Oscar Wilde in Deutschland und Österreich: Untersuchungen zur Rezeption der Komödien und zur Theorie der Bühnenübersetzung [Reprint 2012 ed.] 9783110942439, 9783484660205

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German Pages 464 Year 1996

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Table of contents :
Einleitung
1 Abgrenzung des Themas
2 Theoretische Grundlagen
3 Zur Wilde-Forschung
4 Ziel und Aufbau der Arbeit
1. Kapitel. Wer hat Bunbury »verkotzebuet«? Zur Erstaufführung von Bunbury an Max Reinhardts Kleinem Theater und zur Identität des Übersetzers
A. Der Triumph der Salome
B. Der Mißerfolg von Bunbury
C. Der Bunbury-Übersetzer Felix Paul Greve
D. Greves Bunbury-Übersetzung
1 Greves englische Vorlage
2 Greves Englischkenntnisse
3 Greves Übersetzungskonzeption: Normalisierung, Entindividualisierung, Enttheatralisierung
4 Greves naturalistische Ästhetik
E. Ausblick auf die weitere Wirkung der Übersetzung Greves
2. Kapitel. Übersetzung und Inszenierung: Abgrenzung des Untersuchungsbereichs, theoretische Prämissen, Methodologie
A. Abgrenzung des Untersuchungsbereichs: Die übersetzerische und theatralische Bunbury-Rezeption von 1902 bis 1939 als Schwerpunkt
B. Zur Theorie der Bühnenübersetzung
1 Der Weg vom Text zur Aufführung
2 Der dramatische Text als Ausdruckspotential
3 Status und Konkurrenz der Bühnenübersetzungen
4 Konzeptionelle Unterschiede der übersetzerischen Inszenierungsangebote
5 Die Inszenierung als Reaktion auf ein Inszenierungsangebot
C. Zur Methodologie der historischen Rekonstruktion der Beziehung zwischen Übersetzung und Inszenierung
3. Kapitel. Wildes Komödien als »Schwankfutter«: André Gides Einfluß auf die deutsche Wilde-Rezeption
4. Kapitel. Hermann Freiherr von Teschenberg: Ernst sein! (1903)
A. Zu Teschenbergs Übersetzung
1 Teschenbergs englische Vorlage
2 Teschenbergs Übersetzungsmethode und Sprachgebung
3 Teschenbergs ideologisch-restaurative Eingriffe zur Beseitigung von Emanzipation, Erotik und Sozialkritik
B. Die Hamburger (1904) und Düsseldorfer (1907) Inszenierung der vieraktigen Übersetzung Teschenbergs
1 Hamburg, Altonaer Stadttheater, 4. September 1904
2 Düsseldorf, Schauspielhaus, 21. Oktober 1907
5. Kapitel. Richard Vallentins dreiaktige Bühnenfassung des Teschenbergschen Textes (1905)
A. Zur Vorgeschichte von Vallentins Wiener Bunbury-lnszenierung
B. Richard Vallentins Bearbeitung als Inszenierungsangebot
1 Die Tendenzen von Vallentins sprachstilistischer Überarbeitung des Teschenbergschen Textes
2 Zu Vallentins Inszenierungskonzeption
C. Inszenierungen auf der Basis des Teschenberg/Vallentinschen Textes von 1905 bis 1934
1 Wien, Deutsches Volkstheater, 9. Dezember 1905
2 Berlin, Kleines Theater, 31. Dezember 1906
3 Adele Sandrock und die Kreierung der Lady Brancaster: Berlin, Tribüne, 1. Juni 1920; Berlin, Tribüne, 9. Oktober 1929; Wien, Volkstheater, 2. Mai 1931; Berlin, Renaissance-Theater, 2. Mai 1934
6. Kapitel. Franz Blei und Carl Zeiß: Ernst! (1905/06)
A. Zur Entstehung der Blei/Zeißschen Bunbury-Fassung
1 Bleis Teschenberg-Bearbeitung von 1905
2 Zeiß’ Bühnenbearbeitung des Bleischen Textes
B. Zur Konzeption der Blei/Zeißschen Bearbeitung
1 Straffung der Handlung
2 Gesprochensprachliche Eleganz
3 Reduzierung der exzentrischen Figurenkomik
4 Zusammenfassung: Ästhetizistische Eleganz
C. Inszenierungen auf der Basis des Blei/Zeißschen Textes von 1906 bis 1937
1 Dresden, Königliches Schauspielhaus, 26. April 1906
2 Frankfurt, Neues Theater, 10. Dezember 1913
3 München, Residenz-Theater, 30. April 1921
4 Hamburg, Kammerspiele, 5. Oktober 1926
5 Nürnberg, Altes Stadttheater, 13. April 1927
6 Frankfurt, Schauspielhaus, 11. April 1931
7 Berlin, Staatstheater; Kleines Haus, 10. April 1937
1. Zur ›linken‹ Politisierung Wildes vor 1933
2. Zur nationalsozialistischen Ideologisierung von Wildes Stücken durch Karl Lerbs ab 1933
3. Zur Entpolitisierung des Wilde-Bildes nach 1936
Exkurs: Wilde-Filme im Dritten Reich
1. Herbert Selpin: Ein idealer Gatte (1935)
2. Heinz Hilpert: Lady Windermeres Fächer (1935)
3. Hans Steinhoff: Eine Frau ohne Bedeutung (1936)
7. Kapitel. Carl Hagemanns Bunbury (1907/1947)
A. Zu Hagemanns »eigenen Übersetzungen und Bearbeitungen« der Gesellschaftskomödien Wildes
1 Zu Hagemanns Bearbeitungen der drei frühen Komödien Wildes
2 Vallentins Regiebuch und Hagemanns Bunbury
3 Zu Hagemanns Bearbeitungskonzeption
B. Hagemanns Wilde-Inszenierungen
1 Hagemanns Regietheorie und -praxis
2 Hagemanns Bunbury-Inszenierungen in Mannheim und Hamburg
C. Bunbury-lnszenierungen auf der Basis des Hagemannschen Textes nach 1945
1 Zur deutschen Wilde-Rezeption nach 1945
2 Hagemanns Bunbury in Wiesbaden und Karlsruhe und die Spätfolgen des nationalsozialistischen Wilde-Bildes
8. Kapitel. Ernst Sander: Vor allem Ernst! (1934/35)
A. Entstehung und Konzeption von Ernst Sanders »Freier Übertragung und Bearbeitung«
1 Sanders Vorlagen und Texterweiterungen
2 Sanders Kritik an dem von Lerbs propagierten Wilde-Bild und sein eigenes Übersetzungsprogramm
3 Sanders Übersetzungs- und Bearbeitungskonzeption in Vor allem Ernst!
B. Inszenierungen auf der Basis von Sanders Text von 1935 bis 1939
1 Hamburg, Neues Theater, 31. Oktober 1935
Exkurs: Zur »Opposition« im Theater des Dritten Reiches
2 Wien, Burgtheater, 26. Oktober 1938
3 Frankfurt, Kleines Haus, 21. Januar 1939
9. Kapitel. Übersetzerische und theatralische Rezeption der Wildeschen Komödien von 1902 bis 1992 im Überblick
A. Deutsche Übersetzungen und Bearbeitungen der vier Gesellschaftskomödien Wildes von 1902 bis 1992
B. Typologie der Übersetzungen und Bearbeitungen und Filiation textueller Abhängigkeiten
1 Zur Typologie des Übersetzer- und Bearbeiterverhaltens
2 Zur Filiation textueller Abhängigkeiten
C. Inszenierungen der Wildeschen Komödien von 1902 bis 1992
D. Phasen der übersetzerischen und theatralischen Rezeption der Wildeschen Komödien im 20. Jahrhundert
Zusammenfassung Systematisierung der sprachlichen, kulturellen, ideologischen und theatralischen Rezeptionsprobleme
1 Sprache: Soziolekt; Gesprochene Sprache; Ästhetisierung; Individualisierung
2 Kultur: Exkulturation; Dekulturation; Akkulturation; Parakulturation
3 Ideologie: Ideologische Monosemierung; Substitution; Textkürzung; Texterweiterung
Verdrängung des anarchistischen Individualismus in der deutschen Wilde-Rezeption
4 Theater: Konstanten des Motivationszusammenhangs zwischen Text und Theater (Realisierung, Modifizierung, Substitution des Inszenierungsangebots)
Autonomie des Theaters (Lokale Theatertraditionen, Kreativität des Regisseurs, Das Phänomen des ›Stars‹)
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matron

Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste

Herausgegeben von Hans-Peter Bayerdörfer, Dieter Borchmeyer und Andreas Höfele

Band 20

Rainer Kohlmayer

Oscar Wilde in Deutschland und Österreich Untersuchungen zur Rezeption der Komödien und zur Theorie der Bühnenübersetzung

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1996

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Kohlmayer, Rainer: Oscar Wilde in Deutschland und Österreich : Untersuchungen zur Rezeption der Komödien und zur Theorie der Bühnenübersetzung / Rainer Kohlmayer. - Tübingen : Niemeyer, 1996 (Theatron ; Bd. 20) NE: GT ISBN 3-484-66020-1

ISSN 0934-6252

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1996 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf altemngsbeständigem Papier. Satz: Jürgen Herber, Germersheim. Druck: Weihert-Dnick GmbH, Darmstadt. Einband: Heinr. Koch, Tübingen.

Vorwort

Die vorliegende Untersuchung wurde in erweiterter Fassung im Oktober 1993 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz als Habilitationsschrift für das Fach »Interkulturelle Germanistik« eingereicht und - "with unhuirying chase, / And unperturbèd pace, / Deliberate speed, majestic instancy" (Francis Thompson) - im Februar 1995 einstimmig angenommen. Die Gutachter aus der Germanistik, Anglistik, Übersetzungs- und Theaterwissenschaft, die meine Grenzgänge und Einmischungen zum Teil sehr gemächlich, zum Teil sehr zügig beurteilten, seien hiermit für ihre kritische Arbeit bedankt. Zweien von ihnen bin ich zu besonderem Dank verpflichtet: Dieter Kafitz, der mir durch die freundliche Aufforderung zu einem Vortrag im November 1988 den entscheidenden Anstoß gab, meine privaten Forschungen zur deutschen WildeRezeption an die akademische Öffentlichkeit zu bringen; und Brigitte Schultze, die mich daraufhin regelmäßig zum SFB >Literarische Übersetzung< nach Göttingen einlud, wo ich 1989, 1991, 1993 und 1995 meine Forschungsergebnisse zur Diskussion stellen konnte. Ohne die kritische Resonanz aus Göttingen wären Buch und Habilitation kaum zustande gekommen. Die Gründung einer Theatergruppe am Fachbereich Angewandte Sprachund Kulturwissenschaft, mit der ich seit 1980 Stücke von Molière, Lessing, Kotzebue, Gogol, Nestroy, Wilde, Wedekind und anderen inszenierte und spielte, für die ich Stücke übersetzte und schrieb, war ursprünglich wohl nur ein Versuch kollektiver Selbsttherapie - eine Flucht vor der drohenden sprach- und übersetzungswissenschaftlichen Routine. Zusammen mit inzwischen über hundert Studentinnen und Studenten, Kolleginnen und Kollegen konnte ich in rund zwanzig Inszenierungen immer wieder die faszinierende Verwandlung von Text in Theater, von Sprache in Körper, den gemeinsamen Aufbau von Rollen, die Aufarbeitung verborgener, verdrängter oder unterdrückter Lebensmöglichkeiten erleben. So erwuchsen schließlich aus der Verbindung von sprach- und übersetzungswissenschaftlichem Unterricht mit dem eigenen Übersetzen von Theaterstücken und dem damit einhergehenden Kennenlernen des dramaturgischen Marktes, aus den Erfahrungen der Probenarbeit und den literatur- und theaterwissenschaftlichen Recherchen die synergetischen Früchte einer interdisziplinären, ganzheitlichen Denkweise. Einer der theoretisch wichtigen Aspekte der vorliegenden Arbeit scheint mir daher auch die Auffassung zu sein, daß der reduzierte Textbegriff, mit dem die Übersetzungstheorie auch heute noch überwiegend arbeitet, durch einen V

ganzheitlichen im weitesten Sinne zu ersetzen ist: Zu den dramatischen Texten gehört auch das, was >zwischen den Zeilen< steht, was durch das jeweilige Leserwissen - abhängig von der empathischen Kompetenz - stimmlich, körpersprachlich, emotional und mental zu ergänzen ist (»Kopftheater«). Der Text ist der Ausgangspunkt für das Theater, das dann in einer nicht vorausberechenbaren, aber nachvollziehbaren Weise auf den gewählten Text reagiert. Zwischen dem Inszenierungsangebot des (übersetzten) Textes und der Inszenierungskonzeption des Theaters herrscht eine dialogische Beziehung, wie ich in den historisch-deskriptiven Fallstudien zu zeigen versuche. Die Rezeption der Wildeschen Komödien in Deutschland stellt ein interessantes Stück Kultur- und Mentalitätsgeschichte dar, in dem bedeutende Künstler wie André Gide, Max Reinhardt, Adele Sandrock, Hermine Körner, Gustaf Gründgens und viele andere mitgewirkt haben, in dem hochgestapelt, intrigiert und plagiiert wurde, in dem Wilde zum Sprachrohr des Proletariats, des Nationalsozialismus und der >inneren Emigration stilisiert wurde. Wilde hat in allerlei Verwandlungen das ganze 20. Jahrhundert der Deutschen begleitet und ist für alle, die seinen an den Griechen geschulten dialogischen Esprit kennenlemen, auch heute und morgen noch ein ungewöhnlich anregender Zeitgenosse. "Wilde is one of us. His wit is an agent of renewal, as pertinent now as a hundred years ago", schrieb Richard Ellmann 1987 in der Einleitung seiner meisterhaften Biographie. Die Lektüre meines Buches wird vor Augen führen, welch entscheidende Rolle den Übersetzern und Bearbeitern bei unseren interkulturellen und transhistorischen Rendezvous zukommt. Zum Schluß möchte ich mich bei all jenen bedanken, die mir beim Schreiben und der zügigen Veröffentlichung der Arbeit behilflich waren - den freundlichen Bibliotheksangestellten in Germersheim, den zahlreichen hilfreichen Geistern in den Theaterarchiven, den Herausgebern der Reihe Theatron, Birgitta Zeller vom Niemeyer-Verlag, Jürgen Herber für die Herstellung der Druckvorlage. Wichtig waren auch die Anregungen durch die Teilnehmerinnen meiner Hauptseminare im SS 1991 und SS 1992, die genaue Vorlektüre der Arbeit durch meinen Kollegen Andreas F. Kelletat, die Ermutigung durch meinen ehemaligen Kollegen Werner Helmich (Graz), die herrlichen Proben, Gespräche und Theaterfeste mit den vielen Mitgliedern der »Uni-Bühne Germersheim«. Am meisten bin ich meiner Frau und meinen Kindern zu Dank verpflichtet, die in unserer französisch-deutschen Familie jene kameradschaftliche Toleranz geschaffen und erhalten haben, durch welche meine häuslich-deutsche Schreibtischexistenz zugleich ermöglicht und humorvoll relativiert wurde. Daher ist dieses Buch Germaine, Nathalie und Boris gewidmet.

Lauterbourg, März 1996

VI

R. K.

Inhalt

Einleitung 1 Abgrenzung des Themas 2 Theoretische Grundlagen 3 Zur Wilde-Forschung 4 Ziel und Aufbau der Arbeit 1. Kapitel Wer hat Bunbury »verkotzebuet«? Zur Erstaufführung von Bunbury an Max Reinhardts Kleinem Theater und zur Identität des Übersetzers A. Der Triumph der Salome B. Der Mißerfolg von Bunbury C. Der ÄMwÄMO'-Übersetzer Felix Paul Greve D. Grevés Bunbury-Übersetzang 1 Grevés englische Vorlage 2 Grevés Englischkenntnisse 3 Grevés Übersetzungskonzeption: Normalisierung, Entindividualisierung, Enttheatralisierung 4 Grevés naturalistische Ästhetik E. Ausblick auf die weitere Wirkung der Übersetzung Grevés 2. Kapitel Übersetzung und Inszenierung: Abgrenzung des Untersuchungsbereichs, theoretische Prämissen, Methodologie A. Abgrenzung des Untersuchungsbereichs: Die übersetzerische und theatralische Bunbury-Rczepüon von 1902 bis 1939 als Schwerpunkt . . B. Zur Theorie der Bühnenübersetzung 1 Der Weg vom Text zur Aufführung 2 Der dramatische Text als Ausdruckspotential 3 Status und Konkurrenz der Bühnenübersetzungen 4 Konzeptionelle Unterschiede der übersetzerischen Inszenierungsangebote a. Unterschiede als Folge unterschiedlicher Vorlagen b. Unterschiede als Folge unterschiedlicher Verstehenskompetenzen

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c. Unterschiede als Folge unterschiedlicher Produktionskompetenzen 93 d. Unterschiede als Folge unterschiedlicher Übersetzungsmethoden 94 e. Unterschiede als Folge unterschiedlicher FigurenaufFassungen . 95 f. Unterschiede als Folge unterschiedlicher dramaturgischer Intentionen 98 g. Unterschiede als Folge unterschiedlicher Wertvorstellungen und Ideologien 99 5 Die Inszenierung als Reaktion auf ein Inszenierungsangebot . . . 100 C. Zur Methodologie der historischen Rekonstruktion der Beziehung zwischen Übersetzung und Inszenierung 102 3. Kapitel Wildes Komödien als »Schwankfutter«: André Gides Einfluß auf die deutsche Wilde-Rezeption 4. Kapitel Hermann Freiherr von Teschenberg: Ernst seinl (1903) A. Zu Teschenbergs Übersetzung 1 Teschenbergs englische Vorlage 2 Teschenbergs Übersetzungsmethode und Sprachgebung 3 Teschenbergs ideologisch-rcstaurative Eingriffe zur Beseitigung von Emanzipation, Erotik und Sozialkritik a. Tilgung der erotischen Emanzipation Gwendolens b. Tilgung sexueller Anspielungen c. Dämpfung sozialkritischer Ironie B. Die Hamburger (1904) und Düsseldorfer (1907) Inszenierung der vieraktigen Übersetzung Teschenbergs 1 Hamburg, Altonaer Stadttheater, 4. September 1904 2 Düsseldorf, Schauspielhaus, 21. Oktober 1907 5. Kapitel Richard Vallentins dreiaktige Bühnenfassung des Teschenbergschen Textes (1905) A. Zur Vorgeschichte von Vallentins Wiener Bunbury-lnszemcmng . . . B. Richard Vallentins Bearbeitung als Inszenierungsangebot 1 Die Tendenzen von Vallentins sprachstilistischer Überarbeitung des Teschenbergschen Textes a. Straffung der Handlung b. Normalisierung der Dialoge

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2 Zu Vallentìns Inszenierungskonzeptìon a. Transformation von Sprachkomik in Situationskomik b. Evokation des soziolingualen Milieus C. Inszenierungen auf der Basis des Teschenberg/Vallentinschen Textes von 1905 bis 1934 1 Wien, Deutsches Volkstheater, 9. Dezember 1905 2 Berlin, Kleines Theater, 31. Dezember 1906 3 Adele Sandrock und die Kieierung der Lady Brancaster: Berlin, Tribüne, 1. Juni 1920; Berlin, Tribüne, 9. Oktober 1929; Wien, Volkstheater, 2. Mai 1931; Berlin, Renaissance-Theater, 2. Mai 1934 a. Die >Aura< der Adele Sandrock b. Das para- und nonverbale Spiel der Adele Sandrock c. Der situativ-komische Kontrast zu den Mitspielern d. Parodie der Macht und zeitgeschichtliche Bezüge 6. Kapitel Franz Blei u n d Carl Zeiß: Ernst! (1905/06) A. Zur Entstehung der Blei/Zeißschen Bunbury-Fassung 1 Bleis Teschenbeig-Bearbeitung von 1905 2 Zeiß' Bühnenbearbeitung des Bleischen Textes B. Zur Konzeption der Blei/Zeißschen Bearbeitung 1 Straffung der Handlung 2 Gesprochensprachliche Eleganz 3 Reduzierung der exzentrischen Figurenkomik 4 Zusammenfassung: Ästhetizistische Eleganz C. Inszenierungen auf der Basis des Blei/Zeißschen Textes von 1906 bis 1937 1 Dresden, Königliches Schauspielhaus, 26. April 1906 2 Frankfurt, Neues Theater, 10. Dezember 1913 3 München, Residenz-Theater, 30. April 1921 4 Hamburg, Kammerspiele, 5. Oktober 1926 5 Nürnberg, Altes Stadttheater, 13. April 1927 6 Frankfurt, Schauspielhaus, 11. April 1931 7 Berlin, Staatstheater, Kleines Haus, 10. April 1937 a. Zur Wilde-Welle im Theater des Dritten Reiches 1. Zur >linken< Politisierung Wildes vor 1933 2. Zur nationalsozialistischen Ideologisierung von Wildes Stücken durch Karl Lerbs ab 1933 3. Zur Entpolitisierung des Wilde-Bildes nach 1936 b. Zur Theaterkritik im Dritten Reich: Von der Kunstkritik zur »Kunstbetrachtung«

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Exkurs: Wilde-Filme im Dritten Reich 1. Herbert Selpin: Ein idealer Gatte (1935) 2. Heinz Hilpert: Lady Windermeres Fächer (1935) 3. Hans Steinhoff: Eine Frau ohne Bedeutung (1936) c. Zu Paul Bildts Βunbury-Inszenierung 7. Kapitel Carl Hagemanns Bunbury (1907/1947) A. Zu Hagemanns »eigenen Übersetzungen und Bearbeitungen« der Gesellschaftskomödien Wildes 1 Zu Hagemanns Bearbeitungen der drei frühen Komödien Wildes . a. Ein idealer Gatte b. Eine Frau ohne Bedeutung c. Lady Windermeres Fächer 2 Vallentins Regiebuch und Hagemanns Bunbury 3 Zu Hagemanns Bearbeitungskonzeption B. Hagemanns Wilde-Inszenierungen 1 Hagemanns Regietheorie und -praxis 2 Hagemanns fiM/iZwy-Inszenierungen in Mannheim und Hamburg . a. Mannheim, Nationaltheater, 7. September 1907 b. Hamburg, Schauspielhaus, 10. Februar 1912 c. Mannheim, Nationaltheater, 13. Dezember 1919 C. Bunbury-lnsTeniemngen auf der Basis des Hagemannschen Textes nach 1945 1 Zur deutschen Wilde-Rezeption nach 1945 2 Hagemanns Bunbury in Wiesbaden und Karlsruhe und die Spätfolgen des nationalsozialistischen Wilde-Bildes a. Wiesbaden, Staatstheater, Kleines Haus, 30. August 1953 . . . b. Karlsruhe, Staatstheater, Kleines Haus, 3. Oktober 1962 . . . . 8. Kapitel Ernst Sander: Vor allem Ernst! (1934/35) A. Entstehung und Konzeption von Ernst Sanders »Freier Übertragung und Bearbeitung« 1 Sanders Vorlagen und Texterweiterungen a. Zu Sanders Benutzung des englischen Originals b. Zu Sanders Benutzung der Blei/Zeißschen Fassung c. Zu Sanders Benutzung der Greveschen Übersetzung d. Zu Sanders Benutzung der Teschenbergschen Übersetzung . . 2 Sanders Kritik an dem von Lerbs propagierten Wilde-Bild und sein eigenes Übersetzungsprogramm a. Bunbury als »undurchdringlich maskierte Parodie«

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b. Zum Gegenwarts- und Publikumsbezug c. Zur »Sprechform« der Bearbeitung 3 Sanders Übersetzungs- und Bearbeitungskonzeption in Vor allem Ernst! a. Bunbury als Zeitstück b. Figurale Änderungen: Pfarrer Chasuble, Miss Prism, Lady Brackneil c. Ironische Distanzierung vom Nationalsozialismus B. Inszenierungen auf der Basis von Sanders Text von 1935 bis 1939 . 1 Hamburg, Neues Theater, 31. Oktober 1935 Exkurs: Zur »Opposition« im Theater des Dritten Reiches 2 Wien, Burgtheater, 26. Oktober 1938 3 Frankfurt, Kleines Haus, 21. Januar 1939 9. Kapitel Übersetzerische und theatralische Rezeption der Wildeschen Komödien von 1902 bis 1992 im Überblick A. Deutsche Übersetzungen und Bearbeitungen der vier Gesellschaftskomödien Wildes von 1902 bis 1992 B. Typologie der Übersetzungen und Bearbeitungen und Filiation textueller Abhängigkeiten 1 Zur Typologie des Übersetzer- und Bearbeiterverhaltens 2 Zur Filiation textueller Abhängigkeiten C. Inszenierungen der Wildeschen Komödien von 1902 bis 1992 . . . . D. Phasen der übersetzerischen und theatralischen Rezeption der Wildeschen Komödien im 20. Jahrhundert Zusammenfassung Systematisierung der sprachlichen, kulturellen, ideologischen und theatralischen Rezeptionsprobleme 1 Sprache: Soziolekt; Gesprochene Sprache; Ästhetisierung; Individualisierung 2 Kultur: Exkulturation; Dekulturation; Akkulturation; Parakulturation 3 Ideologie: Ideologische Monosemierung; Substitution; Textkürzung; Texterweiterung Verdrängung des anarchistischen Individualismus in der deutschen Wilde-Rezeption 4 Theater: Konstanten des Motivationszusammenhangs zwischen Text und Theater (Realisierung, Modifizierung, Substitution des Inszenierungsangebots)

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Autonomie des Theaters (Lokale Theatertraditionen, Kreativität des Regisseurs, Das Phänomen des >StarsKaterstímmungen< in einer guten Bierzeitung.

Man wirft Wilde - von einem Standpunkt höheren Anspruchs und größerer Ernsthaftigkeit aus - die Trivialität seiner »trivialen« Komödie vor, ohne einen tieferen Grund für Wildes Apotheose des Trivialen erkennen zu können. Die Gattungsfrage und -tradition ist das dritte Thema, das Isidor Landau und die anderen Kritiker anschneiden. Dabei sind sich die Kritiker darin einig, daß es sich vor allem um eine Satire auf englische Gesellschaftszustände han-

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»Unter den übrigen Darstellern fiel besonders Max Reinhardts alter Jude bedeutsam auf«, schreibt Philipp Stein im Berliner Lokal-Anzeiger ( 16.11.1902). Bei den späteren Aufführungen spielte Reinhardt laut Huesmanns Besetzungsplänen nicht mehr selbst mit. H. Stümcke, Bühne und Welt 5, 1902/03, S. 215. Conrad Schmidt, Vorwärts, 18.11.1902. Tägliche Rundschau, 16.11.1902. Vgl auch die nicht signierte Besprechung der Neuen Freien Presse vom 18.11.1902.

dele. Die Gattung der gesellschaftskritischen Komödie sei jedoch »den Engländern nicht vertraut. Darin thun sie's den Franzosen nicht gleich«, meinte Landau, ohne dieses Urteil weiter zu begründen. Es handelt sich dabei um einen Topos der deutschen Theaterkritik, der seine Berechtigung hatte, bevor Wilde und Shaw die moderne englische Gesellschaftskomödie schufen, deren deutsche Rezeption mit Bunbury eben erst einsetzte. Dabei war es für die deutsche Rezeption gewiß eine besondere Erschwernis, daß sie mit Wildes letzter Gesellschaftskomödie - also chronologisch gewissermaßen am falschen Ende - beginnen mußte. Wildes letztes Stück steht bei aller Unterschiedlichkeit eben doch in vielfältigem Zusammenhang mit seinen früheren Gesellschaftsdramen, angefangen von der brillanten Sprachgebung über den Schauplatz (London) bis zur Gesellschaftsschicht (Adel, gehobenes Bürgertum), wenn man einmal von der figuralen, motivlichen und thematischen Vernetzung (Dandysmus, Geschlechterbeziehung, Emanzipation usw.) absieht. Den deutschen Kritikern fehlte jedes Vorwissen über Wildes frühere Komödien, und so war der Hinweis auf französische Vorbilder der häufigste Versuch der Kritik, Bunbury - und später auch die anderen Gesellschaftskomödien Wildes - in eine Kategorie und Tradition einzuordnen.43 Alfred Kerr, der eine der ausführlichsten Besprechungen von Bunbury gibt, zieht bei der Suche nach stilistischen und gattungspoetischen Parallelen eine Verbindungslinie zwischen Wildes Stück und Wedekinds grotesker Ironie: Oscar Wilde ist ein Stilkünstler. Sehr zweifelhaft, ob er mehr ist. [...] Positive Kaltblütigkeit, die rechteckige Ordnung steifer Gowns wird verzerrt und verhöhnt: aber sie selber spricht unbewußt aus diesem grotesken Humor, kalt gegen alle, nicht mitfühlend ... wie wenn ein exotischer Zeichner Gestalten und Beziehungen herzlos-ruhig zeichnet unter verrückenden Gesichtspunkten. Ein kalter Schmerz spricht aus kalt stilisiertem Blödsinn; ein Menschenschicksal etwa hängt in dem Stücke davon ab, daß jemand durchaus den Namen Emst tragen müsse; hier liegt etwas Melancholisches, als ob ein geeichter Lebenskenner riefe: >Kin-

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Stiimcke sprach von einem »mixtum compositum«, das »bekannte Pariser Schwankelemente [...] mit ironischer Verspottung des englischen high life« verbinde (Bühne und Welt 5, 1902/03, S. 215); Philipp Stein sah eine »sehr hübsche Satire auf den englischen Familien- und Gouvemantenroman«, wobei aber weder das Thema noch der Witz »dem landläufigen deutschen Geschmack« entsprächen (Berliner Lokal-Anzeiger, 16.11.1902); Arthur Eloesser wies als einziger auf die genuin englische Schwanktradiüon hin: »Es ist ein Ding, das ungefähr aussieht wie Charleys Tante, eine Burleske, mit der er sich über solche Schwänke lustig macht, indem er Ähnliches erfindet und damit angiebt, daß das Gebiet des reinen Unsinns gerade für emsthafte Leute sehr anziehend sein kann. Es ist die Parodie einer Parodie, mit ganz reizenden Einfällen gespickt, und sehr amüsant, sobald man sich diesem Ulk mit semen unmöglichen und unmöglich sein sollenden Verwechselungsspäßen vertrauensvoll überläßt« (Vossische Zeitung, 16.11. 1902). Zu Wildes Kenntnis von Charleys's Aura siehe S. 176, Anm. 91. 19

der, es ist ja alles so gleichgültig! Kinder, es ist ja alles im Leben solcher Quatsch! < Die Männer sind Windhunde, mit sprunghaften Empfindungen ohne "Hefe; die Mädchen sind Automaten, Gänse; im Grund erscheinen alle wie unbelebte Kreaturen, kalt groteske Puppen. [...] Hier gehen Fäden zu Frank Wedekind, spätem Sohne der romantischen Ironie, bei dem ganz Unmögliches auf gleiche Art in ulkiger Ruhe gegeben wird. Das wäre Bunbury. Die Handlung ist gleichgültig; [...]. Kurz: Frank Wedekind; mit Satire gegen das Britentum und französischer Possentechnik. Das ist die Foimel dieses Stückes; nichts anderes; oder ich will ein schlechter Kerl sein.44

Alfred Keir stimmt in seiner Bunbury-Ksiúk mit Bernard Shaws Urteil überein, der über das Stück sagte: "Clever as it was, it was his first really heartless play.' 45 Auch Kerr sieht das Stück offensichtlich als kaltblütige Karikatur des englischen Gesellschaftslebens, wenn er auch hinter der Oberflächlichkeit Melancholie und Weltschmerz zu wittern vermeint. Was Kerr vermißt, ohne es hier beim Namen zu nennen, ist das, was er als Fürsprecher Hauptmanns, Ibsens und Shaws immer wieder vom Theater forderte: »humanistisches Ethos«.46 Kerr vermag nicht zu erkennen, daß Wildes Stück irgendeine positive ethische Botschaft enthält. Er sieht Wilde - vor allem in Salome - als Überwinder des Naturalismus in technischer Hinsicht, da er mit »Parallelismen, Symmetrie«, »Verdichtung« arbeite.47 Wenn wir im Rückblick die Frage stellen, welche Aspekte des Stückes von den Theaterkritikem übersehen oder ignoriert wurden, so wären zwei Dinge zu nennen: einmal der Dandysmus, zum andern die aphoristische Rhetorik.48

Wildes Stück wird an französischen Vorbildern gemessen, es wird als Satire auf die englische Gesellschaft, als Parodie des sentimentalen englischen Gouvemantenromans und dgl. beschrieben, aber kein Wort wird der dandystisch-komödiantischen Umwertung aller Werte gewidmet, die doch gerade das Spezifikum der Wildeschen Dandy-Komödien bildet. Als "philosophy" des Stückes hatte Wilde in einem Interview die Lebensanschauung bezeichnet, "we should treat all the trivial things of life very seriously, and all the serious things of life with sincere and studied triviality".49 Diese dandystische Umkehrung der konventionellen bürgerlichen Wertordnung ist weit entfernt von 44 45 46 47

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Der Tag, 19.11.1902. Hier zitiert nach Tydeman (Hrsg.), Wilde: Comedies, S. 42. Vgl. Rischbieter, Theater-Lexikon, Sp. 736. Alfred Kerr, Der Tag, 19.11.1902. Kerrs Besprechung der Salome- und Bunbury-Aufführung wurde fünf Jahre später, stellenweise redigiert, wiederabgedruckt in Kerr, Drama, S. 280-283. Kerrs Kritik beeinfluBte unmittelbar Hagemanns Mannheimer Regiekonzeption von Bunbury (vgl. das 7. Kapitel). Vgl. zur Dandyproblematik Hess-Lüttich, »Strategie der Paradoxie«; Gnüg, Kult der Kälte; Ihrig, Avantgarde. Hier zitiert nach Tydeman (Hrsg.), Wilde: Comedies, S. 41.

dem weltschmerzlichen Ennui, den Alfred Kerr als Hintersinn des Stückes postulierte - es sei ohnehin »alles im Leben solcher Quatsch!«50 Bunbury enthält eine weitaus anspruchsvollere - und optimistischere - Botschaft: Das Stück glorifiziert die individuell-ästhetische Existenz zu Lasten der kollektivethischen.51 Dies erhellt zum Beispiel aus Gwendolens typischem Satz: "In matters of grave importance, style, not sincerity is the vital thing."52 Am deutlichsten und durchgängigsten zeigt sich diese Abwertung der gesellschaftlichen - nicht nur der britischen! - Normen zugunsten der anarchistischen Freiheit des sich autonom setzenden Individuums darin, daß in dieser Lügnerkomödie der Lügner - anders als in allen früheren Lügnerkomödien - nicht bestraft und den gesellschaftlichen Normen unterworfen, sondern belohnt wird. Die erfundene Existenz erweist sich als legitim, die Pose wird mit dem Geburtsrecht ausgezeichnet, entpuppt sich als Vorwegnahme der Wahrheit. Gwendolen, it is a terrible thing for a man to find out suddenly that all his life he has been speaking nothing but the truth. Can you forgive me? 53 GWENDOLEN. I can. For I feel that you are sure to change. JACK.

Gwendolens Replik kann als ironische Aufhebung des utopischen happy ending gelesen werden, gleichzeitig aber auch als vorweggenommenes Einkalkulieren der Kontinuität individuell-anarchistischen Widerstands gegen alle libidohemmenden Normen. In Bunbury gehen alle Wünsche in Erfüllung, und alle gesellschaftlichen Blockierungen der Libido erweisen sich als wirkungslos angesichts der überraschenden - utopischen - Harmonie zwischen Wunschdenken und Wirklichkeit. Die Ursache für die Nichtwahmehmung der ästhetizistischen Antibürgerlichkeit des Stücks durch die Kritik bzw. dessen Klassifizierung als »reiner Unsinn« und dgl. dürfte, wenn wir einmal von der inszenatorischen und translatorischen (Nicht-)Vermittlung dieses Aspekts absehen, vor allem darin zu suchen sein, daß es in Deutschland vor der Jahrhundertwende keine nennenswerte Dandytradition gab, die als intertextueller Maßstab hätte dienen können. Fürst Pückler-Muskau blieb eine Einzelerscheinung. Der deutsche literarische Dandysmus entstand praktisch erst im Laufe der Baudelaire- und Wilde-Rezeption des Fin de siècle. Der zweite Aspekt, der der damaligen Theaterkritik nicht in den Blick kam, war die aphoristische Sprachkunst Wildes, die mit dem Dandysmus unmittelbar zusammenhängt. Daß »die Anfänge der literarischen Sprachskepsis bei Hofmannsthal wie bei Schaukai vom Dandysmus nicht zu trennen« sind,

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Kerr, Der Tag, 19.11.1902. Vgl. dazu Kohlmayer, »Dandy«, S. 277 ff. Wilde, Importance, S. 83. Wilde, Importance, S. 104.

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hat Ihrig in einer eindringlichen Analyse vorgeführt.54 Der Dandy stilisiert sich »nicht nur zu einem wandelnden Bildnis, sondern ebenso zu einem lebenden Text. Eleganz und Originalität kennzeichnen seine Kleidung und seine Äußerungen gleichermaßen.«55 Wildes Dandies brillieren durch eine ironischaphoristische Rhetorik, die alle bürgerlichen Konventionen und Klischees auf witzige und amüsante Weise unterhöhlt und dadurch dem Subjekt - bzw. den Zuschauem - eine anarchistische Autonomie verschafft. Wildes Paradoxien sind also weder Unsinn noch Selbstzweck, sondern Ausdruck einer sich absolut setzenden Subjektivität. Wie aus den zeitgenössischen Kritiken hervorgeht, hat kein einziger Theaterkritiker diese beiden modernen Aspekte des Stückes erwähnt. Dies ist vermutlich nicht nur dem mangelnden Vorwissen der Kritiker über die englische und französische Dandytradition und der Unkenntnis von Wildes Essays, zum Beispiel der Schrift The Soul of Man Under Socialism, anzulasten, sondern vor allem wohl auch dem Ungenügen der Übersetzung und dem Konzept der Inszenierung.56 Das Stück war, wenn man den Besprechungen glauben darf, als Karikatur spezifisch britischer Zustände inszeniert und gespielt worden, ohne daß der antibürgerliche Ästhetizismus der Dandy-Existenzen gebührend herausgestellt worden wäre. Der Versuch der Rekonstruktion der wichtigsten Züge der Erstaufführung von Bunbury am Kleinen Theater stößt allerdings auf erhebliche Schwierigkeiten. Während sich historischer Kontext, Textfassung und Übersetzerin, theatralische Zeichensprache und Wirkung der Erstaufführung der Wildeschen Salome aus den zeitgenössischen Kritiken und Berichten in den Grundzügen nachskizzieren lassen, fließen die Quellen im Falle von Bunbury nur spärlich. Huesmanns Auflistung der Reinhardtschen Inszenierungen kann man über Bunbury folgende magere Angaben entnehmen: - Am 7. September 1902 wurde Der unerläßliche Ernst. Eine triviale Komödie in der Programmvorschau von Schall und Rauch, das sich wenige Wochen später in Kleines Theater umbenannte, zusammen mit mehreren (nicht ausgeführten) Projekten angekündigt.57 - Am Nachmittag des 15. November 1902 wurde Bunbury. Eine triviale Komödie für ernsthafte Leute im Anschluß an Salome erstaufgeführt Huesmanns lücken- und wohl auch fehlerhafte Rekonstruktion des Theaterzettels der Erstaufführung sieht folgendermaßen aus:

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Vgl. Ihrig, Avantgarde, S. 24. Ihrig, Avantgarde, S. 18. Dies wird in Meyerfeld, »Wilde in Deutschland«, angedeutet. Dazu unten mehr. Huesmann, Reinhardt, Nr. 160.

Regie: Friedrich Kayßler Algernon: Hans Wassmann Jack: Victor Arnold Dr. Chasuble: Richard Leopold (Lady Bracknell?): Rosa Wohlgemuth Miss Prism: Gertrud Eysoldt58 - Eine Wiederaufnahme von Bunbury (Der unerläßliche Ernst) war für Silvester 1906/07 an Reinhardts Deutschem Theater vorgesehen, wurde jedoch »durch gerichtlichen Einspruch auf Betreiben von Victor Bamowsky verhindert«,59 der sich selbst die Aufführungsrechte für das inzwischen von ihm erworbene Kleine Theater gesichert hatte.60 Die Spurensuche nach dem Inszenierungsstil der Erstaufführung bringt nur zwei sichere Ergebnisse: 1. Im Rückblick - anläßlich der Silvestervorstellung bei Barnowsky - schreibt Monty Jacobs über die Erstaufführung am Kleinen Theater. »In jener denkwürdigen Mittagsvorstellung [...] sauste die Komödie im Galopptempo an uns vorüber und weckte stille Heiterkeit, ohne im geringsten einen Publikumserfolg zu verheißen.«61 Aus dieser Notiz und ähnlichen Bemerkungen anderer Kritiker geht hervor, daß das Stück in ungewöhnlich flottem Tempo gespielt wurde, was vielleicht erklären mag, weshalb kein einziger Kritiker der Erstaufführung den Gang der Handlung nacherzählte bzw. nacherzählen konnte, was wiederum erklärt, weshalb es unmöglich ist, aus den Theaterkritiken die Besetzungsliste zu rekonstruieren und aus diesen Quellen die gespielte Fassung bzw. den Übersetzer zu identifizieren. Verglichen mit dem schweren Rhythmus des optischmusikalischen Gesamtkunstwerks Salome mußte Bunbury ohnehin wie ein Rückfall ins reine Sprechtheater wirken. Das hohe Spieltempo mußte den Eindruck der Flachheit verstärken. 2. Ein zweiter Zug der Erstaufführung läßt sich daraus erschließen, daß praktisch alle Kritiker darauf insistieren: Das Stück wurde als Parodie, Satire und Karikatur gespielt, so als gehe es darin einzig um literarische Kommentierungen, um die »Verspottung der hergebrachten Bühnenschablonen« der englischen Literatur und Gesellschaft.62 Der Inszenierungsstil war anscheinend so sehr auf parodistische Distanzierung angelegt, daß das Publikum, dem das für 58

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Huesmann, Reinhardt, Nr. 168. Die Liste müßte folgendermaßen korrigiert bzw. ergänzt werden: Gwendolen: Gertrud Eysoldt; Cecily: Johanna Hus; Miss Prism: Antonie Wohlbrück. Huesmann, Reinhardt, Nr. 313. Vgl. dazu die Besprechung von Barnowskys Inszenierung im 5. Kapitel. Berliner Tageblatt, 2.1.1907. Paul Block, Berliner Tageblatt, 16.11.1902.

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das Verständnis einer Parodie unerläßliche Wissen über die parodierten Phänomene fehlte, sich vergeblich nach der Relevanz der vorgeführten komischen Figuren und Ereignisse fragen mußte. Durch das globale Verständnis des Stückes als Karikatur britischer Phänomene - womöglich gar als »Parodie einer Parodie« (Eloesser) - wurden dabei nicht nur die individuellen Unterschiede zwischen den Figuren weitgehend verwischt, sondern auch deren innere psychologische Kohärenz und Wahrscheinlichkeit negiert, so daß Alfred Kerr zusammenfassend - und abschätzig - von »Clowns« und »Puppen« sprechen konnte. Der Inszenierung war es nicht gelungen, die Kunstwelt des Stücks so zu präsentieren, daß sie aus sich heraus verständlich war.63 Galopptempo und parodistischer Inszenierungsstil trugen vermutlich, zumal im Kontrast mit der vorhergehenden Salome-Aufführung, zum relativen Mißerfolg der Erstaufführung von Bunbury bei.

C. Der Bunbury-Übersetzer Felix Paul Greve In Isidor Landaus oben (S. 16 f.) zitierter Kritik wird die Übersetzerin Hedwig Lachmann lobend erwähnt - sie habe die Salome »mit liebevoller Vertiefung in die Seele des Werkes« übertragen. Im Falle von Bunbury würdigt der Kritiker den übersetzerischen Vermittler keines Wortes. Arthur Eloesser ist der einzige unter den Theaterkritikern, der die im Kleinen Theater gespielte Übersetzung knapp - und negativ - kommentiert, wobei man annehmen darf, daß sein Urteil kaum auf der Kenntnis des englischen Originaltextes - der von Wilde betreuten Ausgabe von 1899 - beruht: Gespielt wurde recht flink, namentlich von den Damen Eysoldt und Hus, den Herren Waßmann und Arnold, aber wie schon die Übersetzung viel vom Geiste des Originals verwischt hat, so hat die Darstellung noch manches vergröbert, wodurch namentlich die Satire auf alle möglichen Verschrobenheiten der englischen Gesellschaft verloren ging. 64

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Es scheint außerdem zumindest an einer Stelle einen Versuch romantischer Ironie< im Sinne des >Aus-der-Rolle-Fallens< gegeben zu haben, wie Alfred Ken (als einziger Zeuge) berichtet: »Es ist romantische Ironie, wenn der Held eine Reisetasche vorzeigt, darin er vor x-Jahren auf dem Bahnhof Friedrichstraße ausgesetzt worden« (Der Tag, 19.11.1902; Hervorhebung R. K.). Eine solche vereinzelte kabarettistische Anspielung auf Lokales mußte in der Tat den Eindruck der »Parodie einer Parodie« (Eloesser) machen. - In der Buchausgabe seiner Kritik, die die Spuren des theatralischen Anlasses seiner Kritik tilgte, ließ Kerr aus dem obigen Satz das Wort »Friedrichstraße« weg (Kerr, Drama, S. 281). Vossische Zeitung, 16.11.1902.

Max Meyerfeld, der beste deutsche Wildekenner der Jahrhundertwende, war vielleicht der einzige Besucher der privaten Erstaufführung des Stückes, der ein fundiertes Urteil über den translatorischen Aspekt der Aufführung fallen konnte. Für unseren Zusammenhang ist besonders aufschlußreich, was er über die deutsche Erstaufführung von The Importance of Being Earnest schrieb. Sein Urteil fiel wesentlich härter aus als das der professionellen Theaterkritiker. Er schreibt, daß die Aufführung »jeden Kenner der englischen Bühne, speziell auch der wildischen Eigenart, mit Schaudern erfüllen mußte: so sehr hatte man sie verkotzebuet«. 65 Der Name Kotzebue soll hier wohl besonders die sprachliche und ästhetische Anspruchslosigkeit der Berliner Inszenierung brandmarken. Denn am Schluß desselben Essays wendet sich Meyerfeld noch einmal an die deutschen Übersetzer, die - abgesehen von der Sa/ome-Übersetzerin Hedwig Lachmann - generell nicht mit der gebotenen Sorgfalt arbeiteten: Den Herren Übersetzern [...] möchte ich in Kürze dieses einschärfen: Oscar Wilde ist ein glänzender und gelegentlich mit seinem Glanz prunkender Stilkünstler. Seine Essais - man glaube mir aufs Wort - sind wahre Kronjuwelen des Stils; seine Komödien enthalten den geschliffensten Dialog, die pointierteste Konversation, die England im Zeitalter der Viktoria gehört hat Man lese etwa eine Seite Sheridan neben der graziösen Beweglichkeit, der Boulevardanmut Oscar Wildes. Hier haben wir die reifste Blüte - ich habe gar nichts dagegen, wenn man es Faulbaumblüte nennt - englischer Wortgefechtskunst. Damit ist es nicht gethan, daß man diese geschälten, manchmal auch gequälten Apercus, diese funkelnden Antithesen und Spitzen etwa dem Inhalt nach richtig wiedergibt: sie müssen in der Form nicht minder brillieren; sie müssen ihre Floretteleganz bewahren; kein Wort darf da zu viel stehea Von heut auf morgen bewältigt man solche Aufgaben nicht.66 Wenn Meyerfeld, der ansonsten niemals ein Blatt vor den Mund nahm, den Βunbury-Übersetzer nicht beim Namen nannte, so vermutlich nur deshalb, weil der Theaterzettel bzw. das Programm der privaten Aufführung den Namen des Übersetzers ebenfalls verschwieg, oder - was wahrscheinlicher ist - weil es für die Privatvorstellung überhaupt kein Programm mit vollständigem Theaterzettel gab. 67

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Meyerfeld, »Wilde in Deutschland«, Sp. 460. Meyerfeld, »Wilde in Deutschland«, Sp. 461 f. Letzteres würde jedenfalls den eigenartigen Umstand erklären, weshalb in den Kritiken weder der Übersetzername noch - abgesehen von »John« - eme einzige Figur mit ihrem englischen Namen genannt wird. Den Kritikern war es wohl zu riskant, englische Namen wie »Algernon«, »Lady Bracknell«, »Miss Prism«, »Doktor Chasuble« usw. allein nach dem Gehör zu Papier zu bringen. Daraus läßt sich weiterhin schließen, daß zum Zeitpunkt der Aufführung noch kein Kritiker den englischen Originaltext gelesen hatte. 25

Meines Wissens ist keinem einzigen Theater-Dokument zu entnehmen, wer die deutsche Übersetzung für die Erstaufführung im Kleinen Theater herstellte. Selbst Huesmanns Recherchen sind in diesem Punkt erfolglos geblieben. 68 Es gibt jedoch einen eindeutigen Beweis dafür, daß es sich bei dem fraglichen Übersetzer nur um Felix Paul Greve handeln kann. Im ersten Jahrzehnt nach Wildes Tod teilten sich eine ganze Reihe von Verlagen und Übersetzern das einträgliche Geschäft der Wilde-Publikationen. Es kam aufgrund der unklaren rechtlichen Verhältnisse zu zahlreichen Mehrfachübersetzungen und konkurrierenden Ausgaben, wobei sich die Verlage Max Spohr in Leipzig, J. C. C. Bruns in Minden und der Inselverlag zunächst den Löwenanteil sichern konnten. Was die Komödien betrifft, so erschienen 1902 bei Max Spohr Lady Windermeres Fächer und Eine Frau ohne Bedeutung, 1903 folgten Ernst sein! und Ein idealer Gatte. Diese Übersetzungen - mit Ausnahme von Ernst sein!, das Teschenberg allein übersetzte - entstanden in Zusammenarbeit zwischen den beiden Übersetzern Isidore Leo Pavia und Hermann Freiherr von Teschenberg. Dem Verlag Max Spohr ging es bei seinem Engagement für Wilde weniger um ein literarisches, als vielmehr um ein sexuelles Interesse, wie Max Meyerfeld beklagt: Der Verlag Max Spohr in Leipzig hat sich des größten Teils seiner Schriften angenommen. Ich kenne den Verlag nicht, weiß nur, daß er aus der homosexuellen Litteratur eine Spezialität macht. Mußte man die Werke des armen Dichters mit all den psychopathologischen Studien in einen Käfig sperren? S. Fischer oder der Insel-Verlag wären doch eben für ihn gut genug gewesen. In London erschienen einst seine Dichtungen in Prachtausgaben [...]; müssen sie jetzt in der Fremde im Bettelgewand eines grünen Umschlags einhergehen?...69

Der zweite Verlag, der sich kurz nach der Jahrhundertwende um die Verbreitung der Wildeschen Werke bemühte, war der Verlag J. C. C. Bruns in Minden in Westfalen. Er hatte sich seit 1898 auf die moderne, antinaturalistische Literatur spezialisiert, die er in attraktiv gestalteten, kleinformatigen Büchern herausbrachte. Der Verlagsleiter Max Bruns, selbst Schriftsteller und Baudelaire-Übersetzer, stand dem jungen Rilke sowie George und seinem Kreis nahe. Ab 1901 veröffentlichte er die Werke Baudelaires und Poes in fünf bzw. zehn Bänden. Ab 1903 wurden dann Werke von und über Wilde ins Programm aufgenommen. Die einzige zeitgenössische Quelle, aus der hervorgeht, daß auch Bunbury 1903 bei Max Bruns publiziert wurde, ist eine Sammelrezension von Max

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Vgl. Huesmann, Reinhardt, Nr. 168. Meyerfeld, »Wilde in Deutschland«, Sp. 462. Vgl. zum folgenden Sarkowski, »J.C.C. Bruns«, S. 121-131.

Meyerfeld vom 15. Januar 1904. Darin werden drei Übersetzungen Greves folgendermaßen angezeigt: 3. Das Bildnis Dorian Grays. (The Picture of Dorian Gray.) Von Oscar Wilde. Deutsch von Felix Paul Greve. Minden i.W., J.C.C. Brans. 367 S. M. 3,50 (4,50). 4. Fingerzeige. (Intentions.) Von Oscar Wilde. Deutsch von Felix Paul Greve. Ebda. 268 S. M. 3,- (4,-). 5. Bunbury. (The Importance of being Earnest.) Eine Komödie von Oscar Wilde. Deutsch von Felix Paul Greve. Ebda.71 Auffällig ist dabei, daß für Bunbury kein Preis angegeben ist: Die Buchausgabe von 1903, von der in Deutschland heute nur noch ein einziges (!) Exemplar im Marbacher Literaturarchiv zu existieren scheint, durfte vielleicht aus Copyrightgründen nicht im normalen Buchhandel vertrieben werden. 72 Über die möglichen Hintergründe wird weiter unten zu sprechen sein. Wie schon der Unterschied der Titelgebung - Bunbury bei Greve, Ernst sein! bei Teschenberg - nahelegt, ist als Übersetzer der im Kleinen Theater gespielten Übersetzung von The Importance of Being Earnest in erster Linie an Felix Paul Greve zu denken. Daß diese Schlußfolgerung stimmt, geht zweifelsfrei aus einem Brief Greves vom 23. September 1902 an Friedrich Gundolf hervor: Darin fordert er Gundolf auf, sich die baldige Aufführung seiner Übersetzung(en) im Kleinen Theater in Berlin anzusehen. 73

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Meyerfeld, »Von und über Oscar Wilde«, Sp. 541. In Hänsel-Hohenhausens Bibliographie (Oscar-Wilde-Rezeption) wird als Erscheinungsjahr 1903 genannt. Danach folgt der - falsche - Vermerk: »Kein BN« (= Besitznachweis) (Nr. 153, S. 50). Carl Hagemann, selbst einer der frühesten Hausautoren bei J. C. C. Bruns, nennt das Buch in keinem seiner beiden 1904 bei Bruns erschienenen WildeBücher, weder in der umfangreichen Bibliographie seines Wilde-Brevier noch in Oscar Wilde. Studien zur modernen Weltliteratur. Auch in der 7 Seiten umfassenden WildeBibliographie seines Wilde-Buches von 1925 wird Greves ßuniuo'-Übersetzung nicht geführt. Im Vorwort dieser Bibliographie sagt er allerdings: »Der Plan des Verlages von J.C.C. Bruns in Minden, eine Gesamtausgabe der Wildeschen Werke in geschmackvollem und vornehmem Gewände [...] zu veranstalten, ist leider [...] nicht zur Ausführung gekommen« (Hagemann, Oscar Wilde. Sein Leben und sein Werk, S. 237). Vgl. Spettigue, FPG, S. 73. Spettigue hat allerdings nicht weiter recherchiert; er weiß nichts über die Bttrt¿>M7?-Aufführung im Kleinen Theater am 15. November 1902. In seiner Bibliographie der Greveschen Übersetzungen und Bearbeitungen vermerkt er: "Wilde, Oscar. Four plays perhaps produced in FPG's translation by the Berlin Little Theatre, October 1902" (S. 240). - Im George-Archiv der Stuttgarter Landesbibliothek befindet sich eine Kopie des fraglichen Briefes, worauf mich Frau Dr. Oelmann freundlicherweise hinwies. Die entscheidende Briefstelle lautet: »Sehr geehrter Hen Gundolf, [...]. Da Sie nach Berlin zurückgehen, darf ich Sie vielleicht auf das >Kleine 27

Felix Paul Greve (1879-1948), der von 1902 bis 1909 die unglaubliche Menge von rund 12 000 Seiten Literatur, vor allem aus dem Englischen und Französischen, übersetzte,74 ohne dabei finanziell je auf einen grünen Zweig zu kommen, verschwand 1909 unter Vortäuschung eines Selbstmordes aus Deutschland, um in Kanada mit neuem Namen und erfundenem Lebenslauf als »Frederick Philip Grave« ein neues Leben anzufangen. Erst 1971 stieß der kanadische Literaturwissenschaftler Douglas O. Spettigue auf das europäische Vorleben des kanadischen Schriftstellers »Grove«, das er in einer faszinierenden, wenn auch lückenhaften Biographie zu rekonstruieren versuchte. Für unseren Zusammenhang ist besonders das Jahr 1902 wichtig. Nach abgebrochenem Studium der Altphilologie in Bonn, bei dem Greve - aufgrund seiner kostspieligen Dandyallüren - weit über seine Verhältnisse gelebt, jedoch vielversprechende literarische Kontakte zur ästhetizistischen Avantgarde um George geknüpft hatte, gelang es ihm im Frühjahr 1902, bis dicht an den Georgekreis heranzukommen. Am 16. Mai 1902 kam es sogar zu einem, wie Spettigue schreibt, "fateful meeting" mit George: —fateful because it introduced Felix to translating for a living, that arduous vocation which was to be his principal employment for the rest of his life in Europe [...]. George's poetry was already attracting attention outside Germany; now an English edition was being prepared in a translation by an American girl [...]. Felix claimed to be fluent in English—would he care to examine the translation carefully for faults of style?75

In Wirklichkeit kann Greve zu diesem Zeitpunkt höchstens über sehr gute Schulkenntnisse im Englischen verfügt haben, da er vor seiner Flucht nach Kanada niemals längere Zeit in einem englischsprachigen Land gelebt hatte.76 Während seiner sechs Semester in Bonn besuchte er nur eine einzige Vorlesung in englischer Literatur (Byrons Leben und Werk).77 Greve fehlten von Anfang an die gründlichen sprachlichen und kulturellen Kenntnisse, die er in den

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TheaterOriginalBunburyaner< ist.

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Meyerfeld, »Wilde in Deutschland«, Sp. 460.

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Wilde, importance, S. 6.

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Greve, Bunbury, 1903, S. 6 (Original-Hervorhebung als Sperrung). 41

Zweitens entsteht die sprachliche Komik durch die pedantische Präzision der amtssprachlichen Wendungen ("up to the present", "in consequence of a misunderstanding"), die Lane für den knappen Bericht über sein bisheriges Eheleben benutzt und die in der juristisch-distanzierenden Bezeichnung "a young person" gipfelt: Lane subsumiert seine erste Ehefrau mit emotionsloser Beiläufigkeit unter den kleinsten gemeinsamen Nenner statistischer Abstraktion. Der Vergleich mit der deutschen Fassung Greves zeigt, daß dieser die Formulierungen des Wildeschen Lane stilistisch erheblich veränderte bzw. normalisierte. 1. Die Quantitätsverhältnisse geben einen Anhaltspunkt: Lanes Text ist um 10 % geschrumpft, von 41 Wörtern im Englischen auf 36 im Deutschen. Die quantitative Schrumpfung hängt mit stilistischen und semantischen Abschwächungen zusammen. Zum einen reduziert Greve "very little" zu einem schlichteren »wenig«. Zum andern bleiben die normalsprachlichen Ausdrücke »bisher« und »infolge« hinter der Elaboriertheit des Originals zurück. Schließlich dämpft Greve auch die unterkühlte Pointe der Passage, indem er aus Lanes "young person" eine weniger abstrakte und anonymisierte - konnotativ sogar eher positiv klingende - »junge Dame« macht. 2. Greve normalisiert die Passage auch durch semantische Substitutionen, die den Text im Deutschen kulturell vertrauter machen sollen: Die Eindeutschung von "sir" durch »gnädiger Herr« verleiht dem Text bzw. der in der ersten Szene des Stücks vorgeführten Herr-Diener-Beziehung eine gewisse persönlich gefärbte Gemütlichkeit, die an althergebrachte Feudalbeziehungen erinnert, wie sie in Nestroys und anderen Lustspielen des Wiener Volkstheaters zu den allbekannten Theater- und Komödienkonventionen gehören. Die englische Anrede ist dagegen - ebenso wie das französische «Monsieur» - lediglich eine respektvoll-distanzierte alltägliche Routinefloskel ohne jede weitere konnotative Färbung. 121 Greve macht aus der anonymen Routinefloskel des Englischen die implikationsreiche Unterwürfigkeitsformel standesgemäßer, hierarchisch geordneter Sozialbeziehungen. 3. Dies inseriert nicht nur einen störenden Archaismus in die Gegenwartssprache des Stücks, sondern evoziert auch ein >heilesLane< "to immortalize his displeasure" über den Verleger gleichen Namens (Ellmann, Wilde, Anm. S. 399). 1930 gab Arnold Zweig die Übersetzungen der Wiener Ausgabe von 1906/08 wieder heraus (Arnold Zweig, Hrsg., Oscar Wilde, Werke in zwei Bänden, Berlin 1930; die Komödientexte dieser Ausgabe werden in Zukunft zitiert als: Brieger, Lady, 1930; Greve, Frau, 1930; Neumann, Gatte, 1930; Greve, Bunbury, 1930). Arnold Zweig verstärkte durch zum Teil erhebliche stilistische Veränderungen die Normalisierangstendenzen Greves: LANE. [...] Ich bin erst einmal verheiratet gewesen, - und das infolge eines Mißverständnisses zwischen mir und einer jungen Dame (Greve, Bunbury, 1930, S. 395 f.; Hervorhebung R.K.). Die knappen Sätze drei und vier wurden dadurch miteinander verbunden, daß der Herausgeber einen Gedankenstrich und das Kohärenzsignal »und« hinzufügte: Wildes asyndetische Satzreihung wurde durch die explizite und - durch das Signal des Gedankenstrichs - auch intonatorisch-rhythmische Verknüpfung ersetzt. Der komische Dead-pan-Effekt des letzten Satzes wurde dadurch leicht gedämpft. Diese Änderung Zweigs hat darüberhinaus aber auch für Lanes Charakter und sein Zusammenspiel mit Algernon Folgen. Die Sprache des Wildeschen Lane ist ja nicht nur lexikalisch und phraseologisch, sondern auch im syntaktischen Bau der Sätze von unerschütterlicher Präzision und Nüchternheit, die in der ersten Szene des Stücks wirkungsvoll mit Algernons kommunikativem Überschwang kontrastiert. Algernon sucht Kontakt, plaudert geistreich ins Blaue hinein und genießt narzißtisch seine Pointen. Lane dagegen informiert, präzisiert, definiert mit sauertöpfischer Genauigkeit 43

2. Beispiel. Grevés Normalisierungstendenz richtet bei jenen Figuren des Stücks, deren Sprache im Englischen besonders exzentrisch ist, also vor allem bei Miss Prism und Lady Bracknell, den größten Schaden an. So wird Miss Prism bei Wilde sprachlich durch ihre halsbrecherische Metaphorik charakterisiert, in der eine verdrängte Libido katachretisch die dünne Schicht der Halbbildung durchbricht. Greve raubt ihren doppelbödigen Äußerungen die schönsten Pointen. Die folgende Stelle stammt aus Miss Prisms Gespräch mit Doktor Chasuble: Miss PRISM (Sententiously). [...] And you do not seem to realize, dear Doctor, that by persistently remaining single, a man converts himself into a permanent public temptation. Men should be more carefiil; this very celibacy leads weaker vessels astray.125

Miss PRISM (sentenziös). [...] Und Sie scheinen nicht zu bemerken, lieber Doktor, daß ein Mann, der hartnäckig allein bleibt, sich zu einer dauernden öffentlichen Versuchung macht Die Männer sollten vorsichtiger sein; eben die Ehelosigkeit führt schwächere Naturen in die Ine. 126

Greve verallgemeinert, normalisiert, entmetaphorisiert: 1. "single" (ledig, unverheiratet) wird zu »allein«, "celibacy" (Zölibat) zu »Ehelosigkeit« verallgemeinert. Miss Prisms Argumentation ist einerseits zwar eine allgemeine Attacke gegen sämtliche unverheirateten Männer - daher der typisierende Singular ("a man") bzw. Plural ("men") - , andererseits sind ihre Worte jedoch als indirekte Werbung ausschließlich an Pastor Chasuble gerichtet. Dies erhellt vor allem aus dem Gebrauch des kirchenrechtlichen Fachausdrucks celibacy, der zusammen mit den religiös konnotierten Wörtern convert und temptation eine Isotopiekette bildet. Durch die verallgemeinernde Übersetzung verliert Miss Prisms versteckte Werbung einiges von ihrer adressatenspezifischen Präzision.

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ohne die Spur eines kommunikativen Engagements gegenüber seinem Herrn oder gegenüber den angeschlagenen Themen. Bei dem Greve-Herausgeber Arnold Zweig wird Lanes perfektionistische Pedanterie ("That was in consequence of a misunderstanding...") im letzten Satz um eine Spur aufgeweicht: Der Gedankenstrich und der syndetische Anschluß der elliptischen Erläuterung (»- und das infolge eines Mißverstandnisses...«) suggerieren - zumindest als Intonationsangebot für den Leser oder Schauspieler - eine Andeutung von Spontaneität und emoüonaler Involviertheit. Dieser Eingriff des Herausgebers war eine konsequente Fortsetzung des Greveschen Konzeptes, das offensichtlich darin bestand, einen kohärenten, natürlich-klingenden Dialog herzustellen. Wilde, Importance, S. 50. Greve, Bunbury, 1903, S. 52.

2. Miss Prisms Behauptung, zwischen hartnäckiger Junggesellenschaft und erotischer Ausstrahlung bestehe eine fatale Kausalrelation ("by [...] remaining single"), ist bei Greve entschärft (»ein Mann, der [...]«)· Die Ursache-FolgeBeziehung der englischen Formulierung ist im Deutschen zu einem Relativsatz gelockert. Im Englischen formuliert Miss Prism den Kausalzwang explizit, im Deutschen tut sie es höchstens noch implizit. Durch die explizite Formulierung wird Pastor Chasuble mehr moralische Verantwortung dafür aufgebürdet, den gemeingefährlichen Zustand seiner Ehelosigkeit zu beenden. Die implizite Formulierung im Deutschen läßt ihm dagegen mehr Spielraum: Bei Greve lockert Miss Prism den argumentativen Druck. Dazu trägt auch bei, daß Miss Prism im Deutschen ohne den rhetorisch-alliterativen Nachdruck der englischen Formulierung ("persistently [...] permanent public") spricht. 3. Wildes Miss Prism läßt in der für sie symptomatischen Weise hinter ihrem religiös-bildungssprachlichen Wortschatz überraschend körperlich-erotische Konnotationen aufblitzen. Da man mit "a man converts himself into" normalerweise eine als positiv bewertete Veränderung signalisiert, wird das Wort temptation ambivalent: Das Verb convert into läßt es als etwas Erstrebenswertes erwarten, die religiöse Bedeutung von temptation dagegen konnotiert Sündiges und Teuflisches. Unter der frömmelnden Maske der Moral schmuggelt Miss Prism ihre Libido ins Ziel. Diese selbstverräterische sprachliche Charakterisierung Miss Prisms fehlt an dieser Stelle im Deutschen. Miss Prism ist damit im Deutschen nicht nur ihre strategisch eingesetzte Frömmelei und ihr charakteristischer Bildungsballast, sondern auch ihr darin verstricktes Unterbewußtsein geraubt worden. Zum andern ist auch ihr Sturmlauf gegen das freiwillige Zölibat des Pastors ohne die präzise Dringlichkeit des Originals. 3. Beispiel. Greves normalisierende Übersetzweise holt auch Lady Brackneil von den Gipfeln komischer Exzentrizität in die Grauzonen der Unauffalligkeit herunter. Da Lady Bracknell - als Personifizierung des Viktorianismus - eine besonders große und wichtige komische Rolle hat, wirkt sich Greves Normalisierungstendenz bei dieser Figur für das Stück insgesamt besonders nachteilig aus. An Dutzenden von Stellen verzichtet er auf die Wiedergabe der hyperbolischen Wendungen, mit denen Lady Brackneil ihre Reden mehr als doppelt und dreifach spickt, oder er ersetzt Lady Brackneils pompöse Rhetorik durch alltagssprachliche Floskeln. Bei dem folgenden Beispiel, das etwas genauer untersucht werden soll, handelt es sich um Lady Bracknells Reaktion auf Jacks Geständnis, er sei als Baby in einer Reisetasche gefunden worden.

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LADY BRACKNELL. [...] T o b e b o m , or

LADY BRACKNELL. [...] In einer R e i s e -

at any rate bred, in a hand-bag, whether it had handles or not, seems to me to display a contempt for the ordinary decencies of family life that reminds one of the worst excesses of the French Revolution. And I presume you know what that unfortunate movement led to? As for the particular locality in which the hand-bag was found, [...]. 127

tasche geboren oder mindestens aufgezogen zu werden, ob sie Griffe hatte oder nicht, das scheint mir auf eine Verachtung des gewöhnlichen Familienanstands zu deuten, die an die schlimmsten Ausschreitungen der französischen Revolution erinnert. Und ich denke, Sie wissen, wozu jene unglückliche Bewegung geführt hat. Was den besonderen Raum angeht, in dem die Reisetasche gefunden wurde, [...]. 128

1. Typische lexikalisch-semantische Abschwächungen sind die Wedergabe des moralisch stark konnotierten "ordinary decencies of family life" mit dem viel weniger gewichtigen »gewöhnlichen Familienanstands«; des implikationsreichen "I presume" mit dem beiläufigen »ich denke«; des (vor allem sprechrhythmisch) theatralischen "locality" (Schauplatz) mit »Raum«. 2. Die Reduktion betrifft vor allem die Satzlänge und den Sprechrhythmus von Lady Brackneil. Im Englischen hat sie im ersten Satz eine einzige, majestätisch ausladende Satzperiode (von 42 Wörtern), die syntaktisch bis zum Schluß durchgehalten wird. Im Deutschen setzt sie neu ein (»das scheint [...]«): Der Satz zerfällt in zwei kürzere Einheiten (von 15 und 20 Wörtern), wodurch ihre Sprechweise wesentlich spontan-sprachlicher und alltäglicher wird. Aus großer Rhetorik wird natürliche Kommunikation: stilistisch eine erhebliche Senkung des sprachlichen Registers. Lady Bracknells erhabener Stil ist zu einem schlichten Stil geworden, was für die stimmliche und gestische Realisierung der Rolle Konsequenzen haben dürfte. 3. Schließlich macht Greve aus Lady Bracknells inquisitorischem Fragesatz ("And I presume, you know [...]?") im Deutschen einen Aussagesatz (»Und ich denke, Sie wissen, [...]«), der, da er im Deutschen eher als monologische Randbemerkung formuliert ist, nicht nur einen flinkeren und weniger nachdrücklichen Sprechrhythmus suggeriert, sondern auch weniger autoritären Druck auf den Adressaten ausübt. Im Englischen handelt es sich um ein Verhör, im Deutschen nur noch um eine Ermahnung.

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Wilde, Importance, S. 31 f. (64 Wörter). Greve, Brnbury, 1903, S. 32 (57 Wörter).

Lady Bracknell hat damit im Deutschen viel von ihrer grotesken Überlebensgröße verloren. Die übersetzerische Normalisierung hat sie in die Alltäglichkeit realistischer Bühnenfiguren heruntergeholt. 129 4. Beispiel. Zum Schluß ein Beispiel für die Art, wie Greve auch im Fall von Situationskomik eine Sprechweise herstellt, die sich selbst dann noch an einer zielsprachlichen Vorstellung von unauffälliger Normalität ausrichtet, wenn die englische Spielvorlage überdeutlich ein Abrücken davon fordert. Es handelt sich um die wohl berühmteste Stelle des Stücks, wo Jack in Trauerkleidung auftritt, um scheinheilig den Tod seines >Bruders< zu verkünden: CHASUBLE. Dear Mr. Worthing, I trust this garb of woe does not betoken some terrible calamity? JACK. My brother. Miss PRISM. More shameful debts and extravagance? CHASUBLE. Still leading his life of pleasure? JACK (Shaking his head). Dead! CHASUBLE. Your brother Ernest dead? JACK. Quite dead. 130

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CHASUBLE. Lieber Mr. Worthing, ich hoffe, dieses Gewand des Schmerzes bedeutet nicht ein furchtbares Unglück? JACK. Meinen Bruder. Miss PRISM. Noch schmählichere Schulden und Verschwendung? CHASUBLE. Noch in einem Leben der Lust? JACK (schüttelt den Kopf). Tot! CHASUBLE. Ihr Bruder Ernst tot? JACK. Ja, tot. 131

Auch in dieser Passage ist der Vergleich mit den späteren Eingriffen des Herausgebers aufschlußreich. In Arnold Zweigs Ausgabe von 1930 finden sich folgende Textänderungen: LADY BRACKNELL. [...] In einer Reisetasche geboren oder mindestens aufgefunden zu werden, [...]. Ich denke, Sie wissen, [...] (Greve, Bunbury, 1930, S. 411).

