 361. Nikolaj Petrovič Ostroumov (1846–1930) veröffentlichte zahlreiche Werke zur Landeskunde Turkestans und zum Islam und galt als einer der besten Kenner Turkestans seiner Zeit. Er hatte in Kazan Islamwissenschaften studiert und war seiner Ausbildung nach Missionar. Zwischen 1877 und 1917 hatte er im Schulwesen Turkestans unterschiedliche Funktionen inne und beriet die Verwaltung Turkestans zum Umgang mit der einheimischen Bevölkerung und dem Islam. Dabei vertrat er eine streng konservative Richtung, die auf die patriarchale Fürsorge der Russen für die einheimische Bevölkerung setzte. Siehe Lunin, Istoriografija (wie Anm. 14), S. 259–271; Jurij S. Flygin: N. P. Ostroumov: Ot vypusknika Duchovnoj seminarii do „patriarcha turkestanovedenija“, in: Jurij S. Flygin (Hg.): Vostokovedčeskij čtenija pamjati N.P. Ostroumova: Sbronik materialov, Taškent 2008, S. 11–36; I. L. Alekseev: N. P. Ostroumov o problemach upravlenija musul’manskim naseleniem Turkestanskogo kraja, in: Sbornik Russkogo istoričeskogo obščestva 153 (2002), Hf. 5, S. 89–95. Nikolaj Petrovič Ostroumov: Sarty: Ėtnografičeskie materialy: Obščij očerk, Taškent 1908, S. 94.
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„Nationalcharakters“ des russischen Volkes. Dieses verfüge über die Eigenschaft, „fremde Völkerschaften zu sich heranzuziehen und sich zu eigen zu machen – zumindest diejenigen, die auf der Leiter der Zivilisation niedriger stehen.“32 Der Schriftsteller E. L. Markov33 schließlich ging in seinem 1901 erschienen Buch über Zentralasien besonders weit in die Vergangenheit zurück: Er behauptete, die Russen seien bereits in der Mitte des 13. Jahrhunderts die „natürlichen Zivilisatoren“ der asiatischen Nomaden gewesen, und stellte so die Eroberung Zentralasiens als den vorläufigen Endpunkt einer sechshundertjährigen Geschichte der Zivilisierung und der Inkorporierung asiatischer Völker dar.34 Diese Betonung der historischen Tradition stellte Russland als überlegenen Zivilisator Asiens dar. Während die britische Herrschaft in Indien als instabil und gefährdet wahrgenommen wurde, und immer wieder auch die Ausbeutung der kolonisierten Bevölkerung Asiens und Afrikas durch die Europäer kritisiert wurde, stellte Russland sich selbst als freundlichere Macht dar, die in Asien selbstlos die Interessen der eroberten Völker vertrat, und deren Herrschaft daher auch auf festerem Fundament gebaut war. Diese Abgrenzung von der kolonialen Praxis des Westens bedeutete allerdings nicht, dass der koloniale Zusammenhang vollkommen abgestritten worden wäre. Ganz im Gegenteil befinden sich Verweise auf die russische Geschichte häufig in direkter Verbindung mit solchen auf den zeitgenössischen Kolonialismus: Wenn Zavališin die russische Expansion als „moralisch begründet“ bezeichnete, während die Eroberungen der Europäer „willkürlich“ gewesen seien, so war für ihn offenbar der europäische Kolonialismus der nächstliegende Vergleichspunkt. Auch Venjukovs bereits erwähnte Feststellung „Wir sind nicht die Engländer“ zeigt, dass er die britische Politik zwar ablehnte, es aber dennoch für sinnvoll hielt, sie zum Vergleich heranzuziehen und in ihr den nächsten Verwandten der russischen Politik sah. Russland trat in Zentralasien immer als europäische Macht auf, und „russisch“ und „europäisch“ wurden häufig synonym verwendet. Auch wenn man sich von einzelnen Aspekten der europäischen Herrschaft distanzierte oder eine besondere Affinität der Russen Asien gegenüber behauptete, wurde der prinzipiell europäische Charakter der russischen Herrschaft nicht bestritten.35 Die enge Verflechtung der „kolonialen“ Vergleiche mit dem Motiv der historischen Ausbreitung Russlands zeigt sich auch an dem Begriff der kolonizacija, der für beide Narrative von zentraler Bedeutung war. Kolonizacija konnte sich auf die imperialistische Expansion der europäischen Mächte beziehen, es konnte aber 32 33
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Sankt-Peterburgskie Vedomosti, 24.08.1875. Evgenij L’vovič Markov (1835–1903) war ein erfolgreicher Reiseschriftsteller und Publizist, zunächst liberal eingestellt, seit den 1880er Jahren deutlich konservativer. Nikolaev, Pisateli (wie Anm. 7), Bd. 3, S. 526–528. Evgenij L’vovič Markov: Rossija v Srednej Azii, Sankt Peterburg 1901, Bd. 1, S. 447. Siehe dazu Ulrich Hofmeister: Russische Erde in Taschkent? Koloniale Identitäten in Zentralasien, 1867–1881, in: Saeculum: Jahrbuch für Universalgeschichte 61 (2011), Hf. 2, S. 263–282.
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auch die bäuerliche Umsiedelung innerhalb Russlands bezeichnen und wurde in diesem Fall dann synonym zu pereselenie („Umsiedelung“) verwendet.36 Um diese beiden Phänomene auseinanderzuhalten, behandelte etwa das oben zitierte Lexikon die landwirtschaftliche Kolonisierung, die als genuin russische Erscheinung dargestellt wurde, in einem gesonderten Artikel unter „Kolonisierung Russlands“, abseits von dem Artikel zu „Kolonisierung“, der nur auf den westeuropäischen Kolonialismus einging.37 In Zentralasien jedoch überlagerten sich die beiden Bedeutungen von kolonizacija: Turkestan wurde als Kolonie nach dem Muster Britisch-Indiens beschrieben, zugleich wurde dieses Gebiet von der Zentralregierung aber auch als Siedlungsraum für bäuerliche Massen aus den Zentralgebieten des Reichs konzipiert.38 In einem Reisebericht des Malers V. V. Vereščagin39 aus dem Jahr 1874 kommt diese Doppelrolle Turkestans besonders gut zum Ausdruck: Vereščagin stellt zunächst ein ständiges Vorrücken russischer Siedler (kolonisty) nach Süden fest, die von Sibirien kommend bald auch Turkestan besiedeln würden. Während diese Aussage noch typisch für das Narrativ der schrittweisen Ausbreitung Russlands ist, zieht Vereščagin noch im gleichen Absatz gleich zwei „koloniale“ Vergleiche heran: Damit den Russen in Turkestan nicht das Schicksal der Briten in Indien drohe, die fürchten müssten, früher oder später von einem Aufstand der Einheimischen vertrieben zu werden, solle man die Besiedelung (kolonizacija) Turkestans in großem Maßstab vorantreiben. Russland befinde sich in Turkestan in der gleichen Lage wie die Franzosen in Algerien: Man sei dazu gezwungen, Siedlungen (kolonii) anzulegen, um die Gefahr eines Aufstandes der Einheimischen zu bannen.40 Diese Erwähnung der französischen Siedlerkolonie macht besonders deutlich, dass die Verweise auf die historische Ausbreitung Russlands keineswegs als Widerspruch zu den kolonialen Vergleichen mit Westeuropa gesehen wurden. 36
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Willard Sunderland: The „Colonization Question“: Visions of Colonization in Late Imperial Russia, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 48 (2000), S. 210–232, hier S. 212f.; Willard Sunderland: Empire without imperialism? Ambiguities of Colonization in Tsarist Russia, in: Ab Imperio 2 (2003), S. 101–114. P. Miljukov: Kolonizacija Rossii, in F. A. Brokgauz / I. A. Efron (Hg.): Ėnciklopedičeskij Slovar’, Bd. XV, Sankt-Peterburg 1895, S. 740–746. Zu den Konflikten um die unterschiedlichen Einschätzungen der Siedlerfrage in Turkestan siehe Sahadeo, Society (wie Anm. 4), S. 146–153. Vasilij Vasil’evič Vereščagin (1842–1904) war ein russischer Kriegsmaler. Er nahm an mehreren Zentralasien-Feldzügen teil und fertigte im Auftrag des Turkestaner Generalgouverneurs Bilder an, die die Eroberung Zentralasiens sowie seine Bevölkerung dokumentieren und in Russland populär machen sollten. Die realistische Darstellung der Grauen des Krieges stieß jedoch auf viel Ablehnung. Zu Vereščagins Zentralasien-Bildern siehe Brower, Turkestan (wie Anm. 4), S. 46, 49f.; David Schimmelpenninck van der Oye: Vasilij V. Vereshchagin’s Canvases of Central Asian Conquest, in: Svetlana Gorshenina / Sergej Abashin (Hg.): Le Turkestan Russe: Une Colonie Comme Les Autres?, Paris 2009, S. 179–209. Vasilij Vasil’evič Vereščagin: Ot Orenburga do Taškenta, 1867–1868, in: Vsemirnyj puteščestvennik (1874), Hf. 5, S. 1–118, hier S. 38f.
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III. ASIATISCHE IMPERIEN Russische Publizisten und Beamte wandten sich auf ihrer Suche nach Vorbildern und Maßstäben jedoch nicht nur nach Europa: Auch eine Orientierung an asiatischen Großreichen, vor allem an China, ist feststellbar. Das Reich der Mitte wurde zwar auch in Russland schon seit den 1830er Jahren allgemein als rückständig angesehen,41 dennoch war der Blick nach China für die imperiale Verwaltung in Turkestan in gewisser Weise naheliegend: Chinesisches Hoheitsgebiet – das sogenannte Ostturkestan – grenzte direkt an Russisch-Turkestan, und die dort lebenden turksprachigen Muslime waren kulturell, sprachlich und religiös eng mit der Bevölkerung der russischen Gebiete Zentralasiens verwandt. China und Russland befanden sich also in Zentralasien in einer durchaus vergleichbaren Situation und konkurrierten teilweise miteinander. Zugleich wurde aber von russischer Seite aus auch konstatiert, dass das Zarenreich und China in Zentralasien übereinstimmende Interessen hätten. Der Orientalist V. V. Grigor’ev42 erklärte im Jahr 1867, dass eine mögliche russische Eroberung des Khanates von Kokand auch für den chinesischen Nachbarn von Vorteil sei. Kokand sei immer wieder als Anstifter antichinesischer Aufstände der muslimischen Bevölkerung Ostturkestans hervorgetreten, Russland hingegen habe kein Interesse daran, in den chinesischen Gebieten Zentralasiens „islamischen Fanatismus anzuheizen“, weil der dann auch auf die russischen Gebiete übergreifen könnte. China und Russland würden also gleichermaßen profitieren, wenn Kokand unter russische Kontrolle käme.43 Venjukov betonte ein Jahrzehnt später noch ausdrücklicher die Solidarität zwischen Russland und China. Angesichts der anhaltenden Unruhen in Ostturkestan, wo sich der Kriegsherr Jakub-Bek bemühte, ein selbständiges Emirat zu etablieren, forderte Venjukov, dass das Zarenreich China helfen solle, die Kontrolle über das Gebiet wieder herzustellen. Denn die Chinesen seien „bewährt friedliebende Nachbarn, die in Mittelasien das gleiche Interesse wie wir haben: Den Unruhen der Nomaden Einhalt zu gebieten, die so schädlich für die sesshaften Nachbarn sind.“44 41 42
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Mark Bassin: Imperial Visions: Nationalist Imagination and Geographical Expansion in the Russian Far East 1840–1865, Cambridge 1999, S. 50f. Vasilij Vasil’evič Grigor’ev (1816–1881) war seit 1867 in St. Petersburg Inhaber der Professur für die Geschichte des Orients, der ersten Professur dieser Art weltweit. Er veröffentlichte zahlreiche Arbeiten zur Geschichte Zentralasiens. Vor Antritt seiner Professur hatte Grigor’ev nicht nur wissenschaftlich gearbeitet, sondern war in den 1850er Jahren auch für die Verwaltung der Orenburger Kasachen zuständig. Er äußerte sich mehrfach ablehnend gegen zu große Eingriffe des Staates in das Leben der Einheimischen Zentralasiens. Siehe Lunin, Istoriografija (wie Anm. 14), S. 149–155; Nathaniel Knight: V. V. Grigor’ev in Orenburg, 1851–1862: Russian Orientalism in Service of Empire?, in: Slavic Review 59 (2000), Hf. 1, S. 74–100. Vasilij Vasil’evič Grigor’ev: O russkich interesach v podvlastnych nam osedlych stranach Srednej Azii, in: Moskva: Gazeta političeskaja, ėkonomičeskaja i literaturnaja, 28.01.1867– 09.03.1867, hier 29.01.1867. Venjukov: Dviženie (wie Anm. 32), S. 102.
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Doch China wurde nicht nur als Partner des Zarenreichs dargestellt, der die gleichen Interessen hat, sondern fallweise wurde auch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Russland aus chinesischen Erfahrungen lernen könne: So regte Venjukov an, sich in der Religionspolitik daran zu orientieren, wie China mit seiner nomadischen Bevölkerung umgegangen war: Die ehemals kriegerischen Mongolen seien von den Chinesen zum Lamaismus bekehrt worden und hätten dadurch friedliche Sitten angenommen. Die muslimische Bevölkerung Ostturkestans sei hingegen weiterhin ein ständiger Quell von Unruhen. Russland solle diese Erfahrungen in seiner Zentralasien-Politik berücksichtigen.45 Selbst das China des 7. Jahrhunderts wurde als Vorbild genannt: Der Zoologe A. F. Middendorf46 empfahl in seiner umfassenden Studie des Ferghana-Tals aus dem Jahr 1882, dem Vorgehen der Chinesen zu folgen, die in Zentralasien bereits unter der TangDynastie Straßen angelegt hätten und der lokalen Bevölkerung eine beschränkte Selbstverwaltung gewährt hätten.47 Es gab also eine Reihe von Autoren, für die das älteste asiatische Kontinentalimperium ein angemessener Vergleichspunkt für die russische Herrschaft in Zentralasien war. China und Russland wurden in dieser Argumentation als imperiale Partner beschrieben, die gemeinsam an der Befriedung Asiens arbeiten und in ihrer jeweiligen Herrschaftspraxis voneinander lernen könnten. Diese Darstellung erinnert in vielem an die Darstellung Großbritanniens, das im kolonialen Bezugssystem ja ebenfalls als Partner Russlands bei der Zivilisierung Asiens beschrieben wurde. Und tatsächlich erweiterte Venjukov 1878 die Achse RusslandChina zu einem Dreieck, indem er nun auch Großbritannien hinzufügte: „Unbestreitbar haben drei Völker, das russische, das chinesische und das englische, durch ihre Herrschaft über eine Vielzahl verschiedenster Stämme diesen und allgemein der Menschheit den größten Nutzen gebracht. Man kann sagen, dass durch sie Stämme, die in der Unabhängigkeit grausame Barbaren gewesen waren und einander oder benachbarte Staaten zerfleischt hatten, zu einem friedlichen, zivilisierten Leben gerufen wurden.“48
Venjukov sah das Zarenreich also als Teil einer weltweiten Gemeinschaft zivilisierender Imperien, die den asiatischen Kontinent unter sich aufteilten und so befriedeten. Diese Sichtweise spielte auch noch in den folgenden Jahrzehnten eine gewisse Rolle: Noch 1901 erwähnte Ostroumov die Aufstände der muslimischen Bevölkerung Ostturkestans in einer Reihe mit Unruhen in Russisch-Turkestan, 45 46
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Ebd., S. 75. Aleksandr Fedorovič Middendorf bzw. Alexander Theodor von Middendorf (1815–1894) war ein deutsch-baltischer Zoologe und Geograph in russischem Dienst. Auf seinen zahlreichen Forschungsreisen besuchte er unter anderem den Norden Sibiriens und das zentralasiatische Ferghana-Tal. N. I. Leonov: Aleksandr Fedorovič Middendorf 1815–1894, Moskva 1967. Aleksandr Fedorovič Middendorf: Očerki Ferganskoj doliny, Sankt-Peterburg 1882, S. 478. Michail Ivanovič Venjukov: Očerk političeskoj ėtnografii stran, ležaščich meždu Rossiej i Indiej, in: Sbornik gosudarstvennych znanij, Bd. 5, Sankt Peterburg 1878, S. 141–162, hier S. 142.
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Ägypten, Indien und Algerien, und stellte damit China zumindest indirekt in eine Reihe mit Russland, Großbritannien und Frankreich.49 Im Laufe des letzten Viertels des 19. Jahrhunderts wurde das Reich der Mitte jedoch immer seltener als Vorbild für das Zarenreich genannt. China litt unter schweren wirtschaftlichen Problemen und inneren Unruhen, dazu übten Japan und die europäischen Großmächte massiven politischen, militärischen und wirtschaftlichen Druck auf das Land aus. Der dramatische Prestigeverlust Chinas wirkte sich nun auch auf die Darstellung des Landes im Zarenreich aus: So bezeichnete der Völkerrechtler F. F. Martens im Jahr 1880 China nur noch als „halbzivilisierten Staat“, der ähnlich wie Persien oder Japan auf einer Zwischenstufe zwischen den „barbarischen Völkern“ und den „zivilisierten Staaten“ stehe. Diese „halbzivilisierten Staaten“ könnten zwar unabhängig bleiben, sie sollten aber unter internationale Aufsicht gestellt werden, damit die Interessen der „zivilisierten Staaten“ nicht verletzt würden.50 Bereits sechs Jahre später erwähnte der Forschungsreisende N. M. Prževal’skij51 Martens’ Unterscheidung zwischen wilden Stämmen und zivilisierten Staaten, er fügte jedoch hinzu, dass China jedenfalls zu den wilden Stämmen gezählt werden müsse. Die chinesische Herrschaft über die muslimische Bevölkerung Ostturkestans sei für Russland sogar gefährlich, da die chinesische Unterdrückung immer wieder Aufstände der einheimischen Bevölkerung provoziere, die auch auf Russland Auswirkungen haben könnten.52 Auch der eingangs erwähnte Ismail Gasprinskij stellte in seinem Reisebericht das „zivilisierte, westliche Leben“, das die Russen nach Zentralasien gebracht hätten, dem „asiatisch-chinesischen Regime“ gegenüber.53 Den Tiefpunkt erreichte das Ansehen Chinas schließlich beim sogenannten Boxerkrieg um 1900. Im Zusammenhang mit den Angriffen von chinesischen Aufständischen gegen Europäer wurden die Chinesen nun mit Ausdrücken beschrieben, die ansonsten der einheimischen Bevölkerung Zentralasiens vorbehalten waren. So schrieb etwa V. F. Duchovskaja,54 49 50 51
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Central’nyj Gosudarstvennyj Archiv Respubliki Uzbekistan (CGARUz), fond (f.) I-361, opis (op.) 1, delo (d.) 1, list (l.) 4ob. Martens: Rossija (wie Anm. 24), S. 19f. Nikolaj Michajlovič Prževal’skij (1839–1888) war Geograph und General-Major der russischen Armee. Berühmt wurde er für seine fünf Reisen nach Zentralasien, die einen wesentlichen Beitrag zur Erforschung dieser Region leisteten – auch die Entdeckung des PrzewalskiPferdes ist ihm zu verdanken. Prževal’skij war ein vehementer Vertreter der imperialistischen Expansion Russlands und sprach sich wiederholt für weitere Eroberungen in China und Zentralasien aus. Siehe Daniel R. Brower: Imperial Russia and its Orient: The Reknown of Nikolaj Przhevalsky, in: The Russian Review 53 (1994), S. 367–381; Kyrill Kunakhovich: Nikolai Mikhailovich Przhevalsky and the Politics of Russian Imperialism, in: International Dunhuang Project News 27 (2006), S. 3–5. Nikolaj Michajlovič Prževal’skij: Sovremennoe položenie Central’noj Azii, in: Russkij Vestnik 186 (1886), Hf. 12, S. 473–524, hier S. 520f. Gasprinskij: Bachčisaraj (wie Anm. 2), hier Hf. 41. Varvara Fedorovna Duchovskaja (1845–1931), geborene Golicyna, war die Frau von S. M. Duchovskoj, der 1898–1900 Generalgouverneur von Turkestan war. Sie führte ein Tagebuch,
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die Frau des Turkestaner Generalgouverneurs, in ihren Erinnerungen über die Zeit des Boxerkrieges: „Der ‚Gelbe Drache‘ ist nach so vielen Jahrhunderten des Schlafes erwacht. Mit dem ‚Boxeraufstand‘ ist plötzlich ganz China in Bewegung geraten. Ausländische Diplomaten fanden sich plötzlich von der Welt abgeschnitten und von einer feindseligen wilden Masse belagert. Die ganze zivilisierte Welt schrak auf. Die Zeitungen waren voll von Beschreibungen der chinesischen Grausamkeiten.“55
Dass sich die Chinesen in der russischen Wahrnehmung innerhalb von zwei Jahrzehnten von imperialen Partnern in ein wildes, unzivilisiertes Volk verwandelt hatten, wird auch aus einem Memorandum ersichtlich, das der Orientalist V. P. Nalivkin56 im Jahr 1899 im Dienste der Verwaltung Turkestans verfasste, und in dem er die Chinesen mit der muslimischen Bevölkerung der europäischen Kolonialimperien gleichsetzte.57 China wurde auf diese Weise als zivilisierungsbedürftiges potentielles Kolonialgebiet dargestellt. Unter solchen Bedingungen konnte China nicht mehr als Referenzpunkt für die russische Herrschaft in Turkestan dienen. Eineinhalb Jahrzehnte später, kurz vor dem Ende des Zarenreichs, deutete sich jedoch ein erneuter Umschwung an, nun allerdings unter umgekehrten Vorzeichen. Waren in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts die russischen Vergleiche mit China noch vom Stolz imperialer Größe geprägt, so wurde während des Ersten Weltkrieges nun auf China verwiesen, um den Niedergang des Zarenreichs zu illustrieren. Das russische Selbstbewusstsein hatte durch die Niederlage im Russisch-Japanischen Krieg empfindlich gelitten, und in dem Jahrzehnt nach
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das in Auszügen veröffentlicht wurde und einen Einblick in das gesellschaftliche Leben der russischen Oberschicht in Taschkent gibt. Varvara Fedorovna Duchovskaja: Turkestanskie Vospominanija, Sankt Peterburg 1913, S. 99f. Vladimir Petrovič Nalivkin (1852–1918) war eine der widersprüchlichsten Figuren RussischTurkestans. Er war adeliger Herkunft, nahm an mehreren Zentralasien-Feldzügen teil und machte in der Verwaltung Turkestans Karriere, bevor er seit 1878 unter dem Einfluss der Narodniki-Bewegung für mehrere Jahre unter der einheimischen Bevölkerung lebte und zu einem der besten Kenner des Lebens der Einheimischen wurde. Seit Mitte der 1880er Jahre bekleidete er erneut wichtige Ämter in der Militärverwaltung Turkestans, wo er sein Wissen über die Bevölkerung einbrachte und wiederholt vor den Gefahren des Islam warnte. 1905 nahm er an der Revolution teil und zog 1907 für die Sozialdemokraten in die Duma ein. 1917 wurde ihm von der Provisorischen Regierung die oberste Gewalt in Turkestan übertragen. In dieser Funktion setzte er sich für die Einbeziehung der Einheimischen in die Verwaltung ein. Nach dem Bruch mit den Bolschewiki tötete er sich im Februar 1918 selbst. Sergej N. Abašin: V. P. Nalivkin: «…budet to, čto neizbežno dolžno byt’ i to, čto neizbežno dolžno byt’, uže ne možet byt’…»: Krizis orientalizma v Rossijskoj imperii?, in: Natal’ja G. Suvorova (Hg.): Aziatskaja Rossija: ljudi i struktury imperii, Omsk 2005, S. 43–96; Boris V. Lunin: Vladimir Nalivkin: žizn’, dejatel’nost’, sud’ba, in: Rossija – Uzbekistan v prošlom i nastojaščem: Ljudi, sobytija, razmyšlenija, Moskva 2003, S. 295–306. Archiv Vnešnej Politiki Rossijskoj Imperii (AVPRI), f. 147, op. 485, d. 1256, ll. 3–12, hier ll. 8ob/9.
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der Revolution von 1905 hatte das Zarenregime seine Unfähigkeit zu Reformen bewiesen. Als 1916 in Zentralasien ein Aufstand der einheimischen Bevölkerung ausbrach, der die gesamte russische Herrschaft ins Wanken brachte und nur mit äußerster Brutalität niedergeschlagen werden konnte,58 fragten sich auch hohe Funktionäre der Militärverwaltung, ob das Zarenreich seiner selbstgestellten Aufgabe, Zivilisation in Turkestan zu verbreiten, noch gerecht wurde. Sie riefen nach Reformen in Turkestan und verwiesen dabei auch auf China, wo 1911/12 das Kaisertum gestürzt und die Republik proklamiert worden war. So forderte S. N. Kastal’skij, der Militärkommandant des Bezirkes Aulie-Ata,59 in einem Schreiben an Generalgouverneur Kuropatkin vom Herbst 1916 eine Demokratisierung Turkestans: „Wenn die Bevölkerung ständig am Gängelband geführt wird, darf man kaum erwarten, dass sie sich bald aus einem Kind in einen erwachsenen Menschen verwandelt. Wenn das erstarrte, versteinerte China angefangen hat, sich zu regen und sich in jeder Hinsicht reformiert, dann ist es auch für uns an der Zeit, uns auf die Füße zu stellen uns daran zu gewöhnen, unsere Angelegenheiten selbständig zu regeln, ohne überflüssige Fürsorge der Regierung.“60
Neben China tauchte nun auch Persien als Bezugspunkt für die russische Herrschaft in Zentralasien auf – also ein weiterer Staat, der in den Jahren zuvor stets verächtlich als Halbkolonie abgetan worden war. In Persien hatte jedoch seit 1905 die Konstitutionelle Revolution die absolutistische Monarchie abgelöst, und angesichts der prekären Lage der russischen Herrschaft in Turkestan wurde nun auch auf die Umwälzungen in diesem südlichen Nachbarland des Zarenreichs verwiesen. A. F. Kerenskij61 forderte als Duma-Abgeordneter im Herbst 1916 eine grundlegende Umgestaltung der Verwaltung Turkestans und bezog sich dabei neben Britisch-Indien auch auf China und Persien: „Heute ist doch dieses unser Grenzgebiet [Turkestan] allseits von erwachenden oder bereits aufgewachten und der Kultur zustrebenden Völkern umgeben, dort Indien mit den Engländern, da Persien, das zu neuem Leben auferstanden ist, da China, das neue Regierungsformen einführt, alles ringsumher lebt bereits mit neuen Idealen und sucht nach neuen Herausforderungen. Sie verstehen Staatlichkeit anders, als sie 1865 verstanden wurde, als Turkestan ero-
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Zum Aufstand siehe Jörn Happel: Nomadische Lebenswelten und zarische Politik: Der Aufstand in Zentralasien 1916, Stuttgart 2010. Heute Taraz, Kasachstan CGARUz, f. I-1, op. 27, d. 296, l. 115ob. Aleksandr Fedorovič Kerenskij (1881–1970), der spätere Vorsitzende der provisorischen Regierung, lebte von 1889 bis 1899 in Taschkent, wo sein Vater Schulinspektor war. Nach seiner Anwaltstätigkeit in St. Petersburg wurde er 1912 Abgeordneter der vierten Staatsduma. Da Turkestan bereits seit 1907 keine eigenen Vertreter in der Duma mehr hatte, war Kerenskij einer der wenigen Abgeordneten, die Zentralasien aus eigener Anschauung kannten. Nach der Niederschlagung des Aufstandes von 1916 war Kerenskij Teil einer DumaDelegation, die Turkestan besuchte. In seiner folgenden Rede in der Duma kritisierte Kerenskij das Vorgehen des Kriegsministeriums und der Verwaltung Turkestans auf das Schärfste. Siehe dazu Tat’jana V. Kotjukova: Turkestanskoe napravlenie dumskoj politiki Rossii, 1905–1917, Moskva 2008, S. 133–149.
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bert wurde. Alles ringsumher strebt vorwärts, zu Licht und Fortschritt, nur wir sind zurückgeblieben, mit den alten Gewohnheiten, den alten Verwaltungsformen einer asiatischen Satrapie, um die elementare Vorstellung von Recht und Gerechtigkeit gebracht – aber das, was damals möglich war, ist heute vollkommen unmöglich.“62
In seiner Kritik an der Autokratie geht Kerenskij hier so weit, die russische Verwaltung in Turkestan als „asiatische Satrapie“ zu bezeichnen, die mittlerweile sogar schon von China und Persien überholt worden sei. Die Vergleichbarkeit Russlands mit China und Persien ist hier also kein Beleg der Größe Russlands, wie es bei den „kolonialen“ Vergleichen der Fall war, sondern vielmehr ein Zeichen für die Rückständigkeit des Zarenreichs. Von den „kolonialen“ Vergleichen unterscheiden sich die angeführten Zitate Kastal’skijs und Kerenskijs auch darin, dass sie nicht zwischen „Russen“ und „Einheimischen“ trennen, sondern nur zwischen der „Bevölkerung“ und der „Regierung“. Die Forderung, dass die Bevölkerung die Möglichkeit bekommen solle, „ihre Angelegenheiten selbständig zu regeln“, betrifft alle ethnischen Gruppen Turkestans gleichermaßen. Turkestan wird hier – ungeachtet der Erwähnung Britisch-Indiens bei Kerenskij – also weniger als Kolonie betrachtet, sondern vielmehr als integraler Bestandteil Russlands. In dieser Hinsicht sind diese späten „asiatischen“ Vergleiche mit dem Narrativ der kontinentalen Expansion Russlands verwandt, das ja gleichfalls die Nähe und Interessenskonvergenz von Russen und Einheimischen betont. Insgesamt kommen die Vergleiche Russlands mit den asiatischen Imperien deutlich seltener vor als die „kolonialen“ Vergleiche. Es ist aber bemerkenswert, dass derartige Verweise auf China und Persien im Turkestan-Diskurs überhaupt einen Platz hatten. Im übrigen Europa hatte sich bereits um 1800 eine Sichtweise durchgesetzt, die die absolute Überlegenheit Europas gegenüber Asien als Axiom betrachtete.63 Als Venjukov noch die zivilisierende Trojka Russland, China und England lobte, wurde China in Europa nur mehr mit Herablassung bedacht. Daher kann es auch als eine Angleichung an die europäische Praxis gesehen werden, dass die Darstellung Chinas auch im Zarenreich gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer negativer wurde, bis China schließlich auch im russischen Diskurs den Kolonialgebieten gleichgesetzt wurde. Dass das Zarenreich in den letzten Jahren 62
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Aleksandr Fedorovič Kerenskij: Reč’ v Gosudarstvennoj Dume, 13 dekabrja 1916, in: P.G. Galuzo (Hg.): Vosstanie 1916 goda v Srednej Azii: Sbornik dokumentov, Taškent 1932, S. 105–126, hier S. 125. Jürgen Osterhammel: Die Entzauberung Asiens: Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert München 1998, S. 375–382; Michael Adas: Machines as the Measure of Men: Science, Technology and Ideologies of Western Dominance, Ithaka, New York 1989, S. 177– 193; Peter J. Marshall / Glyndwr Williams: The Great Map of Mankind: British Perceptions of the World in the Age of Enlightenment, London 1982, S. 134f.; 169–176. Zu den ideologischen Grundlagen des französischen und britischen Kolonialismus siehe J. P. Daughton: An Empire Divided: Religion, Republicanism, and the Making of French Colonialism, 1880– 1914, Oxford 2006; Thomas R. Metcalf: Ideologies of the Raj, Cambridge u.a. 1994; Jennifer Pitts: A Turn to Empire: The Rise of Imperial Liberalism in Britain and France, Princeton 2005.
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seiner Existenz dann doch wieder mit China und Persien verglichen wurde, kann als dramatisierender Tabubruch interpretiert werden, der den Reformbedarf des Zarenreichs deutlich machen sollte. Dennoch bleiben solche Gleichsetzungen mit asiatischen Staaten eine Besonderheit des russischen Diskurses zu einer Zeit, als Asien in Europa auf dem Tiefpunkt seines Ansehens war. IV. ZIVILISATION Bei den Ansätzen, die russische Herrschaft in Zentralasien in größere historische oder geopolitische Zusammenhänge einzuordnen, können also insgesamt drei verschiedene Bezugssysteme festgestellt werden, auf die von Zeitgenossen überwiegend zurückgegriffen wurde. Zum einen wurde die russische Expansion in Zentralasien in den globalen Kolonialismus eingeordnet. Offiziell hatte sich das Zarenreich zwar nie als Kolonialmacht deklariert, dennoch spielten im russischen Zentralasien-Diskurs Vergleiche mit Britisch-Indien und Französisch-Nordafrika eine zentrale Rolle. Zugleich wurde die Eroberung Zentralasiens aber auch als ein Element der jahrhundertealten quasi-natürlichen Ausbreitung der Russen in Asien gedeutet. In diesem Narrativ wurde den Russen eine besondere Affinität zu Asien zugeschrieben, die mit dem langen Kontakt der Russen mit ihren asiatischen Nachbarn erklärt wurde. Und schließlich wurde eine Verwandtschaft Russlands auch mit asiatischen Kontinentalimperien festgestellt, vor allem mit China. Diese drei Bezugssysteme wurden in Anspruch genommen, um die Rolle des Zarenreichs in Turkestan zu deuten und ihr einen Platz in der Geschichte zuzuweisen. Sie hatten nicht nur eine propagandistische Funktion, sondern dienten auch dazu, der russischen Verwaltung in Turkestan Orientierung zu geben, um so aus der Geschichte lernen zu können. Vergleiche außerhalb dieser drei Bezugssysteme spielten in Turkestan keine wesentliche Rolle. Der Prototyp des Imperiums schlechthin, das Römische Reich, war im russischen Zentralasien-Diskurs praktisch nicht präsent, obwohl es noch unter Nikolaj I. ein wichtiger symbolischer Bezugspunkt für das Zarenreich gewesen war.64 Auch in mehreren westlichen Kolonialdiskursen war das Römische Reich prominent vertreten. Für Großbritannien etwa diente Rom als Präzedenzfall einer imperialen Weltmacht und als mahnendes Beispiel, aus dessen Niedergang man Lehren für die eigene Politik in den Kolonien ableiten wollte.65 Deutlich selbstbewusster wurde das Erbe Roms seit den 1890er Jahren auch von den USA 64
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Denis Sdvižkov: Imperija v napoleonovskom narjade: Vosprijatie francuzskogo neoklassicizma v Rossijskoj imperii, in: Martin Aust / Rikarda Vul’pius / Aleksej Miller (Hg.): Imperium inter pares: Rol’ transferov v istorii Rossijskoj imperii, 1700–1917, Moskva 2010, S. 67–104. Eva Marlene Hausteiner: The Attraction of Rome in the Age of Empire: The Imperium Romanum as a Precedence for Imperial Britain, in: Mediterraneo Antico XIII (2010), Hf. 1–2, S. 31–48.
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beansprucht, als diese begannen, sich selbst ein Überseeimperium zuzulegen.66 In Russisch-Turkestan hingegen fehlten Verweise auf das Imperium Romanum völlig. Die Anerkennung als moderne europäische Großmacht hatte offenbar Priorität vor der Stilisierung zu einem neuen Rom.67 Sehr selten waren auch Vergleiche mit den anderen europäischen Kontinentalimperien wie etwa dem Habsburgerreich. Trotz einiger struktureller Ähnlichkeiten der russischen Herrschaft in Turkestan zur österreich-ungarischen Verwaltung von Bosnien-Herzegowina wurde kaum ein Versuch unternommen, das Zarenreich diskursiv in eine Familie der europäischen Kontinentalimperien einzureihen.68 Das liegt unter anderem daran, dass die multinationalen europäischen Landimperien schon von den Zeitgenossen als rückständig beschrieben wurden, deren Zerfall nur noch eine Frage der Zeit sei.69 Doch noch wichtiger dürfte die Tatsache sein, dass in Russland streng zwischen der Eroberung „zivilisierter Länder“ und der „unzivilisierter Gegenden“ unterschieden wurde. Im Gegensatz zu Zentralasien galten europäische Gebiete von vornherein als zivilisiert. Deshalb wurden die Besetzung und Annexion Bosniens durch die Donaumonarchie ebenso wie die Eingliederung der polnischen Gebiete in das Zarenreich in der Regel als historische Prozesse gedeutet, die mit der Eroberung Turkestans in keiner Weise zu vergleichen waren. In Turkestan wurden in der russischen Wahrnehmung wilde Stämme unterworfen, während man es im Westen mit zivilisierten Völkern zu tun hatte. Entsprechend selten sind daher auch im russischen Turkestan-Diskurs Verweise auf Erfahrungen in den europäischen Gebieten des Zarenreichs, während der Kaukasus und Sibirien häufige Bezugspunkte waren. Wie zentral das Kriterium der „Zivilisiertheit“ war, zeigt sich auch darin, dass die Idee einer Zivilisierungsmission in jedem der drei Bezugssysteme eine tragende Rolle spielte:70 In der „kolonialen“ Einordnung wurde Russland als europäische Kolonialmacht dargestellt, die Hand in Hand mit Großbritannien an der Zivilisierung Asiens arbeitet. Bereits Gorčakov unterschied in seinem Zirkular zwischen „zivilisierten Staaten“ und „halbwilden, umherschweifenden Völkerschaf 66 67
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Margaret Malamut: Translatio imperii: America as the New Rome, c. 1900, in: Mark Bradley (Hg.): Classics and Imperialism in the British Empire, Oxford 2010, S. 249–283. Die ursprünglich religiös konnotierte Idee von Russland als Drittem Rom hatte bereits seit dem 17. Jahrhundert an Bedeutung verloren und spielte in Zentralasien keine wesentliche Rolle mehr. Siehe Wilhelm Lettenbauer: Moskau das dritte Rom: Zur Geschichte einer politischen Theorie, München 1961. Zu den wenigen Beispielen dafür, dass die russischen Gebiete Zentralasiens mit BosnienHerzegowina verglichen werden, gehört ein Zeitungsartikel von Gasprinskij aus dem Jahr 1909, in dem er die mangelnde publizistische Entwicklung in Buchara beklagt und dabei Bosnien als positives Gegenstück erwähnt. Ismail Gasprinskij: Kuda my vedem Bucharu?, in: Terdžiman 27 (1909), Hf. 4. Venjukov: Očerk (wie Anm. 52), S. 142. Jürgen Osterhammel: „The Great Work of Uplifting Mankind“: Zivilisierungsmission und Moderne, in: Boris Barth / Jürgen Osterhammel (Hg.): Zivilisierungsmissionen: Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, Konstanz 2005, S. 363–425.
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ten“ und erklärte, dass es Russlands historische Aufgabe sei, seine asiatischen Nachbarn zu zivilisieren.71 In ähnlichen Worten betonten auch andere Beobachter wie Martens oder Polonskij diese selbstauferlegte Verpflichtung Russlands. Innerhalb des kolonialen Bezugssystems hatte der Verweis auf die zivilisierende Wirkung der russischen Eroberungen auch die Funktion, die Zivilisiertheit Russlands selbst zu belegen, die ja unter Zeitgenossen nicht unumstritten war.72 Während die „kolonialen“ Vergleiche die Gleichwertigkeit Russlands mit Europa unterstrichen, betonte das Narrativ der historischen Ausbreitung die Besonderheit Russlands und seine Überlegenheit gegenüber den westlichen Kolonialmächten. Doch auch in diesem Argumentationsmuster spielte das Kriterium der Zivilisiertheit eine zentrale Rolle. Der Kontakt zwischen den Russen und den unterworfenen Völkern wurde stets als Zivilisierung gedeutet, und die Überlegenheit Russlands gegenüber den westlichen Kolonialmächten wurde vor allem darin gesehen, dass das Zarenreich seine Kulturträger-Funktion besser erfüllen konnte. Selbst die Vergleiche des Zarenreichs mit China und Persien kreisten um die Frage der Zivilisiertheit – wenn auch auf unterschiedliche Weise. In den frühen Jahren der Eroberung Zentralasiens wurde das gemeinsame Interesse Chinas und Russlands an der Zivilisierung Zentralasiens hervorgehoben, während Kerenskij und Kastal’skij mit ihren Erwähnungen Chinas und Persiens die Gefahr untermalten, dass Russland den Anschluss an die Zivilisation verlieren könnte. Für alle drei Bezugssysteme war also die Frage der Zivilisiertheit zentral. Zivilisation wurde überwiegend, aber keinesfalls ausschließlich mit Europa in Verbindung gebracht, so dass neben den europäischen Bezügen auch solche zu asiatischen Imperien möglich waren, sofern diese als ausreichend zivilisiert wahrgenommen wurden. Als Peter I. 1721 den Titel eines Imperators annahm, ordnete er Russland in ein spezifisch westliches Großmachtmodell ein.73 Im 19. Jahrhundert entwickelte sich die Identifikation Russlands mit Europa zu einem der Kernprobleme der russischen Geistesgeschichte. Daher wurden auch die russischen Verwandtschaftsbekundungen zu Asien vor allem im Kontext der Debatten um das Verhältnis Russlands zu Europa betrachtet.74 Tatsächlich steht in vielen Fällen die Hinwendung Russlands zu Asien in enger Verbindung mit einer möglichen Abwendung von Europa. Adeeb Khalid hat es pointiert ausgedrückt: „All Russian discourse about 71 72
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Gorčakov: Circular despatch (wie Anm. 17), S. 72, 74. Bassin, Geographies (wie Anm. 25), S. 45–50. Zur europäischen Wahrnehmung Russlands als halbasiatisches Reich: Devid Schimmel’pennink van der Oje: Orientalizm – delo tonkoe, in: Ab Imperio (2002), Hf. 1, S. 249–264. Bassin, Geographies (wie Anm. 25), S. 46. Milan Hauner: What is Asia to us? Russia’s Asian Heartland Yesterday and Today, London 1990; David Schimmelpenninck van der Oye: Russian Orientalism. Asia in the Russian Mind from Peter the Great to the Emigration, New Haven, CT 2010; Nicholas V. Riasanovsky: Asia through Russian Eyes, in: Wayne S. Vucinich (Hg.): Russia and Asia: Essays on the Influence of Russia on the Asian Peoples, Stanford 1972, S. 3–29; Karl A. Wittfogel: Russia and the East: A Comparison and Contrast, in: Slavic Review 22 (1963), Hf. 4, S. 627–643; Orlando Figes: Natasha’s Dance. A Cultural History of Russia, New York 2002, Kap. 6.
Zwischen Kontinentalimperium und Kolonialmacht
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Asia has rather little to do with Asia, and everything to do with Russia’s awkward, often unrequited relationship with Europe.“75 Allerdings darf nicht übersehen werden, dass es durchaus auch intellektuelle Strömungen gab, die eine Verwandtschaft Russlands mit Asien konstatierten, ohne dass dies eine trotzige Abkehr von Europa bedeutet hätte. So spricht Venjukov von einer imperialen Gemeinschaft, die Russland, China und Großbritannien gleichermaßen einschließt. Dies belegt, dass die russischen Bezüge zu Asien nicht automatisch mit einer Abwendung von Europa einhergingen, und dass auch umgekehrt eine Selbstsicht als europäischer Staat nicht in jedem Fall eine Ablehnung Asiens mit sich brachte. In RussischZentralasien existierten mehrere Bezugssysteme nebeneinander, die über den Rahmen Europas weit hinausgingen. Diese unterschiedlichen Einordnungen überlagerten einander teilweise, in manchen Fällen ergänzten sie sich, und in anderen widersprachen sie einander. Russland trat in Zentralasien mit dem Anspruch auf, sowohl eine europäische als auch eine asiatische Macht zu sein, und Turkestan wurde gleichzeitig als Kolonie und als integraler Bestandteil Russlands definiert. Gasprinskijs Verwirrung bei seiner Ankunft am Bahnhof geht auf diese Uneindeutigkeit zurück. Seine Schwierigkeiten, zu entscheiden, wo er sich nun befand, zeigen, dass die Achse Europa-Russland alleine nicht ausreicht, um der Vieldeutigkeit der russischen Herrschaft in Zentralasien gerecht zu werden.
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Adeeb Khalid: Russian History and the Debate over Orientalism, in: Kritika 1 (2000), Hf. 4, S. 691–699, hier S. 697.
AN DEN GRENZEN DES VÖLKERRECHTS Recht und internationale Anerkennung in den Beziehungen des Zarenreichs zum Iran Moritz Deutschmann I. VÖLKERRECHTSGESCHICHTE, GLOBALGESCHICHTE UND DIE ROLLE RUSSLANDS Die Geschichte des Völkerrechts ist ein fast schon klassisches Thema im noch relativ neuen Feld der Globalgeschichte. Insbesondere das Verhältnis zwischen Völkerrecht und imperialer Herrschaft ist dabei in den letzten Jahren intensiv diskutiert worden.1 Diese neuere Völkerrechtsgeschichte bemüht sich um Distanz zu ihrem Gegenstand und den Fortschrittserzählungen, die ihn häufig umgeben, und fragt nach den politischen Kontexten, in denen völkerrechtliche Normen produziert und angewandt wurden.2 Russland blieb in dieser Forschung insgesamt allerdings ein Randthema, obwohl der bedeutende Anteil, den russische Juristen an der Entwicklung des Völkerrechts hatten, schon vor längerer Zeit in einer umfangreichen Bibliographie dokumentiert wurde.3 Erst vor einigen Jahren haben Historiker und Rechtswissenschaftler angefangen, nicht nur zarische Völkerrechtler aus der Perspektive der Ideengeschichte genauer unter die Lupe zu nehmen, sondern auch nach der Rolle des Völkerrechts in den russischen Außenbeziehungen zu fragen, und damit die auf Westeuropa und die USA konzentrierte Historisierung des Völkerrechts zu erweitern.4 Während die klassische Außenpolitikgeschichte Russ 1
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Wichtige Beiträge waren etwa Martti Koskenniemi: The Gentle Civilizer of Nations. The Rise and Fall of International Law 1870–1960, Cambridge 2002 und Antony Anghie: Imperialism, Sovereignty, and the Making of International Law, Cambridge 2005. Siehe die programmatischen Bemerkungen in Koskenniemi, Gentle Civilizer (wie Anm. 1), S. 2–3. Die Bibliographie stammt von Vladimir Grabar, selbst ein bekannter russischer Völkerrechtler, und erschien erstmals 1958. Für die englische Übersetzung siehe: Vladimir E. Grabar / William Elliot Butler: The History of International Law in Russia, 1647–1917. A BioBibliographical Study, Oxford 1990. Vgl. etwa Eric Myles: „,Humanity‘, ,Civilization‘, and the ,International Community‘ in the Late Imperial Russian Mirror: Three Ideas ,Topical for Our Days‘“, in: Journal of the History of International Law 2 (2002), S. 310–334. Zum Völkerrecht in den russisch-osmanischen Beziehungen siehe: Peter Holquist, The Russian Empire as a „Civilized State“. International
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lands Rolle als Großmacht innerhalb eines internationalen Staatensystems erforscht hat, könnte der spezifisch Beitrag einer globalgeschichtlichen Perspektive darin liegen zu zeigen, wie Russland die Funktionsweise dieses Systems verändert hat, und welche Rückwirkungen dies auf die Beziehungen Russlands zu anderen Staaten hatte. Der folgende Beitrag zu den wechselseitigen Beziehungen zwischen Völkerrecht und Imperium im späten Zarenreich soll ein Versuch in diese Richtung sein. Im Mittelpunkt steht die Frage, in welchen imperialen Kontexten der russische Beitrag zum Völkerrecht entstanden ist, und wie sich mit dem Völkerrecht verbundene Normen, Institutionen und Werthaltungen in den russischen Außenbeziehungen ausgewirkt haben. Ich werde mich dabei auf eine Besonderheit der internationalen Rechtsordnung des 19. Jahrhunderts konzentrieren, die europäischen Sonderrechte im „Orient“ und die mit ihnen verbundene Integration nichteuropäischer Staaten in das System des Völkerrechts. Diese Sonderrechte prägten viele Beziehungen zwischen europäischen und nicht-europäischen Staaten bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts − die Kapitulationen mit dem Osmanischen Reich, oder das Treaty-Port-System in China waren nur die bekanntesten Beispiele. Auch wenn die rechtlichen Arrangements im Einzelnen sehr verschieden waren, so hatten sie doch gemeinsam, dass europäische Untertanen in vielen nicht-europäischen Ländern nicht oder nur mit Einschränkungen der indigenen Jurisdiktion unterworfen waren. Europäer sollten in diesen Ländern in rechtlicher Hinsicht so behandelt werden, als befänden sie sich in ihren Heimatländern, eine Rechtskonstruktion, die oft als „Extraterritorialität“ bezeichnet wurde. Dieses Privileg der Europäer wurde von politisch oft sehr einflussreichen Konsulaten geschützt. Während die Sonderrechte ursprünglich oft auf von nicht-europäischen Herrschern gewährte Privilegien zurückgingen, wie im Falle der Osmanischen Kapitulationen, verwandelten sie sich während des 19. Jahrhunderts in ein internationales Vertragssystem, das oft in Verbindung mit militärischen Niederlagen einer immer größeren Zahl von Staaten aufgezwungen wurde.5 Die Sonderrechte wurden zu einem Instrument der Ausübung informeller imperialer Herrschaft, also dem Versuch verschiedener europäischer Staaten sich ohne direkte Kolonisierung wirtschaftlichen und politischen Einfluss außerhalb Europas anzueignen. Wie ich zeigen werde, hatte Russland gerade aufgrund seiner eigenen ambivalenten Zugehörigkeit zu Europa einen bedeutenden Anteil an der Entwicklung und Verbreitung dieser Rechtsinstitution im 19. Jahrhundert. Gleichzeitig hatte die Rechtsform der extraterritorialen Privilegien auch direkten Einfluss auf die russische Politik gegenüber seinen asiatischen Nachbarn. Zunächst werde ich mich dem bekannten russischen Völkerrechtler Friedrich Fedor Martens (1845–1909) zuwenden, der mit seiner Habilitationsschrift zur
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Law as Principle and Practice in Imperial Russia, 1874–1878, Washington 2004 (abrufbar unter , 15.08.2013). Die jüngste vergleichende Studie ist Turan Kayaoglu: Legal Imperialism, Sovereignty and Extraterritoriality in Japan, the Ottoman Empire, and China, Cambridge 2010.
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Geschichte des europäischen Konsularrechts in den „orientalischen Ländern“ ein Standardwerk zu dem Thema hinterlassen hat. Sein Buch war ein weitreichender Versuch, die enorme Vielfalt des europäischen Konsularrechts in Bezug auf zahlreiche außereuropäische Länder systematisch zu erfassen und zu einem Teil des Völkerrechts zu machen. Es lässt Rückschlüsse darauf zu, wie die russischen Eliten ihre Beziehungen zu Asien im späten 19. Jahrhundert definierten, und welche Rolle das Völkerrecht dabei spielte. Gleichzeitig waren Konsulate und extraterritoriale rechtliche Privilegien für Europäer auch in der Praxis der russischen Beziehungen zu den asiatischen Nachbarländern grundlegend. Der zweite Teil des Aufsatzes wird deswegen versuchen, Martens’ Ideen in eine breitere Geschichte rechtlicher Interaktion zwischen Russland und seinen asiatischen Nachbarn einzubetten, wobei die Beziehungen zum Iran als Beispiel dienen werden, da dort der politische und wirtschaftliche Einfluss Russlands besonders groß war. Hierbei sollen vor allem die politischen Konflikte und Widersprüche beleuchtet werden, die sich in der Ausübung der Sonderrechte und der Tätigkeit der Konsulate ergaben. II. FEDOR MARTENS UND SEINE KONZEPTION DES VÖLKERRECHTS Fedor Martens war der bedeutendste russische Völkerrechtler des späten 19. Jahrhunderts. Er hatte den Lehrstuhl für Völkerrecht an der Sankt Petersburger Universität inne und war gleichzeitig als Berater im russischen Außenministerium tätig. Seine Schriften wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und er wurde oft auf internationaler Ebene als Stimme der russischen Außenpolitik wahrgenommen. Mit einigen seiner Initiativen, etwa seiner Beteiligung an der Organisation der Haager Friedenskonferenz 1899, gehörte er zu den Pionieren einer Politik, die eine Verrechtlichung der internationalen Beziehungen anstrebte.6 Die Beziehungen Europas zu den nicht-europäischen Staaten waren ein wichtiges Thema in Martens’ Schriften − schon eine seiner ersten Arbeiten an der Universität hatte sich mit den russisch-osmanischen Beziehungen unter Katharina der Großen beschäftigt.7 Am eingehendsten wurde das Thema aber in Martens’ Doktor-Dissertation behandelt, die 1873 zunächst auf Russisch, und ein Jahr später, mit einigen Erweiterungen, auch auf Deutsch unter dem Titel „Das Consularwesen und die Consularjurisdiction im Orient“ erschien.8 Die Arbeit war ein ehrgei 6
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Die umfangreichste Arbeit zu Martens ist eine Biographie: V. V. Pustogarov: S palmovoj vetvju mira. F.F. Martens − diplomat, jurist, publicist, Moskau 1993. Siehe außerdem Martin Aust: Völkerrechttransfer im Zarenreich. Internationalismus und Imperium bei Fedor F. Martens, in: Osteuropa 60 (2010), S. 113–125, wo auch weitere Literatur genannt wird. Pustogarov: S palmovoj vetvju mira (wie Anm. 6), S. 15. Fedor Fedorovič Martens: Das Consularwesen und die Consularjurisdiction im Orient, Berlin 1874. Auf Russisch: Fedor Fedorovič Martens: O konsulach i konsul’skoj jurisdikcii na vostoke, St. Petersburg 1873.
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ziger Versuch, die Vielfalt des europäischen Konsularrechts in Hinblick auf die „orientalischen Länder“ systematisch darzustellen und wurde in der internationalen Völkerrechtsdiskussion rezipiert.9 Der erste Teil des Buches gibt einen umfassenden historischen Überblick über die Entwicklung des Konsularwesens in allen europäischen Ländern. Der folgende, systematische Teil behandelt die Rechte und Pflichten der Konsuln im Gerichtsverfahren, jeweils differenziert nach der Untertanenschaft von Kläger und Beklagtem, sowie nach Zivil- und Strafsachen. Ein letzter, kürzerer Abschnitt setzt sich mit der Rolle der Konsulate als Exekutivgewalt auseinander. Die wesentliche Leistung von Martens’ Buch war es, die umfangreichen Quellenbestände zu den Sonderrechten verschiedener europäischer Länder in den rechtssystematischen Rahmen eines liberalen Völkerrechts einzuordnen. Der ideengeschichtliche Hintergrund dieses Projekts waren die internationalen Aktivitäten einiger liberaler Juristen, die 1869 mit der „Revue de droit international et de la législation comparée“ die erste Fachzeitschrift für Fragen des Völkerrechts gegründet hatten.10 Martens hatte auch direkt bei einigen der Zeitschrift nahestehenden Juristen studiert, etwa dem Schweizer Johann Caspar Bluntschli − seine Ideen waren also eng mit dem intellektuellen Austausch Russlands mit Westeuropa verbunden.11 Martens war auch an den Aktivitäten des „Institut de droit international“ beteiligt, der zentralen Institution der liberalen Völkerrechtler: er war zum Beispiel Mitglied in einer Kommission, die sich mit der Integration nicht-europäischer Staaten in das Völkerrecht beschäftigte.12 Martens versuchte in seiner Studie historische und systematische Aspekte des Rechts zusammenzuführen: in einer hegelianischen Tradition betrachtete er Recht als Ausdruck einer historischen Entwicklung, die jedoch nicht zufällig war, sondern einer inneren Logik folgte.13 Martens sah den unabhängigen Nationalstaat als das wesentliche Ergebnis dieser Geschichte, aber nicht als ihren Endpunkt: er war davon überzeugt, dass auch das Verhältnis zwischen den Staaten nicht in einem Zustand von Rechtlosigkeit sei, sondern es eine größere Rechtsgemeinschaft der „zivilisierten Staaten“ gebe. Die souveränen Nationalstaaten seien „Glieder einer internationalen Gemeinschaft [...], in welcher ein jeder [...] seine volle Selbstän 9
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Schon 1873 veröffentlichte ein anonymer Autor eine deutschsprachige Zusammenfassung der Arbeit: Russische Revue 2 (1873), S. 485–493. 1874 erschien auch eine sehr positive Rezension der Arbeit in der Revue de droit international et de la legislation comparée 6 (1874), S. 145–147 (basierend auf der deutschsprachigen Zusammenfassung), sowie 705–706 (basierend auf der deutschen Übersetzung). Koskenniemi, Gentle Civilizer (wie Anm. 1), S. 14. Vgl. hierzu Aust, Völkerrechtstransfer (wie Anm. 6). Dies wird in einer der Rezensionen zu Martens Arbeit erwähnt: Revue de droit international et de la legislation comparée 6 (1874), S. 705. Über die Arbeit der Kommission vgl. Koskenniemi, Gentle Civilizer (wie Anm. 1), S. 132ff. Durch Vermittlung von Lorenz von Stein, dessen Vorlesungen in Wien großen Eindruck auf Martens gemacht hatten, war Martens auch mit Hegels Philosophie vertraut. Vgl. Pustogarov, Martens (wie Anm. 6), S. 16–17.
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digkeit und Unabhängigkeit bewahrt“.14 Dem Konsularrecht als dem Versuch, diese internationale Gemeinschaft jenseits des Nationalstaats, auf der Ebene alltäglicher Rechtsbeziehungen zu normieren, kam dabei große Bedeutung zu: die Konsuln waren für Martens die Vorhut einer „internationalen Verwaltung“, die eine stetig zunehmende wirtschaftliche, politische und kulturelle Interaktion zwischen verschiedenen Gesellschaften regulieren sollte.15 III. DIE INTERNATIONALE GEMEINSCHAFT UND IHRE GRENZEN Unter „internationaler Gemeinschaft“ verstand Martens jedoch nicht einfach die Kollektivität aller auf der Welt existierender Völker. Ein Völkerrecht, das eine Gemeinschaft aller Völker postulierte und universelle Geltung beanspruchte, beruhe zwar, so formulierte Martens es später, „auf einem großmütigen und aufgeklärten Kosmopolitismus“, aber gleichzeitig „entzieht man ihm [dem Völkerrecht, M.D.] ... seine positiven Grundlagen und beraubt es seiner praktischen Bedeutung.“16 In dem Maße, wie rechtliche Regelungen nicht einfach beliebige Setzungen seien, sondern den Verhältnissen, die sie normieren sollten, gerecht werden müssten, setze Zugehörigkeit zur internationalen Gemeinschaft deswegen kulturelle Gemeinsamkeiten voraus. Diese Konzeption war keine originäre Erfindung von Martens, sondern war wesentlich schon bei anderen Völkerrechtstheoretikern, etwa bei Johann Caspar Bluntschli oder dem Briten James Lorimer, angelegt gewesen.17 Sie führte zu einer Gliederung der Welt in verschiedene Rechtsbereiche: auf der untersten Stufe standen dabei „barbarische Völker“, mit denen überhaupt keine regulären diplomatischen Beziehungen möglich seien. Als Beispiel hierfür nannte Martens Afghanistan, wo, wie er in einer späteren Schrift zum Anlass der Ermordung einer britischen Gesandtschaft betonte, die Sicherheit von Ausländern überhaupt nicht garantiert sei.18 Dort unterlägen laut Martens deswegen auch die Europäer nur vage definierten naturrechtlichen Verpflichtungen.19 Das andere Extrem bildeten die Beziehungen der Europäer untereinander. Wie Martens zeigte, war in Europa die Rolle der Konsuln aufgrund zunehmender wirtschaftlicher und kultureller Integrationsprozesse schon deutlich zurückgegangen: so hätten die Konsuln nicht mehr, wie noch im 16. und 17. Jahrhundert, die Jurisdiktion über ihre Untertanen, da die Rechtsordnungen sich soweit einander angepasst hätten, dass jeder Staat in Europa jedem anderen die Gerichtsbarkeit über seine Untertanen überlassen kön 14 15 16 17 18 19
Martens: Consularwesen (wie Anm. 8), S. 9. Ebd., S. 26. Fedor Fedorovič Martens: Russland und England in Central-Asien, St. Petersburg 1880, S. 12. Pustogarov, S palmovoj vetvju mira (wie Anm. 6), S. 29. Martens, Russland und England (wie Anm. 16), S. 2, Anm. 4. Ebd., S. 17.
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ne.20 An die Stelle des Konsulatssystems und extraterritorialer Privilegien konnte deswegen ein strikt territorial organisiertes System staatlicher Souveränität treten.21 Der Fokus von Martens’ Arbeit zur Konsularjurisdiktion lag auf den Staaten, die sich zwischen diesen beiden Extremen befanden, wie China, der Iran oder das Osmanische Reich. Zu diesen sollten die Europäer zwar diplomatische und vertragliche Beziehungen unterhalten. Wie Martens in einer späteren Schrift betonte, solle „die nationale Selbständigkeit dieser Völker [...] auch als so unverletzlich wie die der zivilisierten Staaten anerkannt werden“.22 Dies gelte allerdings nur, solange diese Staaten ihre vertraglichen Verpflichtungen gegenüber dem Ausland erfüllten. Außerdem bedürften die Rechte von Ausländern besonderer Garantien, da „die Bevölkerung jener Länder ... von der Notwendigkeit internationaler Beziehungen noch nicht durchdrungen [ist]“ und „von Zeit zu Zeit ... ihren feindlichen Gefühlen gegen die Fremden freien Lauf [lässt]“.23 Die internationale Anerkennung dieser Staaten war somit daran geknüpft, dass sie Europäern extraterritoriale Sonderrechte zustanden. Die Grundlinien dieses Zwischenzustandes der von der Konsularjurisdiktion betroffenen Länder versuchte Martens in seiner Arbeit aus den unzähligen bilateralen Verträgen und verschiedenen nationalen Gesetzgebungen zum Konsularrecht herauszuarbeiten. Er bediente sich dabei vor allem einer rechtsvergleichenden Methode: Martens ging auf die Regelungen in den jeweiligen nationalen Konsularrechtssystemen und zahlreichen bilateralen Abkommen ein, wobei er meist mit den besonders umfangreichen französischen und britischen Regelungen begann, aber dann auch andere Staaten, etwa Italien, die USA, und auch Russland behandelte.24 Daneben plädierte Martens teilweise auch für direkte Kooperation zwischen den europäischen Mächten. Wichtig sei diese etwa bei der Gerichtsbarkeit in Rechtsstreitigkeiten zwischen verschiedenen europäischen Untertanen im „Orient“: wenn etwa ein französischer und ein britischer Untertan in Ägypten in Konflikt gerieten, warf dies enorme rechtssystematische Probleme auf, da beide Länder über die Sonderrechte die Gerichtsbarkeit für ihre Untertanen beanspruchen konnten. Martens regte eine internationale Konvention als Lösung an.25 Sein Buch zielte damit letztlich auf eine weitergehende rechtliche Angleichung nationaler Regelungen und diente einer Internationalisierung verschiedener europäischer Sonderrechte. Wie bei vielen anderen Völkerrechtlern waren es vor allem Kon 20 21 22 23 24 25
Martens, Consularwesen (wie Anm. 8), S. 277. Einen allgemeinen Überblick zur Geschichte des Konsulatswesens in Europa gibt: Jörg Ulbert (Hg.): Consuls et services consulaires au XIXe siècle, Hamburg 2010. Martens, Russland und England (wie Anm. 16), S. 19. Martens, Consularwesen (wie Anm. 8), S. 36. Siehe etwa den Abschnitt über die strafrechtliche Zuständigkeit der Konsulate. Ebd., S. 279– 315. Ebd., S. 385.
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flikte zwischen den Imperialmächten, und nicht eine Kritik am europäischen Imperialismus, die eine völkerrechtliche Regelung antrieben.26 Einerseits ließ Martens dabei keinen Zweifel daran, dass die Sonderstellung der Europäer letztlich „eine Frage der Zeit, nicht aber des Prinzips“ sei.27 Die Konsulargerichtsbarkeit sei nur ein Übergangsstadium auf dem Weg zu einer universalen, auf dem Territorialitätsprinzip beruhenden Völkerrechtsordnung. Andererseits zeigte sich Martens gleichzeitig überaus skeptisch gegenüber der zu seiner Zeit diskutierten Abschaffung der Konsularjurisdiktion im Osmanischen Reich. Martens verband seinen liberalen Fortschrittsglauben mit einer prinzipiellen Skepsis bezüglich der Reformfähigkeit des Landes angesichts der „orientalischen Unbeweglichkeit und des muhammedanischen Fanatismus“, die angeblich im Osmanischen Reich regierten.28 Unter Berufung auf weit verbreitete antiislamische Stereotype weigerte sich Martens also am Ende die Bedeutung von Rechtsreformen im Osmanischen Reich anzuerkennen und durchbrach so die Logik seiner eigenen Argumentation.29 IV. MARTENS UND DER ZIVILISATIONSSTANDARD Wie für viele Völkerrechtler im späten 19. Jahrhundert war auch für Martens der Grad an „Zivilisation“ das Kriterium für die Zugehörigkeit zur Völkerrechtsgemeinschaft. Dazu gehörte etwa die Idee des Rechtsstaates („pravovoe gosudarstvo“), die russische Juristen seit den 1860er Jahren aus der deutschen juristischen Literatur übernommen hatten, und auch die Zuverlässigkeit bei der Einhaltung internationaler Verträge. Außerdem war das Verhalten im Krieg entscheidend: „zivilisierte“ Staaten folgten auch im Krieg bestimmten Regeln, bei deren Kodifikation Martens im späten 19. Jahrhundert eine Schlüsselrolle spielte.30 Der Zivilisationsstandard ist oft in erster Linie als ein Instrument der europäischen Imperialmächte interpretiert worden, mit dem diese nicht-europäische Staaten aus dem Völkerrecht ausschlossen und imperiale Eroberungen rechtfertigten. Auch bei Martens ist der Zusammenhang von Zivilisationsstandard und imperialer Herrschaft kaum zu übersehen, etwa wenn er Russlands Eroberung Zentralasiens als Teil einer größeren russischen Zivilisierungsmission rechtfertigte.31 Der Zivili 26 27 28 29 30
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Koskenniemi, Gentle Civilizer (wie Anm. 1), S. 148. Martens, Consularwesen (wie Anm. 8), S. 539. Ebd. Über die Abschaffung der Sonderrechte durch Rechtsreformen siehe Koskenniemi, Gentle Civilizer (wie Anm. 1), S. 135–136. Diese Punkte werden genannt in: Myles, „Humanity“ (wie Anm. 4), S. 321–323. Vgl als Überblick: Gerrit W. Gong: The Standard of „Civilization“ in International Society, Oxford 1984. Siehe Martens, Russland und England (wie Anm. 16).
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sationsbegriff schuf rechtsfreie Räume, in denen Gewalt gegen die „Unzivilisierten“ als legitim erschien.32 Allerdings war diese Verbindung gerade im russischen Fall vieldeutig. So hat Arnulf Becker Lorca kürzlich argumentiert, dass der Zivilisationsstandard keineswegs nur dem Ausschluss aus der Völkerrechtsordnung diente, sondern gleichzeitig umgekehrt gerade als Weg zur Integration in die internationale Gemeinschaft erscheinen konnte. Becker Lorca verweist dabei auf die umfangreiche Rezeption des Völkerrechts gerade in den Staaten, die außerhalb oder am Rande der „internationalen Gemeinschaft“ standen, etwa in Japan, China, oder den Staaten Lateinamerikas, im späten 19. Jahrhundert. Obwohl diese Staaten nur eingeschränkt als „zivilisiert“ galten, stellten ihre Völkerrechtler den Zivilisationsstandard oft gerade nicht in Frage − sondern versuchten vielmehr zu demonstrieren, dass ihr Land dem Standard entsprach.33 Wie Becker Lorca argumentiert, galt dieser Zusammenhang auch für Martens, den man insofern nicht nur in den Kreis europäischer Völkerrechtler einordnen kann, sondern der auch mit Juristen in China, Japan, oder Lateinamerika vieles gemeinsam hatte.34 Zwar war Russland selbst keinem Kapitulationsregime unterworfen, aber die Zugehörigkeit des Landes zur Gemeinschaft der „zivilisierten Staaten“ war trotzdem nicht eindeutig entschieden, und gerade die zarischen Eliten waren sich des Abstandes zu Europa nur zu sehr bewusst, insbesondere nach der Erfahrung des Krimkrieges. Immer wieder taucht in Martens’ Arbeit deswegen der Versuch auf, russische Imperialpolitik als Teil einer gesamteuropäischen Zivilisierungsmission darzustellen, und Russland so zumindest rhetorisch nach Europa zu holen. Martens plädierte etwa für eine russisch-britische Annäherung in Zentralasien, wo, so seine Vorstellung, Russen und Briten nicht konkurrieren sollten, sondern bei der „Zivilisierung“ der dortigen „Barbaren“ zusammenarbeiten sollten.35 Wenn Martens vom Zivilisationsstandard sprach, ging es ihm nicht nur um den Ausschluss der „Barbaren“, sondern auch um die Integration Russlands. Diese Absicht wird auch in anderen Arbeiten deutlich, etwa wenn Martens die Rolle Russlands beim Schutz der Christen im Osmanischen Reich hervorhob und sie mit der Großbritanniens bei der Abschaffung des Sklavenhandels verglich.36 Die russische Doppelrolle, gleichzeitig an den Rändern der vom Zivilisationsstandard definierten internationalen Gemeinschaft zu sein, und diesen zur Legitimation eigener imperialer Interessen zu nutzen, hatte durchaus Parallelen in nichteuropäischen Staaten, etwa in Japan, das direkt nach der Abschaffung europäi 32 33 34 35 36
Aust, Völkerrechtstransfer (wie Anm. 6), S. 122 macht hierauf aufmerksam. Arnulf Becker Lorca: Universal International Law. Nineteenth-Century Histories of Imposition and Appropriation, in: Harvard International Law Journal 51 (2010), S. 475–552, S. 496. Zu Martens Rolle in Becker Lorcas Argument siehe ebd., S. 542–545. Siehe sein Russland und England in Central-Asien (wie Anm. 16). Fedor Fedorovič Marten: Die russische Politik in der orientalischen Frage, St. Petersburg 1877, S. 6.
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scher Extraterritorialität diese in Ostasien für sich selbst in Anspruch nahm.37 Die völkerrechtliche Einbettung der verschiedenen europäischen Sonderrechte hing insofern bei Martens mit einem Selbstbild Russlands als „zivilisiertem Staat“ zusammen, das auch ein Leitmotiv vieler seiner Initiativen bildete, etwa seiner Rolle bei der Vorbereitung der Haager Friedenskonferenz.38 Wie die folgenden Abschnitte am Beispiel der russischen Beziehungen zum Iran zeigen werden, lässt sich dieses Leitbild in einige größere Zusammenhänge einordnen, die alle mit der Beziehung zwischen russischer Imperialherrschaft und internationalem Recht zu tun hatten. Während die zunehmende Rolle von Recht in der russischen Außenpolitik gegenüber dem „Orient“ einen wichtigen Hintergrund zu Martens’ Arbeit bildet, wie ich im ersten Abschnitt darstellen werde, beleuchten die beiden folgenden Abschnitte die Frage, welche politische Bedeutung die Rechtskonstruktion der Sonderrechte hatte. V. RECHT IN DER ZARISCHEN AUßENPOLITIK IM „ORIENT“ Ein wichtiger Kontext von Martens’ Arbeit waren die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts intensivierenden Rechtsbeziehungen Russlands zu seinen asiatischen Nachbarländern. Der Ausgangspunkt dieser Entwicklung war der Vertrag von Küçük Kainarci (1774) und die wenig später abgeschlossene Handelskonvention (1783), mit dem Russland sämtliche Sonderrechte der Europäer im Osmanischen Reich übernahm und sie sogar weiter ausbaute. Bedeutend an den Abkommen war, wie auch Martens hervorhob, dass sie „alle Kennzeichen eines völkerrechtlichen Vertrages“ hatten, und sich so von den früheren Abkommen anderer europäischer Mächte unterschieden, die zumindest der Form nach immer noch vom Sultan gewährte Privilegien waren. Außerdem hatte der Vertrag die Sonderrechte detailliert spezifiziert – die späteren Verträge anderer europäischer Mächte waren laut Martens „in höherem oder geringerem Grade Wiederholungen der Bestimmungen jenes Vertrags.“39 Die russischen Sonderrechte im Iran waren ein frühes Beispiel für die globale Tendenz im 19. Jahrhundert, die Systeme europäischer Extraterritorialität vom Osmanischen Reich auf andere Länder auszudehnen und zu einem generellen System rechtlicher Privilegierung gegenüber den unabhängigen Staaten des „Orients“ zu machen.40 Die rechtliche Grundlage für die Sonderrechte war der Vertrag von Turkmančaj (1828), der bis 1917 in Kraft blieb. Neben einer neuen Grenzziehung, durch welche die Khanate von Nachičevan und Erevan Teil des Zarenreiches 37 38 39 40
Becker Lorca: Universal International Law (wie Anm. 33), S. 500. Siehe Holquist: Russia as a Civilized State (wie Anm. 4). Martens: Consularwesen (wie Anm. 8), S. 51. Richard S. Horowitz: International Law and State Transformation in China, Siam, and the Ottoman Empire during the Nineteenth Century, in: Journal of World History 15 (2004), S. 445–486 (S. 447).
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wurden, sah der Vertrag den Austausch von Botschaftern und erhebliche Handelserleichterungen vor, etwa das Recht zu Handelsschifffahrt auf dem Kaspischen Meer und zur Eröffnung von Konsulaten, wobei letzteres Recht für beide Seiten galt.41 Die speziellen Bestimmungen zum Handel und zur Gerichtsbarkeit wurden durch eine mit dem Vertrag verbundene Handelskonvention geregelt, die teilweise bis in den Wortlaut hinein Formulierungen aus der mit dem Osmanischen Reich abgeschlossenen Handelskonvention von 1783 übernahm. Sie sah, wiederum formell auf Basis von Gegenseitigkeit, die Abschaffung interner Zollbarrieren im Iran sowie einen Maximalzoll von 5% im gegenseitigen Handel vor. Russische Untertanen bekamen außerdem das Recht, im Iran Häuser zu kaufen, deren Immunität die persische Seite garantieren musste. Zwar blieb die Gerichtsbarkeit in Zivilsachen bei Streitigkeiten zwischen Persern und Russen bei einem persischen Gericht, die Verhandlung musste aber in Gegenwart des Dolmetschers (Dragomans) oder Konsuls stattfinden. Bei Strafsachen lag die Ausführung der Strafe alleine bei der russischen Seite, russische Untertanen waren also in der Praxis der iranischen Gerichtsbarkeit entzogen.42 Über Meistbegünstigungsklauseln wurde der Vertrag von Turkmančaj später die Grundlage für die Sonderrechte aller anderen Europäer im Iran; er spielte für das Land insofern eine Rolle, die mit der der „ungleichen Verträge“ nach den Opiumkriegen in China vergleichbar ist, und hatte eine weit über ein rein bilaterales Abkommen hinausreichende Bedeutung. Der Vertrag von Turkmančaj war dabei nur der Beginn eines immer umfassenderen Netzes an rechtlicher Interaktion zwischen Russland und dem Iran im 19. Jahrhundert. So schlossen Russland und der Iran etwa 1844 einen Vertrag ab, der die zunehmende Migration zwischen den beiden Staaten regeln sollte.43 Er sah unter anderem vor, dass Iraner und Russen nur noch mit ausdrücklicher Erlaubnis ihrer jeweiligen Regierung berechtigt waren die Grenze zu überqueren. Über ihre zwischenstaatliche Dimension hinaus führten die Abkommen damit auch zu einer Weiterentwicklung iranischer und russischer Staatlichkeit, etwa durch den Ausbau von Passsystemen.44 Ähnliches galt auch für den diplomatischen Dienst, den der Iran ab den 1860er Jahren aufbaute und der um 1900 bereits zwanzig Konsulate in Russland umfasste, gegenüber lediglich sieben russischen Konsulaten im Iran.45 Der Schah setzte diese Diplomaten auch im Inland ein, wo sie, in ihrer Funktion als sogenannter „karguzare“, in Provinzstädten die ausländischen Konsuln und die
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Für den Text des Vertrages siehe: Jacob Coleman Hurewitz: Diplomacy in the Near and Middle East. A Documentary Record. Vol. 1: 1535–1914, Princeton 1956, 96–102. Für die Konvention siehe ebd., S. 100–102. Die Konvention ist abgedruckt in Kerim Karam Ogli Šukjurov: Otchodničestvo v Zakavkaz’e iz južnogo Azerbajdžana, Baku 1984, S. 185. Dies ist auch das Argument von Horowitz, International Law (wie Anm. 40). Siehe die Übersicht in: S.M. Gorjainov: Rukovodstvo dlja konsulov, St. Petersburg 1903, S. 616 und 664–665.
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lokale Verwaltung im Griff behalten sollten.46 Die Diplomaten wurden so der Kern eines überregionalen Beamtenapparates. Dieser Zusammenhang zwischen der Verrechtlichung der russischen Außenbeziehungen und dem Ausbau iranischer Staatlichkeit wurde auch in den verschiedenen russisch-iranischen Grenzabkommen deutlich, die imperiale „frontiers“ in international anerkannte Grenzen verwandelten. Die für die Gültigkeit des Völkerrechts so wichtige Unterscheidung zwischen „barbarischen Stämmen“, die nur nach den Rechtsstandards des Naturrechts zu behandeln seien, und „orientalischen Staaten“, deren Unabhängigkeit man respektieren müsse, fand in der russisch-iranischen Grenze ihren geographischen Ausdruck. Die russischiranischen Verträge im 19. Jahrhundert markieren insofern eine Wende von kolonialer Eroberung zu zwischenstaatlichen Beziehungen: für Transkaukasien legte bereits 1828 der Vertrag von Turkmančaj die Grenze fest, die wenig später durch eine russisch-iranische Grenzkommission demarkiert wurde; in Zentralasien geschah dies im Wesentlichen durch einen weiteren Vertrag 1881. Darüber hinaus war Russland auch an der Demarkation aller weiteren Grenzen des Iran im 19. Jahrhundert beteiligt − teilweise als direkter Verhandlungspartner, teilweise zusammen mit britischen Vertretern als Vermittler in internationalen Kommissionen, so etwa in den persisch-osmanischen Grenzverhandlungen von 1849–1852 und 1913–1914.47 Wie B.D. Hopkins am Beispiel der iranisch-afghanischen Grenze gezeigt hat, brachten Grenzkommissionen die iranischen Vertreter dazu, sich europäische Vorstellungen von Territorialität anzueignen und auch politisch durchzusetzen. Die Kommissionen schufen nicht nur den Iran als international anerkanntes Territorium, sondern sie boten dem Schah gleichzeitig eine Gelegenheit, seine Herrschaftsansprüche in den Grenzregionen zu demonstrieren.48 Wie die Geschichte des russisch-iranischen Grenzabkommens in Zentralasien 1881 deutlich macht, war dieser Verrechtlichungsprozess jedoch eng mit massiver Gewaltausübung verbunden. Der Vertrag folgte direkt auf das berüchtigte Massaker an einer Gruppe von Nomaden, den Teke-Turkmenen, in Geok Tepe. Das Massaker war eine koordinierte, von Nasr ad-Din Schah angeregte Zusammenarbeit der beiden Regierungen; denn beide Seiten hatten in den vorherigen Jahrzehnten immer wieder vergebliche Versuche unternommen, die Turkmenen militärisch unter Kontrolle zu bringen. Die russischen Truppen wurden von einem persischen Verbindungsoffizier begleitet, während die Behörden in der persischen 46
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Vgl. Vanessa Martin / Morteza Nouraei: The Role of the Karguzar in the Foreign Relations of State and Society of Iran from the Mid-Nineteenth Century to 1921, in: Journal of the Royal Asiatic Society 15 (2005), S. 261–277. Siehe hierzu die Berichte der russischen Delegierten: Putevoj Žurnal E.I. Čirikova, russkogo kommissara-posrednika po Turecko-Persidskomu razgraničeniju 1849–1852, in: Zapiski kavkazskogo otdela Imperatorskogo Russkogo geografičeskogo obščestva 9 (1875) sowie Vladimir Minorskij: Turecko-Persidskoe razgraničenie, Petrograd 1916. B.D. Hopkins: The Bounds of Identity. The Goldsmid Mission and the Delineation of the Perso-Afghan Border in the Nineteenth Century, in: Journal of Global History 2 (2007), S. 233–254.
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Grenzprovinz Chorasan logistische Unterstützung gewährten und nach dem Massaker sogar Flüchtlinge auslieferten.49 Gerade die durch Recht stabilisierten zwischenstaatlichen Beziehungen ermöglichten insofern eine Entfesselung von Gewalt: während es den Nomaden zuvor normalerweise gelungen war, beide Mächte gegeneinander auszuspielen, wurde es für sie zunehmend schwierig, einen Platz in der neuen zwischenstaatlichen Ordnung zu finden.50 VI. DAS KONSULATSSYSTEM IM IRAN Die wichtigste mit dem System der Sonderrechte verbundene Institution waren die Konsulate. In den Konsulaten waren die Rechtsbeziehungen verstetigt und die abstrakte Frage der internationalen Anerkennung hatte konkrete Auswirkungen auf individuelle Rechts- und Eigentumsansprüche. Erst in der Rechtspraxis der Konsulate entschied sich außerdem, ob die vertraglich gesicherten Sonderrechte vor Ort überhaupt durchsetzbar waren, und sie waren deswegen oft das Zentrum politischer Auseinandersetzungen, bei denen häufig die wirtschaftliche Dimension der Sonderrechte, etwa die Handelserleichterungen für Europäer, im Vordergrund stand. Russland verfügte im frühen 20. Jahrhundert über ein umfangreiches Konsulatssystem außerhalb Europas, wobei wiederum die Vertretungen im Osmanischen Reich besonders wichtig waren. Im Iran war Russland um 1900 durch Konsulate in sieben verschiedenen Städten vor allem im Nordiran vertreten, die teilweise noch über Agenten in weiteren Städten in der gleichen Provinz verfügten.51 Die Konsulate waren klein und hatten oft außer dem Konsul nur ein bis zwei weitere russische Mitarbeiter; trotzdem spiegelt sich in den umfangreichen Archiven der Konsulate eine rege politische Tätigkeit wider: die Durchsetzung von Rechtsansprüchen russischer Untertanen zwang die Konsuln oft zu erheblichen Interventionen in die unterschiedlichsten Aspekte lokaler Politik, von den Beziehungen lokaler iranischer Gouverneure zu den Stammesführern in den Grenzregionen bis zu Getreidespekulation.52 Eine ganze Reihe von Konsuln verfügte über eine Aus-
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L.M. Kulagina: Rossija i Iran, Moskau 2010, S. 83–84. Allerdings gelang es einzelnen Gruppen bis in die sowjetische Zeit hinein durch grenzüberschreitende Migration eine gewisse politische Selbständigkeit zu erhalten. Vgl. William Irons: Nomadism as a Political Adaptation. The Case of the Yomut Turkmen, in: American Ethnologist 1 (1974), S. 635–658. Eine Übersicht aller russischen Konsulate findet sich in: S.M Goryainov: Rukovodstvo dlja Konsulov, St. Petersburg 1903. Siehe etwa AVPRI (=Archiv vnešnej politiki rossijskoj imperii / Archiv des Außenministeriums des Zarenreiches), f. 144, op. 488, d. 497, ll. 28 ff. (Jährlicher Bericht des russischen Konsuls in Tabriz an das Außenministerium, 1895).
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bildung in orientalischen Sprachen, etwa am Lazarev-Institut in Moskau, und nutzte ihre Position zu wissenschaftlichen Arbeiten.53 Die Konsulate spielten vor allem in den Wirtschaftsbeziehungen zwischen Russland und dem Iran eine erhebliche Rolle, deren Förderung im ganzen 19. Jahrhundert ein wichtiges Ziel russischer Politik war. Im späten 19. Jahrhundert stießen dabei ein in Sankt Petersburg propagierter Wirtschaftsimperialismus zunehmend mit den Interessen iranischer Kaufleute zusammen.54 Die Konsuln und die Regierung in Petersburg versuchten durch Subventionen und politische Maßnahmen, etwa die Schließung des europäischen Transithandels durch den Kaukasus, den Absatz russischer Waren im Iran zu fördern und die britische Konkurrenz zu verdrängen.55 Diese Politik war auch durchaus erfolgreich: in den 1890er Jahren überholte Russland Großbritannien als Irans größter Handelspartner und dominierte kurz vor dem Ersten Weltkrieg die iranischen Märkte: ca. 50% der iranischen Importe kamen aus Russland, und ungefähr 70% der iranischen Exporte gingen nach Russland.56 Doch dieses Ergebnis blieb aus Sicht der Regierung in Sankt Petersburg unbefriedigend. Ein wichtiger Grund war, dass die Gewinne des Handels nicht in erster Linie von Industriellen aus Moskau eingestrichen wurden, sondern von armenischen und muslimischen Kaufleuten in Transkaukasien und Zentralasien, die den Handel mit dem Iran bis zum Ersten Weltkrieg im Wesentlichen kontrollierten.57 Während die Konsuln diesen Kaufleuten als russischen Untertanen Protektion gewährten, zeigen die Quellen gleichzeitig auch Misstrauen. So verdächtigten die Konsuln die Kaufleute oft, durch ihre Geschäfte im Iran nur russischen Steuerforderungen und dem Militärdienst auszuweichen oder zu schmuggeln, wie etwa der russische Konsul in der iranischen Grenzstadt Ardabil 1917 formulierte: „Die Zeiten, als wir jeden Händler aus Šuša und Karabach als Pionier der russischen Sache ansehen mussten, sind vorbei und jetzt, so scheint es, müsste man sich mit der allmählichen
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Das bekannteste Beispiel ist Vladimir Minorskij, der im frühen 20. Jahrhundert in Tabriz Sekretär am Konsulat, später der letzte Chargé d’affaires des Zarenreiches in Teheran war und nach 1917 eine akademische Karriere in Großbritannien machte. Minorskij wurde vor allem mit seinen Arbeiten zu den Kurden bekannt. Vgl. seine bemerkenswerte Arbeit über das Khanat von Maku: Vladimir Minorskij: Otčet o poezdke v Makinskoe chanstvo v oktabrja 1905 goda, in: Materialy po izučeniju vostoka, hrsg. vom Ministerstvo inostrannych del, St. Petersburg 1909, S. 1–62. Grundsätzlich über russischen Imperialismus siehe: Dietrich Geyer: Der russische Imperialismus. Studien über den Zusammenhang von innerer und auswärtiger Politik 1860–1914, Göttingen 1977. Kulagina, Rossija i Iran (wie Anm. 49), S. 115. Als Hintergrund vgl. auch M.L. Tomara: Ėkonomičeskoe položenie Persii, St. Petersburg 1895. M. L. Entner: Russo-Persian Commercial Relations, 1829–1914, Gainesville 1965, S. 65 und 67. Tomara, Ėkonomičeskoe položenie (wie Anm. 55), S. 34.
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Moritz Deutschmann Entfernung der schädlichen und politisch zweifelhaften Klasse von geflohenen Straftätern und Parasiten ohne Pass beschäftigen.“58
Die Identität der russischen Untertanen im Iran legte im Rahmen des Konsulatssystems Ambivalenzen im imperialen Verständnis von Staatsangehörigkeit bloß: waren Händler aus Baku, die in Tabriz Geschäfte machten, für den russischen Staat dubiose muslimische Kolonialsubjekte, oder förderungswürdige Pioniere des Imperiums? Der Nutzung der Sonderrechte im Sinne einer imperialistischen Wirtschaftspolitik stand auch im Wege, dass selbst noch um 1900 iranische Händler eine ganze erhebliche Rolle in den russisch-iranischen Wirtschaftsbeziehungen spielten, zum Beispiel auf der Messe in Nižnij Novgorod.59 Die Handelsbilanz des Iran mit Russland blieb bis ungefähr 1905 positiv: iranische Händler setzten in Russland ihre Waren ab, reinvestierten den Erlös aber nur teilweise in russische Industrieprodukte, vor allem Textilien – den Rest tauschten sie in Silber ein, das sie in Zentralasien und im Nordiran zum Kauf britischer Industriewaren einsetzten.60 Dieser Silberabfluss war Mitte des 19. Jahrhunderts ein erhebliches Problem gewesen, und er ermöglichte dem Iran zumindest bis in die 1890er Jahre sein enormes Handelsdefizit mit Indien und dem British Empire zu reduzieren.61 Die iranischen Kaufleute verteidigten so in erheblichem Maße ihre Rolle als Vermittler in Russlands Wirtschaftsbeziehungen mit Asien.62 Teilweise machten sie sich sogar selbst die Präsenz von iranischen Konsulaten in Südrussland zunutze und beanspruchten für sich selbst in Russland einen extraterritorialen Status: in Astrachan beschwerte sich 1876 etwa ein Jurist, die persischen und türkischen Konsuln in der Stadt maßten sich die gleichen Prärogative an „wie die Konsuln im Orient“.63 Während die Expansion von Sonderrechten und extraterritorialen Privilegien in Westeuropa mit zunehmendem wirtschaftlichem Einfluss und der Verdrängung einheimischen Händler einherging, war dieser Zusammenhang im russisch-iranischen Fall weniger eindeutig. Dies spiegelte sich nicht nur in Handelsbilanzen und Warenströmen wider, sondern im späten 19. Jahrhundert zunehmend auch in den politischen Konflikten, 58 59
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AVPRI f. 144, op. 488, d. 3219, l. 239 (Bericht von Dolgopolov an Außenministerium, 19.10.1916). So tauchen im Verzeichnis der Händler in Nižnyj Novgorod alleine 61 Unternehmen auf, die mit persischen Trockenfrüchten handelten, einem der wesentlichen Exportartikel des Landes. Adres-kalendar’ Nižegorodskoj jarmarki na 1890–1895 gg, Nižnyj Novgorod 1890–1896. Tomara, Ėkonomičeskoe položenie (wie Anm. 55), S. 112. Auf Diskussionen um den Silberabfluss verweist A.L Fitzpatrick: The Great Russian Fair: Nizhnyj Novgorod, 1840–1890, Oxford 1990, 86. Einigere neuer Arbeiten haben diese Kontinuität von Handelsnetzwerken zwischen Südasien, Zentralasien und Russland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts untersucht, etwa Claude Markovits: The Global World of Indian Merchants, 1750–1947 Traders of Sind from Bukhara to Panama, Cambridge 2008. David Vissarionovič Čičinadze: Značenie inostrannych konsulov. Prava i krug ich objazannostej, Astrachan 1876, S. 16.
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die in die iranische Verfassungsbewegung (1905–1911) führten, die wichtigste anti-imperiale Bewegung in der islamischen Welt im frühen 20. Jahrhundert. Einer der Auslöser der Bewegung war ein 1903 abgeschlossener Zollvertrag des Zarenreiches mit dem Iran, der russische Importe massiv begünstigte und eine neue Zollverwaltung schuf, die das bisherige System ersetzte, in dem die Zollstationen an den Meistbietenden verpachtet wurden.64 Während der Verfassungsbewegung war die Absetzung der Zollbeamten, die verdächtigt wurden, russischen Wirtschaftsinteressen zu dienen, eine der wichtigsten Forderungen der Protestierenden. Gerade die Kaufleute in der iranischen Nordprovinz Azerbajdžan, die vom Handel mit dem Zarenreich profitierten, waren anfangs wesentliche Unterstützer der Verfassungsbewegung.65 Die wirtschaftliche Bevorzugung von Ausländern rief insofern zunehmend Widerstand hervor und der Ruf nach Abschaffung der Konsularjurisdiktion wurde eine wichtige Forderung iranischer Nationalisten.66 VII. DIE UNGEKLÄRTE FRAGE DER SOUVERÄNITÄT Die revolutionären Ereignisse der Verfassungsbewegung machten die Frage der Souveränität, also der ultimativen politischen Kontrolle in einer politischen Gemeinschaft, zum wichtigsten Problem des russischen „informal empire“ im Iran. Dies war in Martens’ Arbeit, genauso wie im damaligen Völkerrecht insgesamt, eher unbestimmt geblieben, und auch die „ungleichen Verträge“ der Europäer mit nicht-europäischen Staaten waren in dieser Hinsicht widersprüchlich: einerseits setzten die Verträge nicht-europäische Souveränität voraus, denn die Sonderrechte sollten schließlich durch ausländische Regierungen und gerade nicht durch eigenes Militär garantiert werden. Andererseits schränkte das Konsulatssystem selbst die Souveränität der einheimischen Herrscher ein, sprach ihnen den Status eigenständiger Staaten teilweise ab und begrenzte ihre Jurisdiktion. Indem sie indigene Herrscher als Garanten für die Rechte von Ausländern benutzte, schwächte sie die Legitimität dieser Herrscher und damit die Grundlage, auf der die Durchsetzung der Verträge selbst beruhte. Davon abgesehen war oft die Frage, inwieweit indigene Herrscher die weitreichenden Bestimmungen der Verträge überhaupt durchsetzen konnten. 64 65
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Kulagina, Rossija i Iran (wie Anm. 49), S. 122. Ahmad Kasravi: History of the Iranian Constitutional Revolution, Costa Mesa, Calif. 2006, S. 154. Siehe als Überblick zur Verfassungsbewegung: Janet Afary: The Iranian Constitutional Revolution 1906–1911. Grassroots Democracy, Social Democracy, and the Origins of Feminism, New York 1996. Die russischen Sonderrechte wurden schon 1917 von der bolschewistischen Regierung für nichtig erklärt, die der anderen Europäer folgten 1928. Vgl. Ahmed Khan Matine Daftary: La Suppression des Capitulations en Perse, Paris 1930.
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Diese Widersprüche wurden auch in der russischen Iranpolitik deutlich. Die Rechtsbeziehungen, die Russland nach 1828 mit dem Iran einging, unterstellten dem Schah eine umfangreiche politische Handlungsmacht und Souveränitätsrechte; sie setzten zum Beispiel voraus, dass der Schah das für russische Untertanen vorgesehene Recht auf freien Handel durchsetzen konnte. In Wirklichkeit jedoch verfügte er weder über eine umfangreiche Bürokratie, noch über ein zuverlässiges stehendes Heer. Die Qajaren regierten ihr Land nicht durch zentralisierte Institutionen, sondern durch dauernde Mobilität, ein System von Auszeichnungen und zeremonieller Kommunikation, und eine ausgefeilte Diplomatie, die eine ständige Balance miteinander konkurrierender Einflussgruppen sicherstellte.67 Dass die russische Regierung den Iran in rechtlicher Hinsicht als fremden Staat mit unverletzlichem Territorium anerkannte, obwohl der Schah zu einer effektiven Kontrolle des Territoriums nicht in der Lage war, hatte zur Folge, dass das Land zu einem Rückzugsraum für Räuberbanden wurde; ein schwunghafter Handel mit Pässen ermöglichte es Kriminellen, sich in Persien dem Zugriff der zarischen Polizei zu entziehen und trug so zu der generellen Unsicherheit in der Kaukasusregion bei.68 Die etablierten Netzwerke von Schmugglern und Schleusern, die aus der Verletzung der Grenze Gewinne schöpften, legten auch die Grundlage für die grenzüberschreitenden Aktivitäten von Revolutionären, etwa der armenischen Sozialdemokraten, die den Iran als Operationsbasis nutzten und Waffen aus dem Zarenreich über den Iran nach Ostanatolien schmuggelten.69 Nachdem die Behörden im Kaukasus 1908 angefangen hatten, energisch gegen revolutionäre Gruppen im Kaukasus vorzugehen, flohen viele der Aktivisten in den Iran, wo sie eine wichtige Rolle in der iranischen Verfassungsbewegung spielten.70 Die Sicherheitsprobleme in der Grenzregion führten auf russischer Seite zu verschiedenen Reaktionen. So versuchten russische Diplomaten und Offiziere durch eine Reihe von Maßnahmen die Macht des Schahs in seinem eigenen Land zu stärken. Reformen nach europäischem Vorbild sollten die iranischen Herrscher in die Lage versetzen, ihr Land effektiv zu kontrollieren, und so auch ihre internationalen Verpflichtungen zu erfüllen. Diese Hoffnungen verbanden sich insbesondere mit Nasr ad-Din Schah, der von 1848 bis 1896 regierte, und in Russland oft als ein Modernisierer nach dem Vorbild von Peter dem Großen dargestellt wur 67 68
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Siehe u.a. Abbas Amanat: Pivot of the Universe Nasir al-Din Shah Qajar and the Iranian Monarchy 1831–1896, Berkeley 1997. Siehe einen Artikel in der Zeitung „Kavkaz“, 10.06.1895, Nr. 150, S. 2, der davon sprach, dass viele der aus der Verbannung in Sibirien Geflüchteten sich Räuberbanden im iranischrussischen Grenzgebiet anschlossen. Siehe AVPRI f. 144, op. 488, d. 586, l. 205–207 (Bericht des russischen Konsuls Pochitonov an das Außenministerium, 19.2.1905). Vgl. Houri Berberian: Armenians and the Iranian Constitutional Revolution of 1905–1911. ,The Love for Freedom Has no Fatherland‘, Boulder, Colo. 2001.
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de.71 Ein Schwerpunkt dieser Politik war das iranische Militär, das unter der Leitung russischer Offiziere reformiert werden sollte − hier kamen der Wunsch des Schahs nach effektiver Machtausübung mit dem russischen Interesse an einer weitergehenden Kontrolle über das Land zusammen. Die Kosakenoffiziere bildeten eine Brigade aus, die die auf Stammesstrukturen beruhenden Streitkräfte ersetzen und den Kern einer neuen iranischen Armee bilden sollte.72 Die Militärreformen unter russischer Aufsicht trugen damit entscheidend zu einer Militarisierung der Monarchie bei, die in der von Reza Schah, einem früheren Offizier der Brigade, begründeten Pahlavi-Dynastie voll zum Vorschein kommen würde. Diese Politik einer Stärkung iranischer Staatlichkeit war allerdings innerhalb der zarischen Bürokratie umstritten. Dies wurde zum Beispiel in Zentralasien deutlich, wo insbesondere Konflikte mit Nomaden immer wieder ein wichtiger Streitpunkt in den lokalen Grenzbeziehungen waren. Vielen in Zentralasien erschien es in den 1890er Jahren nur eine Frage der Zeit, bis Russland auch die iranische Nordprovinz Chorasan annektieren würde, und einige militärgeographische Arbeiten lieferten geographische und militärische Informationen für einen Feldzug.73 Ein Offizier aus Turkestan beschwerte sich deswegen darüber, dass die russische Politik auf eine Stärkung iranischer Grenzinstitutionen in Zentralasien hinauslaufe, und dass dies nicht in russischem Interesse sei. Ein Mitarbeiter der Botschaft in Teheran kommentierte die Beschwerde damit, dass „die imperiale Regierung [...] das Territorium Persiens immer als dem herrschenden Schah unterstelltes Ganzes angesehen [hat], und wenn auch in der Praxis Begriffe wie ‚unabhängige Steppe’ oder ‚eigenständige turkmenische Khanate’ zulässig sind, so nur zur Anerkennung ihres faktischen Zustandes, und nicht ihrer politischen und rechtlichen Situation.“
Das Territorium jenseits des Atrek sei unzweifelhaft persisch, und die Macht des Schahs sei „durch nichts begrenzt.“ Eine Stärkung persischer Grenzinstitutionen sei ausdrücklich erwünscht, unter anderem „unter dem Aspekt einer erfolgreicheren Klärung von Rechtsstreitigkeiten.“74 Auf lange Sicht erwiesen sich solche Hoffnungen jedoch als verfehlt. Reformversuche scheiterten vor allem deswegen, weil sich hinter der Ineffizienz und Korruption der Verwaltung, dem zunehmenden „Fanatismus“ der Ulama oder urbaner Unterschichten, die in den Konsulatsberichten immer wieder beklagt 71 72
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Der Vergleich wird unter anderem erwähnt bei Evgenij Vasil’evič Bogdanovič: Nasr-Eddin Šach i ego vyezd v Rossiju v 1873 godu, St. Petersburg 1873, S. 12. Uzi Rabi / Nugza Ter-Oganov: The Russian Military Mission and the Birth of the Persian Cossack Brigade 1879–1894, in: Iranian Studies 42 (2009), S. 445–463. Einer der Kommandeure der Brigade hat ein umfangreiches Privatarchiv hinterlassen, das teilweise veröffentlicht ist: V. Kosogovskij: Iz tegeranskogo dnevnika polkovnika V.A. Kosogovskogo, Moskau 1960. A.F. Benderev: Astrabad-Bastamskij Rajon Persii. Poezdki po rajonu v 1902 godu general’nogo štaba polkovnika Bendereva, Ašchabad 1904. AVPRI f. 147, op. 485, d. 574, l. 241 (Depesche von Nelidov an das Außenministerium, 08.10.1902).
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wurden, Ressourcen verbargen, in denen viele Iraner mit Recht die Basis der ihnen noch verbleibenden wirtschaftlichen und politischen Selbstbestimmung sahen.75 Die bei vielen Iranern verhasste Kosakenbrigade war gerade groß genug, um die Stadt Teheran zu kontrollieren, vom Erfolg der osmanischen Militärreformen blieb sie aber weit entfernt. Statt einer Zentralisierung und Bürokratisierung von staatlicher Macht führte die Entwicklung im Gegenteil eher zu einem Zerfall der Monarchie, die von vielen Iranern nach 1900 nur noch als russische Marionette gesehen wurde.76 Unter diesen Umständen blieb die russische Anerkennung iranischer staatlicher Selbständigkeit und damit auch der Status des Iran als Völkerrechtssubjekt prekär. Die Situation verschärfte sich mit den gewaltsamen Konflikten der Verfassungsbewegung. Als im Frühjahr 1909 russische Truppen in Tabriz einmarschierten, wurde dies noch ausdrücklich mit den Briten abgestimmt, und diente offiziell lediglich dem Schutz der in Tabriz lebenden Europäer und der Rettung der durch eine Belagerung ausgehungerten Stadt.77 In den folgenden Jahren wurden aber immer weitere Truppen in mehrere andere Gebiete im Nordiran geschickt.78 Zwar führte diese Besatzung nicht direkt zu einer Annexion. Die detaillierten Anweisungen für die russischen Soldaten wiesen diese auch an, ihre Intervention auf ein Minimum zu begrenzen, und die Bevölkerung nicht als Feinde zu behandeln − zumindest der Anschein einer Orientierung an internationalen Rechtsstandards sollte immer noch gewahrt bleiben.79 Aber unter anderem durch die Erleichterung von massiven Landkäufen durch russische Untertanen schienen die Konsuln gleichzeitig auf eine formelle Annexion des Gebietes hinzuarbeiten.80 Als dann russische Truppen Ende 1911 mit Gewalt gegen armenische und muslimische Revolutionäre in Tabriz vorgingen, rief dies internationale Empörung hervor. Der britische Orientalist E.G. Browne, der ein wichtiger Sympathisant der Verfassungsbewegung war, veröffentlichte eine aufsehenerregende Serie von Briefen aus Tabriz, die öffentliche Hinrichtungen von Zivilisten und die Zerstörung von Häusern detailliert dokumentierten.81 Russland war nicht mehr der gleichberechtige Verbündete der „zivilisierten“ britischen Imperialmacht, wie es noch 1907 mit dem russisch-britischen Abkommen den Anschein gehabt hatte, sondern stand wieder einmal am Pranger einer liberalen Öffentlichkeit. Dem Au 75
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Das Paradigma der „gescheiterten Autokratie“ ist in der Historiographie der Qajaren-Zeit immer noch verhältnismäßig stark. Ansätze einer Revision finden sich in: Vanessa Martin: The Qajar Pact Bargaining, Protest and the State in Nineteenth-Century Persia, London 2005. Vgl. ebd. Firuz Kazemzadeh: Russia and Britain in Persia, 1864–1914 A Study in Imperialism, New Haven 1968, S. 535. Ebd. Die Instruktionen sind in RGVIA (=Russkij gosudarstvennyj voenno-istoričeskij archiv / Russisches Staatsarchiv für Militärgeschichte) f. 13207, op. 1, d. 6, l. 2–3. Kazemzadeh, Russia and Britain (wie Anm. 77), S. 676. Vgl. die Neuausgabe des Buches: Hasan Javadi / Edward Granville Browne: Letters from Tabriz. The Russian Suppression of the Iranian Constitutional Movement, Washington 2008.
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ßenministerium blieb nur noch der Versuch, seinen Ruf für die Nachwelt zu retten. Mit einer dreibändigen Veröffentlichung von Quellen, die vermutlich der russische Botschafter in London, Aleksander Konstantinovič Benkendorf, angeregt hatte, versuchte das Außenministerium zu zeigen, dass das Zarenreich die Unabhängigkeit des Iran immer respektiert, und nur zum Schutz russischer Untertanen und ihres Eigentums militärisch interveniert habe.82 Der Rechtsstatus des Iran als unabhängiger Staat war nur noch eine Formalie. VIII. ZUSAMMENFASSUNG Das hier angesprochene russisch-iranische Beispiel spielt sich, wie im Titel angemerkt, an den „Grenzen des Völkerrechts“ ab. Sowohl Russland als auch der Iran waren im 19. Jahrhundert Grenzfälle eines maßgeblich von Westeuropa geprägten Völkerrechtssystems – allerdings in sehr unterschiedlicher Hinsicht: Während in Russland die aktive Beteiligung an der internationalen Völkerrechtsdiskussion nach dem Krimkrieg eine Möglichkeit war die eigene Mitgliedschaft im Lager der „zivilisierten Staaten“ zu unterstreichen, spielten völkerrechtliche Kategorien für den Iran eine wesentliche Rolle dabei, überhaupt als ein Mitglied im internationalen System anerkannt zu werden. Ein Blick auf den russischen Beitrag zur internationalen Völkerrechtsdiskussion zeigt die Doppeldeutigkeit des dem Völkerrecht zugrunde liegenden Zivilisationsstandards: aus Sicht von Völkerrechtlern wie Fedor Martens diente er nicht nur der Legitimation russischer Außenpolitik, sondern auch der Integration Russlands in eine größere Gemeinschaft der „zivilisierten Staaten“. In welchen verschiedenen Formen die russische Auseinandersetzung mit dem Völkerrecht ablief, zeigte sich in der Praxis der Sonderrechte. Sie waren Teil einer zunehmenden rechtlichen Interaktion Russlands mit seinen Nachbarstaaten, die eng mit der russischen imperialen Expansion verbunden war, etwa, wenn es um die Unterscheidung zwischen „wilden Stämmen“ und „halbzivilisierten orientalischen Staaten“ ging, die sich in der russisch-iranischen Grenze niederschlug. Ein wesentliches Ergebnis dieser Interaktion war eine begrenzte Anerkennung iranischer Souveränität, die sich etwa in den russisch-iranischen Grenzverträgen, oder auch in der Rechtspraxis der Konsulate widerspiegelte. In der Geschichte der russisch-iranischen Beziehungen wurden einige Besonderheiten dieser begrenzten Anerkennung deutlich: so konnte Russland im Gegensatz zu den westeuropäischen Staaten nur relativ wenig von seinen rechtlichen Privilegien im Sinne einer wirtschaftsimperialistischen Politik profitieren. Die iranischen Kaufleute waren zumindest in gewissem Maße in der Lage, die Kontrolle über den Handel mit Russland zu behalten, und sich politisch gegen den zunehmenden russischen Einfluss zur Wehr zu setzen. Da sie dabei die Autorität 82
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des Schahs in Frage stellten, die Russland etwa durch die Unterstützung von Militärreformen zu stärken versucht hatte, geriet die Basis ins Wanken, auf der die russischen Verträge mit dem Iran beruhten, und damit letztlich das russische „informal empire“ im Iran insgesamt. Auch wenn das Land nie formal zur Kolonie wurde, und die mit Russland ausgehandelten Grenzen im Wesentlichen bis heute gültig geblieben sind, markierten insbesondere die russische und britische Besetzung des Landes im Ersten Weltkrieg einen drastischen Verlust politischer Selbstbestimmung. Die Beziehungsgeschichte von russischem Imperialismus und der Transformation von Staatlichkeit im Iran während des späten 19. Jahrhunderts macht also die politischen Folgen deutlich, die sich aus der Ausdehnung der internationalen Rechtsordnung an der Peripherie des Zarenreiches ergaben. Sie zeigt, wie aktiv Russland an diesem Prozess beteiligt war. Die Geschichte der russisch-iranischen Interaktion wirft außerdem ein Licht darauf, welche verschiedenen Bedeutungen das Völkerrecht aus Sicht von Staaten hatte, die am Rande des in Westeuropa definierten Zivilisationsstandards standen. In dem Maße, wie eine globalgeschichtliche Perspektive darum bemüht ist, diesen Bedeutungen eigenen Raum zu geben und sie nicht lediglich als schlechte Kopien europäischer Vorbilder zu begreifen, betrifft sie auch die Geschichte des Völkerrechts insgesamt.
RUSSLAND IN ASIEN Globale Verflechtungen und kulturelle Austauschprozesse in der Mandschurei und Harbin in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Frank Grüner Dieser Beitrag diskutiert globale Verflechtungen und kulturelle Austauschprozesse zwischen unterschiedlichen ethnischen bzw. nationalen Bevölkerungsgruppen, vor allem Russen, Chinesen und Japanern, am Beispiel der im Nordosten Chinas gelegenen Grenzregion Mandschurei und ihres multikulturellen Zentrums Harbin in den Jahren von 1896 bis 1949. In diesem Kontext sollen die folgenden zentralen Fragestellungen diskutiert werden: Welche politischen und wirtschaftlichen Verflechtungen sowie kulturellen Austauschprozesse lassen sich in der Mandschurei und Harbin ausmachen? Inwieweit lässt sich die Stadt Harbin als ein globaler Raum beschreiben, der die Aufweichung „klassisch“ national und kulturell definierter Räume und Identitäten begünstigte? Welche Rolle spielten die jeweiligen politischen Machthaber und führenden Eliten mit Blick auf die skizzierten Prozesse? Und, schließlich, inwieweit lässt sich die Geschichte Harbins in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als eine entangled history zwischen Russland und Asien lesen? In einem ersten Teil dieses Beitrages soll zunächst das russische Vordringen in die Mandschurei im Kontext von Eisenbahn-Imperialismus und rivalisierenden Interessen der in der Grenzregion engagierten Mächte skizziert und nach den Gründen für das russische Engagement in Ostasien gefragt werden. Es schließen sich einige Überlegungen zur Mandschurei als globalem Raum an. Am Beispiel der Stadt Harbin soll schließlich gezeigt werden, wie Globalisierungsprozesse und kulturelle Austauschbeziehungen den Charakter von Harbin als einer ehemals russischen Kolonie in der nördlichen Mandschurei in eine Stadt mit einem spezifisch kosmopolitischen Milieu veränderten. Die besonderen Umstände der Gründung Harbins als einer russischen Stadt in China auf gewissermaßen exterritorialem Gelände entlang der Trasse der Ostchinesischen Eisenbahn, seine Stellung als wirtschaftliches Zentrum der Region, seine rasch wachsende Bedeutung für den internationalen Handel, das konkurrierende Engagement verschiedener Großmächte, darunter neben China vor allem Russland, Japan und die USA, in Stadt und Region sowie seine weitere wechselvolle Geschichte unter variierenden, z.T. abrupt wechselnden Herrschaftsverhältnissen ließen die Stadt in der genannten Periode zu einer multikulturellen, internationalen und vergleichsweise stark globalisierten Stadt werden. Vor diesem Hintergrund erscheinen die Mandschurei und Harbin als Gegenstand für die Untersu-
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chung von globalen Verflechtungen und kulturellen Austauschprozessen zwischen Russland und Asien besonders geeignet. Kulturelle Austauschprozesse lassen sich zugleich als spezifischer Ausdruck und Ergebnis weltweiter Verflechtungen verstehen. Das in den vergangenen Jahren stark gewachsene Interesse an dem Phänomen der Globalisierung hat auch das Wissen über die Bedeutung von kulturellen Austauschprozessen und globalen Verflechtungen in verschiedenen historischen Kontexten bereichert und vertieft. Damit ist „Globalisierung“ nicht mehr allein das zentrale Konzept der gegenwartsbezogenen Sozialwissenschaften, sondern hat sich darüber hinaus – trotz der anfänglichen Zurückhaltung auf Seiten der Historiker – auch als ein wichtiger Begriff in den Geschichtswissenschaften etabliert.1 Insbesondere Bereiche wie die Geschichte des internationalen Handels, die Migrationsforschung, die Geschichte der internationalen Beziehungen sowie die Untersuchung kolonialer oder imperialer Kontexte lassen sich sinnvoll unter dem Aspekt der „Globalisierung“ analysieren bzw. tragen ihrerseits zur Erforschung einer Geschichte der Globalisierung bei.2 Dabei hat die globale Perspektive auch den Blick auf regionale und lokale Entwicklungen nachhaltig verändert, nicht zuletzt in Hinsicht auf die Untersuchung kolonialer oder imperialer Kontexte. „Entlegene“ Orte und lokale Prozesse an der Peripherie von Imperien erscheinen in der Forschung nicht mehr als quasi letzte Glieder in einer Kette von diversen Entwicklungen, sondern stoßen als kulturelle Kontaktzonen und crossroads auf besonderes Interesse, da sie die Vielfalt, Vielschichtigkeit und Multidimensionalität von Begegnungen und Prozessen zwischen den Kulturen in besonderer Weise verdeutlichen. Die im Nordosten Chinas gelegene Stadt Harbin stellte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine solche kulturelle Kontaktzone und Schnittstelle zwischen globalen und lokalen Entwicklungen dar, in der grenzüberschreitende Prozesse und kulturelle Austauschbeziehungen eine alltägliche Erscheinung darstellten. I. DIE RUSSEN IN DER MANDSCHUREI: EISENBAHN-IMPERIALISMUS, INTERNATIONALE RIVALITÄTEN UND POLITISCHE VERFLECHTUNGEN Im ausgehenden 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die im Westen und Russland als „Mandschurei“ bezeichnete Gegend im Nordosten Chinas eine von Expansionsbestrebungen und internationalen Mächterivalitäten geprägte Region.3 Vor allem China, Japan und Russland konkurrierten mit 1 2 3
Jürgen Osterhammel: Globalizations, in: Jerry H. Bentley (Hg.): The Oxford Handbook of World History, Oxford u.a. 2011, S. 89–104. Vgl. Jürgen Osterhammel / Niels P. Petersson: Geschichte der Globalisierung, München 4 2007, S. 16–20. Einige ausgewählte Arbeiten zur Geschichte der Mandschurei und den konkurrierenden imperialistischen Bestrebungen in der Region vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Gründung
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wechselndem Erfolg um die Vorherrschaft in der dünn besiedelten, „wilden“ Grenzregion Nordostasiens. In politischer Hinsicht hatte die aus den drei Provinzen Heilongjiang, Jilin (Kirin) und Liaoning (Fengtian) und Teilen der Inneren Mongolei bestehende Region – in China üblicherweise als „Drei Östliche Provinzen“ (Dongsansheng) oder einfach als „Nordosten“ (Dongbei) bekannt – unter der Qing-Dynastie (1644–1911) eine Sonderstellung eingenommen.4 Der besondere Status der Region lag historisch in dem exklusiven Anspruch der Qing-Kaiser auf ihr Stammland begründet, das sie bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein für den Zuzug von Han-Chinesen weitgehend sperren ließen, sowie in dessen peripherer Lage jenseits der Großen Mauer und außerhalb des chinesischen Kernlands.
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der Volksrepublik China sind: Nadežda E. Ablova: KVŽD i rossijskaja ėmigracija v Kitae. Meždunarodnye i političeskie aspekty istorii (pervaja polovina XX veka), Moskau 2005; Tao Shing Chang: International Controversies over the Chinese Eastern Railway, Shanghai 1936; Blaine R. Chiasson: Administering the Colonizer. Manchuria’s Russians under Chinese Rule, 1918–1929, Vancouver / Toronto 2010; Shun-Hsin Chou: Railway Development and Economic Growth in Manchuria, in: The China Quarterly 45 (1971), S. 57–84; Paul Hibbert Clyde: International Rivalries in Manchuria, 1689–1922, Columbus, Ohio 1926; Shao Dan: Remote Homeland, Recovered Borderland: Manchus, Manchukuo, and Manchuria, 1907– 1985, Honolulu 2011; Prasenjit Duara: Sovereignty and Authenticity. Manchukuo and the East Asian Modern, Lanham 2004; Bruce A. Elleman / Stephen Kotkin (Hg.): Manchurian Railways and the Opening of China. An International History, Armonk, NY 2010; Ralph Edward Glatfelter: Russia, the Soviet Union, and the Chinese Eastern Railway, in: Clarence B. Davis / Kenneth E. Wilburn / Roland E. Robinson (Hg.): Railway Imperialism, New York u.a. 1991, S. 137–54; Chia Yin Hsu: Railroad Technocracy, Extraterritoriality, and Imperial Lieux de Mémoire in Russian Émigrés’ Manchuria, 1920–1930s, in: Ab Imperio 4 (2011), S. 59–105; Adachi Kinnosuke: Manchuria. A Survey, New York 1925, besonders S. 48–139; Owen Lattimore: Manchuria. Cradle of Conflict, New York 1932; George A. Lensen: The Damned Inheritance: The Soviet Union and the Manchurian Crises, 1924–1935, Tallahassee 1974; Asada Masafumi: The China-Russia-Japan Military Balance in Manchuria, 1906–1918, in: Modern Asian Studies 44 (2010), Hf. 6, S. 1283–1311; Sarah C. M. Paine: Imperial Rivals: China, Russia, and Their Disputed Frontier, Armonk, NY 1996; Rosemary K.I. Quested: „Matey“ Imperialists? The Tsarist Russians in Manchuria 1895–1917 (Centre of Asian Studies Occasional Papers and Monographs, No 50), Hongkong 1982; Wolfgang Seuberlich: Zur Verwaltungsgeschichte der Mandschurei (1644–1930), hg. von Hartmut Walravens, Wiesbaden 2001; Ronald Suleski: Civil Government in Warlord China. Tradition, Modernization and Manchuria, New York u.a. 2002; Mariko Asano Tamanoi (Hg.): Crossed Histories. Manchuria in the Age of Empire, Ann Arbor 2005; Peter S.H. Tang: Russian and Soviet Policy in Manchuria and Outer Mongolia 1911–1931, Durham (NC) 1959; Sören Urbansky: Kolonialer Wettstreit. Russland, China, Japan und die Ostchinesische Eisenbahn, Frankfurt am Main 2008; David Wolff: To the Harbin Station. The Liberal Alternative in Russian Manchuria, 1898–1914, Stanford 1999; Louise Young: Japan’s Total Empire. Manchuria and the Culture of Wartime Imperialism, Berkeley (CA) u.a. 1998. Mark C. Elliott: The Limits of Tartary: Manchuria in Imperial and National Geographies, in: Journal of Asian Studies 59 (2000), Hf. 3, S. 603–646; Seuberlich: Zur Verwaltungsgeschichte der Mandschurei (wie Anm. 3), S. 36–82; Urbansky: Kolonialer Wettstreit (wie Anm. 3), S. 24.
