Ost-westliche Erfahrungen der Modernität: Der chinesisch-deutsche Ideenaustausch und die Bewegung des 4. Mai 1919 9783110682427, 9783110682281

The union of culture and politics that is so characteristic of modern Chinese history gained its first concise expressio

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German Pages 235 [236] Year 2020

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einleitung: Tradition und Moderne. Die Peking Universität, der 4. Mai 1919 und der deutsch-chinesische Ideenaustausch
Der 4. Mai 1919 als Zäsur? Ein Ereignis in der Beziehungs- und Verflechtungsgeschichte zwischen China und dem Westen
Das Strafrecht der „Musterkolonie“ Kiautschou
Militarismus, Nietzsche und die soziale Revolution. Über die Deutschlandbilder in den ersten Jahrgängen der Zeitschrift Neue Jugend
Hu Shis politische Einstellung und seine Reformideen um die Zeit der 4.-Mai- Bewegung
Variation zwischen Aufklärung und Revolution: Kant oder Marx?
Nation und Narration: Eine vergleichende Untersuchung der Beiträge der Brüder Zhou und der Brüder Grimm zur Folklore
Epochenwechsel in China – mit Goethe: Guo Moruo, Richard Wilhelm und die Bewegung des 4. Mai 1919
Die Rezeption der deutschen Literatur in China vor dem Hintergrund der 4.-Mai- Bewegung am Beispiel der Übersetzungen von Guo Moruo
Hermann Hesses Asienreise und seine Betrachtungen zum „Geiste Chinas“
„ . . . den Pfad der Zukunft hinan.“ Die 4.- Mai-Bewegung in deutschsprachigen Reiseberichten der 1920er und 1930er Jahre
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Ost-westliche Erfahrungen der Modernität: Der chinesisch-deutsche Ideenaustausch und die Bewegung des 4. Mai 1919
 9783110682427, 9783110682281

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Ost-westliche Erfahrungen der Modernität

Chinese-Western Discourse

Band 6

Ost-westliche Erfahrungen der Modernität Der chinesisch-deutsche Ideenaustausch und die Bewegung des 4. Mai 1919 Herausgegeben von Michael Jaeger, Benjamin Langer und Mao Mingchao

Gefördert vom DAAD mit Mitteln des Auswärtigen Amts.

Die Open-Access-Publikation dieses Bandes wurde von der Freien Universität Berlin gefördert.

ISBN 978-3-11-068228-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-068242-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-068243-4 ISSN 2199-2835 DOI https://10.1515/9783110682427

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz. Weitere Informationen finden Sie unter http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/. Library of Congress Control Number: 2020943963 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Michael Jaeger, Benjamin Langer und Mao Mingchao, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston. Dieses Buch ist als Open-Access-Publikation verfügbar über www.degruyter.com. Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort Als am 4. Mai 1919 Pekinger Studierende massenweise auf die Straße gehen, um gegen die im Versailler Vertrag festgelegte endgültige Abtretung der ehemaligen deutschen ‚Pachtgebiete‘ auf der Shandong-Halbinsel an Japan zu protestieren, treten sie zugleich für eine radikale Erneuerung der chinesischen Kultur ein. Es ist eine Jugendbewegung, die nicht nur die praktische Umsetzung neuer Bildungsideale fordert, sondern in einer Abkehr von konfuzianischen Traditionen die gesamte chinesische Gesellschaft von Grund auf verändern will. Vorbilder finden die Reformer im ‚Westen‘, nicht zuletzt in Deutschland. So hat Cai Yuanpei, Rektor der Peking Universität und eine der führenden Personen der Bewegung, in Leipzig studiert und legt das humboldtsche Bildungsideal seinen hochschulreformerischen Aktivitäten zugrunde. Goethe-Übersetzungen, insbesondere aus der Sturm-und-Drang-Periode des Dichters, erleben eine Hochzeit. Und eine intensive Marx-Rezeption bereitet den Weg für eine zunehmend kommunistische Ausrichtung der Aktivistinnen und Aktivisten der 4.-Mai-Bewegung. Zeitgleich lässt sich in Deutschland ein ausgeprägtes Interesse gerade an chinesischen Traditionen wahrnehmen, insbesondere an Konfuzianismus und Taoismus und ihrer Literatur. Die Faszination für die „altchinesische Weisheit“ (Hermann Hesse), die sich in dieser Rezeption äußert, ist vor dem Hintergrund einer ambivalenten Moderneerfahrung und Modernekritik zu verstehen. Der Rekonstruktion, Dokumentation und analytisch-historischen Deutung dieses bemerkenswert paradoxen, zweiseitigen Rezeptionsphänomens war im Sommer 2019 aus Anlass des 100. Jahrestages des 4. Mai 1919 eine vom Pekinger Zentrum für Deutschlandstudien ausgerichtete interdisziplinäre Tagung unter dem Titel „1919: Geburtsstunde des modernen Chinas und seiner Beziehungen zu Deutschland und Europa“ gewidmet. Im Dahlemer International House der Freien Universität Berlin nahmen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Peking Universität, der Freien Universität Berlin sowie der Humboldt-Universität zu Berlin das historische und intellektuelle Umfeld des 4. Mai 1919 in den Blick. Die Fragestellung der Referate, die in dem vorliegenden Band publiziert werden, galt insbesondere den historischen Voraussetzungen und zeitgenössischen Konstellationen der Neue-Kultur-Bewegung. Es liegt auf der Hand, dass das Programm auf ausgewählte Aspekte der eminenten Thematik beschränkt war. So versammeln die folgenden Seiten neben Analysen der konkreten historischen Situation in China und der politischen chinesisch-deutschen Verflechtungen während der ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ideen-, kultur- und literaturgeschichtliche Beiträge sowohl zur Literatur- und Philosophierezeption im Umfeld der Neue-Kultur-Bewegung wie auch zu den von Open Access. © 2021 Michael Jaeger et al., published by De Gruyter. Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110682427-202

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Vorwort

ihr inspirierten Übersetzungsaktivitäten sowie einigen ihrer herausragenden Repräsentanten. Zugleich enthält der Sammelband exemplarische Darstellungen jener deutschen China-Faszination vor und nach dem Ersten Weltkrieg, die dem Publikum in Deutschland nun gerade die philosophische und literarische Überlieferung des alten China zu erschließen sucht, die zwar in China selbst ins Fadenkreuz der Überlieferungskritik der 4.-Mai-Bewegung und ihrer Reform- und Modernisierungsprogrammatik geraten war und die doch zur gleichen Zeit in Deutschland wiederum als kompensatorische oder gar therapeutische Antwort auf desillusionierende Erfahrungen im Modernisierungsprozess dienen sollte. Das wohl gewichtigste Thema im Horizont des deutsch-chinesischen Ideenaustauschs während des 20. Jahrhunderts – Karl Marx in China und der Marxismus chinesischer Provenienz, also der Maoismus, in Deutschland – harrt freilich noch seiner Bearbeitung in gemeinsamer chinesisch-deutscher Perspektive und konnte aufgrund seines ungeheuren Umfangs hier (noch) keine Berücksichtigung finden, allenfalls nur gestreift werden. Mit seiner auf die Ideen des 4. Mai 1919 gerichteten historischen Fragestellung schließt der vorliegende Band an die beiden bereits erschienenen deutschsprachigen Publikationen zum chinesisch-deutschen Ideen- und Kulturaustausch an, die desgleichen aus der bewährten und produktiven Kooperation zwischen Peking Universität, Freier Universität Berlin und Humboldt-Universität zu Berlin im Rahmen der wahrhaft interdisziplinären und höchst inspirierenden Arbeit des Zentrums für Deutschlandstudien hervorgingen: Deutsch-chinesische Annäherungen. Kultureller Austausch und gegenseitige Wahrnehmung in der Zwischenkriegszeit, herausgegeben von Almut Hille, Gregor Streim und Pan Lu und erschienen 2011 im Böhlau Verlag, sowie Generationenverhältnisse in Deutschland und China. Soziale Praxis – Kultur – Medien, herausgegeben von Almut Hille, Huang Liaoyu und Benjamin Langer und erschienen 2016 bei De Gruyter. Dafür, dass Tagung und Band in dieser Form möglich waren, gebührt unser Dank zunächst dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), der die Aktivitäten des Zentrums für Deutschlandstudien an der Peking Universität in der Kooperation mit den beiden Berliner Universitäten bereits seit 2005 aus Mitteln des Auswärtigen Amtes großzügig fördert. Des Weiteren danken wir der Abteilung Internationales der Freien Universität Berlin für die freundliche Bereitstellung von Räumlichkeiten und Ressourcen, der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin für ihre Förderung der Publikation des Bandes im Open-Access-Format, der Heinz und Heide Dürr Stiftung für die Ermöglichung eines abschließenden Korrektorats und Frau Dr. Ursula Enderle für ihre umsichtige und sorgfältige Unterstützung bei der Manuskripterstellung. Wir danken den Mitarbeiterinnen des Verlags De Gruyter, insbesondere Frau Stella Diedrich, für die freundliche und geduldige Begleitung dieses Publikationspro-

Vorwort

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jekts, dessen Fertigstellung sich aufgrund der Covid-19-Pandemie mit nicht vorhersehbaren Herausforderungen konfrontiert sah. Und nicht zuletzt danken wir allen Beiträgerinnen und Beiträgern, die mit ihrem Engagement zum Gelingen von Tagung und Tagungsband beigetragen haben. Berlin und Peking, im Juni 2020 Michael Jaeger, Benjamin Langer, Mao Mingchao

Inhaltsverzeichnis Vorwort

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Michael Jaeger Einleitung: Tradition und Moderne. Die Peking Universität, der 4. Mai 1919 und der deutsch-chinesische Ideenaustausch 1 Arnd Bauerkämper Der 4. Mai 1919 als Zäsur? Ein Ereignis in der Beziehungs- und Verflechtungsgeschichte zwischen China und dem Westen 39 Martin Heger Das Strafrecht der „Musterkolonie“ Kiautschou

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Mao Mingchao Militarismus, Nietzsche und die soziale Revolution. Über die Deutschlandbilder in den ersten Jahrgängen der Zeitschrift Neue Jugend 69 Qin Mingrui Hu Shis politische Einstellung und seine Reformideen um die Zeit der 4.-Mai-Bewegung 93 Fang Bo Variation zwischen Aufklärung und Revolution: Kant oder Marx?

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Wang Liping Nation und Narration: Eine vergleichende Untersuchung der Beiträge der Brüder Zhou und der Brüder Grimm zur Folklore 133 Michael Jaeger Epochenwechsel in China – mit Goethe: Guo Moruo, Richard Wilhelm und die Bewegung des 4. Mai 1919 141 Han Jie Die Rezeption der deutschen Literatur in China vor dem Hintergrund der 4.-Mai-Bewegung am Beispiel der Übersetzungen von Guo Moruo 179

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Inhaltsverzeichnis

Huang Chaoran Hermann Hesses Asienreise und seine Betrachtungen zum „Geiste Chinas“ 191 Almut Hille „ . . . den Pfad der Zukunft hinan.“ Die 4.-Mai-Bewegung in deutschsprachigen Reiseberichten der 1920er und 1930er Jahre Autorinnen und Autoren Personenregister

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Abb. 1: Studentischer Redner der 4.-Mai-Bewegung in Peking.

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Einleitung: Tradition und Moderne. Die Peking Universität, der 4. Mai 1919 und der deutsch-chinesische Ideenaustausch 1 Red Building „Die Transformationen, die sich in China während der vergangenen einhundert Jahre ereignet haben, waren wohl wirkmächtiger als sämtliche Veränderungen des zurückliegenden Jahrtausends zusammengenommen. Seit der Neue-KulturBewegung hat die chinesische Gesellschaft noch nie dagewesene strukturelle und ideologische Umwälzungen durchgemacht“ (Old Nation New Mission, 206).1 Die prägnanten Worte sind dem Nachwort des offiziellen Katalogs Old Nation New Mission entnommen, der anlässlich der Pekinger Ausstellung zum einhundertsten Jahrestag der „Neue-Kultur-Bewegung“ erschienen ist. Der Ausstellungsort selbst und dessen Lage in der Stadtmitte Pekings bestätigen eindrucksvoll den Befund des radikalen Bruchs in der modernen chinesischen Geschichte. Eingerichtet nämlich wurde das Museum der Neue-Kultur-Bewegung im ehemaligen Hauptgebäude der Peking Universität, aufgrund seiner Konstruktion aus roten Ziegelsteinen „Red Building“ genannt. Auf wundersame Weise hat sich das historische Gebäude über all die gewaltigen historischen Brüche der vergangenen einhundert Jahre, über Revolutionen, Kriege, Bürgerkriege und Stadtumbauten hinweg in seinem ursprünglichen Zustand erhalten. In jenem roten Backsteingebäude in unmittelbarer Nähe des Kaiserpalastes in der Stadtmitte hatte Chinas bis zum heutigen Tage namhafteste Bildungseinrichtung seit 1918 ihren Sitz. Gegründet als Kaiserliche Universität im Jahre 1898 im Rahmen der Reformen der Qing-Dynastie, nach der Xinhai-Revolution und der Abdankung des Kaiserhauses in Nationale Universität umbenannt, zog sie 1953, vier Jahre nach der Gründung der Volksrepublik, nun unter dem Namen Peking Universität (Beida), in den Bezirk Haidian im Nordwesten Pekings um. Nicht nur aufgrund ihres ursprünglichen Standorts im Regierungsviertel, sondern in einem allgemeinen intellektuellen und politischen Verständnis rückte die Peking Universität mit Beginn des 20. Jahrhunderts ins Zentrum der mit dem Modernisierungsprozess verbundenen historischen Ereignisse vor.

1 Englischsprachige Zitate in diesem Beitrag wurden vom Verfasser ins Deutsche übersetzt. Open Access. © 2021 Michael Jaeger, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110682427-001

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Der in China seither und bis zum heutigen Tag erklingende Cantus firmus der Gesellschafts- und Bildungspolitik ist eine Variation über die Begriffe „Modernisierung“ und „Moderne“. Davon nicht zu trennen ist das wechselvolle, während der neueren chinesischen Geschichte phasenweise radikal polemische Verhältnis von Moderne und Überlieferung. Der Beginn der Moderne steht in China im Zeichen des Zusammenbruchs der jahrhundertealten Qing- bzw. Mandschu-Dynastie und der im Gefolge dieser epochalen Wende einsetzenden, fast vierzigjährigen Krisen-, Kriegs- und Bürgerkriegszeit, die, in einem formellen staatspolitischen Verständnis jedenfalls, erst mit Maos Ausrufung der Volksrepublik 1949 enden sollte, der dann aber womöglich noch gewaltigere Umbrüche während der 1950er und 1960er Jahre erst noch folgen, also insbesondere der „Große Sprung nach vorn“ (1958–1961) und die „Große proletarische Kulturrevolution“ (1966–1976).

Abb. 2: Das „Red Building“ heute.

Tradition und Moderne

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2 Traditionskritik und Bildungsreform Das alte Bildungssystem der überlieferten Gelehrsamkeit, das orientiert war auf die zentrale, für die Beamtenlaufbahn erforderliche Staatsprüfung, die vor allem die Kenntnis der Klassiker der chinesischen Literatur in der literarischen Hochsprache in exakt festgelegter, orthodoxer Auslegung voraussetzte, war 1905 noch vom zunehmend unter Modernisierungsdruck geratenen Kaiserhaus reformiert worden. Es wurde zugleich ein neues Schul- und Hochschulsystem, nicht selten nach westlichem Vorbild, aufgebaut. In diesen Zusammenhang gehört die Gründung der Peking Universität im Jahre 1898. Der Reformprozess im Bildungswesen wurde dann nach der Xinhai-Revolution 1911 systematisch und in großem Umfang fortgesetzt. Jene bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert anhebenden und erst recht in der Folge des Sturzes der Mandschu-Dynastie an Dynamik gewinnenden Modernisierungsbestrebungen, die zunächst auf Sprache, Literatur, Schul- und Hochschulbildung bezogen waren und einhergingen mit einer zunehmend polemischer werdenden Kritik am klassischen konfuzianischen Bildungskanon, werden gemeinhin in der chinesischen Geschichtsschreibung unter dem Begriff „Neue-Kultur-Bewegung“ zusammengefasst. Die Peking Universität entwickelte sich nach der Ausrufung der Republik im Jahre 1912 zügig zum intellektuellen und dann auch institutionellen Mittelpunkt der Neue-Kultur-Bewegung (vgl. SchmidtGlintzer 2008, 151–193). Der Umbruch im Bildungssystem fand damals nicht zuletzt auch darin seinen Ausdruck, dass zahlreiche junge Chinesen zum Studium ins Ausland, nach Europa, Amerika, insbesondere aber nach Japan gingen. In Japan war seit Mitte des 19. Jahrhunderts der Modernisierungsprozess nach westlichem Vorbild in vollem Gange. Kompromisslos hatte die Meiji-Restauration mit den jahrhundertealten japanischen Herrschafts- und Gesellschaftsstrukturen gebrochen, um eine technische und industrielle Modernisierung in Gang zu bringen und zugleich Infrastruktur, Militär und Verwaltung nach europäischen und amerikanischen Vorbildern aufzubauen. Vorausgegangen war der epochalen Wende die Erfahrung der hoffnungslosen militärischen Unterlegenheit Japans, als 1854 unter dem Druck der amerikanischen Kriegsschiffe zunächst die Häfen und dann das ganze Land den westlichen ökonomischen Interessen geöffnet werden mussten. Zu dem japanischen Modernisierungsplan, der in Reaktion auf diese militärische und politische Niederlage ins Werk gesetzt wurde, zählte – als besonders folgenreiche Maßnahme – die konsequente Übernahme der westlichen Standards im Bildungs- und Wissenschaftsbereich. Als dann während der ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts chinesische Studenten in größerer Zahl nach Japan gingen, wurde an den Hochschulen dieses Landes, vor allem in den Naturwissenschaften, schon auf dem

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neuesten Stand der Wissenschaften unterrichtet. Dort war nicht nur die Lektüre der europäischen und amerikanischen Lehrbücher – in den medizinischen Fächern waren es insbesondere die deutschen Fachbücher – ein wichtiger Gegenstand des Studiums. Hier begegneten die chinesischen Studenten desgleichen und mitunter schon in japanischen Übersetzungen der Literatur- und Philosophiegeschichte des Westens. Kehrten sie dann am Ende ihrer Studienzeit mit solchen Erfahrungen nach China zurück, schlossen sie sich dort in der Regel jenen Kreisen traditionskritischer Intellektueller an, die unter dem Eindruck der politischen Demütigungen des alten kaiserlichen Chinas in der Auseinandersetzung mit den Kolonialmächten und insbesondere im Konflikt mit Japan eine fundamentale politische und kulturelle Modernisierung Chinas gefordert hatten. Es war bezeichnend für die widerspruchsvolle historische Situation Chinas, dass sich die chinesischen Reformkräfte an der – nun gerade durch Japan vermittelten – westlichen Moderne orientierten, um auf diesem Wege die chinesische „Selbststärkung“ zu befördern und der Auseinandersetzung mit der westlichen und japanischen Fremdherrschaft gewachsen zu sein. Zur Parallelität des historischen Geschehens in Japan und China zählt daher auch der seit der Krise der Qing-Dynastie in China mit zunehmender Heftigkeit hervorbrechende Konflikt zwischen den konservativen Verteidigern der alten kaiserlichen, konfuzianisch geprägten Ordnung und den dagegen rebellierenden Modernisierern. Hatte doch eine Querelle des Anciens et des Modernes in ähnlichen Konstellationen zuvor bereits das japanische Modernisierungsprojekt begleitet.

3 Kultur und Politik: 4. Mai 1919 Vergleichbar sind auch die historischen Erfahrungen im Hintergrund der chinesischen Modernisierungsbestrebungen und der mit ihnen einhergehenden Reformdebatte. Die Niederlage im Opiumkrieg gegen die technisch weit überlegenen englischen Truppen sowie die in der Folge von den Kolonialmächten diktierten „Ungleichen Verträge“ (1842), die die Öffnung des chinesischen Marktes für westliche Waren und Wirtschaftsaktivitäten erzwangen, gehörten im kollektiven politischen Gedächtnis Chinas zu den traumatischen Erinnerungen, die bis weit ins 20. Jahrhundert virulent blieben. Zur gleichen Kette der demütigenden Erfahrungen einer technischen und militärisch-organisatorischen Unterlegenheit zählen die Niederlage im Chinesisch-Japanischen Krieg (1894/1895) sowie die dem Boxeraufstand im Jahre 1900 folgenden, eine Spur der Verwüstung hinterlassenden sogenannten „Strafaktionen“ der westlichen Alliierten. Schließlich gesellten sich

Tradition und Moderne

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1919 zu den wirkmächtigen politischen Enttäuschungen Chinas die Ergebnisse der Versailler Friedensverhandlungen, die im Widerspruch zum Selbstbestimmungsprogramm des amerikanischen Präsidenten Wilson das ehemalige Pachtgebiet des Kriegsverlierers Deutschland auf der Halbinsel Shandong keineswegs China, sondern Japan zusprachen sowie darüber hinaus die im wirtschaftlichen Interesse der Westmächte liegenden Bestimmungen der „Ungleichen Verträge“ – den Anspruch etwa auf die westlichen Pachtgebiete und Freihäfen, darunter Hongkong und Macau – mitnichten außer Kraft setzten (zu den sogenannten „Schutz- und Pachtgebieten“ der Kolonialmächte in China, insbesondere zur deutschen „Musterkolonie“ Kiautchou, vgl. den Beitrag von Martin Heger im vorliegenden Band). In der Empörung über diese Fortsetzung des Imperialismus des Westens nehmen die zunächst traditionskritischen Reformbemühungen insbesondere an der Peking Universität die politische Gestalt einer nationalen Protestbewegung an, die unter dem Namen „4.-Mai-Bewegung“ oder auch „4.-Mai-Revolution“ in die Geschichte eingeht. Die „4.-Mai-Bewegung“ erhält ihren Namen, weil sie sich öffentlich zum ersten Mal am 4. Mai 1919 formierte in einer Demonstration der Studenten mehrerer Pekinger Universitäten und Hochschulen gegen die genannten Bestimmungen des Versailler Vertrages und gegen die in den Augen der Protestierenden untaugliche chinesische Verteidigungspolitik. Ihren Ausgang nahm

Abb. 3: Protestzug von Studierenden am 4. Mai 1919.

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die Kundgebung an der Peking Universität (vgl. Chow 1967, 99–117; zum 4. Mai 1919 im allgemeinen historischen und weltpolitischen Horizont vgl. den Beitrag von Arnd Bauerkämper im vorliegenden Band). Gleichsam als Bühnenbild des für die moderne Geschichte Chinas so bedeutsamen historischen Moments hat man im ehemaligen Hauptgebäude dieser Hochschule, im Red Building, einen Raum mit solchen Fahnen und Transparenten eingerichtet, die den bedruckten Stoffen und bemalten Tüchern nachempfunden sind, die die Demonstranten damals mit sich führten. Die Spruchbänder, auf denen sie die volle Souveränität Chinas, die Rückgabe der Pachtgebiete und der damit verbundenen Handelsprivilegien, die Zurückweisung der japanischen Ansprüche bzw. die Verweigerung der Unterzeichnung des Versailler Vertrags forderten, bringen drastisch die Politisierung der ursprünglich intellektuellen Bewegung für eine Neue Kultur zum Ausdruck.

Abb. 4: Historische Fahnen und Transparente im „Red Building“.

Solchermaßen verbinden sich in der Demonstration des 4. Mai endgültig die kulturellen mit den politischen Themen. Fortan ist der Protest gegen den westlichen und japanischen Imperialismus nicht mehr zu trennen von der Selbstkri-

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tik der kulturellen, insbesondere konfuzianischen Überlieferung Chinas, die nunmehr als eine der wesentlichen Ursachen für die politische und ökonomische – und militärische! – Schwäche des Landes in der Auseinandersetzung mit den Kolonialmächten angesehen wird. Auf diese Weise gibt der 4. Mai 1919 der Neue-Kultur-Bewegung einen dezidiert politischen Gehalt, der dann während der folgenden Etappen des historischen Prozesses eine revolutionäre Dynamik entfalten wird.

4 Cai Yuanpei Wie es die erhaltenen Fotografien des Ereignisses zeigen, führte der Demonstrationszug am 4. Mai 1919 zunächst vor das Tor des himmlischen Friedens an der Südseite der verbotenen Stadt im Zentrum Pekings und mithin zu jenem bedeutungsschweren Punkt im urbanen Terrain, der von diesem Tag an zum Schicksalsort der chinesischen Geschichte des 20. Jahrhunderts und des sie prägenden Konflikts zwischen Überlieferung und Moderne werden sollte. Als die Protestierenden daraufhin in das in der östlichen Nachbarschaft gelegene Botschaftsviertel weiterzogen, kam es zu heftigen Auseinandersetzungen mit Angehörigen der chinesischen Regierung, der man eine viel zu nachgiebige Verhandlungsführung in Versailles vorwarf.

Abb. 5: Demonstrierende Studenten am 4. Mai 1919 werden von der Polizei abgeführt.

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Zahlreiche Demonstranten wurden verhaftet, was wiederum Cai Yuanpei, den Präsidenten der Peking Universität, dazu veranlasste, aus Protest gegen die Arretierung der Studenten von seinem Amt zurückzutreten. In der Folge der Ereignisse schlossen sich allenthalben in den größeren Städten Chinas Geschäftsleute, Angestellte und Arbeiter den Forderungen der 4.-Mai-Aktivisten an, in Shanghai wurde der Generalstreik ausgerufen. Die Auseinandersetzungen endeten schließlich damit, dass die chinesische Delegation in Versailles den Vertrag nicht unterschrieb, die festgesetzten Studenten wieder freikamen und Cai Yuanpei als Präsident in sein Amt an der Peking Universität zurückkehrte. Seit 1917 stand Cai Yuanpei (1868–1940) an der Spitze der Hochschule, die er konsequent als eine moderne Wissenschaftsinstitution aufbaute.

Abb. 6: Porträtbildnis von Cai Yuanpei.

Cai hatte zunächst noch das alte, auf der konfuzianischen Tradition beruhende und in die Beamtenlaufbahn einmündende Curriculum der Qing-Dynastie absolviert. 1907 ging er dann für mehrere Jahre nach Deutschland, wo er an der Universität Leipzig Philosophie studierte, insbesondere bei dem Neukantianer Wilhelm Wundt. Seit 1912 wieder in China, war Cai in der jungen Republik unter Sun Yat-sen vorübergehend als Bildungs- und Erziehungsminister tätig, woraufhin er zum Rektor der Peking Universität ernannt wurde. Nicht zuletzt unter dem Eindruck der Wissenschafts- und Bildungsbegriffe Kants und Wilhelm von Hum-

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boldts stehend und vor diesem deutschen Erfahrungshintergrund sicherlich der einflussreichste Repräsentant der chinesisch-deutschen Wechselbeziehungen dieser Epoche, verstand es Cai, das akademische Terrain zur Heimstätte des kritischen Geistes und der freien Diskussion zu machen und dies nun gerade in Unabhängigkeit von den seit 1912 immer turbulenter werdenden und schließlich – nach Yuan Shikais Tod – ins Regime der Warlords übergehenden politischen Verhältnissen Chinas. In Cais Personal- und Berufungsentscheidungen gewann seine konsequente Verwirklichung des Ideals der Wissenschafts- und Universitätsautonomie ihren sichtbarsten Ausdruck. Das zeigt sich in exemplarischer Deutlichkeit im Blick auf die kritischen Intellektuellen, die seinerzeit bereits ein eigenständiges Profil in der chinesischen Reformdebatte und der für sie charakteristischen Überlieferungskritik gewonnen hatten und die nun von Cai an die Peking Universität berufen wurden (vgl. Chow 1967, 48–61).

Abb. 7: Cai Yuanpei und Chen Duxiu mit Absolventen der Fakultät für chinesische Sprache.

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5 Neue Jugend: Chen Duxiu An erster Stelle ist in diesem Zusammenhang Chen Duxiu (1879–1942) zu nennen, den Cai 1917 mit dem Amt des Dekans der Philosophischen Fakultät betraute. Er hatte sich während der vorhergehenden Jahre nach erfolglosen Bemühungen, das klassische, auf die traditionellen Beamtenexamina vorbereitende Literatur- und Philosophiecurriculum zu absolvieren – dessen ritualisiertes Prüfungswesen er später mit beißendem Spott überzog –, dem Studium der englischen und französischen Sprache sowie der Schiffsbautechnik in Hangzhou zugewandt und setzte dann sein Technikstudium in Japan an einer Militärhochschule fort. Wie bei so vielen seiner chinesischen Altersgenossen gehört auch in Chens Fall die Begegnung mit der rasenden Modernisierung der japanischen Gesellschaft zu den die Studienzeit prägenden Erfahrungen, die dann die spätere Überlieferungskritik dieser Generation im Rahmen der Neue-KulturBewegung im Umkreis des 4. Mai 1919 inspirieren werden.

Abb. 8: Porträtbildnis von Chen Duxiu.

Nach seiner Rückkehr aus Japan hatte sich Chen solchen politischen Organisationen und revolutionären Gruppierungen angeschlossen, die den Sturz der Mandschu-Dynastie betrieben. Nachdem der jungen Republik unter Sun Yat-sen schon bald das autoritäre Regime Yuan Shikais gefolgt war, floh Chen zunächst nach

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Japan, ehe er seit 1914 von Shanghai aus durch eine vielfältige journalistische und publizistische Tätigkeit großen Einfluss auf die intellektuelle und politische Debatte in China ausübte. Eine kaum zu überschätzende Bedeutung in dem nun einsetzenden Reform- und Revolutionsprozess gewann die von Chen herausgegebene Zeitschrift Neue Jugend (Xin qingnian), die seit 1915 mit dem französischen Titel La Jeunesse und einem Jugendstilornament auf dem Heftumschlag in Shanghai erschien und rasch zum wichtigsten Organ der Neue-Kultur-Bewegung wurde (zu Deutschlandbildern in der Neuen Jugend, insbesondere zur NietzscheRezeption in den Artikeln dieser Zeitschrift, vgl. den Beitrag von Mao Mingchao im vorliegenden Band). Chen nachfolgend, zog die Redaktion der Neuen Jugend 1917 nach Peking um. Ihre prominentesten Autoren jener Jahre gehörten zugleich dem Lehrkörper der Peking Universität an. Von der ersten Ausgabe an hatte Chen die Kritik der chinesischen Überlieferung im Allgemeinen und des Konfuzianismus im Besonderen zum Hauptthema der Neuen Jugend gemacht. In allen Variationen wurde der Gegensatz zwischen Tradition und Moderne erörtert, stets standen die konfuzianischen Kardinaltugenden, die seit je her den chinesischen Alltag in der Öffentlichkeit und im Familienleben geprägt hatten, im Mittelpunkt der Diskussionen (vgl. Chow 1967, 41–48). Die Richtung gibt Chen der neuen Jugend Chinas im September 1915 unmissverständlich gleich im Heft Nr. 1 seiner Zeitschrift vor, darin er die junge Generation zur Befolgung von sechs Grundprinzipien aufruft: „Seid unabhängig und nicht servil! – Seid fortschrittlich und nicht konservativ! – Tretet hervor und zieht euch nicht zurück! – Seid kosmopolitisch und nicht isolationistisch! – Seid wissenschaftlich und nicht phantasierend! – Seid utilitaristisch und nicht formalistisch!“ (zitiert nach Franke 1957, 38). Unüberhörbar ist Chens Ton auf die Ermutigung der individuellen Persönlichkeit gestimmt, die in den Stand gesetzt werden soll, gegen das auf Selbstdisziplinierung ausgelegte strenge Regelwerk der herkömmlichen chinesischen Erziehung zu rebellieren.

6 „Leibesübungen“: Mao Zedong und Friedrich Paulsen In der Ausgabe der Neuen Jugend vom April 1917 erging desgleichen ein dringlicher Aufruf an die junge Generation Chinas, die Unabhängigkeit der Persönlichkeit zu kultivieren und zu diesem Zwecke, im Unterschied zu den geistigen Exerzitien der spezifisch kontemplativen philosophischen Überlieferung, die individuelle Kraft durch Körpertraining und sportliche Ertüchtigung zu steigern. Mao Zedong, seinerzeit vierundzwanzig Jahre alt und Student des Lehrerseminars der

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Provinz Hunan in Changsha, entwirft in dem Heft der Neuen Jugend unter dem Titel Eine Studie über Leibeserziehung gleichsam das Kontrastprogramm zum konservativen Bildungsideal der geistigen Übung und ihrer formalisierten Schul- und Erziehungsrituale. Anders nämlich als das mentale Training des klassischen Kanons sollte der neue Leibesunterricht „wild und hart sein. Wenn man auf einen Pferderücken springt und gleichzeitig schießt, wenn man von Kampf zu Kampf eilt; Berge durch sein Geschrei erzittern lässt und die Farben des Himmels durch ärgerliches Gebrüll verändert [. . .] dann ist alles wild und roh und hat mit Zartgefühl nichts zu tun“ (zitiert nach Spence 2001, 370). Ein moderner, in der chinesischen Geistesgeschichte bislang unbekannter voluntaristischer Vitalismus kommt in diesen Empfehlungen zur physischen Kraftsteigerung der Persönlichkeit zu Wort. Im Hintergrund der Studie über Leibesübungen zeigt sich einerseits die zeitgenössische chinesische Rezeption Darwins und die aus seinen biologischen Prinzipien abgeleitete Theorie eines Daseinskampfes auch der Nationen und Völker, der ein entsprechendes kollektives Stärkungsprogramm erforderlich mache, um in dem nun anbrechenden Zeitalter der globalen ökonomischen, politischen und militärischen Konkurrenz bestehen zu können. Maos Beitrag für die Neue Jugend ist dann aber andererseits offensichtlich auch inspiriert durch seine intensive Lektüre des Systems der Ethik von Friedrich Paulsen. Sie zählt zu den geistigen Schlüsselerlebnissen in Maos Studienjahren, die er dem von ihm verehrten Ethik- und Soziologiedozenten an der Lehrerbildungsanstalt, Yang Changji (1871–1920), zu verdanken hatte. Zwischen 1902 und 1913 hatte Yang Changji Erfahrungen im westlichen Schul- und Hochschulwesen bei Studienaufenthalten in Deutschland, England und Japan gesammelt. Über Yangs Vermittlung fand Paulsens Werk dann Eingang in die Lehrerausbildung in der Provinz Hunan – sicherlich zunächst nur ein Detail der chinesisch-deutschen Wechselbeziehungen im Umkreis der Neue-Kultur-Bewegung, aber doch wohl eines von exemplarischer Bedeutung und nachhaltiger Wirkung (vgl. Spence 2003, 43–53; Schmidt-Glintzer 2017, 40–47). Friedrich Paulsen (1846–1908), Ordinarius für Philosophie und Pädagogik an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, gehörte im deutschen Kaiserreich zu den wirkmächtigsten Professoren, dessen Werke, in hoher Auflage gedruckt und in zahlreiche Sprachen übersetzt, ein großes nationales und internationales Publikum erreichten. Sein System der Ethik erschien 1909 in der chinesischen Übersetzung von Cai Yuanpei, zuvor war es bereits ins Japanische übersetzt worden. Relevanz für die Reformfraktion in China gewann Paulsen vor allem auch durch seine bildungspolitischen Modernisierungskonzepte. Maßgeblich war er beteiligt an der Etablierung des Realgymnasiums und seines neuphilologischen und naturwissenschaftlich-technischen Curriculums, das im preußischen Schulsystem

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gleichberechtigt an die Seite des herkömmlichen altsprachlich-humanistischen Gymnasiums trat (vgl. Steensen 2010, 20–23, 108–114). In diesem Zusammenhang steht Paulsens Forderung, den für die Abiturprüfung ehedem obligatorischen Lateinaufsatz durch den „deutschen Aufsatz“ zu ersetzen – trotz aller großen kulturellen und historischen Differenzen zwischen Deutschland und China ein mit den Modernisierungsbestrebungen in der chinesischen Bildungs-, Sprach-, Schul- und Prüfungsdebatte durchaus vergleichbares Phänomen, zählte doch die Sprach-, Schrift- und Literaturreform und die entsprechende Modernisierung des Schul-, Prüfungs- und Hochschulwesens zu den Hauptanliegen der Neue-Kultur-Bewegung. Der im geistesgeschichtlichen und symbolischen Verständnis bedeutungsschwerste Gegenstand, auf den die Kritik der Reformer zielte, war der in der klassischen Schriftsprache verfasste konfuzianische Kanon, der jahrhundertelang den Unterricht dominierte und der im Mittelpunkt der strikt auf das chinesische Altertum ausgerichteten traditionellen Prüfungen stand (vgl. Höllmann 2015, 14–20).

Abb. 9: Konfuzius-Akademie Peking: Modell der traditionellen Unterrichtssituation.

Aufschlussreich im Blick auf die philosophisch-pädagogischen Diskussionen in China sind auch die ausführlichen Kommentare, in denen Mao seine Paulsen-Lek-

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türe dokumentiert hat. „Willensfreiheit“ und „Willenskraft“ lauten die Schlüsselworte dieser Reflexionen über das System der Ethik. Dazu notiert Mao: Der wahrhaft große Mensch entfaltet seine natürlichen Anlagen [. . .]. Die Taten des Helden sind seine eigenen Taten, sind Ausdruck seiner Willenskraft, erhaben und reinigend, und berufen sich auf kein Vorbild. Seine Kraft gleicht einem sturmmächtigen Wind [. . .], eine Macht, die grenzenlos ist und der man keinen Einhalt gebieten kann. Vor ihr weichen alle Hindernisse. (Zitiert nach Schmidt-Glintzer 2017, 45; vgl. Chang und Halliday 2007, 29–32)

7 Chen Duxius Umwertung der konfuzianischen Werte Die systematische Argumentation für die Befreiung der individuellen Persönlichkeit von den allgewaltigen Vorbildern der Tradition und von den durch dieselben repräsentierten herkömmlichen Bildungs- und Erziehungsidealen entwirft Chen Duxiu seit 1915 in seinen Beiträgen für die Neue Jugend. Das Stichwort, mit dem sein „Aufruf an die Jugend“ einsetzt, lautet denn auch Emanzipation. Mit Bezug auf die neuere europäische Geschichte, die als Prozess der politischen Revolutionen, der Säkularisierung sowie der zunehmenden Gleichberechtigung und mithin als eine „Geschichte der Emanzipation“ zu lesen sei, appelliert Chen an die junge chinesische Generation, sich aus der in Familie und Schule eingeübten Fixierung auf die Vergangenheit zu lösen und endlich in die modernen Verhältnisse der kosmopolitischen Welt des 20. Jahrhunderts aufzubrechen: Emanzipation bedeutet Selbstbefreiung aus den Fesseln der Knechtschaft und Vollendung der vollkommen unabhängigen und freien Persönlichkeit. [. . .] Sobald einmal die unabhängige Persönlichkeit anerkannt ist, sollten alle Angelegenheiten des Benehmens, alle Rechte und Privilegien und jegliche Überzeugung der natürlichen Fähigkeit jeder Person überlassen werden. Es gibt definitiv keinen Grund dafür, warum man blindlings anderen folgen sollte. Wie denn auch Loyalität, kindliche Ergebenheit, Keuschheit und Rechtschaffenheit Ausdruck einer sklavischen Gesinnung sind [. . .]. (Zitiert nach Lawrance 2004, 2)

Offenkundig zielen die polemischen Passagen von Chens Appell auf die Kardinaltugenden des Konfuzianismus und auf die mit ihnen verbundene traditionelle chinesische Familien- und Gesellschaftsordnung, in der im Sinne einer strikt patriarchalischen Hierarchie das Verhältnis von Herrscher und Untertanen, Vater und Sohn, Ehemann und Ehefrau, Älteren und Jüngeren, Ahnen und nachfolgenden Generationen festgelegt ist (vgl. Gu 1999, 37–47). Die tragenden Fundamente dieser aus der Lehre einer universellen Harmonie abgeleiteten, in formalisierten Verhaltens-, Anstands- und Sittlichkeitsnormen penibel

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geregelten Herrschafts-, Familien-, Geschlechter- und Generationsverhältnisse bringt Chen ins Wanken, wenn er Loyalität, Pietät, Ehrerbietung, Keuschheit und Rechtschaffenheit als typische Kennzeichen einer lebensfeindlichen Sklavenmoral bloßstellt. Deutlich sichtbar tritt in den an die junge Generation Chinas gerichteten Manifesten Chens deren Inspiration durch die Nietzsche-Lektüre in den Blick. Wie überhaupt Nietzsches Philosophie der „Umwertung der Werte“ und die einschlägigen Begriffe der „Herren-“ und „Sklavenmoral“ sowie der Willensfreiheit auf dem Wege der zeitgenössischen japanischen und chinesischen NietzscheÜbersetzungen eingehen in die ikonoklastische Programmatik der Neue-KulturBewegung. Die Rezeption von Nietzsches Lebens- und Willensphilosophie kann sich dann wiederum mit den vitalistischen Konzepten eines zeittypisch politisch aufgeladenen Sozialdarwinismus verbinden. In diesem Fall wird die Befreiung von dem die Willens- und Lebenskräfte schwächenden Ballast der Tradition und der Geschichte zur Voraussetzung dafür, den modernen Kampf ums Dasein der Völker und Nationen bestehen zu können. Da in Chens Augen seit Beginn des Ersten Weltkriegs die Epoche dieser nunmehr globalen Auseinandersetzung angebrochen ist, hält er lakonisch fest: „Mir wäre das Verschwinden der alten Kultur unserer Nation viel lieber als mitansehen zu müssen, wie unser Volk nun ausstirbt aufgrund seiner Lebensuntauglichkeit in der modernen Welt“ (zitiert nach Lawrance 2004, 2). Die weltfremden Traditionalisten, die immer noch den isolationistischen und kontemplativen Idealen des alten China anhingen – der Vorliebe für das „ruhige Eremitenleben“ und für die „Eremitenliteratur“ –, glaubten, so konstatiert Chen fassungslos, sich dem modernen Epochenwechsel entziehen zu können. Unmöglich sei es jedoch, dem „Kampf ums Dasein“ auszuweichen, er reiße alle ins dynamische Weltgeschehen hinein. Der Rückzug aus der Welt, einstmals die souveräne Geste der Meister der Meditation (der „Eremiten“), sei heute kein Ausweis mehr von Weisheit und Geisteskraft, sondern nur noch ein Zeichen verächtlicher Schwäche. Dem Argumentationsmodell der „Umwertung der Werte“ genau folgend, stellt Chen daher fest: „Um es in freundlichen Worten zu sagen: Der Rückzug [in die Kontemplation] ist die Handlungsweise, in der der überlegene Mensch Abstand von der vulgären Welt gewinnt. Um es in unfreundlichen Worten zu sagen: Es ist das Kennzeichen der Schwachen, die unfähig sind, den Kampf ums Überleben zu führen“ (zitiert nach Lawrance 2004, 3).

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8 Historische Dialektik: Chen Duxius Weg in den Marxismus Längst sei für die junge Generation die Zeit gekommen, in der Auseinandersetzung mit den Eltern und Lehrern sowie mit der Überlieferung insgesamt die unfreundlichen Worte zu wählen. Unausweichlich nämlich stehe China jetzt vor der entscheidenden Alternative zwischen Kontemplation und Aktion, Vergangenheit und Zukunft, Tradition und Moderne – und zuletzt Tod und Leben: „Wenn eine Nation in den Strom der Weltereignisse geworfen wird, werden Traditionalisten den Tag des Zusammenbruchs dieser Nation zügig herbeiführen, aber jene, die zum Wandel befähigt sind, werden die Gelegenheit ergreifen, um zu kämpfen und vorwärts zu streben“ (zitiert nach Lawrance 2004, 3), weshalb es eine Überlebensfrage und ein Gebot der Vernunft ist, sich von der die Kräfte schwächenden Überlieferung und von den sich an sie klammernden Traditionalisten loszusagen. Und dann fügt Chen gar noch eine dialektische Deutung der Kolonialgeschichte in China hinzu: Geht es nach den Pessimisten, so hat unser Land seit der [durch die „Ungleichen Verträge“ erzwungenen] Öffnung der Handelshäfen Territorium verloren und Entschädigungen bis zur Erschöpfung gezahlt. Hält man sich jedoch an die Optimisten, so würden wir ohne die Segnungen [sic!] des chinesisch-japanischen Krieges von 1895 und ohne den Boxer-Aufstand von 1900 immer noch im Zeitalter des „achtbeinigen Essays“ [eine der besonders berüchtigten Aufgaben im traditionellen Prüfungssystem] und des Zopfes leben. (Zitiert nach Lawrance, 3)

In seiner provokativen Umwertung der etablierten historischen Deutungsmuster feiert Chen die List der Weltgeschichte, die – nun ausgerechnet in den demütigenden Auseinandersetzungen Chinas mit den Kolonialmächten – der neuen Jugend das größte Hindernis auf dem Weg in die Zukunft aus dem Weg geräumt hat: den Irrglauben des alten Kaiserreichs, man könne den Herausforderungen der Moderne mit einer „isolationistischen Politik der geschlossenen Türen“ (zitiert nach Lawrance 2004, 3) begegnen. Die durch eine anachronistische Kultur verriegelten Tore Chinas, so die von Chen enthüllte Ironie der Geschichte, mussten erst von außen gewaltsam aufgesprengt werden, um das Land für eine Entwicklung im Sinne von Fortschritt und Emanzipation zu öffnen. Es liegt nahe, in Chens dialektisch-hegelianischer Deutung der demütigenden Kolonialgeschichte eine Reminiszenz der berühmten China-Passagen im Manifest der Kommunistischen Partei zu erkennen, die den Autoren als Illustration ihrer Hauptthese, des Zusammenhangs von ökonomischer Modernisierung und politischer Revolution, dienen: „Der ostindische und chinesische

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Markt [. . .] gaben dem Handel, der Schiffahrt, der Industrie einen nie gekannten Aufschwung und damit dem revolutionären Element der zerfallenden feudalen Gesellschaft eine rasche Entwicklung“ (Marx und Engels 1959, 463). Dieser Befund gilt in zweifacher Richtung: Sowohl in der alten Welt der Kolonialmächte befördert die moderne Ökonomie den Zerfall der überkommenen feudalen Gesellschaftsstrukturen wie auch in den kolonisierten bzw. in den – wie China – zum Welthandel gezwungenen Ländern der Neuen Welt und des Fernen Ostens. Unter Bezugnahme auf die Opiumkriege und die „Ungleichen Verträge“ stellen Marx und Engels dann über die Unaufhaltsamkeit des von der industriellen Produktion entfachten globalen Modernisierungsprozesses fest: Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterte Kommunikation alle, auch die barbarischsten Länder in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt [. . .]. Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen. (Marx und Engels 1959, 466)

Im Zuge dieses veritablen Globalisierungsprozesses werden „alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört“ (Marx und Engels 1959, 466), wie sich schließlich in einer universellen Dynamik die in überlieferten nationalen und regionalen Kulturen verfestigten Strukturen sämtlich auflösen werden: „Alles Ständische und Stehende verdampft. Alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen“ (Marx und Engels 1959, 465). Die Übertragbarkeit des von Marx und Engels aus den europäischen Verhältnissen abgeleiteten Modells auf jene chinesische Szenerie, wie sie sich dem Betrachter nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs und angesichts der wirtschaftlichen Aktivitäten der Kolonialmächte zeigt, liegt auf der Hand. Chen Duxiu hat sich in den folgenden Jahren dann auch nicht mehr auf historische und theoretische Analysen beschränkt, sondern hat sich der politischen Praxis zugewandt und jenen marxtypischen Gedankengang beim Wort genommen, demnach es darauf ankomme, sich an die Spitze der Geschichtsbewegung zu stellen, das Heft des Handelns selbst in die Hand zu nehmen und den ohnehin unvermeidlichen Modernisierungsprozess nicht von außen zu erleiden, sondern in China zu befördern, um solchermaßen der Emanzipation und zuletzt der Revolution das Terrain zu bereiten. Chen gehörte denn auch zu den Gründungsmitgliedern der Kommunistischen Partei Chinas, zu deren erstem Generalsekretär er 1921 in Shanghai gewählt wurde.

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9 „Mr Democracy and Mr Science“ Vorerst jedoch, als Dekan an der Peking Universität und im Umkreis des 4. Mai 1919, galt Chens Engagement der Neue-Kultur-Bewegung, der er freilich auch im akademischen Bereich eine dezidiert politische Ausrichtung zu geben versuchte. In einem seiner berühmtesten Artikel in der Neuen Jugend verteidigt er im Januar 1919 die traditionskritischen Autoren dieser Zeitschrift, die sich für die „beiden Herren ‚Democracy‘ und ‚Science‘“ eingesetzt hatten. Abermals zielt Chen dabei auf den konfuzianischen Tugendkanon: Um sich für jenen Herrn ‚Democracy‘ einzusetzen, können sie nicht umhin, sich gegen den Konfuzianismus, gegen die Gesetze der Sitte, gegen die Keuschheit, gegen die althergebrachte Ethik und gegen die althergebrachte Politik zu wenden; und um sich für jenen Herrn ‚Science‘ einzusetzen, können sie nicht umhin, sich gegen die althergebrachten Künste und gegen die althergebrachte Religion zu wenden; und um sich für die beiden Herren ‚Democracy‘ und ‚Science‘ einzusetzen, können sie nicht umhin, sich gegen das nationale Erbgut und gegen die althergebrachte chinesische Literatur zu wenden. (Zitiert nach Franke 1957, 49)

Es gibt in Chens Perspektive keinen Kompromiss zwischen chinesischer Tradition und Moderne. Den von Chen auf ganzer Front ausgerufenen Kampf gegen die Überlieferung – gegen alte Ethik, alte Sittengesetze, alte Politik, alte Kunst, alte Religion – führen die seinerzeit an dieser Hochschule wirkenden Reformkräfte in exemplarischer Konsequenz auf dem Feld der Sprache und Literatur (vgl. Chow 1967, 269–279). War die staatstragende konfuzianische Überlieferung bereits 1905 mit der Abschaffung des herkömmlichen, die Kenntnis des alten Literaturkanons voraussetzenden Prüfungssystems in die Defensive geraten, so haben sich die Aktivisten der Neue-Kultur-Bewegung einen prinzipiellen Traditionsbruch in der allgemeinen Sprach- und Alltagskultur sowie die Kritik der gesamten alten Gelehrsamkeitsüberlieferung auf die Fahnen geschrieben. Eine neue, standardisierte Volkssprache in einer vereinfachten Schrift soll etabliert werden. Zur neuen Kultur soll vor allem eine moderne realistische Literatur beitragen, diesseits der literarischen Klassik, ihres strengen Stils sowie ihrer traditionellen Formen und Inhalte. In solchen stets auf die nationale Einheit Chinas bezogenen sprach- und literaturpolitischen Forderungen stimmen die prominenten Repräsentanten der Bewegung überein, auch wenn sich später auf dem politischen Terrain ihre Wege wieder trennen (vgl. Schmidt-Glintzer 1999, 497–505).

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10 Neue Literatur: Realismus Das Leitwort, unter das die Reformer an der Peking Universität und im Umkreis der Zeitschrift Neue Jugend ihre sprach- und literaturpolitischen Aktivitäten stellen, lautet Realismus. Wirkmächtigster Stichwortgeber in der weite Kreise ziehenden chinesischen Realismusdiskussion war der Philosoph und Philologe Hu Shi (1891–1962). Auch sein Lebensweg folgt der für viele Angehörige der Reformfraktion typischen Bahn. Hus Bildungsgeschichte nahm ihren Anfang beim klassischen Literaturstudium des alten Schulsystems, ehe er an eine nach japanischem Vorbild modernisierte Schule in Shanghai wechselt und dann mit einem Auslandsstipendium zum Philosophiestudium in die Vereinigten Staaten aufbricht, wo er an der Columbia Universität in New York bei dem Philosophen und Reformpädagogen John Dewey seine Doktorarbeit schreibt. Deweys philosophischer Pragmatismus sollte stets prägend für Hus Positionen in der NeueKultur-Bewegung bleiben. Eine ihrer populärsten Losungen – „zerschlagt den Konfuzius-Laden!“ – geht zwar auf Hu Shi zurück (van Ess 2009, 104). Indessen zählte er später keineswegs zu den Vertretern des kompromisslosen Ikonoklasmus, die den radikalen Bruch mit der Überlieferung einforderten. Hu versuchte vielmehr, durch penibles Quellenstudium auch in der Geschichte des chinesischen Schrifttums Anknüpfungspunkte für eine neue, realistische Ästhetik zu finden, diesseits des streng formalistischen Stils der konfuzianisch geprägten Klassik (zu Hu Shis Position in der Neue-Kultur-Bewegung und im Umkreis des 4. Mai 19919 vgl. den Beitrag von Qin Mingrui im vorliegenden Band). Hu Shi gehörte desgleichen zu jenen traditionskritischen Intellektuellen, die von Cai Yuanpei an die Peking Universität berufen wurden. Seit 1917 lehrte er dort als Philosophieprofessor, wo er eng mit Chen Duxiu zusammenarbeitete, dessen späteren Weg in den Marxismus er freilich als überzeugter Verfechter des Pragmatismus kritisierte (zur chinesischen Deutung des 4. Mai 1919 und zur entsprechenden Debatte zwischen den Positionen der marxistischen Revolution und der aufklärerischen Reform vgl. den Beitrag von Fang Bo im vorliegenden Band). Zunächst jedoch gehörte er zum Autorenkreis der Neuen Jugend und entfaltete in seinen Beiträgen zu dieser Zeitschrift das Programm für eine Sprach-, Schrift- und Literaturreform im Geiste des Realismus. Dazu zählen auch seine „Vorschläge für eine literarische Reform“, die im Januar 1917 in der Neuen Jugend erschienen und Hus berühmte, auf die herkömmlichen literarischen Konventionen – auf Formalismen, klassische Stil- und Zitierregeln sowie auf die höchst subtilen Anspielungskünste – polemisch gemünzte „acht Leitsätze“ enthielten, darunter die Forderungen: „Den Worten muss ein konkreter Gehalt zugrunde liegen. Ahme nicht den Stil und die Ausdrucksweise der Alten nach! [. . .] Mache dich frei von veralteten Phrasen oder Redewendungen! Verwende

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Abb. 10: Die Ausgabe der Neuen Jugend von 1917, in der Hu Shis „Thesen zur Literaturreform“ veröffentlicht wurden.

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Abb. 11: Die acht Thesen zur Literaturreform.

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keine Zitate! Vermeide allen stilistischen und gedanklichen Parallelismus! Habe keine Scheu vor Wörtern und Redewendungen der volkstümlichen Sprache“ (zitiert nach Franke 1957, 55; Chow 1967, 273–275). In der folgenden Februarausgabe der Neuen Jugend greift Chen Duxiu das Programm Hus auf, um es dann freilich unter dem Titel „Über die literarische Revolution“ im Sinne eines radikalen Ikonoklasmus zuzuspitzen. Kulturrevolution und politische Revolution rücken in Chens Diktion schon hörbar zusammen, wenn er sich gegen die Gelehrsamkeitsüberlieferung des alten Schul- und Bildungssystems und gegen dessen ästhetische und literarische Ideale wendet: Ich will der Feindschaft der Schulmeister des ganzen Landes trotzen und hoch das Banner der „Armee der literarischen Revolution“ hissen zur Unterstützung meines Freundes [d. i. Hu Shi]. Auf dem Banner sind mit großen Lettern die drei großen Prinzipien unserer revolutionären Armee geschrieben: 1. Nieder mit der gekünstelten, unwahren, aristokratischen Literatur! Schafft eine natürlich-einfache, lyrische Volksliteratur! 2. Nieder mit der vermoderten, nicht realistischen Zitaten-Literatur! Schafft eine neue, wahrheitsgetreue, realistische Literatur! 3. Nieder mit der unklaren, schwierigen, lebensfernen Berg- und Waldliteratur! Schafft eine klare, allgemeinverständliche, soziale Literatur! (Zitiert nach Franke 1957, 56–57)

Sicherlich nicht als exakte Konsequenz aus dieser literaturpolitischen Agitation, aber eben doch als radikaler Bruch mit der literarischen Überlieferung ist Das Tagebuch eines Verrückten, eine Erzählung des Schriftstellers Lu Xun (1881–1936), zu verstehen, die 1918 in der Neuen Jugend erscheint und gemeinhin als jener Schlüsseltext angesehen wird, mit dem die Moderne in der Literatur Chinas einsetzt. Auch Lus Schulbildung begann noch im alten, konfuzianisch geprägten Erziehungssystem, das er aber noch vor den Prüfungen verließ, die für die Beamtenlaufbahn im Kaiserreich qualifizierten. Nachdem er ein Studium zunächst an einer Marineakademie, dann an einer Hochschule für Bergbau und Eisenbahnbau aufgenommen hatte – an solchen technischen Hochschulen also, die seinerzeit von der Qing-Regierung im Rahmen der chinesischen Selbststärkungsbewegung nach westlichem Vorbild gegründet worden waren –, wechselte Lu zum Medizinstudium nach Japan, das er aber bald abbrach, um sich Sprach- und Übersetzungsstudien sowie der europäischen und amerikanischen Literatur- und Philosophiegeschichte zu widmen. Nicht zuletzt die Nietzsche-Lektüre zählte zu Lus prägenden intellektuellen Erfahrungen dieser Zeit. Zurückgekehrt nach China, arbeitete Lu zunächst als Lehrer. Nach Gründung der Republik erhielt er 1912 an dem von Cai Yuanpei geleiteten Erziehungsministerium eine Anstellung in Peking, wo er später dann auch an der Peking Universität als Dozent für Literaturgeschichte unterrichtete (zu Lu Xuns Studien zur chinesischen Literatur vgl. im vorliegenden Band den Beitrag von Wang Liping) und schon bald zu den Autoren zählte, dessen Texte regelmäßig in der Neuen Jugend veröffentlicht wurden. Seine im Mai 1918 in dieser Zeitschrift publizierte, sogleich beim Pu-

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Abb. 12: Das Titelblatt der Ausgabe der Neuen Jugend mit Lu Xuns „Tagebuch eines Verrückten“.

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blikum Furore machende, in chinesischer Umgangssprache verfasste Kurzgeschichte Das Tagebuch eines Verrückten wird man – über die subtil gebrochene Komposition der Erzählung hinweg – als seinerzeit drastischste Abrechnung mit der klassischen chinesischen Überlieferung, mit ihren Konventionen und ihrer hochartifiziellen Sprache ansehen. Das geschieht in der radikal subjektivistischen Perspektive eines vermeintlich „Verrückten“. Verrückt ist dieser Diarist freilich nur in den Augen der alten Welt, deren Irrsinn nun gerade in seinen Aufzeichnungen aufgedeckt wird. Beim nächtlichen Studium der Geschichtsquellen macht er eine Entdeckung, die den herkömmlichen Tugendkanon in seiner wahren Bedeutung ins Gegenteil verkehrt: „Ich bin daher die Geschichtsbücher durchgegangen; sie waren ohne Jahresangaben, und auf jeder Seite standen krumm und schief die Worte ‚Humanität, Rechtlichkeit, Wahrheit und Tugend‘ gekritzelt. Da ich ohnehin nicht schlafen konnte, las ich aufmerksam die halbe Nacht, bis ich zwischen den Zeilen die zwei Worte erkannte, aus denen jedes Buch bestand: ‚Menschen fressen‘!“ (Lu Xun 2015, 20). Die Erkenntnis, dass die gesamte jahrtausendealte Überlieferung

Abb. 13: Illustration zum „Tagebuch eines Verrückten“, die Lu Xuns Vorliebe für expressionistische Graphik zeigt.

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Chinas auf diese beiden Worte zusammenschrumpft, weitet sich schließlich bei dem Autor des Tagebuchs zu einer schauerlichen Ahnung aus: Seit viertausend Jahren sind Menschen gefressen worden, und ich habe wie ein Narr so viele Jahre meines Lebens vertan. Als meine Schwester starb, war mein Bruder mit den Familienangelegenheiten betraut. Es ist nicht auszuschließen, dass er ihr Fleisch in die Speisen mischte und uns heimlich davon zu essen gab. Vielleicht habe ich selbst, ohne es zu merken, ein paar Stücke Fleisch von meiner Schwester gegessen, und nun ist die Reihe auch an mir . . . Viertausend Jahre Menschenfresserei lasten auf mir. (Lu Xun 2015, 31)

In der Umkehrung der herkömmlichen Perspektive durch den vermeintlich Verrückten – es handelt sich um eine veritable Umwertung der Werte – nehmen sich die chinesische Geschichte und die in ihr dominierenden Ideale des Konfuzianismus gar nicht als kulturelle Überlieferung aus, sondern als Kannibalismus kulturloser Barbaren. Menschenfressend, so der dem Konfuzianismus entgegengeschleuderte Vorwurf, ist die Tradition, weil sie den Lebendigen ihre eigene Individualität und Subjektivität raubt, ihnen den Weg zur Wirklichkeit versperrt. Die Riten des konfuzianischen Ahnenkultes, das verknöcherte Patriarchat, die allgegenwärtigen Angelegenheiten der Familie und der arrangierten Ehen, Ausgangskonstellation der konfuzianischen Gesellschaftsordnung, ketten die Lebenden an die Vergangenheit und binden sie ein in die strenge Hierarchie von Jung und Alt, Kindern und Eltern, Frauen und Männern, Untertan und Herrscher. Der penible Kult der Vergangenheit zu Lasten von Gegenwart und Zukunft frisst das Leben der individuellen Persönlichkeit auf, so der rebellische, unüberhörbar auch durch die Schule Nietzsches gegangene Subjektivismus Lu Xuns.

11 Sturm und Drang: Werther und Prometheus Auf dem gleichen Wege wie Lu Xun, über das Medizinstudium in Japan und über die damit verbundenen Sprachstudien, war desgleichen Guo Moruo (1892–1978) – neben Lu der wohl wirkmächtigste Autor jener aus der NeueKultur-Bewegung hervorgehenden chinesischen Moderne – der europäischen Literatur begegnet, die auch in seinem Fall die Rebellion des selbstbewussten Subjekts gegen eine entindividualisierende Tradition beflügelte. In den Schriften Guo Moruos geht die Befreiung des Individuums einher mit der Feier einer aus dem subjektiven Erleben hervorgehenden Kunstproduktion. Als literarisches Vorbild hat sich Guo Moruo den jungen Goethe, den Repräsentanten der Sturm-undDrang-Epoche und ihrer Genieästhetik, auserkoren, dessen Werke er bei seinen Literaturstudien und Übersetzungsübungen in Japan kennengelernt hatte. Werther,

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Faust und Prometheus sind bezeichnenderweise Guos Identifikationsfiguren in Goethes Werk, das er der jungen Generation in Übersetzungen zugänglich machen wird, um solchermaßen nun auch einer chinesischen Sturm-und-Drang-Bewegung den Weg zu bereiten (Chow 1967, 285–287; zu Guo Moruo als Übersetzer und Vermittler deutscher Literatur vgl. den Beitrag von Han Jie im vorliegenden Band). Im Zeichen der emotionalen und intellektuellen Selbstbestimmung steht seine 1921 erscheinende Gedichtsammlung Göttinnen, in der Guo, wie zuvor Lu Xun auf dem Felde der erzählenden Literatur, in der Lyrik den Bruch mit der literarischen Überlieferung und die Wende zur Ästhetik der Moderne vollzieht. „Wie ich“ lautet in Goethes Prometheus-Hymne der letzte Vers des heroisch-selbstgewissen Protests gegen die alte Welt. Die ganze Welt soll „wie ich“ werden und sich dem schöpferischen Willen des autonomen Individuums fügen. Im Stile dieses rebellischen Prometheismus setzen denn auch achtundzwanzig Verse von Guos Gedicht „Himmelshund“ mit „Ich“ ein und münden in der letzten Zeile in den voluntaristischen Ausruf „Mein Ich will bersten!“ (vgl. Kubin 1985, 35–36; Schmidt-Glintzer 1999, 513–516). 1922 erscheint Guo Moruos Werther-Übersetzung in der von der 4.-MaiBewegung geforderten allgemein verständlichen Umgangssprache. Sie löst eine veritable Werther-Begeisterung, gar ein chinesisches Werther-Fieber aus (Wuneng 2000, 37–41, Schmidt-Glintzer 1999, 500). Die Leiden des jungen Werthers scheinen in Guo Moruos Übersetzung nahtlos anzuschließen an Lu Xuns Tagebuch eines Verrückten und dessen Literaturrevolution fortzusetzen, ist es doch in Goethes Roman ein vom vermeintlichen Wahnsinn der unbedingten Liebe Gezeichneter, dessen gesammelte Briefe – ein der Tagebuchfiktion verwandtes Romangenre der subjektiven Erzählperspektive – seine geballte Verachtung der überlieferten Ordnung, der religiösen Orthodoxie und der politischen Kultur bezeugen, vor allem aber seine aus dem Geiste der Empfindsamkeit und des Subjektivismus gespeiste Rebellion gegen das herkömmliche Familien- und Eheideal. Gerade aber Werthers emotionsgeladener Einbruch ins geregelte Familien- und Eheleben wurde beim chinesischen Publikum offenbar empfunden als der ersehnte Protest gegen den Ahnen-, Familien-, und Ehekult der konfuzianischen Überlieferung, in der die Ideen der selbstbestimmten Partnerwahl oder gar der freien Liebe zurückzutreten hatten hinter dem Prinzip einer von Familie und Eltern bestimmten Eheschließung. Auch in China ist das Werther-Fieber, nicht anders als in Deutschland, das Symptom eines Generationskonflikts und des Protests der jungen Generation gegen eine – in diesem Fall konfuzianisch geprägte – „Rationalisierung“ der individuellen Bedürfnisse und ihrer „Sinnlichkeit“ (Gille 1998, 25–27; zu Guo Moruos marxistischer Goethe- und Faustdeutung vgl. im vorliegenden Band den Beitrag des Verfassers).

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Bereits 1917 hatte Chen Duxiu in der Zeitschrift Neue Jugend an die Autoren der Neue-Kultur-Bewegung die programmatische Frage gerichtet: „Ist unter unseren heldenhaften Literaten jemand da, der den Mut hat, ein Hugo oder Zola, ein Goethe oder Hauptmann, ein Dickens oder Wilde zu werden?“ (zitiert nach Wuneng 2000, 29). Um seinen Thesen zur ästhetischen Revolution einen konkreten Hintergrund zu geben, hat Chen 1918 in einer Sonderausgabe der Neuen Jugend Henrik Ibsens Drama Nora oder ein Puppenheim in einer modernen umgangssprachlichen chinesischen Übersetzung veröffentlicht, innerhalb der Literaturrezeption der Neue-Kultur-Bewegung desgleichen ein Schlüsseltext, noch weitaus wirkmächtiger als Goethes Werther. Ibsens Kritik am bürgerlichen Eheund Familienideal ließ sich, so legt es die Publikation in der Neuen Jugend nahe, ohne Schwierigkeiten übertragen auf die chinesischen Verhältnisse der brüchig werdenden konfuzianischen Ehe-, Familien- und Erziehungsordnung sowie ihrer strengen Männer-, Frauen- und Generationenbilder (Spence 1995, 389).

12 Marx-Studien im Red Building, Marx in China Vergegenwärtigt man sich das Ausmaß und den leidenschaftlichen Ton der Überlieferungskritik bei Chen Duxiu, Lu Xun sowie Guo Moruo und fasst man die Kompromisslosigkeit ihres Protests gegen das alte China ins Auge – und die für diesen Protest charakteristischen, der deutschen Philosophie und Literatur entlehnten Argumente: Umwertung der Werte, Prometheismus, Sturm und Drang –, dann gewinnt man ein konkretes Bild von dem revolutionären Bruch in der chinesischen Geistes- und Kulturgeschichte, den die Aktivisten des 4. Mai 1919 und der NeueKultur-Bewegung vollzogen haben. Eben jener Bruch steht im Hintergrund der gewaltigsten „Transformationen“ und der in der Geschichte Chinas „noch nie dagewesenen strukturellen und ideologischen Umwälzungen“, von denen in dem eingangs erwähnten Katalog zur Ausstellung im Red Building die Rede ist. Zu den hier präsentierten Originalen der Zeitschrift Neue Jugend, darin u. a. das Tagebuch eines Verrückten, die Thesen zur Literaturreform respektive zur Literaturrevolution und Ibsens Nora erschienen waren, zählt naturgemäß auch jenes Sonderheft der Neuen Jugend vom 1. Mai 1919, das Karl Marx und dem – in China bis dahin weitgehend unbekannten – Marxismus gewidmet war. Als verantwortlicher Redakteur hatte dieses Heft Li Dazhao (1889–1927) konzipiert, seinerzeit Direktor der Bibliothek der Peking Universität, der desgleichen von Cai Yuanpei an diese Hochschule berufen worden war (Chow 1967, 53–55). Dort hatte Li bereits 1918 eine Studiengruppe ins Leben gerufen, die sich der systematischen Marx-Lektüre verschrieb.