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Die Absurdität der Vorstellung, Jack könne tatsächlich in einer Reisetasche geboren worden sein, wird im englischen Text durch Lady Bracknells (als Einschränkung formulierten!) Zusatz "or at any rate bred" noch einmal potenziert. Der Herausgeber Arnold Zweig hielt Lady Bracknells komische Unterstellung bei Greve, daß Jack »mindestens« in der Reisetasche »aufgezogen« worden sei, anscheinend für einen Druckfehler und ersetzte es durch »aufgefunden«. Statt einer grotesk-komischen Steigerung bietet der deutsche Text von 1930 einen kurzen Versprecher mit anschließender Selbstkorrektur: Lady Bracknells Sprechweise verliert die Dimension des Grotesken und wird den üblichen Konventionen kohärenter und realistischer Diskursgewohnheiten angepaßt. - Auch im Fall von Lady Brackneil setzt Arnold Zweig damit die von Greve eingeführten Normalisierungstendenzen konsequent fort. Auf die rhetorische Reduktion von "And I presume" über Greves »Und ich denke« zu Zweigs völlig beiläufigem »Ich denke« sei nur am Rande verwiesen. Wilde, Importance, S. 51. Greve, Bunbury, 1903, S. 52 f. 47

1. Greve bleibt erheblich hinter dem hohen Kanzelton Doktor Chasubles zurück, der hier mit seiner salbungsvollen, periphrastischen und euphemistischen Orchestrierung die Folie für Jacks heuchlerische Einsilbigkeit abgibt.132 2. Entscheidend ist hier die übersetzerische Inszenierung von Jacks elliptischen Repliken. Im Englischen sind diese syntaktisch nicht in die dialogische Umgebung eingebunden. Jack spielt die Rolle des von Schmerz überwältigten Bruders so perfekt, daß er nur das Nötigste sagt bzw. sagen >kannBeseitigung< seines Bruders aus. Bei Greve wird zum einen wieder die unkommunikativ-elliptische Form der Replik aufgebrochen und durch den Anschluß mit »Ja« ausdrücklich an den vorausgehenden Gesprächsschritt angehängt, zum andern entfällt Jacks komischer Selbstverrat: Jacks dritte Replik ist im Deutschen - statt einer komisch-dramatischen Steigerung - eine abgeschwächte Wiederholung der zweiten. Greve hat die bühnenwirksamen Kontraste des Dialogs eingeebnet, indem er - anscheinend orientiert an einer konventionellen Vorstellung von einem normal-realistischen, kohärenten Dialogverlauf - Jacks Wortkargheit >korrigiertMasse< zu sein. Greves biologistisch-naturalistischer Kunstbegriff ist dem individualistisch-anarchistischutopischen Wildes diametral entgegengesetzt. Nach Greve muß der Künstler mit einem Kernpunkt seines Werkes an die Heizen aller rühren, muß durch diesen einen Punkt gewissermaßen eine elektrische Leitung herstellen, die von einem zum andern führt und Nervenkontakte herstellt, so daß von nun an die ganze Masse als Masse reagiert: gemeinsam. Die letzten deutschen Dichter, die das vermochten, [...] hießen Hebbel und Hauptmann [...]. Wir kommen ins Theater von Pflichten, die mindestens ebenso wichtig sind wie die Kunst; ich kann die moderne Überschätzung der Kunst nicht teilen, so sehr ich mich selber in ihrem Dienste mühe.138 Greve versteht seinen Essay als Beitrag zur »intellektuellefn] Aufklärung, die heute mehr als je im Publikum nötig ist, um der lächerlichen Überschätzung der Kunst ein Ende zu machen«. 1 3 9 Greves Festhalten am naturalistischen Kunstkanon resultiert in der Ignorierung bzw. Abwertung der antinaturalistischen Ansätze bei Wilde. So lehnt er im selben Atemzug den Roman Dorian Grays Bildnis und die drei Gesell-

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Greve, »Drama«, S. 26. Greve, »Drama«, S. 27. Auch Spettigue hebt hervor, daß Greve - abgesehen von seinenfrühenneuromamischen Gedichten - in seinen Prosawerken dem Naturalismus verhaftet blieb (Spettigue, FPG, S. 77, 118, 149). Greve, »Drama«, S. 73 f. (Original-Hervorhebungen als Sperrung). Greve, »Drama«, S. 101.

schaftsdramen als »veraltet« ab. 140 Von Wildes dramatischen Werken läßt er nur Salome und die »Posse« Bunbury gelten. 141 Dies mag zunächst überraschen, wenn man bedenkt, daß Greve den Fuhrmann Henschel als den dramatischen Höhepunkt seiner Gegenwart beschrieb. Wenn man jedoch Greves Argumentation rekonstruiert, erkennt man, daß seine Wertschätzung von Salome und Bunbury nicht unbedingt ein Zeichen modernen kritischen Bewußtseins ist Die epochale Bedeutung der Sa/ome-Erstaufführung im Kleinen Theater im November 1902, die er - als Bunbury-Übcrsetzer - im Zuschauerraum selbst miterleben durfte, entging ihm jedenfalls. Es muß gesagt werden: Enthusiasmus, wie er der Ergriffenheit unfehlbar folgt, blieb aus. [...] Und dennoch fehlte es nicht an Beifall. Galt dieser Beifall Reinhardt allein? Ohne Frage galt er auch ihm, der dem Werte in glänzender Weise zu seinem Recht verholfen hatte; aber er war ein wenig zu demonstrativ, wenn ich so sagen darf, um nicht durch den Beobachter auch auf das Werte bezogen zu werden; es hatte gewirkt, aber was hatte an dem >Drama< gewirkt, wenn es nicht tragisch und nicht dramatisch gezündet hatte? Es war die Ballade. [...] Man ist versucht, sobald man mit strengen, kritischen Maßstäben kommt, gerade an diesem Werk des Autors, in dem er sich mehr denn je als Dichter zeigte, [...] Fehler nach Fehler zu finden, Einwand gegen Einwand gegen es zu erheben; aber alle Einwände schweigen, sobald man es als Ballade betrachtet, als das, was es

Greve fehlte es an der Sensibilität und der ästhetischen Begrifflichkeit, um in der symbolistisch-musikalischen Textgestaltung Wildes und der polyphon-stimmungsvollen Inszenierungskunst Reinhardts den antinaturalistischen Umbruch wahrzunehmen. Das Hantieren mit dramatischen »Fehlern« Wildes und die seitenlange, umständliche Interpretation der Salome als »Ballade« (S. 71-84) zeigen, daß Greve an einer positivistischen, handwerklich-technischen Gattungsästhetik festhielt, deren Grenzziehungen gerade durch den Einbruch der Moderne aufgehoben worden waren. 143 In dem hier besprochenen Essay, der in seinem theoretischen Niveau erheblich hinter der Avantgarde der Berliner Theaterkritik hinterherhinkt, schlägt Greve oft einen betont anti-Wildeschen Ton an, z. B. wenn er über die Aufgabe der Kunstkritik schreibt:

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Greve, »Drama«, S. 63. Ein Grund für die Ablehnung gerade dieser Werke dürfte allerdings auch Gides Wilde-Essay gewesen sein, den Greve gut kannte. Darüber wird im 3. Kapitel ausführlich berichtet werden. Greve, »Drama«, S. 64, 84. Greve, »Drama«, S. 71. Vgl. Andreotü, Struktur, S. 87.

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[...] je weniger die Persönlichkeit in der Kritik eine Rolle spielt, um so besser; je mehr die Erörterung rein sachlich gehalten wird, je mehr sie sich auf die rein technischen Dinge bezieht, um so wertvoller wird sie sein [...].'144 Es ist offenkundig, daß Greves positìvistisch-naturalistìsche Ästhetik seine Wilde-Übersetzungen beeinflußte und prägte. Dies läßt sich im Falle von Burtbury sogar noch genauer aus dem Essay belegen. Besonders interessant ist, wie er in seinem Essay die Komik des Stückes erläutert. Das »Wesentliche« sieht er darin, daß die ganze Handlung keinen Augenblick ernst genommen [ist]: der Zuschauer fühlt, daß der Autor sich über sie lustig macht, daß er sich über sie hinwegsetzt, indem er gewissermaßen sagt: Ich will euch zeigen, daß man es nur richtig anzufangen braucht, um auch ohne jede Handlung zu amüsieren. Dasselbe gilt von den auftretenden Personen: sie sind zwar leise nuanciert, aber doch sämtlich mit dem gleichen Übermut durchtränkt, der eben der Übermut des Autors ist. Von Lady Brackneil wird im Grunde nur gesagt, wer sie ist: aus ihren Reden ist es kaum zu entnehmen. Sie spricht Dinge, die im Munde eines Lord Henry genau so am Platze wären wie in dem einer Mrs. Allonby. Und ebenso geht es mit allen andern: selbst Miß Prism bleibt nicht von diesem paradoxen Anflug verschont [...] Der Grund, weshalb hier all die Dinge geistreich wirken, während sie in den andern Dramen [...] nur den Eindruck des Gezwungenen und Gesuchten machen, liegt eben darin, daß Wilde hier einmal gar nicht versucht, geistvoll zu reden: er hat eine Situation geschaffen; wahrscheinlich ist sie ihm zufällig unter die Feder gelaufen, und er wendet seinen ganzen Scharfsinn darauf, das rein Sachliche herauszuarbeiten: jede nur mögliche Komik aus den einmal gegebenen Umständen hervorzuholen.145 Aus dieser Interpretation geht hervor, daß Greve die Komik des Stückes hauptsächlich als Situationskomik auffaßte, daß er dagegen die Sprach- und Figurenkomik als eher nebensächlich veranschlagte. Von Wildes polyphoner Figurenkomik, die die inneren Widersprüche jeder Figur virtuos auf j e besondere Weise versprachlichte, läßt Greve nur gelten, die Personen seien zwar »leise nüanciert«, aber doch »sämtlich mit dem gleichen Übermut durchtränkt«. Im Falle von Lady Brackneil bestreitet er die individuelle Profilierung sogar völlig. Dieses Interpretationskonzept Greves deckt sich mit dem Ergebnis unserer Übersetzungsanalysen, die zeigten, wie Greve die individuelle Sprechweise der

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Greve, »Drama«, S. 100. Vgl. dagegen Wildes Essay The Critic as Artist (den Greve selbst 1903 als erster ins Deutsche übersetzt hatte!): "[...] it is only by intensifying his own personality that the critic can interpret the personality and work of others, and the more strongly his personality enters into the interpretation, the more real the interpretation becomes, the more satisfying, the more convincing, and the more true" (CW, S. 1033). Greve, »Drama«, S. 64 f.

verschiedenen Figuren weitgehend tilgte und vor allem die Exzentrizität Lady Brackneils einebnete. Noch in einer weiteren Hinsicht erschließt Greves Essay interessante Erkenntnisse über sein übersetzerisches Vorgehen. Greve berichtet ausführlich über die Erstaufführung der Salome im Kleinen Theater, die anschließende Premiere seiner eigenen Übersetzung von Bunbury erwähnt er mit keinem Wort. Dieses Schweigen ist, in Anbetracht des damaligen Mißerfolgs, psychologisch verständlich. Dennoch thematisiert auch Greve die naheliegende Frage, die den Ausgangspunkt unserer Überlegungen zu Beginn dieses Kapitels bildete, - weshalb Bunbury in Deutschland so schlecht >ankamwie zuvor noch kein Auditorium in einem Theater gelacht hatte, wo man das Werk eines englischen Komödiendichters aufführten Man lachte eben sich selbst zum Trotz und oft wider Willen: der beste Beweis für die zwingende Kraft dieses Stückes, das freilich mehr als jedes andre durch die Übersetzung verlieren muß, weil es uns im Deutschen an einer stereotypen Gesellschaftssprache völlig fehlt,146 Greve benennt im Schlußsatz das in der Tat kniffligste Übersetzungsproblem bei Wildes Gesellschaftsstücken: das Fehlen einer typischen Oberschichtsprache im Deutschen, wie sie im Englischen bereits an den Besonderheiten der sozial markierten Aussprache und Intonation zu erkennen ist. Insofern hat er recht, daß Wildes Gesellschaftsstücke - jedoch keineswegs nur Bunbury, wie Greve behauptet - im Deutschen die gesamte Dimension der ständigen sozialen Charakterisierung einbüßen müssen, wenn - so lautet die entscheidende Voraussetzung - die Übersetzung sich auf die schlichte Wiedergabe der rein lexikalischen und syntaktischen Textebene beschränkt. Greve beschränkt sich jedenfalls darauf, d. h., er verzichtet auf den Versuch, die soziale Markierung, die im Englischen per Intonation erfolgt, im Deutschen durch andere Mittel wiederzugeben. Greve benennt das Problem, ohne ein Lösungskonzept vorschlagen zu können. Wie ist diese Resignation bzw. ästhetische Blockierung zu erklären? Zwei Gründe seien hypothetisch angeführt. Einmal übersetzte Greve das Stück weniger als theatralische Spielvorlage, sondern doch eher als literarisch-dramatischen Lesetext für den Bruns-Verlag. Diese übersetzerische Aufgabenstellung mag darauf zurückzuführen sein, daß ihm die englische Buchausgabe des Stückes, die eine gewisse Autorität be-

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Greve, »Drama«, S. 66 f. (Hervorhebung R. K.).

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anspruchte, zur Übersetzung vorlag, wohingegen z.B. Blei/Zeiß' Bühnenbearbeitung unter wesentlich laxeren Bedingungen entstand. Greve verzichtete also deswegen auf die Wiedergabe bzw. Andeutung der hörbaren sozialen Markierung des englischen Textes, weil er seine Übersetzungsarbeit lediglich als »zwischensprachliche« Vermittlung (von Buch zu Buch bzw. von Leser zu Leser), nicht jedoch als »intersemiotische« Transformation (von Buch zu Bühne bzw. von Leser zu Schauspieler/Zuschauer) betrachtete.147 Der zweite Grund dürfte in den naturalistischen Normvorstellungen Greves zu suchen sein. Greves übersetzerische Kreativität war durch die Vorstellung eingeengt, daß die Sprachgebung eines Bühnenstücks in erster Linie mimetischrealistisch, also wahrscheinlich, natürlich, normal usw. zu sein habe. Für sein Verständnis des englischen Originaltextes bedeutete dies, daß er die Sprache des Stücks als - wenn auch parodistisch überzogene - Widerspiegelung der »stereotypen Gesellschaftssprache« Englands ansah.148 Darin steckt ein gewisses Maß an Wahrheit. Andererseits wird durch die Verabsolutierung dieses mimetischen Sprachverständnisses die Einsicht verhindert, daß Wilde die Sprechweise der gehobenen Gesellschaft nicht einfach - und schon gar nicht im Sinne deterministischer Milieuechtheit - kopierte, sondern daß seine Sprachgebung eine ästhetische Konstruktion ist - also das genaue Gegenteil von lebensweltlicher Mimesis. Der Essayist und Wilde-Interpret Greve leugnet die ästhetische Autonomie der im Bühnenstück vorgeführten Welt. Für den Übersetzer Greve ergibt sich daraus der reproduktiv-resignative Zirkelschluß: Da es im Deutschen keine »stereotype Gesellschaftssprache« gibt, müsse man das Stück in die im Deutschen vertraute Normalsprache übersetzen. Greve sieht nicht die Möglichkeit, daß die relativ autonome Kunstwelt von The Importance of Being Earnest im Deutschen auch produktiv rekonstruiert werden könnte, d. h., daß beispielsweise die schichtspezifische Intonation und Aussprache des Englischen, die im Deutschen nicht direkt nachzuvollziehen ist, eventuell durch lexikalische Mittel zu kompensieren gewesen wäre.

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Vgl. dazu Jakobson, »Übersetzung«, S. 483. Jakobson unterscheidet 1. die »innersprachliche Übersetzung oder Paraphrase«, 2. die »zwischensprachliche Übersetzung oder Übersetzung im eigenüichen Sinne«, 3. die »intersemioüsche Übersetzung oder Transmutation«: »eine Wiedergabe sprachlicher Zeichen durch Zeichen nichtsprachlicher Zeichensysteme« (ebd.). Das Problem der Bühnenübersetzung, das vor allem mit dem interlingualen und intersemioüschen Übersetzungstyp zu tun hat, wird im 2. Kapitel ausführlich behandelt. Greve, »Drama«, S. 67.

E. Ausblick auf die weitere Wirkung der Übersetzung Greves Die Übersetzungsanalyse dürfte gezeigt haben, daß zwischen Greves Übersetzung und der glanzlosen deutschen Erstaufführung des Stückes ein Zusammenhang bestand. Der junge Greve konnte wohl die flinke Diktion der Dialoge im Deutschen einigermaßen geschickt nachbilden, war aber nicht imstande, die individuelle Sprechweise der Figuren, die sozialen Konventionen der Sprechweise der gehobenen Gesellschaft und die breite Palette der Wildeschen Sprachkomik präzise zu erfassen. Darüber hinaus hinderten ihn seine naturalistischen Normvorstellungen daran, im Deutschen eine ästhetisch-stilisierte Sprachgebung anzustreben. Seine normalisierende Übersetzweise blieb weit hinter jener »Floretteleganz« zurück, die Max Meyerfeld in seiner Kritik an den frühen Komödienübersetzungen zu Recht einklagte.149 Das Stück The Importance of Being Earnest steht und fällt mit der Differenziertheit der sprachlichen Formgebung. W. H. Auden hat es bekanntlich als "pure verbal opera" 150 bezeichnet. In der Reaktion der Berliner Theaterkritik war niemals von Wildes sprachlicher Eleganz die Rede, dagegen immer nur von der Banalität der Handlung und der Marionettenhaftigkeit der Figuren. Die Ratlosigkeit der Theaterkritik spiegelte die der Inszenierung wider. Mit Tempo und übertrieben-karikierendem Spiel hatte die Truppe des Kleinen Theaters so gewaltsam wie vergeblich versucht, dem normalisierten Text Greves jenen komischen Schwung zu injizieren, den man aufgrund des Erfolgs des Stückes auf den englischen Bühnen darin vermuten mußte. Die Kritik wiederum konnte nur schlußfolgern, daß das eigenartige Stück irgendwie einem ganz spezifisch englischen Humor entsprechen müsse, der in Deutschland eben nicht ankomme. Um die abrupte Absetzung des Stückes vom Spielplan des Kleinen Theaters zu verstehen, benötigt man also nicht einmal unbedingt die Copyrighthypothese, so einleuchtend sie sein mag; die Absetzung könnte nämlich auch ausschließlich mit der negativen Resonanz zusammenhängen, auf die Stück und Inszenierung bei der Kritik gestoßen waren. Meyerfelds böses - und offensichtlich nicht allzu übertriebenes - Urteil, man habe Wilde »verkotzebuet«,151 erschien zwar erst zwei Monate nach der Aufführung im Druck, dürfte aber schon am Spätnachmittag des Premierensamstags beim Kritikerpublikum wie bei dem ehrgeizigen Ensemble des Kleinen Theaters die Runde gemacht haben, zumal der scharfzüngige Meyerfeld in Sachen Wilde als Experte ausgewiesen war und auf Gehör rechnen durfte.

149

Meyerfeld, »Wilde in Deutschland«, Sp. 462. Auden, »An Improbable Life«, S. 136. 151 Meyerfeld, »Wilde in Deutschland«, Sp. 460. 150

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Die Erstaufführung von Bunbury war nicht nur für Greve, sondern auch für das Stück selbst ein Debakel. Es dauerte mehrere Jahre, bis sich Bunbury von seinem Berliner Fehlstart erholte. Was jedoch dem Stück seit seiner Berliner Erstaufführung bis heute geblieben ist, ist der vermudich von Greve gewählte Name Bunbury, den schon bald auch alle Konkurrenzübersetzungen - zumindest im Untertitel - hinzufügten. Grevés ÄMWÄMO'-Übersetzung wurde in der Folgezeit zur konkurrenzlosen deutschen Leseübersetzung, zumal Teschenbergs vieraktige Buchausgabe nur noch einmal (1907) nachgedruckt wurde. Grevés Text dagegen erschien immer wieder in populären Gesamtausgaben, da die Werkausgabe des Wiener Verlags von 1908 in den Jahren 1918, 1922, 1930 und 1937 nachgedruckt bzw. neu aufgelegt wurde. Als erfolgreichste deutsche Lesefassung des dreiaktigen Textes wurde Grevés Text - wenn wir einmal von der 1961 in Reclams Universal-Bibliothek erschienenen »Übersetzung von Franz Blei« absehen152 - eigentlich erst 1971 durch Siegfried Schmitz' Neuübersetzung im Rahmen der dreibändigen Wilde-Ausgabe des Winkler Verlags abgelöst, wobei aber zu bemerken ist, daß der Übersetzer Siegfried Schmitz Grevés Text konsultierte. Auf der Bühne wurde Grevés Fassung selten und mit wenig Erfolg gespielt. Die Theaterkritiken, die im Januar 1918 anläßlich einer Inszenierung des Stückes durch Paul Kalbeck in den Münchener Kammerspielen erschienen, sind überwiegend negativ. Der Regisseur hatte versucht, die stilistische Unauffälligkeit des Greveschen Textes durch steifes Körperspiel und englischen Akzent zu kompensieren; die Inszenierung Kalbecks erhielt dadurch zwar eine gewisse konzeptionelle Geschlossenheit, ließ es aber an Eleganz und Individualisierung fehlen: In der Überspitzung des Süls verfiel er in groteske Karikatur, äußerlich daran kennbar, daß er unser geliebtes Deutsch mit englischem Anklang breit und zerkaut sprechen ließ [...]. Andererseits darf anerkannt werden, daß die Vorstellung einen merkwürdig geschlossenen Eindruck machte und als Ganzes wirkte [...]. [Alle Darsteller] erfüllten [...] ihre Rollen in dem egalisierenden Sinne der Spielleitung.154

Der Kritiker der Münchener Post geht mit Grevés Übersetzung noch strenger ins Gericht als knapp 16 Jahre zuvor Max Meyerfeld: Freilich geben die deutschen Übersetzungen und die deutschen Aufführungen einen falschen Eindruck von den - übrigens undichterischen! - Komödien 152 153

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Vgl. dazu Kapitel 6. Die Anregung zu dieser Inszenierungsweise ging vermutlich auf Richard Vallentins erfolgreiche Inszenierung des Stückes in Wien (1905) zurück, wovon das 5. Kapitel handeln wird. Georg Jacob Wolf, Augsburger Abendzeitung, 21.1.1918.

Wildes. Greve übersetzt den Bunbury statt ins Deutsch aus dem Ganz- ins Halbenglische. Dadurch entsteht eine plumpe Sprachkomik wie in den deutschen Operetten, in denen englische Girls reden. Die Aufgabe wäre vielmehr, in einem deutschen Ästhetenstil glitzernde Epigramme zu feilen. Sprechen nun, wie es in den Kammerspielen unter Kalbecks Leitung geschah, auch die Schauspieler in englischem Tonfall [...], so wird alles übel possenhaft, der Geist entschwindet und der unkünstlerische Rohstoff bleibt übrig. Wahrscheinlich aber lassen sich Wildes Komödien überhaupt nicht aus ihrer Heimat verpflanzen, ohne daß sie Art und Wert verlieren. 155 Ungerecht an dieser Kritik ist zwar die Behauptung, Greves Text sei eine Art »Halbenglisch«, denn sein Text ist - wie oben demonstriert wurde - insgesamt durch eine stilistisch unauffällige und glanzlose Sprachgebung gekennzeichnet. Gut gesehen ist jedoch, daß Wildes Komödien in einem besonderen »Ästhetenstil« wiedergegeben werden müßten, weil sonst nur der »Rohstoff« der Stücke übersetzt würde.

155

»K.E.«, Münchener Post, 21.1.1918 (Original-Hervorhebung als Sperrung). 57

2. Kapitel Übersetzung und Inszenierung: Abgrenzung des Untersuchungsbereichs, theoretische Prämissen, Methodologie D a ß zwischen Übersetzweise, Inszenierung und theaterkritischer Rezeption ein enger Zusammenhang positiver wie negativer Art bestehen kann, wurde im vorigen Kapitel am Kontrast der deutschen Erstaufführungen von Salome und Bunbury dargelegt. In den folgenden Kapiteln wird, da die jeweils gespielten Übersetzungen nicht erst langwierig identifiziert werden müssen, folgender Weg beschritten: Wir gehen von der Analyse der Übersetzungen aus und vergleichen die darin herrschenden konzeptionellen Tendenzen mit den Konzeptionen der Inszenierungen bzw. mit deren Reflex in den zeitgenössischen Theaterkritiken. Damit wenden wir uns zugleich der problematischen Frage zu, wie das Verhältnis zwischen Text und Theater zu modellieren ist: Ist die Beziehung zwischen Drama und Inszenierung - »logozentrisch« 1 - als Realisierung des im Dramentext angelegten Bedeutungspotentials oder aber als »Transmutation« 2 bzw. »Transformation« eines verbalen Ausgangstextes in ein semiotisch völlig andersartiges Zeichensystem zu sehen? 3

1 2 3

Vgl. Pavis, Dictionnaire, S. 391 (»Texte et Scène«). Jakobson, »Übersetzung«, S. 483. Fischer-Lichte spricht, ausgehend von Jakobsons Unterscheidung der drei Arten von Übersetzung, von der »Transformation des literarischen Textes des Dramas in den theatralischen Text der Aufführung« (Fischer-Lichte, Semiotik, Bd. 3, S. 34-54), wobei sie die drei »idealtypische[n] Modi« bzw. »Tendenzen« (S. 47) der »linearen«, »strukturellen« und »globalen Transformation« unterscheidet. Die »lineare« Transformation übersetzt die dramatischen »Dialoge sukzessive in theatralische Zeichen« (S. 45); die »strukturelle« Transformation geht »von komplexen Teilstrukturen wie Figur, Raum, Szene, Handlung« aus (S. 43), »die sie in spezifischer Weise zueinander in Beziehung setzt« (S. 45); die »globale« Transformation geht »vom Sinn des dramatischen Textes« aus (ebd.), der »im theatralischen Text auf eine Weise neu geschaffen werden [kann], daß seine einzelnen Elemente und Teiltexte eventuell nur unter großen Schwierigkeiten - oder auch gar nicht - zu einzelnen Elementen oder Teilstnikturen des literarischen Textes in Beziehung gesetzt werden können« (S. 46). Der aus der Übersetzungswissenschaft stammende Begriff der »Äquivalenz« scheint ihr daher für die Relation zwischen Drama und Aufführung wenig angemessen zu sein: »Sowohl das Drama als auch die Aufführung stellen jeweils ein Werk sui generis dar [...]« (S. 53; vgl. Fischer-Lichte, »Was ist eine >werkgetreue< Inszenierung?«, S. 37-49). Noch radikaler betont Lazarowicz die Eigenständigkeit des Theaters gegenüber dem Drama: »Die Aufführung ist kein >TextInszenierungsangebotReaktion< darauf modelliert.4

A. Abgrenzung des Untersuchungsbereichs: Die übersetzerische und theatralische Bunbury-Rezeption von 1902 bis 1939 als Schwerpunkt Angesichts der Vielzahl der Übersetzungen, Bearbeitungen und Inszenierungen5 ist es angebracht, den Untersuchungsbereich auf einen zu bewältigenden und ertragversprechenden Ausschnitt zu konzentrieren. Wenn ich mich im folgenden - wie schon im 1. Kapitel - vor allem auf die Untersuchung der Bunbury-Rezeption beschränke, dann hauptsächlich aus folgendem Grund. Wie aus den Übersichten im 9. Kapitel hervorgeht, ist die übersetzerische und theatralische Bunbury-Rezeption in Deutschland von Anfang an besonders disparat. Während die übrigen drei Stücke dreißig Jahre lang praktisch einzig in Pavia/Teschenbergs - wenn auch gekürzten und modifizierten - Übersetzungen gespielt und in den Fassungen Briegers, Grevés und Neumanns gelesen wurden, bestand bei Bunbury bereits in der ersten Rezeptionsphase ein Nebeneinander verschiedener Bühnenfassungen. Wir haben es also mit einer Situation zu tun, die dem Forscher ideale Bedingungen bietet, das Verhältnis zwischen konkurrierenden Übersetzungen/Bearbeitungen sowie den Zusammenhang zwischen den verschiedenen Texten und ihren jeweiligen Inszenierungen in vergleichenden Untersuchungen gleichzeitig stattfindender Rezeptionsprozesse zu analysieren. Die Beschränkung auf den Zeitraum von 1902 bis 1939 ist durch praktische Erwägungen bedingt. Ein großer Teil des Materials, das für die Fortsetzung dieser Rezeptionsuntersuchung für die Zeit nach 1945 unerläßlich wäre

4

5

»Einleitung« von: Lazarowicz/Balme (Hrsg.), Texte zur Theorie des Theaters, S. 27. Die >logozentrische< Gegenposition vertritt etwa Schmid, »Das dramatische Werk«: »Die [...] Ausschaltung der literarischen Texte aus der Theatertheorie und der Methodik der Analyse theatralischer Werke bedeutet eine bequeme, dem Erlebnis des Zuschauers aber nicht gerecht werdende Vereinfachung« (S. 22). Den griffigen Ausdruck »Inzenierungsangebot« übernehme ich von Fritz Paul; er spricht von »Übersetzweisen [...] und deren Folgen für das Drama als Text mit seinen impliziten Inszenierungsangeboten« (Paul, »Übersetzer-Inszenierungen«, S. 157). Vgl. die Zusammenstellung der Übersetzungen/Bearbeitungen und Inszenierungen in Kap. 9.

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- zum Beispiel Regiebücher, Schauspieler- und Übersetzerbiographien - , ist aus Copyright- oder anderen Gründen der Forschung noch nicht zugänglich. Dennoch werden in der vorliegenden Arbeit nicht erst im letzten Kapitel, sondern auch schon vorher bestimmte Interpretationslinien bis in die Gegenwart verfolgt. Für das frühe Nebeneinander mehrerer Übersetzungen und Bühnenfassungen von Wildes Stücken gibt es vor allem drei Gründe. Der erste ist die Unübersichtlichkeit der Copyrightverhältnisse, wovon schon im 1. Kapitel gelegentlich die Rede war. 6 So hatte Teschenbergs Übersetzung von The Importance of Being Earnest (in vier Akten), die 1903 unter dem Titel Ernst sein! als Buch erschien und den Bühnen gegenüber gleichzeitig als Bühnenmanuskript galt, zu Beginn eine Konkurrenz in Grevés Übersetzung der dreiaktigen Fassung; bereits 1905 kamen als weitere Varianten Richard Vallentins dreiaktige Überarbeitung des Teschenbergschen Textes und die Übersetzung/Bearbeitung von Blei/Zeiß hinzu. 1908 erschien in der zehnbändigen Wilde-Ausgabe des Wiener Verlags eine überarbeitete Fassung von Grevés Übersetzung, deren Aufführung jedoch im Impressum ausdrücklich untersagt war. Viele Inszenierungen des Stücks, die auf Teschenbergs Text bzw. der Vallentinschen Bearbeitung von Teschenbergs Text beruhten, nannten überhaupt keinen Übersetzer· oder Bearbeitemamen, vermutlich, um allen Copyrightproblemen aus dem Weg zu gehen. Die Rekonstruktion der Rezeptionsverhältnisse wird durch die Nicht-Nennung des Übersetzer- oder Bearbeitemamens auf den Theaterzetteln zwar erheblich erschwert, aber - zumindest für den Fall Bunbury und den Untersuchungszeitraum 1902 bis 1939 - nicht entscheidend behindert. 7 Ein zweiter Grund für das frühe Nebeneinander verschiedener Versionen gerade dieses Stücks besteht darin, daß die ersten drei deutschen Übersetzer bzw. Bearbeiter - Greve, Teschenberg, Blei/Zeiß - von drei unterschiedlichen 6

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Hagemann spricht in seinem Wilde-Buch von 1925 von den »ungeklärten rechtlichen Verhältnissen, die namentlich in den ersten Jahren nach dem Tode des Dichters geherrscht haben und zum Teil heute noch herrschen« (Hagemann, Oscar Wilde. Sein Leben und sein Werk, S. 237). Hagemann, dessen Wilde-Versionen ausnahmslos auf der Arbeit von Vorgängern beruhen, verschafft sich durch diese Aussage wohl auch eine Art Alibi. Auch bei Nichtnennung des Übersetzer- oder Bearbeitemamens auf den Theaterzetteln läßt sich - zumindest in den hier untersuchten Texten - die Provenienz der gespielten Übersetzungen fast immer eindeutig rekonstruieren, da sich z. B. die Namen der Figuren bei den verschiedenen Übersetzern oder Bearbeitern systematisch unterscheiden. So genügt in der Regel schon die Rollenbezeichnung >Lady Brancaster< (statt >Lady BracknellBrancasterdes< Originals ausgingen. Die ersten deutschen Versionen des Stücks unterscheiden sich infolgedessen stärker voneinander, als dies sonst bei Mehrfachübersetzungen ein und desselben Originaltextes der Fall zu sein pflegt. Die Unterschiede konnten sich in der Folgezeit noch dadurch weiterverzweigen, daß Teschenbergs vieraktige Textfassung von Vallentin und Blei/Zeiß auf jeweils unterschiedliche Art auf drei Akte verkürzt wurde. So beruhten die ersten vier deutschen Inszenierungen des Stücks in Berlin (1902), Hamburg (1904), Wien (1905) und Dresden (1906) auf vier grundverschiedenen Textfassungen. Der dritte Grund für die frühe Multiplikation der deutschen Bunbury-Versionen hängt mit der Doppelstruktur des literarischen Marktes zusammen, wie sie seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts fest institutionalisiert ist.8 Im Falle dramatischer Literatur ist dieser Markt bekanntlich aufgespalten in Buchverlage einerseits, die Lesetexte vervielfältigen und im Buchhandel vertreiben, und Theaterverlage andererseits, die Spieltexte für bestimmte Inszenierungen vervielfältigen und den Theatern verkaufen. Die institutionelle Aufspaltung bzw. Verdoppelung des literarisch-dramatischen Marktes - wie auch die der Autorenrechte (in Buch- und Aufführungsrechte) - ist letzten Endes bedingt durch das (vor allem seit dem 18. Jahrhundert stark ausgeprägte) Nebeneinander von Lesekultur und Theaterkultur, wobei diese lange Zeit von jener dominiert wurde. Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts hat sich das Theater wieder von der Vorherrschaft der Literatur freigekämpft,9 was sich - als Nebeneffekt - in der Institutionalisierung eines eigenen Marktes für Theatertexte äußert, wobei es allerdings auch Verlagshäuser gibt, die auf beiden Märkten tätig sind.10 Diese Doppelstruktur des literarischen Marktes hängt ursächlich mit dem Nebeneinander von Übersetzungen und Bearbeitungen bzw. Buchausgaben und Bühnenmanuskripten zusammen. Die Buchausgabe, aufwendiger gestaltet, dauerhafter gebunden, in Bibliotheken gesammelt und daher auch potentiell generationsübergreifend einflußreich, wendet sich primär an die allgemeine Leserschaft zum Zwecke der privaten und >autonomen< Lektüre. Das Bühnenmanuskript hat meist die Form eines preisgünstig vervielfältigten Schreibmaschinenmanuskripts und ist ausschließlich für den >heteronomenBühnentext< betrachtet, als sie ausnahmslos Posttexte eines Originals oder einer Vorlage und Prätexte von Aufführungen darstellen. Folgende Zusammenhänge werden also zu untersuchen sein: Englisches Original /Deutsche Vorlage ψ Übersetzung/Bearbeitung τ Inszenierung/Aufführung Die empirische Grundlage der Untersuchung der übersetzerischen und theatralischen Rezeption von Bunbury bilden also die auf der folgenden Seite aufgelisteten sechs verschiedenen deutschen Übersetzungen bzw. Bearbeitungen der Wildeschen Komödie, welche von 1902 bis 1939 in Buch- oder Manuskriptform hergestellt und jeweils mehreren Inszenierungen zugrundegelegt wurden, sowie die 26 Inszenierungen auf der Basis dieser Texte, welche in derselben Zeitspanne aufgeführt und in Theaterkritiken mehr oder weniger gut dokumentiert sind.11

11

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Im Falle Hagemanns werden wegen der Spärlichkeit der älteren Theaterkritiken zwei spätere Inszenierungen zum Vergleich herangezogen. - Die in der Tabelle angedeuteten horizontalen und vertikalen Zusammenhänge werden in den entsprechenden sechs Fallstudien (Kapitel 1, 4, 5, 6, 7, 8) ausführlich entwickelt.

Original

Dt. Vorlage

1899n

-

»1899«1S

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13

14

15

Inszenierung

Greve 1902 Üb

-

Greve 1903 Ub

-

Greve 1908 Üb

München 1918



Teschenberg 1903 Ub

Hamburg 1904 Düsseldorf 1907

Teschenberg

Vallentin 1905 Be

Wien 1905 Berlin 1906 Berlin 1920 Berlin 1929 Wien 1931 Berlin 1934

Teschenberg

Blei 1905 Be

München 1906

Blei

Blei/Zeiß 1906/1920 Be

Dresden 1906 Frankfurt 1913 München 1921 Hamburg 1926 Nürnberg 1927 Frankfurt 1931 Berlin 1937

Teschenberg/Vallentin

Hagemann 1907/1947 Be

Mannheim 1907 Hamburg 1912 Mannheim 1919 Wiesbaden 1953 Karlsruhe 1962

Teschenberg u. a.

Sander 1935 Be

Hamburg 1935 Wien 1938 Frankfurt 1939

ROSS13

»HTC«U

Übersetzung/Bearbeitung

-

Berlin 1902 -

1899 = Englische Erstausgabe des Stücks in drei Akten, die von Wilde selbst betreut wurde: The Importance of Being Earnest, A Trivial Comedy for Serious People by the Author of 'Lady Windermere's Fan', London 1899 (Smithers). ROSS = Teschenberg vermutlich von Robert Ross zugeschickte Version in vier Akten (Jackson, »Introduction«, S. XLHI). »WTC« - Bühnenmanuskript George Alexanders bzw. eine Abschrift davon (Jackson, »Introduction«, S. IX, XLHI). »1899« = Sander benutzte den Text 1899 oder einen späteren Nachdruck dieses Textes, wofür mehrere englische Ausgaben in Frage kommen, vor allem wohl die Werkausgabe, die Robert Ross 1908 beim Londoner Verlag Methuen herausgab. 63

Β. Zur Theorie der Bühnenübersetzung Wie lassen sich die Beziehungen zwischen Übersetzung und Inszenierung theoretisch bestimmen und historisch rekonstruieren? Diese interdisziplinären Fragen werden erst seit relativ kurzer Zeit von seiten der Übersetzungswissenschaft wie der Theaterwissenschaft gestellt. 16 Symptomatisch für die relative Neuheit des Themas ist die Tatsache, daß in der 1991 erschienenen umfangreichen und ausgezeichneten Sammlung von Texten zur Theorie des Theaters kein einziger Text über das Problem der Bühnenübersetzung enthalten ist. 17 Dennoch beginnt die Theorie der Bühnenübersetzung nicht beim Nullpunkt, sondern kann sich zunächst einmal als - um die interkulturelle Dimension zu erweiternden - Sonderfall jener theaterästhetischen Problemstellung verstehen,

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Der erste wichtige Sammelband war: Zuber (Hrsg.), The Languages of Theatre. - Einen eigenen Forschungsbericht kann ich mir hier ersparen, da Brigitte Schultze erst kürzlich einen Forschungsbericht (englische, französische, deutsche und slawische Forschung) über die theoretischen Probleme der Bühnenübersetzung vorgelegt hat: »Theorie der Dramenübersetzung«. Grundlegend ist auch die erste Bibliographie zu dem Thema: Paul/Schultze (Hrsg.), Probleme der Dramenübersetzung. - Von theaterwissenschaftlicher Seite aus liegen mehrere Veröffentlichungen über die Probleme der Inszenierung fremdkultureller Stücke vor, wobei die Probleme der Übersetzung »im eigentlichen Sinne« (Jakobson, »Übersetzung«, S. 483) aber meist nur am Rande berücksichtigt werden, z.B. Scolnicov/Holland (Hrsg.), The Play Out of Context; Fischer-Lichte/Riley/ Gissenwehrer (Hrsg.), The Dramatic Touch of Difference. Die bisher (1993) ausführlichsten theoretischen Erörterungen der Probleme der Bühnenübersetzung finden sich in mehreren Arbeiten von Patrice Pavis: Pavis, Semiotik; ders., »Du texte à la scène«; ders., Theatre at the Crossroads of Culture; vgl. auch den Artikel »Traduction Théâtrale« in: Pavis, Dictionnaire, S. 419-422. Hofmann, Redundanz und Äquivalenz, verharrt in seinem verdienstvollen Buch von 1980 bei einem konsequent übersetzungskritisch-textanalytischen Ansatz: Die Inszenierung und theatralische Rezeption wird nicht untersucht. Die bisher einzigen umfangreicheren Rezepüonsuntersuchungen, in denen die Analyse der Bühnenübersetzungen mit der Analyse der Aufführungspraxis verknüpft wird, stammen aus der Richtung der >ManipulationTranslation Studies< Lefeverescher Provenienz (vgl. oben S. 3, Anm. 4). Krügers Ansatz in Translating (for) the Theatre überschneidet sich, was die Bedeutung des >Gestus< betrifft, so stark mit dem - expliziteren - von Pavis, daß hier die Darstellung Pavis' zum Ausgangspunkt gewählt, Krugers Dissertation dagegen nur gelegentlich kommentiert wird. Heylens 1993 erschienenes Buch Six French >Hamleis< ist die bisher ertragreichste und überzeugendste Demonstration der zentralen Relevanz der >Translaüon Studies< für das weite Feld der >Cultural< bzw. >Intercultural Studiesc "It is fair to say that, without these translations, the history of French theatre would have been very different" (S. 139). Vgl. Lazarowicz/Balme (Hrsg.), Texte zur Theorie des Theaters. Dasselbe gilt für die von Rischbieter und Brauneck/Schneilin herausgegebenen Nachschlagewerke.

die nach den Beziehungen zwischen dem dramatischen Text und seiner szenischen Umsetzung fragt. 18

1 Der Weg v o m Text zur Aufführung Das seit Jan Mukaïovsky und Roman Ingarden verbreitetste Modell der Beziehung zwischen Text und Inszenierung unterscheidet auf der einen Seite das »Drama«, auf der anderen Seite das »Theater«: Wenn das Drama zum Bestandteil des Theaters wird, erhält es eine andere Funktion und eine andere Gestalt als wenn es nur als dichterisches Weik wahrgenommen wird [...]. Bei der >Verkörperung< des Dramas stellen Schauspieler und Regisseur in freier Entscheidung (oft auch gegen den Willen des Dramatikers) bestimmte Seiten des dichterischen Werkes in den Vordergrund, andere in den Hintergrund [...]. Der Dichter verfügt nur über das geschriebene Wort, der Schauspieler dagegen über die reiche Menge an stimmlichen, mimischen und anderen Mitteln. Es ist auch nicht möglich, daß er nur das wiedergibt, was der Text enthält: immer sehen wir auf der Bühne den ganzen Menschen, nicht nur das, was uns der Dichter von ihm zeigt [...].19 Mukaïovsky trifft hier eine scharfe Unterscheidung, die in der Theatersemiotik bis heute meist als grundlegend akzeptiert wird: Während der Dichter »nur über das geschriebene Wort« verfüge, stünden dem Theater alle sinnlichen Mittel der Körpersprache zur Verfügung. 20 Mukaïovsky skizziert hier etwa folgendes Modell einer asymmetrischen Beziehung zwischen einem unimedialen Text und einem plurimedialen Ereignis:

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Einen Forschungsüberblick und die wichtigsten theoretischen Texte bzw. Passagen bringen Lazarowicz/Balme (Hrsg.), Texte zur Theorie des Theaters, S. 355-400. Abgesehen von der bisher genannten Literatur sind vor allem noch folgende Bücher und Aufsätze über die Beziehung zwischen Dramentext und Inszenierung zu nennen: HessLüttich (Hrsg.), Multimedial Communication, Bd. 2; Bachmann, Theatertext im Bühnenraum; Hess-Lüttich/Posner (Hrsg.), Code-Wechsel; Fischer-Lichte, »Der dramatische Dialog«. Jan Mukaïovsky, »Zum heutigen Stand einer Theorie des Theaters (1940/41)«, zitiert nach Lazarowicz/Balme (Hrsg.), Texte zur Theorie des Theaters, S. 93 f. So zieht z.B. Fischer-Lichte ebenso wie Mukaïovsky eine klare Trennlinie zwischen literarischem und theatralischem Text: »Denn während der literarische Text ausschließlich aus sprachlichen Zeichen besteht, wird der Körpertext des Schauspielers mit Notwendigkeit zumindest aus gestischen, proxemischen und paralinguistischen Zeichen sowie den Zeichen der äußeren Erscheinung synthetisiert sein« (Fischer-Lichte, Semiotik, Bd. 3, S. 35). 65

Unimedialer Text τ Plurimediale Aufführung

Roman Ingarden hat dieses grundlegende Modell dadurch differenziert, daß er die wichtige Unterscheidung zwischen »Haupttext« und »Nebentext« einführte, deren im schriftlichen Dramentext (für den Leser) bestehende Koexistenz bei der Aufführung (für den Zuschauer) auf charakteristische Weise aufgehoben wird: Den Haupttext des Theaterstückes bilden die von den dargestellten Personen ausgesprochenen Worte, den Nebentext dagegen die vom Verfasser gegebenen Informationen für die Spielleitung. Bei der Aufführung des Werkes auf der Bühne fallen sie überhaupt fort und werden nur beim Lesen des Theaterstücks wirklich gelesen und üben ihre Darstellungsfunktion aus. Einen Grenzfall des literarischen Kunstwerks aber bildet das Theaterschauspiel insofern, als in ihm, neben der Sprache, ein anderes Darstellungsmittel vorhanden ist - nämlich die von den Schauspielern und den »Dekorationen« gelieferten und konkretisierten visuellen Ansichten, in denen die dargestellten Dinge und Personen sowie ihre Handlungen zur Erscheinung gebracht werden.21 Mukarovskys Modell des Übergangs vom Drama zum Theater wäre nach Ingarden demnach folgendermaßen weiter zu präzisieren:

Haupttext + Nebentext • Dialoge + Multimediale Zeichen 22

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Ingarden, Das literarische Kunstwerk, S. 403 (»Von den Funküonen der Sprache im Theaterschauspiel«). - Auf die Darstellung bzw. Besprechung der weiteren fruchtbaren Unterscheidungen Ingardens, ζ. B. zwischen den verschiedenen Funküonen der Sprache »auf der Bühne« bzw. »innerhalb der dargestellten Welt« (Darstellung, Ausdruck, Kommunikation, Beeinflussung) und den »Wirkungs« - Funküonen gegenüber dem Publikum möchte ich verzichten, da ich glaube, daß die Sprachhandlungstheorie mit ihrer Bestimmung des Sprachgebrauchs als »Mehrfachhandlung« oder »Mehrzweckhandlung« hier inzwischen differenziertere Analysemethoden entwickelt hat. Vgl. ζ. B. Polenz, Deutsche Satzsemantik. - Für den Übersetzer reduziert sich die Polyfunküonalität der Bühnensprache letzüich auf die Notwendigkeit, beim Übersetzen mehrere Dinge gleichzeiüg zu tun bzw. zu beachten. Zur Analyse von Übersetzungsproblemen unter dem Aspekt der Mehlfachhandlung vgl. Kohlmayer, »Sprachkomik«, S. 367-374. Vgl. auch S. 91, Anm. 95. Die Zweiteilung in Haupttext und multimediale Zeichen der Aufführung erfolgt hier nur aus Gründen der methodischen Gegenüberstellung. In Wirklichkeit gibt es bei der

Daraus würde sich für den hier unternommenen Versuch der historischen Rekonstruktion der Beziehung zwischen den beiden ästhetischen Fakten Übersetzung eines dramatischen Textes< und Inszenierung einer Übersetzung< in jedem Fall die Forderung ergeben, das multimediale Ereignis zu rekonstruieren: eine für die frühen Bunbury- Aufführungen anachronistische Aufgabe. Ohne auf das heikle Problem der Notationsmöglichkeit überhaupt eingehen zu müssen,23 wird man resignierend konstatieren, daß es post festum nie und nimmer adäquate oder gar multimediale Aufzeichnungen dieser historisch-ästhetischen Ereignisse geben kann. Die Beziehungen zwischen Text, Aufführung und Inszenierung lassen sich nur insoweit rekonstruieren, wie es die Quellen - in unserem Fall vor allem die Übersetzungen, Regiebücher und Theaterkritiken - ermöglichen. Bevor wir uns dem heuristischen Wert der Dokumente zuwenden, soll das Modell von Patrice Pavis, der die bisher expliziteste und umfassendste Theorie der Bühnenübersetzung24 vorgelegt hat, besprochen werden. Pavis' Theorie ist nicht historisch-deskriptiv, sondern idealtypisch-normativ. Er geht nicht von der Analyse historisch vorliegender Bühnenübersetzungen aus (was hier unternommen wird), sondern von der Darstellung idealtypischer Stationen, angefangen vom Originaltext bis zur Rezeption in der Zielkultur, wobei er anthropologische, kultursemiotische und freudianische Ansätze verbindet.25 In einer Art Basismodell stellt Pavis zunächst die fünf Etappen vom ausgangssprachlichen Original bis zur Rezeption des inszenierten Textes durch das Theaterpublikum dar. Dieser Weg verläuft typologisch vom Original (T°) über die Übersetzung (T1), dramaturgische Bearbeitung (T2), szenische Umsetzung (T3) bis zur Zuschauerrezeption (T4). Es handelt sich um eine Kette von Kon-

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Aufführung keine solche Dualität, sondern die verschiedenen verbalen, paraverbalen und nonverbalen Zeichensysteme wirken zusammen. Vgl. Fischer-Lichte, Semiotik, Bd. 3, S. 42. Vgl. Hess-Lüttich (Hrsg.), Multimedial Communication. Bd. I.; vgl. auch die notationsbezogenen Beiträge von Hess-Lüttich, van Kesteren, van Stapele in: Fischer-Lichte (Hrsg.), Das Drama und seine Inszenierung; eine gute Zusammenfassung der Probleme findet sich unter dem Artikel »Description« in: Pavis, Dictionnaire, S. 114-116. Lazarowicz/Balme (Hrsg.), Texte zur Theorie des Theaters, lassen das Problem außer acht. Vgl. zu Pavis auch Schultze, »Theorie der Dramenübersetzung«, S. 14f. - Bei Levys Ausführungen über »Die Übersetzung von Theaterstücken« (in seinem Buch Die literarische Übersetzung, S. 128-159) handelt es sich weniger um eine Theorie als um die Formulierung von »Leitvorstellungen des Dramenübersetzens« (Schultze, ebd., S. 12). Pavis' Theorie wird im folgenden mit deutschen, französischen und englischen Zitaten belegt; Auswahlkriterium für die Wahl der Sprache ist dabei die Klarheit der jeweiligen Formulierung, die in den verschiedenen Fassungen der Pavisschen Schriften erheblich variiert. (Im allgemeinen scheint mir Loren Krugers englische Übersetzung am transparentesten zu sein.)

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kretìsatìonen (translatorische, dramaturgische, inszenatorische, rezeptive Konkretisation), die jeweils in den kulturspezifischen Kontext der Produzenten bzw. Rezipienten eingebettet sind: Original • Übersetzung • Dramaturgische Bearbeitung • Inszenierung τ

Zuschauer-Rezeption

Für die historische Rekonstruktion der übersetzerischen und theatralischen Rezeption, um die es hier geht, wäre es demnach notwendig, nicht nur das ungeheuer komplexe Ereignis bzw. die Ereignisse der Inszenierung zu rekonstruieren, sondern auch die Rezeptionsprozesse der Zuschauer:26 ein angesichts der Quellenlage hoffnungsloses Unterfangen.27 Pavis' Theorie enthält jedoch Überlegungen, die auch für die retrospektivhistorische Betrachtung fundamental und fruchtbar sind. Dazu gehört vor allem die polyfunktionale Sicht der Arbeit des Bühnenübersetzers, wodurch die Verkettung von Übersetzung und Inszenierung greifbar wird. Die besonderen Beziehungen zwischen Übersetzung und Inszenierung bestehen nach Pavis darin, daß der Bühnenübersetzer sämtliche Stationen der Umsetzung sozusagen in Personalunion vereinigt: «Il n'est pas exagéré de dire que la traduction est en même temps une analyse dramaturgique (T1-!"2), une mise en scène (T3) et une

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Die «énonciation scénique [...] «baigne» dans le public, la culture-cible, lesquels vérifient immédiatement si le texte passe ou non!», schreibt Pavis über die Rezeption der Inszenierung (Dictionnaire, S. 420). Es ist bezeichnend für die methodologische Bedenklichkeit von Krugers Rezeptionsuntersuchung, daß sie ihre These, "the Laughton version as a translation of Brecht's play on Galileo can be seen to be directly or indirectly determined [JI'C/] by the social as well as immediately theatrical context of its representation" (Kruger, Translating (for) the Theatre, S. 83), nur durch minimale und höchst selektive Zitate der "audience response" belegt. Dahinter steckt im Grunde die paradoxe Prämisse, daß literarische Produktion nichts als eine Reproduktion ist. Wenn man »determined« durch »motivated« oder »influenced« ersetzt, verliert die Rezeptionstheorie zwar an Stringenz, wird aber offen für die Erfassung der empirischen Vielfalt der tatsächlichen Produktionsund Rezeptionsprozesse, deren Ergebnisse - trotz aller Anpassungs- und Steuerungsversuche - niemals präzise vorhersagbar sind.

adresse au public (T4) [,..].»28 Die Übersetzung ist nach Pavis also eine Art «mise en scène», eine im Kopf des Übersetzers vor(weg)genommene Inszenierung.29 Da die Übersetzung sich bei diesem polyfunktionalen Prozeß das Original bzw. die ursprüngliche Aussagesituation »angeeignet« hat,30 bezeichnet Pavis die Bühnenübersetzung als »einen Kompromiß zwischen ursprünglicher und angestrebter Aussagesituation [...], der zur Quelle stets ein wenig und zum Ziel sehr stark hinüberschielt«.31 Da nach Pavis' Modell im Übersetzungsie» die späteren Konkretisationen zumindest andeutungsweise bzw. potentiell enthalten sind, dürfte es sich auf jeden Fall auch für eine historisch-deskriptiv orientierte Untersuchung lohnen, danach zu fragen, welche Spuren die einem Übersetzungstext eingeschriebene übersetzerische Inszenierung bzw. »das in einen Text eingeschriebene theatralische Potential«32 in den tatsächlich erfolgten Inszenierungen hinterlassen hat. Pavis erweitert und verfeinert dieses Basismodell der fünf Stationen vom Original zur Rezeption in der Zielkultur durch ein zweites Modell, das anthropologische, psychoanalytische, kultursemiotische und linguistische Überlegungen hypothetisch verbindet. Dabei geht es einmal um die Genese des verbalen Textes aus einer »präverbalen« Situation, zum andern um das - interkulturell wichtige - Problem der Kulturgeprägtheit der »Körper-Sprache«. a. Pavis entwirft ein genetisches, psycho-physisches Modell für die Entstehung des dramatischen Textes in der Ausgangssprache und -kultur und für dessen Übersetzung in eine Zielsprache und -kultur. Die Genese eines dramatischen Textes beginnt demnach in einem unbewußten, präverbalen, präkulturellen,

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Pavis, Dictionnaire, S. 421. "[...] we shall give more credit to the [...] thesis, proposed by Vitez, Lassalle and Regnault, for example, who see translation as an operation which predetermines the mise en scène, or even is a kind of mise en scène" (Pavis, Theatre at the Crossroads, S. 146). »Wie Loren Kruger gut gezeigt hat, bedeutet Übersetzen nicht die Suche nach der semantischen Äquivalenz zweier Texte, sondern die Aneignung eines Ausgangstextes durch einen Zieltext« (Pavis, Semiotik, S. 110). - Kruger verwendet den Ausdruck »appropriation« in gezieltem Gegensatz zu Gadamers Begriff der »Auslegung« und als (quasi >materialistischeIdeologeme< der Ausgangskultur könne »letztlich zum Verzicht auf deren Lesbarkeit« führen.39 Das zweite Extrem, die normalisierende An-

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von unserem Hauptthema zu weit abführen, wollten wir da auf Einzelheiten eingehen. Es ist im Grunde ein weites Feld sprachlicher Erscheinungen, die da untersucht werden müßten« (Das literarische Kunstwerk, S. 415). Pavis, Semiotik, S. 125. Das Brecht-Zitat, das bei Pavis unvollständig abgedruckt ist, bildet den Ausgangspunkt von Knigers Dissertation und bezieht sich dort zunächst einmal auf die besonderen Übersetzungsschwierigkeiten, die sich bei der Herstellung der amerikanischen Fassung des Galileo in Zusammenarbeit mit dem Schauspieler Charles Laughton, der ja die Hauptrolle spielen sollte, ergaben (Kruger, Translating, S. 5): »Der mißliche Umstand, daß der eine Übersetzer kein Deutsch und der andere nur wenig Englisch wußte, erzwang [...] von Anfang an ein Theaterspielen als Methode der Übersetzung. Wir waren gezwungen zu machen, was sprachlich besser bewanderte Übersetzer ja ebenfalls machen sollten: Gesten übersetzen. Die Sprache ist nämlich da theatralisch, wo sie vornehmlich das Verhalten der Sprechenden zueinander ausdrückt« (Bertolt Brecht, Gesammelte Werke, Frankfurt 1967, Bd. 17, S. 1120). Pavis, Semiotik, S. 129. Pavis, Semiotik, S. 130. In einer Anmerkung fügt er erläuternd hinzu: »Dieses Beibehaltenwollen der Ausgangskultur um jeden Preis ist übrigens von vornherein zum Scheitern verurteilt, da der französische Text sofort eine ganze Reihe von an die französische Kultur gebundenen Konnotationen auslöst. Man muß vielmehr, falls das möglich ist, eine Adaptation der kulturellen Konnotationen des Ausgangstextes vornehmen,

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gleichung an die Zielkultur, könne »eine herablassende Haltung gegenüber dem Text und der Ausgangskultur zu erkennen geben«. 40 Die Kompromißlösung bestehe im Versuch der Vereinfachung und »Universalisierung«, die jedoch selbst wieder Gefahr laufe, eine Verarmung, »eine ideologische und technokratische Gleichschaltung« zu bewirken, vor allem wenn es um die Übersetzung stark kulturgebundener mythischer Texte gehe. 41 Einen Ausweg biete die »intergestische Übersetzung«, die nun aber nicht mehr vom Übersetzer stamme, sondern die vom Regisseur - Pavis bezieht sich besonders auf Peter Brook, der seit Jahren mit betont multikulturellen Besetzungen arbeitet - als für die Bühne geltender, potentiell universaler Code geschaffen werde - als »Rückkehr zum Religiösen, Mystischen und, im Theater, zum Rituellen und Zeremoniellen«. 4 2 Der für den vorliegenden Zusammenhang der Beziehung zwischen Übersetzung und Inszenierung entscheidende Gedanke Pavis' dürfte sein, daß dem übersetzten Bühnentext eine partielle mise en scène, eine bestimmte prosodische, rhythmische, gestische Inszenierung eingeschrieben ist. Der übersetzte Bühnentext ist das Resultat eines imaginierten - in der Imagination des Übersetzers durchgeführten - Inszenierungsprozesses, ohne daß damit - so muß man Pavis und Kruger, die gelegentlich zu deterministisch denken, 43 ergänzen - die spätere Inszenierung an die Verwirklichung gerade dieses impliziten mimisch-gestisch-aktionalen Körper-Textes gebunden wäre. Die Bühnenübersetzung enthält aber in jedem Fall einen mehr oder weniger latenten oder manifesten Inszenierungsvorschlag, der angenommen, abgelehnt, modifiziert, aber

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so z. B. die Codes bestimmter stereotyper Gesten in beiden Kulturen [...] kennen [...].« Unter >Ideologemen< verstehe ich in dieser Arbeit - in Verkürzung der Ausführungen von Pavis (Semiotik, S. 81 ff.) - ideologisch besonders relevante Kernbegriffe und -aussagen, die die metonymische Fähigkeit haben, ideologische Positionen eindeutig zu konnotieren. Pavis, Semiotik, S. 131. Pavis bezieht sich dabei auf die Übersetzung des indischen Epos Mahabharata ins Französische. Pavis formulien hier viel zu normativ. Kann denn die völlige Angleichung eines Textes an die Zielkultur nicht ebenso sehr eine herablassende Haltung gegenüber den ZiW/exf-Konsumenten ausdrücken, denen man keine Lernprozesse zutraut? Vgl. dazu Kohlmayer, »Literaturübersetzer«. Pavis, Semiotik, S. 133. Pavis, Semiotik, S. 140. So behauptet Pavis zum Beispiel, daß die Übersetzung von »tüchüge Gesellschaft« in Botho Strauß' Park durch «société efficace» durch den Übersetzer Claude Porcell »die Inszenierung einer hyper- oder postmodemen, der Elektronik und der bürokratischen Kälte und Tüchtigkeit verschriebenen Gesellschaft zur Folge hatte« (Semiotik, S. 118 f.; Hervorhebung R. K.). Kruger übersetzt die Stelle ebenso deterministisch: "the translation [...] leads in the French version to a mise en scène of a hyper- or postmodern society" (Pavis, Theatre at the Crossroads, S. 147).

nicht ignoriert werden kann. 44 Mit anderen Worten: Die Bühnenübersetzung enthält oder ist ein »Inszenierungsangebot«, und sei es auch nur für das Kopftheater des Lesers. Daß der Übersetzungstext ein Inszenierungsangebot enthält, ist die entscheidende Voraussetzung unseres Vorgehens, die im folgenden - indem wir Pavis' psychologisierende Argumentation durch textbezogene Überlegungen zu ergänzen versuchen - auch von der sprachwissenschaftlichen Seite her fundiert werden soll. Auf die heuristische Frage »Aufgrund welcher Gegebenheiten kann man einem geschriebenen dramatischen Text bzw. einem übersetzten Bühnentext die Eigenschaft zuschreiben, ein konkretes Inszenierungsangebot zu enthalten?« gibt es einige wohlbegründete Antworten, deren gemeinsame Basis in der Anreicherung des - vom Strukturalismus vernachlässigten - Textbegriffs besteht:45 Demnach ist ein Text nicht auf das zu beschränken, was er verbal an der Oberfläche ausdrückt, sondern er umfaßt auch den Bereich der Implikationen im weitesten Sinn. Die neuere Sprachwissenschaft bietet hierzu vor allem zwei fruchtbare Ansätze, die den Textbegriff erstens um die pragmatischsozialwissenschaftlich-ideologische und zweitens um die körpersprachlich-materielle Dimension erweitem.

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Wenn ich von »der« einem Text eingeschriebenen Inszenierung spreche, so meine ich damit immer ein bestimmtes Inszenierungspotential bzw. ein bestimmtes Inszenierungsangebot. Die von Brigitte Schultze aufgeworfene Frage, ob »eine Dramenübersetzung - und entsprechend ein der Veranschaulichung dienendes Modell - auf eine einzige, bestimmte Inszenierung oder aber auf eine Vielzahl szenischer Realisierungen abzielen sollte« (»Theorie der Dramenübersetzung«, S. 10), enthält meiner Meinung nach eine >idealistische< Anüthese, die in der Übersetzungs- und Theaterpraxis verschwindet; denn selbst wenn - was Pavis favorisiert (ebd.) - einem Bühnentext tatsächlich vom Übersetzer oder Bearbeiter eine ganz bestimmte Inszenierung eingeschrieben ist, so stellt dieser Text der Bühne gegenüber faktisch doch nur ein Inszenierungsangebot dar, das verschiedene (aber nicht beliebige) Reaktionen des Theaters hervorrufen kann. Selbst wenn also - wie im 5. und 7. Kapitel gezeigt wird - dasselbe Regiebuch mehrmals nachgespielt bzw. benutzt wird, so zeigen die Inszenierungen dennoch nicht nur charakteristische Gemeinsamkeiten, sondern auch Unterschiede. Einen gründlichen Überblick über den poststrukturalistischen Textbegriff der gegenwärtigen Sprachwissenschaft gibt Busse, Textinterpretation. Im Grunde geht es dabei um eine Weiterentwicklung und m. E. Präzisierung der Theorie der »Unbestimmtheitsstellen«, die Ingarden im literarischen Kunstwerk postuliert, und deren Ausfüllung die Konkretisation des literarischen Werkes beim Lektüreerlebnis konstituiert (Das literarische Kunstwerk, S. 353 ff.). Die poststrukturalistische Sprachwissenschaft >entdeckteLücken< hat und auf bestimmte Ergänzungen durch den Hörer oder Leser angewiesen ist. 73

Erstens: In der Textinterpretation philosophisch-pragmatischer,46 kasusgrammatischer47 und satzsemantischer48 Provenienz wird die Frage thematisiert, inwieweit ein Text über das syntaktisch Ausgedrückte hinaus semantische und pragmatische Ergänzungen voraussetzt bzw. suggeriert: Zeichen und Texte sind - dies ist der Tenor der Ausweitung des sprachwissenschaftlich-strukturalistischen zu einem sozial- und kulturwissenschaftlichen Textbegriff - immer in kulturspezifische >SprachspielePraküsche Semantik< bezeichnet (vgl. ζ. B. Heringer u.a., Praktische Semantik) ist die Kritik des späten Wittgenstein an der traditionellen »Wortbedeutung« im Sinne »einer Form von >substantiell< gehabtem, wie in einem Topf >aufbewahrtem< Wissen. Vielmehr ist das Wissen von der Bedeutung der Zeichen das Wissen von der Möglichkeit ihrer Verwendung« (Busse, Textinterpretation, S. 122). Zum Text gehört folglich nicht nur die Summe der textualisierten Zeichen, sondern auch das Vorwissen der Leser über die Verwendungsweise der Zeichen im jeweiligen >Diskurs< oder >SprachspielStil< also darin, einem Text nicht nur eine verbal vermittelte Botschaft, sondern auch deren spezifische para- und nonverbale Einbettung einzuschreiben, was voraussetzt, daß auch auf der Rezipientenseite eine Fähigkeit zum psychophysischen Lesen - »das dritte Ohr« - ausgebildet ist, woran es laut Nietzsche in Deutschland gebricht: - Welche Marter sind deutsch geschriebene Bücher für den, der das dritte Ohr hat! Wie unwillig steht er neben dem langsam sich drehenden Sumpfe von Klängen ohne Klang, von Rhythmen ohne Tanz, welcher bei Deutschen ein »Buch« genannt wird! Und gar der Deutsche, der Bücher liest! Wie faul, wie widerwillig, wie schlecht liest er! Wie viele Deutsche wissen es und fordern es von sich zu wissen, daß Kunst in jedem guten Satze steckt - Kunst, die erraten sein will, sofern der Satz verstanden sein will! Ein Mißverständnis über sein Tempo zum Beispiel: und der Satz selbst ist mißverstanden! Daß man über die rhythmisch entscheidenden Silben nicht im Zweifel sein darf, daß man die Brechung der

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Setzung wohl ergiebigsten Veröffentlichungen genannt: Ong, Orality and Literacy, Koch/Oesterreicher, »Sprache der Nähe«; Ludwig, »Mündlichkeit und Schriftlichkeit«; Hervey, »Discrepancies«. Gauger, »Nietzsches Auffassung vom Stil«; ders., »>Schreibe, wie du redest!«verbal< zu entziffern ist, sondern daß er auch ein para- und non-verbales Handeln und Ausdrucksverhalten enthält bzw. evoziert, allerdings unter der Voraussetzung, daß der Leser über das erforderliche Sprachwissen verfügt. Im Prinzip ist jedoch die paralinguistische Lektüre durch das konventionell erwartbare Sprachwissen nicht weniger abgesichert als das Verstehen der sonstigen sprachlichen Zeichen; die körpersprachlich-materielle Seite des Textverstehens ist - im Sinne einer stereotypen Erwartung - ebenso im Text impliziert wie das sonstige Hintergrundswissen. Sprachkompetenz ist immer auch para- und nonverbale Kompetenz, wie Hjelmslev und, ihm folgend, Coseriu betonen. 59 Dramatische Texte sind per se auf Mündlichkeit und Aufführung angelegt, auch wenn sich letztere in Einzelfällen auf die Imagination bzw. das >Kopftheater< des Lesers beschränken müßte. Mündlichkeit ist bei dramatischen

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Die Sprachwissenschaft hat sich - im Banne des de Saussureschen Paradigmas - kaum um das Zusammenwirken von Lautsprache und Körpersprache bemüht, wie Coseriu feststellt: »Meines Wissens gibt es [...] bisher nur eine wichtigere Arbeit, die das Problem der außersprachlichen Mittel in der Rede in allgemeiner Form stellt. Es ist die auf holländisch erschienene Arbeit >Extralinguale elementen in de spraak< ^Außersprachliche Elemente in der RedeMündlichkeit< und >SchriftlichkeitKopftheater< des Lesers oder potentiellen Übersetzers nicht etwa das völlige Fehlen jedes nichtsprachlichen Verhaltens, sondern eine bestimmte Art stilisierten Sprechens, das mit einem ebenso bestimmten - entsprechend dem Weltwissen des Lesers hinzugedachten bzw. als dazugehörig interpretierten - para- und nonverbalen Verhalten verbunden ist.

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Vgl. Koch/Oesterreicher, »Sprache der Nähe«, S. 18 f. Hervey, »Discrepancies«, S. 27); vgl. auch Hervey/Higgins, Thinking Translation, S. 135 ff. Hervey, »Discrepancies«, S. 28). Da ich mich Herveys funktionaler und gattungsbezogener Unterscheidung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit anschließe, bin ich hier anderer Ansicht als Fischer-Lichte, die in Hofmannsthals Jugenddrama Der Tod des Tizian (1892) eine »extreme Spannung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit«, in Hauptmanns Die Ratten (1911) dagegen die »Simulation [...] direkter Kommunikaüon« diagnostiziert (Fischer-Lichte, »Der dramatische Dialog«, S. 30,34). Unter dem Aspekt der Gattung (Drama) und Funktion

Wenn aber durch die sprachstilistische Formulierung eines dramatischen Textes eine bestimmte para- oder gar nonverbale Realisierung des Dialogs konventionell suggeriert werden kann - unabhängig von irgendwelchen expliziten Regieanweisungen im Nebentext - , so ist die von Mukarovsky behauptete (letzten Endes Saussuresche) Dichotomie von >unimedialem< Dramentext und >multimedialem< theatralem Text doch erheblich aufgeweicht: Der scheinbar unimediale Dramentext birgt implizit eine para- und nonverbale Dimension in sich, die mitverstanden werden muß, da bei der Lektüre ζ. B. häufig weder die Thema-Rhema-Kohärenz noch die Dialogverknüpfung zu verstehen wäre, wenn nicht der Satzakzent oder die Satzmelodie mit dem »dritten Ohr«64 herausgehört werden könnte. Die akustische, mimische und gestische Verkörperung des Textes braucht also nicht in toto oder gar ex nihilo >von außen< (ζ. B. von der Regie) erst bei der theatralischen Konkretisation hinzuaddiert oder gar erzeugt zu werden: Der dramatische Text evoziert - immer in Abhängigkeit von der rezeptiven Verstehensfähigkeit des Lesers - aufgrund seines Ausdruckspotentials, seiner jeweiligen »stilistischen Textur«65 ein bestimmtes Modell der psychophysischen Realisierung, das vom Schauspieler körpersprachlich oft nur vervollständigt oder expandiert zu werden bräuchte. Natürlich kann trotz präzisesten Einsatzes rezeptionslenkender sprachstilistischer Mittel kein Leser, Übersetzer, Schauspieler oder Regisseur daran gehindert werden, einen Text >gegen den Strich< zu lesen. Wenn das avantgardistische Regietheater des 20. Jahrhunderts sich bewußt und in kreativer Innovation von dem textualisierten para- und nonverbalen Spielpotential der Dramentexte - einschließlich der im Nebentext formulierten Regieanweisungen - entfernt,66 so kann dies nicht

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(Aufführung) verschwindet dieser Gegensatz zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit: Er wird zu einem Kontrast innerhalb verschiedener Typen von Mündlichkeit. Die Hofmannsthalsche Verszeile »Siehst du die Stadt, wie jetzt sie drunten ruht?« und die Hauptmannschen Sätze: »Wat denn, Pauline? Wat woll'n Se denn sehn?« (zitiert bei Fischer-Lichte, »Der dramatische Dialog«, S. 27, 35) sind nach meinem Verständnis beide Bestandteile funktional oraler Texte: Sie enthalten bzw. evozieren beide jeweils einen mitzuverstehenden, ziemlich genau zu rekonstruierenden para- und nonverbalen Rahmen, der sich vor allem in soziolingualer Hinsicht unterscheidet. Wenn man - parodistisch - versucht, die paraverbale Realisierung der beiden Passagen miteinander zu vertauschen, merkt man, wie konkret auch die Hofinannsthalsche Zeile auf eine bestimmte mündliche >Inszenierung< angelegt ist. Hofmannsthals Text scheint mir daher nicht »von jeglicher Wirklichkeit außerhalb der Sprache zu abstrahieren« (Fischer-Lichte, »Der dramatische Dialog«, S. 29), sondern mit Georgeschem Sprach- und Körpergestus ein elitär-neuromantisches Menschenbild und Gesellschaftsmodell zu inszenieren. Szondi bezeichnet den »Ton« der von Fischer-Lichte zitierten Verse Desiderios treffend als »asoziale[n] Dünkel« (Szondi, Das lyrische Drama, S. 239). Jenseits von Gut und Böse (1884/85), in: Nietzsche, Werke, 2. Bd., S. 713. Pfister, Das Drama, S. 178. In der Regel dürfte gerade das bewußte Wahrnehmen und Verstehen des von einem dramatischen Text vorgeschriebenen oder vorgeschlagenen Inszenierungsangebots den

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mit Mukaïovskys überspitzter Dichotomie von materiellem >Artefakt< und ästhetischem Objekt< legitimiert werden, wie Fischer-Lichte - wenn wir einmal ihre übrigen Argumente gegen das problematische Konzept der >Werktreue< ausklammern - dies tut.67 Mukaïovsky projiziert die Dichotomie von Signifikant und Signifikat, die nach de Saussure, der jeden Ikonismus in der Sprache leugnet, auf der Ebene der >langue< völlig arbiträr miteinander verbunden sind, 68 auch auf die Ebene des (literarischen) Textes, wo von Arbitrarität in demselben Sinn und Ausmaß keinesfalls die Rede sein kann.69 Für den literarischen Übersetzer, vor allem aber den Bühnenübersetzer, besteht der zu übersetzende Dramentext nicht bloß aus verbalen Zeichen, sondern er enthält - als funktional oraler Text - >zwischen den Zeilen< eine paraund nonverbale Einbettung, die sich aus bestimmten Text- oder Situationsmerkmalen erschließen läßt und in der Zielsprache wiederzugeben ist.

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schöpferischen Widerspruch der avantgardistischen Theatermacher herausfordern, wie auch Fischer-Lichte mehrfach betont, ζ. B. in ihrem Aufsatz »Der dramatische Dialog« (S. 40 u. ö.). Inwieweit dabei im Einzelfall der Innovationsdruck, der auf dem großstädtischen Regietheater lastet, künstlerisch, marktseitig oder karrieristisch motiviert ist, läßt sich gewiß nicht immer eindeutig entscheiden. Im Rahmen des internationalen Kulturbetriebs und der Konkurrenz der Bildmedien kann die Entwicklung der Künste und des Theaters - wie auch die des Bühnenübersetzens - nicht mehr allein aus einer kunstimmanenten Ästhetik erklärt werden. Fischer-Lichte, Semiotik, Bd. 3, S. 40f.; dies., »Was ist eine >werkgetreue< Inszenierung?«, S. 41. Saussures Satz von der Arbitrarität des sprachlichen Zeichens war jahrzehntelang der Suche nach ikonischen Entsprechungen zwischen Form und Inhalt sprachlicher Zeichen hinderlich (Posner, »Ikonismus in der Syntax«). De Saussure stellte sogar die Frage, ob die Pantomime überhaupt in das Gebiet der Semiotik falle: »Eine Bemerkung nebenbei: Wenn die Wissenschaft der Semeologie ausgebildet sein wird, wird sie sich fragen müssen, ob die Ausdrucksformen, die auf völlig natürlichen Zeichen beruhen - wie die Pantomime - , ihr mit Recht zukommen. Und auch wenn sie dieselben mitberücksichtigt, so werden ihr Hauptgegenstand gleichwohl die auf die Beliebigkeit des Zeichens begründeten Systeme sein« (de Saussure, Grundfragen der Sprachwissenschaft, S. 79 f.). - Das Augenmerk der post-Saussureschen Sprachwissenschaft gilt dagegen gerade »der Gemeinsamkeit des Konventionellen und des Natürlichen oder besser, ihrer möglichen Nahtstelle«, entsprechend der Hypothese: »Das Konventionelle [...] ruht auf dem Natürlichen [...]« (Falkenberg, »Ausdruck«, S. 177, 178). Laut Zima ist Mukaïovskys Dichotomie von >Artefakt< und ästhetischem Objekt< »deshalb mißverständlich, weil sie den Eindruck erweckt, als sei die Bedeutung ausschließlich im Bereich der Rezeption zu orten und als sei die Beziehung zwischen Artefakt und ästhetischem Objekt der zwischen Ausdrucksebene und Inhaltsebene analog und ebenso willkürlich wie in Saussures Theorie der Nexus zwischen Signifikant und Signifikat. Diese Willkür ist jedoch in Kunst und Literatur nicht gegeben, weil der Kunstproduktion und der Werkstruktur Bedeutungen innewohnen« (Zima, Ästhetik, S. 199 f.). Zimas Fragestellung, wie Textstrukturen »in ihrer (durchaus begrenzten) Vieldeutigkeit historisch rezipiert« werden (Ästhetik, S. 213; Hervorhebung R. K.), enthält - wenn auch nur in Klammern - den Textbegriff, wie er auch von mir hier vertreten wird

So stellt zum Beispiel die Intonation der englischen Sprache, die im geschriebenen Dramentext nur implizit (>zwischen den ZeilenSalonkomödie< gehörenden extremen Intonationssprünge werden in Christopher Isherwoods 1935 veröffentlichtem Roman Mr Norris Changes Trains nebenbei so charakterisiert: "His voice rang false; highpitched in archly forced gaiety, it resembled the voice of a character in a pre-war drawing-room comedy" (S. 11). 81

So ging es etwa Christine Hoeppener bei ihrer Übersetzung von Wildes Theaterstücken73 offensichtlich lediglich um die Herstellung einer möglichst sprachzeichengetreuen Übersetzung, wobei die wichtigen paraverbalen und nonverbalen Hintergrundsinformationen, die der englischen Intonation zu entnehmen sind, entfielen. Hoeppeners Texte projizieren für das Kopftheater des Lesers ein ungenaues, wenig attraktives Inszenierungsangebot. Der Dialog zwischen Mrs. Marchmont und Lady Basildon klingt im Deutschen wesentlich weniger komisch, er ist monotoner, langweiliger, banaler als im englischen Original: MRS MARCHMONT. Olivia, ich habe ein merkwürdiges Gefühl völliger Schwäche. Ich glaube, etwas zu essen würde mir sehr zusagen. Ich weiß, etwas zu essen würde mir zusagen. LADY BASILDON. Ich sterbe einfach vor Verlangen nach Essen, Maigaret!74

Dagegen ist es Hans Wollschläger in seiner 1986 erschienenen Übersetzung von Wildes An Ideal Husband gelungen, das gehobene Parlando der Wildeschen Oberschichtdialoge im Deutschen effektvoll nachzubilden. Das Fehlen einer die Gesellschaftsschicht präzise markierenden Aussprache im Deutschen wird von Wollschläger durch lexikalische und syntaktische Mittel kompensiert, das heißt, er stellt durch Wortschatz, Phraseologie und Satzbau konsequent einen preziösen, bundesrepublikanischen Schickeria-Ton her, der den Schauspielern (und Lesern) eine bestimmte para- und nonverbale Inszenierung der Sprachzeichen suggeriert. Der Text wird dadurch außerordentlich sprechbar, spontan, aktuell und vermag bis in die feinste Nuance Klassenmilieu und snobistisches Gehabe der Figuren zu evozieren:

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Oscar Wilde, Sämtliche Dramen. Übersetzt von Christine Hoeppener, Leipzig 1975. Wiederabgedruckt in: Oscar Wilde, Sämtliche Werke in zehn Bänden, hrsg. von Norbert Kohl. Bd. 3 und Bd. 4, Frankfurt am Main 1982. Die Übersetzungen Christine Hoeppeners werden in Zukunft nach der Wilde-Ausgabe Norbert Kohls zitiert: Hoeppener, Lady; Hoeppener, Frau; Hoeppener, Gatte; Hoeppener, Bunbury. Hoeppener, Gatte, S. 169.-Chrisüne Hoeppener verwandelt rokokohaften Manierismus in prosaischen Realismus. In ihrem Essay »Bemerkungen zur Übersetzung belletristischer Werke« nennt sie zwei Regeln für »gute realisüsche« Übersetzungen: »Originaltreue von Stoff und Inhalt und größtmögliche Originaltreue der Form« (S. 54 f.), wobei sie als Beispiel für übersetzerische Formtreue die Beibehaltung der zahlreichen lexikalischen Wiederholungen in Dickens' Little Dorrit bespricht (S. 53 f.); Formprobleme der Mündlichkeit behandelt sie nicht. Es ist in diesem übersetzungsästhetischen Zusammenhang nicht uninteressant, daß Wilde den »Sül des großen Realisten« (Hoeppener, S. 54) Dickens geradezu perhorreszierte (Ellmann, Wilde, S. 24). Hoeppener übersetzt Wilde, als ob es sich um Dickens handle.