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[Map of] Manchuria, in: The Manchuria Year Book 1931, hg. von East-Asiatic Economic Investigation Bureau, Tokio 1931 [o.S.].
Die kulturelle Vielgestaltigkeit der Mandschurei wurde mit der Zuwanderung von Han-Chinesen im 17. Jahrhundert begründet – seit den 1870er Jahren lässt sich von einer Massenimmigration sprechen –, erweiterte sich mit der russischen Fernost-Expansion im ausgehenden 19. Jahrhundert und verstärkte sich durch regiona-
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le und globale Migrationsprozesse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weiter.5 In den 1920er Jahren setzte sich die Bevölkerung der Mandschurei aus einer Vielzahl von asiatischen Völkern, vor allem Han-Chinesen, Mandschu, Mongolen, Koreanern und Japanern, sowie aus verschiedenen Bevölkerungsgruppen aus dem Russischen Reich bzw. der Sowjetunion zusammen. Der entscheidende Impuls für die dynamische Entwicklung der Grenzregion im Nordosten Asiens und ihre wachsende strategisch-militärische wie ökonomische Bedeutung für verschiedene Großmächte, allen voran Russland und Japan sowie die USA, ging vom Bau der Ostchinesischen Eisenbahn durch die Mandschurei in den Jahren von 1897 bis 1903 aus. Die Erschließung des Territoriums zwischen dem russisch-chinesischen Grenzfluss Amur (Heilong Jiang) im Norden und dem Gelben Meer im Süden sowie die Aussicht auf militärische und wirtschaftliche Expansion weckten bzw. verstärkten die politischen Begehrlichkeiten der in der Region präsenten imperialen Mächte. Mit dem Sieg Japans über das Kaiserreich China im sogenannten Ersten Japanisch-Chinesischen Krieg (1894/95), 5
Nachdem die chinesische Kolonisation der Mandschurei de facto bereits vor und in größerem Umfang dann seit 1850 bereits in vollem Gange war, öffneten die Mandschu-Herrscher in den Jahren von 1868 und 1878 auch offiziell alle Gebiete der Mandschurei für chinesische Migranten. Siehe Kinnosuke: Manchuria (wie Anm. 3), S. 46–47; James Reardon-Anderson: Reluctant Pioneers. China’s Expansion Northward, 1644–1937, Stanford (CA) 2005, vor allem S. 71–84; Tang: Russian and Soviet Policy in Manchuria and Outer Mongolia (wie Anm. 3), S. 16–17. Mit Blick auf ihren zahlenmäßigen Umfang war vor allem die Zuwanderung von chinesischen Tagelöhnern, vorwiegend Han-Chinesen aus dem Norden des chinesischen Kernlands, in den 1920er Jahren von großer Bedeutung. Nach Angaben des China Year Book von 1932 wanderten allein in der Dekade zwischen 1923 und 1932 6,56 Millionen Kulis und Landarbeiter über die mandschurischen Einreisehäfen ein, von denen 2,7 Millionen (41%) dauerhaft in der Mandschurei blieben. Siehe Seuberlich: Zur Verwaltungsgeschichte der Mandschurei (wie Anm. 3), S. 96–98, Fn. 463. In den Jahren von 1931 bis 1937, der ersten Periode unter japanischer Besatzung, wanderten 3,118 Millionen Chinesen in die Mandschurei ein, und 2,761 Millionen chinesische Siedler verließen sie in dem selben Zeitraum. Das bedeutet, dass die chinesische Bevölkerung in der Mandschurei zwischen 1931 und 1937 um 357.000 Chinesen zunahm. Siehe A.J. Grajdanzev: Manchuria as a Region of Colonization, in: Pacific Affairs 19 (1946), Hf. 1, S. 5–19. Insgesamt kann man die Zuwanderung von chinesischen Siedlern aus dem Kernland Chinas, vorwiegend aus den nördlichen Provinzen Shandong und Hebei, in die Mandschurei auf etwa 25 Millionen Menschen beziffern, von denen mindestens 8 Millionen Siedler dauerhaft in der Region blieben. Damit gehörte die Wanderung chinesischer Tagelöhner und Siedler in die Mandschurei zu einer der bedeutendsten Migrationsbewegungen weltweit. Siehe Thomas R. Gottschang: Economic Change, Disasters, and Migration: The Historical Case of Manchuria, in: Economic Development and Cultural Change 35 (1987), Hf. 3, S. 461–490; Urbansky: Kolonialer Wettstreit (wie Anm. 3), S. 124– 125. Zur Bedeutung und sozialen Situation der chinesischen Siedler in der Mandschurei siehe ebd., S. 123–131. Die Zuwanderung aus dem Russischen Reich in das russisch dominierte Zone der ostchinesischen Eisenbahn umfasste bis 1917 etwa 60.000 bis 80.000 und stieg in den 1920er Jahren auf um die 200.000 Menschen an. Siehe Olga Bakich, Origins of the Russian Community on the Chinese Eastern Railway, in: Canadian Slavonic Papers 27 (1985), Hf. 1, S. 1–14; Evgenij Ch. Nilus: Kitajskaja Vostočnaja Železnaja Doroga: Istoričeskij Očerk, 1896–1923, Harbin 1923, S. 200, 387, 621.
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der sich an dem Streit über die Vormachtstellung in Korea entzündet hatte, gelangte die Liaodong-Halbinsel im Süden der Mandschurei mit der strategisch wichtigen Hafenstadt Port Arthur kurzzeitig unter japanische Herrschaft. Auf Intervention von Russland, Frankreich und Deutschland wurde Japan allerdings entgegen den Regelungen im Friedensvertrag von Shimonoseki im April 1895 zum Rückzug von der Halbinsel gezwungen.6 Die für den Fortbestand des chinesischen Kaiserreichs mittelfristig folgenschwere Niederlage Chinas im Japanisch-Chinesischen Krieg von 1894/95 und die Angst vor einem japanischen Expansionsstreben auf chinesisches Territorium bewirkten eine kurzfristige chinesisch-russische Annäherung, die Russland seinerseits in den folgenden Jahren den Weg zur Realisierung seiner eigenen Interessen in der Mandschurei ebnete. Im Rahmen einer geheimen Allianz zwischen China und Russland vom 3. Juni 1896 hatte das zarische Russland von China die Konzession für den Bau einer Eisenbahnlinie durch die Mandschurei in den Fernen Osten Russlands erhalten, nachdem es seinerseits China Unterstützung im Falle eines japanischen Angriffs zugesagt hatte.7 Auf dieser Grundlage wurde im September 1896 zwischen der Ostchinesischen Eisenbahngesellschaft, einem Ableger der Russisch-Chinesischen Bank, und der chinesischen Regierung ein Vertrag geschlossen, der die Details der Eisenbahn-Konzession regelte.8 In der Folge zeigte sich allerdings recht schnell, dass die konkreten Rechte und Inhalte, die diese Konzession zum Bau und Unterhalt der Eisenbahn beinhalteten, von den beiden Vertragspartnern sehr unterschiedlich gedeutet wurden. Mit dem Zuzug Tausender von Arbeitskräften und ihrer Familien aus dem Russischen Reich in die Mandschurei sah sich die Leitung der Ostchinabahn mit der Notwendigkeit konfrontiert, Unterkünfte, Schulen, medizinische und soziale Einrichtungen für ihre Angestellten zu errichten und in den Siedlungspunkten auf dem Konzessionsgebiet eine funktionierende Verwaltung aufzubauen.9 Während die Eisenbahngesellschaft und die russischen Behörden dies durch den Konzessionsvertrag gedeckt sahen, empfand die chinesische Seite das russische Vorgehen als zu weitgehend bzw. als Verletzung seiner staatlichen Souveränität.10 Dieser Konflikt verschärfte sich durch den Russisch-Chinesischen Krieg im Jahr 1900 weiter, als Russland im 6
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K.K. Kawakami: The Russo-Chinese Conflict in Manchuria, in: Foreign Affairs 8 (1929), Hf. 1, S. 52–68, hier S. 52; Sarah C.M. Paine: The Chinese Eastern Railway from the First SinoJapanese War until the Russo-Japanese War, in: Elleman / Kotkin (Hg.): Manchurian Railways and the Opening of China (wie Anm. 3), S. 15–17. Glatfelter: Russia, the Soviet Union, and the Chinese Eastern Railway (wie Anm. 3), S. 140. Manchuria. Treaties and Agreements, hg. von der Carnegie Endowment for International Peace, Washington (DC) 1921, S. 13–17. Vgl. Olga M. Bakich: A Russian City in China: Harbin before 1917, in: Canadian Slavonic Papers 28 (1986), Hf. 2, S. 129–148, hier S. 146–147; dies.: Origins of the Russian Community on the Chinese Eastern Railway (wie Anm. 5), S. 12–14; Quested: „Matey“ Imperialists? (wie Anm. 3), S. 100–105, 113–114. Paine: The Chinese Eastern Railway, S. 21–24 (wie Anm. 6); Quested: „Matey“ Imperialists? (wie Anm. 3), S. 49–50.
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Zusammenhang mit den Boxer-Aufständen in den Jahren 1900/01 russische Truppen im Umfang von mehr als 100.000 Mann in die Mandschurei entsandte und de facto ein russisches Protektorat errichtete.11 Nach der Niederschlagung der BoxerRebellionen weigerte sich Russland, seine Truppen aus der Mandschurei abzuziehen, obgleich eine solche (dauerhafte) militärische Besatzung klar gegen die Vereinbarungen des chinesisch-russischen Abkommens von 1896 verstieß. Vordergründig zum Schutz der russischen Siedlungen entlang der Ostchinesischen Eisenbahn etablierte sich Russland in den Jahren von 1900 bis 1904 fest in der Mandschurei.12 Entscheidend für die faktische Machtstellung der Eisenbahngesellschaft war auch der Umstand, dass die Ostchinesische Eisenbahn über das ihr ursprünglich von China gewährte Durchfahrtsrecht einschließlich einer dazugehörigen Zone entlang der Trassen (polosa otčuždenija) in größerem Umfang Land erwarb und ihren Besitz durch mit russischem Kapital getätigte Zukäufe bis 1911 ständig erweitern konnte.13 Die Monopolstellung der Eisenbahngesellschaft als größter Wirtschaftsfaktor und potentester politischer Akteur transformierte die Eisenbahnzone in dieser Phase faktisch in ein russisches Konzessionsgebiet unter quasi kolonialen Bedingungen. Durch das expansionistische Bestreben Russlands in der Mandschurei sowie die Besetzung des am Gelben Meer gelegenen Hafens Port Arthur im Dezember 1897, den Russland im Folgenden von China pachtete und als Stützpunkt für seine Pazifik-Flotte nutzte, und der südlichen Liaodong-Halbinsel im März 1898 fühlten sich die Japaner herausgefordert. Sie verlangten von Russland den Abzug der russischen Truppen aus der Mandschurei und die Anerkennung der Vorherrschaft Japans in Korea. Die Weigerung Russlands, den japanischen Forderungen nachzukommen, führte zum Angriff der Japaner auf Port Arthur am 4. Februar 1904 und damit zum Russisch-Japanischen Krieg (1904/05). Russlands verheerende Niederlage in diesem Krieg, die erste Niederlage einer europäischen Großmacht gegen eine asiatische Nation, bedeutete neben den immensen Kriegskosten einen klaren Macht- und vor allem Prestigeverlust in Ostasien. Gemäß der im Friedensvertrag von Portsmouth am 5. September 1905 unterzeichneten Vereinbarungen erkannte Russland Japans Anspruch auf Vorherrschaft in Korea an und stimmte Gebietsabtretungen auf Sachalin und im Süden der Mandschurei an Japan zu. Die Halbinsel Liaodong mit den Hafenstädten Port Arthur (Lüshun) und Dal’nij (Dalian) sowie die Südmandschurische Eisenbahn von Changchun über Mukden (Shenyang) bis Dal’nij (von 1905 bis 1945: Dairen) kamen unter japanische Kontrolle.14 Aus russischer Perspektive konnte das Zarenreich zumindest im Norden der Mandschurei mit dem (russischen) Zentrum Harbin seine semi-koloniale Stellung 11 12 13 14
Paine: The Chinese Eastern Railway, S. 21–24 (wie Anm. 6); Quested: „Matey“ Imperialists? (wie Anm. 3), S. 50–138. Ebd., S. 53–106. Chiasson: Administering the Colonizer (wie Anm. 3), S. 121; Wolff: To the Harbin Station (wie Anm. 3), S. 28. Vgl. Paine: The Chinese Eastern Railway (wie Anm. 6), S. 24–26.
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noch bis in die Zeit der Revolution von 1917 bewahren.15 Letztlich brachten dann aber das Ende der zarischen Autokratie in Russland und der russische Bürgerkrieg eine grundlegende Neubestimmung des Verhältnisses von Russen und Chinesen in der Mandschurei mit sich. Während die Ostchinesische Eisenbahngesellschaft unter Leitung von General Dmitrij Chorvat mit Hilfe russisch-antibolschewistischer und chinesischer Unterstützung versuchte, den Einfluss des jungen Sowjetregimes in der Eisenbahnzone zu unterdrücken, was zumindest vorübergehend gelang, zeigte sich auf der anderen Seite, dass die privilegierte, semikoloniale Stellung der Russen in der Mandschurei nach dem Zusammenbruch des Zarenreiches nicht weiter zu halten war. Im Zuge der innerchinesischen Machtkämpfe gelangte die Mandschurei unter die Herrschaft des chinesischen Generals und einflussreichen Kriegsherrn Zhang Zuolin (1875–1928), der die „Drei Östlichen Provinzen“ offiziell als Generalgouverneur – mit Duldung der Regierung in Peking und teilweise mit Unterstützung Japans – bis zu seinem Tod als weitgehend autonomes Gebiet beherrschte.16 Mit Blick auf die Eisenbahn und die unter ihrer Verwaltung stehende Zone markierte das Jahr 1920 einen Wendepunkt: Der ehedem unumschränkte Herrscher der Eisenbahnzone Chorvat musste in Folge eines Generalstreiks und auf Druck aus Peking seine Position aufgeben und Zhang Zuolin loyale Truppen entwaffneten die Russen und übernahmen die militärische Kontrolle über die Eisenbahnzone.17 In zwei Verträgen vom September und Oktober 1920 wurden auf Betreiben der chinesischen Regierung die Verhältnisse grundsätzlich neu geregelt: den russischen Bürgern wurden ihre extraterritorialen Rechte und die damit verbundenen Privilegien aberkannt und die Ostchinabahn unter die gemeinsame Verwaltung von Russen und Chinesen gestellt.18 Von 1921 bis 1924 stand die Ostchinabahn unter der Leitung von Generaldirektor Boris V. Ostroumov.19 Die Russen blieben nicht zuletzt wegen ihrer hohen Qualifikation in der Eisenbahngesellschaft zwar vorübergehend zahlenmäßig dominierend, vor allem in den führenden Positionen, doch ließ sich auf Dauer weder die sowjetische Einflussnahme 15
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Die weitaus größeren Auswirkungen hatte die russische Niederlage gegen Japan in Russland selbst. Das militärische Desaster im Fernen Osten trug maßgeblich zur Stärkung der revolutionären Bewegung und Schwächung der Autokratie bei. The Manchuria Year Book 1931, hg. von dem East-Asiatic Economic Investigation Bureau, Tokio 1931, S. 25–26. Vgl. auch Søren Clausen / Stig Thøgersen (Hg.): The Making of a Chinese City. History and Historiography in Harbin (Studies on Modern China), Armonk / New York / London 1995, S. 42–45; Suleski: Civil Government in Warlord China (wie Anm. 3), S. 5–32, 165–182, passim. Clausen / Thøgersen (Hg.): The Making of a Chinese City (wie Anm. 16), S. 43. Olga Bakich: Charbin: „Rußland jenseits der Grenzen“ in Fernost, in: Karl Schlögel (Hg.): Der große Exodus. Die russische Emigration und ihre Zentren 1917–1941, München 1994, S. 304–328, hier S. 307; Chiasson: Administering the Colonizer (wie Anm. 3), S. 38–55; Glatfelter: Russia, the Soviet Union, and the Chinese Eastern Railway (wie Anm. 3), S. 145–146; Hsu: Railroad Technocracy (wie Anm. 3), S. 77. Ebd., S. 83–92.
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noch die allmähliche Übernahme der Eisenbahn durch die Chinesen verhindern.20 Mit der Unterzeichnung des chinesisch-sowjetischen Abkommens vom 31. Mai 1924 wurden die Ostchinesische Eisenbahn unter eine paritätische Verwaltung beider Staaten gestellt und alle vorangegangenen Abkommen hinsichtlich der Ostchinesischen Eisenbahn zwischen China und Russland außer Kraft gesetzt.21 Gegen den Geist des Pekinger Abkommens vom Mai 1924 konnten die sowjetischen Vertreter aber noch für wenige Jahre bis etwa 1926 die Geschicke der Ostchina-Bahn maßgeblich bestimmen.22 Dabei kam den sowjetischen EisenbahnManagern ein zweites Abkommen zupass, das die Sowjetunion am 20. September 1924 mit der mandschurischen Regierung der „Autonomen Drei Östlichen Provinzen“ in Shenyang (Mukden), also mit dem Warlord-Regime von Zhang Zuolin, geschlossen hatte und das den Einfluss der Zentralregierung in Peking (zwischen 1927 und 1937 regierte die Guomindang unter Chiang Kaishek mit Sitz in Nanjing) auf die Eisenbahn in der Mandschurei zugunsten von Zhang Zuolin schwächte.23 Insgesamt taten sich die russischen Eliten vor Ort sowie die Bevölkerung in der Eisenbahnzone schwer, die Chinesen in der Rolle eines ebenbürtigen Partners zu akzeptieren.24 Aber auch von chinesischer Seite gestaltete sich die Zusammenarbeit, vor allem auf politischer Ebene, zunehmend schwierig. Seit dem Abkommen mit der Sowjetunion drängten die chinesischen Autoritäten ihrerseits darauf, ihren Einfluss über die Eisenbahnzone stetig zu erweitern bzw. so schnell wie möglich volle Souveränität über diese zu erlangen.25 In dem Ringen über die Oberhoheit über die Eisenbahnzone lag die eigentliche Ursache für die Zuspitzung des Konflikts zwischen China und der Sowjetunion. Dabei testeten die chinesischen Autoritäten, d.h. vor allem die mandschurische Regionalregierung in Shenyang, in den folgenden Jahren mit verschiedenen provokativen Aktionen gegenüber den sowjetischen Repräsentanten in der Eisenbahnzone aus, wie weit sie sich mit ihrem Drängen nach Wiederherstellung der chinesischen Souveränität vorwagen konnten. Im Dezember 1928 besetzten Einheiten der (chinesischen) Harbiner Polizei das – strategisch wichtige – Telefon- und Telegrafenamt der Ostchinesischen Eisenbahn.26 Den Protest der sowjetischen Seite gegen das chinesische Vorgehen wiesen führende chinesische Vertreter der Eisenbahngesellschaft zu 20 21
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Ebd., S. 87–89. Chiasson: Administering the Colonizer (wie Anm. 3), S. 98–119; Bruce A. Elleman: SinoSoviet Tensions and Soviet Administrative Control over the Chinese Eastern Railway, 1917– 25, in: Elleman / Kotkin (Hg.): Manchurian Railways and the Opening of China (wie Anm. 3), S. 59–80, hier S. 72; Hsu: Railroad Technocracy (wie Anm. 3), S. 88–89. Elleman: Sino-Soviet Tensions and Soviet Administrative Control (wie Anm. 21), S. 72–76. Ebd., S. 70–76. Chiasson: Administering the Colonizer (wie Anm. 3), S. 105–119. Ablova: KVŽD i rossijskaja ėmigracija v Kitae (wie Anm. 3), S. 198; Felix Patrikeeff: Railway as Political Catalyst: The Chinese Eastern Railway and the 1929 Sino-Soviet Conflict, in: Elleman / Kotkin (Hg.): Manchurian Railways and the Opening of China (wie Anm. 3), S. 81–102, hier S. 81; Urbansky: Kolonialer Wettstreit (wie Anm. 3), S. 137. Ablova: KVŽD i rossijskaja ėmigracija v Kitae (wie Anm. 3), S. 199.
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rück, signalisierten gegenüber den sowjetischen Diplomaten aber grundsätzlich Gesprächsbereitschaft und forderten Verhandlungen auf höchster, zwischenstaatlicher Ebene, um die strittigen Fragen hinsichtlich der Verwaltung der Eisenbahn im Sinne der Verträge von 1924 zu klären.27 Doch noch bevor es zu Verhandlungen kam, spitzten sich die chinesisch-sowjetischen Auseinandersetzungen weiter zu, als die mandschurischen Autoritäten unter Zhang Zuolins Sohn und Nachfolger Zhang Xueliang (1901–2001) im Mai 1929 eine überfallartige Razzia und Besetzung des sowjetischen Generalkonsulats veranlassten.28 Dieser Zwischenfall, die faktische Beschlagnahme der Ostchinesischen Eisenbahn im Juli 1929 sowie zahlreiche weitere gegen die Sowjetunion gerichtete Provokationen und Gewaltakte, darunter 245 Vorfälle mit militärischem Beschuss und 42 Überfälle auf sowjetisches Territorium, führten in den folgenden Monaten zum Bruch der diplomatischen Beziehungen der Sowjetunion mit China und im November 1929 schließlich zum kriegerischen Konflikt zwischen beiden Staaten.29 Auch wenn es der Sowjetunion durch ein militärisches Eingreifen ihrerseits gelang, den militärischen Konflikt rasch und ohne große Gegenwehr zu ihren Gunsten zu beenden und eine gewaltsame Beschlagnahme der Eisenbahn abzuwehren, ging letztlich keine der beiden Seiten aus dem Konflikt als Gewinner hervor.30 Die politische und ökonomische Lage in der Mandschurei war angespannter als je zuvor. Beide Seiten mussten sich im Geist des Vertrags von 1924 erneut auf eine paritätische Leitung der Eisenbahn verpflichten. In letzter Konsequenz hatte sich aber trotz der Überlegenheit des sowjetischen Militärs gezeigt, dass die russische Kolonie aufgrund ihrer Abhängigkeit von der Eisenbahn und ihres fragilen politischen und rechtlichen Status leicht verwundbar war. Und die in dem Konflikt von 1929 offen zutage getretene militärische Schwäche der chinesischen Truppen sowie die grundsätzlichen Interessenskonflikte zwischen der chinesischen Zentralregierung in Nanjing und der Regionalregierung in Shenyang unter Zhang Xueliang dürften die japanischen Begehrlichkeiten mit Blick auf die Mandschurei zusätzlich stimuliert haben.31 Der stetig sinkende Einfluss der sowjetischen Regierung auf die Verwaltung der Eisenbahn, vor allem seit der Besetzung der Mandschurei durch die japanische Kwantung-Armee im September 1931 – Harbin wurde im Februar 1932 besetzt – und der Errichtung des japanischen Marionettenstaates Mandschukuo, führte letztlich zum Verkauf der verbliebenen sowjetischen Anteile an der Ostchinesischen 27 28 29
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Ebd., S. 199. Patrikeeff: Railway as Political Catalyst (wie Anm. 25), S. 81–83. Ablova: KVŽD i rossijskaja ėmigracija v Kitae (wie Anm. 3), S. 198–212; Patrikeeff: Railway as Political Catalyst (wie Anm. 25), S. 81–87; Urbansky: Kolonialer Wettstreit (wie Anm. 3), S. 136–43. Ablova: KVŽD i rossijskaja ėmigracija v Kitae (wie Anm. 3), S. 212; Chiasson: Administering the Colonizer (wie Anm. 3), S. 150; Patrikeeff: Railway as Political Catalyst (wie Anm. 25), S. 83–90; Urbansky: Kolonialer Wettstreit (wie Anm. 3), S. 136–143. Vgl. Patrikeeff: Railway as Political Catalyst (wie Anm. 25), S. 87.
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Eisenbahn im Jahr 1935 an Mandschukuo.32 Erst die Niederlage Japans im Zweiten Weltkrieg brachte die sowjetische Seite noch einmal für kurze Zeit ins Spiel: 1945 wurde die Ostchinesische Eisenbahn erneut unter sowjetische und chinesische Verwaltung gestellt, bevor sie dann wenige Jahre nach der Gründung der Volksrepublik China ganz in chinesischen Besitz überging. Fragt man nach den ursprünglichen Motiven oder Zielen für das russische Vordringen in die Mandschurei seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, so ergibt sich kein vollkommen einheitliches Bild. Dieser Umstand ist wenig überraschend, berücksichtigt man, dass hinter dem russischen Engagement im Nordosten Chinas unterschiedliche Akteure mit teilweise divergierenden Vorstellungen und Interessen standen. Neben dem Zar, seiner Regierung und den leitenden Bürokraten zählten auch die Gouverneure der an die Mandschurei grenzenden sibirischen und fernöstlichen Provinzen, führende russische Militärs, Diplomaten und Wissenschaftler, Manager der Eisenbahn, Bankiers und eine Reihe von russischen Unternehmern zu dem Personenkreis, der auf die Geschicke im Fernen Osten in der einen oder anderen Weise Einfluss hatte. Einigkeit bestand unter ihnen insofern, als letztlich niemand grundsätzlich den Sinn und die Legitimität der imperialen Mission Russlands in Asien bezweifelte, die eine Stärkung der Machtstellung Russlands und eine Modernisierung der Mandschurei „zum Wohle aller Nationen“ in Aussicht stellte. Die konkreten Beweggründe und Ziele des russischen Engagements in Nordostasien unterschieden sich mitunter allerdings deutlich voneinander. Für Sergej Witte, den einflussreichen russischen Finanzminister (1893–1903) und Ministerpräsident (1905–1906), stellte sich die Ausweitung der russischen Einflusssphäre in die Mandschurei prinzipiell als „friedliche Durchdringung“ eines ökonomisch unentwickelten, machtentleerten Territoriums dar.33 In diesem Sinne sollte das russische Engagement sowohl dem Wohl der Region und seiner Bevölkerung als auch vor allem der Stärkung der imperialen Position des Zarenreiches dienen. Als Vehikel dieser imperialistischen Politik diente die ostchinesische Eisenbahn.34 Mit ihrer Hilfe sollte Russland in wenigen Jahren eine führende Stellung im Asien-Handel einnehmen und zur wirtschaftlich dominierenden Macht im pazifischen Raum aufsteigen.35 Doch auch wenn Witte und die Verfechter des freien Handels eine militärische Besetzung der Mandschurei ablehnten, was sicherlich auch dem realistischen Blick auf das politisch Machbare geschuldet war, kann die russische Präsenz in der Mandschurei letztlich weder mit Blick auf 32 33
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Glatfelter: Russia, the Soviet Union, and the Chinese Eastern Railway (wie Anm. 3), S. 148. Siehe Dietrich Geyer: Der russische Imperialismus, Göttingen 1977, S. 143. Zu Konzept und Praxis „friedlicher Durchdringung“ Ostasiens in der russischen Wirtschafts- und Finanzpolitik Wittes siehe ebd., S. 144–159. Ebd., S. 143; Glatfelter: Russia, the Soviet Union, and the Chinese Eastern Railway (wie Anm. 3), S. 137; Paine: Imperial Rivals (wie Anm. 3), S. 178–208. Vgl. David Wolff: Russia Finds Its Limits. Crossing Borders into Manchuria, in: Stephen Kotkin / David Wolff (Hg.): Rediscovering Russia in Asia: Siberia and the Russian Far East, Armonk / New York 1995, S. 40–54, hier S. 44.
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die Auswirkungen für die Integrität des chinesischen Staates noch hinsichtlich der Konsequenzen für die chinesische Bevölkerung als „friedliche Durchdringung“ gesehen werden, selbst wenn letztere partiell davon profitierte.36 Auf der anderen Seite sympathisierten in den Jahren von 1896 bis 1905 nicht wenige führende Repräsentanten Russlands mit der Idee einer dauerhaften Annexion der Mandschurei, die in der Sprache zahlreicher russischer Funktionsträger im Fernen Osten bezeichnenderweise auch man’čžurskij kraj (mandschurische Region) oder Želtorossija (gelbes Russland) hieß.37 Und obgleich die Schaffung einer „russischen Mandschurei“ nach der Niederlage im Russisch-Japanischen Krieg in weite Ferne gerückt war, betrachteten viele Russen, Angehörige der Eliten im Russischen Reich wie Siedler in der Eisenbahnzone, noch bis in die Zeit der Oktober-Revolution die nördliche Mandschurei, vor allem deren Zentrum Harbin, wie einen kolonialen Besitz des Russischen Reichs.38 Generell müssen die Intentionen, die mit dem kostspieligen Projekt der Ostchinesischen Eisenbahn verbunden waren, im Kontext der konkurrierenden imperialistischen Bestrebungen verschiedener Großmächte im Nordosten Chinas gesehen werden.39 Aus russischer Perspektive war die Expansion in die Mandschurei zunächst, d.h. bis in die Zeit des Russisch-Japanischen Kriegs, in erster Linie politisch und militärischstrategisch motiviert.40 Die strategische Bedeutung des Eisenbahnbaus durch die Mandschurei bestand vor allem darin, die Verbindungen zwischen dem europäischen Russland und dem russischen Fernen Osten bis zum Pazifik zu verbessern.41 Die Eisenbahntrasse durch die Mandschurei verkürzte den Streckenabschnitt von der sibirischen Stadt Čita nach Vladivostok um etwa 550 km.42 Neben einer schnelleren Anbindung des Stützpunktes der russischen Pazifik-Flotte durch die Eisenbahn weckten auch Gebiete im Süden der Mandschurei russische Begehrlichkeiten: Mit dem Pachtvertrag von 1898 fiel der eisfreie Hafen Port Arthur am Chinesischen Meer unter russische Herrschaft und wurde zum neuen Flottenstützpunkt Russlands am Pazifik ausgebaut. Mit Dal’nij (Dalian) als südlichem Ende der transmandschurischen Eisenbahn und Vertragshafen und Port Arthur als Flottenstützpunkt untermauerte Russland seinen Anspruch, Weltmacht zu sein. Durch die sehr bald folgende Niederlage im Krieg gegen Japan war Russland aber letztlich kaum Zeit geblieben, diesen Anspruch auch zu verwirklichen. 36 37
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40 41 42
Glatfelter: Russia, the Soviet Union, and the Chinese Eastern Railway (wie Anm. 3), S. 137. Vgl. Paine: Imperial Rivals (wie Anm. 3), S. 178–179; Eva-Maria Stolberg: Sibirien: Russlands „Wilder Osten“. Mythos und soziale Realität im 19. und 20. Jahrhundert (=Beiträge zur Europäischen Überseegeschichte; Bd. 95), Stuttgart 2009, S. 215. Vgl. Bakich: Origins of the Russian Community on the Chinese Eastern Railway (wie Anm. 5), S. 14; Quested: „Matey“ Imperialists? (wie Anm. 3), S. 171. Zu den geschätzten Kosten, die der Unterhalt der Ostchinesischen Eisenbahn verschlang, und ihrem wirtschaftlichen Nutzen siehe Paine: The Chinese Eastern Railway (wie Anm. 6), S. 26–28. Vgl. Chou: Railway Development and Ecomonic Growth in Manchuria (wie Anm. 3), S. 58. Vgl. Paine: The Chinese Eastern Railway (wie Anm. 3), S. 13–36. Vgl. Urbansky: Kolonialer Wettstreit (wie Anm. 3), S. 41.
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Eine globale Bedeutung wohnte auch und vielleicht vor allem anderen dem ökonomischen Aspekt des russischen Engagements in Nordostchina inne: Die verkehrstechnische und wirtschaftliche Erschließung der Mandschurei sollte nicht nur den russischen Handel mit Fernost intensivieren, sondern darüber hinaus Russlands bis dato eher bescheidene Rolle im Welthandel stärken. Vor allem für Sergej Witte, der als Finanzminister für den Eisenbahnbau verantwortlich zeichnete, war das eigentliche Ziel der expansionistischen Politik Russlands in Nordostasien, durch die Erschließung von Absatzmärkten für russische Industrieerzeugnisse letztlich Russlands Industrialisierung voranzutreiben.43 Frei von politischen Ambitionen war Witte dabei sicher nicht, begriff er doch wie kaum ein anderer russischer Politiker vor ihm die Ökonomie als Kategorie der Macht.44 Nach seinen Vorstellungen sollten Unternehmer aus dem Russischen Reich in der Mandschurei unter Bedingungen des freien Wettbewerbs ihre internationale Konkurrenzfähigkeit austesten. So gesehen stellte die Mandschurei wie auch andere Regionen an der Peripherie des Russischen Reiches eine Art „Laboratorium für neue soziale Entwicklungen“ dar, die im Zentrum Russlands selbst kaum realisierbar waren.45 Aufgrund der politischen und administrativen Freiräume bot die russisch-chinesische Grenzregion gerade für Unternehmer Entwicklungsmöglichkeiten, die im autokratischen Russland zumindest für Angehörige zahlreicher diskriminierter Bevölkerungsgruppen so nicht vorstellbar waren. So gab es etwa für Juden aus dem Russischen Reich, die sich in der Mandschurei ansiedelten, anders als in ihrer Heimat keinerlei Restriktionen, weder mit Blick auf Bildung noch in wirtschaftlicher Hinsicht.46 Obgleich der lange Arm der russischen Politik bis zur Revolution von 1917 auch in den russischen Teil der Eisenbahnzone der Mandschurei reichte, blieben Versuche, eine protektionistische Politik zugunsten russischer Unternehmer zu betreiben, auf längere Sicht erfolglos. Als zu stark erwies sich letztlich der politische Druck der anderen in der Mandschurei engagierten Großmächte, die auf eine Internationalisierung der Region und Öffnung ihrer Märkte oder im Falle Chinas auf eine Wiederherstellung nationaler Souveränität drängten. 43 44 45 46
Geyer: Der russische Imperialismus (wie Anm. 33), S. 144–159; Glatfelter: Russia, the Soviet Union, and the Chinese Eastern Railway (wie Anm. 3), S. 141. Siehe Geyer: Der russische Imperialismus (wie Anm. 33), S. 144. Vgl. Wolff: Russia Finds Its Limits. Crossing Borders into Manchuria (wie Anm. 35), hier S. 41. Die faktische rechtliche Gleichstellung der Juden in einem Gebiet, das die meisten Repräsentanten des zarischen Regimes zumindest bis 1904/05 als de facto zu Russland gehörig betrachteten, war nicht unumstritten und stieß vor allem in konservativen Kreisen auf Widerstand. Witte rechtfertigte seine liberale Politik gegenüber den Juden und anderen Minderheiten mit Verweis auf die „außergewöhnliche“ ökonomische Konkurrenzsituation in der Mandschurei, vor allem gegenüber den Chinesen, die von den Siedlern, insbesondere den Unternehmern, ein hohes Maß an Eigeninitiative, Flexibilität und Risikobereitschaft erfordere. Siehe ebd., S. 46.
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II. GLOBALISIERUNGSPROZESSE UND WIRTSCHAFTLICHE VERFLECHTUNGEN IN DER MANDSCHUREI Die Eröffnung zahlreicher Vertragshäfen entlang der chinesischen Küste seit der Mitte des 19. Jahrhunderts markierte den Beginn des Zeitalters weltweiter wirtschaftlicher Vernetzungen in China. In Folge der beiden Opium-Kriege (1839–42 und 1856–60) waren unter dem Druck der europäischen Kolonialmächte u.a. in Kanton (Guangzhou), Hongkong, Xiamen, Fuzhou, Ningbo, Shanghai, Tientsin (Tianjin) oder Niuzhuang (Yingkou) große Treaty Ports entstanden. Als Zentren des internationalen Handels in China fungierten die Vertragshäfen als kulturelle Kontaktzonen zwischen Asien und Europa und setzten einen Prozess der „Öffnung“ Chinas, vor allem in den küstennahen urbanen Zentren des Landes, in Gang.47 Im Nordosten Chinas begann dieser Prozess aufgrund der historischen Sonderstellung der Region und der Tatsache, dass die Mandschurei mit Port Arthur (Lüshun) und Dal’nij nur über zwei eisfreie Häfen an der Südspitze der Liaodong-Halbinsel verfügte, im Wesentlichen erst mit dem Bau der Ostchinesischen Eisenbahn. Seit der Jahrhundertwende bewegten sich auf den Linien der transsibirischen und ostchinesischen Eisenbahn in steigendem Tempo und wachsendem Umfang Geld, Menschen und Güter zwischen Europa und Asien hin und her. Mit der Inbetriebnahme der Eisenbahn durch die Mandschurei war zwischen Russland, Japan, den Vereinigten Staaten und anderen Ländern ein Wettstreit um mineralische und landwirtschaftliche Ressourcen sowie Handelsinteressen in der Region entbrannt. Neben der Förderung von Kohle, Eisenerzen und Erdöl spielten Weizen sowie der Anbau und die Verarbeitung von Soja eine wichtige Rolle. Vor allem der Handel mit Sojaerzeugnissen hatte regionale und rasch auch internationale Bedeutung.48 Für landwirtschaftliche Güter, Rohstoffe und Industrieerzeugnisse wurde die Eisenbahn in nur wenigen Jahren zum wichtigsten Transportmittel. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich der Güterverkehr auf der Ostchinesischen Eisenbahn sehr dynamisch, vor allem nach dem Ersten Weltkrieg. So verdoppelte sich zwischen 1913 und 1923 die absolut geförderte Frachtmenge.49 Nach Jahren des Verlustes konnte die Eisenbahngesellschaft im Jahr 1924 erstmals Gewinne verbu 47
48 49
Zur Bedeutung der Vertragshäfen für die „Öffnung“ Chinas und dem Entstehen einer internationalen Treaty-Port-Kultur in China siehe Robert Bickers: Britain in China: Community, Culture, and Colonialism, 1900–1949, Manchester 1999; Sabine Dabringhaus: Geschichte Chinas 1279–1949 (Oldenbourg Grundriss der Geschichte 35), München 2006, S. 63–64; John K. Fairbank: Trade and Diplomacy on the China Coast: The Opening of the Treaty Ports, 1842–1854, 2 Bde., Cambridge, MA 1953; Rhoads Murphey: The Treaty Ports and China’s Modernization, in: Mark Elvin (Hg.): The Chinese City between two Worlds, Stanford, CA 1974, S. 17–71; John Y. Wong: Deadly Dreams: Opium, Imperialism, and the Arrow War (1856–1860) in China, Cambridge 1998. Tokuji Hoshino (Hg.): Economic History of Manchuria, Seoul 1920, S. 137–148. Zur dynamischen Entwicklung des Personen- und Güterverkehrs auf der Ostchinesischen Eisenbahn siehe Urbansky: Kolonialer Wettstreit (wie Anm. 3), S. 102.
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chen.50 Auch in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre stiegen bei kontinuierlichem Wachstum der Frachtmenge und des Personenverkehrs die Einnahmen der Ostchinesischen Eisenbahn weiter deutlich an.51 1928/29 wurde der Höhepunkt dieser Entwicklung überschritten. Die politische Krise zwischen China und der Sowjetunion um die Ostchina-Bahn und die einsetzende Weltwirtschaftskrise trafen die Region mit aller Härte. Wie Tim Wright nachweist, war in den folgenden Jahren die nördliche Mandschurei am stärksten von den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise betroffen, also die Region in der Mandschurei, die aufgrund ihrer starken Anbindung an den internationalen Handel, vor allem mit Soja, am stärksten globalisiert war.52 Die sprunghafte wirtschaftliche Entwicklung blieb nicht ohne Folgen für die noch Ende des 19. Jahrhunderts kaum erschlossene Region im Nordosten Asiens, die in den ersten drei bis vier Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts drastische Veränderungen durchlebte. Die wichtigsten seien hier in aller Kürze benannt: die dynamische Bevölkerungsentwicklung, in erster Linie durch die massenhafte Zuwanderung von jährlich mehreren Hunderttausenden von Menschen aus China und dem Russischen Reich bzw. dem Sowjetstaat, die beim Bau der Eisenbahn, in der Landwirtschaft, den neu entstehenden Industriebetrieben, im Handel und Dienstleistungsgewerbe Beschäftigung fanden;53 die Erschließung der Region durch neue Verkehrswege, vor allem durch den Bau der zentralen Eisenbahnlinien in West-Ost-Richtung von Čita über Harbin nach Vladivostok und in Nord-SüdRichtung von Harbin über Mukden (Shenyang) nach Dal’nyj sowie den Bau einer Überlandstraße, die die russische Grenzregion mit Harbin verband, und später in den 1930er Jahren durch die Errichtung moderner Fernverkehrsstraßen unter dem Manchukuo-Regime;54 die rasante ökonomische Entwicklung, sowohl mit Blick auf Landwirtschaft als auch in Industrie und Handel, die von hohen staatlichen wie privaten Investitionen aus dem Ausland begünstigt wurde;55 der Aufbau von modernen Verwaltungsstrukturen; eine rasche Urbanisierung und der Aufbau einer modernen Infrastruktur, vor allem in den städtischen Zentren der Mandschurei.56 In einem Zeitraum von nur dreißig bis vierzig Jahren entwickelten sich die 50 51 52 53
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55 56
Ebd., S. 103. The Manchuria Year Book 1931, S. 142–143. Tim Wright: The Manchurian Economy and the 1930s World Depression, in: Modern Asian Studies 41 (2007), Hf. 5, S. 1073–1112. In den 35 Jahren vom Ende des Russisch-Japanischen Kriegs (1905) bis zum Jahr 1940 war die Bevölkerung von ca. 16–22 Millionen auf 43,3 Millionen Menschen (ohne die etwa 1,4 Mio. zählende Bevölkerung der Region Kwantung) angewachsen. Siehe [o.V.] Manchuria as a Demographic Frontier, in: Population Index 11 (1945), Hf. 4, S. 260–274, hier S. 264. The Manchuria Year Book 1931, S. 136–163 (Transport and Communications); Chou: Railway Development and Economic Growth in Manchuria (wie Anm. 3), S. 59; Stolberg: Sibirien (wie Anm. 37), S. 207. Vgl. Chou: Railway Development and Economic Growth in Manchuria (wie Anm. 3), S. 57– 84. Vgl. u.a. Wolff: Russia Finds Its Limits (wie Anm. 35), S. 40–54.
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bis zur Jahrhundertwende rückständigen Provinzen im Nordosten zu einer der wirtschaftlich modernsten Regionen Chinas. Zweifelsohne stellten die zahlreichen politischen Brüche und Regimewechsel in der Grenzregion vielfältige Härten, Schwierigkeiten und Herausforderungen für die multiethnische Bevölkerung dar. Aus ihnen resultierten aber nicht nur krisenhafte Erscheinungen und Situationen wie vorübergehende Phasen wirtschaftlicher Depression, etwa nach dem Russisch-Japanischen Krieg oder während des russischen Bürgerkriegs, sondern auch – notgedrungen – spezifische Fertigkeiten und Verhaltensweisen wie eine hohe soziale Mobilität, eine überdurchschnittlich große Anpassungsfähigkeit an die jeweils neuen Gegebenheiten sowie vor allem eine Offenheit im Umgang mit verschiedenen Kulturen und komplexen politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Die von den jeweiligen Machthabern – Russen, Chinesen und Japanern – postulierten Herrschaftsprinzipien, ihre kulturell-ideologischen Deutungsmonopole sowie die von ihnen mitgebrachten Modernitätsvorstellungen vermischten und überlagerten sich mit den ethnischen, nationalen, religiösen und kulturellen Traditionen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen. So entwickelte sich der Nordosten Chinas zu einem unvorhergesehenen Experimentierfeld von Globalisierungsprozessen und transnationalen Interaktionen, die über vorgegebene nationale, politische und kulturelle Grenzziehungen der Machthabenden weit hinausgingen. Selbst in den Jahren der japanischen Herrschaft über die Mandschurei von 1931 bis zur Besetzung und Auflösung Mandschukuos durch die sowjetische Armee im August 1945 spielten solche transnationalen Dynamiken und kulturellen Austauschprozesse weiterhin eine wichtige Rolle und wurden von dem Mandschukuo-Regime teilweise sogar befördert. Erst mit der Rückgabe der Mandschurei an China und der wenig später folgenden Gründung der Volksrepublik im Jahr 1949 kamen die skizzierten Entwicklungen allmählich zum Erliegen. In den Jahrzehnten zuvor, vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1940er Jahre hinein, hatte sich die Mandschurei als Objekt von rivalisierenden politischen, militärischen und wirtschaftlichen Ambitionen verschiedener Mächte und als bevorzugtes Feld des Handels zwischen Asien, Russland, Europa und Nordamerika in nur kurzer Zeit zu einem Interaktionsraum mit umfassenden globalen Verflechtungen entwickelt. Dies sei im Folgenden an einigen Beispielen verdeutlicht. Die immense Ressourcen verschlingende Ostchinesische Eisenbahn stellte mit Blick auf die internationale Zusammensetzung ihrer Planer und Finanziers, der für ihren Bau angeheuerten Spezialisten und Kontraktarbeiter sowie des aus verschiedenen Kontinenten stammenden Materials bereits in der Phase ihres Baus ein globales Unterfangen dar.57 Auf der repräsentativen Ebene dokumentierten die Transsibirische und Ostchinesische Eisenbahn noch vor ihrer Fertigstellung den imperialen Anspruch Russlands: So präsentierte sich das zarische Russland auf der Weltausstellung 1900 in Paris mit einer aufwändigen Installation aus originalen Eisenbahnwaggons, aus deren Fenster die Besucher auf ein aus einer eintau 57
Vgl. Urbansky: Kolonialer Wettstreit (wie Anm. 3), S. 46–47.
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send Meter langen Landwand bestehendes bewegtes Panorama mit Landschaften und Städten von Moskau bis Peking blicken konnten.58 Es bleibt zu ergänzen, dass zu diesem Zeitpunkt nur die Teilstrecke von Moskau bis ins mittelsibirische Irkutsk den Verkehr aufgenommen hatte. Mit der Inbetriebnahme der ostchinesischen Eisenbahn im Sommer 1903 und dem Aufbau eines modernen Nachrichten- und Kommunikationssystems – 1903 begannen die russischen Behörden zunächst entlang der Eisbahntrassen Postämter mit Telegraphen- und Fernsprecherbetrieb einzurichten –59 gewannen Vernetzungsszenarien und Globalisierungsprozesse aller Art in der Mandschurei rasch an Dynamik. Bereits der auf dem Territorium der Mandschurei und Koreas sowie im Pazifik ausgefochtene Russisch-Japanische Krieg von 1904/05 zeigte mit Blick auf die interkontinentalen Truppenbewegungen, den weltumspannenden Nachrichtentransfer, seine mediale Präsenz oder die grenzüberschreitenden Auswirkungen im Bereich von Wirtschaft und Politik eine globale Dimension.60 Tatsächlich machten sowohl die unter amerikanischer Vermittlung geführten komplexen Friedensverhandlungen als auch die Auswirkungen auf den internationalen Finanzmärkten die globalen Verflechtungen deutlich. Auch die eng mit den Ereignissen dieses Kriegs zusammenhängende russische Revolution von 1905 war in erheblichem Maß durch diverse Verflechtungszusammenhänge und transkulturelle Prozesse geprägt, wenn auch weniger auf einer globalen Ebene als vielmehr mit Blick auf Interaktionen zwischen Russland bzw. Europa und Asien.61 Am Beispiel der Mandschurei wird deutlich, welche Rolle Austauschbeziehungen zwischen Russland und Asien, etwa mit Blick auf den wechselseitigen Transfer von Menschen und Ideen, und die Vernetzung entlegener Räume im Kontext der Revolution von 1905 spielten. Wie eng die Entwicklungen im europäischen Russland und in der Mandschurei bereits kurze Zeit nach der Inbetriebnahme von transsibirischer und ostchinesischer Eisenbahn verflochten waren, zeigten die Ereignisse in Harbin. Obgleich Harbin jenseits der Grenzen des Russischen Reichs lag, wurde die russische Kolonie in der Mandschurei von Oktober 1905 bis Mitte 1907 zum 58
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Siehe Die grosse Sibirische Eisenbahn: Pariser Weltausstellung d.J. 1900, hrsg. von der Kanzlei des Ministercomitets, St. Petersburg 1900. Vgl. auch Eugen Zabel: Transsibirien. Mit der Bahn durch Russland und China 1903 (hg. von Bodo Thöns), München 22008, S. 24–25. Vgl. dazu auch Claudia Weiss: Representing the Empire. The Meaning of Siberia for Russian Imperial Identity, in: Nationalities Papers 35 (2007), Hf. 3, S. 439–456. Siehe Haerbin li shi bian nian (1763–1949) [Die Annalen Harbins (1763–1949)], Harbin 2000, S. 22. Auf den globalen Charakter des Russisch-Japanischen Kriegs verweisen verschiedene Beiträge in Bruce W. Menning u.a. (Hg): The Russo-Japanese War in Global Perspective. World War Zero, Leiden 2005 sowie in Maik Hendrik Sprotte / Wolfgang Seifert / Heinz-Dietrich Löwe (Hg.): Der Russisch-Japanische Krieg 1904/05. Anbruch einer neuen Zeit? Wiesbaden 2007. Vgl. dazu Felicitas Fischer von Weikersthal u.a. (Hg): The Russian Revolution of 1905 in Transcultural Perspective: Identities, Peripheries, and the Flow of Ideas, Bloomington (IN) 2013.
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Schauplatz revolutionärer Ereignisse.62 Die politischen Unruhen hatten Harbin mit einigen Monaten Verspätung nach dem Beginn der ersten russischen Revolution infolge des sogenannten Blutsonntags in St. Petersburg im Januar 1905 gewissermaßen aus zwei verschiedenen Richtungen erreicht: Als Stützpunkt der russischen Truppen in der Mandschurei wurde Harbin nach der Niederlage im RussischJapanischen Krieg in der zweiten Jahreshälfte 1905 von Zehntausenden demobilisierter Soldaten und Reservisten überschwemmt, die in Harbin ungeduldig auf ihre Heimkehr nach Russland warteten. Die unzufriedenen, vielfach meuternden Soldaten schufen eine revolutionäre Grundstimmung in der Stadt. Die andere wichtige Gruppe von Akteuren waren die Harbiner Eisenbahnarbeiter und angestellten, die sich zumindest teilweise und temporär der Streikbewegung ihrer Kollegen entlang der Transsibirischen Eisenbahn anschlossen. In dem Spannungsfeld divergierender Interessen von meuternden Soldaten und Eisenbahnern wurde Harbin von dem Sog der Revolution von 1905 erfasst. Neben den politischen Interaktionen waren die vielfältigen Verflechtungen zwischen Russland und Asien in der Mandschurei vor allem im Bereich von Handels- und Finanzströmen zwischen verschiedenen Staaten, Institutionen oder Unternehmen wirksam. Generell lässt sich auch mit Blick auf die Mandschurei in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Jürgen Osterhammel beipflichten, der in Anlehnung an Nicholas Thomas die Begegnung zwischen Europa und Asien im 18. Jahrhundert auch als „eine der wechselseitigen Aneignung von Waren und Objekten“ versteht.63 Die Kulturgeschichte des Tees steht exemplarisch für dieses Phänomen. Mit Blick auf die Mandschurei um 1900 soll an dieser Stelle der Verweis auf eine Pflanze und die aus ihr gewonnenen Produkte genügen, die wie kein anderes Objekt mit der Region in Verbindung gebracht wurde und sich ohne weiteres im Sinne von Nicholas Thomas als entangled object64 bezeichnen lässt: die Sojapflanze. Die in Ostasien beheimatete Pflanze wird seit Jahrhunderten in der Mandschurei kultiviert und stellt einen wichtigen Lieferanten für diverse eiweißhaltige Nahrungsmittel dar. Die wichtigsten aus der Hülsenfrucht hergestellten Lebensmittel sind Sojamilch, Tofu, Tempeh, Sojasauce und Miso sowie Sojaöl und -mehl. Diese Produkte prägten seit Hunderten von Jahren die Kultur verschiedener Länder Ostasiens; im Westen blieb Soja bis zur Jahrhundertwende weitgehend unbekannt. Zwischen 1900 und 1950 schließlich eroberte die „Wunderbohne“ den Westen und stieg nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund ihrer vielfältigen Einsatzmöglichkeiten als Nahrungsmittel, Tierfutter, Düngemittel und ihrer Bedeutung für die Herstellung industriell gefertigter Produkte wie Margari 62
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Frank Grüner: The Russian Revolution of 1905 on the Periphery. The Case of the Manchurian City of Harbin, in: Fischer von Weikersthal u.a. (Hg): The Russian Revolution of 1905 (wie Anm. 61), S. 175–196. Siehe Jürgen Osterhammel: Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 1998, S. 65. Siehe dazu Nicholas Thomas: Entangled Objects: Exchange, Material Culture, and Colonialism in the Pacific. Cambridge, Mass. u.a. 1991.
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ne, Seifen, Schmierstoffe, Kerzen, Farben etc. zum wichtigsten landwirtschaftlichen Produkt der USA auf.65 In den 1950er Jahren übertraf die USA sogar China als weltweit größter Produzent von Soja; ironischerweise wurde ein großer Teil dieser Produktion nach Asien exportiert.66 Heutzutage ist Südamerika, vor allem die Staaten Argentinien und Brasilien, weltweit führend im Sojaanbau. Doch bevor die Sojabohne dergestalt die amerikanische Landwirtschaft und den Weltmarkt revolutionierte, war sie für einige Jahrzehnte das wichtigste landwirtschaftliche Produkt und Handelsgut der Mandschurei.67 Um 1920 machten Sojabohnen – als Rohware, Öl und Sojakuchen – knapp die Hälfte des gesamten Exportwertes der Mandschurei aus und trugen wie kein zweites Produkt zum Wohlstand der Region bei.68 Um 1930 produzierte die Mandschurei zwei Drittel aller Sojaerzeugnisse weltweit.69 Japaner, Europäer, Russen bzw. die Sowjetunion und Amerikaner waren die größten Abnehmer der Ware und zum Teil erheblich in Anbau, Verarbeitung, Transport und Handel von Soja in der Mandschurei involviert. Die Eisenbahn hatte die notwendigen Voraussetzungen für den Transport des „weißen Golds der Mandschurei“ zu den großen Häfen am Pazifik und den Aufstieg der Region zum weltweit größten Produzenten von Soja geschaffen. Ob als Pflanze, Nahrungsmittel oder cash crop war Soja über den Interaktionsraum Mandschurei zu einem globalen Produkt geworden, das die Begehrlichkeiten und Rivalitäten verschiedener Großmächte um den Markt Mandschurei weiter verschärfte. Andere Waren, die aus der Mandschurei exportiert wurden, waren Weizen, Kaoliang (auch Sorghum; eine asiatische Hirseart), Mais, verschiedene Ölsaaten und Öle, Bohnen, Rohseide und Seidenprodukte, Felle und Lederwaren, Kohle und Koks, (Bau-)Holz, Metalle und Metallwaren und eine Reihe weiterer mehr.70 Auch ihr Exportwert stieg beständig an, doch erreichte keine Ware die Bedeutung von Soja. Anders als in typisch kolonialen Kontexten wurden aber nicht nur Rohware zur Weiterverarbeitung, sondern auch bereits in der Mandschurei verarbeitete Waren in andere Teile Chinas und ins Ausland exportiert. Die Weiterverarbeitung landwirtschaftlicher Produkte, vor allem von Soja und Weizen, sowie anderer Rohstoffe wie Eisenerz, Holz oder Seide war in der Mandschurei neben dem 65
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Siehe dazu Ines Prodöhl: „A Miracle Bean“: How Soy Conquered the West, 1909–1950, in: Bulletin of the German Historical Institute 46 (2010), S. 111–129; dies.: Dynamiken globaler Vernetzung: Mandschurische Sojabohnen auf dem Weltmarkt, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 61 (2013), Hf. 2, S. 75–89; dies: Versatile and Cheap: A Global History of Soy in the First Half of the Twentieth Century, in: Journal of Global History 8 (2013), Hf. 3, S. 461–482. Prodöhl: „A Miracle Bean“ (wie Anm. 65), S. 128. David Wolff: Bean There. Toward a Soy-Based History of Northeast Asia, in: The South Atlantic Quarterly 99 (2000), Hf. 1, S. 241–252. Economic History of Manchuria (wie Anm. 48), S. 137–138. Soya Beans, in: Memorandum (Institute of Pacific Relations, American Council) 1 (1932), Hf. 7, S. 1–3. Economic History of Manchuria (wie Anm. 48), S. 216–217; The Bank of Chosen (Hg.): Economic Outlines of Chosen and Manchuria, Seoul 1918, S. 29.
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Handel ein lukratives Geschäft, an dem zahlreiche chinesische, russische, japanische, amerikanische und weitere ausländische Unternehmen und Geschäftsleute beteiligt waren.71 Noch gewinnträchtiger war für ausländische Unternehmen der Handel mit in die Mandschurei importierten Waren. Zu den wichtigsten, im Jahr 1915 in die Mandschurei eingeführten Waren gehörten Baumwollgarn und -stoffe sowie Trikotage, Zucker, Erdöl und Benzin, Wein und Spirituosen, Streichhölzer und Weizenmehl.72 Darüber hinaus boomte seit den zwanziger Jahren der Handel mit Maschinen, Kraftfahrzeugen sowie Konsum- und Luxuswaren aller Art. Die vielfältigen ökonomischen Verflechtungen der Mandschurei weltweit zeigten sich auch im Bereich der Währungen. Mit den Menschen und Waren kamen nicht nur erhebliche Geldmengen, sondern auch neue Zahlungsmittel in die Region. Zu den zahlreichen in China bereits verbreiteten Währungen wie dem Tael, dem Silber-Yuan, dem Spanischen und vor allem Mexikanischen Silberdollar, dem Hongkong Dollar sowie diversen regionalen und lokalen Zahlungsmitteln fanden seit dem Bau der Eisenbahn auch der russische Rubel, vor allem der Silberrubel, und der japanische Yen rasch Verbreitung.73 In der nördlichen Mandschurei war der russische Rubel für etwa zwei Jahrzehnte bis in die Zeit des russischen Bürgerkriegs die wichtigste Währung: So wurden die Gehälter der Angestellten und Arbeiter des größten Arbeitgebers der Region, der Ostchinesischen Eisenbahngesellschaft, in Rubel ausbezahlt und große Teile des regionalen und lokalen Handels wurden mit dem russischen Zahlungsmittel abgewickelt. Eine vergleichbare Bedeutung hatte der japanische Yen in der südlichen Mandschurei und in den dreißiger Jahren in Mandschukuo, wo die nationale Währung des Mandschukuo-Yuan an den japanischen Yen gebunden war. Die kaum überschaubare Menge regionaler, nationaler und internationaler Währungen, die vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1930er Jahre parallel in der Mandschurei kursierten, spiegelten die kulturelle Vielgestaltigkeit der Region und den internationalen Einfluss im Nordosten Chinas wider. Ein besonders prägnantes Beispiel für mannigfaltige globale Verflechtungen und kulturelle Interaktionen zwischen Asien und Russland bietet die Stadt Harbin, die sich gegenüber den anderen urbanen Zentren der Region durch ein besonderes Maß an multikultureller Vielfalt hervorhob.
71 72 73
Economic History of Manchuria (wie Anm. 48), S. 177–203. Economic Outlines of Chosen and Manchuria (wie Anm. 70), S. 29. Rossijskij Gosudarstvennyj Istoričeskij Archiv (RGIA), fond (f.) 323, opis’ (op.) 1, delo (d.) 1109, list’ja (ll.) 25–26 (Bericht über die in Mandschurei gängigen Währungen und Zahlungsmittel). Vgl. auch North Manchuria and the Chinese Eastern Railway, Harbin 1927 (reprint New York 1981), S. 324; The Manchuria Year Book 1931, S. 230–235, 253–269.
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III. HARBIN: VON RUSSISCHER KOLONIE ZU KOSMOPOLITISCHER STADT Mit den Worten eines russischen Reiseführers aus dem Jahr 1925 war Harbin ein „zentral gelegener Ort am Schnittpunkt der Verbindungen zwischen dem Osten [im Sinne von „Ferner Osten“ oder geographisch von Nordostasien], Sibirien und Europa.“ 74 Als Gründungsdatum von Harbin gilt gemeinhin, vor allem in der russischen und westlichen Historiographie, das Jahr 1898, als die russische Ostchinesische Eisenbahn diesen Ort für die Errichtung ihres Hauptsitzes und zentralen Depots bestimmt hatte.75 Unumstritten ist diese Datierung nicht, da insbesondere chinesische Historiker auf die jahrhundertealte Besiedlung der Region verweisen.76 Eine urbane Ansiedlung vor dem Beginn des Baus der Ostchinesischen Eisenbahn lässt sich indes nicht überzeugend nachweisen. Bis 1898 war der Ort, der später zu Harbin wurde, ein Fischerdorf am Sungari (chin. Songhua Jiang), einem Nebenstrom des chinesisch-russischen Grenzflusses Amur (chin. Heilong Jiang). Mit dem Eisenbahnbau entwickelte sich die Siedlung am Sungari, wie sie zunächst hieß, aufgrund ihrer Bedeutung für die ostchinesische Eisenbahn und als Garnison für die russischen Truppen im Fernen Osten in nur wenigen Jahren zu einer russisch geprägten Stadt.77 Aufgrund der ökonomisch günstigen Perspektiven und der semi-kolonialen Sonderstellung der Stadt jenseits der Grenzen des Russischen Reichs siedelten sich schnell Gruppierungen an, die im autokratischen Russland nicht gerne gesehen wurden. Dies galt nicht nur für benachteiligte oder diskriminierte ethnische und religiöse Minderheiten, wie etwa Juden, Polen oder deutsche Mennoniten. Harbin zog auch soziale Gruppen an, die in der Wahrnehmung des zarischen Regimes die bestehende Ordnung des Reichs bedrohten, wie etwa Kapitalisten (insbesondere diejenigen jüdischer Abkunft), Wissenschaftler, Liberale und Revolutionäre. Mit den Worten David Wolffs stellte Harbin für diese Personengruppen eine „liberale Alternative in der russischen Mandschurei“ dar.78 Neben Russen und Angehörigen verschiedener anderer Nationalitäten aus dem Russischen Reich zählten bereits in dieser frühen Phase auch Chinesen, vornehmlich Kontraktarbeiter aus dem chinesischen Kernland, und die in der Region ansässigen Mandschu zur multikulturellen Einwohnerschaft Harbins. Die Zuwanderung von Migranten aus Russland, vor allem während des Russischen Bürgerkriegs (1917–1920), und aus China wuchs in den folgenden Jahren dramatisch an und machte Harbin zu einer boomenden Stadt, die sich mit Blick 74 75 76 77 78
K. A. Poljuchov-Morozenko (Hg.): Putevoditel’ po Dal’nemu Vostoku, Harbin 1925, S. 17. Bakich: A Russian City in China (wie Anm. 9), S. 131–132; Quested: „Matey“ Imperialists (wie Anm. 3), S. 32. Vgl. eine Zusammenfassung dieser historiographischen Kontroverse in: Clausen / Thøgersen (Hg.): The Making of a Chinese City (wie Anm. 16), S. 3–21. Bakich: A Russian City in China (wie Anm. 9), S. 129–148. Das ist der Untertitel und die zentrale These von Wolff: To the Harbin Station (wie Anm. 3).
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auf die Geschwindigkeit ihres Wachstums mit Sankt Petersburg oder San Francisco während des Goldrauschs vergleichen lässt.79 Um die Jahrhundertwende, also zwei Jahre nach seiner Gründung, zählte Harbin rund 13.000 Einwohner.80 Im Jahr 1903 hatte Harbin bereits etwa 50.000 bis 60.000 Einwohner, 1912 waren es über 75.000, darunter etwa 39.000 Russen bzw. Auswanderer aus dem Russischen Reich, 35.000 Chinesen sowie 936 Japaner und etwa 600 Personen anderer Nationalitäten wie Franzosen, Deutsche, Österreicher, Türken und Griechen.81 Um das Jahr 1915 betrug die Einwohnerzahl Harbins bereits 110.000, in den zwanziger Jahren stieg sie auf über 200.000 und um 1930 lag sie bei 300.000. Trotz der massiven Zuwanderungswelle aus Russland in Folge des Bürgerkriegs stieg der Anteil der chinesischer Bevölkerung in Harbin noch rascher an. Im Jahr 1923 stellten offiziellen Statistiken der Stadtverwaltung zufolge die 64.498 Chinesen die Mehrheit der insgesamt 126.952 Einwohner Harbins.82 In der Mandschukuo-Periode wuchs die Einwohnerzahl Harbins – auch aufgrund der Eingemeindung der benachbarten, auf Stadtgröße angewachsenen chinesischen Siedlung Fujiadian – von 418.000 Menschen nach dem Stand der Volkszählung vom August 1933 auf 457.980 Menschen im Jahr 1937.83 Unter den 1933 gezählten 418.000 Einwohnern Harbins befanden sich nach der in Mandschukuo gängigen Zählweise 350.000 „Mandschukuo-Leute“, d.h. im Wesentlichen Chinesen, 29.000 Russen der weißen Emigration, 25.000 Sowjetbürger, 13.000 Japaner und 1.000 Menschen anderer Nationalitäten. Die politische wie ökonomische Bedeutung der Stadt am Sungari wurde bereits wenige Jahre nach ihrer Gründung deutlich.84 Die Auseinandersetzungen um die Vorherrschaft Harbins spiegeln die oben skizzierten internationalen Mächterivalitäten und Entwicklungen in der Mandschurei auf lokaler Ebene deutlich wider. Von 1900, als die Stadt wie zahlreiche andere Orte der Region im Kontext des Boxer-Aufstands vom russischen Militär de facto besetzt wurde, bis zum Ende des Russisch-Japanischen Kriegs stand Harbin unter direkter russischer Herrschaft.85 Mit der Niederlage im Krieg gegen Japan und dem Abzug der russischen Truppen aus der Mandschurei wurde die Ostchinesische Eisenbahngesellschaft die in politisch-administrativer wie ökonomischer Hinsicht bestimmende Kraft in Harbin. Sie übte in vielen Bereichen Hoheitsfunktionen aus, z.B. bei der Besteue 79 80 81
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Vgl. Simon Karlinsky: Memoirs of Harbin, in: Slavic Review 48 (1989), Hf. 2, S. 284–290. Siehe Bakich: A Russian City in China (wie Anm. 9), S. 141. Ebd., S. 141–143. Siehe dazu US National Archives: Consular Posts: Harbin, Manchuria, China. Volume 008: Dispatches Sent to the Department of State. Volume IV: 1912, S. 59 (Reports on Commerce and Industries, 1911, Foreign Population in Harbin, January 1, 1912). N.M. Dobrochotov: Sputnik kommersanta. Ežegodnik, Harbin 1926, S. 24. Bakich: Charbin: „Rußland jenseits der Grenzen“ in Fernost (wie Anm. 18), S. 305; Bureau of Information Manchukuo State Council: An Outline of the Manchukuo Empire, 1939, Dairen 1939, S. 25–28. Vgl. dazu auch John Wesley Coulter: Harbin. Strategic City on the „Pioneer Fringe“, in: Pacific Affairs 5 (1932), Hf. 11, S. 967–972. Vgl. Clausen / Thøgersen (Hg.): The Making of a Chinese City (wie Anm. 16), S. 24–33.
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rung, Rechtssprechung oder Polizei- und Militärgewalt. Insbesondere mit Blick auf die Errichtung einer russischen Stadtverwaltung unter der Führung der Ostchinesischen Eisenbahn im April 1908 und die Besteuerung der Harbiner Bürger übten sowohl die chinesischen Autoritäten als auch die Vertreter anderer Staaten, allen voran der USA, wiederholt massive Kritik am Vorgehen der russischen Behörden, das sie durch den Pachtvertrag von 1896 nicht gedeckt sahen.86 Dieser Zustand einer kolonialen oder semi-kolonialen russischen Herrschaft in der Eisenbahnzone bestand im Wesentlichen bis 1917 fort, doch begann sich die Stadt nach 1905 stärker für Siedler, Investitionen und Handelsaktivitäten aus aller Welt zu öffnen.87 Zahlreiche Industrie- und Handelsunternehmen sowie Banken und Dienstleistungsbetriebe siedelten sich in Harbin an, 1907 wurden eine Börse und Handelskammer eröffnet und eine Reihe von Staaten richteten Konsulate ein. Eine moderne Infrastruktur entstand und um 1910 begann Harbins rasanter Aufstieg zum kommerziellen Zentrum und größten Handelsplatz der nördlichen Mandschurei.88 So verdreifachte sich allein zwischen 1908 und 1911 das Handelsvolumen mit den russischen Grenzregionen im Amur-Gebiet und Ostsibirien.89 Und insgesamt verdoppelte sich das Handelsvolumen von Harbin in den Jahren von 1908 bis 1914.90 Für den ökonomischen Aufstieg Harbins spielten sowohl die lokalen und regionalen als auch zunehmend internationalen Handelsaktivitäten eine wichtige Rolle, allen voran der boomende Handel mit Soja und Weizen. Von den dynamischen Entwicklungen der Handelsaktivitäten profitierten auch Industrie und Landwirtschaft in und um Harbin. Die Mehrheit der umsatzstärkeren Handelsunternehmen und Gewerbebetriebe in Harbin gehörte in dieser Phase zwar noch Russen, doch nahm der Anteil von Chinesen, Japanern, Amerikanern, Briten und Angehörigen anderer Nationalitäten in praktisch allen Bereichen des Handels stetig zu.91 Die politische Dominanz der Russen und die Monopolstellung der Ostchinesischen Eisenbahngesellschaft in der frühen Phase Harbins verdeckten, wie fragil letztlich die Stellung der Russen in „ihrer“ Bastion Harbin bereits vor 1917 und 86
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Zu den Reaktionen auf die Ankündigung der Leitung der Ostchinesischen Eisenbahn, in Harbin eine städtische Selbstverwaltung einzurichten, siehe RGIA, f. 323, op. 1, d. 1007, ll. 3–7, 12–14. Zur Verwaltung von Harbin und der Eisenbahn-Zone in der Mandschurei vgl. auch Bakich: A Russian City in China (wie Anm. 9), S. 146–147; Tang: Russian and Soviet Policy in Manchuria (wie Anm. 3), S. 72–80. Clausen / Thøgersen (Hg.): The Making of a Chinese City (wie Anm. 16), S. 33–42. Siehe British Foreign Office (Hg.): Report for the Year 1911 on the Commercial Conditions in North Manchuria and the Trade of Harbin (No. 5035 Annual Series. Diplomatic and Consular Reports. China), London 1913, besonders S. 3–13; Quested: „Matey“ Imperialists (wie Anm. 3), S. 214; Wolff, To the Harbin Station (wie Anm. 3), S. 18. British Foreign Office: Report for the Year 1911 (wie Anm. 88), S. 5. Clausen / Thøgersen (Hg.): The Making of a Chinese City (wie Anm. 16), S. 38. British Foreign Office (Hg.): Report for the Year 1912 on the Trade of the Consular District of Harbin (No. 5123 Annual Series. Diplomatic and Consular Reports. China), London 1913, S. 5.
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dann besonders nach der Oktober-Revolution war. Die sich aus Chinesen, Russen, Japanern und zahlreichen anderen nationalen Gruppen zusammensetzende multiethnische Bevölkerung stellte bereits in den Jahren vor 1917 ein komplexes, dynamisches Gefüge dar, das spürbar auf Veränderungen der politischen Gesamtkonstellation in der Region reagierte.92 Unter den russischen Autoritäten in Harbin waren sich bis etwa 1920 nur sehr wenige Personen dieser Tatsache bewusst. Stimmen, die wie ein russischer Abgeordneter der Harbiner Stadtverwaltung auf einer Sitzung des Gremiums Anfang 1918 öffentlich erklärten, Harbin sei weder eine russische noch europäische, sondern eine chinesische Stadt, bildeten zu diesem Zeitpunkt noch eine Ausnahmeerscheinung.93 Tatsächlich begannen die Russen auch in Harbin in Folge von Revolution und Bürgerkrieg rasch an Einfluss zu verlieren. Während sich in den folgenden Jahren die Stadt in wirtschaftlicher Hinsicht weiter für den internationalen Handel öffnete und Globalisierungsprozesse an Dynamik gewannen, begannen die Chinesen mit Erfolg nach größerer politischer Souveränität zu streben.94 Im Laufe der 1920er Jahre verloren die Russen das Monopol der Herrschaft über Harbin. Die Chinesen begannen leitende Funktionen in der Verwaltung und den Betrieben der Ostchinesischen Eisenbahn sowie der Stadtverwaltung zu übernehmen, auch wenn sie in führenden Positionen noch über Jahre in der Minderheit blieben.95 Im wirtschaftlichen und kulturellen Leben der Stadt war die Zeitenwende aber deutlich zu spüren, die sich nicht zuletzt in einem wachsenden nationalen Selbstbewusstsein und Nationalismus der Chinesen artikulierte. In diesem Kontext ist es bemerkenswert, dass sich die Äußerungen des chinesischen Nationalismus in Harbin zunächst nicht dezidiert gegen die Präsenz der ausländischen Mächte wandten, sondern in einer entschiedenen, aber durchaus kooperativen Weise auf eine Herstellung chinesischer Souveränität hinwirkten.96 Auch wenn sich der Ton der chinesischen Eliten in Harbin gegenüber den Ausländern aus verschiedenen Gründen nach 1920 verschärfte, bleibt doch festzustellen, dass ein erheblicher Teil der chinesischen Bevölkerung Harbins mit dem kosmopolitischen Charakter der Stadt durchaus einverstanden war bzw. deren multikulturelle Realität akzeptierte. Insbesondere die kulturellen Austauschbeziehungen zwischen Chinesen und Russen im Harbiner Alltag hatten trotz zahlreicher Missverständnisse und Konflikte ein Fundament geschaffen, das sich zumindest jenseits der großen Politik als tragfähig erwies. Harbin wurde aber auch unter den veränderten politischen Verhältnissen keine chinesische Stadt, ebenso wenig wie es vor 1918 eine russische gewesen war. In 92 93 94 95 96
Vgl. dazu James H. Carter: Creating a Chinese Harbin. Nationalism in an International City, 1916–1932, Ithaca / London 2002, S. 68. Vestnik Man’čžurii, 4.(17.)1.1918. Vgl. Carter: Creating a Chinese Harbin (wie Anm. 92), S. 92–125. Carter: Creating a Chinese Harbin (wie Anm. 92), S. 96–98; Chiasson: Administering the Colonizer (wie Anm. 3), S. 56–119. See James Carter: Struggle for the Soul of a City: Nationalism, Imperialism, and Racial Tension in 1920s Harbin, in: Modern China 27 (2001), Hf. 1, S. 91–116.
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der Zuspitzung der internationalen Politik klang das freilich dramatischer, wenn die amerikanische Reiseautorin Olive Gilbreath 1929 Harbin als die einzige „weiße Stadt in der Welt unter gelber Herrschaft“ bezeichnete.97 Für die Russen, die bereits 1920 ihren privilegierten Sonderstatus in der Eisenbahnzone eingebüsst hatten, begannen sich die Verhältnisse in Harbin im Laufe der 1920er Jahre zweifelsohne zu verändern und in mancher Hinsicht auch zu verkomplizieren, was aber keineswegs nur auf das schwierige Verhältnis zu den chinesischen Autoritäten zurückzuführen war. Wie kaum ein zweiter Ort wurde Harbin nach dem Ende des Bürgerkriegs zu einem Zufluchtsort der antibolschewistischen weißen Bewegung, die der Stadt in den folgenden Jahren politisch wie kulturell ihren Stempel aufdrückte.98 Die zum Teil hoch qualifizierten weißen Emigranten, die zu Tausenden während der Bürgerkriegsjahre nach Harbin strömten, trugen maßgeblich zur wirtschaftlichen und kulturellen Blüte Harbins in den zwanziger Jahren bei.99 Ihr Sachverstand im Bereich der Wirtschaft, des Eisenbahnwesens, der Verwaltung oder auf juristischem Gebiet war auf chinesischer Seite grundsätzlich willkommen, aber ihre politische Haltung erschwerte das Verhältnis zum Sowjetregime, das seit 1924 gemeinsam mit China die Geschicke der Ostchinesischen Eisenbahn lenkte. Das führte in nur wenigen Jahren zu erheblichen politischen Konflikten zwischen Harbin und Moskau, aber auch zu einer Spaltung innerhalb der russischen Gemeinde von Harbin. Aus den sowjetisch-chinesischen Auseinandersetzungen im Jahr 1929 ging das Sowjetregime zwar als Gewinner hervor, doch konnte es der japanischen Besatzung der Mandschurei und damit auch Harbins im März 1932 wenig entgegensetzen. Als Harbin 1932 schließlich Teil des japanischen Marionettenstaates Mandschukuo wurde, begannen sich die Stadt und die Beziehungen zwischen ihren Bevölkerungsgruppen durch die Auswirkungen der japanischen Besatzungspolitik erneut zu verändern. Wenn insgesamt auch der einzigartige internationale und multikulturelle Charakter Harbins erhalten blieb, wurden doch die Aktivitäten bestimmter Bevölkerungsgruppen durch die zunehmende Kontrolle der Besatzer, durch die von ihnen verfügten Einschränkungen und Schikanen erschwert. Vor allem für den chinesischen Bevölkerungsteil waren die Auswirkungen der japanischen Herrschaft besonders negativ, was auch nicht ohne Folgen auf die alltäglichen Kontakte zwischen Chinesen und Japanern bleiben konnte. Inwieweit von den politischen Entwicklungen etwa auch die wechselseitigen Beziehungen von Japanern und Juden betroffen waren, ist eine umstrittene Frage. Erschwerte sich für einige Bevölkerungsgruppen das Leben unter der japanischen Herrschaft, pro 97 98
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Olive Gilbreath: Where Yellow Rules White, in: Harper’s Monthly Magazine, Februar (1929), S. 367–374, hier S. 367. Ablova: KVŽD i rossijskaja ėmigracija v Kitae (wie Anm. 3), S. 120–144; Bakich: Charbin: „Rußland jenseits der Grenzen“ in Fernost (wie Anm. 18), S. 304–328; Georgij V. Melichov: Belyj Charbin: Seredina 20-ch, Moskau 2003; ders.: Rossijskaja ėmigracija v meždunarodnych otnošenijach na Dal’nem Vostoke, 1925–1931, Moskau 2007, S. 201–214, 218–232. Vgl. Stolberg: Sibirien (wie Anm. 37), S. 218–219.
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fitierten auf der anderen Seite wiederum auch wieder bestimmte gesellschaftliche Gruppen und Institutionen von den neuen politischen Verhältnissen, darunter nicht nur faschistische Gruppierungen, sondern etwa auch diverse christliche Vereine und Hilfsorganisationen. Doch auch mit Blick auf die japanische Herrschaft in Mandschukuo dürfen die Auswirkungen auf das Verhältnis von herrschendem Regime und städtischer Gesellschaft nicht als eindimensional interpretiert, sondern müssen auch hier als wechselseitige Prozesse mit höchst unterschiedlichen Auswirkungen für die jeweils betroffenen Bevölkerungsgruppen der Harbiner Stadtgesellschaft begriffen werden. Wie Prasenjit Duara in seiner einschlägigen Monographie bemerkt, sah sich auch das nationalistische Mandschukuo-Regime zu beträchtlichen Anpassungen an die bestehenden multikulturellen, transnationalen Realitäten genötigt.100 Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Harbin 1945 vollzog sich nochmals eine politische Kehrtwendung, mit der sich das Ende des multikulturellen Harbins der Vorkriegszeit allmählich abzuzeichnen begann. Unter den neuen politischen Verhältnissen veränderten sich der politische und rechtliche Status, die wechselseitigen Beziehungen und damit wohl auch die Fremd- und Eigenwahrnehmung der verschiedenen Gemeinschaften und sozialen Gruppen der Harbiner Bevölkerung noch einmal. Auch der Harbiner Alltag wurde für kurze Zeit von der Präsenz der sowjetischen Truppen, nicht zuletzt von dem hohen Maß an Frustration und Gewaltbereitschaft der in der Stadt stationierten Soldaten, bestimmt. Vor allem Japaner, Deutsche und Juden gehörten in dieser Phase zu den leidtragenden Bevölkerungsgruppen; aber auch für die chinesische Bevölkerung erfüllten sich die Hoffnungen, die sie an das Ende der japanischen Herrschaft geknüpft hatten, nicht. Mit der schleichenden Machtübernahme des Territoriums durch das kommunistische China und der Inkorporierung Harbins und der Region in die Volksrepublik im Jahre 1949 verließ der größte Teil der ausländischen Bevölkerung die Stadt. Harbin als multikulturelle, transnationale, globale Stadt wurde nunmehr zum Gegenstand der verschiedenen Erinnerungskulturen in Ost und West.101
100 Prasenjit Duara: Sovereignty and Authenticity. Manchukuo and the East Asian Modern, Lanham u.a. 2004, S. 90. 101 Siehe dazu James Carter: The Future of Harbin’s Past, in: Itinerario 35 (2011), Hf. 3, S. 73– 85; Thomas Lahusen: Remembering China, Imagining Israel: The Memory of Difference, in: The South Atlantic Quarterly 99 (2000), Hf. 1, S. 253–268.
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Stadtplan von Harbin und Fujiadian, 1923. Quelle: The Shkurkin Far East Archive (Private Collection), San Pablo, USA.
Versucht man nun insgesamt das Spezifische Harbins zu fassen, so sind es vor allem zwei Merkmale, die hier zentral erscheinen: zum einen der Grenzcharakter von Stadt und Region und zum zweiten der kosmopolitische Charakter der Stadt, der sich im Wesentlichen als Resultat diverser globaler Verflechtungen und kultu-
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reller Austauschprozesse beschreiben lässt. Dies sei kurz erläutert: Obwohl etwa 500 km von der chinesisch-russischen Grenze entfernt gelegen, lässt sich Harbin gleichwohl als Grenzstadt verstehen. Dies gilt vor allem mit Blick auf seine multiethnische Bevölkerung und die zahlreichen kulturellen Lebensstile, insbesondere diejenigen der russisch-europäischen, chinesischen und japanischen Bevölkerungsgruppen, die hier aufeinandertrafen und die Stadt in besonderem Maß prägten. Aber nicht nur in Bezug auf die ethnische und kulturelle Diversität, sondern auch in politisch-administrativer Hinsicht, etwa bezüglich der konkurrierenden Ansprüche, wechselnden Zuständigkeiten und sich überschneidenden Kompetenzen der beteiligten Regimes und der Eisenbahngesellschaft, nahm Harbin eine Grenzstellung ein.102 Diese vielschichtige Grenzsituation zeigte sich auf lokaler Ebene mit Blick auf die in unmittelbarer Nachbarschaft zu Harbin gelegene, nur durch die Eisenbahngleise getrennte chinesische Siedlung Fujiadian.103 Diese Siedlung in Fußweite Harbins diente seit der Gründung Harbins einer steigenden Zahl von Chinesen, die zunächst vor allem in Harbin beschäftigt waren, als Wohnstätte und wuchs schnell auf Stadtgröße an. Bis 1932 war Fujiadian chinesisch verwaltet und wurde erst unter japanischer Herrschaft in dem neu gegründeten Staat Mandschukuo offiziell Teil der Stadt Harbin. Diese unmittelbare Grenzsituation zwischen faktisch zwei Stadtteilen mit unterschiedlicher Verwaltung und differierenden Rechtssystemen wurde im „normalen“ Alltag kaum mehr als solche wahrgenommen, konnte aber in Krisensituation wie während der Pestepidemie 1910/11 sehr deutlich in den Vordergrund treten.104 Was den kosmopolitischen Charakter Harbins betrifft, so bestand dieser vor allem in der Multiethnizität und kulturalität seiner Einwohner und der umfassenden Verflechtungen in alle Welt. Der Höhepunkt multikulturellen Lebens war in den zwanziger Jahren erreicht, als mehr als fünfzig Nationalitäten in Harbin vertreten waren. Bereits wenige Jahre nach der Gründung Harbins verfügten die zahlenmäßig größeren Bevölkerungsgruppen, die aus dem Zarenreich in die Mandschurei eingewandert waren, vor allem Russen, Juden, Polen und Ukrainer über eigene soziokulturelle Netzwerke.105 Viele Gemeinschaften unterhielten eigene Schulen und weitere Bildungsinstitute, wirtschaftliche Verbände und Organisationen, soziale Einrichtungen, religiöse Gemeinden, andere gesellschaftliche und politische Institutionen, darunter 102 Vgl. dazu auch Stolberg: Sibirien (wie Anm. 37), S. 214–215. 103 Einen kurzen Abriss der Geschichte von Harbin und Fujiadian und ihrer quasi symbiotischen Beziehung zueinander siehe in: K. Očeretina (Hg.): Charbin-Fuczjadjan’. TorgovoPromyšlennyj Železnodorožnyj Spravočnik. Harbin 1925, S. 29–38. 104 Die Tatsache, dass das chinesische Fujiadian in weit dramatischerem Ausmaß von der Pest betroffen war als die Harbiner Bevölkerung, führte vorübergehend zu dem Errichten einer Sperre zwischen Harbin und Fujiadian. Die russischen Autoritäten rechtfertigten diese Maßnahme, die die chinesische Bevölkerung von Fujiadian praktisch in ihrer Siedlung vorübergehend festsetzte, u.a. mit der Untätigkeit bzw. der Ineffizienz des Vorgehens der chinesischen Verantwortlichen in Fujiadian gegen die Pest. Siehe Izolacija Fudzjadjana, in: Charbinskij Vestnik, 17.(30.)11.1910; ebd., 18.11.(01.12.)1910. 105 Bakich: A Russian City in China (wie Anm. 9), S. 143.
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diverse Parteien, Vereine, Clubs und eigene Presseorgane sowie ein vielfältiges Kulturleben.106 Ähnliches galt für Chinesen, Japaner und Koreaner. Doch nicht allein die kulturelle Heterogenität machte Harbin zu einer kosmopolitischen Stadt, sondern die engen Austauschbeziehungen unter den diversen Bevölkerungsgruppen, „das Zusammenleben in kultureller Melange“, um einen Ausdruck Ulrich Becks zu gebrauchen.107 Verschiedene Zeitzeugen haben Harbin als melting pot charakterisiert.108 Dieser Bewertung schließt sich auch Joshua Fogel an, der mit Blick auf die japanische Bevölkerung in Harbin feststellt, dass diese in weit höherem Maß in die städtische Gesellschaft integriert gewesen sei als etwa in Shanghai.109 Während Bereiche wie Bildung oder Politik noch vielfach klassischen kulturellen und nationalen Mustern folgten und sich insbesondere die Eliten einer Bevölkerungsgruppe stärker von den jeweils „anderen“ Kulturen abgrenzten, wiesen andere Felder des städtischen Zusammenlebens wie insbesondere der Handel einen recht hohen Grad an Vernetzungsszenarien auf. Besonders der lokale Kleinhandel auf den Basaren und Straßen der Stadt war von umfassenden interkulturellen Kontakten und Austauschbeziehungen gekennzeichnet. Dazu gehörten zum Beispiel wechselseitige Aneignungsprozesse mit Blick auf den Handel und Konsum bestimmter Waren oder den Umgang mit „fremden“ Traditionen und kulturellen Gepflogenheiten, aber auch Formen gemeinsamen sozialen Engagements, wie die russisch-chinesische Kooperation in den Basar-Komitees oder der gemeinsame Protest und Streik von russischen und chinesischen Basar-Händlern gegen eine zu hohe Besteuerung durch die Stadtverwaltung zeigen.110 Abschließend soll noch auf einen anderen Bereich, den Opium-Handel, genauer eingegangen werden, da hier die transnationale und auch globale Dimension wirtschaftlicher Verflechtungen und kultureller Austauschbeziehungen in Harbin besonders deutlich wird. Der Handel und Schmuggel von Opium war ein weit verbreitetes Phänomen in der Mandschurei, das in der Regel von international operierenden Banden bzw. grenzüberschreitenden Netzwerken betrieben wurde. Vor allem der russisch-chinesische Schmuggel von Opium stellte für Harbin und das gesamte Territorium der Eisenbahnzone über Jahrzehnte hin ein fast allgegenwärtiges und letztlich kaum in den Griff zu bekommendes Problem dar. Die massenhafte illegale Einfuhr und der grenzüberschreitende Handel mit Opium in China, vor allem in den Konzessionsgebieten der westlichen Kolonialmächte, war nicht zuletzt aus der Zeit der sog. Opium-Kriege zwischen Großbritannien und 106 Ebd., S. 143–148. 107 Ulrich Beck: Der kosmpolitische Blick oder: Krieg ist Frieden, Frankfurt am Main 2004, S. 10. 108 G.K. Gins: Perspektivy goroda Harbina, in: Jubilejnyj sbornik Charbinskogo obščestva zemledel’cev i domovladel’cev, Harbin 1937, S. 42. 109 Joshua A. Fogel: Integrating into Chinese Society. A Comparison of the Japanese Communities of Shanghai and Harbin, in: Sharon A. Minichiello (Hg.): Japan’s Competing Modernities. Issues in Culture and Democracy, 1900–1930, Honolulu 1998, S. 45–69, hier S. 61. 110 Siehe Frank Grüner: In the Streets and Bazaars of Harbin. Marketers, Small Traders and Peddlers in a Changing Multicultural City, in: Itinerario 35 (2011), Hf. 3, S. 37–72.
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China (1839–42 und 1856–60) eine allgemein bekannte Erscheinung.111 Mit Blick auf den Opium-Handel in Nordchina und der Mandschurei spielte die Ostchinesische Eisenbahngesellschaft in mancher Hinsicht eine Rolle, die mit der der britischen Ostindien-Kompanie in den chinesischen Konzessionshäfen in der Mitte des 19. Jahrhunderts vergleichbar ist. Der entscheidende Unterschied lag allerdings darin, dass sowohl die Ostchinabahn als wirtschaftliches Unternehmen als auch die russische Regierung bzw. das Finanzministerium, unter deren direkter Leitung sie bis 1920 stand, offiziell den Handel mit Opium untersagten und phasenweise auch entschieden bekämpften. So erließ die für die Ziviladministration zuständige Leitung der Eisenbahngesellschaft unter Generalleutnant Afanas’ev am 5. (18.) Oktober 1911 und in leicht verschärfter Fassung am 24. Juni (7. Juli) 1914 zwei Verordnungen, die den Handel, die Aufbewahrung und den Transport von Opium, Morphium und anderen Narkotika auf dem Gebiet der Eisenbahnzone mit einer Geldbuße von bis zu 500 Rubeln oder mit Freiheitsentzug von bis zu drei Monaten unter Strafe stellten.112 Bereits 1910 hatte der Harbiner Polizeimeister von Arnol’d die „denkbar energischsten Maßnahmen zur Ausrottung des Opium-Konsums“ und ein entschiedenes Vorgehen der Polizei gegen das weit verbreitete gesellschaftliche Übel gefordert.113 Und tatsächlich war die (russische) Harbiner Polizei auf Initiative der Leitung der Ostchinabahn und der städtischen Autoritäten in den Jahren von 1910 bis 1911 konkret gegen den Drogen-Konsum in Harbin vorgegangen, wobei sie allein in dem Zeitraum von 12 Monaten 277 Opiumhöhlen aushob und 446 Opiumkonsumenten festnahm.114 Dass solche Maßnahmen im Kampf gegen den massiven Opium-Konsum in der Stadt nur den sprichwörtlichen Tropfen auf den heißen Stein darstellten, war den Harbiner Autoritäten sehr wohl bewusst. Das Engagement von Eisenbahngesellschaft und Stadtverwaltung gegen den Opium-Handel war dabei wohl nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass neben der chinesischen Bevölkerung auch zunehmend Russen in Harbin und anderen Orten der Eisenbahnzone in besorgniserregendem Umfang Opium und andere Drogen konsumierten, wie aus einem internen Bericht eines führenden Gremiums der Eisenbahngesellschaft klar hervorgeht.115 In der Praxis waren solche Bemühungen aber letztlich trotz regelmäßig aufgedeckter Schmuggel-Versuche wenig erfolgreich, da sich zeigte, dass der über 111 Siehe Samuel S. Mander: Our Opium Trade with China, London 1877. Vgl. auch Gregory Blue: Opium for China: The British Connection, in: Timothy Brook / Bob Tadashi Wakabayashi (Hg.): Opium Regimes: China, Britain, and Japan, 1839–1952, Berkeley u.a. 2000, S. 31–54; John Y. Wong: Deadly Dreams: Opium, Imperialism, and the Arrow War (1856– 1860) in China, Cambridge 1998. 112 RGIA, f. 323, op. 1, d. 597, l. 123 (Verpflichtende Verordnung Nr. 40 von Generalleutnant Afanas’ev, die Leitung der Ostchinesischen Eisenbahn, 24.06.1914). 113 Novaja Žizn’, 31.03.(13.04.)1910. 114 RGIA, f. 323, op. 1, d. 597, ll. 61–64 (Bericht Nr. 2393 des Wachtmeisters der Harbiner Polizei an die Leitung der Ostchinesischen Eisenbahn, Harbin, 20.04.1911). 115 RGIA, f. 323, op. 1, d. 597, ll. 122, 124 (Protokoll Nr. 80 des Treffens des Außerordentlichen Rates unter der Leitung der Ostchinesischen Eisenbahn, 18.06.1914).
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wältigende Großteil des Opium-Transports aus verschiedenen Ländern über Russland nach China über die Ostchinesische Eisenbahn abgewickelt wurde. Dies wäre ohne die Mitwirkung von einzelnen leitenden Mitarbeitern und zahlreichen kleineren Angestellten der Eisenbahn kaum möglich gewesen. So informierte das russische Außenministerium im Juni 1914 die Leitung der Ostchinesischen Eisenbahngesellschaft auf der Grundlage von offiziellen Informationen aus Peking darüber, dass von Vertretern der Eisenbahngesellschaft systematisch aus der Türkei und Persien stammendes Opium in mit Passagieren besetzten Schlafwagen von Westeuropa über Russland und die Mandschurei nach China geschmuggelt werde.116 Die ökonomischen und sozialen Auswirkungen des internationalen Handels mit Opium waren für Harbin, das sich rasch zum zentralen Umschlag- und Handelsplatz für die begehrte Ware in der nordostasiatischen Grenzregion entwickelte hatte, immens. Einem Artikel der russischsprachigen Harbiner Tageszeitung Zarja (Morgenröte) vom 31. August 1920 zufolge konzentrierten sich in Harbin die großen Opium-Unternehmen, ganze Vereinigungen und Gruppen von Menschen, die sich speziell mit dem Handel, Absatz und Transport der verbotenen Ware beschäftigten; um das Opium-Geschäft entstanden Aktiengesellschaften und Unternehmen mit einem Kapital von mehreren Zehntausenden Dollar, ferner ließ man spezielle Waggons mit allen nur erdenklichen Verstecken herstellen, um das illegal transportierte Opium zu verbergen.117 Allein in Harbin verdienten schätzungsweise nicht weniger als 1.000 Menschen mit dem Schmuggel, Transport und Handel von Opium ihr Geld.118 Mit Blick auf den Handel von Opium kamen im Falle Harbins gewissermaßen der genius loci und die umfangreichen Verflechtungen der Stadt auf regionaler und globaler Ebene zusammen. Die Lage Harbins als Eisenbahn-Knotenpunkt der Mandschurei, in dem hauptsächlich Chinesen, Russen und Japaner interagierten und mit wechselndem Erfolg um politischen und ökonomischen Einfluss rangen, sowie die administrativen und rechtlichen Kompetenzüberschneidungen und Leerstellen begünstigten die zentrale Stellung, welche die Stadt nur wenige Jahre nach ihrer Gründung im regionalen und internationalen Handel mit Opium einnahm. Da das Business für Schmuggler, Händler und Betreiber von OpiumHöhlen enorme Gewinne in Aussicht stellte, tummelte sich in diesem Bereich eine Vielzahl von Personen verschiedener Nationalitäten mit höchst unterschiedlichen sozialen Hintergründen und Biographien. Praktisch konnten von dem chinesischen und russischen Gelegenheits- und Kleinkriminellen, Abenteurern aller Art über professionelle Bandenbosse bis hin zu Grenzsoldaten, Eisenbahnschaffnern, Polizisten, leitenden Angestellten der Eisenbahngesellschaft und Diplomaten verschiedener Staaten Personen in diversen beruflichen Positionen und sozialen Stel 116 RGIA, f. 323, op. 1, d. 597, l. 103 (Note des russischen Außenministers an die Leitung der Ostchinesischen Eisenbahn, 09.06.1914). 117 Zarja, 31.08.1920. 118 Ebd.
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lungen auf unterschiedlichste Weise in kriminelle Aktivitäten um den OpiumSchmuggel und Handel involviert sein. Als Drahtzieher im russisch-chinesischen Opium-Schmuggel und Handel sah die einflussreiche Zeitung North China Daily News um 1914 vor allem russische Juden.119 Die Tatsache, dass sich unter den namentlich genannten Personen, die im Jahr 1913 von der Eisenbahn-Polizei des Opium-Schmuggels überführt wurden, eine Reihe typisch russisch-jüdischer Familiennamen wie Gol’dberg, Akkerman oder Aronov fanden, legt zumindest eine gewisse Beteiligung von russischen Bürgern mit jüdischer Herkunft im OpiumBusiness nahe.120 Generell spielten Juden als middlemen und broker in fast allen Bereichen des Handels zumindest bis Anfang der 1920er Jahre eine wichtige Rolle in Harbin.121 In den 1920er Jahren hatte der Schmuggel bzw. Handel mit Alkohol, Opium und anderen Drogen zunehmend in den Händen chinesischer Geschäftsleute gelegen, die aber auch schon in den Jahren zuvor eine wichtige Rolle gespielt haben dürften.122 Während der 1930er Jahre unter dem MandschukuoRegime besaßen dann die Japaner ein offizielles Monopol im Opium-Handel, aber auch Koreaner und Chinesen waren an den Geschäften beteiligt.123 Welche Figuren auch immer an der Spitze solcher kriminellen Organisationen oder mehr oder minder engen Interessensgruppen gestanden haben mögen, verschiedene Quellen lassen jedenfalls keinen Zweifel daran, dass der groß angelegte Handel mit Opium in der Regel von strategisch gut aufgestellten, transnationalen Netzwerken abgewickelt wurde, in denen eine größere Anzahl von Personen auf beiden Seiten der russisch-chinesischen Grenze involviert waren und miteinander kooperierten. Allein im Jahre 1913 deckte die Harbiner Polizei die illegalen Tätigkeiten von 484 Personen auf, die in den Handel mit Opium und Morphium verstrickt waren.124 Aller Wahrscheinlichkeit nach dürften diese Kriminellen bis zu ihrer Festnahme in wenigen Banden oder Netzwerken in Harbin organisiert gewesen sein. Man kann argumentieren, dass illegale Geschäfte wie der Handel mit Drogen auch in anderen Regionen und Städten der Welt, insbesondere solchen mit Grenzcharakter, generell einen hohen Grad an globaler Verflechtung und kultureller Interaktion aufweisen. Mit Blick auf Harbin trifft dies auch auf andere kriminelle oder „halbseidene“ Tätigkeiten wie den Handel mit Heroin oder hochprozentigen Spirituosen, Zuhälterei, Glücksspiel, Hehlerei oder Menschenhandel zu.125 Alle diese Bereiche „informeller“ ökonomischer Aktivitäten waren in Harbin weit ver 119 120 121 122 123
North China Daily News, 08.04.1914. RGIA, f. 323, op. 1, d. 597, l. 122. Quested: „Matey“ Imperialists? (wie Anm. 3), S. 260. The Economist, 09.10.1909. Kathryn Meyer: Garden of Grand Vision. Economic Life in a Flophouse Complex: Harbin, China 1940, in: Crime, Law and Social Change 36 (2001), Hf. 3, S. 327–352, insbesondere S. 346–349. 124 RGIA, f. 323, op. 1, d. 597, l. 122. 125 Vgl. dazu Frank Grüner: „The Chicago of the East“: Cross-Border Activities and Transnational Biographies of Adventurers, Shady Characters, and Criminals in the Cosmopolitan City of Harbin [in Vorbereitung].
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breitet und wurden in der Regel von transnationalen Netzwerken betrieben, zweifelsohne begünstigt durch den geographischen, politisch-administrativen und kulturellen Grenzcharakter von Stadt und Region. Doch mit Blick auf ihre globalen Verflechtungen und den transnationalen Charakter ihrer Akteursnetzwerke unterschieden sich die Bereiche der „formellen“ Wirtschaft, wie vor allem der internationale Handel mit Soja, nicht grundsätzlich von denen auf der „Schattenseite“ der Ökonomie. IV. SCHLUSSBEMERKUNG Der Blick auf die Mandschurei und ihr multikulturelles Zentrum Harbin in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts macht die Existenz und Wirksamkeit umfassender Verflechtungen und kultureller Austauschprozesse zwischen Russland und Asien deutlich. Dabei unterstrich Russlands Vordringen und mitunter aggressives politisches und wirtschaftliches Engagement in der Mandschurei nicht nur dessen imperialen Anspruch, sondern legte auch die Verwundbarkeit der Großmacht in Fernost offen. Vor allem Russlands Niederlage im Krieg gegen Japan sowie der etappenweise Verlust seiner Vormachtstellung in der Mandschurei und seiner Kontrolle über die Eisenbahn zeigten die Grenzen der russischen Ambitionen deutlich auf. Mit Blick auf die ursprünglichen Intentionen des russischen Finanzministers Witte muss sicher auch die Tatsache, dass es dem zarischen Russland trotz seiner privilegierten Stellung in der Eisenbahnzone letztlich nicht gelang, über sein wirtschaftliches Engagement in Nordostasien zu einer ernsthaften Konkurrenz für Großmächte wie Japan, die USA oder Großbritannien im Welthandel aufzusteigen, als Fehlschlag russischen Machtstrebens gewertet werden. Russland hatte mit dem Bau der Ostchinesischen Eisenbahn die Voraussetzungen für eine umfassende politische Anbindung und wirtschaftliche Erschließung der „wilden“ Grenzregion im Nordosten Chinas geschaffen. Die Eisenbahn bildete gewissermaßen das Einfallstor bzw. den Ausgangspunkt für vielfältige Globalisierungsprozesse in der Region. Diese Globalisierungsprozesse gingen mit globalen Verflechtungen und kulturellen Austauschbeziehungen einher, die sich unter anderem in Migrationsprozessen, Handelsaktivitäten und kulturellen Aneignungsprozessen, aber auch in politischen Konflikten und Kriegen sowie generell in Macht- und Herrschaftsasymmetrien manifestierten. Der Grad der Globalisierung und globalen Vernetzung der Mandschurei lässt sich am deutlichsten in ihren urbanen Zentren ablesen. Wie am Beispiel der multikulturellen Stadt Harbin deutlich wurde, bildeten politische und wirtschaftliche Verflechtungen sowie kulturelle Austauschbeziehungen ein zentrales Merkmal des städtischen Alltags. Sie lassen sich als die entscheidenden Faktoren dafür festmachen, dass sich in wenigen Jahren aus der russischen Kolonie in der nördlichen Mandschurei eine Stadt mit kosmopolitischem Charakter entwickelte. In Harbin kulminierten die politischen und wirtschaftlichen Ambitionen der in der Mandschurei engagierten Großmächte, und sie trafen auf die Lebensrealität einer
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sehr heterogenen lokalen Bevölkerung, die sich nicht ausschließlich in imperialen und nationalen Kontexten wahrnahm, sondern auch lokale Interessen vertrat. Diese unterschiedlichen Interessen waren selten, wenn überhaupt jemals, harmonisch ausgewogen oder statisch. Mit den wechselnden Machthabern im 20. Jahrhundert etablierte sich in der Mandschurei und Harbin ein besonders ausgeprägtes Feld europäisch-asiatischer Interaktionen mit komplexen wechselseitigen Einflüssen. In diesem Sinne sollte die Geschichte der mandschurischen Stadt Harbin vor allem als eine entangled history zwischen Russland und Asien verstanden werden.
DER KOSAKE ALS LEHRER ODER EXOT? Fragen an einen Mandschukuo-Dokumentarfilm über die bäuerliche russische Diaspora am Grenzfluss Argun’ Sören Urbansky Über der offenen Feuerstelle kocht in einem Topf aus Gusseisen das Mittagessen. Um den chinesischen Koch herum sitzen russische Feldarbeiter: Männer, Frauen und Kinder. Die Stimmung ist heiter, auch der Koch grinst. Plötzlich aber blickt der Chinese ernst in Richtung Kamera. Dann wieder die Feldarbeiter. Sie schwitzen in der Mittagssonne und schieben mit Essstäbchen oder Löffeln den Brei aus den Schalen in ihre Münder. Szenenwechsel. Vorne ein Pferd, dahinter zwei Ochsen. Das Gespann zieht eine Erntemaschine, die ihre Messer über den Acker wirbelt. Daneben binden Halbwüchsige mit bloßen Händen das Stroh. Für einen Augenblick wähnt der Zuschauer sich irgendwo im vorrevolutionären Südrussland, vielleicht im Steppengebiet am Unterlauf der Wolga. Doch immer wieder tauchen in den Szenen dieses Dokumentarfilms „Fehler“ auf, die diesem ersten Eindruck widersprechen: Was macht ein Chinese an der Wolga? Warum halten die Kosaken bei der Reiterparade neben der Flagge Russlands die Flagge Mandschukuos hoch? Das Stummfilmfragment aus den späten dreißiger Jahren zeigt das Leben der transbaikalischen Grenzkosaken in ihrer neuen Heimat im Nordwesten der Mandschurei – weniger als einen Tagesritt von der Sowjetunion entfernt. Ein Leben, das es zu dieser Zeit so in der UdSSR nicht mehr gab. Der uns als Mandschurei bekannte Nordosten Chinas,1 Heimat und Refugium der letzten chinesischen Dynastie, blieb bis weit in das 19. Jahrhundert dünn besiedelt und vom chinesischen Kernland isoliert. Zum Beginn des 20. Jahrhunderts dann wurde das Gebiet rasch aufgrund von konkurrierenden Expansionsbestrebungen geöffnet: Russlands militärstrategisch motivierter Eisenbahnimperialismus, insbesondere aber Japans Errichtung des Marionettenstaats Mandschukuo 1932 machten das Gebiet zum 1
Für die heute als Nordosten Chinas bekannte Region verwende ich in diesem Aufsatz die Begriffe „Mandschurei“ und „Mandschukuo“; letzteren für die Jahre 1932 bis 1945, als das Gebiet ein von Japan kontrollierter Marionettenstaat war. Ich bin mir der historischideologischen Konnotation beider Termini bewusst, kann hier aber nur auf die ausführliche Diskussion in der Forschung verweisen: u.a. Mark C. Elliott: The Limits of Tartary. Manchuria in Imperial and National Geographies, in: The Journal of Asian Studies 59 (2000), Hf. 3, S. 603–646, hier S. 604–607; Mariko Asano Tamanoi: Introduction, in: Dies. (Hg.): Crossed Histories. Manchuria in the Age of Empire, Honolulu 2005, S. 1–24, hier S. 2f.
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Herzland des Imperialismus in Nordostasien. Die Stadt Harbin, am Verkehrsknotenpunkt der von Russland um die Jahrhundertwende durch die Mandschurei gebauten Ostchinesischen Eisenbahn gelegen, war erst eine halbkoloniale Eisenbahnstadt und avancierte insbesondere nach der Russischen Revolution von 1917 rasch zu einer durch imperiale Überlappungen geprägten multikulturellen Metropole. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann die Dekolonisierung Harbins und der Mandschurei, in deren Folge die Stadt und Region integrale Bestandteile der Volksrepublik China wurden. Der Stummfilm wiederum ist eine Produktion der von Japan im August 1937 gegründeten Mandschurischen Filmgesellschaft (Manshū Eiga Kyōkai, Man’ei) – einem zentralen Instrument der kulturellen Penetration Japans in den Nordosten Chinas, auf die im Folgenden noch näher eingegangen wird. Der Film wirft viele Fragen auf. Allein die Odyssee der Filmrolle erfordert eine interkontinentale historische Spurensuche.2 Man’ei produzierte den Film in einer Region, die von den Flüssen Gan, Derbul und Chaul durchzogen wird und der Russen deshalb den Namen Dreiflussland bzw. Trechreč’e (chin. Sanhe, jap. Sanka oder Sanga) gaben. Die Region ist mit etwa 11.500 Quadratkilometern recht klein und etwas mehr als halb so groß wie Sachsen. Trechreč’e liegt im Nordosten des heutigen chinesischen Autonomen Gebiets der Inneren Mongolei und ist Teil des Verwaltungsbezirks Hulunbei’er (russ. Barga). Die Flüsse entspringen im Großen Xing’an-Gebirge, das die Region der drei Flüsse im Osten begrenzt und sich wie ein Riegel zwischen Trechreč’e und das Kernland der Mandschurei schiebt und damit lange auch eine ethnischkulturelle Scheide war. Die drei Flüsse münden in den das Gebiet im Westen abschließenden russisch-chinesischen Grenzstrom Argun’, der im Winter zugefroren ist und mit seinen zahlreichen Furten und Inseln auch im Sommer kein natürliches Hindernis darstellt. Schließlich grenzen die Region im Süden die Grassteppe Hulunbei’ers und im Norden die Taiga ab. Die Filmsequenzen öffnen ein weites Feld mit Bezügen, die weit über das Lokale hinausgehen: Die Perspektiven und Montagen, etwa der immer schnellere 2
Von ihrer Produktionsstätte in Mandschukuo unternahm die Filmrolle einen über drei Kontinente führenden Weg in diesen Sammelband. Als Kriegsbeute wurde ein großer Teil der Manei-Filmbestände von Changchun (Xinjing) 1945 nach Moskau verbracht, um dort mehr als ein halbes Jahrhundert klassifiziert in den sowjetischen Archiven zu lagern, dann „wiederentdeckt“ und Mitte der neunziger Jahre von Ten Sharpe (Tokio) und dem Staatlichen Filmarchiv Russlands auf Videokassetten veröffentlicht zu werden. Anfang dieses Jahrhunderts gelangte ein Teil des Materials schließlich in die Hände des an der University of Toronto lehrenden Russland- und Filmhistorikers Thomas Lahusen, der im Sommer 2009 in Harbin – also nahe seinem Entstehungsort – das Material dem Autor übergab, wofür dieser ihm ausdrücklich danken möchte. Zu den Manei-Filmbeständen Michael Baskett: Goodwill Hunting. Rediscovering and Remembering Manchukuo in Japanese „Goodwill Films“, in: Mariko Asano Tamanoi (Hg.): Crossed Histories. Manchuria in the Age of Empire, Honolulu 2005, S. 120–149, hier S. 120f; Thomas Lahusen: Dr. Fu Manchu in Harbin. Cinema and Moviegoers of the 1930s, in: The South Atlantic Quarterly 99 (2000), Hf. 1, S. 143–161, hier S. 161.
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Blendenwechsel in einer Festtagsszene – Tanzpaare, Zuschauer, Akkordeon, Tanzpaare, Zuschauer, Akkordeon –, erinnern an die Filme der sowjetischen Avantgarde von Sergej Ėjzenštejn oder Vsevolod Pudovkin und offenbaren einmal mehr, dass Film eine global vernetzte Kunstform ist.3 Doch Thema dieses Beitrags sind nicht filmwissenschaftliche Analysen oder ästhetische (und politische) Neigungen von Filmemachern. Gleiches gilt für die von translokalen Zusammenhängen losgelöste historische Erforschung der nur wenige tausend Seelen zählenden bäuerlichen Diaspora der Trechreč’e-Kosaken, die in der Vergangenheit bereits Gegenstand auch der historischen Forschung war.4 Verknüpfen wir indes unsere Frage nach der Intention und Wirkung dieses Man’ei-Films mit der historischen Erforschung der in China gestrandeten Grenzkosaken, so öffnet sich ein komplexes Spannungsfeld aus mikro- und imperialhistorischen Perspektiven, die sich um die derzeit viel diskutierte Frage gruppieren, wie sich Mikrogeschichte mit imperialen oder globalen Zusammenhängen stärker in Beziehung setzen lässt, um einerseits gängige Untersuchungen komplexer weltumspannender Austauschprozesse besser interpretieren zu können und andererseits Lokalstudien in einen über ihren direkten Wirkungskreis hinaus gehenden Kontext zu stellen.5 Migranten und Diasporen gelten hierbei als wichtige Bezugspunkte für transkulturelle, transnationale und translokale Aushandlungsprozesse.6 Gerade die Geschichte der Mandschurei in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, insbesondere die Stadt Harbin, ist Gegenstand derartiger Forschungen.7 Auf einer weiteren Ebene erreichten die auf Zelluloid gebannten Kosaken ein Publikum, das jenseits der drei Flüsse lebte. Sie wurden somit en passant zu einem transkulturellen Medienphänomen mit translokalen kommunikativen Verbindungen. Weshalb also filmte ein japanisches Kamerateam das Leben von einst nach China geflohen russischen Kosaken? 3 4 5
6
7
Zur politischen und biographischen Heterogenität der Mitarbeiter der Man’ei-Filmstudios Baskett: Hunting (wie Anm. 2), S. 125f. Zuletzt, sehr deskriptiv: Julija Argudjaeva: Russkoe naselenie v Trechreč’e, in: Rossija i ATR (2006), Hf. 4, S. 121–134. Die Verbindung zwischen Mikro- und Globalgeschichte wurde jüngst am Beispiel des Kölner Familienunternehmens Stollwerck aufgezeigt. Angelika Epple: Das Unternehmen Stollwerck. Eine Mikrogeschichte der Globalisierung (1839–1932), Frankfurt am Main 2010. Zu den Begriffen transkulturell, transnational und translokal vgl. die Zusammenfassung gängiger Definitionen bei: Melanie Hühn u.a.: In neuen Dimensionen denken? Einführende Überlegungen zu Transkulturalität, Transnationalität, Transstaatlichkeit und Translokalität, in: Melanie Hühn u.a. (Hg.): Transkulturalität, Transnationalität, Transstaatlichkeit, Translokalität. Theoretische und empirische Begriffsbestimmungen. Berlin 2010, S. 11–46, hier S. 13–17. U.a. Rosemary Quested: „Matey“ Imperialists? The Tsarist Russians in Manchuria, 1895– 1917, Hongkong 1982; David Wolff: To the Harbin Station. The Liberal Alternative in Russian Manchuria, 1898–1914, Stanford 1999; James Carter: Creating a Chinese Harbin. Nationalism in an International City, 1916–1932, Ithaca 2002; Blaine Chiasson: Administering the Colonizer. Manchuria’s Russians under Chinese Rule, 1918–29, Vancouver 2010.
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Nach einem historischen Abriss der Geschichte der Kosaken-Diaspora in Trechreč’e im ersten Teil untersucht der Beitrag im zweiten Teil die Brüche der Identitäten dieser Grenzgänger, die sich aus deren Flucht in das vertraute Nachbarland ergaben. Trotz oberflächlicher Bewahrung ihrer Kultur und Lebensweise lebten sie nicht in einem Vakuum. Sie konnten sich den politischen Interessen Tokios, Moskaus, Pekings (ab 1927 Nanjings) sowie den Interessen des in den zwanziger Jahren herrschenden mandschurischen Warlord-Regimes in Mukden (Shenyang) und der ab 1932 in Xinjing (Changchun) residierenden Marionettenregierung Mandschukuos nicht entziehen. Drittens geht es um die Frage, wie die im Film abgebildete Lebenspraxis der Kosaken als Vorbild oder als exotisches Schaubild einer performativen „harmonischen Gesellschaft“ in Mandschukuo interpretiert werden kann. I. DIE POLITISIERUNG EINER LÄNDLICHEN DIASPORA Seitdem das Russische Reich Mitte des 17. Jahrhunderts mit der Gründung von Verchneudinsk, dem heutigen Ulan-Ude, 1649, Albazin 1651 und Nerčinsk drei Jahre später seinen Einfluss bis in die Gebiete jenseits des Baikalsees ausgeweitet hatte, verband es mit China eine lange gemeinsame inter-imperiale Grenzzone, die erst im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einer Grenze mit ökonomischen, nationalen und sozio-kulturellen Konturen wurde. Bis in das späte 19. Jahrhundert handelte es sich eher um einen vorwiegend von Nomadenvölkern besiedelten offenen Grenzraum. Als die Mandschu als das letzte chinesische Kaiserhaus (QingDynastie, 1644–1911) Mitte des 17. Jahrhunderts ihre Macht in China konsolidierten, begannen sie den russischen Vorstößen in den nördlichen Tributgebieten Einhalt zu gebieten. Der 1689 geschlossene Vertrag von Nerčinsk legte die territorialen Streitigkeiten bei und besiegelte die Vorherrschaft Chinas im Amurgebiet und östlich des Argun’ auf lange Zeit. Die Grenze existierte freilich eher in der Theorie als in der Praxis. Der Kaiserhof in Peking zeigte aufgrund einer restriktiven Politik bezüglich der Einwanderung von Han-Chinesen in die Mandschurei lange wenig Interesse an einer aktiven Kolonisierung der nördlichen Grenzregionen, während Russland jenseits des Baikalsees (Transbaikalien) mit Kosakenstationen rasch seine Präsenz verstärke.8 Im Jahre 1732 befahl der Mandschu-Kaiser Yongzheng die Ansiedlung von etwa dreitausend Siedlern, mehrheitlich Dauren und Solonen, aus dem Nenjiang-Gebiet östlich des Großen Xing’an in den südlichen Teil Bagas (Hulunbei’er) für eine permanente Grenzwacht. Der nördliche Teil des Bezirks erhielt wenig Aufmerksamkeit von der chinesischen Seite, und die vom Kaiserhof eingesetzten indigenen Beamten unterhielten einvernehmliche 8
Zur Geschichte der Transbaikal-Kosaken ausführlich und unübertroffen: A. P. Vasil’ev: Zabajkal’skie Kazaki. Istoričeskij očerk, Bd. 1–3, Čita 1916.