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Abb. 14: Porträtbildnis von Li Dazhao.

An den Zusammenkünften nahm 1919 für einige Monate auch Mao Zedong teil, der seinem verehrten Lehrer Yang Changji – auch ihn hatte Cai Yuanpei an die Peking Universität berufen – in die Hauptstadt gefolgt war und während dieser Zeit als Hilfsbibliothekar im Zeitungslesesaal des Red Building arbeitete. Hier geriet er in unmittelbare Nähe jener Reform- und Revolutionsdebatten, die in der Redaktion der Neuen Jugend und unter den Autoren der Zeitschrift geführt wurden (vgl. Spence 2003, 56–63; Schmidt- Glintzer 2017, 55–59). Wer heute die Ausstellung zum 4. Mai 1919 und zur Neue-Kultur-Bewegung im ehemaligen Universitätsgebäude besucht, dem öffnet sich ein Panorama auf den die geistige Situation dieser Zeit kennzeichnenden Zusammenhang von Sprach- und Literaturreform, Modernisierung, Kulturrevolution und politischer Revolution. Die erhaltenen Räumlichkeiten sowie die historisch gestalteten

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Abb. 15: Zeitungslesesaal im Red Building, in dem Mao für einige Monate als Hilfsbibliothekar gearbeitet hat.

Ausstellungssäle gestatten einen Blick in den Hörsaal, in dem Lu Xun über die Geschichte der chinesischen Erzählkunst las. Es schließen sich im Erdgeschoss Bibliotheksräume, der Zeitungslesesaal und, neben dem bereits erwähnten Raum mit den Spruchbändern und Fahnen vom 4. Mai 1919, das Büro Li Dazhaos an, in dem sich die erste chinesische Marx-Studiengruppe versammelte. Im Vorgebäude der Universität wurde ein Museum zur Geschichte der Kommunistischen Partei Chinas eingerichtet, das jene im Red Building entstandene marxistische Linie der Neue-Kultur-Bewegung aufgreift und mit der maßgeblich von Chen Duxiu und Li Dazhao initiierten Gründung der KPCh 1921 in Shanghai einsetzt. Verlässt man den Gebäudekomplex, befindet man sich auf der „Straße der Bewegung des vierten Mai“ und kann sich hier auf die historische Demonstrationsroute begeben, die dann weiter an der Ostseite der Verbotenen Stadt entlang zum Tian’anmen-Tor führt, vor dem sich die protestierenden Schüler und Studenten am 4. Mai 1919 versammelten und von dem aus dreißig Jahre später Mao Zedong am 1. Oktober 1949 die Gründung der Volksrepublik China proklamierte.

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Abb. 16: Vorlesungssaal im Red Building, in dem Lu Xun unterrichtete.

Nirgends in China tritt der die Geschichte dieses Landes im 20. Jahrhundert auf so dramatische Weise prägende, spannungsvolle Kontrast zwischen Überlieferung und Moderne so konkret vor Augen wie an diesem Ort. Dem alten Kaiserpalast im Norden, mit seiner subtil gegliederten, das komplizierte System der alten kaiserlichen Riten abbildenden Struktur aneinandergereihter Höfe, Paläste und Gärten, liegt im Süden gegenüber die riesige, bis auf das Mao-Mausoleum und das Revolutionsdenkmal im Zentrum vollkommen leere Fläche des Tian’anmen-Platzes. Die auch hier ursprünglich noch erhaltene historische Bausubstanz des alten Peking war nach 1949 komplett abgebrochen worden, um Platz zu schaffen für die gewaltigen Aufmärsche, Paraden und Masseninszenierungen der Partei, deren Führung sich bei solchen Ereignissen auf der Balustrade des Tian’anmen-Tores versammelte. Den scharfen horizontalen Gegensatz zwischen Überlieferung und Moderne, wie er sich im hochsymbolischen historischen und politischen Mittelpunkt Pekings zeigt, hat man in dem an der Ostseite des Tian’anmen-Platzes gelegenen chinesischen Nationalmuseum zu einem vertikalen Geschichtszusammenhang umgestaltet.

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Abb. 17: Li Dazhaos Büro im Red Building.

Abb. 18: Demonstrierende Studenten vor dem Tian’anmen-Tor im Jahr 1919.

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Abb. 19: Der Tian’anmen-Platz heute.

In der zu Beginn des 21. Jahrhunderts neu eingerichteten Ausstellung ruht die Moderne Chinas gleichsam auf dem Fundament seiner mehrtausendjährigen Geschichte, deren Epochen im Souterrain des kolossalen Gebäudes als Entwicklungsstufen eines historischen Ganzen präsentiert werden. Es gelangt, so die Leitidee der Ausstellung, während des 20. Jahrhunderts zu seiner wahren Bestimmung in der von der Kommunistischen Partei angeführten Revolution und in der darauffolgenden Gründung der Volksrepublik China. Diesen modernen Prozessetappen ist der riesenhafte zentrale Ausstellungssaal im Erdgeschoss vorbehalten, wo wir auf den die Wände ausfüllenden Monumentalgemälden einige der uns aus dem Red Building bekannte Aktivisten des 4. Mai und der Neue-Kultur-Bewegung wiedersehen: Guo Moruo etwa, in der zweiten Reihe hinter Mao Zedong, auf der Balustrade des Tian’anmen-Tores bei der Ausrufung der Volksrepublik, und Lu Xun, dessen überlebensgroße Bronzeplastik unmittelbar neben dem Tableau der Proklamation vom 1. Oktober 1949 aufgestellt wurde. In der parteioffiziellen Jubiläumsausstellung, die im Jahr 2018 im Nationalmuseum anlässlich des 200. Geburtstages von Karl Marx gezeigt wurde („The Power of Truth. The Life and Works of Marx“), fehlte an prominenter Stelle nicht

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Abb. 20: Chen Duxiu und Li Dazhao in der Ausstellung zum 200. Geburtstag von Karl Marx im chinesischen Nationalmuseum.

die Erinnerung an Chen Duxiu und Li Dazhao, die man hier unter dem Motto vereinigt hatte: „The May Fourth Movement and Marxism’s spread in China“. So ließ sich die Pekinger Marx-Ausstellung verstehen als höchst eindrucksvolle Illustration jenes im Umkreis der 4.-Mai-Bewegung stattfindenden deutschchinesischen Ideenaustausches, als dessen definitiv wirkmächtigster Anteil sich in der Folgezeit zweifellos die chinesische Marx-Rezeption entwickelte. Die Exponate vermittelten einen konkreten Eindruck von dem in kaum fassbarer Direktheit die Kontinente und Kulturen überquerenden Ideentransfer. Historische, auf den ersten Blick doch wohl provinzielle Szenen und Familienbilder aus Marx’ südwestdeutscher Heimatstadt Trier etwa, zahlreiche Briefe aus seiner Hand sowie Originalmanuskripte und Marx’ Artikel in deutschen Zeitungen und Zeitschriften jener Epoche nahmen an diesem Ausstellungsort eine frappierend welthistorische Bedeutung an. Noch viel erstaunlicher wirkten auf die Besucher die ausgestellten Schriften von Marx samt ihrer (mehrfachen) chinesischen Übersetzungen. Um nur ein Beispiel herauszugreifen: Im Zentrum Pekings in chinesischer Fassung Marx’ Kritik an den Beschlüssen einer sozialdemokratischen Parteiversammlung zu sehen, die

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1875 in der thüringischen Kleinstadt Gotha stattgefunden hat, das öffnete – eingedenk der unmittelbaren Konsequenzen, die der auf das „Gothaer Programm“ gemünzte Marx-Text in der politischen Realität Chinas haben konnte – für einen Moment die atemberaubende Sicht auf den globalen Charakter des Modernisierungsprozesses im 20. Jahrhundert. Der einleitende Rückblick auf einige Aspekte des 4. Mai 1919, den man als eines der Schlüsselereignisse im Jahrhundert der Extreme verstehen wird, lässt sich mit Bildern vom Frühsommer 2018 schließen, als anlässlich des 120. Jahrestages der Gründung der Peking Universität Präsident Xi Jinping – selbstredend war es der 4. Mai 2018! – die Hochschule besuchte. Naturgemäß begab er sich dort in die renommierte „School of Marxism“, als deren historischer Ur-

Abb. 21: Blumen vor Cai Yuanpeis Denkmal auf dem Campus der Peking Universität.

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sprung mit guten Gründen jene Marx-Lektüregruppe gelten kann, die sich erstmals 1918 in der Bibliothek des Red Building versammelte. Nicht weit entfernt von der „School of Marxism“ steht auf dem jetzt im Nordwesten Pekings gelegenen, parkartigen Gelände der Peking Universität das Denkmal Cai Yuanpeis. Cai trat seit den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts als dezidierter Kritiker aller radikalen Revolutionsprogramme auf. Heute liegen vor seinem Denkmal, das sich in einer im Stil der traditionellen chinesischen Gartenkunst gestalteten Anlage befindet, stets frische Blumen.

13 Deutsche China-Faszination und der paradoxe chinesisch-deutsche Dialog Schaut man auf den chinesisch-deutschen Ideenaustausch in einer vergleichenden Perspektive, so zeigt die wechselseitige Wahrnehmung der beiden Länder zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen auffällig paradoxen Verlauf. In China ist es gerade die Kritik an der eigenen Überlieferung – vor allem am traditionellen Bildungskanon und am strengen Ordnungs- und Hierarchiedenken des Konfuzianismus –, die das Interesse der jüngeren Generation an der deutschen Philosophie und Literatur befördert. Beim deutschen Part jenes Dialogs der beiden Kulturen wird man hingegen zur gleichen Zeit ein ausgeprägtes Interesse an eben derselben chinesischen, insbesondere konfuzianischen und daoistischen Tradition und ihrer Literatur bemerken, die in der Perspektive der Bewegung des 4. Mai in China der kritischen, mitunter auch hochpolemischen Ablehnung anheimfällt. Die Bibliothek der Peking Universität bewahrt zahlreiche Dokumente dieser deutschen Rezeption der chinesischen Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf. Eine Ausstellung der Universitätsbibliothek präsentierte im November 2014 reichhaltiges Material dazu. Insbesondere die Übersetzungen der klassischen chinesischen Dichtung von Richard Wilhelm, Vincenz Hundhausen und Franz Kuhn, während der 1920er Jahre in Deutschland vor allem im Insel-Verlag in Leipzig und im Eugen-Diederichs-Verlag in Jena erschienen, wären hier zu nennen. Zahlreiche Exponate waren mit den zeitgenössischen Stempelzeichen „Bibliothek des Deutschland-Instituts Peking“, „Pekinger Verlag, Peking-Leipzig“, „Deutsche Vereinigung Peking“ versehen. Die deutschen Übersetzungen der chinesischen Klassiker sowie die zeitgenössische deutsche China-Literatur wird man als typischen Ausdruck für die nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland zunehmende Faszination der Philosophie und Literatur des „Ostens“ ansehen können. Dahinter steht bei den deutschen Autoren dieser Zeit eine dialektisch-ambivalente und kritische Erfahrung der Mo-

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derne (zu literarisch-journalistischen Chinainszenierungen in Deutschland zwischen 1920 und 1930 im Spannungsfeld von Tradition und Moderne vgl. im vorliegenden Band den Beitrag von Almut Hille). Wird also die Rezeption der deutschen Literatur in China bei der jungen chinesischen Generation und bei den Protagonisten des „Vierten Mai“ vor allem befördert von einer Krise der chinesischen Tradition, so inspiriert auf deutscher Seite in der Folge der Weltkriegserfahrung die desillusionierende Bewertung des Modernisierungsprozesses – des technischen Fortschritts und der instrumentellen Vernunft – das Interesse an eben derselben klassischen chinesischen Überlieferung und ihrer Literatur (vgl. dazu im vorliegenden Band den Beitrag von Huang Chaoran zu Hermann Hesses Wahrnehmung der chinesischen Kultur und ihrer Geschichte). Der chinesisch-deutsche Dialog scheint daher während der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts im Zeichen paradoxer Modernitätserfahrungen und Modernitätshoffnungen zu stehen und als solcher die epochentypischen intellektuellen und literarischen Reaktionsweisen, Debatten und Widersprüche abzubilden.

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Schmidt-Glintzer, Helwig. Geschichte der chinesischen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 1999. Spence, Jonathan. Mao. München 2003. Spence, Jonathan. Chinas Weg in die Moderne. Aktualisierte und erweiterte Ausgabe. München 2001. Steensen, Thomas (Hrsg.). Friedrich Paulsen. Weg, Werk und Wirkung eines Gelehrten aus Nordfriesland. Husum 2010. Yang, Wuneng. Goethe in China (1889–1989). Frankfurt am Main 2000.

Bildquellen Abbildungen 1, 5, 8

Abbildungen 2, 4, 9, 15, 16, 17, 19, 20, 21

Sidney D. Gamble photographs, David M. Rubenstein Rare Book & Manuscript Library, Duke University Bildarchiv von Michael Jaeger

Abbildung 6

Wikipedia

Abbildungen 3, 7, 8, 10, 11, 12, 13, 14

Lu Xun Museum (Beijing New Culture Movement Memorial)

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Der 4. Mai 1919 als Zäsur? Ein Ereignis in der Beziehungs- und Verflechtungsgeschichte zwischen China und dem Westen Die Proteste, die in China am 4. Mai 1919 begannen, sind nicht ohne die innere Krise Chinas und die Behandlung des Landes durch die siegreichen EntenteMächte unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg zu verstehen. Das Recht der Völker auf „Selbstbestimmung“ bzw. „Selbstregierung“, das der amerikanische Präsident Woodrow Wilson während des Ersten Weltkrieges proklamiert hatte, war spätestens 1917 weltweit auf eine enorme Resonanz getroffen. Vor allem in weiten Gebieten Asiens und Afrikas, die als Kolonien von westlichen Großmächten und Japan beherrscht wurden oder zumindest von diesen dominanten Staaten abhängig waren, hatte zugleich auch Lenins Befreiungsideologie erhebliche Unterstützung gefunden. Die kommunistische Oktoberrevolution stärkte schließlich das Streben nach nationaler Befreiung und Selbstbestimmung. In vielen (halb-)kolonialen Räumen war die Forderung, indigenen Eliten Souveränität und Unabhängigkeit zu gewähren, mit Konzepten innerer Erneuerung verbunden. Damit sollte eine tatsächliche oder vermeintliche Rückständigkeit überwunden werden. Vor diesem Hintergrund nährten die Friedensverhandlungen in Versailles im Frühjahr und Sommer 1919 die Erwartung, dass aus dem totalen Ersten Weltkrieg letztlich eine dauerhafte und gerechte Friedensordnung hervorgehen würde. Als sich diese Hoffnungen in den Pariser Vorortverträgen von Versailles, Saint-Germain, Neuilly, Trianon und Sèvres 1919/20 zerschlugen, erwies sich der „Wilsonian Moment“ in Kolonien wie Indien als kurz. Auch die Vertreter anderer abhängiger Gebiete wie China erlitten diplomatische Niederlagen. Diese Ernüchterung und ihre Auswirkungen sind erst in der neueren Globalgeschichtsschreibung hinreichend erkannt worden. So entfremdete Wilson, der die Forderungen der chinesischen Delegation in Paris nicht nachhaltig unterstützte, die Eliten im „Reich der Mitte“ von den Vereinigten Staaten, die erst kurz zuvor die europäischen Kolonialmächte als Leitbild der Modernisierung ersetzt hatten. Der Vertrauensverlust beendete die Fixierung auf den Westen aber keineswegs vollständig. Diese anhaltende Orientierung äußerte sich in Prozessen der Aneignung, aber auch in Ablehnung (vgl. Manela 2007a, bes. 215–225; Manela 2007b, 141; Conze 2018, bes. 223–275; Leonhard 2018b, 24, 36–37, 39; Sun 2008, 277).

Open Access. © 2021 Arnd Bauerkämper, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110682427-002

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Die Protestbewegung, die am 4. Mai 1919 in China einsetzte, ist in der Forschung vor allem im Hinblick auf ihre ideengeschichtliche Grundlage untersucht worden. In diesem Beitrag werden die Ereignisse demgegenüber in ihren breiteren historischen Kontext eingebettet und dabei besonders grenzüberschreitende Beziehungen und Verflechtungen akzentuiert. Überdies soll die „4.-Mai-Bewegung“ in langfristige Kontinuitäten eingebettet werden. Insgesamt wird argumentiert, dass die Protestbewegung zwar auf innere Probleme Chinas verweist, aber eine zentrale transnationale Dimension aufweist, die das Verhältnis des Landes zu den Westmächten, zu Japan und (ab 1920) auch zur Sowjetunion tiefgreifend prägte. Insgesamt sollen die Demonstrationen als Zäsur in der Beziehungsgeschichte zwischen China und den Großmächten interpretiert werden – mit wichtigen Auswirkungen bis zur Gegenwart. Gegen teleologische Kontinuitätskonstruktionen müssen aber kontingente und emergente Entwicklungen betont werden, so dass kein direkter Weg von der „4.-Mai-Bewegung“ und der Abwendung vom Westen zur Machtübernahme durch die chinesischen Kommunisten unter Mao Zedong 1949 oder sogar zum gegenwärtigen China führt.

1 Historiografischer Überblick Bis zu den 1930er Jahren hatten sich fünf wichtige Interpretationsrichtungen zur „4.-Mai-Bewegung“ herausgebildet. Dabei betonte eine Gruppe chinesischer Intellektueller die Forderung nach persönlicher Freiheit. Andere interpretierten die Proteste vom Mai 1919 als Engagement für die Herausbildung bürgerlicher Kultur. Die dritte Deutung hob die Wendung gegen feudale Traditionen hervor. Vor allem in den ersten Jahren nach der Niederschlagung der Demonstrationen war als vierte Position auch eine generelle Ablehnung der Proteste einflussreich. Nicht zuletzt bildete sich fünftens besonders nach der Gründung der kommunistischen Partei (1921) eine marxistische Interpretation heraus, die zunächst eng mit der liberalen verbunden war. Sie gewann spezifische Konturen, nachdem Mao Zedong 1940 die Gründung der KP direkt auf die „Vierte-Mai-Bewegung“ bezogen und damit die abwertende Interpretation der Erhebung durch die chinesischen Kommunisten in den 1930er Jahren zurückgenommen hatte. Allerdings dominierte die Glorifizierung der Proteste die intellektuellen Diskurse erst nach dem Sieg über die nationalistischen Truppen Chiang Kaisheks 1949. Noch heute betrachtet die Kommunistische Partei Chinas den 4. Mai 1919 offiziell als ihr Gründungsdatum. Alle Gruppen einte nach dem Aufstand dessen politische Funktionalisierung im Hinblick auf die (variierenden) Bedürfnisse der jeweils beteiligten Wissenschaftler und Intellektuellen. Zudem

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war die Fixierung auf die ideengeschichtliche Grundlage ein gemeinsames Merkmal. Dabei konstruierten vor allem Liberale oft unreflektiert auch Analogien zur europäischen Renaissance und Aufklärung. Diese Bezugnahmen sind ebenso ahistorisch wie eine Deutung der „4.-Mai-Bewegung“ als „Kulturrevolution“, wie sie der Kommunist Qu Qiubai begründete (vgl. Zhang 2011, 217–222; Sun 2008, 271–275; Zhao 2010, 83; Mitter 2019, 93). Wie bereits angedeutet, können in der Geschichtsschreibung die Jahre von 1919 bis 1949, von 1950 bis 1977 und von 1978 bis zur Gegenwart unterschieden werden. Seit den späten 1970er Jahren ist die Monopolstellung der Deutung, die nach 1949 von der kommunistischen Führung unter Mao Zedong durchgesetzt worden war, gebrochen worden. Auch hat sich ein Übergang von der Ideengeschichte und Intellectual History zur Sozial- und Kulturgeschichte der Ereignisse und ihrer Folgen vollzogen. Dabei sind auch Reaktionen einzelner Gruppen auf die „4.-Mai-Bewegung“ untersucht worden. Nicht zuletzt hat sich die Historiografie den durchaus unterschiedlichen Ausprägungen der Proteste in einzelnen, auch peripheren Regionen gewidmet. Damit ist die Konzentration früherer Studien auf Peking und Shanghai überwunden worden. Allerdings sind Interpretationen der „4.-Mai-Bewegung“ fast immer auf langfristige Entwicklungen in der neueren Geschichte Chinas bezogen worden. So hat Rana Mitter (2004, 12) behauptet: „The atmosphere and political mood that emerged around 1919 are at the centre of a set of ideas that shaped China’s momentous twentieth century.“ Noch prononcierter aber hat die Kommunistische Partei Chinas eine Kontinuität von der Bewegung für „Neue Kultur“ im frühen 20. Jahrhundert bis zum Sieg des Kommunismus konstruiert. Schon zuvor war Mao Zedong 1939 davon ausgegangen, dass die „4.-Mai-Bewegung“ eine wichtige Voraussetzung der von ihm ersehnten kommunistischen Revolution bilden würde (vgl. Zhao 2010, 73–89, bes. 83–85; vgl. auch Wang 2010, 5; Xie 2017, 165–167, 172; Zhang 2011, 230).

2 Voraussetzungen China war im 19. Jahrhundert zwar keine Kolonie geworden, hatte aber nach den beiden „Opiumkriegen“ von 1839 bis 1842 und 1858 bis 1860 mit den daraus resultierenden „Ungleichen Verträgen“ (ab 1842) erhebliche Verluste seiner Souveränität hinnehmen müssen. Nach der Niederlage des Landes im Krieg gegen Japan (1894/95) war es dem deutschen Kaiserreich 1897 gelungen, der chinesischen Regierung einen Pachtvertrag über das Gebiet um Kiautschou in der Provinz Shandong aufzuzwingen. In der Hauptstadt Qingdao richtete

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Deutschland einen strategisch bedeutsamen Flottenstützpunkt ein. Außer Soldaten und Offizieren lebten und arbeiteten hier auch Geschäftsleute. Mit der Schwäche der Qing-Dynastie und dem „Boxerkrieg“, in dem 1900 europäische Großmächte, die USA und Japan intervenierten, setzte sich der Macht- und Kontrollverlust Chinas fort. Dieser Prozess verlieh der Reformbewegung für „Selbststärkung“, die in den 1860er Jahren entstanden war, kräftig Auftrieb (vgl. Manela 2007a, 104–105, 118). Nachdem die Qing-Dynastie ebenso zerfallen war wie die darauffolgende, 1911/12 von Sun Yat-Sen gegründete Republik, bemühte sich der Militärführer Yuan Shikai, der zuvor als kaiserlicher Gouverneur gedient hatte, um eine Reintegration des zerfallenden Landes und erklärte sich 1915 zum Kaiser. Nach einer Revolte hoher Offiziere gegen Yuan ging die Macht 1916 aber an regionale Militärbefehlshaber (warlords) über. Zudem erfasste der Erste Weltkrieg das Land. Im August 1917 trat China, das bereits seit Kriegsbeginn insgesamt 200.000 Arbeitskräfte für britische oder französische Truppeneinheiten an der Westfront bereitgestellt hatte, auf der Seite der Entente in den Krieg ein. Damit verband die Elite des Landes vor allem die Hoffnung, die Niederlagen revidieren zu können, die in den Kriegen gegen Frankreich (1885) und gegen Japan (1895) erlitten worden waren. Zudem sollte nach dem Ersten Weltkrieg die Herrschaft der westlichen Mächte abgeschüttelt werden, die nach der Niederschlagung des „Boxeraufstandes“ (1900) nochmals gefestigt worden war. Der Vertrag von Versailles entzog diesen Erwartungen 1919 allerdings die Grundlage, denn die frühere deutsche Kolonie Qingdao, die bereits 1914 von Japan erobert worden war, konnte nicht zurückgewonnen werden. Nachdem die chinesische Delegation die Friedenskonferenz in Versailles mit leeren Händen verlassen hatte, bildete die Erhebung vom 4. Mai 1919 eine wichtige, in vieler Hinsicht einschneidende Zäsur in der chinesischen Geschichte (vgl. Osterhammel 1997, 25–26, 29, 32, 56–58, 138–139, 151–153, 157; Osterhammel 2009, 800; Schmidt-Glintzer 2008, 171–172, 186; Manela 2007a, 107). In ideengeschichtlicher Hinsicht war die „4.-Mai-Bewegung“ bereits in der Krise der Qing-Dynastie im späten 19. Jahrhundert verwurzelt. Ausgehend vom Befund einer fortschreitenden Rückständigkeit und „Degeneration“ Chinas forderten reformorientierte Kräfte 1898 eine grundlegende Erneuerung des Landes. Einige Intellektuelle verlangten unter dem Eindruck der Übermacht der Kontrollmächte sogar eine Modernisierung nach westlichem Vorbild, die auch die Einführung einer Demokratie einschließen sollte. Diese innere Erneuerung sollte China außenpolitisch stärken. Damit verknüpft zielten Reformprogramme auf einen Nationalstaat und mindestens eine konstitutionelle Monarchie. In der Vision eines umfassenden Wandels waren westliche Einflüsse eng mit einer Rückbesinnung auf den Konfuzianismus verbunden, den sich die Befürworter

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der Transformation in besonderer Weise aneigneten. Dabei betonten sie das moralische Engagement religiöser Gelehrter und evolutionäre Kosmologien (vgl. Furth 1983, 322, 329–331, 339–245). Die enge Verbindung von indigenen Traditionen und ausländischen Einflüssen sowie von politischen Reformen und Nationalismus findet sich auch in der „Südgesellschaft“, die 1909 aus Streiks und Protesten an chinesischen Schulen hervorging. Die Demonstrationen hatten ab 1902 auf eine Reform schulischer Curricula gezielt, die auch von patriotischen Gesellschaften gefordert worden war. Die Qing-Regierung suchte den chinesischen Nationalismus, der sich an den Schulen verbreitete, einzudämmen, indem sie im August 1905 das traditionelle Prüfungssystem für den Staatsdienst aufgab. Damit konnten an den Lehranstalten Reformen durchgeführt werden, die auch Ansätze zur Selbstverwaltung einschlossen. Zwischen der „Südgesellschaft“ und der „4.-Mai-Bewegung“ bestanden aber nicht nur inhaltliche Kontinuitäten. So hatte Chen Duxiu, ein Anführer der Proteste vom Mai 1919, über enge Verbindungen zu der Vereinigung verfügt (vgl. Jin und Zhang 2014, 82–83, 86–87, 89, 92–93; Sun 2008, 279, 286). Die Bewegung für eine „Neue Kultur“ begann mit der Gründung der Zeitschrift „Neue Jugend“ im September 1915. Chen Duxiu wurde Herausgeber des Magazins. Der Ruf nach kultureller Erneuerung zielte auf die Errichtung einer demokratischen Ordnung, deren Konturen aber trotz des Einflusses westlicher Vorbilder letztlich unklar blieben. Dies gilt auch für die Forderung nach Fortschritt und Modernisierung. „Mr Democracy“ und „Mr Science“ waren als Leitbilder zwar populär, hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung aber umstritten. Zwar griffen die intellektuellen Anhänger der „Neuen Kultur“ überwiegend die plebiszitäre Konzeption Jean-Jacques Rousseaus auf, der im späten 18. Jahrhundert in Frankreich den Volkswillen herausgestellt hatte. Offenbar war eine repräsentative Demokratie weniger attraktiv, obgleich sich westliche Intellektuelle wie John Dewey für sie einsetzten (vgl. Gu 2001, 591, 597, 600, 602, 606, 608, 620; Schmidt 1998, 13). Ebenso verlangten die Anhänger der „Neuen Kultur“ die Beseitigung überkommener chinesischer Traditionen, die aus der Sicht der Reformer die Modernisierung des Landes behinderten. Dabei richtete sich ihr Argwohn besonders gegen den Konfuzianismus, vor allem dessen „Drei Grundsätze sozialer Ordnung“. Wie bereits angedeutet ist in der neueren Forschung jedoch betont worden, dass die Anhänger der „Neuen Kultur“ keineswegs alle Traditionen Chinas ablehnten. Vielmehr sollten sie differenzierend behandelt werden. Insgesamt blieb diese Erneuerungsbewegung damit vielschichtig und widersprüchlich. Zudem kennzeichnete monistisches Denken ihre Anhänger, die nach einer umfassenden Integration unterschiedlicher Denkströmungen strebten, um die ersehnte Moderni-

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sierung und nationale Stärkung Chinas zu erreichen (vgl. Zhao 2010, 74, 79; Jin und Zhang 2014, 95; Gu 2001, 592, 608; dagegen: Xie 2017, 166).

3 Die außenpolitischen Ursachen der Protestbewegung und ihr Verlauf Bereits als Yuan Shikai 1915 den „21 Forderungen“ Japans nachgab, waren führende Repräsentanten der Bewegung für eine „Neue Kultur“ wie Chen Duxiu schockiert. Sie widersetzten sich besonders der vereinbarten Abtretung der früheren deutschen Kolonie Shandong einschließlich des Flottenstützpunktes Qingdao, der am 7. November 1914 von japanischen Truppen erobert worden war, an das Land der aufgehenden Sonne. Außerdem sollten Japan nach den „21 Forderungen“ Konzessionen in der Mandschurei, in der Inneren Mongolei, im Tal des Yangzi Jiang und in der südöstlichen Küstenregion Chinas gewährt werden. Darüber hinaus verlangte die Regierung des Kaiserreiches die Nutzung chinesischer Häfen und einen Zugriff auf die Eisen- und Stahlindustrie. Besonders scharfer Protest richtete sich in China gegen den Druck Japans, der chinesischen Regierung Berater zuzuordnen, um eigene Interessen durchzusetzen. Obgleich diese Forderung wegen des heftigen Widerstands gegen die verlangte Einschränkung der Souveränität letztlich zurückzogen wurde, musste Yuan Shikai am 25. Mai 1915 einem Ultimatum Japans nachgeben, das die Aktivisten als nationale Demütigung brandmarkten (vgl. Chen 2010, 138; Conze 2018, 331; Leonhard 2018a, 712; Manela 2007a, 178). Nach dem Zusammenbruch der monarchistischen Bewegung Yuan Shikais und seinem Tod 1916 wurde die Zentralregierung zusehends schwächer, und sie unterdrückte Widerstand und Dissidenz, um die Integrität des Landes zu bewahren. Dies gelang aber nicht; vielmehr beherrschten warlords einzelne Regionen. Zugleich beeinflussten weiterhin andere Staaten die Entwicklung Chinas, vor allem Japan. So unterzeichnete die Regierung in Peking im Mai 1918 einen Vertrag zur gegenseitigen Militärhilfe, der das Kaiserreich zur Stationierung von Truppen im Norden der Mandschurei und in der Äußeren Mongolei berechtigte. Damit sollten angeblich eine Invasion der „Mittelmächte“ (Deutschland, Österreich-Ungarn und Osmanisches Reich) und Übergriffe aus dem Territorium Russlands verhindert werden, wo der Bürgerkrieg Millionen Opfer forderte. Außerdem gewährte das Abkommen den japanischen Militärs die Kontrolle über die chinesischen Streitkräfte (vgl. Chen 2010, 140). Vor diesem Hintergrund verschärfte die nachgiebige Politik der chinesischen Regierung in den Verhandlungen über den Versailler Vertrag den Protest

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der führenden Repräsentanten der Reformbewegung, zu denen außer Chen Duxiu auch Li Dazhao zählte. Die Delegierten Chinas hatten in Paris lange nicht nur wirtschaftliche Freiheit und nationale Souveränität, sondern auch die Wiederangliederung der Provinz Shandong an ihr Land gefordert. Dabei hatten sie auf den Kriegseintritt auf der Seite der Entente-Mächte im August 1917 und den vorangegangenen Einsatz der chinesischen Arbeiter an der Front in Westeuropa seit 1915 verwiesen. Demgegenüber war Japans Anspruch auf das Territorium von den Regierungen Großbritanniens und Frankreichs im Februar und März 1917 in zwei geheimen Verträgen anerkannt worden, nicht aber die „21 Forderungen“. In einem ebenfalls nicht veröffentlichten Notenwechsel mit Tokio hatte China im September 1918 die Vereinbarungen anerkannt, um damit von Japan ein Darlehen von zwanzig Millionen Yen zu erhalten. Das Kaiserreich hatten die alliierten Staaten aber mit einem Kriegskredit in Höhe von 640 Millionen Yen unterstützt (vgl. Conze 2018, 331–332, 334–335; Leonhard 2018a, 422–423, 712–713; Mitter 2019, 91–92; Schmidt 1998, 8, 16; Chen 2010, 172–173; Manela 2007a, 181). Die Forderung Chinas nach Rückgabe der Provinz Shandong war in Versailles deshalb schwierig durchzusetzen. Dabei waren die Erwartungen im Land hoch, wie Tausende von Telegrammen zeigen, die Chinesen an die Delegation ihres Landes in Versailles sandten. Die Regierung suchte deshalb die Unterstützung Koreas, das sich seit 1910 unter japanischer Kolonialherrschaft befand und ebenfalls nach Befreiung vom Joch des Kaiserreichs strebte. Am 1. März 1919 riefen Anhänger der Nationalbewegung in Seoul die Unabhängigkeit des Landes aus. Die folgenden Proteste, die sich rasch im Land ausweiteten, trafen in China auf erhebliche Resonanz. Nun konnte auf Unterstützung in Versailles gehofft werden, zumal sich auch Wilson von der Erhebung in Korea beeindruckt zeigte. Die chinesische Delegation ermöglichte Kim Kyu-sik, der im April 1919 von der koreanischen Exilregierung zum Außenminister ernannt wurde, schließlich die Reise nach Paris. Allerdings beschränkte sich die Solidarität der Regierung in Peking mit der koreanischen Freiheitsbewegung auf die gemeinsame Zurückweisung der japanischen Herrschaftsansprüche (vgl. Conze 2018, 216–218; Leonhard 2018a, 684; umfassende Darstellung in Manela 2007a, 119–135, 139, 197–213). In Versailles entschieden sich die alliierten Staatschefs letztlich für das Bündnis mit Japan, das die Erhebung in Korea niederschlagen konnte. Zudem beschlossen sie am 30. April 1919, dem Kaiserreich das Mandat über Shandong zu übertragen. Damit fiel auch der strategisch wichtige ehemalige deutsche Hafen an Japan (vgl. Conze 2018, 218–219; Manela 2007a, 183). Diese Entscheidung, die Wilsons Konzept der „Selbstbestimmung“ frühzeitig den Boden zu entziehen drohte, wurde in China weithin als erneute Demütigung durch die

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siegreichen Entente-Mächte verurteilt. Deshalb gelang es protestierenden Intellektuellen, über Studierende hinaus auch Kaufleute, Arbeiter und Bauern zu mobilisieren. Zivilgesellschaftliche Organisationen wie die „Bürgerdiplomatische Vereinigung“ (Citizens’ Diplomatic Union) planten zunächst, am 7. Mai zu Demonstrationen aufzurufen. Jedoch beschlossen Studierende der Peking Universität in einer Versammlung am 3. Mai, bereits am darauffolgenden Tag öffentlich für innere Reformen – vor allem einen entschiedenen Kampf gegen die Korruption – und die Herstellung der nationalen Souveränität einzutreten. Am Nachmittag des 4. Mai schlossen sich daraufhin rund 3.000 Studierende, die insgesamt 13 Universitäten oder Colleges besuchten, den bereits begonnenen Protesten am Tian’anmen-Platz an. Dabei wurde u. a. das Haus des Vizeaußenministers Cao Rulin angegriffen, der zu Japan neigte, an den Verhandlungen über die „21 Forderungen“ teilgenommen hatte und der chinesischen Delegation in Versailles angehörte. Schnell erfassten die Proteste ganz China, darunter die Städte Wuhan, Nanjing, Shanghai und Tianjin. Ab 19. Mai legte ein allgemeiner Ausstand den Lehrbetrieb in 18 Universitäten und Oberschulen (Colleges) lahm. Die daran beteiligten Studierenden und Schüler verlangten u. a. die Wiederangliederung der Provinz Shandong an China, die Zurücknahme der „21 Forderungen“ durch Japan, die Beseitigung aller ausländischen Privilegien im Land und die Entlassung von drei Beamten, die als japanfreundlich galten. Dazu gehörten außer Cao Rulin auch Zhang Zongxiang und Lu Zongyu. Die Kritik und Empörung teilten ab Juni auch andere Schichten und Gruppen wie Kaufleute, Handwerker und städtische Arbeiter. Zudem unterstützten Chinesen, die im Ausland lebten, die Proteste und den Boykott japanischer Güter, den patriotische Vereinigungen wie die „Gesellschaft für die Selbstbestimmung des Volkes“ erklärt hatten. Insgesamt traten die Demonstranten für Reformen, die Beseitigung der Korruption und die Entmachtung von „inneren Feinden“ ein. Damit korrelierte der Kampf um Souveränität nach außen (vgl. Leonhard 2018a, 931, 934; Schmidt 1998, 16; Chen 2010, 143–144; Manela 2007a, 187–192; Mitter 2019, 92–93). Die Bewegung des „Vierten Mai“ prägte auch den jungen Mao Zedong, der im Juli 1919 erstmals die von ihm gegründete Wochenschrift „Xiang-Fluss-Kritik“ (Xiangjiang pinglun) veröffentlichte. In zahlreichen Artikeln unterstützte er begeistert die Erneuerung Chinas, mit der er die Hoffnung auf einen Wiederaufstieg des Landes verband. Eine Revolution nach der Ideologie des MarxismusLeninismus lehnte er aber noch ab. Vielmehr bevorzugte er unter dem Einfluss Pjotr Kropotkins anarchistische Konzepte, zugleich aber auch liberale Vorstellungen, die Hu Shi vertrat. Der einflussreiche Philosoph und Politiker, der an der Cornell University in Ithaca (USA) studiert und an der Bewegung für eine „Neue Kultur“ kräftig mitgewirkt hatte, grenzte sich damit von Chen Duxiu und

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Li Dazhao ab, die eine Konzentration auf eine kulturelle Modernisierung ablehnten und eine umfassende politische Umwälzung verlangten. Auch in seiner „Studiengesellschaft über Probleme“ (Wenti yanjiuhui) setzte sich Mao angesichts der Schwäche der Zentralregierung für Selbstbestimmung in den Provinzen und die Abkehr von Traditionen wie der überkommenen Heiratsvermittlung ein. Damit schloss er sich Forderungen der Aktivisten der „4.-Mai-Bewegung“ nach einer Gleichstellung von Frauen an. Nach dem Verbot der „Xiang-Fluss-Kritik“ im August 1919 verlangte Mao aber bereits eine radikale politische Erneuerung, die über eine kulturelle Neuorientierung hinausging. Er wandte sich vom westlichen Individualismus ab und verachtete Wilson, dem er vorwarf, die nationalen Interessen Chinas verraten zu haben. Mit der Hinwendung zum Sozialismus, den er als internationales Projekt verstand, ging 1919/20 Maos zunehmende Lösung vom chinesischen Nationalismus einher. Zudem propagierte er in der von ihm eingerichteten „Gesellschaft für Russlandstudien“ (Eluosi yanjiu hui), in der er seine Mitstreiter bereits „Genossen“ nannte, einen gewaltsamen Umsturz nach dem Vorbild der Russischen Oktoberrevolution. Zur politischen Radikalisierung, die in seiner Teilnahme an der Einrichtung eines Büros der Kommunistischen Partei in Hunan im Oktober 1921 und seine Ernennung zum örtlichen Parteisekretär mündete, hatte ein Briefwechsel mit Freunden, die in Frankreich studierten, maßgeblich beigetragen (vgl. Dabringhaus 2008, 17–23; Manela 2007a, 195–196; Leonhard 2018a, 933).

4 Die internationale Dimension: Einflüsse externer Akteure Der Friedensvertrag von Versailles beschädigte in China nachhaltig das Ansehen der europäischen Westmächte Großbritannien und Frankreich, aber auch der Vereinigten Staaten von Amerika, die 1917/18 in China ihre Kriegspropaganda gegen die gegnerischen „Mittelmächte“ intensiviert hatten. Dabei war das von George Creel geleitete Committee on Public Information (CPI) nicht nur mit fremdenfeindlicher und antibolschewistischer Agitation hervorgetreten, sondern es hatte vor allem Wilsons Forderung nach „Selbstbestimmung“ bzw. „Selbstregierung“ der Völker betont, um in der Endphase des Ersten Weltkrieges Unterstützung für die Entente-Mächte im Allgemeinen und die US-Politik im Besonderen zu mobilisieren. Im Sommer 1918 hatte das Creel Committee in China eine Zweigstelle der Organisation etabliert, welche die amerikanisch-chinesische Nachrichtenagentur Zhong-Mei News Agency beeinflusste. Während sie die USA glorifizierte, wertete sie den Bolschewismus als archaische und be-

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drohliche Bewegung ab. Creels Agentur verlieh mit ihrer Propaganda im Reich der Mitte den – ohnehin bereits hohen – Erwartungen gegenüber den Vereinigten Staaten kräftig Auftrieb. Besonders Wilsons Reden waren weit verbreitet. Die Hoffnungen, die der Ruf nach „Selbstbestimmung“ weckte, zielten besonders auf eine Gleichberechtigung aller Staaten und einen allgemeinen Frieden – ein Ideal, das auch mit dem konfuzianischen Leitbild des datong verbunden wurde. Nach dem Kriegsende nahmen an einer Siegesparade in Peking rund 60.000 Menschen teil, die u. a. Plakate mit Wilsons Parole „To make the world safe for democracy“ zeigten. Der Präsident der Peking Universität, Cai Yuanpei, und sein Kollege Chen Duxiu, der Dekan der Fakultät für Philologie an dieser Hochschule, verbanden mit dem Waffenstillstand die Hoffnung auf eine neue Ära, in der Ungleichheit beendet und Offenheit in den internationalen Beziehungen hergestellt würde. Hu Shi, ein glühender Bewunderer Wilsons, rief chinesische Schriftsteller auf, ihren traditionellen Stil aufzugeben und eine Alltagssprache zu verwenden, die von einer breiten Leserschaft verstanden werden konnte. Der amerikanische Präsident wurde in China so beliebt, das US-Botschafter Paul S. Reinsch, ein überzeugter Anhänger Wilsons, in seinen Depeschen nach Washington vor den einschneidenden politischen Folgen eines Vertrauensverlustes warnte (vgl. Manela 2007a, 100–103, 107–108, 111–112; Conze 2018, 332–333). Die Sorge des Diplomaten war durchaus begründet, wie schon das Vorgehen der Vereinigten Staaten während des Ersten Weltkrieges gezeigt hatte. So war Yuan Shikais Versuch, eine monarchische Militärdiktatur zu etablieren, 1916 von führenden Vertretern der Wilson-Administration und amerikanischen Wissenschaftlern, die sich in China aufhielten, unterstützt worden. Nach dem Waffenstillstand hatten die USA zusammen mit den beiden Westmächten bereits vor dem Beginn der Versailler Konferenz entschieden, China bei den Friedensverhandlungen lediglich den Status einer Macht mit „eingeschränktem Kriegseinsatz“ zu gewähren. Damit gehörten die fünf Diplomaten, die das Land nach Paris geschickt hatte, nicht dem Supreme Council an, in dem außer den USA Frankreich, Großbritannien und Italien, aber auch Japan vertreten waren. Die chinesische Delegation – darunter der Diplomat und Völkerrechtler Wellington Koo (Gu Weijun) und Chengting Thomas Wang (Wang Zhengting), den das Guomindang-Regime benannt hatte – konnte damit außer der Rückgabe der Provinz Shandong ihre Forderungen, die „Ungleichen Verträge“ zurückzuziehen und die Eingriffsrechte anderer Mächte zu beseitigen, nicht auf die Tagesordnung der Konferenz setzen. Darüber hinaus durfte sie ausschließlich an Sitzungen teilnehmen, in denen direkt ihr Land betreffende Probleme diskutiert wurden. In seinen Reden hob Koo in Versailles zwar Chinas Beitrag zum Sieg der Entente-Mächte hervor, und er appellierte wiederholt an Wilsons Grundsatzerklärungen zum Recht auf Selbstbestimmung. Damit traf er durchaus auf

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Anerkennung. Jedoch setzte sich die mächtigere japanische Delegation durch, die im Supreme Council auf die Abkommen mit den beiden westeuropäischen Entente-Mächten verwiesen hatte. Eine Erklärung Japans, die Provinz Shandong später China zu überlassen, blieb unverbindlich. Der diplomatische Sieg des Kaiserreiches ist auch auf die Entschlossenheit Wilsons zurückzuführen, das Land für den Völkerbund zu gewinnen, obwohl der US-Präsident zusammen mit dem britischen Premierminister David Lloyd George die Forderung Japans, die Gleichheit der Rassen als ein Grundprinzip der Staatenorganisation in ihrer Akte zu verankern, zurückgewiesen hatte. Mit der Anerkennung der Ansprüche auf Shandong sollte Japan besänftigt werden (vgl. Manela 2007a, 112– 115, 177–183; Conze 2018, 333–336). Viele amerikanische Regierungsvertreter in China reagierten 1919 mit Unverständnis auf die Empörung über den Versailler Vertrag, den die chinesischen Vertreter wegen der Proteste von Auslandschinesen am 28. Juni in Paris nicht unterzeichnen konnten. Sie lehnten Forderungen nach politischen Reformen und nationaler Würde ab. Damit konterkarierten sie den Anspruch ihrer Regierung auf eine demokratische Erneuerung, auch außerhalb der Vereinigten Staaten. Der Rekurs auf „Selbstbestimmung“ wirkte angesichts der US-Realpolitik hohl. Appelle des Beraters George Sokolsky und Deweys, die Anliegen der „4.-Mai-Bewegung“ aufzunehmen, trafen in der US-Administration, in der Wilson in den frühen 1920er Jahren rapide an Einfluss verlor, auf keine nachhaltige Resonanz. Ebenso wirkungslos blieben die Berichte, die Reinsch der amerikanischen Regierung aus Peking übermittelte. Der Botschafter erwog vorübergehend sogar seinen Rücktritt. Die Berater der US-Verhandlungsdelegation für Ostasien in Versailles, General Tasker Bliss, Edward T. Williams und Stanley K. Hornbeck, waren verzweifelt. Nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten kritisierte Williams öffentlich die Entscheidung über Shandong, die nach seiner Auffassung die Militaristen in Tokio unnötig stärkte. Unterdessen bemühte sich Hornbeck in Versailles vergeblich um eine Rücknahme des Beschlusses der Entente-Mächte (vgl. Schmidt 1998, 2–3, 6, 8, 12–16, 19, 22, 27–28; Manela 2007a, 184–186, 190, 193; Jin und Zhang 2014, 94–95; Gu 2001, 592; Leonhard 2018a, 934; Cohen 1966, 87, 97–99; Mitter 2019, 93). In den USA nahmen die oppositionellen Republikaner die Proteste gegen die Entscheidung über Shandong auf, um die Legitimität der Pariser Friedensordnung grundsätzlich in Frage zu stellen und vor allem einen Beitritt der Vereinigten Staaten zum Völkerbund zu verhindern. Dabei wurde die „4.-MaiErhebung“ lediglich für innenpolitische Zwecke in Dienst genommen. In China ging der Einfluss der amerikanischen Regierung fortschreitend zurück, obwohl sie Japan 1922 das Zugeständnis abtrotzte, China die vollständige Souveränität über Shandong zu überlassen. Die Boykotte gegen japanische Waren und

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Staatsbürger in vielen chinesischen Städten schwächten sich daraufhin ab. Auch beeinflusste Dewey, der Hu Shis Dissertation betreut hatte und im Rahmen einer Reise in China in den frühen 1920er Jahren zahlreiche Vorlesungen hielt, noch die weitere erziehungswissenschaftliche Diskussion, die Impulse des liberalen Pragmatismus aufnahm (vgl. Wang 2010, 4–5; Manela 2007a, 194; Conze 2018, 340). Mit der Abwendung von den westlichen Staaten verstärkte sich im Reich der Mitte nicht nur der Nationalismus, sondern auch die Solidarisierung mit Korea als Kolonie Japans. So hob Mao im Sommer 1919 hervor, dass das unterdrückte Land in der Versailler Konferenz keine Stimme hatte. Zudem näherte sich die chinesische Regierung Deutschland an, mit dem es im September 1919 einen bilateralen Friedensvertrag abschloss (vgl. Manela 2007a, 194; Conze 2018, 339). In China gewann vor allem der Marxismus, zu dem sich Chen Duxiu und Li Dazhao bekannten, zahlreiche Anhänger. Über eine intellektuell-kulturelle Neuorientierung hinaus verlangten vor allem chinesische Intellektuelle nunmehr eine umfassendere soziale Erneuerung und globale Befreiung. Dafür sahen sie nicht mehr in Wilson, sondern in Lenin den bedeutendsten Vorkämpfer. So griffen sie das marxistische Konzept des „Klassenkampfes“ auf und zum Teil auch schon das leninistische Leitbild einer Diktatur von Arbeitern und Bauern.1 Zum Einflussgewinn dieser Vorstellungen trug die Entscheidung der russischen Bolschewiki im März 1920 bei, die „Ungleichen Verträge“ zurückzuziehen, zu denen Russland die schwachen Regierungen Chinas 1858, 1860, 1898 und 1901 gezwungen hatte. Wie Lew M. Karachan, der stellvertretende Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, in seinem Manifest ankündigte, gab die sowjetische Regierung dem chinesischen Volk die Ostchinesische Eisenbahn und alle Konzessionen zur Gewinnung von Bodenschätzen zurück. Im Frühjahr 1920 schickte die Komintern zudem den Funktionär Georg Voitinsky und seine Ehefrau nach China. Alles in allem wurden die Oktoberrevolution von 1918 und die junge Sowjetunion damit aus der Sicht einer wachsenden Gruppe chinesischer Intellektueller Vorbilder, nachdem die zarische Autokratie zuvor scharf abgelehnt worden war. Zu den Kommunisten stieß auch der junge Mao Zedong, der die „4.-Mai-Bewegung“ unterstützt hatte (vgl. Mitter 2019, 91; Manela 2007a, 195–196; Leonhard 2018a, 933, 935). Die Auseinandersetzung mit fremden Einflüssen prägte auch die Opposition gegen die „4.-Mai-Bewegung“, deren Nationalismus sie durchaus teilte. Jedoch

1 Hierzu und zum Folgenden: Schmidt 1998, 19, 22; Cohen 1966, 87, 91–94, 97–100; Gu 2001, 592, 612–613, 615, 617; Manela 2007a, 110, 194–195.

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lehnten Chiang Kai-sheks Nationalisten die ausländische Kultur ab, die aus ihrer Sicht die konfuzianischen Traditionen überformten und unterhöhlten. Auch Sun Yat-sen wies den politischen Aktionismus und die Bilderstürmerei der Demonstranten 1919 zurück, da er die moralische Orientierung der Jugend gefährdet sah. Ebenso betonten andere neotraditionalistische Gruppen einen festen Kern der Nation, den nationalen Charakter und – damit unmittelbar verbunden – den Stellenwert des Konfuzianismus. Demgegenüber wiesen sie den als „westlich“ definierten Materialismus, Utilitarismus, Pragmatismus und Individualismus ebenso zurück wie den Marxismus, besonders den Kommunismus sowjetischer Provenienz (vgl. Schoppa 2006, 177–179).

5 Schluss: Konsequenzen der Proteste vom Mai 1919 in der Geschichte Chinas und in globalgeschichtlicher Perspektive im 20. Jahrhundert Angesichts der Niederlage bei den Friedensverhandlungen mobilisierte die „4.Mai-Bewegung“, mit der letztlich erst die Zwischenkriegszeit begann, den chinesischen Nationalismus gegen die Großmächte. Das Scheitern der chinesischen Delegation in Paris bremste im „Reich der Mitte“ abrupt die Hinwendung zu den USA, die erst kurz zuvor begonnen hatte. Die revolutionären Bolschewiki schienen nunmehr eine politische Aufwertung und das Ende des westlichen Imperialismus zu versprechen. Zugleich war die Zentralregierung 1919 zutiefst diskreditiert, während die warlords Auftrieb erhielten. Das Scheitern der chinesischen Delegation stärkte vor allem die nationalrevolutionäre Guomindang (GMD, Nationale Volkspartei) im Süden, die den Herrschaftsanspruch der Führung in Peking nun immer offener in Frage stellte. Gespräche über eine Waffenruhe und einen Ausgleich der Interessen verliefen im Sand. Letztlich scheiterte Präsident Xu Shichang, der im Oktober 1918 in Peking sein Amt angetreten hatte, im Frühjahr 1919 mit seinen Bemühungen, die Spaltung zwischen Nord- und Südchina zu überbrücken und alle politischen Kräfte in China zu einen. Vielmehr verschärfte die diplomatische Niederlage des Landes in Versailles innere Konflikte, die es nachhaltig schwächten. Wegen der anhaltenden Fragmentierung und Instabilität konnte Japan in den 1930er Jahren schließlich weite Gebiete erobern. Überdies nahm der Einfluss des Kommunismus in diesem Jahrzehnt zu (vgl. Manela 2007a, 116, 189; Manela 2007b, 139; Conze 2018, 339).

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Jedoch blieben Demokratie und Wissenschaft unmittelbar nach der Erhebung vom 4. Mai 1919 als Leitbilder durchaus attraktiv, wenngleich diese vage waren. Auch wenn revolutionäre Konzepte an Einfluss gewannen, war die Abwendung vom Westen noch nicht endgültig besiegelt. Die Konkurrenz zwischen einer liberalen und revolutionären Variante des Internationalismus bestand fort. Auch gelangen zumindest vorübergehend eine politische Öffnung und gesellschaftliche Reformen. So verankerte die „4.-Mai-Bewegung“ die Prinzipien der Rechts- und Geschlechtergleichheit. Damit erhöhte sich nicht nur der gesellschaftliche Einfluss von Frauen, sondern sie erhielten auch wirtschaftliche Rechte. Zwar hatte bereits die neue Regierung, die in der späten Qing-Dynastie 1901 eingesetzt wurde, 1911 im Entwurf eines Zivilrechtsbuches das Rechtsprinzip der Geschlechtergleichheit verankert. Damit waren Frauen grundsätzlich auch Eigentumsrechte eingeräumt worden. Ein Gesetzentwurf wurde bis zum Sturz des letzten Kaisers Puyi 1911 nicht mehr verabschiedet. Unter dem Einfluss der Reformbewegung vom Mai 1919 spezifizierte erst das 1925 verabschiedete Zivilrechtsbuch die Eigentumsrechte von Frauen, denen aber weiterhin eine Gleichstellung in dieser Hinsicht verwehrt wurde. Zudem verhinderten traditionelle Konventionen, vor allem in den entlegenen ländlichen Regionen Chinas, dass Frauen Eigentum erwerben konnten. Die Wirkungen der „4.-Mai-Bewegung“ bei der Implementierung von Rechtsreformen blieben damit begrenzt; jedoch wurde die Kodifizierung der rechtlichen Gleichheit der Geschlechter ein wichtiger Bezugshorizont, auf den sich Appelle und Forderungen richten konnten (vgl. Li 2010, 20, 24–27, 29–30, 33–34, 36, 39; Leonhard 2018a, 936, 1261). Abgrenzung und Verflechtung kennzeichneten das Verhältnis der chinesischen Reformer zum Westen. Auch verband sich die Wendung gegen die Herrschaft der beherrschenden Vormächte weiterhin mit einer Kritik an chinesischen Traditionen. Die Massenproteste, die am 30. Mai 1925 Studenten und Geschäftsleute im Protest gegen die Einschränkungen der Souveränität Chinas nach den „Ungleichen Verträgen“ verbanden, stellten die Privilegien der westlichen Staaten erneut grundlegend in Frage. Die warlords, die von 1916 bis 1928 in den verschiedenen Regionen Chinas herrschten, wandten sich zwar gegen die Forderung führender Aktivisten der „4.-Mai-Bewegung“ nach umfassenden Reformen. Jedoch unterstützten sie den Nationalismus und das Streben nach Souveränität, um damit die Zentralregierung weiter zu schwächen. Zudem beriefen sich Militärgouverneure wie Lu Yongxiang, welcher der Anhui-Fraktion angehörte, in ihrem Kampf gegen rivalisierende Gruppen auf die Proteste und Demonstrationen, die im Mai 1919 China erschütterten. So begünstigte die Uneinigkeit der warlords die „4.-Mai-Bewegung“. Nicht zuletzt waren einzelne von ihnen persönlich an die Provinz Shandong gebunden, deren Verlust sie als Demütigung empfanden. Anders als lange angenommen, bestand zwischen den Aktivisten für eine grundlegende

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Erneuerung Chinas und den regionalen Militärbefehlshabern damit keineswegs ausschließlich ein Gegensatz (vgl. Chen 2010, 137, 142, 147, 149, 153, 158, 162–163). 1927 zerbrach schließlich das Bündnis, das Chiang Kai-shek 1923/24 zwischen seiner Guomindang und den chinesischen Kommunisten abgeschlossen hatte. Beide Gruppen bekämpften sich fortan in einem Bürgerkrieg, der 1934 in der Vertreibung der Kommunisten aus Zentralchina, ihrem „langen Marsch“ (changzheng) und der Zerschlagung ihres „Jiangxi-Sowjets“ durch GMD-Truppen gipfelte. Zudem überließen die europäischen Mächte und die Vereinigten Staaten von Amerika China zusehends der japanischen Vorherrschaft, die sich 1931/32 mit der Annexion der Mandschurei durch das aufsteigende Kaiserreich deutlich abzeichnete. In vieler Hinsicht begann mit diesem Überfall auf den Norden Chinas im Fernen Osten der Zweite Weltkrieg (vgl. z. B. Schreiber 2007, 9–10). Im Gegensatz zur offiziellen Interpretation der chinesischen Kommunisten führt jedoch kein direkter Weg von der „4.-Mai-Bewegung“ zur Machtübernahme durch Mao Zedong. Vielmehr schien Chiang Kai-sheks Regierung zumindest von 1928 bis 1931 noch eine westlich orientierte Entwicklung zu eröffnen, wenngleich unter autoritären Auspizien. Es bedurfte der Besetzung der Mandschurei und weiter Gebiete Festlandchinas durch japanische Truppen ab 1937, um die Guomindang sukzessive politisch zu verdrängen. Die Entscheidung der Versailler Friedenskonferenz, die Provinz Shandong nicht der chinesischen Regierung zurückzugeben, sondern japanischer Kontrolle zu unterstellen, und das Desinteresse der amerikanischen Regierung hatten die Westmächte aber zutiefst diskreditiert. In China setzte eine wechselvolle Suche nach alternativen Ideologien und Konzepten ein. Die Erhebung am 4. Mai 1919 spiegelte die Erschütterung und Verunsicherung wider, die in den frühen 1920er Jahren zur Gründung einer kommunistischen Partei beitrugen und die Avancen der Sowjetunion begünstigten. Die Protestbewegung ist in diesem breiteren Kontext zu untersuchen (vgl. Leonhard 2018b, 36–37, 39; Cohen 1966, 97; vgl. auch Kornelius 2019; Böger 2019; Sturm 2019). Überdies sollte sie in einer längerfristigen zeitlichen Perspektive in die Geschichte Ostasiens im 20. Jahrhundert eingebettet werden. Ebenso wie schon der Reformaktivismus nach der Niederlage im Krieg von 1894/95 spiegelten die Demonstrationen vom Mai 1919 eine umfassende und nachhaltige Entfremdung von Japan wider. Das Verhältnis zwischen den beiden Ländern sollte sich mit der Okkupation der Mandschurei, wo Japan den Satellitenstaat Mandschukuo etablierte, und den Verbrechen, die kaiserliche Truppen auch an Chinesen begingen, noch weiter verschlechtern. Besonders das Massaker von Nanjing Ende 1937 und Anfang 1938, Vergewaltigungen und Menschenversuche mit Kampfstoffen (vor allem der Einheit 731) zeigten die extreme Gewalt japanischer Soldaten

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gegenüber chinesischen Zivilisten, denen sie sich überlegen fühlten. Allerdings war auch diese Entwicklung keineswegs unausweichlich, wie die Entspannung im Verhältnis zwischen den beiden Ländern in den 1920er Jahren zeigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg sind Entschuldigungen japanischer Regierungen von chinesischer Seite als unzureichend empfunden worden. Mehrfach haben Konflikte über kleine Inselgruppen – so die Diaoyu/Senkaku – im Ostchinesischen Meer die anhaltende Sprengkraft der gedächtnispolitischen Auseinandersetzungen zwischen China und Japan gezeigt. Für diese Konfliktgeschichte waren die Ablehnung der Forderung der chinesischen Delegation, ihrem Heimatland die Provinz Shandong zu überlassen, und die sich daraus ergebenden Proteste im Mai 1919 grundlegend. Umgekehrt zeitigte aber auch die Erhebung erhebliche kurz- und langfristige Auswirkungen – national, in Ostasien und global (vgl. Bauerkämper 2017; Mitter 2019, 94–95).

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Martin Heger

Das Strafrecht der „Musterkolonie“ Kiautschou 1 Kiautschou als deutscher (Rechts-)Raum in China Die 1897 vom Deutschen Reich handstreichartig besetzte Bucht von Kiautschou wurde nach Abschluss eines – erzwungenen – Pachtvertrags von den Deutschen als Marinestützpunkt und „Musterkolonie“ ausgebaut (vgl. etwa Leutner 1997; Mühlhahn 2000; Kuss 2018). Die deutsche Herrschaft über Kiautschou endete faktisch mit der Kapitulation der deutschen Besatzung vor den japanischen Belagerungstruppen. Japan behielt die Kolonie zum Kriegsende, d. h. auch nachdem China 1917 ebenfalls – wie zuvor Japan – auf Seiten der Alliierten gegen Deutschland und die Mittelmächte in den Ersten Weltkrieg eingetreten war. Als über den Versailler Friedensvertrag verhandelt wurde, gehörten mithin formal gesehen beide asiatischen Mächte gleichermaßen zu den Siegermächten, so dass – wenn schon Deutschland das von China für 99 Jahre gepachtete Gebiet1 angesichts des Verbots des Besitzes von Kolonien nicht weiter behalten bzw. zurückerhalten durfte – ein Rückfall an China als den Verpächter von Rechts wegen angezeigt gewesen wäre. Dass die Mehrheit der Siegermächte dagegen Japan, das keinerlei rechtliche Position in Bezug auf dieses Gebiet sein eigen nennen konnte, als neue Kolonialmacht über dieses Stück chinesisches Land erkoren hat,2 war ja bekanntlich der letzte Anlass für die 4.-Mai-Bewegung an der Peking Universität und im ganzen Land. Ich selbst möchte einen kleinen epochalen Schritt in der Geschichte zurückgehen und mich mit der Rechtslage im Pachtgebiet Kiautschou in der Zeit der deutschen Vorherrschaft, d. h. von 1898 bis 1914, befassen. Grundsätzlich galt in diesem Gebiet zumindest für Deutsche bzw. Europäer deutsches Recht. Augenfälligstes Beispiel war die in Tsingtau gegründete und bis heute weltbekannte gleichnamige Brauerei, die mit der Biermarke „Tsingtao“ längst auf dem Weltmarkt ein global player geworden ist. Als diese 1903 gegründet worden war, wurde wie selbstverständlich allein nach dem deutschen Reinheitsgebot von

1 Zur zeitgenössischen rechtlichen Einstufung des Pachtvertrags vgl. nur Jellinek 1898. 2 Dazu und zum Vorgehen der chinesischen Delegation auf der Versailler Friedenskonferenz Manela 2007. Open Access. © 2021 Martin Heger, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110682427-003

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Martin Heger

1516 – dem vielleicht ältesten bis heute noch in Deutschland weitestgehend beachteten Rechtsakt überhaupt – und damit frei nach dem Sprichwort „Hopfen und Malz – Gott erhalt’s“ gebraut; erst nach dem Ende der Kolonialzeit und vor dem Hintergrund der regionalen Geschmäcker im asiatischen Raum wurde (und wird) „Tsingtao“ mit Reis gebraut.

2 Das Strafrecht in Kiautschou 1879–1914 Dass aber gerade auch das Kolonialstrafrecht zu den rechtshistorisch ergiebigsten Materien innerhalb des – nicht nur deutschen – Kolonialrechts3 gehört, erhellt schon der knappe Klappentext der Monografie von Ralf Schlottau zur „Deutschen Kolonialrechtspflege“ (2007); dort heißt es mit Blick auf die Rechtsfolgen der deutschen Kolonisierung von Teilen Afrikas, Ostasiens und Ozeaniens Ende des 19. Jahrhunderts allgemein: Mit der Erschließung der neuen Gebiete taten sich Rechtsprobleme auf, die ihren Ursprung im Aufeinandertreffen grundverschiedener Rechtskulturen hatten. Der sich entwickelnde Rechtsdualismus von weißer und indigener Bevölkerung trat auf dem Gebiet der kolonialen Strafrechtspflege besonders nachdrücklich hervor.

2.1 Vom Konsular- zum Kolonialstrafrecht In diesem Sinne war das Pachtgebiet von Kiautschou die deutsche Kolonie in Ostasien. Ich möchte daher im Folgenden den Blick auf das Strafrecht in dieser „Musterkolonie“ werfen. Innerhalb der Chronologie deutscher Kolonien in Afrika, Asien und Ozeanien steht das Pachtgebiet von „Kiautschou“ ziemlich am Ende. Die deutsche Kolonisierung von Teilgebieten in Afrika begann bereits Mitte der 1880er Jahre. Offiziell firmierten alle damals wie heute landläufig als Kolonien bezeichneten Territorien als „Schutzgebiete“, in denen nach dem Schutzgebietsgesetz des Deutschen Reiches von 1886, welches zur Zeit des Erwerbs von Kiautschou noch in Kraft war und erst zwei Jahre später durch ein – freilich insoweit inhaltsgleiches – neues Schutzgebietsgesetz abgelöst werden sollte, der Kaiser im Namen des Reiches die Schutzgewalt ausübte und in denen – allerdings nur für die deutsche bzw. europäische und japanische

3 Dazu grundlegend Hofmann 1907 und Hofmann 1911.

Das Strafrecht der „Musterkolonie“ Kiautschou

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Bevölkerung – mit Blick auf das anzuwendende Recht nach § 2 Folgendes gelten sollte: Das bürgerliche Recht, das Strafrecht, das gerichtliche Verfahren einschließlich der Gerichtsverfassung bestimmen sich für die Schutzgebiete nach den Vorschriften des Gesetzes über die Konsulargerichtsbarkeit vom 10. Juli 1879 – Reichs-Gesetzbl. S. 197 –, welches, soweit nicht nachstehend ein Anderes vorgeschrieben ist, mit der Maßgabe Anwendung findet, daß an Stelle des Konsuls der vom Reichskanzler zur Ausübung der Gerichtsbarkeit ermächtigte Beamte und an Stelle des Konsulargerichts das nach Maßgabe der Bestimmungen über das letztere zusammengesetzte Gericht des Schutzgebietes tritt.

Für China als Staat galt das Konsulargesetz unmittelbar, so dass etwa deutsche Staatsangehörige, die zu dieser Zeit in Peking ansässig waren, wegen Straftaten zum Nachteil von anderen Ausländern grundsätzlich nicht durch die chinesische Justiz und damit nach chinesischem Strafrecht, sondern durch die deutsche Konsularstrafgewalt und damit nach deutschem Konsularstrafrecht, das dem deutschen (Reichs-)Strafrecht nachempfunden war, belangt werden konnten. Lediglich bei Straftaten gegen Chinesen war die chinesische Justiz zuständig und der Konsul nur in das dortige Verfahren gegen seinen Landsmann eingebunden (vgl. Hatschek und Strupp 1924, 677–678; Stichwort: Konsulargericht). So gab es etwa ein Konsulargericht in Shanghai, gegen dessen Entscheidungen ein Rechtsmittel zum Reichsgericht in Leipzig gegeben war.4 Im Schutzgebiet Kiautschou wurde die Gerichtsbarkeit in erster Instanz durch das Kaiserliche Gericht Kiautschou wahrgenommen; bis 1907 war das Konsulargericht in Shanghai für Berufungen gegen dessen Urteile zuständig, bis dann 1908 in Kiautschou auch ein Gericht zweiter Instanz etabliert wurde (vgl. Mühlhahn 2000, 208–209). Diese Gerichte wandten gegenüber der europäischen (und wohl auch japanischen) Bevölkerung durchweg deutsches Zivilund Strafrecht an;5 ein letztes Rechtsmittel war auch hier zum Reichsgericht in Leipzig gegeben,6 das allerdings die Urteile der Kolonial- und Konsulargerichte nur noch auf Rechtsfehler und nicht mehr in tatsächlicher Hinsicht überprüfen konnte (dass die oberste reichsweite Instanz nur für eine Überprüfung der vorgelegten Urteile auf Rechtsfehler zuständig war, war allerdings weder in damaliger noch in heutiger Sicht eine Besonderheit, denn das Reichsgericht überprüfte auch die Straf- und Zivilurteile von deutschen Gerichten im Reichsgebiet nur auf

4 Vgl. z. B. den versicherungsrechtlichen Fall in den Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen: RGZ 69, 238. 5 Dazu allgemein Brinkmann 1904. Zum Strafverfahrensrecht vgl. nur Doerr 1913 und Karlowa 1911. 6 Zur Funktion des Reichsgerichts für die Schutzgebiete vgl. Zollmann 2016, 14.