MRS MARCHMONT. Olivia, ich fühle mich auf einmal ganz komisch flau. Ich glaube, ein kleines Souper würde nichts schaden. Ja, ein kleines Souper würde mir gar nicht schaden. LADY BASILDON. Souper! Ich vergehe regelrecht vor Hunger, Margaret!75 Übersetzen kann also - normativ formuliert - für den ßü/wemibersetzer niemals nur in der reinen Wiedergabe des schriftlich fixierten semantischen Potentials bestehen, sondern nur - um noch einmal Nietzsches holistischen Textbegriff (in Gaugers Zusammenfassung) zu beschwören - in der »Restituierung von Mündlichkeit in der Schriftlichkeit mit den Mitteln der Schriftlichkeit selbst«, 76 d.h. in der Suggestion eines expressiven, nachvollziehbaren Ausdrucksverhaltens - eben in der Bereitstellung eines Inszenierungsangebots. Interessanterweise berührt sich Nietzsche in seinem Plädoyer für die >Körperlichkeit< der (geschriebenen!) Sprache77 aufs engste mit Wildes Sprachästhetik, die dieser u.a. in seinem Dialog-Essay The Critic as Artist (1890) formulierte. Allein schon die Tatsache, daß Wilde seine Essays in Dialogform schrieb, ist bezeichnend für seinen Versuch, den Monologismus und die Abstraktheit der schriftlichen Kommunikationssituation zu überwinden. Für Wilde bedeutete die Dialogform - wie für Nietzsche - eine Rückkehr zu den Griechen. Denn: "Whatever, in fact, is modern in our life we owe to the Greeks. Whatever is an anachronism is due to mediaevalism." 78 In The Critic as Artist behauptet er, das Altgriechische mit seinem musikalischen Akzent sei ein viel flexibleres Material gewesen, um "man in all his infinite variety" zu spiegeln, und die Griechen hätten elaborated the criticism of language, considered in the light of the mere material of that art, to a point to which we, with our accentual system of reasonable or emotional emphasis, can barely if at all attain; studying, for instance, the metrical movements of a prose as scientifically as a modem musician studies harmony and

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Oscar Wilde, Ein idealer Ehemann. Eine Gesellschaftskomödie. Neu übersetzt von Hans Wollschläger, Zürich 1986, S. 31. - Daß Wollschläger >mit dem dritten Ohr< übersetzt, läßt auch die Wiedergabe der Alliteration "feeling"/"faintness" durch »fühle«/»flau« erkennen. Gauger, »Nietzsches Auffassung vom Stil«, S. 212. Nach Nietzsche müsse Sprache »geradezu körperlich« werden, schreibt Gauger: »Es geht ihm um die Gebärde, also um etwas, das das Sprechen begleitet, wobei zu beachten ist, daß selbst noch die Abwesenheit von Gebärden etwas wie Gebärde ist oder jedenfalls sein kann« (Gauger, »Nietzsches Auffassung vom Stil«, S. 207 f.). Wilde, CW, S. 1019. Interessant für Wildes Platz in der englischen Tradition der Konversationskunst ist seine Besprechung des Buches seines Dubliner Universitätslehrers J. P. Mahaffy, The Principles of the Art of Conversation: A Social Essay, die er am 16.12.1887 unter dem Titel »Aristotle at Afternoon Tea« in der Pall Mall Gazette veröffentlichte; wiederabgedruckt in: John Wyse Jackson (Hrsg.), Aristotle at Afternoon Tea. The rare Oscar Wilde, London 1991, S. 83-87. 83

counterpoint, and, I need hardly say, with much keener aesthetic instinct. In this they were right, as they were right in all things.79 Die Erfindung des Buchdrucks und die Verbreitung des Lesens hätten zu einer Tendenz der Literatur geführt, to appeal more and more to the eye, and less and less to the ear, which is really the sense which, from the standpoint of pure art, it should seek to please, and by whose canons of pleasure it should abide always. [...] We, in fact, have made writing a definite mode of composition, and have treated it as a form of elaborate design. The Greeks, upon the other hand, regarded writing simply as a method of chronicling. Their test was always the spoken word in its musical and metrical relations. The voice was the medium, and the ear the critic. [...] Yes: writing has done much harm to writers. We must return to the voice. That must be our test, and perhaps then we shall be able to appreciate some of the subtleties of Greek ... RÍ1 art-cnticism. Von Wildes Theorie der Signifikanz des Klangmaterials der Sprache führt ein direkter Weg zum Verständnis der sprachlichen Musikalität der - französisch geschriebenen - Salome, aber auch zur Ästhetik des Wildeschen Aphorismus, der dialogische Verständlichkeit mit rhythmisch-klanglicher Schönheit und intellektuellem Witz verbindet. Daß Wilde sich gerade bei seinen Gesellschaftsstücken der Bedeutung der Klangqualitäten bewußt war, geht auch aus einem Brief über den ShakespeareÜbersetzer Paul Delair, der Lady Windermere's Fan übersetzen sollte, hervor. Wilde schreibt im Dezember 1891: "I have had an interview with him, and he is fascinated by the plot, but I don't know if he understands society-English sufficiently well, I mean the English of the salon and the boudoir, the English one talks."81 Im Falle von The Importance of Being Earnest - "perhaps the HO only pure verbal opera in English" - läßt sich Wildes Versuch, die rhetorische actio des Dialogs möglichst deutlich zu signalisieren, aus den erhaltenen

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Wilde, CW, S. 1016. Wilde, CW, S. 1016f. Bei Zumthor, Einführung in die mündliche Dichtung, findet sich - ohne Bezug auf Wilde - derselbe Gedanke einer Poetik der Stimme; auch für Zumthor ist die Entstehung der neuzeitlichen Literatur ein Symptom für die Verdrängung der Stimme. Hart-Davies (Hrsg.), Letters, S. 306. Auden, »An Improbable Life«, S. 136. - Auden scheint mir aber den Theoretiker Wilde wenig zu kennen, wenn er ein paar Zeilen vorher behauptet, "he was not a thinker; he was, however, a verbal musician of the first order" (S. 135). Die künftige Wilde-Forschung wird versuchen müssen, die von Wilde selbst geforderte Einheit von "beauty and instinct with intellectual subtlety" (Wilde, CW, S. 1027) nachzuweisen. Ein wichtiger Neuansatz in diese Richtung scheint mir die Edition von Smith Π/Helfand, Oscar Wilde's Oxford Notebooks zu sein.

Manu- und Typoskripten ablesen: Durch Unterstreichungen markiert er starke Satzakzente, wodurch man die stimmliche Realisierung und dialogische Verknüpfung seines kreativen Kopftheaters ziemlich genau erkennen kann. Ein Beispiel aus dem 1. Akt: LADY B. [...] What are your politics? JACK. Well, I am afraid I really have none. I am a Liberal Unionist, I believe. LADY B. Oh! they count as Tories! They dine with us. [...] 83

Kehren wir zum Hauptstrang der Argumentation zurück, dem Plädoyer für einen semiotisch reichen Textbegriff, der Sprach- und Ausdrucksverhalten gleichermaßen einschließt:84 Der dramatische Text ist - das haben die bisherigen Ausführungen zu zeigen versucht - nicht auf die unimediale Symbolsprache zu beschränken, sondern er verweist implizit auf eine bestimmte para- und nonverbale »Verkörperung«.85 Zum Teil geben die übersetzten Texte - abgesehen von expliziten Regieanweisungen - durch Mittel wie Spendruck, Pausenzeichen, Unterbrechungssignale deutliche Hinweise auf die vorgeschlagene stimmlich-gestische Realisierung. Mit anderen Worten: Pavis' kompliziertes Modell des Übersetzungsprozesses mit seinem Hin und Her zwischen zwei separaten Bereichen, dem Bereich des Unbewußt-Präverbalen und dem der rein symbolsprachlichen Verbalisierung, kann auf die spezifische Textualität funktional-oraler Kommunikation zurückgeführt werden: Verbalisierung, paralinguistisches und außersprachliches Verhalten bilden sowohl beim normalen Verstehen wie bei der sprachlichen Produktion eine zusammenwirkende Einheit. Wenn man nicht von einem strukturalistisch reduzierten - seiner mitzuverstehenden para- und nonverbalen Dimension beraubten - Textbegriff ausgeht, gibt es keinen Anlaß, den Übersetzungsvorgang in einem geheimnisvollen, un-

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Dickson, Facsimiles, S. 20 (Original-Hervorhebungen als Unterstreichung). Auch von psycholinguisüscher Seite aus wird »die heutige fruchtlose Trennung in Disziplinen zur Erforschung von Sprache einerseits und von Ausdrucksbewegungen und non-verbalen Verhaltens andererseits« kritisiert; Karl Bühlers gegen Wilhelm Wundt durchgeführte Differenzierung »zwischen den zu untersuchenden Systemen Sprache und Ausdruck« erweise sich »für die Psycholinguistik so wenig sinnvoll wie die Reduktion auf das Individuum ohne Umwelt« (Olthuis-Volkmer, »Kürpersprachforschung«, S. 69). So war sich zum Beispiel Grillparzer der »Körperlichkeit der Poesie« durchaus bewußt, wie Dieter Kafitz kürzlich in einer Interpretation der Jüdin von Toledo gezeigt und mit Grillparzer-Zitaten belegt hat: »Die sinnliche Anschauung schlägt eine Brücke zwischen Produktions- und Rezeptionsseite: >Der wahre dramatische Dichter sieht sein Werk darstellen, indem er es schreibe und >Beim Lesen des Dramas [...] wollen wir ein Körper-lügendes Bild vor uns haben< (ΉΊ, 830 u. 676). Aus der Bedeutung der Anschauung ergibt sich auch Grillparzers Reserviertheit gegenüber einer Abgrenzung von dramatischer Dichtung und Theateraufführung: >Das echt Dramatische ist immer theatralisch (DI, 860)« (Kafitz, »Die subversive Kraft der Sinnlichkeit«, S. 214).

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bewußten »vortextlichen Magma« 86 zu verankern. Zur Sprachkompetenz des Lesers und Übersetzers gehört die - natürlich wissens- und erfahrungsabhängig variierende - von Nietzsche beschworene Fähigkeit des »dritten Ohres«, das heißt die Fähigkeit, einen Text aufgrund seiner sprachstilistischen Gestaltung psychophysisch zu verstehen. 87 Was das körpersprachliche Verständnis des sprachstilistisch suggerierten intonatorischen und mimischen Verhaltens für den Leser oder Übersetzer noch weiter konkretisiert, ist die Figurengebundenheit der Dialogtexte: Ein dramatischer Text evoziert nicht - gleichsam abstrakt - >Körpersprache< als solche, sondern eine figurengebundene, je besondere, expressive Sprech- und Verhaltensweise. Auf den Symptomcharakter der dramatischen Sprache hat Manfred Pfister nachdrücklich verwiesen. 88 Die psychophysische Ganzheit der Figur stellt für das Kopftheater des Lesers oder Übersetzers das Steuerungszentrum des jeweiligen Sprachverhaltens dar, wozu auch Vorstellungen einer bestimmten Stimmqualität und Diktion gehören, die als Ergebnis der Vertextung keineswegs arbiträr sind, obwohl sie natürlich - >gegen den Strich< - arbiträr interpretiert werden können. Die Figurengebundenheit der Sprache legt von vornherein (als konventionsgebundene, idealtypische Erwartung des Lesers/Übersetzers) und erst recht im nachhinein (nach Abschluß der Lektüre und entsprechenden Erwartungskorrekturen) eine bestimmte Bandbreite des sprachlichen Verhaltens fest. Auch zu diesem Aspekt hat die Oralitätsforschung wichtige Erkennmisse beigetragen.

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Pavis, Semiotik, S. 120. Das Verstehen ist immer kontext- und wissensabhängig. Übersetzer partizipieren an verschiedenen sprachlichen, kulturellen und ideologischen Kontexten, aber in jeweils unterschiedlichem Maß der Verstehens- und Produktionsfähigkeit. »Wissen, Vorerwartungen sind nicht steuerbar; entweder wir haben das Wissen, die epistemische Vorausrichtung, oder wir haben sie nicht. Wenn man sagt, daß (verstehensrelevantes) Wissen >aktiviert< wird, dann kann dies nicht heißen, daß wir zu einer Situation bewußt >etwas hinzu tundramatischer Text< erzwingt beim Übersetzer ein figurenspezifisches, körpersprachliches Übersetzen, wie es von Pavis durch einige treffende Zitate belegt wird, die einer allgemeinen Erfahrung der Bühnen- und literarischen Übersetzer entsprechen. 90

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Busse, Textinterpretation, S. 136 f. Hier einige Ergänzungen zu Pavis' Zitatensammlung (Semiotik, S. 124f.): Hans Sahl: »Übersetzung heißt: in einer anderen Sprache inszenieren« (Sahl, »Zur Übersetzung von Theaterstücken«, S. 104 f.). - Jiff Levy meinte, daß »der Übersetzung von allen Künsten die Schauspielkunst am nächsten« komme; er empfiehlt für die Ausbildung literarischer Übersetzer daher auch die Entwicklung »ähnlicher Methoden [...], wie Stanislavski sie zur Herausbildung von Schauspielern angewendet hat« (Levy, Die literarische Übersetzung, S. 66,46). Der französische Übersetzer Maurice-Edgar Coin87

Fassen wir zusammen: Eine Bühnenübersetzung enthält immer ein bestimmtes Inszenierungsangebot, bei dem vermittels einer sprachstilistischen Formulierungsweise und im Vertrauen auf das para- und nonverbale Wissen des Lesers ein figurenspezifisches Gesamtverhalten evoziert wird. Der Bühnentext ist insofern nicht als >unimedial< zu definieren, da er aufgrund seiner auf Oralität zielenden Gattungstypik Plurimedialität suggeriert, und sei es auch nur für das >Kopftheater< des Rezipienten.

3 Status und Konkurrenz der Bühnenübersetzungen Die Position der dramatischen Übersetzung zwischen dem Prätext des Originals und dem Posttext der Inszenierung verleiht ihm nicht nur die Position eines >Inter-Textesinterimären< Textes. Dies ist kein bloßes Wortspiel, sondern bezeichnet die mangelnde Autonomie, die prekäre Existenz >zwischen den StühlenSpieltext< einer Inszenierung avanciert und damit für die Dauer der Aufführungen eine relative >Gültigkeit< und Stabilität gewinnt. Es gilt zum andern - diachronisch - für die geringe >Stabilität< und Lebenserwartung von DramenÜbersetzungen auf dem Theatermarkt, obwohl gerade die Wilde-Rezeption einige exzeptionelle Fälle von Langlebigkeit von Bühnentexten verzeichnet.

dreau verwandte in einem Interview einen etwas respektloseren Vergleich: «J'ai toujours comparé le traducteur à un singe: il doit faire les memes grimaces» (Le Monde, 4.10.1974). - Über das erforderliche >Rollenpensum< des literarischen Übersetzers äußert sich Curt Meyer-Clason sehr beredt: »Der Übersetzer muß also im Ohr gespeichert haben, wie ein Spezialarbeiter, ein Hilfsarbeiter, ein Handwerker spricht, ein Bürger der Vorkriegs- und Nachkriegszeit, ein Beamter [...], wie ein Hochschullehrer, ein Schulmann, wie ein Griechenschwärmer oder ein Atomkraftgegner redet. Er muß die Suada der Medienarbeiter kennen [...]. Er muß aber auch den Tonfall der Toilettenfrau in den Residenzstuben kennen [...]« (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.9.1979). Ortrun Zuber: "In the process of translating a play, it is necessary for him to mentally direct, act and see the play at the same time" (»Problems of Propriety and Authenticity in Translating Modem Drama«, in: dies. [Hrsg.], Languages of Theatre, S. 93). R. Kohlmayer beschreibt den Übersetzer als »Mime am Schreibtisch« (»Sprache, Theater, Übersetzen«, S. 1 f.). - Rosemarie Tietze: »Auch Übersetzer sind Mimen. Sie spielen in der eigenen Sprache nach, was in einer fremden gestaltet wurde« (Tietze, »Plädoyer«, S. 85). - Klaus Reichert: »Denn vom Stil einer Übersetzung kann mit gleichem Recht gesprochen werden, wie vom Stil eines Originalwerks, einer Inszenierung, eines mündlichen Vertrags die Rede ist: Stil als die Handschrift, das Figurenarrangement, die Stimme, Mimik und Gestik dessen, der ihn produziert« (Reichert, »Sül und Übersetzung«, S. 272). 88

Während die Adaptationsanlässe und -möglichkeiten bei Texten einheimischer Autoren aus leicht einsehbaren Gründen relativ begrenzt sind (meist werden Strichfassungen gespielt), sind dramaturgische Interventionen und Änderungen der verschiedensten Art bei übersetzten Texten wesentlich häufiger und radikaler. Es ist selten, daß eine Übersetzung kanonisiert wird und über Generationen hinweg den Status eines Quasi-Originals verliehen bekommt, wie dies im Falle der Vulgata, der Lutherischen Bibelübersetzung, des Vossischen Homer oder des Schlegelschen Shakespeare der Fall ist oder war. In der Regel bleiben bei Dramenübersetzungen weder der Titel des Stückes noch die Namen der Figuren und Realien von dramaturgischen Eingriffen ausgenommen, ganz zu schweigen von sprachlichen Umformulierungen aller Art. Dem übersetzten Text fehlt als >sekundärem< Text - falls die Übersetzung nicht vom Autor selbst stammt - der schützende Nimbus des Originals, das »Hier und Jetzt des Originals«, das »den Begriff seiner Echtheit«, die »Aura« ausmacht,91 die verbürgte Authentizität der sprachlichen Formulierung, die Autorität des einmaligen >ArtefaktsArtefakt< respektiert - ob der Text ironisiert, zelebriert, rezitiert, gesungen oder denunziert wird. Würde Lessings Text prinzipiell durch eine wie auch immer geartete sprachliche Neufassung substituiert, so wäre es eben nicht mehr Lessings Text; es müßte dies durch Formeln wie: >nach Lessingneu bearbeitet und dgl. vermerkt werden; der Bearbeiter hätte Anspruch auf das Copyright (und Autorentantième). Übersetzten Texten fehlt in der Bühnenpraxis die Verbindlichkeit des Originals, obwohl die Übersetzer denselben Rechtsschutz durch das Copyright genießen wie die Autoren. Im Falle Wildes kann von Kanonisierung irgendeiner Version keine Rede sein, obwohl festzustellen ist, daß die chronologisch ältesten Übersetzungen, selbst wenn sie geradezu miserabel sind, ein Privileg genießen: Sie weiden von späteren Übersetzern und Bearbeitern immer wieder als eine Art Sekundärquelle benutzt Ansonsten kann gerade die inflationäre Fülle und Vielfalt der deutschen Bühnenversionen der Wildeschen Komödien als Musterbeispiel für das geringe Beharrungsvermögen und den lediglich interimären Status von Bühnenübersetzungen dienen. Zwischen der Wertschätzung des Originals und der von dessen Übersetzungen und Bearbeitungen herrscht ein inflatorisches Gefalle, das dem zwischen Gold- und Geldwährung nicht unähnlich ist: Die Multiplikation der Übersetzungen steigert den Nimbus des Originals und mindert den der einzelnen Übersetzung.

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Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 14, 16. Mukafovsky, Kapitel aus der Ästhetik.

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Die Rekonstruktion der Theaterrezeption eines Autors wie Wide ist aus diesem Grunde komplizierter als etwa die der Rezeption eines deutschen Zeitgenossen von Wilde, ζ. B. Wedekinds. Während bei Wedekind der dramatische Text von beispielsweise Frühlings Erwachen unmittelbar in Beziehung zu setzen ist zur semiotischen Vielfalt der Inszenierungen,93 steht Wildes Stück The Importance of Being Earnest zunächst in interlingualer Beziehung zu einer Reihe von Übersetzungen/Bearbeitungen, die ihrerseits in intralingualer und intersemiotischer Beziehung stehen zu einer Reihe von dramaturgischen Überarbeitungen und deren Inszenierungen. Wenn man die intralingualen Überarbeitungen (dramaturgische Kürzungen, Erweiterungen, Umformulierungen) ausklammert bzw. unter dem Sammelbegriff Inszenierung subsumiert, so ergibt sich folgendes Bild: FRÜHUNGS ERWACHEN

BUNBURY

Inszenierung Inszenierung Inszenierung Übersetzung

1 2 3 1

Übersetzung 2

Inszenierung Inszenierung Inszenierung Inszenierung

1' 1" 2' 2"

usw. Der interimäre Charakter der in Konkurrenz miteinander stehenden Übersetzungen und Bearbeitungen von Wildes Stücken rechtfertigt es in besonderem Maße, die Warenmetapher vom »Angebot« auf die einzelnen Fassungen anzuwenden: Sie stehen tatsächlich »zur Wahl«, sie stellen auch im kaufmännischen Sinn je verschiedene Inszenierungs-»Angebote« dar.94 Damit erhält Pavis' hermeneutisches Modell von der mise en scène des Übersetzers im Falle Wildes - sowie aller anderen Fälle von Mehrfachübersetzungen - eine noch konkretere Bedeutung: Die dem Übersetzungs- oder Bearbeitungsstext eingeschriebene Inszenierung steht auf dem Theatermarkt in Konkurrenz mit anderen Inszenierungsangeboten, von denen sie sich durch irgendwelche Besonderheiten absetzen möchte. Die Distanzierung der Neuübersetzungen von den Vorläufern, wie man sie in Programmheften gelegentlich liest - und wie dies auch im Falle Bunbury mehrfach vorkommt - , hat insofern immer auch einen marktwirtschaftlichen Aspekt.

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Vgl. die Inszenierungsgeschichte des Stuckes in Seehaus, Wedekind, S. 298-337. Auf Wunsch erhalten die Theater von der Neuen Zentralstelle der Bühnenautoren und Bühnenverleger GmbH (Berlin) einen Computerausdruck mit dem Gesamtangebot der jeweiligen Übersetzungen. Außerdem verschicken die Bühnenverleger regelmäßig ihre Verlagsprospekte an die Theater, um für ihr Stückeangebot zu werben.

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4 Konzeptionelle Unterschiede der übersetzerischen Inszenierungsangebote Die Besonderheit des jeweiligen Inszenierungsangebots, das einem übersetzten Text eingeschrieben ist, kann auch - textintern gesehen - als seine jeweilige Konzeption bezeichnet und beschrieben werden. Wenn auch der Übersetzungsprozeß syntaktisch-linear verläuft, so sind dabei doch auch ganzheitliche Ziele oder Motive am Werke, die die punktuellen übersetzerischen Entscheidungen beeinflussen. Zumindest geht der Übersetzer - im Gegensatz zum normalen Leser - immer vom Text als quantitativ Ganzem aus, so daß der Übersetzungsprozeß, da vom Ende her begonnen, auf einer synthetischen Sicht beruht.95 Die übersetzerische Konzeption ist das Ergebnis sämtlicher interlingualen (linearen, strukturellen und globalen) Entscheidungen, die beim Übersetzen zu fallen sind. Der Begriff Konzeption wird hier in einem weiteren Sinn als im Alltagsverständnis verwendet. Normalerweise beinhaltet der Begriff das Merkmal der bewußten, intentionalen Wahl. Davon kann bei Übersetzern nicht immer die Rede sein, da sie sich an - wenn auch subjektiv wahrgenommenen - Stilmustern, kulturtypischen Konventionen, poetischen Normen und Vorbildern, Wertvorstellungen, Gegebenheiten des literarischen Marktes orientieren, welche alle wiederum die Merkmale der jeweiligen Epoche tragen. Unter Konzeption wird hier also das der Übersetzung eingeschriebene bzw. das dem Leser/Hörer suggerierte Interpretations- bzw. Inszenierungsangebot verstanden, ob es nun

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Der Übersetzungsprozeß, obwohl typischerweise an die Reihenfolge der zu übersetzenden Sätze gebunden, ist ebenso typischerweise nicht auf den Sinnhorizont der jeweils zu übersetzenden Einzelsätze beschränkt, sondern orientiert sich gleichzeitig immer an einer mehr oder weniger bewußten Konzeption. Man könnte hier - analog zu FischerLichtes Modell der drei theatralischen Transformationen - »lineare«, »strukturelle« und »globale« Orientierungen unterscheiden (Fischer-Lichte, Semiotik, Bd. 3, S. 42ff.). James S Holmes unterscheidet beim Übersetzungsprozeß zwei Ebenen, eine >serielle< und eine >strukturelleManipulationteleologische< Tätigkeit beschreiben (Hermans [Hrsg.], Manipulation, passim), die übersetzerische Konzeption auch präskriptiv-normativ auf einen einzigen Faktor reduzieren: Die prospektive Funktion des zu übersetzenden Textes (Reiß/Vermeer, Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie). - Meiner Meinung nach ist - zumindest bei literarischen Texten - eine derart restriktive Beschreibung oder gar präskriptive Normierung der übersetzerischen Handlungsweise unangemessen. Wenn man schon für die >normale< Sprachverwendung zugeben muß, daß sie »eine Mehrfachhandlung« ist (Hörmann, Meinen und Verstehen, S. 504; Polenz, Satzsemantik, S. 91), so gilt dies umso mehr für das Übersetzen. Wer übersetzt, tut immer mehrere Dinge gleichzeitig; daher kann nur ein polyfunktionales Modell die Tätigkeit des Bühnenübersetzers idealtypisch abbilden (vgl. Pavis, Semiotik, S. 111,120). 91

vom Übersetzer intentional oder akzidentiell hergestellt wurde. Im folgenden seien - im Sinne eines Suchrasters für die Fallstudien - die vermutlich wichtigsten konzeptionellen Unterschiede, die bei den Mehrfachübersetzungen der Wildeschen Stücke - aber auch in zahlreichen anderen Fällen - eine Rolle spielen dürften, kurz erläutert.

a. Unterschiede als Folge unterschiedlicher Vorlagen Zum Teil ergeben sich konzeptionelle Unterschiede aus den Unterschieden der von den verschiedenen Übersetzern/Bearbeitern jeweils verwendeten englischen Vorlage, worauf bereits im ersten Kapitel hingewiesen wurde. 96 In den ersten deutschen Fassungen variieren dementsprechend die Länge des Textes, die Einteilung in vier (Teschenberg) oder drei Akte (Greve, Blei/Zeiß, Sander), die Q7 Zahl und die Namen der Figuren, was als Inszenierungsangebot unmittelbare Auswirkungen auf die Gliederung und Rollenbesetzung einer Inszenierung hat. Da eine Reihe von Übersetzern und Bearbeitern neben dem Original (Blei/Zeiß, Sander) oder gar an Stelle des Originals (Blei, Vallentin, Hagemann) eine oder mehrere deutsche Vorlage(n) benutzen, 98 werden bestimmte Züge und Tendenzen dieser deutschen Vorlage(n) in den Nachfolge-Übersetzungen und -Bearbeitungen fortgesetzt, so daß zielkulturelle Traditionen der Wilde-Interpretation oder -Inszenierung entstehen können, die völlig vom Ausgangstext abgekoppelt sind.

b. Unterschiede als Folge unterschiedlicher Verstehenskompetenzen Diese Unterschiede sind wohl am wenigsten als intentionale zu erklären, obwohl es sich denken läßt, daß manches Nichtverstehen als selektive Wahrnehmung und somit als Nicht-verstehen-Wollen interpretierbar ist. Wenn wir von diesen Fällen absehen, so handelt es sich hier um den Grad der passiven Be-

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S. 34 ff. - Ein Beispiel für die Vorlagenabhängigkeit bietet auch die frühe Dorian Gray-Rezeption: Gaulke übersetzte 1901 Wildes erste Version, die Zeitschriftenpublikation von 1890 in 13 Kapiteln; Greve veröffenüichte 1903 seine Übersetzung der Buchausgabe von 1891 in 20 Kapiteln. Bei Teschenberg, Vallentin und Blei/Zeiß sind es elf, bei Greve neun, bei Hagemann und Sander zehn Figuren. Algernon trägt bei Teschenberg, Vallentin und Hagemann den Familiennamen »Montford«, bei Greve und Blei/Zeiß »Moncrieff«; Greves und Blei/Zeiß' »Lady Brackneil« heißt bei Teschenberg, Vallentin und Hagemann »Lady Brancaster«. Vgl. dazu die tabellarischen Darstellungen S. 63, 370 f.

herrschung bzw. Kenntnis der fremden Sprache und Kultur. Daraus erklärt sich das Nicht- oder Mißverstehen von einzelnen Wortspielen, Phraseologismen, syntaktischen Strukturen oder die kontextuell falsche Monosemierung polysemer Lexeme; es sei etwa an Greves Mißverständnis des polysemen "draught" (>LuftzugBrettspielRollen< in einer Kultur), absichtliche dramaturgisch-theatrale Emanzipation von der Figurenkonzeption des Originals oder der Vorlage (vor allem in dramaturgischen Übersetzungen/ Bearbeitungen von Regisseuren), ideologische Zensur. 1. Grundlegende konzeptionelle Weichenstellungen der Figurengestaltung ergeben sich oft schon aus der unterschiedlichen Übersetzung der Didaskalien und der Nebentexte. Dies betrifft zum Beispiel die Tîtelgebung der Personen. So steht in den Didaskalien von The Importance of Being Earnest hinter John Worthings Name die Abkürzung "J. P." für Justice of the PeaceDandyButlerNew Womanhineinübersetzt< wurden. 3. In jedem Fall ist der Vergleich der Figurenkonzeptionen zwischen den verschiedenen Übersetzungen besonders ergiebig. Es zeigt sich dabei, daß die Übersetzer, auch wenn sie punktuell-linear vorgehen, also Satz für Satz übersetzen, sich meist - empathisch-divinatorisch - an einem Gesamtbild der jeweils >sprechenden< Figuren orientieren.

Bibliothek erschienenen ßuniwo'-Übersetzung, S. 85-92, hier S. 91 f. - Auch Mary Snell-Homby plädiert in ihrem anregenden Aufsatz »Sprechbare Sprache - spielbarer Text« für die Beachtung der »dramatische[n] Einheit von Handlung und Sprache« (S. 113f.), worunter sie z.B. die Beibehaltung des Rhythmus und des Idiolekts der Rolle versteht. Interessanterweise verwendet Snell-Homby zwei Fassungen der ersten Szene von Bunbury als Demonstrations-Beispiele. Ihr Vorgehen ist allerdings inkonsequent: Sie behandelt Robert Gillners Bearbeitung (!) als »Übersetzung« (S. 110), um ihm dann einige Verstöße gegen die »Sprachmasken« des Originals vorzuwerfen; anschließend präsentiert sie eine »überarbeitete Fassung« von Gillners Text, die - wie zu erwarten - angeblich dem Idiolekt des Originals philologisch genauer entspricht. Meiner Meinung nach klingt jedoch Gillners Bearbeitung wesentlich lebendiger, modemer, schmissiger als die von einer anonymen »Gruppe von Theaterleuten« (»Deckname: Susanne Augenstein«, S. 110) stammende Überarbeitung, die in ihrer flachen Normalität weder dem soziolingualen Stilregister noch der individualsprachlichen Exzentrik des Originals gerecht wird; außerdem ist Gillners Text schon oft, der von »Susanne Augenstein« noch nie gespielt worden, was in einem Aufsatz, der so temperamentvoll für den »Praxisbezug« des Übersetzens plädiert (S. 114), hätte reflektiert werden sollen.

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f. Unterschiede als Folge unterschiedlicher dramaturgischer Intentionen Bei diesen Unterschieden handelt es sich um bewußte Anpassungen des Originaltextes an theatralische und situative Normen und Bedingungen der Zielkultur. So fügt Teschenberg dem Wildeschen Text die im deutschen Bühnentext übliche Szeneneinteilung hinzu. In erster Linie wären hier die Bearbeitungen der Wildeschen Stücke durch Regisseure oder Dramaturgen zu nennen, die die Stücke - für bestimmte Inszenierungen und Theater - gekürzt, erweitert oder umgeschrieben haben. Die Herstellung solcher neuer >Inszenierungsangebote< wird häufig durch die Kritik an den vorliegenden Konkurrenzangeboten gerechtfertigt (Hagemann, Lerbs, Sander), wie im einzelnen gezeigt werden wird. Während die Bühnen-Übersetzung - in Pavis' Worten - zumindest nach dem Original »hinüberschielt«,109 orientiert sich die Bearbeitung ausschließlich am zielseitigen >Marktihrer< Inszenierung ergibt sich daraus eine weitere Konsequenz: Es wird in jedem Einzelfall zu überprüfen sein, ob die Tendenzen und Präferenzen eines der Übersetzung oder Bearbeitung eingeschriebenen Inszenierungsangebots - die Übersetzungskonzeption - in den Tendenzen und Präferenzen der in den Theaterkritiken reflektierten Inszenierungskonzeption eine Entsprechung finden. Die Untersuchung wird immer in zwei Etappen verlaufen müssen: Zunächst wird durch detaillierte Übersetzungs- und Textanalysen versucht, das dem Text eingeschriebene Inszenierungsangebot - vor allem Sprachgebung, Figurengestaltung, ideologische Konzepte - zu bestimmen; in einem zweiten Schritt wird dann dargestellt, inwieweit die übersetzerische Konzeption sich in die Inszenierungen hinein fortsetzte oder nicht. Verglichen werden nicht Übersetzungen und Inszenierungen, sondern zwei Metatexte: Die Konzeption der Übersetzerinszenierung und die Konzeption der Theaterinszenierung. Jene wird durch explizierende Textanalyse aus den Übersetzungen und Bearbeitungen, diese vor allem durch Analyse der mehrstimmigen Theaterkritiken erschlossen. b. Der zweite Einwand, dem es zu begegnen gilt, ist die Frage der Zuverlässigkeit bzw. der Vorurteilsgeprägtheit der Theaterkritiken als Quelleninstanzen für die ungefähre Erschließung einer Inszenierung. Damit ist nicht gemeint, daß die Subjektivität oder Lesergebundenheit der Theaterkritiken es erschwert, sie als historische Quellen zu benutzen: Dieser Einwand wird durch die Pluralität der Kritiken weitgehend entkräftet. Es ist - paradoxerweise - eher die mangelnde

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Malte Mohrmann, »Über das Flüchtige und das Fixieren«, S. 181.

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Subjektivität, welche die Theaterkritiken oft zu disqualifizieren droht. Wer Theaterkritiken über Jahre hinweg miteinander vergleicht, muß feststellen, daß manche Kritiken weniger eine eigene, beim Theaterereignis gebildete und begründete Meinung wiedergeben, als vielmehr schriftlich vorliegende Werturteile, die von einflußreichen Vorgängern stammen, die also angelesen sind, an die Öffentlichkeit weiterreichen. Dies gilt umso mehr für die Rezeption übersetzter Werke. Wenn der Kritiker die ausgangssprachlichen Originaltexte nicht selbst gelesen hat oder lesen kann, ist er, wenn er sich ein Bild vom Original machen möchte, auf die vorliegenden Interpretationen und Thesen von Vermittlungsinstanzen angewiesen. Dabei spielen - zumindest im Rahmen der Wilde-Rezeption - wissenschaftlich-philologische Werke praktisch keine Rolle. Die Theaterkritiken stützen sich in der Regel ausgiebig auf populärwissenschaftlich geschriebene Expertenmeinungen; das kritische Urteil ist oft mit Anspielungen auf und Zitaten aus solchen weitverbreiteten Vermittlungstexten abgesichert. Der Bericht über das Bühnengeschehen gerät somit leicht in Gefahr, die Unmittelbarkeit des Erlebens und aufführungsbezogenen Analysierens zu verlieren, da es gerade im Falle übersetzter Literatur schwer sein dürfte, das Begriffsraster angelesener Expertenurteile und Interpretationsschemata außer acht zu lassen. Viele Theaterkritiken sind also Texte, die bei textkritischer, dekonstruktivistischer und intertextueller Analyse leicht ihre Verfasser- und Meinungsidentität verlieren, um sich als Derivate oder Konglomerate von ein oder zwei vorher erschienenen Interpretationen zu entpuppen. Für die vorliegende Rezeptionsanalyse ergibt sich daraus die Notwendigkeit, die Vermittlungsinstanzen, auf die die Kritiker sich - mit oder ohne Quellenangabe - stützen, möglichst zu identifizieren und zu beschreiben. Da die Theaterkritiker die theatralische Rezeption der Wildeschen Komödien nicht nur - wie verzerrt auch immer - widerspiegeln und dadurch selbst beeinflussen, sondern auch selbst schon in einem umfassenden historischen Rezeptionszusammenhang stehen, der ihre Wahrnehmung des Theaterereignisses beeinflußt, muß versucht werden, den größeren Zusammenhang der frühen Interpretation der Komödien Wildes, den Rezeptionskontext, zu skizzieren. Im nächsten Kapitel sollen die Grundzüge der frühen Wilde-Interpretation, vor allem in Hinsicht auf die Beurteilung der Komödien, im Überblick dargestellt werden. Das vollständige Modell der methodischen Schritte, die in der vorliegenden Rezeptionsuntersuchung unternommen werden, sieht folgendermaßen aus:

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Original τ Übersetzung/Bearbeitung • Inszenierung A



Theaterkritiken • Rezeptionskontext Die hermeneutische Zirkularität und nicht hintergehbare Subjektivität unseres interpretatorischen Vorgehens kann nur dadurch intersubjektiv verankert werden, daß der Gang der Argumentation für den Leser transparent bleibt. Diesem Ziel dienen die ausführlichen Textproben und Textanalysen. Die Ableitung von Hypothesen aus dem Textmaterial wird so für den Leser - hoffentlich - nachvollziehbar. Die Analysen der frühen deutschen Übersetzungen, Bearbeitungen und Inszenierungen von The Importance of Being Earnest dienen, wie bereits in der Einleitung gesagt, nicht nur der historischen Darstellung der deutschen WildeRezeption, sondern immer auch der systematisch orientierten Frage nach dem Zusammenhang zwischen Übersetzung und Inszenierung. Während das historische Interesse der Erfassung und Verarbeitung der empirischen Fülle von Rezeptionsdokumenten gilt, geht es bei der systematischen Problemstellung im Grunde immer um die beiden Fragen: - Welches Inszenierungsangebot liegt den verschiedenen Übersetzungen und Bearbeitungen des Stücks zugrunde? - Wie wirkt sich diese Konzeption auf die jeweiligen Inszenierungen und die theateikritische Rezeption aus?

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3. Kapitel Wildes Komödien als »Schwankfutter«: André Gides Einfluß auf die deutsche Wilde-Rezeption

Die frühe Beurteilung der Komödien Wildes1 durch die deutsche Literaturkritik wurde entscheidend beeinflußt durch André Gide. Man kann den Tenor der frühen Rezeption geradezu in die Zeit vor und nach Bekanntwerden von Gides Gedenk-Essay über Wilde einteilen: In der kurzen Spanne vor dem Bekanntwerden von Gides Essay war die Beurteilung der Komödien Wildes eher diffus oder positiv, danach eher negativ. Der Name Wildes wurde in Deutschland zuerst von Hermann Bahr bekanntgemacht, als er in seinem Essay »Décadence« im November 1894 das Ende des Naturalismus und den Beginn einer neuen Kunstrichtung ankündigte. Dabei stellte er den »Estheten« Wilde, den »Erben der Präraphaelite Brotherhood« [JÍC/], mit dem Essay The Decay of Lying vor, dessen Abdruck in derselben Nummer der Zeit begann. Bahr resümiert Wildes »Programm« schlagwortartig folgendermaßen: Die Natur ist häßlich. Die Kunst ist die Flucht aus der Natur. Die Kunst meide das Leben. Das Leben folgt der Kunst. Die Kunst darf dem Leben nicht folgen. [...] Das ist das Programm. Der Graf Montesquiou und der Däne Hermann Bang und der Deutsche Stefen George würden nicht zögern, es zu zeichnen. 2

Bahr verurteilt diese Décadence, »die das Leben flieht und Traum wünscht«, als »eine Ausflucht von Dilettanten, die ein rechtes Gefühl der Kunst, aber die schöpferische Kraft der Künstler nicht haben«.3 Der erste Hinweis auf Wildes »packende Dramen« findet sich in einem Aufsatz Johannes Gaulkes vom März 1896, der vor allem als Dokument der Rezeption von Wildes anarchistischem Sozialismus-Essay wichtig ist. Gaulke spricht vage von »eine[r] stattliche[n] Anzahl kleiner Komödien«, scheint aber nur A Woman of No Importance - von Gaulke mit »Ein unbedeutendes Weib« wiedergegeben - und The Importance of Being Earnest oberflächlich zu ken-

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Die literarische Wilde-Rezepüon wird hier nur insoweit dargestellt, wie sie die theatralische bzw. theaterkritische Rezeption der Komödien unmittelbar betrifft. Die WildeRezepüon Hofmannsthals, Stemheims, Thomas und Klaus Manns wird daher nicht diskutiert oder nur, wo angebracht, kurz gestreift. Bahr, »Décadence«, S. 89. Bahr, »Décadence«, ebd.

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nen. Aus diesen beiden Stücken zitiert er einzelne Bonmots, einmal um den »Epigrammatiker« W i d e vorzustellen, denn Wilde sei »entschieden einer der bedeutendsten der Zeit«, 4 zum andern, um Wildes Nähe zu Schopenhauer »in puncto feminini generis« zu belegen: Die Frauenverachtung sei angeblich »der rothe Faden, der sich gleichmäßig durch Wilde's Werke zieht«. Schließlich geht Gaulke auf »Wilde's Urtheil über die >gute< Gesellschaft, die ihn einst so verhätschelt hat«, ein, da er hier einen Anknüpfungspunkt zum »socialistischen Anarchisten« Wilde sieht: Aus diesen Citaten lernen wir Wilde als den feinen Seelenmaler kennen, der die psychologischen Vorgänge meisterhaft zu entwickeln versteht. Seine Charaktere erscheinen uns vielleicht im Augenblick unnatürlich, sie werden uns aber verständlicher, wenn wir sie aus dem Milieu heraus beurteilen, dem sie angehören. Die Charaktere Wilde's gehören den übersättigten Gesellschaftskreisen an, mit denen der Dichter selbst die wildesten Oigien gefeiert hat, die er aber im Grunde seiner Seele haßt. Ihnen ist schon in der frühesten Kindheit jedes naive Empfinden abhanden gekommen, manche haben es vielleicht als die natürliche Folge der sexuellen Exzesse ihrer Erzeuger nie besessen, umso mehr häufen sich aber bei ihnen jene psychologischen, auch pathologischen Züge, welche der modernen Dichtung so häufig den Vorwurf liefern. Wilde ist einer, der diese Vorgänge am anziehendsten zu schildern versteht, aus diesem Grunde schon werden seine Werke einen bleibenden Werth behalten, als ein cultuihistorisches Denkmal des fin de siècle.5 Während Hermann Bahr, der die Komödien nicht erwähnt, in Wilde den Typus des antinaturalistischen Dekadenten sah, werden seine Dramen von Gaulke eher dem Naturalismus bzw. der Sozialkritik zugeschlagen, wenn er Wilde in erster Linie als Psychologen und exakten Milieu-Schilderer apostrophiert. Auch im Vorwort seiner Übersetzung des Dorian Gray hebt Gaulke - ohne Wildes l'art pour /'arr-Ästhetik zu unterschlagen - des Dichters sozialkritisches Engagement hervor und zitiert zum Beweis seitenweise aus Wildes Sozialismus-Essay: Wilde sei »mit Entschiedenheit für die Sache des Proletariats« eingetreten.6

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Johannes Gaulke, »Oscar Wilde«, S. 184. Gaulke, »Oscar Wilde«, S. 185. Oscar Wilde, Dorian Gray. Aus dem Englischen übersetzt und mit einem Vorwort versehen von Johannes Gaulke, Leipzig o. J. (1901), S. XI. In dem Vorwort stellt Gaulke Wildes Individualismus in den Vordergrund, wobei er bemerkenswerterweise den »großen Einfluß« Ralph Waldo Emersone auf Wildes Sozialismus-Essay erkennt (S. VHI). Gaulkes Hinweis blieb in der Wilde-Forschung unbeachtet, vor allem wohl, weil seine Dorian Gray-Übersetzung bereits 1903 durch Grevés Version verdrängt wurde. Philipp Aronstein wies zwar rund 20 Jahre später ebenfalls auf Wildes Emerson-Zitate hin (Aronstein, »Wilde«, S. 70). Aber erst in jüngster Zeit wurde von Isobel Murray die Bedeutung von Wildes Emerson-Rezeption für den Essay The Soul of Man >wiederentdecktc "Emerson seems not to be much read by Wilde scholars, who have for too long, 109

Gaulkes Wilde-Rezeption war gesteuert von seiner Rezeption des individualistischen, anarchistischen, sozialistischen Wilde. An dieses am SozialismusEssay orientierte Wilde-Bild knüpft auch Gustav Landauer - zum Teil in wörtlicher Übernahme von Gaulkes Formulierungen - in der kurzen »Vorbemerkung« seiner deutschen Übersetzung des Sozialismus-Essays von 1904 an.7 Karl Kraus bezeichnet in demselben Jahr in der Fackel den Essay als »das wahre Evangelium modernen Denkens«. 8 Der deutsche Traditionsstrang des sozialutopischen Wilde-Bildes erreicht einen Höhepunkt in Arnold Zweigs Vorwort seiner Wilde-Ausgabe von 1930, wird dann aber durch den Nationalsozialismus so gründlich verschüttet, daß der Sozialismus-Essay inzwischen zu einem der unbekanntesten Werke Wildes geworden ist. 9 In der theaterkriti-

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perhaps, repeated pairot cries about the most important authors for Wilde being Ruskin and Pater, with the occasional mention of Arnold. [...] Emerson, for too long overlooked, was far more important [...]" (Murray, »Introduction«, S. ΧΠ). »Man wird nun, wo dieser verschollene Essay wieder ans Licht kommt, verstehen, warum die englische Gesellschaft diesen genialen Mann, der einst ihr verhätschelter Liebling war, solange seine schönheitshungrige Seele mit ihr zu spielen schien, später so tödlich haßte und so infam ins Elend stieß« (Landauer, »Vorbemerkung«, S. 5). Die Fackel 167 (26.10.1904), S. 10; hier zitiert nach Pfister, Dorian Gray, S. 11. Aronstein nennt es 1922 eine »Laienpredigt«, »das Hohelied der Persönlichkeit« (Aronstein, »Wilde«, S. 69, 70). - Auch Carl Stemheim erwähnt in seinem Essay »Oscar Wilde« (Querschnitt 4, 1924, S. 203-208), mit dem er auf sein 1925 erscheinendes gleichnamiges Drama aufmerksam macht, die anarchistischen Vorstellungen Wildes über das »antiautoritäre Individuum« (S. 203), ohne den Sozialismus-Essay ausdrücklich zu nennen. Stemheims Drama Oskar Wilde. Sein Drama steht unter dem (dem SozialismusEssay entnommenen) Motto: »Was nottut ist Individualismus«. Das Wilde-Drama führte zum Bruch der kommunistischen Aktion Pfemferts mit Sternheim: Man warf ihm »Individualismus« vor (Linke, Carl Sternheim, S. 126,159). - Es ist anzunehmen, daß auch Klaus Manns um 1935 formulierten Vorstellungen von einem »humanistischen Sozialismus« unmittelbar mit Wildes Sozialismus-Essay zusammenhängen. Uwe Naumann weist lediglich auf die Bezüge zu Heinrich Heine und Ernst Bloch hin (Naumann, Klaus Mann, S. 66 f.). Arnold Zweig, »Versuch über Oscar Wilde«. Zu Zweigs Essay und den ideologischen Retuschen an Zweigs Wilde-Bild in der Neuauflage von Zweigs Wilde-Ausgabe im Jahre 1937 vgl. das 6. Kapitel. - In Walter Jens (Hrsg.), Kindlers Neues Literatur-Lexikon, München 1992, Bd. 17, wird Wildes Sozialismus-Essay als eine der »weniger bekannten Schriften Wildes« und »eine Einzelerscheinung« innerhalb seines Gesamtwerks bezeichnet (S. 670). Auf die hintergründigen Verflechtungen des Essays mit Wildes Werken, vor allem den Komödien, hat bereits George Woodcock hingewiesen: Woodcock, »The Social Rebel«; vgl. dazu auch Günter Blaicher, Die Erhaltung des Lebens, besonders S. 112 ff. - Die Darstellung des Einflusses Wildes auf den deutschen Anarchismus und Sozialismus kann nicht im Rahmen der Rezeptionsgeschichte der Komödien geleistet werden. Walter Fähnders' materialreiches Buch Anarchismus und Literatur enthält aufgrund seiner >binnengermanistischen< Orientierung keinerlei Hinweise auf den Wildeschen Einfluß. Es wäre nicht nur - wie Fähnders in einer Anmerkung andeutet - »lohnend, einmal genauer anarchistische Bezüge in Leben und Werk Oscar

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sehen Rezeption spielt der von Gaulke ausgehende Traditionsstrang keine nachweisbare Rolle.10 Die erste knappe Erwähnung des Komödiendichters Oscar Mide in Bühne und Welt war bereits 1901 in Ernst Mayers Bericht »Von den Londoner Theatern« erfolgt Mayer nennt drei englische Dramatiker der letzten zwanzig Jahre, »vor denen auch litterarische Gourmets getrost den Hut abnehmen« dürften, nämlich Wilde, Pinero und Stephen Phillips. Wilde wird als mutiger Satiriker vorgestellt: Oskar Wildes Feuergeist wurde leider infolge eines verhängnisvollen Ausbruches animalisch-perverser »moral insanity« allzu früh gebannt. Er war einer der klügsten Köpfe, die das moderne England hervorgebracht hat, ein geistvoller, origineller Causeur und Dramatiker, der die Geißel der Satire mit vollendeter Meisterschaft schwang und der fast allein unter seinen zimperlichen Zeitgenossen den Mut hatte, den Snobs und Philistern der »upper ten« einen Spiegel vorzuhalten.11

Wie wir im 1. Kapitel gesehen haben, verfügte die Theaterkritik zur Zeit der Berliner Erstaufführung von Bunbury im November 1902 nicht über eine gemeinsame Basis, um die Komödie literaturhistorisch und -kritisch einzuordnen. Man sah das Stück als kraus und verwoiTen, als Bierzeitungs-Ulk, man bezeichnete Wilde als Dumas-Epigonen, als Parodisten und Satiriker spezifisch englischer Zustände, als Geistesverwandten Wedekinds usw. Max Meyerfeld mokierte sich zwar zwei Monate nach der Bunbury- Aufführung darüber, »wieviel Falsches und Schiefes die berliner Kritiker über Oscar Wilde vorzubringen wußten«. Seine eigene Begrifflichkeit - »tiefsinnig-blödsinnige Komödie« bot aber auch keine ausreichende Handhabe für ein ästhetisch fundiertes Urteil, wenn man einmal von seiner Hervorhebung der »Floretteleganz« der Dialoge absieht. Im Gegenteil, Meyerfeld bestritt sogar, daß ein angemessenes Verständnis der Stücke in Deutschland überhaupt möglich sei: Bei uns ist die Unkenntnis des londoner Gesellschaftslebens zu weit verbreitet, als daß die Feinheiten der wildischen Komödien, die mit Verhöhnungen und Bosheiten gespickt sind, nach Verdienst gewürdigt werden könnten. 12

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Wildes nachzuzeichnen« (S. 132; Hervorhebung R.K.), sondern vor allem, den interkulturellen Beziigen zwischen Morris, Kropotkin, Wilde, Landauer, Sternheim, Klaus Mann, Brecht u. a. nachzugehen. Eventuell war Richard Vallentins Berliner Erstaufführung von Eine Frau ohne Bedeutung (Neues Theater, 4.9.1903), die als »Milieustück« gespielt wurde (Friedrich Düsel, Berliner Tagblatt, 5.9.1903), von Gaulkes sozialkritischem Wilde-Bild beeinflußt. Ernst Mayer, »Von den Londoner Theatern«, in: Bühne und Welt 3, 1900/01, S. 1048. Meyerfeld, »Wilde in Deutschland«, Sp. 459 ff. In seiner nicht lange danach veröffentlichten Rezension der Wilde-Biographie Sherards schlug er in dieselbe Kerbe, wenn er

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Nach Meyeifelds Meinung waren die Stücke also allzu britisch, um auf der deutschen Bühne wirklich reüssieren zu können. Im April 1903 zeichnete der Straßburger Hanns Parth in der Zeitschrift Der Merker ein recht differenziertes Wilde-Bild, wobei er auch auf die vier Komödien einging. Komödien heißen diese Stücke. Man könnte ebensogut sagen: Das Merkwürdige am Leben ist, daß seine tragischen Seiten auf uns eigentlich immer komisch wiiken, vorausgesetzt, daß wir nicht sentimental sind. Am deutlichsten ist das in der Frau ohne Bedeutung. [...] In ähnlicher Weise geht es in allen Komödien zu, nichts ist so komisch als die Tragik gewisser Momente.13 Parth gehört damit nicht zu den zahlreichen Kritikern, die Wildes Komödien in nichtssagende Handlung einerseits und witzige Aphorismen andererseits zerlegen, sondern er schreibt den Stücken, zumindest andeutungsweise, eine reflektierte ästhetische Struktur zu und zieht sogar ihre Multiperspektivität und Ambiguität in Betracht. Parth ist auch einer der ersten, die Wildes Nähe zu Nietzsche hervorheben:14 [...] Um diesen Gedanken auszusprechen, brauchte der deutsche Geist die ganze wuchtige, dithyrambische Titanenkraft Nietzsches. Wilde wirft ihn nur so hin. Begründung, Ausbau des Gedankens fehlt nie, aber folgt da, wo sich gerade eine gute Gelegenheit bietet. Alles Systematisieren liegt ihm fem. Leicht, graziös, in der Form der doppelt farbensatten Paradoxe spricht er seine tiefen Gedanken aus. Dadurch verlieren sie das ekelhaft lehrhafte, was auf uns so plump ernst, d. h. gar nicht wirkt.15 Schließlich geht Parth auch nuanciert auf die Wildesche Kunst der Charakterzeichnung ein. Die Personen der Komödien haben etwas von dem wunderbar künstlichen der shakespearischen Figuren an sich. Sie sind im Grunde (man verstehe mich nicht falsch) Marionetten, mit denen der Dichter spielt. »Das Wunderbarste ist das künstliche an der Kunst.« Sie reden schön und geistvoll, wie Shakespearesche Figuren [,..].16

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schreibt, die Komödien würden »ihrer lokalen Gartenmauer wegen bei uns immer ein wenig in partibus sein«. Vgl. Max Meyerfeld, »Erinnerungen«, S. 401. Hanns Parth, »Wilde«, S. 36. Vgl. dazu die Dissertation von Engelbert Weiser, Die Kunstphilosophie Friedrich Nietzsches und Oscar Wildes. Parth, »Wilde«, S. 34 f. Parth, »Wilde«, S. 36 (Original-Hervorhebung als Sperrung).

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Parth betont also die ästhetische Stilisierung der Figuren, er versteht die Komödien vor allem als Kunstprodukte, nicht nur als mehr oder weniger naturalistische (wie Gaulke) oder karikaturistische (wie Meyerfeld) Abbilder britischen Gesellschaftslebens. Diese ästhetisch-autonome Deutung, die Wildes modernes Kunstbewußtsein hervorhob,17 blieb aber eine Ausnahme und - abgesehen von Parths Einfluß auf Otto Flake - ohne Echo in der Theaterkritik. 18 Im Laufe der Jahre 1903 und 1904, die - im Gefolge von Reinhardts Berliner Sa/ome-Inszenierung - durch das stürmische Interesse der literarischen Öffentlichkeit in Deutschland an Wildes Leben und Werk geprägt waren, kam es dann zu einer raschen und lange anhaltenden Fixierung des kritischen Urteils über Wilde, ausgelöst durch die Rezeption von André Gides autobiographischem Essay »Oscar Wide«. 1 9 Dieser Essay konnte aus mehreren Gründen Aufmerksamkeit und Authentizität beanspruchen: Gide hatte sich als Schriftsteller bereits einen Namen gemacht, er hatte Wilde in den letzten Jahren seines Lebens mehrmals persönlich getroffen, er berichtete ausführlich, wörtlich, in direkter Rede über seine Gespräche mit Wilde, er zitierte als einziger Ohrenzeuge Aussagen Wildes über seine Werke, er durfte als Nicht-Brite mit jenem Glaubwürdigkeits- und Objektivitätsbonus rechnen, den man in einem umstrit-

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»Denn Wilde war, um den alten Gemeinplatz wieder zu gebrauchen, durch und durch l'art pour /'art-Mensch. Das heißt im Grunde nichts anderes, als da£ er ein Mensch war, der auf der ganzen Kulturhöhe, materieller wie geistiger, unserer Zeit stand, der die schon geschaffenen Kulturwerte in sich verarbeitet hatte und auf ihnen weiterbaute« (Parth, »Wilde«, S. 34). Otto Flake, ebenso wie Parth zum Kreis um René Schickele gehörend, schrieb 1904, Wilde könne »ein Vorbild sein für uns Deutsche, deren Seele eine einzige ungeheure Ueberwuchrung des moralischen Vermögens geworden« sei: Wilde dagegen sei »ein echter Hellene wieder in unsrer Zeit« (Flake, »Bei Gelegenheit Oskar Wildes«, S. 802). Zum literarhistorischen Hintergrund der Straßburger Literaten- und Ktinstlergruppe, zu welcher (der aus Metz gebürtige) Flake und Parth gehörten, vgl. den Aufsatz von Gunter Martens, »Stürmer in Rosen«. - Über vierzig Jahre später griff Otto Flake in seinem Essay Versuch über Oscar Wilde auf diese und Parths Gedanken zu Wilde zurück. Vgl. dazu unten S. 274 f. Nach einer Anmerkung Gides entstand der Essay im Dezember 1901; vgl. André Gide, Prétextes, Anm. 1, S. 221. Der Essay wurde 1902 in der Zeitschrift L'Ermitage veröffentlicht (vgl. Meyerfeld, »Wilde, Wilde, Wilde«, Sp. 989). Felix Paul Greve zitiert in seinem (im März 1903 abgeschlossenen und noch im selben Jahr erschienenen) Essay »Oscar Wilde« Gides Essay zum Teil noch auf französisch. Die erste deutsche Übersetzung (von »Berta Franz.« = vielleicht Berta Franzos?) erschien bereits im Juli 1903 in drei Teilen in der Rheinisch Westfälischen Zeitung. Beilage für Kunst und Wissenschaft. Die Übersetzung/Bearbeitung von Franz Blei machte den Essay dann allgemein bekannt; vgl. Franz Blei (Hrsg.), In Memoriam Oscar Wilde, S. 1-31.

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tenen Fall wie dem Wildes am ehesten wohl einem ausländischen Beobachter zubilligte.20 Die Bedeutung des Essays liegt jedoch weniger in seinem biographischdokumentarischen Inhalt als vielmehr darin, daß Gide ein prägnantes, kohärentes und einprägsames literarisches Porträt Wildes formte. Der Essay sagt ebenso viel über Gide aus wie über Wilde, denn er stellt einen Versuch dar, die für Gide prägende Begegnung mit Oscar Wilde21 in eine künstlerische Form zu bringen, die den Fall Wilde für Gide gewissermaßen endgültig abschloß. Bei seiner ersten Begegnung mit Wilde im Dezember 1891 - der Gedenk-Essay entstand, wie Gide anmerkt, auf den Monat genau zehn Jahre danach - war der junge Gide von Wilde schlechthin überwältigt.22 Als Wilde Ende Dezember 1891 Paris verließ, unternahm Gide einen ersten Versuch, sich von Wildes Dominanz zu befreien: "His finest tribute" gegenüber Wilde, schreibt Ellmann, war "his removal from his journal of those pages dealing with the first three weeks of their friendship. The main document about the psychic possession of Gide by Wilde is an absent one —a truly symbolist piece of evidence."23 Gide wollte offensichtlich zu strenger Disziplin, Ordnung und Form zurückkehren, als er am 1. Januar 1892 programmatisch in sein Tagebuch schrieb: «Wilde ne m'a fait, je crois, que du mal. Avec lui, j'avais désappris de penser. J'avais des émotions plus diverses, mais je ne savais plus les ordonner [...].»24 Was Gide zehn Jahre später in seinem Essay dann leistet, ist genau dies: die literarische Ordnung und Stilisierung seines Verhältnisses zu Wilde, eine posthume Rangordnung und Rollenverteilung zwischen sich selbst, der sich als «écrivain» verstand, und Wilde, der ein «grand viveur» gewesen sei. Gide stilisiert sein Verhältnis zu Wilde auf den Gegensatz zwischen Leben und Kunst, zwischen «écrivain» und «viveur». Dies ist der rote Faden, der den

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Diese Objektivität sprach Meyerfeld der 1902 auf englisch, 1903 auf deutsch erschienenen ersten Wilde-Biographie von Robert Harborough Sherard zu Recht ab. Vgl. Meyerfeld, »Von und über Wilde«, Sp. 541. Über das komplexe Verhältnis zwischen Wilde und seinem "disciple" Gide berichtet Ellmann in seiner Wilde-Biographie recht ausführlich (Ellmann, Wilde, S. 333-341 u. ö.); vgl. auch Jacques de Langlade, Oscar Wilde, S. 146-152. Nicht zugänglich war mir Diana Brontë, The Influence of Oscar Wilde in the Life and Prose Fiction of Gide. Ph. D. Thesis, University of North Carolina, Chapel Hill 1969. - Noch 1916 vertritt George in einem Brief an Gundolf die Ansicht, Gide sei nur ein Epigone Wildes (vgl. Böschenstein, »André Gide und Stefan George«, S. 83). Am 28. November 1891 schreibt Gide an Paul Valéry: «Quelques lignes de quelqu'un d'abruti, qui ne lit plus, qui ne dort plus, qui n'écrit plus, ni ne mange, ni ne pense — mais court, avec ou sans Louys, dans les cafés ou les salons serrer des mains et faire des sourires. Heredia, Régnier, Merrill, l'esthète Oscar Wilde, ô admirable, admirable celui-là»; und am Heiligabend 1891: «Pardonne-moi de m'être tu: depuis Wilde je n'existe plus que très peu» (André Gide - Paul Valéry, Correspondance, S. 139, 144). Ellmann, Wilde, S. 336. André Gide, Journal, S. 28.

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Essay durchzieht. Er prägt auch den Kontrast zwischen Inhalt und Form: Inhaltlich wird der tragische Niedergang des «grand viveur» dargestellt, der mit dem künstlerischen Verstummen und Versagen Wildes endet,25 formal wird dem biographischen Material von dem écrivain Gide eine strenge Form aufgeprägt, wodurch der «grand viveur» Wilde überhaupt erst dem Schicksal des Vergessenwerdens entrissen werden soll. Die Form des Essays ist signifikant: Der Essay besteht aus einer Vorrede und fünf Teilen, die im Aufbau und in Einzelmotiven (ζ. B. Wiederholung des Schicksalsmotivs) an eine griechische Tragödie erinnern können. Wilde, der «grand viveur», der «Bacchus asiatique», «empereur romain», «Apollon»26 liefert den formlosen Stoff, Gide, der «écrivain», liefert die klassische Form. Diese Rollenverteilung wird mehrfach angedeutet, ζ. B. kontrastiv dadurch, daß Wildes eigene Unfähigkeit zur ästhetischen Formung immer wieder hervorgehoben wird. So steht schon in der Vorrede die erstaunliche Verurteilung der literarischen Bedeutung Wildes: Lorsque le scandaleux procès, qui passiona l'opinion anglaise, menaça de briser sa vie, quelques littérateurs et quelques artistes tentèrent une sorte de sauvetage au nom de la littérature et de l'art. On espéra qu'en louant l'écrivain on allait faire excuser l'homme. Hélas! un malentendu s'établit; car, il faut bien le reconnaître: Wilde n'est pas un grand écrivain. [...] «J'ai mis tout mon génie dans ma vie; je n'ai mis que mon talent dans mes œuvres», disait Wilde. — Grand écrivain non pas, mais grand viveur, si l'on permet au mot de prendre son plein sens. Pareil aux philosophes de la Grèce, Wilde n'écrivait pas mais causait et vivait sa sagesse, la confiant imprudemment à la mémoire fluide des hommes, et comme l'inscrivant sur de l'eau. 27

Gides biographische Skizze spricht daher immer wieder «d'affection, d'admiration et de respectueuse pitié»28 gegenüber dem Menschen Wilde, stellt aber gleichzeitig eine vernichtende Kritik der literarischen Werke Wildes dar. Gide streitet Wilde die künstlerische Fonnkraft schlechthin ab. So kritisiert er charakteristischerweise in Anlehnung an die klassische Rhetorik mit ihrer Einteilung in inventio, dispositio und elocutio - Wildes Prosawerke, z.B. den Dorian Gray, mit der Behauptung, Wildes Begabung beschränke sich einzig auf «l'idée première», also auf die inventio - «mais dès ici le don s'arrête»; es gelinge ihm nicht, die einzelnen Teile zu entwickeln und zu organisieren, und

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Teil V. beginnt mit den Worten: «Et peu de temps après Wilde revint à Paris. Sa pièce n'était pas écrite; elle ne le sera jamais» (Gide, Prétextes, S. 250). Gide, Prétextes, S. 223. Gide, Prétextes, S. 221 f. Gide, Prétextes, S. 221. 115

auch bei der Ausformulierung verliere Wilde vor lauter «surcharge de concetti [...] la profonde émotion centrale» aus den Augen.29 Dieses reduzierte und stilisierte Bild des Schriftstellers Wilde stützt Gide durch die wörtliche - aber doch wohl selektive - Wiedergabe von Gesprächen, in denen Wilde sich selbst von seinen eigenen Werken distanziert. Am nachhaltigsten wirkte folgende Passage auf die deutsche Rezeption: Vous avez mieux à dire que des plaisanteries, commençait-je; vous me parlez ce soir comme si j'étais le public. Vous devriez plutôt parier au public comme vous savez parier à vos amis. Pourquoi vos pièces ne sont-elles pas meilleures? Le meilleur de vous, vous le parlez; pourquoi ne l'écrivez-vous pas? — Oh! mais, s'écria-t-il aussitôt, — mes pièces ne sont pas du tout bonnes! et je n'y tiens pas du tout... Mais si vous saviez comme elles amusent!... Elles sont presque toutes le résultat d'un pari. «Dorian Gray» aussi; je l'ai écrit en quelques jours, parce qu'un de mes amis prétendait que je ne pourrais jamais écrire de romans. Cela m'ennuie tellement d'écrire! — Puis se penchant brusquement vers moi: Voulez-vous savoir le grand drame de ma vie? — C'est que j'ai mis mon génie dans ma vie; je n'ai mis que mon talent dans mes œuvres. Il n'était que trop vrai. 30

Wenn dieses Gespräch tatsächlich in diesem Sinne Ende Januar 1895 in Algier stattgefunden hätte - in London spielte seit dem 3. Januar An Ideal Husband vor begeistertem Publikum, die Proben für The Importance of Being Earnest liefen bereits auf vollen Touren - , dann hätten wohl selten zwei Schriftsteller ähnlich zielstrebig aneinander vorbeigeredet. Denn einmal kannte Gide im Januar 1895, als das Gespräch stattfand, Wildes »Stücke«, über die er sich so abfällig äußert, überhaupt nicht oder nur vom Hörensagen, wie sich z. B. aus Wildes Replik ergibt («Si vous saviez...»), zum andern ist auch das, was Wilde sagt, unaufrichtig - sowohl was die Wetten und die sorglose Geschwindigkeit seiner Produktionsweise als auch was die Geringschätzung seiner Stücke betrifft. Es ist dies die einzige überlieferte negative Äußerung Wildes über seine Werke, wie man beim Lesen seiner Briefe und sonstigen Lebensdokumente leicht feststellen kann. Selbst in der Lebensbeichte De Profundis äußert er sich stolz über seine Stücke. Falls also Gides selektive Gesprächswiedergabe in diesem Punkt völlig korrekt wäre,31 so war Wildes pauschale Selbstkritik keinesfalls ernst gemeint; sie war vielleicht aus dem Wunsch geboren, auf den

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Gide, Prétextes, S. 237. Gide, Prétextes, S. 236 f. Diese Schilderung steht bei Gide nicht im Haupttext des Essays, sondern in einer Anmerkung. Gide sagt allerdings zumindest dort die Unwahrheit, wo er sich über die Gerüchte von Wildes Homosexualität entrüstet: «J'écoutais, plein d'étonnement, cette rumeur. Rien, depuis que je fréquentais Wilde, ne m'avait jamais pu rien faire soupçonner» (Gide, Prétextes, S. 234).

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puritanisch-strengen ästhetischen Vorwurf Gides mit der entwaffnenden Pose proteischer Genialität zu reagieren. Gide aber - falls Wilde sich so äußerte nahm Wilde unkritisch beim Wort: Er zeichnete die momentane, spontane Übertreibung und Selbststilisierung als Quintessenz der literarischen Selbsterkenntnis Wildes auf. Man darf aber daran zweifeln, daß Gides Gesprächswiedergabe wirklich authentisch ist. Zwölf Jahre nach dem Essay vertraute Gide nämlich - anläßlich der Lektüre von Ransomes Wilde-Biographie 32 - seinem Tagebuch einen Widerruf an, den er danach noch mehrmals wiederholte: Le livre de Ransome me paraît bon — et même très bon par endroits. Peut-être admire-t-il un peu trop les parures dont Wilde aimait à recouvrir sa pensée, et qui continuent à m'apparaître assez factices - et par contre ne montre-t-il pas à quel point les pièces Un Mari idéal et La Femme de peu d'importance sont révélatrices — et j'allais dire: confidentielles, — malgré leur apparente objectivité. Certainement, dans mon petit livre sur Wilde, je me suis montré peu juste pour son œuvre et j'en ai fait fi trop à la légère, je veux dire: avant de l'avoir connu suffisament J'admire, en y repensant, la bonne grâce avec laquelle Wilde m'écoutait lorsque, à Alger, je faisais le procès de ses pièces (fort impertinement, à ce qu'il me paraît aujourd'hui). Aucune impatience dans le ton de sa réponse, et même pas une protestation; c'est alors qu'il fut amené à me dire, et presque en manière d'excuse, cette extraordinaire phrase, que j'ai citée et que depuis on a citée partout: «J'ai mis tout mon génie dans ma vie; je n'ai mis que mon talent dans mes œuvres.» Je serais curieux de savoir s'il a jamais dit cette phrase à quelqu'autre que moi. Plus tard j'espère bien pouvoir revenir là-dessus et raconter alors tout ce que je n'ai pas osé dire d'abord. Je voudrais aussi expliquer à ma facon l'œuvre de Wilde, et en particulier son théâtre — dont le plus grand intérêt gît entre les lignes.33 32 33

Arthur Ransome, Oscar Wilde. A Critical Study, London 1912. Gide, Journal, S. 388 f. (29. Juni 1913). Nach Ellmann hatte Wilde das Bonmot, er habe nur sein Talent in seine Werke, sein Genie jedoch ins Leben investiert, bereits vier Jahre früher, im November 1891, in einem Gespräch mit Verlaine von sich gegeben (Ellmann, Wilde, S. 322). - In einem Tagebucheintrag vom 1. Oktober 1927 deutet Gide an, inwiefern das Hauptinteresse der Wildeschen Stücke zwischen den Zeilen liege: Die Stücke seien eine Art Tarnung, um auf so versteckte Weise sein existentielles Geheimnis (gemeint ist Wildes Homosexualität) zu offenbaren: «Ici, comme presque toujours, et parfois à Γ insu même de l'artiste, c'est le secret du profond de sa chair qui dicte, inspire et décide.» Es gebe in den Stücken «quantité de phrases bizarrement révélatrices et d'un intérêt psychologique puissant. C'est pour ces dernières que Wilde écrivit toute la pièce, n'en doutez point» (Gide, Journal, S. 847). - Bemerkenswerterweise wirkten auch diese Andeutungen Gides wieder außerordentlich rezeptionslenkend: In der französischen (später auch in der anglo-amerikanischen) Wilde-Philologie kam es zu einem existenzialistisch-tiefenpsychologischen Biographismus, der Wildes Werke von seiner Homosexualität her zu deuten versuchte (Lemonnier, Oscar Wilde; Merle, Oscar Wilde; vgl. dazu Kohl, Wilde, S. 19 ff.). - Im Vorwort (»Notice«) von André Gide, Oscar Wilde. In Memoriam, korrigiert Gide sich ein weiteres Mal: «II

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Diese 1913 im Tagebuch versteckte und erst wesentlich später veröffentlichte Zurücknahme seines Fehlurteils (und Fehlverhaltens?) blieb in Deutschland ohne Wirkung, während Gides früher Essay ab 1903 zur Grundlage fast jeder kritischen Beurteilung Wildes wurde. Für die deutsche Rezeption des Gide-Essays war es folgenreich, daß man die negative Stilisierung des Schriftstellers Wilde, die Gide zugunsten der positiven Darstellung des >Lebens-Genies< Wilde unternommen hatte, nicht erkennen konnte. Man nahm Gides Porträt und Qualitätsurteil, die ja mit Wildes eigenen Worten zitatenecht verbürgt schienen, für bare Münze. Man las den Essay nicht als perspektivisch und literarisch gestaltetes Kunstprodukt, sondern als schlichtes, authentisches Lebensdokument. Dazu trug auch die Art bei, wie der Essay in Deutschland von Franz Blei präsentiert wurde. Franz Bleis schön gestaltetes Sammelbändchen In Memoriam Oscar Wilde, 1904 bei J. C. C. Bruns in Minden erschienen, machte den Essay, der bereits ein Jahr zuvor im Feuilleton der Rheinisch-Westfälischen Zeitung erschienen war, einer breiteren literarischen Öffentlichkeit zugänglich. Blei veränderte jedoch die Form des Essays: Die programmatische Vorrede mit Gides hartem Urteil über den «écrivain» Wilde fiel weg, der fünf>aktige< Aufbau wurde in einen durchgehenden Bericht umgewandelt, die längeren Prosaerzählungen Wildes wurden herausgenommen und im Schlußteil des Sammelbandes als »Gedichte in Prosa« abgedruckt. Weshalb Blei Gides Vorrede eliminierte, läßt sich leicht erraten: Blei konnte als belesener Wilde-Kenner und -Übersetzer mit Gides pauschaler Abwertung der literarischen Produkte Wildes nicht einverstanden sein. In seinem »In Memoriam O. W.« widemift er stillschweigend Gides Vorrede, indem er Wildes schriftstellerische Bedeutung pointiert hervorhebt: Die künstlerische Hinterlassenschaft Wilde's wäre bedeutend genug, dass sein Name für alle Zeiten stände. Aber es hat sein Leben ein Schicksal erfahren, dessen groteske Tragik vor dem Werke steht und seinen skurrilen Schatten darüber wirft [...]. 34

Durch das Weglassen der Vorrede Gides und die Hervorhebung der »künstlerische[n] Hinterlassenschaft« Wildes versuchte Blei, Gides Umwertung - Wilde sei nur als Mensch, nicht aber als Schriftsteller bedeutend - rückgän-

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me paraît aujourd'hui que dans mon premier essai j'ai parlé de l'œuvre d'Oscar Wilde, et en particulier de son théâtre, avec une injuste sévérité. Les Anglais aussi bien que les Français m'y invitaient, et Wilde lui-même montrait parfois pour ses comédies un amusant dédain auquel je m'étais laissé prendre. [...] Certes je n'en suis pas venu à considérer ces pièces comme des œuvres parfaites; mais elles m'apparaissent, aujourd'hui que j'ai appris à les connaître mieux, comme des plus curieuses, des plus significatives et, quoi qu'on en ait dit, des plus neuves du théâtre contemporain» (S. 7 f.). Blei (Hrsg.), Oscar Wilde, S. 49.