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Beziehungen mit den Atamanen der Kosakensiedlungen auf dem russischen Ufer des Argun’.9 Nach dem Dekabristen-Aufstand (1825) kamen die ersten politischen Sträflinge des Zarenreichs in den Silberminendistrikt von Nerčinsk. Das chinesische Ufer wurde rasch zum bevorzugten Zufluchtsgebiet für Flüchtlinge aus der Zwangsarbeit in Verbannung, der Katorga, die nach Überlieferungen dort die ersten hölzernen Hütten errichtet, indigene Frauen geheiratet und gemeinsam mit den dort lebenden Volksgruppen auf die Jagd gegangen sein sollen. Seit den 1870er Jahren begannen am russischen Argun’-Ufer siedelnde Kosaken damit, saisonal auf der chinesischen Seite ihr Vieh zu weiden. Die ersten in Besitz genommenen Landstücke lagen am Chaul, jenem Fluss, der dem Grenzstrom am nächsten liegt. Die Transbaikal-Kosaken errichteten dort einfache Scheunen und Unterstände, die sie für die Heuernte im Sommer und Herbst und im Winter für die Jagd von Wildschweinen, Dammwild, Bären, Zobeln und Füchsen nutzten. Diese ersten „bäuerlichen Grenzgänger“ trieben oft nur einen Tagesritt von ihren Heimatdörfern entfernt Landwirtschaft. Noch vor der Jahrhundertwende entstanden aus den verstreuten Gehöften allmählich die ersten kleinen Siedlungen, wie das ganz am Unterlauf des Chauls gelegene Dorf Manerka.10 Im Gegensatz zu den kargen Böden auf der russischen Uferseite war die schwere Erde der weiten Täler der Trechreč’e-Region fruchtbar und ermöglichte Ackerbau nach russischer Manier. Die Birken- und Nadelwälder in den Ausläufern des Großen Xing’an-Gebirges im Norden und Osten boten gute Bedingungen für die Holzwirtschaft und die Jagd. Die weiter im Süden gelegene Steppe mit ihrem hohen wie saftigen Gras war ideal für die extensive Haltung von Schafen, Rindern und Pferden.11 Die Jagd, das Weiden von Vieh und die Landpacht für Weizen und Winterfutter erfolgten in Duldung mit den von indigenen Beamten geleiteten chinesischen Behörden. Nur nomadische Stämme, jedoch keine Han-Chinesen, die ähnlich den Russen sesshaft sind und Ackerbau treiben, siedelten dort. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts ließen sich allenfalls ein paar abenteuerlustige chinesische Händler am rechten Ufer des Argun’ gegenüber den russischen Kosakenposten nieder und boten in ihren kleinen Läden hauptsächlich Tabak und Spirituosen feil. Dieser informelle Grenzhandel erlebte nach Aufhebung des Freihandels und Errichtung von Zollposten um das Jahr 1900, insbesondere aber nach Abschaffung der 50Versta-Freihandelszone12 1913 aufgrund der stark gestiegenen Preisunterschiede 9 10 11
12
Dazu die kurze historische Zusammenfassung bei V. A. Kormazov: Barga. Ėkonomičeskij očerk, Harbin 1928, S. 10–13. Argudjaeva: Russkoe naselenie (wie Anm. 4), S. 122. Eine detaillierte Beschreibung des Klimas und Bodens, der Flora und Fauna sowie der Landwirtschaft und Jagd findet sich bei V. N. Žernakov: Trechreč’e, Typoskript, Oakland (CA) o.J. (Privatarchiv: Olga Bakich, Toronto), S. 6–15; vgl. ebenso E. J. Lindgren: North-Western Manchuria and the Reindeer-Tungus, in: The Geographical Journal 75 (1930), Hf. 6, S. 518– 534, hier S. 530. Eine versta war ein Längenmaß im zaristischen Russland und entspricht 1.067 Metern.
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einen Auftrieb.13 Bemühungen des Qing-Hofs, die Region für die Besiedelung durch han-chinesische Bauern zu fördern, scheiterten indes. Der Austausch indigener Grenzwachen und lokaler Beamter durch Han-Chinesen 1905 schürte den Zorn unter den Nomadenvölkern und trieb sie in die Arme Russlands. Die chinesische Revolution von 1911 nutzten die in Hulunbei’er lebenden Mongolen – mit verdeckter Unterstützung St. Petersburgs – zur Erklärung der Unabhängigkeit von China mit dem Ziel der Gründung eines panmongolischen Staates. Nachdem 1915 die Kontrolle über Hulunbei’er teilweise und ab 1920 vollständig wiedererlangt war, ernannte die Regierung in Peking erneut han-chinesische Beamte für die Verwaltung der Region.14 Die Oktoberrevolution und der Bürgerkrieg in Russland veränderten auch das Leben am Argun’ und das demographische Profil von Trechreč’e. Aus „bäuerlichen Grenzgängern“ wurden politisch Verfolgte. Dabei ist zwischen vier Emigrationswellen zu unterscheiden: Die ersten Flüchtlinge, die während und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg kamen, waren keine Auswanderer im engeren Sinn. Es waren vielmehr jene Kosaken, die seit Generationen auf dem chinesischen Ufer ihr Heu machten und nun im Winter nicht mehr in ihre russischen Stationen zurückkehrten. Während der Bürgerkriegsjahre flohen in einer zweiten Emigrationswelle weitere Bewohner des östlichen Transbaikaliens mitsamt ihren Familien und Viehbeständen vor den Kriegsereignissen. Viele lebten anfangs in Erdhütten (zemljanka) in der Hoffnung, rasch in die Heimat zurückkehren zu können. Die zahlenmäßig größte Fluchtwelle der sogenannten „Dreißiger“ („tridcatniki“) kam während der Kollektivierung ab Ende 1929 über den Argun’ nach China. Etwa zeitgleich zogen entlassene Angestellte der Ostchinesischen Eisenbahngesellschaft aus Harbin und den Eisenbahnsiedlungen des entfremdeten Streifens der Nordmandschurei in die Region. Während der Mandschukuo-Ära (1932–1945) stellten Russen mehr als 80 Prozent der Bevölkerung Trechreč’es.15
13
14 15
Vgl. Sören Urbansky: Der betrunkene Kosake. Schmuggel im sino-russischen Grenzland (circa 1860–1930), in: Martin Aust (Hg.): Globalisierung imperial und sozialistisch. Russland und die Sowjetunion in der Globalgeschichte 1851–1991, Frankfurt am Main 2013, S. 301– 329. Vgl. Kormazov: Barga (wie Anm. 9), S. 13–17. Vgl. Argudjaeva: Russkoe naselenie (wie Anm. 4), S. 122f.; A. Kajgorodov / V. Perminov: Zemlja za Argun’ju. Kratkij istoričeskij očerk, in: Edinenie, 4.7.1997, S. 5–7, hier S. 5f.; Kormazov: Barga (wie Anm. 9), S. 48–50.
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Der Kosake als Lehrer oder Exot? Schätzung der Einwohnerzahl Trechreč’es nach Ethnien16 Jahr Bevölkerung 1928
2.330
1933
-
1945
ca. 13.100
Ew./km2
Russen
0,2
0,9
Han-Chinesen
2.130
200
-
5.519
-
-
ca. 11.000
ca. 1.100
ca. 1.000
1955
ca. 3.000
1972
23
1990
ca. 50.000
4,3
Andere
Ethnische Russen
1.748
Mischlinge (Polukrovcy)
3.468
Im Schatten der Roten Armee, die im August und September 1945 die Mandschurei von Japan „befreite“, folgten die Truppen des NKVD. Sie nahmen rund ein Viertel der männlichen Bevölkerung – Kosaken und die Mehrzahl der sogenannten „tridcatniki“ – fest und deportierten sie in die Lager des Gulag. Die übrigen Bewohner erhielten sowjetische Pässe. Im Herbst 1949, nach einer außergewöhnlich reichen Ernte, erfolgte unter dem Kommando des sowjetischen Konsulats in der Grenzstadt Manzhouli die Entkulakisierung der verbliebenen Trechreč’eRussen, die zwar ohne Exekutionen auskam, aber von Enteignungen und einem Massensterben an Nutzvieh gekennzeichnet war. Die letzte große Repatriierungswelle nach Kasachstan fand in den Jahren 1955–1956 statt. Chinesische Neusiedler übernahmen die verwaisten russischen Höfe. Von jenen wenigen Russen, die zu bleiben wagten, ergatterte die Mehrzahl Visa für Australien oder ein lateiname 16
Die hier angegeben Zahlen sind grobe Schätzungen, da sie unterschiedlichen Quellen mit variierenden ethnischen Kategorien und geographischen Einzugsgebieten entstammen. Zahlen für 1928 aus: Kormazov: Barga (wie Anm. 9), S. 50f.; für 1933 aus Anučin, der sich auf Erhebungen Kormazovs beruft, V. A. Anučin: Geografičeskie očerki Man’čžurii, Moskau 1948, S. 179; 1945: Argudjaeva: Russkoe naselenie (wie Anm. 4), S. 126; 1955 und 1972: Žernakov: Trechreč’e (wie Anm. 11), S. 4. Besonders problematisch sind die – sehr hohen – für 1990 genannten Zahlen der ethnischen Russen, die aufgrund der relativ beliebigen Minderheitenpolitik der Volksrepublik China (zum Beispiel die Begünstigung von Minderheiten in jüngerer Zeit, etwa bei der Geburtenregulierung oder im Bereich der Bildung) als unrealistisch gelten dürfen. Sie sind entnommen aus: E’erguna you qi zhi (Chronik des Rechten Argun’ Banners), hgg. von E’erguna you qi shi zhi bianzuan weiyuanhui, Haila’er 1993, S. 106, 127.
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rikanisches Land, nachdem die Volksrepublik China nach 1962 ihre Ausreise erlaubte.17 Als die sowjetisch-chinesischen Beziehungen Ende der 1960er Jahre einen neuen Tiefpunkt erreichten, zogen die wenigen noch verbliebenen Russen zurück auf das andere Ufer. Der 1927 im Trechreč’e-Dorf Verch-Urga geborene Ivan Sokolov etwa, dessen Eltern nach der Revolution geflohen waren, aber schon zuvor einen Hof auf dem chinesischen Ufer für ihr Vieh besaßen, floh mit seiner Frau und seinen acht Kindern im Jahr 1970 aus der Region und ließ sich im weiter südlich am Argun’ gelegenen Abagajtuj nieder – einem ehemaligen Kosakendorf auf der sowjetischen Seite. Geschützt durch ihren sowjetischen Pass wurden die Sokolovs während der Kulturrevolution von den Roten Garden „nicht angerührt“. Die aus russisch-chinesischen Ehen hervorgegangenen Nachkommen (polukrovcy) hingegen wurden der Spionage bezichtigt und waren brutalen Übergriffen ausgesetzt, einige wurden gequält und ermordet und „ihre Leichen in die Brunnen geworfen“.18 Auch die Halbrussin Yang Yulan (Tamara Erechina) erinnert sich mit Schrecken an jene Zeit: „Nicht einmal Russisch sprechen durften wir damals.“19 Während der Blüte der russischen Diaspora gab es in der Region der drei Flüsse indes 21 Dörfer mit Dragocenka als Zentrum.20 Erste russische Gehöfte soll es dort bereits um 1880 gegeben haben. 1933 zählte Dragocenka lediglich 450 Seelen, darunter 30 Chinesen. Bis 1944 stieg die Zahl der Bewohner auf 3.000 an, von ihnen waren lediglich die Hälfte Russen, hinzu kamen knapp 1.000 Chinesen und 500 Japaner. Unweit des Orts war eine Garnison mit 300 Soldaten stationiert. Der Ort, den die Chinesen als Sanhe und die Japaner als Najrumtu kannten, war Sitz des einzigen Kosakenoberhaupts der Region, dem alle Dörfer unterstellt waren. Dragocenka beherbergte die regionale Polizei- und Gendarmendirektion sowie eine Vertretung der Militärmission des Japanischen Kaiserreichs. Das Dorf entwickelte sich rasch auch zum kulturellen und ökonomischen Mittelpunkt der Region, vor allem auf Grund seiner zentralen Lage und der Fahrwege, die es mit Haila’er im Süden und zahlreichen Dörfern der Region verband. Čurin & Co., Hayashi Kane und andere Handelshäuser unterhielten hier Filialen. Im Ort gab es ein Stromkraftwerk, eine Dampf-Walzenmühle, eine Pflanzenölraffinerie, eine Molkerei, Sattlereien, Leder- und Filzfabriken, Autowerkstätten, ein Post- und Telegrafenamt sowie eine Bankfiliale. Die auffällig vielen Chinesen21 verdingten sich als Krämer, Friseure, Schneider oder betrieben Garküchen. Neben den russi 17
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Vgl. Kajgorodov / Perminov: Zemlja (wie Anm. 15), S. 6f; Argudjaeva: Russkoe naselenie (wie Anm. 4), S. 133; Žernakov: Trechreč’e (wie Anm. 11), S. 4; Interview des Autors mit Ivan Sokolov am 4. August 2009 in Abagajtuj. Interview des Autors mit Ivan Sokolov am 4. August 2009 in Abagajtuj. Interview des Autors mit Yang Yulan (Tamara Erechina) am 10. August 2009 in Enhe. Einige wichtige Orte sind näher beschrieben bei Žernakov: Trechreč’e (wie Anm. 11), S. 16f; Argudjaeva: Russkoe naselenie (wie Anm. 4), S. 123–126. Die meisten der 21 Dörfer waren fast ausschließlich von Russen bewohnt. Im Dorf VerchUrga „gab es nur einen Krämerladen mit zwei Chinesen. Der Rest waren Russen“. Interview des Autors mit Ivan Sokolov am 4. August 2009 in Abagajtuj.
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schen Primarschulen und der einzigen russischen Oberschule der Region gab es deshalb auch Schulen für Chinesen. Dragocenka war Sitz des Russischen Vereins, und von 1936 bis 1942 gab die lokale Zweigstelle des Büros der Angelegenheiten der russischen Emigranten (Bjuro po delam Rossijskich Ėmigrantov, BRĖM) die Wochenzeitung „Das Kosakenleben“ (Kazač’ja Žizn’) heraus.22 Nicht nur mit ihren geraden breiten Straßen glichen die Dörfer in der Region der drei Flüsse in vielem den alten Dörfern Transbaikaliens. Auch die Höfe, Speicher und Wohnhäuser waren identisch. Die Blockhäuser waren aus Lerchenholz gebaut. Ihre Fassaden zeigten meist gen Süden. Die Fußböden waren ocker bemalt. Wie sehr sich die Dörfer glichen, offenbart die für Transbaikalien charakteristische Anordnung des Interieurs: „Der Eingang des Hauses lag in der Regel durch einen Durchgang getrennt zum Hof hinaus. Unmittelbar hinter dem Eingang stand ein russischer Ofen. In der rechten Ecke hingen die Ikonen. Zwischen den Fenstern auf der Fassadenseite stand ein Tisch. Zwei Fenster gingen zum Vorgarten und eines in den Hof hinaus. Zwischen dem ersten und zweiten Raum stand der Herd. Das andere Zimmer hatte ebenso drei Fenster, zwei zum Vorgarten und ein Hoffenster. An den Fenstern standen das Sofa und die Stühle, die Betten standen in der linken Ecke. Dort befand sich auch die Heizung.“23
Was für die Architektur gilt, galt nicht minder für den Glauben, die Sitten und Traditionen der Trechreč’e-Russen. Sie trugen die traditionelle Kleidung der Kosaken Transbaikaliens. Insbesondere an den Festtagen der Kosaken voltigierten die Männer in Uniform. Die russisch-orthodoxe Kirche spielte eine zentrale Rolle im Leben der Menschen. Neben der Peter-und-Pauls-Kathedrale in Dragocenka gab es in den Dörfern neun weitere Kirchen und ein Mönchskloster. Am Totengedenktag, den die orthodoxe Kirche neun Tage nach Ostern feiert, schütteten die Menschen eine dünne Schicht Mehl in die Hausflure und überprüften in der Früh, ob die verstorbenen Eltern nicht zurückgekommen sind. Am Pfingstmontag badeten und weihten die Kosaken ihre Pferde.24 Dragocenka wirkte somit, ebenso wie die übrigen zwanzig Dörfer, wie ein nach China verpflanztes Russland en miniature und daher wundert es kaum, dass manch sowjetischer Wissenschaftler in den späten vierziger Jahren den Eindruck einer Zeitreise nicht loswurde: „Das Leben hier unterscheidet sich kaum von jenem in den entlegenen Dörfern Transbaikaliens zur Zeit des Russländischen Imperiums. Diese Region Bargas übt auf den Sowjetmenschen einen beinahe musealen Eindruck aus.“25 22
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Žernakov: Trechreč’e (wie Anm. 11), S. 16; M. Šestakov: Blagodatnoe Trechreč’e, in: Vestnik Kazač’ej Vystavke v Charbine 1943 g. Sbornik statej o kazakach i kazačestve, Harbin 1943, S. 192–195, hier S. 193; Argudjaeva: Russkoe naselenie (wie Anm. 4), S. 125f. Žernakov: Trechreč’e (wie Anm. 11), S. 17; dazu etwa auch Anučin: Geografičeskie očerki (wie Anm. 16), S. 179. Žernakov: Trechreč’e (wie Anm. 11), S. 18–21; E’erguna you qi zhi (wie Anm. 16), S. 128– 134. Anučin: Geografičeskie očerki (wie Anm. 16), S. 185.
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II. DER KOSAKE ALS INTER-IMPERIALER AKTEUR Die Idylle des vermeintlich beschaulich-vorrevolutionären Landlebens trügt. Die einstigen Akteure russischer Expansion gerieten nach ihrer Flucht auf das andere Ufer zunehmend in den Zwischenraum sowjetischer und chinesischer und ab 1932 zudem japanischer Interessen. Die Nachwirkungen des Bürgerkrieges spürten die Emigranten in den zwanziger Jahren, als ihre Dörfer von Partisanen und Überresten der Weißen Armeen heimgesucht wurden, ihre Häuser in Flammen aufgingen und Menschen starben.26 Dennoch ging das Leben weiter. Die Kosaken organisierten eine Selbstverwaltung. In jedem Dorf gab es einen Dorfältesten, der wiederum dem im Dorf Šuč’e ansässigen Vertreter aller Dörfer unterstand. Dieser genoss in der ersten Zeit das Vertrauen des ebenfalls in Šuč’e angesiedelten chinesischen Kreisvorstehers.27 In den zwanziger Jahren versuchte die chinesische Obrigkeit indes sukzessive mit der Einführung von Pässen, der Erhebung von Steuern und dem Verbot orthodoxer Feiertage die russischen Emigranten politisch, ökonomisch und kulturell zu marginalisieren. Als der russisch-orthodoxe Erzbischof von Harbin 1926 Dragocenka besuchte, wurde er festgenommen.28 Ende der zwanziger Jahre verschärften sich die Spannungen zwischen der Sowjetunion und dem chinesischen Kriegsherren-Regime Zhang Zuolins, der bis zu seiner Ermordung 1928, auch dank japanischen Rückhalts, die Mandschurei kontrolliert hatte. Ermutigt vom Ende der 1920er Jahre durch die Einigung Chinas erstarkten Nationalismus wehrte sein Sohn und Nachfolger Zhang Xueliang sich gegen die imperialen Einflüsse Japans und der Sowjetunion und wollte die vollständige Kontrolle der Ostchinesischen Eisenbahn erwirken. Dieser Konflikt mündete von August bis November 1929 in einen Krieg, den Moskau klar gewann.29 Gleichzeitig gab es in jener Zeit in den chinesischen Grenzgebieten gelegentliche Angriffe versprengter weißer Verbände auf die der Geheimpolizei der Sowjetunion (GPU) unterstellten Grenzwachen und das sowjetische Territorium. Der bewaffnete Konflikt um die Eisenbahn bot für Moskau somit die Gelegenheit einer direkten militärischen Intervention. Die Rote Armee unternahm im August und September 1929 mehrere Strafexpeditionen nach Trechreč’e, denen rund 150 Emigranten zum Opfer gefallen sein und die unter den Siedlern eine Flüchtlingswelle nach Harbin ausgelöst haben sollen. Während die sowjetischen Zeitungen über die „Tragödie in Trechreč’e“ schwiegen, gab es eine teils hysterische Be-
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Argudjaeva: Russkoe naselenie (wie Anm. 4), S. 122. Žernakov: Trechreč’e (wie Anm. 11), S. 3. I. Smetanin: „Russkija derevni za rubežom“, Rubež, 6.5.1933, S. 12–13, S. 12. Sören Urbansky: Kolonialer Wettstreit. Russland, China, Japan und die Ostchinesische Eisenbahn, Frankfurt am Main 2008, S. 136–143.
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richterstattung der Emigrantenpresse weltweit mit dem Ziel, öffentlichkeitswirksam die UdSSR zu diskreditieren.30 Zudem waren die Trechreč’e-Kosaken innerhalb der weltumspannenden russischen Emigration gut vernetzt, wie das Beispiel Shanghai zeigt. Das dortige Russian Ladies Relief Committee etwa plante gemeinsam mit lokalen Kosakenvereinen ein Benefizkonzert für die Opfer. Die russische Diaspora in Shanghai klagte auch in einem Telegramm an den US-Präsidenten Herbert Hoover die „unmenschlichen Massaker an unschuldigen Menschen“ an und drängte den Präsidenten, dem „blutigen Albtraum der roten Henker“ ein Ende zu bereiten: „Hunderte von friedlichen, unbewaffneten russischen Bauern – Männer, Frauen und Kinder – sind in großen Qualen den systematischen Angriffen der roten Bande von Mördern an der sowjetischen Grenze zum Opfer gefallen. Es gibt keinen Krieg, doch Tausende unschuldiger Menschen sind zum Tode und Untergang verurteilt. Die Welt schweigt!“31
Im Kontext dieser Atmosphäre der Angst, des Hasses und der Verzweiflung muss die Reaktion der Exilkosaken auf die Okkupation der Mandschurei durch Truppen der Kwantung-Armee ab September 1931 gesehen werden. Eine Delegation von Trechreč’e-Russen übergab den japanischen Behörden in Haila’er am 23. Dezember 1932 eine Erklärung, in der sie die neue „Ära der Ordnung und Gerechtigkeit“ willkommen hieß und ihren Willen zur Zusammenarbeit bekundete.32 Die Willfährigkeit der russischen Emigranten fußte auf der Hoffnung, dass sie von nun an vor Übergriffen der Bolschewiki geschützt seien und eine Verwaltung zu erwarten habe, die weniger repressiv sei als die chinesische.33 Japans Politik gegenüber den ethnischen Minderheiten Mandschukuos war indes zwiespältig. Die neuen Machthaber spielten die in Mandschukuo siedelnden Mongolen, Koreaner und übrigen Minoritäten gegen die ethnisch dominante Gruppe der Han-Chinesen aus, gewährten den Minderheiten anfangs Autonomierechte, wie sie unter der chinesischen Warlord-Herrschaft nicht existiert hatten, und ließen sie auf der kulturellen wie wirtschaftlichen Ebene weitgehend gewähren, was Sympathien förderte.34 Die russischsprachige Mandschukuo-Propaganda malte den Alltag der Kosaken in der Grenzregion in den schönsten Farben. Er sei das vorrevolutionäre Le 30
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Nadežda Ablova: Dejatel’nost’ beloėmigrantskich organizacij v Kitae vo vremja obostrenija sovetsko-kitajskich otnošenij (1929–1931 gg.), in: Problemy Dal’nego Vostoka (2005), Hf. 4, S. 143–153, hier S. 147f. Telegramma ot russkogo naselenija g. Šanchaja, 9.11.1929, in: Gosudarstvennyj archiv Rossijskoj Federacii (GARF), f. R-5963, op. 1, d. 39, ll. 25–26 und l. 55 (Zitate). „Kalendar’ – spravočnik o japono-kitajskom konflikte i sobytijach v Man’chzhurij za period s 18 sentjabrja 1931 goda po 31 dekabrja 1932 goda“, zusammengestellt vom Generalkonsulat der Sowjetunion in Harbin, 1.4.1933, in: Rossijskij Gosudarstvennyj archiv social’nopolitičeskoj istorii (RGASPI), f. 514, op. 1, d. 773, l. 56 obl. Über die Einstellungen der Russen in Mandschukuo: US Department of State, Office of Intelligence Research, Office of Strategic Services, Research and Analysis Branch: Social Conditions, Attitudes, and Propaganda in Manchuria with Suggestions for American Orientation toward the Manchurians, Nr. 295, 1942, S. 23. US Department of State: Social Conditions (wie Anm. 33), S. 16–23.
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ben „eines gesunden, freien Bauern“ und damit ein Gegenbild zur „Knechtschaft der Kolchose-Sklaven“ am sowjetischen Argun’-Ufer. So schreibt M. Šestakov im Bulletin der Kosakenausstellung des Jahres 1943 in Harbin: „Sie leben ihr hergebrachtes russisch-patriarchalisches Leben in Zufriedenheit und Wohlstand, arbeiten auf dem Feld, achten die Interessen, das Recht und die Ordnung des Landes, das ihnen in allen Lebenslagen beisteht und halten in inniger Erinnerung die leidende Mutter Heimat, an welche die Gestalt ihrer Dörfer so stark erinnert, mit der [Peter-und-Pauls]Kathedrale, deren Kuppeln und Türme gekrönt vom heiligen Kreuz sich am besten Platz des Dorfs stolz in den blauen Himmel des gnadenvollen Mandschurischen Imperiums erheben, das sie als ihre zweite Heimat verehren.“35
Die Anfangseuphorie verschwand, als die Japaner begannen, die russischen Emigranten stärker zu kontrollieren. Das zentrale Vehikel für diese Aufgabe war das 1934 gegründete Büro der Angelegenheiten der russischen Emigranten (BRĖM). Die Behörde mit Hauptsitz in Harbin verfügte über zahlreiche Zweigstellen in Mandschukuo. Das Xing’an-Regionalbüro in Haila’er war unter anderem für die in den Dörfern Trechreč’es lebenden russischen Emigranten zuständig.36 Bereits Mitte der dreißiger Jahre zwang die Regierung Mandschukuos die Emigranten zur Registrierung beim BRĖM.37 1944 führten die BRĖM-Register insgesamt 68.887 russische Emigranten in Mandschukuo. Mit 21.202 Personen war das Xing’anRegionalbüro nach Harbin (39.421) der zweitgrößte Emigrantenbezirk – rund die Hälfte der Erfassten lebte in Trechreč’e.38 BRĖM verfolgte mehrere Ziele: Die subversiven Aktivitäten der Sowjetunion innerhalb der Emigranten-Gemeinden zu vereiteln und die russische Bevölkerung auf den Kampf gegen den Bolschewismus einzuschwören, waren die wichtigsten Ansinnen. Alle Bereiche des Lebens der Emigranten sollten überwacht werden.39 Wie sehr Mandschukuo die Russen kontrollierte, offenbart die Etablierung eines rigiden Grenzregimes. Ab 1937 wurden die Bewegungs- und Niederlassungsrechte der Emigranten in der Region der drei Flüsse strikt reguliert. Spätestens Anfang der vierziger Jahre konnten russische Subjekte Mandschukuos nur noch mit Zu 35 36
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Šestakov: Trechreč’e (wie Anm. 22), S. 194f. Niederlassungen gab es in buchstäblich jedem Dorf, in dem Russen lebten. „Količestvo služaščich v Rajonnych Bjuro, Bjuro, Otdelenijach Bjuro i Predstavitel’stvach Bjuro po sostojaniju na dekabr’ m-ts 1944 g.“, 14.1.1945, in: Gosudarstvennyj archiv Chabarovskogo kraja (GAChK), f. R-830, op. 2, d. 32, ll. 37–39. Laut BRĖM-Statistiken sollen bereits am 1. September 1936 mehr als 90 Prozent der russischen Bevölkerung Manzhoulis registriert gewesen sein. „Svedenija o naselenii v rajone otdelenija Bjuro po delam Rossijskich v Man’čžurskoi Imperij v g. Man’čžurija“, 1.9.1939, in: GAChK, f. R-830, op. 2, d. 13, ll. 136–137. Vgl. „Spravka. Količestvo ėmigrantov v Man’č. Imperii“, 1944, in: GAChK, f. R-830, op. 2, d. 32, l. 18. Über die Aufgaben des BRĖM schreibt Sabine Breuillard: General V. A. Kislitsin. From Russian Monarchism to the Spirit of Bushido, in: The South Atlantic Quarterly 99 (2000), Hf. 1, S. 121–141, hier S. 128–131.
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stimmung der Behörden in die Grenzregion reisen und sich dort ansiedeln.40 Die Behörden deportierten eine unbestimmte Zahl von Trechreč’e-Russen – zumeist aus politischen Motiven – aus der Region.41 Die Sperrzone erhöhte die Isolation der Kosaken von der Außenwelt. Eine Auflehnung der Kosaken 193542 und Säuberungskampagnen unter den Russen43 sind Indizien einer zunehmend anti-japanischen Stimmung unter den Trechreč’e-Russen und der Spaltung der russischen Gemeinden. Umso stärker war das Mandschukuo-Regime auf Agitation angewiesen, um die antisowjetische Haltung der russischen Bevölkerung zu fördern. Vor allem die Jugend war Ziel politischer Indoktrination. Regelmäßig organisierte BRĖM Vorträge, Diskussionen und Schulungen. Die Muster der Strukturen und der Überwachung der Jugend ähnelten in vielem denen in der Sowjetunion. In Dragocenka etwa organisierte die „Kosaken-Jugend“ (Kružok kazač’ei molodeži) regelmäßige Treffen im „Haus des Kosaken“.44 Ebenso liefert das Zeremoniell nationaler Feiertage Einblicke in die Lebenszwänge in der Grenzregion und die Rolle der russischen Gemeinden als Teil der performativen Harmonie. Jedes Jahr am 1. März waren die Russen in Trechreč’e aufgerufen, den Nationalfeiertag des Mandschurischen Imperiums mit großem Bahnhof zu feiern. Gegen zehn Uhr morgens versammelten sich die Bewohner vor der Gemeindeverwaltung von Dragocenka, um Reden des Gouverneurs und des Leiters der Japanischen Militärmission zu hören. Die Festivitäten klangen in der Regel am Abend mit weiteren politischen Reden und einer soirée poétique aus.45 Die Beziehungen zwischen den an der Grenze zur Sowjetunion lebenden russischen Emigranten und der japanischen Imperialmacht waren ambivalent. Einerseits waren sie schon bald von einer tiefen beiderseitigen Aversion geprägt. Andererseits blieb die japanische Herrschaft für die Russen lange Zeit das kleinere Übel. Für Tokio wiederum waren die Kosaken ein kostbares „Aushängeschild“ für eine vermeintliche inter-ethnische Harmonie in Mandschukuo, die nicht zuletzt durch die freie und traditionelle Lebensweise der Russen versinnbildlicht werden sollte. 40 41
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„Svedenija po voprosu o porjadke pereselenija rossijskich ėmigrantov v peredely Trechreč’ja“, August 1944, in: GAChK, f. R-830, op. 1, d. 204, ll. 11–12. Zum Beispiel das Schicksal des aus Trechreč’e ausgewiesenen Grigorij Kudin. „Raport“ von V. Sergeev, Leiter des BRĖM-Büros in Trechreč’e, an den Leiter der Abteilung III des BRĖM-Generalbüros in Harbin, 24.6.1943, in: GAChK, f. R-830, op. 1, d. 270, l. 81. 1935 soll sich ein Teil der Kosaken gegen den von den Japanern als neuen Leiter der Kosaken vorgesehenen General Tirbach gerichtet und dabei Tirbach sowie einige seiner Offiziere und Soldaten ermordet haben. Žernakov: Trechreč’e (wie Anm. 11), S. 3. Als 1938 der Grenzkonflikt zwischen Mandschukuo und der UdSSR eskalierte, sollen etwa einhundert Russen der Region als „sowjetische Spione“ (tong su) und Gegner Mandschukuos (fanman kangri) verhaftet, gefoltert und teilweise hingerichtet worden sein. E’erguna you qi zhi (wie Anm. 16), S. 692. „Večer kazač’ej molodeži“, Vremia, 24.3.1944. „Godovščina osnovanija imperii“, Vremia, 24.3.1944.
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III. DER KOSAKE ALS FILMSTAR Kehren wir im letzten Teil zu dem rätselhaften Filmstreifen zurück. Das Fragment aus dem Jahr 1939 hat eine Länge von etwa dreizehn Minuten und unterteilt sich grob in folgende acht Szenen: Landschaftsaufnahmen, die Mittagspause auf dem Feld, die Getreideernte, das Käsemachen, der Gottesdienst, das Essen zu Hause, der Festtanz und die Wehrübung. Der Film schließt – auf Russisch – mit dem Wort „Ende“ (konec). Weder der Regisseur noch der Titel des Films sind bekannt. Obschon die Produktionsgeschichte weitgehend im Dunkeln bleibt, lässt sich etwas über die Verortung des Films im japanischen Entstehungszusammenhang sagen. Bis Mitte der dreißiger Jahre war der Kinomarkt der nördlichen Mandschurei relativ liberal. In Harbin liefen in den russischen und chinesischen Lichtspielhäusern überwiegend Hollywood-Filme, aber ebenso Produktionen der damals noch in den Kinderschuhen steckenden chinesischen Studios sowie Spielfilme aus anderen Ländern.46 Grundlegend änderte sich die Situation erst nach der Gründung der Mandschurischen Filmgesellschaft Man’ei 1937, die auch diesen Dokumentarfilm produziert hat. Rasch ersetzten Filme aus Japan und Mandschukuo sowie importierte deutsche und italienische Produktionen mit russischen und chinesischen Untertiteln jene aus China und den Vereinigten Staaten. Die Gesellschaft befand sich zur Hälfte im Besitz der japanischen Regierung und der Südmandschurischen Eisenbahngesellschaft (Mantetsu), die wiederum seit 1906 eine Schlüsselrolle bei der kolonialen Expansion Japans in der Mandschurei gespielt hatte. Man’ei baute Studios in der Hauptstadt Xinjing. Das Unternehmen produzierte und vertrieb sämtliche Filme in Mandschukuo und war dabei ein durchaus unabhängig agierender Spieler des größten imperialen Filmmarkts Japans jenseits der Heimat, mit lokalen Stars und eigenen Filmzeitschriften, deren Produktionen in Lichtspielhäusern innerhalb des japanischen Imperiums, aber auch in Kinos der beiden Achsenmächte liefen.47 Neben den Kinotheatern in den urbanen Zentren der Mandschurei wurden die ländlichen Regionen mit mobilen Vorführanlagen erreicht.48 Man’ei war, so gesehen, ein wichtiger Teil der kulturellen Expansion Japans in Nordostchina mit dem Ziel, den Marionettenstaat daheim und in der Welt in ein positives Licht zu rücken und die „verächtlichen und fragwürdigen, oft nur für 46
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Lahusen: Dr. Fu Manchu (wie Anm. 2), S. 147–155 passim. Zur Geschichte des Kinos in China seit der späten Qing-Zeit Matthew D. Johnson: International and Wartime Origins of the Propaganda State. The Motion Picture in China, 1897–1955, UC San Diego 2008 (Dissertation), insbesondere S. 25–156 passim. The Manchuria Motion Pictures Corporation. Its Structure and Work, in: Manchuria 4 (20.7.1939), Hf. 15, S. 5–7, hier S. 5f. Über die relativ autonome Stellung der Manei-Studios im Geflecht der imperialen Filmindustrie Japans schreibt Baskett: Hunting (wie Anm. 2), S. 123–128. Besonders die Popularisierung des mobilen, preisgünstigeren 16-Millimeter-Kinos trug zur Verbreitung von „Bildungs“- und Unterhaltungs-Filmen jenseits der Städte bei. Manchuria Motion Pictures Corporation (wie Anm. 47), S. 6f.
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den Profit bestimmten Filme“ durch die Produktion guter Bildungs-, Kultur- und Unterhaltungsfilme zu ersetzen, um „den Nationalgeist und die nationale Bildung zu fördern“.49 Besonders nachdem das Japanische Kaiserreich ab 1937 außerordentlich expandierte, avancierten Filme zu einem zentralen Vehikel, das Publikum in den okkupierten Gebieten mit der japanischen Botschaft von der gemeinsamen pan-asiatischen Wohlstandssphäre zu erreichen. In vielem war Mandschukuo als Experimentierfeld hier Vorreiter gewesen.50 Zeitgleich verstärkten die japanischen Behörden die Zensur, die die in der Mandschurei und anderen Gebieten der japanischen Einflusssphäre aufgeführten Filme durchlaufen mussten.51 Welches aber waren die Themen des japanischen Kinos jener Zeit? Die von Man’ei produzierten und vertriebenen Filme lassen sich großzügig in zwei Kategorien unterteilen: Spielfilme sowie „nichtfiktionale“ Filme, zu denen Lehr-, Nachrichten- und Dokumentarfilme zählen. Viele der Spielfilme waren sogenannte goodwill films (shinzen eiga). Es waren oft idealisierte Darstellungen vor allem der japanisch-chinesischen Beziehungen in einem imperialen Kontext nach Vorstellungen des japanischen Pan-Asianismus, stilistisch oft eine Melange verschiedener Genres, in denen die Grenze zwischen Unterhaltung und Propaganda verwischte.52 Eine dieser fiktionalen Produktionen war Shimazu Yasujiros „My Nightingale“ (Watakushi no uguisu). Dieses insgesamt eher durchschnittliche Melodram ist insofern für die komplexe historische Realität „Mandschukuos“ lehrreich, als hier neben bösen Mandschuren (Han-Chinesen) die Hauptrollen einem hilflosen russischen Emigranten und seiner ebenso hilflosen japanischen Adoptivtochter zukommen, was letztlich wohl dazu führte, dass der Film nie in die Lichtspieltheater kam.53 Zu der zweiten, „nichtfiktionalen“ Kategorie zählt unser Dokumentarfilmfragment über die Kosaken von Trechreč’e. Ab 1937 produzierte Man’ei eine Reihe kurzer sogenannter „cultural films“ (bunka eiga), unter anderem mit dem Ziel, „die Harmonie zwischen den fünf dieses Land bevölkernden Rassen [races] zu fördern, den Massen die nationale Politik der Regierung einzuschärfen [und] eine führende Rolle in der landesweiten Anti-Komintern-Kampagne zu übernehmen“.54 Gesetze verpflichteten Kinobetreiber dazu, diese Streifen vor Unterhal 49 50
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Manchuria Motion Pictures Corporation (wie Anm. 47), Zitate auf S. 5 und 7. Über imperialen Nationalismus, Mandschukuo als eine Inszenierung eines Nationalstaats und ein großangelegtes Experiment der Moderne schreibt Prasenjit Duara: Sovereignity and Authenticity. Manchukuo and the East Asian Modern, Lanham 2003. Über die Zensur der japanischen Filmindustrie (nach deutschem Vorbild) und Direktiven bezüglich des Inhalts von Filmen schreibt Aiko Kurasawa: Propaganda Media on Java under the Japanese 1942–1945, in: Indonesia 44 (Oktober 1987), S. 59–116, hier S. 66–71. Baskett: Hunting (wie Anm. 2), S. 128–138. Einen ausführlichen Abriss und eine Interpretation des Handlungsablaufs liefert Lahusen: Dr. Fu Manchu (wie Anm. 2), S. 155–158. Noboru Hidaka: Cultural Films in Manchoukuo, in: Manchuria 4 (20.7.1939), Hf. 15, S. 22– 32, Zitat auf S. 22.
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tungsfilmen aufzuführen.55 Es gibt drei plausible Deutungsmöglichkeiten für die Art und Zielsetzung sowie das potentielle Publikum dieses Films: Die erste ist die Repräsentation der russischen Kosaken als integraler Bestandteil des multiethnischen Kaiserreichs Mandschukuo. Der Marionettenstaat war in den Augen der japanischen Entscheidungsträger keine Kolonie. Daher konnte Japan keinen Gebrauch von Slogans machen, welche die Kolonisierten subordiniert hätten. Pan-Asianismus wurde so zur Ideologie der „rassischen Harmonie“ (minzoku kyōwa) unter der Führung der Japaner. Die Kluft zwischen der japanischen Imperialmacht und der performativen Rassenharmonie konnte freilich nie überwunden werden, so wie die Machthaber auch mit dem Versuch scheiterten, einen Mandschukuo-Nationalismus zu generieren.56 Dies stimmt freilich nur bedingt, da Russen nicht Teil der fünf Ethnien Mandschukuos (Han-Chinesen, Mandschuren, Mongolen, Hui sowie die zu einer „Rasse“ zusammengefassten Japaner-Koreaner) waren und damit kein repräsentativer Bestandteil der ethnischen Vielfalt von Mandschukuo werden konnten. Somit blieben sie von der offiziellen Propaganda weitgehend ausgenommen und tauchten überwiegend in den russischsprachigen Medien Mandschukuos auf. Es ist also möglich, dass der Film nur für die russischen Emigranten in Mandschukuo bestimmt war – was das Wort „konec“ im Abspann erklären würde. Vielleicht verfolgte der Film das Ziel, den Russen im immerhin über eintausend Kilometer weit entfernten Harbin vorzuführen, wie ungetrübt das Leben der Kosaken im Grenzgebiet ist. Letztlich können wir hier nur spekulieren. Vergleichen wir aber die Szenen des Films mit den Illustrationen der russischsprachigen Harbiner Zeitschrift Rubež (Grenze), welche die positiven Texte illustrieren, so sind diese fast austauschbar. Bildunterschriften wie „die Kosaken-Jugend liebt es, auf Festivals zu den temperamentvollen Klängen des Akkordeonspielers zu tanzen“ ließen sich genauso in den Film übertragen.57 Da es bislang wenig Forschungen zu diesem Man’ei-Genre gibt, hilft ein Blick auf Untersuchungen der japanischen Propaganda auf der ab März 1942 okkupierten Insel Java, der uns zur zweiten Interpretationslinie führt. Dort begann im September 1942 die Produktion von Dokumentar-, Kultur- und Nachrichtenfilmen. Die Filme waren in der Regel zwischen zehn und 20 Minuten kurz und damit ähnlich lang wie das Fragment aus Trechreč’e. Im Gegensatz zu heutigen Nachrichtensendungen waren die Wochenschauen, die in den Kinos vor Spielfil 55
Diese Regelung galt zumindest mit der Erlassung des Filmgesetzes im Oktober 1939 in Japan, kam aber beinahe identisch später in Indonesien und anderen von Japan okkupierten Gebieten zur Anwendung. Kurasawa: Propaganda Media (wie Anm. 51), S. 67f. 56 Zum Konzept des japanischen Pan-Asianismus Tamanoi: Introduction (wie Anm.1), S. 10– 15. 57 Zur Entstehungsgeschichte der Kosaken-Diaspora siehe I. Smetanin: „Russkija derevni za rubežom“, Rubež, 6.5.1933, S. 12–13; und über das „glückliche Leben“ der Trechreč’eKosaken unter dem neuen Regime die Texte von A. Arsen’ev: „V kazač’ich stanicach po ėtu storonu Arguni“, Rubež, 25.2.1939, S. 12–13, Zitat auf S. 13; sowie den Bericht „V prostorach cvetuščago Trechreč’ja“, Rubež, 27.9.1941, S. 8–10.
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men liefen, mit einem Lehrauftrag verbunden. Es ging nicht um eine ereignisorientierte Berichterstattung, sondern um breitere, die gesamte Gesellschaft betreffende Themen, wie Aktivitäten sozial-politischer Organisationen oder die Steigerung der Produktionsleistung. Hauptanliegen waren also die Vermittlung der moralisch-geistigen Werte der politischen Führung und die Übermittlung praktischer und technischer Instruktionen. Es gab darunter beispielsweise Filme zur Vermittlung landwirtschaftlicher Techniken und handwerklicher Fertigkeiten wie Weben oder Pflügen. In mancher Hinsicht muten diese Filme aus der Kriegszeit wie Vorläufer des modernen audio-visuellen Bildungsfernsehens an.58 Ein Vergleich mit den bis 1939 von Man’ei produzierten „cultural films“ verdeutlicht, wie sehr sich die Filmformen innerhalb der japanischen Einflusssphäre ähnelten, mit Filmen zur Landwirtschaft, ländlichen Gemeinden und landwirtschaftlichen Genossenschaften, zur Tierhaltung und zu Grundnahrungsmitteln, über die Lebensverhältnisse der Menschen oder die verschiedenen Religionen Mandschukuos.59 Was spricht also gegen diese Interpretation? Der Film ist anders als die Mehrzahl der Produktionen nicht vertont, es fehlt – sehen wir von dem russischen „konec“ im Abspann ab – die Titelei. „Landwirtschaft in Mandschukuo“ (Rakudo wa kagayaku) von Takakuni Koakimoto ist zwar ebenso ein Stummfilm. Andererseits hat der Film aber chinesische Untertitel und ein klar auf landwirtschaftliche Thematik ausgerichtetes Script, statt ein thematisch weit gefächertes Feld (Landwirtschaft, Religion, Sitten) zu illustrieren.60 Möglich ist, dass der Film nie fertig gestellt worden ist, vielleicht auch weil er die Zensur nicht passierte. Wir wissen es nicht. Feldforschungen japanischer Wissenschaftler in Trechreč’e führen zu dem dritten Erklärungsansatz, der dieses Filmfragment eher in dem Bereich des Wissenschaftsfilms verortet. Koloniale Anthropologie, mit ihrer Kontrastierung „traditioneller“ Gesellschaften und der universellen Modernität der Metropole, war nicht nur der intellektuelle Arm der europäischen mission civilisatrice. Die Erforschung von lokalem Wissen, speziell ethnographische und anthropologische Feldforschungen, waren während der japanischen Kolonisierung der Mandschurei von dringlicher Bedeutung. Diese Untersuchungen hatten zum einen rein praktische Funktionen, indem sie dem neuen Verwaltungsapparat die benötigten Informationen über örtliche Lebens-, Arbeits- und Organisationsstrukturen lieferten. Zum anderen ging von dem Wissen eine Deutungshoheit der Imperialherren bei der Interpretation und Definition des Lokalen aus. Obschon der wissenschaftliche
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Vgl. Kurasawa: Propaganda Media (wie Anm. 51), S. 73–75 und die Liste der auf Java von Japan produzierten Filme im Anhang II ebd., S. 102–106. Für eine umfassende Themenübersicht: Manchuria Motion Pictures Corporation (wie Anm. 47), S. 7. Eine Liste der bis 1939 vertriebenen „cultural films“ findet sich bei Hidaka: Cultural Films (wie Anm. 54), S. 23–32. Hidaka: Cultural Films (wie Anm. 54), S. 24.
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Apparat sich freiwillig oder zwangsweise den imperialen Zielen unterzuordnen hatte, wäre es zu einfach, die Forscher als bloße Propagandisten abzutun.61 Ein Beispiel für diese Ambivalenz ist das große Interesse japanischer Forscher an der Region der drei Flüsse, an Sitten und Gebräuchen, an Architektur und Landwirtschaft und an der Geschichte der dort lebenden Russen.62 Die hohe Anzahl an Publikationen wirkt so, als seien japanische Ethnographen, Agrarökonomen oder Tuberkulose-Mediziner geradezu besessen von dem wenige tausend Seelen zählenden russischen Bauernvolk gewesen. Die wissenschaftlichen Publikationen sind viel zahlreicher als all jene zuvor von russischen Exilwissenschaftlern und später von chinesischen oder sowjetischen Fachkollegen verfassten Studien. Frappierend ist die Akribie und Liebe zum Detail in diesen Arbeiten. Unser Wissen über diese Menschen, die Struktur ihrer Bauernhäuser, die Methoden ihrer Viehzucht und die Vielfalt ihrer Lebensmittel stammt also zu einem großen Teil aus japanischen Federn. Ihre Texte waren nicht imperialistisch „von oben herab“ geschrieben. In ihren Forschungen war die Multikulturalität Mandschukuos nicht eine agitatorische Floskel, sondern Programm. Die Popularität der Region unter japanischen Wissenschaftlern wird im Vorwort der 1943 erschienenen Studie Lebens- und Wohnbedingungen der Russen von Trechreč’e in der Nordmandschurei (Hokuman sanka rojin no jūtaku to seikatsu), einer der zahlreichen in jenen Jahren von der Südmandschurischen Eisenbahngesellschaft herausgegebenen Schriften, etwas stereotyp und dennoch anerkennend formuliert: „[Die russischen Dörfer in der Region der drei Flüsse sind] zwar heutzutage wegen ihrer Milchwirtschaft berühmt. Jedoch beschritten [die Einwohner] zum Aufbau [der Dörfer] über zwanzig Jahre lang nicht im Geringsten einen ebenen, sondern einen steinigen Weg. Es ist nicht zu übersehen, dass ihr Erfolg der den Slawen eigentümlichen Beharrlichkeit geschuldet ist. […]
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Die Ideen des Imperiums und wissenschaftlicher Idealismus waren durchaus vereinbar. Hierzu die Untersuchungen der Entwicklung japanischer ethnographischer Repräsentationen am Beispiel lokaler Religionen in der besetzten Mandschurei von Thomas David DuBois: Local Religion and the Imperial Imaginary: The Development of Japanese Ethnography in Occupied Manchuria, in: American Historical Review 111 (2006), Hf. 1, S. 52–74. Das bedeutet freilich nicht, dass Ethnographen nicht die Rolle des professionellen Ethnologen bei der Rechtfertigung der japanischen Intervention in Asien übernahmen. Dazu: Kevin M. Doak: Building National Identity through Ethnicity: Ethnology in Wartime Japan and After, in: Journal of Japanese Studies 27 (2001), Hf. 1, S. 1–39. Hierzu etwa die enthusiastische Überblicksdarstellung über das Gebiet u.a. zu Geschichte, Wirtschaft und Landwirtschaft sowie Alltagsleben und Religion: Manshū jijō an’naijo, Sanka jijō (Zur Situation von Trechreč’e), in: Manshū jijō annaijo hōkoku, Hf. 94, Xinjing 1939; die ethnographische Studie Hokuman sanka rojin no jūtaku to seikatsu (Lebens- und Wohnbedingungen der Russen von Trechreč’e in der Nordmandschurei), hg. von Minami manshū tetsudō Kabushiki gaisha Hokuman keizai chōsajo, Tokyo 1943; oder den eher nüchternen Blick auf die Region von Ijō Yamazaki: Kōan hokushō sanka chihō gaikan (Überblick über die Region Trechreč’e im Nördlichen Xing’an-Bezirk), in: Mantetsu chōsa geppō 15 (1935), Hf. 3, S.1– 28.
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Aufgrund der unterschiedlichen Umweltbedingungen sowie der ungleichen Lebensgewohnheiten lässt sich [ihre Lebensform] zwar nur schwer übertragen; ihre lange Erfahrung in den nördlichen, kalten Gebieten ist jedoch zu achten. Weil es in der Form ihrer Landwirtschaft sowie des Lebens vieles zu lernen gibt, müssen wir deren Vorzüge annehmen, damit wir uns, wenn auch nur schrittweise, an das Klima des Nordens anpassen können. Was den japanischen Siedlern in der Gegenwart am meisten fehlt, ist also die Einweisung in das Leben [in der nördlichen Region].“63
Viele japanische Forscher sahen in den Kosaken demnach ein erfolgreiches Modell für die Adaption an ein unwirtliches Klima, an bestimmte Wirtschaftsformen und Arbeitstechniken, das auf andere Regionen der Mandschurei, speziell auf die Koloniedörfer des ambitionierten – letztlich jedoch weitgehend gescheiterten – Ansiedlungsprogramms für japanische Wehrbauern im Rahmen eines umfassenden Wissens- und Kulturtransfers in der Mandschurei übertragen werden konnte.64 Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Film – begleitend zu den schriftlichen Forschungsergebnissen – für ein japanisches Fachpublikum von Agrarspezialisten oder als Lehrfilm für japanische Neusiedler bestimmt gewesen ist. Gerade in der fast vierminütigen Ernteszene werden Sequenzen scheinbar endlos wiederholt. Falls nicht, so verfolgte Man’ei vielleicht ein anderes akademisches Ziel. In vielem (etwa dem Interesse an Religion und Festen) ähnelt dieser Film ethnographischen Studien über die Region, da er zahlreiche Details festhält, etwa dass beim Gottesdienst in der Kirche die Frauen links und die Männer rechts stehen. Im Lichte der übrigen Propaganda Mandschukuos, die das Land als einen Hort obsessiven Fortschritts stilisierte, erscheint der Film – egal welche Deutung nun die richtige ist – indes, als seien die Menschen darin aus der Zeit gefallen, als eine Hommage an das Traditionelle und an das exotische Europa. IV. FAZIT Das wissenschaftliche und gesellschaftliche Interesse an den Exilkosaken fernab ihrer Dörfer war groß und lag an der Schnittstelle zwischen Imperialismus und Globalisierung. Die filmische wie akademische Aufmerksamkeit hob diese winzige russische Kolonie aus ihrem lokalen Kontext heraus und erzählte ihre Geschichte ein für alle Mal. Wir bleiben freilich eine eindeutige Antwort auf die Frage schuldig, weshalb ein japanisches Kamerateam das Leben der russischen Kosaken filmte. Interpretation ist und bleibt ein wesentlicher Teil der Geschichte. Die russischen Grenzkosaken, ursprünglich selbst untergeordnete Agenten der russländischen Kolonisierung, wurden nach ihrer Flucht auf das chinesische Argun’-Ufer letztlich zu einer subalternen Gruppe von Kolonisierten. Bis zu einem 63 64
Hokuman sanka rojin (wie Anm. 62), S. 2. Ich danke Okuto Gunji für die Übersetzungen aus dem Japanischen. Ausführlich zu Japans Kolonisierungs- und Zuwanderungspolitik Louise Young: Japan’s Total Empire. Manchuria and the Culture of Wartime Imperialism, Berkeley 1998, S. 352– 398.
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gewissen Grad gelang es den Kosaken, im Machtvakuum fernab der Metropolen der Imperien ihre traditionelle Lebensweise zu wahren. Gerade dieses althergebrachte Leben der russischen Bauern zog die Aufmerksamkeit der Filmemacher auf sich. Doch ihr Schicksal in Mandschukuo war keineswegs sorglos und frei von der „großen Politik“, sondern strikt kontrolliert durch das BRĖM und andere imperiale Verwaltungsorgane. Da Filme – gerade in einem imperial setting gedrehte Dokumentarfilme wie dieser – ins Reich der Illusionen gehören, bekommt der Zuschauer von alledem wenig mit. Stattdessen leuchtete auf der Leinwand für manchen ein vertrauter, für andere ein exotischer oder belehrender russischer Wehrbauer auf, der auf diese Weise zu einem translokalen oder transkulturellen Medienphänomen avancierte. Vielleicht ist es der ernste, flüchtige Blick des chinesischen Kochs in Richtung Kamera, der mehr über die japanischen Souveräne verrät als all die Tänze und Paraden der Kosaken zusammengenommen. Japaner, die wohl wichtigsten Akteure, tauchen vor der Kamera nicht auf. Sie agieren – wie so oft in der Camouflage Mandschukuos – hinter den Kulissen. V. POSTSCRIPTUM Enhe (russ. Karagany) im August 2009: Das alte russische Dorf, so scheint es, lebt. In der Kirche sind heute ein Museum und eine kleine Bibliothek untergebracht. Der Dorfälteste Qu Changshan (alias Ivan Vasil’ev), Jahrgang 1921, und manch anderer polukrovec sprechen noch immer besser altes Russisch als Chinesisch. Herr Qu, Sohn einer transbaikalischen Bäuerin und eines Goldschürfers aus der Provinz Hebei, reicht zum Frühstück frisch gemolkene Milch, eingemachte Heidelbeerkonfitüre und selbstgebackenes lieba – so nennen die Menschen hier das russische Graubrot (chleb). Doch heute tun er und die anderen all dies als Betreiber von rustikalen Touristenherbergen mit Banja und Plumpsklo für solvente Abenteuerreisende aus Peking oder Xi’an, die diese russische Exklave als exotische Kulisse für einen durchaus bizarren Ethno-Tourismus entdeckt haben.65 Exoticism sells.
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Eigene Beobachtungen und Interviews des Autors mit Qu Changshan (Ivan Vasil’ev) am 9. August 2009 und mit Yang Yulan (Tamara Erechina) am 10. August 2009 in Enhe.
Der Kosake als Lehrer oder Exot? Szenen 1–4: Movie stills aus Man’ei-Dokumentarfilm über Trechreč’e
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Karte Bargas (Hulunbei’ers) um 1930 mit Trechreč’e (grau markiert) im Zentrum (leicht verändert, Original: E. J. Lindgren: North-Western Manchuria and the Reindeer-Tungus, in: The Geographical Journal 75 (1930), Hf. 6, S. 518-534, hier S. 520).
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Russisches Bauernhaus in Enhe (Foto: Sören Urbansky, August 2009)
Qu Changshan (Ivan Vasil’ev) vor seinem Haus in Enhe (Foto: Sören Urbansky, August 2009)
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Ivan Sokolov in seiner Küche in Abagajtuj (Foto: Sören Urbansky, August 2009)
Kinder der Jakimovs aus dem Dorf Ust-Urga, späte 1930er Jahre
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EXPEDITIONEN ZUR SEE UND POLARFORSCHUNG: WISSENSCHAFTSGESCHICHTE TRANSNATIONAL
„EINE HANDELNDE NATION WERDEN“ Die erste russländische Weltumseglung, 1803–18061 Martina Winkler I. WEGE UND ZIELE DER WELTUMSEGLUNG Als am 7. August 1803 die beiden Schiffe „Nadežda“ und „Neva“ in Kronstadt die Anker lichteten, um die erste russländische Weltumseglung zu beginnen, begaben die Seeleute sich in eine Welt, die in großen Teilen bereits durch europäische Entdecker kartiert war. Sich auf neue Techniken und Raumkonzepte verlassend, waren sie guten Mutes, dass es bald keine weißen Flecken mehr auf Weltkarten geben würde, die man mit fiktionalen Inseln oder attraktiven Illustrationen verdeckte. Dieses Konzept einer einheitlichen, vollständig erfahrbaren Welt faszinierte die Reisenden, und sie legten Wert darauf, sich als Weltreisende darzustellen. Doch machen die Quellen zu dieser Reise deutlich, dass diese „Welt“ ein laufendes Projekt war und kein vorliegendes Resultat. Das Bemühen der russländischen Seeleute, sich in dieses Projekt einzufügen, zeigt sich auch darin, wie wenig beispielsweise Maßeinheiten und Kommunikationswege zu diesem Zeitpunkt standardisiert waren und wie sehr die Festlegung der Welt auf Karten einem ständigen Änderungs- und Korrekturprozess unterlag. Dabei wird nicht nur die Entwicklung eines globalen Horizontes deutlich, sondern ebenso die Bedeutung europäischer Kommunikation und imperialen Ehrgeizes und der sich ergebenden Überlagerungen. Nicht selten ist die Erzählung des Globalen im 18. und 19. Jahrhundert in eine Erfolgsgeschichte der europäischen, insbesondere der britischen Marine eingebettet. Vor allem James Cook, der unangefochtene Superheld des britischen Empire, steht für Systematisierung, Standardisierung und Sicherung von Seefahrt und imperialen Ansprüchen und damit für nichts weniger als eine Änderung unseres Blickes auf die Welt.2 Neben dieser Leistung und diesem Höhepunkt modernen Den 1
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Da es sich bei der Besatzung der Schiffe keineswegs um eine ethnisch einheitlich „russische“ Gruppe handelte, spreche ich durchgehend von einem „russländischen“ Unternehmen und wage auch den Versuch, das Wort Rossijane mit dem zugegebenermaßen etwas sperrigen Begriff „Russländer“ zu übersetzen. Eine solche Heldengeschichte Cooks schreibt beispielsweise Brian W. Richardson: Longitude and Empire. How Captain Cook’s Voyages Changed the World, Vancouver, Toronto 2007.
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kens, so scheint es bis heute, müssen andere Expeditionen verblassen – warum also noch eine Auseinandersetzung mit der ersten russländischen Weltumseglung? Die Antwort und gleichzeitig eine Arbeitshypothese der folgenden Überlegungen lautet: Weil es – trotz aller Begeisterung für Heldengeschichten – nicht darum gehen kann, scheinbare „Leistungen“ zu registrieren und zu messen. Vielmehr stellt sich die Frage danach, wie die Akteure sich in einer Welt zurechtfanden und positionierten, die einerseits so neu erschien und andererseits in vieler Hinsicht bereits vorstrukturiert war – handelt es sich doch um eine Zeit der „Vermessung der Welt“. Die Ambitionen des traditionell als unbewegliches Kontinentalimperium geltenden Russländischen Reiches3 auf den Weltmeeren bilden dabei einen durchaus lohnenden Untersuchungsgegenstand. Der folgende Beitrag folgt der Reiseroute anhand der vorliegenden Reiseberichte und fragt danach, wie die Akteure der Expedition von 1803 bis 1806 „die Welt“, die sie umrundeten, wahrnahmen, wie sie sich darin orientierten und auf welche Weise und mit wem sie kommunizierten; was erschien neu, was vorstrukturiert und bereits aufgeteilt? Um es vorwegzunehmen: „vielschichtig“ ist auch hier das treffende Wort, und die Dimensionen des Globalen, des Europäischen und des Imperialen überschnitten sich in vielfältiger Weise. Um nicht nur die Orientierung der Seeleute zu beschreiben, sondern auch eine Orientierung des heutigen Lesers zu ermöglichen, vorab eine kurze Beschreibung der Reise: Am 7. August 1803 verließen die beiden Schiffe „Nadežda“ und „Neva“ den Hafen von Kronstadt. Die „Nadežda“ stand unter dem Kommando des aus einer baltendeutschen Familie stammenden Admirals Adam Johann / Ivan Fedorovič Kruzenštern, eines erfahrenen Seemannes, dessen Autorität als Kapitän jedoch offensichtlich einiges zu wünschen übrig ließ. Kapitän der „Neva“ war Jurij Fedorovič Lisjanskij, eines Priestersohns aus der Ukraine. Beide hatten in der Vergangenheit nicht nur in russischen Diensten gestanden, sondern waren auch auf britischen Schiffen gesegelt. Die beiden Schiffe segelten über Kopenhagen und Falmouth nach Teneriffa. Von dort führte die Reise sie nach Brasilien und um Kap Hoorn herum in den Pazifik, wo die beiden Schiffe ungewollt getrennt wurden, auf der Insel Nuku Hiva jedoch wieder zusammentrafen. Bei Hawaii trennten sich „Nadežda“ und „Neva“; Kruzenštern segelte nach Kamčatka
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Bezeichnend ist auch der Titel des Bandes von Frank McLynn: Captain Cook Master oft the Seas, New Haven 2011. Siehe dazu, auch problematisierend: James Gibson: Russian Imperial Expansion in Context and by Contrast, in: Journal of Historical Geography 28 (2002), S. 181–202; Herfried Münkler: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 2005. Diese Tradition wird neuerdings vorsichtig in Frage gestellt, so bei Kerstin Jobst, Julia Obertreis, Ricarda Vulpius: Neuere Imperiumsforschung in der Osteuropäischen Geschichte. Die Habsburgermonarchie, das Russländische Reiche und die Sowjetunion, in: Comparativ 18 (2008), S. 27–56; Guido Hausmann: Maritimes Reich – Landreich. Zur Anwendung einer geografischen Deutungsfigur auf Russland, in: Guido Hausmann, Angela Rustemeyer (Hg.): Imperienvergleich. Beispiele und Ansätze aus osteuropäischer Perspektive (Festschrift für Andreas Kappeler), Wiesbaden 2009, S. 489–509.
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und von dort aus nach Japan, um schließlich über China, durch die Sundastraße, vorbei am Kap der Guten Hoffnung, und über die Kapverdischen Inseln am 19. August 1806, nach ziemlich genau drei Jahren Reisezeit, wieder in Kronstadt einzulaufen. Lisjanskij dagegen segelte von Hawaii aus nach Russisch-Amerika. Die „Neva“ nahm anschließend ebenfalls den Weg um das Kap der Guten Hoffnung und erreichte Kronstadt am 22. Juli 1806. Im Reisebericht des Kapitäns Kruzenštern wird gleich zu Beginn die Rolle Russlands als Nachzügler in einem globalen Wettbewerb deutlich. Kruzenštern nutzte sehr explizit dieses seit dem 18. Jahrhundert durchaus gängige Argument, um seine Pläne zu erklären und zu legitimieren.4 Es ging ihm darum, wie er etwas umständlich formulierte, „Rußland in Absicht auf seinen Handel, aus dem Schlummer zu wecken, in den die Politik der handelnden Nationen Europa´s mit nur zu glücklichem Erfolg es einzuwiegen von je her bemüht war.“ Russland sollte nun endlich „reiche Früchte“ ernten, zu „eine[r] handelnde[n] Nation werden“ und die „ganz neue Wissenschaft des Handels“ für sich entdecken.5 Später schrieb er, die Expedition habe die Aufmerksamkeit Europas auf Russland gelenkt und bilde somit eine entscheidende Prüfung für das Prestige des Imperiums.6 Und nicht von ungefähr wurden schon bald umfassende Berichte geschrieben, publiziert7 und oft in kürzester Zeit übersetzt.8 Hinzu kam ein auf 4
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Ähnliche Argumente sind bereits früher formuliert worden, so z.B.: Izjavlenija pribytočnye gosudarstvu, Fedora Saltykova, 1714g, in: N. Pavlov-Sil´vanskij: Proekty reform v zapiskach sovremennikov Petra Velikogo, Moskva 2000, S. 181–232, S. 216ff; oder auch Nikolaj Golovins Vorschlag von 1732 (Library of Congress, Manuscript Division, Container 1, Russian Reproductions, XXIV, No.8). I.F. Kruzenštern: Putešestvie vokrug sveta v 1803, 4, 5, i 1806 godach, Bd. 1, St. Peterburg 1809–1813, S. v-vi. Die deutschen Übersetzungen Kruzenšterns in diesem Beitrag richten sich nach der Ausgabe: A.J. von Krusenstern: Reise um die Welt in den Jahren 1803, 1804, 1805 und 1806, St. Petersburg 1810. Kruzenštern: Putešestvie (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 46. Dass Kruzenštern nicht allein so dachte, liegt auf der Hand und wird deutlich z.B. in dem Rezanov gewidmeten Gedicht, das die Weltumseglung zu einer für die Zukunft Russlands entscheidenden „Heldentat“ stilisierte. Der Handschrift nach zu schließen, stammt dieses Gedicht vom Akademiemitglied Nicholas Fuchs: Library of Congress, Manuscript Division, Yudin Collection, Digitalisat mtfms y0010 046, , 11.08.2011. Jurij F. Lisjanskij: Putešestvie vokrug sveta na korable „Neva“ v 1803–1806 godach, (2 Bände), St. Peterburg 1812; I.F. Kruzenštern: Putešestvie (wie Anm. 5); Georg Heinrich Freiherr von Langsdorff: Bemerkungen auf einer Reise um die Welt in den Jahren 1803 bis 1807 (2 Bände), Frankfurt am Main 1812; F.I. Šemelin: Žurnal pervogo putešestvija Rossijan vokrug zemnogo šara, St. Peterburg 1816; erst später publiziert wurde Nikolaj Rezanov: Pervoe putešestvie Rossiian vokrug sveta, publiziert in mehreren Teilen, beginnend in: Otečestvennye zapiski 10 (1822), S. 194–219; nicht für die Publikation bestimmt dagegen waren Löwensterns Aufzeichnungen: Hermann Ludwig von Löwenstern: Eine kommentierte Transkription der Tagebücher von Hermann Ludwig von Löwenstern (1777–1836), Band 2: 1803– 1806: Die erste russische Weltumseglung, hrsg. v. Victoria Joan Moessner, Lewiston 2005. Das internationale Interesse wird deutlich an den zahlreichen Übersetzungen, Berichten und Abdrucken von Briefen und Journalen vor allem in deutschen sowie englischen Zeitschriften.
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wändig und attraktiv gestalteter „Atlas“, der kartographische Werke, Kupferstiche von Landschaften, naturwissenschaftliche Skizzen und ethnographische Abbildungen vereinte sowie weitere Wissenskompilationen aus verschiedenen Bereichen.9 Bereits während der Reise betrieb man Öffentlichkeitsarbeit: einen Brief an den Schriftsteller und Verleger Nikolaj Karamzin bezeichnete Löwenstern als „(z)weckmäßig, um unsere Ankunft in Teneriffa in die Zeitungen zu bringen“.10 Dieses Bemühen um ein interessiertes Publikum ist die wohl offensichtlichste Form, in der die Weltumseglung in verschiedene – hier russländische und europäische – Kommunikationsnetze eingefügt wurde; es ist jedoch keineswegs die einzige. II. AN BORD Die Weltumseglung der „Nadežda“ und „Neva“ verfolgte eine Vielzahl von Zielen, die von den beteiligten Akteuren auch sehr unterschiedlich bewertet wurden. Eine zentrale Rolle für die Ausrüstung der Reise spielten Versorgungsprobleme in Russisch-Amerika.11 Statt Proviant und Material wie Seile und Eisen durch Sibirien und über den Nordpazifik in die russländische Kolonie auf dem amerikanischen Kontinent zu bringen, wollte man den Seeweg um Kap Hoorn nutzen und so Versorgung und Handel vereinfachen. Auf diese Weise sollte eine Sicherung
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Siehe z.B. Journal of a Voyage from Brazil to Kamchatka; Extracted from a Letter of Dr. Espenberg, in: The Philosopher Magazine 22 (1805), S. 3–13 und S. 115–123; die Rezension zu Krusensterns Ozeanographie-Atlas in Journal of the Royal Geographical Society of London 7 (1837), S. 406–409; Quelques éclaircissements sur le voyage des Russes atour du Monde, communiqués par M. Horner à M. Depping, in: Annales des voyages, de la géographie, de l´histoire et de l´archéologie 21 (1813), S. 263–268. Die Reiseteilnehmer publizierten auch in verschiedenen Zeitschriften und korrespondierten mit gelehrten Gesellschaften, siehe z.B. Georg Heinrich von Langsdorff: Nachricht über die Tatowierung der Bewohner von Nukahiwa und der Washington-Insulaner, in: Allgemeine geographische Ephemeriden 34 (1811), S. 9–15. Z. B. Atlas zur Reise um die Welt in den Jahren 1803 bis 1806 auf den Schiffen Nadeshda und Newa, St. Peterburg 1814; A.J. von Krusenstern: Beyträge zur Hydrographie der Grössern Ozeane als Erläuterungen zu einer Charte des ganzen Erdkreises nach Mercator´s Projection, Leipzig 1819; A.J. von Krusenstern: Woerter-Sammlungen aus den Sprachen einiger Voelker des Oestlichen Asiens und der Nordwest-Kueste von Amerika. St. Peterburg 1813; Jurij F. Lisjanskij: Sobranie kart i risunkov prinadležaščich k putešestvii flota kapitana 1go ranga i kavalera Jurija Lisjanskago na korablie Nevie, St. Peterburg 1812; W.G. Tilesius: Naturhistorische Früchte der ersten Kaiserlich-Russischen, unter dem Kommando des Herrn v. Krusenstern glücklich vollbrachten Erdumseglung gesammelt, St. Petersburg 1813. Löwenstern: Tagebücher (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 46. Dies wird z.B. deutlich im Dienstvertrag der Russländisch-Amerikanischen Kompanie von 1802, wo die Ladung für Russisch-Amerika als Voraussetzung für das Auslaufen der Schiffe genannt wird. Library of Congress, Manuscript Division, Yudin Collection, Digitalisat mtfms y0010086, , 10.08.2011.
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der Russländischen Amerikanischen Kompanie (RAK) möglich werden, die zu diesem Zeitpunkt bereits mit gravierenden infrastrukturellen und personellen Problemen sowie dem schon jetzt deutlichen Rückgang an Pelztieren zu kämpfen hatte. Probleme des Imperiums und das Ziel einer besseren Nutzung der eigenen Ressourcen waren also direkt mit der globalen Unternehmung verknüpft; eine Reise um die Welt sollte unmittelbar die interne Kommunikation im Imperium und die Verbindung von Zentrum und Peripherie verbessern. Darüber hinaus sollte Russisch-Amerika zu einem Stützpunkt ausgebaut werden für intensiveren Handel mit China, neue Beziehungen zu Japan und idealerweise auch Wirtschaftsverbindungen nach Indien. In diesem Zusammenhang stand auch die Aufgabe der „Nadežda“, nicht nur den Beauftragten des Kaisers und der RAK Nikolaj Rezanov als Gesandten für Japan an Bord zu nehmen,12 sondern zusätzlich – gewissermaßen als Zeichen guten Willens und als lebende Gastgeschenke – fünf japanische Schiffbrüchige in ihre Heimat zurückzubringen. Darüber hinaus hatten die Seeleute den Auftrag, „die noch wenig bekannten Gebiete des Großen Ozeans zu erforschen“ und im Idealfall sogar sagenumwobene Inseln mit reichen Goldund Silbervorkommen endlich ausfindig zu machen.13 Astronomische Messungen, kartographische Aufzeichnungen sowie ethnographische Beschreibungen gehörten ebenso zu den Zielen der Reise. Dass die Motive einzelner Besatzungsmitglieder und Passagiere auch in persönlichem Ehrgeiz und Neugier zu suchen waren, versteht sich fast von selbst.14 Wirtschaft, Diplomatie, Wissenschaft und Abenteuergeist sowie natürlich imperiales Prestigedenken verschmolzen auf diese Weise zu einem Gemisch von Zielen und Motivationen, das durchaus Anlass zu Konflikten gab. Diese vielfältigen Ziele und Wünsche trafen auf limitierte Möglichkeiten: Der begrenzte Raum der Schiffe musste optimal aufgeteilt werden für Proviant für die Mannschaft, Warenladungen für Russisch-Amerika, wissenschaftliche Geräte und schließlich die Mitreisenden. Die ebenfalls begrenzte Zeit, die für die Reise zur Verfügung stand, musste effizient genutzt werden, um Wetterbedingungen, verschiedene Reiseziele und die Kommunikation der beiden Schiffe untereinander abzustimmen. Zusätzlich musste sicher gestellt werden, dass die für RussischAmerika bestimmte Ladung nicht vor der Ankunft verdarb, dass aber auch die diplomatische Gesandtschaft nach Japan möglich wurde und man außerdem die Zeit fand, die kriegerischen Konflikte der RAK mit den indigenen Tlingit auf der vor Alaska gelegenen Insel Sitka zu regeln – von Entdeckungen und Kartierungs-
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Ministr kommercii N.P. Rumjantsev poslanniku v Japonii N.P. Rezanovu, in: Vnešnaja politika Rossii XIX i načala XX veka. Dokumenty rossijskogo ministerstva inostrannych del, serija pervaja, tom pervyj, Moskva 1960, S. 491–497. Horner bezeichnete diese Interessenkombination eindeutig als Fehler: Quelques éclaircissements (wie Anm. 7), S. 264. Pismo g. ministra kommercii grafa Nikolaja Petroviča Rumjancova k g. kapitanu Kruzenšternu, in: Kruzenštern: Putešestvie (wie Anm. 5), Bd. 3, S. 406–412. Langsdorff: Bemerkungen (wie Anm. 7), Vorerinnerungen (unpaginiert).
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arbeit im Atlantik und Pazifik ganz zu schweigen.15 Die Schiffe erschienen somit als konzentrierte Räume, in denen Entscheidungen getroffen und sehr unterschiedliche Interessen miteinander vereint werden mussten – im Interesse des Imperiums und als Spiegel des Imperiums. Der Offizier von Löwenstern schwelgt in seinem inoffiziellen, nicht als systematisches Logbuch geführten Reisebericht in Schilderungen der Dispute an Bord. Hauptziele der Reise und Fragen der Weisungskompetenz standen ebenso zur Debatte wie die Repräsentation von Schiff und Besatzung nach außen.16 Insbesondere der aggressiv geführte Dauerkonflikt zwischen Kruzenštern und Rezanov erlebte verschiedene Höhepunkte und Peripetien – jedoch keine wirkliche Lösung – und stellte das Ideal infrage, demzufolge der Kapitän die imperiale Souveränität auf See repräsentierte. III. UNTER SEELEUTEN Nach innen, in der Binnenstruktur der Schiffsbesatzung, gab es also gravierende Probleme. Nach außen aber wollte man sich klar als Vertreter russländischer Macht und Kompetenz zeigen. Besatzung und Kapitäne von „Nadežda“ und „Neva“ wurden nicht nur mit Warenladungen und Aufgabenstellungen ausgestattet, sondern auch mit dem entsprechenden Bewusstsein: vor dem Auslaufen aus dem Hafen von Kronstadt wurden die „Schiffe [...] welche zum erstenmal die russischen Flagge um die Welt führen sollten“17, von verschiedenen Ministern und dem Kaiser selbst besucht, und ein Priester weihte die Schiffe. So selbstbewusst das Zeremoniell der Abreise erscheint, so wird doch im Verlauf der Berichte deutlich, dass die Zeichen von Souveränität und die Möglichkeiten der Kommunikation auf See alles andere als selbstverständlich und unproblematisch waren. Das Ritual des Salutierens beispielsweise, des Abfeuerns von Kanonenschüssen bei Einfahrt in und Ausfahrt aus Häfen, erscheint als eine Form von Kommunikation mit Tücken. Bei der Ankunft in Falmouth schickte Kruzenštern sicherheitshalber den Offizier Löwenstern an Land, um herauszufinden, ob ein möglicher Salut auch mit der gleichen Anzahl an Schüssen beantwortet würde. 15
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Siehe z.B. Extract of two Letters from Captain Von Krusenstern, Commander of the Russian Expedition to Japan, Dated the Harbour of St. Peter and St. Paul, July 19, and August 20, 1804, in: The Philosophical Magazine 1 (1805) 22, S. 3–13, S. 3. Löwenstern, Tagebücher (wie Anm. 7), passim; Brief Rezanovs an Alexander I. vom 9. Juni 1805, Library of Congress, Manuscript Division, Digitalisat mtfms y0010037, , 16.05.2011. Die Details und Hintergründe des Konflikts werden sehr ausführlich dargestellt bei Elena Govor: Twelve Days at Nuku Hiva. Russian Encounters and Mutiny in the South Pacific, Honolulu 2010, S. 27–37 und passim. Kruzenštern: Putešestvie (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 8. Siehe auch Löwenstern: Tagebücher (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 1 und S. 5f.
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Die Antwort war positiv, und so wurden jeweils neun Schüsse abgefeuert.18 So selbstverständlich war dies nicht, wie eine spätere Entscheidung Kruzenšterns zeigt: Vor Teneriffa liegend, entschied er sich ganz gegen einen Salut, um „die russische Flagge, welche hier zum erstenmal wehete, nicht der Beleidigung aus[zu]setzen“.19 In dieser kleinen Anekdote sind verschiedene Dimensionen der Orientierung russländischer Seeleute auf dieser Reise erkennbar: Der als offiziell und imperial verstandene Charakter der Expedition, die fremde Häfen mit Salutschüssen begrüßte; die besondere Situation eines Schiffes, das Russland erstmals an dieser Stelle repräsentieren durfte; aber auch eine gewisse Unsicherheit in Bezug auf die Möglichkeiten der Kommunikation. Diese Unsicherheit ist nicht auf eine Besonderheit der russländischen Marine zurückzuführen – Kruzenštern handelte hier nicht als Neuling auf den Meeren. Denn die Vorsicht in Bezug auf das Salutieren ergab sich nicht aus Unwissen, sondern vielmehr gerade aus guter Kenntnis der Gepflogenheiten und ausführlichen Informationen über internationale Probleme. Kruzenštern war bekannt, dass in der Vergangenheit englischen Kriegsschiffen zuweilen der Gruß verweigert worden war – und sein Wissensvorsprung ersparte dem russländischen Schiff eine solche Demütigung auf See. IV. SPURENSUCHE UND WEIßE FLECKEN Mit der Beschreibung solcher Situationen und der Erklärung seiner Entscheidungen stellte Kruzenštern sich nicht nur als besonders kompetent dar; er verknüpfte auch Innovation mit Erfahrung, Zukunft mit Vergangenheit, und schuf so ein Orientierungs- und Kommunikationsraster auf hoher See. Er selbst, als Kapitän und Leiter der zukunftsweisenden Expedition, wagte sich – so will es schließlich die narrative Dynamik einer jeden Reise – auf unbekanntes Terrain. Gleichzeitig aber reihte er sich, weitgehend nahtlos, in eine Tradition erfolgreicher Seefahrt ein. Die erste russländische Weltumseglung erscheint in mancher Hinsicht als eine Spurensuche, als eine Kommunikation mit den Vorgängern. So besuchten die Reisenden auf Hawaii wie selbstverständlich den Ort, an dem Inselbewohner James Cook töteten;20 die Grabstätte Charles Clerkes war Kruzenštern gleich zwei Abbildungen in seinem Atlas wert.21 Doch nicht nur durch solche eher touristisch anmutenden Bezugnahmen auf britische Kapitäne ordneten sich die russländischen Weltumsegler in die Tradition der „größten seefahrenden Nation“22 ein. Beide Schiffe führten eine umfangreiche Bibliothek klassischer Reiseberichte mit 18 19 20 21 22
Kruzenštern: Putešestvie (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 41. Siehe auch Löwenstern: Tagebücher (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 131, sowie Lisjanskij: Putešestvie (wie Anm. 7), Bd 1, S. 13. Kruzenštern: Putešestvie (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 52. Lisjanskij: Putešestvie (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 178f. Kruzenštern: Atlas (wie Anm. 9), Tab XXVIII und XXIX. Krusenstern: Reise (wie Anm. 5), S. ii.
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sich, zuweilen wurden kurze historische Abrisse in die Berichte eingefügt.23 Kaum zu übersehen ist auch die Art und Weise, in der Kruzenštern und Lisjanskij sich als rational handelnde Entscheidungsträger stilisierten, die – ganz in Cookscher Manier – scheinbare Details wie die tägliche gesunde Ernährung der Matrosen und das regelmäßige Lüften der Bettwäsche persönlich verantworteten, um die Gesundheit der Besatzung zu sichern.24 So groß die Hochachtung vor der britischen25 – und, in geringerem Maße, der französischen – Tradition aber auch war, so sehr beanspruchten Kruzenštern und Lisjanskij doch auch, über diese hinaus zu wachsen. Durch die Fülle an Bezugnahmen auf geographische Angaben von Cook oder La Pérouse stellten sich die russländischen Seeleute keineswegs nur als Lernende dar, sondern als aktive Teilnehmer der Vermessung der Welt.26 Entsprechend wurde ständig überprüft, bestätigt oder falsifiziert, es wurden Längengradangaben korrigiert, die Existenz von Inseln dementiert und Mythen dekonstruiert.27 Das berüchtigte und gefährliche Kap Hoorn umsegelten die Russländer – anders als viele ihrer Vorgänger – scheinbar ohne Probleme.28 Auf diese Weise bildeten die Entdeckungsreisen des späten 18. Jahrhunderts ein Raster, das den russländischen Weltumseglern im frühen 19. Jahrhundert nicht nur zur Orientierung diente, sondern auch als Arbeitsauftrag. Die aufklärerisch-rationale Konzeption von einer systematisch strukturierten Welt, in der Orte endgültig festgelegt und wiederauffindbar gemacht werden können und „weiße Flecken“ langfristig keinen Platz mehr finden, wurde hier weiter getragen.29 Gewissermaßen auf den 23 24
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Rezanov: Pervoe putešestvie (wie Anm. 7), S. 338f. Lisjanskij: Putešestvie (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 36 und S. 73; Kruzenštern: Putešestvie (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 119 und S. 127; Kruzenštern: Putešestvie (wie Anm. 5), Bd. 2, S. 456f. Dass die Kontrolle insbesondere in Bezug auf den Proviant nicht so funktionierte, wie Kruzenštern und Lisjanskij es gern darstellten, deutet Löwenstern an: Tagebücher (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 1 und S. 188f. Dass diese Hochachtung nicht kritiklos war, zeigt Lisjanskijs Darstellung der Äquatorüberquerung, bei der er die Zivilisiertheit der russländischen Feierlichkeiten im Vergleich mit den grausamen englischen Ritualen betonte. Lisjanskij: Putešestvie (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 37f; siehe auch Langsdorff: Bemerkungen (wie Anm. 7), S. 22f. Das Element der Abgrenzung von Briten fehlt bei Kruzenštern: Putešestvie (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 70f. Langsdorff: Bemerkungen (wie Anm. 7), S.70–75; bezeichnenderweise wurden in die englische Übersetzung von Lisjanskijs Reisebericht einige zusätzliche Hinweise auf Cook eingefügt, die sich im russischen Original nicht finden: Urey Lisiansky: A Voyage round the World, in the Years 1803, 4,5, &6. London 1814, S. 21 und S. 109. Z.B.: Lisjanskij: Putešestvie (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 44, 78f, 83f, 97f; Kruzenštern: Putešestvie (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 130f, 133f, 252f. Die im Text ständig auftauchenden geographischen, meteorologischen und astronomischen Angaben wurden am Schluss nochmals tabellarisch systematisiert: Kruzenštern: Putešestvie (wie Anm. 5), Bd. 3, passim. Lisjanskij: Putešestvie (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 73f; Kruzenštern: Putešestvie (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 121f. Als durchaus dramatisch wird dieser Reiseabschnitt allerdings geschildert von Espenberg: Journal of a Voyage from Brazil (wie Anm. 8), S. 4f. Z.B. sehr deutlich bei Kruzenštern: Putešestvie (wie Anm. 5), Bd. 2, S. 146. Zur Vermessung der Welt siehe z.B. Richardson: Longitude and Empire (wie Anm. 2), S. 20–45; Glyndwr Williams: Seamen and Philosophers in the South Seas in the Age of Captain Cook, in: Tony
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Schultern von Riesen der Seefahrt stehend, sahen Auftraggeber und Akteure der ersten russländischen Weltumseglung nun ihre Chance gekommen. Der Wirtschaftsminister Nikolaj Rumjancev erklärte ausführlich die bisherigen Unklarheiten in Bezug auf pazifische Inseln, die weder Spanier noch Holländer, Franzosen oder Briten hatten sicher lokalisieren können, und hoffte: „Vielleicht hat der Genius der Entdeckungen diesen Ruhm der Russischen Flagge unter Ihrer Führung vorbehalten. […] Meine Erwartungen […] würden umso vollkommener erreicht werden, wenn Russland auch seinen Theil zu dem allgemeinen Vorrathe menschlicher Kenntnisse beitrüge“.30
Und entsprechend waren es genau diese weißen Flecken, die Flächen zwischen den in Karten eingetragenen Seerouten, die Kruzenštern zu befahren versuchte: „Ich fuhr fort, einen Nordwest Curs zu steuern, um nicht in einer Gegend zu segeln, die von Byron, Wallis, Carteret, Bougainville, Cook und mehrern neuen Seefahrern, so sehr durchkreuzt worden ist“.31 Am deutlichsten wird der Wunsch, sich in ein global gedachtes europäisches Projekt einzuordnen, im technisch-nautischen Vorwort von Kruzenšterns Bericht. Hier erklärte er – systematisch, nicht punktuell in Fußnoten wie andere Berichtende – die Standards und Einheiten, innerhalb derer er sich orientierte: Zeitrechnung, Längenmaße, Kompassrhumben etc. Dabei blickte er eindeutig in eine Zukunft, die von Standardisierung und europäisch-globaler Vereinheitlichung bestimmt sein sollte: „Obgleich [die gregorianische Zeitrechnung] in Rußland noch nicht eingeführt ist, so habe ich doch […] geglaubt, sie der Julianischen vorziehen zu müssen.“ Nur auf diese Weise ließen sich komplizierte Umrechnungen und daraus erwachsende Fehler vermeiden. Wichtiger noch war Kruzenšterns Plädoyer für einen einheitlichen Meridian. Obwohl es keine schlagenden Argumente für einen bestimmten der gängigen Nullmeridiane gäbe – ob nun von Paris, London, Petersburg oder dem für russländische Nordpazifikfahrten üblichen kamčatkischen Avača aus gerechnet würde – sei doch, so Kruzenštern, eine Vereinheitlichung wünschenswert. Er selbst orientierte sich pragmatisch an Greenwich, da er vor allem mit englischen Berichten und Karten arbeitete.32
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Ballantyne (Hg.): Science, Empire and the European Exploration of the Pacific, Aldershot 2004, S. 277–295, S. 278f. Pismo g. ministra kommercii grafa Nikolaja Petroviča Rumjancova k g. kapitanu Kruzenšternu (wie Anm. 13). Kruzenštern nahm zu dieser Instruktion Stellung: Kruzenštern: Putešestvie (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 247ff. Kruzenštern: Putešestvie (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 124f; siehe auch Extract of two Letters from Captain Von Krusenstern (wie Anm. 16). Diese Argumente sind in der deutschen Version deutlich ausführlicher: Krusenstern: Reise (wie Anm. 5), S. iif.
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V. KOMMUNIKATION AUF DISTANZ Solche diskursiven Einordnungsversuche in Traditionen halfen allerdings nicht, wenn es um konkrete Notwendigkeiten der Kommunikation ging. Doch auch hier wird häufig die Verbindung von Vergangenheit und Zukunft deutlich, die Selbstdarstellung der russländischen Seefahrer als Newcomer mit glänzenden Aussichten. Das Aufeinandertreffen mit einem britischen Schiff in der Nordsee beispielsweise erschien zunächst gefährlich. Als sich aber herausstellte, dass Kruzenštern den Kapitän persönlich kannte, wurden aus Drohgebärden Hilfsangebote, ein kranker Passagier wurde von der „Nadežda“ auf die britische Fregatte verlegt, und Kruzenštern und Beresford pflegten angenehme Konversation – alte Freunde auf hoher See.33 Die russländischen Seeleute als neue Akteure auf den Weltmeeren fügten sich, so die Darstellung, auf flexible und kompetente Weise, wenn auch zuweilen etwas erstaunt, in die gegebenen Strukturen ein. Dass sie dabei unerwartet auftauchten, war zuweilen amüsant – „Ich freute mich sehr über das Erstaunen [eines portugiesischen Offiziers], als er erfuhr, dass Russländer Kap Hoorn umsegelten“34 – und häufig nützlich: denn so konnten sich „Neva“ und „Nadežda“ oft unbehelligt von innereuropäischen Konflikten durch die Ozeane lavieren.35 Wenn Kommunikationsformen weite Distanzen überwanden, so funktionierten traditionell etablierte und flexible Methoden nebeneinander. Die Praxis der Empfehlungsschreiben erinnert an bekannte Reisekonventionen innerhalb europäischer Grenzen, wenn auch angesichts der zu überwindenden Distanzen besondere Vorsichtsmaßnahmen ergriffen wurden, wie z.B. mehrfache Abschriften eines Briefes.36 Schiffe trugen Nachrichten von Autorität und Befugnissen über den Ozean.37 Anders aber als in den sich zunehmend territorialisierenden Nationalstaaten und Imperien des 18. und 19. Jahrhunderts musste Kommunikation auf den „nicht-territorialen“ Weltmeeren flexibler gestaltet werden.38 Die russländischen Seefahrer passten sich auch hier an, konnten aber ihr Staunen nicht verhehlen. Vor Afrika, so berichtet Kruzenštern bemerkenswert ausführlich, traf die „Nadežda“ auf ein Schiff, das nach Osten steuerte. „Ich vermuthete, dass es nach Europa ging, und wollte daher diese Gelegenheit benutzen, nach Russland zu schreiben“, als sich jedoch herausstellte, dass das aus den USA kommende Schiff nach Batavia fuhr. Dennoch, und „ungeachtet seiner Reise nach der südlichen 33 34 35 36
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Kruzenštern: Putešestvie (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 39; siehe für ähnliche Darstellungen: Lisjanskij: Putešestvie (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 41. Lisjanskij: Putešestvie (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 48. Ebd., S. 22f. Kruzenštern: Putešestvie (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 53, 139. Zum Thema der Empfehlungsschreiben äußern sich auch Lisjanskij: Putešestvie (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 23f und Langsdorff: Bemerkungen (wie Anm. 7), S. 77. So auch die erweiterten Machtbefugnisse für den Gouverneur von Teneriffa, siehe Kruzenštern: Putešestvie (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 53. Zur Konstruktion eines als „non-territorial“ verstandenen Ozeans in der Moderne siehe Philip E. Steinberg: The Social Construction of the Ocean, Cambridge 2001.
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Hemisphäre behielt der Capitain meine Briefe mit dem Versprechen sie vom Vorgebirge der guten Hoffnung aus, wo er einlaufen würde, nach Europa zu befördern“.39 Dem an möglicherweise nicht immer zuverlässige, aber dennoch fest strukturierte Postwege gewöhnten Kruzenštern war es eine Fußnote wert, dass die Briefe tatsächlich vier Monate später ihren Bestimmungsort erreichten. Dagegen erfahren die Leser nichts über den Inhalt der Briefe – die Anekdote beschäftigt nur aufgrund der großen Distanzen und der unerwarteten Verbindungen. Auf ähnliche Weise erwähnt auch Lisjanskij ein Gespräch mit Seeleuten aus den USA, das sich auf den Inseln von Hawaii ergab. Einer der Amerikaner war im Jahr zuvor bei Russisch-Amerika gesegelt und brachte nun die Schilderung vom Aufstand der Tlingit gegen die RAK in die Südsee. Lisjanskij erwähnte, von diesem Ereignis bereits in Hamburg in der Zeitung gelesen zu haben.40 Diese Koordinaten eines globalen Kommunikationsprozesses – Russland, USA, Russisch-Amerika, Hawaii, Hamburg – erschienen Lisjanskij eindeutig interessanter und berichtenswerter als die Nachricht selbst. Eher bedauerlich und absurd erschien den Reisenden, wie weit europäische Konflikte reichen konnten. Die Streitigkeiten zwischen zwei Europäern, die beide seit langem auf der Insel Nuku Hiva lebten, aber den, wie Kruzenštern meinte, „angebohrnen Hass zwischen Engländern und Franzosen“ nicht ablegen konnten, bildeten Grund für folgende Überlegungen: „Nicht genug, dass die Ruhe des ganzen gesitteten Theils der Welt durch sie [Frankreich und England] gestört wird, auch die Bewohner der kaum entdeckten Inseln dieses Ozeans, müssen den Einfluss der hassenswerten Rivalität dieser beyden Nationen fühlen […]. Wie traurig ist es nicht, dass selbst in dieser Entfernung; […] wenn selbst die halbe Welt zwischen ihren Geburtsörthern läge, wie Brüder vereinen müsste; dass hier, sage ich, zwey Europäer sich hassten, und bis auf den Tod verfolgen müssen“.41
VI. DAS BEKANNTE FREMDE Schließlich lohnt noch ein genauerer Blick auf ein weiteres Kommunikationsfeld: den Bereich der Kontakte mit Nicht-Europäern. Dabei ist zu unterscheiden zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen der spanischen und portugiesischen Kolonien, indigenen Völkern der Südsee, weiterhin Japanern und den Ein 39 40 41
Kruzenštern: Putešestvie (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 69f. Lisjanskij: Putešestvie (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 180f. Krusenstern: Reise (wie Anm. 5), S. 122f. Weniger ausführlich in der russischen Version: Kruzenštern: Putešestvie (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 140. Ob diese Einschätzung Kruzenšterns zutraf, darf allerdings bezweifelt werden angesichts der offenbar sehr schwachen Verbindung Joseph Kabris´ zu seiner Heimat Frankreich. Siehe dazu Govor: Twelve Days (wie Anm. 16), S. 75–78; Joseph Kabris / Jennifer Terrell: Joseph Kabris and His Notes on the Marquesas, in: The Journal of Pacific History 17 (1982) 2, S. 101–112.
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wohnern Russisch-Amerikas.42 Die Insel Teneriffa, der erste Aufenthalt im Atlantik, erschien den Besuchern als eine Zwischenstation – nicht nur in Bezug auf Entfernungen sowie als praktischer Ort zur Proviantaufnahme, sondern auch klimatisch und kulturell. Nach der Straße von Gibraltar erschienen die Kanarischen Inseln als ein weiterer Meilenstein, mit dem die Reisenden Europa nun endgültig zurückließen.43 Subtropische Fremdheit und europäischer Einfluss spielten hier zusammen auf eine Weise, die als angenehm, aber auch irritierend wahrgenommen wurde; die geographische Distanz erschien größer als die kulturelle. Langsdorff mit seinem ausgeprägten Blick für das Pittoreske fand es „erfreulich“, ein „so artig gebautes Städtchen unter einem so weit von uns entfernten Himmelstrich zu finden. Die […] Sitten und Gewohnheiten des Landes sind so wenig von den spanischen verschieden, daß man glauben könnte sich in das Mutterland versetzt zu sehen“.44 Die Suche nach „Ureinwohnern“ blieb vergeblich, und so wich man schmutzigen Halbkriminellen aus und nahm mit einer als kulturlos wahrgenommenen Oberschicht vorlieb.45 Die Besucher wurden zu Abendgesellschaften und Salons eingeladen – und konnten eine gewisse Überheblichkeit gegenüber dieser kolonialen Provinzgesellschaft nicht verhehlen.46 Brasilien wurde auf ähnliche Weise sehr stark als sozial differenziert wahrgenommen. Edle wilde Indigene, aus Afrika stammende Sklaven und die portugiesische Oberschicht wurden einerseits klar getrennt, gleichzeitig aber auch als Einheit wahrgenommen, die faszinierend war in ihrer Fremdheit und gleichzeitig Europäizität. Die Vergleiche mit Portugal und Spanien schienen nahe zu liegen,47 doch gleichzeitig konnte Langsdorff hier touristisch Einmaliges erleben: „So hatte man das Vergnügen die Urbewohner Africa´s in America tanzen zu sehen“.48 So wurden vielfältige Akteure gesehen; doch nur mit wenigen wurde gesprochen. Die Kommunikation verlief fast ausschließlich entlang sozialer Grenzen. Das globale Netzwerk, auf das die Russländer sich hier einließen, überwand (in Ansätzen) kulturelle Unterschiede und große Distan 42
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Die Beschreibungen Kamčatkas und Russisch-Amerikas werden hier aus Platzgründen und systematischen Überlegungen nicht ausführlich berücksichtigt. Die Reisenden traten als Vertreter der imperialen Macht auf und bewegten sich in einem äußerst komplexen Diskurs zwischen imperialem Zentrum, globaler Erfahrung, wirtschaftlichen Interessen, kriegerischen Disputen und Konflikten mit den Vertretern der RAK. Ansatzweise ist diese Situation diskutiert worden in Ilya Vinkovetskii: Circumnavigation, Empire, Modernity, Race. The Impact of Round-The-World-Voyages on Russia’s Imperial Consciousness, in: Ab Imperio 1–2 (2001), S. 191–210. Siehe auch Aleksej V. Postnikov: The First Russian Voyage Around the World and Its Influence on the Exploration and Development of Russian America, in: Terrae Incognitae. The Journal for the History of Discoveries 37 (2005), S. 53–62. Lisjanskij: Putešestvie (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 32. Langsdorff: Bemerkungen (wie Anm. 7), S. 8f. Siehe auch Rezanov: Pervoe putešestvie (wie Anm. 7), S. 173ff. Langsdorff: Bemerkungen (wie Anm. 7), S. 11. Lisjanskij: Putešestvie (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 26. Langsdorff: Bemerkungen (wie Anm. 7), S. 61f. Ebd., S. 43.
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zen, ließ aber soziale Schichtungen bestehen bzw. transferierte europäische Unterscheidungen in andere Kulturen. Die Südseeinseln wurden intensiver und auf andere Weise geschildert als die Kolonien auf den Kanarischen Inseln und in Brasilien, mit einem deutlich größeren Interesse für die hier lebenden Menschen. Hier erschienen die angenommenen kulturellen und zivilisatorischen Kontraste am deutlichsten, die Distanz wurde als besonders groß wahrgenommen. In der Südsee fügten die russländischen Reisenden sich am stärksten in gegebene Strukturen ein, in Diskurse, die in der Zeit des „pacific craze“49 nach 1763 entstanden waren, als britische und französische Seefahrer den Pazifik kartiert und imaginiert hatten. Immer wieder ist in den Quellen ein Spannungsverhältnis zwischen Erwartung und Erfahrung, zwischen vorstrukturierter und selbständig beschriebener Welt auszumachen. Insbesondere von Langsdorff hatte sehr genaue Erwartungen. Später beschrieb er die Ankunft in Nuku Hiva: „Sehnsuchtsvoll suchten wir, nach einer langen beschwerlichen Seefahrt, jene fruchtbaren, von Cook, Forster und andern so hochgepriesenen, mit den vortrefflichsten Brodbäumen, Coco´s- und Bananenwäldern angepflanzten Thäler der Südsee Inseln, und kosteten schon in Gedanken, die herrlichsten Früchte, ungeachtet wir noch nichts als kahler und öder Felsenklippen gewahr wurden“.50
Die Enttäuschung legte sich später ein wenig, als „man in einigen Felsenthälern Spuren von Kultur und Bevölkerung bemerken“51 konnte. Doch trotz aller Schönheit „ermüdete sie [die Landschaft] doch bald das Auge, durch das ewige Einerlei, da sie weder von Menschen, noch durch irgend eine, am Abhang des Berges weidende Heerde belebt wurde“.52
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Dieser Begriff geht zurück auf Peter James Marshall, Glyndwr Williams: The Great Map of Mankind Perceptions of New Worlds in the Age of Enlightenment, Cambridge 1982, S. 258. Langsdorff: Bemerkungen (wie Anm. 7), S. 75f. Ebd., S. 76. Ebd. (Herv. MW). Auch von Espenberg war enttäuscht, dass sich kein Kanu zeigen wollte: Journal of a Voyage from Brazil (wie Anm. 8), S. 6.
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Kupfer zu G.H. v. Langsdorffs Bemerkungen auf einer Reise um die Welt. Erster Theil nebst ausführlicher Erklärung, ohne Ort und Jahr, Viertes Kupfer (keine Paginierung).
Langsdorff wünschte sich eine exotische Kulturlandschaft, wie er sie von den Bildern William Hodges´ kannte – und behob den Mangel an Pittoreskem kurzerhand mit einem Kupferstich, der ein Kanu im Vordergrund präsentierte.53 Der mythische Moment des „Erstkontakts“ war also weniger von Überraschung als von Erwartungen bestimmt, die Inselbewohner wurden zu einem Element pastoraler Landschaftsideale. Dies war keine Zeit für Greenblattsches Staunen, zu sehr war die Welt, in welche die Russländer reisten, bereits vorstrukturiert worden.54 Andere Reisende legten auf das Konzept des Erstkontaktes gar keinen Wert mehr, so Lisjanskij, der erklärt, wie er rechtzeitig seine Besatzung mit der Herstellung von Metallgegenständen beauftragte, um die erwarteten Tauschgeschäfte mit den Inselbewohnern der Südsee vorzubereiten.55 Die Tauschgeschäfte 53 54 55
Die Frage nach dem Autoren des Kupferstichs muss hier offen bleiben. Entscheidend ist, dass Langsdorff diese Abbildung auswählte. Siehe Stephen Greenblatt: Marvelous Possessions. The Wonder of the New World, Oxford 1991. Lisjanskij: Putešestvie (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 81f.
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wurden ausführlich beschrieben, ebenso wie die erwarteten und offenbar unvermeidlichen sexuellen Angebote der Frauen und Mädchen.56 Diese Erfahrungen ebenso wie ethnographische Beobachtungen wurden sämtlich in das intertextuelle Raster der Südseebeschreibungen eingeordnet; Langsdorff erinnert sich bei einer äußerst angenehmen Fußmassage an Georg Forster, und Lisjanskij widerspricht demselben Forster mit der Beobachtung, die Ohren der Osterinselbewohner seien keinesfalls außergewöhnlich lang.57 Ebenso wie die Reisenden Inseln kartierten, legten sie auch Informationsschriften über die Bewohner der Inseln an. Dazu gehörten Wortlisten und das systematische Abarbeiten bestimmter, als relevant empfundener Fragen.58 Religion, Kleidung, Wohnungen, Totenkult und Nahrung gehörten dazu; besonders reizvoll waren in der Südsee außerdem die Themen Kannibalismus, Tätowierungen und Tabu.59 Dabei waren sich die Reisenden der Grenzen des Verstehens durchaus bewusst und brachten durch die Erwähnung von sprachlichen und kulturellen Differenzen eine gewisse Subjektivität und Vorsicht in ihre Berichte ein.60 Soziale Hierarchien spielten hier ebenfalls eine große Rolle und standen oft quer zum kulturellen Gegensatz. Der Kapitän sprach mit dem König, die einfachen Matrosen mit dem Volk.61 Auch mit Blick auf die eigene Besatzung wurden also „Zivilisiertheit“ und sozialer Status verknüpft, so beispielsweise wenn die sexuelle Freizügigkeit auf den Südseeinseln als für einfache Matrosen akzeptabel und amüsant, für Offiziere aber völlig indiskutabel betrachtet wurde. 62 Doch wurde nicht nur über indigene Völker gesprochen, sondern auch mit ihnen. Tauschgeschäfte, sexuelle Dienste und Gabentausch bildeten dabei nur Teile der Kommunikation zwischen russländischen Reisenden und Inselbewohnern. Darüber hinaus fungierten Indigene als Mittel, ja Briefträger für die Kommunikation der Europäer untereinander. Als sich die beiden russländischen Schiffe im Südpazifik aus den Augen verloren, hinterließ Lisjanskij bei den Bewohnern der Osterinseln Nachrichten für die möglicherweise nachfolgende Besatzung der 56 57
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Ebd., S. 206f. Langsdorff: Bemerkungen (wie Anm. 7), S. 47. Lisjanskijs Reminiszenz an Forster findet sich nur in der englischen Übersetzung: Lisiansky: A Voyage (wie Anm. 27), S. 59. Siehe außerdem für Korrekturen früherer ethnographischer Angaben Lisjanskij: Putešestvie (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 206; Kruzenštern: Putešestvie (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 217 und S. 221. Lisjanskij: Putešestvie (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 152–159, 194, 196; Langsdorff: Bemerkungen (wie Anm. 7), S. 153–159 und S. 300–303, siehe auch Kruzenštern: (wie Anm. 9), Tab VII-X. Lisjanskij: Putešestvie (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 168ff. und S. 209–213; Kruzenštern: Putešestvie (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 200f., S. 143–148, S. 209f. und S. 217ff.; Abbildungen in Kruzenštern: Atlas (wie Anm. 9), Tab VII-X. Z.B. Lisjanskij: Putešestvie (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 200f; Kruzenštern: Putešestvie (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 139f; Journal of a Voyage from Brazil (wie Anm. 8), S. 7. Rezanov, Pervoe putešestvie (wie Anm. 7), S. 395. Löwenstern: Tagebücher (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 1 und S. 184. Für die Frage, inwiefern diese Distanzierung der Realität entsprach (und für nicht allzu überraschende Hinweise dafür, dass sie dies nicht tat), sei verwiesen auf Govor: Twelve Days (wie Anm. 17), S. 84–90.
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„Nadežda“.63 Auch sonst wurden gern russische Münzen verschenkt, ebenso wie Holzstücke, in welche die Namen der Schiffe geschnitzt worden waren – Kruzenštern und Lisjanskij wollten nicht nur die Spuren anderer Europäer aufnehmen, sondern auch eigene hinterlassen. Wohlmeinend betrachtet, gaben die russländischen Reisenden den indigenen Bewohnern somit durchaus eine Stimme – jedoch nur eine, die aus europäischer Sicht interessant und nützlich war. Eine eigenständige Kommunikation von Südseevölkern untereinander, ein selbständiges, von europäischer Kultur unabhängiges „human web“ des Pazifiks erschien dagegen vollkommen undenkbar.64 Die große Reiselust der Hawaiianer konnte, so nahm Lisjanskij ganz selbstverständlich an, nur befriedigt werden durch europäische oder, besonders häufig, nordamerikanische Schiffe – schließlich waren diese es, die den Pazifik „erobert“ hatten. 65 VII. SONDERFALL JAPAN Die Kontakte mit Japan waren wiederum anders geprägt; hier spielten große wirtschaftliche Interessen eine Rolle, – die mit den individuellen Tauschgeschäften auf Hawaii und Nuku Hiva, wo es vor allem um Proviant ging, nicht zu vergleichen waren – verbunden mit dem Respekt für eine fremde, als hochstehend begriffene Kultur und der Angst vor diplomatischen Verwicklungen in dem als isolationistisch wahrgenommenen Land.66 Anders als bei den atlantischen Aufenthaltsorten und anders auch als im Südpazifik standen die russländischen Reisenden hier gewissermaßen allein; ohne frühere Reiseberichte und weitgehend auch ohne Karten unterwegs, mussten sie sich fast vollkommen eigenständig orientieren – geographisch ebenso wie kulturell.67 Dies galt für beide Parteien. Während die russländischen Seefahrer auf Südseeinseln genau wussten, welche Waren auf welche Weise getauscht werden konnten, mussten hier in hochzeremoniellen Begegnungen die Grundkriterien für künftige Kontakte verhandelt werden – eine Herausforderung für den als Diplomaten auftretenden Nikolaj Rezanov. Dieses kaum vorbereitete Aufeinandertreffen zweier fremder Kulturen war offenbar auch 63 64
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Lisjanskij: Putešestvie (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 93f. Ein solches pazifisches Netz wird identifiziert z.B. bei: John Robert McNeill, William Hardy McNeill: The Human Web. A Bird’s-Eye View of World History, New York 2003 sowie Epeli Hauofa: The Ocean in Us, in: The Contemporary Pacific. A Journal of Island Affairs 10 (1998), S. 392–409. Lisjanskij: Putešestvie (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 212. Kruzenštern: Putešestvie (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 306f. Die geographische Orientierungslosigkeit wird expliziter benannt, so z.B. Löwenstern: Tagebücher (wie Anm. 7), Bd.II, 1, 256f; Löwenstern betont in Japan deutlich stärker als anderswo die in die Kartierungsarbeit investierte Mühe: Löwenstern: Tagebücher (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 1, 269, 271, 278. Kruzenštern: Putešestvie (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 308. Auf bisherige Kontakte und Erfahrungen geht Kruzenštern ausführlich ein: Kruzenštern: Putešestvie (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 349ff.
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kaum dadurch gemildert worden, dass man immerhin mit fünf japanischen Passagieren eine halbe Weltreise hinter sich gebracht hatte.68 Auch die von Kruzenštern öffentlich verlesene Instruktion mit Verhaltensmaßregeln scheint nur wenig geholfen zu haben.69 Offizielle Empfehlungsbriefe durchliefen diverse Übersetzungsprozesse; ihre Rezeption zeigte deutlich, dass die Russländer sich hier – erstmals auf ihrer Reise – außerhalb des europäischen Kommunikationsradius befanden. Ebenso wenig wurde der Eindruck vermittelt, dass die niederländischen Dolmetscher vor Ort als eine Art natürliche Verbündete der Russländer begriffen wurden. Vielmehr entstand auch hier ein Erstkontakt ganz eigener Art, als die Dolmetscher sich einzelne russische Wörter aneigneten und die Russländer so ihren ersten, ausgesprochen irritierenden Eindruck von unterwürfigen und gedemütigten Europäern in diesem merkwürdigen Land ein wenig korrigieren konnten.70 Zwar hatten russländische Wissenschaftler, Unternehmer, Kosaken und Pelzjäger auf die Kurilen und nach Japan geblickt, seitdem Kamčatka zu einem Teil des Imperiums geworden war. Dennoch fehlte ganz offensichtlich ein Sicherheit gebender Diskurs, das über längere Zeit angehäufte und in Büchern und Köpfen kodifizierte Wissen. Die konkrete Kommunikationssituation brachte eine vollkommen andere Fremdheits-Situation mit sich als der Besuch der längst diskursiv erschlossenen Südseeinseln mit ihrer bequemen Exotik. Japan war fremd und schwer verständlich, doch es war von Beginn an klar, dass es sich bei seinen Bewohnern keineswegs um „Wilde“ handelte. Fremdheit wurde zuweilen in ein moralisches Gefälle übersetzt, aber niemals in einen Zivilisationsunterschied. Vernunft und vor allem „Kultur“ waren zentrale Konzepte, um Japan zu beschreiben, und Landschaften wurde vor allem wegen ihrer Kultiviertheit bewundert. Selbst Langsdorff fand hier das erwünschte Pittoreske vor.71 Das Interesse der Japaner an geographischen Fragenwird als strategisch, nicht als kindlich-naiv interpretiert; fehlende Kenntnisse werden konstatiert, aber nicht kritisiert.72 Die Be 68
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72
Die Kontakte zu den japanischen Passagieren scheinen ohnehin sehr dürftig gewesen zu sein; abgesehen von Löwensterns zitierwürdiger Aussage „Die Japaneser sind häsliche Leute, saufen wie die Igel und haben eine Menge Pretensions“ (Löwenstern: Tagebücher (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 1 und S. 12) werden die Gäste kaum erwähnt. Zu den frühen, schwierigen Kontakten zwischen Russland und Japan sowie zu früheren geographischen Erkundungen siehe George Alexander Lensen: Early Russo-Japanese Relations, in: The Far Eastern Quarterly 10 (1950) 1, S. 2–37 sowie George Alexander Lensen: The Russian Push toward Japan. Russo-Japanese Relations, 1697 to 1875, Princeton 1959. Löwenstern: Tagebücher (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 1 und S. 259. Langsdorff: Bemerkungen (wie Anm. 7), S. 204, S. 209; Kruzenštern: Putešestvie (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 319f. Kruzenštern: Putešestvie (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 294ff, 304f , 326; Langsdorff: Bemerkungen (wie Anm. 7), S. 205; Dennoch erinnert die Betrachtungsweise deutlich an ethnographische Muster, so. z.B. die Wortsammlung: Kruzenštern: Putešestvie (wie Anm. 5), Bd. 3, S. 342– 380. Langsdorff: Bemerkungen (wie Anm. 7), S. 208.
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richte zeigen hier keinen Kontrast zwischen Lehrenden und Lernenden, sondern das unvorbereitete Aufeinandertreffen zweier verschiedener Wissenskulturen.73 Deutlich anders gelagert als in der Südsee war in Japan auch die Handlungsund Entscheidungsmacht. Zwar billigen die Reiseberichte aus Nuku Hiva und Hawaii auch den indigenen Bewohnern einen Akteursstatus zu; nicht selten waren es die Inselbewohner, welche die Initiative ergriffen oder auch Entscheidungen trafen, die den Vorschlägen der Seefahrer zuwiderliefen. In wirklichen Konfliktfällen allerdings nahmen sich die russländischen Reisenden das Recht heraus, die letztgültige Entscheidung zu treffen – und sei es mit der Androhung von Gewalt, etwa durch Gewehrschüsse. In Japan dagegen ist deutlich, wie sehr die Reisenden – gezwungenermaßen – die Initiative aufgaben. Zwar bemühte sich Rezanov, in den Verhandlungen eine starke Position zu behalten und zumindest Kompromisse zu erzielen; doch blieben die Besucher in den meisten Fällen auf die Erlaubnis, Entscheidung oder Einladung der japanischen Gastgeber angewiesen.74 Kruzenštern nennt „die Zeit unseres Aufenthalts im buchstäblichen Sinn eine Gefangenschaft“ und kritisiert die Haltung seiner Gastgeber scharf.75 Entsprechend groß war die Freude, als die „Nadežda“ Japan endlich verlassen konnte. VIII. EINE WELT? Welche Dimensionen der Wahrnehmung und Orientierung werden hier also deutlich? Die Reisenden sahen sich klar in einer als Einheit verstandenen Welt, die von objektiv erscheinenden geographischen Koordinaten und – zuweilen überraschender – transkontinentaler Kommunikation bestimmt war. Häufig werden symbolisch-geographische Marksteine der Reise betont, welche „die Welt“ systematisierten: das Verlassen Europas bei Gibraltar, das Passieren des Äquators und die Umsegelung des berüchtigten Kap Hoorn. Die eigenartige Mischung aus Distanz und Erreichbarkeit in dieser einen Welt wird immer wieder angesprochen, so beispielsweise von Kruzenštern, wenn er mit einer etwas verwunderten Begeisterung über Cap San Juan schreibt, „dass es wenige Städte in Europa giebt, deren geographische Länge mit einer ähnlichen Genauigkeit bestimmt ist, als die dieses kahlen Felsens auf einer der rauhsten unwirthbarsten Inseln unsers Erdballs. Wie unendlich wichtig ist aber auch diese Genauigkeit für die Sicherheit der Schiffahrt!“76 73
74 75 76
Zu diesem Konzept u.a.: David Turnbull: (En)-Countering Knowledge Traditions. The Story of Cook and Tupaia, in: Tony Ballantyne (Hg.): Science, Empire and the European Exploration of the Pacific, Aldershot 2004, S. 55–76. Langsdorff: Bemerkungen (wie Anm. 7), S. 200ff., 211f., 219, 223, 229; Kruzenštern: Putešestvie (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 310ff. Kruzenštern: Putešestvie (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 309ff. Ebd., S. 113f.
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Dass sie meinten, sich in einer Welt zu bewegen, zeigen die Weltumsegler auch mit ihren sehr häufigen global gedachten Zuordnungen.77 Inselbewohner der Südsee werden mit antiken Statuen verglichen, brasilianische Sitten mit indischen gleichgesetzt, Superlative beziehen sich auf „die ganze Welt“.78 Es ist offensichtlich, welchen Wert die Reisenden darauf legten, sich in ein globales Netz einzuordnen und dafür zu sorgen, dass „Russland auch seinen Theil zu dem allgemeinen Vorrathe menschlicher Kenntnisse beitrüge“.79 Solche Globalisierung war jedoch nicht über Nacht entstanden und richtete sich auch nicht willkürlich und generell auf „die ganze Welt“. Vielmehr war es die europäische Begeisterung für pazifische Welten, welche das russländische Imperium auf den globalen Plan gerufen hatte, in einem ersten Versuch bereits in den 1780er Jahren unter Katharina II. Denn seit Beginn des 18. Jahrhunderts hatten russländische Händler, Wissenschaftler und zunehmend auch Beamte den Nordpazifik befahren und das Gebiet zwischen Beringstraße und der Aleutenkette zu einem Teil des Imperiums gemacht. Die Weltumseglung des frühen 19. Jahrhunderts war nun ein Schritt über diese Nische hinaus, gewissermaßen eine Globalisierung des Imperiums. Dieser Schritt allerdings war notwendig und möglich gemacht worden durch frühere Verflechtungsprozesse, sei es die zunehmende Konkurrenz spanischer und vor allem britischer Pelzhändler im von Russland beanspruchten Nordpazifik, sei es die Internationalisierung der russländischen Flotte durch Technik, Personal und Ausbildung, sei es die diskursive Eroberung des Pazifik im späten 18. Jahrhundert durch Briten und Franzosen. Auch aus diesem Grund muss das Unternehmen betrachtet werden als Teil der seit Peter I. vorangetriebenen Europäisierung Russlands, die mit dem Konzept der „Verwestlichung“ eben nicht vollständig beschrieben werden kann.80 Denn auch die Expansion nach Osten und die Reisen nach Süden bildeten Teile einer solchen Europäisierung, wenn auch vor exotischer Kulisse. Doch obwohl die russländischen Seeleute die Welt weitgehend durch eine von Europäern geschliffene Brille sahen, war ihr Eurozentrismus doch nicht strukturlos, unkritisch oder selbstverständlich: Die Verwunderung angesichts der weltweiten Kommunikationsprozesse wird in vielen Quellen deutlich. Auch war das Europa, dem man sich hier anschließen wollte, keineswegs einheitlich gedacht. Die aktuell erfolgreichen Seemächte Frankreich und – vor allem – England wurden den alten Kolonialmächten Spanien und Portugal eindeutig vorgezogen. Darüber hinaus wurden deutliche soziale und kulturelle 77
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Siehe hier für den breiteren Kontext auch John Gascoigne: The German Enlightenment and the Pacific, in: Larry Wolff (Hg.): The Anthropology of the Enlightenment, Stanford 2007, S. 141–171. Z.B. Langsdorff: Bemerkungen (wie Anm. 7), S. 41, 67. Pismo g. ministra kommercii grafa Nikolaja Petroviča Rumjancova k g. kapitanu Kruzenšternu (wie Anm. 13). Zur Idee von der Weltumseglung als Europäisierungskampagne jetzt auch: Simon Werrett: Technology on Display. Instruments and Identities on Russian Voyages of Exploration, in: Russian Review 70 (2011) 3, S. 380–396.