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Rechtsfehler7 – eine Ungleichbehandlung des kolonialen Schutzgebiets kann darin mithin nicht gesehen werden). Dagegen gab es für die im Pachtgebiet ansässige chinesische Bevölkerung – wie auch für die damals in den deutschen Rechtstexten durchweg als „Eingeborene“ bezeichneten, nicht der europäischen Bevölkerung zugeordneten Einwohner in den anderen deutschen Kolonialgebieten (wozu regelmäßig auch die Japaner gerechnet wurden) – jeweils eigene Strafrechtsnormen und eine eigene, weitgehend von der deutschen Gerichtsbarkeit gelöste Justiz. Das im Schutzgebiet Kiautschou gegenüber der dortigen chinesischen Bevölkerungsmehrheit anzuwendende materielle Strafrecht entsprach also nicht dem aufgrund des Schutzgebietsgesetzes und des Konsulargesetzes für die europäische Bevölkerung an eben diesem Ort anzuwendende Strafrecht. Die um 1910 im deutschen kolonialrechtlichen Schrifttum einsetzende Debatte über das Für und Wider der Errichtung eines deutschen Kolonialobergerichts als zentraler oberster Instanz für alle deutschen Schutzgebiete8 – das an die Stelle des Reichsgerichts getreten wäre – führte bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs nicht dazu, dass ein solcher Gerichtshof etabliert worden wäre. Für Kiautschou wäre er angesichts der zuvor etablierten Konsulargerichtsbarkeit und des – wie noch zu zeigen – durchaus abweichenden materiellen Rechts vielleicht von geringerer Bedeutung als für die übrigen Kolonien gewesen.

2.2 Das Strafrecht für die chinesische Bevölkerungsmehrheit Das materielle Kolonialstrafrecht9 in Kiautschou reihte sich aufgrund der erwähnten chronologischen Erwerbsreihenfolge ein in eine Reihe bereits seit mehr oder weniger Jahren bestehender deutscher Kolonialstrafrechtsordnungen. Während das für die europäische Bevölkerung geltende Recht (vgl. Kraus 1911) und die zu dessen Durchsetzung berufene Gerichtsorganisation im Prinzip innerhalb der deutschen Kolonien gleich waren, galt dies für das jeweils regional gesondert angeordnete Kolonialstrafrecht gegenüber den „Eingeborenen“ bzw. – in Kiautschou – der chinesischen Bevölkerung gerade nicht. Von der im Schutzgebietsgesetz von 1900 enthaltenen Klausel, dass das darin – einheitlich

7 In der Weimarer Republik war das RG wie auch in den Anfangsjahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland der BGH zwar auch (in Staatsschutzdingen und z. T. auch in Kriegsverbrecherprozessen) erstinstanzlich zuständig, doch galt dies weder im Kaiserreich (und damit in der deutschen Kolonialzeit) noch seit den 1970er Jahren in Deutschland. 8 Dazu nur Crusen 1911, 623, und Crusen 1912, 545; Fleischmann 1910, Sp. 567; Fuchs 1913, Sp. 1419; Lobe 1914, Sp. 57. 9 Allg. dazu Lütken 1914.

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für alle Kolonien – geregelte Strafrecht auch auf die nichteuropäischen Bevölkerungsgruppen übertragen werden könnte, wurde bis zum endgültigen Untergang des deutschen Kolonialreichs nirgends Gebrauch gemacht. Die Gouverneure hatten bei dem Erlass der in ihrem Schutzgebiet für die einheimische Bevölkerung geltenden Rechtsordnung einen erheblichen Spielraum, orientierten sich aber zugleich an den lokalen Gebräuchen und Institutionen; aus beiden Gründen differierten die letztlich in den einzelnen Kolonien erlassenen bzw. veränderten Strafnormen nicht unerheblich. Gleichwohl ist diese – im ersten Schutzgebietsgesetz von 1886 noch nicht vorgesehene – Ermächtigung zu einer rechtlichen Gleichstellung aller Einwohner in einer Kolonie ein Zeichen; immerhin hätte jederzeit von dieser Ermächtigungsklausel Gebrauch gemacht werden können. Diese Klausel zeigt zumindest an, dass eine rechtliche Ungleichbehandlung der indigenen und europäischen Bevölkerungsteile in den deutschen Schutzgebieten nicht ad infinitum weitergedacht wurde. Angesichts der noch aufzuzeigenden Sondersituation in Kiautschou in Ansehung auf die Einbeziehung des in China geltenden Strafrechts und generell wegen der in mancher Hinsicht rechtlichen Besserbehandlung der chinesischen Bevölkerung insbesondere gegenüber den „Eingeborenen“ in den afrikanischen Schutzgebieten ist es gut möglich, dass im Verlauf der auf 99 Jahre angelegten deutschen Oberherrschaft zumindest in diesem Territorium die genannte Klausel aktiviert worden wäre. Beim Erlass des lokal für die chinesische Bevölkerung geltenden Strafrechts hätte der Gouverneur von Kiautschou natürlich schlicht die bereits in Afrika und Ozeanien entwickelten Modelle eines sog. „Eingeborenen-Strafrechts“ durchmustern und an die lokalen Besonderheiten anpassen können. Allerdings war in einer Hinsicht die völkerrechtliche Lage etwas anders, denn durch den Pachtvertrag war zwar dem Deutschen Reich für 99 Jahre – ähnlich wie in Hongkong den Briten – die Ausübung der Souveränitätsrechte und damit auch der Strafgewalt übertragen worden; Inhaber des Gebiets und damit auch der dahinterstehende Souverän blieb freilich China als eigenständiges Völkerrechtssubjekt. Diese völkerrechtliche Situation gab es in keiner der zuvor erworbenen Kolonien in Afrika und Ozeanien, in denen sich das Deutsche Reich – wenngleich teilweise aufgrund von Schutzverträgen mit lokalen Führern – eine uneingeschränkte und unbefristete Souveränität jedenfalls angemaßt hatte. Das auf Chinesen anzuwendende Strafrecht wurde für Kiautschou – wie zuvor auch in den anderen deutschen Kolonialgebieten – durch eine Verordnung des Gouverneurs vom 15. April 1899 geregelt. Darin wurde zunächst festgelegt, dass, wenn Chinesen und Nichtchinesen eine Straftat gemeinsam begangen haben, daran beteiligt waren oder Anschlusstaten zur Straftat des jeweils anderen begangen haben, alle Beteiligten – also auch die Chinesen – vor dem für Nichtchinesen zuständigen Kaiserlichen Gericht und nach dem Konsularstrafrecht anzuklagen

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sein sollten (§ 1). In allen anderen Fällen, d. h. wenn nur Chinesen in die Tat verwickelt waren, wurde neben dem Richter für kleine Fälle die Strafgerichtsbarkeit durch sog. Bezirksamtmänner ausgeübt (§ 2), wobei es sich um vom Gouverneur ernannte Beamte handelte. Es handelte sich dabei also regelmäßig um Deutsche, die mit dem chinesischen Recht nicht vertraut waren; deshalb war angeordnet, dass zur Erforschung der chinesischen Rechtsanschauungen Dorfälteste oder andere dazu geeignete Personen heranzuziehen seien (§ 4). Ein weiterer Unterschied zum Kolonialstrafrecht gegenüber den Eingeborenen vor allem in Afrika war, dass den Chinesen in Kiautschou gegen Urteile des Bezirksamtmannes eine Berufung zum Kaiserlichen Richter möglich war (§ 15). Im wahrsten Sinne besonders fühlbar für die chinesische Bevölkerung des Pachtgebiets war das Strafensystem: Während das RStGB damals als Strafen Geldstrafe, Zuchthaus, Gefängnis und Haft sowie die Todesstrafe vorsah, bestimmte die Verordnung des Gouverneurs als zulässige Strafen die Prügelstrafe, Geldstrafe, zeitige und lebenslängliche Freiheitsstrafe sowie ebenfalls die Todesstrafe (§ 6 Abs. 1).10 Die im Deutschen Reich gebräuchliche und erst 1969 aus dem StGB eliminierte Differenzierung zwischen entehrenden und anderen Freiheitsstrafen dürfte schlicht aus praktischen Gründen in Kiautschou nicht übernommen worden sein, denn diese hätte in dem recht kleinen Territorium verschiedene Gefängnisbauten erforderlich gemacht. Die Prügelstrafe, die im Reich und gegenüber Nichtchinesen auch in Kiautschou nicht vorgesehen war, war im deutschen Kolonialstrafrecht häufig die Strafe der Wahl zumindest gegenüber Männern11 (gegenüber Frauen war sie – anders als in den afrikanischen Kolonien – in Kiautschou ausgeschlossen, vgl. § 8); die im Reich gebräuchliche Freiheitsstrafe spielte gegenüber der einheimischen Bevölkerung in den Kolonien eine eher untergeordnete Rolle. Während allerdings in den anderen deutschen Kolonialgebieten die „reine Freiheitsstrafe“ ohne Schärfungen nicht anzutreffen war (hier gab es etwa Kettenhaft und zusätzliche Zwangsarbeit), konnte in Kiautschou wie im Reich schlicht auf einen Freiheitsentzug erkannt werden (vgl. Schlottau 2007, 282). Hier zeigt sich, dass aus Sicht der deutschen Kolonialmacht Kiautschou dem Reich rechtskulturell weit näher stand als etwa die Schutzgebiete in Afrika und in der Südsee. Allerdings konnte auch in Kiautschou die Freiheitsstrafe mit Zwangsarbeit verbunden werden (§ 10), doch sollte dies offenbar hier nicht der Regelfall sein.

10 Zur historischen Entwicklung der Todesstrafe im deutschen Rechtsraum vgl. nur Evans 2001. 11 Dazu allgemein Feder 1911; Hermann 1908, 72; krit. Thomsen 1906, Sp. 513 und Hentig 1912/ 13, 697.

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Eine weitere Besonderheit, die sich aus dem räumlichen Nebeneinander von China als Staat und dem deutschen Pachtgebiet ergab, war, dass die genannten Strafen nicht nur untereinander kombiniert, sondern auch jeweils mit der Ausweisung aus Kiautschou verbunden werden konnten (§ 6 Abs. 2). Dazu kam, dass das materielle Rechtssystem Chinas und auch das dortige Strafrecht im Lichte der deutschen Rechtsgelehrten auf einer gänzlich anderen Entwicklungsstufe verortet wurden als etwa die Stammesrechte in den kolonisierten Gebieten in Ostafrika.12 So hat sich der Berliner Juraprofessor und Universalgelehrte Joseph Kohler in einem Aufsatz explizit mit dem chinesischen Strafrecht beschäftigt bzw. dieses übersetzen lassen (vgl. Kohler 1905, 184). Vor diesem Hintergrund sah der Straftatenkatalog für die chinesische Bevölkerung letztlich vier Gruppen von Straftaten vor; strafbar sein sollten im Pachtgebiet nach § 5 der Verordnung [a]lle Handlungen, welche 1. durch Verordnung des Gouverneurs mit Strafe bedroht sind, 2. nach den Gesetzen des Deutschen Reiches Thatbestand eines gegen das Reich, sowie gegen Gesundheit, Leben, Freiheit und Eigenthum eines Anderen gerichteten Verbrechens und Vergehens, oder 3. den Thatbestand einer Uebertretung enthalten, welche im Interesse der öffentlichen Ordnung unter Strafe gestellt ist oder 4. im chinesischen Reich mit Strafe belegt werden. Für beide Strafrechtssysteme gab es keine zeitliche Einschränkung, so dass es sich – aus heutiger Sicht – rechtstechnisch wohl um eine dynamische Verweisung handelte; im Pachtgebiet galten danach für die chinesische Bevölkerungsmehrheit parallel immer sowohl weite Teile des deutschen als auch das komplette chinesische Strafrecht jeweils in seiner gerade aktuellen Fassung. Für die chinesische Bevölkerung war die dabei von den Deutschen angeordnete Fortgeltung des chinesischen Strafrechts kein Problem, entsprach dieses doch auch der Rechtslage im 50 km breiten Streifen um das Pachtgebiet, in welchem Deutschland aufgrund des Pachtvertrags bestimmte Sonderrechte beanspruchen konnte, sowie im chinesischen Kernland. Die Geltungsanordnung in Bezug auf wesentliche Teile auch des deutschen Rechts war demgegenüber für die Chinesen eine Herausforderung. Allerdings entsprach es der Rechtslage in allen deutschen Kolonien, dass das deutsche RStGB im Prinzip auch für die indigenen Bevölkerungsteile Geltung beanspruchte. Allerdings stand in den anderen Kolonien dahinter auch der Umstand, dass dort

12 So schon Plath 1865, dessen erster Satz lautet: „China gilt, soweit die Geschichte reicht, für einen gesetzlich geordneten Staat“ (Plath 1865, 3).

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jeweils nur ergänzend ein paar wenige Spezialnormen dazugefügt worden waren, so dass das deutsche Strafrecht schon als ergänzend-systematische Grundlage des jeweiligen Strafrechts notwendig war; in Kiautschou wäre das nicht notwendig gewesen, denn hier hätte für die chinesische Bevölkerung auch das chinesische Strafrecht diese systematische Grundlage abgeben können. Dieses chinesische Strafrecht musste ggf. durch die deutschen Bezirksamtmänner oder die ebenfalls deutschen Richter am Kaiserlichen Gericht angewendet werden, die – das ist zumindest anzunehmen – mit der chinesischen Rechtspraxis und -tradition, ja wahrscheinlich auch mit der chinesischen Sprache, die Grundlage des chinesischen Strafrechts war, allenfalls rudimentär vertraut waren, war doch – wie in den deutschen Kolonien grundsätzlich – Deutsch auch an diesen Gerichten zumindest formal die Gerichtssprache. Immerhin sind die deutschen Richter verpflichtet, sich erforderlichenfalls über das chinesische Recht kundig zu machen. Das stellt insoweit eine Abweichung vom Rechtszustand des Reiches dar, als hier nach dem Grundsatz „iura novit curia“ (vgl. Centner 2019, 6) die erkennenden Gerichte das inländische Recht kennen mussten. Obwohl in Kiautschou eben nicht nur – wie in den anderen Schutzgebieten – das deutsche und das vom deutschen Gouverneur gesetzte Recht, sondern eben auch das chinesische Strafrecht als anzuwendendes Strafrecht galt und insoweit Hilfe bei nichtrichterlichen Dorfältesten geholt werden sollte, musste das Gericht in diesen Fällen das Recht nicht kennen, sondern durfte sich – wie sonst mit Blick auf ausländisches Recht – darüber durch einen Sachverständigen informieren lassen.13 Das war auch konsequent, denn zwar wurde aus deutscher Kolonialherrensicht das chinesische Strafrecht gegenüber den Strafrechtsstrukturen in anderen deutschen Kolonien hervorgehoben, doch gab es neben bzw. vor dem erwähnten Aufsatz von Joseph Kohler mit der 1865 von Johann Heinrich Plath für die Bayerische Akademie der Wissenschaften verfassten Abhandlung „Gesetz und Recht im alten China nach chinesischen Quellen“ überhaupt nur noch einen anderen bedeutenden deutschsprachigen Text zum chinesischen Recht (vgl. Vogel 1923, 37–38). Immerhin wurden in der deutschen Botschaft in Peking die aktuellen Veröffentlichungen zu gerade entschiedenen Strafrechtsfällen in China in der sogenannten „Peking-Zeitung“ eifrig studiert und in Aufsätzen auch dem

13 An der 1909 in Kiautschou eingerichteten deutsch-chinesischen Hochschule konnten chinesische Studenten u. a. auch Staats- und Rechtswissenschaften studieren (Mühlhahn 2000, 436 [Fn. 1]; Kuss 2008, 78 [Fn. 1]), so dass bei einem Fortdauern der deutschen Kolonie über 1914 hinaus mit der Zeit wahrscheinlich genügend juristisch gebildete und Deutsch sprechende Chinesen als Fachleute zur Verfügung gestanden hätten. An dieser Hochschule wirkte von Anfang an auch der damalige Tsingtauer Oberrichter Dr. Georg Crusen als Dozent (vgl. Matzat 2007).

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deutschen Fachpublikum zugänglich gemacht. Die dort etwa 1908, also zehn Jahre nach dem Erwerb von Kiautschou, geschilderten Fälle zum chinesischen Strafrecht (vgl. Betz 1908, 393) zeigen nicht nur manche Besonderheit beim materiellen Strafrecht – etwa die Provokation des Selbstmordes – auf, sondern extrem harte Strafen einschließlich der Prügelstrafe und der Verbannung. Das erhellt, dass diese beiden dem Reichsstrafrecht nicht bekannten, in der Verordnung des Gouverneurs für Chinesen aber vorgesehenen Strafarten dem chinesischen Recht und damit auch der chinesischen Bevölkerung des Pachtgebiets wohl bekannt waren. Zugleich ist die damalige Tendenz des chinesischen Strafrechts zur Modernisierung der Strafen lobend hervorgehoben: So wurde statt Zerstückelung auf Enthauptung, statt Verbannung auf Arbeitshaus und statt der Prügelstrafe auf Geldstrafe erkannt. Die zuvor noch gängige Ausstellung des abgeschlagenen Kopfes sollte zukünftig unterbleiben. In den anderen Kolonialgebieten stand neben der Prügelstrafe als staatlicher Sanktion das Prügeln der indigenen Arbeiter als Erziehungsstrafe durch die Farmer etc. Angesichts der etwas höheren Wertschätzung für China und die Chinesen (gegenüber der Bevölkerung in den afrikanischen Kolonien) dürfte diese Praxis in Kiautschou weniger verbreitet gewesen sein. Allerdings zeigt die Anwendung der Prügelstrafe dort wie auch deren Vollzug gegenüber chinesischen Vertragsarbeitern in anderen deutschen Kolonien, dass grundsätzlich offenbar keine Bedenken gegen deren Einsatz gegenüber Chinesen vorherrschten.

3 Fazit Die deutsche „Musterkolonie“ Kiautschou war als das zuletzt erworbene Schutzgebiet des Deutschen Reiches bis 1914 auch in strafrechtlicher Hinsicht gegenüber den anderen, älteren Kolonialgebieten ein Sonderfall. Einerseits konnte Deutschland bei der Errichtung des Gerichtssystems zunächst auf das in China bereits – anders als in Afrika und in der Südsee – etablierte Konsulargerichtswesen zurückgreifen, bis dann in Kiautschou selbst eine eigene zweite Instanz eingerichtet werden konnte. Andererseits wurde für die chinesische Bevölkerung mit Blick auf das materielle Strafrecht in weit stärkerem Maße als in allen anderen deutschen Schutzgebieten auf das chinesische Strafrecht zurückgegriffen. Von der 1900 im Schutzgebietsgesetz eingeführten Möglichkeit einer Übertragung des für die europäische Bevölkerung geltenden Straf- und Zivilrechts auch auf die chinesische Bevölkerungsmehrheit wurde allerdings bis zum faktischen Ende der deutschen Kolonialherrschaft in Kiautschou kein Gebrauch gemacht, obwohl diese „Musterkolonie“ im Verhältnis zu den anderen, zuvor

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erworbenen deutschen Schutzgebieten in Afrika und in der Südsee hierfür angesichts des Entwicklungsstandes in China sicherlich am besten geeignet gewesen wäre. Ob die Klausel, die zu Beginn der Erwerbungen in Afrika noch gar nicht im Schutzgebietsgesetz enthalten war, überhaupt erst wegen des zwischenzeitlich abgeschlossenen Pachtvertrags über Kiautschou in die neue Fassung dieses Gesetzes aufgenommen worden war, mag hier dahinstehen. Es liegt allerdings nicht fern, dass für eine Umsetzung derselben innerhalb der dafür ja ursprünglich angedachten fast 100 Jahre Kiautschou zumindest als Prototyp gedient haben dürfte; der faktische Verlust dieses Kolonialgebiets kurz nach Beginn des Ersten Weltkriegs und dessen rechtsförmige Bestätigung durch den Versailler Vertrag vor exakt einem Jahrhundert, welche ja auch den Ausgangspunkt für die 4.-Mai-Bewegung in Peking gebildet hat, stand einer Probe aufs Exempel jedenfalls entgegen.

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Militarismus, Nietzsche und die soziale Revolution. Über die Deutschlandbilder in den ersten Jahrgängen der Zeitschrift Neue Jugend 1 Einführung Im Jahre 1915 gründete Chen Duxiu, der kurz zuvor aus dem Exil in Japan zurückgekehrt war, in Shanghai eine neue Zeitschrift, die seitdem die kulturelle und gesellschaftliche Entwicklung Chinas maßgeblich geprägt hat. Sie wird oft im chinesischen Volksmund einstimmig als die „Zeitschrift aller Zeitschriften“ gepriesen. Trotz des Titelwechsels von Zeitschrift für die Jugend zu Neuer Jugend ab dem zweiten Jahrgang bleibt ihr fremdsprachiger Name „La Jeunesse“ (im Folgenden als Neue Jugend bezeichnet) bis in die 4.-Mai-Bewegung unverändert (Abb. 1 und 2). Schon für das allererste Heft dieser Zeitschrift verfasste Chen einen Aufsatz über „Die Franzosen und die moderne Zivilisation“, in dem er die These vertritt, dass die drei Hauptlehren der modernen Zivilisation, nämlich die Menschenrechte, die Evolutionstheorie sowie der Sozialismus, allesamt den Franzosen zu verdanken seien (vgl. Chen 1915b). Außerdem übersetzt Chen Auszüge aus Charles Seignobos’ Histoire de la Civilisation Contemporaine, die er ebenfalls im Eröffnungsheft der Neuen Jugend publiziert. Da viele von Chens Mitstreitern in der Neue-Kultur-Bewegung in Frankreich studiert haben, resümiert der renommierte Historiker Tse-tsung Chow: Chinese intellectuals in the May Fourth Movement were, in many cases, overwhelmingly dominated by the democratic ideas and liberalism of eighteenth- and nineteenth-century France rather than the ideas of other Western countries. The temper of the Chinese intellectuals in the movement often bore traces of French romanticism. (Chow 1960, 36)

Insofern scheint es wichtig, die Vorstellung und Rezeption von Frankreich und dessen intellektuellen Strömungen während der 4.-Mai-Bewegung zu untersuchen. Allerdings ist es auffällig, dass das Interesse zumindest der Redaktion der Neuen Jugend für Deutschland größer ist als das für Frankreich. Bereits im ersten Heft wird eine Rubrik mit dem Titel „Aus aller Welt“ eröffnet, in der eine Reihe von kleinen landeskundlichen Texten erscheint. An erster Stelle wird hier nicht Frankreich, sondern Deutschland dem chinesischen Lesepublikum vorgestellt. Diese von Li Yimin zusammengestellten Texte, neun an der Zahl, Open Access. © 2021 Mao Mingchao, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110682427-004

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befassen sich mit Kaiser Wilhelm II., dem Berliner Schloss, der Stadt Berlin, den Verkehrsmitteln, den Parkanlagen, dem Silvester in Berlin, dem Duellverbot sowie dem deutschen Militärwesen (Li 1915a). Im zweiten Heft wird diese Reihe fortgesetzt und um zwei weitere Texte jeweils über die sozialdemokratische Partei und die Siegessäule ergänzt (Li 1915b). Deshalb ist es naheliegend, sich mit dem Deutschlandbild der Neuen Jugend auseinanderzusetzen. In der bisherigen Forschung wird vor allem durch die beiden bedeutenden Sinologen Mechthild Leutner und Andreas Steen auf die historische Überlieferung eines emotional meist mit Verehrung aufgeladenen Deutschlandbilds der chinesischen Intellektuellen am Anfang des 20. Jahrhunderts aufmerksam gemacht. Sie weisen darauf hin, dass das chinesische Deutschlandbild „lange Zeit von einer Anerkennung und Bewunderung Deutschlands geprägt“ sei: „Militärische Leistungen, die Einigung Deutschlands, der Aufstieg Preußens und das herrschende autokratische System der konstitutionellen Monarchie galten vielen Intellektuellen als Vorbild für den zukünftigen Weg Chinas“ (Leutner und Steen 2006, 496). Der Berliner Sinologe Roland Felber hat das Deutschlandbild vor und nach der 4.-Mai-Bewegung untersucht und die Unterschiede in den konservativen und revolutionären Interpretationen des deutschen Militarismus herausgearbeitet (Felber 1999). Darüber hinaus hat der Shanghaier Geschichtswissenschaftler Zhao Bing den Wandel des „deutschen Geistes“ während der Neue-Kultur-Bewegung insgesamt umrissen – ohne jedoch diesen berühmt-berüchtigten Geist näher zu bestimmen (Zhao 2017). Die Aufgabe der vorliegenden Untersuchung wird also sein, diesen Wandel an einem konkreten Beispiel – nämlich den ersten sechs Jahrgängen der Neuen Jugend von September 1915 bis Mai 1919 – darzustellen. Daran wird deutlich, wie sich die chinesischen Intellektuellen vor hundert Jahren das Gedankengut Deutschlands angeeignet haben, um daraus einen gangbaren Weg zur Erneuerung und Umgestaltung Chinas zu finden.

2 Das Interesse der Neuen Jugend am deutschen Militarismus Es gehört zum Konsens der Forschung, dass die chinesischen Intellektuellen im frühen 20. Jahrhundert gleichsam vom deutschen Militarismus geschwärmt haben (vgl. Kirby 1984). Schon in den 1870er Jahren zogen die von Wang Tao herausgegebenen Berichte des Preußisch-Französischen Kriegs viel Aufmerksamkeit sowohl der Politik als auch der akademischen Welt auf sich. Auch haben Vertreter der Yang-Wu-Bewegung, etwa Zhang Zhidong oder Yuan Shikai, ihre Truppen mit deutschen Waffen ausgerüstet und nach deutschem Muster trainiert.

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Abb. 1: Umschlag des Debüthefts der Zeitschrift für die Jugend (September 1915).

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Abb. 2: Umschlag des 1. Hefts des 2. Jahrgangs der nun umbenannten Zeitschrift Neue Jugend (September 1916).

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Diese Vorbildfunktion des deutschen Militärs ist auf den unaufhaltsamen Aufstieg Preußens und die Vereinigung Deutschlands unter dessen Leitung zurückzuführen. Das hat man in China, das damals noch nach einem Weg zur Erneuerung und Selbststärkung suchte, als große Ermutigung der eigenen Bestrebungen empfunden. Charakteristisch hierfür ist jene Ansicht, die Liang Qichao in seinem Büchlein Der neue Bürger vertritt: Als ein „neues Land“ sei Deutschland nur deshalb imstande, „Österreich zu zerschlagen und Frankreich zu unterwerfen und so erhaben über Europa zu schauen“, weil Bismarck seine Politik von „Eisen und Blut“ mit Konsequenz durchgesetzt habe (Liang 1994, 147).1 Die Forderung, dass China Deutschlands Beispiel folgen sollte, wird hier zwar nicht ausgesprochen, lässt sich aber schon deutlich vernehmen. Folgerichtig wundert es nicht, dass Li Yimin in der Rubrik „Aus aller Welt“ zunächst die allgemeine Soldatenverehrung der deutschen Gesellschaft hervorhebt. Im Abschnitt „Die deutschen Soldaten“ resümiert Li: Für die Deutschen sind die Soldaten wie die Gebildeten bei uns. Wir Chinesen halten seit jeher die Gebildeten für die Spitze aller vier Stände. Ihnen wird von den obersten bis zu den untersten Schichten mit Bewunderung begegnet. [. . .] Ungefähr genauso werden die Soldaten in Deutschland verehrt. (Li 1915a, 70)

Diese Darstellung ist offenbar keine Übertreibung, sondern spiegelt wohl die Realität der deutschen Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg ziemlich genau wider. Im Zeitalter der Reichsgründung sei, wie Friedrich Meinecke in seiner bedeutenden Schrift Die deutsche Katastrophe beschreibt, eine Weihe auf dem preußischen Militarismus gelegen, und „der preußische Leutnant ging als junger Gott, der bürgerliche Reserveleutnant wenigstens als Halbgott durch die Welt“ (Meinecke 1969, 336). Li Yimin zufolge ist gerade diese Vergötterung der Offiziere der Grund für die siegreichen Feldzüge des Kaiserreichs am Anfang des Ersten Weltkrieges: Die deutsche Gesellschaft ist eine utilitaristische, eine militärische Gesellschaft. [. . .] Als der Europäische Krieg ausbrach, konnten viele nicht glauben, dass das deutsche Heer den erbitterten Kampf überstehen würde. Die Erfahrung von heute ist genau das Gegenteil. Der Grund liegt darin, dass das Militär sich selbst schätzt, da es geschätzt wird. Alle Herzen schließen sich fest zusammen und dadurch entsteht das, was zum Triumph führt. (Li 1915a, 70)

Im zweiten Heft des ersten Jahrgangs stellt Li dem chinesischen Lesepublikum die Siegessäule vor, im vierten Heft veröffentlicht Pan Zanhua unter dem Pseudonym

1 Chinesischsprachige Titel und Zitate in diesem Beitrag wurden vom Verfasser selbst ins Deutsche übersetzt.

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Pan Zan einen Aufsatz mit dem Titel „Der deutsche Militärgott Hindenburg“, und im sechsten Heft publizierte Li dann schließlich einen weiteren Artikel über August von Mackensen. Der lobende, hochgestimmte Ton der letzten beiden Texte ist bezeichnend. So beschreibt Pan etwa Hindenburg als „Krieger aller Krieger, Schutzgott der Nation, von der Welt als Essenz des preußischen Geists gepriesen“ (Pan 1915, 282). Detailliert werden Hindenburgs Befehle und taktische Entscheidungen während der Schlacht bei Tannenberg dokumentiert. Daraus zieht Pan die Schlussfolgerung: „Die Deutschen ehren General von Hindenburg weit mehr als den Kaiser“ (Pan 1915, 284). Ein weiteres Zeichen für die Idealisierung der Befehlshaber der kaiserlichen Armee ist der Sachverhalt, dass beide Aufsätze mit Abbildungen ausgestattet sind (Abb. 3 und 4). Das ganzseitige Porträt von Hindenburg zeigt ihn nach der Schlacht von Tannenberg bei der Planung weiterer Manöver und ist mit seinem Zitat versehen: „Möge uns der Geist von 1914/15 erhalten bleiben!“ Dass ein Porträt eine ganze Seite in Anspruch nimmt, ist in den ersten Jahrgängen der Neuen Jugend äußerst selten. Nicht nur den Persönlichkeiten, sondern auch den anfänglichen Siegeszügen des wilhelminischen Kaiserreichs galt die Faszination chinesischer Intellektueller angesichts seines Militärwesens. Trotz seines Vorbehalts gegenüber dem Militarismus zeigt sich Chen Duxiu Anfang 1916 zuversichtlich, dass das Kaiserreich den Ersten Weltkrieg gewinnen werde: Der Europäische Krieg hat sich auf die ganze Welt ausgeweitet und das Los von Sieg und Niederlage wird immer deutlicher. Die Deutschen haben außer Tsingtau sowie Kolonien in Südafrika und Ozeanien keine einzige Landfläche verloren. Sie haben an der Westfront die Briten und Franzosen fern von der eigenen Grenze gehalten und sind im Osten tausend Meilen auf russischen Boden vorgedrungen. Sie zogen in den Balkan ein und haben Serbien vernichtet. Die Hauptstädte von Deutschland und der Türkei sind mit Eisenbahnen verbunden. Obwohl die Elitetruppen nach Süden gerückt sind, vermögen Russland im Osten, England und Frankreich im Westen nur ihre letzten Atemzüge zu tun und sonst nichts auszurichten. (Chen 1916, 305–306)

Kaum vorstellbar, dass der Herausgeber einer Zeitschrift mit französischem Namen die Feldzüge Deutschlands derart hochstilisiert. Aber diese feierlichen Töne werden noch einmal überboten durch den Beitrag von Liu Shuya im 3. Heft des 2. Jahrgangs mit dem Titel „Militarismus“: Seit dem Kriegsbeginn hat Deutschland Belgien vernichtet, Frankreich unterjocht und Russland in die Knie gezwungen. Umringt von Feinden musste es sich aller Streitkräfte der Welt erwehren. Dennoch ist es Deutschland gelungen, seine Feinde zu zerschlagen und deren Land zu erobern. [. . .] Solche großen Siege hat es in der Tat seit Beginn der Geschichtsschreibung noch nie gegeben. (Liu 1916b, 166)

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Allerdings interessieren sich die Beitragenden der Neuen Jugend weniger für die technische Seite der Kriegsführung als vielmehr für die kriegerische Mentalität. Der hier konstruierte Mythos von der Unschlagbarkeit des deutschen Militärs dient nicht dazu, das chinesische Heerwesen zu erneuern, sondern die Jugend. Vor allem sollen den jungen Chinesen Opferbereitschaft und Kampfgeist beigebracht werden. Gerade in diesem Sinne stellte Xie Hong (1915) im dritten Heft des ersten Bandes den „Jungdeutschland-Bund“ vor, eine von Colmar von der Goltz Pascha ins Leben gerufene Organisation, die bis 1914 mehr als 750.000 Mitglieder zählte. Auf diese bemerkenswerte zeitliche Parallelität der Jugendbewegung Chinas und Deutschlands wurde in der Forschung bereits hingewiesen (vgl. Cao 2013). Für Xie ist das Ausschlaggebende nicht das militärische Training, das die Jugendlichen auf den bevorstehenden Kriegseinsatz vorbereitet, sondern die Bildung einer „deutschen Seele“, aufgrund derer das ganze Volk vor keiner Auseinandersetzung zurückscheue und bereit sei, „alles, was es an Geist, Fähigkeit und Vermögen besitzt, dem Staat zu opfern“ (Xie 1915, 193). Diese Zielsetzung entspricht gänzlich der Ansicht Chen Duxius, der mit Nachdruck auf den Unterschied zwischen der westlichen und der östlichen Mentalität hinweist: Gerade weil die Deutschen „ihre heutigen Glorien durch Blut erworben“ hätten, sollte die chinesische Jugend ihrem Beispiel folgen, die ostasiatische Mentalität nach dem Motto „den Kampf scheuend lieber die Demütigung dulden“ ablegen und dem westlichen Charakter nacheifern, sprich „die Duldung verachten und lieber im Kampf fallen“ (Chen 1915c, 231). Noch unverhohlener formuliert Liu Shuya in seinem Aufsatz „Europäischer Krieg und das Bewusstsein der Jugend“: Kriegslust ist eine Tugend, Friedensliebe ein Verbrechen. Unter den Europäern sind die Deutschen am kriegslustigsten, daher sind sie auch am mächtigsten. [. . .] Unter allen Völkern der Welt lieben wir – die Chinesen – den Frieden am ehesten. Daher sind wir auch am schwächsten. Wenn wir nicht dringend aus dieser Halluzination erwachen, können wir nie mehr der Zerstörung unserer Nation und der Auslöschung unserer Stämme entrinnen. (Liu 1916a, 94)

Folgerichtig fordert Liu Shuya, mit Hilfe des deutschen Militarismus die Jugend Chinas „zum kriegslustigsten Volk der Welt“ umzumodeln. Diese Forderung stimmt mit Chen Duxius Mahnung an die Jugend nach seinem Rückblick auf die anfänglich unaufhaltbaren Feldzüge des Kaiserreichs überein: Die Jugend solle „die Stellung des Eroberers anstatt der des Eroberten“ (Chen 1916, 306) einnehmen.

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Abb. 3: Das Hindenburg-Porträt im 4. Heft des 1. Jahrgangs der Zeitschrift für die Jugend.

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Abb. 4: Das Mackensen-Porträt im 6. Heft des ersten Jahrgangs der Zeitschrift für die Jugend.

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3 Nietzsche Die Aufgabe, die Jugend nach dem Vorbild des deutschen Militarismus zu regenerieren, hängt des Weiteren mit der Befreiungsintention der Neuen Jugend zusammen. Der Aufruf zum Kampf gilt nicht einer gegnerischen Nation, sondern der eigenen Kulturtradition, deren überlieferter Tugendkanon als Einschränkung und Unterjochung empfunden wird. Die kriegerische Mentalität sollte der neuen Jugend zu einem absoluten Bruch mit den überlieferten ethischen Forderungen verhelfen, die als veraltet, ja knechtisch galten und deshalb von der jungen Generation abgelehnt wurden. Dabei wird der Militarismus von der Einführung der Philosophie Friedrich Nietzsches flankiert. In der Ankündigung des Herausgebers mit dem Titel „Aufruf an die Jugend“ stellt Chen Duxiu insgesamt sechs Lehren für die Jugend auf, deren allererste ein Aufruf zur Selbstemanzipation ist: Die Jugend solle sich „zu einem selbstständigen und keinesfalls mehr sklavischen Subjekt“ entwickeln (Chen 1915a, 2). Chen argumentiert mit Nietzsches Kategorien der Herren- und Sklaven-Moral: Er beurteilt die traditionellen chinesischen Wertnormen sowie Wunschvorstellungen wie etwa die unbedingte Loyalität oder ein gemildertes Straf- und Steuersystem unter der Herrschaft eines gnädigen Souveräns abwertend als „Sklavenmoral“ und „Sklavenglück“, weil diese Moral lediglich dazu diene, das Leiden des irdischen Daseins erträglich zu machen. In diesem Kontext geht es Chen weniger um die Kritik des christlichen Moralgefüges als vielmehr um die Emanzipation des Individuums aus der Enge der fremdbestimmten, festgelegten Normen. In einem weiteren Aufsatz, „Über den wahren Sinn des Lebens“, bringt Chen sein dezidiertes Verlangen nach Individualität noch einmal zum Ausdruck: Oder wie jener Deutsche namens Nietzsche, der ebenfalls fordert, den individuellen Willen zu respektieren, das individuelle Talent zu entfalten, um sich zu einem großen Künstler, einem großen Unternehmer zu entwickeln – in einem Wort, zu einem dem gemeinen Volk übergeordneten Übermenschen zu werden – und dadurch den Sinn des Lebens zu erfüllen. Alle Phrasen von Gerechtigkeit und Moral sind nichts anderes als Lügen. (Chen 1918a, 71)

Nach dem Verständnis Chens und der mit ihm revolutionär gesinnten Generation müssen auch in China die regulierenden sozialen Normen zugunsten einer umfassenden Entfaltung der eigenen Subjektivität außer Kraft gesetzt werden. Dieser programmatische Subjektivismus geht einher mit der Begeisterung für den deutschen Militarismus. Beim Kampf gegen die eigene Kulturtradition steht der jungen chinesischen Generation dann wieder die Philosophie Nietzsches als Waffe zur Verfügung. Schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde Nietzsche von namhaften Intellektuellen wie Wang Guowei, Liang Qichao oder Lu

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Xun dem chinesischen Lesepublikum vorgestellt. Insbesondere wurden die Zerstörung aller Idole und die Aufhebung aller normativen Setzungen als Kernthese Nietzsches aufgenommen und weiterverbreitet. Die drei Verwandlungen des Geistes, wie Nietzsche sie in seinem Also sprach Zarathustra schildert, aber vor allem die Gegenüberstellung von dem Löwen des „Ich will“ und dem Drachen des „Du sollst“ stehen im Einklang mit der traditionsskeptischen, ja überlieferungsfeindlichen Haltung der Neuen Jugend. Die große chinesische Komparatistin Yue Daiyu (1980) hat mit Recht resümiert, dass Nietzsche in seiner Interpretation durch die Vertreter der 4.-Mai-Bewegung die Gestalt eines triumphierenden Idolzerstörers annimmt, weil die Forderung nach einer „Umwertung aller Werte“ für die chinesischen Intellektuellen, die mit den kulturellen und ethischen Überlieferungen abzurechnen gedachten, einen Befreiungsschlag bedeute. Der slowakische Sinologe Marián Gálik (2017) hat in seinen Ausführungen diese Beobachtung bestätigt. Die gedankliche Nähe zwischen Nietzsches „heiligem Nein“ und den Kampfparolen während der Neue-Kultur-Bewegung – etwa „Reißt den Laden des Konfuzianismus nieder!“ – ist derart evident, dass diese traditionskritische Haltung zum Grundgestus einer gesamten Bewegung wurde. In der ersten Ausgabe der Neuen Jugend nach der 4.-Mai-Bewegung veröffentlicht Hu Shi einen Aufsatz über „Die Bedeutung der neuen Denkströmung“ und fasst dieses neue Denken als Gestus einer umfassenden Kritik zusammen: Nietzsche sagte, das heutige Zeitalter sei eines der Umwertung aller Werte. Die Umwertung aller Werte ist die beste Deutung für die kritische Haltung. [. . .] Ich bin der Auffassung, dass die neuen Strömungen, wie unterschiedlich sie auch sein mögen, doch in einem Punkt miteinander übereinstimmen: nämlich in der kritischen Haltung. (Hu 1919, 4)

4 Sozialdarwinismus Die Bewunderung des deutschen Militarismus und der Philosophie Nietzsches durch die jungen chinesischen Intellektuellen steht allerdings deutlich unter dem Zeichen des Sozialdarwinismus, der seit der Übersetzung von Huxleys und Herbert Spencers Schriften im China der Jahrhundertwende recht schnell populär geworden ist (Wang 2010). Neben diesen beiden einflussreichen Autoren vertritt auch Ernst Haeckel, dessen Lehre von der Phylogenie unter anderem von Lu Xun (2005) rezipiert wurde, die Anwendung der Evolutionstheorie auf die Entwicklungsgeschichte menschlicher Gesellschaften. Bekanntlich hat sich der Sozialdarwinismus das Motto des „Survival of the Fittest“ auf die Fahnen geschrieben und das Theorem der natürlichen Selektion auf die zwischen-

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menschliche Ebene übertragen. Unter diesem Gesichtspunkt wären die internationalen Beziehungen als vollkommene Anarchie anzusehen, als ein erbitterter Kampf ausschließlich ums Überleben, in dem sich jede Nation mit allen Mitteln und Kräften zu behaupten hätte. Diese radikale Deutung erklärt auch die von den chinesischen Intellektuellen wortmächtig propagierte Vorbildfunktion des deutschen Militarismus: Das scheinbar unaufhaltsame Vordringen der deutschen Truppen sollte als erfolgversprechendes Vorbild für ein China dienen, das von den Kolonialmächten zerstückelt, ja ausgelöscht zu werden drohte. Militarismus wurde als das geeignete Rezept für ein Land wahrgenommen, dessen Bürger oft als „kranke Männer Ostasiens“ verspottet wurden. In seinem umfangreichen Aufsatz „Militarismus“ erklärt Liu Shuya mit klaren Worten und unter Bezugnahme auf Schopenhauers Begriff vom „Willen zum Leben“ die Notwendigkeit des Militarismus: Warum ist heute so oft von Militarismus die Rede? Wegen des Willens zum Leben. Denn alles Leben stammt von diesem Willen und streitet um Raum, Zeit und Ressourcen, so dass dadurch der Lebenskampf entsteht. [. . .] Der Wille zum Leben ist der Ursprung der Welt, der Lebenskampf das Zentrum der Evolution. Der Staat besteht aus diesem Willen zum Leben. Militarismus ist die Spitze des Lebenskampfs. [. . .] Um das eigene Volk und Land zu schützen, kann der Staat von heute keinen anderen Weg nehmen als den Militarismus. Um nicht von anderen unterworfen zu werden, kann er kein anderes Mittel einsetzen als den Militarismus. (Liu 1916b, 166)

Dem Militarismus wird insofern eine zwingende Notwendigkeit zugesprochen, damit das eigene Volk erhalten bleibt: Ist das reine Überleben das höchste Gebot in einer anarchistischen Weltlage, wo die Konkurrenz die Kooperation unmöglich macht, muss man mit militärischen Maßnahmen das eigene Existenzrecht verteidigen. Daher solle das deutsche Kaiserreich, das Liu zufolge „das stärkste Land auf der Welt“ sei, wieder „der Spiegel für uns“ werden (Liu 1916b, 167). Die solchermaßen behauptete Vorbildfunktion des deutschen Militarismus wird nicht nur theoretisch, sondern auch historisch begründet. Vor allen Dingen wird der Aufstieg Preußens gerne als Beweis herangezogen. Im oben zitierten Aufsatz umreißt Liu Shuya ferner mit stilistischem Raffinement den Frieden von Tilsit, den Preußen und Russland im Juli 1807 unter großem Zugzwang mit Napoleon unterzeichnen mussten: Wirft man einen Blick in die Geschichte, wird man sehen, dass Deutschland vor einem Jahrhundert noch viel schwächer und viel ärmer war als das heutige China. [. . .] Die mächtigen Truppen Napoleons zogen durch das Land und marschierten bis in den Norden. Dort im Norden fiel Königin Luise vor Napoleon auf die Knie und flehte ihn tränenvoll an – aber vergeblich. Der Sieger schenkte ihr kein Mitleid, so dass sie ihre bitteren Tränen herunterschlucken und Preußen in den Frieden von Tilsit einwilligen musste. Wegen dieses Friedens verlor Preußen die Hälfte von seiner Landfläche und Bevölkerung,

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musste eine Reparation in Höhe von 1.300 Millionen Franken zahlen, musste ferner die Größe seines stehenden Heers einschränken und durfte die Obergrenze von 42.000 Soldaten nicht überschreiten. Darüber hinaus hatte Preußen weiteren ungerechten Verträgen Folge zu leisten. Die erlittenen Demütigungen, Schmerzen und Verluste waren zehnfach so groß wie bei den Verträgen von Ja-Wu und Geng-Zi. (Liu 1916b, 168)

Gemäß dem Vertrag von Ja-Wu im Jahre 1885, auch Friedensvertrag von Shimonoseki genannt, und dem Vertrag von Geng-Zi, darin im Jahre 1901 die Boxerentschädigung festgelegt wurde, musste China, ebenfalls wie das geschlagene Preußen, erniedrigende Bedingungen akzeptieren, unermessliche Zahlungen als Reparation leisten und den Kolonialmächten beträchtliche Teile seiner Souveränität wie etwa das Justiz- und Zollrecht preisgeben. Mögen die historischen Vergleiche in konkreten Statistiken einiges an Genauigkeit zu wünschen übriglassen, so lassen sie doch die Argumentationslogik der chinesischen Intellektuellen deutlich werden. Die historische Parallele zwischen China und Preußen, insbesondere der vergleichbare Ausgangspunkt, macht das Aufstiegspotential einer „verspäteten“ Nation durch den Weg des Militarismus plausibel. Bewusst wird die Erfolgsgeschichte Preußens gegen den erbärmlichen Zustand des unter den Warlords leidenden Chinas ausgespielt, um die Vorbildfunktion des deutschen Militarismus nochmals zu akzentuieren. Denn der „Hauptgrund für die Stärke Deutschlands“ liege Liu Shuya zufolge in einem umfassenden Militarismus, der auch kulturelle und geisteswissenschaftliche Bereiche einschließt. Als Träger dieser in jedwede Szene des intellektuellen Lebens eingedrungenen kriegerischen Mentalität werden u. a. Heinrich von Treitschke, Friedrich Paulsen, Rudolf Eucken und Gerhart Hauptmann genannt, wobei die beiden Letzteren jenes berüchtigte „Manifest der 93“ mitunterzeichnet haben, das mit dem Titel „An die Kulturwelt“ gewaltig erklärt: „Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur längst vom Erdboden getilgt. [. . .] Deutsches Heer und deutsches Volk sind eins“ (vgl. Huang 2016).

5 Kritik des deutschen Militarismus Allerdings hatte die Weltgeschichte bereits bewiesen, dass die unglückliche Kombination von Militarismus und Nietzsches Philosophie verheerende Konsequenzen hat. Der Bruch mit jeglichen normativen Traditionen und die Verabsolutierung des subjektiven Willensausdrucks kann zur Vernachlässigung der Rechte anderer führen. Auf die internationale Ebene übertragen, rechtfertigt es der auf Sozialdarwinismus basierende Militarismus, mit kriegerischen Mitteln rücksichtslos all das zu erobern, was zum eigenen Überdauern unabdingbar

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erscheint. Ab 1917 erkannten die chinesischen Intellektuellen allmählich, dass, wenn die Deutschen ihre aus dieser gefährlichen Mischung abgeleitete Weltpolitik konsequent durchgesetzt hätten, China als eine noch ziemlich schwache Nation sein Lebensrecht recht schnell verlieren würde – oder wie Liu Shuya selbst formuliert: Unsere Jugend muss sich klarmachen: Die Deutschen haben unser Volk nur deshalb noch nicht aus der Welt getilgt, weil die Umstände es ihnen nicht erlaubten. Wenn aber eines Tags die Flugschiffe ostwärts hierher flögen, könnte eine einzige Division innerhalb von wenigen Monaten uns alle vierhundert Millionen Chinesen mit größter Leichtigkeit auslöschen. (Liu 1916a, 98)

Neben der Einsicht in die verheerenden Konsequenzen eines uneingeschränkten Militarismus haben die chinesischen Intellektuellen um die Neue Jugend nach und nach auch die dahinterstehende rassistische Ideologie der Führungseliten des Deutschen Kaiserreichs erkannt. Selbst Liu Shuya, dieser ursprünglich so wortkräftige Propagandist des Militarismus, musste mit Erschrecken zur Kenntnis nehmen, dass die großen Köpfe der deutschen Wissenschaft ebenfalls Befürworter eines sozialdarwinistisch geprägten Rassismus waren. In seinem Aufsatz „Europäischer Krieg und das Bewusstsein der Jugend“ schreibt Liu: Das größte Schrecknis für den Verfasser war jene Erklärung von R. Eucken und E. Haeckel, in der sie die Briten schonungslos verrissen haben. [. . .] Als der Europäische Krieg ausbrach, schrieben Eucken und Haeckel gemeinsam einen Aufruf und warfen den Briten öffentlich vor, trotz ihres teutonischen Stolzes die gelbe Rasse mit in den Krieg zu ziehen und mit einem halbasiatisch-halbbarbarischen Volk, nämlich den Russen, ein Bündnis zu schließen, um der eigenen Rasse Schaden zuzufügen. [. . .] Russland sei halbbarbarisch, weil es halbasiatisch sei – dies ist zwar eine feindliche Verleumdung, aber die Verachtung gegenüber unserem Ostasien und unserer gelben Rasse ist nicht zu verkennen. Ach! Wenn die großen Denker schon solch eine Ansicht vertreten, werden die Politiker und Kriegsmänner uns Ostasiaten noch als Menschen betrachten? (Liu 1916a, 97)

Liu nimmt hier Bezug auf die „Erklärung“ von Eucken und Haeckel, die diese am 19. August 1914 in vielen deutschen Zeitungen abdrucken ließen. Zwar kommt in diesem Text die Formulierung „gelbe Rasse“ nicht vor, allerdings stellen die beiden Verfasser doch fest: Aber was heute geschieht, ist doch das Stärkste von allem, es wird in den Annalen der Weltgeschichte dauernd als eine unauslöschliche Schande Englands bezeichnet werden. England kämpft zu Gunsten einer slawischen, halbasiatischen Macht gegen das Germanentum; es kämpft auf der Seite nicht nur der Barbarei, sondern auch des moralischen Unrechts [. . .]. (Eucken und Haeckel 1914)

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Hinter diesem Einwand gegen die Briten steht offenbar ein tiefverwurzelter Rassengedanke, dessen Echo sogar ins tausend Meilen entfernte China reichte. Anfang 1917 fasst Chen Duxiu in seinem Aufsatz „Die Außenbeziehung zu Deutschland“ zusammen: „Die weiße Rasse betrachtet unser Volk so, wie der Mensch Hunde und Pferde betrachtet. Insbesondere übertreiben die Deutschen ihren Patriotismus und nehmen überhaupt keine Rücksicht auf andere Völker“ (Chen 1917, 1). Da der mit Sozialdarwinismus und Rassenideologien vermengte Militarismus eine reale Bedrohung für China darstellt, soll sich die anzueignende Kriegsmentalität gegen den Lehrmeister richten. Daher spricht sich Chen entschieden für den Kriegseintritt gegen die Mittelmächte aus: Der einzige Faktor für das Überleben eines Landes ist die militärische Kraft. [. . .] Wenn wir uns widerstandslos unterwürfen und die Schmach nur feige ertrügen, würden die kämpferischen und ehrbaren Deutschen, die die Macht am meisten schätzen, es nicht tolerieren, dass wir noch unter den Menschen fortexistierten, selbst wenn wir jeden Tag vor ihnen knien würden. (Chen 1917, 3)

Neben dem rassistisch geprägten Militarismus wurde auch verstärkt Kritik an der Philosophie Nietzsches geübt. Die Außerkraftsetzung regulierender gesellschaftlicher Normen ermöglicht zwar die freie Entgrenzung der Subjektivität und realisiert die Emanzipation des Individuums. Jedoch kann die amoralische Handlungsmaxime auch dazu führen, das Recht anderer zu ignorieren und sogar einen unbedingten Machtanspruch gegenüber allen eigentlich Gleichberechtigten zu erheben. Eine einseitige, verabsolutierende Deutung der Philosophie Nietzsches, insbesondere jener verführerischen Begriffe des „Willens zur Macht“ oder des „Übermenschen“, bahnt den Weg zur imperialistischen Machtbesessenheit und Hegemonie. Diese Gefahr der verhängnisvollen Verschmelzung von Militarismus, Sozialdarwinismus und einer auf den „Willen zur Macht“ fixierten ideologischen Auslegung der Philosophie Nietzsches haben die Autoren der Neuen Jugend auch im Laufe der Zeit deutlich erkannt. So schreibt Hu Shi in seinem in dieser Zeitschrift abgedruckten Tagebuch: Die größte Gefahr von heute ist ein Nationalismus im engsten Sinne, der meint, dass das eigene Land über allen anderen stehen soll, und das eigene Volk ebenfalls. (So heißt es in der deutschen Nationalhymne: Deutschland, Deutschland, über alles.) Man scheut nicht, alle Mittel, die zu diesem egoistischen Zweck führen könnten, einzusetzen, selbst wenn dabei ein anderes Land vernichtet oder ein anderes Volk zerstückelt werden würde. [. . .] Man bildet sich ein, die Gewalt wäre das geltende Gesetz zwischen den Nationen, und das internationale Recht bedeutete nichts anderes, als dass die Schwächeren zum Futter für die Stärkeren dienten. (Hu 1917b, 345)

Zitiert wird hier die Eingangszeile des „Lieds der Deutschen“ von Hoffmann von Fallersleben, die heute offiziell nicht mehr gesungen wird. Hu Shi stellt in

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dieser Passage die Logik des Machtgedankens bloß, die um der eigenen Priorität und Vorreiterstellung willen die ethischen und juristischen Regulierungen außer Acht lässt und das Recht der Anderen untergräbt. Hu Shi führt ferner die Wurzel dieses radikalen Anspruchs auf die Philosophie Nietzsches zurück, die seiner Meinung nach jegliche moralische Kultur unter dem Vorwand des „Überlebens“ dezidiert ablehnt: Derjenige, der am lautstärksten die Philosophie der Macht vertrat, war der Deutsche Nietzsche. [. . .] So sagt er, dass der Sinn des Lebens nicht im Leben an sich liege, sondern im Willen zur Macht. Das Ziel der Menschheit bestehe demgemäß auch darin, eine Gesellschaft von „Übermenschen“ zu konstruieren. Die „Übermenschen“ seien die starken Menschen. Alle schwachen gehörten zu den Auszurottenden. Man solle diese vertilgen, vernichten, so dass keine Nachkommen überlebten. Die Welt gehöre den Stärkeren. Die sogenannte Moral sowie Gesetz, Mitleid und Frieden dienten nur dem Schutz der Schwächeren vor der zermalmenden Macht der Stärkeren, seien also die großen Feinde der Menschheit. [. . .] Seit Nietzsches Lehren gibt es keine Ethik mehr auf der Welt. (Hu 1917b, 345–346)

Auch Cai Yuanpei, der ehemalige Dekan der Peking Universität (Abb. 5), welche die Wiege der 4.-Mai-Bewegung war, hat an der fragwürdigen Kombination von Militarismus und Nietzsches Philosophie Anstoß genommen. In seinem Aufsatz „Der Europäische Krieg und die Philosophie“ schreibt Cai: Die Weltanschauung Nietzsches ist also ein reiner Wille, der sich ausschließlich an der Macht orientiert. Deshalb sagt er: „Es gibt kein Gesetz. Es gibt keine Ordnung.“ Seine Lehren sind aristokratisch anstatt demokratisch, daher wurden sie von der aristokratischen Regierung Deutschlands ausgenutzt und in den Dienst des Militarismus gestellt. Auch wurde überall laut ‚Deutsche über alles‘ gesungen – das ist doch die Lehre vom „Übermenschen“. [. . .] Verträge waren wertloses Papier – das ist doch eine Lehre jenseits des Rechts. Überblickt man die Politik des deutschen Kaiserreichs während der Kriegszeit, würde man nichts finden, was nicht mit Nietzsches Philosophie übereinkäme. (Cai 1918, 379)

Sowohl Hu Shi als auch Cai Yuanpei haben erkannt, dass die Theorie Nietzsches vom Militarismus sozialdarwinistisch gedeutet wurde, um die eigene Hegemonie und den kriegerischen Weg dahin zu legitimieren. Der Individualismus verzerrt sich zum Egoismus der Nation, die Kritik an veralteter Kulturtradition zur Nivellierung der regulierenden Instanzen, die Entfesslung der Subjektivität zu unkontrollierten Gewalttaten. Deshalb stellt Tao Lügong, der etliche Beiträge an die Neue Jugend geliefert hat, Anfang 1919 fest: „Der Militarismus ist eine absurde Idee, weil sie schon den Keim ihrer Niederlage in sich enthält, weil sie das Leben und den Wert des Lebens verneint“ (Tao 1919, 40–41). Insofern lässt sich beobachten, dass sich die ursprüngliche Begeisterung für den deutschen Militarismus und für die Philosophie Nietzsches schon hier in Kritik gewandelt hat.

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Abb. 5: Gruppenfoto von Jiang Menglin (1886–1964), Cai Yuanpei (1868–1940), Hu Shi (1891–1962) und Li Dazhao (1889–1927).

6 Soziale Revolution und Marxismus Aber die scharfe Kritik am Militarismus und Nietzsches Philosophie bedeutet noch nicht, dass Deutschland und seine Vorbildfunktion für China insgesamt in Frage gestellt würden. Neben dem von Militarismus und rassistischen Ressentiments geprägten Kaiserreich tritt ein weiteres Deutschland hervor, das wegweisend für die zukünftige Entwicklung Chinas sein soll. Das ist das Deutschland des Sozialismus und Marxismus. Für die chinesischen Intellektuellen war das Ende des Ersten Weltkriegs nicht der Sieg einer militärischen Koalition über eine andere, sondern die Ablösung des deutschen Militarismus durch den deutschen Sozialismus. Chen Duxiu schreibt im Oktober 1918 in seinem Aufsatz „Der VonKetteler-Bogen“: „Wir feiern jetzt nicht den militärischen Sieg der Entente über die Mittelmächte, sondern den politischen Fortschritt Deutschlands“ (Chen 1918b, 370). Und in seiner heute viel gelesenen Rede „Der Sieg des Bolschewismus“, die Li Dazhao unmittelbar nach dem Kriegsende auf dem Platz des Himmlischen Friedens hielt, vertritt er dieselbe Ansicht: Der wahre Grund für die Beendigung des Kriegs besteht nicht etwa darin, dass die Entente die Mittelmächte militärisch besiegt hat, sondern darin, dass der deutsche Sozialis-

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mus den deutschen Militarismus überwunden hat. [. . .] Diese große Errungenschaft [. . .] ist das Werk von Liebknecht, von Scheidemann, vor allem aber das Werk von Marx. Wenn wir diese entschiedene Weltveränderung feiern, sollen wir vor allem den Triumph der Demokratie über die Monarchie, den Triumph des Sozialismus über den Militarismus feiern. (Li 1918, 365–366)

In dieser berühmten Rede entwirft Li Dazhao, dieser erste große Verfechter des kommunistischen Ideals in China, ein zweifaches Deutschlandbild: auf der einen Seite jener früher vielgepriesene, jetzt aber am Boden liegende Militarismus, auf der anderen Seite Demokratie und Sozialismus. Letztere bedeuten für Li Dazhao zweifelsohne die Hoffnung auf eine neue Welt. Das Interesse für die sozialistische Bewegung in Deutschland war schon immer präsent in den ersten Jahrgängen der Neuen Jugend. Beispielsweise hat Li Yimin schon im zweiten Heft des ersten Jahrgangs den Aufstieg der SPD geschildert, der sich im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts trotz der Unterdrückung durch die preußischen Behörden vollzog (Li 1915b, 151). Die Neue Jugend war aber auch das Organ der Neue-Kultur-Bewegung und der literarischen Revolution und hat in dieser Funktion Meisterwerke der Weltliteratur teils übersetzt, teils durch Kommentare und Inhaltsangaben bei den chinesischen Lesern bekannt gemacht. Zu den in der Zeitschrift präsentierten ausländischen Literaturströmungen gehört auch der deutsche Naturalismus. In seinen Tagebuchauszügen stellt Hu Shi unter anderem Die Weber von Gerhart Hauptmann als ein Werk vor, das eine revolutionäre Situation dramatisch vergegenwärtigt. Hu Shi beschreibt die einzelnen Szenen aus diesem Stück, fasst die Thematik unter der Überschrift „Die Ungleichheit zwischen Arm und Reich“ zusammen und bemerkt, dass die Darstellung der Armut unter den Webern „einen wirklich zum Weinen bringt“. Am Ende seiner Einführung stellt Hu Shi fest: Es gehört zu der Erkenntnis einer neuen Zeit, dass die Kluft zwischen Armut und Reichtum von menschlichem Tun herrührt, und dass diese darum von Menschen abgeschafft werden kann. Jetzt wissen die Arbeiter, dass sie mit geeinter Kraft die Kapitalisten in die Enge zwingen. Deshalb haben sie sich verbündet und setzen alles aufs Spiel, nur um sich zu retten. (Hu 1917a, 357)

Durch landeskundliche und literarische Vermittlung haben also wesentliche Momente des Sozialismus in China Fuß gefasst. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und unmittelbar vor der 4.-Mai-Bewegung war das Deutschlandbild in der Neuen Jugend deshalb immer noch positiv besetzt, weil es nun von Sozialismus und Marxismus geprägt war. Für die chinesischen Intellektuellen war Deutschland immer noch das große Vorbild, aber es ist ein anderes Deutsch-

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land als das des Militarismus. Exemplarisch hierfür ist das fünfte Heft des sechsten Jahrgangs, das im Mai 1919 erschien. In dieser von Li Dazhao herausgegebenen Ausgabe, die im Nachhinein „Sonderheft Marxismus“ genannt wurde (Abb. 6), sind viele einführende Texte über Marx und seine Theorie veröffentlicht, darunter der berühmte Aufsatz des Herausgebers mit dem Titel „Meine Ansicht über den Marxismus“ (Li 1919). In diesem Text stellt Li Dazhao den Geschichtsmaterialismus und die Lehre vom Klassenkampf vor und übersetzt Auszüge des Kommunistischen Manifests aus der japanischen Übertragung von Hajime Kawakami (1879–1946) ins Chinesische. Li Dazhao wirbt für einen Arbeiterzusammenschluss sowie für die soziale Revolution und betrachtet das Volk als den eigentlichen Protagonisten des gesellschaftlichen Fortschritts: Gemeinsam verfassten Marx und Engels das Kommunistische Manifest, in dem sie lautstark die Arbeiterklasse aller Welt aufrufen, sich zu vereinen und den Kapitalismus zu untergraben. Erst dann weiß man, dass der Sozialismus ohne das Volk nie realisiert werden kann. Das ist ein großes Verdienst des Marxismus. (Li 1919, 468)

Seit dem Erscheinen dieses Sonderheftes verlagerte sich der Fokus der Neuen Jugend nach und nach auf jenes Land, in dem der Marxismus seither praktiziert wurde. Vom achten Jahrgang 1920 an wurde die Neue Jugend zur offiziellen Publikation der kurz zuvor in Shanghai gegründeten „Marxistischen Gruppe“, aus der dann die Kommunistische Partei Chinas hervorging. Es wurden zahlreiche Beiträge aus der amerikanischen Zeitschrift Soviet Russia übersetzt. Li Dazhao selbst rief an der Peking Universität eine „Gesellschaft zum Studium des Marxismus“ ins Leben und widmete sich der Verbreitung des Marxismus in China. Und das Deutschland der Weimarer Republik, das gerade den Spartakusaufstand unterdrückt und den Kapp-Putsch abgewehrt hatte, verschwand allmählich aus dem Horizont der Neuen Jugend.

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Abb. 6: Das Marxismus-Sonderheft der Neuen Jugend.

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Militarismus, Nietzsche und die soziale Revolution

Bildquellen Abbildungen 1, 2, 5, 6

Lu Xun Museum (Beijing New Culture Movement Memorial)

Abbildungen 3, 4

Rara-Zeitschriften-Abteilung der Bibliothek der Peking Universität

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Qin Mingrui

Hu Shis politische Einstellung und seine Reformideen um die Zeit der 4.-MaiBewegung 1 Zur Person von Hu Shi Hu Shi wurde am 7. 12. 1891 als Sohn Hu Chuans, eines Beamten der späten Qing-Dynastie, in einem Distrikt der Provinz Jiangsu geboren, der heute zur Stadt Shanghai gehört. 1893 ging er, kaum zwei Jahre alt, mit seiner Mutter zu seinem Vater nach Taiwan, der dort als lokaler Verwaltungsbeamter arbeitete. 1894 kehrte er mit der Mutter zum Herkunftsort der Eltern nach Süd-Anhui zurück. Denn die Situation war nach dem Ausbruch des Sino-Japanischen Seekrieges in jenem Jahr in Taiwan nicht mehr sicher. Ein Jahr später starb sein Vater. In Anhui besuchte Hu Shi private Schulen, bis er 1904 von der Mutter nach Shanghai geschickt wurde, um dort bis 1910 die Mittelschule zu besuchen. 1910 wurde er durch eine Prüfung als Regierungsstipendiat für ein Studium in den USA ausgewählt. Er ging im selben Jahr in die USA und begann mit dem Studium der Agrarwirtschaft an der Cornell University, wo er fünf Jahre später dann allerdings einen Masterabschluss in Philosophie erlangte (vgl. Hu 1998a, 3–5). Im Jahr 1915 begann er mit der Promotion bei John Dewey im Fach Philosophie an der Columbia University. Er legte die Doktorprüfung im Jahr 1917 ab und kehrte danach gleich nach China zurück. Den Doktortitel erhielt er allerdings erst zehn Jahre später, da er seine Dissertation erst im Jahr 1927 in Shanghai drucken ließ, der Columbia University dann 100 Exemplare zur Verfügung stellte und somit erst die Bedingung für die Verleihung des Doktortitels erfüllte (vgl. Hu 2003, 507). Nachdem Hu Shi seine Alma Mater verlassen hatte, wirkte er von 1917 bis 1938 als Professor für Philosophie und Literaturwissenschaft an der Peking Universität. Diese Jahre waren die wissenschaftlich ertragreichsten seines Lebens, publizierte er doch in dieser Zeit zahlreiche Artikel und Aufsätze sowie seine wichtigen Bücher wie Philosophiegeschichte der chinesischen Antike (entstanden im Jahr 1918), Eine komplette Ideengeschichte des chinesischen Mittelalters (entstanden 1920–1930), Eine kleine Ideengeschichte des chinesischen Mittelalters (entstanden im Jahr 1932).1

1 Chinesischsprachige Titel und Zitate in diesem Beitrag wurden vom Verfasser selbst ins Deutsche übersetzt. Open Access. © 2021 Qin Mingrui, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110682427-005

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Es folgten wechselhafte Jahre. Nach einem Intermezzo als Botschafter der Republik China in den USA von 1938 bis 1942 arbeitete Hu Shi zunächst bis 1946 in verschiedenen Institutionen in Amerika, u. a. in der Library of Congress und an der Harvard University, kehrte im Juli 1946 wieder nach China zurück, wo er bis 1948 Rektor der Peking Universität war, und ging dann im April 1949 von Shanghai aus in die USA, um dort Unterstützung für die Beendigung des Bürgerkrieges in China zu erlangen. Allerdings war er dabei erfolglos. Er blieb in Amerika und arbeitete u. a. als Direktor der Bibliothek des Instituts für Ostasienwissenschaften der Princeton University. 1957 wurde Hu Shi für den Nobelpreis vorgeschlagen. Er hat diesen Preis aber nicht erhalten. Im April 1958 siedelte er von Amerika nach Taiwan um, um dort die Funktion des Präsidenten der Zentralen Akademie zu übernehmen. Am 24. Februar 1962 starb er in Taiwan an einem Herzinfarkt.