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gig zu machen oder ihr entgegenzuwirken. Dies konnte jedoch - zumindest für die Komödien und Dorian Gray - nicht gelingen, so lange in Gides Essay die Aussagen Wildes, er schätze seine Stücke selbst nicht und habe sie nur auf Wetten hin verfaßt, kommentarlos stehen blieben. Man darf sogar vermuten, daß diesen Zitaten in Bleis Ausgabe des Essays ein noch größeres Gewicht dadurch zukam, daß seine raffende Übersetzung und Bearbeitung auf die ursprüngliche ästhetische Form des Essays verzichtete. Die Eliminierung der literarischen Form und der in der Vorrede geäußerten subjektiven Perspektive Gides sowie die Auslagerung der poetischen Erzählungen Wildes veränderten den Charakter des Essays: Er wurde zum schlichten Tatsachenbericht eines Freundes, welcher selbst kaum noch als literarischer Vermitder vor den Leser trat. Gides Essay mußte in dieser Form tatsächlich als Zeugnis eines unbestechlichen Beobachters wirken.35 Die Wirkung von Gides Essay zeigte sich schon vor seiner Übersetzung ins Deutsche, nämlich in Felix Paul Greves Essay Oscar Wilde, den Greve für die populäre Reihe Moderne Essays des Berliner Verlags Gose & Tetzlaff Anfang 1903 verfaßte. Greve ist keineswegs mit allen Urteilen Gides einverstanden, wenn auch sein eigener Essay über viele Seiten hinweg nichts als eine Paraphrase Gides darstellt. Das Interessanteste darin ist die psychologische Hinterfragung, der Greve das Wilde-Bild Gides unterzieht. Greve vermutet - mit der Hellsichtigkeit des Sympathisanten - genau da Wildesche Pose, wo Gide Substanz zu sehen vermeinte, nämlich in der Verkörperung des «grand viveur»: Ein Künstler, dessen Ziel und Streitwort das »l'art pour l'art« ist, spielt den »grand viveur« und tut, als sei ihm die Kunst ein unterhaltender Zeitvertreib. [...] Es ist, als ob er sich seines eigenen Ernstes schäme und ihn verbeigen wolle. Auch seines Künstleremstes schämte er sich. [...] Sein Roman und seine Dramen,

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Genau diese gutgläubige Rezeptionsweise zeigt sich in Wilhelm Michels Besprechung von Gides Essay (»Erinnerungen an Oskar Wilde«). Vermutlich ist Hofmannsthals Wilde-Essay »Sebastian Melmoth«, der am 9.3.1905 in der Berliner Zeitung Der Tag erschien, nicht nur durch die Lektüre der Biographie Sherards, sondern auch durch die des Gideschen Essays angeregt, da er Wildes Werke nur nebenbei erwähnt, dafür aber sem Leben - auf ähnliche Weise wie Gide, aber doch grandioser mythisierend - zu einer griechischen Tragödie stilisiert: »Oscar Wildes Wesen und Oscar Wildes Schicksal sind ganz und gar dasselbe. Er ging auf seine Katastrophe zu, mit solchen Schritten wie Ödipus, der Sehend-Blinde. Der Ästhet war tragisch. Der Geck war tragisch. Er reckte die Hände in die Luft, um den Blitz auf sich herabzuziehen« (»Sebastian Melmoth«, S. 383). Was Gide zu einer biographisch motivierten Schicksalstragödie formt, wird von Hofmannsthal als Märtyrertragödie, als exemplarische Tragik »des Lebens« dargestellt, wobei er gegen SchluB des Essays einen wichtigen Gedanken Wildes aus dem Dorian Gray (11. Kapitel) aufgreift: »Es ist alles im Menschen drin. Er ist voll der Gifte, die gegeneinander wüten« (S. 385).

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sagte er, waren die Resultate von Wetten. Von seiner Arbeit, von seinem künstlerischen Emst redete er fast nie.36 Greve entwirft demgegenüber das recht klischeehafte Bild eines sensiblen Poeten der Jahrhundertwende, eines Décadent: Er war kein »grand viveur«, wie man ihn genannt hat - vielleicht ein »grand rêveur«. [...] Solche Menschen [...] beherrschen das Leben nicht, weil sie es nicht sehen wollen, und wo das Leben stärker ist als ihr Traum, da tritt es wie ein Fremdes, Persönliches an sie heran. [...] Sie leiden an Ahnungen.37 Vor dem Hintergrund dieses neuromantisch-esoterischen Wilde-Bilds stellt sich jedoch die Frage, wie die Komödienproduktion zu diesem Bild paßt. Greve, dessen Stärke eher im Einfühlungsvermögen als in begrifflicher Konsequenz besteht, vollzieht einen kühnen, zeitraffenden Interpretationsschlenker: W i d e wollte damit Geld verdienen, sonst nichts. Wilde hatte im Anfang der neunziger Jahre die Möglichkeiten seines Träumerlebens erschöpft. Noch einmal beginnt 1893 eine Zeit unermüdlicher Tätigkeit Aber zum größten Teil ist sie darauf berechnet, ihm Geld einzubringen. Seine Dramen [...] brachten ihm den Erfolg der Bühne [...].38 In Greves Beurteilung der Komödien wirkt offensichtlich die von Gide berichtete Anekdote über Wildes Geringschätzung seiner Stücke, aber wohl auch die Lektüre der Berliner Bunbury-Knükcn nach. Sie sind diejenigen Werke Wildes, die ihm beim Publikum den größten Erfolg einbrachten. Und es ist diesmal wahr: deshalb auch seine schlechtesten. [...] Wilde selber wußte, was er machte, war schlechte Kunst, aber er wollte Erfolg und brauchte - Geld. [...] Anders und doch nicht anders ist das vierte dieser Dramen: The Importance of Being Earnest. Es ist eine ausgelassene Farce, in der kein ernstes Wort steht Das Ganze ist eine Parodie auf die Komödie, jede Gestalt eine Parodie auf sich selbst. Die ältesten Gestalten des französischen Lustspiels stehen auf und lachen über sich selbst und machen uns lachen, weil sie scheinbar nicht wissen, daß sie über sich selber lachen. Die Manier, wie jede der auftretenden Personen, einerlei ob jung oder alt, schön oder häßlich, dumm oder klug, mit gleichmäßigem Stumpfsinn die unglaublichsten Paradoxen sagt, gehört zum komischsten, was die Lustspielliteratur kennt Lady Bracknell spricht nicht anders als Algernon, der jugendliche Eindringling und Liebhaber, und Miß Prism, die Gouvernante selbst, und der Pfarrer Dr. Chasuble reden, wie etwa Wilde sprach, wenn er den »Bürger ärgern« wollte.

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Greve, Oscar Wilde, S. 5 f. Greve, Oscar Wilde, S. lOf. Greve, Oscar Wilde, S. 11 f.

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Aber, wie ich schon sagte, keins dieser Dramen macht Anspruch darauf, als Kunst zu gelten.39 Fazit: Greve kritisierte wohl, wenn auch nicht pointiert gegen Gide gerichtet, die Vereinfachung des Wilde-Bilds in Gides Essay, es fehlte ihm aber an der gedanklichen und begrifflichen Prägnanz, um Gides präzise Darstellung erschüttern zu können. Das Wilde-Bild, das Greve selbst zu skizzieren versuchte, blieb zu bläßlich und in sich widersprüchlich, um gegen Gides Wirkung anzukommen. Was die Beurteilung der Komödien betrifft, so bestätigte Greve ohnehin Gides Vor-Urteil. Für die spezielle Beurteilung von Bunbury ist es signifikant, daß Greve die Ansicht vertritt, die Sprechweise der einzelnen Figuren sei nicht individualisiert: »[...] jede der auftretenden Personen [sagt] [...] mit gleichmäßigem Stumpfsinn die unglaublichsten Paradoxen [...]. Lady Brackneil spricht nicht anders als Algernon [...].« Die übersetzerische Konsequenz dieser Auffassung war bei Greve, daß er die Sprechweise der einzelnen Figuren dann tatsächlich normalisierte und entindividualisierte. Die uniforme Sprechweise der Wildeschen Figuren wurde in der Theaterkritik zu einem häufig wiederholten Klischee. Die jahrzehntelang einflußreichste, von den Theaterkritikern am häufigsten wiederholte Wilde-Interpretation stammte von Carl Hagemann, der die bei Gide ausgesprochene Verurteilung der Komödien Wildes zur Grundlage seiner eigenen Kritik machte. Gides Urteil erhielt durch Hagemanns Buch seine Breitenwirkung. 40 Hagemann hatte sich seit der Jahrhundertwende mit Büchern über Regie und Schauspielkunst, in denen er sich als Theoretiker eines etwas kom-

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Greve, Oscar Wilde, S. 41 f. Wichtig für die Verbreitung von Gides negativem Urteil über die Komödien war sicher auch Philipp Aronsteins Gesamtdarstellung in der Einleitung von Oscar Wildes Werke in fiinf Bänden, S. 5-132. Die Ausgabe ist - abgesehen von geringfügigen redaktionellen Retuschen - textidentisch mit der Wiener Ausgabe von 1906-08 bzw. deren Neuauflage von 1918). Aronstein bespricht in seinem 7. Kapitel (S. 74-104) die Dramen Wildes zwar differenzierter und mit mehr literarhistorischem Hintergrundswissen als Hagemann, bleibt aber bei der Wertung der Komödien - außer im Falle von Bunbury völlig dem Urteil Gides verhaftet: »Alles endigt hübsch moralisch, [...] während der lachende Dichter seine Tantiemen einstreicht. >Ach, wenn Sie wüBten, wie diese Stücke die Leute amüsieren!< antwortete Wilde mit der Pose der Gleichgültigkeit dem französischen Schriftsteller André Gide, der ihn auf die Minderwertigkeit seiner Dramen aufmerksam machte« (Aronstein, »Wilde«, S. 87). In The Importance of Being Earnest - das in den Tagen, wo er dies schreibe, »schon zum mehr als hundertsten Male« (S. 75) in Berlin gespielt werde - habe der Dichter, »der sich bis dahin dem Konventionalismus, der faden Sentimentalität und seichten Moral des Publikums angepaßt« habe, auf »jede ernsthafte Handlung verzichtet« und damit »eine eigene dramatische Form« geschaffen: »Kritisieren läßt sich so etwas ebensowenig wie die Späße von Zirkusclowns; das Publikum lacht aus vollem Halse, und auch der Kritiker lacht wider bessere Einsicht« (S. 89 f.). 121

mandohaften Regietheaters profilierte, einen Namen gemacht. Im Jahre 1904 veröffentlichte er, kräftig in die modische Wilde-Diskussion eingreifend, gleich zwei Wilde-Bücher bei J. C. C. Bruns in Minden. Das erste, Wilde-Brevier betitelt, enthielt Aphorismen aus sämtlichen Werken Wildes sowie eine umfangreiche Bibliographie. Das zweite, Oscar Wilde. Studien zur modernen Weltliteratur, war die erste deutschsprachige Gesamtdarstellung Wildes, die fast sämtliche Werke Wildes abhandelte und den Dichter literarhistorisch in den Rahmen der modernen Weltliteratur - reduziert auf Ibsen, Shaw, Wedekind - einzuordnen versuchte. Hagemanns übersichdiche, joumalistisch-flott formulierte Darstellung blieb auf Jahre hinaus das einflußreichste deutsche Wilde-Buch überhaupt; 1925 wurde es, überarbeitet und erweitert, neu aufgelegt, wobei die im folgenden referierte Darstellung der Komödien jedoch kaum modifiziert 41

wure. Die Kurzbesprechung des Buches in Bühne und Welt erklärte es zum Standardwerk: Unter der in letzter Zeit recht üppig ins Kraut geschossenen Wildeliteratur verdient Hagemanns klug abgewogene, gut geschriebene Studie an erster Stelle genannt zu werden, da sie nicht von irgend welchem Parteistandpunkt ausgeht und keinerlei apologetischen Charakter trägt, sondern nach bewährter literarhistorischer Methode ein objektives Bild von Wildes Schaffen und Persönlichkeit sich zu geben bemüht. Schonungslos deckt Hagemann die Nichtigkeit von Wildes Gesellschaftskomödien auf, um den Dichter der Salome, den feinsinnigen Essayisten und Novellisten, den Meister des Paradoxons und der Antithese, gebührend zu würdigen.42 Hagemann zieht bei seiner kritischen Be- bzw. Verurteilung der Komödien die radikalen Konsequenzen aus Gides Essay. Dabei trägt er seine Urteile im Brustton der Überzeugung, ohne Ironie und Nuancen, in einem kämpferischapodiktischen Ton vor. Er behauptet, die Komödien des «grand viveur» taugten nichts, da sie nur aufgrund von Wetten, »ohne jede Anteilnahme«, ohne Berücksichtigung der »unerbittlichen Normen der szenischen Kunst«, ohne den Versuch »einer psychologischen Ausgestaltung« rasch hingeschrieben worden seien. Die Handlung sei meist »unsagbar läppisch«, die Stoffe seien »Dumas, Augier, Sardou und verwandte[n] Genossen« entlehnt, den Figuren glaube man ihr »Selbst und Eigen« nicht, sie seien unterschiedslos Spiegelbilder des Autors. 43 Wildes Stücke seien »als >Dramen< eigentlich so gut wie gar nichts

41

42 43

Vgl. Hagemami, Wilde, 1904; Hagemann, Wilde, 1925. Auszüge aus diesem Buch wurden noch im Vorwort von Hagemanns 1947 und 1960 veröffentlichten Bearbeitungen der vier Wilde-Komödien wiederabgedruckt. Bühne und Welt 7, 1904/05, S. 612f. In den Vorwurf mangelnder sprachlicher Individualisierung, der sich als Klischee durch einen großen Teil der Wilde-Literatur zieht, stimmt selbst Aronstein ein, ohne die

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wert«. 44 Dem Ich-Menschen Wilde fehle die »Menschenliebe«, die der wahre Dramatiker brauche. 45 Bei Wilde herrsche - im Gegensatz zu den Überzeugungsdramatikern Ibsen und Shaw - »der Spott um des Spottes, der Hohn um des Hohnes willen«. 46 Seinen Figuren fehle das »innerlich und objektiv Wahre«. Der Komödiendichter Wilde sei aber auch »ganz ohne künstlerischen Ehrgeiz«, 4 7 Wilde sei nun einmal »kein Konstrukteur«. »Meine Stücke sind gar nicht gut« sagte er einst zu André Gide [...]. »Alle fast sind sie das Resultat einer Wette [...].« Weil Oscar Wilde nicht konstruieren konnte, fehlen seinen Komödien [...] auch fast durchweg wirksame Aktschlüsse. [...] Wilde berechnet eben nicht. Er komponiert nicht, sondern sprudelt drauflos. 48 Bestechend seien in Wildes Komödien nur die »Epigramme«. Diese seien jedoch nicht in die dramatische Handlung integriert. So sei bei Wilde letzten Endes das Nebensächliche immer das »Interessantere, Amüsantere«:

44 45 46 47 48

Selbstwiderspriiche zu bemerken, in die er dabei gerät. So stellt er einerseits geradezu enthusiastisch die »komischen Charaktere« dar, »in denen Wilde den Ton, die Lebensauffassung der exklusiven Welt, die er schildert, prächtig getroffen hat, die leichtsinnigen Lebemänner mit ihrem Übermut und ihrer überschäumenden Heiterkeit, im einzelnen wieder nach bestimmten Typen geschieden, frivol und zynisch, albern und taperig, blasiert und doch energisch und sympathisch [...]; ferner die jungen Mädchen, forsch und lebenslustig [...], die alten Damen, die nach Schwiegersöhnen fahnden, so naiv und so vorurteilsvoll, so unintelligent und so schlau berechnend. Besonders gelungen sind auch die Geistlichen [...], die dummdreisten und doch schlauen Diener [...], die prüden, pedantischen Gouvernanten, dazu dann noch gewichtige Parlamentarier mit ihrem Volksredner- und Phrasenstil, schnippische Kammerzofen usf.« (Aronstein, »Wilde«, S. 91). Zwei Seiten später erfolgt geradezu übergangslos die Subsumierung der Wildeschen Charakterisierungskunst unter das Klischee: »Wie die Sprecher heißen, ist einerlei. Sie sprechen alle, Frauen wie Männer, mit gewissen Nuancen denselben Dialekt« (S. 93). - Derart negative Urteile kommen bei Aronstein lediglich im Zusammenhang mit den Komödien vor - vermutlich eine Spätfolge von Gides Essay, wie vielleicht auch Gides Wort vom «grand viveur» in Aronsteins Schlußsatz widerhallt, Wilde sei »ein Anreger von bleibender Kraft, weil er in hohem Sinn eine Persönlichkeit war« (S. 132). - Die sich beim Übersetzungsvergleich offenbarende individualisierende Sprachgestaltung Wildes bewahrheitet die fruchtbare >Göttinger< These vom »rückblickenden Erkenntniswert« der historisch-deskriptiven Übersetzungsforschung: »Differenzen zwischen Ausgangstext und Zieltext erlauben dem Übersetzungskritiker rückblickend Erkenntnisse über das Bedeutungspotential eines Ausgangstextes, die in der monophilologischen Literaturkritik bisher nicht gewonnen worden sind« (Frank [Hrsg.], Der lange Schatten kurzer Geschichten, S. 265). Hagemann, Wilde, 1904, S. 55 ff. Hagemann, Wilde, 1904, S. 73. Hagemann, Wilde, 1904, S. 60. Hagemann, Wilde, 1904, S. 62, 63. Hagemann, Wilde, 1904, S. 72. 123

Hiermit werden also Begleiterscheinungen in den Mittelpunkt des Ganzen gerückt Und das ist natürlich ein Fehler. [...] Um eine Anzahl Pointen anzubringen, soll man aber nicht gleich eine Komödie schreiben. Und das tut Wilde. [...] Er schreibt, um zu schreiben, wie er es gelegentlich versprochen hat. Es ist schade drum. Seine Komödien diskreditieren ihn, diskreditieren ihn stark.49 Am schonungslosesten trifft Hagemanns Verdammungsurteil die Komödie Bunbury, die er nur in Teschenbergs vieraktiger Version kennengelernt hat: Die vierte Arbeit dieser Reihe Bunbury (The Importance of Being Earnest) ist dagegen überhaupt nichts wert. Es handelt sich um eine lahme Veikleidungs- und Verwechslungsfarce, die breit, langweilig und witzlos an uns vorüberzieht. Der zugrunde liegende Possenscherz ist Urväter-Hausrat. [...] Dazu kommt das Schauermotiv des in einer Kleidertasche auf dem Bahnhof vergessenen Kindes und andere urromanüsche Unwahrscheinlichkeiten ohne Pfeffer und Salz. Und schließlich steht in den letzten beiden Akten die langweiligste Verlobungsgeschichte von der Welt [...]. Wide hat eben für diese Sachen keinen rechten Witz. Ihm fehlt jeder Sinn für Situationskomik, um solche Possen wiiksam verpuffen zu lassen. Über geistreiches Witzeln kommt er nicht hinaus. Und dann fehlt ihm vor allem jeder Humor, so daß sich niemals eine gewisse Behaglichkeit einstellt. Dazu ist er viel zu künstlich und gezwungen. Was er sagt und schreibt, klingt scharf, essigscharf. Es frißt sich in die veralteten Anschauungen einer Konvention hinein, ohne uns aber in allen Fällen davon zu erlösen und, wenn auch nur für den Augenblick, davon zu befreiea Für die Gesellschañsposse war Oscar Wilde deshalb wohl kaum der richtige Mann.so Hagemann erklärt den »ganz ungeheueren Erfolg« gerade dieses Stückes in London mit dem schlechten Geschmack des englischen Publikums. 51 In seiner Zusammenfassung läßt Hagemann Wildes Stücke - in elitärer Metaphorik - gerade noch als »Schwankfutter« gelten, das lediglich zur Befriedigung eines »kindlichen Amüsement-Bedürfnisses« geeignet sei. Dem »Bedürfnis des vornehmen, künstlerisch geschulten Kulturmenschen« werde damit bedauerlicherweise nicht entsprochen. 52 Kommen wir zu einem Fazit der Hagemannschen Wilde-Interpretation, die ab 1904 - und erst recht nach der erweiterten Neuauflage von Hagemanns Wilde-Buch im Jahre 1925 - immer wieder wiederholt wurde, während etwa Gaulkes, Landauers, Kraus' und Arnold Zweigs sozialutopisches Wilde-Bild für die übersetzerische, theatralische und theaterkritische Rezeption der Ko-

49 50 51 52

Hagemann, Hagemann, Hagemann, Hagemann,

124

Wilde, 1904, S. 75, 77, Wilde, 1904, S. 79 f. Wilde, 1904, S. 80. Wilde, 1904, S. 83 f.

mödien ohne nachweisbaren Einfluß blieb. Hagemanns Komödien-Interpretation läßt sich in vier Punkten zusammenfassen: 1. Es ist nicht zu übersehen, daß Hagemanns negative Darstellung der Komödien inhaltlich auf Gides Essay und Urteil fußt, den er als Tatsachenbericht rezipiert.53 Gides und Wildes eigene Verurteilung der Komödien wird, durch Hagemanns Argumentation untermauert, in der Folgezeit zum Gemeingut und Gemeinplatz der >seriösen< Theaterkritik. 2. Hagemann spaltet die Komödien völlig von Wildes ästhetischen und sozialen Theorien sowie von der übrigen literarischen Produktion Wildes ab. Vor allem scheint er Wildes Sozialismus-Essay kaum gelesen zu haben.54 Durch die - auf Gide und Greve zurückgehende - ästhetische Ausgrenzung der Komödien fällt Hagemann nicht nur hinter Gaulke zurück, der bereits 1896 den Sozialismus-Essay als Interpretationsgrundlage auch der Gesellschaftsdramen angesehen hatte, so grobschlächtig er dabei verfahren sein mag; sondern auch hinter Parth, der die autonome Ästhetik des l'art pour l'art auch auf die Komödien übertragen wollte. 3. Hagemann zerlegt die Komödien in zwei Ebenen, die praktisch nichts miteinander zu tun hätten: die läppische Handlung unglaubwürdiger Figuren ohne psychologische Charakterisierung einerseits, witzige Aphorismen andererseits. Den Komödien wird somit keinerlei dramatische oder ideelle Kohärenz zugestanden. Sie können höchstens als »Schwankfutter« für das Boulevardpublikum dienen. 55

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Das gilt auch für Hagemanns Darstellung des Dorian Gray: »Obgleich unser Dichter die Arbeit in wenigen Tagen ohne Unterbrechung niederschrieb, hat er sich und sein künstlerisches Können nicht zu konzentrieren, nicht im Zaume zu halten vermocht« (Hagemann, Wilde, 1904, S. 134f.). Hagemann widmet dem Sozialismus-Essay nur wenig Aufmerksamkeit; es handle sich dabei um »ein reines Phantasiegebilde« (Hagemann, Wilde, 1925, S. 153). - Auch der Berliner Theaterkritiker Fritz Engel, der in seinem knappen >Bühnenfiihrer< (46 Seiten) insgesamt wesentlich positivere Darstellungen der Komödien als Hagemann geschrieben hat, tut den Sozialismus-Essay ab mit der Bemerkung: »Das ist heute veraltet, damals war es kühn« (Wilde, S. 5). Auf das Urteil Engels und Hagemanns wird in der NS-Zeit zurückgegriffen, um Arnold Zweigs sozialutopisches Wilde-Bild zu verdrängen (vgl. dazu das 6. Kapitel). - Aronstein dagegen zählt den Sozialismus-Essay »zu Wildes besten theoretischen Schriften« (Aronstein, »Wilde«, S. 69). Wilde erweise sich darin als »ein überzeugter Individualist, ein Feind jeglicher Autorität bis zum Anarchismus« (ebd.): »Die Schrift ist das Hohelied der Persönlichkeit und des Individuums« (S. 70). Aronstein sieht die Anklänge an R. W. Emerson, William Godwin, Proudhon, Kropotkin. Er zitiert ausführlich und beifällig aus dem Essay, ohne allerdings eine sozialtheoretische oder ästhetische Verbindung zu den übrigen Werken Wildes zu ziehen. Fritz Engel gibt in seinem Bühnenführer Inhaltsangaben und stichwortarüge Interpretationen der Stücke Wildes, deren griffige Formulierungen in vielen späteren Theaterkritiken - soweit sie Positives sagen wollen - ein Echo finden. Engel akzentuiert in Eine Frau ohne Bedeutung vor allem Wildes Kritik an der »englischen Gesellschaft in 125

4. Hagemanns kritische Urteile beruhen nicht auf der Kenntnis der englischen Originaltexte, sondern nur der deutschen Übersetzungen, im Falle der Komödien vor allem auf den Ausgaben des Max Spohr Verlags, den von Pavia/ Teschenbeig erstellten Versionen. Mit dem letztgenannten Punkt stellt sich nun aber erneut und verschärft die Frage nach der Rolle der übersetzerischen Vermittlung. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß die Art und Qualität der Komödien-Übersetzungen nicht nur die Inszenierungspraxis und die theaterkritische Rezeption, sondern auch schon die kritische Lektüre und Interpretation beeinflussen können. Es ist müßig, darüber zu spekulieren, ob Hagemanns Beurteilung der Komödien günstiger ausgefallen wäre, wenn diese - wie er 1925 schrieb und 1947 wiederholte - von Pavia und Teschenberg nicht so »schauderhaft übersetzt« worden wären.56 W e dem auch sei, so wurde Gides negatives Urteil über die Komödien in Deutschland durch Greve, Hagemann und Aronstein zur Basis der literaturkritischen Rezeption gemacht. Dabei kannte Gide die Komödien zur Zeit seines jugendlichen Fehlurteils höchstens vom Hörensagen, Hagemann kannte sie zur Zeit seines ersten Wilde-Buchs nur aus Pavia/Teschenbergs holpriger Übersetzung: ein Teufelskreis aus Unkenntnis der Quellen und Anmaßung eines kritischen Urteils.

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ihren höchsten Spitzen«, für die »dieses Schauspiel ein Tribunal ist« (Engel, Wilde, S. 33). Ein idealer Gatte sei zwar ein »Intrigenstück«, doch könne die »heitere Wortmusik über die Robustheit und Unwahrscheinlichkeit der eigentlichen Handlung hinwegtäuschen« (S. 38, 40). Bunbury, Wildes »komisches Meisterstück« (S. 6), sei »die frischeste und lustigste Bühnenarbeit« Wildes, einer »der geistreichsten Schwanke der modernen Literatur überhaupt« (S. 44); »alles sprudelt und rauscht aus dem Quell reichster Laune - jeder Satz ein Schlager. Wer nur dieses Stück Wildes kennen lernt [...], muß ihn für den Gesündesten der Gesunden, für den Frohesten der Frohen halten« (S. 46). Hagemann, Wilde, 1925, S. 95; ebenso in Hagemanns Vorwort zu seiner Ausgabe der Vier Komödien (»Wildes Komödien«, S. 14).

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4. Kapitel Hermann Freiherr von Teschenberg: Ernst sein! (1903)

Über die Biographie Teschenbergs und Pavías, die zunächst die Übersetzerrechte für Wildes vier Komödien hatten, ist so gut wie nichts bekannt.1 Sie müssen einerseits über gute Beziehungen zu Robert Ross, Wildes treuestem Freund und literarischen Nachlaßverwalter, verfügt haben, andererseits zum Leipziger Verlag Max Spohr, der die Teschenberg/Paviaschen Übersetzungen verlegte; beides deutet daraufhin, daß die Vergabe der Bühnenrechte an Pavia/Teschenberg im Kontext des Homosexuellenmilieus erfolgte. 2

A. Zu Teschenbergs Übersetzung Abgesehen von der Berliner Erstaufführung von The Importance of Being Earnest in Grevés Übersetzung beruhten die meisten Aufführungen des Stückes bis in die dreißiger Jahre hinein direkt oder indirekt auf Teschenbergs Text. Aus diesem Grunde wurde die frühe deutsche Bühnenrezeption von Bunbury durch drei Eigentümlichkeiten der Teschenbergschen Fassungen entscheidend behindert und verzerrt:

1

2

Der knappe Eintrag über »Teschenberg, Hermann Frhr. v.« in Kürschners Deutschem Literatur-Kalender von 1905 ist meines Wissens die einzige enzyklopädische Erwähnung des Übersetzers. Folgende Daten werden angegeben: »katholisch«; Übersetzer aus dem Englischen, Französischen und Italienischen; Adresse: »Charlottenburg, Kantstr. 76 Π (Wien 6/7 66)«; Übersetzungen: »Oscar Wildes Bühnenwerke 02; Robert Harborough Sherard, Oscar Wilde 03«. - In den folgenden Jahrgängen des Kürschner wurde Teschenberg nicht mehr erwähnt. Der Leipziger Verlag Max Spohr wurde 1882 von Max Spohr (geb. 1851) gegründet, der sich im Juli 1903 vom Geschäft zurückzog und am 15. November 1905 starb. Der Verlag veröffentlichte zunächst Reisewerke, ab 1890 auch philosophische und spiritistische Bücher. Nach dem Erwerb eines medizinischen Verlags spezialisierte sich Max Spohr zunehmend auf Schriften über Homosexualität. Magnus Hirschfelds Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen erschien 22 Jahre lang bei Spohr. 1896 erschien dort Oscar Sero (Hrsg.), Der Fall Wilde und das Problem der Homosexualität (Leipzig 1896). Mit dieser Verlagspolitik (Bemühung um eine öffentliche Diskussion bzw. Akzeptanz der Homosexualität in der Öffentlichkeit) dürfte es zusammenhängen, daß Max Spohr 1901 den Dorian Gray (in Gaulkes Übersetzung), 1902 und 1903 die Stücke und Sherards Biographie des >prominenten Homosexuellem Oscar Wilde ins Verlagsprogramm aufnahm. 127

- Teschenbergs Übersetzung basierte nicht auf der dreiaktigen Fassung, die am 14. Februar 1895 von George Alexander im Londoner Haymarket Theatre triumphal uraufgeführt und vier Jahre später von Wilde in Buchform veröffentlicht worden war, sondern auf einer früheren, wesentlich längeren, nicht bühnenerprobten Manuskriptfassung in vier Akten. - Teschenbergs Übersetzung war in sprachlicher Hinsicht völlig unzulänglich. - Teschenbergs Text dämpfte oder entfernte an mehreren Stellen die Wildesche Komik, wobei er gegen Wilde einen etwas prüden Konservatismus durchsetzte.

1 Teschenbergs englische Vorlage Teschenbergs Übersetzung beruht auf einem Manuskript, das Robert Ross Teschenberg übergeben haben muß. Es handelt sich dabei um eine frühe Fassung in vier Akten, die jedoch keiner der erhaltenen frühen englischen Fassungen genau entspricht, unter anderem deswegen nicht, weil sie mit Zügen kontaminiert wurde, die erst in den (späteren) dreiaktigen Fassungen auftauchen, wobei man nicht wissen kann, ob Robert Ross oder der deutsche Übersetzer für die Kontaminationen verantwortlich ist.3 Außerdem teilte Teschenberg die vier Akte des Stücks, die bei Wilde nicht weiter untergliedert sind, den Theaterkonventionen des 19. Jahrhunderts entsprechend in Szenen ein, wobei die Figurenauftritte und -abgänge den Beginn bzw. das Ende der Szenen markieren. Die Szeneneinteilung Teschenbergs sollte wohl sowohl den Theatern wie den Lesern gegenüber eine Hilfestellung bedeuten.4 Es läßt sich allerdings vermuten, daß durch die Einschreibung einer Szenenarchitektur in den Wildeschen Text eine Rezeptionssteuerung in Gang kam, die dem flinken, kontinuierlichen Rhythmus des Originals eher Abbruch tat. Die Teschenbergsche Szeneneinteilung >bremst< die Lektüre und verleiht den Stücken eher ein altmodisches Gepräge. Man muß bedenken, daß zum Beispiel auch Wedekind mit seinem im Jahre 1900 geschriebenen Marquis von Keith die Szenengliederung aufgab. Der Teschenbergsche Text ist - als Inszenierungsangebot - also nicht nur aufgrund seiner vier Akte überlang,5 sondern fördert auch durch seine Szenenunterteilung einen eher schleppenden Rhythmus, was durch Teschenbergs schwerfällige Versprachlichung noch verschlimmert wird.

3 4

5

Vgl. Jackson, »Introduction«, S. XLin. Zur Tradition dieser optischen Signale seit dem Mittelalter vgl. Kohlmayer, »Textgliederung«. Zur Entstehung von Wildes dreiaküger Fassung vgl. 1. Kapitel, S. 35-37.

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2 Teschenbergs Übersetzungsmethode und Sprachgebung Die Teschenbergschen Dialoge kranken an zwei Gebrechen, die eng miteinander zusammenhängen: a. An Teschenbergs Übersetzungskonzept bzw. -methode, d. h. an seiner naivobjektivistischen Orientierung an Wortbedeutung und Satzbau der englischen Vorlage. Teschenberg ging es um Originaltreue in dem Sinn, daß die deutsche Übersetzung möglichst genau die sichtbare Zeichenabfolge des englischen Textes widerspiegeln sollte. Er vernachlässigte die für Wilde wie für jeden Theaterautor außerordentlich wichtigen rhythmischen, intonatorischen und gestischen Aspekte und strebte nach einer lexikalischen Vorlagentreue, die gelegentlich in die stilistische Absurdität einer Interlinearversion ausartete: "Oh, well!" wurde zu »Oh, nun!«.6 b. Teschenbergs Bühnenübersetzungen kranken auch an mangelhafter Beherrschung der (vor allem gesprochenen) deutschen Standardsprache.7 Dennoch waren Pavia/Teschenberg von 1902 bis in die 30er Jahre die wichtigsten Vermittler der Wildeschen Gesellschaftskomödien in Deutschland.8 Rein ausgangssprachliche Übersetzungsorientierung und zielsprachliche Inkompetenz: Beides zusammen führte zu Anglizismen in Wortschatz und Satzbau

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Oscar Wilde, Ernst sein! (The Importance of being Earnest). Eine triviale Komödie fiir seriöse Leute. Ins Deutsche übertragen von Hermann Freiherrn von Teschenberg, Leipzig 1903, S. 44. Die Teschenbergsche Übersetzung wird in Zukunft zitiert als: Teschenberg, Ernst. Auffällige Stellen, die einen an Teschenbergs Sprachsicherheit im Standarddeutschen zweifeln lassen, sind ζ. B. das ständige (österreichische?) »am Lande« wohnen statt »auf dem Lande« (S. 9 u. ö.); die Gurkensandwiches »nicht berühren« statt »nicht anrühren« (S. 10); »begegnen« mit (berlinischem?) Akkusativ (S. 21 u.ö.); die Reisetasche wurde »ausgefolgt« (österreichisch?) statt »ausgehändigt« oder dgl. (S. 28); die wörtliche Übersetzung englischer Redewendungen, auch wenn sie im Deutschen völlig unsinnig klingen: »Gwendolen ist so sicher wie ein Dreifuß« (S. 30) oder »Er war wirklich im täglichen Leben ein Marder« (S. 112) usw. Vgl. Oscar Wilde, Lady Windermeres Fächer. Das Drama eines guten Weibes. Ins Deutsche übertragen von Isidore Leo Pavia und Hermann Frhr. v. Teschenberg, Leipzig 1902; in Zukunft zitiert als: P/T, Lady. - Oscar Wilde, Eine Frau ohne Bedeutung. Ins Deutsche übertragen von Isidore Leo Pavia und Hermann Freiherm von Teschenberg, Leipzig 1902; in Zukunft zitiert als: P/T, Frau. - Oscar Wilde, Ein idealer Gatte. Ins Deutsche übertragen von Isidore Leo Pavia und Hermann Freiherrn von Teschenberg, Leipzig 1903; in Zukunft zitiert als: P/T, Gatte. - P/T, Lady erlebte 1936 die fünfte (in Hänsel-Hohenhausens Bibliographie nicht erfaßt!), P/T, Frau 1927 die dritte, P/T, Gatte 1923 die fünfte Auflage. - Teschenberg, Ernst hatte dagegen weniger Erfolg: Es wurde 1907 zum zweiten und letzten Mal aufgelegt.

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sowie zu einer unnatürlich klingenden Schriftsprache. 9 Die eleganten Wildeschen Dialoge sind bei Teschenberg in ein altmodisches, unrhythmisches Papierdeutsch übertragen, das mit seinen Hypotaxen, grammatischen Idiosynkrasien und stilistischen Steifheiten oft wie eine absichtliche Parodie auf Wilhelminisches Bürokratendeutsch wirkt. Drei zusammenhängende Dialogbeispiele, die um Dutzende andere vermehrt werden könnten, mögen die Tendenz der Teschenbergschen Übersetzungsmethode veranschaulichen: Rhetorisch gewandtes Englisch wird in unnatürliches, gestelztes, anglophones Übersetzerdeutsch transformiert.

1. Beispiel: Algy belehrt Jack über das »Bunburysieren« (I. Akt): ALGERNON. Literary criticism is not your forte, my dear fellow. Don't try it. [...] What you really arc is a Bunburyist. I was quite right in saying you were a Bunburyist. [...]

JACK. What on earth do you mean? ALGERNON. You have invented a very useful younger brother called Ernest, in order that you may be able to come up to town as often as you like. I have invented an invaluable permanent invalid called Bunbury, in order that I may be able to go down into the country whenever I choose. JACK. What nonsense. ALGERNON. It isn't nonsense. Bunbury is perfectly invaluable. If it wasn't for Bunbury's extraordinary bad health, for instance, I wouldn't be able to dine with you at the Savoy

9

ALGY. Litterarische Kritik ist nicht Deine starke Seite, mein lieber Junge, versuche sie also nicht! [...] Was Du wirklich bist, ist ein Bunburyist. Ich hatte vollkommen recht, als ich sagte, daß Du ein Bunburyist wärest. [...] JACK. Was in aller Welt meinst Du damit? ALGY. Du hast einen sehr nützlichen jüngeren Bruder, Namens Ernst, erfunden, damit Du so oft nach London kommen kannst als Du wünschest. Ich habe einen unschätzbaren beständig Kranken, Namens Bunbury, erfunden, damit ich aufs Land gehen kann, wann immer ich will. JACK. Welch Unsinn! ALGY. Das ist kein Unsinn. Bunbury ist vollkommen unschätzbar. Existierte Bunbury's außerordentlich schlechte Gesundheit nicht, so könnte ich zum Beispiel heute

Max Meyerfelds im 1. Kapitel zitierte Mahnung, die »Boulevardanmut« und »Floretteleganz« der Komödiendialoge zu wahren, war wohl in erster Linie an Pavia/Teschenberg gerichtet (Meyerfeld, »Wilde in Deutschland«, Sp. 461 f.). Er hielt ihre Übersetzungen anscheinend für so schlecht, daß er sie nie einer ausführlichen Besprechung für wert befand. Über Teschenbergs Übersetzung der Wilde-Biographie von Sherard schrieb er immerhin noch grimmig: »Die Übersetzung des Buches sollte eigendich mit Grabesschweigen übergangen werden, denn sie versündigt sich an der deutschen Sprache [...]« (Meyerfeld, »Von und über Oscar Wilde«, Sp. 541).

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to-night, for I have been really engaged to Aunt Augusta for more than a week. [...] JACK. Well, I can't dine at the Savoy. I owe them £ 700. They are always getting judgments and things against me. [...] You had much better dine with your Aunt Augusta. ALGERNON. I haven't the smallest intention of doing anything of the kind. To begin with, I dined there on Monday, and once a week is quite enough to dine with one's own relations.10

Abend nicht mit Dir im Savoy dinieren, denn ich habe meiner Tante Augusta wiiklich seit mehr als einer Woche für heute zugesagt. [...] JACK. Ich kann nicht im Savoy dinieren. Ich bin dort siebenhundert Pfund schuldig. Sie klagen mich beständig. [...] Du solltest lieber bei Deiner Tante Augusta dinieren. ALGY. Ich habe nicht die geringste Absicht, etwas Ähnliches zu thun. Übrigens dinierte ich erstens am Montag dort und einmal die Woche bei Verwandten zu dinieren ist ganz genug.11

2. Beispiel: Algy flirtet mit Cecily (II. t ALGERNON. Well, would you mind my reforming myself this afternoon? CECILY. It is rather Quixotic of you. But I think you should try. [...]

CECILY. HOW thoughtless of m e . I

CECILY. Wie gedankenlos von mir! Ich

should have remembered that when one is going to lead an entirely new life, one requires regular and wholesome meals. Miss Prism and I lunch at two, off some roast mutton.

hätte mich erinnern sollen, daß, wenn man ein vollständig neues Leben führen will, man regelmäßige und nahrhafte Mahlzeiten braucht. Miß Prism und ich dejeunieren um zwei Uhr etwas Hammelbraten. ALGY. Ich fürchte, das würde für mich zu schwer sein! CECILY. Onkel Jack, dessen Gesundheit durch die späten Stunden, die sie in London haben, recht traurig erschüttert ist, wurde von seinem Londoner Arzt für zwölf Uhr Brötchen mit Gänseleberpasteten und

ALGERNON. I fear that would be too rich for me. CECILY. Uncle Jack, whose health has been sadly undermined by the late hours you keep in town, has been ordered by his London doctor to have paté de foie gras sandwiches and 1889 champagne at twelve. I

10 11

ALGY. Nun, hätten Sie etwas dagegen, wenn ich heute Nachmittag mich selbst bekehrte? CECILY. Das ist zwar so ziemlich eine Don Quixoterie von Ihnen - aber ich denke, Sie könnten es versuchen. [...]

Wilde, CW, S. 326. Teschenberg, Ernst, S. 15f. 131

don't know if such invalid fare would suit you.12

1874er Champagner verordnet. Ich weiß nicht, ob diese Krankenkost Ihnen recht sein dürfte.13

3. Beispiel: Lady Brancaster fährt zwischen die Liebespaare (IV. Akt): Komm sofort hierher. GWENDOLEN. Gewiß, Mama. Allein ich bin mit Mr. Worthing verlobt. LADY BRANCASTER. Ruhig, Kind. Komm her. Sofort. Jedes Zögern ist ein Zeichen geistigen Verfalles bei jungen Leuten und körperlichen Verfalles bei den alten. (Sich an Jack wendend.) Mein Herr, von der plötzlichen Flucht meiner Tochter durch ihr braves Mädchen, dessen Vertrauen ich durch ein kleines Geldstück gewann, in Kenntnis gesetzt, folgte ich ihr sofort mit einem Güterzug. Ihr unglücklicher Vater befindet sich zum Glücke in dem Glauben, daß sie einem ungewöhnlich langen Vortrag über den Einfluß des regelmäßigen Einkommens auf das Denken im Unternehmen für Ausdehnung der Universität beiwohnt.15 LADY BRANCASTER.

Come here. Sit down. Sit down immediately. Hesitation of any kind is a sign of mental decay in the young, of physical weakness in the old. (Turns to JACK.) Apprised, sir, of my daughter's sudden flight by her trusty maid, whose confidence I purchased by means of a small coin, I followed her at once by a luggage train. Her unhappy father is, I am glad to say, under the impression that she is attending a more than usually lengthy lecture by the University Extension Scheme on the Influence of a permanent income on Thought.14

LADY BRACKNELL.

Es geht hier nicht um eine systematische Auflistung einzelner >FehlerÜbersetzerdeutsch< charakterisieren kann: ALGY. Übrigens dinierte ich erstens am Montag dort und einmal die Woche bei Verwandten zu dinieren ist ganz genug.16 CECILY. Onkel Jack, dessen Gesundheit durch die späten Stunden, die sie in London haben, recht traurig erschüttert ist [...].17 DR. CHASUBLE. Jenes Telegramm aus Paris scheint ein etwas herzloser Scherz irgend jemandes gewesen zu sein [...].18 LADY BRANCASTER. [...] daß sie einem ungewöhnlich langen Vortrag über den Einfluß des regelmäßigen Einkommens auf das Denken im Unternehmen für Ausdehnung der Universität beiwohnt19 Das laute Lesen dieser Stellen kann besonders endarvend wirken, da sich bei der stimmlichen Verkörperung erweist, wie körperlos-abstrakt, d. h. ohne Berücksichtigung von Rhythmus, Klang, Atemführung, Sprechsituation und Rollenspezifik, Teschenberg übersetzte: Teschenberg fehlte offensichtlich nicht nur die benötigte zielsprachliche, sondern auch die schauspielerisch-empathische Kompetenz. Wenn die Sprechweise der Figuren bei Teschenberg auch unterschiedslos als umständlich und gestelzt zu bezeichnen ist, so ist dennoch der konzeptionell-dramaturgische Schaden, der den einzelnen Figuren dadurch erwächst, unterschiedlich groß. Den größten Schaden haben die jugendlichen - männlichen und weiblichen - Dandyfiguren, vor allem Algernon und Gwendolen, deren Sprechweise im Englischen durch flinken Witz und zungenfertige Eleganz besticht. Teschenberg verfehlt den rhythmisch lockeren Ton der Wildeschen Dandies, denen er im Deutschen pedantisch klingende da)3-Sätze und Konjunktive, anglizistische Wörtlichkeiten und Unverständlichkeiten in den Mund legt. Es ist schlechterdings unmöglich, aus Teschenbergs Text die ästhetische Eleganz der aphoristischen Rhetorik der Wildeschen Dandyfiguren zu erahnen bzw. zu rekonstruieren. Dagegen klingen bei Teschenberg jene Stellen schon eher der individuellen Sprechweise angemessen, wo Lady Brancasters pompöse, Miss Prisms gespreizte oder Doktor Chasubles tastend-periphrastische Rhetorik wiederzugeben

16 17 18 19

Teschenberg, Ernst, S. 16. Teschenberg, Ernst, S. 45. Teschenberg, Ernst, S. 51. Teschenberg, Ernst, S. 94. 133

war. So ist etwa der Schlußsatz Lady Brancasters im oben angeführten 3. Beispiel im Deutschen syntaktisch und semantisch undurchsichtig und unverständlich, aber zumindest kommt doch der autoritäre Sprachgestus der majestätischen Lady herüber. Ihre individuelle Rhetorik ist jedenfalls im Deutschen weitaus besser getroffen als die beiläufige Eleganz der Dandies. Zwischen Lady Brancasters emphatisch-autoritärer Sprechweise im Englischen und Teschenbergs hölzern-amtsdeutscher Übersetzweise besteht, pointiert gesagt, eine gewisse Seelen- und Stilverwandtschaft, eine empathische Beziehung. Anders ausgedrückt: Lady Brancaster hat - zum Teil auch Miss Prism und Pastor Chasuble - in Teschenbergs gespreiztem Übersetzerdeutsch einen relativ adäquaten Sprachgestus, eine zur Figur passende Stimme und Diktion erhalten, während den Dandyfiguren ihre charakteristische elegante Sprechweise vorenthalten wurde: Sie werden von Teschenberg gezwungen, wie Lady Brancaster zu sprechen. Teschenbergs Text präsentierte somit ausschließlich sprachliche Karikaturen, denen insgesamt ein verschroben-geschraubter Snobismus gemeinsam zu sein scheint. Carl Hagemann polemisierte in seinem Wilde-Buch von 1925 zu Recht gegen Pavia/Teschenbergs Übersetzungen, was ihn aber nicht daran hinderte, diese zur Grundlage seiner eigenen Bearbeitungen zu machen: Wildes Komödien sind in der Form, wie sie den deutschen Theatern vorgelegt zu werden pflegen, nicht zu spielen. Die Herren Isidore Leo Pavia und Hermann Freiherr von Teschenberg haben sie einfach schauderhaft übersetzt. Wie man erzählt, soll der erste ein Engländer gewesen sein, der kein Deutsch, und der zweite ein Deutscher, der kein Englisch konnte. Jedenfalls lassen die Übersetzungen so etwas glauben. Daß die Komödien trotz alledem auf den deutschen Bühnen so viel Erfolg gehabt haben und immer noch haben, kommt daher, weil sich die Regisseure mit ihren dramaturgischen Bearbeitungen zumeist auch ihre eigenen Übersetzungen herstellen oder doch die ihnen vom Verlag gelieferten entsprechend auskorrigieren.20

3 Teschenbergs ideologisch-restaurative Eingriffe zur Beseitigung von Emanzipation, Erotik und Sozialkritik Verglichen mit der allgegenwärtigen sprachlichen Schwerfälligkeit des Teschenbergschen Textes fällt das dritte konzeptionelle Merkmal dieser Übersetzung weniger auf, da es dabei um punktuelle Retuschen - Auslassungen und Sinnverschiebungen - Wildescher Komik und Satire geht. Da diese Texteingriffe jedoch ideologisch tendenziös sind, haben sie sowohl einzeln als auch

20

Hagemann, Wilde, 1925, S. 95; wiederholt in Hagemann, »Wildes Komödien«, S. 14 f.

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insgesamt einen erheblichen Ausstrahlungseffekt und vermögen die deutsche Rezeption in ideologisch-konservativem Sinn zu steuern.21

a. Tilgung der erotischen Emanzipation Gwendolens GWENDOLEN. [...] But although she may prevent us from becoming man and wife, and I may marry someone else, and marry often, nothing that she can possibly do can alter my eternal devotion to

GWENDOLEN. [...] Aber angenommen,

1. Gwendolens rhetorische Gefíihlshyperbolik ("my eternal devotion to you") geht bei Wilde mit einer frühreifen Nüchternheit einher, die sehr wohl zwischen Sentimentalität und realistischer Lebenseinstellung zu unterscheiden weiß. Dadurch entsteht in Gwendolen ein komischer Widerspruch zwischen überzogenen, klischeehaften Gefuhlsbekundungen und realistischer Vorwegnahme der eigenen Anpassungs- und Wandlungsfähigkeit ("I may marry someone else"). Bei Teschenberg wird dieser komische Widerspruch getilgt. Dies geschieht erstens durch die Substitution des Modalverbs "may" (in "I may marry someone else") durch »mich zwingen, einen anderen zu heiraten«: Der Widerspruch zwischen gegenwärtiger Schwärmerei und zukünftiger Kompromißbereitschaft wird dadurch aus Gwendolens Psyche herausgenommen und nach außen verlagert. Bei Wilde liegt der Widerspruch in Gwendolens Psyche selbst und ist eben dadurch - als Selbstverrat - komisch, bei Teschenberg dagegen besteht nur noch der bekannte >romantische< Konflikt zwischen absolutem individuellem Gefühl und gesellschaftlichem (familiärem) Zwang, was der typische Ausgangspunkt konventioneller Liebesgeschichten ist. Während Wilde also Melodrama in Komik verwandelt, verwandelt Teschenberg die Wildesche Komik wieder in Melodrama zurück. Teschenbergs Umdeutung Gwendolens zum Klischeebild der Sentimentalem geht zweitens am auffälligsten wohl daraus hervor, daß Teschenberg ihr das verräterische Sätzchen "and marry often" ersatzlos gestrichen hat. Die nüchterne, wenn nicht gar genüßliche Vorwegnahme der eigenen emotionalen 21

22 23

Die im folgenden besprochenen Textstellen wurden ausnahmslos mit den ältesten Manu- und Typoskripten in Dickson, Facsimiles verglichen, um sicherzustellen, daß es sich dabei tatsächlich um ideologisierende Texteingriffe Teschenbergs, und nicht etwa um Lücken oder Varianten in den älteren Fassungen handelt. Wilde, Importance, S. 38. Teschenberg, Ernst, S. 35.

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und erotischen Flexibilität, die an mehreren Stellen des Stücks zur Sprache kommt, ließ sich offensichtlich nicht mit Teschenbergs konservativem Frauenbild vereinbaren. Teschenberg tilgt die Anzeichen erotischer Frivolität und Emanzipation bei Gwendolen. 2. Daß diese Umdeutung Gwendolens kein punktuelles Versehen, sondern der antiemanzipatorischen Perspektive Teschenbergs zu verdanken ist, bestätigt sich auch später im Text, am deutlichsten bei der Übersetzung jener Stelle, wo Algernon seine Kusine als "thoroughly experienced young lady" bezeichnet. for your conduct towards Miss Cardew, I must say that your taking in a sweet, simple, innocent girt like that is quite inexcusable. To say nothing of the fact that she is my ward. ALGERNON. I can see no possible defence at all for your deceiving a brilliant, clever, thoroughly experienced young lady like Miss Fairfax. To say nothing of the fact that she is my cousin.24

JACK. AS

Algernon parodiert seinen Freund Jack auf mehreren Ebenen: einmal durch schlichte Wiederholungskomik, zweitens durch stilistische Überbietung (indem er den von Jack angeschlagenen juristisch-steifen Ton noch steigert), drittens durch argumentative Übertrumpfung: Jack erscheint als der gerissenere Betrüger, da sein >Opfer< ja "brilliant, clever, thoroughly experienced" ist. Die Kontrastierung der beiden Frauenfiguren geht in ihren Implikationen aber über den Anlaß hinaus, denn die Cecily und Gwendolen in exaktem Parallelismus hier zugesprochenen Eigenschaften: "sweet, simple, innocent girl", "brilliant, clever, thoroughly experienced young lady",25 sind Kernbegriffe historisch und ideologisch entgegengesetzter Frauenbilder und -ideale der Jahrhundertwende: Cecily wird von Jack mit den verklärenden Zügen des Viktorianischen Frauenbilds ausgestattet, während Algernon an Gwendolen die typischen Züge der - auch erotisch - emanzipierten, postviktorianischen New Woman26 hervorhebt.

24 25

26

Wilde, Importance, S. 78. Im Typoskript des 3. Aktes stand zunächst "thoroughly experienced girl". Wilde strich "girl" durch und schrieb handschriftlich "young lady" an den Rand. Vgl. Dickson, Facsimiles, Akt m, S. 29. »Sexuelle Freizügigkeit und eine fast a-sexuelle Intellektualität, Suffragette und Vamp, kameradschaftliche Unkompliziertheit und neurotische Sensibilität [...]- all diese Möglichkeiten [...] sind mit dem Etikett >New Woman< versehen worden«, schreibt Andreas Höfele (»Dandy und New Woman«, S. 158).

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Diese ironisch-satirische Kontrastierung der beiden konkurrierenden Frauenbilder wurde von Teschenberg durch eine - für einen meist streng »linear«,27 wenn nicht gar >interlinear< arbeitenden Übersetzer - erstaunlich kühne Intervention aufgehoben: JACK. Was Dein Benehmen gegen Miß Cardew betrifft, so muß ich sagen, daß ein süßes unschuldiges Mädchen wie sie zu hintergehen, einfach unentschuldbar ist. Ohne erst davon reden zu wollen, daß sie meine Mündel ist. ALGY. Ich kann keine mögliche Rechtfertigung finden, daß Du eine geistreiche, kluge, gänzlich unerfahrene, junge Dame wie Miß Fairfax betrogen hast. Ohne erst davon reden zu wollen, daß sie meine Cousine ist. 28

Durch die Bezeichnung Gwendolens als »gänzlich unerfahrene junge Dame« wird ihr das brisanteste Kennzeichen der >New WomanNew Womanre-viktorianisiertfrivole< Anspielung Wildes zu entschärfen. Als Jack den Wunsch äußert, gegen fünf Uhr getauft zu werden, teilt ihm Doktor Chasuble mit, daß er zu derselben Zeit Zwillinge zu taufen habe, und fügt in naiv-doppelsinniger Fortsetzung eine Kurzcharakteristik des Vaters hinzu: "Poor Jenkins the carter, a most hardworking man." 32 Der Gedankensprung von dem "case of twins" zum "hardworking" Vater ist charakteristisch für den von solchen Versprechern heimgesuchten Doktor Chasuble. Teschenberg verdunkelt die hintergründige sexuelle Anspielung (Zwillinge als Resultat besonders harter väterlicher Arbeit), indem er den vordergründigen Sinn von Doktor Chasubles Kommentar - das soziale Mitleid - verstärkt: »Der arme Fuhrmann Jenkins, der so schwer zu arbeiten hat«.33 Die Ambiguität der Stelle wird bei Teschenberg dadurch disambiguiert und sexuell entschärft, daß nur noch die dem Fuhrmann aufgeladene Arbeitslast mitleidsvoll kommentiert wird.

c. Dämpfung sozialkritischer Ironie Pavia/Teschenberg haben in allen ihren Übersetzungen systematisch alle möglichen Retuschen zugunsten der englischen Oberschicht durchgeführt, wie ich andernorts ausführlicher dargelegt habe,34 und haben dadurch das satirische Potential der Wildeschen Komödien erheblich reduziert. Da The Importance of

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in der britischen Wilde-Forschung noch nicht gesehen wurde. Wilde hatte zur Zeit seines Altphilologie-Studiums in Oxford im Pflichtfach Theologie nämlich den damals noch relaüv jungen Dr. William Spooner (1844-1930) als Dozenten, der später als Warden des New College (1903-1924) durch seine unfreiwilligen Versprecher so berühmt wurde, daß der >Spoonerism< (komischer Schüttelreim) nach ihm benannt wurde (Dr. Spooner soll ζ. B. einmal statt "Our dear old Queen" "our queer old Dean" gesagt haben). Wilde hatte bei einem Zwischenexamen am 4. Juli 1876 sogar einen ausgesprochen komischen Zusammenstoß mit Dr. Spooner, über den Ellmann ausführlich berichtet (Ellmann, Wilde, S. 62). Wilde, Importance, S. 53; Teschenberg, Ernst, S. 48. Wilde, Importance, S. 53, Fußnote 258-59. Wilde, Importance, S. 54. Teschenberg, Ernst, S. 50. Vgl. Kohlmayer, »Sprachkomik«, S. 350 ff.

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Being Earnest das am wenigsten realistische und sozialkritische Stück Wildes ist, sind Teschenbergs konfliktdämpfende Eingriffe in diesem Stück zwar seltener und weniger auffällig, doch läßt sich die Tendenz auch hier belegen. CHASUBLE. [...] The last time I delivered it was in the Cathedral, as a charity sermon on behalf of the Society for the Prevention of Discontent among the Upper Orders.35

CHASUBLE. [...] Zum letzten Male hielt ich sie in der Kathedrale zu Gunsten des Vereins zur Verhinderung der Unzufriedenheit der höheren Geistlichkeit.36

1. Mit "Upper Orders" ist die britische Aristokratie gemeint, die - im Gegensatz zu den "lower orders" (the common people) - weder der Herd sozialer Unzufriedenheit noch für ein "charity sermon" das richtige Publikum ist. Es handelt sich also um sozialkritische Ironie e contrario: Die Kirche kümmert sich um den Adel, also diejenigen, die "charity" am wenigsten nötig haben, und ignoriert die tieferen Ursachen der sozialen Konflikte, wie zum Beispiel die soziale Ungerechtigkeit. Vor allem in A Woman of No Importance hat Wilde dieses Thema ausführlicher behandelt. Teschenbeig läßt Mides Ironie ins Leere laufen, indem er "Upper Orders" als »höhere Geistlichkeit« monosemiert.37 Aus gesamtgesellschaftlich orientierter Ironie wird ein harmloser Scherz ohne erkennbare soziale Spitze. 2. Wenige Zeilen später übersetzt Teschenberg Miss Prisms präzises "poorer classes"38 mit dem vagen Ausdruck »ärmere Leute«,39 wobei sich wiederum Teschenbergs Bestreben zeigt, Anspielungen auf Klassenantagonismen zu vermeiden. 3. Was die kritische Darstellung des konservativen Adels betrifft, der in dem Stück in Lady Brancaster karikiert wird, so gibt es eine für Teschenberg typische Auslassung. In jeder seiner Gesellschaftskomödien spielt Wilde auf die mangelnde Bildung der Aristokratie an; es handelt sich dabei um einen Topos der Wildeschen Gesellschaftssatire. In Lady Windermere's Fan spricht die Duchess of Berwick einmal in haarsträubend-komischer Ignoranz erst von flie-

35 36 37

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Wilde, Importance, S. 52. Teschenberg, Ernst, S. 48. Daß sicher nicht die »höhere Geistlichkeit« gemeint ist, ergibt sich schon aus dem Folgesatz: "The Bishop, who was present, was much struck by some of the analogies I drew" (Wilde, Importance, S. 52): Hätte Chasuble tatsächlich für die höhere Geistlichkeit gepredigt, wäre die Anwesenheit nur eines (!) Bischofs nicht erwähnenswert, sondern eher verwunderlich gewesen. Wilde, Importance, S. 52 f. Teschenberg, Ernst, S. 48. 139

genden, dann von kriechenden Känguruhs,40 in A Woman of No Importance wird der Landadel bei der Fuchsjagd charakterisiert als "the unspeakable in full pursuit of the uneatable",41 in An Ideal Husband beweist Lady Markby zwei Akte lang ihre naive Ahnungslosigkeit, die sie sogar ausdrücklich ihrer Erziehung zur Ignoranz zuschreibt: In my time, of course, we were taught not to understand anything. That was the old system, and wonderfully interesting it was. I assure you that the amount of things I and my poor sister were taught not to understand was quite extraordinary.42 Lady Brancaster wird zwar, im Gegensatz zu den sonstigen gesellschaftlichen Autoritätspersonen, nicht selbst durch Ignoranz charakterisiert, wohl aber formuliert sie eine Theorie der Ignoranz, laut derer mangelndes Wissen der beste Garant für soziale Stabilität sei. Wilde hat in den sukzessiven Fassungen des Stücks diesen Gedanken zwar progressiv immer stärker ausgebaut, doch enthielt Teschenbergs englische Vorlage auf jeden Fall mindestens folgende Passage: LADY BRANCASTER. [...] I do not approve of anything that tampers with natural ignorance. Ignorance is like a delicate exotic fruit; touch it and the bloom is gone. The whole theory of modern education is radically unsound. Fortunately in England, at any rate, education produces no effect whatsoever.43 Teschenberg jedenfalls übersetzte nur die ersten beiden Sätze der Passage, die ja noch ohne soziale Orientierung und Kritik sind; die letzten beiden Sätze, die die radikale Ablehnung neuer Ideen und die konservative Wirkung der Ignoranz für die politische Stabilität Englands unterstellen, ließ er weg: LADY BRANCASTER. [...] Ich billige nichts, was die natürliche Unwissenheit beeinträchtigt. Unwissenheit gleicht einer zarten exotischen Frucht; berührt man sie, so ist ihre Frische fort 4 4

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43 44

Wilde, Fan, S. 30, 45. Wilde, Woman, S. 27. Wilde, Husband, S. 201. - Der satirische Topos der aristokratischen Ignoranz ist bei Wilde meist gekoppelt mit dem einer sozialdanvinistischen Vulgarität. Im 3. Kapitel des Dorian Gray skizziert Wilde als Gegenfiguren zu Lord Henry eine männliche (Lord Fermor) wie eine weibliche (Duchess of Harley) Variante dieses Typs. Vgl. auch Kohlmayer, »Sprachkomik«, S. 350 ff. Wilde, Importance, S. 27. Teschenberg, Ernst, S. 26.

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Damit reduzierte er einmal mehr das satirisch-komische Potential des Stückes und nahm der Vertreterin der englischen Oberschicht einen Gutteil ihres autoritären Zynismus. Teschenberg entschärft das soziale Konfliktpotential. 4. Die sozialkonservative Einstellung Teschenbergs läßt sich auch aus dem meines Wissens einzigen autobiographischen Lebensdokument des Übersetzers belegen. In der ersten Nummer der Zeitschrift Theater veröffentlichte Teschenberg 1903 seine knappen »Erinnerungen an Oscar Wilde«: Im großen achteckigen Saal der Herzogin von X, des Urbilds der Lady Hunstanton erblickte ich Oskar Wilde zum ersten Male. Um ihn drängten sich Englands stolze Namen, der Adel der Geburt, des Geistes, der Schönheit. Hoch aufgerichtet überragte seine athletische Gestalt alle, die ihn umringten und seinen Worten lauschten; seine Augen leuchteten, sein ganzes Wesen drückte die Freude aus, daß seine Thesen, seine Paradoxe, seine Bonmots gefielen, Heiterkeit erweckten, Eindruck machten. Als dann nach Tisch die Herren allein zurückgeblieben waren, erzählte er, das wellig gescheitelte Haupt bequem im Lehnstuhl zurückgelehnt, ein Erlebnis, ein Märchen in geistsprühenden, scharf geschliffenen Sätzen mit beredten, weiblich graziösen Gebärden - unnachahmlich, unersetzlich.45 Teschenberg zeichnet hier ein süßlich verkitschtes Bild von Oscar Wilde, der völlig in die englische Hocharistokratie integriert ist, der in geradezu osmotischer Beziehung zu diesem Publikum zu stehen scheint. Das mythisierende Wunschbild kann insofern als Konzentrat von Teschenbergs ideologischkonservativem Wilde-Bild gedeutet werden, als es den Spott und die Kritik, die Wilde in seinem Sozialismus-Essay und in seinen Stücken an der englischen Gesellschaft übte, harmonisierend unterschlägt. Teschenbergs Wilde-Bild bleibt in seiner liebedienerischen Adelsfrömmigkeit weit hinter Wildes radikalem Individualismus zurück, wie auch Teschenbergs restaurative Übersetzungskonzeption Wildes Stücke eines großen Teils ihrer sozialkritischen Pointen beraubt.

B. Die Hamburger (1904) und Düsseldorfer (1907) Inszenierung der vieraktigen Übersetzung Teschenbergs Teschenbergs vollständige vieraktige Fassung wurde meinen Recherchen zufolge nur zweimal an größeren Bühnen gespielt, 1904 in Hamburg und 1907 in Düsseldorf.

45

Teschenberg, »Erinnerungen an Oscar Wilde«, S. 28 f. 141

1 Hamburg, Altonaer Stadttheater, 4. September 1904: »Unmöglich« (Paul Raché) 46 Regie: Jack: Algernon: Chasuble: Cribsby: Moulton: Merriman: Lane:

Siegfried Jelenko Taeger Gotthardt Wegener Scholz Einer Weiglin Pfeiffer

Brancaster: Gwendolen: Cecily: Prism:

Bayer Schöller Galafrés Bach-Bendel

Am 10. Februar 1903 - also knapp drei Monate nach der Berliner Erstaufführung - war am Hamburger Stadt-Theater bereits Salome (zusammen mit Sophokles' Elektro) unter der Regie von Alfred Freiherr von Berger aufgeführt worden. Auch bei Lady Windermeres Fächer (Hamburger Stadt-Theater, 2. Januar 1903), Eine Frau ohne Bedeutung (Hamburger Stadt-Theater, 18. September 1903) und Ein idealer Gatte (Thalia-Theater, 1. Januar 1906) lag die Hamburger Premiere jeweils nach Breslau, Berlin und München zeitlich an zweiter Stelle. Teschenbergs Übersetzung wurde am Sonntag, dem 4. September 1904, in einer Inszenierung von Siegfried Jelenko im Altonaer Stadttheater, Hamburg, unter dem Titel Ernst sein! erstaufgeführt. In Bühne und Welt erschien zur Premiere von Ernst sein! eine knappe Kritik: [...] Auf der Altonaer Bühne fand die (erste öffentliche) deutsche Uraufführung von Oscar Wildes vieraktiger Komödie »The Importance of being Earnest« statt, für die Wüdes Übersetzer, Frhr. v. Teschenberg, den wenig glücklichen deutschen Titel »Ernst sein!« gewählt hatte. [...] Im Grunde genommen ist es ein derbkomischer Schwank aus dem englischen Gesellschaftsleben mit dem bekannten Zug Wildes zur Satire, unmöglich in der Handlung, unmöglich in den Personen, als Ganzes eine Verhöhnung aller dramatischen Kunstregeln, aber im einzelnen unterhaltend durch den geistsprühenden Dialog. Wie Wildekenner behaupten, soll das Stück eigentlich eine Satire auf den englischen Roman sein. Der Dichter wollte zeigen, wie Personen, die das Publikum als Romanfiguren kritiklos hinnimmt, im wirklichen Leben eigentlich unmöglich sind und statt tragisch höchstens komisch wirken. Die Handlung selbst ist so buntbewegt, besteht aus so zahlreichen, zusammenhanglosen Episoden, daß es vergeblich wäre, ihren Inhalt wiedergeben zu wollen. Eigenartig wie das Stück, war auch die Wirkung beim Publikum. Manches interessierte und wurde lebhaft belacht, andere Scenen wieder befremdeten und gingen wirkungslos vorüber. Die Aufführung ließ nichts zu wünschen übrig.47

46

47

Quelle für die Besetzung: Theaterzettel aus der Theatersammlung der Hamburger Universität. Paul Raché, Bühne und Welt 7, 1904/05, S. 42 (Hervorhebungen R.K.).

142

Da dieses kurze Resumé die einzige erhaltene Theaterkritik ist, was selbst schon auf die mangelnde Resonanz des Stückes hindeutet, können wir keine allzu weitreichenden Schlüsse daraus ziehen. Auffällig ist, daß die Kritik sich insgesamt wie ein Echo der Berliner Theaterkritik vom November 1902 liest. 1. Die Beurteilung der Figuren als »unmöglich« wird dadurch erläutert, daß das Ganze »eine Satire auf den englischen Roman« sein müsse, was ja impliziert, daß Handlungsweise und Motivation der Bühnenfiguren weder aus deren individueller Psyche noch aus der Interaktion auf der Bühne heraus verständlich waren. Der Kritiker vermutet, daß die Figuren Parodien oder Karikaturen irgendwelcher englischer Romanhelden seien, die aber weder dem Kritiker noch dem Publikum als mentale Bezugspunkte geläufig waren, sondern höchstens irgendwelchen »Wildekennerfn]«. 2. Die »Unmöglichkeit« der Handlung besteht nach Meinung des Kritikers in der Zusammenhanglosigkeit der zahlreichen Episoden. 3. »Im einzelnen« sei das Stück jedoch »unterhaltend durch den geistsprühenden Dialog«. Insgesamt kann man sagen, daß der Kritiker nicht in der Lage ist, eine Konzeption der Inszenierung zu erkennen. Der springende Punkt des Unverständnisses scheint dabei - ähnlich wie bei der Berliner Premiere - die undifferenziert karikierende Präsentation der Figuren gewesen zu sein, die in der sprachlichen Gespreiztheit von Teschenbergs Übersetzung als Inszenierungsangebot vorprogrammiert war.

2 Düsseldorf, Schauspielhaus, 21. Oktober 1907: »erstaunlich, was ein deutsches Publikum aushalten kann« (Dr. Boß.) 48 Regie: Jack: Algernon: Chasuble: Cribsby: Moulton: Merriman: Lane:

Arthur Holz Otto Stoeckel Hans Ziegler Heinrich Matthaes Emil Heyse Hans Battige Robert Schneeweiss Alfred Breiderhoff

Brancaster: Gwendolen: Cecily: Prism:

Käte Schrötter Nella Wagner Christel Lorenz Hermine Kömer

1903/04 war in Düsseldorf bereits Lady Windermeres Fächer, 1905/06 Salome, 1906/07 Ein idealer Gatte gespielt worden, letzteres mit großem Erfolg, während Salome nicht so gut aufgenommen worden war. Der Regisseur Arthur Holz hatte also mit Wilde schon viel Erfahrung, und das Düsseldorfer Publi48

Quelle für die Besetzung: Theaterzettel im Dumont-Lindemann-Archiv, Düsseldorf.

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kum war ebenfalls auf Wilde gewissermaßen vorbereitet. Die Düsseldorfer Premiere der Teschenbergschen Übersetzung fand am 21. Oktober 1907 im Schauspielhaus unter dem Titel Bunbury. Eine triviale Komödie für seriöse Leute (Ernst sein!) statt. Das Rollenbuch von Christel Lorenz, die die Cecily spielte, ist erhalten, so daß - im Gegensatz zur Hamburger Erstaufführung - zumindest die tatsächlich gespielte Textfassung überliefert ist.49 Das Erstaunliche an dieser Bühnenfassung ist, wie wenig Teschenbergs Text gekürzt und korrigiert wurde. Die Kürzungen machen vielleicht fünf Prozent des Gesamttextes aus, wobei die größten Striche Lady Brancaster gelten. Die sonstigen Änderungen betreffen in erster Linie Teschenbergs auffälligste Spracheigentümlichkeiten (»am Lande« wird zu »auf dem Lande« u. dgl.), während kein Versuch gemacht wird, den Text durchgehend stilistisch zu glätten oder gar umzuformulieren. Wenn wir die oben - als negative Beispiele - zitierten Stellen Teschenbergs mit der Düsseldorfer Fassung vergleichen, erhalten wir folgendes Bild der Korrekturen bzw. NichtkoiTekturen: ALGY. Übrigens dinierte ich erstens am Montag dort und einmal die Woche bei Verwandten zu dinieren ist ganz genug. 50 CECILY. Onkel Jack, dessen Gesundheit durch die späten Stunden, die sie in London haben, rocht traurig erschüttert ist [...].51 DR. CHASUBLE. Jenes Telegramm aus Paris scheint ein etwas herzloser Scherz irgend jemandes gewesen zu sein [...].52 LADY BRANCASTER. [...] daß sie einem ungewöhnlich langen Vortrag über den Einfluß des regelmäßigen Einkommens auf das Denken im Unternehmen für Ausdehnung der Universität beiwohnt 53 rglaubte JACK. Auf mein Wort, wenn ich das'glauben würde, so würde ich mich erschießea.. (Eine Pause.) Du denkst nicht, daß eine Aussicht vorhanden wäre, Gwendolen könnte in beiläufig hundertundfünfzig Jahren wie ihre Mutter werden. Glaubst du das, Algy? 54

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50 51 52 53 54

Vom Dumont-Lindemann-Archiv, Düsseldorf, erhielt ich freundlicherweise eine Kopie des Rollenbuchs. Es handelt sich um die Buchausgabe von Teschenberg, Ernst, in die handschriftliche Änderungen eingetragen sind. Teschenberg, Ernst, S. 16. Teschenberg, Ernst, S. 45. Teschenberg, Ernst, S. 51. Teschenberg, Ernst, S. 94. Teschenberg, Ernst, S. 31.