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Unterschiede gemacht, durch welche ein klarer Dualismus von „Wilden“ und „Zivilisierten“ gebrochen wurde. In der Zeit um 1800, die John Darwin als einen Wendepunkt von einem euroasiatischen Gleichgewicht hin zu westlicher Dominanz betrachtet,81 bemühten sich also auch russländische Akteure darum, ihren Handlungsradius geographisch auszuweiten und als Vertreter des Imperiums zu einem Teil der europäischen Gemeinschaft von globalen Entdeckern und Eroberern zu werden. Die Frage, ob Russland als Kontinentalimperium eine Zukunft hatte, sollte in den folgenden Jahren durchaus zur Debatte stehen,82 und die „Nadežda“ und „Neva“ vollzogen einen ersten Schritt in eine neue Richtung. Nicht von ungefähr werden spätere Kontakte z.B. nach Lateinamerika ebenso wie das Engagement Russlands auf Hawaii auf die Initialzündung der Weltumseglung zurückgeführt.83 Zu diesem Zeitpunkt aber ging es (noch) nicht um imperiale Expansion im klassischen Sinne. Die von den Weltumseglern verfolgten Strategien können vielmehr als diskursive Globalisierung bezeichnet werden, als das Aufnehmen und Hinterlassen von imperialen Spuren in einem globalen Raum, der mit europäischen Maßstäben vermessen wurde. Zwar gab die Entdeckung einer kleinen, unbewohnten Insel nordwestlich von Hawaii Gelegenheit, die klassischen Rituale der Benennung und Kennzeichnung zu praktizieren.84 Auf Sachalin machte sich Kruzenštern sogar vorsichtig Gedanken über eine mögliche russländische Kolonie85 und verlieh Buchten und Gebirgen Namen, „die jedem Russen theuer seyn müssen“: Elisaveta und Marija, die Namen der Töchter Alexanders I.86 Dies jedoch blieben Einzelfälle, und so brachte die kulturelle Begegnung in einer in großen Teilen bereits von Europäern aufgeteilten Welt vor allem eine neue Dimension mit sich: Tausch, Handel, Beschreibung ohne unmittelbares imperiales Interesse und das Einordnen russländischer Seeleute in ein europäisches, globales Narrativ. Das Unternehmen Weltumseglung sollte also nicht als eine Art Quantensprung betrachtet werden; vielmehr war es unmittelbar mit traditionellen Expansionsräumen verbunden, und die Sicherung Kamčatkas und Russisch-Amerikas 81 82
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John Darwin: After Tamerlane. The Rise and Fall of Global Empires, 1400–2000, London 2008. Vgl z.B. Anatole G. Mazour: Doctor Yegor Scheffer. Dreamer of a Russian Empire in the Pacific, in: The Pacific Historical Review 6 (1937), S. 15–20; Howard I. Kushner: Conflict on the Northwest coast: American-Russian Rivalry in the Pacific Northwest, 1790–1867, Westport 1975; Raisa V. Makarova: Russians on the Pacific, Kingston 1975. Russell H. Bartley: The Inception of Russo-Brazilian Relations (1808–1828), in: The Hispanic American Historical Review 56 (1976), S. 217–240; Glynn Barratt: The Russian View of Honolulu 1809–1825, Ottawa 1988. Lisiansky: A Voyage (wie Anm. 27), S. 251ff; zu der Geschichte solcher Rituale im russländischen Kontext siehe Martina Winkler: From Ruling People to Owning Land. Russian Concepts of Imperial Possession in the North Pacific, 18th and Early 19th Centuries, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 59 (2011) 3, S. 321–353. Kruzenštern: Putešestvie (wie Anm. 5), Bd. 2, S. 172. Ebd., S. 168.
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bildete ein zentrales Ziel des ganzen Unternehmens. Die außerdem in den Reiseberichten deutlich werdende Spannung zwischen Erwartung und Überraschung, die bei allem Stolz doch eher unaufgeregte Weise des Umgangs mit „dem Globalen“, und die weitgehend sehr selbstbewusste Art, mit der sich die Reisenden in bestehende Diskurse einfügten, zeigen ebenfalls, dass es sich hier keinesfalls um einen qualitativen Sprung von einem isolierten Außenseiter zu einem globalisierten Imperium handelte. Verflechtungen, Kontakte und Expansion waren alles andere als neue Erfahrungen für die russländische Elite – und im Übrigen auch für andere soziale Gruppen des Imperiums. In der Weltumseglung wurde die rationale, aufklärerische Dimension des westlichen Projektes der Vermessung der Welt verknüpft mit den imperialen Traditionen Russlands, in denen man gelernt hatte, die Tatsache zu akzeptieren, dass Kulturen und Strukturen sich Unifizierungsversuchen oft erfolgreich widersetzten. Der Wahrnehmungsradius der Russländer weitete sich, doch kann eine solche „Globalisierung“ zu diesem Zeitpunkt nicht verglichen werden mit den diskursiven Brüchen, welche die transatlantischen Reisen der frühneuzeitlichen Entdecker mit sich brachten. Vielmehr schufen westlicher Entdeckerdiskurs und russländische imperiale Tradition eine ausreichende Basis für die Seeleute, um ihr Unternehmen als angenehm ausgewogene Mischung von Neuem und Erwartetem darzustellen.
„WIR HABEN KÜHNE SEELEUTE GENUG…“ Russländische Arktisforschung in der Mitte des 19. Jahrhunderts aus globalgeschichtlicher Perspektive Birte Kohtz „...aber kaum maritime Expeditionen.“1 So klagte der Arktisforscher, Akademiker und Embryologe Karl Ernst von Baer in einem Schreiben an John Washington, Sekretär der Royal Geographical Society, im Jahr 1840. Anlass zu dieser Einschätzung war der Tod A.K. Civol’kas, Baers seemännischen Partners auf einer drei Jahre zuvor durchgeführten Expedition der Akademie der Wissenschaften zur Erforschung Nowaja Semljas. Bei einem neuerlichen Versuch, das Nord- und Ostufer der die Barentsee von der Karasee trennenden Insel zu kartieren, war Civol’ka umgekommen: „Vous savez que [le] pauvre Ziwolka est mort à Nowaja Zemlia. J’attends encore la permission de donner une petite note biographique sur mon compagnon de voyage – jeune homme passionné pour le Nord, qui ne désirait par mieux que de recevoir l’ordre d’aller chercher le pôle et de périr parmi les glaces. Je regrette seulement qu’il ait trouvé son tombeau si tôt et pas plus au nord.“2
Baers melancholische Beschreibung des Endes Civol’kas ließe sich ebenso als Skizze des Schicksals der russländischen Arktisforschung um die Mitte des 19. Jahrhunderts insgesamt lesen, und zwar in zwei Varianten. Einerseits spiegelt die lapidare Zusammenfassung der Lebenstragik des jungen Forschers auch jene einer Disziplin, die nach achtbaren Erfolgen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Flaute erfuhr. In den sechziger und siebziger Jahren traten sich Briten und Amerikaner, aber auch Deutsche, Österreicher und Skandinavier im Nordpolarmeer beim „Wettlauf zum Pol“ nahezu auf die Füße. Das Meer und der Pol wurden zu Objekten internationalen Interesses und nationaler Begehrlichkeiten. Was den größten Anrainerstaat anbelangt, folgte jedoch auf die dreißiger Jahre eine „period of almost total inactivity“.3 1
2 3
Karl Ernst von Baer an John Washington, Petersburg 24.02. / 07.03. 1840, in: Iz epistolarnogo nasledija K.M. Bera v archivach evropy. Sost., avt. vstupitel’noj staty, kommentariev i perevodov T.A. Lukina, St. Petersburg 1978, S. 121. Ebd. William Barr: The Arctic Ocean in Russian History to 1945, in: Lawson W. Brigham (Hg.): The Soviet Maritime Arctic, London 1991, S. 11–32. Zum „Wettlauf zum Pol“ vgl. Matti Lainema / Juha Nurminen: Die Entdeckung der Arktis, Stuttgart 2010, S. 246–272. Zur sow-
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Andererseits: Dass sich ein russländischer Geograph um 1840 mit derartigen Klagen an einen britischen Kollegen wenden konnte und sich mit diesem, anders offenbar als mit der eigenen Regierung, über die Bedeutung des Nordpols als Ziel einig war, verweist darauf, dass die erstgenannte Sichtweise auf russländische Arktisforschung zu kurz greift oder doch nur einen Teil des Bildes erfasst. Dies ist nicht zuletzt den Narrativen geschuldet, in denen die Geschichte der Arktisforschung noch immer erzählt wird. Im Vordergrund stehen oftmals spektakuläre Expeditionen, das Ringen tapferer Helden mit Entbehrung und Kälte und schließlich „Entdeckungen“ von Inseln, Durchfahrten und geographischen Punkten wie eben dem Nordpol. Dabei scheint die naturgegebene Akteurseinheit die des Nationalstaats zu sein, wie etwa ein Blick in das Inhaltsverzeichnis von Matti Lainemas und Juha Nurminens 2010 erschienenem Buch über die „Entdeckung der Arktis“ zeigt: von „Die Russen kommen“ über „Deutsche und Österreicher betreten die Bühne“ bis zur „Rückkehr der Wikinger“ in Gestalt Nordenskiölds und Stefánssons handelt es sich bei der Erforschung der Arktis offensichtlich um ein Unterfangen, das säuberlich nach nationaler Zugehörigkeit getrennt betrieben wurde.4 Michael Bravo und Sverker Sörlin haben den Zustand der Polarforschungshistoriographien 2002 als „national claustrophobia“5 beschrieben und zur Suche nach neuen Herangehensweisen aufgerufen: „Precisely for that reason, it is necessary in our time to get beyond the national historiography and find the themes and lineages that are of a wider scholarly interest and that will help us understand the role of science in the encounter of expanding industrial nations with new territories and indigenous populations.“6
Eine solche „besondere Betrachtungsweise“7 könnte, so die Annahme, die diesem Aufsatz zugrunde liegt, eine globalgeschichtliche Perspektive auf die Geschichte der russländischen Arktisforschung darstellen. I. JENSEITS DES NATIONALEN NARRATIVS – METHODISCHE ÜBERLEGUNGEN Auf den ersten Blick drängt sich die Erschließung des nördlichen Polarmeers, das zwischen Grönland, den Nordküsten Skandinaviens, Sibiriens und Amerikas liegend, den Nordpol bedeckt, als Objekt einer globalhistoriographischen Untersu
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jetischen Perspektive auf die Geschichte der russländischen Arktisforschung siehe: M.I. Belov: Arktičeskoe moreplavanie s drevnejšich vremen do serediny XIX veka, Moskau 1956 (=Istorija otkrytija i osvoenija severnogo morskogo puti 1). Lainema / Nurminen: Entdeckung der Arktis (wie Anm. 3), S. 8–9. Michael Bravo / Sverker Sörlin: Narrative and Practice – an Introduction, in: Dies.: Narrating the Arctic. A Cultural History of Nordic Scientific Practices, Canton, MA 2002, S. 8. Ebd., S. 9. Jürgen Osterhammel: Alte und neue Zugänge zur Weltgeschichte, in: Ders. (Hg.): Weltgeschichte, Stuttgart 2008, S. 9–32, hier S. 9.
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chung geradezu auf. Auf den zweiten Blick relativiert sich diese Plausibilität, scheinen doch Angehörige der europäischen Welt diese Erschließung weitgehend unter sich ausgemacht zu haben. Es handelte sich in der zeitgenössischen wie in der historiographischen Wahrnehmung um ein zwar internationales, aber doch intrakulturelles oder besser gesagt intrazivilisatorisches Projekt. Die nicht nur von Natalie Zemon Davies vorgetragene Forderung nach einer „global consciousness“ beim Schreiben der Geschichte, die zur Erforschung von „historical encounters between cultures that perceive themselves as radically different“, veranlasse, erscheint unter diesen Bedingungen nur schwerlich einlösbar.8 Sebastian Conrad und Andreas Eckert haben in ihrem Aufsatz über die mittlerweile zahlreichen Facetten des globalgeschichtlichen Prismas darauf verwiesen, dass das „Feld welt- und globalhistorischer Ansätze […] keineswegs einheitlich und zudem nicht besonders übersichtlich“ sei. Sie vertreten eine eher inkludierende Auffassung dessen, was unter einer globalgeschichtlichen Perspektive zu verstehen sei, und betonen, was die zahlreichen verschiedenen Ansätze verbinde: „Sie alle stehen im Zeichen einer Internationalisierung der Geschichtswissenschaft und der Ausweitung ihres Gegenstandes über die Grenzen des Nationalstaates hinweg.“9 Für eine Auseinandersetzung mit der Geschichte der Arktisforschung erscheint eben dieser Aspekt der Relativierung des Nationalstaates und der Konzentration auf „Abhängigkeiten und Transfers über (nationale) Grenzen hinweg“, wie es Klaus Kiran Patel als Definition transnationaler Geschichte vorgeschlagen hat, als zentral. Seine Definition bietet überdies den Vorteil, den Staat nicht vollständig auszublenden, sondern ihn als für die Akteure weiterhin existierende Bezugsgröße einzubeziehen.10 Eine dieserart von den Schubladen des nationalen Wettbewerbs losgelöste Betrachtung der russländischen Arktisforschung kann, wie ich zeigen möchte, bestehende Narrative von Flaute und Marginalität aufbrechen. Dies bedeutet nicht, unversehens das Bild einer harmonischen und ungestört von staatlicher Bevormundung agierenden transnationalen Forschergemeinde zu zeichnen. Neben der Abkehr von einer nach Nationen strukturierten Erzählung erfordert eine neue Geschichte der Polarforschung auch eine Abkehr von einer Geschichte der Helden und Entdeckungen. An ihre Stelle muss die Hinwendung zu einer Geschichte des wissenschaftlichen Arbeitens jenseits von Heldentum, Entdeckung und Entbehrung, eine Geschichte jener Vorgänge des Sammelns, Weitergebens, Tauschens von Informationen treten, durch die Wissensbestände erst geschaffen 8 9
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Natalie Zemon Davies: Global History, Many Stories, in: Jürgen Osterhammel: Weltgeschichte, Stuttgart 2008, S. 91–100, hier S. 95. Sebastian Conrad / Andreas Eckert: Globalgeschichte, Globalisierung, multiple Modernen: Zur Geschichtsschreibung der modernen Welt, in: Dies. / Ulrike Freitag (Hg.): Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen, Frankfurt am Main 2007, S. 7–49, hier S. 14. Kiran Klaus Patel: Überlegungen zu einer transnationalen Geschichte, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 52 (2004), S. 626–645, hier S. 631–633. Zwar grenzt Patel in seiner Definition transnationale und Welt- oder Globalgeschichte voneinander ab, dies ist aber vor allem darauf zurückzuführen, dass er Globalgeschichte synonym zu Weltgeschichte verwendet.
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wurden. Diese Forderung haben für andere Bereiche der Wissenschaftsgeschichte beispielsweise David Wade Chambers und Richard Gillespie unter Berufung auf Bruno Latour bereits 2000 gestellt: „Science is better understood as a polycentric communications network. During the nineteenth and twentieth centuries that network was fully institutionalized, which represented a revolution in knowledge making more significant for both science and society than the theoretical advances of the seventeenth century traditionally known as the Scientific Revolution.“11
Um Wissenschaft als vernetzte Angelegenheit erforschen zu können, bedürfe es, so Chambers und Gillespie, einer Untersuchungseinheit. Hierfür schlagen sie die „scientific locality“ vor, die sie als einen „local frame of reference“ definieren, „within which we may usefully examine the role of knowledge construction and inculcation“.12 Dieser könne sowohl geographisch als auch diskursiv oder sozial bestimmt sein. Als ein solcher Referenzrahmen soll im folgenden der wissenschaftliche Austausch über das Nordpolarmeer, über Fragen seiner Erschließung sowie der Entdeckung des Nordpols angenommen und so ein Blick auf russländische Arktiswissenschaftler als Teil einer transeuropäischen Wissenschaftslokalität geworfen werden. Im Fokus der Untersuchung stehen dabei der bereits eingangs erwähnte Karl Ernst von Baer / Karl Maksimovič Ber (1792–1876), Ferdinand von Wrangell / Ferdinand Petrovič Vrangel’ (1796–1870) und in geringerem Maße Friedrich Benjamin Lütke / Fedor Petrovič Litke (1797–1882), die sowohl durch die Leitung von Expeditionen als auch durch ihre Einbindung in den europäischen Kommunikationskontext als Arktisforscher wahrgenommen wurden und agierten. Baer verfolgte nach einem Studium in Dorpat, Wien, Würzburg und Berlin eine Laufbahn als Professor für Zoologie in Königsberg und ab 1826 als Mitglied der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg. In dieser Eigenschaft betraute ihn die Akademie 1837 mit der Leitung der Expedition nach Nowaja Semlja.13 Wrangell und Lütke hingegen gelangten nicht über die Universität, sondern über die Marine in die Eismeerforschung. Beide gehörten zu einer Generation von Marineoffizieren, die sich mit der Teilnahme an den Weltumsegelungen der Jahrhun 11
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David Wade Chambers / Richard Gillespie: Locality in the History of Science. Colonial Science, Technoscience, and Indigenous Knowledge, in: Osiris 2nd Series 15 (2000), S. 221– 240, hier S. 223. Ebd., S. 228. Vgl. Erki Tammiksaar: The Contributions of Karl Ernst von Baer to the Investigation of the Physical Geography of the Arctic in the 1830s-40s, in: Polar Record 38 (2002), S. 121–140. Zu Karl Ernst von Baer siehe auch: Erki Tammiksaar: The Contribution of Karl Ernst von Baer to the Study of Ethnic Minorities in the Russian Empire, 1819–1878, in: Michael Branch (Hg.): Defining Self. Essays on Emergent Identities in Russia. Seventeenth to Nineteenth Centuries, Helsinki 2009 (=Studia Fennica / Ethnologica 10), S. 139–151; Thomas Schmuck: Baltische Genesis. Die Grundlegung der Embryologie im 19. Jahrhundert, Leipzig 2009.
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dertwende Anerkennung erworben und für die Leitung der ihnen in den zwanziger Jahren anvertrauten Eismeerexpeditionen qualifiziert hatten.14 Sowohl Lütke und Wrangell als auch Baer entstammten einer deutschsprachigen adligen Elite im militärischen bzw. wissenschaftlichen Dienst am Imperium und waren neben den verwandtschaftlichen wie freundschaftlichen Beziehungen, in denen sie standen, auch durch ihre gemeinsame wissenschaftliche und wissenschaftspolitische Tätigkeit, etwa bei der Gründung der Russischen Geographischen Gesellschaft 1845, deren Vizepräsident Lütke wurde, eng mit einander verbunden. Sie gehörten einem „Wissenschaftlertypus“ alter Schule an, den Jan Kusber in Bezug auf Lütke als „eher urban und europäisch“ orientiert und dem „Kaiser und dem russländischen Staat“, weniger der russischen Nation verpflichtet, beschrieben hat.15 II. RÜCKENWIND – RUSSLÄNDISCHE EXPEDITIONEN INS EISMEER Die Geschichte russländischer Bestrebungen zur Erforschung des Eismeers ist nicht zu trennen von der Eroberung Sibiriens und der Konsolidierung der Herrschaft über die hinzugewonnenen Gebiete. Das durch die Entdeckungen des 18. Jahrhunderts ─ von den Kamtschatka- über die Akademie-Expeditionen bis hin zur Billings-Saryčev-Expedition am Ende des Jahrhunderts ─ nun mehr in groben Zügen umrissene Territorium bedurfte der Einbindung ins Russländische Reich. Wie beschwerlich es war, den Osten Sibiriens, die Beringstraße, die zwischen den Kontinenten befindlichen Inseln und die Siedlungspunkte in Alaska über Land zu erreichen, hatten die Expeditionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts hinlänglich gezeigt. Die Alternative, der Zugang zum Nordosten über das Wasser, wurde ab der Wende zum 19. Jahrhundert mit neuem bzw. erneuertem Elan exploriert: Fünfundzwanzigmal umrundeten im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts russländische Expeditionen die Erde, um zur Ostküste und dem amerikanischen Teil des Imperiums zu gelangen.16 Auf die Erschließung auf dem südlichen Seeweg folgte die Hinwendung zur Route nach Ostsibirien und in die amerikanischen Kolonien über das Polarmeer, d.h. die Nordost-Passage. Mehr als zehn Expeditionen wurden in der ersten Hälfte des Jahrhunderts, mehrheitlich in den zwanziger und drei 14
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Zu Lütke und Wrangell als Angehörige einer deutschsprachigen Dienstelite in Marine und Hydro- bzw. Geographie siehe Jan Kusber: Imperiale Wissenschaften und Expansion. Das Beispiel Fedor Petrovič Litke (1797–1882), in: Heinz Duchhardt (Hg.): Russland, der Ferne Osten und die Deutschen, Göttingen 2009, S. 103–117. Kusber: Imperiale Wissenschaften (wie Anm. 14), S. 114. Zu den Weltumsegelungen: Ilya Vinkovetskii: Circumnavigation, Empire, Modernity, Race. The Impact of Round-The-World-Voyages on Russia’s Imperial Consciousness, in: Ab Imperio 1–2 (2001), S. 191–210 sowie der Beitrag von Martina Winkler in diesem Band. Zur Bedeutung der Weltumsegelungen für die Entstehung von Russisch-Amerika vgl. neuerdings: Ilya Vinkovetsky: Russian America. An Overseas Colony of a Continental Empire, 1804– 1867, Oxford 2011, S. 35–52.
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ßiger Jahren, ins Polarmeer entsandt, von der Ludlov-Expedition 1806/1807 bis zur Reise Paul Krusensterns 1861/62 in die Kara-See. Bei letzterer handelte es sich allerdings um eine auf eigenem Schiff durchgeführte Nachzüglerin, die vor allem durch ihren dramatischen Verlauf ─ Krusenstern verlor die Ermak und musste sich mit der Mannschaft in einem tagelangen Marsch über das Eis zurück an Land retten – die zeitgenössische Aufmerksamkeit erregte.17 Die Ziele der Expeditionen Wrangells und Lütkes waren vor allem hydrographischer Natur. Wrangell wurde 1820 vom Admiralitäts-Departement mit der Leitung einer Expedition betraut, die „eine genaue Aufnahme der Nordwestküste Sibiriens, zwischen der Jana und Kolyma und bis an den Schelagskoj Noss machen, sowie auch die auf dieser Strecke befindlichen Inseln genau untersuchen“ sollte.18 Lütke hingegen erhielt im gleichen Jahr den Auftrag zu einer Expedition nach der Insel Nowaja Semlja, zunächst für eine „preliminaire Übersicht ihrer Ufer und die Erforschung der Größe dieser Insel durch Bestimmung der geographischen Lage einiger ihrer wichtigsten Vorgebirge und der Länge der Straße, welche den Namen Matotschkin Schar führt.“19 Im Laufe der vier im Rahmen dieser Expedition unternommenen Fahrten ins Eismeer erweiterte und differenzierte sich der Auftrag: Für das Jahr 1824 sah das Admiralitäts-Departement unter anderem den Versuch vor, die Insel nordostwärts zu umfahren, wenn es das Eis zulasse, und dieserart ihre Ostküste zu erreichen und zu kartographieren. Darüber hinaus sollte Lütke „im Norden in der Mitte zwischen Spitzbergen und Nowaja Semlja zu fahren versuch[t]en, um auszumachen, bis zu welcher Breite man in dieser Gegend vordringen kann.“20 Die Bestimmung der Längen- und Breitengrade möglichst zahlreicher Punkte an den Küsten Sibiriens und Nowaja Semljas, die Bestimmung von Meerestiefen, von Vereisungsgraden – all dieses Wissen diente letztendlich dazu, das Befahren des Polarmeers zu erleichtern. Die unter diesem Gesichtspunkt gesammelte Kenntnisse erwiesen sich vor allem als solche darüber, welche Schwierigkeiten beim Versuch, die Nordostpassage zu befahren, zu erwarten sein würden. In den vier Anläufen, die Lütke auf seiner Expedition nach Nowaja Semlja unternahm, gelang es ihm nur einmal, den Matotschkin Schar, eine Meerenge zwischen dem nördlichen und dem südlichen Teil der Insel zu durchfahren und die Kara-See zu erreichen, um die Ostküste 17
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Vgl. Ewert von Krusenstjern: Losgeknöpft durch die Welt. Bericht eines abenteurlichen Lebens im 19. Jahrhundert. Zusammengefügt aus Tagebüchern, Briefen und Dokumenten, Hannover-Döhren 1982. Es handelt sich eher um eine Biographie für den Familiengebrauch, allerdings ist hierin das von Krusenstern auf der Wanderung über das Eis verfasste Tagebuch publiziert. C. Ritter: Reise des kaiserlich-russischen Flotten-Lieutenants Ferdinand von Wrangel längs der Nordküste von Sibirien und auf dem Eismeere, in den Jahren 1820 bis 1824. Nach den handschriftlichen Journalen und Notizen bearbeitet von G. Engelhardt, Berlin 1839, S. 121. Fedor Petrovič Litke: Viermalige Reise durch das nördliche Eismeer auf der Brigg Nowaja Semlja in den Jahren 1821–1824, Berlin 1835, S. 96. Ebd., S. 333.
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Nowaja Semljas zu vermessen. Der Weg nordwärts um die Insel herum verbot sich völlig: hier versperrte unschiffbares Eis die Weiterfahrt und brachte Schiff und Mannschaft in Bedrängnis, so etwa beim ersten Versuch, die Westküste der Insel hinaufzusegeln: „Unterdessen näherten sich uns von der rechten Seite eine Menge von schwimmenden Schollen, von denen einige ungeheuer groß waren. Zum Glück erhob sich ein leichter Ostwind, wir setzten alle Segel bei, bewegten uns langsam hart am Rande des Eises und befreiten uns auf diese Weise aus unserer gefährlichen Lage. Diese beunruhigende Nacht machte auf uns alle einen tiefen Eindruck. Von allen Seiten umgaben uns Kolosse von Eis, die wie böse Vorbedeutungen durch die Finsternis schimmerten.“21
Obschon die Durchfahrt letztlich noch gelang, erwies die Expedition doch, dass es sich hier eigentlich immer nur um Ausnahmeleistungen handeln können würde. Die Resultate, die etwa zur gleichen Zeit, ebenfalls unter großen Entbehrungen, von Wrangell im Ostsibirischen Meer erhoben wurden, waren kaum ermutigender. Wrangell führte seine Messungen nicht mit dem Schiff durch, sondern befuhr die zugefrorene Eismeerküste mit dem Hundeschlitten. Seine Beobachtungen wurden 1827, als er sich bereits auf der ersten von ihm selbst geleiteten Weltumsegelung befand, von Georg Parrot herausgegeben und kommentiert.22 Eines der von Wrangell im arktischen Eis beobachteten Phänomene waren die „Polinjen“, „offenes Fahrwasser, das, einem See ähnlich, vom Eise wie von einem Kontinente eingeschlossen ist, in welchem die Wellen bald sich nur sanft kräuseln, bald mit Sturmes-Gewalt sich bewegen und wie Berge sich erheben.“23 Als die für die Schiffahrt bedeutendste betrachtete Wrangell die so genannte „große beständige Polinje“, deren Länge er mit 270 geographischen Meilen angab, wohingegen ihre „Breite, und folglich ihre Gränze nach dem Pole zu […] gänzlich unbekannt“ seien.24 Parrot zog aus den Wrangellschen Beschreibungen der Beschaffenheit des Eises und des Auftretens der „Polinjen“ einerseits grundsätzliche Schlüsse über die Gesetzmäßigkeiten der Eisbildung und -verteilung, die wiederum die Existenz einer noch nicht entdeckten Landmasse weiter nördlich nahe legten. Daneben aber bedeuteten die Beobachtungen aus Sicht des Wissenschaftlers das Ende der Pläne zur routinemäßigen Befahrung der Nordostpassage. Es sei deutlich geworden, so Parrot, dass „die südliche und die nördliche Gränze der großen Polinje Jahr um Jahr etwas näher aneinander rücken, woraus zu schließen ist, dass, wenn es auch in einem günstigen Augenblick einem kühnen Parry [der durch seine Leistungen auf der Suche nach der Nordwestpassage zum britschen Nationalhelden geworden war, B.K.] gelingen sollte, nach tausend ausgestandenen Gefahren die Beringstraße einmal zu erreichen, dennoch nie ein Handelsweg in dieser Weltge-
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Ebd., S. 358f. Ferdinand Petrovič Vrangel: Physikalische Beobachtungen des Capitain-Lieutenant Baron v. Wrangel während seiner Reisen auf dem Eismeere in den Jahren 1821, 1822 und 1823. Herausgegeben und bearbeitet von G.F. Parrot, Berlin 1827, S. 3. Ebd., S. 23. Ebd., S. 26.
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Birte Kohtz gend entstehen könnte, weil zu erwarten ist, dass von Jahr zu Jahr das Eis und so auch die Schwierigkeit der Durchfahrt sich mehren muß.“25
Die hydrographischen Expeditionen der zwanziger Jahre legten nahe, dass der Weg über das Polarmeer keine praktikable Variante für die Erschließung und Einbindung Sibiriens und Russisch-Alaskas darstellte. Vielleicht folgerichtig fand Baers Expedition zehn Jahre später unter veränderten Voraussetzungen statt. Anders als in den zwanziger Jahren zeichnete für die Ausrüstung und Beauftragung der Expedition nicht das Marineministerium, sondern die Akademie der Wissenschaften verantwortlich. Die Akademie-Expedition nach Nowaja Semlja 1837 verfolgte zoologische, botanische und geologische Fragestellungen und hatte keinen Marineoffizier, sondern mit Baer einen Gelehrten zum Leiter. In der Publikation ihrer Resultate standen eine möglichst umfassende Beschreibung und wissenschaftliche Klassifizierung der Flora und Fauna, nicht ihr Nutzwert im Vordergrund, ebenso wie die betriebene Geognostik vor allem zur Untersuchung erdgeschichtlicher Fragen gedient zu haben scheint, nicht der Suche nach Bodenschätzen.26 Nach den dreißiger Jahren klang das geostrategische Interesse am nördlichen Polarmeer ab. Die erste Nordost-Passage gelang bekanntlich erst 1878–80 unter schwedischer Flagge dem in Finnland geborenen, aber nach Schweden emigrierten Erik Adolf Nordenskiöld.27 Selbst nach ihrer Erschließung setzte Russland seine Zurückhaltung im Eismeer fort: Erst 1900 sollte wieder eine Expedition unter russischer Flagge die Nordost-Passage in Angriff nehmen.28 Die Ursachen hierfür sind zum Teil sicherlich in den entmutigenden Resultaten bezüglich der Nutzbarkeit des Eismeers als Verkehrsweg zu suchen. Ein weiterer Aspekt lässt sich vielleicht am ehesten mit Blick auf andere Staaten nachvollziehen, die sich nicht aus der Arktisforschung zurückzogen. Bravo und Sörlin verweisen beispielsweise auf die enge Beziehung zwischen skandinavischen Ausprägungen von Nationalismus und der Polarforschung: für die skandinavischen Länder sei die Arktis zum wichtigen Moment eines neu entstehenden nationalen 25 26
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Ebd., S. 38. Karl Ernst von Baer: Expedition à Novaïa-Zemlia et en Laponie, in: Bulletin scientifique publié par l’Academie Impériale des Sciences de Saint-Petersbourg, Bd. III, St. Petersburg 1838, Nr. 6/7: Récit historique, S. 96–107, Nr. 8/9: Tableau Physique: Premier article: Les bords de la Mer Blanche et la Laponie, S. 132–159, Nr. 10 Tableau Physique: Second Article: Constitution géognostique de Novaïa-Zemlia, S. 151–159, Nr. 11/12: Tableau Physique: Troisième Article: Végétation et climat de Novaïa-Zemlia, S. 171–192, Nr. 22: Tableau Physique: Quatrième Article: Vie animale à Novaïa-Zemlia, S. 343–351. Zumindest unter finanziellen Gesichtspunkten handelte es sich bei Nordenskiölds Reise durchaus um ein trasnationales Unternehmen: neben dem schwedischen König und Oscar Dickson hatte auch Aleksandr Sibirjakov ein russischer Goldminen-Magnat, in das Unternehmen investiert. Vgl. Gösta H. Liljequist: High Latitudes. A History of Swedish Polar Travels and Research, Stockholm 1993, S.118. Ebd., S. 148–150.
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Selbstverständnisses geworden.29 Es steche ins Auge, so Sörlin in Bezug auf den schwedischen Fall, wie eng Polarforschung hier mit der Regierungsmacht verknüpft gewesen sei: „King and parliament sponsored a number of Arctic expeditions, the King was protector and honorary member of the Swedish Society for Geography and Anthropology, an important agency for polar research.“30 Über die finanziellen Aspekte hinaus habe die Arktisforschung als wichtiger Bestandteil eines „official nationalism of Sweden“ auch ideelle Unterstützung durch den König erfahren. Ihre Helden, wie etwa Nordenskiöld, boten Projektionsflächen zur nationalen Selbstversicherung in einer Phase der gesellschaftlichen Verunsicherung durch forcierte Industrialisierung. Eine ebenso große Rolle spielte, so Sörlin, die Arktis als geographisches Gebiet: „The Arctic North was drawn into the official national landscape as a kind of natural and legitimate extension of it. With science as an instrument of official nationalism, Spitsbergen and beyond was appropriated as Swedish national space.“31 Diese Funktion eines geographischen Ortes, an dem sich das Selbstverständnis des Landes aushandeln und festmachen ließ, konnte die Arktis für das russländische Imperium zu diesem Zeitpunkt offenbar nicht erfüllen. Vielmehr nahm Sibirien eine vergleichbare Rolle ein.32 Spätestens ab den 50er Jahren verlagerte sich das von offizieller Seite geförderte wissenschaftliche Interesse in dessen Landesinneres. Als prägend erwies sich hier vor allem die Expedition Alexander von Middendorffs, die zum Auslöser für die Gründung der Russländischen Geographischen Gesellschaft wurde.33 Diese war, anders als etwa die Royal Geographical Society, nicht auf weltweite geographische Forschung, sondern auf die bessere Kenntnis des Imperiums ausgerichtet. Folgerichtig standen, wie Claudia Weiss festgestellt hat, nicht länger „die Beringsee, die Küsten Kamtschatkas, die Aleuten und die Kurilen“ im Zentrum des Interesses, sondern „das Innere Ostsibiriens, der Ferne Osten des Reichs und das Amurgebiet.“34 Die Umwidmung der in den Anfangsjahren der Gesellschaft unter Lütke geplanten Kamtschatka-AmerikaExpedition zur Großen Sibirien-Expedition zu Anfang der 50er Jahre kann als 29 30
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Bravo / Sörlin: Narrative and Practice (wie Anm. 5), S. 7. Sverker Sörlin: Rituals and Resources of Natural History. The North and the Arctic in Swedish Scientific Nationalism. In: Bravo / Sörlin (Hg.): Narrating the Arctic. (wie Anm. 5), S. 73–122, hier S. 108. Ebd., S. 110. Zur Rolle der Arktis für das britische nationale bzw. imperiale Selbstverständnis siehe Janice Cavells Untersuchung der Polarforschungsdiskussion in der britischen Presse: Janice Cavell: Tracing the Connected Narrative. Arctic Exploration in the British Print Culture, 1818–1860, Toronto 2008. Vgl. Mark Bassin: Imperial Visions. Nationalist Imagination and Geographical Expansion in the Russian Far East, 1840–1865, Cambridge 1999. Rossiskoe Geografičeskoe Obščestvo, später Imperatorskoe Rossiskoe Geografičeskoe Obščestvo im folgenden RGO. Zur Gründungsgeschichte der RGO siehe: Claudia Weiss: Wie Sibirien unser wurde. Die Russische Geographische Gesellschaft und ihr Einfluss auf die Bilder und Vorstellungen von Sibirien im 19. Jahrhundert, Göttingen 2007, S. 37–67. Ebd., S. 80.
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Schlusspunkt des offiziellen Interesses am Nordpolarmeer im 19. Jahrhundert gelesen werden. III. FLAUTE? RUSSLÄNDISCHE ARKTISFORSCHER IN DER EUROPÄISCHEN POLARWISSENSCHAFT Die geographische Wende zum Interesse am Inneren des Imperiums und am Russischen, das sich in den folgenden Jahren noch verstärken sollte,35 ließ das Verständnis von Sinn und Ausrichtung geographischer Forschung, wie es Lütke oder auch Wrangell pflegten, innerhalb Russlands als etwas aus der Zeit gefallen erscheinen.36 Auf der transnationalen Ebene der Polarwissenschaft hingegen erwiesen sie sich als gut in aktuelle Diskussionszusammenhänge integriert – inhaltlich wie strukturell. Sowohl Baer als auch Wrangell und Lütke veröffentlichten die Berichte ihrer Reisen zunächst nicht auf Russisch, sondern ganz selbstverständlich auf Deutsch – für Wissenschaftler ihrer Generation neben dem Französischen eines der internationalen Verkehrsidiome der Wissenschaft. Auch das Bulletin der Russischen Akademie der Wissenschaften etwa, in dem Baer seinen deutschsprachigen Bericht von der Expedition nach Nowaja Semlja publizierte, erschien auf Französisch, war es doch „spécialement destiné à tenir les savants de tous pays au courant des travaux exécutés par l’Academie, et à leur transmettre sans délai les résultats de ces travaux“. [Hervorhebung im Original, B.K.]37 Ein weiteres Schaufenster russländischer Wissenschaft schuf Baer mit den 1839 gegründeten und bis 1872 erscheinenden deutschsprachigen Beiträgen zur Kenntniss des Russischen Reiches und der angränzenden Länder Asiens, die ein Forum boten, in dem Arbeiten zur Geographie Russlands einem internationalen Publikum in Ausführlichkeit präsentiert werden konnten, anders als, wie Baer meinte, in den im Ausland erscheinenden Zeitschriften: „Sie beehren mich doch“, so schrieb er etwa 1842 an Wrangell, „morgen mit Ihrem Besuche, denn ich glaube, es ist die höchste Zeit etwas nach London zu schicken, wenn überhaupt etwas geschickt werden soll. Ich habe über die Reisen von Ruprecht, Karelin, Schrenck und das Reise-Projekt in Jakutsk u.s.w. berichtet auf Briefpapier, so daß man den Bericht absenden kann. […] Ich möchte aber das Material, das nach England geht, und was dort doch nur ganz kurz wiedergegeben wird, in den ‚Beiträgen‘ wiedergeben. Davon mehr mündlich.“38
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Vgl. Wladimir Berelowitch: Aux Origines de l’ethnographie russ: La société de géographie dans les années 1840–1850, in: Cahiers du Monde Russe et soviétique 31 (1990) Hf. 2/3, S. 265–274. Kusber: Imperiale Wissenschaften (wie Anm. 14), S. 115–117. Bulletin scientifique publié par l’Academie Impériale des Sciences de Saint-Petersbourg, Bd. IV, 1838, Nr. 4, S. 1. Baer an Wrangel, St. Petersburg, 13. April 1842, in: Perepiska Karla Bera po problemam geografii. Publikacija, perevod i primečanija T. A. Lukinoj, St. Petersburg 1970, S. 197.
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Neben ihren Publikationen waren die russländischen Geographen des Polarkreises auch über persönliche Beziehungen in die europäische Forschungslandschaft eingebunden. Die Zahl der Kontakte, die etwa Baer pflegte, entsprach der Vielfalt seiner wissenschaftlichen Interessen – nicht nur als Geograph, sondern auch als Zoologe, Embryologe und Anthropologe stand Baer mit Kollegen und Institutionen aus dem deutschen Raum wie auch aus England, Italien oder Schweden in Verbindung, wovon sein umfangreich erhaltener Briefwechsel zeugt.39 Eine wichtige Rolle bei der Vernetzung mit anderen europäischen Arktisforschern spielte für Baer wie für Wrangell die Royal Geographical Society in London, der beide als korrespondierende Mitglieder angehörten. Einerseits wurden Forschungsresultate, etwa eine gekürzte Zusammenfassung von Baers Bericht über die Expedition nach Nowaja Semlja, im Journal of the Royal Geographical Society publiziert.40 Der Briefverkehr Baers mit der Royal Geographical Society [RGS] gibt darüber hinaus einen Einblick in die verschiedenen Ebenen, auf denen die Gesellschaft als Bindeglied und Knotenpunkt fungierte. Baer leitete Bücher an die Bibliothek der Gesellschaft weiter und konnte sich zugleich an die Gesellschaft wenden, wenn er selbst Bedarf an Literatur hatte.41 So erfragte etwa im März 1842 Julian W.R. Jackson, Sekretär der Gesellschaft, bei Baer die im vergangenen Jahr in Russland erschienenen geographischen Arbeiten, neue Karten, Verbesserungen bestehender Karten sowie Informationen zu Expeditionen und neuen Entdeckungen, um sie in den Jahresbericht der Gesellschaft einzuspeisen.42 In seiner Antwort berichtet Baer von einem Treffen der Petersburger Korrespondenten der RGS, an dem auch Wrangell teilnahm, und listet die zusammengestellten und beigefügten Arbeiten, Karten, Berichte und Notizen auf. Zugleich nutzte er die Gelegenheit, um zu fragen, ob die Gesellschaft nicht „quelques renseignements sur le sol gelé de la Sibérie“ erhalten habe und ihm zukommen lassen könne – Baer arbeitete in den 1840er Jahren zum Permafrostboden.43 Auch für die Vermittlung direkter Kontak 39
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Der Nachlass Baers ist heute verteilt auf die Archive der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg, des Historischen Museums in Tallinn und sowie die Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Gießen, wo sich der Großteil seiner wissenschaftlichen Korrespondenz findet. Zur Geschichte des Baerschen Nachlasses siehe: Erki Tammiksaar: Findbuch zum Nachlass Karl Ernst von Baer (1792–1876), Gießen 1999 (=Berichte und Arbeiten aus der Universitätsbibliothek und dem Universitätsarchiv Gießen, Bd. 50), S. 9–14. Überdies wurden die auf verschiedene sowjetische Archive verteilten Briefe von Baer in den siebziger Jahren von Irina Lukina gesammelt und ediert (vgl. Anm. 38). Karl Ernst von Baer: On the Recent Russian Expeditions to Novaïa Zemlïa, in: Journal of the Royal Geographical Society of London 8 (1838), S. 411–415. John Washington an Karl Ernst von Baer, 15.04. 1840, Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Giessen, Nachlass Baer, Verzeichnis der Manuskripte und Schriften Bd. 40: Briefe an Baer von verschiedenen Akademien und Gesellschaften. J. R. W. Jackson an Karl Ernst von Baer, London 11. März 1842, Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Gießen, Nachlass Baer, Verzeichnis der Manuskripte und Schriften Bd. 40: Briefe an Baer von verschiedenen Akademien und Gesellschaften. Karl Ernst von Baer an J. R. W. Jackson, St. Petersburg 5. April 1842, in: Iz epistolarnogo nasledija (wie Anm. 1), S. 44–48.
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te von einem Wissenschaftler zum anderen konnte die RGS offensichtlich genutzt werden. Im eingangs zitierten Brief an John Washington etwa bat Baer diesen um die Weiterleitung eines beigelegten Schreibens an John Richardson, einen schottischen Arktisforscher, Teilnehmer an den Franklin-Expeditionen der zwanziger Jahre und Redakteur der geographischen Abteilung des Athenaeum.44 Das Schreiben enthielt die Bitte um dessen Arbeit zur Zoologie der amerikanischen Nordwest-Küste, die Baer einsehen wollte, da er zu dieser Zeit Wrangells Bericht über Russisch-Amerika für die Beiträge redigierte und ergänzte.45 Über das so geknüpfte Netz speisten russländische Forscher Expeditionsresultate in den europäischen Forschungsraum ein, wo diese sich in die Diskussion um die Exploration des Nordpolarmeers einfügten, sich verselbständigten und schließlich selbst neue Forschungsvorhaben generierten. Am Beispiel Wrangells lässt sich plastisch beobachten, wie dank dieser transnationalen Einbindung russländische Eismeerforschung eine Wirkmacht erlangte, die ihr im heimatlichen Kontext versagt blieb, weil sie hier, anders als dort, anschlussfähig für aktuelle Debatten war. Zugleich liefert der Umgang der Polarwissenschaftler mit den Öffnungen im Eismeer, die Wrangell beobachtet und in Anlehnung an den russischen Begriff als „Polinjen“ bezeichnet hatte, ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie Resultate ein und derselben Expedition in verschiedenen Kontexten zu fast konträren Wissensbeständen gerinnen konnten. Wrangells Expedition fiel zeitlich mit der Aufsehen erregenden Suche Parrys nach der Nordwest-Passage und dessen Hinwendung zum Nordpol zusammen.46 Prompt setzte etwa der Weekly Entertainer and West of England Miscellany Wrangells Expedition zu der Parrys in Bezug und verglich seine Leistungen mit denen des sehr populären Leutnants – und zwar durchaus zu Wrangells Vorteil, habe dieser doch auf seinen Hundeschlitten und ohne schützendes Schiff ungleich größere Entbehrungen ertragen müssen. Mit der Verbindung zu Parry rückte die auf die Kartographie der Küste und die Erforschung der Landverbindung zwischen Asien und Amerika ausgerichtete Expedition unversehens in einen anderen epistemischen Kontext und wurde in der Berichterstattung des Entertainers zu „Baron Vrangel’s Expedition towards the North-Pole“.47 An Breite und Intensität gewann die Resonanz auf die Wrangellsche Expedition vor allem mit der Berichterstattung zur Übersetzung seines 1839 auf Deutsch erschienenen Expeditionsberichts ins Englische, 1840.48 So widmete beispielsweise die Quarterly Review dem Expeditionsbericht und dessen von 44 45 46 47 48
Karl Ernst von Baer an John Washington, Petersburg 24.02./07.03. 1840, in: Iz epistolarnogo nasledija (wie Anm. 1), S. 120f. Karl Ernst von Baer an John Richardson, o.O. u. D., Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Gießen, Nachlass Baer, Verzeichnis der Briefe Bd. 25: Briefe von Baer M-Z. Vgl. Charles Officer / Jake Page: Die Entdeckung der Arktis, Berlin 2002, S. 99–110. Baron Vrangel’s Expedition to the North Pole, in: Weekly Entertainer and West of England Miscellany 9, Hf. 21, 31. Mai 1824, S. 330. Ferdinand von Wrangell: Narrative of an Expedition to the Polar Sea, in the Years 1820, 1821, 1822, 1823. Commanded by Lieutenant, now Admiral, Ferdinand von Wrangell, of the Russian Imperial Navy. Edited by Major Edward Sabine, London.
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Edward Sabine verfasster Einleitung eine ausführliche Besprechung.49 Hierbei wurde auch Wrangells Beschreibung der großen „Polinje“, [englisch polynya, im Folgenden Polhynie] aufgegriffen, die in den nächsten beiden Jahrzehnten Kronzeugenstatus für die Theorie vom offenen Polameer erlangen sollte: „We climbed across one of the loftiest hills, whence we obtained an extensive view towards the north, and whence we beheld the wide immeasurable ocean spread before our gaze. It was fearful and magnificent, but to us a melancholy spectacle!“50 Der Autor kam, in Anlehnung an die Ausführungen Sabines und unter Einbeziehung der Berichte von Parry und Ross über den Zustand des Polarmeers, zu dem Schluss, dass, vorausgesetzt, es stelle sich im Nordpolarmeer keine bisher unentdeckte kontinentale Masse in den Weg, „no obstruction from ice would prevent a navigable passage to the very pole“.51 Aus den sich hier eröffnenden Möglichkeiten, den Pol zu erreichen oder die Nordwestpassage zu durchfahren, konstruierte der Autor eine angebliche Konkurrenz mit Russland, die dazu verpflichtete, diese Ziele in Angriff zu nehmen. Denn: „Wouldn’t the man, who had stood on the pivot of the axis around which the earth revolves be hailed by all nations as the wonder of the world“?52 Eile sei allerdings geboten, denn Russland verfüge über einen Herrscher, „who is active, enterprising, ambitious and all-powerful, and who has an equally enterprising admiral who would be too happy to carry that flag from Petersburg to Kamschatka [sic!] through the north-west passage“.53 In der Praxis erwies sich diese internationale Konkurrenzsituation aus oben angeführten Gründen als eher fiktiv – die Debatte verfestigte sich weiterhin als eine transnationale: Im Vorwort zur zweiten Auflage konnte Sabine in Form eines Briefs von Wrangell dessen offiziellen Segen dafür vorweisen, seine Beobachtungen als Belege für ein schiffbares Nordpolarmeer zu interpretieren: „The opinion expressed by you in the preface relatively to the existence of open navigable water in the north, corresponds perfectly to the impressions which were excited in me by the constantly-repeated obstacles to a further advance to the northward over the ice. According to my views it should be possible to reach and to follow this open water from Spitzbergen. […] There would then seem still to remain a wide field research open to the spirit of enterprise of experienced navigators, before the question of a water communication between the two oceans in high northern latitudes be decidedly solved.“54
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ART. IV, Narrative of an Expedition to the Polar Sea, in the Years 1820, 1821, 1822, 1823. Commanded by Lieutenant, now Admiral, Ferdinand von Wrangell, of the Russian Imperial Navy. Edited by Major Edward Sabine, London, in: Quarterly Review 66:132 (1840), S. 418–445. Ebd., S. 437. Ebd., S. 442. Ebd. S. 444. Ebd. S. 443. Edward Sabine: Preface, in: Narrative of an Expedition to the Polar Sea in the Years 1820, 1821, 1822 & 1823. Commanded by Lieutenant now Admiral Ferdinand von Wrangell. Second Edition with Additions, London 1844, S. iii-xiv, hier S. v-vi.
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1847 ergriff Wrangell selbst das Wort. Nunmehr allerdings zielten seine am 12. April in der RGS verlesenen Vorschläge und Anregungen nicht mehr auf die Nordwestpassage, sondern auf den Pol: „[W]hen, after nearly three centuries and a half, scientific men, and even navigators were persuaded of the improbability of the existence of a N.W. or a N.E. passage to the Pacific, practicable for trade, the evident aim for new enterprises was transferred to the invisible point of the earth – the North Pole.“55
Unter Berufung auf seine eigenen Erfahrungen mit dem Eismeer nahm er Stellung zu Parrys Plan einer Expedition zum Nordpol, verwarf jedoch dessen Ansatz, den Pol im April und Mai von Spitzbergen per Rentierschlitten zu erreichen: dieses Vorhaben werde sowohl am Zustand des Eises zu dieser Jahreszeit, als auch den Rentieren scheitern, die auf dem Eis nicht gut genug laufen könnten. Zugleich legte er ein alternatives Konzept vor, das vorsah, den Pol von Nordgrönland aus per Hundeschlitten anzusteuern. Offensichtlich sah sich Wrangell als Teil einer Diskussionsgemeinschaft, die durch ein gemeinsames wissenschaftliches Interesse verbunden war, nämlich durch die Suche nach dem Pol und durch den Konsens, dass es von Bedeutung sei, diesen zu erreichen. Zu dieser Teilhabe gehörte der Austausch von Erfahrungen und Erkenntnissen ebenso, wie die Bereitschaft, einem Kollegen das eigene Wissen zur Verfügung zu stellen und aufzuzeigen, was dieser verändern müsse, wolle er mit seinem Projekt erfolgreich sein. Die Polhynie setzte unterdessen ihr Eigenleben fort. In den frühen fünfziger Jahren wurde die in der Wissenschaftsöffentlichkeit kursierende Idee eines offenen Meers in der Arktis aufgegriffen und als der ideale Weg, den Pol zu erreichen, propagiert. Federführend war hier August Petermann, der Mann, der, Philipp Felsch zufolge, „den Nordpol erfand“.56 Der aus Gotha stammende und in England lebende Petermann, Kartograph und Mitglied der Royal Geographical Society, der selbst an keiner einzigen Expedition ins Polarmeer teilgenommen hatte, meldete sich erstmals 1852 zu Wort. Zunächst brachte er eine Hypothese zum möglichen Verbleib der 1845 ausgelaufenen und seitdem verschollenen Nordwest-PassagenExpedition John Franklins vor.57 Im folgenden Jahr verteidigte er seine These vom Weg zum Pol über das offene Meer im Athenaeum und stützte sich dabei nicht nur auf den Bericht Wrangells als ein so bekanntes Buch, dass sich jede wei 55 56
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F. Wrangel: On the best Means of Reaching the Pole, in: Journal of the Royal Geographical Society of London 18 (1848), S. 19–23, hier S. 20. Philipp Felsch: Wie August Petermann den Nordpol erfand, München 2010. Zu Petermanns Rolle in der Polarforschung siehe auch: E. Tammiksaar / N.G. Sukhova / I.R. Stone: Hypothesis versus Fact: August Petermann and Polar Research, in: Arctic 52 (1999), Hf. 3, S. 237– 244 und Erki Tammiksaar / Natalja Suchova: August Petermann und seine Thesen über das Nordpolarmeer, in: Polarforschung 65 (1998), S. 133–143. Augustus Petermann: The Search for Franklin. A Suggestion Submitted to the British Public, London 1852. Zur Suche nach Franklin und Petermanns diesbezüglichem Engagement vgl. Felsch: August Petermann (wie Anm. 56), S. 87–115.
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tere Erläuterung dazu erübrige,58, sondern auch auf die Berichte Lütkes und Anjous.59 Die weitere Karriere der Petermannschen Nordpolfiktionen ist von Felsch so unterhaltend wie ausführlich untersucht worden: Mit unermüdlicher Lobbyarbeit gelang es dem Kartographen in den 60er Jahren von Gotha aus, nunmehr als Herausgeber von Petermanns Geographischen Mitteilungen, die Fachöffentlichkeit von der Existenz eines schiffbaren Nordpolarmeers zu überzeugen, und Druck zu erzeugen, auf diesem Wege nach dem Pol zu suchen. Weiterhin blieb dabei Wrangell als Kronzeuge im Spiel, so etwa in einem Aufsatz W.E. Hicksons im Journal der RGS: „In 1844 the Russian Admiral, Von Vrangell, in a letter to General Sabine, repeated his own conviction of open water at the Pole, and expressed his belief that it would be possible to follow and reach it by way of Spitzbergen. Subsequently, Dr. Petermann has frequently, and with great ability, brought the subject forward; but to this day no new expedition has left our shores in the direction of Parry’s fourth voyage; the most likely one of all to lead us direct to our object!“60
Es mag angesichts des oben geschilderten, sich bereits in den vierziger Jahren abzeichnenden Interesses am nördlichsten Punkt der Erde zu diskutieren sein, ob Petermann, wie Felsch ihm zuschreibt, „den Beginn des modernen Nordpolfiebers eingeläutet“ habe.61 Festzuhalten ist in jedem Fall, dass Petermanns Publikationen eine mindestens förderliche Rolle für die Ausrüstung von Arktisexpeditionen ab den sechziger Jahren spielten, bevor sich seine Theorie als unhaltbar erwies. Russländische Arktisforscher fanden sich somit ab den vierziger Jahren in einer zwiespältigen Situation wieder. Einerseits nahmen sie über ihre Einbindung in europäische Diskussionszusammenhänge an den Entwicklungen teil, die in der Arktisforschung stattfanden. Andererseits blieb es ihnen weitgehend verwehrt, zu den Fragen, die gerade en vogue waren, Praktisches beizutragen. Einen Anlauf, die Admiralität für die Umsetzung einer „zeitgemäßen“ Arktisexpedition zu gewinnen, stellte der Vorschlag einer Nordpol-Expedition dar, den Paul Krusenstern / Pavel Ivanovič Kruzenštern (1808–1881) dem Marinehauptstab 1847 unterbreitete.62 Durch seine hydrographische Expedition zur Petschora 1843 als Experte ausgewiesen, skizzierte Krusenstern, wie im Rahmen 58 59
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Augustus Petermann: The Arctic Regions, in: Athenaeum 1360 (1853), S. 1387. Ebd., S. 1388. Siehe zum russländischen Einfluss auf Petermann auch: Tammiksaar / Sukhova / Stone: Hypothesis Versus Fact (wie Anm. 56), S. 239: „In 1865, mainly relying on the observation results of Lütke (1828), Baer (1838) and Vrangell (1844), Petermann hypothesized that a warm current was present in the Arctic Ocean. Although he could not give any proof that the water polynya extendend from Ostroc Novaya Sibir’ up to the northern coast of Novaya Zemlya, he associated the polynya’s existence with the gulf stream which he supposed to extend as far as Mys Yakan.“ W.E. Hickson: On the Climate of the North Pole, and on Circumpolar Exploration, in: Journal of the Royal Geographical Society of London, 35 (1865), S. 129–142, hier S. 133. Felsch: August Petermann (wie Anm. 56), S. 112. V. V. Petrash: Proekt Ekspeditsii k severnomu poliusu P.I. Kruzenšterna (1847 g.), in: Istoričeskij archiv (1955), Hf. 2, S. 162–173.
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einer zweijährigen Expedition der Pol mit Hilfe von Rentiergespannen von der Nordspitze Grönlands aus erreicht werden könne. Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, bediente er sich einer Rhetorik nationaler Konkurrenz, die jener der oben betrachteten englischen Autoren ähnelt. Zunächst verwies er auf die Anstrengungen, die die Briten schon seit längerem im Bewusstsein unternähmen, welche Bedeutung, welchen Ruhm und welchen Nutzen Wissenschaft und Nation mit der Entdeckung des Pols erwerben könnten. Dann spielte er den Ball ins russische Feld: Seine Hingabe an den Ruhm des Throns und des Vaterlands begründe seinen Wunsch, dass Russland die Lösung dieser Aufgabe übernehmen möge.63 Zugleich unterstrich er die Dringlichkeit seines Anliegens mit dem Verweis auf eine angeblich in Planung befindliche englische Expedition: „Aus den öffentlichen Nachrichten wurde vor nicht langer Zeit bekannt, dass die englische Regierung eine Expedition zum Nordpol ausrichte. […] Die russische Expedition sollte sich von dieser Konkurrenz nicht nur nicht irritieren lassen, sondern im Gegenteil den Wettstreit wünschen mit den stolzen Herrschern der Meere [...].“64
Der Vorschlag wurde durch das Gelehrte Komitee des Stabes geprüft und trotz im Grunde vernichtender Einwände für würdig befunden, dem Herrscher vorgelegt zu werden – verwirklicht wurde er nicht. Dass Krusenstern die Expedition vorschlug, zeigt aber, dass der Arktisforscher Ende der 1840er Jahre durchaus noch davon ausging, die Regierung könne überzeugt werden, sich aus Gründen des Prestiges an der Suche nach dem Pol zu beteiligen – neben dem Versprechen überschaubarer Kosten lag im Verweis auf das bestehende Konkurrenzverhältnis zu den Briten sein zentrales Argument. Diese Zuversicht scheint Baer zu diesem Zeitpunkt nicht mehr geteilt zu haben. Hatte er sich noch in den dreißiger Jahren im Briefwechsel mit Wrangell einer Konkurrenzsituation bewusst gezeigt, die auch einschloss, dessen Publikation zu Russisch-Alaska so zu redigieren, dass sie „den Engländern, die in fremden Ländern ungeheuer liberal sind, keinen Stoff geben“ sondern ihnen viel mehr ein „beschämendes Muster“ vorstellen möge,65 rückte er in den Vierzigern von dieser Haltung ab. Der eingangs zitierte Brief an Washington zeugt eher von einem gewissen Neid als von Loyalität zum Vaterland und zeigt einen Autor, der sich mit seinem englischen Kollegen im Einverständnis sah: „Pendant ce temps Votre Société se comblera de nouveaux mérites par les observations qu’elle aura excité en Amérique. Chez nous tout va un peu lentement. Je félicite l’Angleterre pour que le patriotisme y anime les recherches scientifiques aussi bien que les exploits bellicieux et la marche de l’industrie nationale. On pourrait bien souhaiter d’être Anglais…“66
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Ebd., S. 165. Ebd. Karl Ernst von Baer an Ferdinand Vrangel, St. Petersburg 18. September 1838, in: Perepiska Karla Bera po problemam geografii (wie Anm. 38), S. 174. Karl Ernst von Baer an John Washington, Petersburg 24.02. / 07.03.1840, in: Iz epistolarnogo nasledija (wie Anm. 1), S. 121.
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Auch die bereits erwähnte Gründung der RGO bot mit ihrer „durch den jungen und starken russischen Nationalismus inspirierten“67 Ausrichtung auf das Innere des Landes Anlass zu Frustration und zur Sorge, ob ihre europäische Anschlussfähigkeit überhaupt gewährleistet sei. So klagte Baer in einem Schreiben an Lütke über den „übertriebenen Russizismus“, der hier gepflegt werde und den man „aufgeben müsse, wenn man eine europäische Gesellschaft sein und mit den übrigen Geographischen Gesellschaften verkehren“ wolle.68 Lütkes Antwort zeugt von einem pragmatischeren Umgang mit der Situation: „In Bezug auf den übertriebenen Rußicismus bin ich auch der Meinung, dass man suchen muß, dem Übel so viel als möglich zu steuern, denn ein Übel ist es leider Gottes in wissenschaftlichen Sachen; von einer anderen Seite aber müßen wir uns auch hüten in’s andere Extrem überzuschlagen und etwa vergessen, daß wir eine Rußische Gesellschaft sind, hauptsächlich in Bezug auf Rußland gestiftet und mit Rußischem Gelde unterhalten. [Hervorhebungen im Original, B.K.]“69
Russländische Arktisforscher bedienten sich somit verschiedener Strategien, in der heimatlichen Forschungsflaute zu lavieren: von Motivationsversuchen über Anpassung bis hin zu Resignation und Abkehr. IV. GLOBALGESCHICHTE – EINE SINNVOLLE PERSPEKTIVE AUF ARKTISFORSCHUNG IM 19. JAHRHUNDERT? Welche Erträge kann also eine „globalgeschichtliche“ Perspektive auf die Arbeit russländischer Arktisforscher liefern? Zunächst ist festzustellen, dass die Verschiebung des Blicks fort von der Ebene des Nationalstaats tatsächlich ein verändertes Bild entstehen lässt. Trug Russland Mitte des 19. Jahrhunderts auch nicht durch große und spektakuläre Expeditionen zur Arktisforschung bei, so spielten bei der Entstehung und dem Wandel ihrer leitenden Themen und Fragestellungen die Forschungsresultate, die russländische Hydrographen in den zwanziger Jahren erhoben hatten, und deren Kommunikation eine keineswegs marginale Rolle. Möglich wurde dies durch die Zugehörigkeit zu einem Netzwerk, das Staatengrenzen durchdrang und in seinen Austauschpraktiken wenig nationale Abgrenzung und Konkurrenz aufwies. Dies bedeutet nicht, dass die Nation bzw. der Staat für die Angehörigen jeglichen Referenzwert verloren hätten. Vielmehr agierten diese in einem Spannungsfeld, in dem nationale Interessen – ob von politischer Seite tatsächlich formulierte oder von Forscherseite konstruierte – einerseits als Argument für die Anliegen der Wissenschaft ins Feld geführt werden konnten, 67 68 69
Weiss: Wie Sibirien unser wurde (wie Anm. 33), S. 32. Karl Ernst von Baer an Fedor Petrovič Litke, Triest 27. Juni / 09. Juli, in: Perepiska Karla Bera po problemam geografii (wie Anm. 38), S. 72f. Fedor Petrovič Litke an Karl Ernst von Baer, Peterhof 22. Juli / 03. August 1846, Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Gießen, Nachlass Baer, Verzeichnis der Briefe Bd. 15: Briefe an Baer.
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andererseits aber ebenso als beschränkende Instanz erlebt wurden, auf die dennoch Rücksicht zu nehmen war. Aber auch wenn diese Herangehensweise den national verengten Blickwinkel weitet, so bleibt die Wissenschaftslokalität „Arktisforschung“ doch eine Lokalität der Wissenschaft nach europäischen Maßstäben, in deren Untersuchung Chambers und Gillespie nur einen ersten Schritt zu einer globalen Wissenschaftsgeschichte sehen. In einem nächsten Schritt sei auch nach nicht-europäischen Wissenskulturen zu fragen: „By exploring indigenous knowledge localities in the same way that we explore Western scientific localities, we attain a better position for effective comparison of these quite disparate knowledge systems.“70 Dies läge im Fall der Arktis nahe, waren doch europäische und USamerikanische Forscher immer nur scheinbar allein im Nordpolarmeer. Im Hinblick auf die Küste Russlands bzw. Sibiriens, wären hier sowohl „indigene“ Bewohner wie etwa Tschuktschen oder auch Nenzen zu nennen, als auch die promyšlenniki. Bei letzteren handelte es sich um Einwanderer aus dem Norden des europäischen Russlands, die sich seit dem 17. Jahrhundert als Jäger und Gewerbetreibende in Sibirien angesiedelt hatten.71 Eine tatsächlich „globalwissenschaftsgeschichtliche“ Auseinandersetzung mit der Arktis, die neben der Marginalisierung einzelner europäischer Länder auch eine eurozentrische Haltung überwände, müsste auch nach den Beziehungen fragen, die zwischen den Wissenssystemen solcher Gruppen und dem europäischer beziehungsweise amerikanischer Wissenschaftler bestanden. Hierbei allerdings ergeben sich beträchtliche Probleme, sowohl im Zusammenhang mit der Quellenlage wie auch in methodischer Hinsicht, wie sie Sujit Sivanasundaram in seinem Aufruf, eine globale Wissenschaftsgeschichte zu schreiben, die sich nicht auf eine Dispersion europäischen Wissens konzentriere, ausgemacht hat.72 Er verweist auf die Schwierigkeiten, die aus den nationalen und kolonialen Kategorien bisheriger Herangehensweisen resultierten, sowie auf jene, die neuere Ansätze der Wissenschaftshistoriographie, etwa der practical turn73 und die Interpretation von Wissenschaft als Netzwerk, mit sich brächten. Die Frage nach der Vernetzung beispielsweise werfe automatisch die Frage nach den Grenzen des Austauschs auf: „How much connection are we to assume between different types of knowledge?“74 70 71 72 73
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Chambers / Gillespie: Locality in the History of Science (wie Anm. 11), S. 231. Vgl. Dittmar Dahlmann: Sibirien. Vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn 2009, S. 90–92. Sujit Sivanasundaram: Sciences and the Global. On Methods, Questions and Theory, in: Isis 101 (2010), S. 146–158. Mit dem Begriff practical turn wird die in der Wissenschaftsgeschichte seit den 80er Jahren stattfindende Hinwendung zur materiellen Basis der Forschung und ihren Praktiken gefasst. Vgl. Michael Hagner: Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, in: Ders. (Hg.): Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt am Main 2001, S. 7–42. Ebd., S. 158.
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Dieser Einwand ist umso berechtigter, als Auskünfte über die „arktisgeographischen“ Wissenssysteme von Tschuktschen oder promyšlenniki meist nur gefiltert überliefert sind, nämlich da, wo europäische Forscher dieses Wissen abschöpften, wie etwa in dem bereits vorgestellten Polprojekt Krusensterns. Für dieses spielten die Kenntnisse der Bevölkerung der arktischen Küstenregionen in mehrfacher Hinsicht eine wichtige Rolle: Er verwendete die Auskünfte von Seeleuten an der Küste der Weißen Meers als Argument für den Plan, mit dem Schiff „bis zu den höchsten Breiten Grönlands zu gelangen.“75 Als Beleg führte er an, diese hätten ihm mitgeteilt, „dass auch die Kara-See, die immer von riesigen Eismassen verschlossen war, sich geöffnet habe, wie sie selbst sahen und dass es jetzt ihrer Ansicht nach möglich sei, auf einem Schiff bis Amerika vorzudringen“.76 Überdies betrachtete er die Überlebenskompetenzen der „Meeres-promyšlenniki“ als tragende Säule für ein Gelingen der Expedition und empfahl, die Mannschaft hauptsächlich unter ihnen zu rekrutieren, da ihre härtere Konstitution, aber auch ihre Jagdkenntnisse seiner Ansicht nach die ideale Lösung des Versorgungsproblems auf der zweijährigen Expedition darstellten.77 Auch das Gutachten, das Gottlieb Glasenapp im Auftrag des Gelehrten Komitees erstellte, argumentiert mit den Wissensbeständen der promyšlenniki. Es erkennt deren besondere Überlebenskompetenzen in der Arktis an und verweist darauf, dass promyšlenniki nicht, wie von Krusenstern geplant, in Zelten, sondern, etwa auf Nowaja Semlja, in festen Hütten zu überwintern pflegten. Das vorgelegte Konzept sei also diesbezüglich unrealistisch. Zugleich stellte Glasenapp fest, dass Auskünfte der promyšlenniki für die Planung einer Expedition mit Rentierschlitten über die Nordspitze von Grönland hinaus nur von begrenztem Nutzen sein könnten: „Die nördlichen promyšlenniki, auf deren Aussagen sich Krusenstern bezieht, können in dieser Frage [der Rentiere, B.K.] keine Ratgeber sein. Sie entfernen sich auf dem Eis nicht weit vom Ufer.“78 Was die Fortbewegung auf dem Eis anging, erschienen ihm Tschuktschen als die kompetenteren Ratgeber: „Aus den Berichten unserer Reisenden ist bekannt, dass die Tschuktschen, die zu Land und im Wald mit Rentieren fahren, für Fahrten auf dem Eis Hunde benutzen.“79 Auch wenn also Hinweise auf die Existenz von Wissenskulturen sowohl russischer Seefahrer und Jäger wie auch der indigenen Bevölkerung Nordsibiriens vorhanden sind, so sagen die überlieferten Bruchstücke, die vermutlich auf konkrete Nachfragen der Arktisforscher hin entstanden, wenig über deren Gestalt aus. 75 76 77 78 79
Petrash: Proekt Ekspeditsii (wie Anm. 62), S. 166. Ebd. Ebd., S. 166–169. Ebd., S. 171. Ebd., S. 171. Zur „Integration“ der Tschuktschen in die Diskussion um die Existenz von Wrangelland vgl. Tammikssar et al.: Hypothesis versus Fact (wie Anm. 56), S. 240: „Vrangel could not prove the presence of this land; nonetheless he considered the Chuckchis data reliable enough for the land north of Mys Yakan to be drawn on a map, accompanied by the chuckchi chiefs description.“
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Eine befriedigende methodische Lösung dieses Problems wäre der nächstnotwendige Schritt zu einer globalen Wissensgeschichte der Arktis in der Mitte des 19. Jahrhunderts, die über den Anspruch einer Reintegration europäischer Wissenschaft hinaus auch den ihrer „Provinzialisierung“80 einlösen könnte.
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Dipesh Chakrabarthy, Provincializing Europe: Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton 2007.
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Karte Russisches Reich, in: Abraham Rees: Cyclopedia, 1820. Courtesy of the University of Texas Libraries, The University of Texas at Austin.
SCHEITERN ALS CHANCE Auch eine Vorgeschichte des Ersten Internationalen Polarjahres 1882/83 Alexander Kraus Just von der Nordpolarexpedition Österreich-Ungarns nach Wien zurückgekehrt, formulierte Carl Weyprecht 1875 den Vorschlag, die noch weitgehend unerforschte Polarregion in internationaler Kooperation systematisch zu explorieren. Bis dato mangele es der Polarforschung doch an allem, was eine fundierte wissenschaftliche Grundlage genannt werden könne. Und der gebürtige Darmstädter (1838–1881), der schon in jungen Jahren in die österreichisch-ungarische Kriegsmarine eintrat und dort zum Marineoffizier aufstieg, zeterte weiter: Der Fokus auf geographische Entdeckungen und deren „abenteuerlichen Charakter“ habe „die rein wissenschaftliche Forschung […] ganz in den Hintergrund gedrängt“.1 Dass man noch weitestgehend im Dunkeln tappe, liege vor allem am Fehlen gleichzeitiger vergleichender Messungen, denn „[v]ereinzelte Beobachtungsreihen haben nur relativen Werth“. Vonnöten sei, so Weyprecht in seinen Grundprincipien der arktischen Forschung weiter, eine Reihe gleichzeitiger Expeditionen, deren Zweck sein müsse, an verschiedenen Punkten des arktischen Gebietes verteilt auf möglichst vergleichbarer Breite, mit „gleichen Instrumenten und nach gleichen Instructionen durch ein Jahr möglichst gleichzeitige Beobachtungen anzustellen“.2 Im Dienste des Fortschritts der physikalischen, meteorologischen, zoologischen wie geologischen Wissenschaften war damit die Grundlage für das Programm des Ersten Internationalen Polarjahres formuliert, das im August 1881 während der 3. Internationalen Polarkonferenz in St. Petersburg durch Vertreter der damals noch sieben teilnehmenden Nationen verabschiedet wurde.3 An dieser international koordinierten und aufeinander abgestimmten Messkampagne im Zeichen der meteorologischen und geomagnetischen Forschung sollten sich schließlich ein Jahr später mehr als 700 Forscher aus elf Nationen beteiligen. Da 1
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Carl Weyprecht: Grundprincipien der arktischen Forschung. Vortrag gehalten vor der 48. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in Graz von Schiffslietenant Carl Weyprecht, in: Mittheilungen aus dem Gebiete des Seewesens 3 (1875), Hf. 11, S. 505–514, hier S. 512 und 509. Ebd., S. 513. Bericht über die Verhandlungen und Ergebnisse der 3. internationalen Polar-Konferenz, abgehalten in St. Petersburg in den Tagen vom 1. bis 6. August 1881, St. Petersburg 1881, S. 1– 3. Diesem Treffen gingen die Konferenzen in Hamburg im Oktober 1879 und in Bern im August 1880 voraus.
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für wurden eigens eine Reihe von zirkumpolaren Messstationen – jeweils unter nationaler Führung – eingerichtet. Der eigentliche Initiator dieses Forschungsprojektes sollte dessen Realisierung jedoch nicht mehr erleben – er verstarb im März 1881. Weyprechts Entwurf konterkarierte geradezu die Ziele der ÖsterreichischUngarischen Polarexpedition von 1872–74, bei der er nicht nur die Führungsposition auf See innehatte, sondern auch maßgeblich für das Forschungsprogramm verantwortlich zeichnete. Die Leitung zu Lande dagegen wurde Julius Payer (1842–1915) angetragen, jenem Hans Dampf in allen Gassen, der erst als passionierter Alpinist beim Militär unter anderem die Ortlergruppe erschloss und kartographierte, sich dann der Polarforschung widmete, ehe er im fortgeschrittenen Alter das Studium der Malerei aufnahm und auch in diesem Metier reüssierte. Die Expedition war aufgebrochen, um das Nördliche Eismeer zu erforschen, nördlich von Novaja Zemlja auf eisfreie See zu stoßen4 und über diese Route die nordöstliche Durchfahrt zu verwirklichen.5 Ihr Ziel war ein strikt geographisches, auch wenn Weyprecht diverse Untersuchungsreihen zum Erdmagnetismus und anderen Forschungsfragen der Zeit durchführte. In einem Brief an den wohl berühmtesten deutschen Kartographen des 19. Jahrhunderts, August Petermann, diskutierte er zudem noch die idealen Ausgangspunkte zur „Erreichung des Poles“;6 Julius Payer wiederum hatte sich in seinen Pass, den er sich am 4. Mai 1871 hatte ausstellen lassen, als Zielvermerk „Nord-Pol“ eintragen lassen.7 Damit knüpfte die 4
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Bereits ein Jahr zuvor war auf einer Vorexpedition nach Spitzbergen und Novaja Zemlja – ebenfalls unter Weyprecht und Payer – die See eisfrei gesichtet worden. Zur Theorie des eisfreien Polarmeeres siehe Erki Tammiksaar / Natalʼja G. Suchova: August Petermann und seine Hypothesen über das Nordpolarmeer, in: Polarforschung 65 (1995), Hf. 3, S. 133–145; Michael F. Robinson: Reconsidering the Theory of the Open Polar Sea, in: Keith R. Benson / Helen M. Rozwadowski (Hg): Extremes. Oceanographyʼs Adventures at the Poles, Sagamore Beach 2007, S. 15–29; August Petermann: Exploration of the Arctic Regions, in: Proceedings of the Royal Geographical Society of London 19 (1874–1875), Nr. 2, S. 173–180. Lieut. Weyprecht: Scientific Work of the Second Austro-Hungarian Polar-Expedition, 1872– 4 [Translated from the „Geographische Mittheilungen“, vol. xxi, 65], in: Journal of the Royal Geographical Society of London 45 (1875), S. 19–33, hier S. 19; Julius Payer: II, in: Oesterreichisch-ungarische Nordpol-Expedition 1872–1874: Berichte des Herrn Carl Weyprecht und Julius Payer an das Comité der österr[eichisch]-ungarischen Nordpol-Expedition, Wien 1874, S. 12–27, hier S. 12. Brief 146: Weyprecht an Petermann, Triest, 3.3.1871, in: Carl Weyprecht (1838–1881). Seeheld, Polarforscher, Geophysiker. Wissenschaftlicher und privater Briefwechsel des österreichischen Marineoffiziers zur Begründung der internationalen Polarforschung, hrsg. v. Frank Berger / Bruno P. Besser / Reinhard A. Krause unter Mitarbeit von Petra Kämpf und Enrico Mazzoli, Wien 2008, S. 320f. Detlef Brennecke: Vorwort des Herausgebers: „Schritt für Schritt kam die Vernichtung heran.“ Julius Ritter von Payer – fürwahr: von der traurigen Gestalt, in: Julius Payer: Die Entdeckung von Kaiser Franz Joseph-Land 1872–1874, hrsg. v. Detlef Brennecke, Lenningen 2004, S. 7–55, hier S. 37. Reisepässe dienten nicht nur der Identifizierung sondern regelten auch den Zugang zu Territorien und Räumen; dazu mussten die angestrebten Reiseorte vermerkt werden.
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Österreichisch-Ungarische-Polarexpedition nahtlos an die bisherige Polarforschung des 19. Jahrhunderts an, die auf sensationelle Entdeckungen wie das Aufspüren der so vielversprechenden Nordost- bzw. Nordwestpassage oder das Erreichen des Nordpols setzte, wenn sie nicht – wie im Falle der episch anmutenden Expeditionen auf der Suche nach John Franklin – durch medial im großen Stil begleitete Rettungskampagnen getrieben war. Eigen war fast allen Expeditionen das Streben nach Ruhm, danach Heldenmut zu beweisen sowie der Fokus auf die Mehrung des nationalen Prestiges. Sämtliche Ziele Payers wie Weyprechts wurden jedoch schnell obsolet, da das Expeditionsschiff bereits nach wenigen Wochen noch auf Höhe Novaja Zemljas im Eis festfror und schließlich nach zwei Wintern im Packeis aufgegeben, die Rückreise per pedes und mit Hilfe von Schlitten und Rettungsbooten bewerkstelligt werden musste. Dass die Expedition als solche dennoch gefeiert wurde und die Rückreise von Norwegen über Schweden nach Hamburg und Wien zu einem wahren „Triumphzug“ geriet,8 verdankte sie einzig und allein einem geographischen Zufall: Während die Tegetthoff festfror, die Mannschaft sich ihrer „stolzen Hoffnungen“ beraubt sah, sie „nicht mehr Entdecker waren, sondern unfreiwillige Passagiere des Eises“, dazu verdammt, „willenlos den Launen des Eises zu folgen“,9 driftete das Expeditionsschiff auf bislang unbekanntes Territorium: Kaiser Franz-Joseph-Land. Damit, so war beiden Führern der Expedition augenblicklich bewusst, war der Erfolg derselben gesichert. Jene Entdeckung war in den Worten Payers ein „unentreißbares Resultat“ ihrer Forschungsreise und kam einer „Wiedergeburt zu neuem Leben gleich“.10 Auch Weyprecht bemerkte in einem Vortrag 8
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Von den Nordpolfahrern, in: Neue Freie Presse. Morgenblatt, Nr. 3620, Wien, Donnerstag, den 24. September 1874, S. 5. Alle Eintrittskarten zu sämtlichen Festbanketten und Empfängen waren in Windeseile ausverkauft. Julius Payer: Die Entdeckung von Kaiser Franz Joseph-Land 1872–1874, S. 77. Ebd., S. 116f. Siehe dazu auch die Aufzeichnungen des Maschinisten Otto Krisch vom 30. August 1873: „Plötzlich um 2½ Nachmittags entdeckten wir in nordöstlicher Richtung auf eine Entfernung von etwa 30 Meilen ein neues Land, welchem wir sofort den Namen FranzJosefs-Land, mit dem Becher in der Hand unter dreimaligem, begeistertem Hurrahrufe beilegten. […] Oh! Welchʼ unaussprechlich seliges und erhabenes Gefühl ist es nicht, nach 11 Monaten, die in ihrem Schoße so fürchterliche Ereignisse und Erfahrungen bergen, endlich wieder einmal, wenn auch unbewohntes Land schauen und begrüßen zu können. Da dies bisher unentdecktes Land ist und ein hochwichtiger Erfolg unserer Expedition hiedurch erreicht wurde, ist unsere Freude und selige Aufregung in diesem Momente eine allgemeine, ja eine kaum zu schildernde.“ Tagebuch des Nordpolfahrers Otto Krisch Maschinisten und Offiziers der zweiten österr.-ungar. Nordpol-Expedition. Aus dem Nachlasse des Verstorbenen herausgegeben von seinem Bruder Anton Krisch, k.k. Marine-Commissariats-Adjunkt, Wien 1875, S. 86f. Weyprecht wiederum beschrieb die Landentdeckung in einem Vortrage wie folgt: „Die Freude hierüber war eine außerordentliche, denn bis dahin war die Expedition erfolglos gewesen. Diese Entdeckung war das erste greifbare Resultat des monatelangen Herumtreibens.“ Zitiert aus: Von der Nordpol-Expedition. Telegramme unseres SpecialCorrespondenten, in: Local-Anzeiger der „Presse“, Beilage zu Nr. 262, Donnerstag, den 24. September 1874, S. 7–9, hier S. 7.
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unmittelbar nach ihrer Ankunft in Hamburg, dass die Landentdeckung das „erste greifbare Resultat monatelangen Herumtreibens“ darstellte und die bis dahin erfolglose Expedition rettete.11 Wie aber lässt sich erklären, dass Weyprecht trotz aller erfolgten Ehrungen, Auszeichnungen, der nicht enden wollenden Festivitäten zu Ehren der Expeditionsteilnehmer12 den Wert dieser Forschungsreise bereits ein Jahr später völlig in Frage stellte? Schließlich reihte er sie ein in die lange Serie von unter dem Deckmantel der Wissenschaft veranstalteten „kostspieligen Expeditionen“, die allein der „Entdeckung“ dienten – zumeist auch noch der eines für die Wissenschaft völlig bedeutungslosen geographischen Punktes, des Nordpols. Welcher Nutzen, fragte er in seinen Vorträgen, bleibe denn bei „genauer Analyse“ von „topographischen Beschreibungen eines im Detail ziemlich unwichtigen InselConglomerates“ in der Arktis, wie beispielsweise des umjubelten neuentdeckten Franz-Joseph-Lands?13 In den Aussagen des gefeierten Nordpolfahrers schwingt Verbitterung mit. Doch woher rührt diese emotionale Schieflage, die Weyprecht dazu animierte, mit der Tradition der Arktisreisen seiner Zeit restlos zu brechen und das Ende bloßer Entdeckungsfahrten einzuläuten, obwohl sein Ruhm gerade auf einer solchen gründete? Welche Empfindungen motivierten seinen konzeptionellen Entwurf einer nun international kooperierenden Polarforschung? Welche Erfahrungen trieben ihn dazu an, den nordpolaren „Interaktionsraum“14 in ein veritables Wissenschaftslabor zu verwandeln und zugleich globale Verknüpfungen zu spannen, die langfristig eine internationale Forschungstradition etablieren sollten?15 Wenngleich Emotionen und Gefühle für Historikerinnen und Historiker erkenntnistheoretisch nicht zu fassen sind und letztlich „Fiktion“ bleiben,16 so steht doch außer Frage, dass Gefühle Geschichte machen, wie Ute Frevert in ihrem Plädoyer für eine stärkere Berücksichtigung der Emotionen in der Geschichtswis 11
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Der Local-Anzeiger der „Presse“ aus Wien gibt in einem umfangreichen Bericht die Vorträge Weyprechts und Payers, die diese am 23. September vor der Hamburger Geographischen Gesellschaft gehalten haben, teils im Wortlaut wieder: Von der Nordpol-Expedition. Telegramme unseres Special-Correspondenten, in: Local-Anzeiger der „Presse“, Beilage zu Nr. 262, Donnerstag, den 24. September 1874, S. 7–9, hier S. 7. Graf Wilczek, Finanzier sowohl der besagten Expedition als auch zehn Jahre später der Österreichischen Kampagne des Polarjahres, spricht in seinen Memoiren von einem nicht enden wollenden „Delirium“. Hans Wilczek erzählt seinen Enkeln Erinnerungen aus seinem Leben, hrsg. v. seiner Tochter Elisabeth Kinsky-Wilczek, Graz 1933, S. 239. Weyprecht: Grundprincipien der arktischen Forschung (wie Anm. 1), S. 506. Nach Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 156. Schließlich erfolgte fünfzig Jahre später mit dem Zweiten Internationalen Polarjahr (1932/33) eine Wiederholung des organisatorischen Großereignisses, das wiederum eine Fortsetzung im Internationalen Geophysikalischen Jahr (1957/58) und im Vierten Internationalen Polarjahr (2007/08) fand. Vgl. Ute Frevert: Was haben Gefühle in der Geschichte zu suchen? In: Geschichte und Gesellschaft 35 (2009), S. 183–208, hier S. 205.
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senschaft argumentiert: „Sie motivieren soziales Handeln, setzen Menschen individuell und kollektiv in Bewegung, formen Gemeinschaften und zerstören sie, ermöglichen Kommunikation oder brechen sie ab.“17 Innerhalb dieses Beitrags vertrete ich die These, dass Weyprechts Neukonzeption der arktischen Forschung sich aus seiner emotionalen Verfasstheit nach seiner Rückkehr nach Wien erklären lässt, aus einer gefühlten Niederlage heraus, die sich aus Antipathie gegenüber Julius Payer, einer Portion Missgunst und verletzter Eitelkeit speiste. Wenn die Kulturgeschichte bislang, wie Ute Frevert zu recht moniert, die „verhaltenssteuernde Rolle von Gefühlen und deren soziale Konstituierungsprozesse […] weitgehend übersehen“ hat, so möchte dieser Beitrag diesem Desiderat im Feld der Polarforschung nachgehen. Denn zweifelsohne war Weyprechts Handeln durch seine Gefühle motiviert, setzten ihn diese in Bewegung, trieben ihn dazu an, neue soziale Interaktionsgruppen und Kommunikationsnetzwerke zu schaffen und alte Bande zu zerschneiden. Demnach stehen Fragen nach der persönlichen Motivation zur Neukonzeption der arktischen Forschung durch Weyprecht und den Ursprüngen seines transnationalen Wissenschaftsverständnisses im Fokus dieses Beitrags. Dafür wird zunächst das Erste Internationale Polarjahr wissenschaftsgeschichtlich innerhalb des 19. Jahrhunderts kontextualisiert und dessen Bedeutung erarbeitet, ehe in einem nächsten Schritt die Polarforschung und deren Fixierung auf heldenhafte Männer diskutiert und Carl Weyprecht innerhalb dieser Diskussion verortet wird. Zudem richtet sich der Blick auf die eigentliche Agitations- und Planungsphase des Ersten Internationalen Polarjahres. I. DAS ERSTE INTERNATIONALE POLARJAHR ALS URTYPUS EINES WISSENSCHAFTLICHEN GROSSPROJEKTS? Innerhalb des Konzepts Weyprechts war eine neue Vorstellung der Polarregionen und ihrer globalen Bedeutung verankert. Schließlich zeichneten, wie Weyprecht nicht müde wurde zu betonen, die „meteorologischen Erscheinungen der Polargegenden [...] Consequenzen auf die klimatischen Verhältnisse unserer eigenen Gegenden. […] Im Eise des hohen Nordens und Südens liegen die interessantesten Fragen der atmosphärischen Erscheinungen, wie der Klimatologie unseres Erdballes begraben und harren der Lösung.“
Dass „die ungeheuren Eismassen in der Umgebung der Pole vom weittragendsten Einflusse auf die Wetterverhältnisse der ganzen Erde sein müssen“, liege auf der Hand;18 eine Meinung, mit der er keineswegs allein stand. Die Festlegung des 17 18
Ebd., S. 202. Die Nordpol-Expeditionen der Zukunft und deren sicheres Ergebniß, verglichen mit den bisherigen Forschungen auf dem arktischen Gebiete. Vortrag gehalten von Carl Weyprecht, k.k. Schiffslieutenant, Wien / Pest / Leipzig 1876, S. 9f.
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Programms auf der Polarkonferenz in Hamburg griff diese Perspektive auf. Wolle man zu allgemein gültigen Grundsätzen und Theorien über Temperaturschwankungen, Luftdruck, Luftströmungen, Witterungsverläufe und klimatologische Normen kommen, so bedürfe es genauester Kenntnisse über Vorgänge und Prozesse innerhalb der Polargebiete. Über die simultane meteorologische Arbeit könne man zu einer positiven „Entwicklung der Wetter- und Sturm-Prognose für ganz Europa und Amerika“ kommen.19 Die Hinwendung zur Meteorologie machte offensichtlich, was innerhalb der bisherigen arktischen Leitwissenschaft, der Geographie, nur schwer möglich war – den Nutzen, aber auch die Notwendigkeit von internationaler Kollaboration und Kooperation: „The relatively small nations of Europe soon understood that because weather moves quickly, data from within their own borders would never be enough for really useful prediction.“20 Mit seinem eingangs umrissenen Forschungsprogramm konzipierte Weyprecht damit gewissermaßen den Urtypus eines wissenschaftlichen Großprojekts. Diesen wohnt allerdings nach Daniel Defoes Essay upon Projects von vornherein ein Moment des Scheiterns inne: „tatsächlich ist die wahre Definition eines Projektes im heutigen Sinne, […] ein großes Unternehmen, das zu breit angelegt ist, um bewältigt werden zu können, so dass mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit nichts aus ihm wird.“21 In der Tat bewertet die bisherige, vor allem naturwissenschaftliche Forschung die Ergebnisse des Ersten Internationalen Polarjahres aufgrund eines fehlenden synoptischen Abschlussberichtes zumeist mit Skepsis. Schon der zunächst als erster Vorsitzender der Internationalen Polarkommission selbst in die Planungen des Polarjahres involvierte Georg von Neumayer stimmte 1891 diesen Tenor an, indem er zwar durchaus wohlwollend die rasche Publikation der gewonnenen Resultate seitens der jeweiligen Teilnehmer konstatierte, jedoch entschieden das Fehlen einer Endauswertung monierte: „bis heute“ sei „eine […] Generaldiskussion der mit so großen Erwartungen verknüpften wissenschaftlichen Unternehmungen nicht erfolgt“.22 In eine ähnliche Kerbe schlägt mehr als einhundert Jahre spä 19
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Die internationale Polar-Conferenz zu Hamburg, in: Mitteilungen der Geographischen Gesellschaft Wien 22 (1879), S. 535–542, hier S. 540. Zur Geschichte der Meteorologie, die mit der Vorgeschichte des Ersten Internationalen Polarjahres eng verwoben war, siehe Cornelia Lüdecke: The First International Polar Year (1882–83). A Big Science Experiment with Small Science Equipment, in: Proceedings of the International Commission on History of Meteorology 1.1 (2004), S. 55–64. Paul N. Edwards: Meteorology as Infrastructural Globalism, in: Osiris 21 (2006), S. 229–250, hier S. 231. Daniel Defoe: Ein Essay über Projekte. London 1697. Herausgegeben und kommentiert von Christian Reder. Übersetzung von Hugo Fischer (1890), überarbeitet und erläutert von Werner Rappl, Wien 2006, S. 105. Georg von Neumayer (Hg.): Die deutschen Expeditionen und ihre Ergebnisse, Band I: Geschichtlicher Theil und in einem Anhange mehrere einzelne Abhandlungen physikalischen und sonstigen Inhalts, Berlin 1891, S. 235.
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ter auch der Wissenschaftshistoriker Reinhard A. Krause, der die letztendliche Ergebnislosigkeit des Polarjahres polemisch auf den Punkt brachte: „Die Wissenschaftler hatten den Politikern und der Öffentlichkeit suggeriert, mindestens die Probleme des Geomagnetismus und der Meteorologie würden sich mittels der I[nternational] P[olar] Y[ear]-Methodik lösen lassen. Nun war das Geld verbraucht, aber der prognostizierte Erfolg ausgeblieben.“ Folglich hinterließ diese „erste international koordinierte Messkampagne [...] bei den führenden Wissenschaftlern einen zwiespältigen Eindruck, der von einer gewissen Ernüchterung bis hin zur Enttäuschung und Ratlosigkeit pendelte, auch wenn man sich über die gute Datenmenge freute.“23
In keinem der untersuchten Felder erfolgte letztlich der Sprung hin zur Theoriebildung.24 Allerdings mischten sich unter die kritischen Stimmen auch solche, die die eigentliche Bedeutung des Polarjahres nicht in den foliantenfüllenden Datenreihen der meteorologischen und erdmagnetischen Untersuchungen sowie der Polarlichtbeobachtungen sahen. So erkannte der Geograph Roger G. Barry bereits 1983 in den einsetzenden Standardisierungsprozessen das entscheidende Moment dieses Forschungsunternehmens: „[the] main significance lies in the stimulus they provided for the development of suitable instrumentation and observing methods and for greater international cooperation“.25 Denn zur Durchführung des Polarjahres mussten sich zuvor Forscher aus den elf beteiligten Nationen26 darüber verständigen, welche Daten anhand welcher Methoden erfasst und gesammelt sowie mit welchen Notationssystemen diese wiederum fixiert werden sollten. Relevante Orte für die zu gründenden zwölf bzw. 13 arktischen und zwei antarktischen meteorologischen Forschungsstationen auf nationalen Territorien mussten abgestimmt werden;27 zudem bedurfte es der Koordination unter den beteiligten Wissenschaftlern mit ihren jeweiligen Forschungsinteressen über das Was der wissenschaftlichen Projekte, das Womit der 23
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Reinhard A. Krause: Carl Weyprecht (1838–1881) – Initiator der internationalen Polarforschung, in: Carl Weyprecht (1838–1881). Seeheld, Polarforscher, Geophysiker (wie Anm. 6), S. 19–54, hier S. 48f. Reinhard A. Krause: Meteorologie und Geomagnetik als Auslöser der internationalen Polarforschung. Anmerkungen zur Ideengeschichte der Polarjahre, in: Deutsches Schiffahrtsarchiv. Wissenschaftliches Jahrbuch des Deutschen Schiffahrtsmuseums 31 (2008), S. 378–396, hier S. 386–388. Roger G. Barry: Arctic Ocean Ice and Climate: Perspectives on a Century of Polar Research, in: Annales of the Association of American Geographers 73 (1983), Hf. 4, S. 92–113, hier S. 94. Stationen in der Arktis übernahmen Dänemark, das Deutsche Kaiserreich, Finnland, Großbritannien, Norwegen, Österreich-Ungarn, das Russische Reich (2x), Schweden sowie die USA. Das Ziel der niederländischen Expedition, die russische Insel Dikson in der Karasee, wurde nicht erreicht, da das Schiff im Packeis einfror. Allerdings wurde fast das gesamte wissenschaftliche Programm auf dem Eise selbst verwirklicht. Das Deutsche Kaiserreich und Frankreich wiederum errichteten zwei Stationen in der südlichen Hemisphäre, war den Wissenschaftlern doch die Notwendigkeit vergleichbarer Untersuchungen in der Antarktis bewusst. The International Polar Stations, in: Science 4 (1884), Nr. 89, S. 370–372.
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wissenschaftlichen Apparaturen und das Wie der Materialdokumentation und seiner finalen Präsentation. Diesem Abstimmungsprozess ging ein permanentes Ringen um verbindliche Zusagen seitens der interessierten Regierungen und Institutionen voraus. Angesichts des geringen Grads wissenschaftlicher Institutionalisierung stellte dies eine nicht zu unterschätzende Herausforderung dar: Wissenschaftsministerien oder vergleichbare entscheidungsbefugte Institutionen waren noch nicht geschaffen; nicht selten sahen sich Wissenschaftler und ihre sorgsam geplanten Unternehmungen politischer Willkür in Form spontaner Mittelkürzungen wenn nicht gar vollständiger Streichungen ausgesetzt. Wenngleich die genannten Leistungen noch nie zuvor in derart umfassender Kooperation und gemeinsamer Koordination erfolgt waren, knüpfte dieses wissenschaftliche Großereignis an Vorläufer internationaler Wissenschaftspraxis an und hat diese keineswegs umfassend „revolutioniert“.28 Dazu stand es, wie Marc Rothenberg zuletzt wiederholt argumentierte, zu sehr in der Tradition erster, Ende des 18. Jahrhunderts einsetzender internationaler (im Wesentlichen europäischU.S.-amerikanischer) Kooperationen.29 In Bezug auf die für das Erste Internationale Polarjahr relevanten Untersuchungsfelder sticht dabei das Streben nach erdumspannenden Messungen des Erdmagnetismus seitens des irischen Astronomen und Geophysikers Sir Edward Sabine hervor, das in der Forschung als „Magnetic Crusade“ beschrieben wird. Denn gegenüber den sich zeitgleich formierenden französischen und deutschen Netzwerken war das der British Association for the Advancement of Science aus dem Jahre 1838 tatsächlich „truly global“:30 Es erforderte eine Koordination mit 23 anderen Observatorien im Russischen Reich, in Asien, Nordamerika, Nordafrika und Europa – wenngleich es sich bei diesem Austausch noch keineswegs um eine internationale Kooperation handelte.31 Allerdings machte schon dieses Unterfangen die Notwendigkeit einer Verbesserung, Standardisierung und Normierung von Messgeräten und -techniken sowie der dazugehörigen Methoden der Datenregistrierung offensichtlich. Auch die zweifache Venuspassage (der Durchgang des Planeten Venus vor der Sonnenscheibe) in den 28
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Vgl. Marc Rothenberg: Cooperation at the Poles? Placing the First International Polar Year in the Context of Nineteenth-Century Scientific Exploration and Collaboration, in: I. Krupnik / M.A. Lang / S.E. Miller (Hg.): Smithsonian at the Poles: Contributions to International Polar Year Science, Washington, D.C. 2009, S. 13–21, hier S. 14. Zu der sich intensivierenden kollaborativen internationalen Forschung siehe auch F.S.L. Lyons: Internationalism in Europe 1815–1914, Leyden 1963, dort speziell das Kapitel International Scientific Collaboration, S. 223–237. Marc Rothenberg: Making Science Global? Coordinated Enterprises in Nineteenth-Century Science, in: Roger D. Launius / James Rodger Fleming / David H. DeVorking (Hg.): Globalizing Polar Science. Reconsidering the International Polar and Geophysical Years, New York 2010, S. 23–35, hier S. 27. Ebd., S. 27f. Siehe dazu insbesondere John Cawood: The Magnetic Crusade: Science and Politics in Early Victorian Britain, in: Isis 70 (1979), S. 493–518, sowie ders.: Terrestrial Magnetism and the Development of International Collaboration in the Early Nineteenth Century, in: Annals of Science 34 (1977), S. 551–587.
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Jahren 1874 und 1882, die zur genauen Bestimmung der Distanz zwischen der Erde und der Sonne von immenser Bedeutung war, förderte die internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit. Allein, bei den genannten Kampagnen war in der Regel eine Nation federführend. Das Erste Internationale Polarjahr setzte sich von seinen „Vorläufern“ jedoch auch dahingehend ab, dass es der, wohl im Zusammenhang mit der ChallengerExpedition stehenden, veränderten Publikationspraxis in den Wissenschaften folgte: Teil dieser Expedition, die 1872 unter dem Kommando des Arktisforschers Sir George Nares und des Zoologen Charles Wyville Thomson für fünf Jahre in See stach, war nicht nur eine umfassende Bestandsaufnahme der topographischen, physikalischen, hydrographischen, chemischen, zoologischen und botanischen Verhältnisse insbesondere der Tiefsee, sondern auch eine umfassende Veröffentlichung der Forschungsergebnisse in 50 Bänden,32 die bis in das Jahr 1896 andauerte.33 Das Erste Internationale Polarjahr knüpfte an diese junge Forschungstradition an, Forschungsergebnisse und Messreihen einem internationalen Wissenschaftspublikum zur Verfügung zu stellen und darüber hinaus ausführlich über die verwendeten Messinstrumente, deren Aufstellung und Handhabung zu berichten, was zu dieser Zeit alles andere als üblich war. Die Publikationen des Ersten Internationalen Polarjahres, konstatierte zuletzt Philip Cronenwett, „marked a signal change in the manner in which Arctic science was presented and made visible“.34 II. CARL WEYPRECHT – EIN WEITERER HELD DER ARKTIS? Die Geschichte der Polarforschung mit ihren heroischen, rein männlichen Leidensgeschichten, stilisierten Kämpfen mit den Naturgewalten, Katastrophen und Heldentoten, Dramen und glorreichen Überlebensgeschichten ist eine der letzten Domänen einer überholten Geschichtsschreibung der großen Männer.35 Sie fügt sich damit in die Wissenschaftsgeschichte ganz allgemein, die, obgleich in zahlreichen Feldern innovative Zugänge erschließend, die Leistungen weiblicher For 32
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C.W. Thomson: The Voyage of the „Challenger“. The Atlantic; a Preliminary Account of the General Results of the Exploring Voyage of H.M.S. „Challenger“ during the Year 1873 and the Early Part of the Year 1876, 2 Bde., New York 1878. Siehe dazu Richard M. Corfield: The Silent Landscape: The Scientific Voyage of HMS Challenger, Washington, DC 2003; Margaret Deacon: Understanding the Oceans. A Century of Ocean Exploration, London u.a. 2001. Alle etwa 90 Reports mit mehr als 30.000 Seiten der Expedition sind online in der „H.M.S. Challenger Library“ unter abrufbar. Report on the Scientific Results of the Voyage of H.M.S. Challenger during the Years 1873– 76, 50 Bde., Reprint London 1965. Philip N. Cronenwett: Publishing Arctic Science in the Nineteenth Century. The Case of the First International Polar Year, in: Launius / Fleming / DeVorking: Globalizing Polar Science (wie Anm. 30), S. 37–46, hier 42f. Vgl. Fergus Fleming: Ninety Degrees North. The Quest for the North Pole, London 2002; Anthony Brandt (Hg.): The North Pole. A Narrative History, Washington, D.C. 2005.
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schung lange Zeit vernachlässigt hat.36 Dieser Beitrag schreibt trotz seiner Fokussierung auf Weyprechts Denken und Handeln diese Tradition nicht fort. Stattdessen will er Weyprecht als einen Forscher charakterisieren, der den bislang vorherrschenden Heldentypus konterkariert bzw. erweitert: Indem Weyprecht fortwährend, wenn auch erfolglos gegen jegliche Heroisierung und das öffentliche, durch die Presse forcierte Interesse an den Dramen im eisigen Norden wetterte,37 stilisierte er sich zu jenem neuen Wissenschaftlertypus, der sich – stets nüchtern und streng dem wissenschaftlichen Fortschritt dienend – im Zuge der Popularisierung der Wissenschaften während des 19. Jahrhunderts ganz neue Bühnen erschloss.38 Diese Inszenierung vollzog sich in der Interaktion von Wissenschaftlern, Laien und den zeitgenössischen Medien. Stories, nicht lange Daten- und Messreihen, machten die harte Währung arktischer Forschung im 19. Jahrhundert aus.39 Und naturgemäß produzierte die Kunde von neuen Entdeckungen, mehr jedoch noch die Nachricht von Katastrophen oder Unglücksfällen im Polarmeer und im arktischen Eis entschieden größere Schlagzeilen:40 „disaster feeds upon itself and starts the ball rolling.“41 Tragödien und 36
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Allgemein zur Geschichte der Frauen in den Wissenschaften siehe Julie Des Jardins: The Madame Curie Complex. The Hidden History of Women in Science, New York 2010; zu den Orient-reisenden Frauen vgl. Barbara Hodgson: Die Wüste atmet Freiheit. Reisende Frauen im Orient 1717 bis 1930, Hildesheim 2006, darin das Kapitel: Die Vielbeschäftigten. Reisen für die Wissenschaft, S. 87–107; zur Geschichtswissenschaft siehe den Aufsatz von Gianna Pomata: Amateurs by Choice. Women and the Pursuit of Independent Scholarship in Twentieth-Century Historical Writing, in: Centaurus. An International Journal of the History of Science and Its Cultural Aspects 55 (2013), H. 2, S. 196–219. Dazu jüngst Stefanie Samida (Hg.): Inszenierte Wissenschaft. Zur Popularisierung von Wissen im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2011; dies.: Vom Heros zum Lügner? Wissenschaftliche „Medienstars“ im 19. Jahrhundert, in: Ebd., S. 245–272; Manfred K.H. Eggert: Henry Morton Stanley (1841–1904) oder Die Erschließung Zentralafrikas als Medienereignis, in: Ebd., S. 273–296; zur Signifikanz von Wissenschaftlerporträts siehe Julia Voss: Darwin oder Moses? Funktion und Bedeutung von Charles Darwins Porträt im 19. Jahrhundert, in: NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 16 (2008), H. 2, S. 213–243. Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass gerade diejenige Expedition des Ersten Internationalen Polarjahres Geschichte schrieb, deren Verlauf die Geschichte dramatischen Scheiterns weiterschrieb: die US-amerikanische Greely-Expedition. Die 25 Teilnehmer mussten sich, nachdem zwei Jahre in Folge weder Versorgungs- noch Rettungsschiffe aufgrund dichten Packeises die Lady Franklin Bay auf Ellesmere Island erreichen konnten, zu Fuß auf die Rückreise machen, die in einer Katastrophe endete: 18 Expeditionsteilnehmer starben während des entbehrungsreichen Weges an Hunger und Unterkühlung. In der Sensationspresse machte bald der Vorwurf des Kannibalismus die Runde; Greely musste sich vor einem Untersuchungsausschuss rechtfertigen. Zur Rückreise siehe Adolphus W. Greely: Three Years in Arctic Service: An Account of the Lady Franklin Bay Expedition of 1881–1884 and the Attainment of the Farthest North, 2 Bde., New York 1886. Michael F. Robinson: The Coldest Crucible. Arctic Exploration and American Culture, Chicago / London 2006, S. 6. Robert G. David: The Arctic in the British Imagination, 1818–1914, Manchester / New York 2000, S. 84.
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Erzählungen von schier endlosen Gefahren marginalisierten zunehmend die Bedeutung tatsächlicher arktischer Forschung und Beobachtungen: „Successful expeditions, […] those that completed their research without scandal or loss of life, were doomed to oblivion in the popular press.“42 Insbesondere die britische Presse hatte die Arktis zu einem ihrer zentralen Themen gemacht. Zugleich wurde die Öffentlichkeit über zahlreiche Illustrationen in den Medien, und über Dioramen und Panoramen, die sich als echte Publikumsmagneten entpuppten, mit Visualisierungen der Arktis konfrontiert.43 Jegliche arktische Entdeckung ging Hand in Hand mit Sensationsjournalismus, Zeitungen sandten Überlebenden Spezialkorrespondenten entgegen, unterzeichneten Verträge über Exklusivberichterstattungen, animierten einzelne Forschungsreisende gar zu neuen Unternehmungen – und hier stand in den 70er Jahren die deutsche oder österreichische Presse der britischen nicht wirklich nach. Arktisforschung war gegen Ende des 19. Jahrhunderts beides: „tool and weapon of the press.“44 Da Weyprechts im Anschluss an die Österreichisch-Ungarische Polarexpedition von 1872–1874 erarbeitete Konzeption zukünftiger polarer Forschung stories nicht vorsah, versuchte er zu taktieren: So sollte die breite Öffentlichkeit erst über seine Idee in Kenntnis gesetzt werden, sobald eine repräsentable „Summe wissenschaftlicher Intelligenz“ ihre Unterstützung und Billigung schriftlich bestätigt haben, so „daß man damit der großen Menge imponieren kann, die den Werth einer wissenschaftlichen Expedition nach der Anzahl der erlebten Abentheuer abzuschätzen gewöhnt ist.“45 Was das Streben nach Ruhm anbelangte, so gab sich Weyprecht diesbezüglich keinen Illusionen hin. Ruhm könnten die Forscher, die sich an seinem Programm abarbeiten, nicht erwarten, denn „[d]ie Resultate dieses Unternehmens werden nur der exacten Wissenschaft zu Gute kommen und von der großen Masse des Publicums in ihrem vollen Werthe nicht erkannt werden.“46 Wenn Weyprecht in seinen Vorträgen und Briefen immer wieder argumentierte, dass alle bisherigen Expeditionen in die Polarregionen den falschen Prinzipien folgten, „Principien, die in den meisten Fällen der eigentlichen wissenschaftlichen
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Frederick Schwatka: Coming Polar Expeditions, in: North American Review 148 (1889), S. 154, zitiert nach Robinson: The Coldest Crucible, S. 105. Robinson: The Coldest Crucible, S. 105. Dazu Russell A. Potter: Arctic Spectacles. The Frozen North in Visual Culture, 1818–1875, Seattle / London 2007. Beau Riffenburgh: The Myth of the Explorer. The Press, Sensationalism, and Geographic Discovery, London / New York 1993, S. 119. Brief 226: Weyprecht an den Bremer Polarverein / Moritz Lindemann (Sekretär), Triest, 4. Juli 1875, in: Carl Weyprecht (1838–1881). Seeheld, Polarforscher, Geophysiker (wie Anm. 6), S. 438–440, hier S. 439, sowie Brief 228: Weyprecht an Karl Ernst von Baer, Triest, 18.7.1875, in: Ebd., S. 441f. Die Nordpol-Expeditionen der Zukunft und deren sicheres Ergebniß (wie Anm. 18), S. 26.
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Forschung geradezu hemmend in den Weg treten“,47 so stand er damit allerdings nicht allein. Von verschiedener Seite war schon zuvor eine „systematische“, „wissenschaftliche“, eben „vergleichende“ Erforschung der Region gefordert, die ewige Jagd nach dem Pol beklagt worden, wenngleich auch nicht so scharf wie bei Weyprecht selbst: „Die Sucht nach derselben hat solche Dimensionen angenommen, daß heute die arktische Forschung zu einer Art internationaler Hetzjagd gegen den Nordpol geworden ist“, ja „überall wird von dem besten Wege zum Pole geredet, aber nach den wissenschaftlichen Schätzen, die längs desselben ausgestreut liegen, fragen nur Wenige“.48
So verzeichnet bereits ein Lexikoneintrag aus dem späten 19. Jahrhundert, dass „sich am Anfang der 70er Jahre dieses Jahrhunderts die Ansicht immer mehr und mehr Bahn [brach], daß rein geographische Entdeckungsfahrten weniger Wert und kein rechtes Ziel haben, wenn sie nicht zugleich von planmäßig angestellten Beobachtungen begleitet sind.“ 1874 schon arbeitete der Anfang des Jahrzehnts gegründete Bremer Verein für deutsche Nordpolarfahrten ein Konzept aus, das vorsah, zeitgleich zu einer englischen Expedition eine deutsche an die Ostküste Grönlands zu entsenden (die Briten visierten die Westküste an). Ihre Petition wurde im darauffolgenden Jahr auch vom deutschen Bundesrat – wenn auch erfolglos – debattiert.49 Auch der bereits erwähnte Kritiker des schließlich 1882/83 durchgeführten Polarjahres, Neumayer, legte in einem Berliner Vortrag vom 25. Februar 1874 – während Weyprecht noch im arktischen Eise festsaß – einen ähnlichen, gar noch entschieden größeren Plan vor, visierte er doch neben der systematischen Erforschung der nördlichen Polarregion eine gleich intensive wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Antarktis an.50 Dass er mit der Idee Weyprechts zunächst nicht sympathisierte, deutete dieser als Eifersucht, habe es doch den Anschein, als nehme er, Weyprecht, ihm „die Priorität eines ganz gleichen Plans“ weg. Die ablehnenden Argumente Georg von Neumayers, Weyprecht argumentiere deutlich zu schroff51 und gehe zudem mit seiner Konzeption nicht weit genug, da der Südpol außen vor bleibe, konterte dieser in einem Schreiben an Graf Wilczek, seinen 47
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Vortrag gehalten vor der 48. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in Graz von Schiffslieutenant Carl Weyprecht: Grundprincipien der arktischen Forschung, in: Die Nordpol-Expeditionen der Zukunft (wie Anm. 18), S. 27–39, hier S. 33. Ebd. Polarforschung, in: Meyers Konversationslexikon, 13. Bd., Vierte Auflage, Leipzig / Wien 1885–1892, S. 159f. Dazu auch Carl Börgen: Die internationalen Polarexpeditionen, in: Deutsche Geographische Blätter 5 (1881), Hf. 4, S. 283–307, insbesondere S. 283–290. Georg Neumayer: Die geographischen Probleme innerhalb der Polarzonen in ihrem inneren Zusammenhange beleuchtet, in: Hydrographische Mittheilungen (1874), S. 51–53, 63–68, 75–82. Eine Ansicht, die beispielsweise auch August Petermann teilte. Aus einem Brief desselben an Julius Payer: „Weyprecht zieht ja höllisch los gegen unsere geographischen Anschauungen.“ Zitiert aus dem Kommentar zu Brief 227 in: Carl Weyprecht (1838–1881). Seeheld, Polarforscher, Geophysiker (wie Anm. 6), S. 440f.
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Förderer, Finanzier und Partner: „Ich würde den Südpol schon in das Memoire einbezogen haben, wenn ich nicht gefürchtet hätte, viele Leute durch die große Ausdehnung des Projectes zurückzuschrecken“.52 Weyprecht war sich seiner Vordenker durchaus bewusst, schrieb er doch beispielsweise dem deutschbaltischen Naturforscher Karl Ernst von Baer ganz offen, dass die „hier aufgestellten Ansichten […] nicht neu“ seien, es sei lediglich das „erste mal, daß sie bestimmt formulirt vor die Öffentlichkeit gebracht werden“. Besondere Aussicht auf Erfolg bestehe vor allen Dingen dadurch, da er ein allein durch das Interesse an der Thematik selbst Getriebener sei: „Mir ist es leichter als jedem Anderen, mit diesen Ansichten vor die Öffentlichkeit zu treten, da bei mir der Vorwurf der Eifersüchtelei oder Animosität gegenüber fremden Bestrebungen wegfallen muß, indem ich mit derselben den Stab über meine eigenen, mit schwerer Arbeit erkauften Beobachtungen breche.“53
Für diesen Bruch mit seinen überkommenen Anschauungen war ihm keine Anstrengung zu viel. Gemeinsam mit Graf Wilczek schuf er eine atemberaubende Agitationsmaschinerie, die dazu beitragen sollte, die Polarforschung neu einzunorden.54 Da sich beide in einem ausführlichen Briefwechsel kontinuierlich über den Fortlauf des Projekts informierten, lässt sich das wachsende Netzwerk en detail nachzeichnen. Nicht zuletzt daher darf die Rolle, die Wilczek für die Popularisierung des Projektes spielte, nicht unterschätzt werden: Er und Weyprecht legten sich Briefentwürfe, Manuskripte und Anfragen gegenseitig zur Korrektur vor, organisierten mit gleichem Engagement die in hohen Auflagen gedruckten Projektvorstellungen,55 die sie in alle relevanten Sprachen übersetzen ließen. Die Werbemaschinerie funktionierte jedoch auch über zahlreiche Kontakter und Vorarbeiter,56 die damit beauftragt wurden, die jeweils idealen Ansprechpartner aus 52
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Brief 229: Weyprecht an Wilczek, Triest, 25.7.1875, in: Carl Weyprecht (1838–1881). Seeheld, Polarforscher, Geophysiker (wie Anm. 6), S. 446–448, hier S. 447. Innerhalb des Briefs verzeichnet Weyprecht zunächst 21 vorläufige namhafte Unterstützer aus Wien, St. Petersburg, Hamburg, Wien, München, Münster, London, Bremen, Frankfurt, Berlin und anderen Städten. Beide Zitate aus Brief 228: Weyprecht an Karl Ernst von Baer, Triest, 18.7.1875, in: Ebd., S. 441f. Ähnlich auch in einem weiteren Vortrag: „Indem ich dies ausspreche, klage ich mich selbst an und breche den Stab über die von uns erworbenen Resultate.“ Carl Weyprecht: Die Erforschung der Polarregionen, in: Mittheilungen der Geographischen Gesellschaft Wien 18 (1875), S. 357–366, hier S. 366. „Ich habe das Rad für Dich nächstes Jahr in das Rollen gebracht.“ Breif 219: Weyprecht an Wilczek, Triest, 18.2.1875, in: Ebd., S. 433f., hier S. 433. Im Jahre 1877 publizierten die beiden erstmals gemeinsam einen Programmentwurf des Polarjahres: Graf Wilczekʼs und Weyprechts Entwurf des Arbeitsprogrammes einer internationalen Polarexpedition, in: Mittheilungen aus dem Gebiete des Seewesens 5 (1877), Nr. 11, S. 497–507. Im bereits genannten Brief 229 ist von einer Auflagenstärke von 500 Exemplaren sowie von Neuauflagen die Rede, in: Ebd., S. 448. Für Frankreich, England und die Vereinigten Staaten von Amerika lag die Agitation in den Händen von Karl von Scherzer, für Schweden war wiederum Oskar Dickson aktiv. Siehe die Einführung in Kapitel 13 in: Ebd., S. 455.