2 Hintergrund der Neue-Kultur-Bewegung Das Leben und Wirken von Hu Shi erschließt sich vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund, der maßgeblich von den Opiumkriegen geprägt war.2 Die Niederlagen stellten auch die Politik des Kaiserhofs und der konfuzianisch gebildeten Beamtenschaft in Frage, hatten doch der Kaiser und seine Gefolgsleute China bis dahin selbstherrlich als die größte Macht und die chinesische Zivilisation als aller Welt überlegen angesehen. Nun aber wurde das Land zweimal von Kriegsschiffen und Kanonen der westlichen Mächte in die Knie gezwungen, so dass der militärisch-technische Rückstand Chinas gegenüber dem Westen nicht länger zu übersehen war. Um ihn zu überwinden, wurde die Verwestlichungsbewegung eingeleitet,3 man lernte dabei allerdings nur im technisch-industriellen Bereich vom Westen. Im politisch-kulturellen Bereich beharrte man auf der chinesischen Tradition, in der Meinung, dass „das zivilisatorische wie das militärische System Chinas demjenigen der Westler weit überlegen und nur Chinas

2 Erster Opiumkrieg, auch First Anglo-Chinese War genannt: 1840–1842; Zweiter Opiumkrieg, auch The Arrow War oder Anglo-French Expedition to China genannt: 1856–1860. 3 Diese Bewegung verlief zwischen den 1860er und 1890er Jahren. Ihre Vertreter kamen sowohl aus dem Kreis der Zentralregierung als auch aus dem Kreis der mächtigen lokalen Herrscher. Zum ersteren gehörten u. a. der Ministerpräsident und Verteidigungsminister Yi Xin (1833–1898) und sein Stellvertreter Wen Xiang (1818–1876); zum letzteren gehörten u. a. Zeng Guofan (1811– 1872, Feldherr der Militäreinheit der Provinz Hunan), Zuo Zongtang (1812–1885, General der Militäreinheit und Minister der Regierung der Provinz Hunan), und Li Hongzhang (1823–1901, Feldherr der Militäreinheit der Provinz Anhui und Handelsminister der Zentralregierung).

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Waffen denen des Westens weit unterlegen waren“ und dass „China folglich vom Ausland lernen müsste, scharfe Waffen herzustellen, wenn es sich selbst doch stark machen wollte“ (zitiert nach HCGN, 160). Doch schon vor dem Sturz der letzten Kaiserdynastie im Jahr 1911 und der Gründung der Republik China im Jahr 1912 wurden Stimmen immer lauter, die sich nun auch gegen das traditionelle politisch-kulturelle System Chinas richteten. Die Neue-Kultur-Bewegung, die mit der Gründung der „Zeitschrift für die Jugend“ 《青年杂志》 ( ) durch Chen Duxiu im September 1915 begann und direkt in die 4.-Mai-Bewegung mündete,4 nahm dann den Antifeudalismus in ihr Programm auf und setzte sich zum Ziel, Demokratie und Wissenschaft westlicher Ausrichtung in China einzuführen. Die Einführung von Demokratie und Wissenschaft sollte nach Vorstellungen der Vertreter der Neue-Kultur-Bewegung dem Zweck dienen, die rückständige chinesische Tradition durch jene beiden fortschrittlichen Institutionen zu ersetzen. Und hier nun kommt Hu Shi ins Spiel, der ein Mitstreiter der Neue-Kultur-Bewegung neben Chen Duxiu, Li Dazhao, Lu Xun und anderen war.5 Da es diesen Intellektuellen darum ging, die traditionelle chinesische Gesellschaft grundlegend zu erneuern, sei diese Gesellschaft nachfolgend kurz umrissen. Sie enthielt im Wesentlichen folgende Elemente: 1) Kaiserlich-dynastisches Herrschaftssystem mit einem bürokratischen Verwaltungssystem (vgl. HCGN, 160 und 271–292). Seit der Gründung der Qin-Dynastie im Jahr 221 v. Chr. hatte sich ein Herrschaftssystem in China herausgebildet, in dem der Kaiser die höchste Macht im Reich besaß und diese Macht innerhalb der Familie des Kaisers vererbt, das heißt in der Regel an einen Sohn des Kaisers weitergegeben wurde. Der Herrschaftsstab im Kaiserhof bestand aus drei Personengruppen: engen Verwandten des Kaisers, Hochgebildeten und wichtigen Führern der Militäreinheiten. Zwischen Ende des 6. und Beginn des

4 Chen Duxiu (1879–1942) kam aus der Provinz Anhui, studierte von 1901 bis 1903 und von 1905 bis 1907 in Japan. Er arbeitete von 1916 bis 1919 als Professor für Geisteswissenschaften und Dekan der Fakultät für Geisteswissenschaften an der Peking Universität. 1921 gründete er die Kommunistische Partei Chinas mit Li Dazhao und Mao Zedong. Er starb im Mai 1942 in Sichuan. 5 Li Dazhao (1889–1927) kam aus der Provinz Hebei, studierte von 1913 bis 1916 in Japan und arbeitete seit 1916 als Professor für Wirtschaftswissenschaft und Direktor der Zentralbibliothek der Peking Universität. 1921 gründete er die Kommunistische Partei Chinas mit Chen Duxiu und Mao Zedong. 1927 wurde er auf Befehl des Warlords Zhang Zuolin festgenommen und hingerichtet. Lu Xun (1881–1936) kam aus der Provinz Zhejiang, studierte von 1902 bis 1909 in Japan und arbeitete von 1920 bis 1926 als Professor für Literatur an der Peking Universität. Er galt als eine der führenden Figuren der 4.-Mai-Bewegung und einer der wichtigsten chinesischen Literaturwissenschaftler und Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.

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20. Jahrhunderts (1905) fand ein staatliches Prüfungssystem Anwendung, mit dessen Hilfe Beamte rekrutiert wurden. Bei diesen Prüfungen, an denen jeder unabhängig von seiner Herkunft teilnehmen durfte, wurden Inhalte der klassischen chinesischen Philosophie – vor allem aber des Konfuzianismus – geprüft. Je nach erreichtem Grad und Prüfungsnoten konnten die Prüflinge für Ämter und Funktionen in der kaiserlichen Zentralregierung, in den Regierungen auf lokalen Ebenen sowie in staatlichen Verwaltungsstäben ausgewählt werden. 2) Konfuzianismus als staatstragendes ethisches System (vgl. Hou et al. 1980, 131–190 und 360–413; Wang 1984, 67–78). Seit Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. wurde der Konfuzianismus als staatstragendes ethisches System Chinas gepflegt. Er besteht als ethisches System hauptsächlich aus drei Grundregeln und fünf Grundtugenden. Die drei Grundregeln legen drei Herrschaftsverhältnisse fest: Der Monarch herrscht über seine Untertanen, der Vater über seinen Sohn und der Mann über seine Frau(en). In den fünf Grundtugenden wurden die moralischen Maßstäbe für sämtliche Beziehungen zwischen den Menschen in der traditionellen – man kann auch sagen feudalen – Gesellschaft ausgedrückt: Menschlichkeit, Pflichtgefühl, Anstand, Vernunft und Vertrauen. Der Konfuzianismus machte bis Anfang des 20. Jahrhunderts den Hauptinhalt der chinesischen Bildung aus und hat den Eliten in Politik und Bildung dazu gedient, die Gesellschaftsordnung in China aufrechtzuerhalten. 3) Patriarchalisch-patrimoniales Gesellschaftssystem (vgl. Wang 1984, 47–57 und 112–134). Die traditionelle chinesische Gesellschaft setzt sich aus Familien und Clans zusammen. In der Familie herrscht der Ehemann und Vater, im Clan dasjenige männliche Mitglied, das zur ältesten Generation unter den lebenden Clanmitgliedern gehört und zugleich hinsichtlich Bildung und Reichtum der angesehenste Mann des Clans ist. Das Familieneigentum – hauptsächlich aus Land und Haus bestehend – wurde unter den Söhnen als Erben gleich verteilt. Das Claneigentum – hauptsächlich aus Ahnentempel und Land bestehend – blieb Kollektivbesitz des Clans. Der Ahnentempel diente für Zeremonien der Ahnenverehrung, während das Land an die Mitglieder des Clans verpachtet wurde. Die Pachtgebühren wurden für die Veranstaltung der Aktivitäten des Clans, für die Unterstützung armer und hilfsbedürftiger Clanmitglieder, für die Förderung begabter Nachkommen des Clans und Ähnliches verwendet. Frauen hatten im Clan keinen eigenständigen Status. Ihre Stellung hing von den Positionen ihres Mannes und ihrer Söhne ab. In der Regel hatten die Frauen keinen Zugang zur Bildung, und ihre Erziehung diente vor allem dazu, später ihre Ehemänner und ihre Familien versorgen zu können, wobei die durch die grausame Praxis des

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Fußbindens entstandenen kleinen Füße symbolisch dafür stehen, dass Frauen sich nicht in weiten Räumen der Außenwelt, sondern nur im Haus zu bewegen hatten. 4) Autarke Naturalwirtschaft. Die traditionelle chinesische Gesellschaft bestand zu über 90 % aus Landbevölkerung, die jeweils aus Grundbesitzern, selbständigen Bauern und Pächtern von Ackerland bestand. Das Ackerland wurde für den Anbau von Getreide und Wirtschaftspflanzen (Hanf, Baumwolle usw.) verwendet. Die Agrarproduktion diente hauptsächlich der Deckung des Eigenbedarfs der Landbevölkerung. Von Abgaben der Landbevölkerung lebten die im Staatsdienst Arbeitenden; andere Stadtbewohner lebten vom Handel, Handwerk usw.

3 Hu Shis politische Einstellung 3.1 Kritische Einstellung gegenüber der Tradition und Plädoyer für die Einführung von Wissenschaft und Bildung westlicher Ausrichtung in China Die politische Einstellung von Hu Shi um die Zeit der 4.-Mai-Bewegung drückt sich im Wesentlichen in seinen Stellungnahmen zur traditionellen chinesischen Gesellschaft, zu den Hauptproblemen des damaligen Chinas sowie zu den Zielsetzungen der Neue-Kultur-Bewegung aus, die von den Hauptvertretern dieser Bewegung, vor allem von Chen Duxiu formuliert worden sind. Bereits in der ersten Nummer der „Zeitschrift für die Jugend“, die am 15. September 1915 in Shanghai herauskam, publizierte Chen Duxiu als Gründer dieser Zeitschrift einen Leitartikel, in dem er sechs programmatische Grundprinzipien für die Neue-Kultur-Bewegung formulierte. Diese Prinzipien lauteten: Das gesellschaftliche und politische Leben der Jugend soll demokratisch und nicht sklavenartig, progressiv und nicht konservativ, aktiv und nicht passiv, weltoffen und nicht auf Isolierung des eigenen Landes gerichtet, realitätsbewusst und nicht realitätsfern und schließlich wissenschaftlich und nicht spekulativ sein. In den Diskussionen der folgenden Jahre wurden diese Prinzipien in zwei Zielsetzungen der Neue-KulturBewegung zusammengeführt: nämlich der Einführung von Demokratie und Wissenschaft westlicher Ausrichtung in China. Um diese beiden Systeme in China einzuführen, musste man nach Chen Duxiu die chinesische Tradition abschaffen. Im Jahr 1918 schrieb er in Ausgabe 6.1 dieser Zeitschrift: Um die Herrin Demokratie zu unterstützen, ist man gezwungenermaßen gegen den Konfuzianismus, gegen die rituellen Gesetze, gegen den Zwang zum Keuschsein, gegen die

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alte Ethik und die alte Politik. Um die Wissenschaft zu unterstützen, ist man notwendigerweise gegen die Quintessenz der chinesischen Kultur und gegen die alte chinesische Literatur. (Zitiert nach Hu 2013a, 143–144)

Hu Shi stimmte darin mit Chen Duxiu völlig überein. Er bezeichnete wie Chen diese beiden Forderungen ironisch als „Sündenfälle“ der Neue-Kultur-Bewegung, weil sie der chinesischen Tradition widersprechen. Hu selbst behauptete, dass das Wesen der Neue-Kultur-Bewegung vor allem von der neuen Einstellung bestimmt wird, die bei verschiedenen Vertretern dieser Bewegung festzustellen ist. Diese neue Einstellung nannte Hu eine „kritisch-wertende Einstellung“, die folgende Merkmale aufweist: 1) Sie zweifelt daran, ob die institutionalisierten Sitten (z. B. die ethische Maxime „Die Frau hat dem Mann zu gehorchen“) heute noch gültig sind und weiter gelten sollen. 2) Sie hinterfragt, ob die Lehren der Weisen der Antike für die heutige Welt noch Bedeutung haben. 3) Sie zweifelt daran, ob die allgemein anerkannten Verhaltensweisen und -regeln sowie die Überzeugungen aus der Tradition richtig sind und ob sie nicht durch bessere ersetzt werden sollen. Hu meinte wie Friedrich Nietzsche, dass sich die Menschheit damals in einem Zeitalter des Wertewandels befand. Zu einem solchen Zeitalter gehörte in seinen Augen eben diese kritisch-wertende Einstellung. Als Erscheinungen des Wertewandels im damaligen China führte Hu auf: Die Bewertung der Frauen wandelt sich – früher wurden Frauen mit kleinen Füßen als schön angesehen, heute werden Fußbindungen als hässlich, ja als unmenschlich und grausam angesehen; die Einstellung zum Opiumrauchen hat sich verändert – noch vor 1910 wurde einem als Gast bei privaten Besuchen Opium angeboten, heute ist Opium jedoch streng verboten. Die Einstellung zu den Reformideen der Gruppe um Kang Youwei6 (z. B. die Idee, eine ideale Gesellschaft der großen Harmonie aufzubauen) gilt als veraltet, während sie 20 Jahre zuvor noch als absolut neue Ideen viele Menschen im Lande begeistern konnten. Wenn nun die kritisch-wertende Einstellung das zentrale Element der Neuen Denkströmung darstellt, so weist sie nach Hu in der realen Entwicklung zwei Tendenzen auf. Zum einen werden reale Probleme der Gesellschaft, der Politik, der Religion usw. diskutiert. Zum anderen werden neue Ideen und Ge-

6 Kang Youwei (1858–1927), chinesischer Denker und (Reform-)Politiker, war die führende Persönlichkeit bei der politischen Reform von 1898, die mit der Ermordung von sechs führenden Intellektuellen durch die kaiserliche Regierung endete.

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danken aus der Wissenschaft und Literatur des Westens sowie neue Ideologien aus dem Westen rezipiert. Hu nennt die beiden Tendenzen diejenige der Problembehandlungen und diejenige der Einführung westlicher Wissenschaften. Auf der Grundlage von Recherchen und Publikationen in den Zeitungen und Zeitschriften, die vor allem kurz vor 1919 gegründet worden waren, hat er die behandelten Hauptprobleme und die aus dem Westen eingeführten Ideen zusammengeführt. Hauptsächlich folgende Fragen und Probleme sieht Hu Shi als die wichtigsten Themen der Neue-Kultur-Bewegung an: 1) Die Frage nach der Bedeutung des Konfuzianismus in der traditionellen Gesellschaft und nach der Kaiserzeit, also nach 1911. 2) Die Frage der Literaturreform (neue Bewertung der klassischen chinesischen Werke sowie Plädoyer für das Schreiben in modernem Chinesisch). 3) Die Frage der Herausbildung und Verbreitung einer einheitlichen chinesischen Sprache, d. h. einer Standardsprache, die die Menschen in allen Gebieten des Landes mit verschiedenen Dialekten verstehen. 4) Die Frage der Frauenemanzipation. 5) Die Frage der tradierten Keuschheitsbestimmungen für Frauen. 6) Die Frage der Erziehung zum ritualkonformen Verhalten. 7) Die Frage der Bildungsreform (z. B. Schulpflicht für Mädchen). 8) Fragen über die Sitten und Bräuche von Partnerwahl und Heirat. 9) Die Probleme in der Regelung der Vater-Sohn-Beziehung; gemeint ist wohl vor allem die Regelung von Erbangelegenheiten und der Versorgung der arbeitsunfähigen Eltern. 10) Die Frage nach der Reform der theatralischen Darstellungsweise, womit vermutlich die Ersetzung des klassischen Theaters (z. B. der Pekingoper) durch ein Theater moderner Art gemeint ist (vgl. Hu 2013a, 144). Was die Einführung und Verbreitung westlicher Ideen und Lehren angeht, so stellte Hu fest, dass verschiedene neugegründete Zeitungen und Zeitschriften wie z. B. „Die Neue Jugend“, „Die Morgenzeitung“《晨报》 ( ), die „Allgemeine Bürgerzeitung“ 《国民公报》 ( ), die „Neuen Nachrichten“ 《时事新报》 ( ) usw. zahlreiche Aufsätze und Artikel publiziert haben, um die Werke, Ideen und Theorien von Ibsen, Marx, Kant, Hegel usw. vorzustellen und zu verbreiten. In Hus Analyse der Ursachen für das verbreitete Interesse an westlichen Ideen und Theorien drückt sich seine politische Einstellung antitraditionalistischer Prägung aus (vgl. Hu 2013a, 145–146). Er meinte, die chinesische Gesellschaft befinde sich in einer Phase des grundlegenden Wandels, in der die moralischen Institutionen, die jahrtausendelang für die Aufrechterhaltung der chinesischen Gesellschaftsordnung gesorgt hätten, nun vor großen Herausforderungen stünden. Sie seien dabei, in der neuen gesellschaftlichen Situation ihre alte Bedeutung zu verlieren. Mit den moralischen Institutionen meinte er vor allem die Maximen der konfuzianischen Lehre. Solange China eine geschlossene Gesellschaft, d. h. frei von westlichen Einflüssen war, kannte der Konfuzianismus als staatstragende, die Gesellschaftsordnung garantierende

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Lehre kaum politisch-ideologische Herausforderungen, die seine Autorität als Sittengesetz in Frage stellten. Aber spätestens seit den Opiumkriegen wurde der Einfluss westlicher Ideen philosophisch-kultureller Natur in China sichtbar. Er verstärkte sich sehr schnell und erlebte Anfang des 20. Jahrhunderts wohl eine Hochphase. Viele Intellektuelle und einige Politiker plädierten dafür, den Konfuzianismus durch einige zentrale Elemente der modernen westlichen Kultur (z. B. Ideen der Gleichheit, der Freiheit, der demokratischen Rechte) zu ersetzen. Daraufhin versuchten die überzeugten Konfuzianer, die Stellung des Konfuzianismus durch gesetzliche Garantien zu festigen. Aber diese Versuche haben heftige Widerstände auf Seiten der Reformer und Modernisierer hervorgerufen. Gegen 1915/1916 erlebten die Aktivitäten zur Verteidigung des Konfuzianismus den Höhepunkt, gleichzeitig waren die Stimmen gegen den Konfuzianismus auch am lautesten. In dieser Situation haben einige Intellektuelle die Quintessenz des Konfuzianismus sorgfältig analysiert. Die Ergebnisse ihrer Analysen haben viele Menschen von den negativen Wirkungen des Konfuzianismus und von seiner Inkompatibilität mit der gesellschaftlichen Situation der damaligen Zeit überzeugt, so dass sie nicht mehr an die überlieferte Idee glaubten, durch die konfuzianische Lehre eine harmonische Gesellschaft aufbauen zu können. Dieser Wandel der politischen Überzeugungen hat dazu geführt, dass ein Gesetzeserlass der Regierung von Duan Qirui7 im Jahr 1918, der den Konfuzianismus zur staatstragenden Ideologie erklärte, kaum Beachtung bei der Bevölkerung fand (vgl. Hu 2013a, 146). Was das Problem der Reform des Schriftchinesischen angeht, so engagierte sich Hu für die Ersetzung der klassischen chinesischen Schriftsprache durch das moderne Chinesisch. Sein Argument hing mit der Verbreitung des Rechts auf Bildung und auf Chancengleichheit zusammen. Bildung war, so Hu, in China seit Jahrtausenden nur einer kleinen Elite vorbehalten. Die schwer verständliche Schriftsprache diente dieser Elite und der kaiserlichen Beamtenschaft als Herrschaftsinstrument. Die Massen waren ohne Bildung, konnten diese Sprache nicht verstehen – und brauchten es auch nicht. Seit Beginn der modernen Zeitenwende jedoch war Bildung zu einem allgemeinen Recht des Bürgers geworden, und immer mehr Menschen bemerkten, dass die klassische Schriftsprache die Verbreitung der Bildung behinderte. Die klassische Schriftsprache unterschied sich weitgehend von der Alltagssprache und wurde nur in Lehrbüchern gebraucht. Aus diesem Grund waren fortschrittliche Intellektuelle wie Hu Shi und Chen Duxiu der Meinung, dass die klassische Schriftsprache durch eine moderne Schriftsprache zu ersetzen sei, die mit dem Hochchinesischen

7 Duan Qirui (1865–1936) herrschte 1916–1920 als praktischer Regierungschef der Nordchinesischen Regierung und 1924–1926 als Ministerpräsident der Republik China.

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identisch ist (vgl. Hu 2013a, 146). Man sollte sozusagen so schreiben, wie man auf Hochchinesisch spricht. Hu setzte sich für die Einführung von Wissenschaft und Bildung nach westlichen Maßstäben in China ein. Die Gründe und Motive dafür sind vielfältiger Natur. Aber das grundlegende Motiv war doch, dass man mit den alten chinesischen Wissenschaften unzufrieden war, die im Wesentlichen darauf gerichtet waren, die klassischen Texte des Konfuzianismus und des Daoismus auszulegen und zu interpretieren.8 Hingegen schien die geistige Kultur des Westens, also seine Wissenschaft und Bildung, vielen chinesischen Intellektuellen bei der Erklärung der Natur- und Gesellschaftsphänomene überzeugender zu sein. Hu plädierte mit einigen anderen Intellektuellen deswegen für die Einführung von Wissenschaft und Bildung westlicher Ausrichtung. Er unterschied ziemlich genau zwischen den Motiven, die verschiedene Gruppierungen von Intellektuellen dazu bewegten, diese Meinung zu vertreten. In seinen Augen erkannte ein Teil der Intellektuellen, dass es China nicht nur an technischen Produkten wie Kanonen, Kriegsschiffen, Telekommunikationsmitteln, Eisenbahn usw. mangelte, sondern auch an neuen Ideen, Gedanken und wissenschaftlichen Lehren. Deswegen waren sie für die Einführung der modernen Wissenschaft und Bildung aus dem Westen. Manche andere Intellektuelle bemühten sich um die Einführung und Verbreitung der westlichen Wissenschaft und Bildung, um dadurch der chinesischen Gesellschaft die Errungenschaften von Aufklärung und Kritik nahezubringen. Auf diese Weise wollten sie mit den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Ideen aus dem Westen die chinesische Gesellschaft reformieren oder sogar revolutionieren. Wieder andere Intellektuelle waren laut Hu unfähig, selbst wissenschaftliche Arbeit zu leisten. Sie versuchten, vom Übersetzen westlicher wissenschaftlicher Werke ins Chinesische zu leben. Sie plädierten für die Einführung westlicher Wissenschaft und Bildung, um solchermaßen ihr Einkommen als Übersetzer zu sichern. Gemeinsam war nach Hu aber allen diesen Intellektuellen die kritische Einstellung gegenüber der traditionellen chinesischen Bildung. Hu selbst allerdings wird man der erstgenannten Gruppe jener Intellektuellen zuordnen.

8 Kritik an der traditionellen Bildung Chinas hat Li Hongzhang, einer der größten Politiker der späten Qing-Zeit, schon im Jahr 1864 geübt. In einem Brief an den mächtigen Prinzen Yi Xin, mit dem er die Verwestlichungsbewegung geführt hat, beklagte er sich darüber, dass sich die Gelehrten und Beamten in China nur darum bemühten, klassische Texte zu studieren und Kalligraphie zu üben. Das, was sie lernen, sei völlig unnütz für die Bewältigung der Probleme der Gesellschaft, die infolge der Angriffe und Invasionen der westlichen Mächte immer komplizierter und dringender werden. Vgl. Jiang 2018, 59–60.

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Insgesamt sah Hu die Problemorientierung als den Hauptantrieb für die Neue Denkströmung an. Mit Problemen sind hier praktische gesellschaftliche Fragen wie Ungleichheit der Frauen, Analphabetentum und abergläubische Handlungen gemeint, nicht weniger jedoch auch Fragen ideologischer und makropolitischer Art. Als Beweis für das Desinteresse an Ideologien und Theorien der intellektuellen Welt nannte er die Reaktionen auf die Publikationen von chinesischen Gelehrten über die Mehrwerttheorie von Marx und über die Kritik der reinen Vernunft von Kant. Er stellte nämlich fest, dass diese Publikationen kaum Reaktionen hervorgerufen hatten. Hingegen fanden wissenschaftliche Lehren und Methoden des Westens, die der Lösung von praktischen gesellschaftlichen Problemen in China dienen konnten, große Aufmerksamkeit. Dazu gehörten sicherlich der Empirismus und der Pragmatismus, den Hu bei John Dewey kennengelernt und in China bekannt gemacht hat. Wenn nun Hu zufolge die kritische Einstellung den Geist der Neuen Denkströmung ausmacht, so plädiert er dafür, mit dieser Einstellung auch die gesamte chinesische Tradition kritisch und systematisch neu zu interpretieren. Hu war der Ansicht, dass es darum gehe, die Ideen und Gedanken der klassischen chinesischen Philosophie in ihrem jeweiligen Entstehungskontext zu durchdringen und aufgrund dessen zu beurteilen, welche von ihnen für die moderne Zeit wertvoll und welche wertlos oder gar verwerflich seien. Hu war mithin keinesfalls für eine totale Negation der traditionellen chinesischen Kultur bzw. für ihre komplette Ersetzung durch die westliche Kultur. Er definierte das Ziel der Neue-Kultur-Bewegung eher als „Rekonstruktion der Zivilisation“ (Hu 2013a, 150–151). Um dieses Ziel zu erreichen, müsse man gesellschaftliche und individuelle Probleme sukzessive lösen, dürfe aber nicht erwarten, dass man dies durch eine Revolution oder eine totale Erneuerung der Gesellschaft bewerkstelligen könne.

3.2 Konkrete Probleme lösen und große Ideologien verwerfen Hu Shi stellte fest, dass die chinesische Öffentlichkeit um 1919 vor der großen Gefahr stand, sich nur mit Ideologien zu beschäftigen, anstatt sich um das Gemeinwohl zu kümmern. In der Presse ging es meistens um Diskussionen über die Verehrung des Konfuzius, um die Opferzeremonien für den Himmel, um die militärische Stärke und um den Anarchismus als Ideologie. Hu warf den Teilnehmern an diesen Diskussionen vor, dass sie die eigentliche Aufgabe der Intellektuellen vergessen hätten, nämlich die gesellschaftliche Realität im Land zu beobachten und zu analysieren. Er plädierte dafür, alle Theorien und Ideolo-

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gien dazu zu verwenden, die realen gesellschaftlichen Probleme zu beschreiben und zu analysieren (vgl. Hu 2013a, 117). Er nannte die Diskussionen über Ideologien „leere Reden“. Über Ideologien zu reden, so Hu, sei zwar eine mühselige Arbeit, doch eine nutzlose Tätigkeit; es gleiche der Bemühung eines Arztes, nur Rezepte auswendig zu lernen, aber die Krankheitserscheinungen nicht genau zu analysieren und zu diagnostizieren. Die Ideologien, über die diskutiert wurde, seien alle in den westlichen Ländern entstanden. Nach Hu hätten sie dazu gedient, die aktuellen gesellschaftlichen Probleme des jeweiligen Landes zu erfassen und zu lösen. Da China aber vor ganz anderen Problemen stehe, sei es gefährlich für das Land, mit westlichen ideologisch-politischen Konzepten die chinesische Gesellschaft umzugestalten, um ihre Probleme zu lösen. Der Liberalismus z. B. hat laut Hu als Ideologie viele verwerfliche Handlungen in der Weltgeschichte befördert. Würde man diese Ideologie als politische Grundlage für die Umgestaltung der chinesischen Gesellschaft verwenden, so brächte man das Land nur in Gefahr (vgl. Hu 2013a, 118). Auch der Sozialismus wurde Hu zufolge in China ungenau verstanden und willkürlich interpretiert. Der Sozialismus als Begriff sei nicht im originalen Sinn von Marx verstanden, sondern von Intellektuellen und Politikern für eigene Zwecke umgedeutet und gebraucht worden. Hu rief deswegen dazu auf, die leeren Reden zu beenden und sich stattdessen der Bewältigung konkreter politischer und gesellschaftlicher Probleme zuzuwenden. Zu diesen Problemen rechnete Hu die Existenzfrage der Rikschafahrer, die Prostitution, die Frage der Integration Chinas in die Volksgemeinschaft, die Frage der Begrenzung der Amtszeit des Präsidenten sowie das Problem der Korruption und der Frauenemanzipation. Allerdings war Hu nicht der Meinung, dass man sich überhaupt nicht für Theorien und Ideologien interessieren solle. Vielmehr plädierte er dafür, die Theorien als Grundlage für die Erforschung und Analyse der realen gesellschaftlichen Probleme zu benutzen (vgl. Hu 2013a, 120). Er schrieb dazu: Meine Schlussfolgerung bleibt: Mehr die Probleme erforschen, weniger von Ideologien reden. Alle Ideologien und Theorien sollen selbstverständlich studiert werden, aber wir sollen sie als eine Art hypothetischer Ansicht studieren, doch nicht als absolute Wahrheiten oder als höchste Dogmen. Alle Ideologien und Theorien sollen als Referenz oder als Materialien für vergleichende Studien benutzt werden. (Hu 1981, 204)

Das Plädoyer für die Erforschung konkreter Probleme drückt zugleich die politische Einstellung von Hu Shi aus. In seinem Artikel „Mein Abweg“ schrieb er: Ich rede über Politik, nur um für meinen Pragmatismus zu sprechen . . . Pragmatismus ist auch eine Ideologie . . . Aber der Fokus des Pragmatismus ist auf konkrete Tatsachen und Probleme gerichtet, deswegen erkennt er keine grundlegenden Lösungen an. Er erkennt

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nur sukzessive Fortschritte, nur kluge konzeptionelle Überlegungen sowie eigenständige Versuche bei jedem Schritt als echte Evolution an. (Hu 2013b, 99)

Hu war schon als Oberschüler vom Evolutionismus begeistert. Während seiner Promotion bei John Dewey an der Columbia University war er dann vom Pragmatismus überzeugt und entwickelte aufgrund dessen seine politische Position für den Pragmatismus. Dabei ging es ihm darum, soziale Probleme wie Prostitution, Analphabetentum, Armut usw. zu lösen, ohne die Gesellschaftsordnung zu verändern, die in China halbkoloniale und halbfeudale Züge trug (vgl. Yang 1987, 48). Diese politische Anschauung von Hu hat eine Auseinandersetzung mehrerer Intellektueller mit ihm hervorgerufen, die vor allem marxistisch orientiert waren und seine politische Anschauung spöttisch als Reformismus bezeichneten. Der Reformismus von Hu setzte vor allem beim Marxismus an, der sich nach der Oktoberrevolution in China zu verbreiten begann. Hu war der Meinung, dass der Marxismus keine Theorie der objektiven Wahrheit, sondern nur eine unzulänglich begründete Ideologie sei. Daraus folgerte er, dass man in China keine Revolution führen solle, wie sie der Marxismus einforderte (vgl. Yang 1987, 48). Diese Ansicht wurde von den damals führenden Marxisten wie Li Dazhao, Qu Qiubai und anderen scharf kritisiert. Bei der Kritik von Li Dazhao an Hu ging es darum, dass die sozialen Probleme wie Unterdrückung der Frauen, Armut, soziale Ungleichheit usw. nicht gelöst werden können, ohne die Gesellschaftsordnung komplett zu erneuern. Li zufolge können die scheinbar konkreten und isolierten Probleme nur bewältigt werden, wenn die Mehrheit der Bevölkerung sie lösen wolle und bei ihrer Lösung mitwirke. Das erfordere eine Massenbewegung, die von einem gemeinsamen Ideal angetrieben werde. Und dieses Ideal kann seiner Meinung nach nur aus dem Marxismus hervorgehen. Aus diesem Grund setzte er sich für die Verbreitung des Marxismus in China ein und forderte, unter der erkenntnistheoretischen und methodologischen Anleitung der marxistischen Lehre die realen sozialen Probleme in China zu analysieren und zu lösen. Er betont dabei vor allem zwei Gesichtspunkte bei Marx. Zum einen weist er auf die Basis-Überbau-Lehre von Marx hin. Nach Lis Verständnis stellt die Wirtschaftsordnung, die aus Produktivkräften und Eigentumsverhältnissen besteht, die Basis der Gesellschaft dar, worauf andere Konstrukte wie das politische System, das Rechtssystem und das ethische System aufbauen.9 Gestaltet man die Wirtschaftsordnung um, so werden mithin

9 Li benutzt hier einfach nur Begriffe wie Wirtschaft, Wirtschaftsorganisation, Wirtschaftsstruktur usw., aber noch nicht den Begriff „Basis“, auch nicht die Begriffe Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse. Diese Begriffe werden hier von mir [M. Qin] sinngemäß eingeführt.

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auch diese Konstrukte umgestaltet. Werden die wirtschaftlichen Probleme bewältigt, so können auch die anderen Probleme im politischen System, im Rechtssystem, in Familie und Clan sowie Probleme der Frauenrechte und der Arbeiterrechte gelöst werden. Zum anderen betont er die Klassenlehre von Marx. Dabei postuliert er, dass die Gesellschaftsordnung nur grundlegend umgestaltet werden könne, wenn sich die Arbeiterklasse zu sozialen Bewegungen mobilisieren lasse (vgl. „Die Wochenschau“ 1919). Li kündigte eine grundlegende Lösung der gesellschaftlichen Probleme in China an und erklärte sich bereit, vorbereitende Aktivitäten dafür zu organisieren. Kaum zwei Jahre später gründete er mit Chen Duxiu, Mao Zedong u. a. die Kommunistische Partei Chinas, die in der Tat die Arbeiterschaft und die Bauernschaft zu Revolutionen mobilisieren und organisieren konnte, was zur Gründung der Volksrepublik China geführt hat. Ein anderer marxistisch gesinnter Intellektueller namens Qu Qiubai übte ebenfalls Kritik an Hus Pragmatismus. Nach ihm findet der Pragmatismus in China Verbreitung, weil die bürgerliche Klasse eine solche Ideologie braucht. Er ist der Meinung, dass philosophische Denkströmungen Produkte der Zeit sind, also immer dann entstehen, wenn das vorhandene Gesellschaftssystem erschüttert ist. Wenn ein altes Gesellschaftssystem von einem neuen ersetzt werde, sei dies als eine Folge des Klassenkampfes zu verstehen. Die geistigen Auseinandersetzungen dabei würden dementsprechend von Klasseninteressen bestimmt. Die Verbreitung des Empirismus und Pragmatismus in China um die Zeit der 4.-Mai-Bewegung war deswegen für Qu kein Zufall, weil diese Zeit nach einer neuen Welt- und Lebensanschauung verlangte. Nach den Opiumkriegen, so seine These, wurde die patriarchalische Gesellschaftsordnung durch den internationalen Kapitalismus erschüttert und die neu entstandene bzw. entstehende Ordnung bürgerlicher Art bedurfte ideologischer Unterstützung. Empirismus und Pragmatismus konnten mit ihren positiven Effekten diesem Bedarf gerade gerecht werden. Qu bezeichnete die Einführung und Verbreitung dieser Lehren deswegen als eine ideelle Revolution der Dritten Klasse, also der bürgerlichen Klasse. Für diese Klasse konnten diese Ideologien als ein revolutionäres Instrument dienen, da sie das Handeln des Bürgertums zu entfesseln vermochten: Während der Konfuzianismus mit seinen ethischen Idealen des Junzi (des edlen Menschen), die die literarische Bildung und den Dienst für das Gemeinwohl betonen, Handlungen zur Verwirklichung des Eigeninteresses verwirft, motivieren der Empirismus und der Pragmatismus vor allem die bürgerliche Klasse zu eigennützigen

Daran zeigt sich, dass Li den Marxismus bis dahin nur über einige wenige Sekundärliteratur grob kannte.

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Handlungen ohne jegliche ideologische Bedenken. Man sollte sich auf die Lösung von konkreten Problemen konzentrieren, pragmatisch handeln und arbeiten, ohne an Ideologien zu denken, so Hu. Und das bedeutet nach Qu für die bürgerliche Klasse, dass man das Eigeninteresse frei verwirklichen kann und soll. Qu stimmte zwar mit Hu darin überein, dass sich China als ein kulturell zurückgebliebenes Land in einer Situation der internationalen Konkurrenz befand und empirisches und pragmatisches Wissen brauchte, um konkurrenzfähig zu werden. Aber zugleich meinte er, das Land brauche auch wissenschaftliche Theorien wie vor allem die marxistische Gesellschaftstheorie, die es erlaubten, die gesellschaftliche Situation in China grundlegend zu analysieren. Aus dieser Analyse könne nur resultieren, dass die etablierte Gesellschaftsordnung revolutionär umgestaltet werden müsse (vgl. Yang 1987, 50–52).

4 Hu Shis Reformideen 4.1 Vorschläge zur politischen Reform Am 13. Mai 1922 publizierte Hu mit 15 anderen in China einflussreichen Intellektuellen, darunter zehn Professoren der Peking Universität, einen Text mit dem Titel „Unsere politischen Meinungen“ (vgl. Hu 2013a, 291–292). Darin kommen die Ideen von Hu zur politischen Reform in besonders klarer Weise zum Ausdruck. Wie oben erwähnt, gab es zu dieser Zeit in China verschiedene ideologische Strömungen und dementsprechend politische Überzeugungen und Zielsetzungen bei verschiedenen intellektuellen Gruppierungen. Volksdemokratismus, Gilde-Sozialismus, Anarchismus und andere Denkrichtungen gehörten zu den geläufigsten ideologischen Denkrichtungen. Hu rief ohne Parteinahme für irgendeine Ideologie alle Gruppierungen dazu auf, die Präferenzen für ein bestimmtes politisches System aufzugeben und sich auf ein ganz kleines Ziel der politischen Reform zu einigen, nämlich ein „gutes Regime“ zu schaffen. In Übereinstimmung mit dieser Zielsetzung sollten sich alle Parteien zusammenschließen, um gegen die „bösen Kräfte“ im Lande zu kämpfen (vgl. Hu 2013a, 291). Was ein gutes Regime ist, darüber hat Hu eine ziemlich genaue Vorstellung. Er definiert ein solches Regime in positiver wie in negativer Hinsicht. In negativer Hinsicht gehöre es zu einem guten Regime, dass es Instanzen umfasst, die Kader und Beamte kontrollieren und gesetzwidrigen Handlungen vorbeugen bzw. diese bestrafen können. In positiver Hinsicht muss ein gutes Regime zwei Bedingungen erfüllen. Erstens muss es danach streben, dass alle

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seinen Instanzen und Institutionen für das Wohl aller Gesellschaftsmitglieder arbeiten. Zweitens muss es die individuelle Freiheit garantieren und die Persönlichkeitsentwicklung der Gesellschaftsmitglieder fördern. Konkret sprach er drei Forderungen für politische Reformen aus. Erstens muss das Regime aufgrund einer Verfassung regieren, denn nur wenn die Politik auf der Verfassung basiert, kann sie berechenbar sein. Zweitens müssen die Arbeiten der Regierung (einschließlich der Finanz- und Personalangelegenheiten) öffentlich bekanntgegeben und kontrolliert werden, damit keine gesetzwidrigen Handlungen unbestraft bleiben. Drittens müssen die politischen Arbeiten der Regierung auf Planung basieren, weil Hu glaubte, dass die Planlosigkeit einen großen Mangel des chinesischen politischen Systems darstelle und jede Planung besser sei als das blinde Herumtasten in der Politik (vgl. Hu 2013a, 291). Hu stellte fest, dass China in den ersten Jahren nach der Gründung der Republik, also ungefähr zwischen 1912 und 1917/1918, eine friedliche und prosperierende Zeit erlebt hat, in der die politische und gesellschaftliche Ordnung relativ stabil war, da die „schlechten“ und korrupten Kader und Beamten aus der Kaiserzeit die Politik verlassen hatten und nicht mehr so viel Schaden für die Gesellschaft anrichten konnten wie vorher.10 Aber um 1917 wurden die „guten“ Politiker der Politik müde und inaktiv, so dass die „schlechten“ Politiker wie Cao Rulin wieder in die Politik zurückkehren konnten. Hu führte eine Reihe negativer Ereignisse jener Zeit auf die Passivität der gut gesinnten Politiker und Intellektuellen einerseits und das Aktivwerden der schlecht Gesinnten andererseits zurück. Zu diesen Ereignissen zählte er die Teilung des Landes in verschiedene Herrschaftsgebiete der Warlords, den Verlust der Äußeren Mongolei,11

10 Als Beispiel nennt er den Fall Cao Rulin. Cao (1877–1966) studierte in Japan und war ein Verfechter der konstitutionellen Monarchie. Er war seit 1904 stellvertretender Außenminister der Qing-Dynastie. Nach dem Sturz der Qing-Dynastie durch die Revolution von 1911 wurde er im August 1913 stellvertretender Außenminister der Regierung von Yuan Shikai (1859–1916), der von Peking aus als Präsident der Republik das Land beherrschte. Seit 1916 war er Verkehrsminister, Außenminister, Finanzminister usw. 1915 verhandelte er als Regierungsvertreter mit den Japanern über die sogenannten 21 Ansprüche der Japaner, nahm im Namen der Regierung mehrmals Kredite von japanischen Banken und gab den Japanern als Gegenleistung dazu die Provinz Shandong als Quasi-Kolonie. Er wurde wegen dieser Entscheidungen als Landesverräter angesehen, und sein Haus wurde während der 4.-Mai-Bewegung in Brand gesetzt. Er sperrte sich danach in seiner Wohnung ein und studierte in aller Ruhe Verfassungslehre. Aber etwas später, als die laut Hu „schlechten“ Politiker wieder in die Politik zurückkamen, übernahm er wieder verschiedene Regierungsämter. 11 Nach der Revolution von 1911 haben sich verschiedene Provinzen, darunter eben die heutige Äußere Mongolei (Mongolische Volksrepublik) für von der Qing-Dynastie unabhängig erklärt. Mehrere Regierungen der Republik China haben danach versucht, die Äußere Mongolei

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den Verkauf von Shandong,12 den Krieg in Südwestchina.13 Er rief die gut gesinnte Elite des Landes auf, in der Öffentlichkeit energisch für die Wiedererlangung der Einheit des Landes, für Frieden und politische Reformen einzutreten (vgl. Hu 2013a, 292). Konkret schlägt er vor: a. Die Herrscher im Norden und Süden sollen offen und ehrlich über die Einheit Chinas miteinander verhandeln, aber nicht heimlich und hinterlistig die Gegenseite zu schwächen versuchen. b. Die Friedensverhandlungen sollen unter folgenden Bedingungen geführt werden: – Das Parlament, das im Jahr 1917 aufgelöst worden war, muss wieder eingeführt werden. – Das Parlament soll dann eine Verfassung erlassen. – Die Friedensverhandlung soll einen Abrüstungsplan verabschieden, der innerhalb einer bestimmten Zeitfrist verwirklicht werden muss. – Alle Inhalte der Friedensverhandlungen sollen öffentlich bekanntgegeben werden. c. Eine strenge Reform des Beamtenwesens soll durchgeführt werden, die vor allem das Problem der permanten Erhöhung der Kader- und Beamtenzahl zu lösen hat. Konkret sind folgende Reformmaßnahmen zu ergreifen: – Die Zahl der Kader und Beamten sowohl auf der Ebene der Zentralregierung als auch auf der Provinzebene sind strikt einschränkend festzulegen und auch einzuhalten.

wieder in das Land zu integrieren. Diese Versuche scheiterten nicht zuletzt wegen der militärischen Unterstützung Sowjetrusslands für die Äußere Mongolei. Vgl. HCGN, 502–511. 12 Im Jahr 1918 erhob die japanische Regierung der chinesischen Regierung gegenüber Ansprüche auf verschiedene Rechte (etwa das Recht auf den Bau von Eisenbahnlinien, auf Erschließung von Erzressourcen, auf das Betreiben von Telekommunikationswesen usw.) in China, denen vom Regierungschef Duan Qirui (1865–1936), einem Warlord, zugestimmt wurde. Aufgrund dieser Zustimmung verlangte Japan bei der Verhandlung des Versailler Friedensvertrags die Übernahme der deutschen Kolonie in Shandong. Die Aufnahme dieses Anspruchs in den Versailler Vertrag empörte viele Chinesen, die eine Entkolonialisierung Chinas anstrebten, und führte mit anderen Faktoren zusammen zum Ausbruch der 4.-Mai-Proteste. Vgl. HCGN, 494–495. 13 Im Dezember 1915 krönte sich Yuan Shikai, Präsident der Republik China, zum Kaiser, was viele Menschen, vor allem aber Politiker und Intellektuelle empörte, die die Revolution von 1911 getragen hatten. Mehrere Provinzen erklärten sich daraufhin für unabhängig von seiner Herrschaft. In der Südwestprovinz Yunnan gründeten mehrere Warlords und Politiker unter der Führung von Cai E (1882–1916) die sogenannte Landesverteidigungsarmee, um durch militärische Angriffe die Herrschaft von Yuan Shikai zu stürzen. Yuan befahl seinen Truppen, diese Armee zu vernichten, musste aber eine Reihe von militärischen Niederlagen einstecken und am 22. März 1916 abdanken. Vgl. HCGN, 483–484.

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– Die politischen Berater chinesischer wie ausländischer Herkunft sollen alle entlassen werden, bis auf einige wenige Experten, die das Land wirklich dringend braucht. – Man soll von den Beamtenrekrutierungssystemen der westlichen Länder lernen und die in öffentlichen Diensten Beschäftigten in zwei Kategorien einteilen, nämlich in die Kategorie der lebenslang Angestellten, also der Beamten, und in diejenige der auf Zeit Beschäftigten. Die Beamten sollen durch strenge Fachprüfungen rekrutiert werden, sonst darf niemand Beamter werden. d. Das Wahlsystem soll dringend reformiert werden. Erstens soll die direkte Wahl des Staatspräsidenten das herkömmliche Wahlsystem ersetzen, in dem die gewählten Kongressmitglieder den Präsidenten bestimmten. Zweitens sollen in Anlehnung an die Wahlgesetze westlicher Länder strenge Strafmaßnahmen gegen Wahlfälschungen eingeführt werden. Zudem soll die Zahl der Kongressmitglieder und auch die Mitgliederzahl der Parlamente auf der Provinzebene radikal reduziert werden. e. Was die Reform des Finanzwesens angeht, so soll erstens die Buchhaltung aller Regierungs- und Verwaltungsebenen öffentlich kontrollierbar sein und kontrolliert werden. Zweitens soll der Staat aufgrund der Situation der Steuereinnahmen die öffentlichen Ausgaben festlegen. Hinzuzufügen wäre hier ein Vorschlag von Hu zur Eindämmung der Korruption, den er einige Jahre später gemacht hat (vgl. Hu 1998b, 26). Hu vertrat die Ansicht, dass die Korruption in China dringend zu bekämpfen sei. Die Trennung von Privatem und Öffentlichem wurde nur selten praktiziert, so dass das Streben nach privaten Vorteilen zum Nachteil der öffentlichen Interessen, also Vetternwirtschaft und Korruption, gang und gäbe war. Hu war der Meinung, dass der Mensch von Natur aus egoistisch sei und man keine Lösung dieser Probleme durch Entwicklung einer öffentlichen Moral bei den Kadern und Beamten erwarten könne, jedenfalls nicht so schnell. Er sah es deswegen als dringend notwendig an, dass man Gesetze und Regelungen erlässt, durch die die Handlungen der Kader und Beamten kontrolliert werden könnten. Er meinte, eine solche Lösung entspreche auch der traditionellen chinesischen Philosophie, die mit der Parole „Man sollte immer zuerst annehmen, dass der Mensch eher ein gemeiner Mann ist als ein edler Mensch“ Ordnungsentwürfe vorziehe, die Kontrolle vor Vertrauen und Moral stellten.

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4.2 Vorschläge zur Modernisierung der Infrastruktur In einem anderen Artikel diskutiert Hu Shi eine Publikation des zeitweiligen Kulturattachés der amerikanischen Botschaft in China Arnold und macht dabei Vorschläge zur Modernisierung von Chinas Infrastruktur (vgl. Hu 1998b, 23–24). Sie wurden freilich erst einige Jahrzehnte später realisiert, nämlich in der Reformphase seit Ende der 1970er Jahre. Arnold behauptete, dass China vor drei zentralen Problemen stehe: Erstens müsse China dringend ein Eisenbahnnetz aufbauen, um die wichtigen Städte und Gebiete miteinander zu verbinden. Zweitens müsse China dringend das Bildungs- und Ausbildungswesen aufbauen bzw. erweitern und modernisieren, um qualifizierte Arbeitskräfte ausbilden und somit die Produktivkräfte erhöhen zu können. Drittens müsse ein Kontrollsystem vor allem für die Arbeit der Kader und Beamten entwickelt werden, damit Korruptionshandlungen bestraft bzw. eingedämmt werden könnten (vgl. Hu 1998b, 23). Nach Arnold war China in der Entwicklung meilenweit von den USA entfernt, eben weil China diese drei Probleme nicht gelöst habe. Um den Rückstand Chinas zu veranschaulichen, verglich Arnold die Landflächen, die Gesamtlänge der Eisenbahnlinien sowie die Gesamtzahl der motorisierten Fahrzeuge der beiden Länder (vgl. Hu 1998b, 23). Dabei stellte er fest, dass die Landfläche von China zwar größer als diejenige von Amerika war, aber die Länge seiner Eisenbahnlinien gerade 1/36 derjenigen von den USA ausmachte, das Zahlenverhältnis der motorisierten Fahrzeuge in China und in den USA 1/1000 und dasjenige der Straßenlänge 1/100.14 Angesichts der Rückstände Chinas gegenüber den USA und anderen westlichen Ländern stimmte Hu den drei Reformvorschlägen von Arnold völlig zu. Er führte ausführliche Beweise für diese Rückständigkeit an, um auf die Dringlichkeit der Reform hinzuweisen. Was die Verkehrslage, vor allem die Konstruktion der Eisenbahnlinien angeht, so meinte er, China könnte nur wieder ein einheitliches Land werden, wenn alle seine Gebiete mit der Eisenbahn zugänglich seien. Er nannte verschiedene Beispiele und Phänomene, um zu zeigen, dass China wegen des Mangels an Eisenbahnlinien kein einheitliches modernes Land sein konnte. Im Jahr 1926 kam z. B. ein Vertreter der Handelskammer der Provinz Gansu von Nordwestchina zu einer Tagung nach Peking. Um die Strecke von etwa 1800 Kilometern zurückzulegen, hat er 104 Tage, also 2500 Stunden gebraucht.

14 Heute, also etwa 90 Jahre später, sehen die Verhältnisse ganz anders aus. Auf chinesischen Straßen fuhren 2016 ca. 30 Millionen Fahrzeuge mehr als auf amerikanischen Straßen, und die Länge der elektrifizierten Eisenbahnstrecken in China machte 53mal diejenige in den USA aus.

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Und zum Vergleich: Mit dem Flugzeug von Paris nach Peking brauchte man damals gerade 63 Stunden. Ein anderes Beispiel: Wenn jemand von der südwestlichen Provinz Yunnan nach Shanghai reisen wollte, musste er wegen des Fehlens einer Eisenbahnverbindung in China zuerst nach Vietnam fahren, um von dort aus das Schiff zu nehmen, wobei er ein französisches Visum brauchte, da Vietnam damals Kolonie von Frankreich war. Mit ziemlich großer Aufregung kommentierte Hu diese Zustände: „Die anderen fliegen schon über den Ozean, wir kriechen aber noch auf dem Boden!“ (Hu 1998b, 24). Zum zweiten wies Hu auf viele Fakten hin, die besagten, dass China im technischen Bereich dringend Fortschritte machen müsste, um den Vorsprung der westlichen Länder aufzuholen. Zu diesen Fakten gehörten vor allem Rückstände im Telekommunikationswesen und im Verkehrswesen. Er führte wiederum verschiedene Beispiele an. So konnte man, um eine Nachricht im damaligen China zu senden, nur ein Telegramm schicken, das mindestens 1,4 Silber-Yuan (chinesische Währung von damals) kostete und dennoch nicht garantiert ankam, während man in England für umgerechnet 6 Silber-Yuan ein Radio-Abonnement für ein ganzes Jahr erwerben und damit frei Radio hören konnte. Die Arbeiter der westlichen Länder kamen schon mit motorisierten Fahrzeugen zur Arbeit, und ihre Kinder wurden auch schon im Auto zur Schule gebracht, während hochrangige Kader – also Angehörige der Oberschicht – in China noch mit der Rikscha zur Arbeit fuhren. Um diese Probleme überhaupt lösen zu können, so Hu Shi, müsste man eine psychische Hemmung überwinden und zugeben können, dass China in jeder Hinsicht rückständig war gegenüber dem Westen: nicht nur hinsichtlich der Technik und der materiellen Entwicklung, sondern auch hinsichtlich der politischen, gesellschaftlichen und moralischen Entwicklung (vgl. Hu 1998b, 27). Sich dieser Erkenntnis anzuschließen stellte damals für viele Chinesen ein Problem dar. So erwiderte ein bekannter Professor der Peking Universität namens Gu Hongming auf die Kritik, die Chinesen seien unzivilisiert, weil sie spuckten, in der Nase bohrten, überall urinierten, sich nicht duschten, die Mädchen zum Fußbinden zwängen usw., viele Europäer würden auch ähnliche Dinge tun und die technische Entwicklung habe den Europäern die Kriegführung erleichtert, was zum grausamen Töten im Ersten Weltkrieg – im damaligen China Europäischer Krieg genannt – geführt hätte. Technik sei deswegen auch nicht nur positiv zu bewerten (vgl. Lin 1998, 17–20). Überhaupt dominierte, so Hu, zu jener Zeit in China eine Atmosphäre der Kritik an der westlichen Zivilisation, wobei diese mit der Parole „Nieder mit dem Imperialismus!“ total abgelehnt wurde. Hu vertrat aber die Meinung, dass die Rückständigkeit Chinas und die großen Probleme im Lande zunächst jedoch nicht auf die Invasionen der westlichen Länder zurückzuführen seien, sondern genuin auf die

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chinesische Kultur selbst, also auf die alte Literatur, auf die alten Gedankensysteme und auf die alte Moral und Religion. Um seine These zu stützen, verweist er auf die japanischen Verhältnisse. Japan, so Hu, habe auch unter Invasionen der westlichen Länder gelitten und habe zwangsläufig auch viele ungleiche Verträge mit ihnen schließen müssen. Aber dennoch sei es durch innenpolitische Reformen und durch Lernen vom Westen so stark geworden, dass seine freie Entwicklung nicht mehr aufzuhalten war.

5 Schlusswort Als Hu Shi geboren wurde, befand sich China in einer Zeit großer Veränderungen. Einige westliche Mächte hatten das Land schon teilweise kolonialisiert und waren immer noch dabei, ihre Interessen in China durchzusetzen. Die letzte Kaiserdynastie war durch mehrere Kriege mit den westlichen Ländern und durch innerchinesische Aufstände und Revolutionen angeschlagen und versuchte mit allen Mitteln, den Umsturz zu verhindern. Die politische Elite und viele Intellektuelle verteidigten die Dynastie in der Regel zwar nicht, sondern rangen um einen Ausweg aus der krisenhaften Situation Chinas, die von Unterdrückung durch die westlichen Länder sowie durch Spaltung, Armut und kulturelle Rückständigkeit bestimmt wurde. Die Stärkung Chinas war ihr verbindendes Ziel. Über Wege und Mittel zur Erreichung dieses Zieles gab es allerdings verschiedene Ansichten. Sie reichen von der Übernahme der technisch-industriellen Errungenschaften des Westens über politische Reformen (z. B. die Einführung von Elementen des modernen westlichen politischen Systems) bis hin zu Forderungen nach dem revolutionären Sturz der Kaiserdynastie. Als Kind lebte Hu auf dem Lande und nahm wohl nur wenig von der Situation Chinas wahr. Aber bereits ab dem 13. Lebensjahr konnte er als Mittelschüler in Shanghai ein Bewusstsein von der prekären Situation des Landes gewinnen und auf dem Wege der Lektüre die westliche Gesellschaft kennenlernen. Als er dann mit 19 Jahren zum Studium nach Amerika ging, wurde er unmittelbar mit der westlichen Gesellschaft sowie der westlichen Kultur und Wissenschaft konfrontiert. Auf Grundlage dieser Erfahrungen entwickelte er seine politische Einstellung und seine Ideen zur Reformierung der chinesischen Gesellschaft, die seine Arbeit und sein Wirken nach der Rückkehr in China dann leiteten. Politisch strebte er nach Einführung von Wissenschaft und Demokratie westlicher Ausrichtung. Da die Republik China formal zwar schon eine parlamentarische Demokratie etabliert hatte, der allerdings aus verschiedenen Gründen

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(Bürgerkriege, Restauration, Machtkämpfe, Korruption) kaum Erfolg beschieden war, versuchte er darauf hinzuwirken, durch Verhandlungen die Bürgerkriege zu beenden und die Landeseinheit wiederherzustellen, Korruption zu bekämpfen, ein gutes Regime sowie eine schlanke und funktionierende Verwaltung aufzubauen. Indessen wandte er sich strikt gegen jede Revolution, die aufgrund irgendeiner Ideologie zustande gebracht werden sollte. Innerhalb einer ruhigen und stabilen demokratischen Gesellschaftsordnung, so Hus Plan, sollten dann in allen Gesellschaftsbereichen Reformen verwirklicht werden. Die traditionellen Bildungsinhalte sollten durch moderne wissenschaftliche Inhalte ersetzt werden, eine moderne Infrastruktur sollte aufgebaut, die Frauenemanzipation befördert, Analphabetentum beseitigt und Armut bekämpft werden. Die Ideen und Publikationen von Hu Shi hatten großen Einfluss auf die Neue-Kultur-Bewegung und die 4.-Mai-Bewegung. Auch wenn die Geschichte nach der 4.-Mai-Bewegung anders verlief, als Hu Shi sich das erhofft hatte, wächst sein Einfluss seit ca. 40 Jahren in China deutlich. Vieles, was er und die Intellektuellen seiner Generation erreichen wollten, ist heute Realität geworden. So zählt z. B. die Infrastruktur im heutigen China wohl zu den besten Verkehrssystemen der Welt. Andere Ziele, die Hu Shi und die Protagonisten der 4.-Mai-Bewegung formulierten, wurden (noch) nicht erreicht. Mit Hu Shi könnte man schließen, dass China auf dem zukünftigen Weg seiner Entwicklung die westlichen Gesellschaften und ihre Organisationsformen weiterhin studieren sollte (vgl. Hu 1998b, 3–4).

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Fang Bo

Variation zwischen Aufklärung und Revolution: Kant oder Marx? 1 Obwohl in der etablierten Geschichtsschreibung bereits angenommen wird, dass die 4.-Mai-Bewegung im weiteren Sinne die Neue-Kultur-Bewegung (1915–1919) und die Studentenbewegung, die am 4. Mai 1919 ausbrach, umfasst, gibt es auch andere Perspektiven der Forschung, in denen von zwei völlig heterogenen Ereignissen gesprochen wird. Hu Shi, einer der wichtigsten Repräsentanten der NeueKultur-Bewegung, kritisiert beispielsweise schon früh, dass die 4.-Mai-Bewegung eine politische Störung für die Kulturbewegung darstelle und die kulturelle Bewegung in eine politische Bewegung verwandle (vgl. Hu 1998, 352). Auch Zhu Xueqin argumentiert, dass der Ausbruch der 4.-Mai-Bewegung darauf hindeute, dass die radikalen politischen Ideen aus Japan und Russland den gemäßigten angloamerikanischen Liberalismus überwältigt hätten (vgl. Zhu 1999, 63). In einer ähnlichen, aber weiter verbreiteten Einschätzung hat Li Zehou in den 1980er Jahren von einer Überwältigung des Aufklärungsgedankens durch die Ideen der nationalen Erlösung gesprochen. Li Zehou zufolge lässt sich der Ausbruch der 4.-Mai-Bewegung als ein Hinweis darauf ansehen, dass die aktuelle Dringlichkeit der nationalen Erlösung schließlich die ursprüngliche Absicht der Neue-Kultur-Bewegung, nämlich die Volksaufklärung, dominiert. Infolgedessen seien die radikalen revolutionären Ideen und deren Praxis zum Hauptthema der modernen chinesischen Geschichte geworden. Mithin habe die historische Entwicklung, so Li, eine Kreisbewegung ausgeführt. Sie begann mit dem Aufklärungsanspruch der Neue-Kultur-Bewegung, aber endete wieder mit der Rückkehr zur konkreten und heftigen politischen Veränderung. Politik, und darüber hinaus revolutionäre politische Positionen, die Gesellschaft radikal zu verändern, sind in den Mittelpunkt gerückt. (Li 1987, 26)

Obwohl Li Zehou sich der prekären internationalen und inländischen Situation Chinas zu dieser Zeit bewusst ist und die unvermeidliche Ausrichtung der chi-

Ein Teil dieses Aufsatzes über Kant ist auf Chinesisch in meiner Arbeit „Recht und Aufklärung: Kants doppelte Widerlegung der Revolution“ (2019) veröffentlicht worden [Übersetzung des Titels ins Deutsche, wie auch aller anderen chinesischsprachigen Titel und Zitate in diesem Beitrag, durch den Verfasser]. Open Access. © 2021 Fang Bo, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110682427-006

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nesischen Geschichte auf die Revolution mit Sympathie versteht, enthält sein Urteil darüber immer noch eine eindeutig persönliche Einstellung. Li Zehou zufolge haben die radikalen revolutionären Ideen und ihre Praxis zwar das Problem der politischen Einheit und Unabhängigkeit in China gelöst, aber auch zu einer Reihe neuer Schwierigkeiten geführt. Deshalb müsse die zukünftige wohlgeordnete Entwicklung Chinas auf den Weg der Aufklärung im Sinne der Gedankenemanzipation zurückkehren. Der Titel seines späteren Dialogs mit Liu Zaifu bringt diese Position deutlich zum Ausdruck: Abschied von der Revolution (Li und Liu 2004). Nach diesem Paradigma sind Revolution und Aufklärung eindeutig als gegensätzliche Positionen anzusehen. Bei der Beantwortung der Frage nach der Begründung dieses Gegensatzes greift Li Zehou auf die empirische Beschreibung der modernen Geschichte Chinas zurück: In solchen heftigen, anstrengenden und langfristigen politischen und militärischen Kämpfen, in den sogenannten Klassen- und Nationalkämpfen ums Überleben, fordert die Revolution sicherlich weder Aufklärungspropaganda wie Freiheit und Demokratie, noch ermutigt und befürwortet sie solche Ideen der individuellen Freiheit und persönlichen Würde. Im Gegenteil hebt sie immer hervor, dass alles den antiimperialistischen revolutionären Kämpfen untergeordnet werden muss, betont also die eiserne Disziplin, den einheitlichen Willen und die kollektive Gewalt. Im Vergleich dazu sind die Rechte jedes Einzelnen, die persönliche Freiheit, die individuelle Selbständigkeit und Würde usw. unbedeutend und unrealistisch geworden. Das individuelle Ich ist hier unbedeutend, es verschwindet. (Li 1987, 33–34)

Li Zehous Aussage über die 4.-Mai-Bewegung und die moderne Geschichte Chinas, die mit der offiziellen Erzählung nicht übereinstimmt, hat aus unterschiedlichen Gründen viele Kritiken hervorgerufen. Abgesehen von der ideologischen Verschiedenheit besteht die Kernfrage immer darin: Steht die Aufklärung notwendigerweise im Gegensatz zur Revolution? Ist der Entwurf der Aufklärung als Mittel zur Beseitigung der Mängel der alten Verfassung und zur Einrichtung einer idealeren politischen Ordnung dem revolutionären Weg in jedem Fall überlegen? Als einer der wichtigsten Interpreten von Kants Philosophie in China in den 1980er Jahren ist Li Zehou offensichtlich von Kant stark beeinflusst, obwohl er nicht ausdrücklich auf Kants Erläuterung in Bezug auf die Widerlegung der Revolution verweist. Die Kritik an Li Zehou kommt hingegen hauptsächlich von marxistischen Gelehrten. Aus praktischer Sicht bezieht sich der Streit hinsichtlich der Interpretation der 4.-Mai-Bewegung eigentlich weiterhin darauf, wie die Geschichte Chinas seit 1978 zu erklären ist und welche Richtung künftig zu wählen ist. Aber theoretisch gesehen, wenn wir hier die Aufklärung nicht auf bestimmte politische Ansprüche beschränken, sondern als Selbstemanzipation und Selbstverwirklichung des Menschen verstehen, so wie es der Titel eines Li Zehou kritisierenden Aufsatzes, nämlich „Aufklärung in der Revolution: Das Erwachen des

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Volks, die Volksdemokratie und die soziale Transformation“ (Liang 2017), zum Ausdruck bringt, dann verbirgt sich dahinter eigentlich der Widerstreit von zwei theoretischen Positionen in Bezug auf das Verhältnis zwischen Revolution und Aufklärung, deren prominenteste Vertreter Marx und Kant sind. In dieser Arbeit möchte ich versuchen, zunächst die Position von Li Zehou aus der Perspektive von Kants Philosophie zu erläutern und dann auf dieser Grundlage zu analysieren, weshalb die marxistischen Gelehrten normalerweise zur Kritik dieser Position neigen. Während Kant glaubt, dass die politische Revolution nicht die Reform der Denkungsart des Menschen fördern kann, neigt Marx eher zu der Ansicht, dass die Aufklärung des Menschen im Sinne der Selbstverwirklichung unmöglich ist, wenn nicht zuvor die sozialen Verhältnisse oder die sozialen Strukturen, in denen die Menschen leben, durch Revolution verändert worden sind.