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GWENDOLEN. Emst, wir dürften uns nie heiraten. Nach dem Ausdniok auf Ma ma's Gesicht furchte ich, wir werden os niemals.55 Lediglich in Gwendolens Text ist ein ganzer Satz gestrichen, ansonsten handelt es sich um minimale Korrekturen; Lady Brancasters verschrobenes Deutsch und Miss Prisms hypotaktische Umständlichkeit blieben sogar völlig unverändert stehen. Vier Theaterkritiken sind überliefert, die das Stück insgesamt weniger negativ beurteilen, als dies in Hamburg geschah. Der Düsseldorfer Regisseur Arthur Holz bewies mit seiner Inszenierung auf jeden Fall, daß Teschenbergs durchkomgierte vieraktige Fassung beim Publikum Beifall finden konnte. Bei der Kritik überwog jedoch das negative Urteil. Eine typische Passage: Einen solchen Ulk, der wie ein Lustspiel beginnt und als groteske Posse schließt, würde man schwer ertragen können, wenn ihn nicht der paradoxe Witz und die Bonbonsgeistreichigkeit Wildes versüßte. Um den Titel »eine triviale Komödie für seriöse Leute« zu rechtfertigen, ist das Stück viel zu sorglos durchgeführt. Es ist nach ältesten Rezepten des französischen Gesellschaftsstücks hingeworfen, gruppiert automatenhaft die bewährtesten Requisiten (sogar den Gerichtsvollzieher als deus ex machina!) und vermeidet jeden Funken natürlicher Wahrtieit. Wilde [...] wollte seine Bosheiten gegen die englische Erziehungsmethode, gegen das Lotterleben der reichen Herren und andere Erscheinungen des englischen Gesellschaftslebens, gegen das Theater und die Schauspiele der verlorenen und wiedelgefundenen Kinder, gegen die Lustspiele mit den obligaten Brautpaaren am Schlüsse an den Mann bringen, aber die satirische Absicht ist nicht überall durchsichtig genug, auch fehlt ihr die dramatisch glaubhafte Foim. Der Dialog in den beiden ersten Akten glitzert von Geist und Witz, aber das Bestreben, um jeden Preis paradox-geistreich zu sein, mündet zuletzt in Banalität.56 Die Hauptmerkmale der kritischen Rezeption können etwa so zusammengefaßt werden: 1. Es gibt einen deutlichen Kontrast zwischen der negativen Einschätzung des Stücks durch die >seriöse< Kritik und dem unzweifelhaften Erfolg bei der >naiveren< Kritik und beim Publikum. So schreibt »Dr. Boß.« in der Rhein- und Ruhr-Zeitung herablassend: Wir sind ja in Lustspielen immer anspruchslos gewesen, nur das macht den Erfolg solcher Stücke bei uns verständlich. Ein Erfolg war es. Zumal in den ersten beiden Akten wurde andauernd gelacht57

55 56 57

Teschenberg, Ernst, S. 35. Tageblatt, 23.10.1907 (ohne Verfasserangabe). »Dr. Boß.«, Rhein- und Ruhr-Zeitung, 22.10.1907. 145

Der weniger intellektuelle Kritiker des Krefelder General-Anzeigers war begeistert:

dagegen

[...] es ist prickelnder Sekt, den wir genießen [...]. Wer könnte wohl behaupten, daß er sich bei Bunburg [JJ'C/] gelangweilt habe? [...] Das ausverkaufte Parquett verließ die Vorstellung in animiertester Stimmung.58 2. Die drei intellektuell anspruchsvoller geschriebenen Kritiken verraten deutliche Spuren des Gide-Essays, anscheinend auf dem Umweg über Hagemanns Wilde-Buch, dessen Urteile sie im großen und ganzen übernehmen. 3. Kritisiert wird in der anspruchsvolleren Kritik die Länge und die Banalität des Stücks. Besonders die »letzten Akte mit der trivialen Findlingsgeschichte« seien »recht wenig amüsant«; auch sei das »Tempo zuweilen etwas verschleppt« gewesen. 59 »[...] 3 Stunden lang; es ist erstaunlich, was ein deutsches Publikum aushalten kann.« 60 Zur Banalität: Es sei »ein grob-komisches, oft possenhaftes Stück«, 61 das »jeden Funken natürlicher Wahrheit« 62 vermeide. W i d e nenne das Stück »eine triviale Komödie für seriöse Leute«. Besser hätte er gesagt: »Karikatur einer trivialen Komödie«. Wilde karikiert hier die übliche französische Komödie mit ihren Verwechselungen, galanten Abenteuern, Verlobungen usw.63 »Karikatur« also, nicht: >EleganznormalisiertNormalisierung< des Textes bei Vallentin auch damit zu tun hat, daß Vallentin am Kleinen Theater eben nur Greves normalisierten Bunbury-Text kennengelemt hatte. Wenn Vallentin auch kaum den Wortlaut der Greveschen Fassung im Gedächtnis behalten konnte, so hatte er zweifellos doch einen sprach-stilistischen Gesamteindruck im Ohr.

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2. Vallentìns sprachstilistìsche Eingriffe wirken sich auch auf die soziolinguale Situierung des Stückes aus. Teschenbergs Übersetzerdeutsch ist in dem sozialen Niemandsland zwischen Anglizismen und pedantischem Schreibdeutsch angesiedelt. Vallentin überarbeitet dagegen die Dialoge, um eine konsequente Sprechsprachlichkeit zu erreichen, was jedoch zu einer Senkung der Stilebene führt Damit stellte sich aber erneut die Frage, wie die soziale Situierung der Figuren, die ja im Englischen schon durch die Intonation als >Oberschicht< signalisiert wird, im Deutschen vermittelt werden konnte. Wir werden auf dieses Problem, eines der konzeptionellen Kernprobleme der Wilde-Übersetzung wie der Übersetzung englischer Dialoge überhaupt, weiter unten ausführlicher eingehen. Daß Vallentin sich darüber durchaus Gedanken machte und eine - zumindest in Wien erfolgreiche - schauspielerische Lösung anzubieten hatte, werden wir noch sehen. Zunächst möchte ich ad oculos lectoris demonstrieren, wie Vallentin durch Kürzungen und Umformulierungen, welche die Teschenbergschen Dialoge idiomatischer und bühnengerechter machen sollten, zwangsläufig die Sprechweise der einzelnen Figuren generell normalisierte. Ich verwende dazu die bereits oben angeführten Beispielsätze Teschenbergs mit den Überarbeitungen Vallentìns, die ich jeweils stichwortartig kommentiere. Teschenberg: Übrigens dinierte ich erstens am Montag dort und einmal die Woche bei Verwandten zu dinieren ist ganz genug.34

ALGY.

Vallentin: Ich habe erst am Montag dort dinieit und es ist gerade genug, wenn man einmal in der Woche bei Verwandten diniert.

Kommentar: 1. Beseitigung des klanglich-rhythmisch und semantisch störenden Nebeneinanders von »übrigens« und »erstens«; 2. Ersatz des förmlichen Präteritums durch gesprochensprachliches Perfekt; 3. Beseitigung des Anglizismus »ganz genug« ("quite enough"); 4. Gliederung in kleinere syntaktisch-semantische Einheiten, dadurch leichtere Sprech- und Verstehbarkeit; 5. andererseits: stärkere Monotonie durch Normalisierung der Wortstellung.

Onkel Jack, dessen Gesundheit durch die späten Stunden, die sie in London haben, recht traurig erschüttert ist [...].35

CECILY.

34 35

Onkel Jack, dessen Gesundheit durch die unregelmäßigen Mahlzeiten in London erschüttert ist [...].

Teschenberg, Ernst, und Tesch./Vall., Ernst, S. 16. Teschenberg, Ernst, und Tesch./Vall., Ernst, S. 45.

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Kommentar: 1. Beseitigung von Anglizismen ("late hours", "sadly undermined"); 2. rhythmische und syntaktische Vereinfachung; 3. semantische Normalisierung: Ersatz der ungewöhnlichen bzw. schwerverständlichen gesundheitsschädigenden Ursache durch Klischeevorstellung (»unregelmäßige Mahlzeiten«).

DR. CHASUBLE. Jenes Telegramm aus Paris scheint ein etwas herzloser Scherz iigend jemandes gewesen zu sein, der Ihren Gefühlen einen Streich spielen wollte. 36

Jenes Telegramm aus Paris scheint also ein etwas frivoler Scherz gewesen zu sein.

Kommentar: 1. Syntaktisch-semantische Raffung; 2. Beseitigung des klanglich irritierenden Binnenreims (herz/scherz); 3. Ersatz der ungewöhnlichen Wortverbindung (»herzloser Scherz«) durch idiomatisches Klischee (»frivoler Scherz«); das Wort »frivol« paßt in seiner unverblümten Direktheit wohl kaum in den Wortschatz von Wildes Dr. Chasuble, der eher durch verbale Prüderie gekennzeichnet ist; 4. Streichung der umständlichen metaphorischen Periphrasen: Entkomisierung der Sprechweise Chasubles; 5. Hinzufügung des Kohärenzsignals (Modalpartikel) »also«: Dr. Chasubles monologisierende Vagheit verschwindet.

LADY BRANCASTER. Ihr unglücklicher

Vater befindet sich zum Glücke in dem Glauben, daß sie einem ungewöhnlich langen Vortrag über den Einfluß des regelmäßigen Einkommens auf das Denken im Unternehmen für Ausdehnung der Universität beiwohnt. 37

Ihr unglücklicher Vater glaubt nun glücklicherweise, daß sie einem ungewöhnlich langen Vortrag beiwohnt.

Kommentar: 1. Beseitigung der übersetzeldeutschen (»University Extension Scheme«) Absurditäten; 2. syntaktisch-semantische Raffung und Normalisierung (»glaubt«); 3. rhythmisch-rhetorische Vereinfachung und 4. Entkomisierung: Lady Brancasters Sprachstil ist weniger absurd-bombastisch.

JACK. Auf mein Wort, wenn ich das glauben würde, so würde ich mich erschießen... (Eine Pause.) Du

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Du! Algy, glaubst du, Gwendolen könnte in hundertundfünfzig Jahren wie ihre Mutter werden.

Teschenberg, Ernst, und Tesch./Vall., Ernst, S. 51. Teschenberg, Ernst, und Tesch./Vall., Ernst, S. 94.

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denkst nicht, daß eine Aussicht vorhanden wäre, Gwendolen könnte in beiläufig hundertundfünfzig Jahren wie ihre Mutter werden. Glaubst du das, Algy?38 Kommentar: 1. Syntaktisch-semantische Raffung und Vereinfachung; 2. Beseitigung der klanglich störenden Wiederholung von »würde«; 3. Dynamisierung der Interaktion (einschließlich Mimik und Gestik!) durch größere Direktheit und Spontaneität der Beziehung: »Du! Algy, glaubst du, [...]«; 4. Verlagerung und Verdeutlichung der Komik: Jack ist weniger introvertiert-besorgt, sondern eher extrovertiert-aufgeregt.

GWENDOLEN. Ernst, wir dürften uns nie heiraten. Nach dem Ausdruck auf Mama's Gesicht furchte ich, wir werden es niemals.39

Ernst, wir dürften uns nie heiratea

Kommentar: 1. Beibehaltung der unidiomatischen Wendung Teschenbergs; 2. Ersatzlose Streichung des zweiten Satzes: Dadurch Entkomisierung der satirisch-melodramatischen Mutter-Tochter-Beziehung.

Miss PRISM. In der Sakristei! Das klingt ernst. Es kann wohl kaum eines trivialen Zweckes wegen sein, daß der Obeipfarrer zu einer Unterredung einen Platz für so besonders feierliche Versammlungen wählt. Ich glaube nicht, daß es recht wäre, ihn warten zu lassen, Cecily?40

In der Sakristei! Das klingt ernst Es wäre wohl nicht recht, ihn warten zu lassen, Cecily?

Kommentar: 1. Raffung, Dynamisierung, Normalisierung; 2. Weglassung des für Miss Prism typischen scheinheilig-gespreizten zweiten Satzes; 3. dadurch Entkomisierung der sprachlichen Charakterisierung Miss Prisms.

38 39 40

Teschenberg, Ernst, und Tesch./Vall„ Ernst, S. 31. Teschenberg, Ernst, und Tesch./Vall., Ernst, S. 35. Teschenberg, Ernst, und Tesch./Vall., Ernst, S. 67.

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2 Zu Vallentins Inszenierungskonzeption Vallentin hatte bereits in Berlin ein anderes Regiekonzept als Reinhardt vertreten: Während sich Reinhardts Interesse vor allem auf die Neuromantik und die romantische Erneuerung der Klassik richtete, versuchte Vallentin - hierin durchaus orientiert am Naturalismus - , die Kluft zwischen Kunst und Lebenswelt zu schließen.41

Diese Orientierung Vallentins am Naturalismus läßt sich vor allem im Bereich der Figurenkomik und der soziolingualen Milieu-Verankerung seiner Inszenierung verfolgen.

a. Transformation von Sprachkomik in Situationskomik Vallentin reduzierte bei seiner Bearbeitung Sprachkomik zugunsten von Situationskomik. Sein Bemühen ging dahin, die sprachliche Interaktion - in Übereinstimmung mit dem naturalistischen Prinzip der psychologischen Wahrscheinlichkeit - möglichst natürlich und wahrscheinlich klingen zu lassen. Da bei Wilde auch die Figurenkomik fast ausschließlich sprachlich vermittelt ist, wurde bei sämtlichen Figuren das rein sprachgebundene Komikpotential zugunsten einer realistischen Sprachgebung radikal reduziert. Das bedeutete aber keineswegs, daß die Komik überhaupt verschwand. Einmal besteht Wildes Stück von Anfang bis Ende aus sprachkomischen Dialogen, so daß auch bei den radikalsten Streichungen immer noch viel sprachspielerische Komik übrigbleibt. Zum andern ist bei Vallentin deutlich die Tendenz zu erkennen, den Wegfall der rein sprachlichen Komik durch situative Komisierung wettzumachen. Er transformiert literarische in theatralische, verbale in aktionale und optische Komik. Zwei Beispiele mögen diesen Entliterarisierungs- und Theatralisierungsprozess verdeutlichen: 1. Beispiel: Bei Teschenberg teilt Lady Brancaster Cecily mit, das Kinn werde zur Zeit sehr hoch getragen. Sie ruft Algernon herbei, um ihm zu sagen, es lägen deutliche »soziale Möglichkeiten« in Cecilys Profil. Als Algernon sich verächtlich über »soziale Möglichkeiten« äußert, verkündet Lady Brancaster, nur wer nicht hineinkomme, spreche verächtlich über die Gesellschaft. Sie weist Cecily auf Algernons Schulden hin; sie mißbillige jedoch Geldheiraten.

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Jaron/Möhrmann/Müller, Berlin, S. 63. - Mehrere Berliner Kritiker erwähnen anläßlich Vallentins Inszenierung der Frau ohne Bedeutung, es handle sich um ein »Milieustück«, z.B. Friedrich Düsel, Berliner Tagblau, 5.9.1903. 159

In komisch-logischem Widerspruch dazu erklärt sie, sie selbst habe Lord Brancasters Vermögen niemals als Hindernis betrachtet. Sie sei mit der Heirat also einverstanden, Cecily dürfe sie jetzt küssen. 42 Bei Vallentin ist der Text der Szene geschrumpft, der Nebentext dagegen ist erweitert: 43 LADY BRANCASTER. [...] Das Kinn ein bißchen höher, meine Liebe. Der Styl hängt zum großen Teile davon ab, wie man das Kinn trägt. Jetzt wird es gerade sehr hoch getragen. I(A und C küssen sich.)| Algernon! ALGY. Ja, Tante Augusta! LADY BRANCASTER. Ich meine, ich muß wohl meine Einwilligung geben. ALGY. Danke, Tante Augusta! I(A küsst C den Mundil LADY BRANCASTER. Cecily, Sie können mich küssen! CECILY (sie küssend). Danke, Lady Brancaster!44 Vallentin hat den satirisch-witzigen Dialog radikal gestrichen und nur die handlungsbezogenen Dialogstellen stehen gelassen. Die Hinzufügungen Vallentins ersetzen sprachlich-intellektuelle Satire durch naive Situationskomik. Diese entsteht einmal dadurch, daß Lady Brancasters Ausführungen über die Art, wie das Kinn zu tragen ist, durch das sich küssende Pärchen eine überraschende optische Veranschaulichung erhält, da Cecily - Algernon ist ja größer als sie im Moment des Küssens das Kinn ja »gerade sehr hoch« trägt: ein optischer Kalauer. Zum andern wird das Pärchen durch den Ruf »Algernon!« komisch aufgeschreckt. Auch die zweite Kußszene ist des situationskomischen Kontrastes wegen hinzugefügt, denn Lady Brancasters Aufforderung, Cecily dürfe sie küssen, kommt für das Pärchen in diesem Moment eher als Strafe denn als Gnade. Außerdem wird Cecily - genau wie vorher Algernon (Wiederholungskomik) - durch die Nennung ihres Namens aus dem Kuß aufgeschreckt. Im Verlauf des letzten Aktes erzielt Vallentin aus der Verliebtheit des Pärchens noch weitere situationskomische Effekte, z.B. dadurch, daß sie sich schon bald hinter die Gartenhecke schleichen und dabei die gesamte Wiedererkennungsszene zwischen Jack und Miss Prism verpassen. Jack muß also nach seinem wiedergefundenen Bruder regelrecht rufen; Algy und Cecily werden dabei wieder einmal aus dem Küssen aufgeschreckt. Vallentin notiert dazu folgende Regieanweisungen: Jack ruft nach links: Algy. Algy steckt den Kopf über die Hecke, seine Haare sind außer Facon. Jack ruft Cecily. Cecily steckt den Kopf über die Hecke, Haare derangiert.45

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Vgl. Teschenberg, Ernst, S. 98. Vallentins Hinzufügungen sind durch Umklammerung gekennzeichnet. Tesch./Vall., Ernst, S. 98. Tesch./Vall., Ernst, eingelegtes Blatt zu S. 109.

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Vallentin transformiert die verbale Komik Wildes in physisch-komisches Schau-Spiel. Wie aus der zuletzt zitierten Regieanweisung Vallentins zu ersehen ist, scheute er dabei keineswegs vor naiv-clownesker Komik zurück, wie sie der genius loci des Wiener Volkstheaters anscheinend liebte. Wildes eleganter Dandy Algernon und seine ländliche Schöne sind hier auf dem Weg, zu einem Papageno-Papagena-Pärchen zu werden. 2. Beispiel: Ein weiteres Beispiel für die Eliminierung von Sprachkomik zugunsten von Situationskomik ist die Rolle der Miss Prism. Vallentin streicht ihr die meisten sprachkomischen Pointen, lädt ihr Spiel jedoch figuren- und situationskomisch auf. So soll sie beim Erscheinen von Dr. Chasuble »mit altjüngferlicher gezierter Verschämtheit« reagieren.46 Vallentin ersetzt bei Miss Prism die selbstverräterische Wortkomik durch fast schon klamottenhaftes Agieren. Er ändert sogar die Schlußpointe - und den damit zusammenhängenden Titel des Stücks - ab, um vor allem für Miss Prism ein situationskomisches Finale herstellen zu können. Das Schlußtableau Vallentins entwickelt sich aus folgender Aufstellung: Lady Brancaster steht in der Mitte des Hintergrunds auf der obersten Treppenstufe des Hauses, links vorne stehen Algernon und Cecily, rechts vorne Jack und Gwendolen, im Bühnenmittelpunkt Miss Prism und Dr. Chasuble: JACK (kniet). Liebste! ALGY (kniet). Liebste! PRISM (kniet). Friedrich! LADY BRANCASTER (sieht durchs Lorgnon). Oh! 47

Vallentins naturalistisches Konzept bestand also darin, die Wildeschen Figuren psychologisch-triebhaft zu motivieren und sprachlich zu normalisieren. Die komischen Effekte ergaben sich somit hauptsächlich aus dem Gegeneinander von menschlich-kreatürlicher Normalität und situativer Absurdität.

b. Evokation des soziolingualen Milieus Vallentin wollte das Bühnengeschehen und die Figuren soziolingual eindeutig situieren. Daher griff er bei seiner Wilde-Inszenierung zu einem wirkungsvollen Mittel der Milieu-Charakterisierung: Er ließ alle Schauspieler mit englischem Akzent sprechen. In seinem Regiebuch, das kurz danach auch in Berlin - und später auch von Hagemann in Mannheim und Hamburg - benutzt wurde,

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Tesch./Vall., Ernst, Randbemerkung S. 40; vgl. auch »errötend verschämt« S. 41. Tesch./Vall., Ernst, Bühnenbildskizze auf eingelegtem Blatt zu S. 115 und Textänderung auf S. 115 (doppelte Unterstreichung von Vallentin). 161

steht gleich zu Anfang die Empfehlung: »Ich rate den Darstellern an, / durchwegs eine Monotonie im Ton / festzuhalten, mit einem feinen / englischen Accent vermischt.«48 Auch später weist Vallentin durch Randbemerkungen darauf hin, daß möglichst monoton zu sprechen sei.49 Ob Vallentin dabei tatsächlich der irrigen Ansicht huldigte, die Sprache der englischen Oberschicht zeichne sich durch besondere Monotonie aus, sei dahingestellt: Es spielt für das daraus resultierende Konzept keine Rolle. Das Konzept bestand jedenfalls darin, auf der Bühne eine - für Wiener Ohren! - homogene, englisch und vornehm klingende Sprechkonvention einzuführen. Das Bühnengeschehen spielte damit in einem relativ präzise definierten künstlichen Milieu, das mit geringem sprachlichem Aufwand präsent gehalten werden konnte. Die Voraussetzung für das Gelingen war die Bereitschaft des Publikums, die reale sprachliche Unmöglichkeit dieser ästhetisch präsentierten Bühnenwelt gutwillig und augenzwinkernd hinzunehmen. Im Grunde genommen hing dieses Einverständnis des Publikums wohl auch von seiner Unkenntnis der englischen Intonations· und Ausspracheverhältnisse ab. Was man im Wiener Volkstheater amüsiert akzeptierte, konnte in München oder Hamburg irritieren.50 Wie behelfsmäßig und mangelhaft auch das Verfahren Vällentins, die Schauspieler mit englischem Akzent spielen zu lassen, im Grunde genommen war, so war damit doch eines der Kernprobleme der sprachlich-kulturellen Transformation der Wildeschen Komödien erkannt und, zumindest inszenatorisch, erfolgreich gelöst - das Problem nämlich, wie die konnotationsreiche Intonation und Sprechweise der englischen Oberschicht, wie sie in Wildes Komödien so variabel eingesetzt wird, auf >natürlich< klingende Art im Deutschen wiedergegeben werden kann. Teschenbergs deutscher Text war weit davon entfernt, in diesem Punkt eine adäquate Lösung zu bieten, war er doch syntaktisch und lexikalisch eher eine unfreiwillige Parodie auf anglophone Radebrecherei. Auch Vällentins dynamisierende, kürzende, raffende Überarbeitung wurde der Stilebene und dem rhetorischen Schliff des Wildeschen Originals bei weitem nicht gerecht. Sie normalisierte Teschenbergs Umständlichkeiten, ohne die musikalische Eleganz der Wildeschen Sprachgebung auch nur entfernt zu erreichen. Der monoton-distanzierte englische Akzent konnte eventuell Eleganz und Überlegenheit suggerieren, aber nicht eigentlich produzieren. Vielleicht war es ursprünglich gerade der unidiomatisch-steife Ton der Teschenbergschen Übersetzung, der Vallentin zu der komödiantischen Idee animierte, aus der Not eine Tugend zu machen und die Sprechweise der Schauspieler dem anglophonen Tonfall der Teschenbergschen Dialoge anzupassen. Die unfreiwillige sollte

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Tesch./Vall„ Ernst, S. 6 (Original-Hervorhebungen als Unterstreichung). Z. B. zu Beginn von Lady Brancasters >VerhörThe importance of being earnest< [...]. Es ist unmöglich, das Stück zu erzählea Seine Handlung ist auch Nebensache, Hauptsache ist das Feuerwerk des Dialoges mit seinen Witzraketen und satirischen Fronten, mit seinen Ausfällen der Weisheit und des Übermutes, mit seinem gesunden Gelächter über den Snobismus, mit seinen Karikaturen der englischen Gesellschaft, der englischen Gefühle. Es gibt wohl nichts Amüsanteres als ein solches Bad im Wildeschen Geiste. Es gehört zu den höchsten Genüssen, die das moderne Theater einem überhaupt bieten kann, und die Vorstellung selbst gehört zu den besten des Volkstheaters. Die Regie traf den grotesken Karikaturenstil ausgezeichnet. Nur in einem tat sie des Guten zu viel. Sie verlockte die Schauspieler, ihr Deutsch englisch zu färben; das wirkte komisch, ist aber Unsinn. [...] Dieser Kniff war überflüssig. Am besten trafen die Damen den Ton: [...]. Sie zeigten, daß Karikaturen auch reizend sein können, und daß man grotesk und charmant zugleich sein kann.56

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Manche Stellen dieser - wie auch der in der Wiener Abendpost erschienenen - Kritik klingen, als habe der Kritiker sich zuvor bei Meyerfeld und Hagemann informiert, ζ. B., wenn er, so Meyerfeld mehrmals, satirische Anspielungen auf »viele uns gänzlich unbekannte Übertreibungen englischer Komödien« erwähnt oder, so Hagemann, wenn er gleich zu Anfang zwischen den »geistvollen Pointen des Dialogs« und der banalen Handlung unterscheidet, die »automatenhaft die ältesten Behelfe« übernehme. »pt.«, Reichspost, 12.12.1905. Rudolph Lothar, Bühne und Welt 8, 1905/06, S. 390 (Hervorhebung R.K.).

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Aufschlußreich für Vallentins Schauspielregie ist die Feststellung des Kritikers im Schlußsatz, daß »Karikaturen auch reizend« sein können, daß sie »grotesk und charmant zugleich« waren. Dies war, verglichen mit den Rezensionen der Berliner und Hamburger Inszenierung, das Neue, was aus sämtlichen Besprechungen mehr oder weniger deutlich hervorgeht. Offensichtlich hat Vallentin also nicht nur bei der sprachlichen Überarbeitung und der stimmlichen Kennzeichnung des englischen Milieus, sondern bei der Schauspielregie insgesamt auf das naturalistische Prinzip der Wahrscheinlichkeit geachtet. Er hat die Figuren keineswegs nur als verschrobene Karikaturen britischer Eigenheiten spielen lassen, sondern gleichzeitig als attraktive und charmante menschliche Wesen in ihrem natürlichen >MilieuSalome< zum erstenmal auf den Brettern sahen, auch die deutsche Uraufführung der Komödie >The importance of being Earnest< herausgebracht, aber es bei diesem ersten und einzigen Versuch hat bewenden lassen, da nach den gewaltigen nervenaufregenden Akzenten der Salometragödie die Sinne der Zuschauer auf die Scherze der trivialen Komödie nicht mehr reagieren wollten, und daß das Lustspiel auf dem Umwege über Wien neuerdings in das Verfügungsrecht eines andern Agenten übergegangen ist.59 Im Hintergrund des Streites um die Aufführungsrechte stand wohl auch die Rivalität zwischen Reinhardt und Vallentin: Die Aufführung an Barnowskys Kleinem Theater kündigte das Stück an als »Bearbeitet von Richard Vallentin«; Vallentins erfolgreiche Wiener Aufführung des in Berlin durchgefallenen

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Quelle für die Besetzung: Theaterzettel im Archiv der Akademie der Künste, Berlin; es handelt sich um den Theaterzettel vom 16.1.1907. Huesmann, Reinhardt, verzeichnet jedenfalls unter Nr. 313 das »Projekt« Bunbury (Der unerläßliche Ernst) (The Importance of Being Earnest) als »angekündigt für 1906/07«. Unter demselben Titel war Greves Fassung bereits 1902 angekündigt worden. Heinrich Stümcke, Bühne und Welt 9, 1906/07, S. 340. Der Theaterverlag Eduard Bloch, der die Aufführungsrechte von Greves Bunbury innehatte, hatte seit 1905 auch die Aufführungsrechte für den Teschenbergschen Text übernommen (vgl. die Adressenänderung des Bühnenverlags in Vallentins Regiebuch).

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Stücks war in Berlin sicher nicht ohne Echo geblieben und war Wasser auf die Mühlen derjenigen, die meinten, Reinhardt hätte aus Herrschsucht den einzigen ebenbürtigen Regie-Rivalen aus Berlin verdrängt.60 Wie dem auch sei, Reinhardt hatte inzwischen durch eigene atemberaubende Regieleistungen längst bewiesen, daß er zu Recht die Nachfolge Otto Brahms am bedeutendsten Theater Berlins angetreten hatte. Das Stück fiel in Berlin wiederum durch. Heinrich Stümcke, Arthur Eloesser und Monty Jacobs beschränkten sich teils darauf, ihre vor vier Jahren geäußerte Meinung zu wiederholen, teils flochten sie die bei Greve und Hagemann gelesenen Urteile in ihre Kritik ein. Wenn das Stück nicht vom Verfasser der Salome gezeichnet wäre, so würde ein deutscher Theaterleiter schwerlich auch nur einen Finger darum rühren und einen Pfennig daran wagen. Denn wenn auch der erste Akt manche geistreiche Pointen und einige hübsche Scherzworte enthält, so ist doch die Fabel von kindlicher Anspruchslosigkeit und in französischen Lustspielen und Schwänken lange vor Wilde viel witziger und amüsanter gestaltet worden.61 Wilde wollte mit solchen Kleinigkeiten viel Geld verdienen, er erfand also eine Verwicklung gleich einer beliebigen Pariser Schwankfirma [...].62 Was das Regiekonzept der Berliner Auffuhrung betrifft, so ist der Kritik dreierlei zu entnehmen: 1. Lediglich die Darsteller von Miss Prism, deren Rolle in der Vallentinschen Fassung besonders stark profiliert worden war, und von Dr. Chasuble wurden ihrer »verblüffenden« und »resoluten Komik« wegen einhellig gelobt.

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Heinrich Braulich sieht im Gegensatz zwischen Vallentin und Reinhardt geradezu einen Klassengegensatz: zwischen realistischem, gesellschaftskriüschem Theater und großbürgerlichem Illusionstheater. »Ein Regisseur mit den politischen Tendenzen Richard Vallentins konnte den großbourgeoisen Förderern des Reinhardt-Unternehmens nicht genehm sein« (Braulich, Max Reinhardt, S. 46 f.). Gegen die Ansicht, Vallentin sei von Reinhardt unfair behandelt worden, wendet sich der Reinhardtschauspieler Eduard von Winterstein in seiner Autobiographie (Mein Leben und meine Zeit, S. 382). Vgl. auch Gottfried Reinhardt, Der Liebhaber, S. 237 f.: »Sollte er wirklich dem Kollegen zuliebe sein aufleuchtendes Licht unter den Scheffel stellen? Als er ihn dann gehen ließ, beschuldigte man Reinhardt, er fürchte seine Konkurrenz und ertränke ihn deshalb in seinem Kielwasser! Daß Reinhardts Stern steüg höher süeg und der des anderen, neben und ohne Reinhardt, unterging, vermochte da, wo man lieber eme Konspiraüon suchte als eine Evolution erkannte, bis heute nicht der Legende den Garaus zu machen, Vallentin sei das wahre Regietalent gewesen.« Die >Evoluüonsnatürliches< Spiel und eine homogene, >englisch< wirkende Sprechweise. Wildes Stück hatte damit nicht nur einen großen Teil seiner sprachlichen Komik und Eleganz eingebüßt, sondern es hatte auch seine soziale Situierung verloren. Es gehörte, wie Eloesser polemisch schrieb, »teils in den Zoologischen Garten, teils in den Prater, teils nirgend wohin«. 66

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Arthur Eloesser spricht vrai ihrem »ebenso niedlichen wie falschen Ton« (ebd.). »Wenn sie zum mindesten flotter und schneller zusammengespielt hätten, so wäre das Publikum nicht dem Irrtum verfallen, eine Parodie als eine Albernheit abzulehnen«, schreibt Monty Jacobs, Berliner Tageblatt, 2.1.1907. Arthur Eloesser, ebd. Die Anspielungen auf den »Zoologischen Garten« und den »Prater« sind auf den berlinischen bzw. österreichischen Akzent der Darsteller gemünzt. Eloesser kritisiert hier also vor allem die Dialektinterferenzen und die sprachliche Inhomogenität der Schauspieler, die bei einem Stück, das in der gehobenen Gesellschaft Englands spielt, besonders störend wirken. Daß unterschiedliche Dialektfärbungen selbst bei arrivierten Schauspielern in Berlin keine Seltenheit waren, läßt sich in Tilla Durieux' Theatererinnerungen nachlesen (Tilla Durieux, Eine Tür steht offen, S. 62). Vallentins Empfehlung, das Stück mit englischem Akzent zu spielen, gewinnt vor diesem Hintergrund eine zusätzliche Bedeutung.

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3 Adele Sandrock und die Kreierung der Lady Brancaster: »Welch eine Sensation! Welch ein Erfolg!« (Adele Sandrock) 67 Zwischen 1908 und 1919 gab es einen Rückgang der Bunbury-Inszenierungen in den Theater-Hauptstädten Deutschlands.68 Die Ursache liegt - abgesehen vom ersten Weltkrieg - sicher darin, daß genau diese Jahre durch den Aufstieg des literarischen Expressionismus gekennzeichnet waren, dessen ekstatischer Sprachstil nicht mit der nuancenreichen Wortartistik Wildes in Bunbury zu vereinbaren war. Die drei anderen Gesellschaftskomödien Wildes, die >emstere< Themen behandeln, wurden in diesen Jahren zwar etwas häufiger, aber insgesamt auch nur rund ein Dutzend mal an größeren Bühnen inszeniert. Die Spielzeit 1919/20 brachte dann jedoch ein geradezu sensationelles Comeback des Stückes, das dann bis 1939 immer wieder neu inszeniert wurde. Der Durchbruch des Stückes zu einem der größten deutschen Lustspielerfolge des 20. Jahrhunderts ging von Berlin aus und ist mit dem Namen Adele Sandrocks verbunden, die ab 1920 zur klassischen Interpretin der Lady Brancaster wurde und diese zur komischen Hauptrolle des Stückes machte.

Berlin, Tribüne, 1. Juni 1920',69 Regie: Jack: Algernon: Chasuble: Merriman: Lane:

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Eugen Robert Curt Goetz Paul Otto Ernst Gronau Albert Bennefeld Hadrian Netto

Brancaster: Gwendolen: Cecily: Prism:

Adele Sandrock Maria Angerstein Sitta Staub Else Ehser

»Aber ich hatte wenigstens die Genugtuung, in meiner zweiten >Jugend< fast noch größere Erfolge zu erzielen als zuvor. Das merkte ich, als ich in Berlin zum ersten Male die Rolle der Lady Brancaster in Bunbury spielte. Welch eine Sensation! Welch ein Erfolg!« (Adele Sandrock, Mein Leben, S. 214.) Dokumentiert sind lediglich 1913/14: Frankfurt, Neues Theater, 1917/18: München, Kammerspiele. Besetzung nach dem Theaterzettel vom 29.6.1920 im Archiv der Akademie der Künste, Berlin. Laut Theaterzettel vom 7.10.1920 wurden die Rollen von Jack und Algernon von Alfred Haase und Hadrian M. Netto gespielt; der Theaterzettel vom 21.8.1921 verzeichnet in den beiden Rollen Dietrich von Oppen und M. Netto [sie/]. Die Rolle der Lady Brancaster wurde immer von Adele Sandrock gespielt.

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Berlin, Tribune, 9. Oktober 192970 Regie: Jack: Algernon: Chasuble:

Eugen Robert Anton Edthofer Artur Schröder Wilhelm Diegelmann

Brancaster: Gwendolen: Cecily: Prism:

Adele Sandrock Lia Eibenschütz Anita Dorris Ellen Plessow

Brancaster: Gwendolen: Cecily: Prism:

Adele Sandrock Tala Birell Luise Ullrich Helene Lauterböck

Wien, Volkstheater, 2. Mai 193171 Regie: Jack: Algernon: Chasuble: Merriman: Lane:

Herbert Furreg Hans Olden Franz Schafheitlin Karl Ehmann Oskar Berann Felix Krones

Berlin, Renaissance-Theater, 2. Mai 193472 Regie: Jack: Algernon: Chasuble:

Alfred Bernau Rudolf Platte H. v. Meyerinck Albert Lange

Brancaster: Gwendolen: Cecily: Prism:

Adele Sandrock Karin Evans Anita Dorris Gertrud Wolle

In den bisher behandelten Aufführungen der Teschenbergschen Übersetzung bzw. der Vallentinschen Bearbeitung von The Importance of Being Earnest vermißt man ein Hauptelement dieser Wildeschen Komödie: Lady Brancaster. Kein einziger Theaterkritiker hielt die Rollengestaltung der Lady Brancaster in den bisher vorgestellten Inszenierungen auch nur für erwähnenswert: ein erstaunliches Faktum, wenn man bedenkt, daß heute diese Rolle als »Wildes größte komische Schöpfung überhaupt« gilt. 73 Wie ist es zu erklären, daß die deutsche Rezeption dieser Rolle so schleppend verlief? Oder produktionsästhetisch gefragt: Wie ist es zu erklären, daß die frühen Regisseure des Stückes und die Darstellerinnen der Rolle das komische Potential gerade dieser

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Da kein Theaterzettel der Inszenierung erhalten ist, wurde die Besetzung aus den Theaterkritiken rekonstruiert. Besetzung nach dem Theaterzettel der Österreichischen Nationalbibliothek. Da kein Theaterzettel der Inszenierung erhalten ist, wurde die Besetzung aus den Theaterkritiken rekonstruiert. Pfister, »Nachwort«, S. 128.

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Figur nicht ausreizten, während etwa Miss Prisms Komikpotential schon viel früher theatralisch umgesetzt wurde? Offensichtlich bereitete die Komik dieser Figur der deutschen Rezeption größere Schwierigkeiten als etwa die von Miss Prism oder Doktor Chasuble. Ihre Art der Komik paßte nicht in die traditionellen Rollenfächer. Die pathetischen >Mutterrollen< waren niemals komisch, und die >komische Alte< war als Rollenfach immer eher eine harmlose Randfigur: Die bedrohlich-komische Monumentalität von Lady Brancasters Sprache und Handlungsweise war in der deutschen Theatergeschichte ohne Vorbild. Dies scheint vordergründig auch für die englische Theatergeschichte vor Lady Brackneil zu gelten.74 Dennoch lagen die Rezeptionsverhältnisse in England anders. Das englische Publikum des Jahres 1895 war auf eine weibliche Autoritätsfigur vom Format Lady Bracknells besser vorbereitet, nicht zuletzt deshalb, weil dort schon seit fast 60 Jahren Königin Victoria regierte und inzwischen zur legendenumwobenen Übermutter des Empire geworden war. Zum andern läßt sich zeigen, daß zwischen der englischen Dandy-Bewegung des Fin de siècle und der Herausbildung des neuen, selbstbewußten Frauentyps der >New Woman< eine dialektische Spannung besteht, die mit einer irritierenden Verunsicherung der traditionellen Geschlechterrollen einherging: »Weibliche Männer und männliche Frauen bevölkern die Literatur und, wenn man Max Beerbohm Glauben schenken darf, das Leben.«75 Wildes Lady Bracknell stellt insofern eine kulturell einschlägige Karikatur dar, als in dieser Figur einerseits der neue, »männliche« Zug der britischen Frauenbewegung,76 andererseits aber auch das reaktionäre Festhalten der Oberschicht an den traditionellen Werten des Viktorianismus in monumental-grotesker Steigerung konzentriert ist. Lady Bracknell verkündet die Ideologeme des Viktorianismus mit dem Selbstbewußtsein einer Suffragette. Ihre Komik entsteht durch die maskuline Robustheit ihres vorgestrigen Konservatismus. Was sie sagt, ist meist hohl, überholt und widersprüchlich, aber sie sagt es mit einem autoritären Nachdruck, der jeden Protest sinnlos erscheinen läßt. Lady Bracknell gehört längst nicht mehr in die Gegenwart, aber sie redet und handelt so, als sei die von ihr vertretene Weltordnung nicht der Vergänglichkeit unterworfen.77 Sie verkör-

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"It is typical of Wilde to put a domineering woman—rather than a dominant man—at the centre of his drama. It was an unorthodox move. Victorian society was often claimed to be highly patriarchal. By placing so much emphasis on Lady Bracknell's powerful role, Wilde is once more going against social mores" (Bristow, »Critical Commentary«, S. 207). Höfele, »Dandy und New Woman«, S. 160. In Wildes vieraktiger Fassung spricht Jack von ihrem "masculine mind" (Wilde, CW, S. 382), bei Teschenberg von ihrem »männlichen Geist« (Teschenberg, Ernst, S. 113). Der Ewigkeitsanspruch der von ihr vertretenen Gesellschaftsordnung erhellt zum Beispiel aus ihren Ausführungen über die "duties" im Leben und nach dem Tod: "What between the duties expected of one during one's lifetime, and the duties exacted from

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pert den komischen Unsterblichkeitsanspruch einer autoritären Gesellschaftsordnung. In Deutschland traf Wildes Lady Brancaster auf einen anderen kulturellen Hintergrund als in England. Das öffentliche Leben Deutschlands war vor dem Ersten Weltkrieg in stärkerem Maße von Patriarchat und Militarismus geprägt als in England. Wer die Brutalität und Verknöcherung der Macht karikieren wollte, wie etwa Frank Wedekind in Fritz Schwigerling (1892) oder Gerhard Hauptmann in Der Biberpelz (1893), tat dies selbstverständlich mittels autoritärer Männerfiguren (Fürst Rogoschin; von Wehrhahn), während die weiblichen Figuren für die befreienden und anarchisch-vitalen Kräfte standen (Katharina; Mutter Wolffen). Diese Tendenz radikalisierte sich noch im Expressionismus, dessen antiautoritäre Dramen »gegen den wilhelminischen Archetypus des Vaters als Herrscher gerichtet« waren und häufig um das Motiv des >Vatermords < kreisten.78 Wildes Lady Brancaster konnte vor diesem interkulturell anders gearteten Hintergrund wohl kaum als symbolischer Inbegriff einer autoritären Gesellschaftsordnung, sondern lediglich als vordergründige Karikatur einer aristokratischen Mutter bzw. Schwiegermutter rezipiert werden. Aus der satirisch überzogenen Glanzrolle des Wildeschen Stücks wurde in den frühen deutschen Inszenierungen eine eher unauffällige Nebenrolle von der Art, wie sie als aristokratische Gesellschaftsdamen in französischen Salonkomödien häufig vorkommen und dem deutschen Publikum schon seit Molière geläufig waren.79 Diese theatralische Marginalisierung der Lady Brancaster ist umso auffallender, als wir oben feststellten, daß Teschenbergs wilhelminisch gespreizter Tonfall recht gut die groteske Erhabenheit der einschüchternden Lady trifft.

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one after one's death, land has ceased to be either a profit or a pleasure" (Wilde, Importance, S. 28). Nach Manfred Pfisters Interpretation verweist "duties" im ersten Fall »auf das Ethos sozialer Pflicht und Verantwortung der herrschenden Klasse, im zweiten Fall verweist dasselbe Wort nur noch auf die Erbschaftssteuer. Der mühelose, schier unbewußte Übergang von einem Wortsinn zum anderen, der Absüeg vom hohen ethischen Anspruch in die Niederungen des Finanziellen, deckt in geradezu marxistischideologiekritischer Weise das Pathos sozialer Verpflichtung als legitimierende Camouflage ökonomischer Motive auf« (Pfister, »Nachwort«, S. 123). - Darüber hinaus ist hinzuweisen auf die absurde Kontinuität zwischen "during one's lifetime" und "after one's death" (sowie die dazu gehörende Parallele von "profit" und "pleasure"): Dahinter steckt die materialistisch-metaphysische Vorstellung einer auf Bodenbesitz gegründeten sozialen Identität, die den Tod überdauert. Rischbieter (Hrsg.), Theater-Lexikon, Sp. 410. Vgl. etwa Vallentins Regieanweisung für Lady Brancaster: »Verhör in einem Ton zu sprechen!« (Tesch./Vall„ Ernst, S. 25; Original-Hervorhebung als Unterstreichung). Vallentin wollte Lady Brancaster also (über-)vornehm distanziert spielen lassen, womit sie eben zur traditionellen >Gesellschaftsdame< wurde.

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Die Schwierigkeiten, die Wildes Lady Brancaster der Rezeption im deutschen Theater bereitete, gehen aus Vallentins Regiebuch hervor. Wie oben gezeigt, wurde der Text dieser Figur am stärksten beschnitten, wobei gerade die komisch-autoritären Passagen, in denen Lady Brancaster gewissermaßen ex cathedra spricht, gestrichen wurden. Da Vallentins Regiebuch nach der erfolgreichen Wiener Aufführung auch anderswo benutzt wurde, wurde Lady Brancasters Rolle wahrscheinlich auch bei anderen Inszenierungen stark gekürzt und harmlos-konventionell als exzentrische englische Gesellschaftsdame gespielt. Leider ist anscheinend kein Regiebuch der vier Inszenierungen des Stücks mit Adele Sandrock erhalten. Daß der Regisseur Eugen Robert überhaupt die Teschenberg/Vallentinsche Fassung in drei Akten als Inszenierungsgrundlage wählte und nicht die sprachlich gewandtere von Blei/Zeiß, 80 hängt wohl mit den engen persönlichen Beziehungen zwischen Richard Vallentin und Eugen Robert zusammen. 1907 war Richard Vallentin von Wien nach Berlin zurückgekehrt, wo er zusammen mit Eugen Robert das Hebbel-Theater gründete. Die eigentliche Entdeckung bzw. Kreierung der Lady Brancaster vollzog sich in den zwanziger Jahren, als Adele Sandrock in der Inszenierung Eugen Roberts, die im Sommer 1920 und wieder 1921 monatelang in Berlin lief und 1929 erfolgreich wiederholt wurde, die Rolle mit ungeheurer Resonanz spielte. Sie gestaltete diese auf eine Art, welche die bisherige Rezeption des Stückes in Deutschland auf den Kopf stellte. Sie machte aus einer Nebenrolle die Hauptrolle: Auf dem Besetzungszettel des Wiener Volkstheaters von 1931 wird Adele Sandrocks Lady Brancaster an erster Stelle genannt. 81 Die Kritik mein-

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Vgl. dazu das 6. Kapitel. Der Kritiker der Wiener Reichspost thematisierte diese Verschiebung der Rollenhierarchie: »Die Mütterrolle der Lady Brancaster [...], ursprünglich stark in den Hintergrund gerückt, gerät durch die Kunst Adele Sandrocks von selbst in den Mittelpunkt des Interesses. Die Künstlerin versteht es aber auch, diese alte, familienstolze, für die Vorteile des Reichtums aber nicht unempfindliche Lady ganz köstlich zu zeichnen, mit einem Schuß von Sarkasmus, der das Profil dieser Gestalt prachtvoll verschärft. Es ist eine Leistung, die an die besten des deutschen Theaters heranreicht [...]« (»tr.«, Reichspost, 5.5.1931). - 1932 spielte Adele Sandrock in Franz Wenzlers musikalischer Filmkomödie Liebe, Scherz und Ernst, in der Wildes Bunbury kulturell völlig eingedeutscht wurde, die Hauptrolle. Hier die Hauptdarsteller: Die Senatorin von Störtebecker sei. Witwe: Adele Sandrock; Klaus, ihr Enkel: Harald Paulsen; Gerda, ihre Enkelin: Charlotte Ander; John Petersen: Georg Alexander; Eva Andersen, sein Mündel: Ilse Korseck; Laetitia Priemel, Erzieherin: Gertrud Wolle; Jagomir Traugott Keesbert, Organist: Julius Falkenstein; Franz, Diener bei Petersen: Erich Kestin; Lilly, fast Dame: Hilde Hildebrand. - Rudolf Geck schrieb dazu in der Frankfurter Zeitung vom 13.9.1932: »DaB man den Stoff aus dem englischen Boden herausriß und in eine norddeutsche Landschaft verpflanzte, [...] ist weiter kein Malheur. Daß aber aus einer bezaubernd geplauderten Komödie sozusagen Posse mit Gesang wurde, ist schon weniger schön. Trotz alledem. Seien wir Franz Wenzler, der die Regie zwar mit einigen hübschen szenischen Einfallen, doch etwas zu wenig straff führte, dankbar dafür, daß er uns

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te zum Teil, daß Wildes Stück nur durch Adele Sandrock am Leben erhalten werde: Ohne Adele Sandrock wäre wahrscheinlich auch diese Komödie Oscar Wildes schon für uns verloren. Mit Adele Sandrock ist sie als einziges Stück ihres Autors noch lebendig genug, um aufs neue ein Publikum ehrlich und dankbar lachen zu lassen.82

a. Die >Aura< der Adele Sandrock An erster Stelle muß man hier das nennen, was theatersemiotisch wohl nur schwer zu fassen und zu präzisieren ist: die >Aura< der Adele Sandrock. Ihre Ausstrahlung bestand nicht nur in einer besonderen Bühnen-Präsenz, sondern eben auch in ihrer Bühnen-Vergangenheit, die selbst wieder mit ihrer »sagenund anekdotenumwobenen« Biographie untrennbar verbunden war.83 Vor und nach der Jahrhundertwende war sie - so Ihering - an den großen Bühnen Wiens zuerst eine Primadonna im Sinne der modernen »Nervenschauspielerin« gewesen, bevor sie am Deutschen Theater in Berlin zur »ersten Tragödin« und »Bewahrerin der klassischen Tradition« wurde: Adele Sandrock, die eine Schauspielerin des großen Theaters eher im französischen Sinne war, eine farbige, temperamentvolle, steigernde und nuancierende Darstellerin, eine Beherrscherin der Bretter und des Publikums, eine Diva und ein Star, wie wir heute sagen würden, entwickelte sich jetzt zu einer Hüterin der strengen Form. Fast verächtlich spielte sie unter beweglichen, romantischen, komödiantisch beschwingten Darsteilem in eherner Ruhe und maskenhafter Starre ihre klassischen Schmerzensfrauen, als ob Niobe unter Hetären zu weilen gezwungen sei. Dem bunten Glanz eines lebendigen und faszinierenden, manchmal auch gewaltsam lebendigen Theaters stellte sie die fast monotone Erhabenheit der unerbittlichen Überlieferung entgegen. Sie stand abseits, als die Darstellung der

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Adele Sandrock in dieser Rolle, die sie hundertmal auf der Bühne gespielt hatte, auch auf der Leinwand beschert hat. Mit dieser Figur begann vor etwa einem Jahrzehnt die Sandrock-Renaissance. Aus der ehemaligen Tragödin wurde diese herrliche >komische Alte< - darf man das bei ihrer Vitalität überhaupt sagen? - , über die man so viel Tränen gelacht hat. Sie ist wieder prachtvoll mit ihrem bärbeißigen Humor; wenn sie mit ihrer knarrenden Kommandeurstimme loslegt, bleibt kein Auge trocken.« - Der Film, der in Illustrierter Film-Kurier 14,1932, Nr. 1843 vorgestellt wird, ist in keinem deutschen Film-Archiv erhalten und in keinem einzigen Nachschlagewerk bibliographiert. Monty Jacobs, Vossische Zeitung, 10.10.1929. Ihering, Von Josef Kainz bis Paula Wessely, S. 57. Vgl. außerdem Sandrock, Mein Leben; Renger, Adele Sandrock; Wagner (Hrsg.), Dilly. Adele Sandrock und Arthur Schnitzler; Ahlemann, Adele Sandrock (die von Ahlemann zusammengetragenen Anekdoten sind sicher nicht alle echt, sind aber gerade in ihrer Fülle ein Beleg für die > Aura der Sandrock).

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Klassiker aufgelockert wurde, bewußt abseits in hassender, aber auch großartiger Einsamkeit 84 Ab 1917 neigte sich jedoch die Heroinen-Karriere der Sandrock jäh dem Ende zu, und nach drei - auch finanziellen - Krisenjahren, die in ihrer Autobiographie beschrieben werden, 85 begann ab 1920 ihre zweite Karriere im komischen Fach, in dem sie noch größere Triumphe feiern sollte als in ihrer ersten Kanriere. Den Übergang markierte die tragikomische Rolle der alternden Fürstin in Wedekinds Schwank Fritz Schwigerling, mit der sie im Januar 1920 die Berliner Theaterwelt überraschte.86 Den eigentlichen Durchbruch brachte ihr dann ein halbes Jahr später eben die Rolle der Lady Brancaster, die sie ab 1. Juni 1920 allabendlich in der Berliner Tribüne spielte. Die >Aura< der Adele Sandrock bestand, soweit man dieses diffuse Phänomen begrifflich präzisieren kann, in der suggestiven Fülle der Konnotationen, die mit ihrem Namen und ihrer Biographie verbunden waren: vor allem Konnotationen einer tragisch-heroischen Vergangenheit und einer resoluten Unverwüstlichkeit in der Gegenwart. 87 Die ästhetischen Irritationen, welche Adele Sandrock trotz oder wegen ihrer monumentalen komischen Wirkung auszulösen imstande war, sind von ihrem Bewunderer Herbert Ihering im Rückblick folgendermaßen in Worte gefaßt worden: Diese Künstlerin [...] gab an einer neuen Wende des Lebens ihren eigenen tragischen Ton und die Gebärde der Trauer und schmerzlichen Erschütterung dem Gelächter preis! Aus der Tragödin Adele Sandrock wurde die Komikerin. Aber die Komikerin arbeitete weiter mit den Mitteln der Tragödin, nur mit umgekehrtem Vorzeichen. Der dunkle, rollende Ton galt jetzt nicht den großen, sondern den kleinen Gegenständen der Menschheit. Nicht der Klage einer aufgewühlten Mutter, sondern dem Zorn eines Hausdrachens. Der weite Schritt und die gemes-

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Ihering, Von Josef Kainz bis Paula Wessely, S. 58. Vgl. Sandrock, Mein Üben, S. 188-193. Vgl. Seehaus, Wedekind, S. 248 f. Die >Resolutheit< der Sandrock ist auch anekdotisch vielfach belegt. In ihrer Autobiographie schreibt sie, »nur der Zuversicht meiner Schwester Wilhelmine, die immer sagte: >Wer auf Gott vertraut und feste um sich haut, hat nicht auf Sand gebaut«, war es zu verdanken, daß ich nicht unterlag« (Sandrock, Mein Leben, S. 192). - Mit Arthur Schnitzler hatte sie 1893/94 eine stürmische Liebesbeziehung, die in Renate Wagners Dokumentationsbuch Dilly ausführlichst belegt wird (in ihrer eigenen Autobiographie fällt der Name Schnitzler kein einziges Mal). Als Schnitzler wenige Monate vor seinem Tod Adele Sandrock als Lady Brancaster auf der Bühne des Wiener Volkstheaters sah, notierte er am 5.5.1931 in sein Tagebuch: »[...] die Sandrock spielt die alte Lady - uralt - grotesk - mit selbstironisierendem Pathos« (Wagner, Dilly. Adele Sandrock und Arthur Schnitzler, S. 331). Nach einer von Hubert von Meyerinck kolportierten Anekdote soll bei derselben Vorstellung auch die Sandrock durch ein Guckloch im Vorhang Arthur Schnitzler gesehen haben und - ihr eigenes Alter vergessend - entsetzt zurückgeprallt sein mit den Worten: »Gott - ist der Mensch alt geworden!« (ebd.). 175

sene Gebärde gehörten nun nicht mehr einer Fürstin des Unglücks, sondern dem Quälgeist einer Schwiegermutter.88

Adele Sandrock sprengte und re-pragmatisierte die Fiktion der Theatralität, indem ihr >Spiel< gleichzeitig auf zwei Projektionsflächen stattfand: als >StarSich-nicht-UnterkriegenlassensAura< von Adele Sandrock, die - als irritierende Überblendung ihrer früheren Bühnenexistenz und ihrer komischen Bühnenpräsenz - ihrem Spiel immer den Eindruck von »Selbstpersiflage«90 zu verleihen schien, verfügte die Schauspielerin auch über eine Reihe bewußt eingesetzter Mittel, mit denen sie Lady Brancaster sozial und individuell auf überraschende Art charakterisierte. So vermittelte sie durch ihr stummes Spiel und den Einsatz ihrer tiefen Stimme jene überdimensionale, männlich-dominierende Autorität, die Wildes Text sprachlich suggerierte.91

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Diering, Von Josef Kainz bis Paula Wessely, S. 58 f. Gamcarz, »Die Schauspielerin wird Star«, S. 324. Moritz Loeb, 10.10.1929 (Quelle unbekannt) (Theatermuseum Köln). Wenn man die Rolle der Lady Brackneil von einem Mann spielen läßt, entsteht leicht Klamauk à la Charley's Aunt (von Brandon Thomas, 1892), ein Stück, das Wilde gut kannte und gegen dessen >viktorianischSieg der Wahrheit und Redlichkeit) er in The Importance of Being Earnest gründlich opponierte (vgl. Powell, Oscar Wilde and the theatre of the 1890s, S. 120f.). - In der Spielzeit 1988/89 war am Badischen Staatstheater in Karlsruhe eine Inszenierung zu sehen, bei der Lady Bracknell als Hosenrolle, Algernon als Bisexueller, der Gärtner mit breitem Karlsruher Akzent gespielt wurde; Cecily zog sich ständig an und aus usw. Die Aufführung war von quälender Langeweile, da der Regisseur (Klaus Weise) der Phantasie der Zuschauer keinen Spielraum gab, sondern das Stück als Vorwand für die Veranschaulichung psychoanalyüscher Binsenweisheiten mißbrauchte, ganz zu schweigen davon, daß die Textnuancen und -zusammenhänge sowie der Wortwitz verlorengingen. - Wildes Stücke spielen mit der Mehrdeutigkeit auf der sprachlichen, figuralen und Handlungs-Ebene, sie vertragen schlecht >eindeutige< Interpretationen, seien sie ideologischer oder psychoanalytischer Art (vgl. dazu Kohlmayer, »Ambiguität«, S. 424-431).

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Die Wiederbelebung des Abends aber ist allein das Verdienst der Lady Brancaster. Adele Sandrock, wie sie mit der Sense ihrer Beredsamkeit alle Einwände niedermäht, wie sie ihr Opfer einkreist, um es mit Blicken einzuschüchtern, mit Hohnlächeln zu entmutigen, mit einem Wort niederzustrecken - Adele Sandrock ist wert, daß >Bunbury< [...] aufersteht92 Wie sie da oben als bissiger Drache herrscht, beherrscht sie Bühne und Stück und Mitspieler, - mit bärbeißiger Mannsstimme, mit unausweichbaren Gesten und Blicken, als pompöse Gestalt in pompösen Gewändern [...]. Aus ihrem Munde wirken Wildes Aphorismen, nicht durch den Inhalt, sondern durch den Ton, in dem sie überheblich und bomiert-lebensklug hingeschmettert werden.93 Ein wahrer Granitblock pathetischer Komik, stand Adele Sandrock, als aristokratisches Tantenungetüm, inmitten der plätschernden Brandung skurriler Begebenheiten.94 Das ist das Monumentalweib des altenglischen Hochadels. Sie bringt die Luft von Buckinghampalace mit, die Viktorianische Atmosphäre. [...] Sie läßt sich herab, aber weh dem, der zu ihr hinaufwollte!95 Wunderbar, wie diese große Komödiantin [...] zur beherrschenden Gestalt emporrückt Ein wahrer Bühnenschreck, vor dem die tollen Liebespaare ins Nichts zusammensinken. Zuerst möchte sie nur schnauzen, aber dann schnauzt sie wirklich, und ein wahrer Jubel bricht los.96 Die Kritiken lassen erkennen, daß Adele Sandrocks - >expressionistisch< inspirierte - Verkörperung der Lady Brancaster so gut wie unabhängig vom Text war: »Selbst die schlechte Übersetzung kann die Wirkung nicht mindern«, schreibt Fritz Engel am 2.6.1920 im Berliner Tageblatt. Sie >ver-körperte< Lady Brancaster, gab ihr Körper, Stimme, Männlichkeit, Monumentalität, Autorität. Sie theatralisierte die Rolle, transformierte das sprachliche Potential des Teschenbergschen bzw. Vallentinschen Textes in Tonfall, Mimik, Gestik, Haltung. Die theatralische Kreierung der Lady Brancaster bedeutete keineswegs, wie Ihering - vor allem mit Bezug auf anspruchslosere Rollen, die die Sandrock nach 1920 übernahm - meinte, daß die Tragödin ins Rollenfach der komischen Alten< übergewechselt war - zumindest nicht mit der Rolle der Lady Brancaster. Das komische Potential dieser Rolle läßt sich, wie oben gesagt, gerade nicht auf dieses Rollenfach festlegen. Vielmehr fand Adele Sandrock

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Monty Jacobs, Vossische Zeitung, 10.10.1929. Kurt Pinthus, 8-Uhr-Abendblatt, 10.10.1929. Franz Servaes, Berliner Lokal-Anzeiger, 10.10.1929. A. Frankenfeld, Wiener Zeitung, 5.5.1931. Hans Flemming, Berliner Tageblatt, 3.5.1934. 177

in Lady Brancaster die Spielvorlage für jene neue Art von Komik, die ihrem >Typ< besonders lag; sie konnte Wildes Lady Brancaster zu einer angemessenen Bühnenexistenz verhelfen, weil sowohl ihre >Aura< als auch ihre sprachlichen und darstellerischen Mittel in besonderer Weise zu dieser autoritären Rolle paßten.

c. Der situativ-komische Kontrast zu den Mitspielern Eine weitere Dimension des Sandrockschen Rollenspiels ergibt sich aus dem Zeugnis der oben zitierten enthusiastischen Theaterkritiken. Die Komik der Lady Brancaster wird von den Kritikern als Situationskomik beschrieben - als Kontrast zwischen einem viktorianischen »Tantenungetüm« auf der einen und »der plätschernden Brandung skurriler Begebenheiten« (Servaes) auf der anderen Seite. Das Spiel der Sandrock brachte einen starken Kontrast in die Figurenkonstellation auf der Bühne: Sie war keine Gesellschaftsdame, die mit den anderen Figuren irgendwie harmonierte, sondern ihre pathetische Diktion und Gestik, ihre >historische< Kostümierung konterkarierte die elegante Modernität und Beweglichkeit der jungen Dandy-Figuren. Wie Tilly Wedekind in ihren Memoiren berichtet, kultivierte Adele Sandrock im Leben wie in der Rolle der Lady Brancaster diesen Kontrast zu ihrer Umwelt: [...] zu unserer Hochzeit war sie in ihrem besten Staat ausstaffiert, äußerst elegant im Stil der Jahrhundertwende, der ja damals immerhin schon einige Jahre zurücklag. Sie blieb während der nächsten Jahrzehnte eisern dabei. Sie ging nicht mehr mit der Mode, sei es nun aus Sparsamkeit oder aus Charakter. Es muß wohl letzteres gewesen sein, denn langsam wurde sie zur komischen Figur, und mit der Zeit hatte sie es immer schwerer, Rollen zu bekommen. Dann aber führte gerade ihre Marotte, der Mode ihrer Glanzzeit treu zu bleiben, zu ihrer Wiederentdeckung. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde in Berlin Oscar Wildes Bunbury gegeben, ganz modern: die jungen Mädchen trugen kurze Haare und die glatten, bis zum Knie reichenden Kleider der zwanziger Jahre. Adele jedoch, in der Rolle der gefürchteten und höchst komischen Tante Agatha [sie/], trat in ihren eigenen, echten, aus der Jahrhundertwende stammenden Toiletten auf, mit rauschenden Rüschen, bodenlangen Röcken und radgroßen Hüten.97 Das Stück erhielt durch Adele Sandrock eine zweite Zeitebene, die zu derjenigen der übrigen Figuren eine komische Inkongruenz ergab. Adele Sandrock suggerierte historische Vorzeit und zeitlose Autorität. Die sprachlichen Nivellierungen Teschenbergs und - in umgekehrter Richtung - Vallentins wurden zwar nicht durch ihren Rollentext, wohl aber durch ihre >AuraEleganz< der Dandies die Rede ist: »Kurt Goetz und Paul Otto waren eleganteste Spaßmacher.«98

d. Parodie der Macht und zeitgeschichtliche Bezüge Die Darstellung der Lady Brancaster durch Adele Sandrock hatte - zumindest in den zwanziger Jahren - einen starken sozialpsychologischen Appell. Die Sandrock verkörperte in ihrem pseudoheroischen Spiel die Parodie reaktionärer Macht, wodurch jene retrospektive Sehnsucht nach heroischen Verhältnissen unterminiert wurde, welche das präfaschistische Denken der Weimarer Republik kennzeichnete. Das Verlachen des grotesken Autoritätsgehabes und pseudomoralischen Sozialdarwinismus, das Wilde als satirisches Mittel gegen die Borniertheiten des Viktorianismus eingesetzt hatte, konnte auch im stark polarisierten Kontext der zwanziger Jahre antiautoritäre Denkprozesse des Publikums in Gang setzen. Die beiden Äimöu/y-Inszenierungen Eugen Roberts an der Tribüne - 1920 und 1929 - rechneten expressis verbis mit solchen kritischsatirischen Gegenwartsbezügen. Dazu muß man wissen, daß die Tribüne, wie es in einer Erklärung vom 1. Dezember 1919 heißt, »mit der ausgesprochenen Absicht, ein verantwortlich ethisch-politisches Programm zu Gehör zu bringen«, gegründet worden war." Formal orientierte man sich an einem revolutionären Expressionismus, inhaltlich an linksradikaler Politik. In ihrer ersten Spielzeit 1919/20 brachte die Tribüne zunächst Uraufführungen von Stücken Hasenclevers (Der Retter, Die Entscheidung) und Tollers (Die Wandlung), Sonntagsmatineen mit politischer Dichtung und eine dadaistische Veranstaltung. Zeitungsberichte über die Auf-

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Fritz Engel, Berliner Tageblatt, 2.6.1920. Zitiert nach Trempnau/Behrend (Hrsg.), 70 Jahre Tribüne, S. 14. 179

fiihrung von Ernst Tollers Wandlung führten zu einer polizeilichen Besichtigung des Theaters und zu mehreren Sicherheitsauflagen. Im Dezember 1919 war das bisherige Direktorium bankrott und wurde von Eugen Robert übernommen, der eher die modernen Klassiker spielte (Wedekind, Wilde, Strindberg, Ibsen, Hauptmann, Shaw, Stemheim, Schnitzler usw.), ohne jedoch bloß auf »Kassenstücke« zu setzen. Seine erste Inszenierung, Wedekinds Franziska (27.12.1919), wurde ein Publikumserfolg, führte aber zu einem Sittlichkeitsprozeß, da dabei eine nackte Frau aufgetreten war. Der Prozeß fiel in die Zeit der Bunbury-Probtn

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Eugen Roberts letzte Inszenierung in der Spielzeit

1919/20 - , worüber Eugen Robert anläßlich des zehnjährigen Bestehens der Tribüne im Berliner Tageblatt folgendes berichtet: Zeitungsartikel, Polizeikontrolle, schwarze Liste, einstweilige Verfügung und zuletzt der große mündliche Prozeß vor dem Landgericht I. Vormittags hatte ich die Probe zu Bunbury; nachmittags und abends und manchmal in der Nacht bereitete ich das Material für die Gerichtsverhandlung vor. Ist es da weiter verwunderlich, daß alle Heiterkeiten, die ich in der Prozeßarbeit gesammelt habe, den Bunbury-Pmbcn zu Gute kamen? Die Freude über die Widersacher, über ihr Dasein; über ihre drollige Wichtigtuerei; über ihre stumpfen Waffen; - die Freude über die Herrlichkeit des Lebens, das von Widersachern [...] und auch vom Theater unabhängig ist. In dieser Heiterkeit inszenierte ich die triviale Komödie fur seriöse Leute. Der Spott, die Ironie, die Überlegenheit des Stückes bekamen für mich doppelte Bedeutung. Und bei dem stillen Jubiläum der Tribüne, bei dem Seine Exzellenz der Kultusminister vermutlich nicht erscheinen wird, und ich kaum zum Ehrenbürger Berlins gewählt werde: hole ich zu meiner eigenen Freude wieder Bunbury vor.100 Das anarchistische Potential des Wilde-Stückes - das Verlachen jeglicher Autorität, der Triumph der Phantasie über die Realität - wurde von Eugen Robert als die zeitgemäße >Botschaft< des Stückes ausgespielt Diese Interpretation läßt sich nicht nur produktionsseitig, sondern auch rezeptionsseitig belegen: Die präfaschistische Presse betrachtete die Erstaufführung von Bunbury an der Tribüne als symptomatisch und nahm sie zum Anlaß, um in unglaublich aggressivem Ton gegen den »Bolschewismus« der jüdischen Intellektuellen und des Berliner Theaters - namentlich Reinhardts, Jeßners, Roberts - zu wettern. Unter der Überschrift »Der Sklave als Herr« schrieb der Kritiker Erich Schlaikjer unter anderem folgendes: 101 Daß wiederum ein Ausländer, und zwar ein perverser, gespielt wurde, ist nicht ein harmloser Fehlgriff, sondern eine wohl überlegte Handlung innerhalb eines

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Zitiert nach Trempnau/Behrend (Hrsg.), 70 Jahre Tribüne, S. 32. Ich zitiere nur einige bezeichnende Stellen aus Schlaikjers ca. 160 Zeilen langem Artikel in der Täglichen Rundschau, 3.6.1920.

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raffinierten Systems, und so vermochte auch das vortreffliche Spiel der Adele Sandrock nicht, die bitteren Stimmungen zum Schweigen zu bringen. Im übrigen hat es keinen Zweck, viele Worte an die alte Arbeit Wildes zu verlieren, wohl aber fordert das bolschewistische Milieu des Theaters dazu heraus, einmal das Stück etwas näher zu betrachten, das im ganzen verflossenen Winter auf fast allen Bühnen gegeben wurde. Es wechselte den Verfasser, es wechselte die Form, es wechselte das besondere Motiv, sein Inhalt aber war ewig der gleiche und zeigte immer wieder den Sklaven als Herrn. [...] Von sämtlichen Dingen dieser Erde ist den sklavischen Seelen nichts so verhaßt als der Krieg, weil in ihm Freiheitsliebe, Mannesstolz und Mannesehre ihre schönsten Triumphe feiern. Da nun die Freude am Schwert jedem germanischen Menschen tief im Blut steckt, mußte hier die Rache der Sklaven zunächst und zuvörderst einsetzen. Im besonderen im Jungen Deutschland< des Herrn Reinhardt und in der bolschewistischen >Tribüne< in Charlottenburg wurden die abstoßenden Machwerke gespielt, die den Heroismus von vier schweren Jahren in den Schmutz ihres eigenen Wesens herabzogen. [...] Da mit dem nationalen Gefühl eines Volkes ein bestimmter Stolz und eine bestimmte Selbstachtung ursächlich verbunden sind, da Stolz und Selbstachtung aber von den Sklaven mit Recht als feindliche, aristokratische Eigenschaften empfunden werden, durfte ihr haßerfülltes Temperament an diesem Faktor der Entwicklung natürlich nicht vorübergehen, so gewiß sie nichts haben unbesudelt gelassen, was frohen deutschen Menschen eigentümlich zu sein pflegt. Sardou, Bernhard Shaw, die Zapolska, wer zählt die Völker, nennt die Namen, die sich in unserem Spielplan zusammenfanden, während unsere unsterblichen Meister ausgeschlossen blieben? [...] Wir vertrauen auf Gott, daß er eine so ruchlose Erde auf die Dauer nicht zulassen wird. Wir glauben mit der ganzen Kraft unserer gläubigen Seele, daß unser treues Volk zu sich selber zurückfinden wird, aber wir wissen nicht, durch welches finstere Tal wir vorher wandern müssen. [...] Selbst wenn eure unabhängige Räterepublik eine Tatsache werden sollte, [...] werden wir euch und euren liebwerten literarischen Vettern in die Zähne hinein sagen, daß ihr Pack seid, daß euer unreiner Atem uns verhaßt ist [...]. Gewiß richtet sich diese unsägliche Attacke nicht in erster Linie gegen die Persiflierung eines elitären Heroismus, wie sie Sandrocks Lady Brancaster kennzeichnete; dennoch lassen sich Querverbindungen zwischen Schlaikjers Begrifflichkeit und Lady Brancasters Sozialdarwinismus nicht übersehen redet der wütende Kritiker doch jenen »aristokratischefn] Eigenschaften« das Wort, welche in Sandrocks Spiel dem Gelächter preisgegeben werden. Nach Hitlers Machtergreifung waren potentielle ironische Gegenwartsbezüge dieser Art - die Komisierung der heroischen Gesten und Floskeln gesellschaftlicher Autorität - weitgehend tabuisiert. Dieser Wandel läßt sich an den Akzentverschiebungen in den ßMfl^wo'-Inszenierungen verfolgen. 1931 stellt ein Wiener Kritiker der Volkstheater-inszemenmg noch mehr oder weniger subtile Gegenwartsbezüge her, um die Wirkung des Sandrockschen Spiels zu kennzeichnen:

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[...] Seltsam, wie knapp hier Unsinn neben Tiefsinn steht, wie mit Clownspäßen satirische Gesellschaftskritik gemacht wird. Adele Sandrock, nach Jahrzehnten an die Stätte ihres jungen Ruhmes heimgekehrt, spielte eine imposante altenglische, große Dame in gestraffter Vornehmheit so grotesk wie grandios. Wie ein altes Kriegsschiff aus der besten viktorianischen Zeit kam sie herangesegelt, in großer Flottengala mächtig aufgetakelt. Dieser Monumentalhumor ist überlebensgroßes Denkmal seiner selbst. Man kann also, nun haben wir's erfahren, höchst ehrwürdig und höchst lächerlich zugleich sein. Eins hebt das andre nicht auf, es begründet es vielmehr. [...] Etwas Heroisches haftet ihr von früher her immer noch an; doch dient es jetzt feinsten parodistischen Absichten. Die Pathetik des alten Theaters klingt wie ein femes, leises, etwas spöttisches Echo herüber in unsre, ach, so sachliche Gegenwart.102 In Bemaus Berliner Inszenierung von 1934 wurden die Akzente verschoben: Die schwankmäßige Harmlosigkeit trat in den Vordergrund, das sozialsatirische Potential wurde entsprechend gedämpft: Die Regie hat das ganze allerdings in einen Zustand fröhlicher Veralberung hineingezaubert, so daß aus der trivialen Komödie von damals ein trivialer Schwank von heute wurde. Als Mr. Worthing tummelt sich Rudolf Platte vergnüglich und pfiffig durch die Pointen und Hubert v. Meyerinck verleiht dem jungen Montford die nötige lässige Wurschtigkeit der englischen Komödien-Aristokratie. [...] Lady Brancaster, phantastisch mit Pleureusen, wallenden Gewändern und Röschen verziert, ist eine unnachahmliche Respektsperson, die den Brustton der Überzeugung mit gefährlich rollenden Augen zu fernem Donnergrollen mit gelegentlichem Wetterleuchten verbindet.103 Ähnlich ist der Tenor der übrigen Theaterkritiken, wobei Hans Hemming in Klammern kritisch anmerkt: »Der Schwank ist jedoch von einer Komödie Wildes soweit entfernt wie ein Trauerspiel.«104 Durch die Betonung des Schwankhaften - vgl. die oben gegebene Beschreibung von Lady Brancasters Aufmachung - wurden die eventuellen satirischen Gegenwartsbezüge von vornherein unterbunden. Adele Sandrock spielte jetzt tatsächlich eher die >komische AlteVerhör< die Anspielungen auf den Grosvenor Square als Wohnsitz der Reichen, auf die hohe Besteuerung des Landbesitzes in England, auf die politischen Parteien, auf die englische Presse, auf die »Brighton line«. - Schließlich verzichteten Blei/Zeiß - auch hierin ähnlich Richard Vallentin auf den Versuch, Wildes Wortspiele wiederzugeben: Die meisten wortspielerischen Stellen wurden einfach weggelassen. Die Tendenz der Textkürzungen führte zu dem Ergebnis, daß der Handlungsfluß insgesamt beschleunigt und die groteske Sprachkomik reduziert wurde. Blei/Zeiß ging es weniger um die Wahrung von Mides Sprachwitz und seiner exzentrischen Figurenkomik, als vielmehr um die Herstellung einer flott spielbaren, eleganten, unmittelbar verständlichen Situationskomödie. Dazu trug nicht unwesentlich bei, daß die kulturspezifische Einbettung der Dialoge stark gelockert wurde, so daß kein spezielles Vorwissen der Zuschauer erforderlich war.