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findig zu machen. Die Kontakte reichten zunehmend auch über den Äquator – selbst eine Audienz mit dem Kaiser Brasiliens in Wien war fest vereinbart,57 die australische Kolonialregierung sollte mit eingespannt werden.58 Damit entspricht das Projekt den Ansprüchen, die die moderne Globalgeschichtsschreibung an ihr Forschungsobjekt stellt.59 „International“ sollte in der Konzeption Weyprechts und Wilczeks durchaus mehr als nur „europäisch“ bedeuten.60 Zudem planten sie minutiös eine Werbetour über Petersburg, Stockholm, Christiania, Kopenhagen, Berlin und London nach Paris, die unmittelbar vor ihrem Beginn durch den Ausbruch des RussischOsmanischen Kriegs abgesagt werden musste.61 Jener Krieg war es auch, der die geplanten wissenschaftlichen Aktivitäten zunächst auf Eis legte,62 so dass Weyprecht in einem Schreiben an Wilczek klagte: „Meine ganzen Pläne, ich kann fast sagen mein Lebenswerk, sind über den Haufen geworfen.“63 Wenn Weyprecht weder die Urheberschaft für die Idee, noch die alleinige Realisierung derselben für sich beansprucht, so kann er nicht als ein weiterer großer Mann der Polarforschung nach altem Stile gezeichnet werden. Vielmehr erscheint er als jener neue Gelehrtentypus, jener „unermüdliche Forscher, Wohltäter der
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Brief 248: Weyprecht an Wilczek, Triest, 30.3.1876, in: Ebd., S. 463f.; Brief 249: Wilczek an den Kaiser von Brasilien, Briefentwurf, Wien, ohne Datum, Anlage zu Nr. 243 vom 30. März 1876, in: Ebd., S. 464f. Brief 255: Weyprecht an Wilczek, Triest, 22.6.1876, in: Ebd., S. 469f. Mit Akira Iriye lässt sich argumentieren, dass sich über das Projekt ein „transnational network“ fand, „that [was] based upon a global consciousness“, das zweifelsohne über bloße nationale Interessen und Belange hinausging. Akira Iriye: Global Community. The Role of International Organizations in the Making of the Contemporary World, Berkeley u.a. 2004, S. 8 und 6. Madeleine Herren: Internationale Organisationen seit 1865. Eine Globalgeschichte der internationalen Ordnung, Darmstadt 2009, S. 4. Brief 274: Weyprecht an Wilczek, Triest, 17.4.1877: „In den nächsten Tagen werden voraussichtlich die Russen und Türken anfangen, sich gegenseitig die Schädel einzuschlagen, und es ist nun die Frage, sollen wir unter diesen Verhältnissen unsere Reise antreten oder nicht.“ in: Carl Weyprecht (1838–1881). Seeheld, Polarforscher, Geophysiker (wie Anm. 6), S. 491. Die Absage ist Anfang Mai beschlossene Sache: Brief 275: Weyprecht an Wilczek, Triest, 3.5.1877, in: Ebd., S. 492f. Weyprecht an Wilczek: „Mich ekelt diese ganze europäische Wirtschaft an, die Hypocrisie Russlands, die Schwäche der anderen Staaten, die sich soweit imponieren lassen, daß sie par force zum Kriege gedrängt werden zu einer Zeitperiode, wo das allgemeine Elend schon ohne Krieg so groß ist, daß die halbe Welt am Bettelstabe nagt. Mich ekelt dieses gegenseitige Intrigieren und Anlügen der Völker untereinander, diese im Rechtsgefühle gegebenen Faustschläge, diese Treuebrüche ohne Ende. Ich sympathisiere nicht mit den Russen und nicht mit den Türken, ich wünschte daß sie sich gegenseitig auffrässen, wie die Löwen in der Fabel.“ Brief 275: Weyprecht an Wilczek, Triest, 3.5.1877, in: Ebd., S. 492f., hier S. 492. Ebd., S. 493.
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Menschheit“,64 der gekonnt Vermarktungsstrategien für seine zu realisierenden Projekte entwickelte. Er ist an der Schwelle zwischen dem letzten Zeitalter der Entdeckungen und einer neuen Phase der Verwissenschaftlichung zu verorten. Zugleich steht Weyprechts Person sinnbildlich für die durch Jürgen Osterhammel konstatierten Transformationsprozesse von „herausragenden individuellen Leistungen“ Einzelner in „eine wissenschaftliche Disziplin, also ein durch Institutionen abgesichertes Kollektivunternehmen“.65 Dieser Schritt wurde bereits auf der Hamburger Polarkonferenz 1879 mit der Bildung der internationalen Polar Commission begangen, die sich erst mit der Schluss-Sitzung in München 1891 auflösen sollte.66 III. INDIVIDUELLE FRUSTRATION, EIFERSUCHT UND ENTTÄUSCHUNG ALS MOTOR DER INTERNATIONALEN FORSCHUNG Woher rührte also Weyprechts bereits angesprochene Verbitterung, die – so die These dieses Beitrags – ihn dazu motivieren sollte mit der bisherigen Polarforschung des 19. Jahrhunderts wie auch seiner eigenen zu brechen? Woran lag es, dass er nach seiner doch ebenso triumphalen wie heldenhaften Rückkehr von der Expedition seinen einstigen Idealen und Zielen in Windeseile den Rücken zukehrte? In seinem sogenannten Rückzugstagebuch von 1874 über den beschwerlichen Weg zurück über das Packeis ist manch kritischer Kommentar über den Mitverantwortlichen Julius Payer verzeichnet, der auf drei ausgedehnten Schlittenexpeditionen mit unterschiedlicher Begleitung das neuentdeckte Land grob kartierte und bezeichnete sowie nebenbei mit 82°50ʼ nördlicher Breite den nördlichsten Punkt des Archipels erreichte – und damit einen viel gefeierten zwischenzeitlichen Rekord markierte. Am 26. Mai notierte Weyprecht, gegen Ende der ersten, besonders beschwerlichen Woche der Rückreise, als die Mannschaft mit ihren schwer beladenen Schlitten und Booten regelmäßig im weichen Schnee knietief einsank: „Payer beginnt wieder mit seinen alten Eifersüchteleien. Er ist wieder derart mit Wut geladen, daß ich jeden Augenblick auf eine ernste Kollision gefaßt bin“, und er schrieb auch von „eine[m] seiner Wutanfälle[n]“, in denen Payer ihm versichert habe, „er werde [ihm] nach dem Leben trachten, sobald er sehe, daß er nicht nach Hause zurückkehren könne“.67 64
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Angela Schwarz: Inszenierung und Vermarktung. Wissenschaftlerbilder im Reklamesammelbild des 19. Jahrhunderts, in: Samida: Inszenierte Wissenschaft (wie Anm. 37), S. 83–102, hier S. 90. Osterhammel: Die Verwandlung der Welt (wie Anm. 14), S. 132. Siehe dazu: Die internationale Polar-Conferenz zu Hamburg, S. 541; Protokoll der SchlussSitzung der internationalen Polar Commission in München am 3. September 1891, in: Mittheilungen der Internationeln Polar-Commission (=Communications from the International Polar Commission 7), St. Petersburg 1891, S. 349–354, hier S. 354. Rückzugstagebuch vom 15.5.1874 bis zum 3.9.1874, in: Carl Weyprecht (1838–1881). Seeheld, Polarforscher, Geophysiker (wie Anm. 6), S. 370–418, hier S. 379f.
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Aus den weiteren Eintragungen geht hervor, dass Payer ein ständiger Unruheherd gewesen sein muss – nicht allein für Weyprecht. Obgleich dieser nach Selbstaussage peinlich darauf bedacht war, jegliche Unzufriedenheit der Mannschaft zu vermeiden, kritisierte Payer aufs bösartigste die Leistung anderer, wenn es darum ging, die schwer bepackten Rettungsboote über das brüchige Eis und den Schneematsch zu ziehen – eine Arbeit, die die Männer rasch an ihre körperlichen Grenzen führte.68 Zudem offenbarte sich, dass er ein persönliches „Depot von Delikatessen“ und „Luxusartikel[n]“ mit sich trug. Weyprechts lapidarer Eintrag dazu: „allein ein solcher Egoismus erfüllt mich mit Ekel.“69 Je länger die Rückreise andauerte, desto häufiger wurden die missmutigen Einträge über Payer. So findet sich am 2. August erneut ein Hinweis auf dessen Ich-Sucht. An der Jagd beteilige er sich nie, doch was die anderen schössen, lasse er sich wohl zu Gute kommen. Überhaupt: „Sein Egoismus grenzt an das Unglaubliche. Es sieht aus als sei das ganze Boot mit seiner Bemannung nur für ihn und zu seiner persönlichen Rettung bestimmt.“ Er nehme sich stets den besten Platz zum Schlafen, ja kenne keine Rücksicht auf die Bedürfnisse der ihm Unterstellten.70 Zu seinen schlechten Charaktereigenschaften gesellte sich dann noch, sobald die Gruppe schiffbares Wasser erreichte, seine Inkompetenz in Sachen Navigation und Seefahrt, die zu Streitigkeiten auf seinem Boot führte und Weyprecht zu folgenden Überlegungen: „Das Leben von 6 Menschen kann ich P. absolut nicht in die Hand geben. Bei einer allenfalsigen Trennung wäre das Boot sicher verloren, da P. nicht einmal unterscheiden kann von wo der Wind kommt.“71 Auch die Tagebuch-Aufzeichnungen Eduard Ritters von Orel betonen immer wieder Payers beträchtlichen Egoismus, er vermerkt jedoch auch die generell angespannte Stimmung zwischen den beiden Führungspersönlichkeiten.72 Doch jener Payer war es, der nach der erfolgreichen Rückkehr besonders gefeiert wurde, ein spezielles Medieninteresse hervorrief und um den eine bis dato schier ungekannte Hysterie ausbrach. In der Musik widmete Eduard Strauss sogleich beiden Nordpolfahrern seinen frisch komponierten Weyprecht-PayerMarsch, und auch die nationalen wie internationalen Ehrungen erreichten zunächst noch beide Expeditionsleiter: Bereits unmittelbar nach ihrer Ankunft in Hamburg vermeldeten zahlreiche Zeitungen die erfolgte kaiserliche Verleihung des Ritterkreuzes des Leopold-Ordens „in Anerkennung der mit hingebungsvoller
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Ebd., S. 380. Er betont selbst noch keinen Bissen mehr als die übrige Besatzung zu sich genommen zu haben. Ebd., S. 381. Eintrag vom 2. August. Ebd., S. 405. Eintrag vom 7. August. Ebd., S. 407. Enrico Mazzoli / Frank Berger: Eduard Ritter von Orel (1841–1892) und die österreichischungarische Nordpolar-Expedition mit seinem Rückzugstagebuch von 1874, Triest 2010.
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Aufopferung und unter den größten Lebensgefahren mit seltener Energie und Thatkraft im Interesse der Wissenschaft geleisteten Dienste“.73 Zahlreiche Medaillen und Ehrbekundungen beispielsweise durch die Geographischen Gesellschaften Londons und Paris’ folgten; Payer wurde für seine Leistungen nicht nur in Wien, sondern auch in Berlin, Hamburg, Bremen, Frankfurt, Dresden, Budapest, Genf und Rom und anderen Städten zum Ehrenmitglied der jeweiligen Geographischen Gesellschaften und Sektionen ernannt.74 Über kurz oder lang sollten unzählige Inseln, Kaps, Berge und Regionen seinen Namen tragen.75 Doch nicht nur die Wissenschaften, auch die Welt der Mode versuchte auf die Payer-Euphorie aufzuspringen und entwarf in Eile „Payerhüte“ und „Payerröcke“. Mehr und mehr rückte Payer allein ins Zentrum der Aufmerksamkeit und band das mediale Interesse: Payer, dessen Kraftakt – er hatte auf Franz JosephLand fast 800 km zu Fuß zurückgelegt, um das Land zu kartieren – Weyprechts Messdaten und deren Erkenntnisgewinn völlig verblassen ließ, erhielt wiederholt Raum in den Zeitungen, um die Geschichte seiner Schlittenfahrten und ihres Rekords zu schildern. In ihnen verdichtete sich alles, was die mediale Öffentlichkeit von Polarreisen des 19. Jahrhunderts zu erwarten schien: Mut, Gefahr, heldenhafte individuelle Leistungen, die zu persönlichem Ruhm führten, aber auch – und das wurde von der Presse besonders begeistert aufgegriffen – das Vaterland im hellen Lichte erstrahlen ließ. Fanden Weyprechts Ausführungen in einem halben Nebensatz Erwähnung, so wurden Payers Entdeckungsreisen ausführlichst wiedergegeben.76 Schließlich zählten diese ja „zu den tollkühnsten und wunderbarsten Unternehmungen, welche je von Polar-Reisenden gewagt wurden“.77 Payer selbst bekam in der Neuen Freien Presse vom 25. September über sechs halbe Seiten die Gelegenheit, seine Heldentaten zu schildern (die eigentliche Expedition und die Rückreise, die unter Weyprechts Kommando stand, wurden ausgelassen). Dort unterstrich er die Bedeutung der gefahrvollen Schlittenreisen: „Ihre glückliche Vollführung hing allerdings nur vom Zufalle ab; denn trieb das Schiff vor der Rückkehr der Reisenden weg, so waren diese preisgegeben und die an Bord zurückgebliebene Mannschaft bei dem bevorstehenden Rückzuge empfindlich geschwächt. Allein die Entdeckung und allgemeine Aufnahme des vor uns liegenden räthselvollen Landes war für
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Das Vaterland. Zeitung für die österreichische Monarchie Nr. 262 am 24. September 1874, S. 3. Dort unter den Tagesnachrichten. Ebenso die Innsbrucker Nachrichten Nr. 217, Donnerstag, den 24. September 1874, S. 3f. Detlef Brennecke: Vorwort des Herausgebers (wie Anm. 7), S. 7. Eine ausführliche Aufzählung findet sich ebd., S. 8. Das Vaterland. Zeitung für die österreichische Monarchie, Nr. 263, am 25. September 1874, S. 3 (unter den Tagesnachrichten). Von der Nordpol-Expedition, in: Das Vaterland. Zeitung für die österreichische Monarchie, Nr. 262, S. 1–3, hier S. 1f.; ähnlich auch: Deutsche Zeitung. Morgenblatt, Nr. 979, Wien, Donnerstag, 24. September 1874, S. 4 plus Fortsetzung in der Beilage.
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Alexander Kraus die Expedition von solcher Wichtigkeit, daß das Wagniß ausgedehnter Reisen nicht zu vermeiden war.“78
Darüber hinaus wurden Fragen wie die nach dem offenen Eismeer durch Payer als nonsense und „nutzlos“ abgetan, entscheidender war die Entdeckung und Erschließung des neuen Landes für das Vaterland: „[Im] friedliche[n] Wettstreit der Nationen für die Erweiterung der Erdkunde“ wehte zum ersten Male „im hohen Norden und sofort dem Pole zu Lande näher als alle anderen, […] die Flagge Oesterreich-Ungarns“.79 Zwar sind, wie die Wiener Zeitung vermerkte, die „Erfolge […] Gemeingut aller Gebildeten geworden“,80 doch stand außer Frage, dass dieser Triumph der Nation zu Ehren gereichen sollte. Die Tagespresse überschlug sich geradezu, um aus der Expedition nationales Kapital zu schlagen. Galt es lange Zeit, wie die Deutsche Zeitung bemerkt, als „lächerlich, Oesterreich zu lieben“, so habe dessen „jüngste Errungenschaft“ die Spötter vorerst zum Schweigen gebracht.81 Möge die Expedition auch zur Bereicherung der Wissenschaft weltweit beigetragen haben, manifestiere sich in ihr zugleich ein „Sieg“ der österreichischen „Staatsidee“, war die Mannschaft doch ein „Abbild der Völkergruppen Oesterreichs. Würdiges wurde mit vereinten Kräften vollbracht“ – jenseits von nationalen Eifersüchteleien.82 Das „Band“ sei noch nicht zerrissen, „welches Oesterreich und sein Volk Jahrhunderte hindurch mit den Stammesgenossen verknüpfte“. Dass die Idee Österreichs mit einem Male wieder lebendig und sichtbar geworden sei, allein dafür müssten die Polarforscher gepriesen werden.83 Dieser nationale Trubel um den Volkshelden Payer musste jenem „echten Jünger der Wissenschaft“, als der der gebürtige Hesse Weyprecht in einem Nachruf der Triester Zeitung gewürdigt wurde (nur ein Beleg von vielen für die erfolgreiche Selbstinszenierung), gehörig missfallen, gehörte er doch zu jenen, die „niemals nach äußerem Glanz gehascht“ hätten. Selbst zu Zeiten, während derer er allseitig gefeiert wurde, bewahrte er, so einer seiner Zeitgenossen, „wahrhaft antike Ruhe“.84 Wie wenig er von Payers Heldentaten hielt, manifestiert sich in seinem Bericht über die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Expedition, den er zentral und weithin sichtbar im Journal of the Royal Geographical Society of 78
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Die Nordpol-Expedition. Geschildert von Julius Payer, in: Neue Freie Presse. Morgenblatt, Nr. 3621, Wien, Freitag, den 25. September 1874, S. 1–6, hier S. 3. Es handelt sich bei diesem Artikel um eine fast identische Abschrift des ersten Berichts Payers an das Comité der Polar-Expedition, siehe Julius Payer: II (wie Anm. 5). Ebd., S. 5. Oesterreichische Nordpolfahrer, in: Wiener Zeitung, Nr. 218, Donnerstag, den 24. September 1874, S. 3. Oesterreichs jüngste Errungenschaft, in: Deutsche Zeitung. Morgenblatt, Nr. 981, Wien, Samstag, den 26. September 1874, S. 1f., hier S. 1. Tagesbericht: Wiener Abendpost. Beilage zur Wiener Zeitung, Nr. 219, Freitag, 25. September 1874, S. 1. Neue Freie Presse. Morgenblatt, Nr. 3621, Wien, Freitag, den 25. September 1874, S. 1. Zitiert aus: Carl Weyprecht der österreichische Nordpolfahrer. Erinnerungen und Briefe gesammelt und zusammengestellt von Heinrich v. Littrow, Wien u.a. 1881, S. 8.
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London platzierte: Gehe es der Polarforschung lediglich darum, persönliche Rekorde zu erzielen, so seien gewiss Schlittenreisen die denkbar günstigste Methode dazu. Wenn die Polarforschung allein als internationaler Hindernislauf begriffen werde, „which is primarily to confer honour upon this flag or the other, and their main object is to exceed by a few miles the latitude“, so würden jedoch die wahren Mysterien der Arktis unaufgedeckt bleiben.85 Jeder Punkt seiner Konzeption des Polarjahres lässt sich als eine Abrechnung mit diesem Denken lesen. Da Weyprecht zudem die Ergebnisse seiner eigenen wissenschaftlichen Experimente, denen er zunächst noch große Bedeutung zusprach,86 schon kurze Zeit später nüchtern relativierte, scheint es, als hätte er weniger wissenschaftliche Erkenntnisse als neue Fragen und Herangehensweisen von seiner Expedition mit zurückgebracht: „But whatever interest all these observations may possess, they do not possess that scientific value […] which under other circumstances might have been the case.“ Sie zeigten ein Bild der extremen Effekte der Naturkräfte in der Arktis, schwiegen jedoch über die Gründe für diese, „because we have no synchronous records“.87 Die Lösung für dieses Problem fand Weyprecht in der Idee zum Internationalen Polarjahr, die sich nicht nur gegen seine bisherigen Ideale stellte, sondern auch gegen die Interessen der massenmedialen Öffentlichkeit hinsichtlich der Polarforscher, die ihre Personifizierung in seinem Gegenspieler Julius Payer fanden. IV. FAZIT Gewiss ist die hier aufgezeigte Vorgeschichte des Ersten Internationalen Polarjahres nur eine von vielen möglichen. In ihr sollte aufgezeigt werden, aus welchen Gründen Weyprecht den Stab über seine eigenen – aus seiner Perspektive – zweifelhaften bisherigen Erfolge als Polarforscher brach, was ihn dazu bewegte, die gesamte Forschungspraxis in diesem Felde mit Bausch und Bogen zu verdammen. Denn Ideen kommen nicht von ungefähr, auch sie haben eine Geschichte, in der mitunter Gefühle eine Rolle spielen. Wenn Emotionen jedoch zu Akteuren werden, so rücken sie in den Gegenstandsbereich der Historiker.88 In unserem Falle korrelierte das Aufkommen Weyprechts Idee eines transnationalen Wissen 85 86
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Weyprecht: Scientific Work of the Second Austro-Hungarian Polar-Expedition (wie Anm. 5), S. 33. Carl Weyprecht: I, in: Oesterreichisch-ungarische Nordpol-Expedition 1872–1874: Berichte des Herrn Carl Weyprecht und Julius Payer an das Comité der österr[eichisch]-ungarischen Nordpol-Expedition, Wien 1874, S. 3–11, hier S. 11. Weyprecht: Scientific Work of the Second Austro-Hungarian Polar-Expedition (wie Anm. 5), S. 32. Dazu grundlegend Barbara Rosenwein: Worrying about Emotions in History, in: The American Historical Review 107 (2002), S. 821–845; Alexandra Przyrembel: Sehnsucht nach Gefühlen. Zur Konjunktur der Emotionen in der Geschichtswissenschaft, in: L’Homme 16 (2005), S. 116–124.
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schaftsprojektes, das den Nordpolarraum in ein temporäres Laboratorium transformieren sollte, mit einem als Niederlage empfundenen Triumph, mit den Gefühlen der Eifersucht und Wut gegenüber seinem der Form nach engsten Mitstreiters, Julius Payer. Es waren dessen Heldenmut und heroische Individualleistung, die nach der erfolgreichen Rückkehr von der zwischen Pleite und Erfolg driftenden Österreichisch-Ungarischen Polarexpedition medial gefeiert wurden. Weyprechts auch während der Jahre im Eis kontinuierlich fortgesetzten Messreihen wurden kaum öffentlich wahrgenommen, verblassten angesichts der stories um erlebte Abenteuer und der nationalen Gefühle des Ruhms und Stolzes. Dass er jene eigenen Forschungen selbst wenig später nur noch gering schätzte, zeigt seine Lernfähigkeit. Aus welchen Anteilen sich letztlich der Cocktail aus verletzter Eitelkeit, Neid, Missgunst und Wut sowie individueller Enttäuschung zusammensetzte, der Weyprechts Handeln motivierte, ist für den Historiker nicht zu ergründen, letztlich auch nicht zentral. Wichtig ist mir indes zweierlei: Zum einen führte Weyprechts emotionale Schieflage zur Umsetzung einer in der Luft liegenden grundsätzlichen Neukonzeption der Polarforschung, die – wenn auch etwas zeitversetzt – eine bis in unsere unmittelbare Gegenwart andauernde Forschungstradition etablierte (4. Internationales Polarjahr 2007/2008) und darüber internationale Übereinkünfte wie den 1961 ratifizierten Antarktisvertrag erst möglich machte. Zum anderen kann es auch aus wissenschaftshistorischer Perspektive lohnend sein, nicht nur dem practical turn folgend zu fragen, was Wissenschaftler eigentlich tun, wenn sie forschen, sondern schon früher anzusetzen: Wo kommen ihre Ideen zur Forschung eigentlich her? Was motiviert sie, was treibt sie an? Die Antworten darauf finden sich wohl meist in den „finsteren Regionen, in denen die Psychologie mit der Geschichte ringt“.89
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Lucien Febvre: Sensibilität und Geschichte. Zugänge zum Gefühlsleben früherer Epochen (1941), in: Marc Bloch u.a.: Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, hrsg. von Claudia Honegger, Frankfurt am Main 1977, S. 313–334, hier S. 313.
IMAGINATIONEN UND KOOPERATIONEN IM KALTEN KRIEG
„SIE BRINGEN DAS LICHT DER SOWJETKULTUR“ Literaturbeziehungen zwischen der UdSSR und Indien, 1945–1964* Andreas Hilger
„Er nahm sie in die Arme, trug sie auf den Diwan, setzte sich neben sie und begann zu erzählen. Er erzählte von kristallenen Tempeln, von heiteren Gärten, die sich über viele Meilen dahinzogen – dort gab es keinen Unrat, Mückenschwärme oder Schmutz. Er erzählte vom Tisch, der sich selber deckt, und vom fliegenden Teppich, von der bezaubernden Stadt Leningrad, von seinen Freunden – stolzen, frohen und guten Menschen, und von einem wundervollen Land hinter den Meeren, hinter den sieben Bergen, das man „Erde“ nennt …“1
I. KALTER KRIEG UND DEKOLONISIERUNG Aleksandr Čakovskij, anerkannter Vertreter des sowjetischen Literaturbetriebs, Mitglied der kommunistischen Partei und kommender Chefredakteur der Zeitschrift Inostrannaja Literatura (Ausländische Literatur), machte es sich Anfang 1955 einfach, als er die sowjetischen internationalen Beziehungen beschrieb: „Fast täglich treffen auf sowjetischen Bahnhöfen und Flugplätzen Menschen aus verschiedenen Ländern und Völkern ein. Man kommt zu uns, um zu schauen, zu beobachten, zu lernen, die Errungenschaften anderer Völker zu zeigen … Fast täglich reisen von sowjetischen Bahnhöfen und Flugplätzen ins Ausland sowjetische Arbeiter, Kolchosbauern, Gelehrte, Ingenieure, Ärzte, Schauspielerensembles, verschiedene Delegationen. Sie bringen das Licht der Sowjetkultur.“2
Die jüngere Forschung hat sich verstärkt der kulturellen Dimension sowjetischer internationaler Aktivitäten nach 1945 angenommen.3 Ein umfassender Kulturbe *
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Der Beitrag entstand im Rahmen eines Forschungsprojekts über die sowjetischen Beziehungen zu Südasien 1941 bis 1966, das durch Förderungen der DHI Moskau und London sowie der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf, ermöglicht wurde. Arkadi N. und Boris N. Strugatzki: Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein. Roman, Hamburg 1971 (Original 1964), S. 80. Alexander Tschakowski: Das Licht der Sowjetkultur, in: Neue Zeit, (1955), Hf. 2, S. 21–23, hier S. 23. Nigel Gould-Davies: The Logic of Soviet Cultural Diplomacy, in: Diplomatic History 27 (2003), S. 193–214; David Caute: The Dancer Defects. The Struggle for Cultural Supremacy during the Cold War, Oxford 2003. Aus der älteren Literatur immer noch Frederick C.
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griff, der zentrale Sinnsysteme, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, Werthaltungen und Normen untersucht,4 stellt den Anspruch der UdSSR in Rechnung, neue Menschen, neue Lebenswelten und eine neue internationale Gemeinschaft zu schaffen.5 Die traditionellen Analysen sowjetischer Außenpolitik im Kalten Krieg werden ausdifferenziert und erweitert, um Vorbedingungen, Ausgestaltung und Auswirkungen internationaler Kontakte in den beteiligten – oder betroffenen – Gesamtgesellschaften betrachten zu können.6 In dieser Perspektivierung treffen sich neuere Ansätze der Geschichte der internationalen Beziehungen, der New Cold War History sowie der postkolonialen Theorienlandschaft.7 Die regionale Auffächerung der Forschungen hat mit der thematischen und methodischen Ausdehnung nicht ganz Schritt halten können. Kulturgeschichtliche Arbeiten widmen sich vor allem dem sowjetischen Verhältnis zum direkten Systemgegner USA sowie Kontakten zwischen sozialistischen Gesellschaften.8 Einige Schlaglichter der jüngeren Historiographie demonstrieren jedoch nachdrücklich die Chancen, Herausforderungen und Relevanz eines erweiterten Blicks auf
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Barghoorn: The Role of Cultural Diplomacy in Soviet Foreign Policy, Princeton 1960; ders.: Soviet Foreign Propaganda, Princeton 1964. Silvia S. Tschopp / Wolfgang E. J. Weber: Grundfragen der Kulturgeschichte, Darmstadt 2007, S. 29–36; Reinhard Sieder: Kulturwissenschaften. Fragen und Theorien. Erste Annäherungen, in: Christina Lutter u.a. (Hg.): Kulturgeschichte. Fragestellungen, Konzepte, Annäherungen, Innsbruck 2004, S. 13–36; Johannes Paulmann: Grenzräume. Kulturgeschichtliche Perspektiven auf die Geschichte der internationalen Beziehungen, in: Ebd., S. 191–209. Tarik Cyril Amar: Sovietization as a Civilizing Mission in the West, in: Balázs Apor u.a. (Hg.): The Sovietization of Eastern Europe. New Perspectives on the Postwar Period, Washington 2008, S. 29–45; E. A. Rees, Introduction. The Sovietization of Eastern Europe, in: Ebd., S. 1–27; Horst Bartel u.a. (Hg.): Wörterbuch der Geschichte, Bd. 2, Köln 1984, Sp. 1024–1027, Eintrag „Sozialistisches Weltsystem“. Tobias Rupprecht: Die sowjetische Gesellschaft in der Welt des Kalten Kriegs. Neue Forschungsperspektiven, in: JbGO 58 (2010), S. 381–399; Nikolaus Katzer: Ideologie und Pragmatismus in der sowjetischen Außenpolitik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (2009), Hf. 1– 2, S. 3–10. Melvyn P. Leffler / Odd Arne Westad (Hg.): The Cambridge History of the Cold War, 3 Bände, Cambridge 2010; Sebastian Conrad u.a. (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2002; Wilfried Loth u.a. (Hg.): Internationale Geschichte. Themen, Ergebnisse, Aussichten, München 2000. Vgl. neben Anm. 3: Jan C. Behrends: Erfundene Freundschaft. Propaganda für die Sowjetunion in Polen und in der DDR, Köln 2006; Patryk Babiracki, Imperial Heresies: Polish Students in the Soviet Union, 1948–1957, in: Ab Imperio, (2007), S. 199–235; B. Ė. Bagdasarjan u.a. (Hg.): Sovetskoe zazerkal’e. Inostrannyj turizm v SSSR v 1930–1980-e gody, Moskau 2007; Tuong Vu: Dreams of Paradise. The Making of a Soviet Outpost in Vietnam, in: Ab Imperio, (2008), Nr. 2, S. 255–285; Thomas P. Bernstein / Hua-yu Li (Hg.): China Learns from the Soviet Union, 1949-Present, Lanham 2010; Themenheft „Passing through the Iron Curtain“, Kritika 9 (2008), Nr. 4; Themenheft „Transfergeschichte(n), Osteuropa 58 (2008), Nr. 3.
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die Kontakte zwischen Zweiter und Dritter Welt.9 Sie zeigen auch, dass die Analyse dieser Beziehungen einen konzeptionellen Rahmen benötigt, der die traditionelle Fokussierung auf den Kalten Krieg aufbricht. Die unmittelbaren Interaktionen sowjetischer Vertreter mit Akteuren der Dritten Welt verweisen auf Konfliktpotentiale und Erfahrungswelten, die von ihrer Genese und Entwicklung her entweder außerhalb der bipolaren Fronten des sowjetisch-amerikanischen Systemkonflikts oder zumindest in „multiplen Kontexten“ mit gleichberechtigten, eigenen Agenden der Partner situiert waren – hier ist das Spannungsfeld von Kaltem Krieg und Dekolonisierungsprozessen von besonderem Interesse. Der vorliegende Beitrag nimmt diese Linien auf. Bis Mitte der 1960er Jahre bildeten sich generell Grundvorstellungen, Instrumentarien und Kernprobleme des Verhältnisses der UdSSR zur Dritten Welt heraus, die bis Ende der 1980er relevant bleiben sollten.10 Dem Subkontinent kam seit 1917 in Moskauer Augen immer wieder eine besondere Bedeutung zu.11 Die indische Nationalbewegung zeigte sich ihrerseits früh an den Entwicklungen in der UdSSR interessiert,12 und auf 9
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Maxim Matusevich (Hg.): Africa in Russia, Russia in Africa. Three Centuries of Encounters, Trenton 2007; Ragna Boden: Euro-asiatische Kulturdistanzen und ihre Überwindung. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte der sowjetischen Diplomatie, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 56 (2008), S. 54–71. Zum Feld des Studentenaustauschs zuletzt mit Nennung der relevanten Literatur Andreas Hilger: Building of a Socialist Elite? Khrushchev’s Soviet Union and Elite Formation in India, in: Jost Dülffer / Marc Frey (Hg.): Elites and Decolonization in the Twentieth Century, Basingstoke 2011, S. 262–286. Zur Begrifflichkeit: Der Terminus „Dritte Welt“ ist trotz unbestreitbarer Schwächen alternativlos. Vgl. B. R. Tomlinson, What Was the Third World?, in: Journal of Contemporary History 38 (2003), S. 307–321; Foren der Zeitschrift Third World Quarterly 1 (1979), Nr. 1 und Nr. 2 sowie das Themenheft derselben Zeitschrift 2004, Nr. 1, „After the Third World“. In der Kurzcharakteristik des Verlags ist mittlerweile die Rede von „vielen Dritten Welten“, , 15.9.2011. Der Begriff „Ost-West-Konflikt“ kann die multipolare internationale Geschichte nach 1945 nicht angemessen greifen. Allg. Vor- und Nachteile der Begrifflichkeit „Kalter Krieg“ diskutieren Jost Dülffer: Europa im Ost-West-Konflikt, München 2004, S. 4 f.; Bernd Stöver: Der Kalte Krieg 1947–1991. Geschichte eines radikalen Zeitalters, Lizenzausg. Bonn 2007, S. 19–27; Wilfried Loth: Die Teilung der Welt 1941–1955, 8. Aufl. München 1990, S. 343–346. Alvinz Z. Rubinstein: Moscow’s Third World Strategy, Princeton 1988; Odd Arne Westad: The Global Cold War. Third World Interventions and the Making of Our Times, Cambridge 2005. Sobhanlal Datta Gupta: Comintern and the Destiny of Communism in India. 1919–1943. Dialectics of Real and a Possible History, Kolkata 2006; Samaren Roy: M. N. Roy. A Political Biography, New Delhi 1997; Gene D. Overstreet / Marshall Windmiller: Communism in India, Berkeley 1959. Jawaharlal Nehru: Sowjetrussland, hg. von Bianca Schorr, Ost-Berlin 1989 (Original 1928); Sugata Bose: His Majesty’s Opponent. Subhas Chandra Bose and India’s Struggle against Empire, London 2011, S. S. 82 f., 87 f., 97 f., 104, 131 f., 197 f; Nehrus Rückblick vor der Botschafterkonferenz am 24.3.-03.4.1956, in: Selected Works of Jawaharlal Nehru [im Folgenden: SWJN], Series 2, Vol. 32, New Delhi 2003, S. 408–473, hier S. 447–449.
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beiden Seiten spielte die Literatur ab den 1920er Jahren eine bemerkenswerte Rolle in den bilateralen Wahrnehmungs- und Deutungswelten.13 Um die skizzierte mehrfache Verankerung der sowjetischen und indischen Außenbeziehungen und damit auch ihre grenzüberschreitenden literarischen Verbindungen konzeptionell zu fassen, werden die bilateralen Kontakte hier als dynamisches Verhältnis zwischen einem Imperium und einem (neuen) Nationalstaat betrachtet. Für Indien standen mit der Erringung der formalen staatlichen Unabhängigkeit grundlegende Aufgaben eines nation building14 auf der Tagesordnung. Eine wesentliche Aufgabe bestand darin, über die Etablierung nationaler Leitideen, Werte und Normen Zusammenhalt, Kohärenz, Legitimität und Handlungsfähigkeit nach innen und außen sicherzustellen.15 Das nationale Projekt in Indien war (und ist) nicht unumstritten. Festzuhalten ist, dass sich die große politische Mehrheit in Indien trotz der zahlreichen Selbstverpflichtungen auf ein „sozialistisches Gesellschaftsmuster“ keineswegs in indisch- oder sowjetischkommunis-tischen Bahnen bewegen wollte. Im Gegenteil: Jawaharlal Nehru, von 1947 bis zu seinem Tod 1964 unter anderem Premier- und Außenminister Indiens, sah etwa in der kommunistischen Opposition nichts weiter als einen „antinationalen“ Störfaktor, der „seeks the advancement of a foreign power more than the advancement of their own country“.16 Auf internationaler Bühne strebte das neue Indien mit den „Fünf Prinzipien friedlicher Koexistenz“ danach, jede äußere Einmischung in die innere Entwicklung des jungen Staats abzublocken.17 Kultur war nicht nur für das indische nationale Projekt ein Schlüsselbereich – sie war für die innere Stabilisierung und für die Ausdehnung des sowjetischen Imperiums von ebenso zentraler Bedeutung. Die Klassifizierung der UdSSR als Imperium nutzt den Merkmalkatalog, den die vergleichende Imperien-Forschung sukzessive herausgearbeitet hat. Diese Bezeichnung hat gegenüber alternativen 13
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Vgl. Rabindranath Tagore: Letters from Russia, Calcutta 1960 (bengalische Erstausgabe 1930/31). Zur Progressive Writers’ Association vgl. Gyan Prakash: Mumbai Fables, Princeton 2010, S. 119–157; Priyamvada Gopal: Literary Radicalism in India. Gender, Nation and the Transition to Independence, London 2005, S. 13–31. Zur sowjetischen Literatur vgl. R. H. Stacy: India in Russian Literature, Delhi 1985, S. 66–96. Zur Begrifflichkeit ohne modernisierungstheoretische Konnotationen vgl. Julia Stütz: „Statebuilding“ aus theoretischer und praktischer Perspektive, Baden-Baden 2008, S. 20–22. Vgl. Michael Mann: Geschichte der Macht, Bd. 1, Frankfurt am Main 1990, S. 13–64; Sunil Khilnani: The Idea of India, New York 1998; Benjamin Zachariah: Nehru, London 2004; Rumina Sethi: Myths of the Nation. National Identity and Literary Representation, Oxford 1999; Jivanta Schöttli: Strategy and Vision in Politics. Jawaharlal Nehru’s Policy Choices and the Designing of Political Institutions, Diss. Heidelberg 2009. Ansprache Nehrus vor Mitgliedern des Civil Service, 13.3.1953, in: SWJN, 2,21 (1997), S. 71–83, hier S. 75. Der Begriff „anti-national“ u.a. im Bericht Nehrus für All-India Congress Committee (AICC), 10.1.1955, in: SWJN, 2,27 (2000), S. 261–272, hier S. 270 f. Das entsprechende indisch-chinesische Abkommen über Handel und tibetisch-indische Beziehungen vom 29.4.1954, in: UN Treaty Series, Nr. 4307, , 28.9.2011. Vgl. Gespräch Nehru mit Bulganin und Chruščev am 12.12.1955, in: SWJN, 2,31 (2002), S. 334 ff.
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Termini unter anderem den Vorteil, dass sie interne und externe Aspekte von sowjetischer Politik, Gesellschaft und Kultur zusammen denkt. Für die folgenden Ausführungen ist ein konstituierendes Merkmal des sowjetischen Imperiums von besonderer Bedeutung: Die UdSSR verfügte über ein System privilegierter Weltdeutung und Sinnstiftung, das seine eigene Symbolpolitik produzierte.18 Nach 1945 ging es der sowjetischen Führung zum einen darum, innerhalb der bestehenden Staatsgrenzen die umfassende Transformation zu einer kommunistischen Gesellschaft weiter voranzutreiben. Komplementär verfolgte sie nach außen einen grundsätzlich universalen Machtanspruch. Angesichts der „fließenden“ Außengrenzen eines Imperiums gingen Konsolidierung und Ausdehnung von formeller oder informeller Herrschaft Hand in Hand.19 Zu diesem Zweck stützte sich die Metropole nicht nur auf diplomatische, militärische oder wirtschaftliche Maßnahmen. Es ging ihr insbesondere auch darum, ihre Kultur, d.h. ihre zentralen Sinn- und Wertsysteme vorzugeben und diese Vorgaben gegenüber Neben- oder Gegenkulturen auf Dauer durchzusetzen. Das war die sowjetische „Zivilisierungsmission“20 – sie würde im Idealfall durch Überzeugungs- und Anziehungskraft ein „empire by invitation“ (Geir Lundestad) errichten.21 Somit versuchten sich sowohl die imperiale Expansion als auch die nationalstaatliche Konsolidierung an der Etablierung einer verbindlichen kulturellen Matrix. Diese Konstellation wurde durch zusätzliche Einflussnahmen imperialer oder nationaler Konkurrenten, wie sie China, die USA oder Pakistan darstellten, zusätzlich aufgeladen. 18
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Die anderen grundlegenden Merkmale sind a) große territoriale Ausdehnung; b) Multiethnizität der Gesamtbevölkerung; c) asymmetrische Zentrum-Peripherie-Struktur; d) Existenz einer imperialen Elite ohne Herausbildung einer homogenen imperialen Gesamtgesellschaft; e) Zwangscharakter. Vgl. Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 606–616; Ronald Grigor Suny: The Empire Strikes out. Imperial Russia, „National“ Identity, and Theories of Empire, in: Ders. / Terry Martin (Hg.): A State of Nations. Empire and Nation-Making in the Age of Lenin and Stalin, Oxford 2001, S. 23–66, hier S. 25–27; Alexander J. Motyl, Imperial Ends. The Decay, Collapse, and Revival of Empires, New York 2001, S. 4 f., 14, 21 f.; Herfried Münkler, Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 2005, S. 7–50, 70 ff.; Jane Burbank / Frederic Cooper: Empires in World History. Power and the Politics of Difference, Princeton 2010, S. 4, 8f., 14f., 395–397; Michael W. Doyle: Empires, Ithaca 1986, S. 19–21, 45f., 128–132; Ariel Cohen: Russian Imperialism. Development and Crisis, London 1996, S. 5–25. Münkler: Imperien (wie Anm. 18), S. 17f., 127–156; Osterhammel: Die Verwandlung (wie Anm. 18), S. 607–610. Begriff nach Boris Barth / Jürgen Osterhammel (Hg.): Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, Konstanz 2005; Amar: Sovietization. Vgl. Heinrich Triepel: Die Hegemonie. Ein Buch von führenden Staaten, 2. Aufl. Stuttgart 1943, S. 125–147; Andreas Bieler / Adam David Morton: Neo-Gramscianische Perspektive, in: Siegfried Schieder / Manuela Spindler (Hg.): Theorien der internationalen Beziehungen, 2. Aufl. Opladen 2006, S. 353–379.
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II. IMPERIALE UND NATIONALE LITERATURPOLITIK Die Bedeutung, die das sowjetische Imperium dem gedruckten Wort im Allgemeinen und der Belletristik im Besonderen beimaß, ist unbestritten.22 Es war daher ganz selbstverständlich, dass sich die „Ingenieure der Seele“ (Josef Stalin) und mit ihnen der gesamte literarische und literaturwissenschaftliche Apparat in die imperialen Außenbeziehungen einbrachten. So ließ beispielsweise das Organisationsbüro des Zentralkomitees bereits im September 1945 unter dem Stichwort „Verbesserung der Auslandspropaganda“ die Tätigkeit unter anderem der Gesellschaft für Auswärtige Kulturbeziehungen (VOKS), des Verlags für Fremdsprachige Literatur und der Auslandskommission des Schriftstellerverbands durchleuchten.23 Ab 1948 erschien die maßgebliche Literaturzeitschrift, Sovetskaja Literatura (Sowjetische Literatur), in fremdsprachigen Ausgaben, die sich als „echte Botschafter der sowjetischen Literatur“ verstanden.24 Zugleich bemühten sich sowjetische Autoren um direkte Begegnungen mit indischen Kollegen,25 und die sowjetische Orientalistik steuerte erste Untersuchungen zu neueren Werken der indischen Literaturen bei.26 In Indien sah die britische Metropole bis 1941 keinen Anlass, indische Kulturbeziehungen zur UdSSR zu fördern. Im weiteren Verlauf des Kriegs setzten sowohl die Sowjetunion als auch die Britisch-Indische Regierung in ihrem ungewohnten Bündnis andere Prioritäten. Nach 1947 gab die indische Politik ihren Schriftstellern nur breite Richtlinien für die Mitwirkung an der nationalen Entwicklung an die Hand. Die 1954 ins Leben gerufene Literaturakademie (Sahitya Akademi) setzte es sich etwa zum Ziel, „to set high literary standards, to foster and co-ordinate literary activities in all the Indian languages and to promote through them all the cultural unity of the country“.27 Einzelne Formulierungen Nehrus, der bis zu seinem Tod auch Präsident der Sahitya Akademi war, beschwören unwillkürlich Erinnerungen an stalinistische Begriffswelten herauf: „Engineers and writers“, so Nehru 1954, „are most essential. Without them the country will not blos 22
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Klaus Gestwa: Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus. Sowjetische Technik- und Umweltgeschichte 1948–1967, München 2010, S. 256–305; Wolfram Eggeling: Die sowjetische Literaturpolitik zwischen 1953 und 1970. Zwischen Entdogmatisierung und Kontinuität. Dokumente und Analysen zur russischen und sowjetischen Kultur, Bochum 1994; A. V. Bljum: Sovetskaja cenzura v ėpochu total’nogo terrora 1929–1953, St. Petersburg 2000. Beschluss Orgbüro vom 29.9.1945, in: D. G. Nadžafov / Z. S. Belousova (Hg.): Stalin i kosmopolitizm 1945–1953. Dokumenty Agitpropa CK KPSS, Moskau 2005, S. 26–28. Stenogramm der Sitzung der Auslandskommission SSP, 16.10.1956, Russisches Staatsarchiv für Literatur und Kunst, Moskau (RGALI), f. 631, op. 26, d. 55, Zitat Bl. 4. Mirzo Tursun-Zade verarbeitete seinen Besuch 1947 in der Indijskaja ballada, in: Mirzo Trusun-Zade: Izbrannye proizvedenija v dvuch tomach, Bd. 1, Moskau 1985, S. 62–99. V. M. Beskrovnyj: „Bor’ba“ – social’naja drama Prem Čanda, in: Izvestija Akademii Nauk SSSR, Otd. literatury i jazyka 6 (1947), Hf. 3, S. 229–246; A. P. Barannikov: Indijcy o russkoj literature, in: Sovetskoe vostokovedenie 6 (1949), S. 7–23. Statut der Sahitya Akademi, in: D. S. Rao: A Short History of Sahitya Akademi 1954–84, New Delhi 1985, S. 171–179, hier S. 171.
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som physically and intellectually. Perhaps one could do without mere office goers. The country could still advance. But it will not go ahead without engineers and litterateures“.28 Im Unterschied zu Stalin (oder Chruščev) war die indische Politik jedoch bereit, den Künsten weite Freiheiten zu belassen – in von Staats wegen gezogenen Grenzen: „It is only when they manifestly become a social menace or a social danger that government must come in and come in with a heavy hand; we cannot allow a social menace or social danger to continue“.29 Dieser Vorbehalt war für den Vertrieb von US-amerikanischen „Horror-Comics“ von Belang,30 besonders aber für linke Autoren Indiens. In den 1930er Jahren hatten sich linke Schriftsteller unterschiedlicher Radikalität und Qualität auf Initiative vornehmlich nordindischer Kollegen aus der Urduschreibenden Oberschicht in der „Progressive Writers’ Association“, PWA, zusammengefunden. Ihre Inspirationen fanden die Autoren in einer globalen kritischen Literatur, für die Gor’kij, für die aber auch zahlreiche Autoren Westeuropas und indische Vertreter standen.31 In den 1940er Jahren setzte sich innerhalb der PWA der dogmatische Kurs der indischen Kommunisten (CPI) durch. Die CPI betrieb ab 1947/1948 nicht nur den bewaffneten Umsturz der Nehru-Regierung, sondern bekämpfte an der kulturellen Front kompromisslos alle gemäßigteren Richtungen: Die PWA-Gruppe in Bombay etwa stempelte jetzt den anerkannten Autoren Mulk Raj Anand, seinerzeit einer der Mitbegründer der PWA, als „dekadenten“ Abweichler ab.32 Das war aus Sicht ideologischer Puristen durchaus angebracht: Seit den frühen 1940er Jahren machte sich in Anands Schriften eine verstärkte Rückbesinnung auf indische kulturelle Wurzeln und eine neue Betonung individueller Entwicklung und von „basic human freedoms vis-a-vis the stress on social change and class struggle“ bemerkbar.33 Im Ganzen entfremdete man sich auf diese Weise jedoch nicht nur endgültig das offizielle Indien, sondern auch prominente literarisch-gesellschaftliche Vertreter, die in den Vorjahren offe 28
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Ansprache Nehrus vor Marathi Literary Conference, 1.10.1954, in: SWJN, 2,27 (2000), S. 398–400, hier S. 399 f.; ferner Botschaft Nehrus an die All-Punjab Writers’ Convention, 6.6.1958, in: SWJN, 2,42 (2010), S. 205; C. Rajagopalachari, Development of Indian Literature, in: V. K. Gokak (Hg.): Literatures in Modern Indian Languages. A Series of Broadcasts from All India Radio, Delhi 1957, S. 291–293. Ansprache Nehrus zur Eröffnung eines Filmseminars in Delhi, 27.2.1955, in: SWJN, 2,28 (2001), S. 441–447, hier S. 444f. Vermerk Nehru für Innenministerium, 19.5.1955, in: SWJN, 2,28 (2001), S. 447. Ralph Russell: Leadership in the All-India Progressive Writers’ Movement, 1935–1947, in: Ders.: How not to Write the History of Urdu Literature and other Essays on Urdu and Islam, New Delhi 1999, S. 69–93, hier S. 73–79; Hafeez Malik: The Marxist Literary Movement in India and Pakistan, in: Journal of Asia Studies 26 (1967), S. 649–664; Gopal, Literary Radicalism (wie Anm. 13), S. 15ff.; Margaret Berry: Mulk Raj Anand. The Man and the Novelist, Amsterdam 1971, S. 13–16. Einzelne Mitglieder, u.a. der prominente Faiz Ahmad Faiz, setzten nach 1947 ihre Tätigkeit in Pakistan unter extrem schwierigen Bedingungen fort. Vgl. allg. Ali Jawad Zaidi: A History of Urdu Literature, New Delhi 1993, S. 348–417. Zit. nach Berry: Mulk Raj Anand (wie Anm. 31), S. 33. Berry: Mulk Raj Anand (wie Anm. 31), S. 19f., 30–42, Zitat S. 31.
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nes Interesse für das sowjetische Modell gezeigt hatten; wie die PWA, so verfielen bis Anfang der 1950er Jahre auch die indischen Gesellschaften der Freunde der Sowjetunion in Agonie.34 Der (literaturpolitische) Linksruck wurde nicht von sowjetischen Stellen initiiert. Sie haben ihn allerdings wohlwollend aufgenommen. Botschafter Novikov etwa beschrieb 1949 Anand als furchtsamen Menschen, den man unter den neuen Bedingungen „auf keinen Fall mehr für einen progressiven Autoren halten könne“.35 Im Rückblick musste sich die sowjetische Literaturpolitik eingestehen, dass diese Linie zur politisch-kulturellen Selbstisolierung in Indien geführt hatte.36 Ab 1952 lassen sich denn auch erste Versuche des Kreml’ konstatieren, die Beziehungen zu Indien insgesamt auf eine breitere Grundlage zu stellen. Neben sporadischen politisch-diplomatischen Freundlichkeiten ging es Moskau darum, über die bisherige thematische und soziale Engführung hinaus erneut breitere Gruppen der indischen Gesellschaft zur Kooperation zu gewinnen37 – diese Ansätze gewannen jedoch erst nach Stalins Tod an Schwung und an Stringenz. Einer intensiveren Nutzung literarisch-gesellschaftlicher Kräfte stand Anfang der 1950er Jahre zudem der harsche Anti-Kommunismus der indischen Regierung im Wege, die die internationale Tätigkeit literarischer Polit-Aktivisten aller Schattierungen einschränkte.38 Erst nachdem die CPI offiziell dem bewaffneten Kampf abgeschworen hatte (1951), sich die Partei erneut um eine breitere Verankerung und Vernetzung in Indien bemühte und als sich die indischen offiziellen Beziehungen zur UdSSR selbst erwärmten, waren auch von indischer Seite aus die Voraussetzungen gegeben, um die gesellschaftlichen und literarischen Kontakte mit der Sowjetunion auszuweiten und neue Gruppen interessierter Autoren und Leser einzubeziehen. Bis Mitte der 1950er Jahre öffnete die indische Politik den Raum 34
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Gromyko an Politbüro, 22.1.1952, Russisches Staatsarchiv für Sozial-Politische Geschichte, Moskau (RGASPI), f. 82, op. 2, d. 1197, Bl. 101 f.; Stenogramm Sitzung Auslandskommission SSP, 5.6.1952, RGALI, f. 631, op. 26, d. 5104. Novikov, Information für das Außenministerium (MID) vom 5.7.1949, RGASPI, f. 17, op. 128, d. 1187, Bl. 20–45, hier Bl. 24. Gespräch Nikolaj Tichonov und Khwaja A. Abbas am 28.10.1954, RGALI, f. 631, op. 26, d. 5137; Bericht Boris Polevoj u.a. vom 3.1.1960 über indische Autorenkonferenz in Madras, 16.-20.12.1959, Russisches Staatsarchiv für neueste Geschichte, Moskau (RGANI), f. 5, op. 36, d. 124, Bl. 1–15. Exemplarisch die Internationale Wirtschaftskonferenz in Moskau im April 1952. Vorbereitungsmaterialien und Bilanzen in RGASPI, f. 17, op. 137, d. 521, 789, 792; f. 84, op. 1, d. 59 f. U.a. durch Ein- und Ausreiseverbote, Zensur und Beschneidung der Vertriebswege. Vgl. Indischer Chargé d’Affaires Moskau, Dayal, an Foreign Secretary, K. P. S. Menon, 27.5.1949, National Archives of India, New Delhi (NAI), 1 (68) Eur II/49; Nehru an Rajagopalachari, 31.5.1951, in: SWJN, 2,16,1 (1994), S. 635 f.; Noten der sowjetischen Botschaft Delhi an das indische Außenministerium (MEA) vom 30.3., 18.4. und 27.6.1950, Archiv für Außenpolitik der Russländischen Föderation, Moskau (AVP), f. 172, op. 3, papka 3, d. 1, Bl. 20, 25, 45.
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für Kontakte der Literaturen und Literaten weitgehend, wollte sich selbst aber nicht aktiv an den Literaturbeziehungen beteiligen.39 III. IMPERIAL-NATIONALSTAATLICHE LITERATURBEZIEHUNGEN VON STALIN BIS CHRUŠČEV Angesichts der literaturpolitischen Asymmetrie der Beziehungen erscheint es angebracht, die folgenden Ausführungen entlang der sowjetischen Perspektive zu organisieren. In Moskauer Augen bewegten sich die Beziehungen auf mehreren Ebenen: Neben der Definition und der bilateralen Ausgestaltung der politischen Rahmenbedingungen ging es auch darum, internationale Autoren als Teil einer gesellschaftlichen Bewegung anzusprechen resp. zu mobilisieren. „Progressive“ Autoren wurden hierbei über die sozialen und antikolonialen Aussagen ihrer Kunst und zugleich durch ihr gesellschaftspolitisches und/oder internationales Engagement, das den sowjetischen Vorstellungen entsprach, definiert. Der direkte künstlerische Austausch und die wechselseitigen Einflüsse der Literaturen als Kunstform stellten die dritte Ebene dar. Es war diese Schichtung, die in den sowjetischen literarischen Aktivitäten eine ständige Ausbalancierung von politisch-propagandistischem sowie künstlerischem oder literaturwissenschaftlichem Gehalt erforderte: Fadeevs Lehrsatz, wonach „große“, sprich: sozialistische Ideen nahezu von selbst für die Produktion „großer Literatur“ sorgten, illustriert eine extreme Position in diesem Spannungsfeld.40 Nach 1953 hatte die literarische Außendarstellung weiterhin die „Prinzipien der marxistisch-leninistischen Ästhetik“ zu propagieren und eine „wirksame, operative und scharfe Gegenpropaganda im Bereich der Kultur“ zu führen.41 Im Übrigen lässt sich auch bei den handelnden Personen eine deutliche Kontinuität feststellen. Nikolaj Tichonov etwa bediente sich bereits seit den 1920er Jahren in einzelnen Werken indischer Themen.42 Mit einem Zyklus über seinen Pakistanaufenthalt erreichte Tichonov endgültig den Status eines literaturpolitischen Südasien-Experten: Ihm wurde 1951 39
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Nehru an Präsident Prasad, 12.4.1958, in: SWJN, 2,42 (2010), S. 171; Ansprache Nehru als Präsident der Sahitya Akademi, 26.4.1958, in: Ebd., S. 178–182; Indischer Botschafter Moskau, K. P. S. Menon, an Foreign Secretary, Dutt, 6.6.1956 und Antwort Dutt vom 20.6.1956, NAI, 26 (117)-EUR/56. In den kulturellen Außenbeziehungen setzte die indische Politik, wenn, dann eher auf visuelle Darbietungen, vgl. Schriftwechsel Bildungsminister Azad und MEA, April bis Juni 1956, NAI, 27 (20), NEF (1)/56. Stenogramm Gespräch SSP mit indischer Delegation, 27.6.1951, RGALI, f. 631, op. 26, d. 5090. Vorstandssekretär SSP, Polevoj, und Vorsitzender Auslandskommission SSP, Michalkov, an ZK, 21.2.1957, RGANI, f. 5, op. 36, d. 36, Bl. 1ff.; Leiter ZK-Kulturabteilung, Polikarpov, und Stellv. Leiter Kulturabteilung, Rjurikov, 16.9.1957 an ZK, RGANI, f. 5, op. 36, d. 40, Bl. 122–126. Stacy: India (wie Anm. 13), S. 81f.
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der Stalinpreis 1. Stufe für Poesie zugesprochen.43 Tichonov blieb weit über 1953 hinaus in den Literaturbeziehungen mit dem gesamten Subkontinent präsent. Wie Tichonov, so war auch Mirzo Tursun-Zade ein literarisch-politischer Multifunktionär. Der Tadžike erhielt 1948 für seine Gedichte über Indien den Stalinpreis 2. Stufe.44 Tursun-Zade war noch in den 1960er Jahren nicht aus den sowjetischen Bemühungen um die Autoren in der Dritten Welt wegzudenken.45 Die Aktivitäten der beiden Autoren und ihre literarischen Sujets folgten über alle Epochenbrüche hinweg grundsätzlich den Akzentuierungen, die die Politik auf der internationalen Bühne sowie im Innern – beispielsweise hinsichtlich der Stellung der russischen Sprache und Kultur im multinationalen Imperium –, setzte. Insgesamt hatten die bilateralen Beziehungen mit den indischen Literaturen und Schriftstellern imperiale Konsolidierungs- und Expansionsinteressen nach innen und nach außen zugleich zu bedienen. Aus Sicht der Metropole ließen sich im Kern sechs Aufgabenfelder unterscheiden, die von Akteuren (und Themen) der sowjetisch-indischen Literaturbeziehungen berücksichtigt werden mussten. Diese Bereiche überlappten sich partiell, waren allerdings zum Teil in der Praxis kaum miteinander zu vereinbaren. In allen Feldern machten sich zudem technische Probleme bemerkbar, die die Handlungsspielräume der beteiligten Akteure und Institutionen einschränken mochten. Die Quellen thematisieren bis in die 1960er Jahre hinein immer wieder interne Koordinations- und Kommunikationsprobleme der verschiedenen beteiligten sowjetischen Verbände und Institutionen. Finanzielle und technische Probleme bis hin zur prekären Papierversorgung machten sich auf beiden Seiten ebenso bemerkbar wie fehlende Sprachkenntnisse, die die Interaktionen erschwerten. Zähe Honorarverhandlungen schließlich stellten selbst die Geduld „progressiver“ Autoren auf die Probe.46 Doch zurück zu den inhaltlichen Herausforderungen des literarischen empire building. Die Lektüre indischer Literatur sollte, erstens, den sowjetischen Leser fortbilden und damit zur Erziehung eines adäquat kultivierten Sowjetbürgers bei 43
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V. F. Svin’in / K. A. Oseev, K. A. (Hg.): Stalinskie premii: dve storony odnoj medali. Sbornik dokumentov i chudožestvenno-publicističeskich materialov, Novosibirsk 2007, S. 426– 438. Tichonov erhielt den Preis für die Werke „Dva potoka“ (Zwei Ströme) und „Na Vtorom Vsemirnom kongresse mira“ (Auf dem Zweiten Weltfriedenskongress) (!). Der Zyklus Dva potoka. Stichi o Pakistane i Afganistane (1951) in: Nikolaj Tichonov: Sobranie sočinenij, Bd. 2, Moskau 1985, S. 22–75. Svin’in / Oseev (Hg.): Stalinskie premii (wie Anm. 43), S. 759f. Vgl. Ju. Babaev: Mirzo Tursun-Zade. Kratkij očerk žizni i tvorčestva, Stalinabad 1961. Stenogramm Sitzung Sowjetisches Komitee für Verbindungen mit den Autoren Asiens und Afrikas, 19.12.1962, RGALI, f. 631, op. 26, d. 6124, hier u.a. Bl. 97ff., 121. Sitzung Redaktionskollegium Inostrannaja Literatura vom 11.3.1958, RGALI, f. 1573, op. 1, d. 113, hier Bl. 38f.; Stenogramm Diskussion Vortrag GKKS (Staatliches Komitee des Ministerrates für Kulturbeziehungen mit dem Ausland), 23.1.1962, hier Beitrag V. N. Ažaev, RGALI, f. 631, op. 26, d. 114; Sekretariat SSP, Sagalnik, an die Autorin Prabhjot Kaur, 13.1.1965. Die Lyrik der in Indien preisgekrönten Autoren wurde in der UdSSR mangels Papier zunächst einmal nicht gedruckt. RGALI, f. 631, op. 26, d. 5271, Bl. 28.
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tragen.47 Die Publikation sowjetischer Werke mit indischen Sujets in der UdSSR verfolgte denselben Zweck. Mit diesem allgemeinen kulturellen Erziehungsauftrag war, zweitens, das Ziel verbunden, sowjetischen Lesern gegenüber nicht nur die Richtigkeit und Überlegenheit der sowjetischen Ordnung und Politik zu propagieren, sondern auch die internationale (indische) Anerkennung dieses Vorrangs zu demonstrieren. Auf diese Weise trugen die Werke – drittens – dazu bei, sozialistische Errungenschaften in der UdSSR zu realisieren und zu bewahren. Viertens und fünftens waren indischen Lesern allgemeine Bildung – oder „Zivilisation“ – sowie direkte Propagandainhalte über die Vorzüge sowjetischen Lebens oder der internationalistischen Loyalität sowjetischer Bürger zu vermitteln. Hierum kümmerten sich sowjetische Publikationen in Indien oder die – weitaus selteneren – indischen Werke mit einer sowjetischen Thematik. Sechstens schließlich hatten die literarischen Demonstrationen und Diskussionen kurzfristig die kulturelle Selbstbehauptung indischer Kunst und Literatur gegen die westliche imperialistische Erblast zu unterstützen. Langfristig waren sie auf eine, in sowjetischer Deutung, höhere marxistische Ästhetik, das heißt auf den Kanon sozialistischer Normen und Werte mit seiner Ablehnung der „bürgerlichen Zivilisation“ zu orientieren. Oder, in den Worten des Instituts für Weltliteratur: „Die Ablehnung der materialistischen Ästhetik endet unweigerlich mit dem Versinken im Sumpf des bürgerlichen Denkens“.48 Die Durchsetzung des „sozialistischen Realismus“ in der indischen Literatur würde, so lässt sich mit Dobrenko argumentieren, zum Aufbau des realen Sozialismus in Indien beitragen.49 47
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Die Bildungsaufgaben beispielhaft zusammengefasst im Beschluss der IdeologieKommission des ZK vom 16.9.1959, in: E. S. Afanas’eva u.a. (Hg.): Ideologičeskie komissii CK KPSS 1958–1964. Dokumenty, Moskau 1998, S. 180–185. Vgl. sowjetische Redebeiträge auf der Autorenkonferenz Taškent 1958 in der Zusammenstellung von B. Hayit (Hg.): „Der Geist von Taschkent“. Ergebnisse und Ablauf der Konferenz der Schriftsteller Asiens und Afrikas in Taschkent im Oktober 1958, Düsseldorf 1959, S. 27–30, vollständig in: Taškentskaja konferencija pisatelej stran Azii i Afriki, Taškent 1960, S. 35–48. Institut Mirovoj literatury im. A. M. Gor’kogo (Hg.): Istorija russkoj sovetskoj literatury v trech tomach, Bd. 3: 1941–1957, Moskau 1961, S. 543–562, Zitat S. 559; Vorstandssekretär SSP, Polevoj, und Vorsitzender der Auslandskommission SSP, Michalkov, an ZK, 21.2.1957, RGANI, f. 5, op. 36, d. 36, Bl. 1f.; E. P. Čelyšev, Sovremennaja poėzija Chindi. Tradicii i novatorstvo v tvorčestve Sumitranandana Panta i Sur’jakanta Tripatchi Niraly, Moskau 1965, S. 21.; Eggeling: Die sowjetische Literaturpolitik (wie Anm. 22), S. 64f., 113f.; Hayit (Hg.): Der Geist von Taschkent (wie Anm. 47), S. 9; Istorija russkoj sovetskoj literatury v četyrech tomach, Bd. IV: 1954–1965, Moskau 1971, S. 552–576. Evgeny Dobrenko: Political Economy of Socialist Realism, New Haven 2007, S. XII–XXI, 4–33. Vgl. Čelyšev: Sovremennaja poėzija Chindi (wie Anm. 48), S. 52f. sowie ders.: Izbrannye trudy, Bd. 1, Moskau 2001, hier S. 516: „In einem Land, in dem bis heute Überreste der feudalen Ordnung herrschen, müssen die progressiven Autoren noch immer aufklärerische Ideale verteidigen, indem sie mit Kritik an religiösen Vorurteilen, einer mittelalterlichen Moral sowie für die Gründung neuer gesellschaftlicher Beziehungen, ästhetischer Normen eintreten, die die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit fördern.“
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Die Maßstäbe zur Bewertung der „Schönheit“ der Literatur, der Nützlichkeit des vermittelten Wissens und damit der Verwertbarkeit für höhere Ziele waren entlang aktueller Entwicklungen sowjetischer Innen- und Außenpolitik Änderungen unterworfen. Die Auseinandersetzung mit „unschönen“ oder „uninteressanten“ Darstellungen, Feldzüge gegen „Modernismus“ oder Existentialismus und jedwede Spielart „antirealistischer“ l’art pour l’art verband sich untrennbar mit der Polemik gegen „falsche“ Repräsentationen in der „bourgeoisen“, „imperialistischen“ oder „dogmatischen“ (chinesischen) Literatur. „Wie können wir die jungen Autoren Indiens vor dem reaktionären Einfluss der antidemokratischen bürgerlichen Literatur des Westens schützen?“, fragte 1965 eine autoritative Untersuchung zeitgenössischer indischer Poesie. Dies sei das Kernproblem „des Kampfes der Ideen, der heute in Indien zwischen progressiven und reaktionären Kräften in der Literatur und in der Kunst tobt. […]. Die imperialistischen Kräfte wollen die junge Generation mit den verderblichen Ideen einer Überlegenheit des „westlichen Lebensstils“, durch einen Kult des Individualismus, mit der Predigt des moralischen Zerfalls, mit Pornographie vergiften; sie propagieren eine antidemokratische Literatur und Kunst, eine den Interessen des Volkes fremde idealistische Ästhetik.“50
Der paternalistische Ton belegt, dass die sowjetischen Beobachter in ihren Langzeitplänen der kulturellen Kraft indischer Literaturen, an der sich auch die amerikanische Seite abarbeitete,51 nicht vertrauten resp. nicht vertrauen wollten. Im Kern ergab sich aus dem Ansatz einer multifunktionalen Literatur neben der schwierigen Balance von Kunst und Politik auch das Problem von Vorrang bzw. Vereinbarkeit interner und externer Zielsetzungen. Die radikale Abschottung der UdSSR unter Stalin blieb für die internationalen Literaturbeziehungen der UdSSR natürlich nicht ohne Folgen. Der ohnehin schwierige Zugriff sowjetischer Leser auf die ausländische Belletristik wurde in den 1940er Jahren noch weiter erschwert.52 Dies korrespondierte mit einer hohen Konzentration der sowjetischen Literaturproduktion auf die innere Front. Für deren Stabilisierung im neuen, kal 50
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Čelyšev: Sovremennaja poėzija Chindi (wie Anm. 48), S. 4–76, Zitate S. 4, 48. Wesentliche sowjetische Bestandsaufnahmen der indischen Literaturlandschaft sind ferner: E. Čelyšev: Ob osnovnych tečenijach i putjach razvitija sovremennoj literatury Chindi, in: Voprosy literatury (1958), Hf. 10, S. 188–210; I. Andreev: O sovremennoj indijskoj literature, in: Inostrannaja Literatura (1959), Hf. 2, S. 221–228; Themenheft der Kratkie soobščenija Instituta Narodov Azii, Bd. 80: Literaturovedenie: Indija, Pakistan, Afganistan, Moskau 1965. Zu China vgl. Stenogramm Sitzung Sowjetisches Komitee für Verbindung mit Autoren Asiens und Afrikas, 19.12.1962, RGALI, f. 631, op. 26, d. 6124; Leitung SSP an ZK, 11.7.1964, RGANI, f. 5, op. 55, d. 103, Bl. 169ff. Margery Sabin: The Politics of Cultural Freedom: India in the Nineteen Fifties, in: Raritan 14 (1995), Hf. 4, S. 45–65, hier S. 48–50. Beschluss Politbüro vom 18.2.1943 zur Einstellung der Zeitschrift Inostrannaja literatura, in: Andrej Artizov / Oleg Naumov (Hg.): Vlast’ i chudožestvennaja intelligencija. Dokumenty CK RKP (b) – VKP (b) – VČK – OGPU – NKVD o kul’turnoj politike. 1917–1953 gg., Moskau 2002, S. 485; Beschluss Politbüro vom 14.9.1946 über Abonnements und Nutzung ausländischer Literatur, in: Ebd., S. 604 f.
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ten Krieg verließ man sich vor allem auf erprobte sowjetische Autoren. Sowjetische literarische (wie journalistische) Reiseberichte dieser Zeit schilderten vor allem düstere Zustände im nicht-sozialistischen Ausland und nutzten diese selektive Wahrnehmung, um das sowjetische Publikum auf das eigene System einzuschwören: „Ich sage dir aufrichtig, mit reinem Gewissen“, lässt Tursun-Zade seine Eindrücke von Indien ausklingen: „Es gibt nichts glücklicheres in der Welt, als das Land der Kommunisten. Und freier als der sowjetische Bürger ist niemand.“53 Analoge Schilderungen Tichonovs zu Pakistan unterstreichen nur, dass sich die Autoren ganz auf die sowjetische Leserschaft konzentrierten.54 „Unsere Autoren kommen nach Indien“, beschrieb später der Vorsitzende des Staatskomitees für Auswärtige Kulturbeziehungen, Žukov, die problematischen Spätfolgen dieser Politik, „aber dort weiß man nicht, wer sie sind, was sie so schreiben“.55 Neben sowjetischen Werken nutzte die innere Selbstdarstellung der UdSSR Zuarbeiten von auserwählten „progressiven“ indischen Schriftstellern. Während die UdSSR unter Stalin indische Kritiker gar nicht erst ins Land ließ oder unbefriedigende Reiseimpressionen totschwieg,56 wurden „loyale“ Autoren durchaus hofiert. Der ZK-Auslandskommission war unter anderem Harindranath Chattopadhyay durch ein Poem über die Rote Armee und durch laute Kritik an der westlichen Politik positiv aufgefallen. Im Frühjahr 1951 entschloss sich das Politbüro, Chattopadhyay und einige seiner Mitstreiter in die UdSSR einzuladen. Die Auswahlkriterien waren eindeutig: Die Gäste waren Mitglieder oder enge Sympathisanten der CPI, der indischen Friedensbewegung und/oder der PWA. Die Delegation, die neben Moskau und Leningrad auch je sieben Tage in Georgien und Uzbekistan verbrachte, zeigte nach Ansicht indischer Diplomaten „very much uncontrolled enthusiasm for the USSR“. Dazu mochte der prominente Empfang der Delegation in Moskau, bei dem sich Fadeev und Ėrenburg einfanden, beigetragen haben.57 1952 erschien ein kleines Bändchen mit Gedichten von Chat 53
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Mirzo Tursun-Zade: Moj tost (1948), in: Ders.: Izbrannye proizvedenija (wie Anm. 25), Bd. 1, S. 96–99, hier S. 99. Ähnlich ders.: Vozvraščenie (1947), in: Ebd., S. 80f. Zum Zyklus inges. vgl. Babaev, Tursun-Zade (wie Anm. 44), S. 67–80. Als Reisebericht Olga Tscheschetkina: Indien ohne Wunder. Reiseeindrücke aus fernen Ländern, Berlin 1949 (russ. Ausgabe 1948), S. 241–244. Nikolai Tichonov: Wir fliegen nach Hause, in: Ders.: Erzählungen aus Pakistan, Berlin 1952, S. 95–97. Stenogramm der Vorbereitungssitzung SSP zur Taškenter Konferenz, 19.2.1958, RGALI, f. 631, op. 26, d. 6082, hier Bl. 10f. Gespräch Botschafter Novikov mit dem indischen Journalisten Narayan, 6.10.1949, RGASPI, f. 17, op. 137, d. 426, Bl. 1ff.; Stellv. Außenminister, Zorin, an Vorsitzenden der Außenpolitischen Kommission, Grigor’jan, 17.7.1950, über Darstellungen eines Aufenthalts in der UdSSR durch Iqbal Singh, ebd., l. 74f. Dessen ursprüngliche Schilderungen in der indischen Presse wurden für sowjetische Leser aufbereitet: Vgl. Ikbal Singch, Moi vpečatlenija o Sovetskom Sojuze, in: Literaturnaja Gazeta, 1.3.1950, S. 4 sowie I. Sinelnikow: Ein indischer Journalist über die Sowjetunion, in: Neue Zeit, (1950), Hf. 29, S. 29–31. Grigor’jan an Stalin, 25.11. und 1.12.1950 sowie Beschlüsse Politbüro vom 7.12.1950 und 17.3.1951, RGASPI, f. 82, op. 2, d. 1198, Bl. 25, 58; f. 17, op. 163, d. 1570, d. 1580; Fadeev
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topadhyay und eines weiteren Delegationsmitglieds, Vallathol, in russischer Sprache.58 Der Titel „Indien spricht“ suggerierte dem sowjetischen Publikum, dass die Hymnen der beiden Autoren stellvertretend für die Haltung der ganzen indischen Literatur, letztlich für die ganz Indiens zu nehmen waren. Die sowjetische Literaturkritik schätzte das Werk, weil Chattopadhyay und Vallathol als „wichtige Vertreter“ der indischen progressiven Literatur „in ihren Gedichten eine tiefe Liebe zur Sowjetunion, zu den großen Führern der fortschrittlichen Menschheit, Lenin und Stalin, ausdrücken“ sowie den Überlebenskampf der indischen Werktätigen in kraftvolle Poesie gefasst hätten.59 Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die gereimten Stalinhuldigungen Chattopadhyays bereits zu Stalins Geburtstag in der Literaturnaja Gazeta (Literaturzeitung) erschienen waren.60 Die stalinistische Verlagslandschaft sah hier und in anderen Fällen bewusst über so manche stilistische Schwächen ideologisch verlässlicher Autoren hinweg.61 Nach Stalins Tod waren Moskauer Literaturzirkel gezwungen, ältere Entscheidungen zu überdenken. „Vallathol kennt ganz Indien, aber H. Chattopadyay ist nur ein zweitrangiger Poet“, so indische Kenner unverblümt 1955. „Aus ungenügender Kenntnis und manchmal aus überflüssigem Wohlwollen heraus bewertet man in der Sowjetunion mitunter schwache Filme und schwache Autoren zu hoch. […]. Derartige scheinbare Kleinigkeiten rufen unnötige Aufregung bei den Schriftstellern [in Indien] hervor und beschädigen die indisch-sowjetische Freundschaft.“62
Die zuvorkommende Behandlung einzelner Autoren durch sowjetische Stellen war auch integraler Bestandteil der sowjetischen Außendarstellung nach Indien. VOKS registrierte genau alle öffentlichen, positiven Äußerungen Vallathols nach seiner Rückkehr aus der UdSSR.63 Sowjetische Literaturaktivisten führten die positive Resonanz der Kollegen teilweise auf den Einfluss zurück, den die sowjetische Literatur mit ihren Klassikern auf die Entwicklung indischer Autoren genommen habe. Höheren Orts schätzte man solche frühen Erfolgsmeldungen weitaus nüchterner ein. Die Außendarstellung der Sowjetunion galt den Kontrolleuren
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an Grigor’jan, 27.6.1951, ebd., op. 137, d. 743, Bl. 142ff.; Stenogramm des Delegationsgesprächs vom 27.6.1951, RGALI, f. 631, op. 26, d. 5090. Die indische Bewertung in Monatsbericht Indische Botschaft Moskau, Juni bis Juli 1951, NAI, 87-R&I. Indija govorit. Stichi Indijskich poetov, Moskau 1952. Vorstandssekretär SSP, Sofronov, an Komitee Stalinprämien, o.D., RGALI, f. 631, op. 26, d. 5129, Bl. 1–3. Pravda veka, in: Literaturnaja Gazeta vom 22.12.1951. Vgl. Materialsammlung zum Autor, 1951–1953, RGALI, f. 631, op. 26, d. 5101. Vortrag Paevskaja zur indischen Literatur auf der gemeinsamen Sitzung von Auslandskommission und Sektion Übersetzungen SSP, 5.6.1952, RGALI, f. 631, op. 26, d. 5104; SSP, Krugerskaja und V. Rubin, [1952], Rezension über unveröffentliches Manuskript Chattopadhyays, RGALI, f. 631, op. 26, d. 5113. Vermerk Anand über die sowjetisch-indische Kulturkooperation, Juni 1955, RGALI, f. 631, op. 26, d. 5153. Vorsitzender VOKS, Denisov, an Grigor’jan, 27.11.1951, RGASPI, f. 17, op. 137, d. 743, Bl. 195f.
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im ZK bis 1953 insgesamt als unzureichend, die „Popularisierung der Kultur der Völker der UdSSR im Ausland“ als erheblich verbesserungsfähig.64 In der Tat: Die Zahl der Ansprechpartner und Empfänger von Kultursendungen aller Art war, wie bereits vermerkt, begrenzt. Die Rigidität, mit der die stalinistische Lagerpolitik und radikale indische Kommunisten die Kulturkontakte in enge Bahnen zwangen, wurde in den Bestandsaufnahmen jedoch nicht hinterfragt. Die Auflockerungen, die unter Stalin einsetzten, gewannen erst nach 1953, im Rahmen der offensiven Auslegung der friedlichen Koexistenz unter Chruščev, eine neue Qualität.65 Die Chefideologen im Kreml zeigten sich dabei bis zum Ende der Chruščev-Ära sowohl mit dem Ausmaß als auch mit den Ergebnissen der kultur- und literaturpolitischen Anstrengungen nie wirklich zufrieden. Ihre Kritik bewegte sich weiterhin innerhalb der systemimmanenten Logik: Sie konzentrierte sich auf vermeintliche Mängel der Apparate und Institutionen bei der Umsetzung der als korrekt verstandenen Zielvorgaben bzw. auf individuelle Missinterpretationen vermeintlich real existierender Möglichkeiten.66 Dabei ist es faktisch zu einer merklichen Ausweitung der sowjetischen Literaturbeziehungen zum nicht-sozialistischen Ausland einschließlich Indiens gekommen.67 Für deren konkrete Ausgestaltung war jedoch von Bedeutung, dass traditionelle sowjetische kulturpolitische Grundpositionen nicht aufgegeben wurden. Die 1955 wieder belebte Zeitschrift Inostrannaja Literatura hatte „verleumderische Meldungen der reaktionären Presse über Literatur und Kultur des demokratischen Lagers zu entlarven“ und unter Mithilfe ausländischer Autoren die „ideologische Gegenpropaganda“ zu organisieren. Das ZK gab Chefredakteur Čakovskij 64
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Molotov an Stalin, 7.4.1949, in: Nadžafov / Belousova (Hg.): Stalin i kosmopolitizm (wie Anm. 23), S. 377 f. Vgl. zu Reorganisationen und kritischen Bilanzen der VOKS ab 1947 RGASPI, f. 17, op. 162, d. 38; op. 128, d. 1142, 1184, 1196. Vgl. William Taubman: Khrushchev. The Man and His Era, New York 2003; Aleksandr Fursenko / Timothy Naftali: Khrushchev’s Cold War. The Inside Story of an American Adversary, New York 2006. Vgl. beispielhaft Beschlüsse Ideologie-Kommission ZK vom 11.2.1958 und 4.6.1959, in: Afanas’eva u.a. (Hg.): Ideologičeskie komissii (wie Anm. 47), S. 33–38, 172–175; Vermerk ZK-Abteilung Kultur, 3.1.1956 über die Tätigkeit des SSP, in: E. S. Afanas’eva u.a. (Hg.): Apparat CK KPSS i kul’tura 1953–1957. Dokumenty, Moskau 2001, S. 464f.; Stenogramm Vorbereitungssitzung SSP zur Taškent-Konferenz, 19.2.1958, RGALI, f. 631, op. 26, d. 6082; SSP, Sagalnik, Vermerk zur Berichterstattung der sowjetischen Presse über die indische Literatur, o.D., [1959], RGALI, f. 631, op. 26, d. 5216; Stenogramm Diskussion Vortrag Vors. GKKS, 23.1.1962, RGALI, f. 631, op. 26, d. 114; Bericht ZK-Präsidium, [13.10.1964], in: A. N. Artizov u.a. (Hg.): Nikita Chruščev 1964. Stenogrammy Plenuma CK KPSS i drugie dokumenty, Moskau 2007, S. 182–216, hier S. 200f. Vgl. mit ausführlichen erläuternden und kanalisierenden Einleitungen versehene Sammlungen indischer Prosa und Poesie, die in sich Vertreter verschiedener Strömungen vereinten: E. Čelyšev (Hg.): Stichi Indijskich poėtov, Moskau 1956, Einleitung S. 3–22; N. Višnevskaja / E. Čelyšev (Hg.): Rasskazy Indijskich pisatelej. Sbornik v dvuch tomach, Moskau 1959, Einleitung S. 3–20. Im Januar 1959 wurde ein Sowjetisches Komitee für Verbindungen mit den Schriftstellern Asiens und Afrikas ins Leben gerufen, vgl. Vermerk über Tätigkeit, o.D., RGALI, f. 631, op. 26, d. 6116.
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noch vor der ersten Ausgabe die Warnung mit auf den Weg, dass er „Kontakte und die Zusammenarbeit mit Vertretern der bourgeoisen Kultur“ gefälligst „ohne ideologische Zugeständnisse“ zu pflegen habe.68 Mit der Intensivierung der Beziehungen machte sich der bereits erwähnte Widerspruch deutlicher bemerkbar, der sich aus der Moskauer Vorstellung ergab, die eigene Kultur extensiv zu exportieren und parallele Kulturimporte aus dem Ausland zu kontrollieren und zu kanalisieren.69 Diese Spannung wird in indirekten Dialogen zwischen Kulturwächtern, -produzenten und -konsumenten 1958/1959 exemplarisch greifbar: Im April 1958 hoben die Ideologen des Zentralkomitees auf die Gefahren ab, die ein unkontrollierter Kulturimport mit sich bringen konnte und verbaten sich das mitunter überschwängliche Lob für literarische Werke aus dem kapitalistischen Ausland.70 Im Dezember 1958 legte die Ideologie-Kommission nach und beklagte die „falsche Darstellung der bourgeoisen Realität“ in der zeitgenössischen sowjetischen Literatur und Kunst. Die Intensivierung der Auslandskontakte biete zwar grundsätzlich die Möglichkeit, „herausragende Vertreter der bürgerlichen Kultur auf unsere Seite zu ziehen“, resultiere aber viel zu häufig in unkritischer Verherrlichung der bürgerlichen Welt und atme den „Geist von Speichelleckerei“.71 Ein Leserbrief an die Redaktion der Zeitschrift Inostrannaja Literatura forderte dagegen Anfang 1959 den Abdruck von weiteren „bürgerlichen“ Werken – die Leser empfahlen der Obrigkeit, einfach mehr auf die „ideologische Festigkeit“ ihrer Bürger zu vertrauen.72 Die sowjetisch-indischen Literaturbeziehungen hatten ebenfalls weiterhin der sozialistischen Aus- und Fortbildung des sowjetischen Lesers zu dienen. Aus den Prosawerken, die sich mit Indien beschäftigten, blieben in der Regel landeskundliche Informationen und ideologische Gewissheiten haften. Sowjetische Verse mit indischen Themen erinnerten nicht nur Achmatova an „gereimte Eingabe[n] an den Mossovet“. Ekaterina V. Ševeleva besang zum Beispiel die sowjetische Wirtschaftshilfe für das Stahlwerk Bhilai.73 Auch Ėrenburg nutzte seine 1956 erstmals publizierten „Eindrücke“ einer Reise nach Indien für zahlreiche Spitzen gegen 68 69 70
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Gemeinsamer Vermerk kulturpolitischer ZK-Abteilungen vom 12.1.1956, in: Afanas’eva u.a. (Hg.): Apparat CK KPSS (wie Anm. 66), S. 477–479. Vgl. Gould-Davies, The Logic (wie Anm. 3), S. 211f. Beschluss der Ideologie-Kommission des ZK vom 5.4.1958, in: Afanas’eva u.a. (Hg.): Ideologičeskie komissii (wie Anm. 47), S. 45–47. Vgl. auch Kommissionsbeschluss vom 28.7.1958 über Abonnements ausländischer Literatur, ebd., S. 64f. Beschluss Ideologie-Kommission des ZK, 26.12.1958, dazu Vermerk ZK-Kulturabteilung vom 18.11.1958, in: Afanas’eva u.a. (Hg.): Ideologičeskie komissii (wie Anm. 47), S. 126– 135; Beschluss vom 2.3.1960 und Vermerk ZK-Kulturabteilung vom 23.2.1960, in: Ebd., S. 230–235. Vgl. auch Kommissionsbeschlüsse vom 26.8. und 9.9.1958 über Abenteuerromane und Inhalte der Zeitschrift Ogonek, in: Ebd., S. 74–78, 87. Leserbrief Stančenko / Gorjačev, 6.1.1959, RGALI, f. 1573, op. 1, d. 187, Bl. 7f. Die Ausführungen von Stacy, India (wie Anm. 13), S. 83f., 94f. werden indirekt durch den Überblick des Indologen E. P. Čelyšev über das Thema Indien in der sowjetischen Literatur bestätigt: Sovetsko-indijskie i russko-indijskie literaturnye svjazi, in: Ders.: Izbrannye trudy (wie Anm. 49), Bd. 1, hier S. 588–599, der Hinweis auf die Bhilai-Lyrik S. 591.
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Überheblichkeit, Ignoranz und Vorurteile des „Westens“ und für einen positiven Abriss der sowjetisch-indischen Beziehungen.74 Damit waren bleibende Akzente für die steigende Zahl literarischer und journalistischer Erfahrungsberichte über Indien gesetzt.75 Im Gegensatz zu Tursun-Zade oder Tichonov wenige Jahre zuvor gab sich Èrenburg 1956 jedoch als weltoffener Reisender, der ganz im Geiste der neuen internationalen Beziehungen Indien zu schätzen wusste und unbedingt mehr über Land und Leute und ihre Kultur lernen wollte. „Wann verstehen denn unsere Verlage, dass die Welt groß und verschiedenartig ist?“, plädierte der Autor für mehr Übersetzungen aus den indischen Literaturen.76 Gegenüber der Stalinzeit steigerten die sowjetischen Verlage die Publikation von Übersetzungen indischer Werke,77 auch wenn ihr Hauptaugenmerk weniger auf Literaturen der Dritten als auf Erzeugnissen der Ersten Welt lag.78 Sie hatten sich auch in der Auswahl indischer Literatur weiter am innersowjetischen Erziehungsauftrag zu orientieren. So lehnte es Inostrannaja Literatura 1958 ab, ein Buch des bengalischen Autors Bibhutibhushan Bandyopadhyay zu publizieren. Der Schriftsteller sei zwar zu Recht für seine Naturbeschreibungen bekannt, doch “uns interessiert ein anderes Thema des Romans mehr – das Thema der schweren und rechtlosen Situation der indischen Bauern, die im Schoß dieser wunderschönen Natur leben.“ In dieser Beziehung, so das Fazit des Rezensenten, lasse der Roman zu wünschen übrig – er sei daher für den sowjetischen Leser “nicht interessant“.79 Angesichts derartiger Kriterien profitierten unter den lebenden Autoren weiterhin insbesondere „progressive“ Vertreter von den erweiterten Publikationsmöglichkeiten in der UdSSR.80 Die zahlreichen Tagore-Ausgaben in der UdSSR konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich spezifisch sowjetische
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Il’ja Ėrenburg: Indijskie vpečatlenija, in: Ders.: Putevye zapiski, Moskau 1960, S. 11–58, dazu das Vorwort ebd., S. 3–10, hier u.a. S. 9f., 18f., 21–24, 33–37, 49–58. Vgl. statt aller Einzelangaben die Zusammenstellung in Bibliografija Indii. Dorevoljucionnaja i sovetskaja literatura na russkom jazyke i jazykach narodov SSSR, original’naja i perevodnaja, Moskau 1965, Neuaufl. 1976. Ėrenburg: Indijskie vpečatlenija (wie Anm. 74), S. 52f. Im Vordergrund standen bis in die 1960er Jahre hinein Übersetzungen ins Russische, auch wenn ab Mitte der 1950er Jahre einige indische Autoren in Sprachen Zentralasiens und anderer Republiken der UdSSR übersetzt wurden. Vgl. Bibliografija Indii (wie Anm. 75). Beschluss Ideologie-Kommission ZK vom 4.6.1959 sowie Vermerk ZK-Abt. Propaganda und Agitation, 28.4.1959, in: Afanas’eva u.a. (Hg.): Ideologičeskie komissii (wie Anm. 47), S. 172–175. Die Kritik neu aufgelegt im Kommissionsbeschluss vom 2.3.1960 mit Vermerk ZK-Kulturabteilung vom 23.2.1960, ebd., S. 230–235 Rezension zu „Lesnoj žitel‘“ (Erstausgabe 1957), RGALI, f. 1573, op. 5, d. 210, Bl. 6ff. Bibliografija Indii (wie Anm. 75); Aufstellung über die Ausgabe indischer Literatur bis 1959, RGALI, f. 2329, f. 9, d. 106, Bl. 3; entsprechende Klagen anderer Autoren in: Stenogramm Vorbereitungssitzung SSP zur Taškent-Konferenz, 19.2.1958, RGALI, f. 631, op. 26, d. 6082, hier Bl. 9f. (Beitrag Čelyšev); Gespräch Žukov, Vors. GKKS, mit Kulturdelegation Indiens, 11.10.1961, RGALI, f. 2329, op. 8, d. 1861, Bl. 1ff.
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Neuinterpretationen des Klassikers in Indien selbst nicht durchsetzen ließ.81 Ob es im Übrigen nur an der schwachen Werbung sowjetischer Medien für die indischen Titel lag, dass die entsprechenden Verkaufszahlen in der UdSSR relativ niedrig lagen, muss dahingestellt bleiben.82 Mit Blick auf die Stellung der sowjetischen Literatur in Indien zeichnete sich mit der Zunahme der Kontakte ebenfalls immer klarer ab, dass Widersprüche und Spannungen, die sich aus der Vielzahl künstlerischer und propagandistischer Aufgaben nach innen und außen ergaben, die Ausstrahlungskraft der sowjetischen Literatur und damit ihren Modellcharakter in Mitleidenschaft zogen.83 Die wenigen dokumentierten Leserreaktionen aus Indien lassen sich nicht zu einer soliden Gesamtdarstellung der indischen Rezeption sowjetischer Literatur verdichten. Die Bandbreite der individuellen Reaktionen reichte von der Begeisterung darüber, dass Bücher überhaupt in die tamilische Sprache übersetzt wurden, bis hin zur überempfindlichen Kritik an einer angeblich negativ eingefärbten Verwendung des Begriffs „bengalisches Feuer“ bei Šolochov. Verallgemeinern lässt sich, dass das Interesse indischer Leser an Informationen und Kunst aus dem Ausland Werke aus der UdSSR mit einbezog, ohne dass damit die Herausbildung neuer literarischer oder ideologischer Präferenzen einhergehen musste.84 Literaturproduzenten und -ideologen in der UdSSR – wie in Indien – waren sich zudem bewusst, dass Bücher bei den extrem hohen Analphabeten- und Armutsraten Indiens nur auf eine sehr kleine Gruppe einwirken konnten. Die Idee, über die Prägung avangardistischer Eliten nationale oder internationale Prozesse maßgeblich beeinflussen zu können, verlor dadurch in Moskauer Augen nichts an ihrer Attraktivität.85 Es sei hier darauf hingewiesen, dass eine ganze Reihe progressiver Autoren 81
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Bericht sowjetische Delegation über Tagore-Seminar im Umkreis der Feiern aus Anlass des 100. Geburtstags, November 1961, RGALI, f. 631, op. 26, d. 5224; Čelyšev, Sovremennaja poėzija Chindi (wie Anm. 48), S. 14–21. Stenogramm Vorbereitungssitzung SSP zur Taškent-Konferenz, 19.2.1958, RGALI, f. 631, op. 26, d. 6082, hier Bl. 10f., 19f. (Beitrag Čelyšev). Sowjetische Leserreaktionen auf indische Werke lassen sich bis Mitte der 1960er nicht in aussagekräftigem Umfang ermitteln; zumindest korrespondiert die Lektüre indischer Literatur mit einem allgemeinen Interesse an ausländischer Literatur und an nicht-sozialistischen literarischen Tendenzen. Vgl. z.B. Gregory Walker: Readerships in the USSR. Some Evidence from Post-War Studies, in: Oxford Slavonic Papers 19 (1986), S. 158–173. Hier steht nicht der künstlerische Gehalt sowjetischer oder indischer progressiver Werke zur Debatte, sondern die Rezeption und Stellung in der indischen lesenden Gesellschaft. Vgl. zur Literaturlandschaft u.a. Dr. Nagendra (Hg.): Indian Literature, Delhi 1988; Nalini Natarajan (Hg.): Handbook of Twentieth-Century Literatures of India, London 1996; Arvind Mehotra (Hg.): A Concise History of Indian Literature in English, Basingstoke 2009. Leserzuschriften nach RGALI, f. 631, op. 26, d. 5221, Bl. 139f. (bengalisches Feuer); Russisches Staatsarchiv, Moskau (GARF), f. 9590, op. 1, d. 468, Bl. 88–90 (tamilische Sprache). Weitere Einzelreaktionen ebd., dazu d. 503, 586, 631. Stenogramm Gespräch Tichonov u.a. mit Abbas, 28.10.1954, RGALI, f. 631, op. 26, d. 5137; Stenogramm Treffen Auslandskommission SSP mit indischer Kulturdelegation, 8.7.1955, ebd., d. 5154.
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in den 1940er und 1950er ihr Brot als Drehbuchschreiber in Bombay verdienten; Khwaja Ahmad Abbas stieg gleich selbst zum Produzenten auf. Sie hatten einige Kassenschlager zu verantworten und zeichneten im Übrigen auch für Filme verantwortlich, die in der UdSSR mit großem Erfolg gezeigt wurden.86 Auf dieser Grundlage war die Rezeption sowjetischer Literatur durch die indische künstlerische Avantgarde selbst für das empire building besonders bedeutsam. Bereits 1951/1952 hatten sich progressive Autoren aus Indien in Fragen der Ästhetik und des sozialistischen Realismus als kritische Diskussionspartner erwiesen.87 Die Auffächerung der Beziehungen machte es für die sowjetische Literatur nicht einfacher, die angestrebte Stellung in einer indischen Literaturlandschaft zu erlangen, in der verschiedene literarische Strömungen kursierten und in der immer wieder künstlerische Neuerungen diskutiert und aufgenommen werden konnten. Daher musste sich Ėrenburg bohrenden Fragen indischer Kollegen zum restriktiven Umgang der sowjetischen Literaturbürokratie mit seinem „Tauwetter“ stellen.88 Von der sowjetischen Auseinandersetzung um Dudincevs „Nicht vom Brot allein“ machte sich die indische interessierte Öffentlichkeit ihr Bild notgedrungen aus der „bürgerlichen“ Presse.89 Anregungen indischer Leser, den Titel in indische Sprachen zu übersetzen, verhallten ungehört. Für den Progress-Verlag antwortete 1961 Chefredakteur Pavlov höchstpersönlich auf eine entsprechende Zuschrift aus dem „Annapurna Russian Institute“ in Lucknow. Sein Verlag, ließ Pavlov das indische Publikum wissen, habe sich zum Ziel gesetzt, ausländische Leser mit „den aktuellsten und interessantesten Neuerscheinungen der sowjetischen Literatur bekannt zu machen. Das Buch ,Nicht vom Brot allein‘, das 1956 in der UdSSR herausgegeben wurde, gehört nicht zu solchen Büchern.“90 Sowjetische Delegationen gerieten ebenso in die Defensive, als sie dem indischen Publikum die sowjetischen Reaktionen auf Pasternaks Weltruhm erklären sollten. Für die indische Leserschaft war es eindeutig nicht genug, wenn sich verfemte Autoren wie Pasternak oder Achmatova zumindest vorübergehend mit 86
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Prakash: Mumbai Fables (wie Anm. 13), S. 119–157; Gopal, Literary Radicalism (wie Anm. 13), S. 125–145. Die Untersuchung von Sudha Rajagopalan: Indian Films in Soviet Cinemas. The Culture of Movie-Going after Stalin, Bloomington 2008, konzentriert sich auf die Zeit ab den 1960er Jahren und ist als Erfolgsstory des indischen Films konzipiert, vgl. Rashmi Doraiswamy: Leave Disco Dancer Alone! Indian Cinema and Soviet Movie-Going after Stalin, unpubl. Ms. New Delhi 2010. Stenogramm des Delegationstreffens vom 27.6.1951 mit Nachfragen zur künstlerischen Qualität „progressiver“ Literatur und zur Themenwahl im sozialistischen Realismus, RGALI, f. 631, op. 26, d. 5090. Il’ja Ėrenburg: Ljudi, gody, žizn’, Buch 5–7, in: Ders.: Sobranie sočinenij, Bd. 8, Moskau 2000, hier S. 436–443. Diese Episode erwähnte Ėrenburg in seinen „Indischen Eindrücken“ 1956 nicht! Bericht Čakovskij vom 7.1.1958 über Indienreise, RGANI, f. 5, op. 36, d. 41, Bl. 1–34, hier Bl. 8f. Brief A. Khanna vom 26.1.1961 und Antwort Pavlov vom 15.6.1961, GARF, f. 9590, op. 1, d. 503, Bl. 29, 33f.
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Übersetzungen indischer Literatur ins Russische zurückmelden durften.91 „Schon allein in ihrer Frage zeigt sich Ihre feindselige Einstellung“, polterten sowjetische Gäste bei einem Anlass hilflos. „Jetzt reicht es aber wohl mit Fragen nach der künstlerischen Freiheit“, wurde das Publikum bei einer Veranstaltung der Indischen-Sowjetischen Kulturgesellschaft angegangen.92 Die erste von indischen Herausgebern zusammengestellte Anthologie russischer resp. sowjetischer Lyrik, die 1964 (!) in Hindi erschien, belegt ein Spektrum literarischer Interessen in Indien, das die offizielle sowjetische Literaturpolitik nicht erfüllen wollte: Neben Versen von Puškin oder Majakovskij enthielt die Sammlung auch Werke der verfolgten Dichter Gumilev und Mandel’štam.93 Die indische Presse rezensierte Werke der russischsprachigen Exilliteratur, während Literaturkritiker die Lyrik Tichonovs als „dull conformist verses“ verwarfen.94 Indische Schriftsteller baten darum, dass außer den üblichen Reisenden in Sachen Literatur aus der „alten Generation“ auch einmal jüngere, sprich: moderne Autoren nach Indien kämen.95 Die sowjetische Literaturwissenschaft schließlich sah mit Sorge, dass neue Strömungen in der indischen Literatur auch russische Klassiker selbständig und damit angeblich falsch interpretierten.96 Schlimmer noch musste es sowjetische Autoren und Wissenschaftler anmuten, wenn indische Kollegen a priori nichts von den „Errungenschaften“ aus der UdSSR wissen wollten. R. K. Narayan, einer der wichtigsten Vertreter der englischsprachigen indischen Literatur dieser Jahre, bekannte während seines ersten Besuchs in der Sowjetunion 1964 unverblümt, dass er nicht ein einziges Buch sowjetischer Autoren gelesen habe.97 Die Nutzung der literarisch-gesellschaftlichen Bewegungen in Indien erwies sich ebenfalls weiterhin als problematisch. Die Taškenter Konferenz asiatischer und afrikanischer Schriftsteller 1958 ist hierfür ein gutes Beispiel. Die kulturelle und damit literarische Selbstbestimmung war ein wesentliches Thema der Literaturbewegungen der Dritten Welt, das sich die sowjetische Kulturpolitik zu Nutzen machen wollte. Auf einer ersten Konferenz asiatischer Autoren hatte die sowjetische Delegation (u.a. Tursun-Zade) Taškent als Ort der Folgeveranstaltung vorge 91 92
Stacy, India (wie Anm. 13), S. 77–79. Stenogramm Sitzung Sekretariat Leitung SSP, 16.2.1961, RGALI, f. 631, op. 26, d. 103; vgl. Bericht Čakovskij vom 7.1.1958 über Indienreise, RGANI, f. 5, op. 36, d. 41, Bl. 1–34, hier Bl. 8f. Vgl. auch die kritischen Bemerkungen zur Behandlung Pasternaks im Politischen Jahresbericht der Indischen Botschaft Moskau für 1960, K. P. S. Menon, 5.1.1961, NAI, 8 (39) Eur (E)/60. 93 E. P. Čelyšev u.a. (Hg.): Izučenie literatur vostoka. Rossija, XX vek, Moskau 2002, S. 303f. 94 David Floyd: Poet of the Khrushchev Era, in: The Hindustan Times, 4.11.1962, S. 1. 95 Bericht V. V. Ivanov und E. P. Čelyšev über Delegation zum Tagore-Seminar Delhi, November 1961, RGALI, f. 631, op. 26, d. 5224. 96 Čelyšev: Izbrannye trudy (wie Anm. 49), Bd. 1, S. 605. Zur Rezeption Tolstojs vgl. A. Šifman: Lev Tolstoj i vostok, Moskau 1960, S. 471–479. 97 Bericht des Übersetzers über den Besuch Narayans vom 10.-20.6.1964, o.D., RGALI, f. 631, op. 26, d. 5260. Vgl. insgesamt den Problemkatalog im Delegationsbericht SSP über Reise nach Indien im März 1964, Sekretariat Leitung SSP, Bachan, 15.4.1964, RGANI, f. 5, op. 55, d. 104, Bl. 121ff.
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schlagen. Angesichts des „wind of change“ in Afrika wurde das Treffen zu einer asiatisch-afrikanischen Schriftstellerkonferenz ausgebaut.98 In Indien wählten CPI und die wieder belebte PWA bereits genehme Delegierte aus. Offizielle Stellen in Delhi legten der Teilnehme indischer Autoren grundsätzlich keine Steine in den Weg. Sie hatten jedoch wenig Sinn für eine sowjetisch-politische Instrumentalisierung der Konferenz und wollten unpolitische Fragen der nationalen Literaturen der Dritten Welt behandelt wissen.99 Auch parteipolitisch ungebundene linke Autoren machten sich dafür stark, die Konferenz auf literarische Fragen zu beschränken.100 Ein prominenter Vertreter dieser Gruppe war Mulk Raj Anand. Die Kulturpolitiker des sozialistischen Lagers hatten sich, wie bereits erwähnt, im Zuge der Radikalisierung der CPI und der Verhärtung der sowjetischen internationalen Beziehungen von dem Autoren distanziert. Da Anand Ideen eines demokratischen Sozialismus verhaftet und gesellschaftspolitisch aktiv blieb, stellte die sowjetische Literatur um 1953 die Verbindungen zu Anand wieder her.101 In den Quellen erscheint der Autor nun als Berater sowjetischer Schriftsteller und Verbände in grundsätzlichen Fragen der indischen Literaturlandschaft.102 Der Kontakt zu einem anerkannten, populären indischen Literaten konnte aus Sicht der UdSSR vor aller Welt die eigene Offenheit und vor allem die kulturelle Attraktivität des eigenen Modells demonstrieren. Dass sowjetische Stellen Anand für einen Vertrauten Nehrus hielten, steigerte seine Bedeutung für die sowjetische Literaturpolitik zusätzlich.103 Für Anand war die neue Prominenz in den sowjetisch-indischen Literaturbeziehungen auch eine Chance, dem eigenen Oeuvre weitere Verbreitung zu verschaffen. Die künstlerisch-ideologischen Diskrepanzen, die Ende der 1940er Jahre zum Bruch geführt hatten, waren damit nicht überwunden. In der Planungsphase der Taškenter Konferenz drängte Anand gemeinsam mit anderen indischen Delegationsmitgliedern darauf, dass sich die Konferenz in ihrer Tagesordnung und Stoßrichtung an der Literaturkonferenz von Delhi und nicht an parallelen internationalen Politikveranstaltungen wie der Kairoer Solidaritätskonferenz (1957) ori 98
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Stenogramm SSP zur Vorbereitung der Taškent-Konferenz, 7.2.1958, RGALI, f. 631, op. 26, d. 6081; Vorstandssekretär SSP, Surkov, an ZK, 30.4.1958, RGANI, f. 5, op. 36, d. 63, Bl. 4f. Der zitierte Begriff wurde 1960 vom britischen Premier Macmillan geprägt. Vgl. Vorbereitungssitzungen SSP vom 7.2. und 19.2.1958, RGALI, f. 631, op. 26, d. 6081, Bl. 24–26; ebd., d. 6082, Bl. 19f.; Nehru an bengalischen Autoren T. Banerjee, 23.6.1958, in: SWJN, 2,42 (2010), S. 214f. So die Empfehlungen von Kh. A. Abbas, Stenogramm Vorbereitungssitzung SSP, 7.2.1958, RGALI, f. 631, op. 26, d. 6081, hier Bl. 10, 24–26. Die Konzentration auf asiatische kulturelle Entwicklungen in Delhi deutlich an Informationen des Vorbereitungskomitees, Juli bis Oktober 1956, RGALI, f. 631, op. 26, d. 6080. Vgl. M. V. Desai: The Asian Writers’ Conference, in: Books Abroad 31 (1957), Hf. 3, S. 243–245. Vgl. Ju. E. Tupikova: Mul’k Radž Anand – progressivnyj pisatel’ Indii. (K pjatidesjatiletiju so dnja roždenija), in: Sovetskoe Vostokovedenie (1955), Hf. 6, S. 117–123. Vgl. Anm. 62. Polevoj an ZK, 28.10.1958, RGANI, f. 5, op. 30, d. 281, Bl. 116–119.
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entiere.104 Nach der Konferenz beklagten die sowjetischen Literaten die „spalterische Position der indischen Delegation“ sowie insbesondere die Auftritte Anands, der sich stur gegen Debatten über die Rolle der Literatur im anti-kolonialistischen Kampf gewehrt und sich zunächst einer Institutionalisierung der afrikanischasiatischen Zusammenarbeit verweigert hatte.105 Zu seiner Verteidigung teilte Anand mit, dass Nehru selbst die indische Delegation auf eine „literarische“ Linie verpflichtet habe, um im Kabinett die Entsendung der Autoren vertreten zu können. Der Schriftsteller hielt es für geboten, diese Linie auch umzusetzen, um sich in der indischen Literaturlandschaft nicht zu isolieren.106 Diese Einschätzung der politischen Kräfteverhältnisse unter den indischen Autoren wurde von sowjetischen Beobachtern geteilt.107 Im weiteren Verlauf sagte Anand die Teilnahme an der ersten Sitzung des ungeliebten Ständigen Büros der asiatisch-afrikanischen Schriftsteller kurzfristig ab. Er ließ sich dort auch in den nächsten Jahren nicht sehen.108 Anand ließ es sich allerdings nicht nehmen, 1968 an den sowjetischen Feierlichkeiten zum 10. Jahrestag der Taschkenter Konferenz teilzunehmen.109 IV. FAZIT Im Fazit leuchtete das Licht der Sowjetkultur weniger hell, als es sowjetische Literaturpolitik und -propaganda voraussetzten. Der Mehrfachzugriff auf der künstlerischen und auf der literarisch-gesellschaftlichen Ebene gelang auch nach sowjetischen Maßstäben bis Mitte der 1960er Jahre nur ungenügend. Um noch einmal E. P. Čelyšev zu zitieren: „Die Hindi-Dichter, die wichtige Probleme der aktuellen indischen Realität ansprechen, die die Aufmerksamkeit für Mängel der bourgeoisen Gesellschaft, für die schwere Lage des arbeitenden Volks schärfen, können dabei in der Regel noch nicht die Perspektiven der historischen Entwicklung Indiens durchdenken und eröffnen, sie präsentieren nicht das allgemeine Ideal, das den wahren Zielen der Befreiung ihres Volkes entspricht. Hierin besteht die Be-
104 Vorstandssekretär SSP, Surkov u.a. an ZK, 9.6. und 19.8.1958, über Vorbereitungstreffen, RGANI, f. 5, op. 36, d. 63, hier Bl. 9–18, 26f. 105 Vermerk o.D., ohne Autor, zur Taškenter Konferenz, RGALI, f. 631, op. 26, d. 6104. Pressestimmen aus Indien ebd., d. 6100, Bl. 1–8. Dazu die Aufbereitung von Heinz Ischreyt: Die asiatisch-afrikanische Schriftstellerkonferenz in Taschkent, in: Osteuropa (1959), Hf. 4, S. 230–234. 106 Polevoj an ZK, 28.10.1958, RGANI, f. 5, op. 30, d. 281, l. 116–119. 107 Bericht sowjetischer Delegation über 3. indische Autorenkonferenz Madras, 16.-20.12.1959, RGALI, f. 631, op. 26, d. 5195. 108 Bericht sowjetischer Delegation über 1. Sitzung am 03.-10.1.1961, RGANI, f. 5, op. 36, d. 134, Bl. 56–62; Bericht sowjetischer Delegation über Sitzung Ständiges Büro vom 04.-11.10.1962, ebd., d. 6141. 109 Vermerk Sowjetisches Komitee für Verbindungen mit den Autoren Asiens und Afrikas an ZK, 4.10.1968, in: N. G. Tomilina u.a. (Hg.): Apparat CK KPSS i kul’tura 1965–1972. Dokumenty, Moskau 2009, S. 585ff.
„Sie bringen das Licht der Sowjetkultur“
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schränktheit und Schwäche des Realismus in der gegenwärtigen Etappe der Entwicklung der Hindi-Poesie.“110
Ein Anonymus aus der Auslandskommission des Schriftstellerverbands brachte Ziele und Mängel prägnanter auf den Punkt: Die sowjetische Literatur sei „die führende Kraft in der Entwicklung der Weltkultur“ – aber „wir nutzen sie zur Einwirkung auf die gesellschaftliche Meinung im Ausland schlecht“.111
110 Čelyšev, Sovremennaja poėzija Chindi (wie Anm. 48), S. 76. 111 Vorschläge für die Entwicklung der literarischen Beziehungen mit den Ländern Asiens / Afrikas, o.D., [1964], RGALI, f. 631, op. 26, d. 6173.
MODERNISIERUNG DURCH HANDEL Der Ostblock und die Koordinierung der Entwicklungshilfe in der Ständigen Kommission für Technische Unterstützung Sara Lorenzini In den späten 1950er Jahren wurde Modernisierung als eine Mission empfunden. Sowohl im Westen als auch im Osten wurde der Entwicklungshilfe große Aufmerksamkeit gewidmet. Es handelte sich um eine kooperative Aufgabe, wie dies schon im Jahre 1949 aus der bekannten point four-Rede des amerikanischen Präsidenten Truman ersichtlich wurde. Zusammenarbeit im post-kolonialen Sinn bedeutete nicht nur zusammen mit den ehemaligen abhängigen Ländern zu arbeiten. Kooperation bedeutete vor allem burden sharing: Entwicklung war eine kooperative Mission der entwickelten Länder, die gemeinsam eine technologische bzw. technokratische Revolution in den unterentwickelten Gebieten anführen würden. Die Vereinigten Staaten erwarteten von ihren Verbündeten eine Beteiligung an der enormen Aufgabe der globalen Entwicklung, Anfang der 1960er Jahre verlangten sie sie sogar. Modernisierung wurde also als globale Aufgabe im Zeichen der Zusammenarbeit verstanden. Die Vision einer modernen Zivilisierungsmission fand auch in Osteuropa ihren Widerhall. In den Ländern des realen Sozialismus war der Drang zum Export von Entwicklungsvorbildern keine Neuheit. Die Oktoberrevolution hatte neue Modelle der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Organisation des Staates und der Gesellschaft mit sich gebracht und deren Verbreitung war mehr als eine Mission: es war eine schicksalhafte Aufgabe. Die Idee der sozialistischen Länder eine vorbildliche Rolle innezuhaben und besonders die der Sowjetunion als Erfolgsmodell für Wachstum und zur Schaffung sozialer Gerechtigkeit zu fungieren, hatte tiefe ideologische Wurzeln.1 Nach Stalins Tod aber wurde der Imperativ „Entwicklung durch Wirtschaftswachstum“ uminterpretiert. Der Schwerpunkt lag nicht mehr unbedingt in Europa. Die Anstrengung, die gesellschaftliche Organisation mitsamt der wirtschaftlichen Strukturen zu verändern, wurde über Europa hinaus exportiert. In den 1950er Jahren brannte die Fackel der Revolution in den 1
Siehe dazu David Engerman: Ideology and the Origins of the Cold War, 1917–1962, in: Melvyn P. Leffler / Odd Arne Westad (Hg.): The Cambridge History of the Cold War, Bd. 1: The Origins, Cambridge 2010, S. 20–43.
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Ländern, die vor kurzem ihre Unabhängigkeit von der kolonialen Herrschaft bekommen hatten. Hier waren die Ansprechpartner nicht mehr nur die revolutionären Kräfte, die kommunistischen Parteien oder die kommunistisch orientierten Befreiungsbewegungen. Die Rede Chruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU, im Februar 1956, die den Anfang der sowjetischen „Liebesgeschichte“ mit der Dritten Welt2 bezeugte, ließ daran keinen Zweifel. Die neu gegründeten Staaten, die aus der Dekolonisierung entstanden waren, würden es nicht mehr nötig haben, moderne Ausrüstung von ihren alten Unterdrückern zu erbetteln, sie konnten sie von den sozialistischen Ländern bekommen, frei von jeglicher politischen oder militärischen Verpflichtung. Durch das neue Prinzip der verschiedenen Wege zum Sozialismus, wobei das Proletariat auch auf parlamentarischem Wege die Macht erlangen konnte, war eine neue Art der Solidarität entstanden. Es handelte sich nicht mehr nur um eine antikoloniale Bruderschaft mit den kommunistischen Befreiungsbewegungen, sondern auch um Hilfe für die neu entstandenen Staaten. Die neue Wirtschaftsoffensive verursachte im Westen große Beunruhigung.3 Alle sozialistischen Länder, dem sowjetischen Beispiel folgend, fingen an, die unterentwickelten Länder (so wurden die Entwicklungsländer damals genannt) zu hofieren, und spezifische Modelle der Kooperation anzubieten. Es war nie von Hilfe die Rede, sondern von Solidarität. Ende der 1950er Jahre handelte es sich um Unterstützung für die Befreiungsbewegungen in ihrem Kampf gegen die Kolonialmächte und zugleich um eine wirtschaftliche Zusammenarbeit neuer Art mit den neuen Staaten, die vor allem aus Handelsbeziehungen auf paritätischer Basis bestand. Die Zielgruppe dieser Unterstützung war vielfältig, und im Ostblock war zu diesem Zeitpunkt nicht eindeutig, wie und ob man für diese Länder einen kollektiven Begriff benutzen könne. Der Ausdruck „Dritte Welt“ wurde kaum benutzt, weder in den 1950er noch in den 1960er Jahren.4 Man sprach eher von schwach- oder unterentwickelten Ländern, die manchmal auch durch die regionale Zugehörigkeit als afrikanische und/oder arabische Staaten bezeichnet wurden. Das Ziel dieses Aufsatzes besteht darin, anhand der Dokumentation eines bislang kaum bekannten Gremiums, der Ständigen Kommission für Technische Unter 2
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So Vladislav Zubok / Constantine Pleshakov: Inside the Kremlin’s Cold War, Cambridge Mass. 1996, S. 207. Zur sowjetischen Hilfe siehe auch Odd Arne Westad, The Global Cold War. Third World Interventions and the Making of Our Times, Cambridge 2007 und, immer noch unverzichtbar, Robert S. Walters, American & Soviet Aid: A Comparative Analysis, Pittsburgh 1970. Siehe z.B. Zbigniew Brzezinski: The Politics of Underdevelopment, in: World Politics 9 (1956), Hf. 1, S. 55–75, wo das sowjetische Beispiel hauptsächlich als verkürzter Weg zur Industrialisierung beschrieben ist. Brezinski zitiert einen Artikel veröffentlicht im Januar 1956 (Stefan Arski: Wielka podroz, in: Nowe Drogi 79, 1956) als Inspiration der Thesen Chruschtschows auf dem XX. Kongress. Siehe Ragna Boden: Die Grenzen der Weltmacht. Sowjetische Indonesienpolitik von Stalin bis Brežnev, Stuttgart 2006, S. 100. Das Wort Entwicklungsländer wurde vor allem nach 1969 gebraucht, fand sich aber schon früher. Dritte Welt wird erst nach 1967/68 gebraucht. In den Dokumenten der SKTU kommt es nie vor, auch nicht in den 1970er Jahren.