2 Kants Widerlegung der politischen Revolution besteht zunächst darin nachzuweisen, dass der Aufruf zur Revolution gar nicht im rechtlichen Sinne gerechtfertigt werden kann, da Revolution, als eine radikale Aktion, die Existenz des politischen Gemeinwesens völlig zerstören und zugleich den Grund der Verwirklichung des Rechts vernichten würde. Diese Position hat Kant in seiner Rechtsphilosophie systematisch thematisiert. In der Kantforschung wird aber oft übersehen, dass sich hinter der Widerlegung noch ein auf Erfahrung und Geschichte bezogenes Argument verbirgt: Es ist kaum möglich, durch gewaltsame Revolution die gesellschaftlichen und geschichtlichen Bedingungen zu überspringen und dadurch, wie die Revolutionäre erwarten, eine von der bestehenden Gesellschaft völlig verschiedene ideale Gesellschaft zu errichten. Kant bemüht sich zwar in seiner Rechtsphilosophie darum, ein aus Rechtsprinzipien a priori zusammengesetztes System als normative Grundlage für die politische Ordnung zu schaffen. Er gehört allerdings nicht zu den Philosophen, die sich bloß in ihren einsamen Arbeitszimmern verstecken und das ideale Bild der menschlichen Gesellschaft malen, ohne Rücksicht auf die historischen und empirischen Bedingungen der Gesellschaft zu nehmen. Seine Widerlegung der politischen Revolution enthält vielmehr zugleich Überlegungen aus politischer und praktischer Sicht. Es ist nicht so, wie vielfach angenommen, dass Kant vor dem Terror der Französischen Revolution erschrocken ist und sich daher auf eine konservative Position zurückgezogen hat. Vielmehr beharrt Kant vor und nach der Französischen Revolution konsequent auf seiner Position zur politischen Revolution. Diese Position bezieht sich auf sein Aufklärungsprogramm,

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das er bereits vor der Revolution in einer Reihe von Schriften thematisiert hat. Dazu zählen z. B. Idee zur allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784) und Was heißt: sich im Denken orientieren? (1786). Warum, so wäre mit Kant zu fragen, kann man nicht durch Revolution ein für alle Mal eine ideale politische Ordnung gründen? Der Grund dafür besteht zunächst darin, ließe sich darauf mit Kant antworten, dass es uns unmöglich ist, ein für alle Mal eine vollkommene rechtmäßige Ordnung vollständig zu erkennen. Die vollkommene Verfassung als eine Idee der Vernunft kann weder Gegenstand unserer Erkenntnis sein noch durch unsere Praxis in der Erfahrung vollständig verwirklicht werden. In seiner Rechtsphilosophie hat Kant zwar ein System der a priori aus der reinen praktischen Vernunft gegebenen Rechtsprinzipien hinsichtlich der Koexistenz der Freiheit aller Menschen vorgestellt. Diese Prinzipien sind jedoch wegen ihres apriorischen Charakters nur formaler Natur und enthalten daher keine konkrete Regel für Handlungen und politische Aktionen. Um eine solche praktische Regel zu erhalten, muss man weiterhin die formalen Rechtsprinzipien mit Erfahrungsfällen verbinden. Daher stellt Dieter Henrich zu Recht fest: „dennoch bietet der Rechtsbegriff für sich noch keine Anleitung zum Handeln. Er muss sich verbinden mit der Interpretation eines Weltzustandes. Nur so kann er zu einem Programm politischer Aktion werden“ (Henrich 1967, 35). Dazu müssen aber zumindest zweierlei Bedingungen erfüllt sein. Die eine ist die Bedingung des Gegenstandes und die andere ist die Bedingung des Vermögens des Subjekts, die Form der Regel mit der Materie derselben in Einklang zu bringen. Schon aus diesem Grunde kann eine ideale Verfassung niemals vollständig erkannt werden. Ihre konkrete Gestalt muss sich vielmehr durch die Integration von Rechtsprinzipien und Erfahrungsfällen in der Geschichte allmählich entwickeln. Hinsichtlich des Gegenstandes lassen sich die Erfahrungsfälle, auf die die a priori gegebenen Rechtsprinzipien anzuwenden sind, wegen der Mannigfaltigkeit der Erfahrung niemals erschöpfen. In diesem Sinne können wir weder ein vollständiges System konstruieren, das alle Erfahrungsfälle unter sich subsumieren kann, noch vermögen wir zu beurteilen, ob wir uns noch von einer in der Erfahrung möglichen vollkommensten Verfassung befinden. In jener Passage der Kritik der reinen Vernunft, in der von der Verwirklichung der Idee der Republik in der Erfahrungswelt die Rede ist, bringt Kant diesen Gedanken klar zum Ausdruck: „Denn welches der höchste Grad sein mag, bei welchem die Menschheit stehen bleiben müsse, und wie groß also die Kluft, die zwischen der Idee und ihrer Ausführung nothwendig übrig bleibt, sein möge, das kann und soll niemand bestimmen, eben darum weil es Freiheit ist, welche jede angegebene Grenze übersteigen kann“ (AA 3, 374). In der Rechtslehre fügt er

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hinzu, dass „in Rücksicht auf jene Fälle der Anwendung nur Annäherung zum System, nicht dieses selbst erwartet werden kann“ (AA 6, 205). Diese Annäherung kann lediglich allmählich erfolgen, denn es ist uns unmöglich, ohne konkrete Erfahrungen die spezifischen Bedingungen zu erkennen, unter denen das Recht des Menschen weiter verwirklicht werden kann. Stattdessen lässt sich nur durch beständige Kombination der Rechtsprinzipien mit erneuten Erfahrungsfällen in der sich immer verändernden Welt unser Verständnis für eine vernünftige Verfassung erweitern. In diesem Sinne stellt die bestehende politische Ordnung einen unhintergehbaren Ausgangspunkt für politischen Fortschritt dar. Der Mannigfaltigkeit der Erfahrung entspricht die Endlichkeit des Erkenntnisvermögens des Menschen. Dieses besteht sowohl darin, dass man nicht die Grenze der Möglichkeit der Erfahrung überschreiten und das Unbedingte erkennen kann, als auch darin, dass die Entwicklung des menschlichen Erkenntnisvermögens überhaupt einen allmählichen Prozess in der Geschichte durchlaufen muss. Kant hielt zwar die Vernunft für den obersten „Gerichtshof aller Rechte und Ansprüche unserer Speculation“ (AA 3, 697). Die ausgereifte Vernunft, welche in seiner Anwendung Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben kann, dürfte aber nicht ein vorhandenes Vermögen von irgendeinem Individuum oder irgendeiner Generation sein. Sie ist vielmehr eine „Idee von einem noch zu erwerbenden und künstlichen Vermögen“ (AA 5, 240) und muss daher durch Praxis in der Erfahrung immer weiter geübt und geschärft werden, so Kant in seiner Schrift Idee zur allgemeinen Geschichte: „Sie wirkt aber selbst nicht instinctmäßig, sondern bedarf Versuche, Übung und Unterricht, um von einer Stufe der Einsicht zur andern allmählig fortzuschreiten“ (AA 8, 19). Dies ist eben die Aufklärung des Menschen, welche Kant zufolge letztlich auf die Verwirklichung der Freiheit des Menschen abzielt. Wolfgang Wieland hat insofern zu Recht festgestellt: „Nicht nur wegen des ständigen Wandels in den Lebensbedingungen der realen Welt, sondern allein schon wegen der Anwendungsbedürftigkeit einer jeden generellen Norm ist mithin alles positive Recht darauf angewiesen, fortgebildet zu werden“ (Wieland 1998, 20). Der Widerspruch zwischen der Mannigfaltigkeit der Erfahrung und der Endlichkeit des Erkenntnisvermögens des Menschen ist der Grund dafür, dass wir nicht die wirkliche Gestalt einer vollkommenen Verfassung vollständig erkennen können. Stattdessen können wir uns nur der Idee derselben durch beständige politische Reform, ausgehend von der bestehenden Verfassung in der Geschichte, kontinuierlich annähern, aber sie niemals vollständig verwirklichen. In seiner Geschichtsphilosophie hat Kant bereits ein geschichtlich werdendes Verständnis für die Verwirklichung der Freiheit des Menschen geäußert, welches aber gewöhnlich Hegel zugeordnet wird. Selbst Hegel bemerkt dies nicht, als er Kant hinsichtlich des Formalismus kritisiert.

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3 Allein aus dem kognitiven Grunde reicht es jedoch noch nicht aus, die Wirksamkeit der Revolution als Mittel zur Verbesserung der bereits hinter der Zeit zurückgebliebenen Verfassung zu widerlegen. Dass wir unsere Zeit nicht überspringen und das Verständnis für die wirkliche Gestalt einer vollkommenen Verfassung nicht gewinnen können, bedeutet aber nicht, dass wir ebenso wenig die wirkliche Gestalt einer Verfassung, die vernünftiger ist als die der bestehenden, erkennen können. Die Revolution als Mittel zur Beseitigung des großen Mangels, der in der bestehenden Verfassung offen zutage tritt, muss nicht jenes Verständnis einer vollkommenen Verfassung voraussetzen. Selbst bei Hegel beginnt die Eule der Minerva erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug (Hegel 1999, 17). Aber gemäß seiner Unterscheidung zwischen dem Seienden und dem Wirklichen vermag die Vernunft immer noch das Seiende zu durchdringen und die vernünftigere Gestalt der politischen Ordnung im Denken zu begreifen. In den Grundlinien der Philosophie des Rechts befürwortet Hegel z. B. zwar eine konstitutionelle Monarchie, die freilich der damaligen Verfassungswirklichkeit Preußens nicht entsprach. Wie Karl Marx auch gezeigt hat, ging die von Hegel vertretene deutsche Rechts- und Staatsphilosophie eigentlich über die damalige Verfassungswirklichkeit in Deutschland hinaus (MEW 1, 383). Selbst wenn Deutschland immer noch den Erfahrungen und Träumen des ancien régime anhing, hat die politische Praxis in England und Frankreich in diesem weltgeschichtlichen Zeitalter, in dem der Verkehr zwischen Staaten immer enger und häufiger wurde, bereits die neuen Erfahrungen und die Prinzipien sowie die spezifischen Regeln der modernen Politik als Vorbilder für Deutschland ausgebildet. Somit stellt sich die Frage, ob Revolution in diesem Fall hinsichtlich der bloßen Wirksamkeit eine angemessene Option zur Verbesserung der Verfassung sein kann, ohne dass das Problem des Widerstandsrechts berücksichtigt wird. Die Antwort würde Kant zufolge immer noch „Nein“ sein. Es kommt nicht darauf an, ob Deutschland die Prinzipien der modernen Politik verwirklichen sollte, um sich politisch auf das Niveau der modernen Zeit zu erheben, sondern auf die Möglichkeit, unter den Bedingungen des ancien régime eine neue Verfassung zu errichten, und auf die Einrichtung einer solchen neuen Verfassung, die wohlgeordnet funktionieren kann, auch wenn sie durch die Revolution formell etabliert wurde. Im idealen Staat sind Kant zufolge natürlich nicht die Menschen, sondern die Gesetze maßgebend. Dies ist aber lediglich eine Idee der Vernunft. In der Erfahrung muss das Recht des Menschen durch menschliche Praxis immer weiter verwirklicht werden. In diesem Sinne ist es die vordringlichste Aufgabe der Politik, welche nach Kants Definition eben die Praxis ist, die Rechtsprinzipien

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in der Erfahrung zu verwirklichen. Dies bedeutet ebenso, dass sowohl das wohlgeordnete Funktionieren der Verfassung als auch die vorhersehbare Verbesserung derselben gewisse Charaktereigenschaften vom Subjekt der politischen Praxis verlangen müssen. In seiner Schrift Idee zur allgemeinen Geschichte jedoch schildert Kant selbst das Problem, dass der Mensch ein Tier ist, das einen Herren braucht, da es andernfalls seine Freiheit missbrauchen würde, dass aber andererseits der Herr ebenso ein Mensch und damit desgleichen ein Tier ist. Die unwiderstehliche Souveränität ist konstitutiv für ein politisches Gemeinwesen, aber eine solche Macht kann nur in den Händen des Menschen gehalten werden, so dass immer die Gefahr besteht, dass sie missbraucht wird (AA 8, 23). Dass der Herrscher ebenso ein Mensch und kein Übermensch ist, ist das bedeutendste Problem für alle politischen Theorien. Kant zufolge liegt der Schlüssel zur Lösung des Problems nicht auf der Seite des Herrschers, sondern auf der Seite des Volks. Hier appelliert er offensichtlich an die allgemeine Aufklärung des Volks, welche als ein großes Gut, wie er erläutert, das menschliche Geschlecht sogar von der selbstsüchtigen Vergrößerungsabsicht seiner Beherrscher ziehen muß, wenn sie nur ihren eigenen Vortheil verstehen. Diese Aufklärung aber, und mit ihr auch ein gewisser Herzensantheil, den der aufgeklärte Mensch am Guten, das er vollkommen begreift, zu nehmen nicht vermeiden kann, muß nach und nach bis zu den Thronen hinauf gehen und selbst auf ihre Regierungsgrundsätze Einfluß haben. (AA 8, 28)

In der Schrift Zum ewigen Frieden stellt Kant weiterhin dar, wie die Aufklärung des Volks den selbstsüchtigen Drang der Herrscher eindämmen und die kontinuierliche Verbesserung der Verfassung von unten nach oben vorantreiben kann. Wenn Kant hier das Prinzip der Publizität als Mittel zur Auflösung der Spannungen zwischen Politik und Moral aufstellt, appelliert er eigentlich an die öffentliche Partizipation des Volks. Wenn nämlich eine ungerechte Maxime öffentlich bekannt gemacht würde, würde sie unausbleiblich den „Widerstand Aller“ (AA 8, 381) reizen. Ein ähnlicher Ausdruck taucht auch im Streit der Fakultäten auf: Warum hat es noch nie ein Herrscher gewagt, frei herauszusagen, daß er gar kein Recht des Volks gegen ihn anerkenne; daß dieses seine Glückseligkeit bloß der Wohlthätigkeit einer Regierung, die diese ihm angedeihen läßt, verdanke, und alle Anmaßung des Unterthans zu einem Recht gegen dieselbe (weil dieses den Begriff eines erlaubten Widerstands in sich enthält) ungereimt, ja gar strafbar sei? – Die Ursache ist: weil eine solche öffentliche Erklärung alle Unterthanen gegen ihn empören würde. (AA 7, 86–87)

Den Widerstand aller zu erwarten, ist tatsächlich mit der Forderung nach der Aufklärung des Volks verbunden. Das Volk muss dabei nicht nur die Fähigkeit erwerben, die Ungerechtigkeit der Maxime oder der politischen Entscheidung

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zu erkennen, sondern auch die Motivation und den Mut entwickeln, dieselbe öffentlich zu kritisieren. Eben dadurch kann das Volk den Machtmissbrauch verhindern und die kontinuierliche Reform der politischen Ordnung fördern. Jeder Bürger sollte das Bewusstsein und die Fähigkeit ausbilden, aktiv an der Gestaltung der Gemeinschaft mitzuwirken, um seine Freiheit darin zu verwirklichen, so Kant in der Kritik der Urteilskraft: So hat man sich bei einer neuerlich unternommenen gänzlichen Umbildung eines großen Volks zu einem Staat des Worts Organisation häufig für Einrichtung der Magistraturen usw. und selbst des ganzen Staatskörpers sehr schicklich bedient. Denn jedes Glied soll freilich in einem solchen Ganzen nicht bloß Mittel, sondern zugleich auch Zweck und, indem es zu der Möglichkeit des Ganzen mitwirkt, durch die Idee des Ganzen wiederum seiner Stelle und Function nach bestimmt sein. (AA 5, 375.)

Dass Kant in Hinsicht auf die Inkongruenz zwischen Politik und Moral den Widerstand aller erwartet, bedeutet aber nicht, dass er den positiven Widerstand gegen den bestehenden Gesetzgeber erlaubt. Der Widerstand im Sinne der politischen Reform muss vielmehr gewaltfrei sein. Im Gemeinspruch zeigt Kant, nachdem er das Widerstandsrecht des Volks gegen das Oberhaupt abgelehnt hat, dass das Volk trotzdem immer noch ein unverlierbares Recht hat, nämlich die Freiheit, über die öffentlichen Gesetze und politischen Entscheidungen zu diskutieren und sie zu kritisieren. Kant betrachtet diese Freiheit als „das einzige Palladium der Volksrechte“ (AA 8, 304) oder „das einzige Kleinod, das uns bei allen bürgerlichen Lasten noch übrig bleibt, und wodurch allein wider alle Übel dieses Zustandes noch Rath geschafft werden kann“ (AA 8, 144). In Kants gesamter Philosophie spielt die Meinungsfreiheit eine noch grundlegendere Rolle, insofern er darin die Existenz der Vernunft erkennt. Hinsichtlich der Politik ist Kants Philosophie aber immer auf die Grenze zwischen dem politischen Gehorsam und der Möglichkeit des politischen Fortschritts bezogen. Die Unterscheidung zwischen dem privaten und öffentlichen Vernunftgebrauch in Was ist Aufklärung? lässt sich als eine Illustration dieses Sachverhalts betrachten. Während der private Vernunftgebrauch an eine Gehorsamspflicht im Autoritätsbereich gebunden ist, dürfte im öffentlichen Vernunftgebrauch die Freiheit der Kritik nicht beschränkt werden. Kant unterstreicht also, dass jeder Mensch die Freiheit haben muss, „von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen“ (AA 8, 37), denn die Möglichkeit der Aufklärung des Volks und somit der kontinuierlichen politischen Reform hängt eben von dieser Freiheit ab, die jedoch die politische Gehorsamspflicht nicht aufhebt. Einerseits kann jeder Mensch durch den öffentlichen Gebrauch seiner eigenen Vernunft in der Öffentlichkeit sich selbst beständig aufklären, andererseits kann der öffentliche Vernunftgebrauch aller zur Triebkraft dienen, den Gesetzgeber zur

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beständigen politischen Reform aufzufordern, selbst wenn dieser sich allein „sein gesetzgebendes Ansehen“ (AA 8, 40), d. i. den Legitimitätsglauben im weberschen Sinne (Weber 1972, 122), erhalten wollte. In der Rechtslehre weist Kant deutlich darauf hin, dass das Volk im repräsentativen System noch ein passives Widerstandsrecht hat, nämlich durch seine Repräsentanten im Parlament dem Missbrauch der Macht gesetzlich zu widerstehen. Geschehe dies nicht, so wäre es ein „sicheres Zeichen, dass das Volk verderbt“ sei (AA 6, 322), d. h., das Volk hätte in diesem Fall schon die Fähigkeit verloren, seine Meinung öffentlich zu äußern und seine Repräsentanten in der Leistung ihrer Aufgaben zu beaufsichtigen. Selbst wenn eine gute Staatsverfassung zufälligerweise errichtet ist, würde das Gemeinwesen, das von unaufgeklärten oder verdorbenen Menschen gebildet wird, unvermeidlich wieder zum Despotismus zurückkehren. In diesem Sinne kommt es nicht darauf an, ob die politische Praxis in England und Frankreich bereits die politischen Prinzipien der modernen Gesellschaft realisiert hat, sondern darauf, ob die Deutschen in der Lage sind, die kontinuierliche Verwirklichung dieser Prinzipien voranzutreiben. Aufklärung lässt sich nicht einfach mit dem Besitz der Erkenntnis gleichsetzen. Dass wir gewisse Prinzipien erkannt haben, bedeutet nämlich nicht, dass wir deswegen die Fähigkeit haben, sie durch unser Selbstdenken und unsere öffentliche Partizipation zu verwirklichen. Die republikanische Verfassung ist zweifelsohne die beste Organisationsform der modernen Politik. Ihr wohlgeordnetes Funktionieren verlangt aber immer die Existenz der aufklärenden und aufgeklärten Bürger, die die Fähigkeit und den Mut besitzen, sich aktiv an den öffentlichen Angelegenheiten zu beteiligen und dadurch die Ausübung der Macht zu beaufsichtigen. Die Aufklärung zielt eben darauf, diejenigen Menschen heranzubilden, die von ihrer eigenen Vernunft in öffentlichen Angelegenheiten öffentlichen Gebrauch machen können. Kant zufolge kann die Aufklärung des Volks jedoch nicht durch politische Revolution erfolgen. Die Aufklärung verlangt zwar die „Revolution in dem Innern des Menschen“ (AA 7, 229), diese kann aber nicht durch die äußere Revolution verwirklicht werden. Kant ist sich der Schwierigkeit völlig bewusst, der die Aufklärung des Menschen in der realen Welt begegnet. Für den Einzelnen ist es äußerst schwierig oder sogar gefährlich, die Faulheit und Feigheit in seiner Natur loszuwerden und zu lernen, selbständig zu denken, nachdem er sich an die Pflege anderer gewöhnt hat. Allein in der Öffentlichkeit, als Mitglied des Publikums, ist es ihm möglich, am Prozess der Aufklärung teilzunehmen. Nur in der Öffentlichkeit kann der Einzelne motiviert werden, aktiv von seiner eigenen Vernunft öffentlichen Gebrauch zu machen, und nur durch die Kommunikation mit anderen kann der Einzelne allmählich lernen, selbst allgemeingültig zu denken. Dies liegt schon daran, dass jeder Mensch in seine Zeit und in seine

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Gesellschaft tief eingebettet ist und sich nur allmählich in einem interaktiven Verhältnis zu seinen Zeitgenossen selbst aufklären kann. Die Aufklärung ist daher keine private Angelegenheit für einzelne Personen, sondern die Bestimmung der Menschengattung und deswegen „eine schwere und langsam auszuführende Sache“ (AA 5, 294). Revolution kann zwar einen Bruch im rechtlichen Sinne, aber keinen Neuanfang im eigentlichen Sinne für die Zukunft konstituieren. Der Grund dafür besteht eben darin, dass es für die Menschen, die noch an bestimmte Traditionen und Vorurteile gebunden sind, unmöglich ist, durch Revolution eine neue Denkungsart zu formieren. Wie Tocquevilles Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution zeigt, waren viele Gedanken, Gefühle und Institutionen, die normalerweise als Resultate der Französischen Revolution angesehen wurden, in Wahrheit die Überreste des „ancien régime“ (De Tocqueville 2011, 3). In Was ist Aufklärung? hat Kant diesen Befund schon deutlich zum Ausdruck gebracht: Daher kann ein Publicum nur langsam zur Aufklärung gelangen. Durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotism und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre Reform der Denkungsart zu Stande kommen; sondern neue Vorurtheile werden eben sowohl als die alten zum Leitbande des gedankenlosen großen Haufens dienen. (AA 8, 36)

Die radikale und gewaltsame Revolution kann nicht nur ihre eigene Richtung nicht kontrollieren, selbst wenn sie zufälligerweise siegt. Auch das neue Subjekt für die Errichtung der neuen Gesellschaft geht nicht aus der gewaltsamen Revolution hervor. Deswegen ist es für die Zeitgenossen aller nachfolgenden Epochen sehr schwierig, durch die gewaltsame Revolution eine völlig neue Ordnung zu errichten. In dieser Hinsicht stehen sich Kant und Rousseau genau gegenüber. In seiner Schrift Vom Gesellschaftsvertrag hat Rousseau die mögliche positive Wirksamkeit der Revolution bei der Umgestaltung der Menschheit und ihrer Sitten dargestellt. Dies ist Rousseau zufolge fast die einzige Hoffnung für ein verstorbenes Volk, wiedergeboren und der Freiheit wieder würdig zu werden: Wie gewisse Krankheiten den Kopf der Menschen verwirren und ihnen das Gedächtnis rauben, so kommen im Verlauf der Staaten bisweilen leidenschaftlich erregte Zeitabschnitte vor, in denen Revolutionen auf die Völker eine gleiche Wirkung ausüben wie gewisse Krisen auf einzelne Menschen und der Abscheu vor der Vergangenheit die Stelle der Vergessenheit ersetzt, Zeitabschnitte, in denen der durch Bürgerkriege in Brand gesetzte Staat wie aus der Asche wiedergeboren wird und die Kraft der Jugend wiedergewinnt, nachdem er sich erst mühsam aus den Armen des Todes freigemacht hat. (Rousseau 2020, 33)

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Rousseau hat hier also eine eher romantische Vorstellung von Revolution dargestellt. Im Gegensatz dazu vertritt Kant eine realistischere Haltung zur Revolution. Dennoch können sich die Menschen durch gewaltsame Revolution nicht von den alten Vorurteilen befreien und eine neue Denkungsart entwickeln, sondern sie werden vielmehr in tiefere Vorurteile und Konflikte geraten, so dass es ihnen unmöglich ist, das neue Subjekt zur Errichtung und Aufrechterhaltung einer neuen Gesellschaft zu werden. Dabei ist Kants Haltung zur Französischen Revolution noch zu erläutern. Kant beschreibt im Streit der Fakultäten den Ausbruch der Französischen Revolution sicherlich mit großer Sympathie, ja sogar mit Enthusiasmus als eine „Begebenheit unserer Zeit, welche diese moralische Tendenz des Menschengeschlechts beweist“ (AA 7, 85). Lea Ypi versucht in Bezug darauf eine Möglichkeit aufzuzeigen, die positive Wirkung der Revolution in Kants Kontext zu rechtfertigen und aus dem von der Französischen Revolution inspirierten Enthusiasmus eine Triebkraft für den historischen Fortschritt abzuleiten (vgl. Ypi 2014, 270). Kant unterscheidet hier aber deutlich zwischen den Perspektiven von Akteuren und Zuschauern und unterstreicht, dass es sich hier allein um „die Denkungsart der Zuschauer“ (AA 7, 85) handelt. Ypi hat natürlich auch diese Unterscheidung bemerkt. Ihre Interpretationsstrategie besteht aber darin, den Begriff der Zuschauer durch den des kollektiven Akteurs (collective agents), also des Menschengeschlechts im Ganzen zu ersetzen, und zugleich zu betonen, dass der Enthusiasmus der Zuschauer umgekehrt auch die Revolutionäre selbst beeinflusst (vgl. Ypi 2014, 271). In diesem Sinne könnte die Revolution nicht nur für die Aufklärung des Menschengeschlechts von Bedeutung sein, sondern auch für die Aufklärung der Revolutionäre. Diese Interpretation geht aber über die Reichweite von Kants These hinaus. Denn Kant hält ausdrücklich fest, dass „das äußere, zuschauende Publicum dann ohne die mindeste Absicht der Mitwirkung sympathisirte“ (AA 7, 87). In Kants Geschichtsphilosophie können nicht nur die Revolutionen, sondern auch Katastrophen und Kriege aus der Perspektive der Zuschauer den Fortschritt der Geschichte fördern. Diese lassen sich sogar als „ein unentbehrliches Mittel“ (AA 8, 121) ansehen, dessen sich die Natur bedient, die Geschichte zum Besseren voranzutreiben. Die historische Wirkung dieser destruktiven Mittel hängt jedoch letztendlich davon ab, dass die Menschen, nachdem sie so viele traurige Erfahrungen erlitten haben, darüber reflektieren und erlernen können, sich ihrer eigenen Vernunft zu bedienen, um eine Auflösung zu finden und ähnliche Tragik in der Zukunft zu vermeiden. Diese Begebenheiten können auch mittelbar die Aufklärung der Menschen fördern, dürfen aber keineswegs Strategie oder Aktionsmittel für den Menschen als Akteur sein. Das Besondere der Französischen Revolution besteht darin, dass sie die richtigen Prinzipien in der Theorie dargestellt hat. Dies bedeutet aber nicht, dass es ebenso ratsam sei, diese Prinzipien auf revolutionäre Weise zu

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verwirklichen, so Kant, „sie mag mit Elend und Greuelthaten dermaßen angefüllt sein, daß ein wohldenkender Mensch sie, wenn er sie zum zweitenmale unternehmend glücklich auszuführen hoffen könnte, doch das Experiment auf solche Kosten zu machen nie beschließen würde“ (AA 7, 85). Kant hat sicherlich volle Sympathie für die Französischen Revolution. In der Rechtslehre versucht er sogar zu argumentieren, dass dieselbe keine Revolution im eigentlichen Sinne ist (AA 6, 341). Aber diese Verteidigung ist offensichtlich unhaltbar, deshalb halten wir uns in dieser Hinsicht am besten an die etablierte Interpretation, der zufolge Kant zwar theoretisch die Ideen, die die Revolutionäre in der Französischen Revolution verfolgen, befürwortet, es in der Praxis aber ablehnt, dieselben durch Revolution zu verwirklichen. Daher bringt er in der Rechtslehre deutlich zum Ausdruck, dass die Idee der besten Verfassung, sofern sie nicht revolutionsmäßig, durch einen Sprung, d. i. durch gewaltsame Umstürzung einer bisher bestandenen fehlerhaften – (denn da würde sich zwischeninne ein Augenblick der Vernichtung alles rechtlichen Zustandes ereignen), sondern durch allmähliche Reform nach festen Grundsätzen versucht und durchgeführt wird, in continuirlicher Annäherung zum höchsten politischen Gut, zum ewigen Frieden, hinleiten kann. (AA 6, 355)

4 Marx bezeichnet zwar Kants Philosophie als „die deutsche Theorie der Französischen Revolution“ (MEW 1, 80), aber dieser Ausdruck bezieht sich nicht auf Kants Position gegenüber politischer Revolution. Als Verfechter der radikalen Revolution hat Marx selber Kants konterrevolutionäre Position eigentlich nie erwähnt. Dennoch lässt sich seine Begründung der Notwendigkeit der Revolution als eine Widerlegung von Kants Entwurf von politischer Reform durch Aufklärung betrachten. In der Deutschen Ideologie stellt Marx also die doppelte Notwendigkeit der Revolution dar: daß sowohl zur massenhaften Erzeugung dieses kommunistischen Bewußtseins wie zur Durchsetzung der Sache selbst eine massenhafte Veränderung der Menschen nötig ist, die nur in einer praktischen Bewegung, in einer Revolution vor sich gehen kann; daß also die Revolution nicht nur nötig ist, weil die herrschende Klasse auf keine andre Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen und zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden. (MEW 3, 70)

Marx ist ebenfalls ganz einverstanden damit, dass die Einrichtung einer besseren Gesellschaft die „massenhafte Veränderung der Menschen“ erfordert, er glaubt jedoch, dass diese Veränderung nur durch Revolution möglich ist. Obwohl dies

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Rousseaus Ansicht ähnlich zu sein scheint, steht Marx bereits auf einer völlig verschiedenen theoretischen Grundlage. Im Gegensatz zu Kant tendiert Marx zunächst dazu, die Existenz des Menschen eher aus der Perspektive der sozialen Verhältnisse zu begreifen. In der Geschichtsphilosophie beobachtet Kant zwar die Entwicklung der Geschichte auch aus der wirtschaftlichen Perspektive und glaubt, dass die Aufklärung der Menschen nur in der Öffentlichkeit möglich ist und somit auch vom Entwicklungszustand der Gesellschaft bedingt wird. Aber er betont eher die Priorität der Volksaufklärung im Verhältnis zur Verbesserung der politischen Ordnung, insofern er die Vernunft als das Wesen des Menschen bestimmt und zum selbständigen Gebrauch der Vernunft in der Aufklärung auffordert. Kant räumt auch ein, dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Despotismus und der Unmündigkeit der Untertanen gibt, erwartet aber immer noch die spontane Aufklärung der Menschen, um diesen Kreislauf zu unterbrechen. Nur durch aktive öffentliche Partizipation und Selbstaufklärung in der Öffentlichkeit können die Staatsbürger den Freiraum für ihre weitere Aufklärung immer weiter vergrößern und die Verfassung allmählich und kontinuierlich zum Bessern treiben. Marx legt hingegen mehr Wert auf die Wirkung der sozialen Verhältnisse in Hinsicht auf die Formierung und Beschränkung der Existenz der Menschen, einschließlich der materiellen und geistigen Existenz, wie er in den Thesen über Feuerbach zeigt: „Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ (MEW 3, 6). Auf dieser Grundlage bestreitet Marx, dass der Inhalt der Ideen und des Bewusstseins der Menschen unabhängig von den wirklichen sozialen Verhältnissen sein könnte, was in der Deutschen Ideologie noch deutlicher zum Ausdruck kommt: Die Menschen sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen pp., aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselben entsprechenden Verkehrs bis zu seinen weitesten Formationen hinauf. Das Bewußtsein kann nie etwas Andres sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß. (MEW 3, 26)

Daher würde die Veränderung der Menschen selbst für Marx unmöglich sein, ohne die sozialen Verhältnisse, in denen die Menschen sich befinden, zu verändern. Die Veränderung der Menschen selbst muss sich immer mit der Veränderung der sozialen Verhältnisse verbinden. Sie kann also nur in der menschlichen Praxis als Veränderung der sozialen Verhältnisse erfolgen, wie es Marx in den Thesen über Feuerbach darlegt: „Das Zusammenfallen des Ändern[s] der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefaßt und rationell verstanden werden“ (MEW 3, 6).

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Der zweite Unterschied zwischen Marx und Kant besteht darin, dass Marx den strukturellen Charakter der sozialen Verhältnisse mehr hervorhebt, insbesondere die Klassenstruktur der Gesellschaft. Obwohl Kant auch den Antagonismus der Menschen in der Gesellschaft, also „die ungesellige Geselligkeit der Menschen“ (Kant AA 8, 20), als Triebkraft der Selbstaufklärung der Menschen und somit der historischen Entwicklung betrachtet, konzentriert er sich jedoch hauptsächlich auf den Antagonismus zwischen Individuen oder zwischen Staaten bzw. Völkern als Gemeinschaften der Individuen. Daher fehlt ihm die Aufmerksamkeit für die soziale Struktur innerhalb der Gemeinschaft. Eben in diesem Sinne fasst Kant in seiner Rechts- und politischen Philosophie das Thema der strukturellen Ungerechtigkeit und der damit eng verbundenen sozialen Gerechtigkeit, das in der gegenwärtigen politischen Philosophie zentral ist, nie ins Auge. Für Kant besteht die Aufgabe der politischen Gemeinschaft lediglich darin, die Grenzen der Freiheit zwischen Individuen, welche ihm zufolge wiederum die objektive Bedingung für die weitere Aufklärung des Menschen ausmacht, zu definieren und zu schützen. Der aufzuklärende Mensch ist insofern derjenige, welchen „die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter maiorennes)“ (AA 8, 35) hat. Deshalb ist die Unmündigkeit, aus der die Menschen in der Aufklärung herausgehen müssen, „selbstverschuldet“ (AA 8, 35). In diesem Sinne würde es die Möglichkeit der Selbstaufklärung der Menschen und somit der kontinuierlichen politischen Reform immer geben, solange die Menschen den Mut aufbrächten, von ihrer eigenen Vernunft zwar selbständigen, aber doch öffentlichen Gebrauch zu machen. Die ideale Gesellschaft, die Kant sich vorstellt, ist daher diejenige, die die größte Freiheit, mithin einen durchgängigen Antagonism ihrer Glieder und doch die genauste Bestimmung und Sicherung der Grenzen dieser Freiheit hat, damit sie mit der Freiheit anderer bestehen könne, – da nur in ihr die höchste Absicht der Natur, nämlich die Entwickelung aller ihrer Anlagen, in der Menschheit erreicht werden kann. (AA 8, 22)

Marx akzeptiert aber nicht das individualistische Verständnis für die Existenz des Menschen und weigert sich auch, allein auf der abstrakten politischen Ebene von der menschlichen Freiheit zu sprechen. Marx zufolge ist das wichtigste Element, das die Entwicklung der bisherigen Geschichte und Gesellschaftsform bestimmt hat, nicht die ethische oder politische Praxis des Menschen, sondern die Praxis der materiellen Produktion, mit der die direkten physischen Bedürfnisse befriedigt werden. In der materiellen Produktion der Menschen, so Marx’ Befund, entsteht zwangsläufig die Arbeitsteilung, mit deren Entwicklung sich auch der Status und das Verhältnis der Menschen zueinander ändern und gliedern. Diese Gliederung und die von ihr bestimmten sozialen Verhältnissen übertragen

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und akkumulieren sich von einer zur nächsten Generation und verfestigen sich zur bestimmten sozialen Struktur. Die Arbeitsteilung in diesem Sinne wird zur unfreiwilligen Arbeitsteilung, die wiederum die Existenz jedes Individuums bedingt und behindert. Marx stellt daher in der Deutschen Ideologie fest, daß, solange die Menschen sich in der naturwüchsigen Gesellschaft befinden, solange also die Spaltung zwischen dem besondern und gemeinsamen Interesse existiert, solange die Tätigkeit also nicht freiwillig, sondern naturwüchsig geteilt ist, die eigne Tat des Menschen ihm zu einer fremden, gegenüberstehenden Macht wird, die ihn unterjocht, statt daß er sie beherrscht. (MEW 3, 33)

Jedes einzelne Individuum ist eine Person, die sich in einem bestimmten historischen Zustand und in einer bestimmten sozialen Struktur befindet und von diesen bedingt ist, jedoch nicht als separates Individuum, sondern wegen des ähnlichen Status mit anderen Personen im Produktionsverhältnis als Mitglied einer bestimmten Klasse existiert. Selbst die modernen sozialen Verhältnisse sind eigentlich keine horizontalen Beziehungen zwischen freien und gleichen Individuen. Es gibt vielmehr immer noch strukturelle Dominanzbeziehungen zwischen verschiedenen Klassen. In diesem Sinne besteht die Aufgabe des Staats in der Klassengesellschaft immer darin, die bestimmte Klassenstruktur und Klassenherrschaft aufrechtzuerhalten. Deshalb würde jede politische Reform ihre unüberwindliche Grenze haben. Es ist daher nur durch Revolution möglich, die soziale Struktur der Klassenherrschaft zu zerstören und dadurch die eigentliche Emanzipation der Menschen zu erreichen. Auf diese Weise begründet Marx die doppelte Notwendigkeit der politischen und ökonomischen Revolution. Nach diesem Paradigma hängt die Veränderung oder Selbstverwirklichung der Menschen von der revolutionären Praxis ab. Somit können wir wohl verstehen, weshalb die Marxisten selbst bloß aus theoretischen Gründen noch dazu neigen, Li Zehous Interpretationsparadigma von Aufklärung und Revolution in Bezug auf die 4.-Mai-Bewegung zu kritisieren. Ihre Kritik gilt tatsächlich einem solchen Paradigma, Aufklärung und Reform miteinander zu verbinden und somit Aufklärung in Opposition zur Revolution zu bringen. Aber selbst wenn wir zugeben können, dass Marx die Notwendigkeit der Revolution für die Emanzipation der Menschen theoretisch begründet, ergibt sich daraus die Frage: Ob Marx im Unterschied zu Kants Entwurf der politischen Reform einen alternativen Entwurf der Revolution darbietet, welcher in der Praxis durchführbar ist? Für Marx ist die Revolution zur Abschaffung der alten sozialen Klassenstruktur nicht immer und überall möglich, im Gegenteil, die Möglichkeit der

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Revolution ist immer noch von spezifischen sozialen und historischen Umständen bedingt. Wie er in Zur Kritik der politischen Ökonomie darstellt: Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. (MEW 13, 9)

Marx glaubt also, dass die materiellen Bedingungen, den Kapitalismus durch Revolution zu untergraben, lediglich in der kapitalistischen Gesellschaft selbst geschaffen werden können, und bestreitet daher die Möglichkeit des Siegs der Revolution, wenn die Bedingungen dafür noch nicht vorhanden sind. In seiner Schrift Die moralisierende Kritik und die kritisierende Moral bringt er diese Überzeugung deutlich zum Ausdruck: Stürzt daher das Proletariat die politische Herrschaft der Bourgeoisie, so wird sein Sieg nur vorübergehend, nur ein Moment im Dienst der bürgerlichen Revolution selbst sein, wie Anno 1794, solang im Lauf der Geschichte, in ihrer ‚Bewegung‘, die materiellen Bedingungen noch nicht geschaffen sind, die die Abschaffung der bürgerlichen Produktionsweise und darum auch den definitiven Sturz der politischen Bourgeoisherrschaft notwendig machen. (MEW 4, 338–339)

In Hinsicht auf die Analyse des Scheiterns der Revolution hat diese Auffassung zweifellos eine sehr starke Erklärungskraft, die uns auch eine Perspektive eröffnen kann, Chinas Reform und Öffnung seit 1978 zu erklären. Während Li Zehou dazu neigt, den Weg Chinas seit 1978 als Rückkehr zur Aufklärung zu erklären, können die Marxisten dieselbe auch als Auferstehung der Elemente von bürgerlicher Gesellschaft, die von der politischen Gewalt gewaltsam erdrückt wurden, interpretieren, wie es Marx in der Abhandlung Zur Judenfrage darstellt: In den Momenten seines besondern Selbstgefühls sucht das politische Leben seine Voraussetzung, die bürgerliche Gesellschaft und ihre Elemente, zu erdrücken und sich als das wirkliche, widerspruchslose Gattungsleben des Menschen zu konstituieren. Es vermag dies indes nur durch gewaltsamen Widerspruch gegen seine eigenen Lebensbedingungen, nur indem es die Revolution für permanent erklärt, und das politische Drama endet daher ebenso notwendig mit der Wiederherstellung der Religion, des Privateigentums, aller Elemente der bürgerlichen Gesellschaft, wie der Krieg mit dem Frieden endet. (MEW 1, 357)

Hier geht es nicht um das Bedürfnis der Volksaufklärung, sondern darum, dass dasselbe immer noch von der gesellschaftlichen Bewegung der materiellen Produktion bestimmt wird. Denn nur durch die Entwicklung des Kapitalismus lassen sich die materiellen Bedingungen schaffen, die Übel des Kapitalismus zu überwinden.

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Aber wegen dieser hohen Anforderung der materiellen und klassenbezüglichen Bedingungen für die Revolution ist die Möglichkeit der Revolution, die sich an der zukünftigen idealen Gesellschaft orientiert, tatsächlich auf eine unbestimmte Zeit verschoben. Unter dieser Voraussetzung stehen die Perspektive der Aufklärung und die sogenannte historische materialistische Perspektive eigentlich nicht im Widerspruch. Denn Kant zufolge kann die Interessenverfolgung in der Gesellschaft oder der „Handelsgeist“ (AA 8, 368) des Kapitalismus auch als Triebkraft der menschlichen Aufklärung und des historischen Fortschritts dienen. Während Kant die Geschichte als Lauf der zwar langsamen, aber doch allmählichen Verwirklichung der menschlichen Freiheit betrachtet, stellt die Verwirklichung der menschlichen Freiheit bei Marx keine lineare Entwicklung dar. Die Entwicklung des Kapitalismus bedeutet also nicht zugleich die kontinuierliche Verwirklichung der Freiheit, vielmehr den kontinuierlichen Verlust derselben, also die Entfremdung des Menschen. Aber gerade aufgrund des extremen Verlusts der Freiheit und aufgrund der extremen Armut des Proletariats kann jene Revolution erst ausbrechen, die die alte Welt zum Einsturz bringt. Der Weg zur Freiheit muss also durch eine weltgeschichtliche Revolution geebnet werden; erst dadurch nimmt die wahre menschliche Geschichte ihren Anfang. Nach der marxschen Auffassung ist die bisherige Geschichte nichts anderes als eine Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft, d. h., die Menschen haben noch nie als wahre Menschen existiert. Hier stellt sich aber die weitere Frage: Wie sollten die Menschen in der Vorgeschichte ihrem eigenen Schicksal begegnen, wenn die materiellen Bedingungen der Revolution noch nicht in der Geschichte geschaffen sind und die Hoffnung auf die Schaffung derselben noch nicht zu sehen ist? Marx leugnet nicht, dass selbst das Proletariat zu bestimmten Zeiten mit nichtrevolutionären Mitteln um sein weiteres Recht in der kapitalistischen Gesellschaft kämpfen kann. Daher ist es geboten, dass wir weiterhin durch aktive öffentliche Partizipation uns selbst kontinuierlich aufklären und die Gesellschaftsform immer weiter verbessern, auch wenn wir nicht mehr wie Marx eine weltgeschichtliche Revolution erwarten, so dass die Ungerechtigkeit der sozialen Struktur und damit die Entfremdung des Menschen beständig beseitigt werden. Bevor die wahre Geschichte der Menschheit beginnt, befinden wir uns immer noch in einer Geschichte der Aufklärung.

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Nation und Narration: Eine vergleichende Untersuchung der Beiträge der Brüder Zhou und der Brüder Grimm zur Folklore Als die Brüder Grimm zur Geschichte der Literatur und zu literarischen Motiven aus aller Welt forschten und die Welt in ihren Geschichten, Märchen und Erzählungen zu verstehen und zu verbinden begannen, schloss der Kaiser von China das Tor zur Welt und schwelgte in der Vorstellung, dass das ‚Reich der Mitte‘ im Zentrum der Welt liege und fortgeschrittener sei als alle anderen Länder, weshalb die Kontakte mit diesen unnötig seien. Ein Jahrhundert später diskutierten die Brüder Zhou im Zusammenhang mit dem Chinesisch-Japanischen Krieg die Begriffe Kind, Nation, Nationalität, Märchen und Mythen, Themenbereiche, mit denen sich die Brüder Grimm im 19. Jahrhundert im Kontext der Napoleonischen Kriege beschäftigten. Warum haben sich die beiden Brüderpaare Grimm und Zhou gerade vor der Geburtsstunde einer erhofften modernen Nation, obwohl aus verschiedenen Epochen und so unterschiedlichen Nationen stammend, mit den gleichen Gedanken beschäftigt? Ist dies ein Zufall oder verbirgt sich dahinter eine konkrete Ursache? Der vorliegende Beitrag widmet sich diesen bisher kaum beachteten Fragen. Knapp ein Jahrhundert, nachdem die Brüder Jacob Grimm (1785–1863) und Wilhelm Grimm (1786–1859) ihre Gedanken zu Poesie und Nation zu Papier gebracht und sich mit Begriffen wie Märchen, Volk, Kind sowie der Beziehung zwischen Märchen und Erziehung bzw. Bildung beschäftigt hatten, sind zwei chinesische Brüder – Zhou Shuren (bekannt unter dem Künstlernamen Lu Xun, 1881–1936, der bedeutendste Schriftsteller der chinesischen Moderne; vgl. Kubin 1985, 9) und Zhou Zuoren (1885–1967) –, die als Vertreter der Avantgarde eine bedeutende Rolle bei der Gründung und Verbreitung der chinesischen modernen Literatur und Kinderliteratur spielten, auf die gleichen Gedanken gekommen, obwohl sie vor einem anderen historischen Hintergrund wirkten. Im Jahre 1857, als die Kinder- und Hausmärchen in der Ausgabe letzter Hand erschienen, befand sich China mitten im Zweiten Opiumkrieg, der die

Note: Dieser Beitrag repräsentiert ein Segment der Vorarbeiten zu einem laufenden Forschungsprojekt (Nr. 19BWW059, unterstützt von The National Social Science Fund of China) mit dem Arbeitstitel: Die mythische Wurzel der Grimmschen Märchen und die deutsche Nationalität. Open Access. © 2021 Wang Liping, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110682427-007

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Vorstellung, dass China als das ‚Reich der Mitte‘ im Zentrum der Welt liege und fortschrittlicher als alle anderen Länder sei, erschütterte. Durch die Niederlage in den zwei Opiumkriegen wurde die chinazentrische Weltanschauung der Chinesen aus den Angeln gehoben. Das tausendjährige autarke Wirtschaftssystem geriet in eine fundamentale Krise, und die geschlossenen Grenzen des Kaiserreichs wurden durch die ungleichen Verträge mit den Engländern und Franzosen gezwungenermaßen geöffnet. Das chinesische Volk wurde sich jetzt seines halbfeudalen und halbkolonialen Zustands bewusst und hatte sich der Frage zu stellen, wie die nationale Krise zu überwinden sei. In den drei Dezennien von 1861 bis 1894 erhob sich die Yangwu-Bewegung zur Modernisierung und Selbststärkung des Landes (vgl. Leutner 1990, 55). In der Hoffnung, durch die Einführung moderner westlicher Technik in der Militär- und Zivilwirtschaft den Rückstand des Landes zu beseitigen, fingen die Reformer an, vom Westen zu lernen, um ihn zu besiegen. Neue Schiffe, Fabriken und Schulen werden gebaut, fremde Fächer und Sprachen werden gelehrt. Studenten werden ins Ausland entsandt. Darunter waren die Brüder Zhou, die wegen der erfolgreichen Meiji-Reform als Studenten nach Japan gesandt worden waren. Während dieser Aufenthalte sind die Brüder auf die westliche Literatur gestoßen und haben jeweils auf ihre ursprünglichen Pläne, Medizin bzw. Architektur zu studieren, verzichtet. Literarisches Schaffen und Übersetzungen aus dem Japanischen, Deutschen und Englischen sowie von griechischen Mythen, von Märchen, Novellen etc. samt Literaturkritik und -theorien machten die Brüder zu Begründern der modernen chinesischen Literatur bzw. der Kinderliteratur. Im Vergleich dazu waren die Brüder Grimm die Mitbegründer des Fachs der Germanistik. Zwar war Lu Xun nicht Bibliothekar wie die Brüder Grimm1, aber er setzte sich für die Gründung mehrerer Bibliotheken ein. Zhou Zuoren arbeitete für die Bibliothek der Peking Universität; er ist später Direktor dieser Bibliothek geworden. Beide Brüder lehrten Literatur an der Peking Universität, wie die Brüder Grimm an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität (der heutigen Humboldt-Universität). Beide Brüderpaare waren wegen des gesellschaftlichen Abstiegs ihrer Familien im jungen Alter von ungefähr zehn Jahren mit der Herausforderung eines sie lebensweltlich umgebenden finanziellen und sozialen Gefälles konfrontiert. Dank der Unterstützung durch Verwandte konnten sie ihren Bildungsgang fortsetzen und entdeckten beim Studium sol-

1 Jacob Grimm war 1808 „Bibliothekar in der Privatbibliothek des westfälischen Königs“ sowie „1816 zweiter Bibliothekar an der Kasseler Bibliothek im Museum Fridericianum“ (Schede 2004, 182). Wilhelm Grimm war „1814 Bibliothekssekretär an der Kasseler Bibliothek im Museum Fridericianum“ sowie „1830 Bibliothekar an der Universitätsbibliothek“ (Schede 2004, 184).

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cher Fächer, die zunächst mit Literatur nichts oder wenig zu tun hatten, die Leidenschaft für die heimische und ausländische Literatur. Im Vergleich zum jeweiligen älteren Bruder sind sowohl Wilhelm Grimm als auch Zhou Zuoren sanfter, poetischer, so dass ihre Werke sich als zeitgemäß und zeitlos bewähren. Für diese Begabung lieferte Jacob Grimm in der Rede auf Wilhelm Grimm einen Grund: Man hört wol sagen, dasz in gesegneter ehe die älteren kinder mehr dem vater, die jüngeren mehr der mutter nachschlagen, sowie dasz unter den söhnen der erste minderbegabt sei als der zweite, diesen aber der dritte übertreffe, wie auch in kindermärchen der dritte hervorgehoben wird [. . .]. (Grimm 1864, 165)

Wilhelm Grimm stand als der jüngere der beiden in der Forschung eher im Schatten des Bruders, um mit Lothar Bluhm (2006, 148) zu sprechen. Ähnlich zurückhaltend ist die Forschung im Westen zu Zhou Zuoren, der ebenfalls im Schatten seines großen Bruders steht. In China fand die Forschung zu seinem Leben und Werk wegen seiner Kollaboration mit der von Japan dirigierten Marionettenregierung2 bis in die 1980er Jahre praktisch nicht statt. In Deutschland arbeitete Jacob Grimm 1808 als Bibliothekar in der Privatbibliothek des westfälischen Königs Jérôme, was aber nie seinem Ruf geschadet hat. Danach hat er das Circular wegen Aufsammlung der Volkspoesie (1815) veröffentlicht, während Zhou Zuoren3 schon vor seiner Kollaboration mit Japan sein Zhengqiu Shaoxing ergetonghua qi [Zirkular wegen Aufsammlung der Kinderlieder und Märchen in Shaoxing]4 (1914) verbreitet hatte. 1918, 1920 und 1922 hat sich diese Sammlung auf nationaler Ebene um Volkslieder erweitert. Beide Sammler richten sich nach der Prämisse, dass „[a]lles dieses getreu und wahrhaftig ohne Schminke und Zuthat aus dem Mund der Erzählenden gefaßt [. . .] werden [muß]“ (zit. nach Petzoldt 1999, 113–114). Beide Sammeltätigkeiten waren von demselben Mann inspiriert worden: Johann Gottfried Herder (1744–1803). Die ‚Stimme des Volks‘ wird in dessen Nachfolge gehört und geschätzt. Eine Arbeitsmethode, die auf ‚Treue und Wahrhaftigkeit‘ beruht, pflegen sie beide. Während Jacob Grimm ‚Wahrheit

2 Im März 1940 wurde in Nanking eine von Japan unterstützte Marionettenregierung unter der Leitung von Wang Jingwei (1883–1944) eingesetzt, der schon zuvor mit der von Jiang Jieshi geführten Regierung in Chongqing gebrochen hatte und für Japans Interessen arbeitete (vgl. Scherer 2001, 475). 3 Lu Xun hat im Februar 1913 in der Monatsschrift der Editionsstelle des Bildungsministeriums dazu aufgerufen, Volkslieder, Sprichwörter, Legenden und Märchen zu sammeln. 4 Diese und alle folgenden Übersetzungen aus dem Chinesischen wurden von der Verfasserin angefertigt.

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und Geist‘ der gesammelten Texte so original wie möglich zu bewahren beabsichtigte, damit der ‚wahre Geist der deutschen Nation‘ herauskristallisiert werde, wollte Zhou Zuoren die Volkspoesie, besonders auf dem Lande, sammeln. Sie äußere nämlich die ‚unverfälschte Stimme des Volks‘, also des Individuums, statt der geltenden Doktrinen und könne sich gegen die herrschenden alten Moralregeln behaupten, die von konfuzianischen Schriften gepredigt wurden. Diese verzehrten seiner Meinung nach die Menschen und richteten sie gleichsam zu Menschenfressern ab. Da die Brüder Zhou glaubten, dass die Kinder Hoffnungsträger seien, die von der seelenfesselnden und -raubenden Moral- und Wissensinstanz des althergebrachten Bildungssystems durch neue Literatur befreit werden könnten, verbindet sich die Volksliteratur als eine Neue Literatur mit der Kindererrettung, was wiederum die Etablierung der Kinderliteratur begünstigt. Kinder werden dadurch nicht nur entdeckt, sondern auch ikonisiert: „Am Anfang der Menschheitsentwicklung stehend, verkörperten das Kind und der Rekurs auf Ursprung und Natur die Notwendigkeit, den bisherigen Entwicklungsverlauf von Gesellschaft und Zivilisation zu korrigieren“ (Frick 2002, 122). Nach Wilhelm Grimm bewahren Kinder ebenso das Ursprünglich-Natürliche auf. Aber nicht wie bei Zhou Zuoren im anthropologischen, sondern im religiösen Sinne. Grimm zitiert aus dem Matthäusevangelium und kommentiert: ,Lasset die Kindlein und wehret ihnen nicht zu mir zu kommen, denn solcher ist das Himmelreich‘; dieser heilige Spruch bewährt sich durch alle Zeiten, überall geht das Leben des Menschen auf, wie eine Blume, ehe sie die stechende Sonne blässt und der irdische Staub trübt, in reiner, unversehrter Farbe. (Grimm 1881, 359)

Deshalb geht innerlich durch die Volkspoesie, so schreiben die Brüder Grimm im Vorwort zu den „Kinder- und Haus-Märchen“, dieselbe Reinheit, um derentwillen uns Kinder so wunderbar und seelig erscheinen; sie haben gleichsam dieselben bläulich-weißen, mackellosen, glänzenden Augen (in die sich die kleinen Kinder selbst so gern greifen [. . .]), die nicht mehr wachsen können, während die andern Glieder noch zart, schwach und zum Dienst der Erde ungeschickt sind. (Grimm und Grimm 1812, VIII–IX)

Auf den Aspekt des christlichen reinen Kindes geht das kindzentrierte Konzept der Brüder Zhou nicht ein. Sie halten das Kind für kein Symbol des Göttlichen, sondern für ein selbständiges, autonomes Wesen, das vor den systematischen Versklavungsmaßnahmen der Erwachsenen geschützt werden muss. Die Kinder sollten von der herkömmlichen Aufzucht zu „pietätvolle[n] Söhne[n] und Enkel [n]“, „gehorsame[n] und loyale[n] Bürger[n]“ (zit. nach Frick 2002, 58) zum Erhalt der hierarchischen Gesellschaft befreit werden. Sie sollten den Status des kleinen Erwachsenen ablegen können und eine altersgemäße Erziehung genießen,

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die die Einbildungskraft der Kinder billigt und fördert. Sonst bleiben sie lebenslang willenlose Untertanen, die den Anspruch auf Freiheit aufgeben, weil sie als Kinder wegen ihres Freiheitsdrangs bestraft wurden. Diese systematische Traumatisierung führt zur Pervertierung des sozialen Verhaltens, wie der französische Sinologe Jean-Pierre Diény5 hinsichtlich der damaligen Epoche prägnant zusammenfasst: „China behandelt die Kinder wie Erwachsene und die Erwachsenen wie Kinder“ (Diény 1973, 7). Um diesem Übel einen radikalen Widerspruch entgegenzusetzen, um eine gesunde Persönlichkeit zu bilden, wird eine komplexe Interaktion zwischen dem Westen und China, der Tradition und der Moderne in Gang gesetzt (vgl. Frick 2002, 21). Die heftige Zurückweisung des kulturellen Erbes und seiner Erziehungstradition hatte zur Folge, dass die in China bisher vernachlässigten Literaturgattungen wie Märchen, Sage und Legende, die bei den Kindern eine breite Rezeption und Popularität fanden, positiv bewertet und der Kinderliteratur zugeordnet wurden. So entstand am Anfang des 20. Jahrhunderts in China, begünstigt durch die 4.-Mai-Bewegung und die Neue-Kultur-Bewegung, eine vielfältige Beschäftigung mit der Übersetzung, Sammlung und Erforschung von Märchen. Die Brüder Zhou gehören zu den ersten Märchenübersetzern bzw. Märchenforschern Chinas. Den Bezug zu den Brüdern Grimm stellte vor allem Zhou Zuoren her. Er hat zwei Märchen (Strohhalm, Kohle und Bohne auf der Reise; Die Rübe) der Brüder Grimm übersetzt und sich in mehreren Artikeln mit Märchen im begrifflichen und thematischen Sinn auseinandergesetzt. Zwischen Mythen, Sagen und Märchen fand er kaum wesentliche Differenzen. Nur seien die ersten religiös, die zweiten historisch, die letzteren literarisch (vgl. Zhou 2014, 25). Ähnlich äußert sich Jacob Grimm im Vorwort zu den Deutschen Sagen: „Das Märchen ist poetischer, die Sage historischer“ (Grimm 1985, 48). Zhou Zuoren hat im Artikel Die Übersetzungsprobleme des Märchens Grimms Märchen vorgestellt und die chinesische Übersetzung von Märchen als Tonghua (Kindergeschichte) für falsch gehalten. Er hat stattdessen Minjiangushi (Volksgeschichten) vorgeschlagen, die teilweise den Kindern angeboten werden, da für die Brüder Zhou Volksliteratur nicht automatisch Kinderliteratur ist. Für die Brüder Grimm diente das Sammeln der Volksliteratur nicht zur Befreiung der Kinder, sondern zur Bildung der nationalen Identität. Sogar das

5 Laut Mary Ann Farquhar (1999, 3) ist Jean-Pierre Diénys Le Monde est à Vous. La Chine et les Livres pour Enfants von 1971 die einzige seriöse Studie zur chinesischen Kinderliteratur im Westen.

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Buch Kinder- und Hausmärchen, das die ‚Kinder‘ im Titel aufweist, ist nach Jacob Grimm gar nicht für Kinder geschrieben, aber es kommt ihnen recht erwünscht und das freut mich sehr, sondern ich hätte nicht mit Lust daran gearbeitet, wenn ich nicht Glaubens wäre, daß es den ernstesten und ältesten Leuten so gut wie mir für Poesie, Mythologie und Geschichte wichtig werden und erscheinen könnte. (Zit. nach Steig und Grimm 1904, 271)

Noch einen Schritt weiter geht Jacob Grimm, indem er konstatiert, dass er die Frage, „ob man überhaupt für Kinder etwas eigenes einrichten müsse“, verneinen müsse, und zwar mit folgender Begründung: Was wir an offenbarten und traditionellen Lehren und Vorschriften besitzen, das ertragen Alte wie Junge, und was diese daran nicht begreifen, über das gleitet ihr Gemüt weg, bis daß sie es lernen, wie eigentlich alle wahre Lehre nur die ist, die das schon vorhandene und bekannte entzündet und erleuchtet, nicht aber eine, die Holz und Feuer beide mitbringt. (Zit. nach Steig und Grimm 1904, 269)

Wilhelm Grimm, der seit 1819 allein die Sammel- und Editionsarbeit der Märchen durchführte, hat aber in seinem Märchen-Vorwort von 1819 die obenstehende Theorie seines Bruders leicht korrigiert: „Dabei haben wir jeden für das Kinderalter nicht passenden Ausdruck in dieser neuen Auflage sorgfältig gelöscht“ (Grimm 2006, 17). Dieses Märchenbuch ist zwar praktisch ein Erziehungsbuch für Kinder geworden, aber auch ein Beitrag zur Identitätsbildung der stark von französischer Kultur beeinflussten deutschen Nation. Besonders als 1806 die französischen Truppen in Kassel einmarschierten, änderte sich nach Wilhelms Ansicht „alles von Grund aus: fremde Menschen, fremde Sitten, auf der Straße und den Spaziergängen eine fremde, laut geredete Sprache“ (Schede 2004, 31). Obwohl er die französische Sprache schon seit der frühen Kindheit kannte, war sie für Grimms Wahrnehmung im Rahmen der Besatzung durch Napoleons Truppen fremd, denn die Armee gleiche einem „Unglück, das der Himmel schickt, eine ganze Saat zu Boden geschlagen“ hat. Und die Volkspoesie ist wie die am Wege stehenden Sträucher, die „auch der einzige Samen für die Zukunft“ (Grimm 2006, 15) sein könnten. Märchen verstehen die Brüder Grimm als eine die Idee der Nation stiftende Instanz, die dem deutschen Volk einen Anhaltspunkt für die kulturelle Einheit verleiht, indem die Vergangenheit in der Form von Mythen in die Gegenwart transkribiert und damit die Zukunft des Volkes gestaltet wird. Das Kind ist hier ein Reinheitssymbol ursprünglicher Ganzheitlichkeit und dient der Einheitsbildung der deutschen Nation im kulturellen Sinne, als die Einheit im politischen Verständnis noch nicht verwirklicht war.

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Für die Brüder Zhou ist der Zusammenhang von Volk, Märchen und Kind durchaus auch mit der Suche nach einer neuen nationalen Identität verbunden, die die alte chinesische Mentalität, geprägt vom Konfuzianismus, aus den Angeln hebt. Dabei kamen die Stimmen des eigenen Volks in China und die der fremden Kultur im Westen zusammen, um so zur Errettung des Landes bzw. des Kindes beizutragen. Die daraus entstandene Blüte der Märchenforschung ist eine gelungene Interaktion des Eigenen und des Fremden. Mithilfe der westlichen Märchen-Philologie wurden die chinesischen Märchen gesammelt und sortiert. Mit dem Fremden das Eigene zu bilden war auch die literarische Praxis der Brüder Grimm. Ihr theoretischer Leitgedanke verlangt zwar die Distanzierung von fremden Sprachen und Kulturen. In der Realität jedoch stießen sie auf die unvermeidbare Vermischung der französischen und der deutschen Narration, da die Textzeugen ihrer Märchen meistens mit französischen Märchen vertraut waren. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die beiden Brüderpaare trotz historischer Differenzen ihre Ideen der Bildung bzw. Umbildung der neuen Nation mit einem Konzept der Bildung bzw. Umbildung der neuen Narration verbinden. Das Märchen hat sich im Verbund mit der Folkloreforschung sowohl am Anfang des 20. Jahrhunderts in China als auch am Anfang des 19. Jahrhunderts in Deutschland als zentrales identitätsstiftendes Organ des Volkes erwiesen und zur Bildung des modernen Staats beigetragen. Das gilt sowohl für das sich in der halbfeudalen und halbkolonialen Gesellschaft befindende China wie auch für das aus kleinen und großen Fürstentümern bestehende Deutschland.

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Epochenwechsel in China – mit Goethe: Guo Moruo, Richard Wilhelm und die Bewegung des 4. Mai 1919 „Der Edle pflegt die Wurzel; steht die Wurzel fest, so wächst der Weg. Pietät und Gehorsam: das sind die Wurzeln des Menschentums.“ Konfuzius: Gespräche1 „Bis zur Wurzel glühn die hohlen Stämme, Purpurrot im Glühn. – Was sich sonst dem Blick empfohlen, Mit Jahrhunderten ist hin.“ Goethe: Faust2

1 Faust-Lektüre in der chinesischen Provinz: Goethe-Spuren Anlässlich des „Jugendtages“, der in China in Erinnerung an den 4. Mai 1919 alljährlich begangen wird, erzählte der chinesische Präsident Xi Jinping am 4. Mai 2013 im Gespräch mit Vertretern chinesischer Jugendorganisationen von jener Epoche seines Lebens, die er während der maoistischen Kulturrevolution Ende der sechziger und zu Beginn der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts bei einer landwirtschaftlichen Produktionsbrigade in der Provinz Shaanxi verbracht hat. Goethes Faust, so berichtet der Präsident bei dieser Gelegenheit, habe zu den Büchern gezählt, die er damals in der örtlichen Bibliothek entliehen und – dreimal! – gelesen habe. Um die für die wiederholte Lektüre des umfangreichen Textes nötige Verlängerung der eigentlich strikt begrenzten Leihfrist zu erlangen, habe er den Bibliothekar mehrmals zu einer Eierspeise eingeladen. Das ist angesichts der in jenen Jahren notorisch prekären Versorgungslage sicherlich eine außergewöhnlich hohe „Leihgebühr“, die uns auf die große Bedeutung schließen lässt,

1 Aus dem Lehrsatz über die „Ehrfurcht als Grundlage der staatlichen Ordnung“. Konfuzius 2018 [1910], 67. 2 Goethes Faust wird mit Angabe der Verszahlen zitiert nach Goethe 2017, hier V. 11334–1137. Open Access. © 2021 Michael Jaeger, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110682427-008

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die die Faust-Lektüre für den Studenten Xi Jinping besaß. Und offenbar ist in den Augen des Staatspräsidenten Xi Jinping die Erinnerung an sein Faust-Studium ein Motiv, das sich nun gerade in die Retrospektive auf den 4. Mai 1919 passend einfügt und dessen Bedeutung für die chinesische Geschichte erhellt. Im erweiterten historischen Rückblick auf das chinesische 20. Jahrhundert stellt sich allerdings die Frage: Wie konnte mitten in der Kulturrevolution, die ja nicht nur die klassische Überlieferung Chinas, sondern erst recht die westliche Literatur verteufelte, der in die landwirtschaftliche Produktion geschickte Student Xi Jinping in einer Provinzbibliothek an eine chinesische Fassung von Goethes Faust gelangen? Bei dem Buch, das er dreimal hintereinander verschlang, handelte es sich zweifellos um die Übersetzungen, die Guo Moruo über mehrere Jahrzehnte hinweg erarbeitet hatte. Bereits 1928 war Faust I erschienen, 1947 folgte die Übersetzung von Faust II, die 1953 wiederaufgelegt wurde.3 Den Spuren von Guos Faust-Übersetzung nachgehend, gelangen wir zu jener bemerkenswerten Goethe-Rezeption, die im Umkreis der 4.-Mai-Bewegung und ihres Interesses für die europäische und amerikanische Literatur einsetzt. Goethe nimmt in dieser Perspektive die Gestalt eines Repräsentanten der westlichen Kultur an, deren Autonomie-, Emanzipations- und Fortschrittsideale die literarische Revolution in China, ihren Protest vor allem gegen die konfuzianisch geprägte Tradition und schließlich Chinas Weg in die Moderne beflügeln sollten. Die im 20. Jahrhundert paradox verlaufende chinesisch-deutsche Ideengeschichte kommt prägnant zu Gesicht, wenn man vergleichend auf jene Rezeption der klassischen Literatur des Konfuzianismus und Daoismus schaut, die zur selben Zeit in Deutschland anhebt, um hier nun allerdings die Kritik der Moderne und ihrer Fortschritts- und Rationalisierungsideale zu inspirieren. Das Interesse an der chinesischen Philosophie und Literatur begleitete das im Vorfeld des Ersten Weltkriegs und dann erst recht nach der deutschen Niederlage anschwellende Krisenbewusstsein. Der bedeutendste und wirkungsmächtigste Protagonist der deutschen China-Faszination dieser Epoche war Richard Wilhelm. Aus China, wo er von 1899 bis 1920 und 1922 bis 1924 als Missionar und Sinologe arbeitete, versorgte er das deutsche Publikum mit den Übersetzungen der Klassiker der chinesischen Philosophie und Literatur. Daneben war Wilhelm in China als Vermittler der deutschen Kultur tätig, nicht zuletzt als Dozent der Peking Universität – also gleichsam im intellektuellen Zentrum der chinesischen Reformdebatte –, an der er in den Jahren zwischen 1922 und 1924 eine Goethe- und Faustvorlesung hielt.

3 Vgl. Wuneng (2000, 56–60) zur Situation des chinesischen Buchmarkts, auf dem nach 1949 – und erst recht während der Kulturrevolution (1966–1976) – nur die im chinesischen Staatsverlag erschienenen Goethe-Übersetzungen Guo Moruos greifbar waren.

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Abb. 1: Buchumschlag der Faustübersetzung (Faust I) von Guo Moruo, Shanghai 1930.

Das in deutscher Sprache geschriebene maschinenschriftliche Manuskript zu Wilhelms Lehrveranstaltung hat sich in den Bibliotheksarchiven erhalten, wo ich es während eines Gastsemesters an der Peking Universität im Jahre 2018

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einsehen konnte. Es wird sich im Folgenden zeigen, dass Wilhelms Text verstanden werden kann als Beitrag zur zeitgenössischen Goethe-Rezeption in China und als subtile Kritik an der die chinesischen Werther- und Faust-Lektüren kennzeichnenden Begeisterung für die prometheisch-titanische Rebellion der goetheschen Sturm-und-Drang-Helden. Gleichsam im philologischen Brennglas wird die Gegenüberstellung der von Guo Moruo und Richard Wilhelm denkbar unterschiedlich ausgestalteten Thematik „Goethe und China“ den Blick öffnen auf den widerspruchsvollen Ideenaustausch zwischen China und Deutschland in der Zeit der 4.-Mai-Bewegung. Auffällig sind die übereinstimmenden zeitgeschichtlichen Parameter dieser intellektuellen chinesisch-deutschen Koinzidenz im Zeichen Goethes: Zeigt sich auf exemplarische Weise in Guo Moruos Werk die traditionskritische Revolte, die nach dem Zusammenbruch der Mandschu-Dynastie und nach der Abdankung des chinesischen Kaiserhauses eingeht in die Modernisierungsprogrammatik der 4.-Mai-Bewegung, so wird man auf der anderen Seite Richard Wilhelms chinesisch-deutscher Vermittlungs- und Übersetzungsarbeit jene Modernismus- und Rationalismuskritik ansehen können, die in Deutschland nach der Erfahrung des Ersten Weltkriegs und nach dem Zusammenbruch des deutschen Kaiserreichs Intellektuellen- und Avantgardekreise unterschiedlichster Couleur erfasst hatte.