2 Gesprochensprachliche Eleganz Was nun die Mikrostruktur von Blei/Zeiß' Text betrifft, so liegt es auf der Hand, daß es sich um eine mehr oder weniger gründliche stilistische Überarbeitung von Teschenbergs Übersetzung handelte. Ein Beispiel für Blei/Zeiß' stilkonzeptionelle Redigierung von Teschenbergs Text: ALGY. Hast Du Gwendolen erzählt, daß Du eine außerordentlich hübsche Mündel hast, die eben erst achtzehn Jahre alt ist? JACK. Oh! man platzt mit solchen Sachen nicht vor den Leuten heraus. Das Leben ist eine Taktfrage. Man kommt dazu erst stufenweise. Cecily und Gwendolen werden außerordentlich gute Freundinnen werden. Wahrscheinlich werden sie

ALGY. Hast du Gwendoline erzählt, daß du eine außerordentlich hübsche Nichte hast, die achtzehn Jahre alt ist? JACK. Mit solchen Sachen platzt man doch nicht gleich heraus. Das Leben ist eine Taktfrage. Langsam... nach und nach... Cecily und Gwendoline weiden sehr gute Freundinnen werden. - Wahrscheinlich werden sie sich eine halbe Stunde nach 193

sich eine halbe Stunde nach ihrer ersten Begegnung Schwestern nennen. ALGY. Das thun Frauen erst dann, wenn sie einen furchtbaren Streit gehabt haben und sich zuerst eine Menge andere Sachen genannt habea26

ihrer ersten Begegnung das schwesterliche Du anbieten. ALGY. Das tun Mädchen erst dann, wenn sie ein Zerwürfnis miteinander gehabt haben. 27

Während Teschenberg nach einer möglichst genauen Wiedergabe der Oberflächenstruktur der englischen Vorlage strebt und dabei im Deutschen immer wieder stilistische Unsicherheiten zeigt - in der zitierten Passage ζ. B. mit der schwerfälligen Wendung »sich Schwestern nennen« - , gelingt es Blei/Zeiß durch leichte redaktionelle Eingriffe, aus Teschenbergs zähflüssigem einen wesentlich eleganteren und moderneren Text zu machen. Blei/Zeiß' Überarbeitung macht den Text Teschenbergs, wenn wir von der oben angeführten Passage ausgehen, 1. idiomatischer und moderner: »das schwesterliche Du anbieten«; 2. gehobener: ein relativ seltenes und bildungssprachliches Wort wie »Zerwürfnis« verleiht dem Sprecher einen Hauch von sprachlicher Eleganz und gesellschaftlicher Exklusivität;28 3. kürzer und prägnanter: aus einem »furchtbaren Streit« wird ein »Zerwürfnis«; 4. sprechbarer: Blei/Zeiß fügen Modalpartikeln hinzu und verleihen dem Satzrhythmus durch Inversion der Wortstellung mehr gestische Dynamik - »Mit solchen Sachen platzt man doch nicht gleich heraus«; 5. theatralischer: Blei/Zeiß gewähren den Schauspielern durch elliptische Texteinsparungen (»Langsam... nach und nach...«) und die Zwischenschaltung zusätzlicher Pausenzeichen mehr nonverbalen Spielraum - der verbale Text schrumpft zugunsten des theatralen Textes. Die aufgezählten fünf Merkmale gelten tendenziell nicht nur für die analysierte Passage, sondern für den Blei/Zeißschen Text insgesamt. Angesichts der Vorgängerübersetzungen Grevés und Teschenbergs sind in der Blei/Zeißschen Fassung besonders die Merkmale Modernität, Stilebene und Theatralität hervorzuheben. Grevés Versprachlichung war zu alltäglich, die Teschenbergs zu holprig, um den exklusiven und eleganten Gesellschaftston der Wildeschen Dandies

26 27 28

Teschenberg, Ernst, S. 33 f. Blei/Zeiß, Ernst, S. 22. Blei hatte in seiner Teschenberg-Bearbeitung von 1905 hier eine wesentlich banalere Lösung: »Das tun Mädchen erst dann, wenn sie einen schrecklichen Krach miteinander gehabt haben« (Teschenberg/Blei, Ernst, I. Akt, S. 31).

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zu treffen, der im Englischen bereits durch die typische Oberschichtintonation suggeriert werden kann. Dagegen vermögen Blei/Zeiß - zumindest stellenweise - einen guten Eindruck von der modischen Eleganz des dandystischen >Milieus< zu geben. Blei/Zeiß stellten durch gelegentliche lexikalische Veredelungen des Typs »Zerwürfnis« statt »furchtbarer Streit« gegenüber Teschenberg jene soziolinguale Stilebene her, wie sie Richard Vallentin durch die fragwürdige Notlösung einer anglophonen Diktion der Schauspieler anzudeuten versuchte.29 Blei/Zeiß hatten offensichtlich die Notwendigkeit erkannt, die typisch englische intonatorische Signalisierung von Exklusivität und Eleganz im Deutschen durch lexikalische Mittel zu kompensieren. Vor allem Blei in seiner Teschenberg-Bearbeitung von 1905, aber auch noch Blei/Zeiß in ihrer Fassung von 1920 beschränkten sich bedauerlicherweise oft seitenweise darauf, Teschenbergs Text, der - bei aller Verschrobenheit - durchaus gehoben klingt, lediglich etwas idiomatischer und sprechbarer zu machen. Wie sehr es jedoch Blei bereits 1905 bei seiner ersten flüchtigen Überarbeitung des Teschenbergschen Textes um sozio-stilistische Aufwertung und Ästhetisierung ging, erhellt symptomatisch aus seiner Wiedergabe des Nebentextes zu Beginn des 2. Aktes, die dann auch in der Schlußfassung von Blei/ Zeiß übernommen wurde: Blei macht aus Teschenbergs »Garten in Manor House«30 einen »Garten vor dem Guts Schloß«,31 wodurch Jack im Deutschen sozial erheblich angehoben wird. Der Gegensatz zwischen elegantem Großstadtleben und ländlich-provinzieller Idylle wird dadurch verkleinert. Was die Theatralisierung des Textes - die Umformung der Dialoge im Hinblick auf die schauspielerische Realisierung auf der Bühne - betrifft, so zeigt sich durchgehend das Bemühen, die Dialoge gehobensprachlich und spontan klingen zu lassen. Die in Bleis Textfassung von 1905 skizzierten Ten29

30 31

Ähnliche Veredelungen und schicke Modernismen in Blei/Zeiß, Ernst gegenüber Teschenberg, Ernst sind etwa »prosaisch« (B/Z, S. 7) für »unromantisch« (T, S. 10); »zugeknöpft« (B/Z, S. 10) für »langweilig« (T, S. 14); »den Gerichtsvollzieher auf mich gehetzt« (B/Z, S. 11) für »Sie klagen mich beständig« (T, S. 16); »Ging denn nicht alles glatt?« (B/Z, S. 21) statt »Ging denn nicht alles gut« (T, S. 29); »mein ruchloser Vetter« (B/Z, S. 30) statt »Onkel Jacks verdorbener Bruder« (T, S. 43); »doppeltes Spiel getrieben« (B/Z, S. 30) statt »doppeltes Leben geführt« (T, S. 43); »arge Enttäuschung« (B/Z, S. 30) statt »große Enttäuschung« (T, S. 43); »Ausstattung« (B/Z, S. 30) statt »Ausrüstung« (T, S. 44); das alliterierende »Tracht der Trauer« (B/Z, S. 33) für »Tracht des Leides« (T, S. 47); »in seiner Sterbestunde« (B/Z, S. 33) für »als er starb« (T, S. 47); der Anzug »sitzt ihm miserabel« (B/Z, S. 36) statt »nicht ordentlich« (T, S. 52); »einen Haftbefehl gegen Ihre Person zu erwirken« (B/Z, S. 38) statt »einen Verhaftungsbefehl gegen Dire Persern zu verlangen« (T, S. 54); »Einsperren ist für dich das beste Heilmittel« (B/Z, S. 39) statt »daß eine Einkerkerung Dir viel Gutes thun würde« (T, S. 56); »Vorortgefängnis« (B/Z, S. 39) statt »in einem Vorort eingesperrt werden« (T, S. 57) usw. Teschenberg, Ernst, S. 37. Teschenberg/Blei, Ernst, Π, S. 1; Blei/Zeiß, Ernst, S. 25.

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denzen werden von Zeiß konsequent weiterverfolgt. Blei/Zeiß steuern den Sprachrhythmus und -gestus der Schauspieler durch die Hinzufügung von Sperrdruck, Pausen- und Auslassungszeichen; Ausrufe, Ellipsen, Anakoluthe, Aposiopesen und Ins-Wort-Fallen verleihen den Dialogen eine wesendich stärkere situativ-deiktische Natürlichkeit als bei Teschenberg: JACK. DU solltest lieber bei Deiner Tante Augusta dinieren. ALGY. Ich habe nicht die geringste Absicht, etwas Ahnliches zu thun.32

JACK. Du solltest übrigens lieber bei deiner Tante Auguste... ALGY. Fällt mir nicht im Traum ein.33

JACK. Mein Liebling, Gwendolen!34

JACK. Ach! Du...!35

CECILY. Ich weiß nicht, ob diese Krankenkost Ihnen recht sein dürfte. ALGY. Oh! Ich will mich mit dem 74er Champagner begnügen.36

CECILY. Ich weiß nicht, ob diese Krankenkost Ihnea.. ALGY. Oh! Ich will mich mit dem 74er Champagner begnügen.37

JACK. Oh, es handelt sich nicht um irgend ein Kind, lieber Doktor. Ich habe Kinder sehr gem. Nein! Ich würde aber wirklich selbst gem getauft werden - heute Nachmittag, wenn Sie nichts Besseres zu thun haben!38

JACK. Es handelt sich nicht um irgendein Kind, lieber Pfarrer. Nein! Ich würde... ich möchte... selbst gem getauft werden. - Heute nachmittag, wenn Sie nichts Besseres zu tun haben.39

Miss PRISM. ES ist eine starke Frechheit. Genau das, was ich von ihm erwartete!40

PRISM. Diese Frechheit!41

Gelegentlich gehen Blei/Zeiß bei ihren Theatralisierungsbemühungen über die Ebene intralingualer Retuschen hinaus und ersetzen verbale durch paraverbale oder nonverbale Zeichen bzw. Haupttext durch Nebentext:

32 33 34 35 36 37 38 39 40 41

Teschenberg, Ernst, S. 16. Blei/Zeiß, Ernst, S. 11. Teschenberg, Ernst, S. 22. Blei/Zeiß, Ernst, S. 15. Teschenberg, Ernst, S. 45. Blei/Zeiß, Ernst, S. 31. Teschenberg, Ernst, S. 49. Blei/Zeiß, Ernst, S. 34. Teschenberg, Ernst, S. 56. Blei/Zeiß, Ernst, S. 39.

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ALGY. [...] Ich habe einen unschätzbaren beständig Kranken, Namens Bunbury, erfunden, damit ich aufs Land gehen kann, wann immer ich will. JACK. Welch Unsinn! ALGY. Das ist kein Unsinn. 42

ALGY. Ich habe einen unschätzbaren Kranken, namens Bunbury, erfunden, damit ich immer aufs Land gehen kann, wenn ich Lust habe. JACK (lacht).

ALGY. Ist nichts zu lachen!43

Generell haben Blei/Zeiß die Anzahl der Regieanweisungen gegenüber Teschenberg ein wenig vermehrt, wobei diese zusätzlichen Nebentexterweiterungen - wie bereits oben gezeigt - meist von Zeiß aus Alexanders Regieanweisungen in HTC übernommen wurden.44 Insgesamt erzielen Blei/Zeiß also mit wenig Aufwand einen maximalen Effekt Ihre Bühnenfassung polt Teschenbergs Text sozusagen nur um: Sie ersetzen die Ausgangstextorientierung der Teschenbergschen Sätze durch eine durchgehende Orientierung an der zielseitigen Gegenwartssprache und theatralen Bühnenrealisierung. Sie transformieren einen schwerfälligen Lesetext tendenziell in einen eleganten Bühnentext.

3 Reduzierung der exzentrischen Figurenkomik Um zu zeigen, wie sich Blei/Zeiß' Konzept gesprochensprachlicher Eleganz auf die sprachliche Charakterisierung der Hauptfiguren auswirkte, sollen hier - soweit möglich - dieselben kurzen Passagen Teschenbergs herangezogen werden, die bereits oben für den Vergleich zwischen Teschenberg und Vallentin benutzt wurden. Die Unterschiede werden wieder stichwortartig kommentiert: JACK. Auf mein Wort, wenn ich das glauben würde, so würde ich mich erschießen... (Eine Pause.) Du denkst nicht, daß eine Aussicht vorhanden wäre, Gwendolen könnte in beiläufig hundertundfünfeig Jahren wie ihre Mutter werden. Glaubst du das, Algy? 45

42 43 44

45 46

JACK (eine Pause). Glaubst du, Gwendoline könnte in beiläufig hundertfünfzig Jahren wie ihre Mutter werden? Glaubst du das, Algy?46

Teschenberg, Ernst, S. 15. Blei/Zeiß, Ernst, S. 11. So haben z. B. Alexanders Regieanweisungen in der Kniefallszene bei Blei/Zeiß deutliche Spuren hinterlassen: Vgl. Wilde, Importance, Lesart HTC zu 458-59, S. 25, und Blei/Zeiß, Ernst, S. 17. Teschenberg, Ernst, S. 31. Blei/Zeiß, Ernst, S. 21.

197

Kommentar: 1. Syntaktisch-semantische Raffung und Vereinfachung; 2. Beibehaltung des gehoben klingenden »beiläufig«; 3. bei Teschenberg stellt Jack zunächst eine rhetorische Frage — ohne Fragezeichen! - , in der er eine unterdrückte Befürchtung äußert, für deren Widerlegung er bei Algy Beistand erwartet; erst danach folgt die direkte Frage »Glaubst du das, Algy?«. Bei Blei/Zeiß steht dagegen sofort eine unumwundene Informationsfrage, die insistierend wiederholt wird. Jack drückt sich bei Blei/Zeiß also weniger zögerlich aus als bei Teschenberg, wenn auch bei weitem nicht so emotional-spontan wie bei Vallentin (»Du! Algy...«). Bei Blei/Zeiß formuliert Jack glatter, unbeteiligter, oberflächlicher, mit größerer Situationsdistanz.

Übrigens dinierte ich erstens am Montag dort und einmal die Woche bei Verwandten zu dinieren ist ganz genug.47

ALGY.

Erstens dinierte ich schon am Montag dort und einmal die Woche bei Verwandten zu dinieren genügt.48

Kommentar: 1. Glättung des Sprachflusses durch Beseitigung des störenden Nebeneinanders von »übrigens« und »erstens«; 2. Beseitigung des Anglizismus »ganz genug«; 3. Beibehaltung des förmlichen Präteritums (>Distanztempusgroßstädtische Norm< akzeptiert. Die Blei/Zeißsche Passage eliminiert jedenfalls an dieser Stelle weitgehend den von Cecily naiv geäußerten Stadt-Land-Gegensatz, weil »das lange Aufbleiben in London« nicht als generelle städtische Normunzuverlässig< sein. 4. Blei/Zeiß reduzieren damit insgesamt den überdimensionalen Autoritarismus Lady Bracknells und die eindeutigen Anspielungen auf ihren politischen Konservatismus. Sie wirkt hier wie eine ziemlich normale Gesellschaftsdame, keinesfalls als monumentale Symbolfigur eines reaktionären Gesellschaftssystems, das auch nicht die kleinste >Abweichung< zuläßL

53 54

Teschenberg, Ernst, S. 27. Blei/Zeiß, Ernst, S. 19.

200

Ähnlich verfahren Blei/Zeiß mit der Rolle von Miss Prism und Dr. Chasuble, der bei Blei/Zeiß zum schlichten »Pastor« ohne theologisch-gelehrte Ambitionen vereinfacht ist. Die Gespräche der beiden sind erheblich gekürzt, wobei die exzentrischen Malapropismen und freudianischen Fehlleistungen Miss Prisms weggelassen sind. So fehlt u. a. Miss Prisms malapropistìsches Wortspiel mit "misanthrope" und "womanthrope", ihre erotisch suggestiven Ausführungen über "intellectual sympathies" und "ripeness", ihre "horticultural" Metaphorik, ihre zweideutigen Anspielungen auf mangelnden "thrift" als Ursache des Kinderreichtums der Armen usw.55 Bei Pastor Chasuble fehlt zum Beispiel die absurde Erklärung, seine (freudianische) Metapher - "I would hang upon her lips" - sei "drawn from bees", wie er auch später nicht erwähnt, daß der Bischof "was much struck by some of the analogies I drew".56 In weitaus stärkerem Maße, als dies schon bei Grevés Normalisierungen der Fall war, werden bei Blei/Zeiß im Gespräch dieser beiden Figuren die komischen Interferenzen des Unterbewußtseins eliminiert oder abgeschwächt, so daß der Dialog der beiden Figuren wesentlich direkter ist. Während Vallentin seine Reduzierung der verbalen Komik von Miss Prism durch intersemiotische Substitutionen kompensierte, ist von derlei Transformationen - von Sprache in schauspielerische Aktion - in Blei/Zeiß' Nebentext nichts zu bemerken. Miss Prism und Dr. Chasuble werden also in der Tat eindimensionaler, flacher, psychologisch seichter, da ihr Unterbewußtsein - zumindest auf der verbalen Ebene - nicht mehr >mitspieltim Originalton< beibehalten - , dafür aber kürzen Blei/Zeiß Lady Bracknells Text unverhältnismäßig stark. Auf jeden Fall verschwinden bei ihr zum Teil die bombastisch-rhetorischen und autoritären Züge, wozu auch noch eine spürbare Entpolitisierung tritt, wodurch das historische Profil der Figur verwischt wird: Sie wirkt weniger als monumentale Symbolfigur der autoritären Gesellschaftsordnung des Viktorianismus denn als übertrieben traditions- und konventionsbewußte Gesellschaftsdame. Durch die weitgehende Eliminierung der kulturspezifischen Anspielungen im Text verliert sie den Charakter einer monströsen, aber historisch präzisen Karikatur des britischen Konservatismus viktorianischer Provenienz. Blei/Zeiß' >deutsche< Lady Bracknell erscheint damit - verglichen mit dem Wildeschen Original - in weitaus geringerem Maße als die reaktionäre Gegenfigur eines utopischen Dandysmus, vielmehr ist sie stärker in die homogen-elegante Welt der Dandies integriert als bei Wilde. Die Homogenität dieser Welt wird auch durch das einheitlich feudal-aristokratische Bühnenbild suggeriert, bei dem nicht nur - wie schon bei Wilde - Algernon »luxuriös und künstlerisch möbliert« in London wohnt, sondern eben auch Jack in einem veritablen »Gutsschloß« residiert, während er bei Wilde in einem weniger aristokratischen »Manor House« wohnt.57 Die ästhetizistische Akzentsetzung der Blei/Zeißschen Bearbeitung/Inszenierung wurde zweifellos durch Franz Bleis Einfluß initiiert; denn mit seinem Namen war - neben denen von Stefan George und Richard Schaukai - die deutsche Entdeckung und Vermittlung des literarischen Dandytums zu Beginn des Jahrhunderts verbunden. In einigen glänzenden Essays hatte Blei in den Jahren 1903, 1904 und 1905 den Dandysmus einer breiteren Öffentlichkeit bekanntgemacht.58 Blei zeigte in seinem Textplagiat von 1905 aber nur die Richtung einer ästhetisch anspruchsvolleren Komödienrezeption, die eigentliche Redigierung und Ausfeilung des Textes wurde Zeiß überlassen. So war Blei/

57

58

Vgl. die Angaben zum Bühnenbild in Blei/Zeiß, Ernst, S. 5, 25, und in Wilde, Importance, S. 41. Zu Bleis dandystischen Schriften ab 1903 vgl. Ihrig, Avantgarde, S. 35f„ 197, 224. Blei ist »neben George und Schaukai wohl der wichtigste deutschsprachige Vermittler des literarischen Dandysmus« (Ihrig, Avantgarde, S. 35).

202

Zeiß' deutsche Fassung zwar nur parasitär zu Teschenbergs hölzernem Text entstanden, stellte aber durch die oft elegante Versprachlichung den ersten Versuch dar, den Wildeschen Dandysmus im Deutschen einigermaßen adäquat wiederzugeben.

C. Inszenierungen auf der Basis des Blei/Zeißschen Textes von 1906 bis 1937 1

Dresden, Königliches Schauspielhaus, 26. April 1906: Inszeniert in »vornehmem Geschmack« (Edgar Pierson) 59 Regie: Jack: Algernon: Chasuble: Cribsby: Merriman: Lane:

Dr. Karl Zeiß Alexander Wieith Lothar Mehnert Karl Wiene Otto Eggerth Wilhelm Höhner Eugen Huff

Bracknell: Gwendolen: Cecily: Prism:

Pauline Ulrich Julia Serda Hedwig Gasny Maximiliane Bleibtreu

Die Bühnenfassung von Blei/Zeiß wurde unter dem Titel Ernst. Eine triviale Komödie für seriöse Leute am 26. April 1906 im Königlichen Schauspielhaus in Dresden erstaufgeführt, »inszeniert von dem Dramaturgen des Königl. Hoftheaters, Dr. Karl Zeiß«, der »mit dieser Novität als Regisseur, und man muß sagen mit großem Glück«, debütierte, schrieb Edgar Pierson in Bühne und Welt: Sein Bestieben ging vor allem darauf hin, die satirische Tendenz des Stückes herauszubringen. Die Satire auf gewisse gesellschaftliche Schichten in England, auf den Typus des geistreichen Dandys und den Snobismus. Nach dieser Auffassung konnte das Stück nur in einem echten Milieu gegeben werden. Für den ersten Akt wurde die Einrichtung nach Baillie Scott, dem modernen englischen Innenarchitekten, gemacht Der zweite Akt spielt auf dem Lande, in Hertfordshire, in einem absichtlich altmodischen Milieu. Er gibt das Bild eines englischen Gartens, mit Taxushecken, Rosen, Weinlaub am Haus usw. Der Schauplatz des Schlußaktes ist das Innere des Hauses. Hierfür ist die Einrichtung im Stil der Zeit zu Anfang des vorigen Jahrhunderts gewählt. Die gesamte Inszenierung zeugte von eingehenden Studien und vornehmem Geschmack. Sie versetzte den Zuschauer in die gewollte Stimmung, indem sie ein treues Bild englischer Eigenart gab. Auch über die Darstellung läßt sich nur gutes sagen. Fräulein Serda gab die Gwendolen mit reizendem Humor, Frau Gasny war eine entzückend frische

59

Besetzung nach dem Theaterzettel der Premiere (Archiv des Staatsschauspiels Dresden). 203

Cecily, Herr Wieith hatte den erforderlichen Humor für den in der Reisetasche gefundenen John recte Emst und Herr Mehnert traf den saricastischen Ton des Algernon im allgemeinen recht gut. Fräulein Ulrich gab die Lady Bracknell mit gewohnter Distinktion. Ein köstliches, älteres Paar, Pfarrer und Gouvernante, wurde durch Herrn Wiene und Frau Bleibtreu lebensvoll verkörpert. Das ausverkaufte Haus bereitete der Novität einen großen Erfolg. 60

Aus der Kritik geht hervor, daß die Dresdner Erstaufführung der Blei/Zeißschen Textfassung das in den Text eingeschriebene Inszenierungspotential, als dessen Hauptkennzeichen wir die sprachliche Eleganz erkannten, konsequent entfaltete. Dennoch ist erwähnenswert, daß die theatrale Konkretisation des Stückes auch Züge zeigte, auf die man durch die Analyse der schriftlichen Fassung des Stückes kaum vorbereitet ist. Insgesamt lassen sich die folgenden vier Charakteristika ausmachen:61 1. Aus der Besprechung geht hervor, daß in dieser Inszenierung, die angeblich die »satirische Tendenz des Stückes« herausbringen wollte, zum ersten Mal »der Typus des geistreichen Dandys« in den Mittelpunkt gerückt und in seinem »echten Milieu« gezeigt wurde, d. h. in jener ästhetisch gestalteten Kunst-Welt, die Wilde in der Bühnenbeschreibung des 1. Aktes andeutet: "The room is luxuriously and artistically furnished."62 Die dandystische Welt des ersten Aktes wurde dabei als moderne, gegenwärtige Welt inszeniert - das Bühnenbild war von einem »modernen englischen Innenarchitekten« entworfen. Die sprachliche Eleganz und Glätte des Textes wurde offensichtlich auch optisch und darstellerisch umgesetzt: »Die gesamte Inszenierung zeugte von [...] vornehmem Geschmack.« Aus der Besprechung wird nicht ersichtlich, inwiefern der »Snobismus« ironisiert wurde, wie der Kritiker anfangs andeutet. Zwischen Bühnen- und Zuschauerwelt schien vielmehr eine besondere Harmonie zu herrschen: Die Inszenierung »versetzte den Zuschauer in die gewollte Stimmung, indem sie ein treues Bild englischer Eigenart gab«. Das Stück wurde also keineswegs als Karikatur englischer Verschrobenheiten inszeniert, sondern geradezu als Modell zeitgemäßen mondänen Lebensstils.63

60 61

62 63

Edgar Pierson, Bühne und Welt 8, 1905/06, S. 702. Die Besprechung der Erstaufführung durch Adolf Stern ist zwar insgesamt sehr positiv, aber so oberflächlich, daß für die Inszenierungsanalyse nicht viel mehr herauszuholen ist als die Feststellung, daß die sprachliche und darstellerische Gestaltung brilliant und graziös gewesen sein muß (Gaehde [Hrsg.], 12 Jahre Dresdner Schauspielkritik von Adolf Stern, S. 447^49). Wilde, Importance, S. 5. Anläßlich der Reprise der Inszenierung knappe zwei Jahre später schrieb der Dresdner Anzeiger, Wildes Komödie werde »stilecht und mit prächtiger Wirkung gegeben [...]. Die ganze Aufführung ist auf einen einheitlichen, geschlossenen Grundton gestimmt.« Die Leistungen der Schauspieler seien »charakteristisch und voll Charme« (»hg.«, Dresdner Anzeiger, 26.5.1908).

204

2. Die in Blei/Zeiß' Bühnenanweisungen suggerierte Homogenität eines einheitlichen ästhetisch-aristokratischen Lebensstils - Jacks »Gutsschloß« qualifiziert ihn von vornherein für eine aristokratische Heirat - wurde in der Inszenierung auf interessante und optisch eindrucksvolle Weise differenziert. Der Gegensatz zwischen Algy und Jack wurde als diachroner Gegensatz zwischen avantgardistisch-modernem und altmodischem Lebensstil verbildlicht. Architektur und Inneneinrichtung schufen einen zeitlichen Rückstand von rund hundert Jahren zwischen mondänem Großstadtleben und provinzieller Ländlichkeit. Durch die Ausnutzung spezifisch theatraler Zeichenoppositionen (Kontrast der Bühnenbilder) wurde der Text um eine gewichtige Bedeutungsdimension erweitert. 3. Aus der Beurteilung der Schauspieler geht hervor, daß das dem Text eingeschriebene Figurenkonzept, vor allem was die Dämpfung der exzentrischen und grotesk-komischen Züge betrifft, auch darstellerisch realisiert wurde. Am bemerkenswertesten ist dabei, daß die Rolle der Lady Bracknell in Zeiß' Inszenierung so stark zurückgenommen wurde, daß sie den Erwartungen, die ein deutsches Publikum gegenüber einer konventionellen >Gesellschaftsdame< hatte, bis zur Unauffälligkeit entsprach: Sie wurde von der Darstellerin »mit gewohnter Distinktion« gespielt. Das komische Potential der Lady Brackneil blieb anscheinend hinter der Routine aristokratischer Noblesse versteckt. 4. Eher überraschend ist dagegen, daß das Paar Chasuble-Prism, in dessen Dialogen bei Blei/Zeiß die schönsten Pointen gestrichen worden waren, als »köstlich« und »lebensvoll« hervorgehoben wird. Dies mag einmal damit zusammenhängen, daß der Regisseur Karl Zeiß den Wegfall der verbalen durch aktionale Komik kompensierte, wie es wenige Monate zuvor Richard Vallentin in Wien bewerkstelligt hatte; die Knappheit der Besprechung erlaubt darüber nur Spekulationen. Bunbury wurde durch die erfolgreiche Erstaufführung von 1906 zum beliebtesten Stück Wildes im Dresdner Schauspielhaus. Die Inszenierung von 1906 wurde bereits zwei Jahre später mit fast identischer Besetzung wiederholt, und 1911, 1920 und 1929 kam es zu Neueinstudierungen. Am 18. Januar 1911 brachte Zeiß eine Neuinszenierung auf der Basis des Blei/Zeißschen Textes heraus, zum Teil mit der früheren Besetzung.64 Am 19. September 1920 wurde die Blei/Zeißsche Fassung in einer Neueinstudierung des Regisseurs Lothar

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Jack: Alexander Wierth, Algernon: Max Felden, Chasuble: Maxime René, Cribsby: Otto Eggerth, Merriman: Wilhelm Höhner, Lane: Eugen Huff; Bracknell: Pauline Ulrich, Gwendolen: Heimine Kömer, Cecily: Alice Verden, Prism: Ida Bardou-Miiller (Theaterzettel vom 28. März 1911 im Archiv des Schauspielhauses Dresden).

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Mehnert erneut im Dresdner Schauspielhaus aufgeführt 65 Von diesen beiden Inszenierungen sind (aufgrund der Bombenschäden) keine Theaterkritiken erhalten. Eine interessante Vergleichsmöglichkeit eröffnet sich durch die Tatsache, daß das Stück am 22. August 1929 schon zum vierten Mal am Schauspielhaus inszeniert wurde, diesmal aber - laut Programm vom 18.9.1929 - in der Übertragung Teschenbergs; da das Stück aber in drei Akten und stark gekürzt gespielt wurde, handelte es sich offensichtlich um Vallentins Fassung.66 In den Besprechungen dieser Inszenierung wird mehrmals von Teschenbergs schlechter Übersetzung gesprochen, obwohl Vallentin den Text gründlich durchkorrigiert hatte. Der Text wurde ohne Vallentins anglophone Verfremdung gespielt. Bühnenbild und Kostümierung aller Figuren - außer Miss Prism und Doktor Chasuble - waren modern. Lady Brancaster zeigte »vornehmes Spiel«, war also keineswegs die komische Hauptfigur, zu der sie Adele Sandrock inzwischen gemacht hatte. Die Kritik lobte vor allem Miss Prism und Doktor Chasuble, deren Karikierung zwar zu stark ist, die auch nicht in die stilvolle Umgebung passen (Wilhelm Busch könnte sie geschaffen haben), die aber dennoch die Lacher auf ihrer Seite haben. Stella David als Gouvernante Miß Prism: Eine Meisterleistung [...]. Herrliche Mischung aus Prüderie, Gier nach dem Manne, Beschränktheit, Sentimentalität und falschem Pathos. Aber nicht allein das Rhetorische, ganz besonders ist es diesmal das wunderbar durchdachte Spiel der Gesten bei ihr, das ebenso rührt, wie es auch zum Lachen reizt.67

Kritischer ist Friedrich Kummer, der zwar Stella David lobt, aber ansonsten Inszenierung und Schauspieler - mit nostalgischem Rückblick auf die Inszenierung von 1906 - tadelt. Der Regie wirft er vor, »daß sie den oberflächlichen Reiz hochmoderner Ausstattung und Gewänder über die innere Wahrheit« gestellt habe. Auch habe »die Schwerfälligkeit, die Überdeutlichkeit der geist-

65

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Jack: Alexander Wierth, Algernon: Paul Paulsen, Chasuble: Alfred Meyer, Cribsby: Tom Farecht, Merriman: Wilhelm Höhner, Lane: Eugen Huff; Bracknell: Ida BardouMiiller, Gwendolen: Alice Verden, Cecily: Olga Fuchs, Prism: Maximiliane Bleibtreu (Programm vom 22. September 1920 im Archiv des Schauspielhauses Dresden). Die Spieldauer betrug zwei Stunden; die Cribsby-Rolle war gestrichen, ein Diener hinzugefügt, genau wie in Vallentins Textfassung. - Regie: Josef Gielen; Bühnenbild: Adolf Mahnke, Einrichtung: Georg Brandt; Jack: Adolf Wohlbrück, Algernon: Paul Hoffmann, Chasuble: Rudolf Schröder, Lane: Tom Farecht, Merriman: Walter Liedtke; Brancaster: Clara Salbach, Gwendolen: Cara Gyl, Cecily: Irmgard Willers, Prism: Stella David (Programm vom 18. September 1929 im Archiv des Schauspielhauses Dresden). H.A. Wolf, Sonntagszeitung, 24.8.1929.

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reichen Bemerkungen, die Ausrufungszeichen und das langsame Tempo« nicht zur »spielenden Grazie Wildescher Filigrankunst« gepaßt. 68 Offensichtlich wurde 1929 im Dresdner Schauspielhaus Teschenberg/Vallentins Text, der weitgehend ins Alltags sprachliche normalisiert und ohne sprachlichen Glanz war, in eine hochelegante Inszenierung eingebettet, wie man es in Dresden von den früheren ÖMWÄM/^-Aufführungen her gewohnt war. Die im Programmheft von 1929 abgebildeten Szenenphotos aus dem ersten Akt bestätigen den Eindruck solider Eleganz. Teschenberg/Vallentins Fassung wurde demnach gespielt wie früher der Blei/Zeißsche Text. Zwischen der modernen Eleganz der Figuren und der relativen Anspruchslosigkeit des sprachlichen Stils, der laut Vallentins Regiebuch durch anglophones Sprechen hätte kompensiert werden müssen, entstand eine Diskrepanz, die der eine Kritiker der »Zweitklassigkeit« der Übersetzung anlastete (H. A. Wolf), der andere der »Schwerfälligkeit« des Spiels und der forcierten »Übertragung in die heutige Zeit« (F. Kummer). Lediglich in der Gestaltung der Miss Prism befolgte die Regie Vallentins Anweisungen - mit Erfolg. Ansonsten erwies sich der Text Vallentins als nicht tragfähig genug, die von der Regie ins Bild gesetzte moderne Eleganz verbal zu stützen: Erst wenn wir die verblaßten Lebensumrisse von einst durch die Szenen des Stücks hindurchschimmern sehen, fassen wir das Stück in seiner wahren Bedeutung, ahnen wir, wie kühn und elektrisch einst die Funken des Witzes und Spottes jede Szene umsprühten. Hin ist diese Welt, hin auch die Schärfe des Spottes. Etwas Leeres bleibt zurück.69 Mit anderen Worten: Gielens Inszenierung orientierte sich nicht am Inszenierungsangebot des Teschenberg/Vallentinschen Textes, sondern an der Inszenierungstradition des Dresdner Schauspielhauses. Um aber dem Spielpotential des Teschenberg/Vallentinschen Texten gerecht zu werden, bedurfte es entweder des Vallentinschen Regiekonzeptes - oder aber einer Lady Brancaster vom Format der Sandrock. So blieb in Gielens Inszenierung von 1929 überwiegend der Eindruck einer leeren, aufgesetzten Eleganz, über der man »fast völlig den Freiherrn v. Teschenberg« vergessen konnte, wie ein Kritiker hoffte. 7 0

68 69 70

Friedrich Kummer, Dresdner Anzeiger, 23.8.1929. Friedrich Kummer, Dresdner Anzeiger, 23.8.1929. H.A. Wolf, Sonntagszeitung, 24.8.1929. 207

2 Frankfurt, Neues Theater, 10. Dezember 1913: »Stil der Groteske« neben »herkömmlicher Lustspiel-Auffassung« (Rudolf Geck) 71 Regie: Jack: Algernon: Chasuble:

Arthur Hellmer Otto Wallburg Hanns Schindler Adolf Kuenzer

Bracknell: Gwendolen: Cecily: Prism:

Maria Emst Nelly Marco Erika Glaeßner Meta Biinger

Die Inszenierung des Frankfurter Neuen Theaters in der Anfangsphase des expressionistischen Jahrzehnts, das im allgemeinen für Wildes wortbezogene Komödien kaum Interesse zeigte, erlebte nur drei Aufführungen. 72 Rudolf Geck, der Kritiker der Frankfurter Zeitung, der offensichdich Hagemanns Wilde-Buch zu Rate zog, da er in seiner Theaterkritik dessen Urteil über Bunbury paraphrasiert,73 bezeichnet das Stück als »die frechste« unter den »dramatischen Clownerien, die Oskar Wilde für das Theater geschrieben hat«, da die englische Gesellschaft darin »schneidend ironisiert« werde: Der Dialog ist so gesättigt mit nonchalant hingeworfenen Paradoxen und Aufrichtigkeiten über die landesübliche Moral und Konvention, er bürstet so schonungslos die Schminke ab, unter der die Triebfedern spielen, daß der Hörer boshaften Vergnügens voll mit dabei ist.74 Wilde habe das Stück »an Bühnenerfordemissen unbekümmert« - vgl. Hagemann! - niedergeschrieben, und heute noch blühe ihm ein gewisser Erfolg: Kein stürmischer freilich, denn der kluge Frankfurter merkt gar wohl, wenn die Aphorismen herumfliegen, daß er einem Werk des reinen Intellekts gegenübersitzt, nimmt jedes Wort verständnisvoll auf und schätzt den scharfen Witz des Autors, möchte dann aber nicht genant und in ein Wunderland für Unmündige entführt werden. Immerhin: er bleibt, amüsiert und geärgert zugleich, aber schließlich doch mehr amüsiert.75 Erst in der zweiten Hälfte seiner Besprechung geht er - in deutlicher Antiklimax - auf Hellmers Inszenierung ein: »Die Aufführung [...] war recht nett und im äußeren geschmackvoll in den Rahmen der zierlichen Bühne eingespannt.«76 Aus diesen etwas herablassenden Formulierungen läßt sich schluß71 72 73

74 75 76

Besetzung nach Siedhoff, Das Neue Theater, S. 194. Siedhoff, Das Neue Theater, ebd. Dasselbe gilt auch für den Kritiker der Kleinen Presse, der in seiner Kritik aber oberflächlicher bleibt als Geck. Rudolf Geck, Frankfurter Zeitung, 11.12.1913. Rudolf Geck, Frankfurter Zeitung, 11.12.1913 (Original-Hervorhebung als Sperrung). Rudolf Geck, Frankfurter Zeitung, 11.12.1913.

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folgern, daß Hellmers Inszenierung von der glatten Eleganz der Blei/Zeißschen Fassung geprägt war. Der Kritiker beschreibt das Dilemma einer BunburyInszenierung vor dem Hintergrund der antinaturalistischen Tendenzen des Wedekindschen Theaters: Es lieBe sich zwar denken, daß ganz seriösen Leuten das Wildesche Marionettenstück im Stil der Groteske, als bewußte Verhöhnung der Wiiklichkeiten, als SpaB, übermütig, ja durchsichtig übersteigert hingelegt, besser behagen würde als in der heikömmlichen Lustspiel-Auffassung, aber es läßt sich auch mit gewissenhafter Arbeit auf den Boden der Wahrscheinlichkeit stellen und eine solche Aufführung haben wir hier.77

Die Blei/Zeißsche Textvorlage hatte die grotesk-komischen Züge der Figuren stark reduziert und entsprach somit von vornherein der »herkömmlichen Lustspiel-Auffassung«.78 Hellmer hatte mit seiner Entscheidung für den Blei/Zeißschen Text weitgehend auch dessen ästhetizistisch geglättetes Inszenierungsangebot übernommen, das die exzentrischen Züge der Figuren eher unterdrückte. Allerdings mit einer bedeutsamen Ausnahme: Die Darstellerin der Lady Brackneil fiel aus dem Rahmen der konventionellen Situationskomödie. Sie spielte die Rolle in einer übersteigerten Weise, die bereits auf das expressionistische Theater vorausdeutete. Sie vericörperte die Rolle tendenziell in eben der Art, wie sie dann erst sieben Jahre später von Adele Sandrock kreiert und popularisiert wurde: Am meisten schien Fri. Ernst Neigung zu haben, ihre Aufgabe, die der Vertreterin offiziell-gesellschaftlicher Gesinnung, ins Überlebensgroße zu übertragen und sie fand viel Anklang mit ihren dröhnenden Sentenzen. 79 Der allesbeherrschenden Tante, Lady Bracknell, lieh Fr. Maria Ernst gewaltige Strenge, großstädtische Eleganz und die Blasiertheit der Londoner Gesellschaft. 80

In dieser kurzlebigen Inszenierung Arthur Hellmers (1880-1961), unter dessen Leitung (1910-1935) das Frankfurter Neue Theater zu einem der regsten Avantgardetheater der Weimarer Republik wurde, wo u. a. mehrere Werke des

77 78

79 80

Rudolf Geck, Frankfurter Zeitung, 11.12.1913. Rudolf Geck, ebd. - Auch der zweite Kritiker der Aufführung kommentiert: »Guter alter deutscher Lustspielsül« (»W.U.«, Kleine Presse, 11.12.1913). Rudolf Geck, Frankfurter Zeitung, 11.12.1913 (Original-Hervorhebung als Sperrung). »W.U.«, Kleine Presse, 11.12.1913.

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Expressionisten Georg Kaiser uraufgeführt wurden,81 wurde somit zum ersten Mal das komische Potential der Bracknell-Rolle auf der Bühne angedeutet. Dies ist umso erstaunlicher, als in Blei/Zeiß' Bearbeitung durch zahlreiche Striche gerade die groteske Monumentalität der Lady Bracknell erheblich reduziert worden war. Allerdings war in Blei/Zeiß' Fassung durch die plagiierend enge Anlehnung des Textes an Teschenberg vor allem im 1. Akt zumindest die Möglichkeit gegeben, der majestätischen Rhetorik Lady Bracknells zu ihrem Recht zu verhelfen. Hellmers Frankfurter Inszenierung legte die sprachlichen Brüche in der Blei/Zeißschen Version bloß und beutete sie darstellerisch aus: Die Textvorlage erwies sich als heterogenes Nebeneinander von konversationeller Glätte und - durch Lady Bracknells von Teschenberg übernommenen Sprachstil - dröhnender Rhetorik. Daß für Blei/Zeiß dabei die dandystische Eleganz insgesamt den >Ton< des Stückes prägen sollte, war einmal daran zu erkennen, daß sie Lady Bracknells Textanteil am stärksten kürzten, zum andern auch an Zeiß' Erstaufführung und den späteren Dresdner Banbury-Inszenierungen, bei denen die Rolle der Bracknell immer unauffällig im eleganten Rahmen blieb. Hellmer dagegen - expressionistisch orientiert - ließ die zwei sprachlichen Schichten des Dramas - Teschenbergs pompöse Lady Bracknell, Blei/Zeiß' eleganten Dandysmus - unvermittelt nebeneinander herspielen, wobei das »Überlebensgroße« der Lady Brackneil frühexpressionistisch-modern wirkte, während die übrigen Figuren, um den Kritiker Rudolf Geck zu zitieren, in ihrer »Natürlichkeit«, »Munterkeit«, »feierlichen Komik« usw. durchaus dem traditionellen »Lustspielzuschnitt« entsprachen. Hellmers Inszenierung präsentierte eine interessante, frühexpressionistisch aufgerauhte Lesart des Blei/Zeißschen Textes, der - teilweise gegen den Strich inszeniert - zum ersten Mal das grotesk-komische Potential der Lady Bracknell ausspielte. Wenn auch Hellmers Inszenierung nur dreimal aufgeführt wurde und ohne breites Echo blieb, so zeigt sich hier doch in aller Deutlichkeit, daß die Wurzeln der Sandrockschen Brancaster-Darstellung im Wedekindschen und frühexpressionistischen Theater zu suchen sind, das im deutschen Publikum überhaupt erst die Rezeptionsbereitschaft etablierte, überdimensional-groteske Bühnenfiguren hinzunehmen. Während Blei/Zeiß' Text in Dresden in erster Linie den mondänen Dandysmus in Deutschland verbreiten half, deutete sich in der Frankfurter Inszenierung von 1913 an, daß das Stück auch von Lady Bracknell her - als universalisierter »Vertreterin offiziell-gesellschaftlicher Gesinnung« (Geck) - gespielt werden konnte. Dabei offenbarte sich allerdings, daß Blei/ Zeiß' oberflächlich glättende Textfassung kaum tragfähig genug war, um alle Figuren bzw. das ganze Stück avantgardistisch umzudeuten. So zerfiel das

81

Zum Ende des Neuen Theaters und Neubeginn als Kleines Theater im Jahr 1935 vgl. das 9. Kapitel.

210

Ensemble in eine avantgardistisch wirkende Rolle einerseits und mehrere eher blasse Lustspielfiguren andererseits, wobei letzten Endes der konventionelle »Lustspielzuschnitt« den enttäuschenden Gesamteindruck des Kritikers Rudolf Geck - »recht nett«, »geschmackvoll« - bestimmte.

3 München, Residenz-Theater, 30. April 1921: »ausschließlich ein Darstellungserfolg« (Georg Jacob Wolf) 82 Regie: Jack: Algernon: Chasuble: Cribsby: Lane: Merriman:

Otto Liebscher Gustav Waldau F.W. Schröder Emil Höfer Julius Stettner Hermann Pöschko Ludwig ten Kloot

Bracknell: Gwendolen: Cecily: Prism:

Herta Hagen Helene Ritscher Käthe Bierkowski Luise Hohorst

Im Januar 1918 war Greves Übersetzung in den Münchner Kammerspielen aufgeführt und von der Kritik ziemlich einhellig verrissen worden;83 im Dezember 1919 wurde Hagemanns Bearbeitung in Mannheim ohne sonderlichen Erfolg gespielt.84 Seit Anfang Juni 1920 erlebte das Stück jedoch in Berlin Triumphe mit Adele Sandrock in der Rolle der Lady Brancaster, ein Publikumserfolg, den man nun auch in Wien und München zu wiederholen versuchte. Ende September 1920 brachte das Schönbrunner Schloß-Theater, das als eine Art Kleines Haus des Wiener Burgtheaters diente, eine dreiaktige Fassung des Teschenbergschen Textes, die der Regisseur und Hauptdarsteller Hermann Romberg auf der Basis der Greveschen Buchausgabe (von 1908 oder 1918) hergestellt hatte, ins Spielprogramm. Seine Inszenierung der Teschenberg/ Greve/Rombergschen Text-Mixtur stand ganz im Zeichen komisierender Vergröberung - einschließlich eines komischen Boxkampfes zwischen den beiden Dandies am Ende des 2. Aktes, eine Idee, die dann auch von Hagemann übernommen wurde.85 82

83 84 85

Besetzung nach dem Theaterzettel der Premiere, Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München. Vgl. 1. Kapitel, S. 56 f. Vgl. 7. Kapitel, S. 271 ff. Siehe S. 253,261 (Anm. 45). - Zu Hermann Rombergs Inszenierung: Bühnenbild: K. A. Wilke; Dekorationen: G. Lehner; Jack: Romberg, Algernon: Pranger, Chasuble: Baumgartner, Lane: Müller, Merriman: Rub; Brancaster: Lewinsky, Gwendolen: Mayen, Cecily: Martens, Prism: Senders (Quelle: Theaterzettel der Premiere am 23. September 1920, Österreichische Nationalbibliothek, Wien; vgl. auch Burgtheater 1776-1976, 1. Bd., S. 468). - Das Regiebuch Rombergs von 1920, das auch bei der Β uni ¡^-Inszenierung des Burgtheaters 1938 eine gewisse Rolle spielte (vgl. das 8. Kapitel), ist erhalten (Burgtheater-Archiv). Der Textvergleich zeigt, daß Teschenbergs Text (2. Auf-

211

Eines der Hauptziele der Münchener Inszenierung scheint die dialogische Natürlichkeit gewesen zu sein, die Herstellung einer konversationeilen Gewandtheit, worin in der Tat das charakteristischste Spielangebot des Blei/Zeißschen Textes besteht. In den Kritiken dieser »sehr flotten Aufführung« 86 ist aber nirgends die Rede vom ästhetizistisch-dandystischen Lebensstil, auch werden die optischen Dimensionen des theatralischen Zeicheninventars - Kostüme, Bühnenbild usw. - praktisch nicht erwähnt Der Kritiker des Bayerischen Staatsanzeigers spielt nebenbei darauf an, Wildes Stücke seien »viel zu sehr auf das Wort eingestellt«. Daraus darf man wohl schließen, daß die sprachliche Eleganz und soziolingual >gehobene< Situierung des Blei/Zeißschen Textes nicht durch ein entsprechend stilisiertes Bühnenbild (»Gutsschloß«!) unterstützt wurde, wie dies in der Dresdner Erstaufführung der Fall war, so daß die gesellschaftliche Plazierung der Figuren und die satirischen Bezüge auf die gesellschaftliche Oberschicht Englands kaum - wörtlich - >in den Blick< kommen konnten. Bezeichnend für die Ausblendung der sozial-satirischen Bezüge - die in Blei/Zeiß' entpolitisiertem Text tendenziell vorbereitet ist - scheint Sinshei-

86

lage, 1907) mithilfe von Greves Übersetzung teils handschriftlich, teils maschinenschriftlich (auf eingeklebten Zetteln) verbessert und ersetzt wurde, aber ohne dabei stilistisch konsequent überarbeitet zu werden. Rombergs Text wirkt entsprechend uneinheiüich: teils gespreizt, teils alltagssprachlich (in Zukunft zitiert als: Romberg, Bunbury, Regiebuch 1920). - Der Regisseur setzte bei seiner Inszenierung auf derbe Effekte: Die Theaterkritiken stimmen darüber überein, daß »possenhaft, burlesk« gespielt wurde (»D. B.«, Arbeiter-Zeitung, 24.9.1920). Der Kritiker der Reichspost spricht von »billigen Verulkungen aller Autoritäten« (»B.«, Reichspost, 24.9.1920). Die Wiener Abendpost behauptet, das Stück sei »von Romberg auf das englisch Groteske mit Clown- und Boxergebärden, eben im Stil von Charleys Tante als Vorbild,« inszeniert wordea Das Geistvolle des Dialogs sei »von den Schauspielern nicht immer leicht und rasch genug selbstverständlich gemacht« worden: »Dazu blieb schon der Text, die Übersetzung zu sehr im Papier stecken« (»o. St.«, Abendpost, 24.9.1920). Schließlich gedachte ein Kritiker nostalgisch der Inszenierung Richard Vallentins von 1905 am Deutschen Volkstheater, der »den erforderlichen Darstellungsstil« gefunden habe, indem er »die grotesken Vorgänge hinter einer Puppenstarre verbarg und die Absichtlichkeit der satirischen Ausfälle im Dialog durch einen scheinbar gleichgültigen und einförmigen Konversationston abmilderte. Im Schloßtheater schlugen die Burgschauspieler das gegenteilige Verfahren ein und verdarben sich damit die feinsten ironischen Komödienwirkungen. Nur Frau Lewinsky und Frau Mayen machten eine löbliche Ausnahme, während alle übrigen Mitwirkenden die parodistischen und satirischen Absichten so dick unterstrichen, als könnte man dem heutigen Publikum nicht deutlich genug kommen« (»-tr-«, Neues Wiener Tagblatt, 24.9.1920). - Es fehlte der Spielvorlage wie der Aufführung die soziolinguale Homogenität und Eleganz: Was sowohl bei Teschenberg wie bei Greve fehlte, konnte erst recht nicht durch eine Vermischung der beiden Texte entstehen. Bayerischer Staatsanzeiger, 4.5.1921 (ohne Verfasserangabe).

212

mers zusammenfassende Bestimmung der Bracknell-Rolle als »eine Mama«87 zu sein.

4 Hamburg, Kammerspiele, 5. Oktober 1926: »tänzelnde Leichtigkeit« (Hamburger Echof,88 Regie: Jack: Algernon: Chasuble: Crisby: Lane: Merriman:

Gustaf Gründgens Viktor Kowaizik Gustaf Gründgens Hans Stiebner Friedrich Günther Max Zawislak Ernst Fritz Fiirbringer

Bracknell: Gwendolen: Cecily: Prism:

Anni Reiter Ruth Hellberg Herta Windschild Maria Loja

Auf dem Theaterzettel der Gründgensschen Inszenierung wird kein Übersetzer genannt; die idiosynkratischen Schreibungen in den Didaskalien (»Brakneil«, »Chrisby«) lassen vermuten, daß man sich auch im sonstigen Text nicht streng an den Wortlaut der Vorlage hielt. Daß Gründgens den Blei/Zeißschen Text als Spielvorlage benutzte, ist jedenfalls nur eine - wenn auch starke - Hypothese, die darauf beruht, daß die anderen Versionen aufgrund der Namengebung (Bracknell/Brancaster; Gwendoline/Gwendolen) und der Crisby-Szene ausscheiden. Die vier erhaltenen Kritiken sind relativ knapp, aber überaus positiv. Das Stück sei jetzt von allen Hamburger Bühnen gespielt worden, den »kongenialen Aufführungsstil [...] hat aber erst Gründgens [...] getroffen«.89 Das Besondere der Gründgensschen Inszenierung war »die tänzelnde Leichtigkeit«,90 »die leichte Keckheit des Komödientons«:91 »Die Regie Gründgens, auf spielerische, tänzerische Leichtigkeit gestellt, war vortrefflich und wurde dem Geiste Bunburys vollauf gerecht.«92 Alles ist auf einen spielerischen Ton abgestimmt, und die vielen leichten Einfälle des Regisseurs ergeben zusammen ein witzig geschlossenes Gesicht. [...] Die ganze Aufführung ist sehenswert, weil es in Hamburg nicht zu Alltäglichkeiten gehört, frische junge Menschen auf der Bühne zu erleben.93

87 88

89 90 91 92 93

Hermann Sinsheimer, Münchner Neueste Nachrichten, 2.5.1921. Besetzung nach dem Theaterzettel der Premiere am 5. Oktober 1926, Theatersammlung der Hamburger Universität. »O.R.«, H.N. am Mittag, 6.10.1926. Hamburger Echo, 6.10.1926 (ohne Verfasserangabe). »Sdt.«, 6.10.1926 (ohne Quellenangabe; Hamburger Theatersammlung). »E. A.G.«, Hamburger Fremdenblatt, 6.10.1926. »O.R.«, H.N. am Mittag, 6.10.1926.

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Im Vordergrund stand Algernons Leichtlebigkeit, von Gründgens selbst »amüsant und beschwingt«,94 »mit geistvoll virtuoser Nonchalance«95 gespielt. Ein Kritiker beschreibt den Gegensatz zwischen den beiden Dandy-Figuren folgendermaßen: Da ist der junge Mann, der grenzenlos ungebildet ist [= Algernon!], aber nett und hübsch aussieht, ein guter langer Junge, der wahrscheinlich recht geschickt Tennis und Golf spielt und überaus höflich ist, das ist der einfach Harmlose, dann kommt der kompliziert Harmlose, der Gent mit dem Spleen [...]. Diese einzelnen Figuren der society [...] verdecken gemeinsam die Abgriinde ihrer schwarzen Seelen mit überraschender Kunstfertigkeit, die uns unglückliche Stoffeln zu grenzenlosem Staunen erregten.96

Offensichtlich hatte Gründgens die ganze Inszenierung auf das SpielerischPhantasievolle abgestellt, ohne satirische Realitätsbezüge schaffen zu wollen. Weder unternahm Gründgens selbst den Versuch, besonders »englisch« zu wirken, was der Kritiker des Echo bedauerte, noch ließ er in der BracknellRolle spezifisch englische Zustände oder Figuren porträtieren oder karikieren. Lady Bracknell war in den Hintergrund gedrängt worden: Das Fremdenblatt, von dem die längste Kritik stammt, und H.N. am Mittag erwähnen die Rolle mit keinem Wort, die übrigen Kritiker erwähnen nur, daß Anni Reiter »ganz Lady« bzw. »eine echte Lady Brackneil« gewesen sei. Da Lady Bracknell nicht satirisch überzeichnet, sondern in die spielerische Phantasiewelt integriert war, fehlte dem libidinösen Spiel der jugendlichen Dandies der massive Gegenpol. Es ist erstaunlich (und spricht für Gründgens' Fähigkeit der ästhetischen Verzauberung), daß kein Kritiker die Reduzierung der Bracknell-Rolle bedauerte oder die Harmlosigkeit des Stückes monierte. Als Gegenfiguren zum eleganten und charmanten Spiel der Jugend fungierten »prachtvoll als komische Typen«97 die Darsteller des Chasuble und der Miss Prism, vor allem durch die para- und nonverbale Theatralisierung: Maria Loja wirkte - durch Aufmachung und »grotesk-komischen Tonfall«98 - als »vorsintflutliche Gouvernante«;99 Hans Stiebner war »einer jener äußerst gefährlichen Kanonici, die, wenn sie von Urkirche und ähnlichen frommen Dingen reden, immer etwas ganz anderes meinen«.100 Insgesamt war Gründgens' Inszenierung von dem Streben nach der ästhetischen Eleganz einer selbstreferentiellen Bühnenwelt geprägt - und war insofern durch Blei/Zeiß' spezifisches

94 95 96 97 98 99 100

»E. A.G.«, Hamburger Fremdenblatt, 6.10.1926. »O.R.«, H.N. am Mittag, 6.10.1926. Hamburger Echo, 6.10.1926 (ohne Verfasserangabe). »E. A. G.«, Hamburger Fremdenblatt, 6.10.1926. »O.R.«, H.N. am Mittag, 6.10.1926. »Sdt.«, 6.10.1926 (ohne Quellenangabe; Hamburger Theatersammlung). Hamburger Echo, 6.10.1926 (ohne Verfasserangabe).

214

Inszenierungsangebot beeinflußt. Von Gründgens' Inszenierung an den Kammerspielen führte ein direkter Weg zu Paul Bildts stilistisch ähnlicher Inszenierung desselben Textes am Berliner Staatstheater zur Zeit von Gründgens' Intendanz (1937), worüber weiter unten berichtet wird.

5 N ü r n b e r g , Altes Stadttheater, 13. April 1927:

»das Durcheinander der englischen Gesellschaftssitten« (Fränkischer Kurier

Nürnberg)101

Regie: Jack: Algernon: Chasuble: Crisby: Lane:

Hans Hübner Albert Lippert Wolfgang Grube Rudolf Keller Gerhard Mittelhaus Erich Munkert

Bracknell: Gwendolen: Cecily: Prism:

Hilma Schlüter Käthe Rädel Oily Heidenreich Klara Keller

Die Nürnberger Inszenierung Hans Hübners unterschied sich konzeptionell nicht grundlegend von der oben besprochenen Münchener Auffuhrung (welche ihrerseits in der Betonung des Burlesken selbst wieder an Rombergs Burgtheater-Inszenierung von 1920 anzuknüpfen scheint): Die schauspielerische Individualkomik stand im Vordergrund, die Satire - und damit auch Lady Brackneils Funktion - trat eher in den Hintergrund. Was die Rezeption des Stückes in Nürnberg erwähnenswert erscheinen läßt, ist eher die reaktionäre Rückständigkeit der provinziellen Theaterkritik, die sich in der ZJ¿¿n¿>MO>-Besprechung im Fränkischen Kurier Nürnberg symptomatisch offenbart. So stellt der Kritiker einen Vergleich zwischen Wilde und Shaw an, der ganz nebenbei zu einer Art Konkurrenzkampf zwischen dem »geistreichen Iren« (= Shaw) und dem »dekadenten Engländer« (= Wilde!) gerät: Wer weiß, ob Oskar Wilde, wenn ihn nicht die Zuchthausmauem von Rading [s/c/] abgestumpft hätten, nachdem er die Schranken jeglicher Moral durchstoßen hatte, nicht seinen Nachfolger Shaw in den Schatten gestellt hätte. Bunbury, seine dreiaktige Komödie für seriöse Leute, die der sprachenbegabte Dichter Franz Blei in ein gewandtes, flüssiges Deutsch übertragen hat, ist hiefür ein interessantes Veigleichsstück. [...] Man sagt sich unwillkürlich, dies hätte Shaw besser gemacht, hier scheint der geistreiche Ire dem dekadenten Engländer überlegen. Oskar Wilde hat auch die Nebenrollen des englischen Geistlichen und der Erzieherin zu gleichmäßig aufgezogen. Auch hier hätte der Ire wieder allertiand Purzelbäume geschlagen.102

101 102

Die Besetzung wurde aus den Theaterkriüken erschlossen. Oskar Franz Schardt, Fränkischer Kurier Nürnberg, 14.4.1927. 215

Der Kritiker sieht das Stück als »Satire auf das Durcheinander der englischen Gesellschaftssitten«, auf die »Unmöglichkeiten der Gesellschaftsprobleme Europas«, »als eine Art Menetekel inmitten gesellschaftlicher Verlogenheit« - so, als diene das Stück dazu, die Dekadenz Englands bzw. des Auslands bloßzustellen; als hätte Wilde nicht den historischen Viktorianismus satirisiert, sondern eine geschichtsenthobene englische oder europäische >Wesenheiternsteren< Gesellschaftsstücke Wildes. Die Hauptzüge des Lerbsschen Wilde-Bildes, die den unmittelbaren historischen Kontext der Berliner Bunbury-lnszeniemng von 1937 bildeten, sollen im folgenden skizziert werden. Der sprachgewandte und vielsprachige Karl Lerbs (1893-1946) lieferte seit 1929 dem Bremer Theater mehrere Übersetzungen moderner englischer und französischer Komödien.127 Nach 1930 schwenkte er jedoch auf eine entschieden heroische Linie um, die ganz im Aufwind des erstarkenden National-

125 126

127

Zitiert nach Sarkowski, »J.C.C. Bruns«, S. 131. Lady Windermeres Fächer. Eine Komödie, die von einer guten Frau handelt. Von Oscar Wilde. Deutsch von Karl Lerbs, Berlin 1934 (Bühnenmanuskript) (in Zukunft zitiert als: Lerbs, Fächer). - Eine Frau ohne Bedeutung. Schauspiel aus der Gesellschaft von Oscar Wilde, neu bearbeitet von Karl Lerbs, Bad Kissingen 1934 (Bühnenmanuskript) (in Zukunft zitiert als: Lerbs, Frau). - Ein idealer Gatte. Schauspiel aus der Gesellschaft von Oscar Wilde, neu bearbeitet von Karl Lerbs, Berlin 1935 (Bühnenmanuskript) (in Zukunft zitiert als: Lerbs, Gatte). Vgl. dazu die - gegenüber Lerbs' nationalsozialistischer Vergangenheit blinde bis euphemistische - Literatur: Bemer/Peters/Fitger, 33 Jahre Bremer Schauspielhaus im Spiegel der Zeitkritik; Wien, »Karl Lerbs«; ders., »Lerbs«.

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Sozialismus lag. 1931/32 wurde in Bremen sein nationalistisches Kriegsstück Deutschland. Die Fahrt des U-Bootes 116 (nach C.S. Forester) uraufgeführt. Das auch anderswo nachgespielte Soldatenstück Uber den ersten Weltkrieg, das von Heroentum und Pflichterfüllung handelt, wurde im Dritten Reich sogar verfilmt. 1932/33 übersetzte er für das Bremer Theater das Heroenstück »Atlantikflug« von Nordahl Grieg. So war er im Stil der »heroischen Sachlichkeit« ausreichend ausgewiesen, um in den 1933 gegründeten »Dichterkreis« berufen zu weiden, der »alle Dramatiker nationalsozialistischen Geistes umfassen« sollte.128 »Völkische Gemeinschaft« und »heroische Haltung« waren die Schlüsselbegriffe der ab 1933 herrschenden nationalsozialistischen »Theaterideologie«,129 obwohl Goebbels ausdrücklich - und zwar aus Propagandagründen - der nicht ideologisierten »leichten Kost« in Film und Theater ihre Existenzberechtigung zubilligte.130 Außerdem bildete das dem Preußischen Ministerpräsidenten Göring unterstehende Berliner Staatstheater unter dem Intendanten Gustaf Gründgens eine Art »preußische Insel«, die sich im großen ganzen vor Goebbels' Beeinflussungsversuchen abzuschirmen wußte.131 1933 wurde Lerbs Dramaturg am Bremer Schauspielhaus. Seine Übersetzungen und Bearbeitungen der drei ersten, relativ ernsten Wildeschen Gesellschaftskomödien, die jeweils in Bremen und in Frankfurt erstaufgeführt wurden, standen von Anfang an unter dem Signum des vom NS-Theater geforderten völkischen Heroismus. Die nationalsozialistische Funktionalisierung Wildes durch Lerbs soll zunächst durch ausführliche Zitate aus den zwei Wilde-Essays Lerbs', die in den Theaterprogrammen abgedruckt wurden, belegt und kommentiert werden. Die beiden Kurzessays Lerbs' weisen schon im Titel auf die besondere Zeitnähe Wildes - bzw. der Lerbs-Bearbeitungen Wildes - hin. So schreibt er im Programmheft des Staatstheaters Berlin anläßlich der Aufführung des Idealen Gatten im Olympiajahr 1935/36 folgendes:

128

129 130 131

Wardetzky, Theaterpolitik im faschistischen Deutschland, S. 90. Die »heroische Sachlichkeit« wird in einer Rede des Propagandaministers Goebbels vor den Theaterleitern am 8. Mai 1933 folgendermaßen beschrieben: »[...] eine Sachlichkeit, die den Problemen grausam ins Auge schaut, die sich nicht mehr bekreuzt vor der Notwendigkeit des Krieges, des Kampfes, die sich nicht mit dem falschen Pathos umgibt, die nicht rührselig verherrlicht, um dahinter eigene Furcht zu verstecken, sondern die vor dem Kriege steht mit derselben inneren Erschütterung wie vor der Geburt. [...] Die deutsche Kunst des nächsten Jahrzehnts wird heroisch, sie wird stählern-romantisch, sie wird sentimentalitätslos-sachlich, sie wird national mit großem Pathos und sie wird gemeinsam verpflichtend und bindend sein [...]« (ziüert nach Wardetzky, S. 24). Dussel, Ein neues, ein heroisches Theater?, S. 106 ff. Vgl. Dussel, S. 138-140. Miihr, Mephisto ohne Maske, S. 58; Riess, Gustaf Gründgens (besonders »Dritter Teil: Die Insel«); Rühle, Zeit und Theater, Band 3, S. 7-75.

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Warum spielen wir heute Oscar Wilde? Weil das Bild dieses Dichters durch eine Überlieferung von fast vier Jahrzehnten für uns Heutige in ein völlig falsches Licht gerückt ist. Das hat mancherlei Ursachen. Allzulange sah man in ihm den Snob, den dekadenten Aestheten, den Mann, der spielerisch und genießerisch die Form nur um der Form willen pflegte. Man vergaß darüber den Kämpfer - den Dichter, der die Niedergangsmerkmale eines versinkenden Gesellschaftsalters mit grausamer Deutlichkeit erkannte und mit leidenschaftlicher Unerbittlichkeit bekämpfte. Mag er dabei oft genug glitzernde Spiegelfechtereien getrieben oder den entrüsteten Zeitgenossen bewußt mit überlegenen Paradoxen geärgert haben; mag er sich oft in eitler Pose gefallen oder sich in üppige Formschwelgereien verloren haben - es gibt Werke von ihm, denen bleibende gesellschaftskritische Bedeutung zukommt. In ihnen sind die Fehler und Schwächen einer unterhöhlten Gesellschaftsschicht mit erbarmungsloser Gründlichkeit und Folgerichtigkeit erkannt und getroffen. In ihnen werden die Spötter, die Zyniker, die hemmungslosen Ichmenschen vernichtend geschlagen. In ihnen ringen einfache, gerade, klardenkende Menschen sich zur Überlegenheit und zur selbständigen Lebensgestaltung durch. In ihnen sind die verführerischen Wiikungsmittel Wilde'sehen Geistes ganz in den Dienst dieses ernsten menschengestaltenden Wollens gestellt. In ihnen ist die kommende große Auseinandersetzung der Verantwortungslosen mit den Verantwortungsbewußten vorgeahnt und zugunsten zukunftstragender Verantwortung entschieden. Wir spielen Oscar Wilde, weil diese Auseinandersetzung in die Geistesgeschichte gehört, und weil sie in vollendeter Form geführt wird. Diese Forai ist in ihrer völligen Geschlossenheit, in ihrer überzeugenden Sprache, in ihrer schlanken, bis ins Letzte ausgewogenen Technik endgültig und recht eigentlich schon klassisch. Vom Einfallsreichtum, von der Fülle und Sicheiheit der Charakterisierung, von der meisterlichen Dialogführung Wildes zehrten und zehren Generationen von Nachahmern. Wir wollen über die Nachahmer hinaus zur Quelle zurück. Wir wissen aus täglicher Erfahrung, daß eine Zeit, die um ein neues Weltbild und seine Gestaltung ringt, in ihren Ausdrucksfoimen noch unsicher ist und der Schulung bedarf. Nicht der Nachahmung wollen wir das Wort reden - wohl aber der Erkenntnis des klassischen Beispiels und seiner Nutzung, seiner übertragenden Weiterführung in volkhaft eigengewachsener Atmosphäre. Deshalb spielen wir heute Oscar Wilde. Wir spielen ihn als einen Klassiker des Gesellschaftsstücks: einen Klassiker, der an entscheidender Wende zum Heute stand.132 Im Programmheft der in derselben Spielzeit im Berliner Renaissance-Theater gespielten Frau ohne Bedeutung stellte Lerbs ebenfalls die Aktualität Wildes in den Vordergrund:

132

Programmheft des Staatstheaters Berlin vom Dezember 1935 zu Ein idealer Gatte (Theatermuseum Köln). 225

Der zeitnahe Wilde Die dramatischen Werke Oscar Wildes sind niemals ganz von den Spielplänen der deutschen Bühnen verschwunden, auch im ersten Jahre nach der großen Wandlung nicht. Die große, weite und tiefe Wirkung aber, die ihnen der zweite und der dritte Spielwinter im neuen Deutschland brachten, hat zu mancherlei Erörterungen geführt. Es ist mir lieb, daß ich, als dramaturgischer Mittler dieser Wirkung, dazu einige grundsätzliche Worte sagen darf. Man bewundert Wildes glänzende, an den klassischen französischen Meistern der Szene und Kulisse geschulte Technik, das virtuos gebaute, mit knisternder Spannung geladene Gefüge seiner Stücke. Man würdigt die lebendige Sicherheit seiner Zustandsschilderung und die blitzende Geistigkeit seines Dialogs - wobei sich dann der hübsche und immer wieder einmal passende Vergleich mit einem Feuerwerk (von Aphorismen) ganz von selber einzustellen pflegt. [...] Es muß aber einmal gesagt werden, daß über diesen literarischen und zeitkritischen Erwägungen eine gute und notwendige Erkenntnis zu kurz zu kommen droht: die nämlich, daß alle diese glänzenden Eigenschaften nur die Hülle für einen menschlichen Wert von gewaltiger Bedeutung sind. Nicht die gestalterische Lebendigkeit des »Milieus«, nicht die echt angelsächsische Rücksichtslosigkeit der Gesellschaftskritik entscheidet - auch nicht die Tatsache, daß die Niedergangsmerkmale einer erschütterten Welt- und Gesellschaftsordnung hier mit wesenhafter Anschaulichkeit deutlich gemacht wird. Es entscheidet die Erkenntnis, der das geschärfte Urteil und der gesteigerte Wertanspruch heutigen Kulturlebens erhöhte Bedeutung verleiht: In Wildes Bühnenstücken siegt das lebendige Gefühl über den unfruchtbaren Verstand, die Wärme des Herzens über die gleißende Kälte des Geistes, die Sittlichkeit über die Moral, das Schöpferische über das Spielerische, das Unverbildete über das Künstliche.133 Diese Essays sollten wohl das populäre - teils von Hagemann, teils von Aronstein und Arnold Zweig geprägte - Wilde-Bild nationalsozialistisch >vertiefen< bzw. umwerten und die Rezeptionshaltung des Theaterpublikums steuern. Das hier von Lerbs projizierte Wilde-Bild, das tatsächlich auch den Tenor seiner Übersetzungen und Bearbeitungen bestimmt, kann folgendermaßen charakterisiert werden: a. Während Wilde in seinen Stücken und Essays - vor allem in Die Seele des Menschen im Sozialismus - den öffentlichen Puritanismus und die kollektiven Klischees des Viktorianismus unterminiert und für einen utopischen, anarchistischen Individualismus plädiert, behauptet Lerbs, Wildes Sozialkritik richte sich gegen »die Spötter, die Zyniker, die hemmungslosen Ichmenschen«. Während Wilde die Individualitätsfeindlichkeit der viktorianischen Kollektivmoral an-

133

Programmheft des Renaissance-Theaters vom Juli 1936 zu Eine Frau ohne Bedeutung (Theatermuseum Köln); wiederabgedruckt im Programmheft des Kleinen Theaters unter den Linden, das im Dezember 1937 mit Lady Windermeres Fächer eröffnet wurde (Theatermuseum Köln).

226

prangert, wird er bei Lerbs zum Feind des (»hemmungslosen«) stilisiert.

Individualismus

b. Lerbs spielt die ästhetischen Züge Wildes herunter, um den heroischen Kämpfer Wilde zu betonen, »den Dichter, der die Niedergangsmerkmale eines versinkenden Gesellschaftsalters mit grausamer Deutlichkeit erkannte und mit leidenschaftlicher Unerbittlichkeit bekämpfte«. In dieser Interpretation werden die Gesellschaftsstücke zu Musterbeispielen heroischer Emanzipation inmitten einer dekadenten Umwelt. In Wildes Stücken »ringen einfache, gerade, klardenkende Menschen sich zur Überlegenheit und zur selbständigen Lebensgestaltung durch«. Die Betonung des Heroischen impliziert, daß die Wildeschen Dandies bei Lerbs entweder abgewertet oder heroisiert werden. c. Wilde wird implizit zum Vorkämpfer des Nationalsozialismus erklärt, da in seinen Stücken »die kommende große Auseinandersetzung der Verantwortungslosen mit den Verantwortungsbewußten vorgeahnt und zugunsten zukunftstragender Verantwortung entschieden« worden sei. Diese prätendierte Vorläuferschaft ist der tiefere Grund für Wildes mehrmals apostrophierte Zeitnähe »für uns Heutige«. Wilde wird als klassisches Beispiel vorgestellt, dessen »Weiterführung in volkhaft eigengewachsener Atmosphäre« empfohlen wird. Die Aufzählung der ideologisch besetzten Dichotomien - Verstand/Gefühl, Geist/Herz, Moral/Sitdichkeit usw. - in der Schlußpassage des zweiten Essays piaziert Wilde suggestiv in den - typisch dualistischen - begrifflichen Rahmen des völkischen Weltbilds. 134 d. Lerbs autorisiert und immunisiert seine Interpretation - und dadurch auch seinen Text - durch den Anspruch, sie sei besonders authentisch: Sein WildeBild gehe hinter die »Überlieferung von fast vier Jahrzehnten«, die das Bild des Dichters »in ein völlig falsches Licht gerückt« habe, zurück - »zur Quelle«. Die Aufdeckung des echten, zeitgemäßen W i d e sei erst durch »das geschärfte Urteil« und den »gesteigertefn] Wertanspruch heutigen Kulturlebens« ermöglicht worden. Implizit ist darin die doppelte Behauptung mitgesetzt, Lerbs' Texte entsprächen in besonderer Weise Wildes wahren Intentionen, und Wildes wahre Intentionen entsprächen in besonderer Weise den Wertansprüchen des NS-Kulturlebens. Im Einklang mit diesen programmatischen Äußerungen färbt Lerbs in seinen sprachlich und dramaturgisch gewandten Übersetzungen und Bearbeitungen die frühen Gesellschaftskomödien Wildes teils latent, teils offen propagandistisch ein: Politikfeindliche oder anarchistische Aphorismen und Handlungselemente werden eliminiert, NS-konforme Schlagwörter und Anspielungen hinzugefügt.