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stützung im Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), die Struktur und die Probleme der osteuropäischen Entwicklungshilfe nachzuzeichnen. I. EINE KOORDINIERUNGSSTRUKTUR FÜR EINE ABGESTIMMTE ENTWICKLUNGSSTRATEGIE? In den späten 1950er Jahren wurde dann auch die „Entwicklungshilfe“ des Ostblocks ein kooperatives, multilaterales Projekt. Die Kooperation im Bereich des außenpolitischen Handelns, und besonders auch des Handels mit den Entwicklungsländern, fand auf unterschiedlichen Niveaus statt. Sie war sowohl bilateral als auch multilateral und erfolgte auf Ebene der Regierungen, der kommunistischen Parteien und der gesellschaftlichen Organisationen. Am Anfang lag die Verantwortung der Koordinierung vor allem bei den Handelsvertretungen. Sie sollten alle Möglichkeiten des Erfahrungsaustausches nutzen, um allgemeine Fragen der Innen-, Außen-, und Handelspolitik zu klären. Genauer gesagt sollten sie die möglichen Erweiterungen des Handels, die Probleme mit dem Abschluss von langfristigen Abkommen und die Einzelheiten in Sachen Kreditgewährung, Preise und Lizenzen erforschen. China zählte auch zu den Gesprächspartnern.5 Erst dann erfolgte die multilaterale Kooperation in Sachen Entwicklung hauptsächlich innerhalb des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW). Am Anfang lag der Schwerpunkt schlicht darin, den Abschluss von langfristigen Handelsabkommen für den Einkauf von Lebensmitteln und Rohstoffen zu ermöglichen. Zu Beginn der 1960er Jahre aber sprach man – wie auch im Westen – eher von technischer Unterstützung. Die Schaffung einer spezifischen Kommission im RGW, die den Auftrag hatte, die Beziehungen zu den schwach entwickelten Ländern zu koordinieren, wurde von der Sowjetunion vorgeschlagen. Im September 1957 wurde innerhalb der Ständigen Kommission für Außenhandel im RGW eine Arbeitsgruppe für die Beziehungen „zu den in ökonomischer Sicht schwach entwickelten kapitalistischen Ländern“ eingesetzt. Die Gruppe wurde dann mehrfach umbenannt. Im März 1959 sprach man von einer Arbeitsgruppe für das Auftreten der Ratsländer in unterentwickelten Ländern. Im November wurde dieses Gremium Kommission für komplette Anlagen genannt, wobei bereits deutlich war, worin der Schwerpunkt der Unterstützung liegen sollte: in der Bereitstellung bzw. im Verkauf von Anlagen, die der Industrialisierung dieser Länder dienen sollten. Kurz darauf fand ein neuer Namenswechsel statt: diesmal war die Rede von einer Kommission für die Beziehungen zu den unterentwickelten kapitalistischen Ländern, die den Auftrag hatte, den Ankauf von Gütern und den Export von Anlagen insbesondere in die Länder Afrikas zu organisieren. Hier war das handelspolitische Ziel etwas eindeutiger: wenn es um kapitalistische Länder in Asien, Afrika und Lateinamerika ging, 5
Schwachentwickelte Länder, September 1957, in: Bundesarchiv Berlin (BArchB), Ministerium für Außenwirtschaft (DL2), Ständige Kommission für Aussenhandel (SKAH), DL2 3590.
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egal ob reich oder arm, spielte das Solidaritätsideal keine entscheidende Rolle. Die Hauptaufgabe war eher die Harmonisierung der Abkommen zum Import von Lebensmitteln und Rohstoffen und zum Export von Industrieanlagen. In der Zukunft würde man multilaterale Handelsabkommen schließen.6 Das Ganze sollte im Rahmen einer umfangreicheren Reform stattfinden, mit der Verbreitung des Systems der mehrseitigen Verrechnung und mit der Gründung einer internationalen Bank der sozialistischen Länder, mit dem Ziel, eigene Preise für Rohstoffe zu fixieren, die unabhängig von Weltmarktpreisen sein konnten.7 In Zukunft also beabsichtigte das RGW-zentrierte System, eine klare Alternative zum westlichen System und insbesondere zur Weltbank und zum Internationalen Währungsfonds anzubieten. In September 1960 wurde die RGW-Kooperation in den Beziehungen zu den Entwicklungsländern als unbefriedigend beurteilt. Es gab zwar einige Fälle in den arabischen Staaten, z.B. im Irak, wo man durchaus von einer gut funktionierenden Zusammenarbeit reden konnte, jedenfalls aus Sicht der sowjetischen Seite, aber im Allgemeinen war die Koordinierung sowohl beim Bau von größeren Betrieben als auch bei der Lieferung von Kleinanlagen in die afrikanischen Länder eher enttäuschend.8 Im Jahre 1961 wurde also der sowjetische und ostdeutsche Vorschlag angenommen, eine ständige Kommission mit Koordinationsaufgaben zu bilden. Die Kommission wurde umbenannt und bekam eine selbstständige Struktur: die Ständige Kommission für Technische Unterstützung (SKTU). Hier ist die Parallele zum Westen erstaunlich, denn ausgerechnet im selben Jahr (1961) bekam die Koordinierung der bilateralen Entwicklungshilfe mit der Geburt des Development Assistance Committee (DAC) eine feste Struktur in der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD).9 Der Name der RGW-Kommission signalisierte eine stärkere Anerkennung der Rolle des Technologietransfers als eine wichtige Komponente der Handelsbeziehungen mit den Entwicklungsländern. Der Begriff der Technischen Unterstützung war zudem eine Anpassung an den internationalen Entwicklungsdiskurs, der inzwischen den Eliten in den Empfängerländern so erfolgversprechend schien. Weder Parallelentwicklungen noch die Übernahme von Begriffen oder Ausdrücken waren ein Zufall. In den „goldenen Jahren“ der Modernisierungstheorien wurde die Nachahmung von westlichen Strategien bezüglich der Zusammenarbeit in Sachen Entwicklungshilfe von den Ostblockländern sogar explizit anerkannt. In einem Gespräch im tschechoslowakischen Außenministerium im November 1960 6 7
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Bundesarchiv Berlin (BArchB) DL2 3590 und Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO Barchiv), Büro Ulbricht, DY 30 3462. BArchB, SKAH, DL2 1894. Die Bank war erst in den 1970er Jahren gegründet worden, siehe David R. Stone: CMEA’s International Investment Bank and the Crisis of Developed Socialism, in: Journal of Cold War Studies 10 (2008), Hf. 3, S. 48–77. BArchB, SKAH, DL2 4168. Zur Geschichte des DAC, DAC in Dates, , 21.10.2011.
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wurde zum Beispiel Westeuropa als Modell für die Koordinierung der Afrikapolitik des Ostblocks genannt.10 Einige Jahre später (1965) wurden die Konsortien nach den erfolgreichen Beispielen der Weltbank in Indien und Pakistan und der OECD in Griechenland und in der Türkei von der ČSSR als Modell für die technische Hilfe des Ostens vorgeschlagen.11 Im Gegensatz zu der entsprechenden westlichen Koordinierungsstruktur blieb die SKTU immer hinter den Kulissen, so dass man lange im Westen von der Existenz der Kommission nichts wusste.12 Die SKTU traf sich zweimal im Jahr, einmal im Frühling und einmal im Herbst, und setzte sich aus Experten der Außenwirtschaft zusammen; seit 1963 waren auch Tagungen auf der Ebene der Stellvertretenden Minister vorgesehen.13 Das erste Treffen der SKTU, im Juni 1961, war besonders wichtig. Hier herrschte das Gefühl, man sollte die allgemeineren Leitlinien schon klar definiert haben. Die sowjetische Delegation hatte bereits Entwürfe für den Arbeitsplan sowie für das Statut und für die Verfahrensregeln der Kommission erarbeitet. Es gab also nicht viel Raum für Diskussion. Die Direktive der DDR für ihre Delegation war in diesem Punkt eindeutig: „Im Interesse der guten Beziehungen der DDR mit der UdSSR ist es nicht zweckmäßig, hierzu irgendwelche kritischen Bemerkungen zu machen“.14 Die Formulierung der Zielsetzungen der Kommission war am Ende zugleich klar und undefiniert. Die Hauptaufgabe der Kommission war der Informationsaustausch über die Maßnahmen, die für die so genannten nationaldemokratischen Länder bestimmt waren, d.h. über die neu gegründeten schwach entwickelten Länder, die sich im Ost-West Konflikt neutral erklärten. Durch den Handel mit solchen Ländern beabsichtigte man, die Einfuhrbedürfnisse der RGWMitglieder sicherzustellen. Eine altruistisch klingende Zielsetzung, wie etwa der Einsatz für eine progressive Entwicklung der unterdrückten Völker, war nicht vorhanden. Sogar die üblichen Schlagwörter, wie das Prinzip des gegenseitigen Vorteils oder die antiimperialistische Solidarität, die sonst als Leitgedanken der Ost-Süd-Beziehungen gelten, waren in dem Wortschatz der SKTU nicht vorhanden.
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Gespräch David / Stibi, in: Politisches Archiv des Früheren Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten (MfAA), A17085. BArchB, DL2 VAN 57. Zu den Konsortien siehe auch Paul N. Rosenstein-Rodan: The Consortia Technique, in: International Organization 22 (1968), Hf. 1, The Global Partnership: International Agencies and Economic Development, S. 223–230. Dazu siehe Heinrich Machowski / Siegfried Schultz: RGW-Staaten und Dritte Welt. Wirtschaftsbeziehungen und Entwicklungshilfe (Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V.), Bonn 1981, S. 57. 4. Tagung der SKTU, Moskau, 16.-20.4.1963, BarchB, DL2 VAN 76. Direktive für das Auftreten der Delegation der DDR auf der 1. Sitzung der Ständigen Kommission des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe für die Koordinierung der technischen Unterstützung, BArchB, DL2 VAN 76.
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II. DIE SKTU IN DEN 1960ER JAHREN: THEMEN UND PROBLEME In den ersten Treffen der Kommission wurden relativ viele inhaltliche Fragen behandelt. Es war aber nicht zu erwarten, dass eine ganz offene Besprechung in der Kommission zum Thema Modernisierung stattfinden konnte. Was die Rolle der sozialistischen Länder war und was Modernisierung hieß, war ideologisch bedingt. Breitere politische Perspektiven kamen anderswo zur Geltung. Besonders in bilateralen Gesprächen machte man sich Gedanken, wie man propagandistisch dem westlichen Modell entgegenwirken konnte. Dazu würde man eine durchdachte Propaganda gegen die amerikanische Entwicklungshilfe brauchen, um die wirtschaftliche und zugleich politisch-ideologische Einmischung des Westens einzudämmen. Das Rezept bestünde darin, mehr kulturpolitische Arbeit zu versuchen und großzügige Stipendien für afrikanische Studenten anzubieten, um ein alternatives Modell der Entwicklung aufzuzeigen.15 In der SKTU erregten solche kulturpolitische Bedenken hingegen nur wenig Aufmerksamkeit. Die Kommission war der Ort, wo man hauptsächlich die Wirtschaftsbeziehungen zu den Entwicklungsländern diskutieren konnte. Bildung, Kultur oder Propaganda waren nicht ihre Themen. Aus Sicht der Experten in der SKTU war es nötig – und zugleich völlig ausreichend –, mehr Kredite für Anlagen zu gewähren, um den westlichen Einfluss zu vermindern. Ein Meinungsaustausch darüber, welche Projekte der Modernisierung am besten den Bedürfnissen der Empfänger dienen konnten, fand tatsächlich nicht statt. Die Schwerpunkte waren eher, den Informationsaustausch zu organisieren und eine Koordinierung bzw. Arbeitsteilung in den Aufgaben zu erlangen. Was die Koordinierung betrifft, bestand die Sowjetunion darauf, man solle eine genaue Arbeitsteilung organisieren. Die mittel- und osteuropäischen Verbündeten hingegen, und insbesondere Bulgarien, die Tschechoslowakei und die DDR, dachten vor allem an Rohstoffbeschaffung. Sie wollten einen gemeinsamen Einkauf von Rohstoffen durchführen, um zu niedrigeren Preisen und günstigeren Transportbedingungen zu gelangen.16 Um Ressourcen zu konzentrieren, hatte die DDR vorgeschlagen, sollte man spezifische Länder als Schwerpunkt wählen. Die Tschechoslowakei und Polen waren damit einverstanden, aber die UdSSR wies den Vorschlag zurück, weil er nicht genug Flexibilität gewährleiste.17 Die Sowjetunion beabsichtigte, die Ost-Süd-Zusammenarbeit nach der Idee einer klaren Arbeitsteilung zu organisieren, um Überschneidungen und Doppelleistungen zu vermeiden.18 Das Problem stellte sich tatsächlich relativ oft, denn 15 16 17 18
Zu den Gesprächen, die auf bilateralem Niveau zwischen der Tschechoslowakei und der DDR stattfanden, siehe MfAA A14356 und MfAA C484/71. Ständige Kommission für Aussenhandel SKAH, BarchB, DL2 1894, Bl. 35. Zu diesem Punkt: 10. Sitzung des ExKommittes des RGW, BarchB, Staatliche Plankommission (DE1), VA 42175. Zum Problem der Konkurrenz in wirtschaftlichen Leistungen für Entwicklungsländer siehe auch Andreas Hilger: The Soviet Union and India: the Khrushchev Era and its Aftermath un-
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die Entwicklungsländer hatten die Tendenz, dieselben Leistungen bei verschiedenen Gebern (Ost und West) zu beantragen, ein richtiges „aid-shopping“.19 Der Fall Guinea wurde z.B. bis in die Einzelheiten auf hohem Niveau (Stellvertreter der Minister für Außenhandel) im RGW diskutiert. Guinea hatte allen Ostblockstaaten dieselbe Wunschliste zugestellt. Bulgarien, Rumänien und Polen hatten kein Interesse gezeigt, während die anderen Mitglieder beabsichtigten, ihre Berater zu senden, um zu prüfen, wie sie am besten helfen konnten. Da die Sowjetunion schon unterschiedliche Projekte am Laufen hatte, sollten dringende Konsultationen geführt werden, um Duplikate zu vermeiden.20 Eine richtige Arbeitsteilung erfolgte aber nie im Ganzen. Immerhin ließen sich einige Schwerpunkte beobachten. Bulgarien, das sich oft Sorgen um die Konkurrenz machte, konzentrierte sich auf die Landwirtschaft und auf die Nahrungsmittelverarbeitung. Die ČSSR hatte Projekte in der Energieversorgung, in der Metallindustrie und in der Leichtindustrie (Leder, Schuhe, Textil, Zucker). Ungarn war in Fahrzeugbau, Pharmazie und Elektroindustrie (Wasserkraftwerke und Mühlen) spezialisiert, die DDR in Fernmeldewesen und Elektronik, Polen in Bergbau, Schiffbau und Holzverarbeitung, Rumänien in Rohölgewinnung und Petrochemie. Es handelte sich um comparative advantages sozialistischer Art: man sollte die Produktionsspezialisierung der Mitgliedsländer beachten, um ihre Möglichkeiten am besten zu nutzen. Was die Sowjetunion betrifft, waren die 1965 zugesagten Hilfeleistungen für Entwicklungsländer folgendermaßen aufgeteilt: 26% Stahlindustrie, 26% Elektroindustrie, 11% Maschinenbau und Metallverarbeitung, 5% Chemie. Indien, Afghanistan und Ägypten bekamen 70% der gesamten sowjetischen Hilfeleistungen.21 Die kleineren Ostblockstaaten führten also meistens Projekte von geringerem Umfang durch, denn kleinere Projekte konnten sie sich leisten, größere hingegen nicht. Dazu gab es auch die gemeinsame Durchführung von einigen größeren Projekten an der Seite der Sowjetunion nach dem Vorbild des AssuanDamms. Im Jahre 1963 wurde endlich über einen Plan zur Koordinierung in der SKTU entschieden.22 Er beinhaltete allgemeine Regeln zur Durchführung der Beziehungen zu den Entwicklungsländern. Es handelte sich nicht um einen Entwick
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til 1966, in: Parallel History Project on Cooperative Security (PHP) February 2009 Introduction, Indo-Soviet Relations Collection: the Khrushchev Years, edited by Andreas Hilger (et al.), , 10.11.2013, S. 5. Der Ausdruck wird von David Engerman benutzt, in: David C. Engerman: The Second World’s Third World, Kritika 12 (2011), Hf. 1, S. 183–211, hier S. 196. Bericht, Konsultation der Stellvertretenden Minister für Außenhandel, Moskau, September 1965, in: BArchB, DL2 VAN 57. Es handelte sich insgesamt um 4 Milliarden Rubel (1,3 davon waren schon ausbezahlt); darunter waren 3,3 Milliarden Kredite, 500 Millionen Clearing, 200 Millionen Spenden. Machowski / Schultz: RGW-Staaten und Dritte Welt (wie Anm. 12), S. 43, mit zusätzlichen Informationen aus BarchivB, DL2 VAN 57 ergänzt. Anlage zu den Protokollen aus der 10. Sitzung des Exekutivkommittees im RGW, in: BarchB, DE1 VA 42175.
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lungshilfeplan,23 denn ganz im Gegenteil war von Hilfe überhaupt nicht die Rede. Das Ziel war bloß die Deckung des Importbedarfs der Mitgliedsländer. Die Bereitstellung eines einheitlichen Systems zur Erfassung statistischer Angaben wurde vorgeschlagen, um den Informationsaustausch zu verbessern.24 Im Plan wurden Bedingungen zum Thema Kredite festgesetzt. Im Rahmen der sozialistischen „Entwicklungshilfe“ waren Kredite an den Ankauf von Anlagen gebunden und wurden dann entweder in Rohstoffen oder in gefertigten Produkten zurückbezahlt. Dieses Modell wurde schon in der dritten Tagung der SKTU (Moskau, 21.-22. September 1962) beschrieben. Kredite sollten möglichst in Landesprodukten zurückbezahlt werden. Auch Firmenkredite waren möglich, aber sie sollten nie günstiger als Regierungskredite sein. Ein Jahr später waren die Regeln etwas strikter. Regierungskredite konnten im Zusammenhang mit der Lieferung von Ausrüstungen für komplette Anlagen für 10–12 Jahre mit 2,5% Zinssatz gewährt werden. Kommerzielle Kredite konnten einen Zinssatz von 2,5 bis 6% tragen. Die Tilgungsfrist betrug in der Regel 5 Jahre, manchmal aber auch 8 oder 10 Jahre.25 Diese Bedingungen waren aber nicht fix, sondern eher als Orientierungsplan vorgeschlagen, so dass jedes Mitglied am Ende selbst über seine Bedingungen entschied. Ein undiszipliniertes Verhalten wurde zwar an den Pranger gestellt, aber nicht richtig bestraft. In einem Fall stand dieses Problem als spezifischer Punkt auf der Tagesordnung der SKTU. Auf der 19. Tagung wurde die DDR beschuldigt, zu günstige Bedingungen gewährt zu haben, ohne die anderen Mitglieder im Voraus informiert, geschweige denn mit ihnen diese Entscheidung abgestimmt zu haben. Die DDR verteidigte sich, indem ihr Delegierter erklärte, dass die Gewährung solch günstiger Bedingungen an ihre diplomatische Anerkennung geknüpft sei.26 Schon am Anfang der Politik der Industrialisierung durch günstige Kredite stand die Sorge um deren Zurückzahlung im Mittelpunkt. Die UdSSR, schrieb der DDR-Berichterstatter, wolle Klarheit darüber haben, wie die Entwicklungsländer diese Kredite zurückzahlen würden.27 Die Schwierigkeiten der Entwicklungsländer waren nicht zu übersehen,28 und die Ostblockstaaten bewegten sich in einem Engpass. Einerseits wollten sie bessere Bedingungen gewähren, um die Konkurrenz des Westens auszustechen. Andererseits wurde die Gefahr der mangelnden Zurückzahlung als besonders kritisch empfunden. Das Problem wurde am Ende der 1960er Jahre zentral. Auf der 14. Tagung der SKTU (Minsk, Juni 1968) wollte man einer einheitlichen Linie folgen. Sogar 23 24 25 26
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Machowski / Schultz: RGW-Staaten und Dritte Welt (wie Anm. 12), S. 57. Siehe 4. Tagung der SKTU, in: BarchB, DL2 VAN 76. Siehe 5.Tagung der SKTU, Oktober 1963, in: BarchB, DL2 VAN 76. Zu den günstigen Krediten an Ghana siehe Sara Lorenzini: Due Germanie in Africa. La cooperazione allo sviluppo e la competizione per i mercati di materie prime e tecnologia, Firenze 2003, S. 181–186 und Ulf Engel / Hans-Georg Schleicher: Die beiden deutschen Staaten in Afrika: Zwischen Konkurrenz und Koexistenz, Hamburg 1998, S. 205–208. 5. Tagung der SKTU (wie Anm. 25). Bericht, Konsultation (wie Anm. 20).
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die ČSSR, trotz der neuen Führung, die von den Verbündeten mit Skepsis beobachtet wurde, erklärte sich mit der Linie hundertprozentig einverstanden. Es ist aus unserer wirtschaftlichen Lage heraus nicht möglich, deutete der Delegierte an, Kredite nach rein politischen Kriterien zu gewähren, da muss es einen wirtschaftlichen Gewinn geben, z.B. Schaffung von Absatzmärkten oder Rohstoffe. Die Sowjetunion bestand darauf, zu einer gemeinsamen Entscheidung zu kommen, wie man im Falle fehlender Rückzahlung handeln sollte. In den schlimmsten Fällen, wie im Falle Ghana oder Indonesien, lag das Problem am Mangel von Koordinierung.29 Die fehlende Rückzahlung war aber nicht das einzige Problem. Das Prinzip des Gleichgewichts in den Handelsbeziehungen verursachte sehr oft Schwierigkeiten. Manchmal konnten von den Empfängerländern nicht genug Rohstoffe beschafft werden, um die Anlagen zurückzuzahlen.30 Im Großen und Ganzen aber war der Eindruck von der eigenen Tätigkeit Mitte der 1960er Jahre positiv. Die Koordinierung durch den RGW – behauptete man im Laufe der Konsultation der Stellvertretenden Minister für Außenhandel im RGW (Moskau, September 1965) – hatte tatsächlich dazu beigetragen, den Anlagenexport in die Entwicklungsländer zu erhöhen und hatte die dazugehörige Tätigkeit der Berater erleichtert. III. NICHT IM MITTELPUNKT In der SKTU wurden faktisch bloß Außenhandelsfragen thematisiert. Die Kommission war ein Gremium von Wirtschaftsexperten, in dem man nur geringe Spuren von Elementen der „Sozialistischen Moderne“ findet.31 Hier machte man sich Sorgen weder um die Entwicklung der sozialen Gerechtigkeit, noch um eine Umgestaltung der Gesellschaft. Es ist aber erstaunlich, wie wenig die Akten der Kommission solche Fragen berühren, wie wenig Interesse die Kommission für die Verbesserung der Lebensbedingungen oder für die Ausbildung zeigte. Hier scheint eigentlich nichts im Interesse der Empfänger gemacht worden zu sein; alles musste ausschließlich dem wirtschaftlichen Interesse der Mitgliedsländer dienen. Das Prinzip des gegenseitigen Vorteils wurde also etwas einseitig interpretiert. Bei den Tagungen der SKTU ist der erzieherische Zweck der Entwicklungshilfe ein Nebenthema. Auf der 4. Tagung der SKTU (Moskau, 16.-20. April 1963) wurde die Bedeutung der Zusammenarbeit in der Bildung unterstrichen. Erst im Jahre 1966, auf der 9. Tagung der SKTU wurden aber trotzdem Kooperations 29 30 31
Boden: Grenzen der Weltmacht (wie Anm. 4), S. 151–192 und S. 361–362. 8. Tagung der SKTU, Juni 1965, in: BarchB, DL2 VAN 76. Marie-Janine Calic / Dietmar Neutatz / Julia Obertreis: The Crisis of Socialist Modernity: The Soviet Union and Yugoslavia in the 1970s. Introduction, in: Dies. (Hg.): The Crisis of Socialist Modernity: The Soviet Union and Yugoslavia in the 1970s, Göttingen 2011, S. 7–27, hier S. 13.
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maßnahmen auch für das Bildungswesen vorgesehen.32 Die sozialistischen Länder hatten vor, so hieß es, den westlichen Einfluss in der Kultur zu untergraben. Bei der 11. Tagung der Kommission plädierte die DDR für eine intensivere Kooperation in Sachen Bildungswesen, die nicht ausschließlich auf Hochschulniveau erfolgen sollte. Großbritannien, die USA und Kanada, behauptete der DDRDelegierte, hätten kürzlich mehr als 300 Lehrer nach Ghana entsandt. Das sei sicher ein wirksames Mittel gewesen, um die künftige Orientierung des Landes zu beeinflussen. Rumänien aber war dagegen: sich stark in der Bildung zu engagieren sei überflüssig. Rumänien sprach sich daher entschieden gegen die Miteinbeziehung des Bildungswesens in die für die SKTU interessanten Themen aus. Ab und zu, aber im Allgemeinen sehr wenig kümmerte sich die Kommission um die Wirkung der vorgesehenen Maßnahmen. Zum Beispiel wurde 1966 auf der 11. Tagung vorgeschlagen, man solle Projekte finanzieren, die den Entwicklungsländern wirklich nützen könnten (und die möglicherweise auch den Handel mit Rohstoffen langfristig befördern würden). Um das Zufriedenheitsniveau der Empfänger zu beurteilen und die Probleme der technischen Zusammenarbeit zu lösen, hatte man in den Sechziger Jahren gemeinsame Wirtschaftsausschüsse gebildet. Diese Praxis wurde von der ČSSR eingeführt und weitete sich dann auf die anderen Ostblockstaaten aus.33 In diesen Ausschüssen wurden Probleme der Zusammenarbeit zur Diskussion gebracht und Beschwerden seitens der Empfängerländer gesammelt und diskutiert. Die Entwicklungsländer warfen viele Probleme auf, wie den Mangel von Ersatzteilen oder die zu langen Lieferzeiten bei Material und Ausrüstung. Vor allem aber waren sie mit dem technologischen Niveau der angebotenen Anlagen nicht zufrieden – ein richtiger Schlag gegen den sozialistischen Technologiekult. Im Jahre 1964 kamen die Wünsche der Entwicklungsländer in der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD) zum Ausdruck. Die Tagesordnung der SKTU konnte die handelspolitischen Forderungen der in der Gruppe der 77 zusammengeschlossenen Entwicklungsländer zur Verbesserung ihrer Lage im Welthandelssystem nicht übersehen. Die UNCTAD und im Allgemeinen die Vereinten Nationen waren ein wichtiger Ort, wo man die Unterschiede zwischen antiimperialistischer Solidarität und Eigeninteresse der kapitalistischen Staaten propagandistisch gegeneinander stellen wollte. Man überzeugte sich also davon, den Wünschen der Entwicklungsländer doch nachzukommen. Also musste man die Einfuhr von fertigen oder halbfertigen Waren erhöhen. Dieses war aber oft problematisch. Im Oktober 1966, bei der Konsultation der Stellvertreter der Minister für Außenhandel im RGW, die in Warschau stattfand, wurde eben dieses Problem thematisiert.34 Fertigwaren waren teuer. Man hatte auch Schwierigkeiten, die notwendigen Exportlizenzen zu beschaffen. Darüber hinaus 32 33 34
9. Tagung der SKTU, Moskau, Januar 1966, BArchivB, DL2 VAN 37–38. Bericht, Konsultation der Stellvertretenden Minister für Außenhandel, Warschau Oktober 1966, in: BArchivB, DL2 VAN 57. Ebd.
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waren solche Produkte oft von schlechter Qualität. Vielleicht konnte eine verstärkte Multilateralisierung eine Lösung bieten? Das dürfte auch den Entwicklungsländern dienen. Bei der zweiten UNCTAD, in Neu Delhi 1968, drang die Gruppe der 77 auf eine Multilateralisierung der Handelsbeziehungen mit den RGW-Ländern. Ziel war es, den Ausgleich des Saldos innerhalb der Gruppe der RGW-Länder zu erreichen. Erst im Oktober 1976 ging ein Beschluss im Rat der Internationalen Bank für Wirtschaftliche Zusammenarbeit in diese Richtung.35 IV. DIE 1970ER JAHRE UND DIE ROHSTOFFBESCHAFFUNGSOFFENSIVE In den Akten der SKTU stellen die 1970er Jahre einen offenkundigen Kurswechsel dar. Handel war schon immer sehr wichtig, aber in diesem Jahrzehnt wurde die Bedeutung der handelspolitischen Fragen allumfassend. Der Einfluss des entwicklungspolitischen Diskurses der Sechziger Jahre war nicht mehr zu spüren. Das Modell der Kreditvergabe zur Industrialisierung war Mitte der 1960er Jahre in eine Krise geraten. Im Osten wie im Westen wurde klar, dass Kredite als Mittel der Blockkonfrontation im Kalten Krieg gescheitert waren, weil sie die Wahl für das eine oder andere Lager nicht beeinflussen konnten. Eine vorsichtigere Kreditpolitik war also empfehlenswert. Das Schuldenproblem sprach auch dafür. Es wurde deutlich, dass die Entwicklungsländer ihre Schulden nicht zurückzahlen würden. Unter den sozialistischen Staaten herrschte die höchste Skepsis. Alle Mitglieder drückten sich diesbezüglich schon Ende der 1960er Jahre deutlich aus: eine Nichtrückzahlung der Kredite konnten sie sich nicht leisten. Obwohl die Vergangenheit sich nicht im Ganzen als fehlkalkulierte Erfahrung abhandeln ließ – wie einige Zeitzeugen in späteren Urteilen behaupteten –,36 musste die technische Unterstützung für Länder der Dritten Welt anders gestaltet werden. In den osteuropäischen Ländern wurden die 1970er Jahre als Krisenjahre empfunden, wenn auch die Rhetorik der Sowjetunion dagegen sprach, die sich bekanntlich auf den politischen und wirtschaftlichen Erfolg des Sozialismus stolz zeigte. Traditionell standen Maßnahmen im staatlichen Bereich der Wirtschaft und Projekte der Industrie, wie Metallverarbeitung und Maschinenbau, im Vordergrund der technischen Unterstützung des Ostblocks. In den 1970er Jahren wurde aber der Schwerpunkt verschoben. Die Struktur blieb formell dieselbe, aber jetzt wurden Kredite nur gegen strategische Rohstoffimporte gewährt. In der SKTU benutzte man nicht mehr das Stichwort „technische Unterstützung“. Man sprach lediglich von Einfuhr von Rohstoffen. Das Auffinden mineralischer Rohstoffe, vor allem Erdgas und Erdöl, wurde zentral. Diese Interessenverschiebung beruhte wahrscheinlich auf Gegenseitigkeit. Einerseits waren die Entwicklungsländer an 35 36
Machowski / Schultz, RGW-Staaten und Dritte Welt (wie Am. 12), S. 23. So K.N. Brutents: Tridtsat’ let na Staroi Ploshchadi, Moskau1998, S. 301, zitiert in: Vladislav M. Zubok: A Failed Empire: The Soviet Union in the Cold War from Stalin to Gorbachev, Chapel Hill 2007, S. 248.
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kleineren Projekten der Industrialisierung weniger interessiert, andererseits zeigten die kleineren Ostblockstaaten unter dem Druck der Sowjetunion ein ganz großes Interesse an der Beschaffung von Rohstoffen, besonders von Erdöl.37 Die Archivquellen dokumentieren einen Zwiespalt: einerseits wollte man sich Rohstoffe beschaffen, andererseits war es klar, dass großes Kapital dazu gebraucht wurde, das im Moment nicht vorhanden war.38 Die einzige Lösung bestand dann darin, dass sich alle zusammen an den größeren Projekten der Sowjetunion beteiligten. Statt Einzelprojekte von kleinerer Dimension wurden also horizontal oder vertikal integrierte Projekte ausgearbeitet. In den 1970er Jahren wurde diese Aufgabenteilung bei größeren Projekten zum allgemeinen Thema in der SKTU, die den Wandel von Koordinierung zur Integration im RGW miterlebte. Jetzt drehte sich die Diskussion in der Kommission um die Frage „wer macht was?“. Ein Beispiel dafür ist der Fall der Bauxitgewinnung aus Guinea, worum sich die Sowjetunion sehr bemühte. Rohstoffe, an denen ein besonderes Interesse bestand, waren vor allem Phosphate, Erdöl und Bauxite, die aus Nord- und Westafrika und aus den arabischen Ländern importiert werden konnten. Auf der 29. SKTU-Konferenz (Moskau, 13.-15. November 1974) wurde ein integriertes Rohstoffprogramm (Phosphat und Erdöl aus dem Irak, Baumwolle aus Syrien) und ein Gesamtplan für Ankäufe aus Nigeria (Kakao, Rohöl, Öle, Bauholz, Leder, Zinn) vorgeplant. Wenn auch die Handelsbeziehungen vor allem mit den afrikanischen Staaten in den letzten Jahren besonders problematisch verlaufen waren, herrschte trotzdem das Gefühl, dass der Gewinn höher sein konnte als die Verluste.39 Zum Teil war man davon überzeugt, man könne durch den Handel mit den Entwicklungsländern sogar gut und schnell verdienen.40 In den 1970er Jahren kann man auch weitere Neuheiten in der Praxis der Wirtschaftsbeziehungen feststellen. Dazu gehören sowohl die Einführung von nicht gegenseitigen Handelsvorteilen (zu spezifischen Produkten) als auch die Verbreitung der Praxis der Gemischten Kommissionen zur Durchführung der Handelsabkommen.41 Unter den Neuheiten, die in den 1970er Jahren entwickelt wurden, muss man besonders die schon erwähnte Schaffung von gemischten Gesellschaften nennen. Schon Mitte der 1960er Jahre wurde diese Idee in der SKTU verbreitet. Es handelte sich um Ost-Süd-Gesellschaften, die hauptsächlich dazu dienen sollten, die Probleme mit den Lizenzen zu überwinden. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre 37 38 39 40
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Machowski / Schultz: RGW-Staaten und Dritte Welt (wie Anm.12), S. 43. 23. Tagung der SKTU, Moskau, März 1972, BarchB, DE 1 VA 52056. Zu den Perspektiven des Imports von Rohstoffen im RGW siehe auch Christopher Cocker: NATO and the Warsaw Pact in Africa, London and Basingstoke 1985, S. 157–164. Das war z.B. die Einsicht der DDR in der Gestaltung der Beziehung zu Mosambik in den späten 1970er Jahren. Hans-Joachim Döring: „Es geht um unsere Existenz“: die Politik der DDR gegenüber der Dritten Welt am Beispiel von Mosambik und Äthiopien, Berlin 1999. Dazu auch Istvan Dobozi / Andras Inotai: Prospects of Economic Cooperation between CMEA Countries and Developing Countries, in: Christopher T. Saunders (Hg.): East-WestSouth. Economic Interactions between Three Worlds, London and Basingstoke 1981, S. 48– 65, hier S. 57.
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setzte man aber auf eine breitere Zusammenarbeit. Es handelte sich um eine Dreieckskooperation, die auch die Länder Westeuropas mit einbezog. In der Stimmung der Entspannung hätten Ost und West industrielle Entwicklungsprojekte im Süden gemeinsam durchführen können. Unter den westeuropäischen Ländern wurde die Bundesrepublik Deutschland besonders hoch bewertet. Die SKTU beschäftigte sich mit der Dreieckskooperation schon im Jahre 1968. Die gemischten Gesellschaften wurden im Mai 1971 zum Hauptthema einer Tagung der Kommission. In den 1970er Jahren entwickelte sich die Idee der trilateralen industriellen Zusammenarbeit weiter.42 Mit einigen reichen arabischen Ländern waren die Aussichten besonders positiv. Auf der Suche nach Kapital konnten die sozialistischen Länder ihren technologischen Fortschritt zur Verfügung stellen. Eine derartige Ost-Süd-Süd Dreieckskooperation zur Entwicklungshilfe für ärmere afrikanische Staaten wurde von der DDR zusammen mit Libyen im Jahre 1977 ausgehandelt.43 Mitte der 1970er Jahre, im Klima der Neuen Weltwirtschaftsordnung, wurde die Dreieckskooperation im Rahmen der UNCTAD diskutiert. So lauteten die Worte des Leiters der UNCTAD-Abteilung für Handel mit sozialistischen Ländern, Michail Dawidow, die Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen Ostblockländern und entwickelten Marktwirtschaften könne für die Entwicklungsländer nur von Vorteil sein.44 Anderswo herrschte das Gefühl, es handele sich um einen gelungenen Versuch des Ostens, seine eigene Probleme zu lösen. Die Wahl der UNCTAD als Rahmen für solche Dreieckskooperations-Initiativen war auf jeden Fall propagandistisch besonders glücklich, wie auch die Wahl des Namens, trilateral cooperation, und nicht etwa Ost-West-Kooperation in dritten Ländern. V. VON PARALLELGESCHICHTE ZUR KONVERGENZ? Wenn man die Entwicklungshilfestrukturen betrachtet, die in den 1960er Jahren im Osten und im Westen aufgebaut wurden, dann neigt man dazu, Parallelentwicklungen zu konstatieren. Ende der 1960er Jahre sprach man aber nicht von Parallelen, sondern eher von Konvergenz. Darüber entwickelte sich eine lebhafte Debatte. Der Begriff wurde im Jahre 1957 vom französischen Soziologen und 42
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Dazu Patrick Gutmann: West-östliche Wirtschaftskooperationen in der Dritten Welt, in: Bernd Greiner / Christian Th. Müller / Claudia Weber (Hg): Ökonomie im Kalten Krieg, Hamburg 2010, S. 395–415. Gutmann diskutiert auch die Vorteile der Kooperation für die RGW-Länder. 21. Tagung der SKTU, Moskau Mai 1971, BarchB, DL2 VAN 56. Dazu Sara Lorenzini: EastSouth Relations in the 1970s and the Added Value of GDR Involvement in Africa. Between Bloc Loyalty and Self Interest, in: Massimiliano Guderzo / Bruna Bagnato (Hg.): The Globalization of the Cold War: Diplomacy and Local Confrontation 1975–85, London 2010, S. 104– 115, hier S. 109–111. Michail Dawidow an der UNCTAD, zitiert in: Gutmann, West-östliche Wirtschaftskooperationen (wie Anm. 42), S. 400.
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Intellektuellen Raymond Aron eingeführt. Aron beschrieb das sozialistische und das kapitalistische System als zwei Arten der Industriegesellschaft und behauptete, beide Systeme würden sich annähern.45 Die These wurde dann weiter in ihren ökonomischen Aspekten von Ian Tinbergen thematisiert (1961) und tauchte später in John K. Galbraith’s Buch über The new industrial state im Jahre 1968 wieder auf.46 Galbraith’s Darstellung der Konvergenz als wirtschaftliches und soziales Ereignis verursachte eine Kontroverse unter den marxistischen Intellektuellen. Wissenschaftler aus Osteuropa gaben sich Mühe, diese These zu bestreiten und alle progressiven Konvergenztheoretiker (wie etwa Myrdal, Tinbergen, Perroux) zu bekämpfen. Alle, so behaupteten sie, verteidigten den Imperialismus, wenn auch mit einem humanistischen Anliegen.47 Wenn auch die marxistische Orthodoxie dagegen argumentierte, waren einige Zeichen einer Annäherung auffällig. Eine faktische Entideologisierung der Wirtschaftsbeziehungen war schwer zu leugnen. In den 1950er Jahren war die Ideologie entscheidend gewesen: Kooperation zielte auf eine mögliche Integration zwischen den sozialistischen Staaten und den Entwicklungsländern (besser: den unterdrückten Völkern) in der Zukunft. Hingegen wurden dann in den 1970er Jahren die Ziele etwas bescheidener. Einige Entwicklungsländer wurden RGWMitglieder (die Mongolei, Kuba und Nordvietnam), andere unterhielten spezielle Kooperationsbeziehungen, und erwarben auch einen Beobachterstatus (Demokratische Republik Afghanistan, Angola, Äthiopien, die Volksdemokratische Republik Jemen, Laos, Mosambik und Nicaragua).48 In den 1970er Jahren dachten die sowjetischen Experten an die Beziehungen zwischen dem RGW und den weniger entwickelten Ländern als ein Teil einer internationalen Arbeitsteilung, wo auch der Westen eine wichtige Rolle mitspielte.49 Es war eine Abkehr von der Doktrin, die von der Realpolitik der Außenwirtschaftsbeziehungen bestimmt wurde. Die neu gestalteten Wirtschaftsbeziehungen zu den Entwicklungsländern, die eine neue Ost-West-Kooperation einführten, wurden von vielen als eine Reintegration der RGW-Länder in die Weltwirtschaft behandelt. Einige sprachen dabei von „Reperipherisierung“ der Staaten Osteuropas. Wie aber Michael Kreile Ende der 1970er Jahre überzeugend argumentierte, konnte diese Reintegration nicht als Abhängigkeit oder Marginalität verstanden werden: im Ostblock blieb die ein 45
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Herbert Meißner: Konvergenztheorie und Realität, Frankfurt am Main 1971, S. 46. Günter Rose: Konvergenz der Systeme. Legende und Wirklichkeit, Köln 1970; Günter Rose: „Industriegesellschaft“ und Konvergenztheorie, Berlin (O) 1973. Das Buch wurde im Jahre 1968 mit dem Titel „Die moderne Industriegesellschaft“ veröffentlicht. Hier ist es zitiert nach der Droemer-Knaur Taschenbuch Ausgabe von 1968. So Meißner: Konvergenztheorie und Realität (wie Anm. 45), S. 197. Zu dem Sonderstatus der Entwicklungsländer unter den RGW-Mitgliedern (Kuba, Mongolei, Vietnam) siehe Klaus Fritsche: Sozialistische Entwicklungsländer in der „internationalen sozialistischen Arbeitsteilung“ des RGW. Zum Forschungsstand, Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien 27 (1991), S. 27. Elizabeth Kridl-Valkenier: The USSR, the Third World, and the Global Economy, in: Problems of Communism 28 (1979), Hf. 4, S.17–33, hier S. 23.
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heimische Kontrolle über die Strukturen sehr groß.50 Eher galten die Beziehungen zu den Entwicklungsländern als Mittel zum Ausweg aus der Wirtschaftskrise für die Ostblockstaaten. VI. FAZIT Die Ständige Kommission für Technische Unterstützung, die Anfang der 1960er Jahre im RGW eingesetzt wurde, sollte die kooperative Hilfsbereitschaft des Ostblocks gegenüber den aus dem Dekolonisierungsprozess neu entstandenen Staaten anzeigen. Es ist aber problematisch, den Außenhandel, der durch die SKTU koordiniert wurde, als Entwicklungshilfe zu bezeichnen.51 Bekanntlich sprachen die sozialistischen Länder nie von Hilfe, sondern eher von Beziehungen unter Gleichen und von Solidarität. Die sozialistische Solidarität wurde auf unterschiedlichen Niveaus praktiziert und war hauptsächlich eine Aufgabe der kommunistischen Parteien und der gesellschaftlichen Organisationen. Die SKTU ist ein gutes Beispiel einer technokratischen Regierungsinstanz der Ostblockstaaten, die als Expertengremium ihre Unabhängigkeit von den ideologisch bedingten Entscheidungen der Parteistrukturen behaupten wollte. Es ist erstaunlich, wie wenig nichtwirtschaftliche Betrachtungen die Entscheidungen dieses Gremiums beeinflusst haben. Humanitäre Fragen wurden zum Beispiel überhaupt nicht thematisiert. Die Ideologie (in Form des Prinzips der antiimperialistischen Brüderlichkeit) wurde nie als Hauptmotiv für Entscheidungen genannt. Die Akten der Kommission bestätigen den Eindruck, dass eine allmähliche Entwicklung in Richtung Realismus stattgefunden hat.52 Dieser Realismus spiegelte sich in einer Annäherung der Systeme wider, die zum Teil in eine Zusammenarbeit mündete. Die Geschichte der SKTU zeigt aber vor allem, dass die Idee der Nord-SüdBeziehungen als kooperatives Bemühen in den 1960er und 1970er Jahren im Osten genau so bedeutend war wie im Westen. Die Beziehungen mit dem Süden wurden zum wichtigen Teil globaler Einflusspläne. Im Osten wie im Westen war eine tatsächliche Koordinierung besonders schwierig. Im Fall der SKTU stießen nationale Interessen sowohl bei der Arbeit der Kommission als auch dann in der Durchführung der Entscheidungen aufeinander. Die Verhandlungen in der SKTU erklären auch einige Aspekte der Beziehungen innerhalb des Ostblocks.
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Michael Kreile: Osthandel und Ostpolitik, Baden-Baden 1978, S. 223. „Revolutionsideologie, Systemkonkurrenz oder Entwicklungspolitik“ lautet der Titel von Andreas Hilgers Beitrag zu den sowjetisch-indischen Beziehungen im Archiv für Sozialgeschichte 48 (2008), S. 389–410. Roger Kanet: Soviet Attitudes toward Developing Nations since Stalin, in: Ders. (Hg.): The Soviet Union and the Developing Nations, Baltimore 1974, S. 27–50.
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Wenn es auch übertrieben scheint, von einer Sowjetunion „at the mercy of others“ zu reden, seien es Entwicklungsländer oder Verbündete,53 so wird doch deutlich, wie sehr und wie erfolgreich die Ostblockstaaten sich Mühe gaben, ihre jeweilige Autonomie und ihre nationalen Interessen mit Erfolg zu verteidigen.
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Christopher Stevens: The Soviet Union and Black Africa, New York 1991, S. 191.
WER ERFAND DIE BLOCKFREIHEIT? Überlegungen zur Verknüpfung von Osteuropäischer Geschichte und Globalgeschichte Nataša Mišković In einer globalisierten Welt erfüllen die Area Studies ihre Aufgabe als Pool für das Wissen und Knowhow, das es braucht, um sich kompetent mit einer bestimmten Weltregion auseinanderzusetzen. Das ist nicht selbstverständlich: Traditionell bestimmen Politik und staatliche Interessen Forschungsthemen und die Verteilung der entsprechenden Gelder entscheidend mit. Der Kalte Krieg gilt als eigentliche Geburtsstunde der Area Studies in den Vereinigten Staaten. Schon seit jeher brauchten Großmächte fundiertes Spezialwissen über den Gegner sowie über Territorien, auf die sie Anspruch erhoben. Das gilt für die alten europäischen Rivalen Deutschland und Russland ebenso wie für die asiatischen Mächte China und Indien – auch wenn uns auf dieser Seite der Erdkugel deren Resultate meist entgehen, weil die andere Perspektive nicht interessiert oder die Kenntnisnahme infolge fehlender Sprachkenntnisse scheitert. Der Fall der Mauer setzte dem bipolaren Weltbild des Kalten Krieges ein Ende; zugleich kam der vorübergehend eingefrorene Globalisierungsprozess wieder in Gang, nun in hoch beschleunigtem Tempo. In diesem Zusammenhang unterwarf sich die universitäre Forschungsförderung zunehmend den Gesetzen der Marktwirtschaft und zwang die wissenschaftliche Themenauswahl in das Korsett großer, top-down organisierter Forschungsprogramme. Die Area Studies stürzten in eine tiefe Krise und bedurften einer neuen Verortung.1 Heute sind OsteuropahistorikerInnen gefragte ExpertInnen, wenn aktuelle politische Ereignisse zu erklären oder zeitgeschichtliche Themen wie gerade der Kalte Krieg aufzuarbeiten sind: Nach 1989 strömten zahlreiche SpezialistInnen in die nun geöffneten sowjetischen Archive. Dies führte zu einer Vernetzung zwischen den beiden Fachgebieten sowie zu einer partiellen Integration russischer KollegInnen in die internationale Forschung. Das Asset der OsteuropahistorikerInnen waren dabei ihre einschlägigen Sprachkenntnisse und ihr Spezial 1
Birgit Schäbler: Einleitung. Das Studium der Weltregionen (Area Studies) zwischen Fachdisziplinen und der Öffnung zum Globalen: Eine wissenschaftsgeschichtliche Annäherung. In: Dies. (Hg.): Area Studies und die Welt. Weltregionen und neue Globalgeschichte, Wien 2007, S. 11–44. Karl Kaser: Der Balkan und der Nahe Osten – eine gemeinsame Geschichte, in: Südost-Forschungen 69/70 (2010/11), S. 397–430, hier S. 401–405, 411.
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wissen. Osteuropäische HistorikerInnen wiederum glänzten mit lokaler Vernetzung und Detailkenntnis, wiesen im Gegenzug aber oft kaum Auslandserfahrung und wenig Westsprachenkenntnisse vor. Initiativen wie das „Cold War International History Project“ am Woodrow Wilson Center in Washington oder die „Cold War Initiative“ der London School of Economics versuchten, möglichst viele dieser Kräfte zu bündeln, um Datenbestände zu sichten, Kopien ins Ausland zu bringen, Dokumente zu übersetzen und sogar online zu stellen.2 Dass dahinter auch nachrichtendienstliche Interessen der westlichen Mächte stehen, rückte angesichts der attraktiven Verdienstmöglichkeiten mehr denn je in den Hintergrund. Wenn sich der politische Wind dreht oder sich das tagespolitische und/oder wirtschaftliche Interesse verlagert, versiegen solche Einkommensquellen rasch. So schränkte die russische Regierung den Archivzugang in dem Moment wieder ein, als sie den sicherheitspolitischen Interessen des Landes wieder höheres Gewicht zumaß.3 Mein eigenes Fachgebiet, die südosteuropäische Geschichte, erlebte mit den jugoslawischen Nachfolgekriegen eine vorübergehende Hochkonjunktur, die die nach dem Mauerfall aktuelle Debatte um regionale Zuordnungen sowie das Festhalten an konservativen Fragestellungen zu Nation und Identität in die Länge zogen. Die Reorganisation des Faches und die Diskussionen um dessen Neuausrichtung dauern an.4 Die Tendenz deutet auf Zusammenlegung mit den Instituten für Osteuropäische Geschichte, zuletzt im Januar 2012 mit der Gründung des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg. Einzig in Graz konnte der Schwerpunkt Südosteuropa bisher ausgebaut werden. Im Bereich der ehemals osmanischen Gebiete des Balkans ist andererseits die Öffnung gegenüber einer zunehmend historisch orientierten Turkologie und Osmanistik zu beobachten, vertreten etwa durch Maurus Reinkowski in Basel oder Markus Koller in Bochum, die zudem mit dem aktuellen Interesse an der Osmanischen Geschichte in der Türkei korrelliert. Mit meinem Habilitationsprojekt über die persönliche Beziehung zwischen den Gründern der Blockfreienbewegung, Tito, Nehru und Nas 2
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Cold War Files: Interpreting History through Documents, Cold War International History Project, , 13.12.2011. Der Direktor des Cold War Studies Centre an der London School of Economics hat die gesammelten Daten und Resultate zu einem hervorragenden Buch verarbeitet: Odd Arne Westad: The Global Cold War. Third World Interventions and the Making of Our Times, Cambridge 2007. Siehe auch: Melvyn Paul Leffler, Odd Arne Westad (Hg.): The Cambridge history of the Cold War, 3 Bände, Cambridge 2010; Richard H. Immermann, Petra Goedde (Hg.): The Oxford Handbook of the Cold War, Oxford 2013. Dabei ging es auch darum, dem verbreiteten Missbrauch einen Riegel zu schieben. Gerade amerikanische Forscher waren unzimperlich vorgegangen und hatten den Archiven teilweise große Summen für die Überlassung von Dokumenten angeboten; andere versuchten, sich Exklusivrechte auf Kopien zu sichern. Aus Belgrad berichteten ArchivarInnen Fälle von Aktendiebstahl. Kaser: Der Balkan und der Nahe Osten, S. 409–412. (wie Anm. 1); Andreas Ernst: Jugoslawien ohne Krieg, Neue Zürcher Zeitung vom 11. Januar 2012, , 18.03.2012 (Bericht über die Tagung „Debating the End of Yugoslavia“, Graz, 4.-6. November 2011).
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ser, habe ich selber den Schritt in postosmanisches Gebiet sowie in die Globalgeschichte mit Gewinn gewagt und kann mich Karl Kasers Plädoyer für eine Öffnung des Fachs Richtung „Middle East“ voll anschließen. Dabei geht es nicht um die Schaffung eines neuen, begrenzten historischen Raums, sondern um ein Konzept, „das die triviale geografische Kluft zwischen Europa und Asien, die heuristisch sinnlos ist und mehr verschleiert als aufklärt, zu überwinden imstande ist,“ und durchlässig wird für den Austausch und die Verknüpfung mit globalgeschichtlichen Fragestellungen.5 Im Folgenden soll das Potential dieser Verknüpfung anhand eines Beispiels aus meiner Forschung aufgezeigt werden. Dabei wird deutlich, wie der regionale Blickwinkel häufig unbewusst politisch determiniert ist und dadurch wichtige Erkenntnisse blockieren kann. Um die persönliche Beziehung des jugoslawischen Präsidenten Josip Broz Tito (1892–1980) mit dem indischen Premierminister Jawaharlal Nehru (1889–1964) sowie dem ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser (1918–1970) zu untersuchen, kombiniere ich Methoden der Historischen Anthropologie und der Lebensweltforschung mit solchen der Postcolonial Studies. Mittels Perspektivenwechseln soll der jeweilige Standpunkt dieser drei Staatsmänner jenseits von politischem Kalkül und staatlichen Interessen analysiert und als Verknüpfungsgeschichte ihrer Zusammenarbeit erzählt werden.6 In meinen Recherchen tauchte schon früh folgende Streitfrage auf: Wer hat eigentlich die Idee der Blockfreiheit erfunden, die Inder, die Jugoslawen, oder noch andere? Meine ex-jugoslawischen und indischen GesprächspartnerInnen zeigten sich darob in freundschaftlichem Wettbewerb, und auch die politikwissenschaftliche Literatur aus diesen Ländern ließ keinen Widerspruch aufkommen. Wer diese Frage nicht als diplomatisches Geplänkel abtut, merkt rasch, dass die Dialektik der Auseinandersetzung bis weit in die Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts zurückreicht und auf der gegenseitigen Beeinflussung von Internationalismus, Antikolonialismus und Sozialismus beruht. Dieser soll im Folgenden nachgegangen werden. Meine Ausführungen sind in zwei Themenbereiche geteilt. Der erste Teil behandelt kursorisch die Ableitung der Idee der Blockfreiheit vom Internationalismus sowie dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und ihre Entstehungsgeschichte im Zusammenhang mit der Dekolonisierung und dem Kalten Krieg. Der zweite Teil diskutiert anhand von Interviewausschnitten und einschlägiger Literatur den indisch-jugoslawischen Diskurs über die Frage, wer die Blockfreiheit eigentlich erfunden hat.
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Kaser: Balkan und Naher Osten, S. 428 (wie Anm. 1). Universität Zürich, Forschungsprojekt „Tito, Nehru, Nasser and the Non-Aligned Movement. Connected History of a Politicians’ Friendship“, , 05.01.2012.
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I. DIE BLOCKFREIHEIT ZWISCHEN DEKOLONISATION UND KALTEM KRIEG: SELBSTBESTIMMUNGSRECHT DER VÖLKER, MENSCHENRECHTE UND FRIEDLICHE KOEXISTENZ a) Der kanalisierende Blick weltgeschichtlicher Periodisierungen In der westlichen Welt wird die Geschichte des 20. Jahrhunderts allgemein in vier Perioden unterteilt: a) Erster Weltkrieg, b) Zwischenkriegszeit mit Großer Depression, c) Zweiter Weltkrieg, d) Kalter Krieg bis 1989. Die Jahre vor 1914 werden gemäß dem Vorschlag des britischen Historikers Eric Hobsbawm dem „langen“ 19. Jahrhundert zugeschlagen und dem Zeitalter des (europäischen) Imperialismus zugerechnet. Diese Periodisierung ordnet die Blockfreiheit der Zeit des Kalten Krieges zu. Das „Lexikon Dritte Welt“ hält fest: „Begriff und politische Zielsetzung von Blockfreiheit sind eng verbunden mit der historischen Entwicklung der Blockfreienbewegung. Diese entstand im Zuge der Dekolonisation nach dem 2. Weltkrieg auf der Grundlage einer einzelne Länder verbindenden, gemeinsamen Orientierung ihrer Außenpolitik gegenüber den Machtblöcken im Ost-West-Konflikt. Die politische Führung der Blockfreienbewegung lag in der Entstehungsphase bei Jugoslawien, Indien und Ägypten, verkörpert durch Tito, Nehru und Nasser.“7
Westeuropäische Historiker und Politikwissenschaftler definieren somit die Blockfreiheit als Strategie bestimmter Dritt-Welt-Staaten, der Bipolarität des Kalten Krieges zu begegnen, als Phänomen der Dekolonisation nach 1945. Allgemein akzeptierte Periodisierungen wie diese sind freilich nicht neutral und lenken den Blick verengend in eine bestimmte Richtung. Mehrere Periodisierungsvarianten einander gegenüberzustellen erleichtert, die Dynamik historischer Prozesse sichtbar zu machen. Dies soll hier anhand von zwei Beispielen zur Periodisierung des europäischen Imperialismus ab 1870 verdeutlicht werden: In seinem Übersichtswerk zur Dekolonisierung folgt der deutsche Südasienspezialist Dietmar Rothermund Eric Hobsbawm. Er bezeichnet die Phase zwischen 1870 und 1914 als Zeitalter des Imperialismus und bündelt die für Europa mörderische Abfolge von Erstem Weltkrieg, Großer Depression und Zweitem Weltkrieg zur darauf folgenden Periode zusammen – Hobsbawm spricht vom „Katastrophenzeitalter“.8 Daran anschließend lässt Rothermund den Nachkriegsimperialismus als Rückzugsgefecht gegen die unvermeidlich gewordene Dekolonisation folgen. Der nach 1945 geborene, einer jüngeren Generation zugehörige Jürgen Osterhammel beurteilt die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts anders. Er fasst das Fin-de-siècle 1880 bis 1900 zusammen, das er durch neue Koloniebildungen in China, Japan, Südostasien, Afrika und im Osmanischen Reich und durch die damit verbundene 7 8
Dieter Nohlen (Hg.): Lexikon Dritte Welt: Länder, Organisationen, Theorien, Begriffe, Personen, Reinbek 1998, S. 109. Dietmar Rothermund: The Routledge Companion to Decolonization, London, New York 2006, S. 15; Eric Habsbowm: The Age of Empire 1875–1914, London 1987; ders.: Age of Extremes. The Short Twentieth Century 1914–1991, London 1994.
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Rivalität zwischen Großbritannien und Russland charakterisiert sieht. Die nächste Phase von 1900 bis 1930 zeichnet sich laut Osterhammel durch die „Entfaltung der kolonialen Exportökonomien“ aus, insbesondere einen Investitionsschub in die kolonialen Infrastrukturen, die Errichtung von Mandaten im Nahen Osten, sowie die größte Ausdehnung der kolonialen Herrschaftsgebiete überhaupt. Zu Recht weist er darauf hin, dass in bisher unbekanntem Maß global tätige Großkonzerne bis zum Eintritt der Großen Depression den Export in den Kolonien monopolisierten. Vielen dieser Konzerne gelang es nach 1945, an ihr Vorkriegsgeschäft anzuknüpfen und ihren Einfluss auszubauen. Die Zeit nach 1945 übertitelt er als „zweite koloniale Besetzung Afrikas“, als sich die europäischen Kolonialmächte im Bestreben, ihre Herrschaft zu erhalten, in einem Maß übernahmen, das ihren Untergang beschleunigte und endgültig besiegelte.9 Beide Periodisierungen machen Sinn. Die „klassische“ Variante nach Hobsbawm und Rothermund betont die einsetzende Dekolonisierung und damit den Umstand, dass die europäische Vorherrschaft nach 1945 endgültig dem Untergang geweiht war und die Weltordnung neu strukturiert werden musste. Die „nachgeborene“ nach Osterhammel unterstreicht die Kontinuität des Kolonialismus, der sich lediglich in seiner Ausformung den veränderten Bedingungen anpasste: Von einer absoluten, mittels Repression durchgesetzten zu einer ökonomischen Dominanz, von der europäischen zu derjenigen der Supermächte des Kalten Krieges. Die Beziehungen zwischen Kolonialherren und ehemaliger Kolonie bestanden auch nach der Unabhängigkeit fort, sei es in Verbänden wie dem britischen Commonwealth, über ökonomische Beziehungen oder über die sich seither etablierende Entwicklungshilfe. Die USA und die Sowjetunion übernahmen in vielen Fällen die bestehenden Klientelbeziehungen unter den Vorzeichen des Kalten Krieges. Auch die Eliten der blockfreien Staaten befanden sich in einer Kontinuität, und zwar in einer personellen: Führten sie bisher ihre nationalen Unabhängigkeitsbewegungen an, übernahmen sie nun die Regierung ihrer neugegründeten Staaten. Sie standen vor der Herausforderung, ihre Länder im regionalen und internationalen Machtgefüge zu verorten, ihr Prestige auszubauen und ihre Unabhängigkeit gegenüber der Sogkraft alter und neuer Kolonialmächte zu verteidigen: Die klassische westliche Definition der Blockfreiheit als Phänomen des Kalten Krieges greift zu kurz.10 Eine weitere Kontinuität ergibt sich aus der Bewegung des Internationalismus und des Antiimperialismus, der nebst zahlreichen westlichen Pazifisten prominente Führer der späteren Dritten Welt sowie die Anführer der Russischen Revolution 9 10
Jürgen Osterhammel: Kolonialismus: Geschichte – Formen – Folgen, München 1995, S. 34– 46. Diese Stoßrichtung vertritt indirekt etwa auch Heonik Kwon in seinem stimulierenden Konferenzpaper: North Korea and the Postcolonial World, vorgetragen an der International Conference on the Afro-Asian World, Montreal, 23. / 24. März 2012. Siehe dazu Heonik Kwon / Byung-Ho Chung: North Korea: Beyond Charismatic Politics, Lanham 2012.
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angehörten, namentlich Vladimir Iljitsch Lenin. Die Bolschewiki verlangten nach der Februarrevolution einen bedingungslosen Friedensschluss auf der Basis des Selbstbestimmungsrechts der Völker, und Lenin setzte diesen durch: Eine weltgeschichtliche Novität.11 1920 diskutierten kommunistisch gestimmte Delegierte aus der ganzen Welt zuerst in Moskau am Zweiten Kongress der Komintern, dann in Baku am Ersten Kongress der Völker des Ostens die Frage, wie der Imperialismus überwunden werden könnte. Zwei Meinungen kristallisierten sich heraus: Während die eine einen internationalen Arbeiterbund favorisierte, der die sozialistische Weltrevolution militant durchsetzen sollte, befürwortete Lenin die Allianz mit der bürgerlichen Opposition, insbesondere mit den nationalistischen Eliten der Kolonialgebiete.12 Diese wiederum setzten ihre ganze Hoffnung auf die Erfüllung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker, das Präsident Woodrow Wilson im Januar 1918 in seiner programmatischen 14-Punkte-Rede vor dem amerikanischen Kongress gefordert hatte – als direkte Antwort auf Lenins Deklarationen aus dem Vorjahr.13 b) Die universellen Grundwerte der Vereinten Nationen Die Hoffnungen der nationalistischen Eliten Asiens und Afrikas auf Zugeständnisse der Pariser Friedenskonferenz 1919 wurden bitter enttäuscht, und auch der neugegründete Völkerbund konnte in seiner Janusköpfigkeit die hohen Erwartungen nicht erfüllen: Madeleine Herren bezeichnet ihn zugleich als „moderne und zukunftsweisende Form vielschichtiger globaler Vernetzung, die über Europa hinausreichte“, und als letzten Versuch der europäischen Großmächte, die Kontrolle über ihre Kolonialreiche zu erhalten.14 Erst mit der nach dem Zweiten Weltkrieg gegründeten Organisation der Vereinten Nationen wurde das Selbstbestimmungsrecht der Völker international institutionalisiert und die neu entstandenen postkolonialen Staaten als gleichwertige Partner akzeptiert. Fünfzig Gründerstaaten unterzeichneten am 26. Juni 1945 in San Francisco die UNO-Charta, die am 24. Ok 11
12
13 14
Heiko Haumann: Geschichte Russlands, München, Zürich 1996, S. 461, 467f., 513f.; Jörg Fisch: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Domestizierung einer Illusion, München 2010, S. 144ff., 148. Richard Pipes: Kommunismus, Berlin 2003, S. 167ff. (im englischsprachigen Original: Communism. A Brief History, London 2001); Vijay Prashad: The Darker Nations. A People’s History of the Third World, New York, London 2007, 20f. Erez Manela: The Wilsonian Moment. Self-Determination and the International Origins of Anticolonial Nationalism, Oxford 2007, S. 6f. Madeleine Herren: Internationale Organisationen seit 1865. Eine Globalgeschichte der internationalen Ordnung, Darmstadt 2009, S. 55. Mark Mazower betont in seinem inspirierenden Essay lediglich den zweiten Aspekt, also die Machterhaltung der Kolonialherren: Mark Mazower: No Enchanted Palace. The End of Empire and the Ideological Origins of the United Nations, Princeton, Oxford 2009, S. 194f.
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tober 1945 in Kraft trat. Die Präambel hält den universellen Charakter der niedergelegten Grundsätze fest: „Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, – –
– – – – – –
künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen, Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können, den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit zu fördern, und für diese Zwecke Duldsamkeit zu üben und als gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben, unsere Kräfte zu vereinen, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren, Grundsätze anzunehmen und Verfahren einzuführen, die gewährleisten, dass Waffengewalt nur noch im gemeinsamen Interesse angewendet wird, und internationale Einrichtungen in Anspruch zu nehmen, um den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt aller Völker zu fördern –
haben beschlossen, in unserem Bemühen um die Erreichung dieser Ziele zusammenzuwirken.“15
Auf der Grundlage dieser Charta verabschiedete die UNO-Generalversammlung am 10. Dezember 1948 in Paris die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Diese fußten auf der Tradition der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 sowie der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789, sollten jedoch Geltung für alle Menschen auf der Welt unabhängig von Rasse und Geschlecht haben. Um Kritik zum Verstummen zu bringen, die Erklärung widerspiegle lediglich „verkappte westliche Werte“, wurde die vorbereitende Kommission mit besonderer Sorgfalt zusammengesetzt.16 Neben der Vorsitzenden, der US-Delegierten, Frauen- und Menschenrechtsaktivistin und USPräsidentenwitwe Eleanor Roosevelt, drei westlichen und einem sowjetischen Vertreter nahmen der chinesische Philosoph Chang Peng-chun (Zhang Pengjun), der libanesische Philosoph Charles Habib Malik sowie der chilenische Richter 15
16
Charta der Vereinten Nationen, Präambel, , 03.01.2012. Deutscher Text am 9. Juni 1973 als amtliche Fassung der Bundesrepublik Deutschland im Bundesgesetzblatt veröffentlicht und identisch in der Schweizerischen Amtlichen Gesetzessammlung publiziert (AS 2003 866; BBl 2001 1234). Die österreichische Fassung, bereits am 14. Dezember 1955 ratifiziert, weicht leicht ab (StF: BGBl. Nr. 120/1956 (NR: GP VI RV 602 AB 614, S. 94, BR S. 76)). Zu Aufgaben und Funktionsweise der UNO siehe Klaus Dieter Wolf: Die UNO: Geschichte, Aufgaben, Perspektiven, München 2010 (2. aktualisierte Auflage); Sven Bernhard Gareis / Johannes Varwick: Die Vereinten Nationen: Aufgaben, Instrumente und Reformen, Opladen 2006 (4. aktualisierte und erweiterte Auflage). Madeleine Herren: Internationale Organisationen seit 1865. Eine Globalgeschichte der internationalen Ordnung, Darmstadt 2009, S. 92.
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Hernan Santa Cruz Einsitz. Vizepräsident Chang setzte durch, dass in der Ausformulierung Anrufungen Gottes und des Naturrechtes vermieden wurden.17 c) Bandung und Brioni Als am 19. Juli 1956 Tito, Nehru und Nasser auf Brioni, Titos adriatischer Sommerresidenz, gemeinsam vor die internationale Presse traten, appellierten sie an die Werte der UNO-Charta und der Menschenrechtskonvention. Die BrioniDeklaration gilt gemeinhin als Gründungsdokument der Blockfreienbewegung. Die drei Politiker beklagten darin die Trennung der Welt in zwei Blöcke und sowie die dadurch perpetuierte Kriegsangst. Sie forderten Maßnahmen zur Abrüstung und begrüßten die kürzlich erfolgten Bemühungen „von Chefs verschiedener Länder“ um Verständigung – gemeint war insbesondere der sowjetische Parteichef Nikita Chruschtschow (1894–1971). Die drei stellten ihre gemeinsame Mission in den Mittelpunkt, einen Beitrag zur Sicherung der friedlichen Koexistenz unter den Völkern zu leisten.18 Nebst der UNO-Charta nahm die Brioni-Deklaration direkten Bezug auf die „Erklärung über die Förderung des Weltfriedens und der internationalen Zusammenarbeit“, die eine spektakuläre Versammlung asiatischer und afrikanischer Staatschefs im indonesischen Bandung im April des Vorjahres verabschiedet hatte. Nehru gehörte nebst dem indonesischen Gastgeber Sukarno sowie den Vertretern Sri Lankas, Burmas und Pakistans zu den vorbereitenden Regierungschefs. Er setzte durch, die neue Volksrepublik China einzuladen, die mit einer vom charismatischen Ministerpräsidenten Zhou Enlai (1898–1976) geleiteten Delegation anreiste. Erst im letzten Moment entschied sich der ägyptische Präsident Nasser zur Teilnahme. Der Katalog von Bandung umfasste zehn Forderungen: „Frei von Misstrauen und Furcht und mit gegenseitigem Vertrauen und gutem Willen sollten die Nationen Toleranz üben und als gute Nachbarn friedlich miteinander leben und auf der Grundlage folgender Prinzipien eine freundschaftliche Zusammenarbeit entwickeln: 1. Achtung vor den grundlegenden Menschenrechten und vor den Zielen und Grundsätzen der Satzung der Vereinten Nationen. 2. Achtung vor der Souveränität und der territorialen Integrität aller Nationen. 3. Anerkennung der Gleichwertigkeit aller Rassen und der Gleichberechtigung aller Nationen ohne Rücksicht auf deren Größe.
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UNO, The Declaration of Human Rights, Peng-Chun Chang, , 04.01.2012; Nürnberger Menschenrechtszentrum, Menschenrechte verstehen, Geschichte , 04.01.2012. Joint Statement by the President of the Federal People’s Republic of Yugoslavia, the President of the Republic of Egypt and the Prime Minister of India, Brioni, 19th July 1956. Arhiv Jugoslavije, Titov fond, KPR I-3-c, n.p.
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4. Unterlassung von Intervention oder Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Landes. 5. Anerkennung des Rechts jeder Nation, sich in Übereinstimmung mit der Satzung der Vereinten Nationen allein oder in Gemeinschaft mit anderen zu verteidigen. 6. (a) Unterlassung der Anwendung von Kollektivverteidigungsabkommen im Dienste der Interessen einer der Großmächte. (b) Verzicht jedes Landes darauf, auf andere Länder Druck auszuüben. 7. Vermeidung von aggressiven Handlungen oder Drohungen, sowie der Anwendung von Gewalt gegen die territoriale Integrität oder die politische Unabhängigkeit irgendeines Landes. 8. Beilegung aller internationaler Streitigkeiten durch friedliche Mittel wie Verhandlung, Vermittlung, Schiedsspruch, gerichtliche Entscheidung oder andere friedliche Mittel nach Wahl der Parteien, in Übereinstimmung mit der Satzung der Vereinten Nationen. 9. Förderung der gemeinsamen Interessen und der Zusammenarbeit. 10. Ehrfurcht vor der Gerechtigkeit und Respektierung der internationalen Verpflichtungen.“19
Der Katalog von Bandung lehnte sich eng an die UNO-Charta an. Die prekäre Position der jungen asiatischen und afrikanischen Staaten spiegelt sich in der Sorge um Verletzung der territorialen Integrität, insbesondere um Einmischung in die inneren Angelegenheiten einzelner Staaten; zudem lehnte er militärische Verteidigungsbündnisse ausdrücklich ab. Die Großmächte brachten die afro-asiatische Allianz mittels intensiviertem Druck zum Scheitern, bevor sie sich etablieren konnte: Die Teilnehmerstaaten Pakistan, Iran, Irak und die Türkei schlossen sich noch im selben Jahr dem westlich dominierten Bagdad-Pakt (CENTO) an.20 Auf der anderen Seite spitzte sich der Konflikt zwischen Moskau und Beijing zu: Mao billigte Chruschtschows außenpolitischen Kurs nicht, und der chinesische Anspruch auf die asiatische Vormachtstellung trat immer deutlicher hervor.21 Jugoslawien war 1948 aus dem kommunistischen Lager ausgeschlossen worden und entkam in der ersten Hälfte der 1950er Jahre nur knapp der Eingliederung in das westliche Verteidigungsbündnis: Der von den Westmächten vermittelte und bereits unterzeichnete Balkanpakt mit der Türkei und Griechenland scheiterte am 1955 wieder auflodernden Konflikt zwischen diesen beiden Ländern. Stalins Tod 1953 und Chruschtschows Versöhnungsbemühungen wiederum gaben Belgrad 19 20
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Deutscher Text des Schlusskommuniquees nach Horst Sasse: Die asiatisch-afrikanischen Staaten auf der Bandung-Konferenz, Frankfurt am Main 1958, S. 74f. Die „Central Treaty Organization“ wurde am 24. Februar 1955 vom Irak und der Türkei unterzeichnet. Am 5. April trat Großbritannien bei, Pakistan folgte am 23. September, der Iran am 3. November. Die USA schlossen 1958 bilaterale Verteidigungsbündnisse mit der Türkei, Pakistan und dem Iran. Das Hauptquartier befand sich in Bagdad und wurde nach dem Militärputsch im Irak vom Juli 1958 nach Ankara verlegt. Zum Verhältnis zwischen China und der Sowjetunion siehe: Lorenz M. Lüthi: The SinoSoviet Split. Cold War in the Communist World, Princeton 2008.
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neue Bewegungsfreiheit.22 Tito nutzte sie, um sich mit Nehru zusammenzuschließen und gemeinsam auf eine unabhängige Position zwischen den Blöcken hinzuarbeiten. Nehru fand im charismatischen Marschall von Jugoslawien einen ebenbürtigen Partner, der ihm im Gegensatz zum brillanten Zhou Enlai und den chinesischen Vormachtsaspirationen nicht gefährlich werden konnte. Die Einbindung des jungen, noch unerfahrenen Gamal Abdel Nasser ermöglichte zudem, eine Barriere gegen den Bagdad-Pakt zu bilden.23 Auch der Brioni-Initiative war vorerst keine Nachhaltigkeit vergönnt. Mit dem sowjetischen Einmarsch in Ungarn zerschlugen sich im Herbst 1956 die Hoffnungen auf Chruschtschows Glaubwürdigkeit in Sachen Friedensförderung. Zudem hatte Nasser Tito und Nehru nicht über seine Pläne bezüglich Nationalisierung des Suez-Kanals in Kenntnis gesetzt. Als die Briten, Franzosen und Israelis im Windschatten der Ungarn-Krise Ägypten in einer Nacht- und Nebelaktion überfielen, standen sich die Blöcke aggressiver denn je gegenüber. Tito und Nehru mussten ihre Zukunftspläne auf Eis legen: Jugoslawien befürchtete seinerseits eine sowjetische Invasion, und Nehru warf sein gesamtes Renommée in die Waagschale, um zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln.24 d) Die Belgrader Konferenz von 1961 1960 befanden sich die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen nach dem Abschuss des US-Aufklärungsflugzeugs U2 auf einem Tiefpunkt, und die UNO schlitterte in dieser Patt-Situation in eine ernsthafte Krise. Im selben Jahr erklärten mehr ehemalige Kolonien ihre Unabhängigkeit als je zuvor. Für die neugegründeten Länder war die Aufnahme in die UNO ein Gradmesser für ihr internationales Prestige, und die Mitglieder aus dem blockfreien Lager realisierten schnell, dass sie mit einer Mehrheit in der Generalversammlung die internationale Politik mit 22 23
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Chruschtschow reiste im Mai 1955 nach Belgrad und entschuldigte sich öffentlich für Stalins Verurteilung Jugoslawiens im Jahr 1948. Die indo-jugoslawische Zusammenarbeit geht auf die gemeinsame Mitgliedschaft im UNOSicherheitsrat 1950/51 zurück. Tito und Nehru trafen sich erstmals im November 1954, Tito und Nasser im Januar 1955. Nataša Mišković: The Pre-History of the Non-Aligned Movement. India’s First Contacts with the Communist Yugoslavia 1948–1950, in: India Quarterly 65 (2009), S. 185–200; A.K. Pasha: Indo-Egyptian Ties Across the Centuries, in: Mohamed Higazy (Embassy of Egypt in India) (Hg.): Egypt – India: Eternal Friendship, New Delhi, Kairo 2007, S. 12–26, hier S. 18ff. Siehe Nataša Mišković: Tito, Nehru und die Ungarn-Krise 1956: Verflechtungsgeschichte einer gescheiterten Krisenintervention, Südost-Forschungen (im Erscheinen); Svetozar Rajak: Yugoslavia and the Soviet Union in the Early Cold War: Reconciliation, Comradeship, Confrontation, 1953–1957, London 2011; Aleksandar Životić: Jugoslavija i suecka kriza 1956– 1957, Belgrad 2008; Johanna Granville: The First Domino: International Decision Making during the Hungarian Crisis of 1956, College Station, Texas 2004; Anthony Gorst / Lewis Johnman: The Suez Crisis (Routledge Sources in History), London 1997.
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bestimmen konnten.25 Die jugoslawische Diplomatie wollte dieses Potential ausnutzen. Im ersten Quartal 1961 unternahm Tito eine ausgedehnte Reise durch die neuen Staaten Afrikas. Sie endete im April mit einem Aufenthalt bei Nasser in Kairo, und bei dieser Gelegenheit beschlossen die beiden Staatschefs, im September in Belgrad ein Gipfeltreffen blockfreier Länder abzuhalten. Auch Nehru, bereits absorbiert durch den eskalierenden Konflikt mit China, trat der Initiative bei. Es war ihre erklärte Absicht, mittels Unterstützung antikolonialer Unabhängigkeitsbewegungen die Zahl der Blockfreien in der UNO-Generalversammlung zu vergrößern und so die Supermächte an den Verhandlungstisch zu zwingen. Am 6. September unterzeichneten 25 Staatsoberhäupter und Regierungschefs die Belgrader Schlussdeklaration. Diese hielt fest, jeglicher Druck, sich einem der beiden Blöcke anzuschließen, sei eine Bedrohung des Weltfriedens. Dieser sei aktuell durch die Gefahr eines atomaren Dritten Weltkrieges akut gefährdet und könne nur mithilfe der Prinzipien der friedlichen Koexistenz erhalten werden: „[…] jeder Versuch, Völkern das eine oder andere soziale oder politische System aufzuzwingen, ist eine direkte Bedrohung des Weltfriedens. Die Teilnehmerstaaten erachten unter diesen Bedingungen die Prinzipien der friedlichen Koexistenz als einzige Alternative zum ‚kalten Krieg’ und zu einer möglichen allgemeinen nuklearen Katastrophe. Deshalb müssen diese Prinzipien – die das Recht der Völker auf Selbstbestimmung, Unabhängigkeit und freie Festlegung der Formen und Methoden der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung einschließen – die einzige Basis internationaler Beziehungen sein.“26
Ausgehend vom Selbstbestimmungsrecht der Völker baute die Deklaration auf der Prämisse auf, frisch dekolonisierte Staaten wünschten nichts sehnlicher, als frei und gleichwertig in die Weltgemeinschaft aufgenommen zu werden und nach friedlicher Entwicklung zu streben. Damit ordneten sich die Blockfreien dem völkerrechtlichen Prinzip der Nationalstaatlichkeit unter und verlangten Respekt vor ihren Grenzen und inneren Angelegenheiten – sozusagen in Pervertierung der westlichen Werte von Souveränität und Staatlichkeit, wie Mark Mazower in Bezug auf die afrikanischen und asiatischen UNO-Mitglieder scharfsinnig kommentiert.27 Das Belgrader Abkommen hält explizit fest, es bestehe keine Absicht, ei 25
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Der Begriff „blockfreies Lager“ bezieht sich hier auf die Gruppe der Länder in der UNO, die weder dem amerikanischen noch dem sowjetischen Lager angehörten. Laut dem führenden jugoslawischen Außenpolitiker Leo Mates wurde dieser Begriff in den Verhandlungen um die Beendung des Koreakriegs anfangs der 50er Jahre erstmals angewandt, als Indien und Jugoslawien gleichzeitig Mitglieder des Sicherheitsrates waren. Leo Mates: Es begann in Belgrad. Zwanzig Jahre Blockfreiheit, Percha am Starnberger See 1982, S. 70ff. Deklaration der Staats- oder Regierungsoberhäupter der blockfreien Staaten, Belgrad, 6. September 1961. Zitiert nach Leo Mates: Nonalignment. Theory and Current Policy, Belgrad 1972, S. 389. Diese und alle folgenden Übersetzungen aus dem Englischen und Serbokroatischen von NM. Mazower sieht in der übermäßigen Betonung der staatlichen Souveränität der UNOMitglieder die Ursache für die gegenseitige Blockade von Sicherheitsrat und Generalversammlung sowie für die Unfähigkeit der UNO, ihren eigenen Werten gerecht zu werden. Mazower: No Enchanted Palace (wie Anm. 14), S. 188f.
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nen dritten Block zu bilden. Dagegen solle das Gewicht der blockfreien Länder mittels Unterstützung antiimperialistischer Unabhängigkeitsbewegungen vergrößert werden – welche notabene im Westen als Terroristen bezeichnet wurden, wie beispielsweise die palästinensische Befreiungsorganisation PLO und die algerische Befreiungsfront FLN. Die Abhängigkeit von der Gnade der Großmächte erkannten die Blockfreien als Zumutung: „Die an dieser Konferenz vertretenen blockfreien Staaten wünschen keinen neuen Block zu bilden und können kein Block sein. Sie begehren aufrichtig mit allen Regierungen zusammenzuarbeiten, die zur Stärkung des Vertrauens und des Friedens in der Welt beitragen wollen. Die blockfreien Staaten wünschen dies umso mehr, als sie sich bewusst sind, dass Frieden und Stabilität in der Welt in bedeutendem Maß von den gegenseitigen Beziehungen der Großmächte abhängig sind; Aus (sic) diesem Bewusstsein heraus erachten es die Konferenzteilnehmer als eine Frage des Prinzips, dass sich die Großmächte entschlossener für die Lösung diverser Probleme am Verhandlungstisch engagieren […]. Die Konferenzteilnehmer sind der Meinung, dass […] die weitere Ausbreitung einer blockfreien Weltzone die einzige mögliche, unumgängliche Alternative zur Politik der vollständigen Teilung der Welt in zwei Blöcke, und damit zur Intensivierung der Politik des Kalten Krieges ist. Die blockfreien Länder ermutigen und unterstützen alle Völker, die für Unabhängigkeit und Gleichheit kämpfen. Die Konferenzteilnehmer sind überzeugt, dass das Aufkommen jüngst befreiter Staaten helfen wird, die Zone der Blockgegensätze zu verringern und so alle Tendenzen zu fördern, die den Frieden zu sichern und die friedliche Zusammenarbeit zwischen unabhängigen und gleichberechtigten Nationen zu stärken vermögen.“28
Die Konferenz beschloss, die Supermächte in die Pflicht zu nehmen und sandte im Anschluss an das Treffen je eine Delegation zum amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy sowie zum sowjetischen Premierminister Nikita Chruschtschow, um sie aufzufordern, direkte Friedens- und Abrüstungsverhandlungen aufzunehmen. Diese Kombination der Prinzipien von Bandung, Unterstützung von Freiheitsbewegungen sowie internationaler Verhandlungsdiplomatie nannten die Blockfreien „aktive Neutralität“. Indien wie Jugoslawien beanspruchten in der Folge, Erfinder der blockfreien Politik gewesen zu sein.29 Nasser hingegen, der dritte der „klassischen“ Gründerväter der Blockfreien, beanspruchte für sich vor allem die Rolle als Leader der arabischen Welt sowie Afrikas. Unter meinen ägyptischen Interviewpartnern, darunter der ehemalige UNO-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali, der damalige Generalsekretär der Arabischen Liga Amr Moussa, der Organisator des Blockfreiengipfels in Sharm El-Sheik 2009, Botschafter Raouf Saad, sowie der Politiker Mustafa Elfeky, bestritt niemand, dass Tito und Nehru den dreißig Jahre jüngeren Nasser in die internationale Politik eingeführt 28 29
Mates: Nonalignment, S. 389f. (wie Anm. 26). Der indonesische Präsident Ahmed Sukarno (1901–1970), Gastgeber der BandungKonferenz, baute seinen 1945 gegründeten Staat auf einer eigenen Interpretation der Fünf Prinzipien (Pancasila) auf.
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hatten. Der indisch-jugoslawische Disput interessierte sie nicht.30 Im Folgenden konzentriere ich mich auf die indisch-jugoslawische Auseinandersetzung über die Frage, wer die Blockfreiheit erfunden hat. II. WER ERFAND DIE BLOCKFREIHEIT? a) Die jugoslawische Perspektive Das sozialistische Jugoslawien bezog das theoretische Fundament seiner Blockfreiheit aus dem Sieg der Partisanen im Zweiten Weltkrieg sowie aus dem marxistischen Internationalismus. Selbstbewusst rief Tito Ende Oktober 1944 während seiner ersten Rede im befreiten Belgrad ins Publikum: „Wir wollen nicht mehr als Spielball oder Wechselgeld herhalten! Wir haben in diesem Kampf das Recht erworben, uns gleichberechtigt mit den Alliierten an diesem Krieg sowie am Aufbau eines neuen, glücklicheren Europas zu beteiligen, nicht nur [am Aufbau] Jugoslawiens.“31
Im Rahmen seiner Kampagne, die nach dem Krieg neugegründeten Volksdemokratien enger an Moskau anzubinden, schloss Stalin im Juni 1948 das widerspenstige Jugoslawien aus dem Kominform aus und stürzte das Balkanland in eine tiefe Krise. Das Tito-Regime kämpfte um sein Überleben und nahm in Anbetracht seiner kompletten Isolation Geheimverhandlungen mit den Amerikanern auf; im Herbst 1949 erreichte es Jugoslawiens Wahl in den UNO-Sicherheitsrat. Kurz zuvor, am achten Jahrestag der Gründung des Generalstabs der Partisanenarmee in Stolice, erklärte Tito seinen versammelten Anhängern: „Wir sind ein kleines Volk, aber wir werden strikt an unserer außenpolitischen Linie festhalten, wir werden streng darauf achten, dass sie mit den Prinzipien des Marxismus-Leninismus übereinstimmt, dass sie sozialistisch bleibt, dass sie allen großen Mächten sagt — und es handelt sich hier wirklich um die großen — dem Westen wie dem Osten, dass sie mit dem Schicksal der kleinen Völker weder Handel treiben noch über sie reden können, ohne sie zu fragen, ob sie mit den Gesprächen einverstanden sind oder nicht. Wir sind ein volljähriges Volk, unser Volk hat seine Fähigkeit durch die Jahrhunderte bewiesen, auch die Fähigkeit, einen Staat zu bilden, sich selbst zu regieren, und wir werden niemandem erlauben, uns seine Herrschaft aufzuzwingen und uns zu belehren [wörtlich: „da nam soli pamet“], wo es nicht notwendig ist.“32
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Die Gespräche führte ich im November 2009 auf Vermittlung der Schweizer Botschaft in Kairo durch und fertigte davon Tonaufnahmen an. Sie fanden in den Büros respektive Empfangsräumen meiner Gesprächspartner statt und dauerten je rund eine Stunde, mit Ausnahme des ad hoc arrangierten Treffens mit Mustafa Elfeky, das knappe, jedoch sehr intensive zehn Minuten dauerte. Josip Broz Tito: Jugoslavija u borbi za nezavisnost i nesvrstanost, Sarajevo 1980, S. 13 (Iz prvog govora u oslobođenom Beogradu, održanog 27. oktobra 1944). Ebd., S. 18f. (Iz govora u Stolicama, održanog 26. septembra 1949 na dan osmogodišnjice vojnog savetovanja).
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Tito, der Kommunist, der in den 1930er Jahren als Geheimagent für den NKVD tätig gewesen war, gab seine Hoffnung auf Versöhnung mit der Sowjetunion nie auf und suchte die Unterstützung des Westens aus rein strategischen Motiven. Dies sowie sein unbedingter Macht- und Überlebenswille bewogen ihn, sich auf ein außenpolitisches Pokerspiel einzulassen und zu versuchen, die beiden Supermächte gegeneinander auszuspielen. Er baute den diplomatischen Dienst massiv aus und nutzte die Chancen der Mitgliedschaft im UNO-Sicherheitsrat. Als einige Zeit nach Stalins Tod erste versöhnliche Signale aus Moskau eintrafen, ergriff er die Chance und löste sich aus der Umklammerung der NATO. Im Herbst 1954 trat er mit großem Pomp seine erste Reise nach außerhalb Europas an und unterzeichnete im Dezember in New Delhi eine Erklärung, die sich an das wenige Monate zuvor abgeschlossene chinesisch-indische Abkommen anlehnte, das auch zur Grundlage für die Erklärung von Bandung werden sollte.33 Zum wichtigsten jugoslawischen Theoretiker der Blockfreiheit wurde Leo Mates (1911–1991), Partisanenveteran, jugoslawischer Spitzendiplomat und Cheforganisator der Belgrader Konferenz von 1961. Sein Hauptwerk „Nonalignment: Theory and Current Policy“ wurde in mehrere Sprachen übersetzt und gilt bis heute als Standardwerk.34 Es richtete sich an ein internationales Publikum, insbesondere die blockfreien Mitgliedstaaten. Mates argumentiert historisch und streicht die Rolle Indiens und Nehrus als Promotoren einer unabhängigen, blockfreien Außenpolitik seit den 1920er Jahren hervor. Ein Vergleich seiner Bücher zeigt jedoch, dass er seine Ausführungen dem Publikum anpasste. Im für die jugoslawische Diplomatenausbildung gedachten Lehrbuch „Međunarodni odnosi Socijalističke Jugoslavije“ (Die internationalen Beziehungen des sozialistischen Jugoslawiens) definiert Mates die Blockfreiheit in marxistisch-leninistischem Stil und behauptet, die Blockfreiheit sei in der Politik des kommunistischen Jugoslawiens von Grund auf angelegt: „Die Politik der Blockfreiheit, so paradox dies auch klingen mag, tritt nicht als individuelle Einstellung oder Verhaltensweise eines einzelnen Landes in Erscheinung, sondern von allem Anfang an als Bewegung, als kollektive Einstellung mehrerer Länder. Der Erfolg dieser Politik drückt sich nicht nur in den in der Welt tatsächlich bewirkten Veränderungen aus, also in realen Errungenschaften, sondern auch in der Vergrößerung der Mitgliederzahl der Bewegung. […]. Natürlich konnte sich Jugoslawien nicht mit anderen Ländern zu einer breiten Bewegung zusammenschließen, solange die Voraussetzungen dazu auf der Weltbühne noch nicht bestanden hatten. Abgesehen davon drückte es sofort nach Ende des Krieges den Wunsch nach kol-
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Mišković: Pre-History, S. 191ff. (wie Anm. 24); Rajak: Yugoslavia and the Soviet Union, S. 14ff. (wie Anm. 24). Zu Titos Biografie siehe Stevan K. Pavlowitch: Tito, Yugoslavia’s Great Dictator: A Reassessment, Columbus 1992; sowie die umstrittene neue Biografie von Pero Simić: Tito, fenomen 20. veka, Belgrad 2011. Leo Mates: Nonalignment (wie Anm. 26). Vom selben Autor erschien 1982 auf deutsch eine Retrospektive auf die Blockfreienbewegung, jedoch ohne Dokumentenanhang: Mates: Es begann in Belgrad (wie Anm. 25).
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lektiver Aktion aus, durch die Verbindung und enge Zusammenarbeit mit der Sowjetunion mit dem Ziel, die internationalen Beziehungen und Bedingungen zu ändern. Diesen Weg verließ es jedoch nach den ersten Erfahrungen. Die neuen Kooperationen konnten erst beginnen, als die Isolationsblockade durchbrochen war und die ersten Bemühungen um Schaffung einer Blockfreienbewegung in anderen Teilen der Welt begonnen hatten. Die Blockfreiheit als Prämisse für eine unabhängige Außenpolitik, die ein unabdingbarer Bestandteil der Aktion ist, in der sich gleichberechtigte Partner zu abgesprochenem kollektivem Handeln zusammenschließen, entwickelte sich aus der festen Entschlossenheit Jugoslawiens, die Grundsätze seiner Revolution und seines Unabhängigkeitskampfes zu erhalten.“35
Auch Ranko Petković, Autor eines weiteren einflussreichen jugoslawischen Diplomatielehrgangs, hielt zehn Jahre nach Mates fest, die Blockfreiheit sei nichts anderes als die außenpolitische Konsequenz des Selbstbestimmungsrechtes der Völker und in den Grundwerten des kommunistischen Jugoslawiens angelegt: „Die entschlossene Orientierung auf Verwirklichung des Prinzips, dass die Völker Jugoslawiens selber über ihr Schicksal bestimmen sollen, hieß im Prinzip eigentlich die Vorwegnahme der Grundprämissen der Blockfreiheit: das Streben nach einer unabhängigen Außenpolitik und gleichberechtigten Beziehungen in der internationalen Gemeinschaft.“36
In seinem Lehrbuch ging Mates soweit, dem indischen Premierminister vorzuwerfen, mit seiner afro-asiatischen Initiative zunächst eine rein regionale Außenpolitik verfolgt zu haben, während Tito von Anfang an mehr Weitblick bewiesen habe: „Diese Art des Denkens kam in Nehrus Initiative zum Ausdruck, an einer Konferenz in Bandung die Länder Asiens und Afrikas zu versammeln. Offensichtlich glaubte er, zwischen allen Ländern dieser Kontinente könne eine enge Solidarität hergestellt werden, weil sie alle in der Vergangenheit auf die eine oder andere Weise von den industrialisierten Ländern Europas und Amerikas sowie von Japan und China von oben herab und präpotent behandelt worden waren. Dass diese Sicht der Dinge nicht würde aufrecht erhalten werden können, war Tito und den jugoslawischen Politikern und Staatsmännern auf den ersten Blick klar. Gewohnt, die Welt auf der Grundlage des Marxismus zu betrachten, begriffen sie, dass die gegenwärtige gesellschaftlich-ökonomische und politische Lage wichtiger ist als vergangene Erfahrungen und dass die Grenzen der Kontinente für die Entwicklung der Gestalt der gesellschaftlichen und politischen Aktion nicht viel bedeuten. Sie verstanden darüber hinaus von Anfang an, dass in der Welt nichts verändert werden kann ohne Entwicklung einer universellen Bewegung, die für einen immer weiteren Kreis von Ländern auf allen Kontinenten akzeptabel ist.“37
Mates mochte übersehen haben, dass Nehru im Gegensatz zu Jugoslawien mehrere Schienen hatte, auf denen er die indische Außenpolitik pragmatisch gestaltete: als Mitglied des Commonwealth, im afro-asiatischen Kreis, und als Begründer der 35 36 37
Leo Mates: Međunarodni odnosi Socijalističke Jugoslavije, Belgrad 1976, S. 133f. Ranko Petković: Nesvrstana Jugoslavija i savremeni svet. Spoljna politika Jugoslavije 1945– 1985, Zagreb 1985, S. 9. Mates: Međunarodni odnosi, S. 135f. (wie Anm. 35).
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Blockfreien. Für meine indischen Gesprächspartner hingegen war völlig klar, dass Jugoslawien erst in der verzweifelten Lage nach dem Bruch mit Moskau die Blockfreiheit als Option entdeckte: b) Die indische Perspektive Noch vor Kairo führte ich in New Delhi eine Anzahl Gespräche mit PolitikerInnen, WissenschaftlerInnn, DiplomatInnen und JournalistInnen zum Thema Nehru, Tito, Nasser und die Blockfreien durch. Alle unterstrichen die große Freundschaft zwischen Indien und Jugoslawien; viele von ihnen kannten das Land von persönlichen Besuchen und hegten nostalgische Gefühle.38 Einige aber wiesen mich nachdrücklich darauf hin, dass nicht Tito, sondern Nehru der wahre Architekt der Blockfreiheit gewesen sei: Die Jugoslawen seien auf einen fahrenden Zug aufgesprungen. S. Nihal Singh, ehemaliger Chefredakteur der angesehenen Tageszeitung The Statesman, hatte das Land wiederholt bereist. Er erzählte, wie er jeweils stolz auf Titos Rolle in der Blockfreienbewegung angesprochen worden sei und dann immer höflich geschwiegen habe. Der jugoslawische Anspruch sei jedoch falsch.39 Der frühere Staatssekretär für Auswärtiges (Foreign Secretary), Jagat Singh Mehta, mit dem ich am Neujahrmorgen 2008 im Haus seines Sohnes ein ausgedehntes Gespräch führen konnte, erläuterte mir, Nehrus Außenpolitik sei blockfrei aus Prinzip gewesen. Mehta sieht den Beginn der indischen Blockfreiheit im Jahr 1946, an der Konferenz asiatischer Staaten in New Delhi, und damit noch vor der formellen indischen Unabhängigkeit. Tito und Nasser hätten erst später und nur aus umstandsbedingten strategischen Gründen zur Blockfreiheit gefunden: „Was ich sehr knapp vorauszusetzen versuche ist die Tatsache, dass Nehrus Blockfreiheit bereits im Moment der Unabhängigkeit ihren Anfang nahm, während die jugoslawische und ägyptische Blockfreiheit, wie – in anderen Worten – repräsentiert durch Tito und Nasser, eine Reaktion auf Entwicklungen war, die von Dritten initiiert worden waren, im Fall Ägyptens durch den Westen.“40
Jawaharlal Nehru war bis zum Scheitern seiner China-Strategie Ende der 1950er Jahre unwidersprochener Chef der indischen Außenpolitik. Der in England ausge 38
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Gespräche u.a. mit Botschafter Chinmaya Gharekhan, Staatssekretär a.D. Jagat Singh Mehta, Dr. Karan Singh, Prof. V.P. Dutt, Malvika Singh-Thapar, S. Nihal Singh, Dr. Atwar Singh Bhasin, Botschafter T.C.A. Rangachari in New Delhi, Dezember 2007 / Januar 2008. Gespräch mit Botschafterin Chitra Narayanan in Bern, September 2010. Erinnerungsprotokoll des Gesprächs mit S. Nihal Singh im Rahmen eines Mittagessens im India International Centre, New Delhi: Gespräch mit Gharekhan und Nihal Singh, 19. Dezember 2007, S. 2. Transkript der Interviewaufnahme vom gut dreistündigen Gespräch mit Jagat S. Mehta: Interview with Jagat S. Mehta, New Delhi, 1 January 2008, S. 4f., Übersetzung aus dem Englischen NM.
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bildete Sohn eines reichen und politisch einflussreichen Anwalts aus Allahabad war geprägt von den Lehren seines Mentors Mohandas Gandhi (1869–1948), des Mahatma, sowie von den Erfahrungen des indischen Unabhängigkeitskampfes, der 1946 mit einer friedlichen Machtübergabe durch die britischen Kolonialherren endete, dann aber in die traumatische Teilung des Subkontinents mündete.41 Nehru war wie Tito ein Anhänger des Internationalismus und trat sein Amt als Premierminister Indiens 1947 mit großem Selbstbewusstsein und in der Überzeugung an, dass die indische Union unabhängig sein müsse. In seinen außenpolitischen Richtlinien vom 12. September 1948 erteilte er der indischen UNODelegation folgende Weisungen: „In der Weltpolitik sollten wir für alles einstehen, das den Frieden fördert und den Krieg verhindert, und für alles, das der imperialistischen Herrschaft eines Landes über ein anderes, egal welcher Art, ein Ende setzt. Zugleich sollten wir auf eine enge Zusammenarbeit zwischen den Nationen hinarbeiten, im Hinblick darauf, nun endlich der Errichtung einer Weltordnung behilflich zu sein. Wir haben bereits mehrfach festgehalten, dass sich Indien keinem der Machtblöcke anschließen sollte. […] Wenn Indien in diesen Machtkonflikten keine neutrale Politik verfolgt, werden auch viele andere Länder gezwungen werden, sich einem der Blöcke anzuschließen. Es würden keine neutralen Länder übrig bleiben, und damit auch keine Richtungsweisung weg vom Krieg. Indiens Parteinahme könnte in der Tat den Weltkrieg näher bringen.“42
Für Nehru stand nicht zur Diskussion, dass Indien in Asien eine regionale Vormachtstellung einnahm, was zum damaligen Zeitpunkt, nach dem Zusammenbruch Japans und vor dem Ende des chinesischen Bürgerkriegs, besonders offensichtlich war. Nehru glaubte an die weltweite Ausstrahlung der Gandhischen Lehren. Er wollte sich für den Frieden in der Welt einsetzen und sah Indien als Vorbild für andere asiatische Länder. Blockfreiheit und aktive Neutralität waren angesichts der Polarisierung der Welt der logische Weg: „Indien ist der natürliche Anführer Südostasiens, wenn nicht anderer Teile Asiens ebenso. Im Moment gibt es keine andere mögliche Führung in Asien, und fremde Führung ist nicht akzeptabel. Dennoch darf kein einziger Delegierter ansprechen, dass Indien der Anführer irgendeines Teils Asiens sei, und auch die Bildung eines asiatischen Blockes darf nicht diskutiert werden. Das wäre falsch, würde uns in keiner Weise weiterhelfen, und nur andere verärgern oder Misstrauen erregen.“43
Als Jawaharlal Nehru Premierminister des unabhängigen Indiens wurde, hatte er bereits jahrzehntelange Erfahrung in der Führung der indischen Politik und sich als einziger der prominenten Kongresspolitikern intensiv mit außenpolitischen 41
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Unter der ausufernden biografischen Literatur zu Nehru empfehle ich Walter Crocker: Nehru. A Contemporary’s Estimate, Noida 2008, sowie Dietmar Rothermund: Gandhi und Nehru. Zwei Gesichter Indiens, Stuttgart 2010. Guidelines for the Session of the United Nations General Assembly Held on 12 September 1948. JN Collection, Nehru Memorial Museum and Library, publiziert in: Uma Iyengar (Hg.): The Oxford India Nehru, New Delhi 2007, S. 519–524, hier S. 521. Ebd. S. 520f.
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Fragen beschäftigt. Ein einschneidendes Erlebnis war seine Teilnahme am Kongress der Liga gegen Imperialismus vom Februar 1927 in Brüssel.44 Er hielt sich damals für mehrere Monate in der Schweiz auf, wohin er seine tuberkulosekranke Frau Kamala zur Kur begleitet hatte. Weil die britischen Kolonialherren den designierten Vertretern der indischen Delegation die Pässe verweigerten, vertrat Nehru die indische Kongresspartei in Brüssel allein. Zweihundert Delegierte aus allen Kontinenten repräsentierten 134 Organisationen der Friedensbewegung, der kommunistischen und sozialistischen Internationale, sowie zahlreiche nationalistische Unabhängigkeitsbewegungen. Organisiert hatten die Tagung der Berliner Kommunist Willi Münzenberg (1889–1940), ein geschickter Medienmann und Protegé Lenins, sowie der bengalische, ebenfalls in Berlin lebende Revolutionär Virendranath Chattopadhaya („Chatto“, 1880–1937). Die Komintern finanzierte das Ereignis im Sinne von Lenins Strategie, möglichst viele nichtbolschewistische SympathisantInnen für die kommunistische Weltrevolution zu instrumentalisieren; auch die nationalistisch-chinesische Kuomintang soll Geld beigesteuert haben. Das Tagungspräsidium setzte sich prominent zusammen: Albert Einstein, Romain Rolland, Sun Yat-sen, George Lansbury – sowie Nehru, der hier viele wichtige internationale Kontakte schloss, unter anderem mit dem späteren indonesischen Präsidenten Ahmed Sukarno sowie mit ägyptischen Nationalisten. Nur kurze Zeit später änderte die Komintern unter Stalins Einfluss ihre Strategie und verurteilte die Zusammenarbeit mit den nationalistischen Antikolonialisten. Chatto, mit dem Nehru seit Brüssel korrespondiert hatte, starb 1937 unter einem stalinistischen Erschießungskommando.45 Brüssel war der Ursprung für Nehrus Bemühen um eine asiatische Allianz und um Freundschaft mit China, zunächst mit der Kuomintang-Führung, später mit Mao und Zhou Enlai. In Brüssel wurde Nehrus Bewunderung für den Marxismus geweckt: Noch im selben Jahr besuchte er mit seinem Vater die Sowjetunion und kehrte begeistert nach Indien zurück, wo er sich prompt auf eine heftige Auseinandersetzung mit Gandhi einließ.46 Nicht zuletzt das Schicksal seines Freundes Chatto hielt ihn jedoch auf Distanz zu Stalin. Als er das Land nach des letzteren Tod im Juni 1955 ein zweites Mal bereiste, erlag er erneut seiner Faszination für das gesellschaftliche Experiment Sowjetunion. Sein Vertrauen in die sowjetische Regierung stieg, als ihn Parteisekretär Nikita Chruschtschow und Mi 44
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46
Prashad: The Darker Nations (wie Anm. 12), S. 16ff.; Jayantanuja Bandyopadhyaya: The Making of India’s Foreign Policy. Determinants, Institutions, Processes and Personalities, 3. Auflage, New Delhi etc. 2003, S. 221. Prashad: The Darker Nations (wie Anm. 12), S. 22. Lansbury war ein führendes Mitglied der Theosophischen Gesellschaft von Annie Besant, die Nehru als jungen Mann stark beeinflusst hatte. Am Parteikongress vom Dezember 1927 versuchte Nehru eine Resolution durchzubringen, die die Unabhängigkeit Indiens vom britischen Empire forderte, was Gandhi aber für verfrüht hielt. Rothermund: Gandhi und Nehru (wie Anm. 41), S. 69f.; Benjamin Zachariah: Nehru, London, New York 2004, 58ff.
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nisterpräsident Nikolaj A. Bulganin im November desselben Jahres mit ihrem Besuch beehrten. Auch gegenüber der maoistischen Führung hegte Nehru keine Berührungsängste. Die Anfangszeit seiner Beziehung mit Zhou Enlai war von Vertrauen und Wertschätzung geprägt. Im Zusammenhang mit den Friedensbemühungen zum Koreakrieg unterschrieben die beiden im Juni 1954 in New Delhi einen Freundschaftsvertrag, dem Nehru im Oktober einen Besuch in China folgen ließ, wo er frenetisch gefeiert wurde. Die beiden Länder legten ihren Beziehungen die sogenannten „Panchsheel“ zugrunde, die Fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz. Das Sanskrit-Wort bezeichnet ein buddhistisches Konzept von fünf Verhaltensweisen ähnlich den zehn Geboten des Alten Testaments.47 Nehru und Zhou entwickelten daraus ein politisches Konzept des friedlichen Zusammenlebens: 1. Gegenseitige Respektierung der Souveränität und Integrität, 2. Nicht-Angriff, 3. Gegenseitiger Respekt, Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten, 4. Förderung der politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit auf gleichberechtigter Ebene, und 5. Förderung der friedlichen Koexistenz auf bilateraler und internationaler Ebene. Dass die beiden Politiker ihrem Konzept einen buddhistischen Touch gaben, um dessen Attraktivität im asiatisch-afrikanischen Raum zu erhöhen, ist offensichtlich: Dass sie sich dabei von Ahmed Sukarnos Rhetorik inspirieren ließen, liegt ebenfalls auf der Hand: Sukarno hatte 1945 eine eigenwillige Interpretation der Fünf Prinzipien als Basis der indonesischen Verfassung proklamiert, um in seinem Inselreich Nationalismus, Religion und Kommunismus zu versöhnen. Zhou und Nehru wandten die Panchsheel im Folgenden unterschiedlich an: Zhou bewarb damit diejenigen asiatischen und afrikanischen Länder, die die Volksrepublik im Kampf gegen die USA auf ihre Seite ziehen wollte – allen voran Burma, das er als nächstes besuchte; Nehru interpretierte sie universell und integrierte sie umgehend in die gemeinsame Erklärung mit Tito vom Dezember 1954.48 Zhou wie Nehru waren sich bewusst, dass der Begriff der friedlichen Koexistenz ein Schlagwort aus dem Repertoire der kommunistischen Internationale war, das Stalin in den 1920er Jahren erstmals gebraucht hatte. Während der Bandung 47 48
Die fünf buddhistischen Verhaltensgebote heißen: nicht töten, nicht stehlen, keine sexuellen Abweichungen, nicht lügen, einen klaren Geist bewahren. Zur chinesischen Außenpolitik in der ersten Hälfte der 1950er Jahre siehe Chen Jian: Bridging Revolution and Decolonization: The „Bandung“ Discourse in China’s Early Cold War Experience, in: Christopher E. Goscha und Christian F. Ostermann (Hg.): Connecting Histories: Decolonization and the Cold War in Southeast Asia, 1945–1962, Washington, Stanford 2009, S. 137–171, hier 153f, 156; zu Sukarno siehe Adrian Vickers: A History of Modern Indonesia, Cambridge 2005, S. 117ff., sowie sein Konferenzpaper zu Sukarno an der International Conference on the Afro-Asian World, Montreal, 23. / 24. März 2012.
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Konferenz hielt Nehru seine Bedenken in Bezug auf diesen Begriff in einem Notizbuch fest: „Koexistenz – das ist eine kommunistische Phrase speziell, friedliche Koexistenz’. Erstmals gebraucht von Stalin 1926. Unausweichlicher Schluss: dass die Kommunisten damit etwas anderes meinen. […] Warum dann diesen Begriff gebrauchen? Einen neuen Begriff vorschlagen?“49
Das Notizbuch lag bisher unbeachtet im kürzlich freigegebenen Nachlass des ehemaligen Staatssekretärs für Äußeres Subimal Dutt. Mehr als jede andere überlieferte Äußerung Nehrus macht sie klar, dass er sich nebst weiteren asiatischen Staatsgründern wie Sukarno, Zhou Enlai und auch dem burmesischen Präsidenten U Nu in einen Diskurs einordnete, der auf den kommunistischen Internationalismus und die Diskussion um das Selbstbestimmungsrecht der Völker zurückging, und der Wert auf einen spezifischen regionalen Touch legte. Dabei ging es den genannten Staatsmännern ebenso um ein nationales und regionales propagandistisches Identifikationsangebot an die Adresse ihrer Klientel wie um persönliches Prestige – was letztendlich die Basis für den Streit um die „Erfinderrechte‟ bot. III. FAZIT Damit schließt sich der Kreis. Weder Nehru noch Tito hatten die Blockfreiheit erfunden, weder die jugoslawische Argumentation nach Mates noch der indische Standpunkt nach Mehta sind falsch. Das Konzept entsprang dem Internationalismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und leitete sich vom Selbstbestimmungsrecht der Völker ab, das die Bolschewiki ideologisch für sich pachten konnten, während sich der Völkerbund durch die Beschränkung desselben auf die weißen Europäer und Amerikaner in den Augen der Kolonialvölker diskreditiert hatte. Die sowjetische Führung gewann damit Ansehen über das Einzugsgebiet des Russischen Reiches hinaus unter den Unabhängigkeitsbewegungen in den asiatischen und afrikanischen Kolonialgebieten wie auch unter den westlichen ImperialismuskritikerInnen. Sie organisierte internationale Foren wie die Liga gegen den Imperialismus, an denen sich die AktivistInnen treffen und vernetzen konnten. Selbst wenn Stalin in den 1930er Jahren von der Umwerbung nationalistischer Bewegungen abrückte, legten diese Treffen insofern eine Basis für die späteren Gipfeltreffen der Blockfreien und der Bandung-Staaten, als sich eine bestimmte Generation führender asiatischer und afrikanischer PolitikerInnen und Staatsmänner dort kennengelernt und das Instrument internationaler Zusammenarbeit schätzen gelernt hatte. Die Untersuchung der Beziehungen zwischen Mos 49
Notes of Jawaharlal Nehru during Afro-Asian Conference 1955, Nehru Memorial Museum and Library, Subimal Dutt Papers, Speeches and Writings by Others 2, Bl. 46. „Co-existence – this a communist phrase especially ‚peaceful co-existence’. First time used by Stalin in 1926. Inescapable conclusion: that communists mean something different. […] Why use this phrase then? suggest a new phrase?“
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kau und den Ländern respektive kommunistischen Bewegungen Asiens steckt noch in den Anfängen, wird hier aber in Zukunft mehr Klarheit schaffen. Auch die späteren, hier nicht diskutierten Versuche der Sowjetunion, über den kubanischen Revolutionsführer Fidel Castro die Blockfreienbewegung auf ihre Seite zu ziehen, werden vor diesem Hintergrund besser nachvollziehbar. Die gemeinsamen Wurzeln mit der internationalistischen Friedensbewegung vermögen zudem die Faszination prominenter westlicher Intellektueller wie Jean-Paul Sartre mit Anführern der Blockfreienbewegung zu erklären. Ferner wird deutlich, dass es bei den unterschiedlichen Interpretationen und Ausrichtungen von Blockfreiheit sowohl um Prestige wie um strategische Positionierung ging. Tito, Nehru wie auch Zhou Enlai oder Sukarno wussten genau, dass der Begriff der friedlichen Koexistenz dem bolschewistisch-kommunistischen Vokabular entstammte und deuteten ihn nach ihren Bedürfnissen um. Nehru, Zhou und Sukarno suchten nach Auslegungen, die einerseits die Bedeutung Asiens hervorhoben (Panchsheel), andrerseits ihren nationalen Zielen entsprachen: Für Nehru der universellen Friedensmission Gandhis, für Zhou der Förderung der afro-asiatischen Interessen Chinas im Hinblick auf die kommunistische Weltrevolution, und für Sukarno bezüglich der Einheit seines riesigen Inselreichs. Titos Ideologen hingegen suchten zu unterstreichen, dass die Jugoslawen bessere Kommunisten seien als die Moskauer Führung. Alle zusammen verbanden mit dem Slogan das Ziel, die Unabhängigkeit ihrer Länder sowie ihre Macht gegen die Einmischung der Supermächte und der europäischen Kolonialmächte abzusichern. Dies ist auch vor dem Hintergrund zu verstehen, dass in ihrem Umfeld der Kalte Krieg keineswegs „kalt“ verlief. Auf die Frage der Verknüpfung von Osteuropäischer und Globalgeschichte zurückkommend, dürfte Folgendes deutlich geworden sein: Wer die Blockfreien nur aus dem Blickwinkel der südosteuropäischen Geschichte anschaut, wird sich auf die jugoslawischen Quellen stützen und zu einem Ergebnis kommen, dass die Rolle Titos und seiner Außenpolitik in den Mittelpunkt stellt. Wer sich ausschließlich aus der Perspektive Südasiens mit der Thematik beschäftigt, wird Nehrus Mission ins Zentrum stellen. Das Bemühen der anglo-amerikanischen Cold War Studies, die sowjetische und chinesische Seite in ihre Reflexionen einzubeziehen, ist relativ jungen Datums und rückte erst nach 1989 in den Bereich des Möglichen. Zwischenergebnisse wie Arne Westads „The Global Cold War“ oder beispielsweise die Konferenz über die Afroasiatische Welt in den 1950er Jahren in Montreal vom März 2012 zeigen, wie dynamisch sich der Forschungsprozess in diesem Bereich in den letzten zehn Jahren entwickelt hat. Die Geschichte des Internationalismus wiederum ist ein sehr junges Feld, das durch den Auftrieb der Globalgeschichte erst ins Zentrum des wissenschaftlichen Interesses gerückt ist.50 Die Desiderata umfassen unter anderem eine vernetzte Untersuchung 50
Siehe nebst den zitierten Werken von Fisch: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker; Herren: Internationale Organisationen; Mazower: No Enchanted Palace; Manela: The Wilsonian Moment; Westad: The Global Cold War (siehe Anm. 2, 11, 13, 14) auch Monika Kalt: Tiers-
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des kommunistischen Projekts der Weltrevolution, was eine parallele Auswertung der Staats- und der Parteiarchive sozialistischer Länder sowie kommunistischer Parteien erfordert. Die UNO und weitere internationale Organisationen sind bisher fast ausschließlich aus politologischer Perspektive erforscht worden und bedürfen einer kritischen historischen Aufarbeitung; die zitierten Werke von Jörg Fisch, Erez Manela oder Madeleine Herren machen hier einen vielversprechenden Anfang. Ohne die sprachlichen und regionalen Spezialkompetenzen der Area Studies sowie den Willen zur vernetzten Zusammenarbeit zwischen den regionalen Fachbereichen ist diese Arbeit nicht zu leisten. Eine nachhaltig verstandene Globalgeschichte hat dabei vor allem die Aufgabe, lokale Detailstudien entlang aktueller Fragestellungen zu koordinieren und zu einem globalen, postkolonialistischen Gesamtbild zu verweben.
mondismus in der Schweiz der 1960er und 1970er Jahre: Von der Barmherzigkeit zur Solidarität, Bern 2010.
TOD EINES PRIESTERS Der Erinnerungskult um Jerzy Popiełuszko aus globalhistorischer Perspektive Robert Brier Am 30. Oktober 1984 wurden in einem Weichselstausee bei Włocławek, ca. 150 km nordwestlich von Warschau, die sterblichen Überreste des katholischen Priesters Jerzy Popiełuszko gefunden. Der auf brutale Weise gefesselte Leichnam befand sich in einem mit Steinen beschwerten Sack und eine Obduktion zeigte, dass Popiełuszko vor seinem Tod misshandelt worden war. Mit diesem Fund fand eine dramatische Entwicklung ihren vorläufigen Höhepunkt, die elf Tage zuvor begonnen hatte, als der Fahrer des landesweit überaus populären Geistlichen berichtet hatte, dass Popiełuszko von drei Männern in Uniformen der Bürgermiliz – also von Polizeikräften – verschleppt worden sei. Nachdem sein Leichnam gefunden worden war, bestätigte sich schnell das Gerücht, dass es sich bei den Tätern um Offiziere des polnischen Staatssicherheitsdienstes (SB) handelte. Das Begräbnis Popiełuszkos, der sich offen für die seit dem Dezember 1981 in den Untergrund gedrängte Gewerkschaft Solidarność eingesetzt hatte, wurde zu einer Manifestation gesellschaftlichen Widerstands gegen die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (PZPR), an der die führenden Personen der Gewerkschafts- und Oppositionsbewegung sowie nach Schätzungen des SB mehr als 100.000 Personen teilnahmen.1 Um das Grab des ermordeten Geistlichen auf dem Gelände der StanisławKostka-Pfarrei im Warschauer Stadtteil Żoliborz entwickelte sich in den Folgejahren ein elaborierter Erinnerungskult, in dem sich religiöse, nationale und systemkritische Elemente verbanden, und Popiełuszkos Gestalt wurde zum Gegenstand verklärender oder sogar hagiographischer Darstellungen in einer Vielzahl von Publikationen, bildlichen Darstellungen sowie in zwei abendfüllenden Spielfil 1
Eine wissenschaftliche Biographie Popiełuszkos steht noch aus. Solide journalistische Arbeiten sind Georges Mink / Patrick Michel: Mort d’un prêtre. L’affaire Popieluszko. Analyse d’un logique normalisatrice, Paris 1985; Roger Boyes / John Moody: The Priest Who Had to Die, London 1986; Kevin Ruane: Reasons of State. To Kill a Polish Priest, London 2002; Ewa K. Czaczkowska / Tomasz Wiścicki: Ksiądz Jerzy Popiełuszko, 2. erw. Aufl., Warszawa 2008. Siehe auch die Dokumentesammlungen Siegried Lammich: Proces przeciwko zabójcom ks. Jerzego Popiełuszki. Relacja obserwatora i dokumenty, London 1986; Peter K. Raina: Ks. Jerzy Popiełuszko. Męczennik za wiarę i ojczyznę, 2 Bde., London 1986; Jolanta Mysiakowska (Hg.): Aparat represji wobec księdza Jerzego Popiełuszki 1982–1984, Bd. 1, Warszawa 2009.