2 Guo Moruo Wenden wir uns zunächst dem Faust-Übersetzer Guo Moruo zu, dessen Biografie die Brüche, Abgründe und Kontinuitäten des chinesischen 20. Jahrhunderts abbildet. Geboren 1892 in der Spätzeit der Mandschu-Dynastie, durchlief Guo zunächst noch das alte Bildungssystem der überlieferten Gelehrsamkeit.4 Später sehen wir Guo Moruo, wie zahlreiche seiner Altersgenossen, Lu Xun etwa, 1913 auf dem Weg zum Medizinstudium nach Japan.5 Nach Japan ist Guo Moruo wohl auch deshalb gegangen, weil er auf diese Weise einer Ehe entlaufen

4 Über den das Ende der Qing-Dynastie kennzeichnenden Niedergang des traditionellen chinesischen Schulwesens, in dessen Zentrum das Studium – und Auswendiglernen – der Klassiker stand, berichtet Guo Moruo in seinen Jugenderinnerungen (Guo 1985b, hier insbesondere im ersten Text Zeit der Revolution [urspr. 1929], 24–39). 5 Seine Jugenderinnerungen lässt Guo Moruo im Jahre 1913 gleichsam symbolisch enden mit dem Abschied aus China – wo unterdessen Yuan Shikai Präsident der noch jungen Republik geworden war und eine restaurative Politik verfolgte – sowie mit dem Aufbruch zum Studium in der modernen Welt Japans (Guo 1985b, 242–257).

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Abb. 2: Titelblatt des Faustkommentars von Richard Wilhelm. Maschinenschriftliches Manuskript in der Universitätsbibliothek der Peking Universität.

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konnte, die seine Eltern für ihn arrangiert hatten. Das ist keineswegs ein individuelles biografisches Detail am Rande, vielmehr wird der Protest gegen das im alten, konfuzianisch geprägten China verbreitete Phänomen der arrangierten Ehe später zu einem der markanten Motive der Revolution des 4. Mai 1919 und ihrer Literatur zählen.6

Abb. 3: Guo Moruo (zweiter von rechts) beim Medizinstudium in Japan.

6 Als absurdes Theater einer völlig sinnentleerten und gleichwohl rigiden Tradition schildert Guo Moruo – in einem „Leidensbericht“ – die Zeremonie der von seiner Familie für ihn arrangierten Hochzeit mit einer ihm bis zu diesem Zeitpunkt völlig unbekannten Frau, die er nach Abschluss des sich über mehrere Tage hinziehenden grotesken Rituals sofort wieder verlässt (Guo 1985b, 165–184, hier 184).

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In Japan studiert Guo Moruo Medizin, sein Interesse gilt aber vor allem dem Fremdsprachenstudium und der Lektüre europäischer und amerikanischer Literatur. Er ist mit Übersetzungen ins Chinesische befasst und schreibt Gedichte, gründet mit literarisch gleichgesinnten chinesischen Studenten in Japan die „Schöpfungs-Gesellschaft“, deren ästhetisches Programm es ist, die chinesische Umgangs- und Alltagssprache auch für die lyrische Produktion zu verwenden. Mit dieser literarischen Unternehmung geraten Guo Moruo und seine Freunde in unmittelbare Nähe jener traditionskritischen Intellektuellen, die sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts an der neugegründeten Peking Universität gesammelt hatten und die angesichts der militärischen und politischen Demütigungen, die das alte kaiserliche China in der Auseinandersetzung mit den Kolonialmächten und insbesondere im Konflikt mit Japan erfahren hatte, eine fundamentale politische und kulturelle Modernisierung Chinas forderten.

2.1 Guo Moruo und Goethe Wie bei Lu Xun, so sind auch in den Schriften Guo Moruos die Befreiung des Individuums und die Rebellion gegen die Fesseln der Überlieferung die zeittypischen Hauptthemen. Das dazu passende beispielgebende literarische Emanzipationsprogramm findet Guo in Goethes Texten der Sturm-und-Drang-Periode, die er bei seinen Literaturstudien in Japan kennengelernt hatte. Goethes Aktualität im Kontext des kulturpolitischen Programms des 4. Mai 1919 gewinnt einen deutlichen und prominenten Ausdruck in der 1920 unter dem Titel „Kleeblatt“ erscheinenden Briefsammlung, in der die Autoren Guo Moruo, Tian Han und Zong Baihua ihre Diskussionen über einen antitraditionalistischen Literaturbegriff im Allgemeinen und über ihre Goethe-Lektüre im Besonderen publizierten. Im Vorwort des Bandes erklärt Tian Han Goethe zum „Mittelpunkt“ der literarischen Debatte der drei Schriftsteller und verbindet mit der Veröffentlichung ihrer Korrespondenz gar die Hoffnung auf einen das junge Publikum in Begeisterung versetzenden chinesischen Werther-Effekt: All diese Briefe von uns stehen in engem Zusammenhang miteinander, in einen Band aufgenommen ähneln sie den Leiden des jungen Werthers; nachdem Goethe sein Buch veröffentlicht hatte, entstand ein großes Wertherfieber in der deutschen Jugend! Nun erscheint unser Kleeblatt, und in der chinesischen Jugend muss ein großes Kleeblatt-Fieber entstehen! (Zitiert nach Wuneng 2000, 31)

Die brisante Bedeutung vermag Goethes Werther in der Wahrnehmung der Kleeblatt-Autoren deshalb zu gewinnen, weil sie den Briefroman der deutschen Sturm-und-Drang-Epoche des 18. Jahrhunderts als programmatische Rebellion

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des empfindsamen und zugleich selbstbewussten Subjekts gegen die Fesseln der Tradition verstehen und weil sie – so ihr nicht eben bescheidener Anspruch – mit ihren eigenen Briefen die chinesische Jugend des 20. Jahrhunderts in eine enthusiastische Sturm-und-Drang-Bewegung zur Befreiung des individuellen Selbstbewusstseins versetzen wollen. Werther ist in dieser Perspektive das literaturgeschichtliche Symbol eines allgemeingültigen modernen Autonomiekonzepts, dessen Signalwort „Ich“ lautet. So kann Goethe im Kontext des 4. Mai 1919 und der Neue-Kultur-Bewegung zum Stichwortgeber einer neuen Ästhetik im Zeichen der revoltierenden Subjektivität werden, wie es Guo Moruo in der Kleeblatt-Korrespondenz erläutert: „Ich denke, dass wir die Werke von Goethe so viel wie möglich übersetzen und erforschen müssen, da seine Zeit – die Zeit des Sturm und Drang – unserer Zeit sehr ähnlich ist! Von ihm können wir viel lernen!“ (zitiert nach Wuneng 2000, 34). An das hier präsentierte Arbeitsprogramm sollte sich Guo Moruo selbst während der folgenden Jahre genau halten. Denn bereits vor seinen Übertragungen des Faustdramas hatte er 1922 eine Übersetzung von Goethes Werther veröffentlicht, wie sich das für die Vertreter der Neue-Kultur-Bewegung gehört, in chinesischer Umgangssprache und womöglich gerade deshalb mit gewaltigem Erfolg beim chinesischen Publikum (vgl. Wuneng 2000, 37–38). Die Pathosfiguren der goetheschen Sturm-und-Drang-Texte, neben Werther und Faust vor allem Prometheus, hört man denn auch im Hintergrund gleichsam mitsprechen in Guo Moruos eigener Dichtung, besonders deutlich in seiner 1921 erscheinenden Gedichtsammlung Göttinnen, darin er unter dem Titel „Himmelshund“ eine Hymne anstimmt auf das alle Grenzen der Tradition durchbrechende moderne autonome Subjekt. Man wird dieses Gedicht als lyrisches Manifest der Neue-Kultur-Bewegung ansehen können. Jede der 29 Verszeilen setzt mit „Ich“ ein und protestiert solchermaßen gegen das Aufgehen des individuellen Selbstbewusstseins in der streng hierarchisch gegliederten kosmischen, politisch-gesellschaftlichen und familiär-patriarchalischen Ordnung, wie es bislang für die vom konfuzianischen Denken geprägte chinesische Dichtung typisch war. Guo Moruos vom jungen Goethe inspirierter Prometheismus lässt nun das Ich vorrücken ins Zentrum des Universums: Ich bin ein Himmelshund!/Ich verzehre den Mond,/Ich verzehre die Sonne,/Ich verzehre alle Sterne,/Ich verzehre das gesamte Universum./Ich bin ich!//Ich bin das Mondlicht/Ich bin das Sonnenlicht,/Ich bin das Licht aller Sterne,/Ich bin das Licht der Röntgenstrahlen,/Ich bin die Gesamtheit aller Energy des Universums! (Guo 1985a, 35)7

7 Zu den Spuren der Goethe-Rezeption in Guo Moruos Gedichtband Göttinnen, insbesondere zu den Faust- und Prometheusbezügen darin, vgl. Schäfer 1986.

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Das chinesische Original – naturgemäß in Umgangssprache geschrieben – nimmt die englischen Wörter „x-ray“ (für Röntgenstrahlen) und „energy“ in den poetischen Text auf und bildet auf diese Weise das prometheische Bündnis von revoltierendem Voluntarismus und technischer Innovation ab. Unter den Bedingungen der Moderne vollzieht sich Prometheus’ Auflehnung gegen das religiöse Fundament der überlieferten Kultur als industrielle Revolution. Sie treibt den Prozess gegen die Tradition an und vollzieht den Raub des himmlischen Feuers – gleichgültig, ob es von den Göttern des Westens oder des Ostens gehütet wird – seit Beginn des 20. Jahrhunderts in globalen Dimensionen. Daher kann es in Guo Moruos Gedicht heißen: „Ich brenne wie das Feuer!/Ich schreie wie das Meer!/Ich rase wie die Elektrizität“ (Guo 1985a, 35). In solchen in der chinesischen Lyrik bislang unerhörten Proklamationen einer rebellischen Subjektivität gewinnen die beiden Seiten der Bewegung des 4. Mai einen literarischen Ausdruck: die Konzepte einer modernen Ästhetik sowie die Ideen der gesellschaftlichen und ökonomischen Modernisierung. Den subjektiven und den objektiven Aspekt dieser spezifisch modernen Revolte gegen die konfuzianischen Fundamente des alten China spricht Guo Moruo auch im „Prolog“ zu seiner Anthologie Göttinnen aus. Die Gedichte der jetzt anbrechenden Epoche sind nämlich als jene sehr weltlichen „Göttinnen“ anzusehen, mit deren Hilfe die Emanzipation sowohl des individuellen Gefühlslebens – des „Herzens“, wie es empfindsamkeits- und Sturm-und-Drang-typisch heißen muss – wie auch der rationalen Erkenntnis aus dem überlieferten Korsett der Verhaltens- und Denkmuster gelingen soll: „Göttinnen!/Geht und sucht Menschen, die beben wie ich;/Geht und sucht Menschen, die brennen wie ich./Geht und rührt meiner Generation/Die Stränge des Herzens auf,/Entflammt ihr Wissenslicht!“ (Guo 1985a, 34). Phantastisch mutet vorerst noch die Verbindung an, die Guo Moruo in der ersten Strophe des „Prologs“ herstellt zwischen dem emotionalen Beben, das die neue Poesie des autonomen Subjekts unter der jungen Generation Chinas auslösen soll, und dem kommunistischen Modernisierungsprogramm einer vergesellschafteten Ökonomie. Zwar werden in Guos Gedicht schon alle Schlüsselbegriffe der marxistischen Doktrin genannt – Privatbesitz, Eigentum, Arbeit, Produktion, Proletariat –, allerdings handelt es sich bei dem Produktionsprozess, von dem hier die Rede ist, um Poesie: „Ich bin ein Proletarier./Denn außer meinem splitternackten Ich/Verfüge ich über keinen Privatbesitz./Die, Göttinnen‘ sind das Produkt meiner Arbeit,/Also sind sie mein Eigentum,/Aber ich will Kommunist sein/Und sie öffentlich machen“ (Guo 1985a, 34). Dieses Bündnis aus einem zunächst noch poetisch verstandenen Kommunismus und der Ästhetik des expressionistisch-lyrischen Subjektivismus, wofür Guo Moruos „Göttinnen“ einstehen, sollte sich wenig später auf dem Weg Guo Moruos in

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die Orthodoxie des chinesischen Marxismus wieder auflösen. Nicht Werther, sondern Faust wird dann sein aus dem Werk Goethes stammender literarischer Begleiter sein.

2.2 Guo Moruos Karriere Guo Moruo hatte, mit Unterbrechungen, über dreißig Jahre an seiner FaustÜbersetzung gearbeitet, etwa zwischen 1920 und 1950, also in der Ära des gewaltigen Umbruchs in China, der von endlosen Kriegen und Bürgerkriegen begleitet war, an denen sich Guo Moruo in wechselnden Positionen und in unterschiedlichen politischen Konstellationen beteiligte, denen er zeitweise aber auch ins Exil nach Japan und Hongkong auswich. Wie so viele Aktivisten des 4. Mai wandte sich Guo Moruo Mitte der 1920er Jahre dem Marxismus zu und nahm auf Seiten der kommunistischen Partei 1925 während der Einheitsfront von Nationalisten (GMD) und Kommunisten (KPCh) am Feldzug gegen die Warlords teil. Als die Einheitsfront zerbricht und 1927 die Kommunistenverfolgungen durch den Guomindang-Führer Chiang Kai-shek beginnen, geht Guo Moruo für die nächsten zehn Jahre nach Japan, ehe er 1937 mit Ausbruch des Japanisch-Chinesischen Kriegs nach China zurückkehrt, wo er in der neuerdings wieder geschlossenen Einheitsfront von Guomindang und Kommunisten eine Propagandaabteilung leitet. Nach dem abermaligen Zerbrechen dieses Bündnisses weicht Guo Moruo nach Hongkong aus, ehe er sich schließlich während des nach 1945 mit unerbittlicher Härte zwischen Guomindang und Kommunisten ausbrechenden Bürgerkriegs Mao Zedongs roter Armee anschließt. Bei Maos Ausrufung der Volksrepublik vom Tor des himmlischen Friedens vor dem alten Kaiserpalast in Peking am 1. Oktober 1949 ist Guo mit dabei unter den führenden Kadern der KPCh. Es beginnt zunächst eine steile Karriere in Staat und Partei, Guo ist der parteioffizielle Intellektuelle und Schriftsteller schlechthin, 1949 stellvertretender Ministerpräsident, 1954 stellvertretender Vorsitzender des Nationalen Volkskongresses. 1966, mit Beginn der Kulturrevolution, folgt, wie bei so vielen Intellektuellen der Partei, der jähe Absturz. Daran schließt sich an das zeittypische Schauspiel des Gesichtsverlusts und der Versuche, das Gesicht wiederzugewinnen, einerseits durch öffentliche Schuldbekenntnisse und Denunziation, andererseits durch bedingungslose Zustimmung zum Prinzip der Kulturrevolution, also zum kompromisslosen Kampf gegen die „vier Alten“ der chinesischen Überlieferung: gegen „alte Ideen, alte Kultur, alte Sitten, alte Praktiken“ (Dabringhaus 2008, 93). Diesem Prinzip des radikalen Traditionsbruchs sind dann während der Kulturrevolution auch die verhängnisvollen Zerstörungen der alten chinesischen Kultur (ihrer Tempelge-

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bäude vor allem) geschuldet, deren Spuren bis zu diesem Zeitpunkt noch allgegenwärtig in den Städten und auf dem Lande sowie im privaten Raum der chinesischen Familien waren. So bringt das Prinzip „Kulturrevolution“, das die moderne chinesische Geschichte kennzeichnet, die 4.-Mai-Bewegung, wie Sabine Dabringhaus erläutert, in eine höchst paradoxe Verbindung zu den Ereignissen der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts: Nichts [so das radikale Programm der Kulturrevolution] sollte mehr an die Vergangenheit erinnern. Hatte der Ikonoklasmus der Vierten-Mai-Ära zu einer Öffnung Chinas für alles Neue, Moderne, Westliche geführt, so engten sich die Kulturrevolutionäre der 1960er Jahre ganz auf eine maoistische Orthodoxie ein. (Dabringhaus 2008, 93)8

Indem Guo komplett auf die neue Parteilinie einschwenkt, Lobgedichte auf die Kulturrevolution verfasst, gelingt es ihm zwar, sein Gesicht wiederzugewinnen, seine Familie schützen kann er indessen nicht. Zwei seiner Söhne verlieren ihr Leben. 1969 erfolgt Guos Rehabilitierung. Abermals beginnt ein steiler Aufstieg in einflussreiche Positionen, er rückt sogleich ins Zentralkomitee der KPCh auf, gehört zur privilegierten Parteiaristokratie, wohnt in Peking in einer renovierten Prinzenresidenz, steht als Präsident an der Spitze der chinesischen Akademie der Wissenschaften und ist der bevorzugte Gesprächspartner des alten Mao. Nach dessen Tod 1976 und dem Ende der Kulturrevolution finden wir Guo dann sogleich auf der Seite der Kritiker der ultralinken sogenannten „Vierer-Bande“ wieder. Am Ende seines Lebens wird Guo gefeiert als ein „Goethe Chinas“. Bei Guos Beerdigung 1978 hält der neue starke Mann der Partei, Deng Xiaoping, die Grabrede, derselbe Deng, der wenige Monate später die Reformen und die Öffnung Chinas und mithin das Ende der Epoche Maos einleitet.9

8 Zur Kultur als zentraler Schauplatz des Modernisierungs- und Revolutionsprozesses in der Geschichte Chinas seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bemerkt Helwig Schmidt-Glintzer: „Allen chinesischen Modernisierungsbestrebungen seit der sogenannten Selbststärkungsbewegung im späten 19. Jahrhundert bis heute aber ist gemeinsam, dass sie die Modernisierung Chinas als eine Frage der Kultur behandeln. Zwar wurde von vielen die Auffassung vertreten, aus dem Westen sollte man nur Technik und Wissenschaft übernehmen (yong), in der Substanz (ti) aber chinesisch bleiben, doch sahen auch die Vertreter dieser These in der traditionellen Bildung und Sozialverfassung, kurz: im Konfuzianismus ein Hindernis für die Modernisierung“ (Schmidt-Glintzer 2008, 175). 9 Die Angaben zu Guo Moruos Karriere sind der Studie entnommen, die Pu Wang über den historischen Zusammenhang zwischen Guo Moruos Werk – mit der Übersetzung von Goethes Faust im Mittelpunkt – und der chinesischen Revolutionsepoche des 20. Jahrhunderts vorgelegt hat. Pu Wangs Interesse gilt dem politischen („revolutionären“) Gehalt von Guos Übersetzungsarbeit (vgl. Wang 2018, 5). – In seiner speziellen, Literaturwissenschaft, Ideen-, Ideologie- und Zeitge-

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Abb. 4: Rosengarten in Guos Residenz in Peking.

2.3 Faust und die moderne Geschichtsphilosophie Wenn man auf den gewaltigen Mahlstrom der Geschichte Chinas im 20. Jahrhundert schaut, fragt man sich verwundert, welchen Sinn, welche Erkenntnis nun ausgerechnet die Besinnung auf Goethe stiften soll in diesem riesenhaften historischen Drama, das über weite Strecken als epochale Tragödie verläuft und über ungezählte Opfer hinweggeht. Eine Antwort darauf gibt eine FaustReflexion Guos aus dem Jahre 1947, in der er mitten im chinesischen Bürger-

schichte verbindenden Fragestellung setzt Pu Wang die vorausgehende historische und politologische Forschung zur intellektuellen und politischen Biografie Guo Moruos fort. Dazu zählen insbesondere Roy 1971 und Chen 2007. – Diesseits von Pu Wangs revolutionsgeschichtlichen Ableitungen hat Nora Bartels am Beispiel von Fausts Eingangsmonolog in der Szene „Nacht“ die Faustübersetzung Guo Moruos einer übersetzungswissenschaftlichen Analyse – im Vergleich mit der japanischen Faustübersetzung von Mori Rintarō – unterzogen (vgl. insbesondere Bartels 2012, 115–137, zur Übersetzung Guos sowie zu Transkription und Rückübersetzung der chinesischen Fassung).

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krieg feststellt, dass Goethes Drama die Entwicklungsgeschichte des Zeitgeistes im europäischen 19. Jahrhundert darstelle, die für die gegenwärtige Revolution in China relevant sei, weil sich Goethes Tragödie ins chinesische 20. Jahrhundert übersetzen lasse. In der Geschichte, so Guos Überzeugung, sei es die des 19. Jahrhunderts (in Europa) oder die des 20. Jahrhunderts (in China), ist der gleiche produktive, sinnstiftende Geist tätig, und diesen substantiellen, in der Geschichte selbst gegenwärtigen und tätigen Geschichtssinn bringe Goethes Drama zur Anschauung.10 In Guos Perspektive ist die Übersetzung und das Verständnis des goetheschen Textes eine Erkenntnisübung, die befähigt zum richtigen Verständnis der Geschichte auch in China, die doch auf den ersten Blick so mahlstromhaft chaotisch aussieht, die aber doch produktiv ist, insofern sie, über alle Widersprüche, Leiden, Zerstörungen und Opfer hinweg, zuletzt immer eine sinnvolle Entwicklung ausführt, nach der Art einer kreativen Zerstörung, die man, wenn man es denn so will, etwa aus Mephistos Versen herauslesen kann: „Ich bin der Geist der stets verneint!/Und das mit Recht; denn alles was entsteht/Ist wert daß es zu Grunde geht“ (V. 1338–1340). Da jede Verneinung eine andere, neue Wirklichkeit erzeugt, lässt sich das von Mephisto gefeierte Zugrundegehen 10 Mithin, so die Generalthese von Pu Wang, ist es der Übersetzer Guo Moruo, der in seiner Übertragung der Fausttragödie Goethes in die chinesische Sprache zugleich den Nachweis einer Übertragbarkeit der marxistischen Geschichts- und Revolutionstheorie – also einer „Translatability of Revolution“ – auf die chinesische Politik im 20. Jahrhundert führt und der sich solchermaßen nun gerade in seiner literarischen Arbeit als (Faust-)Übersetzer an der chinesischen Revolution beteiligt: „[. . .] in 1947, when the civil war between the GMD and the communists drew to a deadlock, he finished his translation auf Faust II. On that occasion, he characterized Goethe’s epic drama as a ,developmental history of Zeitgeist‘ [shidai jingshen], and announced its relevance to the ongoing revolution, as if this German tragedy – an ,allegory of the nineteenth century‘ – had been written for twentieth-century China“ (Wang 2018, 2). Und zusammenfassend stellt Pu Wang über die Guo Moruos Faustfaszination offenbar zugrundeliegende Verknüpfung von Übersetzung und Revolution fest: „Guo’s translation [. . .] was inscribed in the Chinese Revolution. It is not only a linguistic, interpretative, and intellectual transference, it also distills the historical experience of revolution. If in the May Fourth Movement Guo’s translation of geschäftiger Geist [in seiner Übersetzung von Faust I, V. 511] as ,creative spirit‘ represented an identification with a new creativity/collectivity, then the ,difficult‘ figuring of Zeitgeist in 1947 testified to the Chinese Revolution as a dialectical translation of confusing temporalities into an urgent momentum of sociopolitical change“ (Wang 2018, 157). – Zwischen der frühen Goethe-Begeisterung im Umfeld der 4.-Mai-Bewegung und der späteren „Übersetzung“ der Fausttragödie in ein literarisches Abbild des Revolutionsprozesses in China liegt in Guos intellektueller Biografie während der 1930er Jahre eine Phase der strengen GoetheKritik, die, desgleichen marxistisch inspiriert, den fehlenden „Klassenstandpunkt“ in Goethes Werk moniert. Zu dieser Unterbrechung der Goethe-Rezeption bei Guo vgl. Bauer 1972, 193–197, sowie Roy 1971, 93–99 und 134–139.

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alles Entstandenen in einen dramatischen bzw. historisch-dialektischen Prozess übersetzen, dessen Antriebskraft die Negation ist. Aus der bösen Kraft, die verneint und zerstört, kann daher „ein Teil von jener Kraft“ werden, die „stets das Gute schafft“ (V. 1336–1337), so dass, wie es im „Prolog im Himmel“ heißt, sogar der „Teufel“ mit-„schaffen“ muss (V. 343), sofern denn nur der Gesamtprozess versöhnlich ausgeht oder – wie nun sicherlich in Goethes Fausttragödie – gar mit einer Erlösung endet. Diese poetisch-mystische Versöhnung des opferheischenden Handlungsverlaufs in Goethes Tragödie wurde schon in Hegels Faustspekulation zu einem literarischen Modell des modernen Prozessdenkens, das seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert die Weltgeschichte als Fortschritts- und Emanzipationsunternehmen und mithin als profane Erlösung auslegt, sei es als philosophisches Wahrheitsgeschehen und Bewusstseinsbefreiung (bei Hegel) oder als politische Emanzipation und Revolution (bei den Linkshegelianern) oder dann als Industrialisierungsprozess und Unterwerfung der Natur (bei Marx). In allen Variationen dieses Prozessgeschehens, ob nun idealistisch oder materialistisch, ist die Weltgeschichte das Weltgericht. Der Prozess läuft im doppelten Wortsinn ab, als Bewegung und Gerichtsverhandlung. Die Geschichte selbst agiert als letzte Instanz, vollstreckt das Urteil über Vergangenheit und Überlieferung und treibt die zielgerichtete, sinnvolle und fortschrittliche Bewegung in die Zukunft an. Nahezu wörtlich übernimmt Guo Moruo jene marxistische Auslegung der Faustspekulation Hegels, die Georg Lukács 1940 in Moskau ausgearbeitet hatte. Entsprechend heißt es in Guos Kurzer Interpretation von Faust, einem maßgeblichen Text der zeitgenössischen chinesischen Goethe-Rezeption, der 1947 zeitgleich mit der ersten Publikation seiner Faust-II-Übersetzung erschienen war: (Faust) is clothed in a medieval vestment, but what is inside is the fire of the modern man’s insatiable impulse. It seems to be a contradiction, and this ostensible contradiction determines the immense heterogeneity (pangzaxing) within Faust. But we should not be shocked by the appearance of this immense heterogeneity . . . . (The murkiness) . . . is actually . . . a faithful record of the development of the age. So I venture to argue that this is a work of reality, not only filled with the appearances of reality, but also with the soul (hun) of reality. A macro-soul (da hun) of reality, that is, the Zeitgeist, embodies a wide variety of micro-souls of reality, i. e. individualities . . . . [Goethe] . . . revealed the truth of the development of the world, and grasped this dialectical spirit.11

11 Zitiert nach Pu Wangs englischer Übersetzung der Faustinterpretation Guo Moruos (Wang 2018, 147). Pu Wang lässt es ausdrücklich offen, ob Guo Moruo die marxistischen Faustauslegungen von Georg Lukács kannte (vgl. Wang 2018, 148). Indessen gestattet Guos Wortwahl – „macro-soul (da hun) of reality“ und „micro-souls of reality, i. e. individualities“ – keinen Zweifel darüber, dass er eben genau jene Verbindung von Hegelianismus und Marxismus zitiert, die die Fauststudien von Lukács kennzeichnet. In ihnen heißt es: „So entsteht für Goethe

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2.4 Konfuzianische Klassik und westliche Moderne Diese Deutung aber der Geschichte als Prozess – als Entwicklungs-, Emanzipations-, Fortschritts-, Rationalisierungs-, Industrialisierungsprozess usw. – wird man mit Karl Löwith als Grundoperation und Signatur einer spezifisch westlichen Moderne ansehen, insofern die moderne europäische Geschichtsphilosophie die alte biblische, jüdisch-christliche Heilsgeschichte säkularisiert und in ein profanes, in der Weltgeschichte und durch dieselbe sich realisierendes Fortschrittsgeschehen übersetzt.12 Weil aber Goethes Faust in der geschichtsphilosophischen Schule Europas, zumal in ihrer marxistischen Abteilung, stets als literarisches Modell des Fortschritts- und Modernisierungsprozesses angesehen wurde, musste dieser Text in den Augen Guo Moruos nun gerade im Horizont der 4.-Mai-Bewegung eine hochbrisante Faszinationskraft gewinnen. In Gestalt nämlich der Fausttragödie, sofern man sie denn nur hegelianisch oder später mit den Augen von Georg Lukács „perfektibilistisch“ als ein literarisches Abbild des modernen dialektischen und marxistischen Geschichtsbewusstseins liest, hat Guo die Überlieferungskritik des 4. Mai und der späteren chinesischen Revolution mit der schärfsten Munition ausgestattet, die die Ideengeschichte des Westens zu Beginn des 20. Jahrhunderts an die junge, gegen die eigene Tradition aufbegehrende Generation des Ostens weitergeben konnte: mit dem

wie für Hegel der unaufhaltsame Fortschritt der Menschengattung aus einer Kette von individuellen Tragödien; die Tragödien im Mikrokosmus des Individuums sind das Offenbarwerden des unaufhaltsamen Fortschritts im Makrokosmos der Gattung: dies ist das gemeinsame philosophische Moment im Faust und in der Phänomenologie des Geistes“ (Lukács 1947, 147). Der allgemeine Geschichtsprozess scheint in Lukács’ Perspektive überhaupt erst „vorwärts“getrieben zu werden zum „Fortschritt“ durch die persönlichen Tragödien auf der Ebene der Individuen: „Der Weg der Gattung ist untragisch, er führt aber durch unzählige, objektiv notwendige, individuelle Tragödien“, auf die Hegel wie Goethe „in einer grossartigen Unsentimentalität“ sähe (Lukács 1947, 147). – Zwar wurden Lukács’ Fauststudien und Guo Moruos Faust-II-Übersetzung sowie seine Kurze Interpretation in demselben Jahr 1947 publiziert. Lukács hatte allerdings seine im Gewande der Faustdeutung ausgeführte Übertragung der auf individueller Ebene tragisch verlaufenden Geschichte – in seinem Fall in der Sowjetunion der stalinistischen Schauprozesse – in einen allgemeinen gesellschaftlichen Fortschritt bereits 1940 in Moskau abgeschlossen (vgl. Lukács 1947, 7 und 207). Von dort wird Lukács’ Schlüsseltext der marxistischen Tragödieninterpretation und der hegelianischen „Aufhebung“ der realiter tragisch erfahrenen Zeitgeschichte seinen Weg auf den verschlungenen Pfaden des internationalen Kommunismus nach China genommen haben. 12 Die moderne Geschichtsphilosophie (des Westens) – ihr Prozessprinzip insbesondere – führt Karl Löwith (1983 [1949]) als säkularisierte Fassung des heilsgeschichtlichen Denkens zurück auf die christliche und jüdische Überlieferung.

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historischen Prozessdenken, das in dieser Gestalt in der chinesischen Philosophie bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts weitgehend unbekannt war, pflegte man doch im konfuzianischen System die Klassikerverehrung und stellte sich in den Dienst einer solchen Kultur – eigentlich eines Ahnenkultes –, die sich als das genaue Gegenteil des Prozessdenkens bezeichnen ließe.13 Seit der europäischen Querelle des Anciens et des Modernes kommt es zum Konflikt, wenn Klassik und Moderne aufeinandertreffen. Goethes Faust selbst lässt sich als Illustration dieses polemischen Epochenkontrasts verstehen, bleibt doch am Ende des Dramas nur noch ein rauchender Scheiterhaufen von der klassischen Überlieferung übrig, die in Gestalt von Philemon und Baucis auf den von Faust und Mephisto repräsentierten Modernisierungsprozess trifft. Kaum anders ergeht es der chinesischen Klassik im 20. Jahrhundert, wie es

13 Das im Blick auf die geschichtsphilosophische Leerstelle in der chinesischen Geistesgeschichte bedeutendste – und faszinierendste! – Buch hat Wolfgang Bauer geschrieben, der es dann allerdings unter Berufung auf gleichwohl vorhandene chinesische Zeugnisse eines utopischen Denkens gerade auf die Ausnahmen von der ideengeschichtlichen Regel abgesehen hat: „Mit rückwärts gewandtem Kopf – so lautet eines der fast nirgends bestrittenen, sondern allenthalben wie ein Axiom angenommenen Urteile über das große Reich im Fernen Osten – ist China, ein Land ohne Kindheit, bis in unsere Tage hinein durch die Jahrtausende geschritten, alle Ideale in der Vergangenheit, kaum irgendeines in der Zukunft suchend. Für die Berechtigung dieser Meinung [. . .] lassen sich in der Tat auf den ersten Blick mühelos die verschiedensten Argumente anführen, und doch bedarf auch sie [. . .] einer deutlichen Modifizierung“ (Bauer 1974, 22). Insbesondere die Repräsentanten des 4. Mai geben Anlass, von solchen „Modifizierungen“ zu sprechen: „Als sich eine ganze Generation chinesischer Intellektueller im ersten Drittel unseres Jahrhunderts zutiefst verstört ob der vehementen Kraft, die der westlichen Kultur aus ihrem Glauben an Entwicklung und Fortschritt zuzuwachsen schien, in der eigenen Kultur auf die Suche nach der verlorenen Zeit begab, entwickelt der ingeniöse Gelehrte Hu Shih (1891–1962) die erregende Theorie, daß nicht nur das jüdische Volk, sondern auch das der Shang von messianischen Ideen beseelt gewesen sei, und ebenso wie dieses, seine auf politischem Gebiet enttäuschten Heilserwartungen ins Religiöse gerettet habe“ (Bauer 1974, 38). Ausgehend vom 4. Mai schreitet dann Li Dazhao – einer der Gründer der KPCh und ursprünglich Bibliothekar an der Peking Universität – über den Versuch einer Vermittlung zwischen marxistischem Geschichtsdenken und chinesischer Tradition zum Paradigmenwechsel des Fortschritts- und Prozessdenkens weiter (vgl. Bauer 1974, 512–522). – Dazu desgleichen Wolfgang Bauer in seiner Philosophiegeschichte Chinas über die „erkennbare Tendenz“ der verschiedenen chinesischen Philosophieschulen zu „zyklischen Vorstellungen“, zur „Aufmerksamkeit für den Kreislauf der Natur“, zur „Wertschätzung der Geduld, des Wartenkönnens“ und der „Mäßigung“ und über den Konflikt zwischen den Ordnungsprinzipien des vergangenheitsorientierten Konfuzianismus und dem „westlichen Fortschrittsdenken“, mitunter, wie im Fall des Philosophen und Politikers Kang Youweis (1858–1927), „tragisch“ ausgetragen in den intellektuellen Biografien der Zeitgenossen des 4. Mai (Bauer 2006, 27 und 311–312).

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dann später der unversöhnliche Kampf der Kulturrevolution gegen die Tradition drastisch vor Augen führt. Konsequent hatte Guo Moruo zunächst während der 1920er Jahre unter dem Eindruck der 4.-Mai-Bewegung den Handlungsverlauf von Faust I und dann seit den 1940er Jahren im Banne des Bürgerkriegs das tragische Geschehen in Faust II auf die Verhältnisse der chinesischen Revolutionsepoche übertragen, um schließlich – abermals Lukács’ Deutungsmodell aufgreifend – in Fausts Schlussvision „Solch ein Gewimmel möcht ich sehn/Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn“ (V. 11579–11580) den Vorschein der revolutionären „Volksbefreiung“ in China zu erkennen: Individualism is the core of capitalism. Capitalism represents a progress compared to feudalism [und die Abbildung dieses Fortschritts, so Guo, sei der konkrete historische Gehalt von Goethes Text] . . . . But the consciousness of Faust does not stop there; rather, it moves forward. Though it is a fantasy, Faust nevertheless wants to „open land to live millions“ and hopes to see „free people living on the free land“. This is a step from individualism toward people-centrism (renmin benwei zhuyi) . . . . This is . . . a leap forward beyond Goethe’s own epoch (shidai); though Goethe, together with his Faust, does not finish this leap, he dreams of it . . . . So the whole tragedy, one can say, is a spontaneous development toward the awakening of the consciousness of the people (renmin yishi). (Zitiert nach Wang 2018, 153)

Um aber Goethes vermeintlichen Traum Wirklichkeit werden zu lassen, bedarf es des Fortschritts um jene weitere Etappe im welthistorischen Prozess vom blinden Faust der Tragödie des 19. Jahrhunderts zum chinesischen Faust des 20. Jahrhunderts, der während des Bürgerkriegs in der Rolle des revolutionären Volkes agiert und die Befreiung vollendet. Im Sinne einer solchen Verlängerung der Faustdeutung in die Gegenwart des Jahres 1947 bemerkt Guo Moruo im Vorwort seiner Übersetzung von Faust II: The Chinese Faust shall never grow old, never be blind, and never die. He will not be satisfied with gaining land from the sea shore, or bestowing democracy in a feudal manner; rather he wants China to become the ocean of democracy, and people to really be the master and take command. (Zitiert nach Wang 2018, 154)

Über ein derart festgefügtes Geschichtsbild und über die daraus abgeleiteten eindeutigen Direktiven für die politische Praxis verfügte die Bewegung vom 4. Mai 1919 indessen noch keineswegs. Sie ist zunächst vollkommen idealistisch, aber in diesem Idealismus spricht sie den Konflikt zwischen (chinesischer) Klassik und Moderne (im westlichen Verständnis) bereits ganz offen aus.

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Abb. 5: Guo Moruo um 1945.

3 Richard Wilhelm 3.1 Kiautschou 1899 Im Zentrum dieser epochalen Auseinandersetzung zwischen Überlieferung und Moderne in China stehen Leben und Werk Richard Wilhelms, des bedeutendsten und wirkmächtigsten deutschen Sinologen des 20. Jahrhunderts. Als sechsundzwanzigjähriger evangelischer Pfarrer und Missionar war Wilhelm 1899 im Auftrag des „Allgemein-evangelisch-protestantischen Missionsvereins“ in der Stadt Tsingtau in eben jenem deutschen Pachtgebiet (Kiautschou/Shandong) angekommen, das dann später zum neuralgischen Bezugspunkt der 4.-Mai-Bewegung und ihrer Proteste gegen den westlichen Kolonialismus werden sollte, da es nicht, wie es den vom amerikanischen Präsidenten verkündeten Prinzipien entsprochen hätte, an China zurückgegeben wurde, sondern 1919 nach den Versailler Bestimmungen Japan zufiel. Im übergeordneten historischen Kontext müsste man Wilhelm auf den ersten Blick denn auch als Repräsentanten oder gar als Agenten des Kolonialismus ansehen, trifft er doch ausgerechnet zur Zeit des sogenannten „Boxeraufstandes“ in China ein, der überdies eines seiner Zentren in der Shandongprovinz hatte.

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Zu den Ursachen des Aufstandes zählt nicht zuletzt der Protest gegen die christliche Mission, weiterhin der innerchinesische Konflikt zwischen der christlichen Minderheit und der nichtchristlichen Bevölkerungsmehrheit sowie die allgemeine Krisensituation in der Endphase des chinesischen Kaiserreichs, als die Differenzen zwischen reformerischen und konservativen Kräften immer unversöhnlicher hervorbrachen. Dass es für einen liberal gesinnten deutschen Missionar wohl kaum einen noch ungeeigneteren Augenblick für die Aufnahme seiner Tätigkeit in China hätte geben können, das macht ein Blick auf die berühmt-berüchtigte sogenannte „Hunnenrede“ von Kaiser Wilhelm II. deutlich, der dem deutschen Expeditionsheer, das zur Niederschlagung des Boxeraufstandes am 27. Juli 1900 in Bremerhaven aufbrach, die martialischen Worte mit auf den Weg gab: Ihr wißt es wohl, ihr sollt fechten gegen einen verschlagenen, tapferen, gut bewaffneten, grausamen Feind. Kommt ihr an ihn, so wißt: Pardon wird nicht gegeben, Gefangene werden nicht gemacht. Führt eure Waffen so, daß auf tausend Jahre hinaus kein Chinese mehr es wagt, einen Deutschen scheel anzusehen. Wahrt Manneszucht. Der Segen Gottes sei mit euch, die Gebete eines ganzen Volkes [. . .] Öffnet der Kultur den Weg ein für allemal!14

In jenen Kriegsszenen, die Wilhelm im autobiografischen Rückblick auf seine chinesischen Jahre schildert, handelt er den Kaiser-Wilhelm-Direktiven genau zuwider und ermöglicht in seiner Umgebung in Shandong die Vermeidung der kompromisslosen Hunnen-Strategie.15 Höchst unorthodox scheint auch Wilhelms Missionsverständnis gewesen zu sein, so dass er im Rückblick auf seine Tätigkeit

14 Überliefert wird die ursprünglich frei gehaltene Rede in mehreren Fassungen, darunter auch eine Version, die den nach China entsandten deutschen Truppen als Vorbild für ihren militärischen Einsatz König Etzel und die Hunnen der Nibelungensage empfahl. In der offiziellen Ausgabe der Kaiserreden, herausgegeben durch den Hofredakteur Johannes Penzler, aus der hier zitiert wird, ist die Hunnen-Passage jedoch gestrichen (vgl. Penzler 1904, 210). 15 Die entsprechenden Kapitel von Richard Wilhelms 1926 erschienenem Rückblick auf seine chinesischen Jahre zeigen ihn gleichsam als Vermittler zwischen den Fronten (vgl. Wilhelm 1980, 44–56). – In zahlreichen Passagen seiner China-Erinnerungen – insbesondere in der Retrospektive auf den Boxer-Konflikt – führt Wilhelm die kolonialistische Ideologie des Kulturkampfes samt ihren Klischees (der „gelben Gefahr“) ad absurdum. So heißt es über die Verhältnisse in der deutschen Kolonie in Tsingtau: „Man war überzeugt von der höheren Kultur Europas, die es zu wahren galt gegen die gelbe Gefahr, ohne zu bemerken, daß man sich im Gegenteil selbst in der Offensive befand und alles tat, um die große Kultur Ostasiens so gründlich wie möglich im Keim zu vergiften“ (Wilhelm 1980, 42). Und über die Zerstörungen und Plünderungen, die dem Einmarsch des europäisch-japanisch-amerikanischen Expeditionskorps (darunter die von Kaiser Wilhelm entsandten deutschen Truppen) im August 1900

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in China selbstbewusst bekennen konnte, keinen einzigen Chinesen getauft zu haben (vgl. Wilhelm 1980, 55).16 Er widmete sich in Tsingtau vor allem dem Aufbau von Schulen und Krankenhäusern, dem konzentrierten Studium der chinesischen Schrift und Sprache sowie der Lektüre eben jener chinesischen Überlieferung, die zugleich mit dem Niedergang des Kaiserhauses in eine fundamentale Krise geriet. Für das Studium der klassischen chinesischen Literatur und ihrer kanonischen Texte wie auch für das Verständnis der krisenhaften Umbruchsituation Chinas insgesamt sollte sich nun gerade das deutsche Pachtgebiet Kiautschou, das nach 1914 von Japan besetzt wurde, als ein besonders günstiger Ort erweisen, denn eben dieses gleichsam exterritoriale Gebiet diente sowohl den reform- und revolutionsgesinnten Kritikern des traditionellen chinesischen Herrschaftssystems bis zum Fall des Kaiserhauses als Rückzugsort, wie auf der anderen Seite auch die konservativen Vertreter der alten Gelehrsamkeitstradition dort Schutz suchten, um den kriegsähnlichen Wirren zu entgehen, die durch den Boxeraufstand und die Strafexpeditionen der Kolonialmächte, dann aber auch durch die immer unversöhnlicher aufbrechenden innerchinesischen Konflikte und durch jene den Niedergang des Kaiserhauses begleitenden Diadochenkämpfe verursacht wurden, die ab 1911 die junge Republik sogleich wieder erschütterten, zunächst in der Militärherrschaft Yuan Shikais endeten, um dann während der 1920er Jahre in das Regime der sogenannten Warlords zu münden.

in Peking folgten, schreibt Wilhelm, ironischerweise die Hunnen vor ihren vermeintlich modernen Wiedergängern in Schutz nehmend: „Japanische Truppen waren es, die zuerst in Peking einrückten, und ihnen folgten andere auf dem Fuß. [. . .] so gaben sich die nun siegreich einrückenden Massen redliche Mühe, zu zeigen, daß Roheit und Grausamkeit auf seiten der ‚Kulturnationen‘ nicht hinter dem zurückblieb, was man an China mit Abscheu verdammte. Die Deutschen haben im Weltkrieg den Titel Hunnen von ihren damaligen Verbündeten erhalten, weil in der Aufregung des Augenblicks den ausziehenden Chinakämpfern die Hunnen als Vorbild mitgegeben worden waren. Diese Beschimpfung war unverdient. Alle Beteiligten zeigten damals aufs unzweideutigste, daß sie solcher Vorbilder nicht bedurften. Was damals an Menschenleben, schuldigen und unschuldigen, vernichtet wurde, was an unersetzlichen Kunstschätzen im Unverstand zugrunde ging, läßt sich nur annäherungsweise abschätzen“ (Wilhelm 1980, 49–50). 16 Wilhelms Selbstverständnis, sein permanenter Widerspruch gegen das offizielle deutsche China-Klischee sowie die historische Situation insgesamt wird man im Auge behalten müssen auch bei einer Kritik seines „Orientalismus“ aus postkolonialistischer Perspektive, an der es naturgemäß nicht gefehlt hat, etwa in Adrian Hsias Analyse von Wilhelms „Sinophilie“ in ihrer Verbindung zur Ideenwelt Goethes (Hsia 2010, hier 123–136, das Kapitel „Richard Wilhelm und Goethes Affinitäten zur chinesischen Geisteswelt“).

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Inmitten der tumultuarischen historischen Lage vermag sich Wilhelm nun ausgerechnet im deutschen Pachtgebiet (und nach 1914 im japanischen Besatzungsgebiet) dem Studium der klassischen chinesischen Literatur zu widmen. Umgeben und beraten von den Gelehrten der chinesischen Philosophie und Literatur, die ihrerseits an diesem Ort Zuflucht gesucht haben, entstehen hier Richard Wilhelms berühmte Übersetzungen der chinesischen Klassiker.17 In Deutschland erreichen Wilhelms Übersetzungen der Klassiker der chinesischen Literatur und Philosophie nach dem Ersten Weltkrieg ein großes Publikum und konnten solchermaßen zum Fundament einer neuen, die kolonialistischen und ideologischen Stereotype überwindenden China-Wahrnehmung werden. Bis zum heutigen Tag sind auf dem deutschen Buchmarkt Wilhelms Übersetzungen und Kommentare der chinesischen Klassik präsent, wie auch in Europa und Amerika Wilhelms Ausgaben, nun ihrerseits in die jeweiligen Landessprachen übersetzt, nach wie vor weit verbreitet sind.

17 Den „deutsch-chinesischen Kulturaustausch“ und die konzentrierten Klassikerstudien vor dem Hintergrund des epochalen Umbruchs schildert Wilhelm anschaulich im 11. Kapitel („Die Alten von Tsingtau“) seiner Autobiografie: „Die chinesische Revolution erhob ihr Haupt. Tsingtau blieb ruhig, während überall im chinesischen Reich die Stürme tobten“ (Wilhelm 1980, 210). – Dankbar erwähnt Wilhelm in seinen seit 1910 im Jenaer Diederichsverlag in rascher Folge erschienenen kommentierten Übersetzungen die Hilfe der chinesischen Gelehrten, die nun ausgerechnet bei ihm in Tsingtau Schutz gesucht hatten, so etwa 1912 im Vorwort zu Das wahre Buch vom südlichen Blütenland: „Immerhin sind mir die Zeitumstände zu Hilfe gekommen. Unter den chinesischen Beamten, die sich infolge der Unruhen in das sichere Tsingtau zurückgezogen haben, befindet sich auch einer, der wohl zu den besten Kennern Dschuang Dsis unter den gegenwärtigen chinesischen Gelehrten gehört. Ich war in der Lage, ihn bei schwierigen Fragen, wo die gewöhnlichen Literaten gänzlich zu versagen pflegen, zu Rate zu ziehen, und verdanke ihm manche wertvolle Aufklärung. [. . .] Tsingtau, 21. März 1912 Richard Wilhelm“ (Dschuang Dsi 2008 [1912], 19). – Über den Beobachterposten, den Wilhelm in Tsingtau im „Windschatten“ der turbulenten Zeit einnehmen konnte, bemerkt Wolfgang Bauer im Vorwort zu Wilhelms Autobiographie: „So zogen vor Richard Wilhelms Augen wie im Zeitraffer Chinas verflossene Jahrhunderte vorüber, und es gelang ihm durch diese einmalige Gunst der Umstände, gepaart mit seinem wachen Interesse, die Kultur Chinas in ihren tieferen historischen Dimensionen zu erfassen, wie es zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort wohl kaum möglich gewesen wäre. Die merkwürdig verwunschene Atmosphäre, in der sich das alles abspielte, ist in verschiedenen Abschnitten des Buches eingefangen, am eindrucksvollsten wohl in dem Kapitel über ,Die Alten von Tsingtau‘“ (Wilhelm 1980, 15).

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Abb. 6: Die Federzeichnung aus Richard Wilhelms Buch Die Seele Chinas zeigt den chinesischen Gelehrten Lao Nai Hsüan, unter dessen Anleitung Wilhelm in Tsingtau das Buch der Wandlungen studierte.

3.2 Modernebegeisterung und Modernekritik: Chinesischdeutsche Paradoxie Will man die Ursachen für den wahrhaft atemberaubenden Erfolg der Bücher Wilhelms verstehen, die in zahllosen Auflagen und Hunderttausenden von Exemplaren verkauft wurden, so wird man einmal mehr die epochale Krise der alten Welt und ihrer Überlieferung, nun allerdings in Europa und in Deutschland, ins Auge fassen müssen. Denn in demselben historischen Augenblick, da im Osten das alte chinesische Reich zerbrach, stand im Westen dem deutschen Kaiserreich seine finale Niederlage bevor, die mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und den Versailler Verträgen besiegelt wurde. In Deutschland allerdings ging mit der Erschütterung der alten Reichsidee und ihrer ständischen und bür-

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gerlichen Traditionen zugleich die Krise der Fortschritts-, Modernisierungsund Technikbegeisterung einher, die im Verlaufe des Ersten Weltkriegs, in seinen endlosen Materialschlachten insbesondere, ihre schreckliche Ernüchterung erlebte. Die Kritik der Technik, die Kritik der Moderne und mithin die Kritik des ehedem säbelrasselnden Nationalismus steht in Deutschland nach der Kriegskatastrophe auf der Tagesordnung.18 Nach der traumatischen Kriegserfahrung nimmt ein großes Publikum in Deutschland Richard Wilhelms Übersetzungen der chinesischen Klassiker gleichsam als Wiederentdeckung einer Kultur der Meditation, Nachdenklichkeit und Spiritualität auf, die in Europa offenbar verloren gegangen ist und nun in Anlehnung an die „Weisheit des Ostens“ wieder regeneriert werden soll, um dem allgemeinen geistigen Orientierungsverlust zu entrinnen. Ohne Übertreibung wird man konstatieren können, dass die komplette Umwertung des deutschen Chinabildes von der aggressiven Beschwörung der „gelben Gefahr“ zur erwartungsvollen Bewunderung Chinas und seiner großen kontemplativen Tradition auf die gewaltige Übersetzungsleistung Richard Wilhelms zurückgeht. So zeigt sich uns in der globalen historischen Perspektive ein bemerkenswertes ideengeschichtliches Paradoxon: Gewinnt man in China nach dem Ende des kaiserlichen Herrschaftssystems und in der damit einhergehenden Krise der konfuzianischen Ideale neue Inspiration aus dem Fortschrittsversprechen der westlichen, technikbegeisterten, rationalistischen Moderne, so antwortet man im Westen auf die fundamentale Enttäuschung desselben Fortschrittsversprechens durch die Katastrophe des Weltkriegs in einer exakt gegenläufigen Operation und sucht neue Orientierung nun ausgerechnet in der modernitätsfernen Geisteswelt der chinesischen Philosophie. Mitten in dieser interkulturellen Paradoxie steht Richard Wilhelm; aus dieser Position erst gewinnen seine Person und sein Werk ihre beeindruckende historische Wirkungsmacht. Wilhelm agiert auf der Grenzlinie zwischen Westen und Osten, Modernisierungsbegeisterung und Traditionsgläubigkeit, Kolonialismus und antikolonialistischer Selbstverteidigung.

18 Der Jenaer Eugen-Diederichs-Verlag, in dem Wilhelms Übersetzungen erschienen, versammelte seit 1908 das weite Spektrum der Modernismuskritik im Zeichen der Mystik. Innerhalb des zunächst denkbar heterogenen Diederich-Spektrums gewann im Laufe der 1920er Jahre die reaktionäre Fraktion an Einfluss. Wilhelm stand zu ihr, sowohl in politischer wie auch in intellektueller Hinsicht, in großer Distanz, nachdem er sich in China den „Modernisierern“ an der Peking Universität um Cai Yuanpei angeschlossen hatte.

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Abb. 7: Umschlag von Richard Wilhelms Übersetzung des Tao Te King (erstmals 1911) in einer Ausgabe des Eugen Diederichs Verlages in Jena von 1921.

3.3 Goethe als Übersetzungshelfer Um nun in diesem ungeheuren Spannungsfeld zwischen den Widersprüchen vermitteln zu können, beruft sich Wilhelm auf Goethe, und dies in mehrfacher Hinsicht. Schaut man in die Kommentare und Erläuterungen, die Wilhelm seinen Übertragungen aus dem Chinesischen stets hinzufügte, wird man auf zahlreiche Goethe-Verweise und Goethe-Zitate stoßen, die sämtlich Wilhelms Überzeugung geschuldet sind, es gebe über alle Sprach- und Kulturdifferenzen hinweg eine prinzipielle Analogie zwischen Goethes Denken, seiner Naturanschauung vor allem, und der klassischen chinesischen Philosophie des Daoismus und Konfuzianismus. Komparatistische Belege für eine solche kulturelle Analogie führt Wilhelm dann 1927 in dem für diese Thematik grundlegenden Aufsatz Goethe und die chinesische Kultur an. Über Goethes „innere Verwandtschaft mit dem chinesischen Wesen“ – worunter man in Wilhelms Argumentation das spezifisch kontemplative und meditative Element der klassischen chinesischen Philosophie und Kunst zu verstehen hat – heißt es hier im Blick

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auf Goethes Gedichtzyklus Chinesisch-deutsche Jahres- und Tageszeiten, darin insbesondere das achte Gedicht („Dämmrung senkte sich von oben“; Goethe 1998 [1827], 18) ausgezeichnet sei durch „chinesische reinste Stimmung“: Was aber die deutsche [d. i. Goethes] und die chinesische Poesie am meisten verbindet, das ist die vollkommene Auflösung des Zuständlichen in dynamische Stimmung. Nichts Beschreibung, alles Vorgang, Bewegung, Übergang. Diese feinste Bewegung des Geistigen findet sich ja selbst in den chinesischen Bildern der Sungzeit in ihrem fein ausgeglichenen Wechsel von Zeichnungen und leerem Raum. Hier haben wir den unsichtbaren, nichts machenden und doch ewig wirkenden Sinn der Welt bei seinem Wirken belauscht. (Wilhelm 1927, 309 und 313)19

Das zehnte („Als Allerschönste bist du anerkannt“) und elfte Gedicht („Mich ängstigt das Verfängliche“) desselben Zyklus nimmt Wilhelm dann zum Anlass, Goethes „intuitive“ Nähe zur daoistischen Mystik und ihren Meditationen über den „ewig wirkenden“, gleichwohl verborgenen Weltsinn, zu erläutern: Im zehnten Stück, das von der Blumenkönigin spricht, als die in China nicht die Rose, sondern die Päonie verehrt wird, ist der Gegensatz zwischen der Tatsache der Anschauung und dem tieferen Sinn, dem Gesetz, ausgesprochen, ein Gedanke, der im 2. Gedicht [dem elften des goetheschen Zyklus], wo das Beängstigende der Vergänglichkeit alles Erscheinenden erwähnt wird, noch mehr herausgehoben wird. Inmitten der vergänglichen Erscheinungen, wo nichts verharret, alles flieht, wirkt das Unvergängliche, das ewige Gesetz. Diese Anschauung ist ebenfalls ein intuitives Zusammentreffen mit der Weisheit des Buches vom Sinn und Leben [d.i. Laotses Tao Te King], wo ebenfalls der ewige Sinn erwähnt wird, der zwar nicht unmittelbar der Anschauung zugänglich ist, aber eben des-

19 Wilhelms Aufsatz erscheint anlässlich des hundertsten Jahrestages der Publikation von Goethes Gedichtzyklus Chinesisch-deutsche Jahres- und Tageszeiten (Goethe 2006a [1827]). – Die polyglotte philologische Weite von Wilhelms Blick auf Goethe sowie Wilhelms universeller intellektueller Horizont gewinnen ihr unzeitgemäßes Profil im Kontrast zu den penetrant deutschtümelnden Studien von Hermann August Korff und Herbert Cysarz, die am Beginn desselben Jahrbuchs stehen. Gilt ihr Interesse dem „Ideal einer wahren Lyrik und speziell einer deutschen Lyrik“ (wie Wilhelm 1927, 3) oder Schiller als dem „volkhafteste[n] deutsche[n] Seher, Lehrer, Führer“ (wie Wilhelm 1927, 121), so lässt Wilhelm, gleichsam programmatisch für seine deutsch-chinesische Philologie, den Aufsatz Goethe und die chinesische Kultur ausklingen in einem Zitat aus Goethes Gespräch mit Eckermann über die „Weltliteratur“: „wenn wir Deutsche nicht aus dem engen Kreise unserer eigenen Umgebung herausblicken, so kommen wir gar zu leicht in pedantischen Dünkel. Ich sehe mich daher gern bei fremden Nationen um und rate jedem, es auch seinerseits zu tun“ (Wilhelm 1927, 316). – Auf sinologischem Terrain provozierte Wilhelms Rekonstruktion von Goethes „intuitiver“ Nähe zur Ideenwelt des alten China skeptische und kritisch-relativierende Bemerkungen, zugleich jedoch eine vorsichtige Bestätigung der komparatistischen Befunde, so etwa bei Wolfgang Bauer (1972), Adrian Hsia (2010, 129–136) und Günter Debon (2000) und insbesondere dann bei Helwig SchmidtGlintzer (2006, 83 und 95).

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halb ewig ist, wie das gleich im ersten Kapitel des Buches vom Sinn und Leben ausgesprochen ist. (Wilhelm 1927, 314)20

Abb. 8: 1922 erschien die von Richard Wilhelm übersetzte und herausgegebene Anthologie klassischer chinesischer Lyrik mit dem Titel des goetheschen Gedichtzyklus ChinesischDeutsche Jahres- und Tageszeiten.

20 Es liegt dann in der Konsequenz der von Wilhelm entworfenen Goethe-China-Analogie im Zeichen der Mystik, dass er in seiner 1911 in Tsingtau abgeschlossenen Laotse-Übersetzung den „nichts machenden und doch ewig wirkenden Sinn der Welt“, wie ihn auch der sechste Abschnitt des Tao Te King evoziert, im Rückgriff auf den Goethes Faustdrama abschließenden „Chorus Mysticus“ das „Ewig-Weibliche“ nennt (Laotse 2019 [1911], 16). – Passend dazu Wilhelm im Kommentar zum zweiten Abschnitt des Tao Te King über die „Lehre des Wirkens ohne Handeln“, die in der universellen Mystik „durch alle Zeiten“ hindurch und mithin auch bis zu Spinoza und Goethe gehe (Laotse 2019 [1911], 106).

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3.4 Chinesisch-goethesche Willenskritik Goethes Dichtung übernimmt in Wilhelms Auslegung zunächst in einem ganz praktischen und konkreten Verständnis eine Vermittlerrolle, insofern Wilhelm in den Fußnoten und Erläuterungen seiner Übersetzungen auf Goethes Werk verweist und daraus zitiert, um auf diese Weise dem deutschen Publikum die unbekannte Denkweise der chinesischen Texte nahezubringen, so etwa in den Erläuterungen zu dem das Buch der Wandlungen/I Ging eröffnenden Zeichenund Begriffspaar des „Schöpferischen“ und des „Empfangenden“, darin Wilhelm der chinesischen Geisteswelt Goethes Naturbegriff und das mit ihm verbundene Prinzip der Metamorphose zur Seite stellt, wie sie zum Ausdruck kommen in jenem ursprünglich in den Schriften Zur Morphologie in dem Kapitel „Bedenken du Ergeben“ veröffentlichten Gedicht Goethes, das mit den Versen beginnt: „So schauet mit bescheidenem Blick/Der ewigen Weberin [d. i. die schöpferische Natur, die Natura naturans] Meisterstück“ (Goethe 2006b).21 Das Gedicht des Naturforschers Goethe führt Wilhelm in diesem Fall in der Fußnote seiner I-Ging-Übersetzung an, um die für das Buch der Wandlungen charakteristische Kritik des individuellen Willens und der subjektiven Willkür sowie die damit einhergehende Verbindung von Naturanschauung und Ethik zu illustrieren, die in dem chinesischen Lehrsatz zusammengefasst wird: „Hat der Edle etwas zu unternehmen und will voraus, so geht/er irre; doch folgt er nach, so findet er Leitung“ (I Ging 1986 [1924], 35). Wir können ergänzen: Die Unternehmung des Edlen, von der die klassische chinesische Ethik (vor allem Konfuzius) stets spricht, hat sich an den Möglichkeiten der realen Lage zu orientieren. Dort findet der Edle Leitung, die er dann „beharrlich“ umsetzt und nicht etwa in einem Willensakt erzwingt. Die analoge Kritik des unbedingten Willens und seines Vorwärtsdrangs wird in den von Wilhelm zitierten, desgleichen Naturanschauung und Ethik zusammenfassenden Goethe-Versen „So schauet mit bescheidenem Blick/Der ewigen Weberin Meisterstück“ ausgesprochen. Seid im erkenntniskritischen Sinne bescheiden, so Goethes philosophischer Appell, scheidet subjektive Verzerrungen aus eurer Weltwahrnehmung aus, die Erkenntnis stehe nicht unter der Herrschaft eures Willens, sondern folge der „ewigen Weberin Meisterstück“ und nehme Rücksicht auf die Realitäten der Natur und der Gesellschaft. Und

21 An anderer Stelle, im 3. Band der 1827 von Goethe selbst edierten Ausgabe letzter Hand, schließen die von Wilhelm zitierten Zeilen den Gedichtzyklus (im Kapitel „Gott und Welt“) ab, der auch Goethes Metamorphose-Dichtungen enthält (Goethe 2006d, 150–155, hier 155). Dieselben stehen in Wilhelms Goethe-China-Analogie erst recht in geistesverwandter Nähe zum I Ging und zu seinem Grundprinzip der „Wandlung“.

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schließlich lautet im I-Ging-Kommentar Wilhelms Paraphrasierung der chinesisch-goetheschen Lehre, die man durchaus als ein Vermittlungsprogramm verstehen kann, das er am Beginn des Jahrhunderts der Extreme seinen vom politischen und ideologischen Gefecht aufgeregten Zeitgenossen in China und Deutschland empfiehlt: Auf menschliche [politische, ökonomische, gesellschaftliche] Verhältnisse übertragen, handelt es sich darum, der Lage entsprechend sich zu verhalten. Man ist nicht in selbständiger Stellung, sondern als Gehilfe tätig. Da [in der Arbeit als Gehilfe] gilt es etwas zu leisten [als Politiker, Unternehmer, nicht anders als edler Herrscher, Weiser und Erkennender, sie alle sind als Gehilfen tätig, im Dienst eines größeren Ganzen]. [. . .] Der Edle läßt sich leiten. Er geht nicht blindlings voran, sondern er entnimmt den Verhältnissen, was von ihm verlangt wird [. . .]. (I Ging 1986 [1924], 35–36)

Der „Edle“ als orientierungsstiftende Idealgestalt steht vor allem in den Gesprächen des Konfuzius im Zentrum der philosophisch-ethischen Unterweisungen. Auch von hier aus zieht Wilhelm über die Zeit- und Kulturgrenzen hinweg die Verbindungslinie zu Goethes Werk und zu seinem subjektivitätskritischen Bildungsideal, das Wilhelm naturgemäß in den Chinesisch-deutschen Jahres- und Tageszeiten wiederfindet: Und auch das letzte der Gedichte mit seiner Quintessenz: „Sehnsucht in’s Ferne, Künftige zu beschwichtigen,/Beschäftige dich hier und heut im Tüchtigen“ ist durchaus in Übereinstimmung mit der chinesischen Lebensweisheit. Man vergleiche nur das Wort des Meisters Kung, das er im Abschluss an das 52. Zeichen „das Stillehalten“ des Buchs der Wandlungen ausgesprochen hat: „Der Edle geht mit seinen Gedanken nicht über seine Lage hinaus.“ (Wilhelm 1927, 314; Goethe 2006a [1827], 20)22

3.5 Faust und Prometheus: Goethes unklassische Protagonisten des Sturm und Drang Wenn wir an dieser Stelle für einen Augenblick im Horizont der Goethe-ChinaAnalogie innehalten, so fällt uns auf, dass sich Wilhelm in den Kommentaren seiner I-Ging-, Laotse-, Dschuang-Dsi- und Konfuzius-Übersetzungen auf den klassischen und nachklassischen Goethe bezieht. In Goethes Dichtungen gegenwärtig sind freilich auch die modernen voluntaristischen Gegenpositionen

22 Dazu der 28. Lehrsatz (über die „Bescheidenheit“) aus dem 14. Buch der Gespräche in Wilhelms Konfuzius-Übersetzung: „Meister Dsong sprach:,Der Edle geht in seinem Denken nicht über seine Stellung hinaus‘“ (Konfuzius 2019 [1910], 229). Zur Idealfigur des „Edlen“ bei Konfuzius vgl. Gu 1999, 133–144.