134

Zur dualistischen Struktur des rechts- oder linksradikalen Diskurses vgl. Zima, Ideologie und Theorie, S. 265. 227

Die Wildeschen Figuren weiden entsprechend den Rollenmustern des Nationalsozialismus holzschnittartig vereinfacht, wobei die Heroisierung der eher positiven Männer- und Frauenrollen und die Ironisierung oder gar Diabolisierung der eher negativen Figuren die auffälligsten Einzelzüge darstellen. In Lady Windermeres Fächer ist Mrs. Erlynne ganz auf die pathetische Opferrolle der Mutter festgelegt, während ihre emanzipatorisch-dandystischen Züge von Lerbs abgeschwächt werden; ebenso fehlt Lord Darlington das Dandystisch-Spielerische; er distanziert sich vielmehr deutlich von dem Dandy Cecil Graham, den er - mit der bei Lerbs häufigen Aggressivität der sozialen Interaktion - mit »Sie hoffnungslos blasierter Knabe« 135 anredet. In Lerbs' Bearbeitung von Eine Frau ohne Bedeutung ist der Dandy Lord Illingworth zu einem Intellektuellen mit >ungesunden< Ansichten abgewertet, Hester dagegen zu einer sportlichen und modernen Frau gemacht, so daß der Gegensatz der beiden aktuelle nationalsozialistisch-ideologische Konnotationen transportieren konnte. Man vergleiche etwa den melodramatischen Höhepunkt des Stückes bei Wilde und Lerbs. Lord Illingworth versucht aufgrund einer Wette mit Mrs. Allonby, die junge Hester draußen auf der Terrasse zu küssen: (Outside). Let me go! Let me go! (Enter HESTER in terror, and rushes over to GERALD and flings herself in his arms) HESTER. Oh! save me—save me from him! GERALD. From whom? HESTER. He has insulted me! Horribly insulted me! Save me! GERALD. Who? Who has dared—? (LORD ILUNGWORTH enters at back of stage. HESTER breaks from GERALD'S arms and points to him) GERALD (He is quite beside himself with rage and indignation). Lord Illingworth, you have insulted the purest thing on God's eaith [...].136 HESTER

Lerbs hat diese Szene gründlich umgeschrieben, wobei er Lord Illingworth - im Nebentext - zynischer und schmieriger, Hester aber zur heroisch-selbstbewußten Vertreterin einer >sauberen< Weltanschauung macht. (draussen). Lassen Sie mich. Lassen Sie mich augenblicklich los. (sie kommt erregt herein) GERALD (tritt vor). Was ist geschehen? HESTER. Lassen Sie nur, Gerald. Ich kann mich allein schützen, wenn man mich beleidigt. GERALD. Wer hat es gewagt - ? (Illingworth kommt langsam von der Tferrasse herein und bleibt an der Tür stehen, mit gekreuzten Armen, an die Wand gelehnt und Gerald gelassen und aufmerksam betrachtend) HESTER

135 136

Lerbs, Fächer, S. 74. Wilde, Woman, S. 95.

228

Er. Ihr Held und Abgott, Ihr Vorbild und Meister. Ich schien ihm wohl ein geeignetes Objekt, um seine Ansichten über die Würde der Frau in die Tat umzusetzen. (Plötzlich heftig) Befreien Sie mich doch endlich von diesem Menschen. Sehen Sie denn nicht, wie er mich immer noch ansieht?137

HESTER.

Bei Wilde flieht Hester in geradezu neurotischer Panik vor dem Verfuhrer; bei Lerbs distanziert sie sich in furchtloser Verachtung von der sexuellen Lüsternheit eines Dekadenten. Illingworth ist bei Lerbs - bzw. für Hester - kein Individuum, sondern ein Typ: der Praktiker einer entarteten Weltanschauung, ein disziplinloser Intellektueller, von dessen Triebhaftigkeit und krankhaften »Ansichten über die Würde der Frau« die sportlich-gesunde Jugend der Gegenwart zu »befreien« ist. Hester besitzt bei Lerbs die sexuelle >Sauberkeit< und Unerbittlichkeit einer ideologischen Marionette.138 Lerbs' Bearbeitungen nehmen den Wildeschen Figuren die individuellen und ambivalenten Züge und reduzieren sie auf die positiven und negativen Rollenbilder des Nationalsozialismus. Am deutlichsten ist dies in Ein idealer Gatte der Fall, dem von Lerbs am stärksten propagandistisch bearbeiteten Stück: Der zwielichtige Politiker Sir Robert Chiltem wird zur vom Schicksal auserwählten Führerfigur, Lord Goring, welcher schon im Nebentext als »makelloser Dandy bester Zucht« vorgestellt wird,139 wird zu seinem Bewunderer und Herold stilisiert.140 Zusammenfassend kann man sagen, daß Oscar Wilde in Karl Lerbs' Bearbeitungen zum teils latenten, teils offenen Propagandisten des nationalsozialistischen Menschenbilds und Gesellschaftsmodells geworden ist. Er verkündet nicht mehr die antiautoritäre Utopie der individuellen Autonomie, sondern die affirmative Botschaft der kollektiven Pflicht zur heroischen Unterordnung unter die Ziele der männlichen Führerpersönlichkeit. Aus Wildes Individualismus und Anarchismus ist im Idealen Gatten der heroische Einsatz des einzelnen im Dienst einer Wir-Gruppe geworden. 137

Lerbs, Frau, S. 107. Zur sentimentalisierenden Zurücknahme dieser Szene in Weißbachs Hamburger Bearbeitung des Stücks im Jahre 1939 vgl. die Kurzdarstellung im 9. Kapitel, S. 356 f., Anm. 12. 139 Lerbs, Gatte, S. 19. 140 y g i Kohlmayer, »Dandy«, S. 291 ff. Interessanterweise gibt es von Wildes An Ideal Husband auch eine Version im Sinne des sozialistischen Realismusernsten< Gesellschaftsdramen, zum andern - ab 1937 - marginalisiert als irrelevante Unterhaltungsstücke aus einer vom Nationalsozialismus überwundenen Epoche. Beide Interpretationen stimmen in der Verdrängung des utopisch-anarchistischen Individualismus Wildes überein. Im Schatten dieser dominanten Wilde-Bilder gibt es jedoch auch im Dritten Reich Spuren eines Wilde-Bildes, das keineswegs so leicht mit der herrschenden Ideologie zu vereinbaren war. Ernst Sanders aktualisierende BunburyBearbeitung, die im 8. Kapitel besprochen wird, ist wohl das deutlichste Zeugnis für den von Wildes Texten, die in der NS-Zeit keineswegs zensiert wurden, ausgehenden Impuls zu einem ideologie- und moralfeindlichen Individualismus und Ästhetizismus. Wildes radikaler (und im Laufe des 20. Jahrhunderts oft wiedeiholter) Kunstbegriff - "Art is Individualism, and Individualism is a disturbing and disintegrating force" 146 - konnte von jedem deutschen Leser der Wildeschen Essays aufgenommen und zeitgemäß >angewandt< werden. Es besteht wohl kein Zweifel, daß die Lektüre der Wildeschen Essays im Dritten Reich ein wirksames Gegengift gegen die ideologische Borniertheit des völkischen Heroismus< und der >Blut-und-Boden-Literatur< darstellen konnte.147

b. Zur Theaterkritik im Dritten Reich: Von der Kunstkritik zur »Kunstbetrachtung« Ein Problem der Rekonstruktion der theaterkritischen Rezeption von Inszenierungen aus der Zeit des Nationalsozialismus besteht darin, daß Ende 1936 die Theaterkritik in Deutschland - wie die Kunstkritik überhaupt - einer verschärften Zensur unterworfen wurde. Die Gründung der Reichskulturkammer im September 1933 mit ihren verschiedenen Einzelkammem - z. B. der Reichstheaterkammer - übte auf der Produktionsseite eine ideologische GatekeeperFunktion aus, die darin bestand, Juden und NS-Gegner von den Medien auszuschließen und nationalsozialistisches Gedankengut zu propagieren.148 Diesem Meinungsmonopol auf der Produktionsseite stand auf der Rezeptionsseite bis Ende 1936 immer noch ein erheblicher Pluralismus gegenüber, d. h., man findet in den Theaterkritiken der ersten Jahre des Dritten Reiches noch ein erstaunlich breites Meinungsspektrum. Die relative Breite und Widersprüchlichkeit der theaterkritischen Meinungsbildung bis Ende 1936 läßt sich gerade am Beispiel von Karl Lerbs' Bearbeitung des Idealen Gatten gut verdeutlichen, welches Stück durch Hinzu-

146 147 148

Wilde, CW, S. 1091. Vgl. z. B. Gottfried Müller, Dramaturgie des Theaters und des Films, S. 88. Vgl. Courtade/Cadars, Histoire du cinéma nazi.

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fiigungen und Textänderungen sowie durch den propagandistischen Begleitessay im Theaterprogramm sehr stark im nationalsozialistischen Sinn funktionalisiert und ideologisiert worden war. Die theaterkritische Rezeption des Stückes, das in der Saison 1935/36 über zahlreiche deutsche Bühnen ging, war nämlich keineswegs so homogen applaudierend, wie man es angesichts der bewußten Aktualisierung und der zahlreichen Aufführungen hätte erwarten können. So schrieb Rudolf Geck über die deutsche Erstaufführung in Frankfurt mit Bezug auf den im Theaterprogramm abgedruckten Essay Karl Lerbs': Kail Lerbs [...] wirbt neuerdings für den Moralisten Wilde. Er will den Idealen Gatten, Lady Windermeres Fächer und Eine Frau ohne Bedeutung aus dem Bereich der unterhaltsam-zynischen Komödie herausgehoben wissen und sie unter den Blickpunkt des zürnenden Anklägers gestellt sehen. Man kann, man muß nicht.149 Wilde habe »diese moralische Rettung auch gar nicht nötig«. In der Aufführung habe sich das moralisierende Bestreben eher unangenehm bemerkbar gemacht: Bisher ließ man den Idealen Gatten huitig vorüberkreisen, gab nicht Zeit zu nachdenksamer Betrachtung, was der Dichter wohl bezweckt haben könne. Zögernd und fast feierlich kommt die Komödie heute daher, [...] mit langen Pausen, mit sehr beflissener Ausbreitung der sittlichen Gehalte, wenn man so will. [...] der Komödieist mit bebenden Pausen und dem Bemühen um Abgründigkeit nicht eben gedient.150 Ähnlich trauert zwei Monate später ein Kritiker der Inszenierung im Hamburger Thalia-Theater dem vor-Lerbsschen Wilde nach: Der Spötter Wilde wird bei Lerbs also zum Ankläger und Weltverbesserer. Man kann Wilde so sehen, notwendig ist es nicht und besser - kaum. [...] kurzum: der Wilde, wie wir ihn kennen, geht dabei verloren, der, den wir gewinnen, ist uns noch fremd; er ist uns noch nicht so bekannt, daß wir zu entscheiden vermöchten, ob wir uns über ihn freuen sollen. [...] und so ist denn das Ergebnis: drei Stunden einer von Leibs ernst gemeinten Belehrung des Volkes durch Lord Goring-Wilde, der sich selbst nicht ganz ernst nimmt. [...] So kommt denn der Ideale Gatte langsam und feierlich daheigeschritten, aber man denkt dabei - und nicht einmal ungern - öfter an die Zeiten zurück, da er noch hurtig und lustig durch das Leben lief.151

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151

Rudolf Geck, Frankfurter Zeitung, 17.9.1935. Rudolf Geck, Frankfurter Zeitung, 17.9.1935 ( [,] : Original-Hervorhebung als Sperrung). Otto Küster, Hamburger Nachrichten, 13.11.1935. 233

Einem zweiten Kritiker der Hamburger Inszenierung zufolge hätte Lerbs viel konsequenter modernisieren sollen. Wenn Lerbs schon nichts von dem Witz opfern wollte, so hätte er doch einen Sack voll sentimentaler Worte, die heute arg verstaubt klingen, ins Meer versenken sollen; er hätte damit auch den Darstellern einen Gefallen getan, denn ihre Seele schreit nicht nach dem Übersetzer, sondern nach dem radikalen Bearbeiter!152 Dem Kritiker war anscheinend entgangen, daß Lerbs das Stück durchaus radikal - und nationalsozialistisch - bearbeitet hatte (oder handelte es sich hier etwa um abgründige Ironie?). Einen Monat später fand die bisher wohl glanzvollste Aufführung des Idealen Gatten im Berliner Staatstheater statt. Die Besprechungen waren insgesamt sehr positiv, wobei die Inszenierung, das Bühnenbild, die Schauspieler gelobt wurden. Herbert Ihering lobte auch die »geistige Haltung« des Lerbsschen Textes, womit eigendich nur die nationalsozialistische Ideologisierung gemeint sein konnte: »Der Inhalt des Stückes ist längst veraltet. Seine geistige Haltung aber behauptet sich jetzt wieder, auch in dieser geschickten Bearbeitung von Karl Lerbs [,..].« 153 Allerdings war in der Berliner Inszenierung die ideologisierende Tendenz anscheinend nicht so penetrant ausgespielt worden wie in Frankfurt und Hamburg. Viktor de Kowas Lord Goring wurde in allen Theaterkritiken wegen seiner dandystischen Nonchalance gerühmt. Der gesinnungsstramme Feuilletonchef und Theaterkritiker der BZ am Mittag distanzierte sich in deutlichen Worten von Lerbs' Interpretation Wildes, wie sie im Programmheft des Berliner Staatstheaters zu lesen war. Lerbs versuche nichts weniger als eine ethische Ehrenrettung Wildes; er möchte ihn zum sozialen Revolutionär an der Jahrhundertwende stempeln. Ein gefährliches Unternehmen! Der Kritiker wird gezwungen, schärfer hinzuhören. Es geht nicht an, den moralischen Pragmatismus Wildes als ein Ethos hinzustellen, das erzieherische Wirkungen haben könnte. Es bleibt in diesem Theaterstück die Tatsache, daß Sir Robert Chiltern mit einem unehrenhaften Verbrechen sich sein Vermögen erworben hat. [...] Falls Wilde die Absicht haben sollte, zu zeigen, wie sich die einfachen, geraden, klar denkenden Menschen zu Überlegenheit und zur selbständigen Lebensgestaltung durchringen^ so ist ihm die Verwirklichung dieser Absicht schlecht gelungen. Diese Verwirklichung verläuft auf einer Ebene, die man nur als Utilitarismus bezeichnen kann [...]. Wir wollen Wildes Theaterstücke weiter-

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Ernst August Greeven, Hamburger Fremdenblatt, 13.11.1935. Herbert Ihering, Berliner Tageblatt, 9.12.1935. Auch Ernst Heilbom lobte besonders die »Haltung«: »Mehr als nur ein wohlgelungener Theaterabend! Beinahe eine Unterrichtsstunde in >Haltung< in lebendigen Vorführungen« (Frankfurter Zeitung, 10.12. 1935).

234

hin als das nehmen, was sie wirklich sind: Theaterstücke, die eine veikalkte Gesellschaft ironisieren und Schauspielern Rollen bieten, an denen sie ihr Können entfalten können. 154

Das Nebeneinander dieser unterschiedlichen Kritiken beweist, daß Ende 1935 noch ein relativ breiter theaterkritischer Pluralismus herrschte, abgesehen von den kulturpolitischen Richtungskämpfen innerhalb des Nationalsozialismus, die niemals ganz aufhörten. Es bestand Ende 1935 die Möglichkeit, sich kritisch von den ideologisierenden bzw. moralisierenden Eingriffen und Tendenzen Lerbs', die im Theaterprogramm in nationalsozialistischem Jargon erläutert wurden, zu distanzieren. So trauern die eher liberal gebliebenen Kritiker - abgesehen von Ihering - offen dem nicht ideologisierten Wide nach, während die linientreue Kritik den ethischen Anspruch Lerbs' bzw. Wildes als zu oberflächlich zurückweist. Der ästhetische Pluralismus, wie er in den divergierenden Ansichten der Theaterkritik über Lerbs' regimefromme Wilde-Bearbeitungen zu erkennen ist, wurde auf der Jahrestagung der Reichskulturkammer vom 27. November 1936 beseitigt. Die traditionelle Kunstkritik, also auch die Theaterkritik, wurde verboten und war per Anordnung des Propagandaministers Goebbels durch eine staatlich beeinflußte »Kunstbetrachtung« bzw. einen »Kunstbericht« zu ersetzen.155 Von diesem Zeitpunkt an durften die Rezensenten in den Besprechungen von Filmen oder Theaterstücken keine eigenen, individuellen Wertungen mehr verkünden, sondern hatten lediglich die Kunstwerke nach den programmatischen Anweisungen staatlicher Vertreter zu beschreiben.156 Damit war nicht nur die Produktion, sondern auch die >kritische< Rezeption der Literatur der Zensur unterworfen.

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Otto Emst Hesse, BZ am Mittag, 9.12.1935. »[...] an die Stelle der bisherigen Kunstkritik, die in völliger Verdrehung des Begriffs >Kritik< in der Zeit jüdischer Kunstüberfremdung zum Kunstrichtertum gemacht worden war, wird ab heute der Kunstbericht gestellt; an die Stelle des Kritikers tritt der >KunstschriftleiterBetrachtung< mehr oder weniger deutlich in >Kritik< übergeht. Nach der 1947 veröffentlichten Meinung Iherings war es zumindest den Provinzzeitungen eher möglich, »etwas freier zu schreiben, weil sie vom Propagandaministerium entfernter waren als die Berliner, denen Goebbels im Genick saß« (Ihering, Berliner Dramaturgie, S. 23).

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Exkurs: Wilde-Filme im Dritten Reich 1. Herbert Selpin: Ein idealer Gatte (1935)157 Drehbuch: Thea von Haibou; Musik: Werner Bochmann; Bauten: Benno von Arent/Arthur Günther; Kamera: Emil Schünemann. Robert Chiltem: Karl Ludwig Diehl; Gertrud Chiltem: Brigitte Helm; Mabel Chiltem: Annie Markait; Lord Goring: Georg Alexander, Lord Caversham: Paul Henckels; Gloria 158 Cheveley: Sybille Schmitz; Nanjac: Werner Scharf; Ingenieur Paiker: Karl Sonnemann; Mason: Heinz Förster-Ludwig; Phipps: Karl Platen; Lady Maricby: Toni Tetzlaff.

Selpins Film läßt sich keineswegs auf eine einfache ideologische oder gar nationalsozialistische Botschaft festlegen: Der Film besitzt eine beunruhigende Mehrdeutigkeit. Selpins zum Teil in London gedrehter Film verlegt das Stück in die Gegenwart. Die tiefgreifendste Änderung gegenüber den früheren deutschen Bearbeitungen und Inszenierungen des Stücks besteht bei Selpin in der überraschenden Vermenschlichung der >Intrigantin< Cheveley (hervorragend gespielt von Sybille Schmitz). Im Laufe des Films werden die Sympathien der Zuschauer immer stärker auf ihre Seite gelockt (ihr gehört auch die letzte Einstellung des Films), während die dargestellte Gesellschaft, vor allem Lord Goring und Mabel, oberflächlich und hohl erscheint. Die klischeehaften Schwarz-weiß-Kategorien, um deren listige Aufhebung es Selpin geht, werden im Film optisch durch den äußeren Gegensatz der Frauen (Sybille Schmitz dunkelhaarig, meist in Schwarz; Brigitte Helm blond und hell gekleidet) verbildlicht. Es war ein bemerkenswerter - und ideologisch irritierender - Kunstgriff von Selpin, die Außenseiterin und >Bösewichtin< allmählich zur Identifikationsfigur aufzubauen und dadurch die verborgene Skrupellosigkeit der arrivierten Gesellschaft zu zeigen.159 Die zwei erhaltenen Filmkritiken sind geradezu enthusiastisch: »genial umgeformt und ins Filmische umgesetzt«; »Musterbeispiel einer sehr kultivierten, sehr ernsten, zumindest aber einer selbstbewußten Arbeit« (»beck.«).160

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Selpins Film befindet sich im Bundesfilmarchiv in Koblenz. Die Namengebung von Mrs. Cheveley - »Gloria« statt »Laura« - scheint ein Beweis dafür zu sein, daß Thea von Harbou Bruno Franks Bearbeitung von 1930, in der dieselbe Substitution verkommt, bekannt war. Bruno Frank war 1933 emigriert. Zu Selpins Selbstmord in der Untersuchungsanstalt im Jahre 1942 vgl. Wulf, Theater und Film im Dritten Reich, S. 329 f. Das Bundesfilmarchiv in Berlin stellte mir Dokumente oder Kritiken über die drei Wilde-Filme zur Verfügung; leider sind die Filmkritiken über Selpins Film ohne Quellenangabe und nicht dauert.

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2. Heinz Hilpert: Lady Windermeres Fächer (1935)161 Drehbuch: Karl Leibs, Bernd Hofmann und Herbert B. Fredersdorf; Musik: Walter Gronostay; Kamera: Oskar Schnirch; Bauten: Ludwig Reiber. Mrs. Erlynne: Lil Dagover, Lord Windermere: Walter Rilla; Lady Windermere: Hanna Waag; Lord Augustus: Fritz Odemar, Lord Darlington: Carl Günther u. v. a. Hilperts Film beruht auf Karl Lerbs' Bearbeitung, der auch am Drehbuch mitwirkte. Der Film spielt etwa 1930, kurz nach der Weltwirtschaftskrise. Aufgrund seiner kurzen Einstellungen und raschen Szenensprünge hat er von Anfang bis Ende ein hohes Tempo. Die erste Hälfte des Films wild von einer neu geschriebenen Vorgeschichte eingenommen, welche Mrs. Erlynnes Leben in New York, wo sie sich als Ballettmeisterin durchschlägt, und das ritualisiertgelangweilte Leben ihrer Tochter in London darstellt. Die wichtigste Änderung gegenüber Wilde besteht in der Aufwertung von Lord Augustus Lorton, der zu Beginn auf einer Auktion sein »totes Kapital« abstößt (in einer kurzen Szene kontrastiert mit dem >jüdisch< wirkenden Bankier Brown, der 18 Prozent Zinsen fordert), um eine Farm in Kanada zu erwerben. In einem Gespräch mit Mrs. Erlynne, die in London bei ihrer Tochter ein besseres Leben zu finden hoffte, nennt er - in Großaufnahme - »Arbeit und Verantwortung« als Motto seines neuen Lebensanfangs; Mrs. Erlynne wiederum spricht - ihrem menschlich kühlen Schwiegersohn gegenüber, der sie verkennt - in Großaufnahme von »Selbsdosigkeit, Hingabe und Opfer«. Am Schluß sitzen Mrs. Erlynne und Lord Augustus im selben Flugzeug, bereit zum Neuanfang. - Die implizite ideologische Botschaft< des Films besteht in einer allgemeinen Zivilisationskritik und in der Verbreitung der optimistischen Zuversicht, man könne zu einer prä-industrialisierten Gesellschaft, in der nicht abstraktes Kapital und 1 f%y überalterte Konventionen regieren, zurückkehren.

3. Hans Steinhoff: Eine Frau ohne Bedeutung (1936)163 Drehbuch: Thea von Harbou; Musik: Gemens Schmalstich; Kamera: Ewald Daub; Bauten: Sohnle und Erdmann. Lord Illingworth: Gustaf Gründgens; Mrs. Arbuthnot: Käthe Dorsch; ihr Vater: Friedrich Kayßler, der alte Illingworth: Hans Leibelt; Hester: Marianne Hoppe; Gerald: Albert Lieven; Lord Hunstanton: Paul Henckels; Lady Hunstanton: Käthe Haack; Mrs. Allonby: Genia Nicolajewa u. a.

161

162 163

Der Film, der das Prädikat künstlerisch wertvoll· erhalten hatte, befindet sich im Filmarchiv des DIF in Wiesbadea Leider war vom Bundesarchiv keine Filmkritik zu bekommen. Der Film befindet sich im Filmarchiv des DIF in Wiesbaden. 237

Hans Steinhoffs Film - mit spritzigen Dialogen von Thea von Harbou - ist insofern etwas deutlicher ideologisiert als die vorhergehenden deutschen WildeVerfilmungen, als er klischeehaft klare Rollenbilder präsentiert, welche mit der nationalsozialistischen Polarisierung von >Gesundheit< und >Entartung< harmonieren. Die englische Oberschicht erscheint - zum Teil schon physisch - als verkalkt, unpraktisch, lebensfremd; im Gegensatz dazu stehen die vital-heroischen Identifikationsfiguren: gewandt, jung, modern, spontan (Gründgens, Hoppe, Lieven). Besonders Marianne Hoppe verkörpert als Hester einen - im Gegensatz zu Wilde und ähnlich wie in Lerbs' Bearbeitung - selbstbewußten und sportlich-herben Frauentyp, wie er der NS-Erziehungspolitik weitgehend entsprach.164 Sie will Sportärztin werden, Gerald Wasserwerkingenieur. Die Mutterrolle wird von Käthe Dorsch mit sentimentaler Opferhaltung gegeben. Durch die idealisierende Eindeutigkeit der Identifikationsangebote konnte der Film eine unaufdringliche propagandistische Wirkung entfalten. Gründgens soll »der ganze Film nicht« gefallen haben.165 Über die erste Aufführung in Berlin zeigte sich die Kritik nicht begeistert: »Kein Zweifel [...], daß ohne Gründgens der Film ein stellenweise recht öder Aufguß der Wildeschen Fabel wäre«; die beiden Jugendlichen seien »etwas sehr auf jugendliche Unbekümmertheit< umgedeutet worden«. Und die Gesellschaft, hier nur noch Hintergrund, nur noch Hemmnis im dramatischen Ablauf, nicht mehr Partner oder tragende Atmosphäre - sie ist bei den Männern in einen Mummenschanz, bei den Damen in ein etwas provinzielles Teetrinken abgeglitten [...]. Regie (Hans Steinhoff) und Photographie sind durchaus unaufregend, sie lassen dem Schauspiel den Vortritt.166

Eine am 2. Januar 1937 - also nach der Abschaffung der >Kritik< im bisherigen Sinn - erschienene Filmkritik war dagegen voll des Lobes und begrüßte die von Steinhoff projizierten Rollenklischees: Hier geht es um tiefste Probleme menschlichen Seelenlebens, die in einem glücklichen Zusammenfinden von Drehbuch-Bearbeitung, meisterhafter Darstellung in allen Rollen und geradliniger Regie mit großem Takt und in sauber geschliffenem Dialog [...] behandelt wurden. Thea von Harbou [...] formte den Stoff gegenwartsnäher, indem sie den Unterschied der Generationen besonders unterstrich. [...] [Im Problem der »kämpfenden Mutter«] liegt die künstlerische und die mitreißende Herzenswirkung dieses Films beschlossen. 167

164 vgl. Poley (Hrsg.), Rollenbilder im Nationalsozialismus, S. 210. 165 166 167

Riess, Gründgens, S. 171. »di.«, 30.10.1936 (Zeitung unbekannt; Kölner Theatermuseum). Dr. Alfred Lehmann, Leipziger Neueste Nachrichten, 2.1.1937. - Zu Anfang des Krieges wurde der Film Steinhoffs als Unterhaltungsfilm für die Truppenbetreuung eingesetzt, sicher nicht »aus Versehen?«, wie Drewniak fragt (Drewniak, Der deutsche Film 1938-1945, S. 403).

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c. Zu Paul Bildts Bunbury-Inszenierung Bunbury war nicht so leicht propagandistisch zu vereinnahmen wie die >ernsten< Gesellschaftsstücke Wildes, da es sich in einem wesentlichen Punkt von Wildes früheren Komödien unterscheidet. Während in diesen die >Puritanerinnen< Lady Windermere, Hester Worsley und Gertrude Chiltern - jene weiblichen Figuren also, welche dem viktorianischen Publikum als Identifikationsfiguren dienen konnten - eine psychologisch-realistisch motivierte Entwicklung durchmachen, die von Lerbs durch mehr oder weniger starke Eingriffe ideologisch konnotiert und kanalisiert werden konnte, findet in Bunbury kein derartiger Lernprozeß statt. Das Stück steht von Anfang an in einem antinormativen, ironischen, parodistischen Realitätsbezug. Es zitiert die - viktorianische Realität und Gesellschaft nur, um ihre Grundlagen und Konventionen satirisch zu hinterfragen bzw. um die Zuschauer spielerisch von den normativen Ansprüchen der Gesellschaft zu befreien. Insofern hätte die direkte Implantierung von pragmatischen Gegenwartsbezügen, wie Lerbs dies vor allem im Idealen Gatten tat, kontraproduktiv oder zumindest ambivalent wirken können: In einem Stück, das den >Emst< und die >Wahrhaftigkeit< - die viktorianischen Kardinaltugenden - verspottet, hätten leicht auch propagandistische Zeitbezüge in den Sog des Lächerlichen geraten können. Bunbury wurde nach 1933 auf andere Weise produziert und rezipiert als die drei früheren Gesellschaftsstücke Wildes, die durch Lerbs' Neubearbeitungen in den Literaturkanon des Dritten Reiches aufgenommen worden waren. Im Grunde genommen war für die Rezeption des Stückes eine einzige Hauptbedingung vorgegeben: Das satirisch-subversive Potential des Stückes mußte so gedämpft werden, daß die anarchistische Satire auf den Viktorianismus nicht als Angriff auf die autoritären Strukturen des Nationalsozialismus gedeutet werden konnte. Dies war am einfachsten dadurch zu erreichen, daß man die Welt des Stückes als >überholt< oder als >typisch englisch< darstellte, wodurch eventuell sogar ein Propagandaeffekt zu erzielen war, da das deutsche Publikum mit überlegenem Lachen auf die Rückständigkeit der dargestellten englischen Gesellschaft reagieren konnte. Dies war der Tenor der Aufführung von 1934, der der Teschenberg/Vallentinsche Text zugrundegelegen hatte: In der Aufführung des Renaissance-Theaters mit Adele Sandrock waren die sozialkritischen Züge, welche die Sandrocksche Verkörperung der Lady Brancaster in Eugen Roberts Inszenierungen ursprünglich ausgezeichnet hatten, zugunsten »fröhlicher Veralberung«168 in den Hintergrund gedrängt worden. Darüber hinaus hatte die Theaterkritik mehrfach darauf insistiert, wie gegenwartsentrückt diese Komödie Wildes doch sei, wie wenig sie mit den aktuellen Verhältnissen zu tun habe.

168

»Lbg.«, 14.5.1934 (ohne Quellenangabe; KölnerTheateimuseum). Vgl. obenS. 182f.

239

Hans Flemming brachte - bei aller Anerkennung der schauspielerischen Leistung Adele Sandrocks - das Mißbehagen des Zeitgeistes von 1934 an Wildes >un-ernstem< Stück auf den Punkt: »Doch unsere Wünsche liegen ja überhaupt in anderer Richtung. Dem Schauspieler des elementaren Gefühls, dem großen Bezwinger der Herzen, gilt unsere Sehnsucht.« 169 Diese Distanzierung von Wildes Unernst verrät ex negativo, wie leicht Bunbury als satirischer Kommentar auf die autoritären Strukturen des Dritten Reiches hätte gespielt bzw. aufgefaßt werden können. Zwischen den von Hemming benannten theatralischen Präferenzen des Dritten Reiches und dem Sprachpathos seiner politischen Repräsentanten bestanden offensichtlich sozialpsychologische Ähnlichkeiten und Querverbindungen,170 die durch Sandrocks pathetische Monumentalpersiflage viktorianischer Autorität leicht hätten ins Bewußtsein gehoben und kabarettistisch ins Lächerliche gezogen werden können. Die Zurücknahme der satirischen Potenz der Brancaster- Rolle, die sich in der Inszenierung von 1934 zeigte, war wohl die wichtigste Voraussetzung dafür, daß das Stück in der Zeit des Nationalsozialismus ohne weiteres in den Theatern der Reichshauptstadt gespielt werden konnte. Der potentielle Gegenwartsbezug von Lady Brancaster als grotesker Verkünderin faschistischer Ideologeme - "Health is the primary duty of life"! 171 - durfte darstellerisch nicht verstärkt, sondern mußte unterdrückt werden. 172

169 170

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172

Hans Flemming, Berliner Tageblatt, 3.5.1934. Zum Zusammenhang zwischen Kunst und NS-Staat vgl. Rühle, Zeit und Theater, Bd. 3, S. 30f. Wilde, Importance, S. 21. Zwei Sätze vorher verurteilt sie das Mitleid mit Kranken als "morbid". Im Sozialismus-Essay unterzieht Wilde die beiden Wörter morbid und unhealthy, die zu den Schlagwörtem der konservativen Kunstkritik des Viktorianismus gehörten, einer sprach- und ideologiekritischen Analyse. Nach der Darstellung des Mißbrauchs dieser Wörter, wonach z. B. eine "thoroughly unhealthy production" wie "the popular novel" in der Öffentlichkeit als "healthy" gelte, kommt Wilde zur sozialpsychologischen Erklärung dieser Begriffsverwirrung: "It comes from the barbarous conception of authority. It comes from the natural inability of a community corrupted by authority to understand or appreciate Individualism. In a word, it comes from that monstrous and ignorant thing that is called Public Opinion, which, bad and well-meaning as it is when it tries to control action, is infamous and of evil meaning when it tries to control Thought or Art" (Wilde, CW, S. 1093 f.). Lady Bracknell stellt offensichtlich das fleischgewordene Konzentrat dieser Thesen dar. - Von Wildes Theorie ist es nur ein Schritt zu Adorno et al.. The Authoritarian Personality. Die Herzogin von Berwick in Lady Windermeres Fächer ist zwar eher eine Nebenfigur, aber in mancherlei Hinsicht die Vorläuferin von Lady Brancaster/Bracknell. Es ist daher interessant zu beobachten, daß Karl Lerbs in seiner Übersetzung/Bearbeitung des Stücks die sozialdarwinisüschen Züge dieser Figur, die auch noch mit einer - im Sozialismus-Essay beschworenen (s.o. S. 139f.) - monströsen Ignoranz gekoppelt sind, eliminiert. Offensichtlich war ihm bewußt, wie leicht diese Figur als Karikatur der zeitgenössischen NS-Ideologie hätte verstanden werden können. Vgl. dazu Kohlmayer, »Sprachkomik«, S. 360 f.

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Die Wahl der Textfassung von Blei/Zeiß - die Bearbeitemamen wurden auf den Theaterzetteln allerdings nicht genannt, da Franz Blei 1933 ins Exil ging - war programmatisch: Denn die Inszenierung, die Paul Bildt im Berliner Staatstheater bot, bestand allem Anschein nach keineswegs darin, das Stück als >überholt< und >typisch englisch< zu karikieren und zu distanzieren; vielmehr reizte er das dandystisch-ästhetische Inszenierungsangebot des Blei/Zeißschen Textes so konsequent aus, wie es vorher höchstens bei der Dresdener Erstaufführung der Fall gewesen war. Die Inszenierung war von dem Bestreben gekennzeichnet, die ästhetische Eleganz des Stückes nicht nur in den Dialogen, sondern auch im sonstigen theatralen Zeichenrepertoire - in den Kostümen, Requisiten und im Bühnenbild - auszuspielen und zu verbildlichen. Ungewöhnlich schöne Bühnenbilder, gestaltet von Traugott Müller, bildeten das Hauptkennzeichen der glanzvollen Inszenierung. Paul Bildt hatte sich von der genialen Meisterhand Traugott Müllers einen schneeweißen Salon erbauen lassen, wie es ihn in dieser leuchtenden Pracht wahrscheinlich in ganz London nicht gibt, und ein Landschloß, das an der grünen Küste, die der Golfstrom wärmt, nicht schöner sein könnte.173 Blei/Zeiß' Stilisierung von Jacks "manor house" zum »Gutsschloß« war in dieser Inszenierung zum Leitmotiv geworden, zumal der 3. Akt nicht, wie bei Blei/Zeiß vorgesehen, ins Hausinnere verlegt, sondern laut Theaterprogramm ebenfalls im »Garten vor Worthings Landhaus in Woolton« gespielt wurde. Es ging nicht um eine Karikatur britischer Verhältnisse, sondern um die Darstellung geschichts- und realitätsenthobener Schönheit und Eleganz. Bildts Inszenierung kappte - in Fortführung der bei Blei/Zeiß angelegten Tendenzen - radikal die geographisch-historischen Realitätsbezüge der Wildeschen Komödie, um die eleganten Figuren in einen märchenhaft schönen Freiraum zu versetzen, in dem kaum noch soziale Zwänge zu herrschen scheinen. Das >Bunbuiysieren< erscheint demnach nicht als Flucht vor sozialen Pflichten und Rollen, sondern als Naturzustand eines »gesunden Menschenschlags« in einer wirklichkeitsfernen Operettenwelt: Und Bunburyisten sind demnach Leute, die nie um eine Ausrede verlegen sind. Zwei liebenswürdige Vertreter dieses gesunden Menschenschlags lernen wir in Victor de Kowa und Wolfgang Liebeneiner kennen. Ergötzliche Nichtstuer, raffinierte Zeittotschläger, elegante Wortwitzler! M e sie mit Wddes boshaften Aphorismen zärtlich spielen, sie mit Gesten förmlich streicheln, in die Luft heben und dann in einem Anfall von Müdigkeit nachlässig fallen lassen, das ist einfach großartig!174

173 174

Erik Kriines, Berliner Illustrierte Nachtausgabe, 10.4.1937. Ludwig Eberlein, Berliner Morgenpost, 11.4.1937. 241

Aus den in drei Berliner Zeitungen veröffentlichten Schauspielerskizzen175 erkennt man, daß Kostüme, Hüte, Schuhe, Accessoires, Frisuren usw. keineswegs historisiert waren, sondern völlig dem letzten Schrei des modischen Gegenwartsgeschmacks von 1937 entsprachen. Die »unnachahmliche Garderobe« der Dandies wird denn auch von der Kritik als durchaus vorbildlich geschildert: Schon dem Schneider gebührt Lob. Denn an diesem Cut in Hellgrau, diesem bis auf die schwarze Blume korrekten Trauer-Gehrock hätte vermutlich der große Dandy Londons und Autor dieser >trivialen Komödie für ernste Leute< seine Freude gehabt. 176

In Paul Bildts Inszenierung scheint jede Spur des ursprünglichen Zeitbezugs und von Sozialkritik getilgt zu sein. Dies ergibt sich auch aus der Besetzung der Lady Bracknell mit Hermine Körner, deren Spiel - »sehr dezent und mit feinstem doppelbödigem Spott« 177 - in bewußtem Gegensatz zu Adele Sandrocks pathetischer Monumentalkomik stand. Nach Meinung des Kritikers Erik Kriines lenkte Paul Bildt mit dieser Ästhetisierung »das oft und oft gespielte Lustspiel in natürliche Bahnen« zurück: [...] Hermine Kömer in der Rolle, die seit soundso vielen Dezennien zum eisernen Besitz Adele Sandrocks gehörte [...]. Es galt also, gegen ein Vorbild und ein Vorurteil zu kämpfen. Wie aber Frau Körner aus der festgelegten Rolle etwas ganz Neues schuf, wie sie jede billige Geste verschmähte und jedem Ton eine neuartige Note vorschrieb, das war so imponierend, so überraschend, so bezwingend, daß kein Lob für diese schauspielerische Leistung groß genug wäre. 1 7 8

Hermine Körner spielte »mit unnachahmlicher Eleganz«, 179 »kühl im Wesen, starr in der Haltung, gleichbleibend im Tonfall der Stimme, aber mit allen Nuancen des Ausdrucks«. 180 Die »übervornehme, aber sehr kaufmännisch rechnende >Lady Bracknell< der Hermine Körner« 181 war durch ihre Distinguiertheit völlig in die Märchenwelt dieser »elegant-heiteren Aufführung«182 integriert. Der optische Kontrast zwischen den Porträts und Beschreibungen von Adele Sandrock und Hermine Körner in der Bracknell-Rolle könnte kaum Meyer-Mengede, Berliner Illustrierte, 10.4.1937; Inge Drexler, 8-Uhr-Abendblatt, 10.4.1937; Inge Drexler, 12-Uhr-Blatt, 12.4.1937. 1 7 6 Felix A. Dargel, Berliner Lokal-Anzeiger, 10.4.1937. 1 7 7 Felix A. Dargel, Berliner Lokal-Anzeiger, 10.4.1937. 1 7 8 Erik Kriines, Berliner Illustrierte Nachtausgabe, 10.4.1937. 1 7 9 Paul Otte, 10.4.1937 (Quelle unbekannt; Archiv der Akademie der Künste, Berlin). 180 Walter Schürenberg, 10.4.1937 (Quelle unbekannt; Archiv der Akademie der Künste, Berlin). 1 8 1 Fritz Chlodwig Lange, 8-Uhr-Abendblatt, 10.4.1937. 1 8 2 Felix A. Dargel, Berliner Lokal-Anzeiger, 10.4.1937. 175

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größer sein: Jene stand »als pompöse Gestalt in pompösen Gewändern, am berückendsten in spinatgrünem Kleid mit fliedergarniertem Spitzenschal«183 wie ein matriarchalisches Monument zwischen den unauffällig modern gekleideten Dandies,184 diese verkörperte mit hochgeschlossenem, enganliegendem, langem schwarzem Kleid, pelzbesetztem Cape, doppelt geschlungener Perlenkette, großem modischem Tellerhut, exquisiter Gestik und Körperhaltung den Inbegriff gesellschaftlicher Eleganz.185 Zwischen den Dandies und Lady Brackneil bestand nicht der Gegensatz von subversivem Individualismus und repressiver Autorität. Da Lady Bracknell nicht hyperbolisch-grotesk, sondern elegant-natürlich gespielt wurde, verlor das Stück die sozialkritische Dimension. Lady Bracknell verkörperte nicht die eiserne Gegenwelt viktorianischer Autorität, sondern die exklusive Eleganz gesellschaftlicher Arriviertheit. Auf der Bühne herrschte eine homogene Eleganz, deren in sich geschlossene Kunstwelt keinerlei kritischen Verweischarakter mehr besaß. Es herrschte operettenhafte Konfliktlosigkeit. Die Bunbury-Aufführung von 1937 im Berliner Staatstheater wurde zur Selbstdarstellung der gesellschaftlichen Amviertheit der nationalsozialistischen Machthaber und der ihnen dienenden Kunst. Oscar Wildes Bunbury war in dieser Inszenierung, die selbstreferentiell eine heile Welt vorspiegelte, vor allem deshalb zum Hoftheater geworden, weil Lady Bracknell ohne die Spur jener sozialanalytischen Schärfe gespielt wurde, die Adele Sandrock in dieser Rolle freigelegt hatte. Zwischen Bühnenkunst, Publikum und Machthabern herrschte Harmonie: Ein ftoh gestimmtes Publikum machte schon bei offener Szene kein Hehl aus seinem Vergnügen an dem Spiel. Solchen spontanen Äußerungen proportional war der verdiente Beifall bei den Aktschlüssen, an dem sich Ministerpräsident Hermann Göring mit seiner Gattin beteiligte. 186

Dennoch sollte eine kritische Darstellung aus heutiger Sicht, wenn sie sich nicht dem Vorwurf der historischen Einseitigkeit aussetzen will, um eine Fragestellung ergänzt werden, die die hier vorgelegte Kurzinterpretation der Bildtschen Inszenierung relativieren könnte. Es handelt sich um die Frage, ob diese Inszenierung nicht gerade durch ihre artistische Perfektion und harmonische Schönheit dazu beitrug bzw. beitragen konnte, inmitten des Totalitarismus eine 183

Kurt Pinthus, 8-Uhr-Abendblatt, 10.10.1929. 184 vgl. das Foto zur Theaterkritik von Moritz Loeb, 10.10.1929 (Zeitung unbekannt; Kölner Theatermuseum), wo Adele Sandrock in exzentrischer Kleidung zwischen Jack und Algernon steht. 185 vgl. besonders die Zeichnung von Meyer-Mengede, Berliner Illustrierte Nachtausgabe, 10.4.1937. 186 Walter Schürenberg, 10.4.1937 (Quelle unbekannt; Archiv der Akademie der Künste, Berlin).

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autonome Gegenwelt zu bewahren, die die totale Kolonialisierung der Köpfe und Sinne verhindern konnte oder zumindest verhindern wollte. So weist Günther Rühle darauf hin, daß Gustaf Gründgens [...] als Görings Staatsintendant in Berlin die fast kunstreligiösen Prinzipien der Düsseldorfer Dumont-Lindemann-Schule durch das Dritte Reich weiteigeführt und komödiantisch-ballettös verfeinert hatte.187

Herbert Ihering behauptet 1947, daß manche hervorragende Aufführungen des Dritten Reiches aus geistiger Opposition entstanden seien - »im Gegensatz, der zu spät gemerkt wurde, und in Feindschaft, die sich tarnte«; auf eine Inszenierung im Berliner Staatstheater vom Oktober 1934 anspielend, meint Ihering sogar, daß eine rein artistische Auffuhrung, zum Beispiel wie Das Glas Wasser von Scribe, plötzlich fast aggressive Bedeutung erlangte, nur weil sie elegant war und nicht spießig, hell und nicht verschwommen, hurtig und nicht zäh, technisch akkurat und nicht ächzend, wirbelnd und nicht mühsam [...].188

Was Ihering hier über Jürgen Fehlings Inszenierung von Das Glas Wasser behauptet, darf auch für Paul Bildts Bunbury beansprucht weiden: Die Inszenierung beschwor ein ästhetisches Niemandsland, das auf keinen Fall mit dem totalitären Kontext zu identifizieren war. Daß am Berliner Staatstheater tatsächlich das Bewußtsein herrschte, man befinde sich auf einer >Insel< der Kunst, konnte sogar dem Theaterprogramm entnommen werden: Der letzte der dort abgedruckten »Sprüche« - aus Wildes Essay The Critic as Artist - lautete: »Durch die Kunst und nur durch die Kunst weiden wir vollkommen. Die Kunst und nichts als die Kunst kann uns vor den schmutzigen Gefahren des Lebens schützen.«189 Das eigentliche Problem des Theaterlebens im Dritten Reich war wohl - zumindest an Gründgens' Staatstheater - nicht die Qualität und der Autonomieanspruch der Künstler, sondern das Fehlen der Kritik. Durch die Ausschaltung der Kritik im November 1936 war die Kunst für die Rezipienten faktisch zum Sprachrohr oder bestenfalls zur Dekoration der Machthaber geworden, da die eventuell auf Seiten der Produzenten vorhandenen zeit- und ideologiekritischen Impulse der Kunstproduktion auf der Rezeptionsseite kaum jemandem bewußt werden bzw. bewußt gemacht werden konnten. Der Ein187 188

189

Rühle, Zeit und Theater, Bd. 3, S. 75. Ihering, Berliner Dramaturgie, S. 24. - Zur »Opposition« im Theater des Dritten Reiches vgl. den Exkurs S. 332 ff. Im Programmheft der Dresdener Inszenierung des Blei/Zeißschen Textes von 1920 (Regie: Lothar Mehnert) wurde dieselbe Stelle ziüert, ein Zeichen dafür, daß die Wahl des Blei/Zeißschen Textes fast immer mit einer ästhetizisüsch-autonomen Kunstauffassung einherging.

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druck, den die zahlreichen und einheitlich positiven Theaterkritiken von der Berliner ÄMnÖMry-Inszenierung des Jahres 1937 vermitteln, ist jedenfalls der von glanzvollem Hoftheater, zumal fast kein Kritiker den Hinweis auf die Anwesenheit des Hausherren Göring unterläßt.

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7. Kapitel Carl Hagemanns Bunbury (1907/1947)

A. Zu Hagemanns »eigenen Übersetzungen und Bearbeitungen« der Gesellschaftskomödien Wildes Im 3. Kapitel war auf die Schlüsselrolle hingewiesen worden, die Carl Hagemann (1871-1945) für die deutsche Wilderezeption spielte. Hagemann war jedoch nicht nur durch seine weitverbreiteten Wilde-Bücher von 1904 und 1925 wichtig, in denen er Gides negative Beurteilung des Wildeschen Œuvres popularisierte und sich selbst als Wilde-Kenner profilierte,1 sondern auch durch über ein Dutzend eigene Inszenierungen Wildescher Stücke von 1906 bis 1937. 2 Schließlich ging - und geht - von Hagemann auch dadurch ein prägender Einfluß aus, daß die seinen Inszenierungen zugrundeliegenden Komödienfassungen 1947 und 1960 auch in Buchform erschienen.3 Damit lagen zum ersten Mal seit Pavia/Teschenbergs Übersetzungen von 1902/03 alle vier Komödien in einer leicht zugänglichen, sprachlich homogenen und bühnengeeigneten Form vor. Zwischen 1947 und 1984 wurden Hagemanns Bearbeitungen dann noch rund 300mal aufgeführt.4 Hagemann hat also nicht weniger als achtzig Jahre lang die populäre deutsche Rezeption der Komödien theoretisch, translatorisch und theatralisch beeinflußt. In der - aus Hagemanns Wilde-Buch von 1925 übernommenen - Einleitung der Komödienausgabe von 1947 liefert Hagemann eine Art Rechtfertigung seiner radikalen Bearbeitungen. Nach dem Hinweis auf die »schauderhaften« Übersetzungen Pavia/Teschenbergs fährt er fort:

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2 3

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Bengsch schreibt 1951, daß Hagemann »noch heute als einer der besten deutschen Wilde-Kenner gilt« (Carl Hagemarm, S. 111). Vgl. die Liste der Inszenierungen in Bengsch, Hagemann, S. 111, 127-137. Oscar Wilde, Vier Komödien. Übersetzt und bearbeitet von Carl Hagemann, Wiesbaden 1947 (2. Auflage 1960). Die darin abgedruckte Einleitung (»Wildes Komödien«, S. 5 17) ist wörtlich aus Hagemanns Wi/de-Buch von 1925 übernommen. Hagemanns Vorwort wird in Zukunft zitiert als: Hagemann, »Wildes Komödien«. Die vier Bearbeitungen werden in Zukunft zitiert als: Hagemann, Lady; Hagemann, Frau; Hagemann, Gatte; Hagemann, Bunbury. Briefliche Auskunft von Dr. Jürgen Bengsch (22.3.1992) mit genauer Aufstellung der Spielorte, Spielmonate und Aufführungszahlen.

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Daß die Wildeschen Komödien trotz alledem auf den deutschen Bühnen so viel Erfolg gehabt haben und immer noch haben, kommt daher, weil sich die Regisseure mit ihren dramaturgischen Bearbeitungen zumeist auch ihre eigenen Übersetzungen herstellen oder doch die ihnen vom Verlag gelieferten entsprechend auskorrigieren. Die Wildeschen Komödien müssen nämlich für unsere Theater und für unser Publikum besonders zurechtgemacht weiden. Kein Mensch in Deutschland hält die ausgiebigen, mit besonderer Hingabe dem englischen Massengeschmack angepaßten Ergüsse der melodramatisch-sentimentalen Partien aus, und kein Mensch kann das breit und selbstgefällig dahinplätschemde Geschwätz über alle möglichen Dinge auf die Dauer eines langen Theaterabends in der Fassung des Originals mit anhören. Dazu kommt dann noch, daß die dramaturgische Anlage sowohl in der Szenenführung und der Ökonomie des Aktbaues als auch in der Durchführung der Charaktere viel zu wünschen läßL Vor allem stehen die Haupt- und Nebenfiguren häufig nicht im richtigen dynamischen Verhältnis zueinander. In allen diesen Dingen muß also, und zwar sehr bedeutsam, nachgeholfen werden.5 Hagemann erweckt hier den Eindruck, er habe die englischen Originaltexte vor Augen gehabt, die er dann selbständig übersetzt und bearbeitet habe. In Wirklichkeit hat Hagemann niemals übersetzt: Er stützte sich immer nur auf bereits vorliegende deutsche Übersetzungen und Bühnenfassungen: a. auf die vier Übersetzungen Pavia/Teschenbergs (1902/03), b. auf bereits »auskonigierte« Regie- oder Rollenbücher anderer Regisseure (ζ. B. Vallentins und Jeßners), c. zum Teil auch auf die Wiener Ausgabe von 1908, in der Wildes Komödien in den Übersetzungen von Brieger, Greve und Neumann enthalten waren. Dies sind die drei Quellen für Hagemanns Bearbeitungen, wobei er insgesamt den Pavia/Teschenbergschen Texten, gegen die er so heftig polemisierte, verhaftet blieb: Hagemann hat die englischen Originaltexte nicht zu Rate gezogen. Bevor ich auf Hagemanns geradezu spektakuläres Bunbury-V\a.g\2i eingehe, will ich sein Bearbeitungsverfahren bei den drei anderen Gesellschaftskomödien Wildes zumindest in Grundzügen erläutern, wobei ich nach der Reihenfolge der Entstehung der Hagemannschen Texte vorgehe.

5

Hagemann, »Wildes Komödien«, S. 14 f. 247

1 Zu Hagemanns Bearbeitungen der drei frühen Komödien Wildes a. Ein idealer Gatte Hagemanns Text des Idealen Gatten entstand für die Mannheimer Inszenierung zu Beginn der Spielzeit 1906/07.6 Da zu diesem Zeitpunkt die Komödienbände der Wiener Ausgabe, für die Alfred Neumann das Stück übersetzte, noch nicht erschienen waren, konnte sich Hagemann bei seiner Bearbeitung nur auf Pavia/ Teschenbergs Buchausgabe bzw. auf eine »auskorrigierte« Regiefassung davon stützen. Es gibt jedenfalls auffallige Ähnlichkeiten zwischen Hagemanns Fassung und früheren Regiefassungen. Bei der erfolgreichen deutschen Erstaufführung des Stücks im Münchner Residenz-Theater durch Friedrich Basil (25.5. 1905), aber auch bei der Hamburger Inszenierung Leopold Jeßners im ThaliaTheater (1.1.1906) war Pavia/Teschenbergs Text erheblich zusammengestrichen worden. So wurde z. B. von beiden Regisseuren die wichtige Briefszene des vierten Aktes, in der Gertrude Chiltem ihrem Mann gegenüber eine Notlüge begeht, gestrichen bzw. entscheidend gekürzt: Hagemann folgt darin seinen Vorgängern. Darüber hinaus zeigt Hagemanns Text in der Reihenfolge und Länge der Striche derart deutliche Übereinstimmungen mit Jeßners Regiebuch, daß man nicht von Zufall sprechen kann: Hagemanns eigene Bearbeitung ist vor allem auf der Basis dieser Vorlage entstanden; ihm muß der Pavia/Teschenbergsche Text in der Jeßnerschen Regiefassung vorgelegen haben. Als eindeutiger Beweis möge der Schluß des 3. Aktes angeführt werden: Jeßner legt in einer handschriftlichen Eintragung in Pavia/Teschenbergs Text nach Mrs. Cheveleys triumphierendem Abgang Lord Goring noch folgendes knappe Schlußwort in den Mund: »Canaille. Aber talentvoll.«7 Hagemann übernimmt Jeßners Einfall und vergröbert ihn auf die für ihn charakteristische Weise, indem er Lord Goring sagen läßt: »Sie ist eine Kanaille - eine große Kanaille - aber talentvoll - sehr talentvoll...«8 Im Bearbeitungsverfahren Jeßners und Hagemanns lassen sich dennoch deutliche Unterschiede erkennen. Jeßner geht von dem übergeordneten Gesichtspunkt der Handlung aus, deren Dynamik zuliebe er das Textmaterial rafft. Hagemann korrigiert und dynamisiert die Formulierungen, wobei er trotz aller Umformulierungen seinem Prätext viel enger verhaftet bleibt als Jeßner. Er steht - verglichen mit Jeßner - in einem philologisch-linearen Verhältnis zu

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Hagemann benutzte die Pavia/Teschenbergsche Buchausgabe für die Herstellung seines Regiebuchs. Das Regiebuch der Mannheimer Inszenierung, dessen Textfassung der späteren Buchausgabe entspricht, befindet sich im Besitz seines Nachlaßverwalters Dr. Jürgen Bengsch. Es ist datiert auf Mannheim, den 30.7.1906 (briefliche Auskunft von Dr. Bengsch vom 29.8.1993). Jeßner, P/T, Gaue, S. 107. Hagemann, Gatte, S. 221.

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seiner Vorlage, die er Satz für Satz stilistisch durchkorrigiert, ohne sich allzu weit von Pavia/Teschenbergs Text zu entfernen. Hagemanns Textänderungen machen den Text tendenziell - idiomatischer: »ertappt« statt »gefangen«, - dienen der besseren Sprechbarkeit und Rollenkonformität: aus Pavia/Teschenbergs maskulinem Jargon im Munde Mrs. Cheveleys - »Wer zum Teufel« - wird bei Hagemann ein »Nanu?!«, - senken oder normalisieren die Stilebene: aus »ergötzlich« wird »herrlich«, aus »dumm dreinblicken« »dumm aussehen« usw. Es ist aber unübersehbar, daß Hagemann mindestens drei Viertel des Textes Pavia/Teschenbergs unverändert übernimmt. Die szenische Makrostruktur von Hagemanns Idealem Gatten stammt weitgehend von Jeßner, die Textsubstanz von Pavia/Teschenberg.

b. Eine Frau ohne Bedeutung Hagemann inszenierte das Stück in der Spielzeit 1910/11, also in den ersten Monaten seiner Hamburger Intendantentätigkeit.9 Seine 1947 erschienene Textfassung zeigt, daß er sich auch hier wieder eng an Pavia/Teschenbergs Fassung anlehnt, in wenigen Fällen jedoch auch Einzelstellen aus Grevés Übersetzung in der Wiener Ausgabe von 1908 übernimmt. Ob er bei seiner Bearbeitung auch - wie im Falle von Ein idealer Gatte und Bunbury - die Regiefassung eines Vorgängers zur Verfügung hatte, läßt sich nicht belegen, da beispielsweise das Regiebuch Vallentins, der das Stück zuvor schon zweimal inszeniert hatte,10 nicht erhalten ist. Hagemanns Bearbeitung galt vor allem dem - wie er im Vorwort schreibt - »dramatischen Rührbrei«:11 Er kürzte radikal alle als »sentimental« empfundenen Partien. So schnurrt etwa Mrs. Arbuthnots bei Wilde rund 600 Wörter umfassender Monolog im 4. Akt auf ganze 38 Wörter zusammen,12 wodurch die psychologische Motivierung der Mutter-Sohn-Bindung weitgehend verlorengeht. Neben der Tendenz zur entemotionalisierenden Raffung beschneidet Hagemann die Dialogpassagen der Nebenfiguren so stark, daß diese ihre satirische Charak9

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Hagemann benutzte die Pavia/Teschenbergsche Buchausgabe für die Herstellung seines Regiebuchs. Das Regiebuch der Hamburger Inszenierung, dessen Textfassung der späteren Buchausgabe entspricht, befindet sich im Besitz seines Nachlaßverwalters Dr. Jürgen Bengsch. Es ist undatiert (briefliche Auskunft von Dr. Bengsch, 29.8.1993). Deutsche Erstaufführung in Berlin, Neues Theater 4.9.1903; Wien, Deutsches Volkstheater, Februar 1907. Hagemann, »Wildes Komödien«, S. 9. Hagemann, Frau, S. 147.

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terisierung verlieren. So schrumpft Wildes vollmundig moralisierender Parlamentarier Kelvil bei Hagemann zu einer blassen Randfigur. Andererseits erweitert Hagemann das Repertoire der aphoristischen Glanzstellen durch Transplantate aus dem Dorian Gray. Die mangelnde Originalität der Hagemannschen Bearbeitungsmethode erhellt zum Beispiel daraus, daß er am Ende des 3. Aktes der Frau ohne Bedeutung noch einmal Jeßners oben erwähnten Regieeinfall aufgreift, wenn auch mit umgekehrtem Vorzeichen. Analog zu Jeßners »Canaille. Aber talentvoll« sagt bei Hagemann Lord Illingworth, der abgehenden Mrs. Arbuthnot nachblickend: »Sie ist eine gute Frau, aber talentlos - völlig talentlos!«13 Auch im Falle von Hagemanns Bearbeitung von Eine Frau ohne Bedeutung gilt also, daß Hagemanns Text ein ausgesprochenes Derivat darstellt, eine flinke Bastelarbeit, die im wesentlichen Pavia/Teschenbergs Text in drastisch gekürzter Form darbietet, gelegentlich retuschiert durch Übernahmen aus Grevés Übersetzung.

c. Lady Windermeres Fächer Hagemann inszenierte das Stück in eigener Bearbeitung in Hamburg (2.10. 1912) und in Mannheim (24.11.1917). 14 Über seine Bearbeitung schreibt er selbst: Ich habe das Stück fast um ein Drittel seines Umfangs gekürzt und dabei die rührseligen Stellen, die gerade hier in einer für unseren Geschmack peinlichen Weise vorherrschen, besonders rücksichtslos getroffen. In erster Linie also die Szene zwischen Mutter und Tochter im vierten und noch mehr im dritten Akt, wo die große Auseinandersetzung zwischen den beiden Frauen aller moralischsentimentalischen Tiraden entkleidet und ohne melodramatischen Schwulst zum Kern hin verdichtet wurde. Während ich in >Bunbury< eine ganze Figur streichen konnte, mußte ich in >Lady Windermeres Fachen eine neue Figur hinzufügen. Wilde hat nämlich in der Eile vergessen, im dritten Akt einen Diener auftreten zu lassen. Nach seiner Anweisung soll Lady Windermere beim Aufgehen des Vorhangs im Zimmer Darlingtons am Kamin stehen [...]. Wer hat sie [...] eingelassen? Natürlich der Kammerdiener Darlingtons, der nach englischer Sitte nie schlafen geht, bevor der Herr zu Hause ist Eine solche Figur darf hier also zur Verdeutlichung der Situation nicht

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Hagemann, Frau, S. 141. Hagemanns Regiebuch der Hamburger und Mannheimer Inszenierung befindet sich im Besitz seines Nachlaßverwalters Dr. Jürgen Bengsch. Es ist 1912 im Verlag des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg gedruckt worden und trägt einen handschriftlichen Vermerk Hagemanns: »Inszenierung des Naüonaltheaters in Mannheim, Spielzeit 1917/18« (briefliche Auskunft von Dr. Bengsch, 29.8.1993).

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fehlen. Ich gab ihr zwei kurze, aber prägnante Szenen: eine mit Lady Windermere, eine andere mit Mrs. Erlynne.15

Was den eigentlichen Text des Stückes betrifft, so hält sich Hagemann diesmal nicht so vorrangig an Pavia/Teschenberg, sondern ebenso stark auch an Alfred Briegers Text in der Wiener Ausgabe von 1908: Hagemanns Text ist zum Teil im Reißverschlußverfahren aus diesen beiden Quellen zusammengesetzt, zum Teil ist er aber auch von Hagemanns eigener Formulierungsarbeit und Inszenierungskonzeption stärker geprägt als die beiden oben besprochenen Stücke. Deutlich ist Hagemanns Bestreben, den Text durch situationsbezogene Anreden (»Denken Sie!«) und Gesten (»bis hier«) und durch affektbestimmten Satzbau (»Die ganze verfluchte Sache...«) zu dynamisieren. Hagemann scheint - so paradox dies angesichts seines doppelten Entlehnungsverfahrens klingt - in die Bearbeitung von Lady Windermeres Fächer deutlich mehr eigene Arbeit investiert zu haben als bei seinen früheren Bearbeitungen. Dies ist vielleicht gerade dadurch zu erklären, daß er bei der Herstellung seines Textes sowohl Pavia/Teschenbergs als auch Briegers Text vergleichend zu Rate ziehen konnte. Da er von der rein stilistischen Formulierungsarbeit weitgehend entlastet war und eben immer nur den >besseren< der zwei Übersetzungsvorschläge zu übernehmen brauchte, konnte er sich stärker auf den theatralischen Aspekt des Textes konzentrieren. Das Fazit aus diesem kurzen Überblick über Hagemanns Fassungen von Wildes drei ersten Gesellschaftskomödien ist eindeutig: Von »eigenen« Übersetzungen kann keine Rede sein, und auch von »eigenen« Bearbeitungen wohl nur sehr bedingt. Das war Hagemann zur Zeit der Aufführungen auch noch bewußt. Denn erst in seinem Wilde-Buch von 1925 bzw. in der posthumen Einleitung seiner Komödienausgabe von 1947, also im Rückblick, taucht die kühne Behauptung auf: »Ich habe sämtliche Komödien Wildes in eigenen Übersetzungen und Bearbeitungen aufgeführt und, wohl gerade des dabei beobachteten Radikalismus wegen, mit sehr großem Erfolg. In Mannheim, Hamburg und Wiesbaden.«16 Die Mannheimer, Hamburger und Wiesbadener Inszenierungen Hagemanns auf der Basis seiner angeblich »eigenen Übersetzungen und Bearbeitungen« wurden jedenfalls auf den jeweiligen Theaterzetteln17 - mit der bedeutsamen Ausnahme von Bunbury, worüber weiter unten berichtet wird niemals als Hagemanns eigene Bearbeitungen bezeichnet bzw. ausgegeben. Vielmehr steht da immer der Name Pavia/Teschenbergs oder - ζ. B. bei der

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Hagemann, »Wildes Komödien«, S. 17. Hagemann, »Wildes Komödien«, S. 15. Vgl. die Theaterzettel im Stadtarchiv sowie im Reiß-Museum der Stadt Mannheim, im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden und in der Theatersammlung der Hamburger Universität.

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Mannheimer Inszenierung von Der Fächer am 24.11.1917 - gar kein Übersetzer· oder Bearbeitername. Durch Bescheidenheit läßt sich diese Unterlassung sicher nicht erklären, sondern wohl eher durch Hagemanns Bewußtsein, daß seine oberflächlichen Retuschen an Pavia/Teschenbergs Text - vielleicht abgesehen von der dramaturgischen Überarbeitung von Lady Windermeres Fächer kaum den Anspruch einer eigenständigen Bearbeitung, geschweige denn Übersetzung rechtfertigten. Die Buchausgabe der vier Komödienfassungen Hagemanns von 1947 und 1960, eingeleitet mit Hagemanns forschem Originalitätsanspruch, etablierte dann zu Unrecht Hagemanns Texte als selbständige »Übersetzungen und Bearbeitungen«. Die Folge war, daß Hagemanns Textderivate jetzt nicht nur immer wieder, wenn auch vor allem in der Provinz, unter seinem Namen gespielt wurden, sondern daß sie von späteren Bearbeitern zur Grundlage ihrer eigenen Bühnenfassungen gemacht wurden. So hat Hagemanns Ein idealer Gatte deutliche Spuren hinterlassen in Gerhard Metzners Fassung des Stücks,18 die wiederum Meyen19 und Sakmann20 beeinflußte; Hagemanns Bearbeitung von Lady Windermeres Fächer wurde im Dezember 1937 in einer »Bearbeitung von Carl Hagemann und Hans Weißbach« im Hamburger Thalia-Theater gespielt21 und beeinflußte nach dem Krieg Metzners22 und Werneckes23 Fassung des Stücks.

2 Vallentins Regiebuch und Hagemanns Bunbury Wildes Bunbury wurde von Hagemann 1907/08 in Mannheim und 1911/12 in Hamburg inszeniert; auf dem Theaterzettel der Mannheimer Premiere (9.9. 1907) wird Teschenberg als Übersetzer genannt, auf dem der Hamburger Premiere (10.2.1912) steht kein Übersetzer- oder Bearbeitername. Während seiner zweiten Mannheimer Intendantenzeit (1915-1920) ließ Hagemann das Stück erneut in Mannheim aufführen, diesmal unter dem Titel Ernst und mit der

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Oscar Wilde, Ein idealer Gatte. Komödie in 4 Akten. Neuübertragung und Bearbeitung von Gerhard Metzner, München, Wien, Basel o. J. (1948) (Bühnenmanuskript). Oscar Wilde, Ein idealer Gatte. Bearbeitung und Übersetzung von Harry Meyen, Berlin 1961 (Bühnenmanuskript). Oscar Wilde, Ein idealer Gatte. Komödie. Bearbeitung von Bertold Sakmann, München o.J. (wahrscheinlich 1965) (Bühnenmanuskript). Vgl. den Theaterzettel und die Theaterkritiken vom 29.12.1937 im Hamburger Theaterarchiv. Oscar Wilde, Lady Windermeres Fächer (Lady Windermere's Fan). Komödie in vier Akten. Deutsche Fassung von Gerhard Metzner, München, Wien, Basel o.J. (1949) (Bühnenmanuskript). Lady Windermeres Fächer. Komödie in 4 Akten. Deutsch von Else Wemecke, Wiesbaden o.J. (1950) (Bühnenmanuskript).

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Angabe versehen: »Bearbeitet von Carl Hagemann« (Premiere am 15.12. 1919).24 Trotz dieser unterschiedlichen Quellenangaben beruhen die drei Inszenierungen jedoch, von minimalen Änderungen abgesehen, auf demselben Text. In seinem Wilde-Buch von 1925 bzw. in der Einleitung der Komödienausgabe von 1947 geht Hagemann besonders ausführlich auf »seine« Bearbeitung von Bunbury ein, als habe er sich in diesem Fall besondere Mühe geben müssen, um aus Wildes »schludrig gemachtem Stück« eine erfolgreiche Komödie zu machen: Am ergiebigsten erweist sich die Bearbeitung von Bunbury. Das besonders leichtfertig angelegte und schludrig gemachte Stück wird durch eine straffere dramaturgische Führung des Ganzen und durch kräftiges Zusammenstreichen der hier besonders ausladenden Dialoge zu der amüsantesten und theatralisch wirksamsten aller Wildeschen Komödien. [...] Ich habe zunächst aus der vieraktigen ein dreiaktiges Stück gemacht. Der erste Akt bleibt, wie er ist, spielt in Algys Londoner Wohnung und bringt die Exposition. Die drei anderen, im Gegensatz dazu auf dem Lande angesiedelten Akte sind kurzerhand zu zwei Akten zusammengezogen [...]. Im zweiten Akt des Originals werden die letzten Zeilen der elften Szene und die ganze zwölfte Szene gestrichen. Der zweite Akt der Bearbeitung endet dann mit dem dritten Akt des Originals. Nur wurde der recht matte Aktschluß durch eine Art Boxkampf-Parodie zwischen den beiden Freunden bedeutend wirksamer gestaltet. [...] Ganz weggestrichen habe ich in Bunbury die Figur des Advokaten Cribsby. Sie ist ganz und gar überflüssig und hält die eigentliche Komödienhandlung nur auf. [...] Von den übrigen Figuren ist vor allem der Pfarrer Dr. Chasuble auf das zureichende Maß einer Komödienfigur zurückgeführt. Auch die besonders ausgefallene Paradoxe von sich gebende Lady Brancaster steht in der Bearbeitung nicht so im Vordergrunde wie im Original. Überhaupt wurde der Dialog bedeutend gekürzt. Namentlich im letzten Akt, wo der Dichter bei der Abhandlung über den Taufnamen von Jacks Vater kein Ende finden kann und damit die Schlußwirkung des ganzen Stückes gefährdet.25 Was Hagemann hier so prononciert als eigene Regietat anpreist und rechtfertigt, ist jedoch - abgesehen von dem fragwürdigen Einfall mit dem Boxkampf der beiden Dandies - nichts als eine Beschreibung von Richard Vallentins Wiener Regiefassung aus dem Jahre 1905. Vergleicht man nämlich Hagemanns Buchausgabe von 1947 mit Vallentins Regiebuch, so erweist sich Hagemanns Bearbeitung als Plagiat im heutigen Sinn des Wortes. Hagemann hat von Anfang bis Ende nicht nur Vallentins Striche, sondern auch seine zahlreichen handschriftlichen Randbemerkungen, Hinzufügungen und Formulierungsände-

24

25

Alle hier aufgeführten Theaterzettel sind in den oben genannten Mannheimer und Hamburger Archiven aufbewahrt. Hagemann, »Wildes Komödien«, S. 15 f. 253

rangen übernommen: Makro- und Mikrostruktur der unter Hagemanns Namen gespielten und veröffentlichten Bunbury-Beaibeitung sind zu mindestens 90 Prozent mit Vallentins Text identisch, angefangen vom Dialog zwischen Algy und Lane bis zu Miss Prisms Kniefall und Ausruf »Friedrich!« Es läßt sich sogar die genaue Genese des Plagiats nachzeichnen, da im Hamburger Theaterarchiv Hagemanns sorgfältig ausgearbeitetes, eigenhändig hergestelltes und signiertes Regiebuch erhalten ist, das sowohl der Mannheimer wie der Hamburger Inszenierung zugrundelag.26 Es handelt sich um ein durchschossenes Exemplar der Teschenbergschen Buchausgabe von 1903 mit zahlreichen Skizzen und handschriftlichen Einträgen. Darüber hinaus sind im Mannheimer Theaterarchiv zwei weitere Inspizienten- oder Souffleurbücher von 1907 erhalten. Im Regiebuch wie in den beiden Textbüchern ist der Text jeweils entsprechend der Vallentinschen Überarbeitung handschriftlich durchkorrigiert.27 Die Identität der Handschrift bei den von Vallentin stammenden Textkorrekturen beweist, daß der Bühnenverlag selbst die Kopien der dreiaktigen Fassung Vallentins in dieser Art vervielfältigte und an die interessierten Bühnen verschickte. Aus Hagemanns Regiebuch geht außerdem zweifelsfrei hervor, daß er über eine Kopie des vollständigen, d. h. mit Skizzen und Randbemerkungen versehenen, Regiebuchs Vallentins verfügt haben muß. Denn nicht nur Hagemanns Text basiert auf Vallentins Korrekturen, sondern auch die von Hagemann eigenhändig eingezeichneten Skizzen sind Vallentins Regiebuch nachgezeichnet. Wie waren derlei Übernahmen ganzer Regiekonzeptionen technisch möglich? In seinem in 2. Auflage 1904 erschienen Buch Regie. Die Kunst der szenischen Darstellung behandelt Hagemann selbst das Thema der Übernahme vorgängiger Regiekonzepte: Wenn der Direktor selbst nicht reisen und auch seinen Regisseur nicht zur Uraufführung entsenden kann, so sind fertig ausgearbeitete Regiebücher [...] leicht zu beziehen. Auch gibt es ein Fachblatt >Der Regisseur·«, wo die Bühnenpläne aller erfolgreichen neuen Stücke des hauptstädtischen Theatermaiktes zu erscheinen pflegen. Die einzige Leistung besteht also für den Provinz-Regisseur darin, dass er versuchen muss, mit den vorhandenen Mitteln seines Fundus den Berliner Bühnenbildnern möglichst nahe zu kommen. 2 8

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28

Auf der ersten Seite steht der Vermerk »Mannheim, 1907/08« und »Hamburg, 10.2. 1912«. Beim Personenverzeichnis ist in Hagemanns Handschrift die Mannheimer und Hamburger Besetzung links bzw. rechts danebengeschrieben. Auf der letzten Seite steht »Mannheim, 3. Juli 1907« (S. 115). Hagemanns eigene handschriftlichen Hinzufügungen sind von den Verlagskorrekturen deutlich zu unterscheiden. Hagemann, Regie, S. 57 f. - Hagemann hatte vermutlich nicht das Gefühl, ein Plagiat zu begehen: Er hielt Wildes Stücke für »Schwankfutter«, d. h. Unterhaltungswerke ohne eigenen Originalitätsanspruch. Den eigentlichen Schwerpunkt seiner Arbeit sah er wohl

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Wie genau Hagemann sich an Vallentíns Textänderungen hielt, soll wenigstens an einer Passage demonstriert werden. In Teschenbergs vieraktiger Fassung kündigt Miss Prism ihre Stellung, sobald sich Jacks wahre Identität herausgestellt hat: Miss PRISM. ES ist meine Pflicht zu gehen. Ich kann die liebe Cecily nichts mehr lehren. In der so sehr schwierigen Ausbildung, sich zu verheiraten, hat, wie ich fürchte meine liebe und geschickte Schülerin ihre Lehrerin weit übertroffen. DR. CHASUBLE. Einen Augenblick - Laetitia! Miss PRISM. Doktor Chasuble! DR. CHASUBLE. Laetitia! Ich bin zur Einsicht gelangt, daß die Urkirche in gewissen Punkten inte. Falsche Lesarten scheinen sich in den Text eingeschlichen zu haben. Ich erbitte mir die Ehre, um Ihre Hand anhalten zu dürfen. Miss PRISM. Friedrich, in diesem Augenblicke fehlen mir die Woite, meine Gefühle auszudrücken.29 In Vallentins Wiener Regiebuch wird dieser Text vor allem durch eine handschriftlich eingefügte Rede Chasubles, die als »Ext.« (= Extempore) gekennzeichnet ist, erweitert, so daß sich Vallentins Regiefassung folgendermaßen liest: Miss PRISM. ES ist meine Pflicht zu gehen. Ich kann die liebe Cecily nichts mehr lehren. In der so schwierigen Aufgabe, sich zu verheiraten, hat meine liebe und geschickte Schülerin ihre Lehrerin weit übertreffen. DR. CHASUBLE (stürzt vor). Einen Augenblick - Laetitia! Miss PRISM. Doktor Chasuble! Ext. DR. CHASUBLE. Laetitia! Das Gespräch brachte hier eben ein Baby zur Welt, welches mich sehr betrübte. Glücklicherweise entwickelte sich dieses späterhin in einen 3 bändigen Roman, der mich sehr beglückte und der mir den Glauben an die Menschheit wieder gab. - Und wie sprach doch der Herr? - »Dein Glaube sei der Fels, auf dem ich meine Kirche baue. - Laetitia! Wollen Sie sein der Fels auf dem ich — (bricht ab) In strahlender Reinheit steht wieder Ihre unbefleckte Jugend vor meinen geistigen Augen und so bitte ich um die Ehre, um Ihre Hand anhalten zu dürfen. MISS PRISM. Friedrich, in diesem Augenblicke fehlen mir die Worte, meine Gefühle auszudrücken.30

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in seinen Shakespeare- und Wagner-Inszenierungen. Hagemann hatte zwar eine ungeheure Arbeitsenergie, war aber als Schriftsteller (46 »eigene Werke« laut Bengsch, Hagemann, S. 139 f.) und Intendant, Regisseur, Dramaturg bei teilweise über zwanzig Theater- und Musiktheater-Inszenierungen pro Spielzeit schlicht überfordert. Teschenberg, Ernst, S. 110. Tesch./Vall., Ernst, S. 110 (Kursivdruck im Original als Unterstreichung). 255

In Hagemanns Regiebuch von 1907, das der Buchausgabe von 1947 zugrundegelegt wurde, lautet die Passage folgendermaßen:31 Miss PRISM. (Mr. Montford!) Es ist meine Pflicht zu gehen. Ich kann die liebe Cecily nichts mehr lehren. In der so schwierigen (schweren) Kunst, sich zu verheiraten, hat meine liebe (und geschickte) Schülerin ihre Lehrerin weit übertroffen. DOKTOR CHASUBLE. Einen Augenblick! Laetitia! (Kommt vor) (ohne Regieanweisung) Miss PRISM. Doktor Chasuble!(?) DOKTOR CHASUBLE. Laetitia! Das Gespräch brachte eben ein Baby zur Welt, das mich sehr betrübte. Glücklicherweise entwickelte (verwandelte) sich dieses Baby in einen dreibändigen Roman, der mich sehr beglückte und der mir den Glauben an die Menschheit wiedergab. Und wie sprach doch der Herr? »Dein Glaube sei der Fels, auf den ich meine Kirche baue.« - Laetitia! Wollen Sie der Fels sein, auf dem {den) ich (bricht ab) ((Er bricht ab und fährt nach einer kleinen Pause begeistert fort:)) In strahlender Reinheit steht wieder Ihre unbefleckte Jugend vor meinen geistigen Augen, und so bitte ich um die Ehre, um Ihre Hand anhalten zu dürfen. Miss PRISM. Friedrich, in (! In) diesem Augenblick fehlen mir die Worte, meine Gefühle auszudrücken.32 Hagemann beschränkt sich auf minimale Änderungen: die Hinzufügung von Ausrufezeichen, stilistische Normalisierungen und Modernisierungen (»schwere Kunst«, »verwandelte sich in«, »der Fels sein«). Ansonsten übernimmt er hier Vallentins Text bis aufs i-Tüpfelchen.