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men.2 Bis heute ist sein Grab ein beliebtes Pilgerziel und Reliquien des 2010 selig gesprochenen Geistlichen werden neben denen Johannes Paul II. in der Kapelle des „Pantheon der großen Polen“ im „Tempel der göttlichen Vorsehung“ verehrt – einem gewaltigen Nationalheiligtum, das im Süden Warschaus gebaut wird.3 Als Vertreter einer kämpferischen polnischen Geistlichkeit und religiöspatriotischer Märtyrer ist Jerzy Popiełuszko also eine Symbolgestalt par excellence einer spezifisch polnischen Erinnerungskultur. Was hat diese Gestalt mit Globalgeschichte zu tun? Zur Beantwortung dieser Frage sollen im Folgenden zunächst einige grundlegende Überlegungen zur Bestimmung des Gegenstands von Globalgeschichte angestellt werden. In Abgrenzung von Welt- und Universalgeschichte wird Globalgeschichte als Forschungsrichtung bestimmt, die sich durchaus mit meso- oder mikrohistorischen Phänomenen auseinandersetzt, diese jedoch im Kontext globaler Interaktionszusammenhänge betrachtet. Dabei wird gezeigt, dass sich die Ereignisse des Oktober 1984 vor dem Hintergrund des in den 1970er und 1980er Jahren aufkommenden, zunehmend globalen Menschenrechtsdiskurses abspielten. In zwei weiteren Abschnitten werden die Wechselwirkungen zwischen diesem Kontext und den Entwicklungen in Polen skizziert. Dabei wird gezeigt, wie es einerseits der polnischen Opposition gelang, diesen Diskurs für ihre Auseinandersetzung mit der Staats- und Parteiführung zu nutzen. Andererseits wird rekonstruiert, wie die Ereignisse in Polen ihrerseits Gegenstand von internationalen Deutungskonflikten um die Bedeutung der Menschenrechte wurden. Abschließend werden kurz einige allgemeine Überlegungen zum Verhältnis von ostmittel- und osteuropäischer Regionalgeschichte und der Entgrenzung historischer Forschung angestellt.
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Die Filme sind To Kill a Priest, Regie: Agnieszka Holland, Warner Bros. 1988; Popiełuszko. Wolność jest w nas, Regie: Rafał Wieczyński, Kino Świat 2009. Bereits 1791 hatte der polnische Sejm den Bau eines Heiligtums zu Ehren der göttlichen Vorsehung beschlossen: auf diese Weise sollte der Vorsehung für die Verabschiedung der Verfassung vom 3. Mai gedankt werden. Infolge der polnischen Teilungen blieb dieses Projekt unverwirklicht und ein weiterer Versuch in den 1930er Jahren wurde durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs vereitelt. Nach 1989 setzte sich der damalige Primas Kardinal Józef Glemp für den Bau dieses Heiligtums ein, so dass 2002 die Bauarbeiten an dem nun als katholischem Nationalheiligtum konzipierten „Tempel der göttlichen Vorsehung“ begannen. Bis 2011 war nur der Rohbau dieses gewaltigen Kuppelgebäudes fertigstellt. Unterhalb des Tempels befindet sich jedoch das „Pantheon der großen Polen“, in dem bereits mehrere verdiente Vertreter von Staat, Gesellschaft oder Kirche – wie der letzte Exilpräsident Ryszard Kaczorowski oder der ehemalige Außenminister Krzysztof Skubiszewski – ihre letzte Ruhestätte gefunden haben.
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I. DIE MENSCHENRECHTE ALS GLOBALGESCHICHTLICHER KONTEXT DER ERMORDUNG POPIEŁUSZKOS Terminologisch ist die Globalgeschichte natürlich mit früheren Ansätzen einer Universal- oder Weltgeschichte verwandt. Jürgen Osterhammel hat zwei unterschiedliche Ansätze einer Weltgeschichtsschreibung unterschieden. Während es einer „ökumenischen“ Weltgeschichte um „Geschichtsschreibung der jeweils größten denkmöglichen Reichweite“, um eine „Darstellung weitläufiger Erfahrungsräume“ geht, thematisiert eine „planetarisch“ konzipierte Weltgeschichte „die Einheit geografisch verschieden gelagerter Geschichten“ und rückt „‚disparate Handlungsräume’ in einen Gesamtzusammenhang“, um so eine „höher aggregierte“ Historie zu erreichen.4 Im Rahmen einer derart konzipierten Forschung hat die Gestalt Popiełuszkos sicher keinen Platz. Globalgeschichte unterscheidet sich von diesen Ansätzen jedoch durch einen weniger universellen Zugang. Osterhammel hat Globalgeschichte als Geschichte eines „durch Globalisierung gestifteten Weltzusammenhangs“ definiert; sie ist eine „Interaktionsgeschichte innerhalb weltumspannender Systeme.“5 Sie richtet sich dabei nicht notwendig auf die Totalität der Elemente dieser Systeme. Sebastian Conrad und Andreas Eckert verstehen „Globalgeschichte“ zunächst als „Kürzel für Ansätze, die sich für Verflechtung und eine relationale Geschichte der Moderne interessieren, nicht euro-zentrisch argumentieren und nationalgeschichtliche Perspektiven überwinden wollen.“ Sie wird daher auch als „Geschichtsschreibung mit einem Bewusstsein für globale Zusammenhänge“ praktiziert, die „die globalen Horizonte nationaler Geschichte systematisch […] rekonstruier[t] und auf diese Weise die Vorstellung nationaler Einheiten als Container […] revidier[t].“ Sie geht daher nicht notwendig makrohistorisch vor, sondern sucht auch Fragen zu beantworten, die „am Schnittpunkt globaler Prozesse und ihrer lokalen Manifestationen“ aufgeworfen werden.6 Analog zu Clifford Geertz’ programmatischer Aussage, es ginge ihm nicht um die Erforschung von Dörfern, sondern das Forschen in Dörfern, werden nationale Gesellschaften oder kleinräumige Phänomene nicht als repräsentative Fallstudien globaler Prozesse verstanden, sondern als historische Orte, an denen Interaktionen innerhalb weltumspannender Systeme greifbar und analysierbar werden.7 Wie im Folgenden gezeigt werden soll, entfaltete sich der Kult um Popiełuszko vor einem solchen globalen Horizont. Zunächst war dies der Kontext des Ost 4 5 6
7
Jürgen Osterhammel: „Weltgeschichte“: Ein Propädeutikum, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 56 (2005), Hf. 9, S. 452–479, hier 454–456. Ebd., S. 460. Sebastian Conrad / Andreas Eckert: Globalgeschichte, Globalisierung, multiple Modernen. Zur Geschichtsschreibung der modernen Welt, in: Sebastian Conrad / Andreas Eckert / Ulrike Freitag (Hg.): Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen, Frankfurt am Main 2007, S. 7–49, Zitate auf S. 7, 34–35, 28. Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt am Main 1983, S. 32.
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West-Konflikts. Im Dezember 1981 hatte die polnische Staats- und Parteiführung durch die Verhängung des Kriegsrechts die unabhängige Gewerkschaft Solidarność zerschlagen. Die US-Regierung setzte daraufhin bei ihren europäischen Verbündeten durch, dass Polen diplomatisch isoliert sowie insbesondere die weitere wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Warschau und die Vergabe von Krediten an drei Bedingungen geknüpft wird: Beendigung des Kriegsrechts, Freilassung aller Internierten und politischen Gefangenen sowie Wiederaufnahme eines gesellschaftlichen Dialogs unter Einschluss der Solidarność und ihrer gewählten Vertreter sowie von Vertretern der katholischen Kirche.8 Die Ermordung Popiełuszkos fiel in eine Zeit, in der die polnische Führung unter General Wojciech Jaruzelski durch eine Reihe von Maßnahmen – eine Amnestie und die Zulassung eines neuen Gewerkschaftsbundes – signalisieren wollte, dass sie die Forderung des Westens erfüllt habe.9 Insbesondere im Kontext erster Besuche westlicher Politiker in Polen und angesichts des internationalen Interesses am Schicksal Popiełuszkos machte sich die Opposition diese Situation zu nutze, indem sie den Umgang der Staats- und Parteiführung mit den Mördern des Warschauer Priesters zum Testfall der tatsächlichen Reformbereitschaft der PZPR erklärte. Westliche Politiker, die nach Polen kamen, nahmen diesen Faden auf, so dass ein demonstratives Treffen mit Oppositionellen am Grab Popiełuszkos zum festen Bestandteil eines ritualisierten Ablaufs ihrer Besuche in Polen wurde. Die Ereignisse um Popiełuszkos Tod und ihre Folgen standen jedoch noch in einem zweiten globalen Kontext, den der Politologe Tim Dunne „eine der bedeutendsten normativen Verschiebungen in der Geschichte der Weltpolitik“ genannt hat: die „Ausweitung des internationalen Rechts vom exklusiven Recht souveräner Staaten hin zur Anerkennung der Rechte aller Individuen kraft ihrer Zugehörigkeit zur Menschheit.“10 Am Aufkommen dieses Menschenrechtsdiskurses waren ostmittel- und osteuropäische Dissidenten und Oppositionsgruppen maßgeblich beteiligt und auch Popiełuszko wurde zu einer Symbolgestalt dieses zunehmend weltweiten Diskurses. Bei der Diskussion dieses Aspekts des Erinnerungskultes an Popiełuszko soll 8
9 10
Zur US-Polenpolitik siehe Gregory F. Domber: Supporting the Revolution. America, Democracy, and the End of the Cold War in Poland, 1981–1989, PhD thesis, George Washington University, 2007; zur Polenkrise und der Reaktion des Westens insgesamt siehe Helene Sjursen: The United States, Western Europe and the Polish Crisis. International Relations in the Second Cold War, Houndmills 2003; Patryk Pleskot: Determinacja, appeasement czy Realpolitik? Polityczne reakcje państw zachodnich wobec fenomenu ,Solidarności‘, in: Łukasz Kamiński / Grzegorz Waligór (Hg.): NSZZ Solidarność 1980–1989, Bd. 7: Wokół Solidarności, Warszawa 2010, S. 81–166. Andrzej Paczkowski: Boisko wielkich mocarstw. Polska 1980–1989. Widok od wewnątrz, in: Polski Przegląd Dyplomatyczny 2 (2002), Hf. 3, S. 165–210. Tim Dunne: „The Rules of the Game Are Changing“. Fundamental Human Rights in Crisis after 9/11, in: International Politics 44 (2007), S. 269–286, hier 284; vgl. auch Bruce Mazlish: Die neue Globalgeschichte, in: Zeitschrift für Weltgeschichte 3 (2002), Hf. 1, S. 9–22, hier 19.
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ein weiteres Charakteristikum von Globalgeschichte zum Tragen kommen. Der Ansatz der folgenden Ausführungen bleibt zwar auf den nordatlantischen Raum beschränkt, er ist also europazentriert; er folgt Conrad und Eckert aber dahingehend, Brüche, Zufälle und Machtstrukturen in globalen Entwicklungen offenzulegen, um so ein auf die westliche Moderne zentriertes teleologisches Erfolgsnarrativ zu überwinden.11 Gerade neuere Arbeiten zur Geschichte der Menschenrechte haben wesentlich davon profitiert, dass sie das Aufkommen der Menschenrechte nicht als Entfaltung eines im „judeo-christlichen Erbe“ oder der Aufklärung angelegten Entwicklungspotentials verstehen. Vielmehr wurde gezeigt, dass das von Dunne zusammengefasste Verständnis von Menschenrechten ein relativ junges Phänomen ist. Zwar haben Begriff und Idee universeller Menschenrechte eine vergleichsweise lange Geschichte; zum Bezugspunkt eines breiten transnationalen Aktivismus wurden sie jedoch erst in den 1970er Jahren als unterschiedliche Gruppen sie als Alternative zu diskreditierten Projekten umfassender gesellschaftlicher Veränderung wahrzunehmen begannen.12 Das Aufkommen der Menschenrechte ist demnach nicht das Ergebnis einer linearen Erfolgsgeschichte, sondern das kontingente Resultat der Verarbeitung von Krisenerfahrungen und der daraus folgenden politischen Deutungskonflikte. In diesem Sinne wird dieses normative System auch hier thematisiert, indem gezeigt wird, wie unterschiedliche internationale Akteure versucht haben, sich der symbolischen Gestalt Popiełuszkos zu bemächtigen, um ihren eigenen politischen Projekten Legitimität zu verleihen. II. POPIEŁUSZKOS GRAB ALS ORT TRANSNATIONALER SYMBOLPOLITIK Jerzy Popiełuszko wurde am 14. September 1947 in Okope, einem Dorf im Nordwesten Polens als drittes von fünf Kindern geboren. Schon als Jugendlicher tief religiös trat er nach dem Abitur 1965 in das Priesterseminar der Erzdiözese Warschau ein und wurde 1972 vom damaligen Primas Polens, dem Warschauer Erzbischof Kardinal Stefan Wyszyński, zum Priester geweiht. Mit seiner Weihe änderte er seinen Vornamen von Alfons – im Polnischen ein Synonym für Zuhälter – zu Jerzy Aleksander.13 11 12
13
Vgl. Conrad / Eckert: Globalgeschichte, S. 29–32 (wie Anm. 6). Samuel Moyn: The Last Utopia: Human Rights in History, Cambridge 2010; ders. / Jan Eckel (Hg.): Moral für die Welt? Menschenrechtspolitik in den 1970er Jahren, Göttingen 2012; für eine Diskussion der Forschungsliteratur siehe Kenneth Cmiel: The Recent History of Human Rights, in: The American Historical Review 109 (2004), Hf. 1, S. 117–135; Jan Eckel: Utopie der Moral. Kalkül der Macht. Menschenrechte in der globalen Politik seit 1945, in: Archiv für Sozialgeschichte 49 (2009), S. 437–484. Zum Folgenden vgl. Kevin Ruane: Racja stanu. Zabić księdza, Kraków 2004, S. 9–148.
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Ursprünglich war Popiełuszko aufgrund gesundheitlicher Probleme mit der eher unwichtigen Seelsorge von Krankenhausmitarbeitern betraut worden. Erst durch eine Messe, die er im Sommer 1980 für Arbeiter der Warschauer Stahlhütte zelebrierte, fand er seine Lebensaufgabe. Die Stahlarbeiter hatten um diesen Gottesdienst gebeten, weil sie ihren Betrieb in einem Solidaritätsstreik mit den Werftarbeitern an der polnischen Ostseeküste besetzt hielten und daher nicht verlassen konnten. Für Popiełuszko begann mit diesem Gottesdienst ein intensives Engagement für die unabhängige Gewerkschaftsbewegung Solidarność, die ihn zu ihrem Kaplan für die Warschauer Region (Wojwodschaft Mazowsze) machen sollte. Nach Verhängung des Kriegsrechts setzte sich Popiełuszko für die Familien internierter Gewerkschaftsmitglieder ein, und die von ihm an jedem letzten Sonntag im Monat zelebrierten und von Warschauer Schauspielern mitgestalteten „Messen für das Vaterland“ wurden zu religiös und national aufgeladenen Manifestationen des Selbstbehauptungswillens der systemkritischen Teile der Warschauer Bevölkerung, an denen mehrere tausend Menschen teilnahmen.14 Neben dem Pfarrer der Danziger Brigittenkirche Henryk Jankowski war Popiełuszko also einer der landesweit bekanntesten Geistlichen, die sich offen für die Solidarność einsetzten. Während Johannes Paul II. Popiełuszkos Arbeit – soweit er von ihr wusste – eher aufgeschlossen gegenüberstand, sah Kardinal Józef Glemp, Wyszyńskis Nachfolger als Primas Polens und Erzbischof von Warschau, die Tätigkeit des Kaplans aus Żoliborz sehr kritisch, da sie mit seiner eher diplomatischen Linie kollidierte.15 Vor allem aber war Popiełuszko schon vor 1984 ins Visier des polnischen Innenministeriums geraten; bereits vor seiner Ermordung war 1984 mit fingierten Beweisen ein Prozess gegen ihn angestrebt worden, der aber im Rahmen einer Amnestie für politische Gefangene wieder eingestellt wurde.16 Die Nachricht seiner Entführung wurde zum bestimmenden innenpolitischen Thema in Polen und sein Begräbnis zu einer politischen Massendemonstration gegen Polens kommunistische Partei. Das Requiem wurde von Glemp und damit Polens höchstem kirchlichen Würdenträger zelebriert und an seinem Grab sprach u.a. Lech Wałęsa; Popiełuszko wurde die Standarte der Warschauer Solidarność – also einer verbotenen Organisation – mit ins Grab gelegt, der provisorische Grabstein wies ihn als „Kaplan der Solidarność, ermordet von Offizieren des Innenministerium – Mitgliedern der PZPR“ aus und viele der anwesenden Gläubigen trugen Transparente mit der berühmten „solidaryca“, dem Solidarność-Logo.17 In den Folgejahren entwickelte sich an der letzten Ruhestätte Popiełuszkos ein elabo 14
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Zu den Messen für das Vaterland siehe die Angaben der Warschauer Stadtverwaltung in einem Brief an die Warschauer Erzdiözese in Raina: Ks. Jerzy Popiełuszko (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 99–102. Czaczkowska / Wiścicki: Ksiądz Jerzy Popiełuszko (wie Anm. 1), S. 215–221. Ruane: Racja stanu (wie Anm. 13), S. 86–148. Siehe die Fotografien in Zdzisław Sumara: Wystawa fotografii w 20 rocznicę śmierci Patrona „Solidarności“ ks. Jerzego Popiełuszki, Tuchów 2004, S. 37, 39–40.
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rierter Märtyrerkult. Auch vor der Wiederzulassung der Solidarność war die solidaryca das dominierende Symbol der an der Grabstätte niedergelegten oder zurückgelassenen Kränze und Transparente.18 Popiełuszkos Verschwinden rief jedoch nicht nur ein erhebliches gesellschaftliches Echo, sondern auch eine vielleicht überraschende Reaktion von Partei und Staatsgewalt hervor: Noch in der Nacht des 19. Oktober begannen staatliche Untersuchungsbehörden eine Suchaktion und zwei Tage später trat eine mit hochrangigen Funktionären besetzte Sonderkommission des Innenministeriums zur Aufklärung von Popiełuszkos Verschwinden zusammen. Aufgrund der Aussagen von Popiełuszkos Fahrer Chrostowski wurden am 25. Oktober drei Offiziere des SB als mutmaßliche Täter verhaftet; in den folgenden Tagen verurteilte das zu diesem Zeitpunkt tagende Plenum des ZK die Entführung, und Innenminister Czesław Kiszczak berichtete in einer Fernsehansprache am 27. Oktober 1984 über den Stand der Ermittlungen. Jaruzelski und Kiszczak versprachen Aufklärung sowie eine Revision im Innenministerium; der für die politische Aufsicht über den SB zuständige ZK-Sekretär trat von seinem Amt zurück und der Leiter des SB wurde vorübergehend beurlaubt.19 Am 10.12.1984 erhob die zuständige Staatsanwaltschaft Thorn Anklage gegen die drei Offiziere und ihren Vorgesetzten; am 27.12.1984 begann der Prozess, der bereits sechs Wochen später mit langjährigen Haftstrafen für die Angeklagten endete; für einen Angeklagten hatte die Staatsanwaltschaft sogar die Todesstrafe gefordert.20 Bis heute ist die Rolle der Staats- und Parteiführung in den Ereignissen um Popiełuszkos Tod unklar. Die auch von seriösen polnischen Historikern vertretene These, im Februar 1985 habe das Politbüro die von ihm selbst gedungenen Mörder Popiełuszkos in einem Schauprozess verurteilt, ist eher unwahrscheinlich.21 Wichtiger ist jedoch die Tatsache, dass Popiełuszkos Tod in einem Umfeld stattfand, in dem die Parteiführung diese Tat gar nicht hätte unter den Teppich kehren können, ohne ihre politischen Ziele erheblich zu gefährden. Anders als dies ein Erfolgsnarrativ vom ungebrochenen Widerstandswillen der polnischen Gesellschaft nahelegt, befand sich die Opposition 1984 in einer tiefen Krise. Das Experiment der Solidarność war über Nacht erstickt worden und führende Gewerkschaftsfunktionäre und ihre intellektuellen Berater hatten fast drei Jahre in realsozialistischen Internierungslagern oder Gefängnissen verbracht. Die erwähnte Amnestie von 1984, durch die die meisten politischen Gefangenen frei kamen, kann daher auch als Zeichen der Konsolidierung von Jaruzelskis Normalisierungspoli 18
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Für eine eingehende Analyse siehe Barbara Badora / Joanna Szymańska: Kult ks. Jerzego Popiełuszki w świetle danych statystycznych i świadectw materialnych, in: Kultura i społeczeństwo 37 (1993), Hf. 3, S. 45–68. Lammich: Proces przeciwko zabójcom (wie Anm. 1), S. 17, Auszüge aus den Statements von Kiszczak und dem ZK auf S. 49–50. Czaczkowska / Wiścicki: Ksiądz Jerzy Popiełuszko (wie Anm. 1), S. 288–289. Vgl. Katarzyna Stokłosa: Polen und die deutsche Ostpolitik 1945–1990, Göttingen 2011, S. 466.
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tik verstanden werden. In dieser Situation führte der Tod Popiełuszkos – zunächst natürlich eine Tragödie – zu einer Revitalisierung der Oppositionsbewegung, denn er stellte eine der wichtigsten Ressourcen von Oppositionspolitik in der Volksrepublik Polen bereit: internationale Öffentlichkeit. Die Erforschung sozialer Bewegungen hat gezeigt, dass ein wesentliches Ziel gewaltloser Opposition darin besteht, Öffentlichkeit für die eigenen Anliegen herzustellen, um vor diesem Hintergrund eine gewisse Interpretation („frame“) gesellschaftlicher Wirklichkeit zu etablieren, die die Legitimität oppositioneller Ziele steigert und die der Gegenseite infrage stellt.22 In der Volksrepublik Polen fand die Herstellung einer alternativen Öffentlichkeit zu einem wesentlichen Teil international vermittelt statt. Neben dem polnischen Samizdat – dem sogenannten „zweiten Umlauf“ – waren die polnischsprachigen Programme westlicher Radiostationen wie insbesondere Radio Freies Europa eine der wichtigsten Quellen unabhängiger Informationen. Zu einem wesentlichen Teil gründete die Berichterstattung dieser Sender auf den Nachrichten, die westliche Korrespondenten in Polen lieferten. Auf diese Weise bildeten die Radioprogramme eine Art „feedback loop“, über den die Berichterstattung westlicher Korrespondenten aus Polen auch die polnische Gesellschaft selbst erreichte.23 Westliches Interesse an Ereignissen in Polen war daher von grundlegender Bedeutung für die Oppositionsbewegung. Nachdem Polen in den Jahren seit dem Dezember 1981 etwas vom Radar internationaler Aufmerksamkeit verschwunden war, richtete der Tod Popiełuszkos das Interesse westlicher Öffentlichkeit wieder nach Ostmitteleuropa. Hatte die Tätigkeit des Kaplans der Solidarność bereits eine gewisse Rolle in der westlichen Berichterstattung über Polen gespielt, wurde die Nachricht von seinem Schicksal – neben der Ermordung Indira Ghandis – die Hauptschlagzeile der westeuropäischen und nordamerikanischen Presse am 31. Oktober 1984. Präsident Ronald Reagan etwa gab eigens eine Presseerklärung zu diesem Ereignis heraus.24 Von Beginn an nutzten polnische Oppositionelle diese Aufmerksamkeit, um Informationspolitik zu betrieben: Sie wandten sich an westliche Journalisten, ga 22 23
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David A. Snow u.a.: Frame Alignment Processes, Micromobilization and Movement Participation, in: American Sociological Review 51 (1986), Hf. 4, S. 464–481. Eine Wirkungsgeschichte dieser Radiosender in Polen steht noch aus. Sicher ist jedoch, dass die beschriebene Funktion des „feedback loops“ von den relevanten historischen Akteuren wahrgenommen wurde. Für die Sicht der Staatsmacht vgl. Andrzej Paczkowski: Models of Visits by Western Politicians. Poland and Western Diplomats in 1987, in: Cold War History 3 (2003), Hf. 3, S. 127–143, hier 137; für die Sicht eines Oppositionellen siehe Adam Michnik: Polska na pierwszej stronie – wystawa w ,Gazecie Wyborczej‘, in: Gazeta Wyborcza, 30.09.2002; vgl. auch Paweł Machcewicz: „Monachijska menażeria“. Walka z radiem Wolna Europe, Warszawa 2007. Ronald Reagan, Statement on the Death of Father Jerzy Popiełuszko of Poland, 31.10.1984, The Public Papers of President Ronald Wilson Reagan (PPRR), , 06.12.2011. Siehe die Titelseiten von Le Monde, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, des Londoner Guardian sowie der New York Times und der Washington Post vom 31. Oktober 1984. Der Prozess gegen Popiełuszkos Mörder war die Titelgeschichte der Ausgabe 5/1985 des Hamburger Spiegel vom 28.01.1985.
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ben Interviews und organisierten Pressekonferenzen, in denen sie eine alternative Interpretation des Verschwindens und der Ermordung Popiełuszkos sowie der Rolle der Partei bei der Aufklärung dieser Ereignisse bereitzustellen versuchten. Im Umfeld von Popiełuszkos Tod riefen mehrere Intellektuelle ein „Bürgerkomitee gegen Gewalt“ ins Leben und gaben eine Erklärung heraus. Zur Gründung des Komitees wurden wie selbstverständlich westliche Korrespondenten eingeladen.25 Besondere Aktivität entwickelte hier der spätere Verteidigungsminister und frühere Pressesprecher der Solidarność Janusz Onyszkiewicz. Auf dem Grundstück von Popiełuszkos Pfarrei organisierte er eine Anlaufstelle für westliche Korrespondenten, und er nutzte seine guten Kontakte zu westlichen Botschaften für eine unabhängige Informationspolitik.26 Mit der Verurteilung der Mörder Popiełuszkos nahm das Interesse an seinem Schicksal zwar abrupt ab. Gleichzeitig hatte seine Gestalt durch die Ereignisse zwischen dem Oktober 1984 und dem Februar 1985 aber einen festen Platz in den internationalen Beziehungen Polens erhalten. Bis 1990 besuchten mehr als 90.000 Ausländer aus ganz Westeuropa und Nordamerika, aber auch aus der DDR, der Sowjetunion, China, Indien und Lateinamerika die Ruhestätte Popiełuszkos.27 Offensichtlich stellte sich Popiełuszkos ehemalige Pfarrei auf diese Besuchergruppen ein. Ab 1986 brachte sie Informationsbroschüren zu Popiełuszko in westlichen Sprachen heraus.28 Bei diesen Besuchern handelte es sich nicht allein um kirchliche Würdenträger oder Pilgergruppen, sondern auch politische Repräsentanten; Vertreter westlicher Botschaften hatten bereits der Beerdigung Popiełuszkos beigewohnt. Weiter hatten die westeuropäischen NATO-Staaten die Amnestie von 1984 zum Anlass genommen, mit einer schrittweisen Normalisierung der Beziehungen zu Polen zu beginnen. Der Tod Popiełuszkos bedeutete einen Rückschlag für diese Bemühungen. Daher suchten die Westeuropäer einen Weg, die Beziehungen zu Polen zu normalisieren, ohne die Ereignisse vom Oktober 1984 zu ignorieren. Im Zuge
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Bei einem Empfang des österreichischen Botschafters am 26. Oktober 1984 war Onyszkiewicz ein gefragter Gesprächspartner, bei dem sich u.a. der westdeutsche charge d’affaires oder Mitarbeiter der schwedischen Botschaft nach seiner Einschätzung der Entführung von Popiełuszko erkundigten. Vgl. Archiwum Instytutu Pamięci Narodowej (AIPN), BU 0204/1421, t. 9, Bl. 216–217, Notatka urzędowa, November 1984. AIPN, 0248/44, t. 2, Bl. 12, J. Pilecki an J. Podolski, 27.10.1984; zu den Aktivitäten Onyszkiewiczs insgesamt siehe die Dokumente in AIPN, 0248/44, t. 2, Bl. 26–41. Badora / Szymańska: Kult ks. Jerzego Popiełuszki (wie Anm. 18), S. 47. Zu den Herkunftsländern ausländischer Besuchergruppen siehe die Eintragungen ins Gästebuch Wanda Spalińska (Hg.): Gałązka oliwna. Z Księgi Pamiątkowej żoliborskiego sanktuarium, Warszawa 1991. Vgl. Antoni Lewek: New Sanctuary of Poles. The Grave of Martyr – Father Jerzy Popiełuszko, Warszawa 1986.
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dieser Bemühungen entstand eine Art ritualisierte Form westlicher Besuche in Polen, in der Popiełuszkos Grab einen festen Platz einnahm.29 Der erste offizielle Besucher aus dem Westen war der Staatssekretär im britischen Foreign Office Malcolm Rifkind.30 Seine seit Monaten geplante Reise fiel in die Zeit kurz nach dem Begräbnis des Warschauer Kaplans.31 In Warschau angekommen besuchte Rifkind das Grab von Popiełuszko und hielt dort eine kurze Rede. Darüber hinaus traf er sich mit Tadeusz Mazowiecki, Onyszkiewicz und Bronisław Geremek, äußerte ihnen gegenüber seine Skepsis bezüglich der Maßnahmen der Regierung und sprach Menschenrechtsfragen in bilateralen Gesprächen an.32 Damit hatte Rifkind einen Standard gesetzt: Ein geplanter Besuch HansDietrich Genschers in Polen wurde u.a. wegen des Wunsches, das PopiełuszkoGrab zu besuchen, im letzten Moment abgesagt, auch wenn hier andere Fragen wichtiger gewesen sind.33 Für den italienischen Außenministers Giulio Andreotti, der kurz nach Weihnachten 1984 nach Warschau kam, wurde in Popiełuszkos Pfarrkirche vom Sekretär der polnischen Bischofskonferenz eigens ein Pontifikalamt zelebriert.34 Mit der Visite von Andreottis britischem Kollegen Geoffrey Howe im April 1985 schließlich wurden ein Besuch des Grabs Popiełuszkos und ein Treffen mit der polnischen Opposition zum festen Bestandteil der Programme westlicher Politiker in Polen.35 Bis 1989 kamen neben Johannes Paul II. u.a. auch US-Senator Edward Kennedy, US-Vizepräsident George Bush sowie HansDietrich Genscher und Margaret Thatcher zum Grab Popiełuszkos.36 An die Gestaltung dieser Treffen mit westlichen Politikern gingen die Oppositionellen durchaus strategisch heran. Dies lässt sich anschaulich an Edward Kennedys Besuch von 1987 verdeutlichen. Bereits 1986 hatte der US-Senator den Gewerkschaftsfunktionär Zbigniew Bujak, den Intellektuellen Adam Michnik sowie posthum Jerzy Popiełuszko mit dem Robert-F.-Kennedy-Menschenrechtspreis ausgezeichnet. Ursprünglich war den Polen dieser Preis in Abwesenheit im Rahmen einer Zeremonie in New York verliehen worden. Angesichts des mit dem Namen „Kennedy“ verbundenen symbolischen Kapitals versuchte vor allem Ja 29
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Patryk Pleskot: Potępić, nie obrazić. Reakcje zachodniej dyplomacji na zabójstwo ks. Jerzego Popiełuszki, in: Wojciech Polak u.a. (Hg.): Kościół w obliczu totalitaryzmów, Toruń 2010, S. 65–76. Davor war bereits Hans-Jochen Vogel in Warschau. Als Oppositionspolitiker kam er allerdings als Vertreter der SPD und nicht der Bundesregierung. Murder of Priest Casts Shadow over Rifkind Visit, in: The Times, 05.11.1984. Roger Boyes, Rifkind Tribute to Polish Priest, in: The Times, 06.11.1984. Archiwum Akt Nowych (AAN), KC PZPR, LXXVI–633, n.p., Informacja o wizycie członka Biura Politycznego, Sekretarza KC PZPR tow. Kazimierza Barcikowskiego w Republice Federalnej Niemiec, 10–11–XII.1984 r. Lewek: New Sanctuary (wie Anm. 28), S. 6–7. Roger Boyes: Solidarity Hails West’s Gesture, in: The Times, 15.04.1985. AIPN, BU 01304/920, Bl. 1–4, Informacja dot. pobytu w Polsce senatora Edwarda Kennedy’ego, 19.06.1987.
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nusz Onyszkiewicz, dieser Preisverleihung einen entsprechenden Rang zuzuweisen. So leitete er über die US-Botschaft Tonbänder mit Statements von Michnik und Bujak weiter und machte Vorschläge zur musikalischen Gestaltung der Feier.37 Gegenüber einer Zeitung aus Chicago erklärte Onyszkiewicz die ablehnende Haltung der polnischen Regierung gegenüber einer Reise Kennedys nach Polen damit, die Regierung sei sich bewusst, dass der Senator von Michnik und Bujak eingeladen wurde und ein Treffen mit Jaruzelski nur ein Anhängsel dieser Treffen wäre.38 Ende 1986 signalisierte die polnische Regierung, eine mögliche Änderung ihrer Haltung, forderte aber Zugeständnisse der amerikanischen Seite. Onyszkiewicz insistierte daraufhin gegenüber dem amerikanischen charge d’affaires darauf, dass es keine Änderung des Programms geben dürfe, sondern dass klar bleiben müsse, dass Kennedy auf Einladung von Michnik und Bujak komme.39 Auch versuchte er Michnik dazu zu überreden, auf den Vorschlag von Kennedys Stab einzugehen, dass der Empfang zur Verleihung des Preises bei Michnik in der Wohnung stattfinde, was dieser aber angesichts des dort herrschenden Chaos ablehnte.40 Letztlich ließ sich diese Ausrichtung von Kennedys Reise auf die Opposition nicht umsetzen. Die polnische Seite stimmte einem Besuch erst nach weitgehenden Zugeständnissen des Stabs des Senators zu, die eine zu große Publizität des „privaten“ Teils seines Programms verhindern sollten; auch unterschied Kennedy klar zwischen einem offiziellen Teil, den er als Senator und Mitglied des auswärtigen Ausschusses absolvierte, und einem Teil, den er als Privatperson absolvierte und in dessen Rahmen er den Menschenrechtspreis verlieh. Sehr zum Unwillen seiner Gastgeber brach Kennedy jedoch die meisten Verabredungen. Zwar führte er eine Reihe diplomatischer Gespräche mit polnischen Parlamentariern und Regierungsvertretern. Der „private“ Teil seiner Reise beinhaltete dann aber einen Besuch beim Grab Popiełuszkos, ein Treffen mit Wałęsa in Danzig, eine Messe für die Brüder Kennedys in der dortigen Brigittenkirche sowie einen Empfang für Michnik und Bujak, bei dem sich Kennedy mit dem „who is who“ der polnischen Opposition umgab. Auch hielt sich Kennedy nicht an die Vorgabe, den Treffen mit der Opposition wenig Publizität zu verleihen; bei allen waren vielmehr westliche Medienvertreter anwesend.41 Auch hier zeigt sich, dass Onyszkiewicz nichts dem Zufall überlassen wollte: Korrespondenten von Reuters oder der „Chicago Tribune“ beschwerten sich, dass sie zu der Preisverleihung für Michnik und Bujak nicht zugelassen wurden; sie 37 38 39 40 41
Siehe die Meldungen des SB vom 07.11.1986 und 18.11.1986 in AIPN, BU, 0248/44, t. 4, Bl. 162–163. AIPN, BU 0248/44, t. 4, Bl. 168–169, D. Godlewski, Meldunek uzupełniający 696 spraw operacyjnego rozpracowania WA 0 30545, 17.12.1986. AIPN, BU 0248/44, t. 4, Bl. 170–171, D. Godlewski, Meldunek uzupełniający 697 spraw operacyjnego rozpracowania WA 0 30545, 17.12.1986. AIPN, BU 0248/134, t. 4, Bl. 128–131, Notatka dot. Adama Michnika, ohne Datum. AIPN, BU 01304/920, Bl.1–4, Informacja (wie Anm. 35).
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vermuteten, dass Onyszkiewicz dies zusammen mit der Botschaft durchgesetzt hatte, da sich die zugelassenen Korrespondenten der „New York Times“ und der „Washington Post“ die Ansichten der Opposition stärker zu eigen machten als andere amerikanische Journalisten.42 Diese Informationspolitik der Opposition setzte die Parteiführung innen- wie außenpolitisch unter Druck. Innenpolitisch bedeuteten die Treffen mit westlichen Politikern einen Prestigegewinn für eine Oppositionsbewegung, deren gesellschaftliche Unterstützung zunehmend abnahm. Außenpolitisch machte sich der Westen mit den symbolischen Gesten die Behauptung der Opposition zu Eigen, dass Warschau die westlichen Forderungen vom Januar 1982 noch nicht erfüllt habe. Wie wichtig dieser internationale Kontext für Staats- und Parteiführung gewesen zu sein scheint, zeigt die offensive Art mit der sie mit der Ermordung Popiełuszkos umging. So gab Jaruzelski im Zusammenhang mit den Ereignissen des Herbst 1984 seine erste Pressekonferenz für westliche Auslandsjournalisten und ließ dabei auch nicht vorbereitete Fragen zu.43 Weiter wurden zu dem Popiełuszko-Prozess westliche Korrespondenten und internationale Prozessbeobachter zugelassen.44 Letzteres war bei den großen politischen Prozessen gegen die Führung der Solidarność oder die Gründungsmitglieder des Komitees zur Verteidigung der Arbeiter abgelehnt worden.45 Die Selbstdarstellung der Partei als energische Aufklärer des Verbrechens vom Oktober 1984 scheint also auch an ein internationales Publikum gerichtet gewesen zu sein. Auch der Gestaltung westlicher Besuchsprogramme maß man erhebliche Bedeutung bei. Nicht nur der Reise Kennedys gingen zähe Verhandlungen voraus, in deren Zentrum das Bemühen der Partei stand, die Gäste aus dem Ausland von Treffen mit Oppositionellen abzubringen oder zumindest Gespräche mit Regierungsvertretern als „offiziellen Teil“ der Staatsbesuche zu definieren, die dann von einem „inoffiziellen“ oder „privaten“, möglichst klein zu haltenden Teil abgegrenzt wurden. Westliche Besucher insistierten jedoch oftmals auf einem möglichst breiten, privaten Besuchsprogramm.46 Im Oktober 1987 diskutierte das ZK schließlich, wie mit einem „verfestigten Szenario der NATO-Besuche (Blumen am Grab Popiełuszkos)“ umzugehen sei.47 Noch 1988 zeigte sich Jaruzelski bei einer Sitzung des ZKs erbost über das Anliegen der britischen Premierministerin, Popiełuszkos Grab zu besuchen: „dieses miese Weib [paskudna baba], die Angli 42 43 44 45 46 47
AIPN, BU 0248/134/4, Bl. 104–105, Załącznik do informacji dziennej, 1987.05.26. Pierwsze oceny zachodnich obserwatorów wizyty senatora Edwarda Kennedy’ego, tajne. Dieter Wild: Indira Gandhi hat Polen einen Dienst erwiesen, in: Der Spiegel, 10.12.1984. Lammich: Proces przeciwko zabójcom (wie Anm. 1), S. ###. Archiv der sozialen Demokratie, DGB-Archiv, 5/DGAJ000292, n.p., Ernst Breit an Tadeusz Olechowski, 4.7.1984, Antwortschreiben Olechowskis vom 9.7.1984. Vgl. etwa zum Besuch von Bush 1987 AAN, KC PZPR, mf. 3191, Bl. 158, Protokół nr 46 z posiedzenia Biura Politycznego KC PZPR wraz z załącznikami, 6.X.1987 r. Paczkowski: Models of Visits by Western Politicians (wie Anm. 23), S. 138.
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kaner können die Papisten doch gar nicht ausstehen und sie fängt [ihren Besuch] mit Popiełuszko an.“48 Die Bedeutung, die diesen symbolischen Gesten seitens der PZPR beigemessen wurde, lässt sich nicht zuletzt auch daran ablesen, dass es fester Bestandteil der Nachbereitung westlicher Staatsbesuche war, den Mitgliedern des Politbüro eine Einschätzung vorzulegen, wie westliche Diplomaten und Korrespondenten den Besuch wahrgenommen hatten und welche Seite in den innerpolnischen Konflikten am meisten von den Besuchen profitiert hatte.49 Popiełuszkos Grab war also nicht nur innerpolnisch ein umkämpfter Erinnerungsort. Es wurde auch zum Schauplatz einer am Schnittpunkt von Innen- und Außenpolitik angesiedelten Symbolpolitik, durch die drei Akteursgruppen – die polnische Opposition, die PZPR und westliche Politiker – versuchten, spezifische Bedeutungen zu kommunizieren. Wenn hier der Begriff der „Symbolpolitik“ gebraucht wird, dann wird dadurch auf den von Karl Rohe als „Deutungskultur“ bezeichneten Fundus von Symbolen und die durch sie kommunizierten Ideen und Wertvorstellungen verwiesen, derer sich historische Akteure ganz bewusst und bisweilen sogar instrumentell bedienen, um ihren politischen Projekten Legitimität zu verschaffen. Eine Analyse deutungskultureller Konflikte ermöglicht aber auch Aufschluss über ihren soziokulturellen Kontext, d.h. diejenigen Ordnungsvorstellungen und Bedeutungsstrukturen, die den unhinterfragten common sense, die von Pierre Bourdieu als doxa bezeichnete Möglichkeitsbedingung politischer Kommunikation bilden.50 Diesem politisch-kulturellen Resonanzboden ist der folgende Abschnitt gewidmet. Die These dieser Ausführungen ist, dass die symbolpolitischen Auseinandersetzungen um Popiełuszkos Grab eine Reihe von Diskursfäden der politisch-intellektuellen Debatten der Achtziger Jahre bündelten und somit eine transnationale Perspektive auf die Veränderungen politischer Kultur dieser Zeit eröffnen. III. DIE SITUATION IN POLEN UND DIE AUSEINANDERSETZUNG UM DIE MENSCHENRECHTE „Die Menschenrechte,“ so Stefan-Ludwig Hoffmann, „gehören in der Gegenwart zu den wichtigsten Glaubensartikeln liberaler Demokratien. Wer die Menschenrechte anzweifelt, stellt sich anscheinend außerhalb der Grenzen einer universel 48 49 50
Pleskot: Potępić, nie obrazić (wie Anm. 29), S. 74. Zum Besuch Bushs siehe die Dokumente in AIPN, BU 01304/892, Bl. 1, 7–19. Karl Rohe: Politische Kultur. Zum Verständnis eines theoretischen Konzepts, in: Oskar Niedermayer / Klaus von Beyme (Hg.): Politische Kultur in Ost- und Westdeutschland, Berlin 1994, S. 1–21; für Überlegungen, die zu ähnlichen Ergebnissen führen, wie Rohes Unterscheidung in Deutungs- und Soziokultur vgl. Quentin Skinner: Visions of Politics, 3 Bde., Cambridge 2002, Bd. 1, S. 145–175 und Bd. 2, S. 344–367; zur politischen Soziologie Bourdieus siehe Pierre Bourdieu: Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft, Konstanz 2001.
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len Moral im Zeitalter von Weltinnenpolitik. [...] Die Menschenrechte sind die Doxa unserer Zeit, jene Überzeugungen einer Gesellschaft, die als verinnerlichte, evidente Ordnung stillschweigend vorausgesetzt werden und den Raum des Denkbaren und Sagbaren umgrenzen.“51 Die historische Forschung hat gerade erst damit begonnen, den Prozess nachzuzeichnen, in dem die Menschenrechte seit 1945 diese Stellung erlangt haben.52 In Bezug auf die Rolle der Dissidenten und Oppositionsbewegungen Ostmittel- und Osteuropas für diesen Prozess verengt der in der Literatur zum Ost-West-Konflikt häufig anzutreffende Verweis auf den sogenannten „Helsinki-Effekt“ die Perspektive zu stark.53 An dieser Stelle muss jedoch der Verweis genügen, dass die Idee einer globalen normativen, oftmals auch von säkularen Intellektuellen transzendental begründeten Ordnung in Form universeller Menschenrechte auch für die polnische Opposition von zentraler Bedeutung war.54 Ursprünglich hatte die polnische Parteiführung versucht, die Menschenrechtspolitik der Opposition mit dem Hinweis zu kontern, der Westen kenne nur einen formalen Rechtsanspruch; im Sozialismus würden demgegenüber die sozialen und ökonomischen Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben geschaffen.55 Der Umgang der Parteiführung mit dem Fall Popiełuszko zeigt aber, dass es der Opposition durch ihre Außen- und Informationspolitik gelungen zu sein scheint, die PZPR hier ideologisch in die Defensive zu drängen. Zwar wurde z.B. die Strafverfolgung in Polen menschenrechtlichen Standards in keiner Weise gerecht; die Vorwürfe waren zumeist absurd, politische oder propagandistische Erwägungen spielten eine größere Rolle als juristische Fragen und auf die Gerichte wurde erheblicher Einfluss ausgeübt.56 Gleichwohl war es z.B. Adam Michnik möglich, 51
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Stefan-Ludwig Hoffmann: Einführung: Zur Genealogie der Menschenrechte, in: Ders. (Hg.): Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2012, S. 7–37, hier 7. Siehe die Angaben in Anm. 12. Für eine paradigmatische, stark vereinfachende Studie siehe Daniel C. Thomas: The Helsinki Effect. International Norms, Human Rights, and the Demise of Communism, Princeton 2001; differenzierter argumentiert Sarah B. Snyder: Human Rights Activism and the End of the Cold War. A Transnational History of the Helsinki Network, Cambridge, New York 2011; für einen Ansatz, der die ideen- und kulturhistorischen Kontexte in den Blick nimmt, siehe Robert Horvath: „The Solzhenitsyn Effect“. East European Dissidents and the Demise of the Revolutionary Privilege, in: Human Rights Quarterly 29 (2007), S. 879–907; Moyn: The Last Utopia (wie Anm. 12), S. 120–175. Vgl. etwa Adam Michnik: The Moral and Spiritual Origins of Solidarity, in: William M. Brinton / Alan Rinzler (Hg.): Without Force of Lies. Voices from the Revolution of Central Europe in 1989–1990, San Francisco 1990, S. 239–252. Für ein frühes Beispiel vgl. Krzysztof Kruszewski: Informacja w sprawie dywersyjnej kampanii „obrony praw człowieka i obywatela“, in: Łukasz Kamiński / Paweł Piotrowski (Hg.): Opozycja demokratyczna w Polsce w świetle akt KC PZPR (1976–1980). Wybór dokumentów, Wrocław 2002, S. 53–56. Siehe etwa die Überlegungen zum Berufungsverfahren Adam Michniks vom Januar 1986, AIPN, BU 0248/134/CD/3, Bl. 50–51, Notatka służbowa dot. Adama Michnika, 23.1.1986;
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Texte über seinen Anwalt aus dem Gefängnis zu schmuggeln. Den Behörden waren hier die Hände gebunden, weil das Anwaltsgespräch vertraulich war und der Anwalt nicht durchsucht werden durfte.57 1984 wurde der Gewerkschaftsaktivist Bogdan Lis freigelassen. In einem internen Papier argumentierten die Ermittlungsbehörden, dass es schwierig sein dürfte, die ursprüngliche Anklage wegen Hochverrats zu belegen. In einer Situation „inneren und äußeren Drucks“ würde man sich daher dem propagandistisch schwer entgegenzuwirkenden Vorwurf aussetzen, die Amnestie von 1984 nur unvollständig umgesetzt zu haben.58 Der internationale und gesellschaftliche Druck legte den Behörden also zumindest gewisse normative Grenzen auf. Auch das Verfahren gegen Popiełuszkos Mörder war nicht rechtsstaatlich; die Parteiführung nahm erheblichen Einfluss auf das Untersuchungsverfahren und den Prozessverlauf.59 Dies zeigt nicht nur die zur Verfügung stehende Dokumentation, sondern auch die Tatsache, dass sich ein von der Parteispitze vorgegebenes Argumentationsmuster auch im Plädoyer der Staatsanwaltschaft und der Begründung des Urteils wiederfindet. In diesem Argumentationsmuster finden sich die zwei Formen, mit denen man auf die Forderungen des Westens und der Opposition reagierte—Zugeständnisse einerseits, der Versuch, den harten Kern der Opposition als Gruppe verfassungsfeindlicher, konfrontativer Kräfte zu diskreditieren, andererseits. Im Fall Popiełuszkos kommt dieses Argumentationsmuster am deutlichsten im Schlussplädoyer des Staatsanwalts Leszek Pietrasiński zum Ausdruck. Die Ermordung Popiełuszkos wurde darin als Einzeltat dargestellt, die einerseits das Ergebnis einer willkürlichen und völlig verfehlten Interpretation der Politik von Staat und Partei durch die angeklagten Mitarbeiter des Innenministeriums gewesen sei. Andererseits argumentierte der Staatsanwalt auch, dass es die extremistischen Einstellungen und Handlungen Popiełuszkos, sein Hass gegen die Parteipolitik der Verständigung und den sozialistischen Staat gewesen seien, die ein nicht weniger schädliches „Extremum“ in Form des abzuurteilenden Verbrechens geschaffen hätten. Der Warschauer Priester und seine Mörder wurden also als Träger der gleichen Einstellung dargestellt, sich aufgrund der vermeintlichen Schutzfunktion ihres Amtes über Recht und Gesetz stellen zu können. Während nun angesichts des konsequenten Vorgehens der Organe des sozialistischen Staats und der Partei das Amt eines SB-Offiziers keinen Schutz vor Recht und Gerechtigkeit bieten würde – so Pietrasiński weiter – könnten „extremistische“ Geistliche
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vgl. auch das Rechtsgutachten zu einem Text des Intellektuellen Jan Józef Lipski. AIPN, BU 0204/1421, t. 9, Bl. 183–184, Ocena prawna tekstu pt. „Antyniemiecka Karta Reżimu Warszawskiego“, 14.8.1984; siehe auch die Überlegungen zur Reaktion auf eine Rückkehr des Exilanten Seweryn Blumsztajn nach Polen: AIPN, BU 01820/49/4/CD, Bl. 17–20, Notatka dot. możliwych rozstrzygnięć w stosunku do Seweryna Blumsztajna, w przypadku jego powrotu do kraju, Februar 1985. AIPN, BU 01228/2509/DVD, Bl. 733–735, Ocena prawna opracowań publikowanych na Zachodzie sygnowanych nazwiskiem Adama Michnika, 12.9.1984. AIPN, BU 0582/261, t. 2, Bl. 38–40, Notatka, 20.8.1984. Czaczkowska / Wiścicki: Ksiądz Jerzy Popiełuszko (wie Anm. 1), S. 291–292.
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wie Popiełuszko auf den Schutz oder doch die Nachsicht ihrer Kirchenoberen zählen. In der Interpretation von Partei und Staatsanwalt wurde Popiełuszko also gleichsam zum Mittäter seiner eigenen Ermordung und die Politik der PZPR zu ihrem Hauptopfer stilisiert.60 In Bezug auf Popiełuszkos Tod argumentierten die polnischen Behörden in einer Sprache, die jeglicher Bezüge auf den Marxismus-Leninismus entkleidet war und einzig auf die Verpflichtung zu Rechtsstaatlichkeit abhob. Es war also gelungen, die polnische Führung in einen mit dem Westen geteilten normativen Horizont zu zwingen. Dies zeigt sich vielleicht auch daran, dass die polnische Seite sehr konkret Bezug auf die Situation in westlichen Gesellschaften nahm. Der polnische Regierungssprecher Jerzy Urban warnte den oben erwähnten Rifkind davor, sich mit Vertretern „illegaler Strukturen“ zu treffen; Besucher im Vereinigten Königreich würden sich schließlich auch nicht mit der IRA treffen.61 In einem Interview mit dem Spiegel stellte Mieczyslaw Rakowski den Tod Popiełuszkos als eine gegen die Normalisierungspolitik gerichtete Provokation dar; die Parteiführung würde also gegen Verfassungsgegner vorgehen, was in der Bundesrepublik schließlich auch geschehe.62 Gegenüber Willy Brandt verwahrte sich Jaruzelski 1985 gegen den Vorwurf einer politischen Säuberung polnischer Universitäten. Vielmehr würden Antikommunisten sogar in wichtige universitäre Gremien gewählt; in der Bundesrepublik gebe es für Kommunisten hingegen ein Berufsverbot.63 Mit dem Verfahren im Fall Popiełuszko gelang es, das internationale Ansehen der Jaruzelski-Regierung in der Folgezeit wieder aufzubessern.64 Der Versuch jedoch, Popiełuszko als Extremisten zu charakterisieren, der an seinem Schicksal mitschuldig war, dürfte schon allein an dem Kontrast zwischen der jungenhaften, eher schmächtigen Gestalt des Warschauer Kaplans und der Brutalität des gegen ihn verübten Verbrechens gescheitert sein. Vor allem aber kontrastierte dieser Versuch mit den Predigten Popiełuszkos selbst, aus denen etwa der „Spiegel“ in seiner Berichterstattung Passagen zitieren konnte, in denen die national-religiöse Symbolik der Messen für das Vaterland als Aspekt eines universellen, explizit gewaltlosen Kampfes um die Achtung der Würde der Person und der Menschenrechte integriert wurde.65 Zu einem Zeitpunkt, als die neue Utopie der Menschen 60 61 62 63 64 65
Der Text der Rede ist abgedruckt in Raina: Ks. Jerzy Popiełuszko (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 508–530. Roger Boyes, Warsaw Rebukes Blunt Rifkind, in: The Times, 08.11.1984; Roger Boyes, Warsaw Warns Visitors of Solidarity after Rifkind Row, in: The Times, 14.11.1984. ,Wir lassen uns nicht verrückt machen‘. Spiegel-Gespräch mit dem polnischen Vizepremier Mieczysław Rakowski über die Lage in Polen, in: Der Spiegel, 17.12.1984. AAN, KC PZPR, XI/437, Bl. 186–204, Informacja o rozmowach I Sekretarza KC PZPR tow. W. Jaruzelskiego z Przewodniczącym SPD W. Brandtem, ohne Datum. AIPN, BU 1585/1048, Bl. 18–20, Załącznik do informacji dziennej, 1985.01.24: Włoskie oceny procesu oskarżonych o uprowadzenie i zabójstwo ks. J. Popiełuszki. ,Gewalt ist ein Zeichen von Schwäche.‘ Aus den Predigten von Jerzy Popiełuszko, in: Der Spiegel, 28.01.1985.
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rechte als Antwort auf die Erschöpfung und Diskreditierung anderer utopischer Entwürfe entdeckt wurde, konnte Popiełuszko in das internationale Pantheon dieses gewaltlosen Kampfes um die Menschenrechte aufgenommen werden, zu dem nicht nur osteuropäische Dissidenten wie Sacharow oder Havel gehörten, sondern auch Mahatma Gandhi, Martin Luther King Jr. oder Nelson Mandela und Desmond Tutu. In diesem Kontext entfaltete die Person Popiełuszkos eine Strahlkraft, der sich westliche Besucher in Polen kaum entziehen konnten. Damit ist die Frage nach den Motiven westlicher Besucher am Grab des polnischen Priesters aufgeworfen. In einer Erklärung zum Tod Popiełuszkos schrieb US-Präsident Ronald Reagan, dass das Weiße Haus die „Trauer des polnischen Volkes“ teile. „Popiełuszko war ein Verfechter christlicher Werte und ein mutiger Anwalt der Sache der Freiheit. Sein Leben war ein Beispiel der höchsten Ideale menschlicher Würde; sein Tod stärkt die Entschlossenheit aller freiheitsliebenden Völker an ihren Überzeugungen festzuhalten.“66
Vier Jahre später tauchte Popiełuszko noch einmal in einem Statement Reagans zur Captive Nations Week auf – einer jährlichen Veranstaltung, durch die die USÖffentlichkeit aufgefordert wurde, der im Kommunismus „gefangenen“ Nationen zu gedenken: „Über die Kontinente und Meere klingt der Ruf der Freiheit, und der Kampf um ihre Segnungen geht weiter, in den Republiken der Sowjetunion, in den baltischen Staaten und ganz Osteuropa, in Kuba und Nikaragua, in Äthiopien und Angola, in Vietnam, Laos und Kambodscha. [...] Wir in Amerika, die wir seit mehr als zwei Jahrhunderten die Fackel der Freiheit hochhalten, halten in der Captive Nations Week inne, [... und] gedenken der vielen Freiheitskämpfer und Individuen wie Jerzy Popiełuszko [...], die ihr Leben für die unbesiegbare Sache der Freiheit hingegeben haben.“67
Diese Zitate zeigen, wie die US-Administration versuchte das symbolische Kapital einer Person wie Popiełuszko für die Rechtfertigung der sogenannten ReaganDoktrin zu nutzen. Insofern können diese Ausführungen schlicht als Rückfall in die Rhetorik des Kalten Kriegs gesehen werden. Gleichzeitig gilt es jedoch auch, sie in einem umfassenderen kulturgeschichtlichen Kontext zu betrachten: Die 1970er und 1980er Jahre werden in der neueren zeithistorischen Forschung zunehmend als eine Umbruchsphase verstanden, die infolge des Endes des sozialdemokratischen Konsenses von einem „Erschöpfen utopischer Energien“ und damit einer „neuen Unübersichtlichkeit“68 charakterisiert war; die Bedeutung zentraler Begriffe internationaler politischer Kultur wie „Fortschritt“, „Demokratie“ und
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Reagan, Statement on the Death (wie Anm. 24). Ronald Reagan, Remarks on Signing the Captive Nations Week Proclamation, 14.07.1988, PPRR, , 06.12.2011. Vgl. Jürgen Habermas: Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt am Main 1985.
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damit die Identität „des Westens“ war unklar geworden und es setzten Deutungskonflikte um ihre Neudefinition ein.69 Die Regierungszeit Ronald Reagans wird in der amerikanischen Geschichtsschreibung zunehmend als Ausdruck eines umfassenderen Veränderungsprozesses gesehen, in dem Antworten auf diese durch die Krise der 1970er Jahre aufgeworfenen Fragen gesucht wurden und es zu einer grundlegenden, konservativen Neuausrichtung von Kultur und Politik kam;70 Innen- und Außenpolitik scheinen bei dieser Neudefinition des westlichen Selbstverständnisses ineinander gegriffen zu haben.71 Im Juni 1982 hielt Reagan eine berühmt gewordene Rede vor dem britischen Parlament über „Die Zukunft der Demokratie.“ Seine Reise nach Europa war Teil von Versuchen der US-Regierung, die westliche Geschlossenheit angesichts der Ereignisse in Polen zu stärken. In seiner Ansprache prophezeite der amerikanische Präsident das Wiedererstarken einer weltweiten demokratischen Revolution, die den Marxismus-Leninismus auf dem „Müllhaufen der Geschichte“ („ash heap of history“) zurücklassen würde; dabei verwies er mehrfach auf die Situation in Polen und nannte die Solidarność als Beleg dieser weltweiten Revolution. Weiter charakterisierte er den Kommunismus als nur extremsten Ausdruck einer generellen Tendenz des Staates, seine Kompetenzen zu überschreiten und damit insbesondere ökonomisches Wachstum zu ersticken. Die „neuen Schulen der Ökonomie in England und Amerika“ wurden damit zu einem „Aufbäumen des Intellekts und des Willens“ gegen die „harten Fakten totalitärer Herrschaft.“72 Offensichtlich diente der Ost-West-Konflikt Reagan hier also auch als Hintergrund zur Legitimierung seiner Neuausrichtung der amerikanischen Wirtschaftspolitik nach neoliberalen Grundsätzen.73 69
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Allgemein vgl. Jan-Werner Müller: Contesting Democracy. Political Thought in TwentiethCentury Europe, New Haven, CT 2011, S. 202–227; Göran Therborn u.a.: The 1970s and 1980s as a Turning Point in European History?, in: Journal of Modern European History 9 (2011), Hf. 1, S. 7–26; zur BRD siehe die Diskussion der Literatur in Silke Mende: „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“. Eine Geschichte der Gründungsgrünen, München 2011, S. 8–10. Donald T. Critchlow: The Conservative Ascendancy. How the GOP Right Made Political History, Cambridge, Mass. 2007; Patrick Allitt: The Conservatives. Ideas and Personalities throughout American History, New Haven 2009, S. 191–245; Robert M. Collins: Transforming America. Politics and Culture during the Reagan Years, New York 2007; für einen kritischen Literaturbericht siehe John Ehrman: The Age of Reagan? Three Questions for Future Research, in: The Journal of the Historical Society 11 (2011), Hf. 1, S. 111–131. Nigel Ashford: The Neo-Conservatives, in: Government and Opposition 16 (1981), S. 353– 369, hier 368. Ronald Reagan, Address to the Members of British Parliament, Westminster, 8.06.1982, PPRR, , 06.12.2011. Zur Entstehungsgeschichte der Rede siehe Robert C. Rowland / John M. Jones: Reagan at Westminster. Foreshadowing the End of the Cold War, College Station, TX 2010. Vgl. hierzu auch Wade Clark Roof: American Presidential Rhetoric from Ronald Reagan to George W. Bush: Another Look at Civil Religion, in: Social Compass 56 (2009), Hf. 2, S. 286–301, hier 291.
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Die Solidarność war damit nicht nur ein Symbol des Ost-West-Konflikts, sondern wurde auch zu einem Argument von Debatten innerhalb der westlichen Welt. Für das (neo)konservative Projekt bot sich Popiełuszko als Geistlicher, der dem „evil empire“74 zum Opfer gefallen war, in besonderer Weise als symbolträchtige Gestalt an. Als Reagans Vizepräsident George Bush im September 1987 nach Polen kam, äußerte er sich zunächst zurückhaltend diplomatisch, beschloss sein Besuchsprogramm dann aber doch mit einem deutlichen Zeichen der Unterstützung für die Solidarność. Zusammen mit Lech Wałęsa besuchte er das Grab Popiełuszkos, wo er nicht nur Blumen, sondern einen mit dem Sternenbanner geschmückten Kranz niederlegte, auf dem er dann noch eine kleine SolidarnośćFahne plazierte. Danach begab er sich mit Wałęsa auf den Balkon der Kirche von Popiełuszkos Pfarrei, wo er eine emotionale Rede hielt. Er sagte, er sei stolz, hier neben Wałęsa stehen zu dürfen, und stellte den ermordeten Priester als mutigen Kämpfer für die Sache der Freiheit dar, dessen Opfer nicht umsonst gewesen sei. „His soul is in the hands of God, but his spirit lives on in the people of Poland and the world.“75Als einige Zeit später Hans-Jochen Vogel nach Warschau kam, beschwerte sich Jaruzelski dem SPD-Vorsitzenden gegenüber, der amerikanische Vizepräsident habe seinen Wahlkampf in Polen begonnen.76 Tatsächlich hatte Bushs Wahlkampfstab für die Rede des Vizepräsidenten am Grab Popiełuszkos eigens eine Mikrofonanlage installiert und ein Filmteam organisiert, das Bildmaterial liefern sollte, um den wenig pathetischen Vizepräsidenten den stärker religiösen Wählerschichten in den USA näher zu bringen.77 Bei seiner Wahlkampftournee im folgenden Jahr beendete Bush dann seine Auftritte mit der Behauptung, dass wenn es einen Moment gebraucht hätte, der ihm klar machte, warum er Präsident werden möchte, dann sei dies der Moment gewesen, als er neben Wałęsa am Grab von Popiełuszko stand. Hier sei ihm deutlich geworden, dass die USA die einzige Macht auf der Welt seien, die die Religions- und mit ihr auch andere Freiheiten zu verteidigen imstande sei.78 74
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Die Bezeichnung der Sowjetunion als „evil empire“ stammt aus einer Rede, die Reagan im März 1983 vor einer Vereinigung evangelikaler Christen in Florida hielt. In der Folgezeit wurde dieser Ausdruck zu einer Chiffre für Reagans antikommunistische Überzeugung und die Verschärfung der amerikanischen Sowjetrepublik. Siehe Ronald Reagan, Remarks at the Annual Convention of the National Association of Evangelicals, Orlando, FL, 08.03.1983, PPRR, , 06.02.2012. David L. Hoffman, Chanting Polish Crowds Provide Bush with Footage for ’88 Campaign, in: The Washington Post, 4.10.1987. AAN, KC PZPR, LXXVI–477, Bl. 170–191, Zitat auf Bl. 184, Informacja o wizycie Przewodniczącego SPD Hansa Vogla i delegacji SPD w Polsce, 29.9.–1.10.1987 r., ohne Datum. Hoffman, Chanting Polish Crowds (wie Anm. 76). Paul Taylor / David L. Hoffman, Bush Weaving His Faith into Campaign Speeches, in: The Washington Post,6.12.1987; zur Bedeutung national-religiöser Elemente für die präsidiale Rhetorik von Reagan und Bush siehe Roof: American Presidential Rhetoric (wie Anm. 73), S. 286–294.
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Als Symbol war die Gestalt Popiełuszkos jedoch durchaus vielschichtiger, als es diese Versuche seiner Vereinnahmung nahe legen. Sein Bekenntnis zu Gewaltlosigkeit, seine Rolle als Kaplan einer Gewerkschaft und somit als eine Art Arbeiterpriester sowie sein Bezug auf die zu dieser Zeit entstehende Kultur der Menschenrechte erlaubten eine Interpretation seiner Person, die mit seiner Wahrnehmung in den Kategorien eines antikommunistischen Freiheitskämpfers im Sinne der Reagan-Doktrin konkurrierte oder dieser sogar widersprach. Wenn also Edward Kennedy und George Bush in kurzer Folge nach Polen kamen, dann war dies vielleicht nicht nur Ausdruck der breiten Sympathie für die Solidarność in der US-Bevölkerung, sondern auch Ausdruck eines inneramerikanischen Deutungskampfes um die Person Popiełuszkos und der polnischen Oppositionsbewegung insgesamt. Kennedy hatte bei seinem Besuch dann auch deutlich andere Akzente gesetzt, als dies Bush später tun sollte: In eine Ausgabe von Arthur Schlesingers „Robert Kennedy and his times“, das der Senator Popiełuszkos Eltern schenkte, schrieb er als Widmung: „For Marianna and Władysław whose son’s heroic life created a ripple which continues to sweep down the mightiest walls of oppression.“79 In einer kurzen Ansprache am Grab Popiełuszkos charakterisierte der Senator den Priester dann aber weniger als Kämpfer gegen den Kommunismus, sondern hob auf dessen Betonung von Gewaltlosigkeit ab und zog eine Parallele zwischen seiner Ermordung und dem Tod von Kennedys älteren Brüdern, die alle Opfer von Gewalt geworden seien.80 Des Weiteren ist bezeichnend, dass Popiełuszko, Bujak und Michnik als Träger des Robert F. Kennedy Menschenrechtspreises in einer Reihe mit Menschenrechtsaktivisten aus El Salvador und Südafrika gestellt wurden, die den Preis vor den Polen erhalten hatten.81 Popiełuszko und die polnische Opposition konnten somit in den Kontext eines universellen Kampfes um die Menschenrechte gestellt werden, der über die binäre Logik des Ost-West Konflikts hinauswies und Regionen wie Lateinamerika oder Südafrika einschloss, in denen die ReaganAdministration strategische US-Interessen gefährdet sah und daher „die Fackel der Freiheit“ weniger demonstrativ hochhielt als gegenüber Osteuropa. Ein Vergleich, der in diesem Zusammenhang sehr häufig gezogen wurde, war der zwischen Polen und Chile: In beiden hatte ein Militärputsch einen General an die Macht gebracht, der sich einer Demokratiebewegung gegenübersah, die sich auf eine Allianz aus Mitgliedern des niederen katholischen Klerus und Gewerkschaftern stützte.82 79 80 81 82
Das Buch ist im Popiełuszko-Museum in Warschau ausgestellt. Michael Kaufman, Kennedy Sees Officials in Poland and Honors Opposition Leaders, in: The New York Times, 23.05.1987. Siehe die Liste der Preisträger unter , 30.11.2011. Jackson Diehl, This Isn’t just Poland, this Is Chile again, in: The Washington Post, 18.12.1986.
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Auch die polnischen Oppositionellen selbst machten sich diesen internationalen Bezug zu eigen: Bereits im Dezember 1982 unterzeichneten Vertreter chilenischer Gewerkschaften eine gemeinsame Erklärung mit der Exilvertretung der Solidarność in Brüssel.83 1983 solidarisierte sich Adam Michnik in einem offenen Brief aus dem Gefängnis mit ebenfalls inhaftierten chilenischen Menschenrechtsaktivisten.84 Bei der Verleihung des Kennedypreises in Warschau 1987 hob Zbigniew Bujak die gemeinsamen Anliegen der Solidarność und der 1985 ausgezeichneten südafrikanischen Menschenrechtsaktivisten hervor.85 Bei Kennedys Besuch in Danzig ließ sein Stab Fotos von ihm mit Michnik, Bujak und Wałęsa vor dem Mahnmal für die 1970 getöteten Arbeiter machen, bei dem alle Mützen mit dem Logo des amerikanischen Gewerkschaftsbundes AFLCIO aufhatten. Damit wurde ein weiterer wichtiger Diskursfaden der politischkulturellen Auseinandersetzungen der 1980er aufgenommen. Westliche Gewerkschaften im Allgemeinen und insbesondere die AFL-CIO mit ihrem Präsidenten Lane Kirkland waren die wichtigsten internationalen Unterstützer der Solidarność.86 Auch Gewerkschaften nahmen dabei eine Position jenseits der Dichotomie des Kalten Kriegs ein: Im Jahr 1986 nahm der Internationale Bund Freier Gewerkschaften sowohl die Solidarność als auch eine chilenische Gewerkschaft auf, obwohl beide Arbeitervertretungen in ihren Heimatländern verboten waren.87 Dieser Einsatz von Gewerkschaften für Menschenrechte in Polen, Chile oder Südafrika kann auch als ein Argument in der deutungskulturellen Auseinandersetzung um das Selbstverständnis des Westens gelten: Die Akzentuierung der zentralen Rolle von Gewerkschaften für den Kampf um Menschenrechte überall in der Welt machte sie über ihre Rolle als Verhandlungspartner in Tarifgesprächen zu einem Hüter der Demokratie und ihrer Institutionen; die Unterstützung für die Solidarność seitens etwa des Internationalen Bunds Freier Gewerkschaften war Teil einer umfassenderen Kampagne, die unterstrich, dass Gewerkschaften nicht nur auf das Recht der Vereinigungsfreiheit angewiesen waren, sondern auch einer der wichtigsten Verteidiger dieses Rechts und damit der Menschenrechte insgesamt waren. Der Reaganschen Idee vom Totalitarismus als der nur konsequentesten Ausprägung einer allgemeinen Tendenz staatlicher Überregulierung wurde damit ein Argument entgegengestellt, dem entsprechend totalitäre Ideologien und Diktatoren, aber auch unmenschliche Wirtschaftstheorien den Status von Gewerk 83 84 85 86
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AIPN, BU 514/21, t. 38, Bl. 17, Joint statement, Dezember 1982. Adam Michnik et le Chili, in: Le Monde, 29.07.1983. AIPN, BU 01304/920, Bl. 21, Załącznik do informacji dziennej, 1987.05.25: Pobyt senatora Edwarda Kennedy’ego w Polsce. Idesbald Goddeeris (Hg.): Solidarity with Solidarity. Western European Trade Unions and the Polish Crisis, 1980–1982, Lanham 2010; Arch Puddington: Lane Kirkland. Champion of American Labor, Hoboken, NJ 2005, S. 163–190, 214–238. Polnische und chilenische Arbeitnehmer schließen sich dem IBFG an, in: Freie Gewerkschaftswelt, 17.12.1986.
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schaften als einem der Standpfeiler einer menschenrechtsbasierten Ordnung und damit die Demokratie insgesamt infrage stellten.88 Ein letzter Diskursfaden einer globalen Menschenrechtsgeschichte als Konfliktgeschichte, der gänzlich vom Kalten Krieg wegführt, sei abschließend noch aufgegriffen. Bei seinem Besuch in der Stanisław-Kostka-Kirche traf Kennedy u.a. auch Aktivisten der „Jerzy-Popiełuszko-Bewegung zur Verteidigung des Lebens“89, die Popiełuszkos Vorgesetzter Pfarrer Teofil Bogucki ins Leben gerufen hat. Es scheint zu keinem Austausch zwischen Kennedy und den Mitgliedern dieser Bewegung gekommen zu sein. Es wäre jedoch sehr interessant gewesen, wie ein solcher Dialog ausgesehen hätte, trafen mit dem US-Senator – einem Verfechter des liberalen amerikanischen Abtreibungsrechts – und den Aktivisten einer katholischen Bewegung zum Lebensschutz hier doch zwei grundlegend unterschiedliche Ansichten über die Reichweite oder den Wirkungskreis von Menschenrechten aufeinander.90 International sollte der durch diese Begegnung symbolisierte Konflikt erst nach 1989 virulent werden. Auch nach dem Zusammenbruch des Kommunismus bleibt die Geschichte von Menschenrechten also eine Konfliktgeschichte. IV. SCHLUSSFOLGERUNGEN Ob der Erinnerungskult um Jerzy Popiełuszko eine globalhistorische Bedeutung hatte, ist für die Ausführungen dieses Artikels unerheblich. Es ging vielmehr um den Nachweis, dass auch dieser so stark von nationalhistorischen Eigenheiten geprägte Erinnerungskult ein Forschungsgegenstand sein kann, an dem grenzübergreifende oder sogar globale Prozesse analytisch greifbar werden. Im Falle des Diskurses um die Gestalt Popiełuszkos ist dies das Aufkommen eines internationalen Menschenrechtsregimes. Da es zunehmend die Grenzen zwischen nationalem und internationalem Recht verwischt, bietet dieses Regime Akteuren wie der polnischen Opposition eine symbolische Ressource, durch die sie Druck auf ihre Regierung ausüben können. Damit werden derartige Gruppen, ihre Identität und die Symbolfiguren, in denen sich diese ausdrückt, aber auch in internationale Deutungskonflikte hineingenommen, in denen politische Akteure an ganz unterschiedlichen Orten versuchen, die Reichweite und Implikationen des Menschenrechtsdiskurses festzulegen. 88
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International Institute for Social History, ICFTU 457a, n.p., Human Rights, Report for the 13th ICFTU World Congress, Oslo, 23–30 June 1983, Freedom of Association, Anzeige, in: The New York Times, 20.8.1982. Ruch Obrony Życia im. ks. Jerzego Popiełuszki (RUŻa). AIPN, BU 01304/920, Bl. 24–25, Załącznik do informacji nr 122 z dn. 24.05.87r., dot.: pobytu senatora Edwarda Kennedy’ego w kościele pw. St. Kostki w Warszawa oraz w kościele Brygidy w Gdańsku.
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Der Zusammenbruch des Kommunismus hat nicht nur eine neue Phase der Auseinandersetzung um die Bedeutung von Menschenrechten eröffnet, sondern auch die Osteuropäische Geschichte unter Rechtfertigungszwang gesetzt. Die Intensivierung wissenschaftlichen Austauschs sowie die Mobilität von Historikern aus Ostmittel- und Osteuropa im Zuge von europäischer Integration und Grenzöffnung haben den Blick dafür geöffnet, dass – wie auch dieser Beitrag argumentiert hat – innereuropäische Austauschprozesse auch während des Kalten Kriegs intensiver gewesen sind, als dies die klare Fachgrenze zwischen der Geschichte Osteuropas und der Geschichte des restlichen Europas suggeriert.91 Die von Conrad und Eckert oder Osterhammel vorgeschlagene Globalgeschichte als „Geschichtsschreibung mit einem Bewusstsein für globale Zusammenhänge“, die „die globalen Horizonte nationaler Geschichte systematisch […] rekonstruier[t]“, könnte eine Möglichkeit sein, die Osteuropäische Geschichte auf diese Herausforderungen einzustellen. Dies wird es einerseits notwendig machen, sich für die Forschungsergebnisse anderer Regionalgeschichten zu öffnen; die Themen, die Kennedy oder Bush am Grab Popiełuszkos bewegten, waren amerikanische Fragen. Versteht man andererseits Globalgeschichte aber eben nicht im „ökumenischen“ oder „planetarischen“ Sinn, dann kann gerade eine idiosynkratische Gestalt wie Popiełuszko ein lohnender Gegenstand transnationaler oder globalhistorischer Forschungen sein. Die durch die Osteuropäische Geschichte vermittelten Fachkompetenzen – Sprachfertigkeiten sowie eine solide Kenntnis regionalhistorischer Besonderheiten – werden somit auch im Zeitalter der Globalgeschichte nicht obsolet.
91
Robert Brier: Differenz als Chance. Vom Nutzen und Nachteil des Osteuropabegriffs, in: Osteuropa 54 (2004), Hf. 8, S. 74–85.
LIMONOVS NÉGRITUDE-LEKTÜRE IN ĖTO JA – ĖDIČKA Intertextualität und weltliterarische Vernetzung Gesine Drews-Sylla I. EIN POSTMODERNER NARZISS: ĖDIČKA 1979 erschien Eduard Limonovs erster Roman Ėto ja – Ėdička (dt. Fuck off, Amerika) im New Yorker Verlag Index Publisher.1 Der Roman war nach Limonovs Emigration aus der Sowjetunion in New York entstanden, wo Limonov sich nach kurzen Stationen in Wien und Italien 1975 niedergelassen hatte.2 In dem schnell zum Kultbuch avancierten Text lässt der Autor Limonov sein Alter Ego, den russischen Emigranten Ėduard Limonov, genannt Ėdička, dessen Trauma der Emigration anhand des Verlusts einer großen Liebe erzählen. Der Erzähler, welcher in New York von Sozialhilfe lebt, trauert seiner Frau Elena nach, die ihn verlassen hat, und imaginiert sich in größenwahnsinnigen, egomanischen Phantasien als gefeierten Schriftsteller. In der Sowjetunion ließ er eine erfolgreiche Karriere als Undergroundpoet zurück, der er im Exil ebenso nachtrauert wie seiner Frau. Ėdička findet weder zur englischen Sprache noch in eine neue Heimat; er schließt sich sowohl aus dem etablierten amerikanischen New York als auch aus den dort arrivierten russischen Emigranten- und Dissidentenkreisen aus und vagabundiert isoliert am Rand der Gesellschaft herum. Er assoziiert sich im gesamten Roman mit Figuren, die als Außenseiter der amerikanischen Gesellschaft gezeichnet werden, zum Beispiel mit Afroamerikanern, Arbeitsmigranten, politisch links gerichteten Utopisten oder Homosexuellen. Geschildert wird all dies in einer vom Sprachstil des „mat“ durchdrungenen, jedoch hochliterarisierten Sprache, in der offene Gewaltphantasien, sexuelle Tabubrüche und politische Provokationen dominieren.3 Der Text rief daher bei seinem Erscheinen nicht nur begeisterte Kritiken, sondern auch Empörung und Entrüstung hervor. Emmanuel Carrère, der 1
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Wenn nicht anders angemerkt, folgen die deutschen Übersetzungen russischer Titel den in Deutschland gebräuchlichen, in diesem Fall Eduard Limonow: Fuck off, Amerika, Köln 2004. Aus dieser Ausgabe sind auch die nicht wörtlichen Übersetzungen einzelner Kapitelüberschriften entnommen. Ėduard Limonov: Ėto ja – Ėdička, New York 1979, Klappentext. 1980 verließ er New York und siedelte nach Paris über. Heute lebt er in Moskau. Der russische „mat“ ist eine durch obszöne Lexik geprägte, gesellschaftlich tabuisierte, umgangssprachliche Ebene des Russischen, der in gegenkulturellen Texten jedoch auch Eingang in provozierende Register der Literatursprache gefunden hat.
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2011 eine literarische Biographie Limonovs vorlegte, die mit dem Prix Renaudot ausgezeichnet wurde, bemerkt, dass Limonov nur ein Thema in seinen Texten kenne, sein eigenes Leben.4 Ėto ja – Ėdička ist daher eine einzige literarisierte Inszenierung von Limonovs Leben in der New Yorker Emigration, wobei Fiktion und Autobiographie untrennbar miteinander verwoben sind.5 Zu dieser Inszenierung, die nach Abschluss des Manuskripts im Leben Limonovs weitergeht, zählt die Publikationsgeschichte des Romans, der wohl 1976 fertiggestellt wurde, aber erst 1979 einen Verlag finden konnte.6 Die erste Publikation erfolgte 1980 in französischer Übersetzung in Paris, wo der Text durch Jean-Jacques Pauvert, (Skandal-)Verleger der Surrealisten, de Sades oder Pauline Réages erotischer Histoire d’O entdeckt und betreut (wenn auch nicht endgültig herausgegeben) wurde, unter dessen französischem Titelvorschlag Le poète russe préfère les grands nègres der Text schließlich bekannt und zum Bestseller wurde.7 Etwa zeitgleich, sogar etwas früher, noch im Jahr 1979, erschien jedoch bereits eine russische Version in New York,8 in der die französische noch für das gleiche Jahr angekündigt wurde. Vorher waren bereits eine gekürzte Version in der russischsprachigen Pariser Zeitschrift Kovčeg (dt. Arche / Monstanz, eig. Übers.) 4 5
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Emmanuel Carrère: Limonov, Paris 2011, S. 17. Die Biographie Carrères kann dabei behilflich sein, die zahlreichen Anspielungen auf reale Personen, die Limonov / Ėdička in den fiktionalen Romantext einschreibt, aufzulösen. So spricht Carrère davon, dass Limonov (nicht Ėdicka) in New York mit arrivierten Emigranten wie Iosif Brodskij, Rudol’f Nuriev, Tat’jana Liberman oder Michail Baryšnikov in Kontakt kam ohne sich diesen anzuschließen (z.B. ibid., 144.) Ebenso werden Begegnungen mit den Größen der amerikanischen Kunst- und Kulturszene wie Andy Warhol, Susan Sontag, Truman Capote, Richard Avedon, dem Model Veruschka oder Salvador Dalí erwähnt (z.B. ibid., 146–47), von deren Kreisen sich der von Carrère gestaltete Limonov jedoch fernhält. Ihm gleich tut es dessen literarisches Alter Ego Ėdička, der sich von den häufig nur umbenannten aber für Eingeweihte leicht dechiffrierbaren literarischen Analoga jener Figuren, seien es arrivierte Emigranten oder New Yorker Bohème, ebenso distanziert. Zumindest findet sich das Jahr 1976 in der russischen Wikipedia als Angabe: Ėto ja – Ėdička, , 23.02.2011. Carrères nicht näher datierte Angaben lassen in etwa denselben Zeitraum rekonstruieren – ohne dass auch hier letztgültige Aussagen getroffen werden können, ist die Wikipedia doch eine unzuverlässige Quelle und die Biographie Carrères ein literarisierter Text, der nicht klar zwischen fiktionalem und faktographischem Erzählen unterscheidet. – Die Zeit von ca. 1976 bis zur Übersiedelung nach Paris ist Thema zweier weiterer Romane Limonovs: Dnevnik neudačnika, ili sekretnaja tetrad’ (geschrieben 1977, Erstveröffentlichung als: Journal d’un raté, Paris 1982, dt. Tagebuch eines Pechvogels, eig. Übers.) sowie: Istorija ego slugi (geschrieben 1980–81, Erstveröffentlichung als: Histoire de son serviteur, Paris 1982, dt. Die Geschichte seines Dieners, eig. Übers.), vgl. Carrère: Limonov (wie Anm. 4), S. 182, 94 und Limonow.de: Polnoe sobranie tekstov v ėlektronnom vide, , 31.01.2012. Vgl. die Angaben im Klappentext von Limonov: Ėto ja – Ėdička (wie Anm. 2), wo der Text sogar noch für 1979 angekündigt wird. Auf den Prozess der Titelfindung verweist Carrère: Limonov, S. 208 (wie Anm. 4). Limonov: Ėto ja – Ėdička (wie Anm. 2).
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sowie das erste Kapitel in der in Israel erscheinenden Zeitung Nedelja (dt. Woche, eig. Übers.) abgedruckt worden.9 Eine englische Übersetzung folgte 1983.10 Diese Publikationsgeschichte ist nicht unwesentlich, denn erstaunlicherweise fehlt in der 1980 erschienenen und als Erstausgabe inszenierten französischen Übersetzung ein Kapitel mit dem Titel „Leopol’d Sengor i Bėnžamėn“ (dt. „Léopold Senghor und Benjamin“, eig. Übers.), das in der bereits 1979 erschienenen russischen Ausgabe aus New York enthalten ist und das auch in einer (unvollständigen) Werkausgabe von Limonov aus dem Jahr 1998 integriert ist, also auch nicht nachträglich aus dem russischen Originaltext gestrichen wurde.11 Das Kapitel fehlt auch in der deutschen Ausgabe, die auf Grundlage der französischsprachigen Erstübersetzung, die ihrerseits auf dem Originalmanuskript basierte, angefertigt wurde und erstmals 1982 erschien.12 Das fragliche Kapitel fehlt auch in der englischsprachigen Übersetzung von 1983. Ziel dieses Aufsatzes ist eine Kontextualisierung und Interpretation dieses fehlenden Kapitels, das für die gesamte Romanstruktur konstitutiv ist. Es soll gezeigt werden, wie über in dem Kapitel angelegte intertextuelle Operationen mit der Person und den Texten Léopold Sédar Senghors der Text Limonovs weltliterarisch vernetzt wird. Ein zentrales Anliegen ist aufzuzeigen, dass Intertextualität als textuelles Verfahren eine Methode ist, um nationalkulturelle Bedeutungshorizonte literarisch zu überschreiten. Der Fall Limonov und sein Roman Ėto ja – Ėdička werden dabei als Fallbeispiel an einem Punkt des Übergangs betrachtet. Während der Roman selbst einerseits der verlorenen Mastererzählung nachtrauert, die in globalgeschichtlicher und weltliterarischer Perspektive aufgegeben wird, so ist er doch selbst durch die literarischen Verfahren, die in ihm eingesetzt werden, andererseits Zeugnis des Verlusts und der daraus resultierenden Multiplizität von Sinn und produktiven Vernetzungsoperationen auf mehreren Ebenen. Über die Gründe für das Auslassen des Kapitels „Leopol’d Sengor i Bėnžamėn“ kann nur spekuliert werden. Auf die zentrale Bedeutung dieses Kapitels, dessen Fehlen die gesamte Romanstruktur maßgeblich stört, hat bereits Olga Matich hingewiesen.13 Sie merkt an, dass der Roman als Ganzes zirkulär aufgebaut sei, was durch das fehlende Kapitel zerstört werde. Diese Zirkularität kon 9 10 11 12
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Ibid., Danksagung. Edward Limonov: It’s Me. Eddie, London 1983. Ėduard Limonov: Ėto ja – Ėdička, in: Ėduard Limonov (Hg.): Sobranie sočinenij v trech tomach, Moskau 1998. So zumindest wird es auf der Website limonow.de: „Polnoe sobranie tekstov v ėlektronnom vide“, , 31.01.2012, kommentiert. Der Text kam auf Deutsch zuletzt 2004 heraus (Limonow: Fuck off, Amerika (wie Anm. 1)). Ähnliches lässt sich im Übrigen auch für die niederländische und die italienische Übersetzung schließen, die jeweils unter dem von Pauvert gefundenen Titel erschienen, wie sich ebenfalls auf der Website einsehen lässt, wo die Cover der jeweiligen Übersetzungen mit abgebildet sind. Alle anderen abgebildeten Titel stellen relativ wortgetreue Übersetzungen des russischen Originaltitels dar. Olga Matich: The Moral Immoralist. Edward Limonov’s Ėto ja – Ėdička, in: The Slavic and East European Journal 30 (1986), Hf. 4, S. 526–40, Anmerkung 6, S. 538.
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gruiert mit einer symmetrischen Strukur des Romans, der mit dem fehlenden Kapitel in zwei Teile zu je sieben Kapiteln zerfällt, eine Struktur, die Igor Smirnov detailliert herausgearbeitet hat, so dass die zweiten sieben Kapitel ebenso wie Anfangskapitel und Epilog jeweils in thematischer Kongruenz zu den ersten sieben stehen, was in den Übersetzungen verloren geht.14 Matich verweist in diesem Zusammenhang auch auf Smirnovs Ergebnis, dass die Erzählstruktur den Gesetzen des narzisstischen Erzählens folge, in denen der Anfang das Ende reflektiere.15 Die „therapeutische Erzählreise“ führe nicht zur Heilung, sondern verweile im Narzissmus, oder, so lässt sich mit Blick auf Carrères Biographie sagen, der narzisstischen Selbstinszenierung, deren Kern darin liege, dass Ėdička sich als Subjekt verabsolutiere und aufgrund seines verlorenen Objektbezugs einsam bleiben müsse.16 Smirnov bezieht sich auf psychologische Objektbeziehungstheorien, deren Kern in der Betrachtung der Beziehung zwischen dem Selbst und dem anderen liegt. Häufig wird die Freudsche Triebtheorie in den Objektbezug integriert. Das Selbst benötigt in diesem Verständnis ein Objekt, um seine Grundbedürfnisse, die durch verschiedene Triebe gesteuert werden, zu befriedigen. Zu den Triebdualismen, die Sigmund Freud aufmacht, zählt auch jener von Selbstlibido und narzisstischer Libido, also der Dualismus zwischen Befriedigung, die in einer gelungenen Beziehung zum anderen stattfindet oder einer, die im Selbstbezug verweilt.17 Smirnov schließt hier an, wenn er konstatiert, dass der Narziss nicht nur kein Objekt außerhalb des eigenen Ichs habe, um seine Libido zu befriedigen, sondern auch keine soziale Rolle außer der des Trägers der Libido.18 Schließlich weitet er die Theorie auf eine literatur- und kulturtypologische Ebene aus, so dass ein Text zu einem „Symptom“ für die Dynamiken einer bestimmten Etappe der künstlerischen, hier also literarischen, und der kulturellen Entwicklung wird.19 In diesem Sinne interpretiert er Ėto ja – Ėdička nicht nur als einen Text über einen Narziss (wie den antiken Mythos), sondern als in sich narzisstisch organisiert, was auf eine narzisstische Grundstruktur der gegebenen Kulturphase – in diesem Fall der Postmoderne – hinweise.20 Die zirkuläre Grundstruktur des Romans ist damit Ausdruck dieser auch auf der Textebene gegebenen narzisstischen Symptomatik, die jene des Inhalts, der die Geschichte eines Narziss erzählt, wiederholt, wobei signifikanterweise der Narziss als Autor und Erzähler des Textes auftritt. Konse 14 15 16
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Igor’ P. Smirnov: O narcističeskom tekste (diachronija i psichoanaliz), in: Wiener Slawistischer Almanach 12 (1983), S. 21–45. Matich: The Moral Immoralist, S. 529 (wie Anm. 13). Smirnov: O narcističeskom tekste (wie Anm. 14); Igor P. Smirnov: Geschichte der Nachgeschichte: Zur russisch-sprachigen Prosa der Postmoderne, in: Michael Titzmann (Hg.): Modelle des literarischen Strukturwandels, Tübingen 1991, S. 210–12. Gerd Wenninger (Hg.): Lexikon der Psychologie auf CD-Rom, Heidelberg 2002, Stichwörter „Objektbeziehungstheorie“, „Triebtheorie“ Smirnov: O narcističeskom tekste, S. 24 (wie Anm. 14). Ibid., S. 21. Ibid., S. 25.
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quenterweise sind Sexualität und Schreiben die beiden Themen, anhand derer das Symptom des verlorenen Objektbezugs bzw. der narzisstischen Selbstbezogenheit, repräsentiert durch Verlust von Ehefrau und Sprachgewalt, also sexueller und schriftstellerischer Potenz in der Emigration, abgehandelt wird. Für den nicht publizierten und im Grunde nur für sich selbst schreibenden Titelprotagonisten Ėdička bedeutet dies, dass er sich am Ende seines Textes nicht nur nicht durch gelungene neue Objektbeziehungen auf sexueller Ebene aus seiner Einsamkeit befreien kann, sondern dass auch sein Schreiben diese Funktion nicht erfüllt. Er befindet sich am Schluss des Romans noch immer in der gleichen Situation wie am Anfang. Das in den Übersetzungen verloren gegangene Kapitel, das in genau diese Grundstruktur eingebettet ist, hat in diesem Kontext insofern eine besondere Funktion, als es eine der wenigen Stellen im gesamten Text darstellt, in denen der sich selbst verabsolutierende Ėdička einen gelungenen Objektbezug im Schreiben imaginiert. Es ist jedoch auch aufschlussreich, da es den gesamten Text über Verfahren der Intertextualität globalgeschichtlich vernetzt, wobei intertextuelle und globale Vernetzungsoperationen mit den Textpraktiken der Postmoderne, auf die Smirnov in seiner Interpretation referierte, hier Hand in Hand gehen. In den in den Vernetzungsoperationen generierten Bedeutungsschichten wird ein Überschreiten der Dichotomien des Kalten Krieges visioniert, das für den sowjetischen Emigranten Ėdička in der Verknüpfung mit dem afrikanischen Senegal auch eine Erlösung aus seiner postmodern-narzisstischen Isolierung bedeutet – die jedoch letztlich in der Phantasie verbleibt und die narzisstische Grundstruktur weder Ėdičkas noch des Textes aufzubrechen vermag. II. INTERTEXTUALITÄT UND WELTLITERATUR Bevor ich diesen Zusammenhängen aber genauer nachgehen werde, soll eine kurze methodische Reflexion zum Stellenwert von Globalgeschichte und Vernetzungstheorien und deren Zusammenhang mit Intertextualitätstheorien im Rahmen eines literaturwissenschaftlichen Ansatzes gegeben werden. Globalgeschichte sei, so definiert Jürgen Osterhammel verkürzt, „Interaktionsgeschichte innerhalb weltumspannender Systeme“.21 Theorien der Vernetzung und Interaktion sind der Literaturwissenschaft nicht fremd. Spätestens mit der Entwicklung der Intertextualitätstheorie im Rahmen poststrukturalistischer Debatten durch Julia Kristevas Ausweitung der Dialogizität des Wortes auf die Textebene sind sie zu einem der zentralen Analyseparadigmen literarischer Texte avanciert. Der poststrukturalistischen Debatte ging es dabei vor allem um die Infragestellung von semantischer Eindeutigkeit, die Dekonstruktion eines Subjekt- und damit einhergehend eines Autorbegriffs, ein Vorgang, der sich 21
Jürgen Osterhammel: „Weltgeschichte“: Ein Propädeutikum, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 56 (2005), S. 452–79, S. 460.
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im Fallbeispiel von Ėto ja – Ėdička anhand der narzisstischen Grundstruktur ebenfalls beobachten lässt. Betont wurde in der Variation der Intertextualitätsdebatte vielmehr die prinzipielle Eingebundenheit eines gegebenen Textes in eine Vielzahl von immer textuell begriffenen Bedeutungszusammenhängen. Kein Text existiere für sich alleine, Originalität der Verfasserschaft könne es schon deshalb nicht mehr geben, der individuelle Autor und ein mit ihm verknüpfter Originalitätsanspruch oder gar romantischer Geniekult (an den der Narziss Ėdička sich selbst als genialen Autor verabsolutierend anknüpft) geht, wie auch in andern poststrukturalistischen Modellen, verloren. In der weiteren Debatte wurde dann durch Renate Lachmann die Kategorie des kulturellen Gedächtnisses in die Intertextualitätstheorie eingebunden. In Literatur und Gedächtnis untersucht sie anhand russischer Beispiele, wie ein Text mit Elementen des kulturellen Gedächtnisses umgeht.22 Auch in diesem Konzept steht die Destabilisierung und Multiplizierung der Bedeutung im Vordergrund. Der Fokus der Betrachtung ist dabei ein kulturinterner, an der Überschreitung einer kulturellen Grenze oder der prinzipiellen Infragestellung kultureller Grenzen als solcher hat die Intertextualität als Gedächtniskonzept noch kein primäres Interesse, wenn es sie auch nicht ausschließt. Dies wird erst durch eine Integration der Intertextualität in das Methodenarsenal der Postcolonial Studies erreicht, die ihrerseits poststrukturalistisch an einer Destabilisierung und Infragestellung hegemonialer Eindeutigkeiten interessiert sind. Mit den Postcolonial Studies kommt explizit eine kulturüberschreitende Perspektive ins Blickfeld von literaturwissenschaftlicher Analyse wie auch literarischer Praxis. Intertextuelle Bezüge und Schreibweisen sind durch ihre prinzipielle semantische Offenheit prädestiniert dafür, hier fruchtbar zu werden. Parallel zu dieser Entwicklung der Intertextualitätstheorie fanden in der Literaturwissenschaft, vor allem in der Komparatistik, ab den 1990er Jahren Diskussionen über die Möglichkeiten einer Weltliteraturgeschichtsschreibung statt.23 Die für die Debatten der Geschichtswissenschaft relevanten Fragen zur Unterscheidung von Universal-, Welt- und Globalgeschichte sind dabei auch für die Literaturwissenschaft bestimmend.24 Aufgegeben werden, wie in der Intertextualitätstheorie, Modelle der Literaturgeschichtsschreibung, die unilineare, teleologische Entwicklungsverläufe literarischer Evolution favorisieren (Pendant zur Universalgeschichte). Anerkannt wird hingegen eine Pluralität von Literaturgeschichten ohne vereinende Metanarration in ebenso plural begriffenen kulturellen Kontexten, die die national ausgerichtete Literaturgeschichtsschreibung prinzipiell in Frage stellen. 22 23 24
Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur: Intertextualität in der russischen Moderne, Frankfurt am Main 1990. Vgl. exemplarisch z.B. Christopher Prendergast (Hg.): Debating World Literature, London / New York 2004. Osterhammel: „Weltgeschichte“: Ein Propädeutikum, S. 458–62 (wie Anm. 21).
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Für die Literaturwissenschaft gilt, dass besonders die Ausweitung des Blicks auf außereuropäische Literaturen in jenen Disziplinen, die sich mit den Folgen des Kolonialismus der Neuzeit in der Literatur auseinanderzusetzen hatten (also beispielsweise die Romanistik oder Anglistik), die Frage nach dem Einbezug und dem Status weltliterarischer Fragestellungen aktualisierte.25 Der Afrikanist Thomas Geider legte ein Modell zu den „Möglichkeiten des Einschlusses afrikanischer Literaturen in die Weltliteraturdiskussion“ vor, in dem er systematisch zwischen drei Möglichkeiten der Weltliteraturgeschichtsschreibung unterscheidet.26 Er selbst plädiert für den dritten Ansatz, der „Weltliteratur als Kommunikation“ begreift.27 Dieser Ansatz schließt an das Goethesche Modell der Weltliteratur an, das diese als „diskursiven Raum“ versteht. „International kommuniziert werden zwischen Autoren, Kritikern, Wissenschaftlern, Lehrern und Literaturliebhabern hierbei nicht allein Werke, sondern auf einer Teilebene darunter auch literarische Elemente, Haltungen, Übersetzungen, Sprachinterferenzen, Interpretationen, zugrunde liegende Lektüren, explizite und implizite Interessen, Einflussgrößen und Kritikerdiskurse.“28
Intertextualitäten sind, so ließe sich methodisch ergänzen, eine der zahlreichen Formen, in der diese Form der Kommunikation stattfinden kann. Johann Wolfgang von Goethes Konzept einer Weltliteratur als Kommunikationsraum unter differenten aber gleichrangigen Gesprächspartnern hat so auch maßgeblich die Debatten um die Herausforderungen komparatistischer literaturwissenschaftlicher Arbeitsweisen geprägt und fand, beispielsweise durch Homi Bhabha, auch Eingang in die theoretischen Diskussionen der Postcolonial Studies.29 Bhabha hebt besonders die Bedeutung von Migration (die Situation, in der sich im Fallbeispiel Ėto ja – Ėdička sowohl Autor als auch Protagonist des Textes befinden) als Ort weltliterarischer Bewegungen hervor.30 Der Afrikanist Geider 25
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Annette Werberger: World Literature as Entangled Literary History, Vortrag bei 43rd Annual ASEEES Convention in Washington, D.C. beim gleichnamigen Roundtable, 18.11.2011 (unveröffentlichtes Manuskript). Thomas Geider: Weltliteratur in der Perspektive einer Longue Durée II. Die Ökumene des swahilisprachigen Ostafrika, in: Özkan Ezli u.a. (Hg.): Wider den Kulturenzwang. Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur, Bielefeld 2009, S. 379–419, S. 383. Ibid., S. 385. Die anderen beiden Ansätze sind „Weltliteratur als Summation“ (ibid., 383) und „Weltliteratur als Selektion“ (ibid., 384.). Ibid., S. 385. Zum Konzept der Weltliteratur allgemein vgl. auch die Zusammenfassung der wichtigsten von Goethe selbst nicht systematisierten Aspekte bei Leo Kreutzer: Sprache und Literatur dieseits und jenseits der Nation, in: M. Moustapha u.a. (Hg.): Interkulturelle Texturen. Afrika und Deutschland im Reflexionsmedium der Literatur, Bielefeld 2003, S. 267–83, S. 27–76. Vgl. hierzu z.B. Stefan Hoesel-Uhlig: Changing Fields. The Directions of Goethe’s Weltliteratur, in: Christopher Prendergast (Hg.): Debating World Literature, London / New York 2004, S. 26–54. „The study of world literature might be the study of the way in which cultures recognize themselves through their projections of ‚otherness‘. Where, once, the transmission of national traditions was the major theme of a world literature, perhaps we can now suggest that transna-
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sieht in dem Goetheschen Verständnis von Weltliteratur eine Möglichkeit, auch orale Literaturen, wie sie für die Situation in vielen afrikanischen Kulturen kennzeichnend sind, in den Diskurs der Weltliteratur einzubringen. In der slavistischen Diskussion verfolgt schließlich Annette Werberger in ihrem Projekt einer „Weltliteratur als Verflechtungsgeschichte“ unter anderem das Ziel, Textarten, die der Diskurs der Moderne aus der Literatur ausgeschlossen hat, in diesen zurückzuführen.31 Sie thematisiert dabei nicht nur außereuropäische, aus eurozentristischen Kanonisierungsprozessen ausgeschlossene Literaturarten wie die afrikanische Oralliteratur, mit deren weltliterarischen Implikationen sich Geider auseinandersetzte, sondern auch innereuropäische, die durch ähnliche Prozesse ebensolchen Ausschluss- oder Marginalisierungsbewegungen unterworfen wurden, beispielsweise die Folklore. Damit kehrt sie, nicht ausschließlich, aber partiell, in einen binnenkulturellen Diskursraum zurück, so wie ihn die Konzeption von Intertextualität als Auseinandersetzung mit dem kulturellen Gedächtnis thematisierte, transzendiert dabei jedoch trotz allem ebenso wie die kulturübergreifenden Ansätze die Narrative von Moderne und nationaler Literaturgeschichte, die konstitutiv für die in Frage gestellten Ausschlussprozesse waren. Die Untersuchung von etwaigen Intertextualitäten kann in allen genannten Ansätzen als eine unter vielen Methoden erachtet werden, mit deren Hilfe den dynamischen Verflechtungen mit sehr unterschiedlichen Zielsetzungen sowohl binnen- als auch transkulturell nachgegangen werden kann. Die Intertextualitäten können dabei auf den unterschiedlichsten Ebenen auffindbar sein und beispielsweise zwischen ein- und ausgeschlossenen, eigen- und fremdkulturellen, oralen und schriftlich fixierten, „folkloristischen“ und „hochkulturellen“ Texten liegen, woraus sich in dem Kontakt zwischen den Texten und den sie umgebenden Kulturen Translationen, semantische Brüche oder neue textuelle und kulturelle Bedeutungen ergeben. Intertextualität ist Kommunikation zwischen Texten und trägt so zu einem Verständnis von Weltliteratur als Kommunikation bei, ohne dabei aus dem Blick zu verlieren, dass auch andere Aspekte – wie die von Geider genannten – sowohl Subjekte als auch Objekte der Kommunikationsprozesse innerhalb eines weltliterarischen Systems sein können. Intertextualität ist mit ihrem Fokus auf der Verflechtung von Texten somit nicht das einzige Instrumentarium, das den Fragestellungen der Weltliteratur dienlich sein kann. Sie ist aber in jedem Falle eines, das den Verflechtungsdynamiken auf der textuellen Ebene der Weltliteratur als interagierendem weltumspannenden System im Sinne Osterhammels und letztlich
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tional histories of migrants, the colonized, or political refugees – these border and frontier conditions – may be the terrains of world literature.“ Homi K. Bhabha: The Location of Culture, London / New York 1994, S. 17. Ich danke Annette Werberger, die mich in die Thematik der aktuellen Weltliteraturdiskussion einführte.
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auch Goethes (der jedoch seinerseits dem Text als alleinigem Kommunikator eher zu misstrauen schien) nachgehen kann.32 III. LÉOPOLD SÉDAR SENGHOR IN ĖTO JA – ĖDIČKA Es ist wiederholt aufgezeigt worden, dass gerade Limonovs frühe Texte ausgesprochen intertextuell arbeiten. Betont werden beispielsweise sein Anknüpfen an Texte Vladimir Majakovskijs oder Fëdor Dostoevskijs.33 Auch nicht-russische Autoren, zum Beispiel Louis-Ferdinand Céline oder Henry Miller, werden genannt und so der rein russischsprachige kulturelle Kontext transzendiert.34 Lisa R. Wakamiya vergleicht Limonovs Methode der Quasi-Autobiographie auch mit der des französischen Naturalisten Joris-Karl Huysman.35 All diese Beispiele verweilen jedoch in einem „westlichen“ literarischen und kulturellen Raum. Limonovs Text entstand zu einem Zeitpunkt, als die theoretischen Intertextualitätsdebatten mit ihrer Infragestellung von Möglichkeiten der Autorschaft und des Subjektbegriffs höchst aktuell waren. Die gesamte von Smirnov herausgearbeitete narzisstische Grundstruktur des Textes lässt sich als literaturtheoretischer Metakommentar, als Auseinandersetzung nicht nur mit dem Trauma der Emigration und des Exils sowie einer verlorenen Liebe auf der Sujetebene, sondern auch mit der nach der Möglichkeit von Autorschaft in der Postmoderne generell einordnen. Ein Autor zu sein, der wie Ėdička zwar schreiben kann, aber nicht mehr gelesen wird, und letztlich in seinem Schreiben nur auf die Inszenierung seiner eigenen Persönlichkeit bedacht ist, der sich selbst als heldenhaftes Subjekt verabsolutiert, ohne jemals das Objekt seines Begehrens zu erreichen – sei es nun in Form erfüllter Liebe, sei es als anerkannter, also vom Leser ebenso wie von einer Frau geliebter Produzent von literarischen Texten – ist das einzige, was einem Autor nach dem Verlust den Kategorien des Autors und des originellen Textes bleiben kann. Sowohl Limonovs Text als auch Ėdičkas permanente Selbstinszenierung kreisen nur um das eine: das eigene Leben als letztmöglichem, absoluten Werk. Zusammengesetzt wird all dies jedoch wiederum aus fremden Texten, so dass die narzisstische Grundstruktur letztlich auch die fragmentarisierte Identität der Postmoderne widerspiegelt. Es geht in diesem Text also noch nicht um eine positive Lesart der fragmentarisierten Identität, wie sie später beispielsweise die postkolonialistische Diskussion in der Figur des Migranten sieht, sondern vielmehr um das 32 33
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Zu Goethes Misstrauen vgl. Kreutzer: Sprache und Literatur dieseits und jenseits der Nation, S. 275 (wie Anm. 28). Zu Majakovskij vgl. Andrei Rogachevskii. The Doppelgänger, or the Quest for Love. Eduard Limonov as Vladimir Maiakovskii, in: Canadian-American Slavic Studies 30 (1996), Hf. 1, S. 1–44; zu Dostoevskij vgl. Matich: The Moral Immoralist (wie Anm. 13). Zu Céline vgl. Lisa R. Wakamiya: Eduard Limonov and the Life and Death of Exilic Identity, in: Canadian-American Slavic Studies 37 (2003), Hf. 1–2, S. 31, zu Miller vgl. Carrère: Limonov, S. 16 (wie Anm. 4). Wakamiya: Eduard Limonov, S. 47 (wie Anm. 34).
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Trauma des Verlustes der Mastererzählung, die auch Kategorien wie Autorschaft und Identität umschließt. Es ist dieses Trauma, das Limonov in der Figur des Migranten Ėdička thematisiert. Um den verlorenen Objektbezug und die Möglichkeiten von Autorschaft geht es auch in dem aus den Übersetzungen gestrichenen Kapitel „Leopol’d Sengor i Bėnžamėn“. Darin gibt es eine ganz kurze Szene, die im Kern der weiteren Betrachtungen stehen soll und die den Text in einen weiteren, den Raum des „Westens“ verlassenden Kontext einordnet. Das Kapitel beginnt mit einer Wiederholung der den ganzen Roman bestimmenden Grundthemen, Ėdičkas Erfolglosigkeit als Autor, seinem Ausgeschlossensein aus der Gesellschaft, seiner verlorenen Liebe, kurz der narzisstischen Einsamkeit, die sich aus dem Objektverlust ergibt. Objektbezogenheit, also Momente der Erfüllung, des Aufgehobenseins, des Eingebettetseins und des Friedens erlebt Ėdička in dem gesamten Roman nur selten. Zwei dieser Momente, einer, analog zur Struktur des gesamten Textes, im ersten und einer im zweiten Teil des Romans, kreisen um flüchtige homosexuelle Begegnungen mit afroamerikanischen (Klein-)Kriminellen, denen Ėdička sich hingibt, wobei er gar den weiblichen Part übernimmt, die er jedoch nach kurzen ekstatisch erlebten Momenten unwiderruflich verlässt (Kapitel „Kris“ (dt. „Chris und das Spiel im Sand“) und „Lus, Aleška, Džonni i drugie“ (dt. „Nachts auf den Straßen“). Die Szene, um die es mir in dem in den Übersetzungen verloren gegangenen Kapiteln geht, knüpft indirekt hier an. Ėdička imaginiert eine weitere Situation der Objektbezogenheit, die jedoch ebenfalls scheitern wird. Nicht die erotische Liebe ist hier Zentrum der erfüllten Objektbeziehung, d.h. Triebbefriedigung, sondern dessen Zwilling – zumindest in Ėto ja – Ėdička – die Möglichkeit von Autorschaft, das Gelesen-Werden und der damit hergestellte Bezug zum anderen. Kern der Phantasie ist der 1979 bei Erscheinen des Buches noch amtierende senegalesische Präsident Léopold Sédar Senghor.36 Senghor war nicht nur erster Präsident des unabhängigen Senegal, er zählt, wie eine Website der Heinrich Böll Stiftung sehr treffend formuliert, zu den „legendären Persönlichkeiten Afrikas“.37 Mitte der 1970er Jahre, als Ėto ja – Ėdička entstand, war Senghor Staatsmann und Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels; nur kurz nach der Erstveröffentlichung von Ėto ja – Ėdička, 1983, wurde er erstes afrikanisches Mitglied der Academie française. Vor allem aber war Senghor nicht nur Politiker und Philosoph, sondern auch Dichter. Gemeinsam mit Léon Damas und Aimé Césaire begründete er im Paris der Zwischenkriegsjahre die Bewegung der Négritude, die im kolonialistischen 36
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Zu Senghor vgl. Janet G. Vaillant: Black, French, and African. A Life of Léopold Sédar Senghor, Cambridge, Massachusetts / London, England 1990; János Riesz: Léopold Sédar Senghor und der afrikanische Aufbruch im 20. Jahrhundert, Wuppertal 2006. Heinrich Böll Stiftung: Léopold Sédar Senghor – Staatsmann, Poet, Weltbürger und afrikanischer Europäer, , 22.02.2011.
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Frankreich nur wenig zeitversetzt zur afroamerikanischen Harlem Renaissance ein schwarzafrikanisches kulturelles Selbstbewusstsein formulierte.38 Senghor tat dies auf Französisch, der Kolonialsprache Senegals, in der er zwar einerseits seine gesamte akademische Ausbildung erhielt, die aber andererseits auch die Sprache der Diaspora ist, innerhalb derer das Konzept der Négritude in Paris entwickelt wurde. Senghor brachte es somit in einer Sprache zur Meisterschaft, deren strukturelles Äquivalent Ėdička in seiner Situation unzugänglich bleibt. Limonov lässt sein Alter Ego in dessen Phantasie nun einen Brief an Senghor schreiben, der, so der Auslöser der Phantasie, im gleichen österreichischen Sammelband wie Ėdička / Limonov im Jahr 1973 einen Text veröffentlicht habe.39 Ėdička (und damit auch Limonov) und Senghor werden so als Dichter gleich gesetzt, und Ėdička phantasiert weiter, dass Senghor ihn als Dichterkollegen auf seinen Brief hin einlade.40 Beide sitzen in der nun folgenden Szene an einem weißgedeckten Tisch, Ėdička liest Senghor seine Texte vor, er ist, wie in Russland, wieder ein Dichter, dessen Worte gehört werden: „Ja ubegu ot N’ju-Jorka i budu snova, kak v Rossii, poėt, a ne vėlfėrščik Ėdička.“ (dt. „Ich entfliehe New York und werde wie in Russland, wieder ein Dichter sein und nicht Ėdička, der Sozialhilfeempfänger.“ eig. Übers.)41 Relevant ist nicht nur, dass die Orte Moskau – Ort der gefeierten Existenz als Poet – und Dakar – Heimat Senghors – gleichgesetzt und damit Russland und Afrika als außerhalb der westlichen Hemisphäre befindlich lokalisiert werden, sondern auch, dass Limonov in dieser Szene das in anderen Szenen sexuell kodierte Objekt durch ein poetisch kodiertes ersetzt. In beiden Fällen wird dies mit Vertretern der globalen afrikanischen Gemeinschaft im Sinne der Négritude realisiert, die als Ersatz dienen für den Verlust der sexuellen Erfüllung mit der verloren gegangenen idealisierten russischen Partnerin Elena und dem ebenso idealisierten Raum der objektbezogenen poetischen Sprache, letztlich also mit der Möglichkeit von Autorschaft als solcher. Die Szene mit Senghor, in der Ėdička sich als wiedergeborener Dichter imaginiert, ist dabei bezeichnenderweise selbst sprachlich hochgradig poetisch orga 38
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Zur Négritude und vor allem zu Senghors Anteil vgl. z.B. Riesz: Léopold Sédar Senghor, S. 129–217, 61–307 (wie Anm. 36); Vaillant: Black, French, and African, S. 87–117, 243–72 (wie Anm. 36). Gemeint ist wahrscheinlich die von 1972–1977 erschienene Wiener Literaturzeitschrift Die Pestsäule, deren Onlinebeschreibung in der Nummer 6 aus dem Jahr 1973 tatsächlich Senghor und Limonov als Autoren angibt (Österreichische Nationalbibliothek: Die Pestsäule 1972–1990, in: Österreichische Literaturzeitschriften 1945–1990 (Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur, 2007–2010), , 06.06.2012. Wenn auch Ėdička eine Parallelisierung vornimmt, so könnten die Texte der beiden Autoren jedoch unterschiedlicher kaum sein. Beide arbeiten mit hochgradig literarisierter Sprache, operieren aber auf vollkommen unterschiedlichen lexikalischen Ebenen. Während Limonov Umgangssprache, Anglizismen, Fäkaliensprache und infantilisierende Sprachebenen einsetzt, schreibt Senghor sprachlich-stilistisch auf höchstem Niveau. Limonov markiert den literarischen Ort Senghors durch ein Epitethon: Er nennt ihn einen schwarzen Mark Aurel. Limonov: Ėto ja – Ėdička , S. 204 (wie Anm. 2).
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nisiert. Ėdička spricht von der „grünen Stadt“, „zelen[yj] gorod[]“, ein deutliches Anagramm auf den Namen des Landes Senegal und den von Léopold Sédar Senghor selbst.42 Aber noch nicht einmal in dieser Imagination kann letztlich der Objektbezug gewahrt bleiben. So wie Ėdička in seinen homosexuellen Begegnungen mit schwarzen Männern nur flüchtige Erfüllung findet, so ist auch die Begegnung mit Senghor selbst in der Imagination flüchtig und wird narzisstisch instrumentalisiert. Ėdička stellt sich vor, er sitze mit Senghor an einem weiß gedeckten Tisch – ein deutliches Gegenbild zum Dreck, mit dem sich Ėdička in New York umgeben sieht – und lese ihm seine Gedichte vor. Auf Senghor werde dann ein Attentat verübt, er, Ėdička, werfe sich heldenhaft vor Senghor und lasse in einer theatralischen Geste sein Leben. Sein Blut fließe auf die weiße Tischdecke und in den Weißwein und bilde, wie Ėdička sich pathetisch vorstellt, wunderschöne Muster. In der Erfüllung der dichterischen Objektbezogenheit muss Ėdička also als Figur sein Leben lassen, um so zum Helden zu werden. Dies ist eine unverhohlene intertextuelle Anknüpfung an einen eigenen Text Limonovs, der kurz vor der Emigration entstand: „My – nacional’nyj geroj“ (dt. „Wir – Nationalheld“, eig. Übers.; datiert auf Moskau, Mai 1974) wird von Olga Matich als „mock-heroic fantasy“ beschrieben, in der das Alter Ego Limonovs und seine Frau Elena (jene, die Ėdička in New York verlieren wird) die westliche Welt sowohl als Paar als auch als Künstler im Sturm erobern.43 Der Held Limonov ist in diesem Text noch ein Autor, der Autor und Künstler sein darf und kann; inszeniert wird hier das noch nicht durch das Trauma der Entwurzelung beeinträchtigte Ego des gefeierten Undergroundschriftstellers in Moskau, der im Westen nicht weniger gehört wird. Der Autor wird als (letztes) romantisches Genie überhöht, vor dessen Genialität der Westen auf die Knie fällt. Limonovs Alter Ego nimmt in diesem Text bezeichnenderweise die Kontaktangebote der international arrivierten Künstlerbohème und/oder -elite, auf die er in Paris trifft, an, ganz im Gegensatz zu Ėdička in New York. Wichtig erscheint mir, dass die intertextuelle Markierung in Ėto ja – Ėdička unter anderem über eine Referenz auf eine persönliche Einladung des heldenhaften Alter Egos Limonovs durch den französischen Präsidenten in „My – nacional’nyj geroj“ in den späteren Text eingeschrieben wird. In Ėto ja – Ėdička wird diese Einladung nun durch die Senghors ersetzt, was bedeutende semantische Konsequenzen hat. Der französische Präsident in „My – nacional’nyj geroj“ repräsentiert das Zentrum jener Macht, die Kolonialmacht des Senegal war. Der Präsident Senghor und die Négritude stehen für eine intellektuelle Auflehnung gegen diese Macht und die postkoloniale Unabhängigkeit (1961) ebenso wie für das Senghor zu Beginn der 1970er Jahre u.a. von der Studentenbewegung erbittert vorgeworfene erfolgreiche Einschreiben in die Diskurse Frankreichs. Senghor 42 43
Ibid. Der Text erschien als Ėduard Limonov: My – nacional’nyj geroj, in: Michail Šemjakin (Hg.): Apollon’-77, Paris 1977, S. 57–62; Matich: The Moral Immoralist, S. 527 (wie Anm. 13).