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zur naturphilosophischen Kontemplation. Gerade diese Willensdirektiven jedoch legt Goethe seinen prominentesten poetischen Figuren, also Werther, Faust und Prometheus, in den Mund. In den ursprünglichen, frühesten Fassungen der Werther-, Faust- und Prometheustexte, die zu Zeiten von Goethes Sturm-undDrang-Epoche und ihrer Genieästhetik entstanden waren, geschah das sicherlich in einem identifikatorischen Sinne. Wenn wir also in Wilhelms Goethe-Fußnoten und Erläuterungen zum Buch der Wandlungen und zu den Gesprächen des Konfuzius lesen, dass der Edle dann in die Irre geht, wenn er vorwärts will, dass er indessen in ruhiger Betrachtung der gegebenen Bedingungen, die Leitung findet, der er folgen soll, dass er sich in seinem Urteil zurückhaltender Bescheidenheit befleißigen und seine Erkenntnisse nach dem Vorbild der Kontemplation der Natur – des Meisterstücks der ewigen Weberin – gewinnen möge, dann hören wir im Kontrast zu diesen chinesisch-deutschen Kontemplationsmaximen zugleich die ganz anderslautenden modernen Willensdirektiven mit, die Prometheus und Faust der sie umgebenden Wirklichkeit und Ideenwelt entgegenschleudern. Prometheus’ gegen Zeus und mithin gegen die Überlieferung insgesamt aufbegehrende Verse lauten in Goethes Sturm-und-Drang-Hymne: „Hier sitz’ ich forme Menschen/Nach meinem Bilde/Ein Geschlecht das mir gleich sei/Zu leiden weinen,/Genießen und zu freuen sich,/Und dein nicht zu achten/Wie ich“ (Goethe 2006 [1773/1774], 229). Die ganze Welt soll Ich werden. Statt sich in Zeus’ Schöpfung oder im Kosmos der Natur einzurichten und sich der bestehenden Ordnung (der „Lage“!) anzupassen, kündigen Prometheus und das ihm nachfolgende prometheische Geschlecht alle Pietät auf –„Ich dich ehren? wofür?“ (Goethe 2006 [1773/1774], 230) – und begehren, eine neue Welt mit ihren eigenen Händen und durch eigene Arbeit zu erschaffen. Den prometheischen Voluntarismus – dem bescheidenen Blick des Edlen im I Ging und beim klassischen Goethe radikal zuwiderlaufend – vernehmen wir auch aus Fausts Mund: „Allein ich will!“ (Goethe 2017, V. 1784). Die Variationen dieses modernen Willensevangeliums Fausts lauten, um nur die beiden prominentesten anzuführen: „Und Fluch vor allen der Geduld!“ (Goethe 2017, V. 1606) und daran anschließend: „Nur rastlos betätigt sich der Mann“ (Goethe 2017, V. 1759). Die gleiche Ungeduld Fausts formt den spirituellen Beginn des Johannesprologs „im Anfang war das Wort!“ (Goethe 2017, V. 1224/Joh. 1,1) um in die praktische Fassung „im Anfang war die Tat!“ (Goethe 2017, V. 1237). Ist doch das „Wort“ im religiösen Horizont der Bibel der „Logos“ der Schöpfung – weshalb neuere chinesische Faustübersetzungen den Johannesprolog- respektive FaustVers (Goethe 2017, V. 1224) in der Wendung „Im Anfang war Dao“ wiedergeben. Gerade weil jedoch Logos – und Dao – als geistige Prinzipien den menschlichen Willen transzendieren, sieht sich Faust zur eigenen Weltschöpfungstat herausgefordert. Zu ihr treibt ihn ein ganz anderer „Geist“, der überlieferte oder

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naturgegebene Bedingungen partout nicht ertragen kann, „immer vorwärts“ (Goethe 2017, V. 1857). Der Edle des I Ging, wie wir uns erinnern, „will“ indessen gerade nicht „voraus“ und „immer vorwärts“ drängen, weil er sonst „irre“ geht. Faust jedoch folgt der Leitung seines eigenen Willens bis zur Weltneuschöpfung im fünften Akt des zweiten Tragödienteils, wo er dann proklamiert: „Das verfluchte hier!/ Das eben, leidig lastet’s mir“ (Goethe 2017, V. 11233–11234). Das Hierseiende – die „Lage“ in den Worten von Wilhelms I-Ging- und Konfuzius-Kommentierung – nimmt sich in Fausts Augen als Beleidigung aus, weil es Voraussetzungen und Bedingungen enthält, die seinen Willen einschränken. Daher er denn erst einmal – mit Mephistos Hilfe – die geschichts- und naturbedingten Prägungen der Wirklichkeit negiert und das Hiersein in eine Tabula rasa verwandelt, auf der sich sein Willen bedingungslos entfalten kann. Im konkreten Fall des fünften Aktes sind es Garten, Hütte, Kapelle und Lindenhain von Philemon und Baucis, die Fausts Willen zur Weltneuschöpfung entgegenstehen und daher verschwinden müssen: „Die wenig Bäume, nicht mein eigen,/Verderben mir den Weltbesitz./Dort wollt’ ich, weit umherzuschauen,/Von Ast zu Ast Gerüste bauen,/Dem Blick eröffnen weite Bahn,/Zu sehn, was alles ich getan,/Zu überschaun mit einem Blick/Des Menschengeistes Meisterstück“ (Goethe 2017, V. 11241–11248). Fausts stolzer Blick auf sein eigenes „Meisterstück“ ist das exakte Gegenbild zu der von Richard Wilhelm in seiner I-Ging-Erläuterung zitierten naturphilosophischen Maxime Goethes „So schauet mit bescheidenem Blick/Der ewigen Weberin Meisterstück.“ Betrachten wir Wilhelms Entwurf einer Goethe-China-Analogie und die Auswahl seiner Zitate aus Goethes klassischen und nachklassisch-späten Dichtungen in den Erläuterungen zu den I-Ging-, Laotse- und Konfuzius-Übersetzungen, so bemerken wir also auf der anderen Seite zugleich die gewaltige Differenz, in der die für den jungen und vorklassischen Goethe charakteristische Genie- und Willensästhetik zu den Ordnungsgedanken der klassischen chinesischen Philosophie steht. Einerlei ob man auf die hochemotionalen Herzensergüsse und Willensparolen Werthers, Prometheus’ oder Fausts schaut, so gerät in der vergleichenden Perspektive stets der äußerste Gegensatz zu der in den großen Schulen der chinesischen Philosophie erklingenden willenskritischen Lehre in den Blick. Noch polemischer gestaltet sich die Konstellation, wenn wir der Karriere von Goethes Sturm-und-Drang-Protagonisten folgen bis zu Marx’ Aktualisierung der archetypischen Rebellion gegen den Götterhimmel und bis zur Nobilitierung von Prometheus zum einzigen „Heiligen“ der Moderne. Dass der rebellische Held einer mit der Überlieferung kompromisslos brechenden revolutionären Praxis zugleich, wie Marx es will, als Repräsentant der wahren Philosophie agiert, das ist unter dem Horizont von Konfuzius und

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Laotse schlechterdings unvorstellbar, wie dann auch die elfte Feuerbachthese und der aus ihr hervorgehende moderne Praxis- und Weltveränderungskult mehr noch als dem europäischen Idealismus den Meditations- und Kontemplationsexerzitien des Ostens den Garaus machen.

3.6 „Titanisches Streben“: Wilhelms Faust-Vorlesung an der Peking Universität Von jenem goetheimmanenten Widerspruch – zwischen faustisch-prometheischem, „revolutionärem“ Voluntarismus und klassisch-naturphilosophischer Kontemplation bzw. „konservativer“ Willkürkritik – und von den entsprechend gegensätzlichen Möglichkeiten, Goethe auf die chinesische Ideenwelt zu beziehen, lässt sich der Gedankengang fortsetzen bis zur paradoxen Koinzidenz der sowohl von Guo Moruo wie auch von Richard Wilhelm zur gleichen Zeit am gleichen Ort entworfenen Goethe-China-Analogien. Dazu zählt auch jenes Goethe-Verständnis Richard Wilhelms, das er in China Anfang der 1920er Jahre in einer Faust-Vorlesung an der Peking Universität ausformuliert hat. Nach seinem ersten, von 1899 bis 1920 über zwanzig Jahre andauernden China-Aufenthalt war Wilhelm von 1922 bis 1924 als Berater des deutschen Botschafters nach Peking zurückgekehrt. Während dieser Zeit nahm er an der Peking Universität eine Lehrtätigkeit auf, zu der auch die Faust-Vorlesung gehörte.23 Tritt Goethe in den Kommentaren zu Wilhelms Übersetzungen aus dem Chinesischen als Vermittler zwischen der chinesischen und der deutschen bzw. westlichen Ideenwelt auf, so nimmt Goethe in Wilhelms Faustdeutung die Gestalt eines Vermittlers zwischen Tradition und Moderne an, eine Textauslegung, die wir als Wilhelms dezente Reaktion auf die revolutionäre Umbruchsituation in China während der 1920er Jahre und auf die modernisierungsbegeisterte chinesische Faustrezeption beziehen können. Zur gleichen Zeit also, da Guo Moruo Goethes Faust als Apologie des Emanzipationsversprechens der Moderne liest und später das auf Hegel zurückgehende perfektibilistische Tragödienverständnis im Sinne von Marx’ Prometheus- und Faustbegeisterung als gleichsam vorbildliches Modernisierungsmodell in die chinesische Debatte des 20. Jahrhunderts einführt,

23 An der Peking Universität konnte ich im Sommersemester 2018 mit der freundlichen Hilfe von Herrn Hu Zhenghua in der dortigen Universitätsbibliothek das maschinenschriftliche Manuskript von Wilhelms Faust-Kommentar einsehen, auf dessen Grundlage er Anfang der 1920er Jahre an der Peking Universität unterrichtet hat. Der Titel auf dem Manuskripteinband lautet: „Kommentar zu Goethes Faust von Dr. Richard Wilhelm“ (im Folgenden zitiert unter „Wilhelm: Faust-Kommentar“ bzw. „WFK“).

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hält Wilhelm an der Peking Universität eine Faust-Vorlesung, in der er seine chinesischen Hörer auf die immanente Faustkritik des Faustautors Goethe hinweist – auf Goethes Kritik also der prometheischen Rebellion –, und zwar im Blick auf den metaphysisch-philosophischen Rahmen des Fausttextes (vgl. WFK, 47), der Guo kaum interessiert oder allenfalls, was den himmlischen Tragödienschluss angeht, als Fortschritts- und Freiheitsallegorie, wie das auch für Georg Lukács’ Fauststudien typisch ist. „Titanisches Streben“ lautet das Schlüsselwort in Wilhelms Faust-Kommentar. Im Unterschied jedoch zum hegelianischen und, daran später anschließend, marxistischen Verständnis des „titanischen Strebens“ Fausts als literarisches Abbild der prozesshaft-dialektischen, perfektibilistischen Geschichtsbewegung, die auf das Ziel der absoluten innerweltlichen Emanzipation zuläuft, in der der Mensch zum Herr der Schöpfung wird und alles aus eigenem Willen macht, auch sich selbst, wie es Prometheus verkündet und der Faustschüler Dr. Wagner im Laboratorium ausprobiert, im Unterschied also zu dieser modernen Utopie des zielgerichteten Produktionsprozesses liest Wilhelm Goethes Faust als Menschheitsdrama, das eine Kreisbewegung ausführt (vgl. WFK, 2). Wie in der biblischen Geschichte vom „verlorenen Sohn“ – auf höchst unorthodoxe Weise arbeitet der promovierte evangelische Theologe Wilhelm mit Bibelbezügen – handle die Tragödie Fausts vom Verlust eines wertvollen Gutes, das am Ende wiedergefunden werde (vgl. WFK, 48). Dabei ist es in der interreligiösen Perspektive Wilhelms gleichgültig, zumal Anfang der 1920er Jahre an der Peking Universität, ob das wertvolle Gute, das man als Bezugspunkt verlieren und wiederfinden kann, wie im Prolog und Epilog von Goethes Text der „Herr“, das auf ihn zurückgehende „grosse göttliche Weltgesetz“ oder das „Ewig-Weibliche“ oder Gott oder Dao oder Natur heißt (WFK, 11–12). Entscheidend ist der Gedanke, dass es für alles menschliche Handeln einen unhintergehbaren Rahmen und Bezugspunkt gibt „sub specie aeternitatis“ (WFK, 11) oder – wie man ergänzen darf – „sub specie naturae“. Ausdrücklich betont Wilhelm die metaphysische Einfassung des großen Weltspiels, die alle menschlichen Perspektiven immer schon umgreift. Entsprechend deutlich tritt in seiner Perspektive die Erlösungsbedürftigkeit der Willenshelden Prometheus und Faust in den Blick, obgleich sie doch die Selbsterlösung des Menschengeschlechts durch „titanisches Streben“, also durch Arbeit und Produktion proklamieren (WFK, 41–42). Nicht das „titanische Streben“ Fausts nämlich, so die Pointe von Wilhelms Faust-Kommentar, sondern die meditative Beruhigung des vom prometheischen Willen angetriebenen Geschehens gewährt dem ungeduldigen Protagonisten die ersehnte Glückserfahrung der harmonischen Übereinstimmung von Selbst und Welt. Exemplarisch zum Ausdruck komme der Moment des erfüllten

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Daseins in dem von Faust in der Szene „Wald und Höhle“ gesprochenen „Dankgebet“ (WFK, 66), das dann bereits auf die Versöhnungsszenerie am Ende von Faust II und auf die Mystik des „Ewig-Weiblichen“ vorausweise, sei es doch erst die Begegnung mit Margarete, die Faust zur Kontemplation der Natur und der Einheit von Selbst und Welt befähige und ihn erkennen lasse, dass „sich der Kreis des Zusammenhanges schliesst. So ist Faust durch das Erleben einer sein ganzes Wesen durchdringenden Liebe dem Ziele nahegekommen, das seinem einsamen titanischen Streben, und wenn es auch noch so wild sich gebärdete, ewig fremd war. Damit hat er das Höchste erreicht, was dem Menschen vergönnt ist“ (WFK, 67–68). Unter dem Regiment des „titanischen Strebens“, das von Mephisto im nächsten Augenblick sogleich wieder angestachelt werde, bleibe Faust im weiteren Fortgang des Dramas jedoch vom Glück des erfüllten Lebens notwendigerweise ausgeschlossen. Diesen Glücks- und Unglückshorizont der Faustdeutung muss man im Auge behalten, wenn man auf das berühmte Schlusskapitel „Ost und West“ in Wilhelms Rückblick auf seine Lebensepoche in China zwischen 1899 und 1924 schaut, in dem er dem prometheisch-faustischen „titanischen Streben“ des Westens die Kontemplationsschulen des Ostens, das Ordnungsdenken des Konfuzianismus und die Mystik des Daoismus, gegenüberstellt: Die Ordnung der chinesischen Gesellschaft beruht darauf, daß jeder seinen natürlichen, ihm zukommenden Platz hat, von dem aus er sich voll betätigen kann und über den hinauszugehen weder recht noch erwünscht ist. So hat im chinesischen Weltbild der titanische Stolz keine Stelle, denn da niemand dem Menschen seinen Platz streitig macht, ist es nicht heroisch, sondern verbrecherisch, darüber hinaus zu wollen. [. . .] Das Untitanische der chinesischen Weltanschauung im Gegensatz z. B. zur deutschen drückt sich sehr gut darin aus, daß das Unrechte bei uns ein „Fehler“ ist, in China ein „Überschreiten“. Auch den himmlischen Mächten gegenüber findet sich kein titanisches Aufbäumen: denn man sieht sich nicht einem persönlichen Autokraten gegenüber, der die Welt mit Willkür und Ungerechtigkeit lenkt [wie Prometheus es Zeus vorwirft], sondern der tiefste Weltsinn ist überpersönlich. Gegen ihn kann es keine Auflehnung geben, da er ja nicht etwas Fremdes ist, sondern mit den eigenen Tiefen des Menschen wesentlich eins. (Wilhelm 1980, 429–430)

Eingedenk solcher Beobachtungen Wilhelms gewinnt man eine Ahnung von den ungeheuren Dimensionen des revolutionären Bruchs in Chinas Geschichte des 20. Jahrhunderts, da sich nun offensichtlich auch im Osten Faust und Prometheus daran machten, „titanisch“ zu agieren. Über die singuläre, eminent wirkmächtige Position, die Wilhelm – nicht zuletzt aufgrund der thematischen Verbindung von China und Goethe – während

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des die 4.-Mai-Bewegung begleitenden Disputs zwischen Modernisierern und Hütern der Tradition einnahm, heißt es zusammenfassend bei Wolfgang Bauer: Der Beginn der zwanziger Jahre war für China eine der politisch konfusesten, zugleich aber [. . .] fruchtbarsten Epochen, die es verständlich macht, daß die „Literarische Revolution“ [der 4.-Mai-Bewegung] sich fast mehr in das Gedächtnis der damals jungen Generation, zu der auch Mao Tse-tung gehörte, eingeprägt hat, als die Revolution von 1911, die den Sturz des Mandschu-Kaiserhauses und die Errichtung der Republik nach sich zog. Das Wirken Richard Wilhelms (1873–1930), der auf eine unnachahmliche, heute kaum mehr vorstellbare Weise eine Brücke zwischen China und Deutschland zu schlagen suchte, brachte diese Ansätze während einer kurzen, aber sehr intensiv erlebten Zeit zu voller Blüte. (Bauer 1972, 190)

4 Fazit mit Goethe und Marx: Weltinterpretation und Weltveränderung Blicken wir vor diesem historischen Hintergrund des 4. Mai 1919 auf Guo Moruos und auf Richard Wilhelms Parallelunternehmungen unter der Überschrift „Goethe und China“ zurück, können wir zusammenfassend feststellen: Dienen Guo Moruo Faustübersetzung und Faustdeutung dazu, den Nachweis einer Übersetzbarkeit auch der modernen Revolution in chinesische Verhältnisse zu führen und dadurch die Revolution in China zu befördern, so bezieht sich Richard Wilhelm zur gleichen Zeit am gleichen Ort desgleichen auf Goethe und auf Goethes Faust, um die Klassiker der chinesischen Philosophie zu erläutern und um solchermaßen die Übersetzbarkeit und mithin die Universalität der Kontemplationsexerzitien Chinas zu demonstrieren. Angesichts der in den 1920er Jahren rasant anhebenden chinesischen Marx-Rezeption liegt es dann nahe, die paradox verlaufenden Übersetzungstätigkeiten Guos und Wilhelms auf jenen Widerspruch zwischen Kontemplation und Aktion zu beziehen, in dem Marx – in der elften Feuerbachthese – gleichsam den Beginn des globalen Revolutionszeitalters der Moderne ausgerufen hat. In ihren einander gegenüberstehenden Plädoyers für Weltinterpretation (Theorie) und für Weltveränderung (Praxis) können sich Wilhelm und Guo beide gleichermaßen auf Goethes Weltgedicht Faust über die tragische Kollision von Tradition und Moderne berufen, lassen sich doch aus diesem Text die Lebenslehren sowohl der Vita contemplativa – „Am Anfang war das Wort“! respektive Logos und Dao – wie auch der Vita activa – „Am Anfang war die Tat!“ – zitieren.24 24 Einem persönlichen Kontakt jedoch scheinen Guo und Wilhelm während dessen über beinahe fünfundzwanzig Jahre andauerndem China-Aufenthalt (1899–1920 und 1922–1924) konsequent

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Guo Moruo sieht Goethes Faust mit guten philosophischen Gründen unter Berufung auf Hegel und Marx als Repräsentanten des „revolutionären Bruchs im Denkens des 19. Jahrhunderts“ in Europa an,25 den er als prometheische Vorbildfigur ins chinesische 20. Jahrhundert versetzt. Hinter den von Faust vollzogenen Bruch mit der Überlieferung führt kein Weg zurück in die alte Welt, die Brücken sind abgebrochen, Vermittlung und Kompromiss sind ausgeschlossen. Sicherlich nicht den Weg zurück in die alte Welt, aber doch die Möglichkeit einer Vermittlung zwischen Tradition und Moderne eröffnet Wilhelm in seiner Auslegung derselben Fausttragödie, insofern er die Aufmerksamkeit auf die tragödienimmanente Kritik des „titanischen Strebens“ lenkt und, damit einhergehend, auf Goethes Nähe sowohl zur konfuzianischen Ordnungsphilosophie und wie auch zur daoistischen Mystik. Richard Wilhelm baut also die Brücke wieder auf, die den Überlieferungszusammenhang auch in den Umbruchzeiten der modernen Vita activa bewahrt und über die ein verlorener Sohn zurückkehren könnte.26

aus dem Wege gegangen zu sein. Sehr befremdlich wirkt diese Kommunikationsvermeidung angesichts des gemeinsamen Goetheinteresses im Kontext des politischen Umbruchs in China. Wolfgang Bauer bemerkt dazu 1973 im Vorwort zu ausgewählten Aufsätzen Wilhelms: „Um so merkwürdiger freilich ist es auch, daß er [Richard Wilhelm] zu dem fruchtbarsten Übersetzer von Goethes Werk, dem Gelehrten Kuo Mo-jo (geb. 1892) [d. i. Guo Moruo], der heute noch als Präsident der Akademie der Wissenschaften eine hervorragende Stellung im Geistesleben Chinas einnimmt, nicht in Kontakt trat. Gerade die Tatsache, daß Kuo Mo-jo sich schon sehr bald der Kommunistischen Partei anschloß, hätte Richard Wilhelm wohl zu einer eingehenderen Auseinandersetzung mit dem chinesischen Kommunismus bewegen können, zu der es niemals kam.“ Und über das mögliche Motiv von Wilhelms Verhalten fügt Bauer hinzu: „Es ist aber nicht weniger denkbar, daß er bewußt seine Aufgabe allein darin sah, das vergehende Alte China in bestimmten Teilen auf Europa umzupflanzen, um seine Werte nicht nur für den Westen zu gewinnen, sondern letztlich auch für China selbst zu erhalten“ (Bauer 1973, 26). – Sicherlich, darf man hinzufügen, war es gerade Guos Hinwendung zur Kommunistischen Partei, die Wilhelm auf Distanz gehen ließ. Wilhelm nämlich hatte sich nach der Abdankung der Mandschu-Dynastie und nach Gründung der chinesischen Republik jener Gruppe unter den führenden Initiatoren der 4.-Mai-Bewegung angeschlossen, die sich wie Cai Yuanpei und Hu Shi eben nicht auf den Weg in den Kommunismus machten. Dem 1926 erschienenen autobiografischen Rückblick auf seine China-Erfahrungen hat Richard Wilhelm denn auch die Widmung vorangestellt: „Herrn Tsai Yüan Pei, dem Kämpfer für Recht und Freiheit, dem Gelehrten, dem Freund“ (Wilhelm 1980, 26). 25 Um den Untertitel von Karl Löwiths berühmter Ideengeschichte des 19. Jahrhunderts zu zitieren (Löwith 1988 [1941]). 26 Wilhelm hat sich offenbar in der unzeitgemäß-paradoxen Rolle eines europäischen Hüters der chinesischen Tradition gesehen, den die Ironie der Geschichte im Augenblick des Zusammenbruchs eben dieser Überlieferung nach China versetzt hatte. Bezeichnenderweise in der Einleitung zur 2. Auflage seiner Konfuzius-Übersetzung bemerkt er 1914 über seine anachronistische deutsch-chinesische Position: „Die hohe Verehrung, die Kung [Konfuzius] durch die Mandschu-Dynastie gezollt wurde und die soweit ging, daß er beim großen Opfer als Genosse

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Solchermaßen entwerfen Guo Moruo und Richard Wilhelm im Umfeld des 4. Mai 1919 und mithin am Beginn des chinesischen Revolutionsjahrhunderts zwei Möglichkeiten der Faustdeutung, die zugleich zwei Möglichkeiten der Geschichtsdeutung darstellen: Liest Guo Moruo das Faust- resp. Menschheitsdrama als Prozess, den die Gegenwart gegen die Vergangenheit anstrengt, um die Bewegung in eine befreiende Zukunft zu beschleunigen, so erläutert Richard Wilhelm Goethes Text als literarisches Abbild eines Vermittlungsgeschehens, das einen versöhnenden Ausgleich zwischen Tradition und Moderne zulässt. Im Rückblick von heute gewinnt man den Eindruck, dass das gewaltige Gesellschaftsdrama des chinesischen 20. Jahrhunderts in seinen verschiedenen Epochen dann in der Tat zwischen diesen beiden Möglichkeiten des revolutionären Prozessdenkens und der versöhnenden Vermittlungsoperation schwankte.27

des höchsten Gottes verehrt wurde, hat nun neuerdings eine schwere Gefahr für ihn gebracht. Mit der Mandschu-Dynastie [bei ihrer Abdankung 1911] brach auch die Verehrung Kungs in Trümmer. Sein Tempel verfällt. Keine Opfer werden ihm mehr gebracht. Die Literaten haben sich zum Teil anderen Idealen zugewandt, zum Teil stehen sie einflußlos abseits. Es scheint, als sei für den Konfuzianismus wieder eine ähnlich gefährliche Zeit angebrochen wie die des Tsin Schi Huang. Ja, gewissermaßen ist heute die Gefahr noch größer. Denn was zusammengebrochen ist, ist nicht wie damals nur ein Glied im großen Zusammenhang, vielmehr sind die gesamten Grundlagen erschüttert. Der Fürst ist beseitigt und damit die notwendige Form des konfuzianischen Staates. Denn man mag sagen, was man will: auf die Republik läßt sich die konfuzianische Staatslehre nicht aufpropfen. Aber die Auflösung geht weiter. Die gesellschaftliche Struktur kommt ins Wanken. Die Familie, in der die wichtigsten Beziehungen der konfuzianischen Lehre wurzeln, ist in einer radikalen Umgestaltung individualistischer Art begriffen. [. . .] Wird Kungs System die Wirren des heutigen Tags überdauern? Oder wird es untergehen in der Umwandlung der alten chinesischen Welt? Für alle Fälle ist es der Mühe wert, diesen Versuch der Menschheitsorganisation zu retten zu einer Zeit, da unmittelbare Anschauung seine Kenntnis noch ermöglicht; denn es handelt sich um eine der wichtigsten Erscheinungen der Menschheitsgeschichte“ (Wilhelm 2018 [1910], 61–62). 27 Hartmut Eggert danke ich für wichtige Hinweise und inspirierende Gespräche zum chinesisch-deutschen Themenfeld. – Der vorliegende Beitrag sowie der einleitende Essay entstanden während eines Fellowships, das mir dankenswerterweise von der Carl Friedrich von Siemens Stiftung in München gewährt wurde.

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Bildquellen Abbildungen 1, 2, 3, 4, 6, 7, 8 Abbildung 5

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Die Rezeption der deutschen Literatur in China vor dem Hintergrund der 4.-MaiBewegung am Beispiel der Übersetzungen von Guo Moruo 1 Die 4.-Mai-Bewegung als Wendepunkt in der chinesischen Übersetzungsgeschichte Die 4.-Mai-Bewegung wird nicht nur als eine patriotische Studentenbewegung betrachtet, sondern im weiteren Sinne als eine geistige Erneuerungsbewegung verstanden, die sich zeitlich bis in die Mitte der 1920er Jahre erstreckt (vgl. Kuhn 2007, 188). Literargeschichtlich gesehen gilt sie sowohl als Beginn der modernen chinesischen Literatur als auch als ein wichtiger Wendepunkt in der chinesischen Übersetzungsgeschichte (vgl. Sun 1985, 55). Vor der 4.-Mai-Bewegung legte man im Zuge der Verwestlichung beim Übersetzen den Schwerpunkt zunächst auf naturwissenschaftliche und technisch relevante Texte, um von der technischen Überlegenheit des Westens zu profitieren und die eigenen Schwächen zu beheben. Diese Hoffnung ging jedoch nicht in Erfüllung, und China blieb nach der Abdankung des letzten Kaisers der QingDynastie (1636–1912) und nach der Gründung der Republik im Jahr 1912 unter der Führung von Sun Yat-sen weiterhin ein rückständiges Land. Als Bestätigung dieser Einschätzung galt das diplomatische Scheitern in den Pariser Friedensverhandlungen. Man musste sich erneut über den Ausweg Chinas aus der Rückständigkeit Gedanken machen und nahm wieder einmal den Westen als Vorbild. Im Unterschied zu den vorigen auf den Fortschritt und auf die Stärkung Chinas abzielenden Versuchen, bei welchen die Chinesen von den westlichen Techniken sowie dem demokratischen politischen System lernen sollten, orientierten sich die Intellektuellen diesmal geistig am Westen. „Will man heutzutage die Politik erneuern, so muss man konsequenterweise auch die Literatur, die im Geist der Politiker nistet und herumspukt, erneuern“ (zitiert nach Yang 2000, 29), so schrieb Chen Duxiu, einer der wichtigsten Führer der Neue-Kultur-Bewegung.1 Zur Zeit der 4.-Mai-Bewegung

1 Chen Duxiu (1879–1942, geboren in der Provinz Anhui) war ein politischer Aktivist, Revolutionär und Anreger der Neue-Kultur-Bewegung der 1910er und 1920er Jahre, die auf die SchafOpen Access. © 2021 Han Jie, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110682427-009

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begann man damit, ausländische Literatur mit bürgerlich-revolutionärem Ideengehalt in großem Umfang ins Chinesische zu übertragen und damit einem größeren Publikum vorzustellen – darunter auch bedeutende Werke der deutschen Literatur (vgl. Sun 1985, 55). Die übersetzten Texte entstammten verschiedenen Epochen und waren in unterschiedlichen Stilen verfasst. Die Entscheidung zur Auswahl der übersetzten Werke stand „in sehr engem Zusammenhang mit der Entwicklungstendenz der chinesischen Gesellschaft sowie mit Mentalität und Neigung der Übersetzer“ (Sun 1985, 55). Zu dieser Zeit wurden Texte von Goethe, Schiller, Heine, Nietzsche, Hauptmann, Storm, Kleist und anderen dem chinesischen Publikum zugänglich gemacht, oftmals von bekannten Intellektuellen und Gelehrten ins Chinesische übersetzt. Sie erfreuten sich vor allem bei jungen Leuten großer Beliebtheit und leisteten einen großen Beitrag zur Modernisierung der chinesischen Literatur. An dieser Stelle darf der Name Guo Moruo (1892–1978) nicht unerwähnt bleiben. Geboren in der südwestlichen Provinz Sichuan, wurde Guo einerseits in seiner Kindheit und Jugendzeit nach den Regeln der überlieferten konfuzianischen Lehre erzogen und kam andererseits infolge der Maßnahmen der Qing-Regierung zur Reform des traditionellen Bildungssystems mit neuer und westlicher Wissenschaft und Kultur in Berührung (vgl. Gong und Fang 1988, 6–7). Während seines Medizinstudiums in Japan erlernte er die Fremdsprache Deutsch, weil die japanischen Universitäten damals die deutsche medizinische Ausbildung kopierten. Die meisten Fremdsprachenlehrer Guos hatten ihr Studium an philologischen Fakultäten absolviert. Deshalb benutzten sie gerne literarische Texte als Lehrbücher, was Guo die Gelegenheit bot, die deutsche Literatur kennenzulernen (vgl. Huang et al. 2013, 29). Zur Zeit der 4.-Mai-Bewegung wirkte er nicht nur mit seinen zahlreichen Schriften an der kulturellen Erneuerung Chinas mit, sondern beteiligte sich auch als Übersetzer ausländischer Literatur aktiv daran. In Japan begann er seine Übersetzungsarbeit und verschaffte sich bald den Ruf eines kompetenten Übersetzers deutscher Literatur. Immensee von Theodor Storm, Goethes Die Leiden des jungen Werthers sowie Also sprach Zarathustra von Friedrich Nietzsche wurden in den 1920er Jahren von Guo Moruo nacheinander ins Chinesische übersetzt. Diese von ihm übertragenen Werke zählten zu den damals beliebtesten ausländischen Lektüren des chinesischen Publikums und wurden in kurzer Zeit mehrmals neu aufgelegt. Die genannten deutschen Autoren wurden

fung einer auf Demokratie und Wissenschaft basierenden neuen Kultur abzielte. Historisch gesehen galt die Neue-Kultur-Bewegung als die geistige Vorbereitung auf die darauffolgende 4.Mai-Bewegung, die umgekehrt als Höhepunkt und Fortsetzung der Neue-Kultur-Bewegung angesehen wurde.

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vielfach gelesen, öffentlich diskutiert und spielten im Modernisierungsprozess der chinesischen Literatur eine wichtige Rolle. Im Folgenden wird zunächst ein Überblick über die chinesische Rezeption der deutschen Literatur in der Zeit der 4.-Mai-Bewegung am Beispiel der oben genannten Texte gegeben. Abschließend ist zu erläutern, wie sich die Rezeption ausländischer Literatur in den gesellschaftlichen und kulturellen Kontext Chinas einbettet. Denn es liegt „weniger am Text selbst, wie er wahrgenommen und gedeutet wird, als an seinen Lesern, ihren Interessen und Deutungsgewohnheiten. Rezeptionsgeschichten sind immer auch Geschichten der Entstellung und Abwandlung“ (Richter 2017, 21).

2 Guos Übersetzungstätigkeit in der Zeit der 4.-Mai-Bewegung und ihre breite Rezeption Theodor Storm ist einer der bekanntesten deutschen Schriftsteller in China und seine Novelle Immensee gilt als sein beliebtestes Werk. Diese Novelle wurde sowohl auf dem Festland Chinas als auch in Hongkong und Taiwan mehrmals neu ins Chinesische übersetzt. Es sind mehr als 20 unterschiedliche Übersetzungen entstanden, was der Situation der Rezeption von Die Leiden des jungen Werthers in China ähnelt (vgl. Yang 2005, 166). Obwohl Auszüge aus Immensee bereits vor der 4.-Mai-Bewegung ins Chinesische übersetzt wurden, fand eine breite Rezeption der Novelle erst statt, als sie der Leserschaft in vollständiger Übersetzung vorlag. Diese bereitete Guo Moruo in Zusammenarbeit mit Qian Junxu2 vor, doch wurde sie oft als Übersetzung von Guo allein angesehen, weil sie stark von Guos sprachlichem Stil geprägt ist (vgl. Yang 2005, 338). 1921 erschien die Übersetzung von Immensee im Verlag Taidong in Shanghai und wurde innerhalb von zehn Jahren allein in diesem Verlag vierzehnmal neu aufgelegt (vgl. Wei 2004, 108). Nur wenige Monate später publizierte The Commercial Press in Shanghai, das erste chinesische moderne Publikationsinstitut, eine weitere Übersetzung, angefertigt von Tang Xingtian. Diese Immensee-Ausgabe wurde von einer detaillierten Theodor-Storm-Biografie begleitet. Weil die zwei Übersetzungen zeitlich nah aufeinanderfolgten, war es nicht zu vermeiden, dass zwischen ihnen große Konkurrenz herrschte. Es entstand sogar eine polemische 2 Qian Junxu (1896–1994), auch als Qian Chao bekannt, war ein renommierter Medizinexperte. Während des Medizinstudiums in Japan hatten sich Qian und Guo kennengelernt. Um seine Deutschkenntnisse zu verbessern, begann Qian, Immensee ins Chinesische zu übersetzen. Guo Moruo überarbeitete Qians Manuskript, sowohl sprachlich als auch stilistisch.

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Debatte darüber, welche Übersetzung die bessere war. An dieser Auseinandersetzung nahm nicht nur Guo selbst teil, auch andere berühmte Gelehrte wie Ba Jin3 und Zheng Zhenduo4 beteiligten sich an der Diskussion. Im Jahr 1927 erschien schließlich eine dritte Übersetzung von Immensee, diesmal im Kaiming Shuju [Kaiming Verlag] in Shanghai. Zhu Xie, der Übersetzer dieser neuen Version, hielt es für sinnvoll, Storms Novelle erneut ins Chinesische zu übertragen, da die beiden vorherigen Übersetzungen Fehler enthielten und noch zu verbessern seien (vgl. Wei 2004, 110). Dass drei chinesische Immensee-Übersetzungen innerhalb von nur sechs Jahren entstanden, zeigt, dass Storms Novelle zur damaligen Zeit äußerst populär war. Die darin beschriebene unerfüllte Liebe des jungen Paares Reinhard und Elisabeth fand große Resonanz bei vielen jungen Chinesen, die unter dem traditionellen Ehemodell, nämlich unter der von Familien und Eltern arrangierten Eheschließung, litten und sich nach selbstbestimmter Liebe sehnten (vgl. Yang 2005, 174). Zugleich waren die jungen Intellektuellen dieser Generation, die sich in der Konfrontation mit der Realität aus Enttäuschung oft einsam und melancholisch fühlten, von der empfindsamen Atmosphäre in Storms Darstellung fasziniert. Yu Dafu, ein bedeutender Schriftsteller jener Zeit, schrieb in der Vorrede zu Guo Moruos Immensee-Übersetzung: Sobald wir seine [d. i. Theodor Storms] Erzählungen lesen, ist es immerhin nicht zu verhindern, in eine traurige Welt entführt zu werden. Wenn wir im Schein des Sonnenuntergangs am frühen Abend des Spätfrühlings oder Frühherbstes sein Immensee lesen, müssen wir uns verloren fühlen und es scheint so, als ob wir allmählich im dunklen Meeresboden versinken würden. (Zitiert nach Wei 2004, 109)5

Ein anderes Werk, das in dieser Zeit aus dem Deutschen ins Chinesische übersetzt und zu einer der beliebtesten Lektüren des chinesischen Publikums wurde, war Goethes Die Leiden des jungen Werthers. Die erste von den zahlreichen chinesischen Übersetzungen des Werthers stammte ebenfalls von Guo Moruo und sie wurde auch im Taidong Tushuju [Taidong Verlag] veröffentlicht, der ein Jahr zuvor Guos Immensee-Übersetzung publiziert hatte. Zwar hatte Goethe schon vor der 4.-Mai-Bewegung den Weg nach China gefunden, doch verdankt er seine große Beliebtheit dieser besonderen Wendezeit.

3 Ba Jin (1904–2005, eigentlicher Name Li Yaotang, geboren in der Provinz Sichuan) war ein Schriftsteller, Übersetzer und Aktivist. 4 Zheng Zhenduo (1898–1958, geboren in der Provinz Zhejiang) war ein Schriftsteller, Lyriker, Übersetzer und Gelehrter. 5 Chinesischsprachige Titel und Zitate in diesem Beitrag wurden von der Verfasserin selbst ins Deutsche übersetzt.

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In der Anfangsphase der Goethe-Rezeption zog man oft einen Vergleich zwischen Goethe und Konfuzius – wie etwa der Gelehrte Ku Hung-Ming (1856–1928). In seinem um die Jahrhundertwende erschienenen Buch Aufzeichnungen eines Beraters aus der Residenz des Gouverneurs Zhang können wir nachlesen: Ohne Eile, ohne Stagnation wie das Gestirn am Himmel wirken und die Tugend verbessern, um sich dem Ren [Güte, Humanität] anzunähern. Der hervorragende westliche Weise namens Ete [d. i. Goethe] ging in einer anderen Richtung zu demselben Ziel wie Konfuzius. In China wie in dem Abendland hat man den gleichen Weg. Wie lehrreich sein Spruch: sich immer strebend bemüht! Das Tao liegt also den Menschen nah, und in China wie auch in dem Abendland gibt es nur ein und dasselbe Tao. (Zitiert nach Yang 2005, 20)

Im Gegensatz zur konfuzianisch inspirierten Goethe-Rezeption der vorhergehenden Periode übernahm Goethe in der Zeit der 4.-Mai-Bewegung „die neue Rolle eines Gewährsmannes des Emanzipationsversprechens der Moderne, in dessen Realisierung die Reform- und Revolutionsbewegung den einzig möglichen Weg zur nationalen Autonomie und Stärke Chinas erkennt“ (Jaeger 2011, 60). Man zog sogar eine Parallele zwischen der chinesischen Gegenwart der kulturellen Erneuerung und der Epoche des Sturm und Drang, weshalb großer Wert auf das Werk des jungen Goethe gelegt wurde. Im Jahr 1920 schrieb Guo Moruo an seine Freunde Tian Han und Zong Baihua und schlug ihnen vor, sich dem jungen Goethe zuzuwenden: „Ich denke, dass wir Goethes Werke so viel wie möglich vorstellen und erforschen müssen, da seine Zeit – die Zeit des ‚Sturm und Drang‘ – unserer Zeit sehr ähnlich ist! Wir haben vieles von ihm zu lernen!“ (Zong et al. 2006 [1920], 18). Dieser Brief und Dutzende weitere Briefe, die sich Guo, Tian und Zong vom 3. Januar bis zum 3. März 1920 schrieben, wurden in einen Band namens San Ye Ji [Kleeblatt] aufgenommen, der im Mai desselben Jahres im Shanghaier Taidong Verlag erschien. In seinem Vorwort erklärt Tian Han, dass sich ihre Korrespondenz hauptsächlich um einen Mittelpunkt drehte, nämlich um Goethe. Der oben erwähnte Vorschlag Guo Moruos fand die Zustimmung seiner Freunde. Jeder wählte für sich ein Thema aus, und Guo entschied sich für die Übersetzung von Faust und Die Leiden des jungen Werthers.6

6 Zong Baihua, Philosoph und Ästhetiker, war bereit, eine Abhandlung mit dem Titel „Zur Lebens- und Weltanschauung des deutschen Dichters Goethe“ zu verfassen; Tian Han, Dramatiker und Kritiker, wollte eine Goethe-Biografie sowie eine Abhandlung zur Beziehung von Goethe und Schiller schreiben, außerdem noch ein Kapitel von Shokamas „Forschungen über Goethes Gedichte“ aus dem Japanischen ins Chinesische übersetzen. Später wurden all diese Projekte mit Ausnahme von Tian Hans Goethe-Biografie in die Tat umgesetzt. Vgl. Yang 2005, 34.

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Mit der Veröffentlichung der chinesischen Werther-Übersetzung im Jahr 1922 erreichte die Goethe-Rezeption in China ihren ersten Höhepunkt: Goethe wurde ein Lieblingsautor der jungen Leute. Bereits im August 1923 erschien Guos Übersetzung in der vierten Auflage, ein Jahr später wurde sie zum achten Mal neu aufgelegt (vgl. Yang 2005, 40). In den folgenden Jahren brachten diverse Verlage weitere Neuübersetzungen des Werther auf den Markt. Der chinesische Goethe-Experte Yang Wuneng konstatiert treffend: „Das Büchlein schlug in China wie einst in Deutschland und Europa ein wie eine Bombe, so dass sein Verfasser Goethe beim chinesischen Publikum, insbesondere unter den Jugendlichen, über Nacht populär wurde“ (Yang 2005, 37). Es wurde sogar Mode, dass junge Liebespaare einander eine Werther-Übersetzung schenkten und sich das Versprechen gaben, dem Herzensbund ewig treu zu bleiben (vgl. Yang 2005, 39). Sie identifizierten sich mit der Werther-Figur und erkannten ihr eigenes Schicksal in der traurigen Geschichte wieder. Werthers emotionsgeladener Einbruch in das geregelte Familien- und Eheleben von Lotte und Albert empfanden sie wohl als ersehnten Protest gegen den Ahnen-, Familien- und Ehekult der konfuzianischen Überlieferung, in der das Konzept einer selbstbestimmten Liebe fast keine Bedeutung hat (vgl. Jaeger 2011, 61). Wie die Rezeption von Goethe beginnt die von Friedrich Nietzsche ebenfalls vor der 4.-Mai-Bewegung. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde Nietzsche nicht als Philosoph, sondern als Dichter in China eingeführt und beeinflusste viele chinesische Schriftsteller tiefgreifend. So urteilte der Schriftsteller Mao Dun7 über Nietzsche im Jahr 1920 beim Lesen von Also sprach Zarathustra wie folgt: „Nietzsche besitzt wirklich ein lyrisches Talent. Er ist mehr hervorragender Dichter als ausgezeichneter Philosoph“ (zitiert nach Wei 2004, 134–135). Vor 1919 wurde der Name Nietzsche bereits von vielen führenden Intellektuellen – wie etwa Wang Guowei8, Lu Xun9, Chen Duxiu – mehrmals erwähnt, und sie alle schätzen Nietzsches Schriften zum „Übermenschen“ und zur „Umwertung aller Werte“. Als sich der Gelehrte und Schriftsteller Wang Guowei 1904 mit Nietzsches Philosophie auseinandersetzte, betonte er, dass dessen Lehre darauf abziele, „alte Kultur zu zerstören und neue Kultur zu schaffen“

7 Mao Dun (1896–1981, eigentlicher Name Shen Dehong) war ein berühmter Schriftsteller, Literaturkritiker und Aktivist. 8 Wang Guowei (1877–1927, geboren in der Provinz Zhejiang) war Schriftsteller, Lyriker und Gelehrter mit einem internationalen Ruf. 9 Lu Xun (1881–1936, eigentlicher Name Zhou Shuren) war Wegbereiter der modernen Literatur in China. Die im Jahr 1918 erschiene Kurzgeschichte Tagebuch eines Verrückten war der erste in Baihua (Umgangssprache) geschriebene Text in der Literaturgeschichte Chinas.

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(zitiert nach Yue 1980, 21). Nietzsche strebe nach einer Loslösung von der Belastung durch alte Traditionen und fordere den Umsturz aller Werte. Eine ähnliche Ansicht findet man auch im Text von Chen Duxiu unter dem Titel Aufruf an die Jugend aus dem Jahr 1915. Es handelt sich dabei um das Geleitwort des ersten Heftes der einflussreichen revolutionären Zeitschrift Neue Jugend, in der Chen die Gedanken Nietzsches als „Waffe“ gegen feudalistische Herrschaft nutzte. Auf Nietzsches Differenzierung zwischen Sklavenmoral und Herrenmoral zurückgreifend, bezeichnete Chen die in der chinesischen Tradition hochgeschätzte Moral – also Treue, Gehorsamkeit, Anstand und Güte – als Sklavenmoral und stellte ihr die Herrenmoral entgegen, die vom Individuum ausgeht und Selbständigkeit und Gleichberechtigung in den Vordergrund rückt (vgl. Chen 2016a, 181–182). In seiner Schrift Der wahre Sinn des Lebens, die im Jahr 1918 in der Zeitschrift Neue Jugend erschien, betonte Chen Duxiu erneut, dass sich Nietzsche dafür einsetze, den individuellen Willen zu respektieren und eigenes Talent zu entfalten. Genau darin wollte Chen das Ziel des Lebens erkennen. Die „sogenannte Humanität“, Gerechtigkeit und Moral seien jedoch nichts als Betrügerei (vgl. Chen 2016b, 156). Ähnlich urteilten vor der 4.-Mai-Bewegung auch andere Intellektuelle über Nietzsches Lehre, beispielsweise Lu Xun, Cai Yuanpei10 und viele weitere – hier werden nicht alle aufgelistet. Ihren Stellungnahmen ist gemeinsam, dass sie eine besondere Aufmerksamkeit auf den rebellischen Geist von Nietzsches Philosophie richten und insbesondere Nietzsches Kritik der Überlieferung große Anerkennung zollen. Die 4.-Mai-Bewegung setzte die Nietzsche-Rezeption fort und brachte deren ersten Höhepunkt in China hervor. Nach der Protestbewegung schrieb man nicht nur weitere Texte über den deutschen Philosophen, man beschäftigte sich auch intensiv damit, seine Schriften ins Chinesische zu übersetzen. Noch im selben Monat, in der die Studentenbewegung ausbrach, formulierte der Historiker Fu Sinian in der Zeitschrift Xinchao [The Renaissance] den Appell: „Wir müssen Laternen tragen und die Straßen entlang nach den Übermenschen suchen“ (zitiert nach Yue 1980, 21). Einige Monate später schrieb der Dramatiker Tian Han eine detaillierte Einführung zu Die Geburt der Tragödie im dritten Heft des ersten Bandes der Zeitschrift Shaonian Zhongguo [Jungchina] und unterstrich, dass man sich über die Leiden des Lebens hinwegsetzen und mit starkem Willen gegen sie ankämpfen müsse (vgl. Yue 1980, 21). In den folgenden Jahren bemühten sich Intellektuelle stetig darum, die chinesischen Leser mit Nietzsches Gedanken bekannt zu machen und sie vom darin enthaltenen

10 Cai Yuanpei (1868–1940, geboren in der Provinz Zhejiang) war Pädagoge und der erste Rektor der Peking Universität.

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rebellischen Geist zu überzeugen. In dieser Zeit unternahmen Intellektuelle wie Mao Dun, Lu Xun und Guo Moruo außerdem den Versuch, Nietzsches Werk Also sprach Zarathustra ins Chinesische zu übersetzen – die vergleichsweise vollständigste Übersetzung stammt von Guo Moruo. Von Mai 1923 bis Februar 1924 publizierte Guo nacheinander von ihm übersetzte Fragmente aus Zarathustra in der Zeitung Chuangzao Zhoubao [Schöpfungswochenzeitung]. Obwohl Guos Arbeit unvollendet blieb, wurde sie 1928 in Buchform veröffentlicht. Das Werk „wurde von der damaligen chinesischen Jugend mit Enthusiasmus begrüßt. Nietzsche wurde als Idolzerstörer gefeiert, der alle traditionellen Glaubensgrundsätze verworfen hat“ (Sun 1985, 57).

3 Identifikationsversuch bei der Interpretation und in Einklang mit der Zeitstimmung Möchte man das Phänomen der Beliebtheit jener soeben erwähnten deutschen Werke bei den chinesischen Lesern begreifen, so ist es notwendig, ihre Rezeption im gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Kontext jener Zeit zu betrachten. Was Goethe in seinem späten Leben zum Werther-Fieber in Deutschland sagt, trifft auch auf den unerwarteten Erfolg der oben erwähnten Texte im China der 1920er Jahre zu: Die Wirkung dieses Büchleins war groß, ja ungeheuer, und vorzüglich deshalb, weil es genau in die rechte Zeit traf. Denn wie es nur eines geringen Zündkrauts bedarf, um eine gewaltige Mine zu entschleudern, so war auch die Explosion, welche sich hierauf im Publikum ereignete, deshalb so mächtig, weil die junge Welt sich schon selbst untergraben hatte, und die Erschütterung deswegen so groß, weil ein jeder mit seinen übertriebenen Forderungen, unbefriedigten Leidenschaften und eingebildeten Leiden zum Ausbruch kam. (Goethe 1988, 580)

Die erwähnten Texte, die sich in den 1920er Jahren großer Beliebtheit bei dem chinesischen Publikum erfreuten, haben zur rechten Zeit ihren Weg nach China gefunden und den Zeitgeist getroffen. Zahlreiche Aspekte dieser Werke ließen sich auf die damals aktuellen Probleme Chinas übertragen, weshalb sie bei den Lesern große Resonanz fanden. Bei der 4.-Mai-Bewegung handelte es sich nicht nur um eine patriotische Studentenbewegung, die gegen den Imperialismus kämpfte, sie war auch eine antifeudalistische Emanzipationsbewegung. Die Wendung gegen die imperiale Herrschaft verband sich mit einer Kritik an chinesischen Traditionen (vgl. Bauerkämper 2011, 21). Die in China über zweitausend Jahre lang herrschende Ethik

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der Selbstunterwerfung, die in den Drei Grundregeln und Fünf Grundbeziehungen des Konfuzianismus ihre Ausprägung fand, wurde nun von Grund auf in Frage gestellt. Von den Drei Grundregeln wurden die Beziehungen von Fürst zu Untertan, Vater zu Sohn und Ehemann zu Ehefrau geregelt, während die Fünf Grundbeziehungen das Verhältnis von Fürst zu Minister, Vater zu Sohn, älterem zu jüngerem Bruder, Ehemann zu Ehefrau und Freund zu Freund festlegten (vgl. Kuhn 2007, 192). Untertanen, Söhne und Ehefrauen wurden jeweils dem Fürsten, dem Vater und dem Ehemann untergeordnet und mussten ihnen gegenüber bedingungslosen Gehorsam leisten. Tugenden wie Humanität, Güte, Gerechtigkeit usw. zählten zu den wichtigsten Prinzipien, die man im Alltag verfolgen musste. Im alten China pflegte man nicht zu fragen, wer man ist, sondern welche Aufgabe man in der Gesellschaft und in der Familie übernehmen sollte (vgl. Hu 2011, 71–72). Das Individuum trat deshalb hinter der gesellschaftlichen und familiären Rolle zurück, was dazu führte, dass die individuelle Freiheit und Selbstständigkeit beeinträchtigt und vernachlässigt wurden. Zum Beispiel war im traditionellen Ehemodell keine freie Wahl des Ehepartners möglich, vielmehr wurde durch die Vermittlung der Eltern die Eheschließung arrangiert. Die Vertreter der 4.-Mai-Bewegung versuchten, mit der Tradition zu brechen und gegen die für die konfuzianische Konvention typische Selbstunterwerfung zu kämpfen. Sie traten deshalb energisch für die Entfaltung der Persönlichkeit, für die individuelle Freiheit und nicht zuletzt für die Frauenemanzipation ein. Die Eheproblematik wurde zu einem aktuellen gesellschaftspolitischen Thema, und es fand sogar eine erste öffentliche „Liebesdebatte“ in China statt, an der bedeutende Intellektuelle – unter anderem Liang Qichao11 und Lu Xun – teilnahmen (vgl. Hu 2011, 67). Literarisch gesehen wurde das Ich zum zentralen Thema dieser Zeit; deshalb wurde die subjektive Wahrnehmung in den Vordergrund gerückt, was sich in den neuen Gattungen Tagebuch, Autobiographie und Ich-Erzählung niederschlug (vgl. Hu 2011, 65–66). Eben aus diesem Grund neigten die chinesischen Leser dazu, Nietzsches Forderung nach der „Umwertung aller Werte“ zuzustimmen, Werthers Aufstand gegen die Konvention auf die eigene Auseinandersetzung mit der konfuzianischen Überlieferung zu beziehen und sich mit der in Storms Novelle Immensee beschriebenen unerfüllten Liebe zwischen Reinhard und Elisabeth zu identifizieren. Die erwähnten Texte kamen zur richtigen Zeit in China an und passten bestens zur damals herrschenden Emanzipationsstimmung.

11 Liang Qichao (1873–1929) war ein Gelehrter, Philosoph und Reformer. Er zählte zu den führenden Kräften der gescheiterten Hundert-Tage-Reform der Qing-Dynastie.

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Wenn man die Rezeption der ausländischen Literatur verfolgt – besonders jene der hier vorgestellten Beispiele –, so fällt auf, dass die damaligen Leser dazu tendierten, die literarischen Inhalte in ihren eigenen Erwartungshorizont zu übertragen. Der subjektive und pragmatische Gesichtspunkt spielte bei der Interpretation der westlichen Literaturprodukte eine entscheidende Rolle, was oft dazu führte, dass die Geschichten nach den Bedürfnissen des Lesers vereinfacht ausgelegt wurden. Eben aus diesem Grund wurde Werther zum Sinnbild des Kampfes der jungen Leute gegen das traditionelle Ehemodell, und Reinhard und Elisabeth wurden als Opfer der von den Eltern nach feudalistischer Art bestimmten Eheschließung angesehen. Die Einfühlung in das Schicksal der Figuren trug einerseits zur breiten Rezeption dieser westlichen Literatur bei, anderseits behinderte sie ein umfassendes und differenziertes Verständnis der Werke. Zahlreiche Aspekte der Werke wurden vernachlässigt oder tauchten in der Diskussion erst gar nicht auf. Zusammenfassend ist zu sagen, dass die 4.-Mai-Bewegung als kulturelle Erneuerung und geistige Neuorientierung in der neueren Geschichte Chinas den ersten Höhepunkt der Rezeption der ausländischen bzw. der deutschen Literatur mit sich bringt. Dank der Übersetzungstätigkeit von vielen Intellektuellen wie Guo Moruo sind zahlreiche ausländische klassische Texte dem chinesischen Publikum erstmals zugänglich geworden und haben zu der geistigen Emanzipationsbewegung Chinas einen großen Beitrag geleistet. Zugleich aber sollte man nicht außer Acht lassen, dass die ausländischen Werke durch die genannten Protagonisten der Emanzipationsbewegung in China eingeführt wurden und entsprechend instrumentalisiert und mit dem Zeitgeist in Einklang gebracht wurden. Ihre Rezeption ist tief in den zeitgenössischen gesellschaftlichen und kulturellen Kontext Chinas eingebettet.

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Hu, Wei. „Die chinesische Rezeption von Goethes Dichtung und Wahrheit in den 1920er und 1930er Jahren“. Deutsch-chinesische Annäherungen. Kultureller Austausch und gegenseitige Wahrnehmung in der Zwischenkriegszeit. Hrsg. Almut Hille, Gregor Streim und Pan Lu. Köln, Weimar und Wien 2011. 65–75. Huang, Manjun, Wang Zelong und Li Guoqian. Guo Moruo Zhuan [Guo Moruo. Eine Biografie]. Beijing 2013. Jaeger, Michael. „Sturm und Drang in China. Goethe und die Vierte-Mai-Bewegung“. Deutschchinesische Annäherungen. Kultureller Austausch und gegenseitige Wahrnehmung in der Zwischenkriegszeit. Hrsg. Almut Hille, Gregor Streim und Pan Lu. Köln, Weimar und Wien 2011. 49–63. Kuhn, Dieter. Die Republik China von 1912 bis 1937. Entwurf für eine politische Ereignisgeschichte. 3., überarbeitete und erweiterte Ausgabe. Heidelberg 2007. Richter, Sandra. Eine Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur. München 2017. Sun, Fengcheng. „Probleme der Wirkungsgeschichte neuerer deutschen Literatur in China“. Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. internationalen Germanisten-Kongresses. Band 9. Hrsg. Albrecht Schöne. Göttingen 1985. 55–65. Wei, Maoping. Deyu Wenxue Hanyishi Kaobian [Forschungen über die chinesische Übersetzungsgeschichte der deutschen Literatur]. Shanghai 2004. Yang, Wuneng. San Ye Ji – Deyu Wenxue. Wenxue Fanyi. Bijiao Wenxue. [Kleeblatt – Deutsche Literatur. Literarische Übersetzung. Komparatistik]. Chengdu 2005. Yang, Wuneng. Goethe in China (1889–1999). Frankfurt am Main 2000. Yue, Daiyun. „Nicai Yu Zhongguo Xiandai Wenxue [Nietzsche und die moderne chinesische Literatur]“. Journal of Peking University (Humanities and Social Sciences) 3 (1980): 20–33. Zong, Baihua, Tian Han und Guo Moruo. San Ye Ji [Kleeblatt]. Hefei 2006 [Erstausgabe Shanghai 1920].

Huang Chaoran

Hermann Hesses Asienreise und seine Betrachtungen zum „Geiste Chinas“ Während der Versailler Friedenskonferenz 1919 auf der Seite der Alliierten stehend, hatte China die Hoffnung, die ungleichen Verträge mit den westlichen Mächten, die seit dem Anfang seiner kolonialen Geschichte 1840 nach und nach Gültigkeit erlangt hatten, aufzuheben sowie die einundzwanzig Forderungen Japans von 1915 außer Kraft zu setzen (vgl. MacMillan 2015, 427–435). Aufgrund eines geheimen Abkommens unter den Alliierten aus dem Jahre 1917, in dem Großbritannien und die anderen europäischen Mächte Japan „Unterstützung für seinen Anspruch auf den dauerhaften Besitz der deutschen Gebiete und Privilegien“ in Shandong zugesichert hatten (MacMillan 2015, 434)1, erfüllten sich die chinesischen Hoffnungen nicht. Stattdessen sah der Versailler Vertrag vor, die ehemaligen deutschen Pachtgebiete auf der Shandong-Halbinsel an Japan zu übergeben und die vorher erhaltenen kolonialen Privilegien beizubehalten. Diese diplomatische Niederlage löste in China die 4.-Mai-Bewegung aus. Zuerst protestierten Studenten gegen den Vertrag, dann nahmen streikende Arbeiter und Kaufleute an der Bewegung teil, auch viele Intellektuelle engagierten sich.2 Unter diesem inländischen Druck wurde der Versailler Vertrag nicht von den chinesischen Delegierten unterschrieben. Die Vorgänge in Versailles sowie deren chinesische Folgen lenkten damals die weltpolitische Aufmerksamkeit auf China. Unter denjenigen, die für China eintraten, befand sich auch Hermann Hesse (1877–1962), einer der prominentesten deutschen Schriftsteller und späterer Nobelpreisträger. Am November 1921 fand dann die Washingtoner Flottenkonferenz statt, auf der die Verhandlungen der Pariser Friedenskonferenz fortgeführt wurden. Obwohl es einige Vereinbarungen zwischen den westlichen Mächten und China gab, waren erstere immer noch nicht bereit, auf ihre kolonialen Privilegien zu verzichten. In dieser Situation veröffentlichte Hesse in der „Neuen Zürcher Zeitung“ im Dezember 1921 seinen Beitrag „Chinesische Betrachtung“. Darin kritisiert er, dass China „von den andern, den Mächtigen, beinahe nur noch als ein vorsichtig zu teilendes ‚Interessengebiet‘ angesehen“ (Hesse 2004e: 297) werde. Hesse berichtet von einem „Chinesen“, der schon

1 Zum Geheimabkommen unter den Mächten siehe auch Stahl 2014, 187. 2 Zur 4.-Mai-Bewegung vgl. Stahl 2014, 185–188, sowie Vogelsang 2012, 507–509. Open Access. © 2021 Huang Chaoran, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110682427-010

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„vor Jahren [. . .] sich zu diesen Vorgängen [. . .] geäußert“ (Hesse 2004e, 297) habe, und gibt in seinem Beitrag dessen Worte wieder: [. . .] wenn die andern uns aufgefressen haben, dann erst muß sich zeigen, ob sie uns auch verdauen können. Es wird vielleicht so gehen, daß Regierung und Heer, Verwaltung und Finanzen japanisch, amerikanisch und englisch sein werden, daß aber die Eroberer China nicht ändern können, daß vielmehr sie vom Geiste Chinas erobert und geändert werden, daß sie allmählich Chinesen werden. Denn – China ist schwach in Waffenhandwerk und Politik, es ist aber reich an Leben, reich an Geist, reich an uralter Gesinnung. (Hesse 2004e, 297–298)

Dem von Hesse zitierten „Chinesen“ zufolge können die „Mächtigen“ mit entwickelten Techniken und gesellschaftlichen Formen China allerdings nur anscheinend erobern, während das Land China mit seinem „Geiste“ der wirkliche Eroberer ist, der die Eindringlinge tief beeinflussen und endgültig ändern wird. Dieser Vergleich zwischen den „Mächtigen“ und den Chinesen hebt die Kraft des „Geistes Chinas“ hervor. Es ist bemerkenswert, dass diese Figur des „Chinesen“ viele Ähnlichkeiten mit Hesse selbst hat. Durch Lektüre lernte Hesse schon in seinen frühen Jahren Konfuzius, Lao Tse und Tschung Tse kennen, deren klassische Werke dann häufig von ihm zitiert, rezensiert und empfohlen wurden (vgl. Hesse 2002c, 15–16). Als „Anhänger der alten, ehrwürdigen chinesischen Gedankenwelt“ äußern sich sowohl Hesse als auch seine Figur des „Chinesen“ im Text zu den zeitgenössischen Vorgängen. Zwar haben sie mit Politik nichts im Sinn, aber dafür stehen sie „dem Geiste des ‚Tao Te King‘“ nahe (vgl. Hesse 2004e, 297). Man wird annehmen dürfen, dass sich Hesse mit der Figur identifiziert und dass er durch die IchErzählung eines Chinesen seiner eigenen Meinung Überzeugungskraft verleihen will. Diesem ‚chinesischen‘ Standpunkt stellt Hesse noch einige Gedanken aus der westlichen Perspektive gegenüber: [. . .] ich dachte: Schon jetzt, während China als Weltmacht seinen Niedergang begeht, schon jetzt, noch ehe es erobert ist, hat es ein gutes Stück des Westens erobert! In den letzten zwanzig Jahren hat das alte, geistige China, das vorher kaum einigen Gelehrten bekannt war, uns durch Übersetzungen seiner alten Bücher, durch den Einfluß seines alten Geistes zu erobern begonnen. Erst seit zehn Jahren ist Lao Tse in allen Sprachen Europas durch Übertragungen bekannt geworden und zu gewaltigem Einfluß gelangt. Wenn wir früher, bis vor zwanzig Jahren, vom „Geist des Ostens“ sprachen, so dachten wir ausschließlich an Indien, an die Veden, an Buddha, an die „Bhagavad Gita“. Jetzt denken wir, wenn vom Geiste Ostasiens die Rede ist, ebenso sehr oder mehr an China, an die chinesische Kunst, an Lao Tse, an Dschuang Dsi, auch an Li Tai Pe. Und es zeigt sich, daß das Denken des alten China, zumal das des frühen Taoismus, für uns Europäer keineswegs eine entlegene Kuriosität ist, sondern uns im Wesentlichen bestätigt, in Wesentlichem berät und hilft. (Hesse 2004e, 298)

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Als Textbeispiel nennt Hesse Yang Zhus Spruch „Von den vier Abhängigkeiten“ aus dem von Richard Wilhelm übersetzten Buch Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund (1921). Darin wird betont, dass die Menschen, die nicht vom langen Leben, Ruhm, Rang und Reichtum abhängig sind und „im eigenen Innern [. . .] ihr Schicksal“ tragen, „den Frieden in sich“ haben – „Nichts in der Welt kann sie bedrohen, nichts kann ihnen feind werden“ (vgl. Hesse 2004e, 299). In der nach innen gerichteten Lebensanschauung sieht Hesse eben die Kraft des chinesischen „Geistes“, die sein Leben und Werk stetig beeinflusst. Der vorliegende Aufsatz konzentriert sich auf Hesses Betrachtungen über die sozial-politische Situation in China in verschiedenen Zeitperioden mit dem Fokus auf seinen Überlegungen zum chinesischen „Geiste“.3 Ausgehend von Hesses Hervorhebung der Kraft des chinesischen „Geistes“ zur Zeit der 4.-Mai-Bewegung, werde ich zuerst auf die Ausformulierungen dieses Konzepts eingehen, die während Hesses Asienreise entstanden. Daraufhin sollen sowohl Hesses positive Äußerungen zu den sozial-politischen Ereignissen in China nach der Reise als auch seine spätere Kritik an den neuen Entwicklungen dort während der letzten Jahre seines Lebens erläutert werden. Relevante Passagen aus Hesses sämtlichen Werken und aus seinen gesammelten Briefen werden dabei als Ergänzung herangezogen. Von ausschlaggebender Bedeutung für die Entwicklung von Hesses Verhältnis zu China ist seine Asienreise von September bis Dezember 1911. Im Vergleich zu seinen chinesischen Lektüren wird diese Reise in der Forschung weniger beachtet. Zweifellos hat Hesse viele Themen aus seiner chinesischen Bibliothek in seinen Schriften aufgegriffen und weiterverarbeitet. Was aber die Entstehung seines Konzepts des „Geistes Chinas“ betrifft, spielen seine persönlichen Erlebnisse während der Asienreise eine bedeutendere Rolle. Um seine Reiseerlebnisse näher zu betrachten, sollen Hesses Reisebericht Aus Indien (1913) und seine relevanten Briefe dargestellt und analysiert werden. Hesse war zusammen mit dem Maler Hans Sturzenegger (1875–1943) nach Sri Lanka, Malaysia, Singapur und Indonesien aufgebrochen, um dem alltäglichen Leben in Europa und dem Überdruss, den er darüber empfand, zu entfliehen. Bei dieser Unternehmung wollte Hesse auch nach Bestätigung seiner Kenntnisse über die indische Kultur suchen, die er von Kindheit an in seiner in

3 Zu Hesses sozial-politischen Stellungnahmen zu China siehe auch: Hsia 1981, 77–89; Michels 2013, 24–27.

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der Indienmission4 tätigen Familie erworben hatte. Zugleich sollte jene Wertschätzung der Kultur Chinas befördert werden, die er bei der Lektüre kennengelernt hatte. Obwohl Hesse selbst die Reise als „Indienreise“ bezeichnete, ist er eigentlich nicht in das Land eingereist. Legt man indessen das Wort „Indien“ in einem weiteren Verständnis aus, also als Vorderindien einschließlich Pakistan, Indien, Bangladesch, Sri Lanka, Nepal und Bhutan (vgl. Brockhaus 2006b, 607– 608) sowie Hinterindien einschließlich Birma5, Thailand, Laos, Kambodscha, Vietnam und eines Teils von Malaysia (vgl. Brockhaus 2006a, 488–489), werden Hesses Reiseziele fast komplett eingeschlossen. Darunter ist Sri Lanka, damals Ceylon genannt, ein Repräsentant der indischen buddhistischen Kultur. Demgegenüber erlebt Hesse das Volk und die Kultur Chinas bei den eingewanderten Chinesen in Singapur und Malaysia sowie bei den chinesischen Schiffspassagieren während der Reise. Da Hesse und Sturzenegger beide „erschöpft und krank“ (Hesse 1980e, 185) waren und „das Leben und Reisen [. . .] draußen weit über meine [Hesses] Verhältnisse und Erwartungen teuer“ (Hesse 1973, 201) war, musste Hesse seinen Plan, in den indischen Subkontinent weiterzureisen, aufgeben und früher zurückkehren. In seinem Artikel zu Sturzeneggers Bildern und Zeichnungen der Reise beschreibt Hesse die Unternehmung als „das Erlebnis eines Traumbesuches bei fernen Vorfahren, einer Heimkehr zu märchenhaften Kindheitszuständen der Menschheit“ und bekennt seine „tiefe Ehrfurcht vor dem Geist des Ostens“ (Hesse 2003b, 379). Auch wenn der „Geist des Ostens“ in Hesses späteren Aufsätzen sowohl indische als auch chinesische Kultur impliziert, benutzte er in den frühen Schriften über die Asienreise diese Formulierung mehrmals speziell für „das chinesische Volk, das erste wirkliche Kulturvolk“ (Hesse 1973, 204), das er sah. Die Enttäuschung über die Inder und die Bewunderung für die Chinesen drückt Hesse am Ende der Reise und später mehrfach in Briefen aus: Die Inder haben mir im ganzen wenig imponiert, sie sind wie die Malayen6 schwach und zukunftslos. Den Eindruck unbedingter Stärke und Zukunft machen nur die Chinesen

4 Hermann Hesses Großvater Hermann Gundert und sein Vater Johannes Hesse waren beide als Missionare in Indien. Seine Mutter Marie Gundert wurde auch in Indien geboren (vgl. Zeller 2016, 9). 5 Myanmar, amtlich Republik der Union Myanmar genannt, ist im deutschen Sprachraum unter der früheren Bezeichnung „Birma“ bekannt. Hier wird die Schreibweise in der Brockhaus Enzyklopädie beibehalten. 6 Nach der jetzigen Rechtschreibung wird diese Volksgruppe „Malaien“ genannt. Das entsprechende Adjektiv ist „malaiisch“. In den Zitaten wird die alte Schreibweise Hesses mit „y“ behalten.

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und die Engländer [. . .] An Völkern sah ich Malayen und Javaner, Tamilen, Singhalesen, Japaner und Chinesen. Über letztere ist nur Großes zu sagen: ein imponierendes Volk! (Hesse 1973, 201–202)

Auch an die Redaktion des „Schwabenspiegels“ schrieb Hesse im Dezember 1911: Die indische und malayische Welt war ein bunter und vergnüglicher ethnologischer Maskenball. Die chinesische Welt aber gab mir den herrlichen Eindruck einer Einheit von Rasse und Kultur, die wir nicht kennen und von der nur die Engländer bei uns eine Ahnung haben. (Hesse 1973, 203)

Die Enttäuschung über die indische Kultur wird seinem Bericht zufolge hauptsächlich durch die Kommerzialisierung des buddhistischen Glaubens verursacht. Er schildert dort, dass ihn einmal Priester, Tempeldiener und Handlanger in einem buddhistischen Tempel aggressiv angebettelt haben und ihm sogar bis ins Hotel gefolgt seien. Daraus schlussfolgert Hesse: Der Buddhismus von Ceylon ist hübsch, um ihn zu photographieren und Feuilletons darüber zu schreiben; darüber hinaus ist er nichts als eine von den vielen rührenden, qualvoll grotesken Formen, in denen hilfloses Menschenleid seine Not und seinen Mangel an Geist und Stärke ausdrückt. (Hesse 1980 f, 99)

Wie erwähnt, steht Ceylon bei Hesse für Indien und seine buddhistische Kultur. Hier musste er „die scheußliche Erfahrung“ machen, dass „der seelenvolle, suchende Beterblick der meisten Inder gar nicht ein Ruf nach Göttern und Erlösung [. . .] sondern einfach ein Ruf nach Money“ (Hesse 1980c, 92) sei. Die Heiligkeit des indischen Buddhismus, die eine Hauptrolle in der indischen Kultur spielt, wird bei Hesse in Frage gestellt. Trotz der Enttäuschung beschäftigt sich Hesse nach der Reise weiterhin mit der indischen Welt, aber sie ist nicht mehr das einzige wichtige Motiv aus dem Osten für seine Forschung und seine Werke. Daneben gewinnt China immer mehr an Bedeutung. Schon im ersten Prosatext seiner Berichtsammlung werden wir Zeuge davon, wie Hesse am Anfang der Reise, nämlich auf dem Schiff im Suezkanal, einem chinesischen Gelehrten begegnet, der seine ersten Eindrücke vom Charakter des chinesischen Volkes prägt und ihn tief beeinflusst. Das soll ein „kleine[r], elegante[r]“ Chinese aus Shanghai mit „dunklen, klugen Augen“ sein, der sich sowohl in der chinesischen Kultur als auch in der westlichen Kultur gut auskenne. Das ganze Shi-King könnte er auswendig, und Englisch sei ihm geläufig. Er rede „sachlich, hübsch und höflich“, während er ständig „lieb und wohlgestimmt“ lächle „im fahlen elektrischen Licht, wie ein Buddha“ (Hesse 1980d, 10–12). Mit dem Buddhismus war Hesse aufgrund der Tätigkeit seiner Familie in der Indien-

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mission von Kindesbeinen an vertraut. Seine Charakterisierung des Chinesen als Buddha weist darauf hin, dass ihn seine erste persönliche Begegnung mit einem Chinesen an Charakteristika der indischen Kultur erinnert, die ihm seit langem bedeutsam gewesen ist. Nicht nur der gebildete Chinese, sondern auch chinesische Geschäftsleute und Arbeiter hinterlassen bei Hesse seinen Schriften zufolge schöne Eindrücke. Er beschreibt die Chinesen mehrmals als klug, gescheit, sympathisch und wohlwollend (vgl. Hesse 1980b, 73; Hesse 1980e, 142; Hesse 1980g, 39). Dabei spielt auch die chinesische Kunst, insbesondere das chinesische Theater, eine unentbehrliche Rolle. So schildert Hesse seinen Besuch in einem chinesischen Theater: Da war alles gemessen, studiert, nach alten heiligen Gesetzen geordnet und in rhythmischem Zeremoniell stilisiert [. . .] Es gibt in Europa kein einziges Opernhaus, in dem Musik und Bewegungen des Bühnenbildes so tadellos, so exakt und glänzend harmonisch miteinandergehen wie hier in dieser Bretterbude [. . .] im übrigen ist diese Musik so fein und klingt abends von der Veranda eines festlichen Hauses so lebensfroh und oft so leidenschaftlich, lustbegierig [. . .] Im ganzen Theater war außer der primitiven elektrischen Beleuchtung nichts Europäisches und Fremdes; eine alte, durch und durch stilisierte Kunst schwang ihre alten, heiligen Kreise weiter. (Hesse 1980a, 24–25)

Hesse legt viel Wert auf die Überlieferung der Kultur von Generation zu Generation. Das sieht er im chinesischen Theater. Anders als das malaiische und singalesische Theater, das „rettungslos an die bösesten europäischen Einflüsse verloren“ (Hesse 1980a, 25; siehe auch Hesse 1980e, 178–179) sei, bleibe die traditionelle chinesische Kunst „nach alten heiligen Gesetzen“, die die Kraft des chinesischen „Geistes“ auch andeuten, in der Geschichte des Volkes gut gepflegt. Bisher ist festzustellen, dass Hesse während seiner Asienreise, angeregt von seinen persönlichen Erlebnissen mit dem Volk und der Kultur Chinas, ein Konzept des chinesischen „Geistes“ schafft und in seinen Reiseschriften darstellt. Als Gegenentwurf wird die indische Kultur als degeneriert wahrgenommen. Nach der Reise resümierte er selbst in einem Aufsatz das Konstrukt vom „Geist des Ostens“, „der von Laotse bis zu Jesus führt, der die alte chinesische Kunst hervorgebracht hat und heute noch aus jeder Gebärde des echten Asiaten spricht“ (Hesse 2003b, 379). Inspiriert durch das Interesse an China nach der Asienreise, erwähnt Hesse mehrmals in verschiedenen Artikeln dieses ihn anziehende Volk und vergleicht es mit den Europäern. Die europäischen kolonialen Tätigkeiten kritisiert er in einer Rezension des Werkes von Gu Hongming: „Wir Europäer haben den Chinesen wenig Gutes und viel Schlechtes ins Land gebracht“ (Hesse 2002a, 78).

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Die militärischen Techniken, die dabei eine große Rolle spielen, werden von ihm in Zusammenhang mit den Stichwörtern Kultur und „Geist“ gebracht: Worin die Chinesen, als Volk, hinter uns zurück sind, das sind zumeist äußere Vervollkommnungen der Zivilisation, das sind Maschinen und Kanonen und ähnliche Dinge, an denen man nicht Kulturen abmißt. Auch in diesen Dingen waren sie uns vor Jahrhunderten ziemlich voraus, sie haben auch solche Dinge wie Schießpulver und Papiergeld früher gehabt als wir. Auf diesen Gebieten sind sie von uns überholt worden und von uns abhängig geworden, nicht aber in der Wurzel ihrer Kultur, die zur Zeit zwar gefährdet, aber kaum lebensgefährlich angetastet scheint. Diese Wurzel der chinesischen Kultur ist unseren aktuellen Kulturidealen so entgegengesetzt, daß wir uns freuen sollten, auf der anderen Hälfte der Erdkugel einen so festen und respektablen Gegenpol zu besitzen. Es wäre töricht, zu wünschen, die ganze Welt möchte mit der Zeit europäisch oder chinesisch kultiviert werden; wir sollten aber von diesem fremden Geist lernen und den fernen Osten ebenso zu unseren Lehrern rechnen [. . .]. (Hesse 2003a, 325)

Auch in seinem Kommentar zu der erwähnten Übersetzung Richard Wilhelms von Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund stellt Hesse fest: Sobald wir [. . .] darin lesen, finden wir den alten, feinen chinesischen Geist, der so erstaunlich spekulieren kann, ohne das Gebiet der Anschaulichkeit je zu verlassen, und der auch aus der größten Erdferne jeden Augenblick den Weg zum Heute und zum realen Leben zurück findet. Die Chinesen haben uns nicht nur politisch viel zu sagen, sondern wir können von ihnen etwas lernen, was von allen europäischen Völkern nur die Engländer einigermaßen kennen und besitzen: eine gefestigte, ja geheiligte Kultur des täglichen Lebens und eine stramme Pflege nationalen Wesens und Denkens. (Hesse 2002b, 69)

Wie Hesse während seiner Asienreise schon wahrgenommen hat, werden sowohl die charakteristischen Phänomene des chinesischen Lebens als auch die chinesische Kunst „nach alten heiligen Gesetzen“ (Hesse 1980a, 24–25) im Alltag bewahrt und weiter tradiert, worin Hesse die Merkmale seines Konzepts vom „alten, feinen chinesischen Geist“ sieht. Davon begeistert, schenkt er auch den politischen Ereignissen in China seine Aufmerksamkeit. Wie später nach den Washingtoner Verhandlungen hatte Hesse bereits im Jahr 1915, nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs und nach dem japanischen Angriff auf China, Partei für China ergriffen. Er verglich in einem Brief vom 5. Februar 1915 diese zwei ostasiatischen Völker und konstatierte: Die einzigen in der Welt, denen ihr Ziel klar ist und die es ohne Sentimentalität verfolgen, sind die Japaner. Ich glaube nicht, daß China etwas gegen sie machen kann. Aber ich bin tief überzeugt, daß selbst bei einer Unterwerfung doch mit der Zeit der chinesische Geist

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über den japanischen siegen wird. In allen schönen, stillen, tiefen, passiven Tugenden (die jetzt in Europa wenig geschätzt werden, mit denen China aber 6000 Jahre alt wurde) ist China überlegen [. . .]. (Hesse 1973, 261)

Es ist aufschlussreich, dass sich Hesse auch an China erinnert hat, als er nach dem Ersten Weltkrieg eine Perspektive für Deutschland suchte. Enttäuscht von der „Verlogenheit und Gewissenlosigkeit der deutschen Regierung“ (Hesse 1979, 103), deren Wurzel Hesse in der Kriegszeit vermutete, schrieb er im März 1925 in einem Brief: [. . .] die Chinesen, die ja ein erstaunlich kluges Volk sind, hatten Jahrtausende lang die feierliche Gewohnheit, daß jedes öffentliche Ereignis, z. B. Regierungsänderungen, Revolutionen, Siege, Hungersnöte etc., immer 25 Jahre zurückdatiert wurden. Denn, so sagten sich die Chinesen, die Revolution oder der Bankrott findet zwar in der Tat heute statt, um ihn aber zu verstehen, seine Wurzeln zu erkennen, und möglicherweise künftig klüger zu werden, muß man um 25 Jahre zurückschauen, denn nach jahrtausendalter Erfahrung ist in solchen Angelegenheiten 25 Jahre gerade so etwa die übliche Zeit, die es braucht, bis gute oder böse Ursachen, Sitten etc. äußerlich ihr Resultat zeigen. (Hesse 1979, 104)

Spuren von Hesses Bewunderung für China, insbesondere von seiner Verehrung der chinesischen klassischen Philosophie, die in seinen Augen das Fundament jenes Konzepts des „Geistes Chinas“ bildete, lassen sich noch in anderen Schriften mit sozial-politischen Stellungnahmen finden. So kommentierte Hesse z. B. in einem Brief Ende Februar 1945 die Nachrichten über die Konferenz von Jalta mit einem Gedanken zu Konfuzius. Konfuzius wird hier als derjenige genannt, „der weiß, daß es nicht geht, und es doch tut“, während „der Amerikaner“ Hesse zufolge freilich nicht wüsste, „daß er da etwas zu tun unternimmt, was ‚nicht geht‘“ (Hesse 1982, 264). Im Vergleich zu dem chinesischen Weisen kritisiert Hesse, dass „der Amerikaner“ in Jalta ein Abkommen unterzeichnete, ohne dessen unrealisierbare Bestimmungen zu erkennen. Einerseits beschäftigt sich Hesse lebenslang mit der chinesischen Philosophie, Literatur und Kultur und leitet daraus wichtige Teile seines Konzeptes des chinesischen „Geistes“ ab. Andererseits lenkt er seine Aufmerksamkeit auch auf die sozialpolitischen Vorgänge in China, indem er in manchen Fällen in seinen Schriften Partei für China ergreift und die Kraft des chinesischen „Geistes“ unterstreicht, allerdings nicht in allen Fällen. Nach dem gewaltigen Umbruch in China während der Jahre nach 1945 kritisiert Hesse mehrmals die dortigen „Entwicklungen“. In Reaktion auf die Nachrichten aus China schrieb er im Mai 1947: [. . .] es ist auch in China die ererbte Kultur in voller Auflösung begriffen, und die große Mehrzahl der heutigen Chinesen kennt weder 40 000 noch 10 000 noch 1000 Schriftzeichen, sondern überhaupt keine, oder doch nur das englische Alphabet. Sie werden bald

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alle in der Lage sein, ihre flachgewalzten Regungen und Gedanken in ebenso flachgewalzten internationalen Bezeichnungen auszudrücken. (Hesse 1982, 414)

Hesses Kritik entzündet sich an der Latinisierung der chinesischen Schriftzeichen, die tatsächlich während der Neue-Kultur-Bewegung zur Zeit des 4. Mai von einigen Intellektuellen gefördert wurde. Das Ziel dieser Sprachreform war es freilich, Analphabeten dabei zu helfen, lesen und schreiben zu lernen. Das Resultat dieser Entwicklung war im Jahre 1958 die offizielle Einführung von Pinyin, der phonetischen Umschrift der chinesischen Schriftzeichen auf der Basis des lateinischen Alphabets, die es überhaupt erst ermöglichte, Putonghua, also Standardchinesisch, allmählich landesweit zu verbreiten und – seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts – chinesische Schriftzeichen per Tastatur an Laptop, Handy usw. einzutippen. Auf der anderen Seite ist Hesses Kritik allerdings auch verständlich, da er selbst von klassischen chinesischen Texten, die aus den Schriftzeichen bestehen, fasziniert war. Hesses Kritik an China und an den Neuerungen im Bildungs- und Kulturbereich setzte sich noch fort, als er in den Nachrichten las, dass die vom ihm „über alles“ verehrten „großen chinesischen Klassiker“ – „Kung Fu Tse, Lao Tse, Dschuang Tse etc.“ – in China verboten worden seien (vgl. Hesse 2004a, 774). Er schrieb in einem Brief an einen chinesischen Adressaten im August 1954: Ich kann diese Nachricht nicht nachprüfen. Aber ich möchte in einem Lande, das seine edelsten Geister nicht mehr erträgt und nicht mehr dulden will, lieber zu den Verbotenen als zu den Geduldeten gehören. (Hesse 2004a, 774)

In einem anderen Brief an die Witwe Richard Wilhelms nannte Hesse China wegen des berichteten Verbotes der Klassiker ein „versunkene[s] Paradies“ (zitiert nach Hsia 1981, 87). Es ist schwierig, zu überprüfen, welche Nachrichten Hesse damals gelesen hatte. Einleuchtend ist aber Adrian Hsias Analyse des von Hesse angestrichenen Passus in der Zeitschrift „Das Antiquariat“ (Nr. 13–16, Juli/August 1954) in seinem Werk Hermann Hesse und China. In dem von Hsia zitierten Ausschnitt heißt es: Die Lehre des Konfuzius mußte den neuen Herren im Laufe der Zeit unbequem werden. [. . .] Auf der Liste der „verbotenen“ Literatur befinden sich auch zahlreiche andere chinesische Klassiker wie Mencius, Lao Tse, Dschuang Tse, Liä Tse. In der chinesischen Geschichte fand gleichfalls eine gründliche Säuberung statt. Einstmalige Nationalhelden wie Yuen Fei [. . .] und Kuan Yu [. . .] verschwanden aus den Annalen der Geschichte. Viele Werke, die einmal in China als die Basis aller literarischen Bildung galten, sind auf den Scheiterhaufen oder in die Papiermühle gewandert. (Zitiert nach Hsia 1981, 85–86)

Dazu kommentiert Hsia, dass es solche Pressenotizen in der Zeit unmittelbar nach dem Korea-Krieg, an dem China teilgenommen hatte, gegeben habe und

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dass die westlichen Zeitungen voll von „Greuelnachrichten darüber“ gewesen seien. Hsia zufolge seien damals die chinesischen Klassiker in China nicht verboten worden. Vielmehr seien sie neu interpretiert, vom klassischen ins moderne Chinesisch übersetzt und durch Anthologien sowie Monographien der Bevölkerung zugänglicher gemacht worden (vgl. Hsia 1981, 86–87). Hesse konnte das aber nicht wissen, da ihm die chinesischen Quellen aus sprachlichen Gründen nicht zugänglich waren. Im Blick auf Hesses enttäuschte Reaktion muss freilich erwähnt werden, dass der Konfuzianismus zur Zeit der 4.-Mai-Bewegung tatsächlich abgelehnt wurde7 und dass Mao Zedong 1940 in seinem Aufsatz „Über die Neue Demokratie“ die halbfeudale Kultur, die den Kult um Konfuzius und das Studium des konfuzianischen Kanons förderte, heftig kritisierte (vgl. Mao 1968, 431–432). In der historischen Perspektive zeigt sich jedoch auch, dass es der 4.-Mai-Bewegung um die Erschütterung des Konfuzianismus als alleiniger und allgewaltiger Macht im chinesischen Geistesleben ging, um auf diese Weise den intellektuellen Horizont für die moderne Kultur zu öffnen. Und hinsichtlich der Konfuzius-Kritik Maos ist der zeitgenössische Konflikt mit Yuan Shikai zu berücksichtigen, der sich in seiner Restaurationspolitik ausdrücklich auf den Konfuzianismus berief. Sicherlich steht auch Hesses kritisches Verhältnis zum Kommunismus im Hintergrund seiner desillusionierten Äußerungen über die Situation in China. So heißt es in seinem Brief vom August 1947 an die Witwe Richard Wilhelms, Salome Wilhelm: „Daß Ihnen China Sorgen macht, verstehe ich wohl. Seit Kommunismus, Nationalismus und Militarismus Brüder geworden sind, hat der Osten seine Zauber vorläufig verloren“ (Hesse 1982, 432). Zu beziehen ist diese Briefstelle auf den Krieg zwischen der Kommunistischen Partei Chinas und der Kuomintang, der nach 1945 noch nicht beendet war. Die andauernden innerchinesischen Konflikte provozierten nicht zuletzt den Widerspruch des Pazifisten Hesse. Ein bemerkenswertes Schlüsselwort in seinem Brief ist „Kommunismus“. Allein schon die Kombination aus Kommunismus, Nationalismus und Militarismus musste Hesses Widerspruch erregen. Ob Hesse über einen Kommunismus ohne jene martialischen Begleiter positiv geurteilt hätte, bleibt ein Thema, das weiter zu diskutieren wäre. Als wichtigste Bezugspunkte für eine solche Diskussion wird man Hesses „Brief an einen Kommunisten“ und den Entwurf dazu ansehen. Beide Texte hat Hesse bereits im Jahr 1931 geschrieben. Darin fasst er seine Meinung in die Worte: „Ich halte den Kommunismus nicht nur für berechtigt, sondern ich halte ihn für selbstverständlich – er würde kommen und siegen, auch wenn wir alle dagegen wären.

7 Zum antitraditionalistischen Kampf der 4.-Mai-Bewegung vgl. Stahl 2014, 186.

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Wer heute auf seiten des Kommunismus steht, der bejaht die Zukunft“ (Hesse 2004c, 353). Hesse entwirft mögliche Zukunftsperspektiven des Kommunismus, und zwar „mit dem Herzen, denn immer hat der Unterdrückte, nie der Unterdrücker [s]eine Liebe gehabt“ (Hesse 2004 f, 350). An gleicher Stelle jedoch nennt Hesse auch die Gründe dafür, warum er selbst kein Kommunist sei: „Der erste und für mich entscheidende ist: ich bin persönlich unfähig mich einer Partei einzureihen, Programme in Bausch und Bogen zu bejahen“ (Hesse 2004 f, 350). Wenn Hesse ehemals ein engagierter Mitherausgeber bei der linksliberalen Zeitschrift „März“ war, so lag das eher an der guten Entlohnung als an seiner politischen Einstellung (vgl. Heß 2000, 47). Über seinen möglichen Verzicht auf die Herausgeberschaft in der Notlage der Zeitschrift schreibt Hesse Ende November 1911 während der Rückfahrt aus Asien an seinen Freund Conrad Haußmann: „Für Dich und [Ludwig] Thoma liegt die Sache anders, außerdem ist für Euch der ‚März‘ das Organ und der Ausdruck Eurer starken politischen Temperamente und Hoffnungen, während mir die Politik immer ein fremder Boden blieb“ (Hesse 1973, 201). Als kritischer Zeitgenosse schenkt Hesse den politischen Ereignissen zwar bei der Lektüre und in seinen Kommentaren Aufmerksamkeit, aber er selbst ist nicht in der politischen Praxis engagiert und er spricht auch nicht für eine bestimmte Partei oder Strömung, vor allem dann nicht, wenn ein politisches Ideal mit gewaltsamen Methoden realisiert werden soll. So liegt der zweite Grund für seine Distanz zum Kommunismus in seinem „tiefe[n] Haß gegen die Gewalt“ (Hesse 2004 f, 350). Schon 1919 betonte Hesse in einem Brief: „Ich bin nicht Militarist und halte Schießen und Anwenden von Gewalt unter allen Umständen für verboten, auch wenn es im Interesse des ‚Guten‘ geschieht.“ (Hesse 1973, 411) Es verwundert nicht, dass Hesse sich gegen den Krieg zwischen der Kommunistischen Partei Chinas und der Kuomintang aussprach, da er ganz gegen das „Anwenden von Gewalt“ ist, ohne Rücksicht auf den Wert des Ziels, das mit der Gewalt erreicht werden soll. Nach der Erfahrung der damaligen kommunistischen Praxis stellt Hesse fest, dass die geistigen Methoden des Kommunismus das Denken und den „Geist“ vergewaltigen und die Poesie in Gefahr bringen würden (vgl. Hesse 2004 f, 350–351; Hesse 2004c, 356). Mithin besteht der dritte Grund für seine Ablehnung des Kommunismus in seinem Selbstverständnis als Künstler: „Wir lieben und suchen nicht die Macht und nicht das Geld und nicht die Tugend und nicht die Freiheit, sondern wir suchen und lieben einzig das Schöne“ (Hesse 2004d, 362).

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Kurzum, der Wert des Kommunismus für die Zukunft wird von Hesse bejaht, auch wenn er selbst sich nicht zu dessen Ideologie bekennen kann. Das spätere Werben Ostdeutschlands um ihn und der Missbrauch seines Namens und Werks dort in den 1950er Jahren konnten Hesse erst recht nicht für den Kommunismus gewinnen, sondern bestärkten ihn eher in seiner Distanzierung.8 Auch in Hesses letzter Stellungnahme zu China klingt seine Enttäuschung über die neueren Entwicklungen an. In seiner Antwort unter dem Titel „Blick nach dem Fernen Osten“ auf eine Umfrage in der Zeitung „Die Weltwoche“ am 30. August 1959 konstatiert er: Die Chinesen, einst das friedlichste und an kriegs- und militärfeindlichen Bekundungen reichste Volk der Erde, sind heute die gefürchtetste und rücksichtsloseste Nation geworden. Sie haben das heilige Tibet, neben Indien das frömmste aller Völker, barbarisch überfallen und erobert, und sie bedrohen dauernd Indien und andere Nachbarländer. (Hesse 2004b, 807–808)

In der politischen Perspektive Chinas jedoch steht Tibet seit der Yüan-Dynastie unter der zentralen chinesischen Regierung. Im Jahr 1264 wurde die „Supreme Control Commission“ (总制院) gegründet, um Tibet zu verwalten (vgl. Rossabi 1994, 461). Der Einfluss der chinesischen Zentralregierung in Tibet wurde dann von Zeit zu Zeit gesteigert oder verringert. So wurde er z. B. in der späteren Ch´ing-Dynastie im 18. und 19. Jahrhundert durch die Repräsentanz von „an amban, an assistant amban and a small Ch´ing garrison in Lhasa“ (Fletcher 1978, 100) realisiert. Historisch gesehen gibt es neben dem politischen Einfluss auch kulturelle Verbindungen zwischen den tibetanischen und zentralchinesischen Völkern,9 die eine wichtige Rolle im gesamten chinesischen Vielvölkerstaat spielen. Ist es aus diesen Gründen in China politischer Konsens, dass Tibet zu China gehört, so bleibt das Thema im westlichen Diskurs weiterhin problematisch.10 Hesses kritische und letzte bekanntgewordene Stellungnahme zu China im Zusammenhang mit Tibet wird in der Forschung unterschiedlich diskutiert. Während Hsia in seinem Buch Hermann Hesse und China postuliert, dass Hesse

8 Zu Hesses Einstellung zum Kommunismus und das Werben Ostdeutschlands vgl. Mileck 1992. Die englische Originalversion siehe Mileck 1986, 35–54. 9 Zum kulturellen Austausch zwischen tibetanischen und zentralchinesischen Völkern siehe auch Twitchett 1979, 36. Obwohl Twitchett behauptet, dass die Hoffnung auf der chinesischen Seite „shortlived“ sei, ist es nicht zu leugnen, dass es tatsächlich diesen Austausch in der Geschichte gibt. 10 Zur wissenschaftlichen Debatte über das Tibet-Thema im westlichen Diskurs, die versucht, sachlich zu sein, vgl. Sautman und Dreyer 2006.

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nicht gewusst hätte, dass Chinas „Überfall“ auf Tibet „ein Resultat der Kolonialpolitik des ‚British Empire‘“ sei, „die Hesse während seiner Indienreise selbst erlebt und in seinem Buch Aus Indien kritisiert hatte“ (Hsia 1981, 88), führt Volker Michels im Vorwort seines Sammelbandes China: Weisheit des Ostens die geschichtlichen Vorgänge in Tibet in den 1950er Jahren mit den Wörtern „erobert“, „Unmut der Bevölkerung“, „Unterwerfung“ usw. vor, um Hesses Kritik zu erklären (vgl. Michels 2013, 26), was eher dem westlichen Diskurs entsprechen dürfte. Was Hesse hier über diese historischen Ereignisse lesen konnte, änderte aber im Grunde nichts an seinem bewunderungsvollen Vertrauen in die Kraft des „Geistes Chinas“. So schreibt er im vergleichenden Blick auf Frankreich und England über den Fernen Osten: Vergleicht man etwa das politische Frankreich oder England des 17. Jahrhunderts mit dem heutigen, so zeigt sich, daß der politische Aspekt einer Nation sich im Lauf weniger Jahrhunderte gewaltig verändern kann, ohne daß dies auch eine entsprechende Veränderung im Kern des Volkscharakters bedeuten müßte. Wir müssen wünschen, daß auch im chinesischen Volk über die Zeiten dieser Verstörung hinweg sich viele seiner wunderbaren Charakterzüge und Begabungen erhalten. (Hesse 2004b, 808)

Es sind die gleichen „wunderbaren Charakterzüge und Begabungen“, von denen die Rede ist in Hesses Konzept des chinesischen „Geistes“. Daran hat er, trotz seiner Enttäuschung über die politische Entwicklung, in Aufsätzen, Rezensionen und literarischen Werken stets festgehalten. In diesem Sinn heißt es in Hesses Brief vom 23. 10. 1946 an Thomas Mann: Das Europa, das ich meine, wird nicht ein „Erinnerungsschrein“ sein, sondern eine Idee, ein Symbol, ein geistiges Kraftzentrum, so wie für mich die Ideen China, Indien, Buddha, Kung Fu nicht hübsche Erinnerungen, sondern das denkbar Realste, Konzentrierteste, Substanziellste sind, was es gibt. (Hesse 1982, 378)

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Hermann Hesses Asienreise und seine Betrachtungen zum „Geiste Chinas“

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Almut Hille

„ . . . den Pfad der Zukunft hinan.“ Die 4.Mai-Bewegung in deutschsprachigen Reiseberichten der 1920er und 1930er Jahre 1 Einleitung Die Wahrnehmung Chinas in der deutschsprachigen Öffentlichkeit ist in den 1920er und 1930er Jahren von einer starken Ambivalenz zwischen Tradition und Moderne geprägt. Auf der einen Seite fasziniert das ‚alte‘ China, das auch in der Populärkultur inszeniert wird, auf der anderen Seite begeistern sich gerade linke und linksbürgerliche Kreise immer mehr für die revolutionären Bewegungen in dem fernöstlichen Land. Vorstellungen von einem traditionellen China waren durch Hermann Graf Keyserlings Reisetagebuch eines Philosophen (1919) und Richard Wilhelms Die Seele Chinas (1926), aber auch dessen Übersetzung des taoistischen I Ging im Jahr 1924 besonders populär geworden. In den Schriften wird ein idealisiertes Bild der alten chinesischen Kultur entworfen und der Konfuzianismus als gesellschaftliches Ordnungsmodell präsentiert. In einer begeisterten Rezension von Keyserlings Reisetagebuch rühmt beispielsweise Hermann Hesse 1920 dessen wissenschaftlich geprägtes tiefes Verständnis für Frömmigkeit, Okkultismus, Magie und Mystik und prophezeit dem Buch eine enorme ethische und erzieherische Wirkung (vgl. Hesse 1980, 223). In einem Beitrag für die Neue Zürcher Zeitung von 1922 betont Hesse, die indischen und chinesischen Studien, die ihn ein halbes Leben lang beschäftigten, resümierend: Es gibt „in Europa und in Asien, eine unterirdische, zeitlose Welt der Werte und des Geistes [. . .], die nicht durch die Erfindung der Lokomotive und nicht durch Bismarck umgebracht worden war“ (Hesse 1980, 242). Einer Kritik an den ökonomischen und politischen Entwicklungen der ‚westlichen‘ Moderne werden hier die ‚ewigen‘ Werte des ‚östlichen‘ Geistes gegenübergestellt, die auch für Europa von Bedeutung bleiben sollten. Entsprechende Auffassungen teilt im Rahmen eines konservativ-nationalistischen Diskurses auch Gerhart Hauptmann. Er setzt sich intensiv mit China auseinander; Peter Sprengel konnte in seinem Nachlass 40 Buch- und Zeitschriftentitel chinesischer Provenienz oder Thematik nachweisen, mit Eintragungen in den gelesenen Titeln. Intensiv kommentierte Hauptmann beispielsweise die Aufsätze Chinas Open Access. © 2021 Almut Hille, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110682427-011

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Verteidigung gegen europäische Ideen (1911) – übersetzt von Richard Wilhelm, herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Alfons Paquet – und Der Geist des chinesischen Volkes und der Ausweg aus dem Krieg (1916) des Gelehrten und Beamten Ku Hung-Ming, dessen Kritik an der westlichen Demokratie und Massengesellschaft, aber auch dessen antibritische Ressentiments in Deutschland offenbar ein Publikum fanden (vgl. Sprengel 2011, 109–110). Ein idealisiertes Bild der ‚alten‘, aber schon im Umbruch begriffenen chinesischen Kultur wird in der Populärkultur der Weimarer Republik inszeniert, beispielsweise in erfolgreichen Operetten. In der von Franz Lehár komponierten Salonoperette Die gelbe Jacke (1923) und ihrer Neufassung als lyrische Operette unter dem Titel Das Land des Lächelns (1929) etwa ist China die exotische Kulisse eines Momentes des Aufbruchs in die Moderne in den Jahren 1910 bis 1912. Sympathieträger der Operette ist der – in der Berliner Inszenierung von dem berühmten Tenor Richard Tauber gesungene – gebildete, vorzüglich Deutsch sprechende Prinz Sou Chong, der für sein privates Glück zwischen chinesischen und europäischen Werten zu vermitteln sucht. Das Land des Lächelns erscheint als „ein zwischen Modernität und Tradition zerrissenes Land“ (Mertens 2011, 152), auf der Bühne opulent in Szene gesetzt mit ‚exotischen‘ optischen und akustischen Reizen. Die Wahrnehmung der beginnenden Modernisierung Chinas und der chinesischen Migranten in Europa steht in engem Zusammenhang mit dem enormen Anstieg der täglich gedruckten Zeitungen und Zeitschriften in der Weimarer Republik und entsprechenden Entwicklungen des Journalismus (vgl. dazu auch Streim 2011). In Korrespondentenberichten und Reisereportagen – unter anderem von Joseph Roth und Agnes Smedley in der Frankfurter Zeitung, von Richard Huelsenbeck im Berliner Börsen-Courier und im Vorwärts, von F. C. Weiskopf in der Zeitung Berlin am Morgen sowie von Egon Erwin Kisch in der ArbeiterIllustrierten-Zeitung und der Roten Fahne – gelangt mehr und mehr das moderne China in das Blickfeld der deutschen Öffentlichkeit. Es wird von denen, die es bereisen, mit starker Faszination beschrieben, auch in längeren, in Buchform publizierten Reiseberichten wie etwa Das unruhige Asien. Reise durch Indien – China – Japan (1926) von Arthur Holitscher oder Begegnungen im Fernen Osten (1936) von Lili Körber. Dabei berichtet – wie im Folgenden gezeigt wird – gerade Lili Körber mit Konsequenz und Begeisterung ausschließlich über das Neue, während ein Autor wie Arthur Holitscher auch in seiner Befürwortung der revolutionären Bewegungen seine Faszination für das ‚alte‘ China kaum verbergen mag.

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2 Lili Körber: Begegnungen im Fernen Osten Lili Körber ist seit den 1920er Jahren journalistisch und schriftstellerisch aktiv; sie schreibt unter anderem für die Arbeiter-Zeitung in Wien. 1932 erscheint – nach einem Aufenthalt als ‚ausländische Genossin‘ in den Putilow-Traktorenwerken in Leningrad – ihr erster Roman, der sogleich ein Erfolg wird: Eine Frau erlebt den roten Alltag. Ein Tagebuch-Roman aus den Putilow-Werken. 1935 reist sie nach China und Japan. Ihr Reisebericht Begegnungen im Fernen Osten wird 1936 im Biblos-Verlag in Budapest veröffentlicht. In diesen beiden einem dokumentarischen Impetus verpflichteten Texten berichtet sie einer implizierten überwiegend weiblichen Leserschaft über den (schweren) Alltag besonders der Frauen in den von ihr nicht nur ‚bereisten‘, sondern tatsächlich im Alltag ‚erlebten‘ Ländern, über die Erziehung und Bildung der Kinder, über Kinderarbeit und das Leben in den größer werdenden Städten. In ihrem Bericht aus China, dem in der Forschung bislang wenig beachteten zweiten Teil ihrer Begegnungen im Fernen Osten, listet sie in neusachlicher Manier Arbeitszeiten, Gewerkschaftsinitiativen, Kalorienwerte von Nahrungsmitteln, Arbeitslöhne und kleine Freizeitvergnügen, die nach und nach finanzierbar werden, auf.1 Sie besucht Seidenspinnereien und Arbeitersiedlungen, berichtet über die Bemühungen, Ausbildungsstätten vorrangig in der Landwirtschaft einzurichten. Eigene Beobachtungen der politischen Lage ergänzt sie durch Zitate aus chinesischen Zeitungen, die sie sich – wie sie berichtet – übersetzen ließ. In der „Hölle Shanghai“, geprägt von Lärm, Armut und Schmutz (vgl. Körber 1936, 175), lebt sie in einem bevorzugt von armen russischen Emigranten bewohnten Viertel. Sie durchmisst die engen Gassen voller Rikschas und nahezu ohne Straßenbahnverkehr (vgl. Körber 1936, 176), beobachtet die kleinen Hausboote, die vielen Familien als enge feuchte Unterkünfte dienen, und die harte Arbeit der Kulis (vgl. Körber 1936, 179–180). Gleichzeitig nimmt sie Shanghai aber auch als Ort einer sich entwickelnden künstlerischen Moderne und weiblichen Emanzipation wahr. Sie analysiert chinesische Kinofilme, deren Ästhetik sie an russischen Filmen geschult sieht (vgl. Körber 1936, 195). Sie besucht volle Schwimmbäder – das erste des Landes war 1934 im Shanghaier Stadtteil Pudong errichtet worden –, in denen auch „junge Mädchen das hochgeschlossene Kleid mit dem Schwimmtrikot“ (Körber 1936, 272) vertauschen; das ‚Sportsgirl‘ der Weimarer Republik klingt hier an. Körber vergleicht das traditionelle und das moderne chinesische Theater miteinander (vgl. Körber 1936, 288–289) und begrüßt die Bemühungen um die Aufnahme der Umgangssprache in die chinesische Literatur (vgl. Körber 1936,

1 Vergleichbares ist auch in Egon Erwin Kischs Reportage China geheim (1933) zu finden.

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242). Die 4.-Mai-Bewegung bezeichnet sie als Beginn einer neuen Zeit und führt aus: 1919 hatte sich unter der Führung von Professor Hu-Shi und seinen Schülern eine unerhörte Umwälzung im Kulturleben Chinas vollzogen: die Pei-Hua, die Umgangssprache, bekam Bürgerrechte in der Literatur. Bis jetzt galt nur die alte klassische Sprache als literarisch und wer Beamter werden wollte, musste eine Prüfung im klassischen Chinesisch ablegen. Gewiss, es existierten sogar grosse Romane auf Pei-Ua [sic!], sie wurden viel gelesen aber nicht für voll genommen. 1817 [1917] veröffentlichte Professor Hu-Shi eine Erklärung: „Einige Anregungen über die Reform der chinesischen Literatur“, es folgte ein Aufsatz von Chen-Tu-Shiu, Dekan der Philosophischen Fakultät in Peking: „Literarische Revolution“. Eine Monatsrevue „Die Jugend“ brachte beide Aufsätze, erklärte die Umgangssprache als legitime Erbin der klassischen Sprache und reihte die Verfasser der in Pei-Hua geschriebenen Dramen und Romane unter die offiziellen Dichter ein. Professoren und Studenten unterstützten die Bewegung, die immer grössere Kreise für sich gewann. 1920 gab der Unterrichtsminister ein Dekret heraus, dass in den zwei ersten Schuljahren nur Pei-Hua statt Wen-Hua zu unterrichten sei. 1928 befahl er, alle Schulbücher in PeiHua zu drucken. Die Bibelübersetzung der Missionen in die Umgangssprache trug ihrerseits dazu bei, die Bewegung Hu-Shis zu unterstützen. Nun begannen auch junge Schriftsteller und Dramatiker, die moderne Themen behandelten und bislang als „unliterarisch“ abgetan worden waren, sich durchzusetzen. Zunächst übersetzte man Wilde, Ibsen, Shaw, Tschechow, dann versuchte man selbst chinesische Stücke mit westlicher Technik zu schreiben. 1924 wurde die „Theatergesellschaft in Shanghai“ von jungen Amateuren gebildet, einige Jahre später folgte die „Gesellschaft des Südens“ (von Studenten gegründet, die aus Japan und Frankreich heimkamen). Endlich 1930 die „Assosiation [sic!] der linken dramatischen Schriftsteller“. (Körber 1936, 291–292)

Neben dem Philosophen Hu Shi, der in den USA unter anderen bei John Dewey studiert hatte, und dem Schriftsteller Lu Xun war der Philosoph Chen Duxiu einer der wichtigen Intellektuellen, die die Bewegung für eine Neue Kultur trugen. Bereits im September 1915 hatte er in einem Aufsatz in der Zeitschrift Die Jugend (Shanghai) die unbedingte Notwendigkeit zur Modernisierung Chinas unterstrichen: Unsere traditionellen Moralvorstellungen, Gesetze, Bildungsideale, Riten und Bräuche sind Relikte des Feudalismus. Verglichen mit den Errungenschaften der weißen Rasse trennen uns tausend Jahre des Denkens, obwohl wir in der gleichen Zeit leben . . . Ich würde lieber zusehen, wie die vergangene Kultur unserer Nation untergeht, als zusehen zu müssen, wie unsere Rasse heute stirbt, weil sie für das Leben in der modernen Zeit nicht gerüstet ist. (Zitiert nach Lum 2004, 218)

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Die Denkfigur einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen wird im frühen 20. Jahrhundert in zahlreichen Texten genutzt, um das Verhältnis zwischen ‚dem Westen‘ und China zu charakterisieren. Lili Körber zitiert zur Erläuterung den französischen Journalisten Louis Roubaud, einen der wenigen Europäer, der nach mehrwöchentlichem Aufenthalte in China verstanden hat, dass er von China nichts versteht: „[. . .] Nicht 10 Meter neutraler Zone gibt es zwischen dem China der Buildings und dem China der Pagoden. Manchesmal berühren sie einander, ein und dasselbe Zement vereinigt sie in einem gemeinsamen Hause. [. . .] Sie kennen sich nicht einmal. Ein Ozean trennt sie, grösser als der Pacific: ein Ozean von Jahrhunderten, von Geschichte und von Hochmut.“ (Körber 1936, 179)

Ein ‚Ozean‘ an Zeit liegt hier zwischen dem ‚alten‘ und dem neuen, in dieser Wahrnehmung vom Kolonialismus geprägten China. Ein Modernisierungsprozess unter der Ägide der Kolonialmächte kommt für das Land – so wird auch Körber überzeugt – jedoch nicht in Frage. Er würde nur weite Teile der Bevölkerung in Armut und Unterdrückung halten. Um wirklich frei zu sein, muss es China gelingen, seinen Status als „Halbkolonie“ abzuschütteln (vgl. Körber 1936, 241).2

3 Arthur Holitscher: Das unruhige Asien. Reise durch Indien – China – Japan Arthur Holitscher versucht in seinem Reisebericht das Nebeneinander von Alt und Neu, von Tradition und Moderne, aber auch von kolonialen Machthabern und unterdrücktem Volk zunehmend zu differenzieren. Den Kolonialismus hält er für ein überkommenes Relikt, verleiht seinen antikolonialistischen Positionen mehrfach im Text Ausdruck (vgl. etwa Holitscher 1926, 200–201 und 250–252). Als neue internationale Macht, die den Modernisierungsprozess in China unterstützen und vorantreiben könnte – allerdings nicht unter kolonialer, sondern solidarischer Prämisse –, kommt bei ihm das revolutionäre Russland ins Spiel. In seinem romantisch-sozialistisch gefärbten Reisebericht (vgl. Streim 2011, 158) geht er zunächst von einer Unversöhnlichkeit zwischen Alt und Neu, Religion und Zivilisation, Ost und West aus (vgl. Holitscher 1926, 36). Noch von Berlin aus erscheint ihm das „ferne China“ als „heilige Geburtsstätte immer neuer Legenden der Weisheit, der Befreiung, aufwachender, neu entstehender Götterorient“ (Holitscher 1926, 77). Die Schrift bezeichnet er als Schlüssel zur ‚alten‘ 2 Diese Bewertung des internationalen Status Chinas ist auch in aktuellen Forschungspositionen zu finden, vgl. etwa Shih 2001.

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Kultur Chinas; ihre Erneuerung, der Lili Körber so viel Aufmerksamkeit schenkt, wird von ihm nicht erwähnt: Untereinander sprechen sie eine Sprache von höchster geistiger Modulationskraft, gegen die keine europäische aufkommt, eine Sprache der unerhörtesten Synonyme und Ideenassoziationen, die einen Wortschatz und Schriftzeichenreichtum von etwa 40000 Einheiten und kein Alphabet besitzt. Diese Schriftzeichen (eine Zeitung kommt schon mit 4000 Ideogrammen aus) ist Rückgrat, Schicksal und Schlüssel zum Verständnis dieses uralten Kulturvolkes. (Holitscher 1926, 198)

Während seiner Reise, die er in den Jahren 1925/1926 unternimmt, beobachtet Holitscher das Land als das „große [. . .] Reich [. . .] der Mitte, das, von Geburtswehen gepeitscht, sich ächzend schüttelt und um sich schlägt“, nachdem die „irdische Vernunft“ anstelle des „Himmelssohnes“ auf den Thron gesetzt wurde (Holitscher 1926, 168 und 196). Er nimmt das Alte und das Neue als stark ineinander verwoben wahr: So zeugen die revolutionären Banner in Kanton für ihn zum Beispiel auch „von der altberühmten Kunstfertigkeit der Cantoner Seidensticker“ (Holitscher 1926, 211). Das Gebiet um den alten Himmelstempel in Peking sieht er durch das Neue entheiligt, gleichzeitig aber auch neu geweiht: Heute ist das [sic!] Bereich des Himmelsaltars dem Verfall geweiht, entheiligt das ungeheure Gebiet um den Altar und den hochgebauten Tempel, zu profanen Zwecken geschändet. Antennen der chinesischen staatlichen Radiostation ragen hier zum Himmel empor. Man kann sie von dem Himmelsaltar aus spitz in die Lüfte stechen sehen. Das ist die neue Zeit, die das Geheimnis des Himmels ihm entrissen hat, nicht durch Gebet, nicht durch Metaphysik, sondern durch die Maschine, den rechnenden Verstand, nüchterne Erfahrung. Nüchtern? Himmelgeboren, metaphysisch, unergründbar auch sie! (Holitscher 1926, 268)

Mit der Verwendung des Verbs schänden drückt er zunächst sein Erschrecken über das Neue, das das Alte besiegt, aus – um es anschließend metaphysisch zu überhöhen. Sein nicht zu unterdrückendes Erschrecken steckt jedoch auch in der Beschreibung der beobachteten Schändung alter Kulturstätten durch junge ‚Garden‘, die fast Ereignisse der späteren Kulturrevolution vorauszunehmen scheint (vgl. Holitscher 1926, 263–264). Peking ist der Ort, an dem Holitscher Alt und Neu in stetem Zusammenfließen sieht. Er beobachtet die Straßen voller Rikschas, Automobile und Karren der Wasserträger; die 64 Träger eines prächtig geschmückten Sarges – „vierundsechzig nach den heiligen Formeln des Zauberbuches Itsching“ (Holitscher

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1926, 273); er betrachtet die Geistertreppe am Eingang zur Verbotenen Stadt als Signum für ein „[w]underbares, altes, auf ewig versunkenes China“, während heute „[u]m den Bezirk der Verbotenen Stadt [. . .] der Verkehr des Millionen beherbergenden Peking [zischt und schäumt]“ (Holitscher 1926, 270). Als charakteristisch für Peking bezeichnet er „die Atmosphäre des Geheimnisvollen, die um diese äußerst heutige und von heutigstem Leben erfüllte Stadt webt. Ja – wie das heutige Jerusalem, in dem sich ja auch ein Gegenwartsschicksal uralten Volkes erfüllt, birgt Peking die Schwere bis in nebelhafte Vorzeit zurückreichender Glaubenskräfte“ (Holitscher 1926, 272). Dass nicht nur Peking, sondern ganz China diese ‚Schwere‘ genauso wie den Kolonialismus abstreifen wird – mit weitreichenden Konsequenzen für die östliche und die westliche Welt –, wird für Holitscher im Laufe seiner Reise immer deutlicher. Den Shanghaier Generalstreik von 1925 wertet er als „Wendepunkt in der Geschichte Chinas, [. . .] in der Geschichte der menschlichen Zivilisation überhaupt“ (Holitscher 1926, 239). In seiner Periodisierung der revolutionären Bewegungen Chinas – die er nach eigener Aussage den Gesprächen mit Herrn Professor Liang Kwang En von der Canton Universität verdankt – räumt er dem Shanghaier Generalstreik einen herausragenden Platz ein (vgl. Holitscher 1926, 223–224). Die Bewegung des Jahres 1919 bezeichnet er in dieser Periodisierung als „allgemein zivilisatorische“, dem Sozialismus verpflichtete Bewegung (vgl. Holitscher 1926, 224). Die Anfangsmomente des Aufstandes der Studenten, die sich der nationalen und revolutionären Bewegung Chinas zugehörig fühlen, datiert er an späterer Stelle seines Berichts in das Jahr 1924 und charakterisiert sie als „bezeichnenderweise [. . .] ganz unpolitische [. . .] Demonstration“ der Pekinger Studenten gegen den Versuch des Unterrichtsministers, im Winter 1924 strengere Prüfungsmethoden einzuführen (vgl. Holitscher 1926, 239–240). Es scheint fast, als seien Holitscher Beginn und Charakter der 4.-Mai-Bewegung und ihr Ausgangspunkt an der Peking Universität entgangen. Die rasche Politisierung der Studenten beschreibt er hingegen ausführlich und vermerkt, dass schon während des Shanghaier Generalstreiks unter den Protestierenden und auch unter den Toten zahlreiche Studenten gewesen seien (vgl. Holitscher 1926, 240). Ihre Entschlossenheit und ihren Mut kontrastiert er „der kläglichen Haltung der deutschen Studenten in unserer eigenen mißglückten Revolution“ (Holitscher 1926, 222). Am Ende seiner Reise sieht er „die Kulis, die kleinen Kaufleute, das Schiffervolk, die Landarbeiter, die Gelehrten, die Studenten, die Priester“ gemeinsam „den Pfad der Zukunft hinan“ schreiten; sie „eint derselbe Wille“ zur Verwirklichung einer „große[n] Zeitidee“ (Holitscher 1926, 283). Diese sei der

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Kommunismus, dem sich die Studenten und auch Anhänger der 4.-MaiBewegung in den 1920er Jahren rasch zuwendeten.3 Allerdings sei der Kommunismus in China deutlich von seiner in Russland bzw. im Westen verbreiteten Form zu unterscheiden. Vorgeblich in den Worten des russischen Gesandten in China, Michail Borodin, führt Holitscher aus: „der Chinese [versteht] unter Kommunismus etwas ganz anderes als der Russe oder der vorgebildete Proletarier der westlichen Länder. Für den Chinesen ist ‚Kommunismus‘ einstweilen gleichbedeutend mit: einer anständigen, sauberen Regierung [. . .]; Vereinheitlichung des Finanzapparates [. . .]; primitivste[r] Verbesserung der Wirtschaft“ und einer Rückleitung des gesamten Finanzwesens „in die Hände der Chinesen“ (Holitscher 1926, 218–219). Allerdings wirke „Russlands Beispiel [. . .] in China tief und stark“, seien besonders „die Intellektuellen Chinas [. . .] von der Idee Russlands, ihrer ökonomischen wie ihrer geistigen Bedeutung für das Volk erfaßt“ (Holitscher 1926, 220). In „stetig anwachsenden Scharen“ stünden sie auf der Seite Russlands, wobei sich Russland „mit der Errichtung der Sun Yat Sen-Universität in Moskau [. . .], die gegenwärtig etwa zweihundert begabte und für die Idee der russischen Befreiung begeisterte chinesische Studenten in die Wissenschaft des Marxismus und in die Theorie und Praxis der Revolution einführt“, ein ausgezeichnetes Propagandamittel geschaffen habe (vgl. Holitscher 1926, 220). Der Sun-Yat-sen-Universität in Moskau widmet auch der Schriftsteller F. C. Weiskopf in seinem Reisebericht Umsteigen ins 21. Jahrhundert (1927), zurückgehend auf eine Reise durch Russland im vorausgehenden Jahr, längere Passagen. Er nennt sie bei ihrem vollständigen Namen: Universität der Arbeitenden Chinas. Dem Andenken an Sun Yat Sen, vermerkt die hervorragenden Arbeitsund Lebensbedingungen für die Studierenden, betont ihre überwiegende Mitgliedschaft in der Kuomintang und ausdrücklich auch den hohen Anteil an Frauen unter ihnen: Ein Viertel der Studentenschaft, von der auch als „gelbes Dynamit“ gesprochen wird, seien Frauen (vgl. Weiskopf 1960, 31–32). Artur Holitscher stellt an das Ende seines Reiseberichtes eine Vision des Ostens unter der Führung, nicht unter der Kolonisierung durch Russland als Vorreiter einer Zukunft der ganzen Welt: Die Russen [. . .] stehen da, diese wenigen Menschen, in fremdem Land, im Angesicht der fremden Millionen. Wahrhaftig: es sind Eroberer und Pioniere, aber von einer anderen Art als jene Portugiesen, Holländer und Engländer es waren, die sich hier vor Hunderten von Jahren festgesetzt und eingenistet haben: Pioniere einer Idee, die die Welt zu erobern im Begriff steht. Die östliche Welt ist von ihr bereits ergriffen. Willig oder mitgerissen wird die westliche ihr eines Tages folgen. (Holitscher 1926, 211)

3 Vgl. auch den Beitrag von Mao Mingchao in diesem Band.

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Aus der „gelben Gefahr [. . .], diesem Schreckgespenst der europäischen Bourgeoisie und Reaktion“, die auch in der deutschen Presse oft beschworen wird, ist für ihn eine „gelbe Hoffnung“ (Holitscher 1926, 223) als romantische Utopie geworden (vgl. auch Streim 2011, 167).

4 Die flüchtigen Beobachtungen des Reiseberichts Einige Worte wären an dieser Stelle über die Subjektivität des Reiseberichts und der in ihm literarisierten Beobachtungen und Wahrnehmungen zu formulieren. Arthur Holitscher spielt mit dem Changieren des Reiseberichts zwischen Fakten und Fiktion. So beschließt er am Beginn seiner Reise, noch auf dem Schiff unterwegs, das erste China-Kapitel des von ihm geplanten Berichtes zu schreiben. Bei der Lektüre eines „Ossendowskiband[es]“ – gemeint sein dürfte der Bericht über eine Reise durch die Mongolei, China und Tibet nach Indien von Ferdinand Ossendowski, 1921 in englischer Sprache und 1924 unter dem Titel Tiere, Menschen und Götter in deutscher Übersetzung, die schnell ein großer Erfolg wurde, vorgelegt – kann er kaum länger warten: Ich habe in dem verdammten Ossendowski gerade das Kapitel von der Erledigung der Roten Partisanen gelesen. Von der Durchquerung des eisigen Flusses. Von der Bestechung des Tibetaners mittels eines mitgebrachten goldenen Eheringes. Auf einmal entdeckt der erschöpfte Reisende eine ganze Hausapotheke in seiner Satteltasche, voll der bezauberndsten Elixiere, mit denen er irgendeine augenkranke Fürstin magisch heilt . . . . wenn das nicht geflunkert ist! Ich beschließe, in China ein parodistisches Kapitel über ähnliche mirakulöse Rettungen aus Todesgefahr zu fabrizieren. Warum nicht gleich? Hier auf der „Helouan“? Auf der Stelle? Ich will jetzt weiß Gott meine Schreibmappe aus der Kajüte holen, mich in das Schreibzimmer begeben, noch vor dem Abendessen wird das Kapitel fertig sein! [. . .] Ich werde ein gutes Kapitel im renommistischen Stil des Ossendowski schreiben, Kapitel 31 vor Kapitel 1, in den Fingerspitzen jucktʼs mich schon! Gestern waren wir in Brindisi [. . .] Und die überall herumpatrouillierenden Schwarzhemden mit Troddelmütze und Patronentaschen um ihre verwegenen Hüften. Ich sehe nicht ein, warum ich nicht ein paar solcher Operettengestalten in das Chinakapitel hineinpraktizieren soll? Und das Pärchen von der Reling mit hinein, warum nicht auch den Hatikwahspieler? Treibe ich nicht dem phantastischen Osten entgegen, dem unkontrollierbaren Asien, Bagdad, Engeddi, dem Persischen Golf, Singapore, Canton . . . (Holitscher 1926, 8)

Von der Reproduktion europäischer Klischees über ‚den Osten‘, die zumindest ein Kapitel seines Reiseberichts explizit speisen könnten – implizit rekurrieren viele der Kapitel bzw. Formulierungen über eigene Beobachtungen, deren Perspektive

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Almut Hille

immer durch vorhandenes ‚Wissen‘ strukturiert wird, auf entsprechende Vorstellungen –, wird Holitscher nur durch einen Unfall auf dem Schiff abgehalten. Auf dem überhasteten Weg in seine Kajüte, von dem er in Slapstick-Manier berichtet, zieht er sich einen Armbruch zu, der ihn längere Zeit vom Schreiben abhalten wird. An späterer Stelle seines Textes bezeichnet er die eigene Schreibposition als die eines „gewissenhafte[n] Chronist[en]“ (Holitscher 1926, 178), den Text als einen „Bericht [. . .] über flüchtige Eindrücke“ anstelle einer „lange[n] Abhandlung“ (Holitscher 1926, 212). Er reflektiert, dass solche Eindrücke ihm eigentlich kaum Urteile über das Gesehene erlauben, gleichzeitig bekräftigt er, um die Legitimität seines Berichtes zu unterstreichen: „Das Leben hat mich gelehrt, ersten Eindrücken unbedingt zu trauen, auch wenn es Eindrücke sind, die der Anblick scheinbar geringfügiger Dinge hinterlassen hat. Dies gilt nicht nur für Individuen, sondern auch für Städte, Länder, Völker“ (Holitscher 1926, 232). Sein Bericht soll als objektive Beobachtung des unruhigen Asiens gelesen werden. Im Gegensatz zu Arthur Holitscher zweifelt oder spielt Lili Körber nicht eine Zeile lang an oder mit der Integrität und Wichtigkeit ihrer Beobachtungen. Dem „Hochmut“ des europäischen Kolonialismus und dem „Unrecht in der Welt“ (Körber 1936, 243) versucht sie ihre unbedingte (An-)Teilnahme am Alltag des chinesischen Volkes und an dessen revolutionären Kämpfen entgegenzusetzen. In dieser Perspektive versteht sie sich nicht nur als Beobachterin, sondern als Betroffene der enormen Veränderungen, die China und mit ihm die ganze Welt erfasst haben. Sie glaubt – noch Mitte der 1930er Jahre – an republikanische, freiheitliche Entwicklungen in China und Europa und möchte durch ihre authentischen, nicht nur auf flüchtige Beobachtungen, sondern längere eigene Erfahrungen gestützten Berichte aus der (Arbeits-)Welt der Sowjetunion, Japans und Chinas zu ihnen beitragen.

Literaturverzeichnis Hesse, Hermann. Aus Indien. Aufzeichnungen, Tagebücher, Gedichte, Betrachtungen und Erzählungen. Frankfurt am Main 1980. Holitscher, Arthur. Das unruhige Asien. Reise durch Indien – China – Japan. Berlin 1926. Körber, Lili. Begegnungen im Fernen Osten. Budapest 1936. Lum, Ken. „Gleichklang der Ideale: Ästhetische Erziehung im republikanischen China“. Shanghai modern. Hrsg. Jo-Anne Birnie Danzker, Ken Lum, Shengtian Zheng. OstfildernRuit 2004. 216–233. Mertens, Volker. „Vom Land des Lächelns zum Land des Grauens. China auf der Musikbühne der zwanziger Jahre“. Deutsch-chinesische Annäherungen. Kultureller Austausch und gegenseitige Wahrnehmung in der Zwischenkriegszeit. Hrsg. Almut Hille, Gregor Streim, Pan Lu. Köln, Weimar und Wien 2011. 131–154.

„ … den Pfad der Zukunft hinan.“

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Shih, Shu-Mei. The Lure of the Modern: Writing Modernism in Semicolonial China 1917–1937. Berkeley 2001. Sprengel, Peter. „‚Die Bahn ward verloren‘ – Gerhart Hauptmanns China-Lektüren nach 1918“. Deutsch-chinesische Annäherungen. Kultureller Austausch und gegenseitige Wahrnehmung in der Zwischenkriegszeit. Hrsg. Almut Hille, Gregor Streim, Pan Lu. Köln, Weimar und Wien 2011. 105–129. Streim, Gregor. „Das Erwachen des Kulis. China in Reisereportagen der Weimarer Republik (Richard Huelsenbeck – Arthur Holitscher – Egon Erwin Kisch)“. Deutsch-chinesische Annäherungen. Kultureller Austausch und gegenseitige Wahrnehmung in der Zwischenkriegszeit. Hrsg. Almut Hille, Gregor Streim, Pan Lu. Köln, Weimar und Wien 2011. 155–171. Weiskopf, F. C. Umsteigen ins 21. Jahrhundert. Berlin 1960.

Autorinnen und Autoren Arnd Bauerkämper, Prof. Dr., Professor für neuere Geschichte am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Geschichte Großbritanniens im 19. und 20. Jahrhundert, Faschismus in Europa, Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, Demokratie und Zivilgesellschaft in Westdeutschland im transatlantischen Bezugsverhältnis zu den USA, Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen im Ausnahmezustand der beiden Weltkriege, methodische und theoretische Probleme der Vergleichs- und Verflechtungsgeschichte Europas. Fang Bo, Dr., Assistenzprofessor an der Abteilung für Philosophie und Religionswissenschaft der Peking Universität. Forschungsschwerpunkte: Rechtsphilosophie, insbesondere von Kant, Hegel und Marx. Han Jie, Doktorandin in der Abteilung Neuere deutsche Literatur der Universität Stuttgart. Forschungsschwerpunkte: deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts, die produktive Kafka-Rezeption in der DDR und in China. Martin Heger, Prof. Dr., Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht, europäisches Strafrecht und neuere Rechtsgeschichte an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte u. a. zu kriminalpolitischen und historischen Aspekten des Strafrechts. Almut Hille, Prof. Dr., Professorin für Deutsch als Fremdsprache: Kulturvermittlung am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Kultur-, Literatur- und Mediendidaktik im Fach Deutsch als Fremdsprache, interdisziplinäre Deutschlandstudien, deutschsprachige Literatur des 20./21. Jahrhunderts, deutsch-chinesische Beziehungen in Literatur und Kultur, Kulturgeschichte. Huang Chaoran, Doktorandin am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Reiseliteratur im frühen 20. Jahrhundert, deutsch-chinesische Literaturbeziehungen. Michael Jaeger, PD Dr., Privatdozent für neuere deutsche Literaturwissenschaft am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: die Weimarer Klassik im historischen Kontext, Goethe und die Moderne, industrielle und politische Revolution in der Literatur des 19. Jahrhunderts, das „Projekt der Moderne“ in der Literatur, Philologie und Ideengeschichte, literarische Darstellungen des Kolonisationsprozesses, die Goethe-Rezeption in China und der deutsch-chinesische Ideenaustausch im 20. Jahrhundert. Mao Mingchao, Dr., Assistenzprofessor an der Abteilung für deutsche Sprache und Literatur der Peking Universität. Forschungsschwerpunkte: deutsche Literatur und Ästhetik des 18. bis 20. Jahrhunderts, kulturelle Wechselwirkungen zwischen China und Deutschland.

Open Access. © 2021 Michael Jaeger et al., publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110682427-012

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Autorinnen und Autoren

Qin Mingrui, Prof. Dr., Professor an der Abteilung für Soziologie der Peking Universität. Forschungsschwerpunkte: Gesellschaftstheorie, das Werk Niklas Luhmanns, chinesische und deutsche Gesellschaft im Vergleich. Wang Liping, Prof. Dr., Professorin an der Abteilung für deutsche Sprache und Literatur der Tsinghua-Universität Peking. Forschungsschwerpunkte: chinesische und deutsche Märchen, Literatur der Romantik.

Personenregister Das Register erfasst die im Haupttext der Beiträge genannten Namen. Arnold, Julean Herbert 110 Ba, Jin (Li, Yaotang) 182 Bismarck, Otto von 73 Bliss, Tasker 49 Bonaparte, Napoleon 80, 138 Borodin, Michail 214 Cai, Yuanpei V, 7–10, 12, 19, 22, 27–28, 34–35, 48, 84–85, 185 Cao, Rulin 46, 107 Chen, Duxiu 9–11, 14–19, 22, 27, 29, 33, 43–46, 48, 50, 69, 74–75, 78, 83, 85, 95, 97–98, 100, 105, 179, 184–185, 210 Chiang, Kai-shek 40, 51, 53, 150 Creel, George 47–48 Darwin, Charles 12 Deng, Xiaoping 151 Dewey, John 19, 43, 49–50, 93, 102, 104, 210 Dickens, Charles 27 Dschuang Dsi (Tschuang Tse) 168, 192, 199 Duan, Qirui 100

Haeckel, Ernst 79, 82 Hauptmann, Gerhart 81, 86, 180, 207 Haußmann, Conrad 201 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 99, 119–120, 154, 171, 175 Heine, Heinrich 180 Herder, Johann Gottfried 135 Hesse, Hermann V, 36, 191–198, 200–203, 207 Hindenburg, Paul von 74, 76 Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich 83 Holitscher, Arthur 208, 211–216 Hornbeck, Stanley K. 49 Hu, Chuan 93 Hu, Shi 19–20, 22, 46, 48, 50, 79, 83–86, 93–94, 97–107, 109–113, 115, 210 Huelsenbeck, Richard 208 Hugo, Victor 27 Humboldt, Wilhelm von 8 Hundhausen, Vincenz 35 Huxley, Thomas Henry 79 Ibsen, Hendrik 27, 99, 210

Engels, Friedrich 17, 87 Eucken, Rudolf 81–82

Jesus 196 Jiang, Menglin 85

Fu, Sinian 185 Goethe, Johann Wolfgang von V, 25–27, 141–142, 144, 147–148, 150, 152–157, 164–165, 167–176, 180, 182–184, 186 Goltz, Colmar von der 75 Grimm, Jacob 133–139 Grimm, Wilhelm 133–139 Gu, Hongming 111, 196 Gu, Weijun (Koo, Wellington) 48 Guo, Moruo 25–27, 32, 141–144, 146–155, 157–158, 171–172, 174–176, 179–180, 182–184, 186, 188

Kang, Youwei 98 Kant, Immanuel 8, 99, 102, 115–123, 125–129, 131 Karachan, Lew M. 50 Kawakami, Hajime 87 Keyserling, Hermann Graf 207 Kim, Kyu-sik 45 Kisch, Egon Erwin 208 Kleist, Heinrich von 180 Konfuzius 19, 102, 168–170, 183, 192, 198–199 Koo, Wellington (Gu, Weijun) 48

Open Access. © 2021 Michael Jaeger et al., publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110682427-013

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Personenregister

Körber, Lili 208–212, 216 Kropotkin, Pjotr 46 Ku, Hung-Ming 183, 208 Kuan, Yu 199 Kuhn, Franz 35 Lao Nai, Hsüan 162 Laotse 171, 192, 196, 199 Lehár, Franz 208 Lenin, Wladimir Iljitsch 39, 50 Li, Dazhao 27–29, 31, 33, 45, 47, 50, 85–87, 95, 104–105 Lia, Yaotang (Ba, Jin) 182 Liang, Kwang En 213 Li, Yimin 69, 73–74, 86 Liä Tse (Liä Dsi) 193, 197, 199 Liang, Qichao 73, 78, 187 Liebknecht, Karl 86 Liu, Shuya 74–75, 80–82 Lloyd George, David 49 Lu, Xun (Zhou, Shuren) 22–27, 29–30, 32, 78–79, 95, 133–134, 136–137, 139, 144, 147, 184–187, 210 Lu, Yongxiang 52 Lu, Zongyu 46 Lukács, Georg 154, 157, 172 Mackensen, August von 74, 77 Mann, Thomas 203 Mao, Dun (Shen, Dehong) 184, 186 Mao, Zedong 2, 11–13, 28–30, 32, 40–41, 46–47, 50, 53, 105, 150–151, 174, 200 Marx, Karl V, VI, 17, 27, 29, 32–35, 86–87, 99, 102, 104–105, 115, 117, 120, 126–131, 154, 170, 174–175 Mengzi (Mencius) 199 Nietzsche, Friedrich 11, 15, 22, 25, 78–79, 83–85, 98, 180, 184–186 Ossendowski, Ferdinand 215 Pan, Zanhua 73–74 Paquet, Alfons 208

Paulsen, Friedrich 11–13, 81 Preußen, Luise von 80 Puyi 52 Qu, Qiubai 41, 104–106 Qian, Junxu 181 Reinsch, Paul Samuel 48–49 Roth, Joseph 208 Roubaud, Louis 211 Rousseau, Jean-Jacques 43, 124–125, 127 Scheidemann, Philipp 86 Schiller, Friedrich 180 Seignobos, Charles 69 Shaw, George Bernard 210 Shen, Dehong (Mao, Dun) 184, 186 Smedley, Agnes 208 Sokolsky, George 49 Spencer, Herbert 79 Storm, Theodor 180–182, 187 Sturzenegger, Hans 193–194 Sun, Yat-sen 8, 10, 42, 51, 179 Tang, Xingtian 180 Tao, Lügong 84 Tauber, Richard 208 Thoma, Ludwig 201 Tian, Han 147, 183, 185 Tocqueville, Alexis de 124 Treitschke, Heinrich von 81 Tschechow, Anton 210 Tschuang Tse (Dschuang Dsi) 168, 192, 199 Voitinsky, Georg 50 Wang, Chengting Thomas (Wang, Zhengting) 48 Wang, Guowei 78, 184 Wang, Tao 70 Wang, Zhengting (Wang, Chengting Thomas) 48 Weiskopf, Franz Carl 208, 214 Wilde, Oscar 27, 210

Personenregister

Wilhelm II. 70, 159 Wilhelm, Richard 35, 141–145, 158–159, 161–176, 193, 197, 199, 207–208 Wilhelm, Salome 200 Williams, Edward T. 49 Wilson, Woodrow 5, 39, 45, 47–50 Wundt, Wilhelm 8 Xi, Jinping 34, 141–142 Xie, Hong 75 Xu, Shichang 51 Yang, Changji 12, 28 Yang, Zhu 193

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Yu, Dafu 182 Yuan, Shikai 9, 10, 42, 44, 48, 70, 160, 200 Yuen, Fei 199 Zhang, Zhidong 70 Zhang, Zongxiang 46 Zheng, Zhenduo 182 Zhou, Shuren (Lu, Xun) 22–27, 29–30, 32, 78–79, 95, 133–134, 136–137, 139, 144, 147, 184–187, 210 Zhou, Zuoren 133–137, 139 Zhu, Xie 182 Zola, Émile 27 Zong, Baihua 147, 183