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steht paradoxerweise für Peripherie und Zentrum zugleich, er steht für die Möglichkeit von Integration und Autorschaft vom Rande her, eine Möglichkeit, die Ėdička verwehrt bleibt. In Ėto ja – Ėdička liegt erst in der Phantasie eines heldenhaften Todes, in der Errettung Senghors, eine Art Apotheose. Hierdurch wird Ėdička wieder Held, sein Heldentum wäre die gleichzeitige Realisierung seiner poetischen Existenz und seiner sexuellen Potenz, schlicht die Rückgewinnung des verlorenen Objektbezugs. Dies aber wird durch den eigenen Tod erkauft, der Narziss kann das Gegenüber nur am Leben lassen, wenn er sich selbst vernichtet. Überlebt Senghor als Dichter, muss Ėdička sterben. Schließlich kann der Erzähler Ėdička die Phantasie aber noch nicht einmal aufschreiben, da er kein Papier bei sich hat. Sie ist letztlich also genauso flüchtig wie die sexuellen Begegnungen mit den afroamerikanischen Kleinkriminellen, die die soziale Umgebung Ėdičkas bevölkern. Die Imagination eines Attentats auf den Präsidenten einer ehemaligen Kolonie Frankreichs und seine in der Narration funktionale Parallelsetzung mit afroamerikanischen Kriminellen, und dies obendrein in einem Kontext, der durch Homosexualität markiert ist, könnte, meiner Vermutung nach, einer der Gründe sein, warum das Kapitel in den zunächst ja durch den französischsprachigen Markt determinierten Übersetzungen verloren ging.44 Ein anderer könnte ein dem Text inhärenter sein: Ėdička hat schließlich kein Papier bei sich, und die literarische Gestalt Ėdička inszeniert das Leben des Autors Limonovs, so dass Limonov den Abschnitt nicht in seinen Text integrieren kann. Schließlich könnte die Person Senghors selbst der Grund sein, denn die Identifikation mit Senghor ist zur Entstehungszeit des Romans auch ohne die funktionale narrative Parallelisierung von Senghor mit afroamerikanischen kleinkriminellen Homosexuellen nicht ohne Provokation. Senghor steht zu diesem Zeitpunkt nicht nur für eine erfolgreiche Annäherung von ehemaliger Kolonie und ehemaliger Kolonialmacht bzw. repräsentiert einen bedeutenden Staatsmann, Intellektuellen und Philosophen. Vor allem die westliche Linke, von der Ėdička sich vehement abzusetzen sucht, betrachtete ihn aufgrund seines problemlosen Einschreibens in französische Diskurse und seiner ausgesprochen frankophilen Politik als Handlanger des Neokolonialismus. 1968 war es bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Senghor in Frankfurt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und linksgerichteten Demonstranten gekommen, in deren Verlauf auch Haftstrafen auf Bewährung verhängt wurden.45 44
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Andererseits ist es unwahrscheinlich, dass der Herausgeber des Romans Skandale scheute. Möglicherweise spielte auch die politische Situation im Senegal zur Publikationszeit und Senghors frankreichfreundliche Grundhaltung eine Rolle. Senghor, der schon länger als Politiker im Land selbst umstritten war, realisierte in den Jahren um 1980 seinen endgültigen Rücktritt als Präsident und übergab als erster afrikanischer Präsident nach nahezu 20 Jahren sein Amt friedlich an seinen Nachfolger Abdou Diouf. Vgl. hierzu z.B. Vaillant: Black, French, and African, S. 332 (wie Anm. 36). Vorausgegangen war eine durch Senghor angeordnete gewaltsame Niederschlagung eines Generalstreiks in Dakar, mit dem die globalen Unruhen von 1968 auch auf den Senegal über-
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Auch in der Sowjetunion, von deren offiziellen und inoffiziellen Diskursen sich Ėdička ebenso abzusetzen suchte, war Senghor eine umstrittene Gestalt. Einerseits wurde er als Schriftsteller wahrgenommen, seine Texte erschienen in weitverbreiteten Anthologien in russischer Übersetzung.46 Andererseits wurde seine Version eines afrikanischen Sozialismus, den er in expliziter Abgrenzung zum sowjetischen Marxismus-Leninismus entwickelte, aus ideologischer Perspektive scharf kritisiert.47 Senghor war daher eine zu Beginn der 1970er Jahre in Ost wie West stark polarisierende Figur. Es ist ausgerechnet diese Figur, mit der Ėdička sich in Ėto ja – Ėdička explizit positiv, wenn auch nur imaginär, identifiziert. Mit Blick auf die zirkuläre Struktur des Romans verweist Smirnov darauf, dass das Kapitel „Leopol’d Sengor i Bėnžamėn“ (Kapitel 10), das sich im zweiten Teil befindet, mit dem dritten Kapitel des Textes („Drugie i Rajmon“, dt. „Der Versuch mit Raymond“) korrespondiere. Verbindendes Element ist in dieser Lesart Ėdičkas negative Erfahrung mit Homosexualität. In Kapitel drei geht Ėdička erstmals eine homosexuelle Verbindung mit einem reichen New Yorker Bohémien ein, die ihn jedoch abstößt. In „Leopol’d Sengor i Bėnžamėn“ trifft Ėdička nach seiner Senghor-Phantasie auf den Briten Bėnžamėn, der in New York nach homosexuellen Abenteuern sucht und Ėdička eindeutige Angebote macht. Ėdička hat zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits die kurze erfüllte Verbindung mit dem Afroamerikaner Chris erlebt und geht nicht darauf ein. Sowohl Rajmon als auch Bėnžamėn suchen, so Smirnov, ebenso wie Ėdička nach dem Ausgleich eines Defizits, weshalb sie für Ėdička nicht als Partner in Frage kämen. Es ist auffällig, dass sowohl Rajmon als auch Bėnžamėn nicht explizit als „Schwarze“ identifiziert werden, sie also gerade aufgrund dieser Nichtmarkierung implizit als „Weiße“ markiert werden. Die Erfüllung in der homosexuellen Sexualität wird so mit einer Hautfarbe in Verbindung gebracht, eingeschrieben in den Text bleibt also die Figur der sexuellen Erfüllung, der Objektbeziehung mit dem Anderen über den Anderen – trotz der Identifikation Ėdičkas mit Außenseitern der ameri
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geschwappt waren. Ein zentraler Kritikpunkt an Senghor war seine zu starke Bindung an Frankreich in der Organisationsstruktur der Universität, die letztlich trotz nationaler Unabhängigkeit von Frankreich aus gesteuert wurde. Zum Verlauf der Auseinandersetzungen bei der Preisverleihung in Frankreich vgl. Niels Seibert: Vergessene Proteste: Internationalismus und Antirassismus 1964–1983, Münster 2008, S. 59–71. Die Argumentationslinien der Demonstranten und der Verlauf der Auseinandersetzungen wurde von diesen später in einer dokumentarischen Broschüre zusammengefasst: Republikanische Hilfe SDS (Hg.): Ihre Ordnung ist auf Sand gebaut: Dokumentation zur Buchmesse + zum Senghor-Prozess, Frankfurt am Main 1968. M. Vaksmacher u.a. (Hg.): Poėzija Afriki, Biblioteka vsemirnoj literatury, Moskau 1973, S. 474–512. Vgl. auch Keith O. Tribble: La réception des oeuvres des fondateurs de la négritude en URSS, in: Oeuvres & Critiques III, 2–IV (1978–1979), Hf. 1, S. 65–74, S. 74. Hierzu basierend auf den Auseinandersetzungen sowjetischer Kritiker mit Senghors poetischen Texten vgl. М. Vaksmacher: La réception des oeuvres des fondateurs de la négritude en URSS, S. 66–69 (wie Anm. 46).
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kanischen Gesellschaft wie Migranten und Nicht-Weißen partizipiert er also an hegemonialen, euro- oder westzentristischen Diskursen der Stereotypisierung des Anderen als reinem Sexualobjekt, das nur der eigenen Bedürfnisbefriedigung dient. Analog dazu lässt sich auch die phantasierte Begegnung mit Senghor interpretieren: Sie dient nicht dazu, Senghor als gleichberechtigten Autor zur Sprache kommen zu lassen – obwohl Senghor und nicht Ėdička überlebt, obwohl Senghor als „schwarzer Marc Aurel“ bezeichnet wird und nicht Ėdička –, sondern einzig der narzisstischen Selbstinszenierung. Die okzidentale Bedürfnisbefriedigung über einen diskursiven Mißbrauch des Anderen entspricht ebenso einer narzisstischen Grundstruktur, denn nicht eine erfüllte Objektbeziehung zum anderen ist Inhalt rassistischer Diskurse. Stattdessen wird das Objekt ausschließlich für die Erfüllung sublimierter eigener Bedürfnisse instrumentalisiert. Nicht nur die Postmoderne und der Verlust der Möglichkeit von Autorschaft ist also in die Struktur des Textes eingeschrieben, auch die Funktionsweise und Partizipation an ethnisch-diskriminierenden Diskursen, trotz aller Identifikationsvorgänge, die inszeniert werden. Eine bewusste Dekonstruktion dieser Diskurse findet in Ėto ja – Ėdička ebensowenig statt, wie Ėdička am Ende seiner „therapeutischen Erzählreise“ geheilt wird und aus der Einsamkeit herausfindet. Auf eine andere Ebene gehoben, ist der Text gerade aufgrund der Vernetzungsoperationen, die in ihm stattfinden, also auch ein Dokument über die narzisstische Isolierung kultureller okzidentaler Überlegenheitsdiskurse. Die Figur des Migranten Ėdička wirkt im Sinne Homi Bhabhas hier nur insofern destabilisierend, als auf der einen Ebene radikale Kritik an offiziellen Diskursen der Sowjetunion und der liberalen kulturellen Selbstpositionierung Amerikas stattfindet und gerade über die Inszenierung des Traumas des Identitätsverlusts auf die Multiplizität von Identität hingewiesen wird. Auf einer zweiten, textuellen Ebene, auf derjenigen, die der narzisstischen Erzähl- und Textstruktur von Ėto ja – Ėdička entspricht, werden jedoch ethnisch (wie auch damit verschränkt sexuell) diskriminierende Diskurse eher stabilisiert als dekonstruiert, ist der Text doch Ausdruck des Traumas und nicht der gelungenen Multiplizität der fragmentierten Identität und daraus resultierender subversiver Dynamik. Dies ist umso signifikanter als sich die Episode der Senghorphantasie, wie der erste Satz des Kapitels zweifelsfrei feststellt, während einer kurzen Liebesbeziehung Ėdičkas mit der amerikanischen Intellektuellen Rozanna abspielt, die im Kapitel davor („Rozanna“, dt. „Die Schizo-Rosanne“) ausführlich geschildert wurde. Hinter Rozanna könnte sich trotz einiger biographisch nicht passender Details Susan Sontag verbergen, mit der Limonov, so zumindest Carrère, in New York tatsächlich zusammentraf.48 1975 schrieb diese ihren Essay „Fascinating Fascism“, in dem sie vor dem Hintergrund einer Welle zum Teil feministisch motivierter großer Begeisterung für die Person Leni Riefenstahl deren 1973 erschie 48
Carrère: Limonov, S. 146 (wie Anm. 4). Für den Hinweis darauf, dass Rozanna Susan Sontag sein könnte und die Koinzidenz mit „Fascinating Fascim“, danke ich Igor Smirnov.
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nenen Bildband The Last of the Nuba scharf kritisierte.49 Sontag warf Riefenstahl vor, dass diese die Ästhetik ihrer nationalsozialistischen Propagandafilme insofern wiederhole, als sie die afrikanischen Nuba konsistent mit zentralen Topoi faschistischer Propaganda darstelle. Das Verhältnis, das sich zwischen Limonov, Ėdička, dem Text Ėto ja – Ėdička und Susan Sontag, Rozanna und dem Text The Last of the Nuba aufmacht, ist, gerade im Hinblick auf die Episode mit Senghor ein höchst komplexes. Im Kern ist das Verhältnis, das Ėdička mit Rozanna eingeht, charakterisiert durch die beiden Pole Egomanie und Untertänigkeit, die Sontag sowohl faschistischer Kunst als auch Riefenstahls ästhetisierter Inszenierung der Nuba, insbesondere ihrer Körperlichkeit, attestiert. Ėdička wäre also über diese intertextuelle Relation nicht nur mit den afroamerikanischen Homosexuellen, dem Politiker und Philosophen Senghor, sondern auch mit den afrikanischen Nuba kurzgeschlossen. Für eine solche Lesart spricht auch die Selbstinszenierung der Schönheit des eigenen Körpers bei gleichzeitigen permanenten Gesten der Selbsterniedrigung, die den gesamten Roman durchzieht. Zugleich aber ist Ėdička der Produzent des Textes, seine Position entspricht also auch der Riefenstahls. Somit ist er in diesem Zusammenhang Opfer und Täter zugleich, so wie er in seiner Identifikation mit ethnisch Anderen die sie diskriminierenden Diskurse mit aufrecht erhält. Schließlich kommt auch die Figur Sontags / Rozannas in Kombination mit der Senghors mit ins Spiel, denn Ėdička identifiziert sich mit Senghor während seiner ambivalenten, kurzen Beziehung zu Rozanna. Rozanna wird von Ėdička als schizophren und bedürftig dargestellt, und er verlässt sie aus genau diesem Grund am Schluss des Kapitels mit einer Geste der Überlegenheit. Während der ausschließlich sexuell geprägten Beziehung überlässt Ėdička ihr eine auszugsweise englische Übersetzung von seinem Text „My – nacional’nyj geroj“ (womit Erzähler und Autor wieder gleichgesetzt wären), die Rozanna aber nicht liest. Der Text befindet sich aber so in zwei in Beziehung zueinander stehenden Kapiteln, zunächst in „Rozanna“ als explizit genannter Titel, im darauf folgenden Kapitel „Leopol’d Sengor i Bėnžamėn“ als intertextuelle Relation. Während Rozanna Ėdička sein Heldentum verweigert, gelingt ihm dies in der imaginierten Beziehung zu Senghor, wo er wieder gelesen und erhört wird. Rozanna steht für das Scheitern, Senghor für das flüchtige Gelingen. IV. EINE DRITTE REVOLUTION Während die bisherigen Überlegungen von den Kapitelkongruenzen ausgingen, die Smirnov ausgemacht hat, lassen sich weitere Überlegungen über die Identifikation mit Senghor als polarisierende Figur jedoch auch noch über eine Verbindung mit einem anderen Kapitel aus dem ersten Teil anstellen, dem Kapitel „Kėrol“ 49
Susan Sontag: Fascinating Fascism, in: The New York Review of Books, 06.02.1975, , 17.02.2012.
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(Kapitel fünf, dt. „Meetings mit Carol“).50 Dieses Kapitel thematisiert Ėdičkas Begegnung mit radikalen linken politischen Kreisen in den USA. Limonov kritisiert in Ėto ja – Ėdička nicht nur das Regime der Sowjetunion, er greift mit ähnlicher Vehemenz das vermeintlich freie Amerika an, ein Standpunkt, der ihm nicht wenig Kritik einbrachte. Dies könnte ein Effekt des von Lisa Wakamiya eingehender analysierten komplexen Verhältnisses zwischen Erzähler und Leser sein, das vor allem darin besteht, den Leser provozierend beständig gegen den Erzähler Ėdička aufzubringen.51 Ein Mittel, um dies zu erreichen, ist die grundsätzliche Ablehnung sowohl der Sowjetunion also auch der USA, linker und rechter Kreise zugleich. Das Kapitel „Kėrol“ ist die Exemplifikation dieser Position, die mehrfach explizit von Ėdička selbst, zum Schluss noch einmal von einem Afroamerikaner formuliert wird und an die letztlich auch das Kapitel „Rozanna“ anschließt.52 Nicht nur der Sowjetunion, auch der USA werden Menschenrechtsverletzungen und Zensur vorgeworfen, sowjetische Dissidenten werden als „Rechte“ diskreditiert, und selbst die Linke in den USA wird schließlich als abgehobene, intellektualistische, elitäre Bewegung begriffen, die für die Situation der Afroamerikaner oder eben Ėdička letztlich nur Lippenbekenntnisse übrig hat. Die politisch umstrittene Figur Senghors passt in dieses Schema. Implizit wird einerseits die Frage gestellt, ob die zahlreichen Ehrungen, die Senghor zur Entstehungszeit des Romans für sein Lebenswerk erhält, nicht nur Lippenbekenntnisse für einen Außenseiter sind. Zugleich ist Senghor eine Persönlichkeit, die gerade durch die Linke und die Sowjetunion ebenfalls Anfeindungen ausgesetzt ist. Durch die explizite Identifikation mit Senghor als Dichter werden jedoch nicht nur diese außerliterarischen Referenzen eröffnet. Es sind auch Senghors Texte und die Négritude selbst, auf die in einer weiteren Vernetzungsoperation verwiesen wird. Sehr verkürzt gesagt, weist die Philosophie der Négritude zunächst allen afrikanischstämmigen Menschen in Afrika und der Diaspora eine panafrikanische, umfassende kulturelle Identität zu, womit vor allem ein Absetzen vom eurozentrischen Topos der Kulturlosigkeit Afrikas intendiert ist. Ėdička identifiziert sich nun an zahllosen Stellen des Textes mit den Adressaten der Négritude, seien es nun Afroamerikaner, die Nuba oder in dem fraglichen Kapitel ja sogar Senghor selbst. Die Négritude wird somit auf Ėdička und implizit sogar auf Limonov anwendbar.53 Limonov macht so Ėdička (und damit sekundär sich selbst) zum Ande 50 51
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Wörtliche Übersetzung: „Carol“. Smirnov schließt es mit dem zwölften Kapitel „Moj drug – N’ju-Jork“ (dt. „Meine Freundin New York“) zusammen. Wakamiya: Eduard Limonov, S. 41 (wie Anm. 34). Dieses Verhältnis wird auch, so lässt sich ergänzen, durch eine Adaption der Konventionen des Schelmenromans mit seinem unzuverlässigen Erzähler charakterisiert, in die sich Limonovs Text einschreibt. Limonov: Ėto ja – Ėdička, S. 94, 99; 107 (wie Anm. 2). Möglicherweise lässt sich auch der Titel der französischen Übersetzung Le poète russe préfère les grands nègres vor diesem Hintergrund neu interpretieren. Pikant ist allerdings, dass gerade diese Übersetzung das die Lesart nahelegende Kapitel eliminiert.
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ren – jedoch zu einem Anderen, der eine eigene Kultur hat, der es geschafft hat, aus der Sprachlosigkeit des Anderen nicht nur zur Sprachmacht, sondern sogar zur Sprachgewalt zu werden. Dem Migranten Ėdička und seinen Texten wird eine ähnliche kulturelle Rolle zugeschrieben wie der Figur und den Texten Senghors. Es ist die Vision der Transformation vom instrumentalisierten Objekt zum agierenden Subjekt, wobei dies auch die Vision diskursiver Unschuld in sich trägt, die, wie sich gezeigt hat, nicht erfüllt wird. Senghors Name ist schließlich nicht nur mit der Philosophie der Négritude (und in einem weiteren Schritt mit der Utopie einer „Civilisation de l’Universelle“) verknüpft, sondern als Philosoph und Politiker auch mit dem Konzept eines afrikanischen Sozialismus, an das Ėto ja – Ėdička ebenfalls anknüpft. Um dieses Programm eines afrikanischen Sozialismus kreist eine Rede, die Senghor 1959 auf dem konstituierenden Kongress der Parti de la Fédération Africaine hielt. Die Rede zählt zu den grundlegenden der afrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen und war schon früh in Übersetzungen erhältlich, auf Deutsch beispielsweise in Auszügen 1961.54 In dieser Rede plädiert Senghor nicht nur für ein Anknüpfen an vorkolonisatorischen afrikanischen Traditionen und eine Erhaltung kultureller Diversität, um sich schließlich ausführlich mit dem Sozialismus als Methode auseinanderzusetzen. Vor allem grenzt sich Senghor entschieden sowohl vom kapitalistischen Westen als auch vom kommunistischen Osten ab, die er in einer gewissen Konsumhaltung äquivalent setzt.55 Senghor spricht auch von einer notwendigen „dritten Revolution“, die nach der Französischen und der Russischen nun stattfinde und bei der die „Negro 54
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Léopold Sédar Senghor: Für einen afrikanischen Weg zum Sozialismus (Aus der Rede vor dem Kongreß der PFA, Juli 1959), in: Franz Ansprenger: Politik im Schwarzen Afrika. Die modernen politischen Bewegungen im Afrika französischer Prägung, Köln / Opladen 1961, S. 483–85. In der Sowjetunion wurde Senghor als Dichter ab 1958 wahrgenommen. Tribble: La réception des oeuvres des fondateurs de la négritude en URSS, S. 68 (wie Anm. 46). Inwiefern auch seine sowjetkritische Rede zugänglich war, konnte ich nicht feststellen. Das französische Original hat Senghor selbst in dem 1971 – also kurz vor der Entstehungszeit von Ėto ja – Ėdička – herausgegebenen Band 2 seiner gesammelten Werke aufgenommen, jedoch nur den zweiten Teil der Rede unter dem Titel „Nation et socialisme“. Léopold Sédar Senghor: Nation et socialisme, in: Léopold Sédar Senghor (Hg.): Liberté 2. Nation et voie africaine du socialisme, Paris 1971, S. 232–71. Der gesamte Text war 1959 in den Éditions Présence Africaine in Paris erschienen, vgl. Okwui Enwezor (Hg.): The Short Century: Independence and Liberation Movements in Africa 1945–1994, München / London / New York 2001, S. 460. Dieser Text ist in englischer Übersetzung im hervorragenden Katalog zu der von Okwui Enwezor kuratierten Ausstellung The Short Century: Independence and Liberation Movements in Africa 1945–1994 auf Englisch abgedruckt: Léopold Sédar Senghor: Nationhood. Report on the Doctrine and Program of the Party of African Federation, in: Okwui Enwezor (Hg.): The Short Century. Independence and Liberation Movements in Africa 1945–1994, München / London / New York 2001, S. 396–410. Senghor: Nation et socialisme, S. 253, dt. Senghor: Für einen afrikanischen Weg zum Sozialismus (Aus der Rede vor dem Kongreß der PFA, Juli 1959), S. 484 (wie Anm. 54).
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Afrikaner“, also die Adressaten der Négritude, eine entscheidende Rolle zu spielen hätten.56 Indem Ėdička sich also mit Afroamerikanern und Senghor selbst assoziiert, ja für letzteren in seiner Imagination sogar den Heldentod stirbt, kämpft er für diese Utopie einer dritten Revolution jenseits von Ost und West in den Zeiten des Kalten Krieges. Als Revolutionär bezeichnet er sich auch durchgehend selbst. Der dem Verlust der Möglichkeit alleiniger Autorschaft und damit jeglicher Mastererzählung nachtrauernde Roman Ėto ja – Ėdička, der nur noch die narzisstische Inszenierung eines nicht mehr gehörten Autors kennt und auf mehreren Ebenen ein Produkt der in der Postmoderne verlorenen Mastererzählungen ist und aus Intertextualitäten besteht, träumt in der intertextuellen Referenz auf Senghor von einer (letzten) universalistischen Mastererzählung nach dem Ende der Mastererzählungen (und damit wieder von Eindeutigkeit, Objektbezogenheit, libidinöser Trieberfüllung). Die Négritude stellt eine solche Mastererzählung dar, an die Ėdička anschließt, obwohl die Visionen und Stoßrichtungen der lyrischen und extrem hochsprachlichen Texte Senghors mit ihrer Ausrichtung auf einen afrikanischen Erfahrungshorizont und die zwar hochliterarisierten aber häufig vulgärsprachlichen Texte Limonovs mit ihrer Ausrichtung auf die eigene Person und die Erfahrung des Exils nicht unterschiedlicher sein könnten. In einem jedoch finden sich Überschneidungen: Sowohl Limonov als auch Senghor suchen mit sehr unterschiedlichen Mitteln Anschluss an eine idealisierte Vergangenheit und Heimat, die im Falle Senghors beispielsweise in der afrikanischen Kindheit, im Falle Limonovs in dessen Existenz als gefeierter Moskauer Undergroundpoet liegt. Dieser Traum einer Sinnsuche wird in Ėto ja – Ėdička in seiner gesamten Dimension erst durch eine Einbettung des Textes in seine globalen literarischen Verflechtungszusammenhänge deutlich, wenn auch gewisse religiöse Dimensionen des Textes bisher nicht unbeachtet blieben. Olga Matich spricht beispielsweise in Bezug auf Ėdička explizit von einem „moral immoralist“, hinter dessen Fassade der Gewalt und Provokation eine mythologische Sinnsuche, die Sehnsucht nach Erlösung und Wiedergeburt, nach kindlicher Unschuld stecke.57 Andrei Rogachevskii verweist auf die oft beobachtete „atmosphere of condensed religiosity“, die Limonovs Texten zu eigen sei.58 Limonov knüpft daher in Ėto ja – Ėdička implizit auch an Senghors zentrale Forderung in seiner Rede zum afrikanischen Sozialismus als einer Alternative zur politischen Dichotomie von Ost und West an, in der dieser eine Integration spiritueller und religiöser Werte in den Sozialismus fordert. Senghor entwickelt diese Forderung explizit unter Verweis auf einen sowjetischen Text der zum Zeitpunkt der Rede beginnenden Tauwetterperiode (Vladimir Dudincevs Ne chlebom edinym, 1957, dt. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein) und 56 57 58
Senghor: Nation et socialisme, S. 254, dt. Senghor: Für einen afrikanischen Weg zum Sozialismus (Aus der Rede vor dem Kongreß der PFA, Juli 1959), S. 485 (wie Anm. 54). Matich: The Moral Immoralist (wie Anm. 13). Rogachevskii: The Doppelgänger, S. 29 (wie Anm. 33).
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Dostoevskij.59 Mit diesen Forderungen, der nach dem Beitrag der „NegroAfrikaner“ zur „dritten Revolution“ und der notwendigen Integration spiritueller Werte, geht Senghor schließlich den Schritt zur Utopie einer „Civilisation de l’Universelle“.60 Im Entwurf dieser Utopie, die er als einen Dialog der Kulturen konzipiert, knüpft Senghor an Goethes weltliterarischen Denkfiguren an.61 In seiner Vision einer universellen Zivilisation hat jede Kultur ihren eigenen Beitrag zu leisten, die Träger der Négritude müssen dabei die Diskurse und kulturellen Figurationen des Okzidents positiv ergänzen, nicht überschreiben. Senghors Traum ist letztlich der einer alle und jeden integrierenden und in seiner Differenz akzeptierenden Weltzivilisation, eine letzte große Mastererzählung, die den Anspruch der Allgemeingültigkeit jedoch endgültig aufgibt und im Dialog und der Vernetzung mündet. Für den Roman Ėto ja – Ėdička schließt sich hier zum einen der Kreis zwischen (inter)textueller Praxis und gegenwärtigen Diskussionen um eine Weltliteratur. So sehr er zum anderen aber den Anschluss an diese letzte Senghorsche Mastererzählung als Ausweg aus den Aporien der Postmoderne suchen mag, so wenig gelingt ihm dies: Die Erlösung bleibt in den Bereich der Phantasie und der Imagination 59
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Senghor: Nation et socialisme, S. 253, bzw. Senghor: Für einen afrikanischen Weg zum Sozialismus (Aus der Rede vor dem Kongreß der PFA, Juli 1959), S. 485 (wie Anm. 54). Zugleich knüpft Limonov aber auch an von Maxim Matusevich festgestellte, spezifisch russischsowjetische Argumentationsmuster einer „subversiven Exotik“ an, wenn er seine Erlösungsphantasien derart explizit mit afrikanischer oder afroamerikanischer Kultur verknüpft. Matusevich arbeitet heraus, dass beginnend mit der Tauwetterzeit im gegenkulturellen sowjetischen Diskurs diese häufig mit dem Sehnsuchtsort Afrika verknüpft wurden, was ursächlich durchaus mit der zeitlich nahezu parallel stattfindenden Befreiung vieler afrikanischer Länder von ihren englischen und französischen Kolonialherren zu tun haben könnte. Maxim Matusevich: An Exotic Subversive. Africa, Africans and the Soviet Everyday, in: Race & Class 49 (2008), Hf. 4, S. 57–81. Mit Ajbolit-66, der an der Schwelle zur Stagnationszeit entstand, eint Ėto ja – Ėdička dabei die Verlagerung der Realisierung dieser Utopie in eine märchenhafte Phantasiewelt. Gesine Drews-Sylla: Wie Doctor Dolittle zu Doktor Ajbolit und was aus ihnen wurde. Geschichte einer kulturellen Übersetzung, in: Schamma Schahadat, Claudia Dathe, Renata Makarska (Hg.): Zwischentexte. Literarisches Übersetzen in Theorie und Praxis, Berlin (im Druck). Senghor: Nation et socialisme, S. 270 (wie Anm. 54). Anknüpfungspunkte sind vor allem die ihr inhärenten pantheistischen Elemente. Leo Kreutzer bemerkt in diesem Zusammenhang auch, andere Aspekte betonend: „Senghor war sich darüber im klaren, daß die von ihm im Namen einer Négritude verkündete ‚Rückkehr nach UrAfrika‘ nur dann eine antikoloniale Strategie sein könne, wenn sie eine Dynamik in die Zukunft entfalten werde. Bei Goethe und in der deutschen Literatur seiner Zeit stieß er auf eine Naturverehrung, die an ein pantheistisches ‚Ur-Afrika‘ gemahnte und zugleich dem antikolonialen Bedarf an Modernität und Tatkraft entsprach. Senghor lernte hier den Entwurf einer anderen Moderne kennen. Das Projekt einer pantheistischen Moderne konnte Anhaltspunkte liefern für die Überführung eines afrikanischen Pantheismus in die Moderne, für die Anpassung der Moderne an einen afrikanischen Pantheismus.“ Kreutzer: Sprache und Literatur dieseits und jenseits der Nation, S. 281 (wie Anm. 28). Die pantheistische Moderne liest Kreutzer wiederum im Zusammenhang mit Goethes Konzept einer Weltliteratur.
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verbannt, zurück bleibt einzig der einsame Narziss, der unter seinem Trauma leidet. Es bleibt eine Schlussbemerkung zu machen, die sowohl Senghor als auch Limonov betrifft. Senghor geriet vor allem auch deshalb unter starke Kritik, weil seine Version der Négritude und der „Civilisation de l’Universelle“ teilweise mit den gleichen Essentialismen arbeitet, auf denen okzidentale stereotypisierende und ethnisch diskriminierende Diskursmuster aufbauen, statt sie zu dekonstruieren. Im Kern erfolgt eine positive Aneignung und axiologische Neubewertung der noch immer gleichen Diskursmuster. Diese Bewegung wiederholt sich in Ėto ja – Ėdička, wobei in diesem Fall eine doppelte Aneignungsbewegung vorliegt. So sehr der Text auch in der Postmoderne verankert ist, so wenig gelingt ihm ein dekonstruktiver Umgang mit der Darstellung des Anderen jenseits einer sprachlichen Überaffirmation ex negativo. Limonov schließt letztlich noch immer an die diskursive Figur der Sexualisierung des Afrikaners an, wenn er sich positiv mit afroamerikanischen Homosexuellen identifiziert. Eine Infragestellung der diskursiven Figur selbst findet nicht statt, im Gegenteil, sie wird sogar noch potenziert, wenn in provokativer Absicht ein Homosexuelle diskriminierender Diskurs mit dem des Schwarze diskriminierenden auf stereotypisierende Weise kurzgeschlossen wird. Doch vielleicht liegt dies auch in der Struktur des Textes begründet. Ėdička kreist nur um sich selbst, der/die andere entgleitet ihm, den/die Andere/n kann er nur instrumentalisieren. Schließlich begann auch erst ungefähr zur Zeit der Entstehung von Ėto ja – Ėdička die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Konstruktionsprinzipien von Figuren des Othering, was deutlich durch die nahezu zeitgleiche Erstveröffentlichung von Edward Saids Orientalism im Jahr 1978 markiert wird.62 62
Regine Nohejl bemerkt, dass das radikale „Oszillieren zwischen den Extremen, ohne Chance auf einen Kompromiss, eine Mittelposition […] für den Narzissmus Limonovs charakteristisch zu sein“ scheint. Deshalb könne der „Traum von der tabulosen Vereinigung mit schwarzen Männern […] als Positionierung am äußersten möglichen Pol der Identifizierung mit dem ‚Anderen‘“ akzeptiert werden. Dies sei für den russischen Kontext insofern typisch als „das Russische in seiner Selbstdefinition wie in einem Triptychon zwischen Identitäts- und Alteritätspositionen oszilliere […] und sich selbst [je nach Bedarf] als Kolonialmacht geriere [oder] gegenüber dem Westen seine Zugehörigkeit resp. Affinität zum Wilden, Exotischen, Orientalischen, ‚Asiatischen‘ hervorkehre.“ (Regine Nohejl: Ėto ja – Ėdička. Die seltsame Karriere des Ėduard Limonov oder Das russische Problem mit der Männlichkeit, in: Regine Nohejl u.a. (Hg.): Genderdiskurse und nationale Identität in Russland, München 2013, S. 87–126, S. 108–09. Dieser Lesart kann einerseits zugestimmt werden, andererseits ist es genau die von Nohejl angesprochene Partizipationsstruktur an westlichen Diskursen und ihren Konstruktionsmustern, die, provokant überzeichnet und dadurch überaffirmierend eingesetzt, die radikale Identifikation mit dem Anderen erst ermöglicht. In der Kombination dieser beiden Ebenen kommt die Oszillation am stärksten letztlich auf poetischer Ebene zum Ausdruck. In dieser Hinsicht funktioniert Limonovs Text ähnlich wie einer seiner wichtigsten Prätexte im russischen Kontext, Il’ja Ėrenburgs Chulio Churenito. Bereits die diskursive Strategie ist damit literarisches Zitat – wie auch die Reise in den Senegal und die Anlehnung an das Schema des Schelmenromans, die den Chulio Churenito mit Ėto ja – Ėdička verbinden. Vgl. Gesine
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Gesine Drews-Sylla
Zu Limonov selbst lässt sich ergänzen, dass sein weiterer Lebensweg ihn schließlich in die Nähe des Faschismus führte, beispielsweise, als er auf der Seite der Serben bei der Belagerung Sarajevos kämpfte. Die von ihm gegründete Nationalbolschewistische Partei (Nacional-Bol’ševistskaja Partija, NBP) vertritt offen fremdenfeindliches Gedankengut, das mit nationalen russischen Großmachtphantasien vermengt ist. Weiter hätte sich Limonov von Senghor und seiner Vision einer zwar auf einem essentialisierenden Kulturkonzept aber eben auch auf dem Prinzip gleichberechtigter Kommunikation basierenden „Civilisation de l’Universelle“ nicht entfernen können. In einem gewissen Sinne folgte Limonov in seinem Lebensweg konsequent den narzisstischen Pfaden, die er sein Alter Ego Ėdička in Ėto ja – Ėdička betreten ließ.
Drews-Sylla: Von Mann zu Frau, von Weiß zu Schwarz in einem transnationalen Fiasko. Die Figur des Ajša in Il’ja Ėrenburgs Chulio Churenito, in: Regine Nohejl u.a. (Hg.): Genderdiskurse und nationale Identität in Russland, München 2013, S. 31–54.
KOMMENTARE
ZUM VERHÄLTNIS VON REGIONALGESCHICHTE (AREA HISTORY) UND GLOBALGESCHICHTE (GLOBAL HISTORY) AM BEISPIEL DER OSTEUROPÄISCHEN GESCHICHTE* Birgit Schäbler „Globalgeschichte ohne Regionalgeschichte ist leer, Regionalgeschichte ohne Globalgeschichte ist begrenzt“, so ließe sich die Spannung zwischen Globalgeschichte und (Welt)Regionalgeschichte plastisch auf den Punkt bringen. Dieser Kommentar versteht sich deshalb als Plädoyer für eine aus dem Vollen schöpfende, verschränkte Sicht auf die Geschichte und weniger als eine Kommentierung der einzelnen Beiträge, zumal die Autorin eine Historikerin des Nahen und Mittleren Ostens, und nicht Osteuropas ist. Doch in diesem Kontext ist auch die Verschränkung der beiden Regionen Osteuropa und Vorderer Orient interessant, denn wo genau der Orient beginnt, ist bekanntlich abhängig von den Weltläuften und war seit jeher umstritten.1 „Go East“, um das koloniale britische Diktum abzuwandeln, verspricht hier interessante Ergebnisse, wie auch dieser Band zeigt. Die Hauptthese dieses Kommentars ist, dass die Osteuropäische Geschichte eine besondere Position in der Debatte um die Globalgeschichte und Regionalgeschichte einnimmt, die mit ihrer Position am Rande Europas, und dies nicht nur im geografischen Sinne, zusammen hängt. Hier nun zuerst einige Klärungen. Regionalgeschichte oder Area History als Wissensgebiet Geschichte ist bekanntlich zweierlei, zum einen vor allem Vergangenheit (und wie sie auf die Gegenwart wirkt), zum anderen die Wissenschaft von der Vergangenheit und deren Folgen, inklusive des philosophischen Nachdenkens darüber. Im Laufe der Zeit hat sich dieses universale Wissensgebiet differenziert – sowohl territorial als auch methodisch, um es handhabbar zu machen. Mit der Professionalisierung vor allem im 19. Jahrhundert und der zunehmenden Differenzierung * 1
Ich danke Martin Aust und Julia Obertreis für die Einladung zu Konferenz und Kommentar und für ihre Geduld. Man muss nicht so weit gehen wie Karl Kaser, der in diesem Zusammenhang die neue Region „Kleineurasien“ zwischen Donau und Tigris kreiert. Karl Kaser: Balkan und Naher Osten. Einführung in eine gemeinsame Geschichte, Wien 2011. Trotzdem verweist das Buch auf interessante Gemeinsamkeiten.
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hat sich damit die Arbeitsteilung heraus gebildet, die wir heute noch sehen, auch wenn sie gerade herausgefordert wird: Geschichte wird vor allem als Geschichte westeuropäischer Staaten betrieben, verstanden als „allgemeine Geschichte“ mit einem Führungsanspruch für die (vor allem moralische) Bewältigung der Gegenwart. Der Rest der Welt wurde in andere Disziplinen verwiesen, etwa in die Geographie und die Völkerkunde, auch in die Bibelkunde und diejenigen Philologien, die sich mit anderen Teilen der Welt beschäftigten. Diese stellte man dem „Abendland“ gegenüber, was vor allem natürlich für das „Morgenland“ galt. Während die Geschichte Westeuropas (und dann auch Nordamerikas) also immer mehr eine strenge Disziplin zu sein beanspruchte, wurde die Geschichte der Anderen in einer bunteren, disziplinär gemischteren Weise erforscht. Daraus entwickelten sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts (und nicht etwa erst nach 1945!) die in den USA so bezeichneten „Area Studies“. Es ist richtig, dass die Bezeichnung „Area Studies“ aus der Zeit nach 1945 stammt, als unter dem Primat des Kalten Krieges öffentliche Gelder in die Erforschung der Teile der Welt flossen, über die man sich im Zweiten Weltkrieg mehr Kenntnisse gewünscht hätte – dieser Primat galt aber weithin nicht für die Forschung und die Fächer selbst, auch nicht in Deutschland. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die in den neu eingerichteten Area Studies von diesen Geldern profitierten, schufen nämlich vielfach ein den jeweiligen Regierungslinien widersprechendes „Gegenwissen“. Sie generierten eben keineswegs „gewünschte“ Ergebnisse, bearbeiteten vielfach nicht einmal die einschlägigen Themen. In der amerikanischen Diskussion wird hier oft ein einflussreicher Gutachter für die Ford-Foundation zitiert, der entnervt ausgerufen haben soll: „Nicht schon wieder ein Antrag zu Puschkin?!“ Die Rede von einem „Sündenfall der Area Studies“ stellt die Dinge also sehr verkürzt dar.2 Gerade das Verhältnis zur Literaturwissenschaft hat sich allerdings in den letzten Jahrzehnten weiter entspannt. Dass die Literatur und die Literaturwissenschaft heute zu Recht in den Regionalwissenschaften eine größere Rolle spielen, davon zeugt auch dieser Band. Die Debatte um die Area Studies und ihren Einfluss auf die Globalgeschichte krankt daran, dass mit diesem Begriff immer ein Bündel von Disziplinen bezeichnet wird, die ein territorial und epistemologisch begrenztes Gebiet bearbeiten. Wenn wir die Debatte für die Geschichtswissenschaft führen wollen, tun wir besser daran, von Area Histories oder Regionalgeschichte(n) zu sprechen. Da diese eben aus den intellektuellen Traditionen der Area Studies stammen (und nicht aus 2
Zit. nach David L. Szanton (Hg.): The Politics of Knowledge: Area Studies and the Disciplines, University of California International and Area Studies Digital Collection, Edited Volume 3, 2003, S. 9, , 12.02.2007. Siehe auch: Birgit Schäbler: Das Studium der Weltregionen (Area Studies) zwischen Fachdisziplinen und der Öffnung zum Globalen: Eine wissenschaftsgeschichtliche Annäherung, in: dies. (Hg.), Area Studies und die Welt. Weltregionen und eine neue Globalgeschichte, Wien 2007, S. 11–44. Eine Verkürzung auf den Kalten Krieg, ja sogar einen „Sündenfall“, sieht hingegen Katja Naumann in ihrer Rezension am Werk, , 20.02.2013.
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irgendwelchen Zentren, die nach 1945 eingerichtet wurden), lässt sich ihre Definition übernehmen: Area Histories befassen sich demnach mit der Geschichte eines territorial und epistemologisch begrenzten Gebietes. Dieses kann eine Weltregion sein, es kann aber auch eine andere Art von Region sein. Area-Historiker/innen sprechen die Sprache(n) ihrer Regionen, betreiben zumeist dort über längere Zeit Archiv- und Feldforschungen, setzen sich mit den lokalen Geschichte(n), Standpunkten, Materialien und Interpretationen auseinander und versuchen so, die jeweiligen Gesellschaften von innen heraus zu verstehen. In den meisten Fällen sind sie dabei seit jeher auf die Instrumente der anderen Disziplinen angewiesen, die sich mit dem jeweiligen Teil der Welt beschäftigen, der Geographie oder auch der jeweiligen Philologie, und oftmals der Anthropologie/Ethnologie. Regionalgeschichte ist also zumeist, und hier schlägt sich die Tradition der Area Studies nieder, in stärkerer Weise interdisziplinär angelegt, als es die „allgemeine Geschichte“ ist, die streng genommen aber ja auch nur eine Regionalgeschichte ist, eben diejenige Westeuropas oder Nordamerikas, oftmals ohne sich dessen bewusst zu sein. Es ist nicht unwichtig, sich diesen Zusammenhang noch einmal zu verdeutlichen. Denn die Osteuropäische Geschichte ist in den Augen dieser Kommentatorin eine Area History, eine Regionalgeschichte im oben beschriebenen Sinn, par excellence. Osteuropa ist vielleicht keine Weltregion wie Asien, Afrika oder Lateinamerika, sondern gilt als Teil Europas, auch wenn dies historisch umstritten war (und wohl teilweise noch ist). Es verfügt über eigene Subregionen (Ostmitteleuropa, Südosteuropa), und, wichtiger, es befindet sich in einer Position Westeuropa gegenüber, die mit weiter östlich gelegenen (Welt)Regionen durchaus Ähnlichkeiten und Parallelen aufweist. Friedrich Schiller hatte in seiner berühmten Jenaer Antrittsrede über die Weltgeschichte ein bürgerliches Sittengemälde gezeichnet, in dem der europäische Vater von Kindern verschiedenen Alters umringt wird, dem jungen wilden Amerikaner, dem älteren despotischen Afrikaner und dem noch älteren Asiaten, von hoher Kultur, jedoch durch „Knechtschaft und Despotismus“ verdorben. Schiller jedoch verzichtete nicht darauf, auch Europa einer Binnendifferenzierung zu unterziehen und sprach dabei auch von Ost(mittel)europa, wenn auch mit negativen Konnotationen: „Welche Mannigfaltigkeit in Gebräuchen, Verfassungen, und Sitten! Welcher rasche Wechsel von Finsterniß und Licht, von Anarchie und Ordnung, von Glückseligkeit und Elend, wenn wir den Menschen auch nur in dem kleinen Welttheil Europa aufsuchen! Frey an der Themse, und für diese Freyheit sein eigener Schuldner; hier unbezwingbar zwischen seinen Alpen, dort zwischen seinen Kunstflüssen und Sümpfen unüberwunden. An der Weichsel kraftlos und elend durch seine Zwietracht; jenseits der Pyrenäen durch seine Ruhe kraftlos und elend. Wohlhabend und gesegnet in Amsterdam ohne Aernte; dürftig und unglücklich an des Ebro unbenutztem Paradiese. (…)“3
3
Friedrich Schiller, „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“ Eine akademische Antrittsrede, in: Der Teutsche Merkur, November 1789, S. 121.
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Die Anwohner der Weichsel gehören also bei Schiller noch zu Europa. Ein Jahrhundert später sprach Ranke in seiner Weltgeschichte nur noch von den germanischen und romanischen Völkern Westeuropas, die Slawen und Osteuropa schloss er aus. Der „wilde“ Balkan Südosteuropas wurde, wenn man Maria Todorovas These vom „Balkanismus“ folgt, in ganz ähnlicher Weise mit Stereotypen belegt wie es dem „Orient“ mit dem „Orientalismus“ geschah, der viele dieser Stereotypen jedoch selbst übernahm.4 Die Historiker Ostmitteleuropas sprechen im 20. Jahrhundert selbst von ihrer Region als dem „Grenzland des Abendlandes“.5 „Randeuropa“ und „Außereuropa“ haben einiges gemeinsam, und ihre Regionalgeschichten sind vielfach verwandt. Der ältere Begriff „außereuropäische Geschichte“, der hierzulande gebräuchlich ist, schließt jedoch Osteuropa ebenfalls aus. Demgegenüber gibt der Begriff Regionalgeschichte im Sinne einer Area History Osteuropa einen eigenen Rang, befreit es, im besten Falle, aus dem Schatten Europa-zentrierter historischer Paradigmen und öffnet das Fach für neue, interdisziplinäre Fragestellungen in der Tradition der Area Studies. Von der osteuropäischen Regionalgeschichte sind längst Impulse in diese Richtung ausgegangen. Hans-Heinrich Nolte hatte bereits die russische Geschichte als Area History (er sprach noch von Area Studies) verstanden und sich ihr mit dem Wallerstein’schen Weltsystemkonzept genähert.6 Ein älterer Impuls für eine historisch weit zurück reichende Weltgeschichte des Globus stammt von Imanuel Geiss, der zusammen mit Hans-Heinrich Nolte in EWE (Erwägen, Wissen, Ethik) kurz vor seinem Tod noch einmal seine erneuerten Thesen zusammen gefasst und 33 Historikerkolleg/innen zur Diskussion gestellt hat.7 Area Histories sind jedoch, wie die anderen Area Studies, aber ebenso wie auch die allgemeinen Disziplinen in den letzten Jahren in eine viel beschworene Krise geraten, die Immanuel Wallerstein in seiner Wissenssoziologe, seinem großen Forschungsfeld nach der Weltsystemtheorie, unter den Begriff „Wissensungewissheiten“ subsumiert hat. Er sieht für die Zukunft eine Entgrenzung der Disziplinen voraus, die konsequent der Entgrenzung folgt, die die Gobalisierung mit sich gebracht hat. Seit etwa den 1970er Jahren mussten die Disziplinen allmählich ihren Anspruch auf akademische Hoheit über ein bestimmtes, fest abgegrenztes Gebiet der sozialen Realität aufgeben, den sie vielfach seit dem 19. Jahrhundert vertraten: Die Politikwissenschaft untersuchte den Staat oder das politische System, die Soziologie die Gesellschaft, die Ökonomie die Wirtschaft, die Anthropo 4 5 6 7
Maria Todorova: Imagining the Balkans, New York 1997. Oskar Halecki: Grenzraum des Abendlandes. Eine Geschichte Ostmitteleuropas, Salzburg 1957. Hans-Heinrich Nolte: Weltsystem und Area-Studies: Das Beispiel Rußland, in: Zeitschrift für Weltgeschichte. Interdisziplinäre Perspektiven, Jahrgang 1, Heft 1 (Herbst 2000), S. 75–98. Siehe das Themenheft „Probleme der Weltgeschichte“ mit den Hauptartikeln „Weltgeschichte in Kürze“ von Imanuel Geiss (S. 339–344) und „Für eine Umstrukturierung des Faches Geschichte“ von Hans-Heinrich Nolte (S. 345–350) sowie 33 Entgegnungen in: EWE ErwägenWissen-Ethik, Jg. 22, 2011, Heft 3.
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logie/Ethnologie fremde Völker, die Philologie die Nationalliteratur und die Geschichte den Nationalstaat. Der Nationalstaat als das Ganze, Politik, Gesellschaft, Ökonomie, Literatur und Geschichte als Teilmengen. Eine solche Sicht konnte am Ende des 20. Jahrhunderts nicht mehr unhinterfragt bestehen. Die Anthropologie hatte vielleicht als erste Disziplin erkannt, dass Kulturen keine distinkten, kohärenten, totalen Lebensweisen waren, schon gar nicht in den fest umrissenen Grenzen eines Nationalstaats oder auch einer Weltregion, aber auch die anderen Disziplinen mussten auf die Entgrenzungen, die die Kräfte der Globalisierung auch für das Alltagsleben mit sich brachten, reagieren. Im Zuge der Entgrenzungen der letzten Jahrzehnte war und ist es auch für die Area Histories an der Zeit, sich den Herausforderungen des Globalen zu stellen. Der Vorwurf an die gesamten Regionalwissenschaften jedoch, sie allein würden begrenzte Forschungen in ihren begrenzten Regionen betreiben und die Welt aus ihren Containern heraus in allzu simplifizierender Weise betrachten, geht ins Leere.8 Genau der gleiche Vorwurf trifft auf jede Nationalgeschichte, Nationalökonomie, Nationalliteratur zu, also auch auf die sich als „allgemein“ verstehenden Disziplinen. Den Herausforderungen des Globalen sich zu stellen reklamiert die Perspektive der Globalgeschichte für sich. Globalgeschichte ist vor allem dies, eine Perspektive, die das Denken in Containern, sowohl nationalen als auch regionalen, sprengen will. Nicht mehr Nationalstaaten, und auch nicht mehr Regionen sind hier die alleinigen angenommenen Orte historischer Befragung, sondern es rücken die äußeren Ränder, die Orte und Regionen des Zusammentreffens, die liminalen Räume, wenn man es postkolonial mit Homi Bhaba ausdrücken möchte, und somit die Verflechtungen der (Welt)Regionen und Nationen ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die ältere Weltgeschichtsschreibung hat hier vor allem mit dem Konzept des Weltsystems von Immanuel Wallerstein operiert, das auch heute noch für einige Historiker zentral ist.9 Überhaupt sind die Übergänge zwischen Weltgeschichte und Globalgeschichte fließend, die Begriffe werden vielfach synonym gebraucht, und der wichtigste Unterschied besteht darin, dass sich die Globalgeschichte nicht mehr auf die Welt als Ganzes ausrichtet, sondern sich als Perspektive versteht, mit der auch begrenztere Gebiete als der gesamte Globus erforscht werden können. Innerhalb der Globalgeschichte konzeptionell fruchtbar zu machen sind auch die Ansätze der selbstkritischen Postkolonialen Studien, wie sie etwa von Dipesh Chakrabarty vertreten werden. Die Postkolonialen Studien machen die Stimmen aus den Regionen selbst hörbar, wobei einige Autoren mitunter auch dem Nati 8
9
„Nevertheless, traditional area studies locate their objects of study often within the politicogeographical frames of continents or civilizations. Processes of globalization – despite not being entirely new but being more emphasized over the last two decades – challenge this overly simplified way of understanding the world“. Konferenzankündigung des Centre for Area Studies, Universität Leipzig, auf H-Soz-U-Kult, 21.09.2012. So auch Andrea Komlosy: Globalgeschichte. Methoden und Theorien, Weimar 2011.
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vismus frönen und Europa oder dem „Westen“ allgemein recht undifferenziert gegenüber stehen. Ihre hervorragenden Vertreter sind allesamt im Westen ausgebildet worden und lehren vielfach in den USA. Es gelingt ihnen aber, die Spannung zwischen Herkunft und akademischem globe-trotting theoretisch fruchtbar zu machen. Sie leben somit gewissermaßen die Entgrenzungen der Weltregionen, einige im akademischen Jet-Set. Zentral sind die Debatten um die Vielfalt der Moderne. Zu keinem anderen historischen Schlüssel- und Epochenbegriff war die Herausforderung, ihn zu dekonstruieren, wohl ähnlich groß, als für die sich als universal verstehende westliche Moderne. Das einflussreichste Konzept bisher sind hier Shmuel N. Eisenstadts „multiple modernities“, das von Kristallisationen eigener Modernen in den Weltkulturen oder Weltzivilisationen ausgeht. Hier besteht eine starke Nähe zu den (Welt)Regionen und ihren Geschichten, in denen die Zivilisationskonzepte der Eliten eine große Rolle spielen – und es erstaunt nicht, dass die multiple modernities zentral von Area Historiker/innen mit entwickelt worden sind. Auch wenn Eisenstadt selbst aus der älteren Zivilisationsanalyse kam, in der Weltregionen und Zivilisationen gleich gesetzt wurden, und das multiple modernitiesKonzept in der Tat daran krankt, dass es summarisch und nicht verschränkt angelegt ist – die globale Moderne wird gewissermaßen als die Summe aller Modernen gesehen, und nicht als Ergebnis miteinander verflochtener Prozesse –, so war der Anstoß zu dieser Debatte, der vor mehr als zehn Jahren in zwei Ausgaben der amerikanischen Zeitschrift Daedalus gegeben wurde, immens wichtig.10 Heute gilt es, das Konzept transregional und transkulturell weiter zu entwickeln. Die intellektuellen „Post-Bewegungen“ werden also unterdessen von den intellektuellen „Trans-Bewegungen“ abgelöst, mit Translokalität, Transnationalität und Transregionalität als Analysekategorien unterschiedlicher Reichweite. Hier lässt natürlich der spatial turn grüßen, der das räumliche Denken in den Vordergrund gerückt hat. Ob nun transregional, transnational oder translokal geforscht wird, hängt auch von der jeweiligen (Welt)Region ab. Translokalität ist nicht um 10
Daedalus. Journal of the American Academy of Arts and Sciences, vol. 127, 3, 1998, „Early Modernities“; und vol. 129, 1, 2000 „Multiple Modernities“. Der erste Satz des Beitrages von 1998 lautete: „The term ,multiple modernities‘ is not in common usage today. There is no way of knowing whether it will ever achieve the renown or instant recognition that certain other more hyperbolic phrases like „the end of history“ and „the clash of civilizations“ have managed to secure in these last years“. Der Rest ist Geschichte, ist man versucht zu sagen. In diesen Anfangssätzen steckt auch die Motivation Eisenstadts, nämlich den Gefahren der Vereinnahmung und Polarisierung der sich entgrenzenden Welt am Ende des Milleniums eine verbindendere Weltsicht entgegen zu setzen, die die nicht-westlichen Kulturen aufwertet. Siehe meinen Nachruf auf S. N. Eisenstadt in Periplus. Jahrbuch für außereuropäische Geschichte, 2011, S. 198–200. Anders ausgedrückt ist dies auch eine Reaktion auf die Herausforderung der Hegemonie des Westens in vielen Bereichen, die von den nicht-westlichen Gesellschaften am Ende der Bipolarität der Welt und mit dem Aufstieg neuer Großmächte und politisierter Religionen ausging. Wissenschaftlich wurde diese Herausforderung vor allem von den Postkolonialen Studien getragen.
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sonst von Afrikaforschern angestoßen und mit voran getrieben worden, die sich mit einer Weltregion befassen, in der die Nationalstaaten relativ spät auf den Plan getreten sind.11 Transnationalität steht nicht umsonst in der europäischen Geschichte hoch im Kurs. Transregionalität schließlich ist noch nicht so populär oder weit verbreitet – die Grenzräume, Interaktionen und Verflechtungen von Regionen stellen jedoch vor allem eine Herausforderung an die Area Historiker/innen dar, deren Expertise ja eine regionale ist. Hier ist auch Mut gefragt – der Mut, über die eigenen, zumeist doch wieder nationalen Spezialisierungen hinaus zu gehen und sich in angrenzende Gefilde zu wagen. Die Beiträge des vorliegenden Bandes nehmen vielfach eine transregionale Perspektive ein, wenn sie etwa die Beziehungen der Gründer der Blockfreiheit, Nehru, Tito und Nasser thematisieren (Nataša Mišković), oder die Beziehungen des Zarenreiches mit seinen östlichen Nachbarn und Europa (Ulrich Hofmeister, Moritz Deutschmann, Martina Winkler). Russland ist hier selbst in einer liminalen Position zwischen Ost und West, wie etliche der Beiträge zeigen. Area Historiker/innen ist oftmals eine besondere Sensibilität für Machtverhältnisse zu Eigen, die sie auszeichnet, und die sich für die Globalgeschichte besonders eignet. Regionalgeschichten stellen also ein reiches Reservoir an Wissen bereit, das für die Globalgeschichte unverzichtbar ist. Dies gilt auch für die Area Literatures, die sich den Herausforderungen der Entgrenzung mit dem Konzept literarischer transarealer Räume und Bewegungen stellen.12 In diesem Band werden Intertextualität und weltliterarische Vernetzung an Hand eines Kapitels eines Romans von Eduard Limonov veranschaulicht, das, buchstäblich lost in translation, in der französischen Übersetzung des Buches verloren ging und in dessen Zentrum der senegalesische Politiker, Philosoph, Dichter und Vertreter einer Civilisation de l’Universelle, Sédar Senghor, steht, der in der Phantasie des Helden des Romans, einem in New York gescheiterten russischen Schriftsteller mit ihm in seinem Sehnsuchtsort Afrika von Künstler zu Künstler auf Augenhöhe diskutiert. Johann Wolfgang von Goethes Konzept einer Weltliteratur als Kommunikationsraum von differenten aber gleichrangigen Gesprächspartnern steht hier Pate für eine Option der Weltliteraturgeschichtsschreibung, die von der Afrikanistik in die Diskussion gebracht wurde. New York, Moskau, Paris und Dakar als Orte des künstlerischen Schaffens und Leidens werden postkolonial verwoben (Gesine Drews-Sylla). Die Literaturbeziehungen zwischen der UdSSR und Indien in den Zeiten des Kalten Krieges gestalteten sich aus der Sicht der Metropole, bzw. des Sowjet-Imperiums, dagegen nicht auf Augenhöhe. In diesem Beitrag werden die Geschichte der Internationalen Beziehungen und der New 11
12
Ulrike Freitag, Achim von Oppen: Translocality. The Study of Globalising Processes from a Southern Perspective, Leiden 2010. Für den Vorderen Orient gilt dies in eingeschränkterer Weise. Siehe Ottmar Ette: Transit. Mobile ZwischenWelten: Für eine transareale (Literatur-)Wissenschaft, in: Ders. (Hg.): ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz, Berlin 2005, S. 9–26; zuletzt: TransArea: eine literarische Globalisierungsgeschichte, Berlin 2012.
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Cold War History zu kombinieren versucht. Literatur und Kunst waren im Kalten Krieg selbstverständlicher Bestandteil der imperialen Außenpolitik, aber auch an der „inneren Front“ wichtig. Die indische literarische Öffentlichkeit, wie auch andere asiatische und afrikanische Öffentlichkeiten, wollten sich nicht mit den propagandistischen Offerten der sowjetischen Kulturaußenpolitik begnügen, sondern pflegten ein eigenes Verständnis russischer Literatur (Andreas Hilger). Der Blickwinkel der Imperien und ihrer Eliten auch untereinander und aufeinander, also die interimperiale Perspektive, liegt in der Globalgeschichte nahe. Oftmals stehen hier die intellektuellen, aber auch die politischen Eliten und ihre Quellen im Zentrum der Untersuchung. Dies birgt natürlich die Gefahr, dass die Perspektive der Subalternen, Unterworfenen oder anderer „Adressaten“ zu kurz kommt. So war die osteuropäische „Entwicklungshilfe“ an Hand der Dokumentation der Ständigen Kommission für Technische Unterstützung (SKTU) im Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) weniger ideologisch, als man annehmen könnte. Diesem Expertengremium ging es eher um ökonomischen Realismus in den Nord-Süd-Beziehungen und weniger um anti-imperialistische Brüderlichkeit (Sara Lorenzini). Die Sicht der Adressaten dieser Politik ist für eine transregional angelegte Fragestellung aber unverzichtbar. Andere Eliten, wie die Orientalisten des Zarenreiches, das ähnlich wie das Osmanische Reich eine Zivilisierungsmission vor allem gegenüber den (zentralasiatischen) Nomaden verfolgte, verfassten Selbstsichten des Reiches und versuchten, sich in der Konkurrenz mit dem Britischen Empire selbst aufzuwerten. Die Beziehung zum Osten, die Expansion nach Zentralasien, scheint ein Ausdruck des schwierigen Verhältnisses zu Europa zu sein. Man wendet sich nach Osten, zu dem man eine besondere Affinität hat, durchaus erobernd und unterwerfend, was bei aller interimperialer Beziehung in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden sollte, als Vertreter der „überlegenen Zivilisation“ und arbeitet sich doch nur mehrheitlich an West-Europa ab. Orientierungen im asiatischen Raum blieben in der Minderheit (Hofmeister). Die ambivalente Zugehörigkeit der russischen Eliten zu Europa und ihre Beziehungen zu Asien werden auch über das Völkerrecht, genauer die Habilitationsschrift des Völkerrechtlers Friedrich Fedor Martens zum europäischen Konsularrecht in den orientalischen Ländern, analysiert. Während Russland in der aktiven Beteiligung an der internationalen Völkerrechtsdiskussion einmal mehr einen Weg sah, die eigene Mitgliedschaft im Lager der „Zivilisierten“ zu unterstreichen, spielten völkerrechtliche Kategorien für den Iran eine wesentliche Rolle dabei, überhaupt als Akteur im internationalen System anerkannt zu werden (Deutschmann). Gerade die Wissens- und Wissenschaftsgeschichte eignet sich für transregionale und transkulturelle Studien. Für eine transregional verstandene Osteuropäische Geschichte ist in diesem Zusammenhang die Polarforschung ein lohnendes Objekt. Die seascape, um es mit Arjun Appadurai auszudrücken, des Nordpolarmeeres, ist selbst ein liminales Gebiet mit gleich mehreren Anrainern, das sich mit dem Ansatz der Lokalität gut analysieren ließe. Es ist ein Gebiet, in dem im 19. und 20. Jahrhundert, selbst im Kalten Krieg, internationale Akteure konkurrierten
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und kooperierten. Russländische Arktisexpeditionen gab es seit den 1840er Jahren (Birte Kohtz). Dass Wissenschaftsgeschichte sich gut für globalgeschichtliche Fragestellungen in Trans-Manier eignet, wurde schon erwähnt. Ob die Übersetzung von „scientific locality“ in ‚Wissenschaftslokalität‘ und nicht in den aussagekräftigen und gängigen deutschen Begriff „Ort der Wissenschaft bzw. der Wissensproduktion“, der gleichzeitig eben auf die Lokalität in der Globalität abhebt, weiterhilft, ist freilich eine offene Frage. Dass das Erste Internationale Polarjahr Ergebnis eines Psychodramas zwischen den erbitterten Konkurrenten Carl Weyprecht und Julius Payer, den Leitern der österreichisch-ungarischen Nordpolarexpedition war, in der der Heldenmythos des „tollkühnen Entdeckers“ mit dem des „echten Jüngers der Wissenschaft“ inszeniert kollidierte, zeigt, dass die Geschichte der Emotionen Interessantes in der Wissenschaftsgeschichte zu Tage fördern kann (Alexander Kraus). Die Fragestellung ist in diesem Falle weniger global. Global ist hingegen die erste russländische Weltumseglung, mit der die Russländer sich einmal mehr in ein von Europäern dominiertes globales Narrativ einschrieben. Indem man am Entdeckerdiskurs teil nahm, definierte man sich europäisch modern. Globalität lässt sich hier als das Aufnehmen und Hinterlassen imperialer Spuren sehen (Winkler). Transregionale Verflechtungen lassen sich auch an politischen Akteuren fest machen, zum Beispiel an den drei Gründern der Blockfreiheit Tito, Nehru und Nasser, die in engem Kontakt und auch, zumindest im Falle Titos und Nehrus, in Konkurrenz darüber standen, wem denn die geniale Idee der Blockfreiheit zuerst einfiel. Nasser, der Jüngste, nahm dies nie in Anspruch. Die gängige westliche Formel von der Blockfreiheit als Phänomen des Kalten Krieges wird in dieser akteursbezogenen, die Verbindungen thematisierenden Sicht überholt. Der Reiz dieser Verflechtungsgeschichte im Schnittpunkt von Osteuropäischer Geschichte und Geschichte der Internationalen Beziehungen liegt in der konsequent personalisierten Darstellung (Mišković). Ebenfalls personalisiert in dem ermordeten Arbeiterpriester Jerzy Popiełuszko, dem Gewaltlosigkeit predigenden Kaplan der Gewerkschaft „Solidarność“ und gewissermaßen lokalisiert im Brennglas des Erinnerungskults an seinem Grab, das zum Schauplatz einer innen- und außenpolitischen Symbolpolitik zwischen US-amerikanischen Präsidenten, deutschen Außenministern und dem polnischen Regime wurde, lässt sich eine transregional verflochtene Perspektive auf die 1980er Jahre aufmachen. An dem auch stark von nationalen Eigenheiten geprägten Märtyrerkult um Popiełuszko lässt sich darüber hinaus das Aufkommen eines internationalen Menschenrechtsdiskurses zeigen (Robert Brier). Orte der Verflechtung sind in der Globalgeschichte ein lohnendes Objekt. Die Mandschurei, wo Russen, Japaner und Chinesen zusammen kommen, ist ein solcher Ort. Hier ist mit dem Lokalitätsansatz einiges zu holen und die Stadt Harbin als kosmopolitischer Ort der Verflechtung zu untersuchen. Dazu braucht es aber Akteure. Doch auch großregionale Überlappungen, die sich topographisch in dieser Region bündeln, sind ein lohnendes Thema (Frank Grüner). Die verwickelten Beziehungen von Russland, Japan und China lassen sich auch an einem Stummfilmfragment aus der Mandschurei, das das bäuerliche Leben der Kosaken dar-
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stellt, diskutieren – vor und hinter der Kamera, die diesen Film aufgenommen hat, ein transkulturelles Medienphänomen mit transregionalen Verbindungen (Sören Urbansky). Die Palette der Fragestellungen, zu der der transregional-verschränkte Fokus einer prall gefüllten Globalgeschichte auf der Basis einer nicht auf eine (Welt)Region begrenzten Regionalgeschichte einlädt, wird in diesem schönen Band also weitgehend ausgeschöpft.
OSTEUROPÄISCHE GESCHICHTE UND GLOBALGESCHICHTE Ein Kommentar Katja Naumann Gleich an welcher Stelle man in die inzwischen sehr rasch wachsende globalgeschichtliche Literatur einsteigt und nach Russland bzw. der Sowjetunion fahndet, man wird eher enttäuscht die wenigen Funde einsammeln. Das „Journal of World History“, das seit 1990 zum führenden Organ der US-amerikanischen Weltgeschichtsschreibung aufgestiegen ist, beinhaltet gerade einmal 19 Beiträge über Europa bzw. den eurasischen Raum überhaupt – von knapp 200 Aufsätzen und Review-Artikeln, die in den ersten 17 Jahrgängen publiziert wurden. Selbst wenn man explizit vergleichende, interregional und global angelegte Artikel dazu zählt, bei denen zu vermuten ist, dass sie an der einen oder anderen Stelle osteuropäische Entwicklungen zumindest anklingen lassen, bleibt die Region eine eher marginale Größe in weltweiten Zusammenhängen, oder anders gedeutet: Osteuropa erscheint so fundamental fremd und weit weg, dass man es besser nicht anrührt.1 Dies hat möglicherweise mit einer spezifischen Interessenlage zu tun, die die Position der USA in der Welt spiegelt. Doch auch in der europäischen Diskussion haben Osteuropa und seine Verflochtenheit bislang wenig Aufmerksamkeit jenseits eines engeren Spezialistenkreises erfahren. Nicht nur die 21 Bände der Reihe „Weltregionen“ des Mandelbaum-Verlages, die neben der Darstellung von außereuropäischen Großräumen auch globale Prozesse und das Geschehen auf den Weltmeeren thematisiert, lassen bisher Europa und mit ihm seinen östlichen Teil am Rande liegen. Auch in der jüngsten Synthese der internationalen Diskussion, die Jürgen Osterhammel und Akira Iriye moderieren, zeichnet sich die Leerstelle ab, wenngleich erst beim näheren Hinsehen. Im ersten, nunmehr vorliegenden Band der „Geschichte der Welt“, der auf 1000 Seiten Weltmärkte und Weltkriege zwischen 1870 und 1945 beschreibt, ist einerseits auf fast jeder vierten Seite vom Zaren 1
Die konkreten Zahlen: Von 1990 bis 2007 sind in der Zeitschrift 195 Beiträge erscheinen, 57 davon behandelten Asien, 21 die Amerikas, 9 Afrika, 8 Ozeanien und 3 gehören in die Kategorie „Eastern Hemisphere“. Hinzu kommen 44 vergleichende und interregional argumentierende sowie 34 global gerahmte Aufsätze, siehe: Jerry Bentley: The Journal of World History, in: Patrick Manning (Hg.): Global Practice of World History. Advances World Wide, Princeton 2008, S. 129–140, hier S. 134.
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reich oder der Sowjetunion die Rede.2 Andererseits hinterlassen die Abschnitte, die das Geschehen in Russland ausführlicher darstellen, den Eindruck, dass neue Interpretationen erst noch gefunden werden müssen. Zum einen begegnen die klassischen Themen, mit denen Osteuropa in der Weltgeschichtsschreibung üblicherweise auftaucht, nämlich Wandel im ländlichen Raum und Leibeigenschaft, die Revolutionen von 1905 und 1917 sowie der Getreidehandel als Beispiel für globale Warenketten. Zum anderen spricht die Verteilung in den fünf Hauptkapiteln eine recht deutliche Sprache. Verstreut und vereinzelt erwähnt wird Russland in den Abschnitten „Imperien und Globalität“ und „Transnationale Strömungen“, während es in dem Komplex „Erfindung moderner Staatlichkeit“ am präsentesten ist, und zwar unter der Überschrift „Ausnahmezustände, Ausnahmestaaten“. Hier liest man über die Beteiligung an den großen Kriegen – vom Krimkrieg über den Russisch-Japanischen-Krieg und natürlich den beiden Weltkriegen – sowie über den Bolschewismus, der dem Faschismus gegenüber und zur Seite gestellt ist. Und auch der interpretative Leitgedanke ist vertraut, denn die empirischen Ausführungen enden mit den Abschnitten „Politische Pathologie“ sowie einem „Blick voraus: vom Ausnahmezustand zum normalisierten Staat“. In verflechtungsgeschichtlicher Perspektive scheint Osteuropa vor allem in Bezug auf Wanderungen ergiebig, wobei der diesbezügliche Teil nicht nur die atlantischen Migrationsströme behandelt, sondern auch ein russisch-sibirisches Migrationssystem in einem eigenen Abschnitt detailliert darstellt, auf jüngsten Forschungen aufbauend.3 Nun gibt es natürlich auch andere Fälle. Hans-Heinrich Nolte hat in seinen weltsystemtheoretischen Untersuchungen Russland und der Sowjetunion einen prominenten Platz eingeräumt.4 Er ist aber unter den Welthistorikern insofern eine Ausnahme, als er gelernter Osteuropahistoriker ist und sich von dieser regionalen Spezialisierung her globalen Fragestellungen zugewandt hat. Grosso modo ist Osteuropa eine recht farblose Region auf den neueren Landkarten der Welt- und Globalhistoriker.5 2
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Emily S. Rosenberg (Hg): 1870–1945, Weltmärkte und Weltkriege (Geschichte der Welt, Bd. 5), München 2012. Das Register verzeichnet unter den Stichworten ‚Osteuropa‘, ‚Russland‘ und ‚Sowjetunion‘ knapp 300 Seiten. Rechnet man Mehrfachnennungen heraus, ergeben sich 230 Seiten. Hinzu kommen Passagen über einzelne Städte und Regionen des russischen Reiches bzw. des Nachfolgstaates. Hinzukommen Ausführungen über die Wanderungsbewegungen im Kontext der Industrialisierung der Region unter dem Stichwort „Freie und unfreie Migration“ sowie Migrationen während der Weltkriege und in der Zwischenkriegszeit, darin eingeschlossen ist der Komplex von Flucht, Vertreibung und Deportation im Zusammenhang mit zerfallenden Imperien und der Bevölkerungspolitik als Herrschaftsinstrument. Hans-Heinrich Nolte: Zur Stellung Osteuropas im internationalen System der Frühen Neuzeit, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 28 (1980), S. 161–197 (englisch in: Review 6.1 (1982), S. 25–84); ders.: Osteuropäische und Globalgeschichte bis zum 19. Jahrhundert, in: geschichte.transnational, , 05.05. 2006. Das liegt sicher auch daran, dass vergleichsweise wenige Osteuropa-Historiker an den laufenden Editionsprojekten beteiligt sind. In dem Herausgeber-Gremium der erwähnten Reihe
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Das Anliegen dieses Bandes ist damit über das übliche Maß hinaus berechtigt. Es adressiert ein reales und gravierendes Forschungsdefizit, schließlich würden die meisten Historiker intuitiv die weltgeschichtliche Bedeutung Osteuropas wohl eher hoch veranschlagen. Die hier versammelten Aufsätze öffnen daher Türen zu einer aufregenden und aufschlussreichen Beziehungs- und Interaktionsgeschichte. Überzeugend, d.h. empirisch dicht und methodisch kreativ, wird der Vielfalt der Außenbezüge der russländischen und sowjetischen Geschichte nachgegangen und die Intensität von Interaktionen ihrer Akteure vermessen, so dass der intellektuelle Reiz der Begegnung von Osteuropäischer und Globalgeschichte mehr als deutlich wird. In meinem Kommentar, zu dem mich die Initiatoren des Projektes eingeladen haben, möchte ich mich auf fünf Herausforderungen konzentrieren, die das Zusammendenken der beiden Forschungsstränge bewältigen muss. US-amerikanische Fragestellungen als Orientierungsrahmen Wer sich mit der globalgeschichtlichen Debatte der letzten zwei Dekaden vertraut macht, bemerkt schnell, dass sie zu großen Teilen auf Englisch geführt wird und viele Autoren im anglo-amerikanischen Raum situiert bzw. von der dortigen Forschung inspiriert sind. Dominic Sachsenmaier hat kürzlich in einem Vergleich des deutschen, chinesischen und US-amerikanischen Feldes bilanziert, dass in den USA sehr früh begonnen wurde die Historiographie zu globalisieren und dass diese Bemühungen mit einer erfolgreichen institutionellen Verankerung einherging.6 Eine solche Kontrastierung von unterschiedlichen Geschwindigkeiten ist durchaus problematisch, da sie Vorreiterrollen konstruiert, die wiederum Nachholdruck erzeugen. Treffend aber ist sein Befund, dass sich die US-amerikanische „world“ und „global history“ über das Argument konstituiert hat, dem Eurozentrismus der Profession sei am wirksamsten durch den systematischen Einschluss von außereuropäischen Kulturen und Gesellschaften entgegenzutreten, die bekanntlich lange Zeit lediglich als Fußnote der Geschichte gehandelt wurden. Auch Patrick Manning, einer der prominenten Welthistoriker auf der anderen Seite des Atlantiks, hat auf diese Agenda hingewiesen. Weltgeschichte ist in den USA aus den Weltregionen-Studien, den „Area Studies“, heraus entstanden, so dass sie „im Wesentlichen als die Geschichte der Welt außerhalb Europas und Nordamerikas verstan
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des Mandelbaum-Verlages etwa arbeitet Andreas Kappeler mit 20 Kollegen aus der außerund westeuropäischen Geschichte zusammen. Ähnlich ist die Lage bei den meisten anderen neueren Gesamtdarstellungen. Ein Überblick geben: Matthias Middell / Katja Naumann: Global History 2008–2010: Empirische Erträge, konzeptionelle Debatten, neue Synthesen, in: Comparativ 20 (2010) 6, S. 93–133. Dominic Sachsenmaier: Global Perspectives on Global History. Theories and Approaches in a Connected World, Cambridge 2011.
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den“ wird.7 Die Erforschung von Asien und Afrika, dem südlichen Amerika und des Nahen Ostens hat das Geschehen jenseits der eigenen Kultur erst zugänglich gemacht, später zu Vergleichen inspiriert und schließlich einen globalen Horizont eröffnet, für den sich in den 1980er Jahren mehr und mehr Historiker interessierten. Dieser Ansatzpunkt ist vollkommen einsichtig und war angesichts der Lage im Fach auch bitter nötig. Gleichwohl geht er mit einer bestimmten thematischen Schwerpunktsetzung einher. Neben den politischen Emanzipationsprozessen in einem vage als „Außereuropa“ beschriebenen Raum stehen die Mechanismen kolonialer Herrschaft und der Kolonialismus insgesamt im Zentrum, flankiert von der Geschichte des Kapitalismus und den daraus resultierenden Dynamiken globaler Veränderungen. Beispielhaft sind die intensiv diskutierten Ursprünge und Ursachen der „Great Divergence“ zwischen China und (West-)Europa.8 Ohne jeden Zweifel hat diese Orientierung neues Wissen hervorgebracht und die traditionellen Geschichtsbilder in den Grundzügen verändert. Der Impetus, „Außereuropa“ eine eigene Geschichte zu geben, ist hoffentlich kraftvoll genug, um die US-amerikanische und europäische Geschichtskultur nachhaltig zu verändern. Nur führt diese Haltung häufig dazu, wenngleich nicht intendiert, dass zwar „Außereuropa“ immer differenzierter gesehen und in seiner Handlungsmacht bestätigt wird, der andere Pol, Europa bzw. der „Westen“, dagegen tendenziell homogenisiert wird. Überspitzt gesagt hat sich in das Unterfangen den Eurozentrismus aufzubrechen ein Westeuropa-Zentrismus eingeschlichen. Und er fällt deswegen so wenig auf, weil die großen, neuen Fragestellungen tatsächlich auf globale Prozesse abheben. Man denke an die Debatte über freie und unfreie Arbeit, an die Studien über neue Verkehrs- und Kommunikationsmittel (Dampfschifffahrt, Eisenbahn und Telegraphie), die großräumige Interaktionen hervorgebracht haben oder aber an die Arbeiten zu weltweiten Handelsnetzen und Güterströmen. In der Faszination für die Reichweite dieser Themenkomplexe droht indes unterzugehen, dass in der konkreten Analyse einige Metropolen und deren Peripherien dominieren, während andere Zentren ebenso wie die Räume dazwischen unbeschrieben bleiben. Mittlerweile ist diese Schieflage auch unter den Welthistorikern entdeckt worden und in die Kritik geraten.9 Umso überlegter sollte man sich daher m.E. an die vorherrschenden Fragestellungen und Perspektiven anlehnen 7
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Patrick Manning: Nordamerikanische Ansätze zur Globalgeschichte, in: Birgit Schäbler (Hg.), Area Studies und die Welt. Weltregionen und neue Globalgeschichte, Wien 2007, S. 59–89, hier S. 71. Peer Vries, Ursprünge des modernen Wirtschaftswachstums. England, China und die Welt in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2013; Patrick O’Brien, The Great Divergence Debate. Europe and China 1368–1846, in: Gunilla Budde / Sebastian Conrad / Oliver Janz (Hg.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006, S. 69–82. Darauf reagiert der 4. Europäische Kongress für Welt- und Globalgeschichte, der im September 2014 in Paris stattfinden wird sowie ein Diskussionforum auf geschichte.transnational unter der Überschrift „Zentrismus in der Weltgeschichtsschreibung“ .
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und zugleich nach weiteren Quellen der Inspiration für das Ausloten von Globalität ost-, ostmittel- und südosteuropäischer Entwicklungen suchen. Andernfalls kann die Eigenheit der grenzüberschreitenden Verflechtung dieser Regionen und die spezifische Position, die sie sich in der Welt verschafft haben, leicht und ein weiteres Mal an den Rand geraten. Deshalb möchte ich dafür plädieren, die Öffnung der Osteuropäischen Geschichte gegenüber einem globalen Horizont mindestens zu gleichen Teilen, wenn nicht sogar stärker von dem Raum her zu denken, d.h. bei genuin regionalen Konstellationen, Dynamiken und Wendepunkten zu beginnen. Erstens liegt in diesem Tiefen- und Detailwissen die Expertise der Osteuropa-Historiographie, zweitens ist es dieses Wissen, das in der laufenden Weltgeschichtsdebatte fehlt und integriert werden sollte, und drittens entsteht daraus ein Instrumentarium, mit dem sich die neuen globalhistorischen Narrative und Erklärungsmuster prüfen bzw. korrigieren lassen. Margrit Pernau hat für Indien eindrücklich gezeigt, dass man sehr behutsam zentrale Konzepte und Begriffe eines historischen Kontextes (wie etwa „Bürgerlichkeit“) an andere Kulturen herantragen sollte, will man über eine banale Bestätigung des Bekannten hinauskommen.10 Das gilt auch bei weniger normativ aufgeladenen historischen Entwicklungen. Osteuropa in die Allgemeine und Globalgeschichte zu integrieren, bedeutet in meinem Verständnis, das Geschehen vor Ort unter der Bedingung eines globalen Zusammenhangs11 zu verfolgen und zugleich dessen Veränderung durch Prozesse in der Region aufzuzeigen. Beide Dimensionen, das Einschreiben in und das Umschreiben der globalhistorischen Deutungen, wie sie derzeit entstehen, wäre der größtmögliche Gewinn für beide Seiten. Die Frage des Ansatzpunktes ist auch deshalb wichtig, weil die Globalität Osteuropas vermutlich Facetten kannte, die sich mit den derzeit stark aus der außereuropäischen Geschichte gewonnenen Fragestellungen kaum erschließen lassen und die deshalb auch nur in begrenztem Maße aus der globalhistorischen Debatte heraus zu entwickeln sind. Ich denke an den ganzen Komplex russländischer/sowjetischer Verortungen in der Welt und an die eigene Sprache, die zur Deutung und Verarbeitung interkultureller Begegnung gefunden wurde. Sie zu entschlüsseln würde die allgemeine Auseinandersetzung mit dem Globalen weiterbringen. Expansionsbewegungen verliefen nicht nur nach dem Modell des westlichen Kolonialismus oder glichen den Varianten asiatischer Großreiche, sondern kannten andere Begründungsmuster – das lehrt etwa die russische Kolonialherrschaft in Turkestan. Ähnlich liegen die Dinge sicher in dem Zusammen 10
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Margrit Pernau: Bürger mit Turban. Muslime in Delhi im 19. Jahrhundert, Göttingen 2008; dies. / Monica Juneja: Lost in Translation. Transcending Boundaries in comparative History, in: Heinz-Gerhard Haupt / Jürgen Kocka (Hg.), Comparative and transnational History. Central European Approaches and new Perspectives, New York 2009, S. 105–129. Zum Argument der Herausbildung einer unhintergehbaren ‚global condition‘: Michael Geyer / Charles Bright: World history in a global age, in: American Historical Review 100 (1995) 4, S. 1034–1060.
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spiel von imperialer Erfahrung und Nationalisierung, das unter dem Vorzeichen eines fundamentalen Gesellschaftswandels stand, sprich eine Imperialgeschichte mit Systembruch darstellt, die zu untersuchen zu einer Globalgeschichte des Sozialismus leiten würde. Ein solcher Ansatz läuft keineswegs nur auf eine Innensicht hinaus. Vergleiche der Imperien stellen derzeit oft das Osmanische und das Russländische Reich gegenüber, richten den Blick aber selten auf den Vergleich mit China, obwohl das Wissen über die Ähnlichkeiten und Unterschiede dieser beiden landbasierten Imperien sicher in vielerlei Hinsicht für die allgemeine Diskussion aufschlussreich wäre, nicht zuletzt in Bezug auf die konzeptionelle Frage nach Vergleichsanordnungen und -maßstäben.12 In einigen Aufsätzen dieses Bandes illustriert sich die Produktivität einer von der Region ausgehenden Perspektive. Die traditionelle Deutung des Kalten Krieges als eines bipolaren Systemkonflikts wird unmittelbar porös, folgt man den Außenbeziehungen der Sowjetunion, wo die Interaktionen zwischen ‚Zweiter‘ und ‚Dritter‘ Welt zum Vorschein kommen. Manche zentrale Idee und Bewegung, wie die der Blockfreiheit oder des Völkerrechts, wird in ihren internationalen Ursprüngen erkennbar, da sich regionale Dynamiken ihrer Formierung als hochgradig verwoben herausstellen und der Anteil russischer Akteure hervortritt. Und scheinbar im osteuropäischen Kontext verankerte Phänomene, wie die polnische Solidarność-Bewegung, erweisen sich nicht nur als Teil transnationaler Bewegungen, sondern verweisen auf einen Umbruch, der Gesellschaften und politische Systeme auf vielen anderen Kontinenten erfasst hat. Zu bedenken ist dabei, das verdeutlicht der Beitrag über die Arktisforschung, dass die Integration russischer Verläufe in westeuropäische und außereuropäische Entwicklungen nicht denkungsgleich ist mit einer globalhistorischen Betrachtung und Deutung. Allemal hat eine Re-Interpretation der osteuropäischen Geschichte, die von ihrem Gegenstand aus historisiert und dabei auch vor den klassischen Themen und Zäsuren der Nation- und Regionalgeschichten nicht halt macht, den großen Vorteil, dass sich der Nachholdruck, den manche apodiktische Fürsprache für Weltgeschichte13 auslöst, zurückweisen bzw. souverän angehen lässt. 12
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Michael A. Reynolds: Shattering Empires. The Clash and Collapse of the Ottoman and Russian Empires, 1908–1918, Cambridge 2011; Gabór Ágoston: Military Transformation in the Ottoman Empire and Russia, 1500–1800, in: Kritika. Explorations of Russian and Eurasian History 12 (2011) 2, S. 281–319; Jürgen Osterhammel, Russland und der Vergleich zwischen Imperien, in: Comparativ 18 (2008) 2, S. 11–26; beispielhaft ist zudem das laufende DFGProjekt von Markus Koller über „Imperiale Herrschaftsausübung im Osmanischen und Russländischen Reich – die Umsetzung der Modernisierungs- und Integrationspolitik in Südosteuropa und Zentralasien im 19. Jahrhundert“ zu nennen, in dem Ulrich Hofmeister den zentralasiatischen Teil bearbeitet. Besonders häufig begegnet man einer hoch engagierten und exkludierenden Fürsprache für „world history“ in programmatisch-konzeptionellen Texten aus den USA. Der Ton und die Intensität des Arguments relativiert sich indes, kontextualisiert man sie in den USamerikanischen bildungspolitischen und curricularen Debatten: Peter Stearns: World History: Curriculum and Controversy, in: World History Connected 3 (2006) 3 (online unter:
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Eine Perspektive mit höchst verschiedenen Ansätzen Globalgeschichte erweist sich bei näherem Hinsehen als ein Feld, das weder thematisch noch methodisch homogen ist. Deshalb verbieten sich allein rituelle Beschwörungen der Globalgeschichte. Wenig hilfreich ist es auch, die verschiedenen Termini – transnationale Geschichte, Weltgeschichte und Globalgeschichte – als einen „Streit um Worte“ beiseite zu schieben. Denn hinter diesen Begriffen stehen höchst unterschiedliche, teils gegensätzliche Konzepte und Bestimmungen des Gegenstandes, schließlich werden mit ihnen Narrative über die Integration der modernen Welt formuliert. Während universal- und welthistorische Ansätze die gegenwärtige Globalisierung als die Entfaltung einer Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende alten Interaktionsgeschichte beschreiben, argumentieren globalhistorische Interpretationen für eine Zäsur, ob nun um 1500 oder in der Mitte des 19. Jahrhundert, an der sich eine neue Qualität globaler Verflechtung festmachen ließe. Demgegenüber begrenzt die „new global history“ ihren Blick auf die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts.14 In jeder dieser Rahmungen hätte die Geschichte Osteuropas eine andere Gestalt, da andere Akteure und Felder historischen Handelns in den Blick geraten würden. Deshalb möchte ich kurz einige Ordnungs- und Abgrenzungsvorschläge skizzieren. Unter der Überschrift transnationale Geschichte versuchen einige Autorinnen und Autoren zu einem besseren Verständnis nationaler Geschichten zu gelangen und beschränken deshalb den Untersuchungszeitraum auf die Moderne, während andere dafür fechten, mit der Beschreibung von Grenzüberschreitungen die Dominanz des Nationalen in der Historiographie zu brechen und die Spezifik von Transnationalisierungen im 19. und 20. Jahrhundert auszuloten.15 Lösen einige die Geschichte der Diplomatie und der internationalen Beziehungen von transnationalen Ansätzen ab, argumentieren andere dafür, staatliche und nicht-staatliche Akteure zu untersuchen.16 Und während manche Transnationalität traditionell über ); Gary Nash / Charlotte Crabtree / Ross Dunn (Hg.): History on Trial. Cultural Wars and the Teaching of the Past, New York, 1997; Craig Lockard: World History and the Public. The National Standards Debate, in: Perspectives, Mai 2000 (online unter: ). 14 Matthias Middell: Universalgeschichte, Weltgeschichte, Globalgeschichte, Geschichte der Globalisierung – ein Streit um Worte?, in: Margarate Grandner / Dietmar Rothermund / Wolfgang Schwentker (Hg.): Globalisierung und Globalgeschichte, Wien 2005, S. 60–82. 15 Klaus Kiran Patel: Transnationale Geschichte – ein neues Paradigma?, in: geschichte.transnational, , 02.02.2005. 16 Pierre-Yves Saunier: Learning by Doing: Notes about the Making of the Palgrave Dictionary of Transnational History, in: Journal of Modern European History 6 (2008) 2, S. 159–80, Akira Iriye / Pierre-Yves Saunier, Introduction, in: Dies. (Hg): The Palgrave Dictionary of Transnational History, Basingstoke 2009, S. xvii-xx.
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historische Vergleiche erfassen, öffnet sich das Feld schrittweise zur Verbindung von Vergleich und Verflechtung.17 Angesichts dieser Pluralität verwundert es nicht, dass differenzierende und integrierende Konzeptionalisierungen miteinander verbunden werden. Beispielhaft für die erste Richtung ist die Definition des Feldes von Jürgen Osterhammel. Transnationale Geschichte untersucht in seinem Verständnis innereuropäische und transatlantisch-innerokzidentale Beziehungen, in der Regel für historische kürzere Zeiträume und ohne die Absicht allgemeine Muster herauszufinden. Weltgeschichte hingegen leuchte vornehmlich transkulturelle Zusammenhänge aus, inkludiere demnach außereuropäische Entwicklungen, und indem sie zeitlich und räumlich weiter ausgreift, fragt sie bei aller Sensibilisierung für historische Vielfalt nach übergreifenden Tendenzen. Globalgeschichte fasst er deutlich enger, nämlich als Historisierungen des heutigen durch globale Verflechtung hervorgebrachten Weltzusammenhanges, mithin als Befassen mit einem der großen Entwicklungsprozesse der modernen Welt, die für gewöhnlich in der Mitte des 19. Jahrhunderts ansetzen. Von solch einer Interaktionsgeschichte, die Kontakte und Wechselwirkungen zwischen weltumspannenden Systemen beschreibt, unterscheidet Osterhammel die Historiographie zur Globalisierung. Sie sei auf ein Masternarrativ, die kontinuierliche Verdichtung von Austausch und Interdependenz festgelegt.18 Demgegenüber betonen andere Stimmen eher den gemeinsamen Nenner der unterschiedlichen Zugänge, die von weltsystemtheoretischen Argumentationen über Zivilisationsanalysen und den Ansatz der „multiple modernities“ bis hin zur Globalisierungsgeschichte und den „post colonial studies“ reichen. Denn ihnen allen liege daran, die Relationalität der Moderne zu rekonstruieren und sie setzten sich von einer älteren modernisierungstheoretisch inspirierten Historiographie ab. Sowohl Global- als auch heutige Weltgeschichtsschreibung verzichteten ebenso wie die transnationale Geschichte auf das Postulat einer einzigen universalen Vergangenheit, auf die Setzung geschichtsphilosophisch unterlegter Entwicklungsverläufe sowie auf den Anspruch zeitlicher und räumlicher Vollständigkeit. Und indem sie an der Vielfalt von Interaktionen und Austausch interessiert seien, würden sich sie sich mit Bemühungen verbinden, Nationalgeschichten unter einen globalen Horizont zu stellen.19 17 18 19
Heinz-Gerhard Haupt / Jürgen Kocka (Hg.): Comparative and Transnational History: Central European Approaches and New Perspectives , New York 2010. Jürgen Osterhammel: Alte und neue Zugänge zur Weltgeschichte, in: ders. (Hg.): Weltgeschichte. Basistexte, Stuttgart 2008, S. 9–32. Sebastian Conrad / Andreas Eckert / Ulrike Freitag (Hg.): Globalgeschichte. Theorien, Ansätze und Themen, Frankfurt am Main 2007; Matthias Middell / Katja Naumann: A New Challenge to the Writing of History in Europe at the End of the Twentieth Century?, in: Matthias Middell / Lluis Roura i Aulinas (Hg.): Transnational Challenges to National History Writing, Basingstoke 2013, S. 423–443. Zur Debatte in Frankreich siehe das Themenheft „Histoire globale, histoire connectées: un changement d´echelle historiographique?“ der Revue d’Histoire moderne et contemporaine 54 (2007) 4.
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Hinter den unterschiedlichen Charakterisierungen des Feldes stehen durchaus unterschiedliche Methodenkoffer. So teilen nicht alle den Vorschlag, auf systematische Weise Beziehungsgeschichte im Rahmen weltsystemischer Bedingungsgefüge nachzuzeichnen und mit Beschreibungen von Ähnlichkeiten und Differenzen zu verbinden.20 Die Herausforderung der Positionalität Wer zu anderen Gesellschaften forscht, schreibt nolens volens in der Position eines Stellvertreters. Er interpretiert eine ihm nicht unmittelbar vertraute und häufig fremdsprachige Geschichte. Diese Distanz hat einen großen Vorzug, der schon im Blick auf manche Nabelschau in der Historiographie zur eigenen Nationalgeschichte greifbar ist. Er stellt aber auch eine Herausforderung dar, bleibt doch der eigene Kontext im Prozess der Aneignung immer präsent. Die Einsicht in die Standortgebundenheit des eigenen Tuns ist (hoffentlich) eine Selbstverständlichkeit unter den professionellen Historikern. Doch theoretisches Wissen übersetzt sich nicht automatisch in eine systematische Reflexion der Grenzen der eigenen Sichtweisen, wichtiger noch, in das Ausdenken von Mechanismen der Selbstkontrolle. Es hat einen Moment gedauert, bis sich unter den „westlichen“ Welthistorikern ein Problembewusstsein dafür durchsetzte, dass ihre Interpretationen präfigurieren, wie andere Gesellschaften ihre Vernetzung deuten. Dabei schlagen sich die ungleichen weltweiten Beziehungen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft natürlich auch in der Historiographie nieder; das lehren allein internationale Tagungen und die zumeist geringe Teilnahme von Historikern aus nicht-westlichen Ländern ebenso wie aus dem südlichen, nördlichen und östlichen Europa. Es ist wahrscheinlich auch dem Gegenstand geschuldet, dass dieses Ungleichgewicht und dessen intellektuelle Folgen lange nicht bedacht wurden, verführt doch die Erforschung von Kulturkontakt und grenzüberschreitendem Austausch dazu, sich auf der sicheren Seite zu wissen, was die Integration der Geschichten anderer und andernorts betrifft. Mittlerweile aber ist einigermaßen stabil etabliert, dass die Zusammenarbeit mit Kollegen aus nicht-westlichen Weltregionen ein profundes Gegenmittel zu herrschenden strukturellen Asymmetrien darstellt. Eingelöst wird das nicht immer oder nicht in ausreichendem Maße, aber der Gedanke, dass die Welt- und Globalgeschichte in transnationaler Praxis erforscht werden sollte, ist doch zu einem Imperativ geworden.21 Für das Bemühen um die Globalisierung der osteuropäischen Geschichte ist dieser Gedanke in (wissenschafts-)politischer 20
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Eric Vanhaute: Who Is afraid of Global History? Ambitions, Pitfalls and Limits of Learning Global History, in: Peer Vries (Hg.): Global History (Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 20 (2009), S. 22–39), Wien 2009. Matthias Middell: Transnationale Geschichte als transnationales Projekt? Zur Einführung in die Diskussion, in: geschichte.transnational, , 12.01.2005,
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wie in inhaltlicher Hinsicht bedeutsam. Es mag sein, dass globale Fragestellungen in der historischen Forschung in Russland (sowie seinen westlichen Nachbarländern) verhaltener oder mit anderen Begrifflichkeiten und Ansätzen verfolgt werden, also Übersetzungsleistung gefragt ist.22 Gleichwohl ist der Preis dafür, die gegenwärtige Weltgeschichtsschreibung dortzulande und ihre Traditionen nicht gezielt einzubeziehen, vermutlich höher als die Kosten, die eine kontinuierliche gemeinsame Forschung verursacht. Denn neben den problematischen Implikationen der erwähnten Fürsprecher-Rolle geht es hier auch um das Sichtbarmachen oder eben Verdecken der verschiedenen geschichtspolitischen Projekte, die globalhistorischen Deutungen innewohnen. In der Aneignung historischer Globalität werden zwangsläufig gegenwärtige und künftige Weltordnungen entworfen. Indem Gesellschaften in globalhistorische Prozesse integriert werden, wird ihnen Raum und Bedeutsamkeit in allgemeinen Entwicklungen gegeben oder genommen, und daraus leiten sich politische Handlungsspielräume für das Heute ab. Angesichts dessen ist es unwahrscheinlich, dass die in Russland geschriebenen Verflechtungs- und Beziehungsgeschichten gleichen Interessen folgen oder auf die gleichen Ausdeutungen und Aneignungen hinauslaufen wie hierzulande. Die Gestalt welthistorischer Zugänge hängt eben auch davon ab, wo sich eine Gesellschaft und ihre Historiker in der Welt sehen (möchten), welche weltpolitischen Ambitionen sie hegen.23 Diese Unterschiedlichkeit bewusst zu machen, die Spannungen auszuhalten bzw. die Differenzen zu verhandeln, ist so zentral, weil es zu verhindern hilft, dass die Globalgeschichte erneut dem Irrglauben verfällt, es könne die eine Geschichte für alle geben, die allzu oft auf die Begründung europäischer Überlegenheit hinausgelaufen ist. Neuheitsbehauptung und ihre Schattenseite Dass global angelegte Fragestellungen derzeit en vogue sind, resultiert zu einem guten Teil aus einem Neuheitsdiskurs, wonach sich die Geschichtswissenschaft lange Zeit und zu Unrecht nur mit der Nation, zumal der eigenen, und mit dem „Westen“ befasst habe, während historische Interaktionen und Austausch über politische und kulturelle Grenzen und Kontinente hinweg erst seit kurzem als entscheidende Prozesse für den Wandel von Gesellschaften und das internationale Gefüge entdeckt worden seien. Strategisch gelesen ist diese Beschreibung verständlich, denn sie greift auf eine erprobte Technik bei der Platzierung von Forschungsthemen zurück; man wirbt mit dem Argument, dass Neuland betreten 22 23
Zum Problem der Finanzierung einer solchen Zusammenarbeit in der südosteuropäischen Geschichte siehe den Beitrag von Nataša Miškovic. Jerry Bentley: Myths, Wagers, and some Moral Implications of World History, in: Journal of World History 16 (2005) 1, S. 51–82; Richard Drayton: Where Does the World Historian Write From? Objectivity, Moral Conscience and the Past and Present of Imperialism, in: Journal of Contemporary History 46 (2011) 3, S. 671–685.
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wird. Allerdings entsprechen solche Behauptungen selten den realen Gegebenheiten. Auch historiographische Neuerungen vollziehen sich prozesshaft. Neuen Sichtweisen gehen Zeiten voraus, in denen überlieferte Modelle und Annahmen fragwürdig werden, eine Suche nach Alternativen beginnt, oftmals in Aneignung von Überlegungen, die andernorts oder früher angestellt wurden. Die Konstruktion einer tabula rasa in Sachen Weltgeschichte macht diesen langsamen Wandel vergessen, und mit ihm frühere Ansätze, in denen versucht wurde, die zeitgenössischen großräumigen Verflechtungen und Integrationsdynamiken zu historisieren. Blickt man auf die lange Geschichte der historiographischen Verarbeitung der Globalität, die sich spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer Abkehrbewegung von eurozentrischen und universalistischen Argumenten ebenso wie von metaphysische Letztbegründungen summiert, sind wir keineswegs die Ersten, die sich an der historiographischen Verarbeitung versuchen. Die russische Weltgeschichtsschreibung verfügt über eine lange Tradition, die intellektuell in die Gegenwart hereinreicht und Beachtung verdient.24 Ein Beispiel dafür: In der Sowjetunion wie anderswo auch schufen das Entstehen einer neuen Weltordnung und die einsetzenden Dekolonialisierungsprozesse nach dem Ende des Ersten Weltkrieges eine neue Aufmerksamkeit für außereuropäische Vergangenheiten, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg dynamisierte. Fraglos ging es bei dem Unterfangen der „Dritten Welt“ ihre Geschichte zu schreiben auch darum, geopolitische Einflusssphären zu erringen und zu bewahren. Dessen ungeachtet übersetzte sich der Leitsatz, nicht-westliche Regionen zu berücksichtigen in ein Hinterfragen etablierter Großerzählungen, bei dem kulturelle Differenz und Vielfalt als Topoi bei der Konzeption von Weltgeschichte an Bedeutung gewannen. Gut greifbar ist das in der Vsemirnaja Istorija v devjati tomach (Weltgeschichte in 9 Bänden), die zwischen 1955 und 1965 erschien. Bereits in den 1920er Jahren konzipiert, wurde das Vorhaben 1937 in die Hände von Nikolaj M. Lukin gelegt, der die Debatten der vorangegangenen Jahre in einem Programmpapier mit den Titel „The Main Problems of Conceptualizing World History“ zusammenführte und mehrere Leitlinien vorgab, darunter, dass nicht eine metaphysisch-idealistische Weltgeschichte im Stile Hegels entstehen sollte, sondern eine Rekonstruktion realgeschichtlichen Wandels und dass man die Unterscheidung zwischen Kulturen mit und ohne Geschichte aufgeben sollte.25 Nach 1945 veränderten sich zwar die Vorzeichen, unter denen diese Gesamtdarstellung erarbeitet wurde, doch mit Evgenij M. Žukov, einem Japan-Historiker, an den die Leitung des Autorenkollektivs übergeben wurde, behielt die außereuropäische 24
25
Thomas M. Bohn: Writing World History in Tsarist Russia and in the Soviet Union, in: Eckhardt Fuchs / Benedikt Stuchtey (Hg.): Writing World History 1800–2000, Oxford 2003, S. 197–212; Matthias Middell / Katja Naumann, The Writing of World History in Europe from the Middle of the Nineteenth Century to the Present: Conceptual Renewal and Challenge to National Histories, in: Matthias Middell / Lluis Roura i Aulinas (Hg.): Transnational Challenges to National History Writing, Basingstoke 2013, S. 54–139. Osnovnye problemy postroenija vsemirnoj istorii, in: Istorik-marksist 3 (1937), 3–23.
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Geschichte ihr Gewicht.26 Ausdruck dessen ist einmal die Tatsache, dass der 24köpfigen Hauptredaktion vier Außereuropa-Experten angehörten. Aus heutiger Perspektive mag das wenig erscheinen, für die damaligen Verhältnisse war das ein recht großer Schritt in Richtung einer Integration von empirischen Wissensbeständen über nicht-westliche Kulturen. Sodann behandelte jeder Band außereuropäische Verläufe in eigenständigen Kapiteln, die sich auf ein Drittel und teilweise die Hälfte der Gesamtseitenzahl der Bände summieren. Ferner setzte man sich zum Ziel, den eurozentrischen Interpretationen der „bürgerlichen Geschichtsschreibung“ und dem sich darin spiegelnden ‚spirit of colonialism‘ eine alternative Deutung entgegenzuhalten. Auch die Begründung, dass die Geschichten der Nationen und Staaten jeweils einzeln und nacheinander präsentiert werden, verweist wenigstens in der Intention auf ein Überdenken tradierter Konzeptionen: Žukov schreibt nämlich in der Einleitung, dass man es als vordinglich ansah, den dominierenden Container „Zivilisation“ aufzubrechen, um zu den genuinen Entwicklungen der national verfassten Gesellschaften vorzudringen, um von dort Transfer und Verflechtung zu rekonstruieren.27 In die gleiche Richtung argumentierte er auf dem Internationalen Historikertag 1960 in Stockholm auf einem Panel zur Periodisierung von Weltgeschichte. Auch dort setzte er bei der Kritik an der Ordnungsgröße Zivilisation an. Wolle man zu dem Verbindenden und Gemeinsamen vordringen, so seien in einem ersten Schritt die spezifischen Entwicklungen der einzelnen Nationen nachzuvollziehen, und dabei stünde die Geschichtswissenschaft noch am Anfang. Daher könne die Weltgeschichte, an der man gerade schreibe, noch nicht einmal den Gang aller Nationen in dem Maße detailliert beschreiben, wie es nötig wäre. Dort, wo empirisches Wissen fehle, sei zunächst von nationalen, geographischen und historischen Besonderheiten auszugehen, um zu vermeiden, dass dem Weltgeschehen Gleichförmigkeit synchron zugeschrieben werde, die dieses gar nicht kannte.28 Diese Erkenntnis wie das versprochene Weiterforschen in Richtung Verflechtung verlor sich nach Beendigung dieser Ausgabe der Weltgeschichte. Stattdessen gewann in den 1980er Jahren ein Ansatz an Prominenz, der eher großräumig historisierte, indem er den Zusammenhang des eurasischen Raumes betonte und der bekanntlich heute noch diskutiert wird. 26
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Žukov (1907–1980) hatte am Orientalischen Institut in Leningrad Japanologie studiert und war 1941 mit einer Studie zur japanischen Geschichte an der Moskauer Universität promoviert worden. Drei Jahre hatte er die Professur für Asiatische Geschichte inne, kurz darauf übernahm er die Leitung des Pacific Institutes (Tichookeanskij Institut) an der Akademie der Wissenschaften und wurde zum stellvertretenden Direktor des dortigen Institutes für Geschichte ernannt: S. L. Tichvinskij: Istorik-ėnciklopedist, redaktor, pedagog – K 100-letiju so dnja roždenija akademika E.M. Žukova (Historian, Encyclopedian, Editor, Professor. At the Occasion of the 100th Anniversary of E. M. Zhukov), in: Vestnik Rossijskoi Akademii Nauk 77 (2007) 10, S. 911–914. Siehe die deutsche Ausgabe, Bd. 1 (Berlin 1961), S. 7. Rapports, XI International Congress of Historical Sciences, Bd. 1: Methodology, Stockholm 1960, S. 74–88.
Osteuropäische Geschichte und Globalgeschichte
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Die lange Geschichte des Bemühens um zeitgemäße Interpretationen im Weltmaßstab – in Russland wie anderswo – zu erinnern hat einen erheblichen Gegenwartsnutzen. Es bewahrt davor, die eigenen Konstruktionen globaler Verläufe für mehr als vorläufig zu halten. Und das ist um so notwendiger, als die Beschäftigung mit der Welt in besonderer Weise Gefahr läuft, zum grand récit, zur politisch mißbrauchbaren, weil ideologisch aufladbaren Meistererzählung zu werden. Es ist gegen die neue Globalgeschichte bereits eingewandt worden, dass sie mit ihren subtilen Techniken der postmodernen Distanzierung von jeglicher Art Zentrismus lediglich eine neue und besonders raffinierte Form westlicher intellektueller Überlegenheit im globalen Zusammenhang sei und damit selbst gerade so zentrisch wirke, wie sie es an der alten Universalgeschichte kritisiert, indem sie Modellen des Multipolarismus einen höheren Wert zuschreibe. Die Historisierung des eigenen Tuns kann hier Schutz und Sicherung bieten. Ganz abgesehen davon, dass manch vergessener Gedanke inspirieren kann. Institutionelle Kontexte In den letzten Jahren hat die Erforschung und Lehre von Globalgeschichte Eingang in akademische Strukturen gefunden. In Deutschland wie in anderen europäischen Ländern haben sich bemerkenswerte Institutionalisierungsprozesse vollzogen, die wiederum in mancherlei Hinsicht über die Verankerung der „world history“ in den USA hinausreichen. Dabei lassen sich verschiedene Wege unterscheiden. Es dominiert die Gründung von neuen universitären Instituten und Zentren. Das resultiert zum einen daher, dass nationale Geldgeber (Forschungsgemeinschaften wie die deutsche DFG oder der französische ANR), vor allem aber die Wissenschaftspolitik der Europäischen Union in zunehmendem Maße die Integration globaler Perspektiven in den Sozial- und Geisteswissenschaften fordern und mit finanziellem Reiz versehen. Zum anderen ist das Modell einer Doppelstruktur von National- und Weltgeschichte, wie es in den USA existiert und in den sozialistischen Historiographien bestand, in Westeuropa randständig geblieben und auch gegenwärtig nicht in der Diskussion. Viele der Neugründungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie Forscher verschiedener Disziplinen und Regionen zusammenbringen.29 Beispielhaft ist die Errichtung von „Area Studies“-Zentren durch das BMBF.30 Parallel dazu ist eine Erweiterung der regionalen Perspektive in den klassischen historischen Seminaren ebenso wie in vielen sozial-und kulturwissenschaftlich ausge 29
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Eine Auflistung der deutschen Forschungsverbünde bieten: Ulf Engel / Matthias Middell: Beobachtungen zur Globalisierungs- und Transnationalisierungsforschung in Deutschland, in: Rachid Ouissa / Heidrun Zinecker (Hg.): Globalisierung – entgrenzte Welten versus begrenzte Identitäten, Leipzig 2009, S. 283–318. Illustrativ sind auch das Global History and Culture Centre an der University of Warwick oder das Center for Transnational History an der St. Andrews University.
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richteten Forschungsverbünden zu beobachten. Nachdem in den 1990er Jahren der herkömmliche Fokus auf die Nationalgeschichte um europäische Zusammenhänge ergänzt wurde, werden nun auch transnationale Beziehungen zu außereuropäischen Weltregionen verfolgt. Doch vollzieht sich diese Öffnung im Ganzen genommen recht langsam. Dieser Prozess ist insofern relevant, da die OsteuropaHistoriographie weiterhin zu großen Teilen innerhalb der Geschichtswissenschaft situiert und wesentlich seltener an den neuen Zentren zu finden ist. Daraus ergibt sich eine in Teilen erschwerte interdisziplinäre Auseinandersetzung, wie sie zu den nicht-westlichen Regionen seit längerem üblich ist. Und die Verankerung Osteuropas in den neuen Strukturen der globalen und weltregionalen Studien ist relativ schwach, so dass die Debatte zunächst separiert im Feld der Osteuropaforschung abläuft. Deshalb wäre es wichtig, darüber nachzudenken, wo und wie sich Kontexte bauen ließen, in denen die Region in engerem Austausch mit Außereuropa-Historikern und Vertretern der Nachbarfächer erforscht werden kann. Dazu sind natürlich Zeit und Geld nötig, weshalb die Integration in die sich gerade reformierenden Regionalwissenschaften nahe läge. Jedenfalls scheint mir die Frage der Institutionalisierung der Begegnung von Osteuropäischer Geschichte und Globalgeschichte nicht minder relevant zu sein, als die zuvor skizzierten Herausforderungen. Hinter den Türen, die dieser Band geöffnet hat, wartet also durchaus schwieriges Terrain; es ist zu hoffen, dass sich dennoch viele wagen es zu betreten.
q u e l l e n u n d s t u d i e n z u r g e s c h i c h t e d e s ö s t l i c h e n e u ro pa
Begründet von Manfred Hellmann, weitergeführt von Erwin Oberländer, Helmut Altrichter, Dittmar Dahlmann und Ludwig Steindorff. In Verbindung mit dem Vorstand des Verbandes der Osteuropahistorikerinnen und -historiker e. V. herausgegeben von Jan Kusber.
Franz Steiner Verlag
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Taten des großen Gosudars, des Kaisers Peters des Großen, Selbstherrschers von ganz Rußland.“ Gemeinsam mit Thomas Busch, Norbert Kersken, Ekkehard Kraft und Eduard Mühle übers., eingel. und erklärt von Frank Kämpfer. Nebst einem Anhange aus zeitgenössischen Stimmen, nämlich Heinrich Butenant, Patrick Gordon und Otto Pleyer, zu den geschilderten Ereignissen 1989. VI, 223 S. mit 7 Abb., kt. ISBN 978-3-515-05087-6 Robert Maier Die Stachanov-Bewegung 1935–1938 Der Stachanovismus als tragendes und verschärfendes Moment der Stalinisierung der sowjetischen Gesellschaft 1990. 441 S., kt. ISBN 978-3-515-05440-9 Eduard Mühle Die städtischen Handelszentren der nordwestlichen Rus’ Anfänge und frühe Entwicklung altrussischer Städte (bis gegen Ende des 12. Jahrhunderts) 1991. XIV, 371 S., kt. ISBN 978-3-515-05616-8 Henning Bauer / Andreas Kappeler / Brigitte Roth (Hg.) Die Nationalitäten des Russischen Reiches in der Volkszählung von 1897 A. Quellenkritische Dokumentation und Datenhandbuch 1991. 580 S., geb. ISBN 978-3-515-05561-1 B. Ausgewählte Daten zur sozio-ethnischen Struktur des Russischen Reiches. Erste Auswertungen der Kölner NFR-Datenbank 1991. 532 S., geb. ISBN 978-3-515-05562-8 Teil A + B zusammen: ISBN 978-3-515-06014-1 Jürgen Pagel Polen und die Sowjetunion 1938-1939 Eine Studie zur Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges 1992. 339 S., kt. ISBN 978-3-515-05928-2 Erwin Oberländer (Hg.) Geschichte Osteuropas Zur Geschichte einer historischen Disziplin im deutschen Sprachraum 1945–1990 1992. VIII, 350 S., kt.
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und zarische Politik Der Aufstand in Zentralasien 1916 2010. 378 S. mit 12 Abb. und 1 Karte., kt. ISBN 978-3-515-09771-0 77. Matthias Stadelmann / Lilia Antipow (Hg.) Schlüsseljahre Zentrale Konstellationen der mittel- und osteuropäischen Geschichte. Festschrift für Helmut Altrichter zum 65. Geburtstag 2011. 520 S. mit 1 Abb., 4 Tab. und 4 farbigen Abb. auf Kunstdrucktafeln, geb. ISBN 978-3-515-09813-7 78. Alexander Friedman Deutschlandbilder in der weißrussischen sowjetischen Gesellschaft 1919–1941 Propaganda und Erfahrungen 2011. 428 S., kt. ISBN 978-3-515-09796-3 79. Dennis Hormuth Livonia est omnis divisa in partes tres Studien zum mental mapping der
livländischen Chronistik in der Frühen Neuzeit (1558–1721) 2012. 428 S. mit 1 Abb. und 7 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10097-7 80. Julia Franziska Landau Wir bauen den großen Kuzbass! Bergarbeiteralltag im Stalinismus 1921–1941 2012. 384 S. mit 2 Abb. und 37 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10159-2 81. Lukas Mücke Die allgemeine Altersrentenversorgung in der UdSSR, 1956–1972 2013. 565 S. mit zahlr. Tab., kt. ISBN 978-3-515-10607-8 82. Frithjof Benjamin Schenk Russlands Fahrt in die Moderne Mobilität und sozialer Raum im Eisenbahnzeitalter 2014. 456 S. mit 16 sw-Abb., 8 farbigen Abbildungen und 1 Faltkarte, kt. ISBN 978-3-515-10736-5
Globalgeschichte hat Konjunktur. Jedoch beherrschen die Geschichten Amerikas, Europas, Asiens und Afrikas globale Ansätze in der Historiographie. Der Osten Europas ist demgegenüber eine doppelte Leerstelle. Innerhalb der europäischen Geschichte gilt der Osten Europas häufig als randständig. In der Globalgeschichte ist er nicht als Weltregion sichtbar. Die Autorinnen und Autoren des Sammelbandes zeigen Themen und Perspektiven auf, wie sich die Geschichte des östlichen Europas im 19. und 20. Jahrhundert mit globalgeschichtlichen Ansätzen in einen fruchtbaren Aus-
ISBN 978-3-515-10809-6
tausch bringen lässt. Die Beiträge teilen sich in drei große thematische Blöcke. Die Zeit um 1900 sticht als Periode von Beobachtung, Austausch und Herrschaft zwischen Imperien hervor, wobei Russlands Verhältnisse zu Iran, Japan und China beleuchtet werden. Ein zweiter Schwerpunkt des Bandes liegt auf der Wissenschaftsgeschichte. Hier stehen Expeditionen zur See und die Polarforschung im Mittelpunkt. Drittens erfolgt eine Analyse von globalen Imaginationen und Kooperationen des östlichen Europas im Kalten Krieg. Zwei Kommentare runden den Band ab.
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