3 Zu Hagemanns Bearbeitungskonzeption Angesichts der plagiatorischen Abhängigkeit des Hagemannschen Textes von Vallentins Regiebuch mag es müßig erscheinen, nach einem eigenen Bearbeitungskonzept Hagemanns zu fahnden. Da Hagemanns Text sich jedoch in zahlreichen Formulierungen von dem Vallentins unterscheidet, ist es dennoch angebracht, einen Versuch zu machen, diese Unterschiede zu systematisieren und nach der dahinterstehenden Konzeption zu fragen. Immerhin war es auch Blei/ Zeiß gelungen, mit geringem eigenem Aufwand aus Teschenbergs Text einen relativ eleganten Bühnentext zu machen. Hagemann hat einmal den Vallentinschen Text geringfügig erweitert. Er restituiert gelegentlich Stellen aus Teschenberg, die Vallentin gestrichen hat-

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Die geringfügigen Abweichungen der Buchausgabe 1947 vom Regiebuch sind in spitzen Klammem angegeben; Original-Hervorhebungen als Unterstreichung. Hagemann, Bunbury, Regiebuch 1907, S. 110 f.; Hagemann, Bunbury, S. 305 f.

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te;33 in einigen wenigen Fällen scheint er auch Greves Übersetzung in der Wiener Ausgabe von 1908 konsultiert zu haben;34 gelegentlich fügt er auch - wie schon in seinen früheren Bearbeitungen - Aphorismen aus Dorian Gray in den Text ein.35 Diese wenigen Texterweiterungen gegenüber Vallentin wirken sich weder auf die Struktur noch auf die Textlänge wesentlich aus. Nach einem handschriftlichen Eintrag im Mannheimer Inspizientenbuch von 1907 dauerten die drei Akte jeweils 30, 45 und 28 Minuten, das Stück insgesamt also nicht ganz eindreiviertel Stunden; ein Eintrag in Hagemanns Regiebuch nennt für die Hamburger Aufführung 39, 52 und 26 Minuten, also knapp zwei Stunden. Eine Art eigene Konzeption Hagemanns läßt sich dagegen eher aus seinen eigenen Zusätzen und Umformulierungen erkennen, obwohl auch diese Änderungen meist nur Fortschreibungen der bereits bei Vallentin angelegten Tendenzen sind. Am auffälligsten ist dabei Hagemanns Streben nach sprachlichem Realismus, wobei er ausgiebigen Gebrauch von typisch deutschen Floskeln umgangssprachlicher Konversation macht. Um die Wildeschen Dialoge spontansprachlicher und realistischer zu machen, durchsetzt er sie - hier zitiert nach der Buchausgabe von 194736 - mit Wendungen wie: »Also höre«, »Entschuldige«, »So - jetzt bist du im Bilde«, »Meinetwegen!«, »Im Gegenteil«, »Aber ja doch!« usw.37 Dadurch entsteht einerseits ein flinker und natürlich klingender Dialogstil, der sich von den Schauspielern ohne ästhetische Anstrengung heruntersprechen läßt; andererseits scheint der parataktische Staccato-Stil eine kurzatmige Sprechweise zu begünstigen oder gar zu fordern, die kaum noch an Mides elegant-aphoristische Rhetorik erinnert. Man vergleiche Vallentins mit Hagemanns Fassung: GWENDOLEN (sich setzend). Dann ist alles in Ordnung, nicht? CECILY. Ich hoffe es. (Eine Pause.) GWENDOLEN. Vielleicht ist dies eine gute Gelegenheit, Ihnen zu sagen, wer ich bin. Mein Vater ist Lord

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37

GWENDOLEN (setzt sich). Das wäre das. Und jetzt muß ich Ihnen wohl sagen, wer ich bin. CECILY (setzt sich auch). Wenn ich bitten darf. GWENDOLEN. Mein Vater ist Lord

Z.B. Hagemann, Bunbury, S. 248, 255 u.ö. Hagemann, Bunbury, S. 256, 261, 279, 280, 299, 302. Z. B. Hagemann, Bunbury, S. 254, 255. In Hagemamis Regiebuch, das - als durchschossenes Exemplar der Teschenbergschen Buchausgabe, in das Vallentins Änderungen bereits eingetragen waren - an das Teschenberg/Vallentinsche Schriftbild gebunden blieb, fehlen einige dieser Floskeln. Andererseits finden sich dort auch wieder andere, ähnliche Floskeln, die Hagemann in der Druckfassung dann weglieB. Die sprachstilisüsche Tendenz Hagemanns ist jedenfalls im Regiebuch von 1907 und in der späteren Buchausgabe die gleiche. Hagemann, Bunbury, S. 246, 247, 248, 252, 253.

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Brancaster. Sie haben wohl nie von Papa gehört? CECILY. Ich glaube nicht. GWENDOLEN. Außerhalb des Familienkreises ist Papa völlig unbekannt. Mama, deren Ansichten über Erziehung außerordentlich streng sind, hat mich dazu erzogen, höchst kurzsichtig zu sein; das ist ein Teil ihres Systems; haben Sie etwas dagegen, wenn ich Sie durch mein Glas ansehe?38

Brancaster. Sie haben wohl nie von Papa gehört? CECILY. Ich glaube nicht. GWENDOLEN.

Das

konnte

ich

mir

denken. Außerhalb des Familienkreises ist Papa völlig unbekannt. Mit Mama ist das etwas anderes. Ihre Ansichten sind außerordentlich streng. Sie hat mich dazu erzogen, höchst kurzsichtig zu sein. Das gehört zu ihrem System. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Sie durch mein Glas ansehe?39

Hagemann ersetzt den gehobenen Sprachstil, der bei Vallentin gelegentlich noch Übriggeblieben war, durch anspruchslosen, floskelreichen Plauderton. Gwendolens Ausführungen sind in minimale Sinneinheiten zerhackt, eventuell weil Hagemann Gwendolen als schnippisch und trivial kennzeichnen will, vielleicht auch weil er das Hörverständnis der Zuhörer nicht strapazieren wollte. Das Ergebnis ist ein geschwätziger, tautologischer Dialog ohne signifikante Pausen, ohne rhythmische und semantische Spannung. Da alles in kleine, überwiegend parataktische Sinneinheiten zerlegt ist und gleichsam häppchenweise vorgetragen wird, wirkt der Text flach und witzlos und bietet aufgrund des pausenlosen Wortschwalls auch kaum noch Lücken und Anreize für nonverbales Spiel bzw. interpretative Phantasie der Zuschauer. Das Streben nach alltags sprachlichem Realismus der Dialoge, nach verbaler Ausformulierung, Verdeutlichung und Vergröberung läßt sich bei allen Figuren zeigen, am deutlichsten wohl bei Lady Brancaster. Man vergleiche: LADY BRANCASTER. In die L u f t ge-

LADY BRANCASTER. In die L u f t ge-

flogen? Wurde er das Opfer eines revolutionären Attentates? Ich wußte nicht, daß Mr. Bunbury sich für soziale Gesetzgebung interessierte. Wenn er es that, so ist er dafür geziemend bestraft worden.

flogen? So, so. Als Opfer eines revolutionären Attentats vermutlich. Wie überaus peinlich! Ich wußte nicht, daß Mr. Bunbury sich für soziale Gesetzgebung interessierte. Wenn er tot ist, ist er geziemend dafür bestraft worden. ALGY. Du irrst, Tante Auguste. Die Ärzte meinten, daß Bunbury nicht mehr leben könnte, und so starb Bunbury.

ALGY. Meine liebe Tante Augusta, ich meine er wurde entlarvt. Die Ärzte entdeckten, daß Bunbury nicht mehr leben könne; und so starb Bunbury.

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Tesch./Vall„ Ernst, S. 76 f.

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Hagemann, Bunbury, Regiebuch 1907, S. 76 f.; Hagemann, Bunbury, S. 282 f.

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Er scheint zu seinen Ärzten großes Vertrauen gehabt zu haben. Trotzdem freut es mich, daß er sich endlich zu einer That definitiv entschloß. Jetzt aber, da wir Mr. Bunbury begraben haben, darf ich wohl fragen, Mr. Worthing, wer die junge Dame ist, deren Hand mein Neffe Algernon gerade in dieser eigentümlichen Weise hält?40

LADY BRANCASTER.

Er scheint zu seinen Ärzten großes Vertrauen gehabt zu haben. Trotzdem freut es mich, daß er sich endlich zu einer Tat entschlossen hat Solche Männer haben meine volle Sympathie. Doch jetzt zu etwas anderem. Nachdem wir Mr. Bunbury begraben haben, darf ich wohl fragen, Mr. Worthing, wer die junge Dame ist, deren Hand mein Neffe Algernon in dieser eigentümlichen Weise hält?41

LADY BRANCASTER.

Durch die Zwischenschaltung banaler Floskelsätze (»So, so.«, »Wie überaus peinlich!«, »Doch jetzt zu etwas anderem.«) verliert Lady Brancaster erheblich an rhetorischer Höhe: Aus ihrem erhabenen wind ein schlichter Stil. Daneben zeigt sich hier Hagemanns Tendenz zum verbalen Ausformulieren der - bei Wilde und Vallentin eher zu erratenden - emotionalen Prämissen von Lady Brancasters Äußerungen (»Als Opfer eines revolutionären Attentats vermutlich.«, »Solche Männer haben meine volle Sympathie.«), wodurch eben die Möglichkeiten der nonverbalen Veranschaulichung dieser ideologisch besetzten Charakterzüge Lady Brancasters reduziert werden. Hagemann verflacht und enttheatralisiert den Text, indem er gewissermaßen alles sagt, indem er immer wieder >Subtext< in laut gesprochenen Text verwandelt: Der Text läßt kaum noch Lücken für pantomimisches Spiel, da Psychisches, Konnotatives, Stimmungshaftes an die verbale Oberfläche verlagert wird. Die Anreicherung des Textes laugt die Figur aus; es entsteht Geschwätzigkeit. Hagemanns vergröbernder Komödienstil ist auch durch seine häufige Verwendung von verbaler Wiederholungskomik bedingt, worin ihm Vallentin allerdings schon ein Stück weit vorangegangen war. Typisch für Hagemanns Übernahme und vergröbernde Fortsetzung einer dramaturgischen Idee ist folgende Passage, die von Teschenberg über Vallentin bis zu Hagemann die schrittweise Boulevardisierung des Wildeschen Textes erkennen läßt: (auftretend). Ich habe Mr. Ernst's Sachen in das Zimmer neben dem Ihrigen, Mr. Worthing, gebracht. Ich veimute, daß es so recht ist

MERRIMAN

JACK. Was? MERRIMAN.

Mr. Ernst's Gepäck, Mr. Worthing! [...] JACK. Sein Gepäck?

40 41

Tesch./Vall„ Ernst, S. 95. Hagemann, Bunbury, S. 296; Hagemann, Bunbury, Regiebuch 1907, S. 95 minimal

verschieden. 259

MERRIMAN. Jawohl, Mr. Worthing. Drei Mantelsäcke, einen Kleidelkoffer, zwei Hutschachteln und einen großen Eßkorb. ALGY. Ich fürchte, ich kann diesmal nicht länger als eine Woche bleiben.42 MERRIMAN (kommt links auftretend vor). Ich habe Mr. Ernst's Sachen in das Zimmer neben dem Ihrigen gebracht, Mr. Worthing. Hoffentlich ist es so recht. JACK. Was? MERRIMAN. Mr. Ernst's Gepäck! [...] JACK. Sein Gepäck? MERRIMAN. Jawohl, Mr. Worthing. Drei Mantelsäcke, einen Kleiderkoffer, zwei Hutschachteln und einen großen Eßkorb. ALGY. Ich fürchte, ich kann diesmal nicht länger als eine Woche bleiben. JACK. Eine Woche? ALGY. Ja, eine Woche!43

MERRIMAN (kommt aus dem Hause). Ich habe Mr. Emsts Sachen in das Zimmer neben dem Ihrigen gebracht, Mr. Worthing. Hoffentlich ist es so recht? JACK. Sachen? Was für Sachen? MERRIMAN. MR. Emsts Gepäck. Ich habe es bereits ausgepackt. JACK. Sein Gepäck? MERRIMAN. Jawohl, Mr. Worthing. Drei Mantelsäcke, einen Schrankkoffer, zwei Hutschachteln, mehrere Reisetaschen und einen Eßkorb. JACK. Einen Eßkorb? ALGY. Leider kann ich diesmal nicht länger als eine Woche hier bleiben, Bruder. JACK. Eine Woche? ALGY. Ja - eine Woche.44

Während bei Wilde und Teschenberg die Wiederholungskomik einmal, bei Vallentin zweimal eingesetzt wird, arbeitet Hagemann gleich viermal hintereinander - das erste Mal sogar mit sofortiger Verdoppelung (»Sachen? Was für Sachen?«) - mit dem Trick der Mechanismus-Komik: Hagemann hat eine Tendenz, gute Ideen totzureiten. So ergibt sich insgesamt das Fazit, daß Hagemann Vallentins Regiebuch plagiierend übernimmt und durch eigene sprachliche Umformulierungen und Zusätze die bei Vallentin angelegten Tendenzen fortschreibt und vergröbert: - er senkt die Stilebene weiter in Richtung Alltagssprache; - er normalisiert die Sprechweise aller Figuren in Richtung auf ein kurzatmiges, floskelhaftes Alltagsdeutsch, das den individuellen Sprachgestus der Figuren zudeckt; - er enttheatralisiert zum Teil die Dialoge, indem er den Subtext der Figuren verbalisiert; - er boulevardisiert das Stück, indem er die klamottenhaften Wiederholungsmechanismen verstärkt; 42 43 44

Teschenberg, Ernst, S. 53. Tesch./Vall„ Ernst, S. 53. Hagemann, Bunbury, S. 273; Hagemann, Bunbury, Regiebuch 1907, S. 53 minimal anders.

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- er macht - im Gegensatz zu Blei/Zeiß - keinen Versuch, dem Text einen Teil der ästhetischen Eleganz des Originals zurückzugeben. Symptomatisch für Hagemanns vergröberndes Bearbeitungskonzept ist die Idee mit dem Boxkampf der Dandies am Ende des zweiten Aktes. Die ursprüngliche Idee für einen etwas dynamischeren Schluß des 2. Aktes stammt von Vallentin. Bei Vallentin endete der Akt mit einer komischen Jagd um den Tisch, wobei Algernon mit der Muffinschüssel vor Jack davonläuft. Hagemann übernimmt von Vallentin das Um-den-Tisch-Herumlaufen, legt das Ganze aber auf den >Knalleffekt< eines K. o.-Schlags an:45 JACK (zieht wütend seinen Sakko aus und dringt in Boxerstellung auf Algy ein, der mit vollem Munde vor ihm weg um den Tisch herumläuft). Na warte! Wehr' dich, Feigling! (Algy zieht ebenfalls seinen Sakko aus und wirft ihn über eine Stuhllehne. Beide nehmen Servietten vom Tisch und wickeln sie sich, als Boxelhandschuhe, um die rechte Faust. Es entspinnt sich mitten auf dem Rasen ein Boxkampf, in dem Algy Sieger bleibt. Jack mu6 zu Boden und wird von Algy »ausgezählt«. Während des Auszählens fällt der Vorhang).46 Hagemann bietet in seiner vergröbernden Bearbeitung das Wildesche Stück als eben jenes »Schwankfutter«47 an, als das er - in einer self-fulfilling prophecy besonders wörtlicher Art (da er selbst seine Diagnose in die Tat umsetzte) die Stücke bereits in seinem ersten Wilde-Buch von 1904 bezeichnet hatte.

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Die Idee mit dem Boxkampf der Dandies wurde von Hagemann vielleicht erst für die geplante Buchveröffentlichung des Textes voll ausgebaut. Laut Mannheimer und Hamburger Regiebuch soll der Vorhang fallen, während Jack »boxend« hinter Algernon herläuft (Hagemann, Bunbury, Regiebuch 1907, S. 90, Blatteinlage). Der 1947 erschienene Text ist im Regiebuch S. 90 unten in Hagemanns späterer, viel flüchtigerer Handschrift eingetragen. Es ist also durchaus möglich, daß Hagemann die Boxkampfidee von anderswo übernommen hat: zum Beispiel von Romberg, der in seiner burlesken Burgtheater-Inszenierung von 1920 (siehe oben S. 272) auf der Basis eines aus Teschenberg, Greve und eigenen Zusätzen bestehenden Textes den 2. Akt mit der Anweisung beendet »beide beginnen zu boxen« (Romberg, Bunbury, Regiebuch 1920, S. 89). Zu einem »Knockout« Algernons kommt es auch in Alfred Papes Inszenierung des Blei/ Zeißschen Textes am Münchener Residenztheater im Jahr 1929 (vgl. Alfred Papes Regiebuch im Archiv des Residenztheaters, S. 55 f.). Hagemann, Bunbury, S. 291 f.; Hagemann, Bunbury, Regiebuch 1907, S. 90 unten, minimal anders. Hagemann, Wilde, 1904, S. 83. 261

Β. Hagemanns Wilde-Inszenierungen In seiner Dissertation über Carl Hagemann und die Szenenreform der Schauspielbühne geht Jürgen Bengsch auf vier Seiten auch auf Hagemanns WildeInszenierungen ein, wobei er sich allerdings darauf beschränkt, Hagemanns Selbstaussagen mehr oder weniger wörtlich zu wiederholen und in knappen Zitaten die entsprechenden Theaterkritiken zu zitieren.48 Bengsch nimmt die Aussagen seines Onkels Hagemann über >seine< Wilde-Bearbeitungen generell für bare Münze, wie er auch bei der Auswertung der Theaterkritiken diesen immer eher in Schutz nimmt. So lastet er Hagemanns Kette von Mißerfolgen am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg (1910-13) - Hagemanns Autobiographie folgend - einzig und allein dem Konservatismus der Kritik und dem »amusischen Publikum« an.49

1 Hagemanns Regietheorie und -praxis Bei Hagemanns Buch über Regie, das von 1902 bis 1922 mit wechselndem Untertitel und Text in insgesamt neun Auflagen erschien, handelt es sich nicht um eine Theater- oder Regietheorie, sondern einen »für das deutsche Theaterpublikum geschriebenen Orientierungsplan, um eine kurze Übersicht dessen, was der Regisseur am Theater zu leisten hat«.50 Hagemann beschränkt sich, wie er schon im Vorwort sagt, »durchweg auf die Darstellung des Handwerksmässigen, Formalen«.51 Er sieht die Aufgabe des Regisseurs darin, »durch den gesamten lebenden und toten Apparat der Bühne die künstlerische Absicht des dramatischen Dichters mit möglichster Eindeutigkeit zu verköipern«;52 der Regisseur sei »der Stellvertreter des Dramatikers auf der Bühne«. Dabei ist er von positivistischer Zuversicht erfüllt, daß die technischen Fortschritte des 19. Jahrhunderts, die sich »verhältnismässig spät, aber deshalb nicht minder durchschlagend, in der Kunst des Theaters« durchgesetzt hätten, mit einem ebenso direkt erlangbaren geistigen Fortschritt verbunden seien: Der Mensch wurde sich seines Menschentums, seiner Kulturaufgabe wieder bewusst, die da ist: mitzuschaffen am Fortschritt der Menschheit als winziges Teil-

48

49 50 51 52 53

Neben Bengsch, Hagemami vgl. Leyen, Hagemann's theoretische Schriften; Quast, Die Entwicklungsgeschichte des Deutschen Schauspielhauses, S. 23-83; Brauneck u.a. (Hrsg.), Theaterstadt Hamburg, S. 107 f. Bengsch, Hagemann, S. 19. Vgl. Hagemann, Bühne und Welt. Bengsch, Hagemann, S. 29. Hagemann, Regie, S. 5. Hagemann, Regie, S. 17. Hagemann, Regie, S. 60.

262

chen von der psychischen Triebkraft der kolossalen Kulturmaschine, anstatt in matter Selbstbeschaulichkeit und einseitigem Kultus des Gemütes oder in seichtem Rationalismus seine Tage zu verliegen. [...] Erst diese Zeit konnte ihren Goethe begreifen - die Zeit, die ihren Bismarck, ihren Wagner gebar [...]. 54

In den eher theoretischen Äußerungen des Buches stellt er sich ganz in die Linie, die vom historisierenden Stil der Meininger bis zu Otto Brahms Naturalismus führt: »Wir leben im Zeitalter des krassesten Realismus und vertragen Verstösse gegen die gegenwärtige und historische Wirklichkeit nicht mehr.«55 Dementsprechend bestehe die »Kandinalforderung für jede Regie« darin, die »Bedingungen für die totale Illusion des Zuschauers« zu schaffen.56 Dennoch bewirkte Hagemann in seiner ersten Mannheimer Intendantenzeit (1906-10) einen Modernisierungsschub, der ihn vorübergehend in die vorderste Reihe jener Regisseure stellte, die sich mit der Entwicklung der antiillusionistischen Stilbühne vom Naturalismus abkehrten. Hagemann trat ab etwa 1907 für die Priorität der Szenengestaltung ein: Entsprechend der »inneren Gesetzmäßigkeit« des Dramas gelte es, eine einheitliche »szenische Grundidee« im Dekorationsentwurf festzulegen, alle anderen Komponenten des Theaters seien der Szenengestaltung unterzuordnen.57 In seiner bühnentechnisch beachtlichen Mannheimer //a/n/ei-Inszenierung (Premiere am 19.10.1907) verwirklichte er zusammen mit dem Bühnentechniker Adolf Linnebach zum ersten Mal das Stilprinzip der sogenannten Mannheimer »Idealbühne«, indem er bewußt auf die Suggestion einer bestimmten Realität verzichtete und statt der Räume »Raumtypen« schuf.58 Leyen bezeichnet - im Anschluß an Bengsch - Hagemann als den »Protagonisten] der Stilbühne« und insofern als den »Überwinder des >Reinhardtschen Stiles««.59 Damit wird Hagemann jedoch zweifellos zu viel avantgardistische Bedeutung zugebilligt, zumal es nicht einfach sein dürfte, >den< Reinhardtschen Stil zu definieren.60 Im Grunde genommen trat Hagemann zusammen mit Adolf Linnebach in insgesamt vier Inszenierungen61 an die Spitze der bühnentechnischen Avantgarde der Jahrhundertwende, wobei ihm - Hagemann hatte zunächst Architektur studiert - »seine polytechnische Vorbildung in allen szeni-

54 55 56 57 58 59 60

61

Hagemann, Regie, S. 19. Hagemann, Regie, S. 97. Hagemann, Regie, S. 104. Zitiert nach Leyen, Hagemann's theoretische Schriften, S. 26, 41. Bengsch, Hagemann, S. 41. Leyen, Hagemann' s theoretische Schriften, S. 42. »Reinhardts selbständige Theaterarbeit war von Anbeginn [...] an so expansiv, drängte im Probieren immer neuer Spielformen und Spielplätze so ins Weite, schließlich ins Imperiale, daB sie immer weniger überschaubar, geschweige faBbar erschien« (Rühle, Was soll das Theater?, S. 178). Vgl. Bengsch, Hagemann, S. 50-74.

263

sehen Fragen sehr zugute kam«. 62 Der bühnentechnische Stilwille blieb Hagemanns Inszenierungen jedoch immer eigenartig äußerlich, hatte etwas Aufgesetztes. Stahl berichtet, die Hamlet-Inszenierung sei »darstellerisch recht unzulänglich« gewesen, und auch im Tasso habe sich der vom Bühnenbild ausgehende Stilwille »noch kaum auf Bewegung, Gebärde, Wort« ausgedehnt.63 Die Mehrzahl der späteren Hagemannschen Inszenierungen entsprach einem Kompromiß zwischen »Illusionsbühne« und Stilisierung, wobei er immer wieder eine ausgesprochene Vorliebe für symmetrische Szenengestaltungen zeigte.64 Hagemanns praktische Regiearbeit galt also in erster Linie der Szenengestaltung, dem Bühnenbild und der Lichtregie, viel weniger dagegen der Arbeit mit den Schauspielern. Entsprechend seiner eher >architektonischen< Theaterkonzeption finden sich bei ihm vielsagende Äußerungen wie die folgende: »Der Schauspieler ist das, was der Regisseur aus ihm macht.«65 Dahinter stecken gewiß die avantgardistischen Vorstellungen von der Notwendigkeit, den Schauspieler funktional in die Gesamtkonzeption der Inszenierung zu integrieren, in der Regiepraxis Hagemanns bedeutete es jedoch paradoxerweise, daß er die Probenarbeit mit den Schauspielern vernachlässigte. Sogar Bengsch, der Hagemann meist recht unkritisch darstellt, vermerkt, daß Hagemann »stets mit der geringsten Probenanzahl« auskam und eine »oft recht mangelhafte schauspielerische Gesamtleistung« in Kauf nahm.66 Leyen berichtet gar, daß Hagemann lediglich fünf bis zehn Proben für notwendig hielt!67 62

63 64 65

66 67

Stahl, Das Mannheimer Nationaltheater, S. 249. Stahl sieht die Bedeutung von Hagemanns Mannheimer /fam/et-Inszenierung bzw. der dabei verwendeten »Idealbühne« darin, »daB sie in letzter technischer Konsequenz wesentlich über das hinausging, was einst Savits in München und vor kürzerem Reinhardt mit dem Wintermärchen, die Dumont mit Macbeth in Düsseldorf, Martersteig mit Herodes in Köln unternahmen. Es sollte ein Schauplatz von einer der Dichtung adäquaten Monumentalität und Simplizität geschaffen, [...] der Dichtung ihr malerischer Wert wie ihr glatter Ablauf ohne Umbauphase gesichert werden« (ebd.). - Die drei ersten Hagemann-Linnebachschen Inszenierungen auf der »Idealbühne« (Hamlet, Tasso, Don Carlos) lagen zeitlich mehrere Monate vor der Eröffnung des Münchener Künstlertheaters (17.5.1908), das für die Entwicklung der Stilbühne wegweisend wurde (vgl. dazu Brauneck, Theater im 20. Jahrhundert, S. 74-78). Stahl, Das Mannheimer Nationaltheater, S. 249. Vgl. Bengsch, Hagemann, S. 77-121. Hagemann, Schauspielkunst und Schauspielkünstler, S. 140. - Fairerweise muß man jedoch sagen, daB Hagemann in den späteren Auflagen des Buches wesentlich differenzierter auf die Individualität des Schauspielers einging; vgl. z. B. Hagemann, Die Kunst der Bühne. 2. Bd., Der Mime, 1921. Bengsch, Hagemann, S. 48. Leyen, Hagemann' s theoretische Schriften, S. 44. - Der Hamburger Schauspielerin Marie Eisinger, die von Hagemann geme ein paar Anweisungen über die Gestaltung der Beatrice in Viel Lärm um nichts gehabt hätte, soll Hagemann schroff gesagt haben: »Einer Schauspielerin, die 18 000 Mark Gage bezieht, brauche ich nichts zu sagen!« (Quast, S. 31.)

264

Daraus ergibt sich, daß von einer ausgefeilten Wort- und Dialogregie - wie sie gerade bei Wildes Gesellschaftsstücken unerläßlich ist - oder gar von einer psychologischen Individualisierung der Figuren bei Hagemann in der Regel kaum die Rede sein konnte. So faßt Bengsch den zwiespältigen Eindruck, den Hagemanns Inszenierungen fast immer machten, treffend zusammen: »meisterhafte Gestaltung der Szene und mangelnde innere Regie«.68

2 Hagemanns Bunbury-Inszenierungen in Mannheim und Hamburg a. Mannheim, Nationaltheater, 7. September 1907: »nach Maßgabe symmetrischer Ausdrucksweise zu stilisieren« (Hagemann)69 Regie: Jack: Algernon: Chasuble: Lane: Merriman: Moulton:

Carl Hagemann Hans Godeck Carl Machold Alexander Kökert Gustav Trautschold Richard Eivenack Felix Krause

Brancaster: Gwendolen: Cecily: Prism:

H. v. Rothenberg Ada Booth Alice Hall Julie Sanden

Wie oben gezeigt, lag Hagemanns Inszenierungen Richard Vallentins Regiebuch von 1905 zugrunde. Hagemann übernahm weitgehend Vallentins Text, Vallentins Bewegungsregie, Vallentins Bühnenbilder. Inwieweit übernahm er damit auch Vallentins Regiekonzeption? Inwieweit übernahm er beispielsweise Vallentins auffällige soziolinguale Stimmregie, die den Schauspielern einen vornehm klingenden englischen Tonfall vorschrieb? In einer Art Vorwort, das in sauberer Handschrift auf drei engbeschriebenen Seiten seines Regiebuchs von 1907 eingetragen ist, formulierte Hagemann seine Regiekonzeption zu Bunbury, die er vermutlich vor oder bei der Probenarbeit dem Ensemble vortrug. Die wichtigsten Stellen seien hier zitiert:

Stil der szenischen Darstellung Die Schwierigkeit bei der Bühnen-Darstellung von Wildes Komödien beruht vor allem darin: Sie spielen in unseren Tagen in einer uns höchst vertrauten Umwelt es spielen moderne Menschen vor modernen Menschen Gesellschaftsszenen. Und doch handelt es sich nicht um naturalistische Konversationsstücke, sondern um strenge Stilstücke. Das strengste ist »Bunbury«, das also nur mit Hülfe einer deutlich angelegten und konsequent durchgehaltenen bühnenmäßigen Stilkunst

68 69

Bengsch, Hagemann, S. 108. Besetzung nach dem Theaterzettel der Premiere, Reiß-Museum, Mannheim. 265

zu einer ästhetischen Wirkung gebracht werden kann. Die Personen sind Menschen und doch keine Menschen - ihre Reden sind wahr und nicht wahr - die Situationen sind möglich und doch nicht möglich, die innere Wahrhaftigkeit der Dichtung (es ist eine Dichtung und nicht nur ein gut gemachtes Unterhaltungsstück, und eine glänzende Lustspielidee bis zu ihrem Ende, das heißt bis zu ihren letzten Möglichkeiten durchgeführt, ausgereizt wurde) [sie/] - ihre innere Wahrhaftigkeit kommt nur heraus, wenn man der Darstellung die richtige Atmosphäre giebt- wenn man sie ästhetisch-dramaturgisch und kulturell-völkerpsychologisch zweckvoll und richtig ansiedelt. [...] Wilde hält sich dabei an das englische Gesellschaftsleben, das ihm besonders günstige Angriffspunkte und unausschöpfbare spielerische Möglichkeiten bietet [...] Der Engländer ist im Benehmen steif und korrekt, in seinem Reden und Tun klar und zielbewußt, in seinen Lebensansprüchen nüchtern und praktisch. Die künstlerische Ausdrucksform dieser Grundeigenschaften für den architektonischen Aufbau des auf der Bühne ablaufenden Spiels ist die Form der Symmetrie [...]. Da diese Grundeigentümlichkeit eines Volksbegriffs im »Bunbury« mehr wie in allen anderen Komödien Wildes auch in der szenischen Anlage spürbar ist, so kann es keinem Zweifel unterliegen, daß man die Bühnendarstellung [ÍÍ'C/] »Bunbury« nach Maßgabe symmetrischer Ausdrucksweise zu stilisieren hat. Die einzelnen Schauspieler und die Gruppen sind in ihren künstlerischen Ausdrucksmitteln durch diese ästhetische Erkenntnis gebunden und können diese Bindung nicht selbständig lockern, ohne den Gesamteindmck zu gefährden.

Charaktere Die Personen sind nicht einen Augenblick ernst zu nehmen: sie nehmen selbst ja auch gamichts ernst - sich nicht und die andern nicht und die eigenen Ausspriiche und die Aussprüche der andern erst recht nicht. Es fällt in »Bunbury« überhaupt kein ernstes Wort. [...] Die Personen haben etwas natürlich Gezwungenes als Erscheinungen an sich und als Werkzeuge eines spielenden Dichterwillens. Gwendolen am meisten, Cecily noch am wenigsten. Von den beiden jungen Leuten ist Algy noch der menschlich greifbarere. Jack ist nur der Schatten eines Menschen: ein Konturenmensch. Ganz unmöglich ist Lady Brancaster. Hier hat der blühende Unsinn die Gestalt einer alternden Frau angenommen. Die Vernunftlosigkeit ihres Geschwätzes ist bezaubernd. Wenn [.sie/] ihr Unsinn immer wieder erstaunt, wieviel Sinn doch im Unsinn steckt. Alles in allem: Es fehlt nicht gar viel und man könnte »Bunbury« auf die Marionettenbühne bringen. Aus dieser Erkenntnis leitet sich für den intelligenten Schauspieler erst alles weitere ab.70 Aus dieser expliziten Regiekonzeption ergibt sich dreierlei. Einmal ist es auffällig, daß Hagemann das Stück hier gegenüber den Ausführungen seines

70

Hagemann, Bunbury, Regiebuch 1907, Vorbemerkung (Original-Hervorhebungen als Unterstreichung).

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Wilde-Buchs von 1904 stark aufwertet (»eine Dichtung«, kein »Unterhaltungsstück«), ohne sein positives Urteil - etwa durch Verweis auf die glänzende Sprachgebung oder Rollengestaltung - zu begründen. Da Hagemann nun aber in der Neuauflage seines Wilde-Buches von 1925 sein ursprüngliches negatives Urteil über Bunbury wiederholt, sind die oben zitierten aufwertenden Äußerungen vermutlich ein bloßes Lippenbekenntnis, das den Schauspielern gegenüber den Zweck haben konnte, leistungsmotivierend zu wirken. Zum zweiten stammen Hagemanns Gedanken über den »Stil« von Bunbury inhaltlich und zum Teil in den Formulierungen aus der 1907 veröffentlichten Darstellung Alfred Keirs, die auf seiner 1902 in Der Tag erschienenen Kritik der deutschen Erstaufführung von Salome und Bunbury am Kleinen Theater beruht.71 In der Zeitungskritik wie in der Buchveröffentlichung bezeichnet Kerr Oscar Wide als »Stilkünstler«, der alles »stilisiert«. Seine »Form des Humors« sei »Britentum«. Kerr spricht von der »rechteckige[n] Ordnung steifer Clowns«, nennt die Figuren »Automaten«, »unbelebte Kreaturen, kalt groteske Puppen«. »Symmetrie« sei kennzeichnend für Wide; er sei vor allem »ein Techniker«.72 Kerrs skizzenhafte kritische Impressionen von 1902 waren in der Publikation von 1907 entpragmatisiert und insofern >verewigtKemletzten Wahrheitc »Und die allerletzte Wahrheit wird sein: ... Ein Techniker« (Kerr, Das neue Drama, S. 280, 283). In der Einleitung nennt Kerr als Ziel seiner Kritiken: »Sie suchen den Ewigkeitszug« (S. Vffl).

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schrieben, ohne jedoch die Tendenz zu ballettartigen Bildern und Bewegungen zum alleinigen ästhetischen Grundprinzip des Stückes zu verabsolutieren oder gar die symmetrische Stilisierung »kulturell-völkerpsychologisch« als etwas spezifisch Englisches zu kennzeichnen, wie Hagemann dies tat. Das EnglischVornehme wurde bei Vallentin in erster Linie durch die Stimmregie - »Monotonie im Ton« mit einem »feinen englischen Accent vermischt« - angedeutet. Die symmetrischen Bewegungsabläufe - etwa die Kußszenen zwischen Algernon, Cecily und Lady Brancaster, das Verschwinden des jungen Liebespärchens hinter der Hecke und ihr symmetrisches >Auftauchencharming< dargestellten Backfisch Cecily«. 76 Es ist jedoch nicht anzunehmen, daß Hagemann in dieser Mannheimer Inszenierung Vallentins Rat befolgte, sämtliche Schauspieler mit englischem Akzent sprechen zu lassen; andernfalls hätte die Kritik diese auffällige Besonderheit sicherlich erwähnt. Der Mannheimer General-Anzeiger war in seiner Besprechung Hagemann gegenüber wieder recht respektvoll. Er verweist die »stellenweise sogar sehr triviale Komödie [...] ins Gebiet der Groteske«. Wilde habe »die an und für sich herzlich belanglose Handlung [...] mit einer Fülle blendenden Spotts und faszinierender Satire« ausgestattet. Die Komödie sei nicht leicht darzustellen: »Sie verlangt ihren besonderen Stil, den Stil der Farce, der scheinbar unbeabsichtigten Übertreibung, mit einem Wort: des Grotesken.« Die »Stileinheit«, die Hagemann »in seinem überaus gründlichen und anregenden Buch über Bühnenregie« so betone, sei gewahrt worden: Eine solche ausgesprochene Stileinheit nach innen und außen war gestern tatsächlich wahrzunehmen. Ich glaube, nicht irre zu gehen mit meiner Ansicht, daß, namentlich in den Szenen mit der Gouvernante [...] und dem salbungsvollen Kanonikus [...] die hiesige Aufführung von Bunbury in einem ganz besonders aparten Wilde-Stil gehalten war.77 Worin dieser »aparte Wilde-Stil« bestand, wird nicht erläutert; auch über den Schlußbeifall des Publikums ist nichts zu erfahren. Das Urteil des GeneralAnzeigers ist jedoch positiv: Die Komödie wurde »in einem flotten Tempo, mit Geist und Grazie gespielt«. Ein völlig anderes Bild zeichnet der Mannheimer Theaterhistoriker Ernst Leopold Stahl, allerdings aus einer Distanz von 22 Jahren:

76 77

»A.B.«, Mannheimer General-Anzeiger, 9.9.1907. »A.B.«, Mannheimer General-Anzeiger, 9.9.1907.

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Bei Bunbury, der tatsächlich damals durchfiel, passierte es, daß Hagemann gegen Hagemann zitiert wurde, der in einem Wilde-Buch, als er die kecke Ironie des Stücks noch nicht begriff, es lahm, langweilig und witzlos genannt hatte.78

Auch Bengsch akzeptiert dieses Urteil Stahls, obwohl aus den vorliegenden Dokumenten nicht ersichtlich ist, weshalb das Stück in Mannheim »durchfiel«. Die Hamburger Theaterkritiken von 1912 können darüber zum Teil Aufschluß geben. b. Hamburg, Schauspielhaus, 10. Februar 1912: Es »wechseln natürlicher und halbrealistischer Dialog ab« (Arthur Sakheim) 79 Regie: Jack: Algernon: Chasuble: Lane: Merriman: Moulton:

Carl Hagemann Robert Nhil Heinrich Lang Hans Andresen G. Kallenberger Wilhelm Meves Carl Sartory

Brancaster: Gwendolen: Cecily: Prism :

M. Otto-Kömer Paula Silten Elsa Valéry Martha Hachmann-Zipser

Der Hamburger Inszenierung von Bunbury lag das Mannheimer Regiebuch Hagemanns zugrunde, wobei aber der erste und zweite Akt erheblich langsamer gespielt wurden als in Mannheim. Die Inszenierung wurde zu einem Mißerfolg, dessen Ursachen in den Kritiken deutlicher artikuliert wurden als in Mannheim. Auschlaggebend war das sprachliche Niveau. »In Hamburg lässt Hagemann der Aufführung [...] einen Zeitungsartikel über seine Auffassung voraus gehen, stösst dann aber bei der Presse auf schärfste Ablehnung. Man verkennt den Sinn des Stückes, das man als im Bereich der Operette liegend bezeichnet und fordert Hagemann auf, >die Konversation zu reiner Kunsthöhe< zu erheben«, berichtet Bengsch.80 Der Hauptangriffspunkt scheint die sprachliche Uneinheitlichkeit des Bühnendialogs und der verschiedenen Darsteller bzw. Sprecher gewesen zu sein. Hagemann ließ der Kritik zufolge zumindest die Darstellerin der Gwendolen mit englischem Akzent sprechen: »Bei der Gwendolen Fairfax Paula Siltens stört das unkünstlerisch ironisierende Unterstreichen des Spezifisch-Englischen in der Sprache.«81 Anscheinend wollte Hagemann Vallentins Stimmregie nicht völlig übernehmen und begnügte sich »mit halbem Realismus«, wie Arthur Sakheim

78 79

80 81

Stahl, Das Mannheimer Nationaltheater, S. 247. Besetzung nach dem Theaterzettel der Premiere, Theatersammlung der Hamburger Universität. Bengsch, Hagemann, S. 114. Arthur Sakheim, Die Schaubühne 8, 1912, S. 292.

270

schreibt. 82 Hagemaiin wolle zwar »antirealistisch wirken«, bleibe aber auf halbem Wege stehen: »Bei ihm wechseln natürlicher und halbrealistischer Dialog ab«. 83 Diese Feststellung scheint die Uneinheitlichkeit der Regiekonzeption - Marionettenhaftigkeit neben Sprachrealismus - genau zu bezeichnen. Hagemann hat das Stück nach dem Mannheimer und Hamburger Mißerfolg nicht mehr selbst inszeniert. Es ist jedoch anzunehmen, daß er auf die Inszenierung Richard Gsells während seiner zweiten Mannheimer Intendanz einigen Einfluß ausübte, zumal der Theaterzettel den Text ausdrücklich als Bearbeitung Hagemanns ankündigte.

c. Mannheim, Nationaltheater, 13. Dezember 1919: »übertriebene Karikatur« (Mannheimer General-AnzeigerJ84 Regie: Jack: Algernon: Chasuble: Lane: Merriman: Moulton:

Richard Gsell Walter Tautz Fritz Odemar Alexander Kökert Adolf Jungmann Willi Resemeyer Adolf Karlinger

Brancaster: Gwendolen: Cecily: Prism:

Lene Blankenfeld Klara von Mühlen Gretel Mohr Elise de Lank

Auch mit dieser dritten Inszenierung in Hagemanns letzter Mannheimer Spielzeit gelang Hagemann - bzw. seinem Spielleiter Richard Gsell - kein Erfolg mit dem Stück, das jetzt unter dem neuen Namen Ernst, »bearbeitet von Carl Hagemann«, gespielt wurde. Der Mannheimer General-Anzeiger kritisierte den Stil der Inszenierung als »nicht einheitlich«: Änderungen, die sich von einem Akt zum andern beobachten ließen, beweisen, daß dies der Regie während der Auffuhrung zum Bewußtsein kam. [...] Der Hauptzug der Aufführung war Karikatur, übertriebene Karikatur jedoch. [...] Und so übertrieb der eine der Darsteller mehr, der andere weniger, der dritte gar nicht. So stand bald die Type neben der Karikatur, und da läßt sich von einem einheitlichen Stil nicht mehr reden. [...] Es hat gar keinen Zweck, in einer Übersetzung aus dem Englischen das Deutsch mit englischem Tonfall zu sprechen; es geht nicht an, immer nur die englischen Namen John, Cecily [...] zu gebrauchen, dagegen aber beharrlich und klar deutsch Emst zu sagen. [...] Und schließlich sollte man erwarten können, daß auf einer Bühne von dem Rang der unsrigen englische Wörter durchweg richtig ausgesprochen werden. [...] Alexander Kökert, der verkappte Liebhaber im geistlichen Kleid, ließ sich von dem Spleen, den die Aufführung herauszuarbeiten trachtete, erfreulicherweise

82 83 84

Arthur Sakheim, Die Schaubühne 8, 1912, S. 291. Ebd. Besetzung nach dem Theaterzettel der Premiere im Mannheimer Reiß-Museum.

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überhaupt nicht anstecken. Desto mehr gingen Lene Blankenfeld (Lady Brancaster), Klara von Mühlen (Gwendolen Fairfax) und Elise de Lank (Miß Prism) mit wahrer Inbrunst darin auf. Allmählich verging einem aber das Lachen darüber, um so mehr als bei den Damen Blankenfeld und de Lank der oben erwähnte englische Tonfall als stillos störte.85

Vermutlich als Konsequenz aus dem Hamburger Mißerfolg des Stückes, wo die sprachliche Uneinheitlichkeit bemängelt worden war, ließ Hagemann - bzw. sein Spielleiter Richard Gsell - diesmal möglichst sämtliche Darsteller mit englischem Tonfall sprechen. Was aber bei Richard Vallentin erfolgreich war, wurde hier als mißlungen empfunden. Dazu trugen textuelle und schauspielerische Faktoren bei. Einmal hatte Hagemann durch seine stilistische Überarbeitung den Text alltagssprachlich idiomatisiert, so daß - verglichen mit Teschenbergs Idiom gewissermaßen kein sprachlicher Anlaß mehr bestand, mit englischem Akzent zu sprechen. Typisch deutsche Floskeln wie »So - jetzt bist du im Bilde.«, »Aber ja doch!«, »So, so.«, »Doch jetzt zu etwas anderem.« usw., wie sie Hagemann in Teschenberg/Vallentins Text eingestreut hatte, sperren sich durch ihre Idiomatizität und Alltäglichkeit gegen die Zumutung, sie mit englischem Akzent hören zu müssen. Vallentin hatte Teschenbergs Text sprachlich normalisiert und die unvermeidliche stilistische Senkung durch einen vornehm klingenden englischen Akzent sämtlicher Darsteller kompensieren wollen. Hagemann schrieb durch die Steigerung der Wiederholungskomik, durch die Einstreuung von Alltagsfloskeln und umgangssprachlichen Phraseologismen das schwankhafte Stilniveau sprachlich viel stärker fest: Das lexikalisch und zum Teil auch spielerisch - man denke an den Boxkampf der Dandies! - verschenkte oder gesenkte Stilniveau konnte nicht durch einen englischen Akzent restituiert werden. Das authentisch-alltagssprachliche Deutsch widerlegte den aufgesetzten englischen Akzent. Noch erklärungsstärker für den konstanten Mißerfolg von Hagemanns Ernst ist womöglich eine zweite Überlegung. Genau genommen konnte in den drei ßw/iÄK/y-Inszenierungen Hagemanns der Einsatz eines englischen Akzents gar nicht die Funktion erfüllen, die er in Vallentins Konzeption hatte, nämlich eine homogene, distinguierte englische Gesellschaftsschicht zu suggerieren, da in keiner der drei Hagemannschen Inszenierungen sämtliche Figuren mit solchem Akzent sprachen. Dies wäre aber die Voraussetzung dafür gewesen, daß das Publikum die Sprechweise als soziales Phänomen, als Klassenmerkmal hätte verstehen können; wenn dagegen nur einzelne Darsteller mit englischem Akzent sprechen, wird deren Sprechweise vom Publikum höchstens als individuelle Charakterisierung und Karikierung aufgefaßt werden, wodurch die >Ge-

85

»A.M.«, Mannheimer General-Anzeiger, 15.12.1919.

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sellschaftskomödie< letzten Endes auseinanderfällt in eine Art schwankhafte >TypenkomödieMario< gab, dessen Konnotationen gewiß nicht in den völkisch-nationalen Kontext paßten.

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schienenen Übersetzung von Bernhard Oehlschlägel, die er offensichtlich neben dem Original ständig vor sich liegen hatte.9 Im Falle seiner Bunbury-Bcaibeitung zog er nicht weniger als drei seiner deutschen Vorgänger mehr oder weniger intensiv zu Rate. Sander kannte bzw. konsultierte folgende Fassungen von Wildes Stück: a. die englische Buchausgabe der dreiaktigen Fassung; b. Blei/Zeiß' Bühnenbearbeitung; c. Grevés Übersetzung; d. Teschenbergs Übersetzung.

a. Zu Sanders Benutzung des englischen Originals Der von Sander benutzte englische Quellentext war vermudich die von Ross betreute Ausgabe des Stückes, die 1908 im Methuen-Verlag in London erschien und mit der Buchausgabe von 1899, die Greve als Vorlage gedient hatte, textidentisch ist. Daß Sander tatsächlich das englische Original einsah, geht zweifelsfrei aus einer Textstelle hervor, wo Sander als erster Übersetzer gegen die gesamte bisherige deutsche Überlieferung eine Passage wiedergibt, die in sämtlichen englischen Versionen des Stückes von Anfang an enthalten, aber von Greve und Teschenberg unterdrückt oder geflissentlich übersehen worden war: jene Textstelle, wo Gwendolen kurz nach ihrer Verlobung und dem Einspruch ihrer Mutter nicht nur mit der Möglichkeit rechnet, sie "may marry someone else", sondern gar mit der frivol-promiskuitiven (Wunsch-)Vorstellung kokettiert "and marry often". 10 Sander bleibt zwar mit der Substitution von "may" durch »zwingen« immer noch der verschleiernden Tradition Grevés und Teschenbergs verhaftet,11 wodurch Gwendolen eher als unfreiwilliges Opfer der viktorianisch-mütterlichen Autorität erscheint, streicht aber die (bisher unterdrückte) Pointe des englischen Textes im Deutschen so emphatisch heraus, daß zumindest die komische Widersprüchlichkeit in Gwendolens Liebeserklärung erkannt werden kann:

9

10 11

Vgl. die Textiibereinstimmungen zwischen Oscar Wilde, Das Bildnis von Dorian Gray. Ein Roman. Ins Deutsche übertragen von Bernhard Oehlschlägel, Leipzig 1907; und Oscar Wilde, Das Bildnis des Dorian Gray. Nach älteren Übertragungen bearbeitet von Ernst Sander, Berlin 1924. Wilde, Importance, S. 38. Greve, Bunbury, 1908, S. 205: »muß« (ebenso in den späteren Auflagen); Teschenberg, Ernst, S. 35: »zwingen«.

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GWENDOLEN. [...] Aber wenn sie es vielleicht auch verhindern kann, dass wir Mann und Frau werden, und wenn sie mich auch zwingen kann, einen andern zu heiraten und immerzu und immerwieder zu heiraten: dass ich dich ewig lieben werde - das kann sie doch nicht verhindern.12

Diese Stelle beweist, daß Sander die dreiaktige englische Buchausgabe tatsächlich als Quelle benutzte. Da er seine ÄK/iÖMO'-Fassung jedoch als »freie Übertragung und Bearbeitung« bezeichnet, ist von vornherein klar, daß Sander sich nicht auf die Eindeutschung der englischen Vorlage beschränkt, sondern sich bei der Herstellung seiner deutschen Bühnenversion einen weiten Spielraum des kreativen rewriting zubilligt. In einem aufschlußreichen Aufsatz anläßlich der Hamburger Erstaufführung legt Sander Rechenschaft über seinen Umgang mit dem Text ab. Über sein Verhältnis zum englischen Original und die Frage der Drei- oder Vieraktigkeit schreibt er folgendes: Alle bisherigen Bearbeiter beschränkten sich auf Kürzungen; auch auf diese konnte nicht verzichtet werden. Aber die neue Bearbeitung geht weiter: sie versucht überdies, die ursprüngliche vieraktige und die spätere dreiaktige Fassung der Komödie ineinander zu arbeiten. Auf diese Weise wurde u.a. die lustige Szene des Rechtsanwalts im zweiten Akt gerettet.13

Wie steht es mit Sanders Originalitätsanspruch, er habe - im Gegensatz zu allen bisherigen Bearbeitern - als erster die beiden Fassungen »ineinander gearbeitet«?

b. Zu Sanders Benutzung der Blei/Zeißschen Fassung Aus den Ausführungen der vorhergehenden Kapitel ergibt sich, daß Sanders Originalitätsanspruch, was das »Ineinanderarbeiten« der beiden Fassungen betrifft, nicht gerechtfertigt ist. In gewissem Sinne hatte bereits Vallentin die beiden Fassungen miteinander verarbeitet, als er Teschenbergs vieraktigen Text auf drei Akte reduzierte. Ausdrücklich jedoch - und mit einer gewissen Berechtigung - hatte dies Zeiß für sich beansprucht, da in der Blei/Zeißschen Fassung die längere Teschenberg/Bleische Version mit der kürzeren englischen Bühnenfassung verschmolzen wurde, wobei die Rechtsanwalts-Episode, wenn auch gekürzt, ebenfalls stehengeblieben war. Sander muß diese oft gespielte 12

13

Sander, Vor allem Ernst!, S. 47 (Hervorhebung R. K.). Alle Zitate aus Sanders Text sind, wenn nicht anders angegeben, der unkorrigierten Textfassung des Burgtheaterarchivs entnommen. Emst Sander, »Vor allem Emst! Bunbury in neuer Gestalt«, S. 21 f.); der Essay wird in Zukunft zitiert als: Sander, »Gestalt«.

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Blei/Zeißsche Fassung sogar gekannt und gelegentlich konsultiert haben,14 wie sich aus einigen auffälligen gemeinsamen Fehlem in der Namengebung ergibt: Sander nennt den Anwalt ebenfalls »Crisby« (Wilde schrieb "Gribsby", Teschenberg »Cribsby«); er schreibt wie Blei/Zeiß »Turnbridge Wells«;15 auch Sanders minimale Personenangaben in den Didaskalien, in denen ζ. B. Gwendolens Adels- und Chasubles Doktortitel wegfielen, waren wohl an Blei/Zeiß orientiert; dies gilt wohl auch für eine ganze Reihe von Textkürzungen, die Sander mit Blei/Zeiß teilt (z. B. im >Verhörlineare< Wiedergabe des Originals beschränken, weshalb sie massiv in die Textstruktur eingreifen usw. In der Regel werden das Auftauchen neuer Quellen (Zeiß), dramaturgisch-ästhetische (Hagemann) oder ideologische Gründe (Lerbs) für die behauptete Notwendigkeit der Bearbeitung angeführt, die - im Sinne unseres text- und ideologieanalytischen Vorgehens - selbst wieder kritisch hinterfragt weiden müssen. Stärker als alle bisherigen Bearbeiter sah sich Ernst Sander zu einer argumentativen Legitimierung seiner Bunbury-Version, die Ende Oktober 1935 in Hamburg aus der Taufe gehoben wurde, veranlaßt. Offensichtlich bedurfte seine spezifische Art der Bearbeitung einer besonders ausführlichen Begründung, und das, obwohl im Jahre 1935 Wilde auf dem Weg war, zu einem Lieblingsautor des deutschen Theater- und Kinopublikums zu weiden. Man darf daraus hypothetisch schließen, daß Sanders Bunbury- Version womöglich gegen den ideologischen Kontext und das von Lerbs konstruierte, mittlerweile im Theater dominierende Wilde-Bild verstieß. Dies soll im folgenden erläutert werden. Wie oben dargestellt, hatte Karl Lerbs die drei seriösen Gesellschaftsstücke Wildes dadurch im nationalsozialistischen Sinne ideologisiert, daß er die sentimentalen, moralisierenden und NS-konformen Züge verstärkte - z.B. durch die Heroisierung der Mütterfiguren - und die individualistischen Züge unterdrückte oder umdeutete. Die Dandies wurden ihrer ästhetischen Autonomie beraubt: Sie wurden entweder zu Negativbildern monosemiert (Lord Illingworth in Eine Frau ohne Bedeutung) oder zu strammen Mannsbildern stilisiert (Lord Darlington in Lady Windermeres Fächer, Lord Goring in Ein idealer 289

Gatte). Dieselbe Tendenz zur Einbindung der Wildeschen Dandy-Figuren in nationalsozialistische Interpretationsschemata herrschte mehr oder weniger deutlich in den Verfilmungen dieser drei Stücke. Karl Lerbs machte keinen Versuch, auch Wildes Bunbury ideologisch in das dualistische Weltbild des Nationalsozialismus zu integrieren. Das komische Potential der letzten Wildeschen Komödie, das - weit über den viktorianischen Rahmen hinaus - in der Unterminierung kollektiver Normsetzungen und Autoritäten besteht, wurde in den nach 1933 stattfindenden Inszenierungen der Teschenberg/Vallentinschen und Blei/Zeißschen Versionen durch den Abbau ideologisch riskanter Züge entschärft. Die glanzvolle Berliner Bunbury-lnszenierung der Spielzeit 1937/38 verlegte das Stück in eine Operettengegenwart ohne satirischen Zeitbezug. In seinem Wilde-Essay anläßlich der Hamburger Erstaufführung seiner Bearbeitung bezieht sich Sander nicht nur auf die früheren Bunbury-Übersetzungen, sondern auch auf das von Lerbs propagierte Wilde-Bild, um seine eigene Übersetzungskonzeption dagegen abzugrenzen.

a. Bunbury als »undurchdringlich maskierte Parodie« 22 Der erste und längste Teil von Sanders Essay ist der Beantwortung der rhetorischen Frage gewidmet, weshalb ausgerechnet diese »Komödie der kleinen Lebenslüge [...] inmitten unserer deutschen Gegenwart« (S. 17) in Szene gehen solle; denn »wir haben andere Sorgen« - wie Sander nicht weniger als dreimal wiederholt - als »die wohlhabenden, in bedenklicher Weise müßiggängerischen jungen Leute« in Wildes Stück (S. 17 f.). Sander verwahrt sich zunächst gegen die beiden naheliegenden ideologie-konformen Interpretationsmuster: Das Stück sei einerseits »beileibe nicht als ein Beitrag zu dem unerschöpflichen Thema >Wie man eigentlich leben müßteheikle< Thema des »Unterschied^] der Geschlechter« zur Sprache bringt; jedenfalls wäre es leichter gewesen, das Thema zu tabuisieren, wenn man Algernon die Wahrheit gesagt hätte, daß er nämlich einen

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Man darf schlußfolgern, daß Sander das Realismus- bzw. Wahrscheinlichkeits-Argument nur als ironisches Lippenbekenntnis einsetzt. Diese Deutung ergibt sich auch daraus, daß Sander in seinem Essay von Anfang an das »köstlich unglaubwürdige Stück« mit dem »Ernst der Wirklichkeit« (S. 18) kontrastiert - alles darin sei »so sehr in eine heitere Unglaubwürdigkeit entrückt, daß das Stück wie eine höchst kultivierte, undurchdringlich maskierte Parodie seiner Vorgänger anmutet« (S. 20).25 Sanders Berufung auf die - von ihm selbst in Anführungsstriche gesetzte - »Wahrscheinlichkeit« des Geschehens, die er »einer heutigen Zuschauerschaft schuldig zu sein« vorgibt, scheint sich somit selbst als »undurchdringlich maskierte« Ironie zu erweisen - so undurchdringlich allerdings, daß den damaligen und wohl auch heutigen Leser immer noch leise Zweifel befallen können, ob nicht doch die vordergründig-unironische Lesart gemeint sein könnte. Die semantische Undurchdringlichkeit dieser Ironie läßt sich nur pragmatisch aufbrechen: einmal durch den Bezug auf Sanders Biographie, aus der seine tatsächliche Distanz zur damals herrschenden Ideologie ziemlich deutlich hervorgeht, zum andern durch die Beachtung der Reaktionsweise der nationalsozialistischen Theaterkritik. Dieselbe Ambiguität und unentscheidbare Vagheit, die dem zensurbedingten Zwang zur Kaschierung der eigenen Meinung die perfekte Maske der Ironie entgegensetzt, um so der Zensur ein Schnippchen zu schlagen, zeigt sich auch in Sanders Dialogerweiterungen, wie wir noch sehen werden. Unter den Bedingungen der ideologischen Eindeutigkeit kann die gezielte Ambiguität der Kunst ein Potential der Gedankenfreiheit darstellen.

c. Zur »Sprechform« der Bearbeitung Sander ist der erste deutsche Wilde-Übersetzer, der die gesprochensprachliche Eleganz ausdrücklich als das Hauptkennzeichen der Wildeschen Dialoge benannte und dafür im Deutschen nach einer adäquaten Übersetzungslösung suchte: Alsdann galt es für den Übersetzer, eine in stärkerem Maße aufgelockerte, eine lebendigere und belebtere Sprechform zu finden, als die von den bisherigen Übersetzern beliebte es ist: sie nämlich übertrugen auch den leichten, behenden Dialog der Komödien gespreizt und »mondän«. Die neue Übersetzung war bestrebt, den

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Bruder verloren habe: Lady Bracknells Antwort gibt dem Publikum ein unlösbares Rätsel auf. Das zweite Wahrscheinlichkeits-Problem, weshalb Cecily sich mit Algernons Vornamen aussöhnt, wird von Sander ebenso ironisch >gelöstkreativen< Übersetzungsmethode gelesen werden. Vor allem scheinen zwei Gesichtspunkte des späteren Essays ohne weiteres auch retrospektiv zu gelten: das Konzept der stilistischen Äquivalenz und die Betonung der sprachlichen Musikalität. Laut Sander kommt es »beim Übersetzen nicht so sehr auf die Beherrschung der Fremdsprache als auf die Beherrschung der eigenen Sprache an, und weniger auf die landläufige Beherrschung der eigenen Sprache als auf ihre schriftstellerische, ihre literarische Beherrschung«.27 Die Fremdsprachenkenntnisse sind demgegenüber von untergeordneter Bedeutung. Sander verteidigt ausdrücklich das Benutzen von »Rohübersetzungen«, worunter er vermutlich die gerade von ihm selbst praktizierte Methode der Wiederverwendung früher erstellter Übersetzungen versteht, da solche »Rohübersetzungen [...] für den künstlerischen Übersetzer ein durchaus loyales und legales Hilfsmittel darstellen, weil sie ihm eine Fülle lästiger, im Grunde außerhalb seiner Aufgabe liegender Nebenarbeit ersparen«. 28

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27 28

Ernst Sander, »Vom Übersetzen ins Deutsche«, in: Koch (Hrsg.), Sander, S. 45-71; laut Anmerkung des Herausgebers geht der Essay auf einen Vortrag im Winter 1962/63 zurück (S. 202). Sander, »Übersetzen«, S. 45. Ebd.

296

Was jedoch erfaßt weiden müsse, seien »Stil, Ton, Stimmung des zu überwindenden Werks«, dagegen fielen »kleine Versehen und Irrtümer nicht allzu sehr ins Gewicht«.29 Wie man sieht, hat Sander eine ausgesprochen ganzheitliche Vorstellung von dem, was als übersetzerische Äquivalenz zu gelten habe: »es kommt auf die transponierende Bewahrung der individuellen Stilelemente des Originalwerks und seines Schöpfers an«. Übersetzen als Reproduktion eines Individualstiis wird zu einem eminent kreativen Akt stilistischer inventio - zum »Nocheinmalschaffen eines Wortkunstwerks in und aus einem andern Sprachmaterial«: »Es kommt eben beim Übersetzen darauf an, für das zu übersetzende Werk in der eigenen Sprache den Stil zu finden, den das Original und sein Autor in ihrer Sprache verkörpern.« Sanders Übersetzungskonzeption der stilistischen Äquivalenz ist einfach und klar, beruht aber auf einer höchst problematischen Voraussetzung: daß nämlich der Individualstil des Originals tatsächlich als homogenes Stil-Konzept im Text verkörpert sei bzw. dergestalt erfaßt und nachgeschaffen werden könne. Sander präsupponiert eine ästhetische Harmonie, Totalität und Homogenität des literarischen Wortkunstwerks, die sich sicher nicht von selbst versteht. Auf die Übersetzung dramatischer Werke angewandt, provoziert Sanders Konzeption der Bewahrung des Autorstils noch gründlichere Einwände, da der Sprachstil dramatischer Werke figurensprachlich aufgebrochen ist.31 Es wird zu überprüfen sein, ob Sanders Konzeption eines einheitlichen Autorstils bzw. - um in seiner Terminologie von 1935 zu bleiben - einer homogenen »Sprechform« nicht Gefahr läuft, in einer self-fulfilling prophecy die präsupponierte stilistische Einheitlichkeit überhaupt erst translatorisch herzustellen und dabei die Nuancen der individuellen Figurensprache, die in Wildes Komödien festzustellen sind, zu verwischen. Ein zweiter Gesichtspunkt des Essays von 1962/63, der auch für Sanders Bunbury-Fassang von Belang ist, besteht in der Betonung des musikalischen Klangmaterials der Sprache, dessen, was Sander - in (vielleicht nur halbbewußter) Fortführung der romantischen Übersetzertradition Herderscher Provenienz »Ton, Stimmung« nennt.32 Aus der kurzen biographischen Skizze zu Beginn des Kapitels ergibt sich Sanders starkes Interesse an der Musik; schließlich kam Sander hauptsächlich über das musikalische Hörspiel (Brahms, Mozart) zum Theater. In dem Essay weist er darauf hin, daß seit der Wagnerzeit vom literarischen Übersetzer eine stärkere Berücksichtigung der sprachlichen Musikalität erwartet werden müsse; denn um die Jahrhundertwende

29 30 31 32

Ebd. Sander, »Übersetzen«, S. 49. Vgl. dazu z.B. Pfister, Drama, S. 171 ff. Sander, »Übersetzen«, S. 45.

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erhielt die Sprache, als Material, als literarisches Ausdrucksmittel, einen gewaltigen Impuls von außen her, nämlich durch die Musik, durch die Musik der Romantiker, und vor allem durch die Musik Richard Wagners. [...] Wer ein gesteigertes und geschärftes Wahrnehmungsvermögen für solcherlei Dinge besitzt, wird ohne weiteres unterscheiden können, ob ein Gedicht, ja, ob eine Prosa, voroder nachwagnerisch ist. [...] Ich spreche, wohlgemerkt, nur vom Klange. Das erste große Werk innerhalb der deutschen Literatur, das als sprachgestalterische Leistung den vollen Einiluß Wagners erkennen läßt, ist Nietzsches »Zarathustra« [...]. Wir verlangen mit Recht von der gehobenen Sprache Musikalität - aber Musikalität erschöpft sich nicht im Melodischen; es müssen das Element des Rhythmischen und des Harmonischen hinzutreten, wohl gar die hohe Kunst des Kontrapunkts - aber das würde uns ableiten in eine Untersuchung über Sprache und Musik. Unsere Neuromantiker [...] basieren, was ihre Sprachgebung betrifft, als Schöpfer wie als Übersetzer vollauf auf Wagners Musik [...].33 Die musikalische Durchgestaltung der deutschen »Sprachmaterie« durch Nietzsche, George, Hofmannsthal u. a. habe neue Voraussetzungen für die Ansprüche an die Übersetzer geschaffen. 34 Sanders Äußerungen über seine Übersetzungsmethode beruhen somit auf den beiden Grundannahmen, daß einmal vor allem der »Stil«, zum andern der »Ton« eines Originals zu erfassen und zielsprachlich zu »finden« seien, wobei die zielsprachliche Fähigkeit der inventio das entscheidende Kriterium der geglückten Übersetzung ist: »schlechte Übersetzungen vermag man zu erspüren, auch wenn man das Original nicht zur Hand hat«. 35 Für Sander hat das literarische Übersetzen also nicht viel mit semantischer Genauigkeit zu tun - daher seine bedenkenlose Benutzung früherer »Rohübersetzungen« - , sondern vor allem mit einer intuitiven und holistischen Fähigkeit der Empathie, die nicht nur die geistige Haltung, den »Stil« eines Autors, sondern auch die paralinguistische Sprechform, den »Ton«, die »Stimmung« zu erspüren und nachzuschaffen vermag - mit jener Fähigkeit also, die Nietzsche, dessen Stiltheorie Sander anscheinend kennt, als »das dritte Ohr« bezeichnet hatte.36

33 34 35 36

Sander, »Übersetzen«, S. 61 f. Sander, »Übersetzen«, S. 70 f. Sander, »Übersetzen«, S. 71. Nietzsche, Werke, 2. Bd., S. 713.

298

3 Sanders Übersetzungs- und Bearbeitungskonzeption in Vor allem Ernst! a. Bunbury als Zeitstück Explizite Übersetzer- oder Bearbeiter-Kommentare können durchaus im Widerspruch zur tatsächlich praktizierten Übersetzweise stehen. Dies ist zum Teil auch bei Sander der Fall: Zwar praktiziert er in sprachstilistischer und kultureller Hinsicht die >einbürgemde< Übersetzungsmethode, die er auch theoretisch vertritt, es ist jedoch fraglich, ob seine Sprachgebung wirklich immer als »zugleich bequem und vornehm, zugleich salopp und haltungsvoll«37 bezeichnet werden kann: Der umgangssprachlich-saloppe Ton scheint deutlich zu überwiegen. Die zielkulturelle Orientierung von Sanders Übersetzweise geht vor allem daraus hervor, daß er die alltäglichen Dinge des Lebens den deutschen Konventionen und Erwartungen anpaßt. So übernimmt er Greves »Gurkenbrötchen« (für "cucumber sandwiches"), läßt Algernon am Ende des 2. Aktes »Toast« essen (statt der exotischeren "muffins"), läßt Rechtsanwalt Crisby eine Pfändungsklage von der »Gaststätte Wilis« überbringen.38 An kulturelle Fremdheit erinnern bei Sander praktisch nur noch wenige Eigennamen, ansonsten sind Lebenswelt und Lebensweise der Personen eingedeutscht, wobei sich an den genannten Beispielen zeigt, daß Sander die Konnotationen von Exklusivität, wie sie mit dem Namen des Londoner Nobel-Restaurants "Willis's" oder dem Brauch des Fünf-Uhr-Tees mit hauchdünn geschnittenen "cucumber sandwiches" verbunden sind, zielsprachlich löscht: Gurkenbrötchen, Gaststätten, Toasts lassen in den dreißiger Jahren in Deutschland keineswegs auf Luxus und Oberschicht schließen. Die hier erkennbare Popularisierungstendenz ist Sanders Text von Anfang an dadurch eingeschrieben, daß er in den Didaskalien Gwendolens Adels- und Chasubles Doktortitel wegläßt und auch aus Algernons "luxuriously and artistically furnished flat" etwas weitaus weniger Elitäres macht - ein schlichtes »Zimmer in Algernons Wohnung«.39 Sander schafft Publikumsnähe auch durch konsequente Modernisierung der Medien, der Kommunikations- und Verkehrsmittel. Jack macht Algernon Vorwürfe, weil er ihn »nicht angerufen« hat;40 er läßt für Algernon ein Taxi vorfahren - Algernon wird »dem Kraftfahrer Bescheid« sagen, »welche Strecke er fahren soll«;41 Algernon spielt zu Beginn auf dem Klavier einen »Slow-

37 38 39 40 41

Sander, Sander, Sander, Sander, Sander,

»Gestalt«, Vor allem Vor allem Vor allem Vor allem

S. 21. Ernst!, Ernst!, Ernst!, Ernst!,

S. S. S. S.

4, 127, 81. 3. 11. 93.

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Fox oder Tango«;42 Lady Bracknell klingelt nach Algernons Eindruck nicht "in that Wagnerian manner", sondern »à la Hindemith«;43 der dritte Akt beginnt mit Tanzmusik aus dem Radio, gefolgt von den Nachrichten;44 Gwendolen fährt mit dem »D-Zug« zu Jack.45 Sanders Bearbeitungsmethode zielt also auf Aufhebung der sozialen, kulturellen, geographischen und historischen Distanz zum Publikum. Dies gilt nun aber auch für politisch-juristische Institutionen. Sander ersetzt zum Beispiel das in Deutschland durchaus verständliche "Scotland Yard" durch »den Polizeipräsidenten«,46 wodurch Assoziationen an deutsche Verwaltungsinstanzen geschaffen werden. Sander geht aber noch weiter in der zielsprachlichen Integration des Textes. Auf Gwendolens scheinheilig-boshafte Frage, ob man auf dem Lande denn »viele interessante Spaziergänge machen« könne, reagiert »Miss Caidew« auf eine Weise, wie eigentlich nur eine deutsche Gutsbesitzertochter nach 1933 antworten konnte: CECILY. Oh, gewiss doch! Von dem Hügel dahinten kann man fünf Erbhöfe überschauen.47

Sander weckt hier nicht nur Assoziationen an eine spezifisch deutsche Geographie ländlicher Abgeschiedenheit, sondern zitiert (und ironisiert) die Sprachregelung des kurz zuvor erlassenen »Reichserbhofgesetzes« von 1933:48 Nationalsozialistische Verwaltungsterminologie rückt ins deiktische Umfeld der Figuren und gerät in komischen Kontrast zur landschaftlich-vertrauten Namengebung (>BauernhofNümberger Gesetze< von 1935: S. 143; auf das Devisengesetz von 1935: S. 93; auf den Völkerbund: S. 129; auf »marxistische Umtriebe«: S. 140.

300

woran die Kontextualisierung der Figuren im historisch-geographischen Rahmen des Nationalsozialismus erkannt und somit dem Publikum die Einsicht suggeriert werden kann: »nostra íes agitur«. Sander entfernt möglichst alle Fremdheitssignale aus dem Text, ohne daß damit natürlich die Fiktionalisierung des Bühnengeschehens verschwände: Mit der Eindeutschung der Referenzwelt richtet sich das Interesse der Zuschauer notwendigerweise auf die Frage nach dem Verhältais zwischen fiktionalästhetischer und pragmatischer Realität. Dies soll anhand des Vergleichs mit Vallentins Verfremdungsmethode kurz präzisiert werden. Während Vallentin seinen Wiener Zuschauem die Fiktion zumutete, auf der Bühne agierten deutsch sprechende Engländer, fördert Sanders Text die Fiktion, die Figuren des Stücks seien eigentlich überhaupt keine Engländer, sondern deutsche Landsleute. Vallentin schuf durch paraverbale Mittel im Publikum die >GuckkastenFremdheitpräsente< Zeitgenossen ausweist. Sanders Figuren verfügen allesamt über eine ungeheuer flotte, temporeiche, meist auch lässig-elegante Sprechweise. Als Beispiel sei der erste Dialog zwischen Algernon und Jack zitiert, der den jugendlich-schwungvollen Ton des Sanderschen Textes gut veranschaulichen kann: ALGERNON. H o w are you, m y

dear

Ernest? What brings you up to town? JACK. Oh, pleasure, pleasure! What else should bring one anywhere? Eating as usual, I see, Algy! ALGERNON (Stiffly). I believe it is customary in good society to take some slight refreshment at five

ALGERNON. Hallo, wie gehts, lieber Ernst? Was machst du hier in London? JACK. Oh, ich will mich amüsieren! Und du - du bist natürlich wieder beim Futtern, Algy, wie gewöhnlich. ALGERNON. Ich glaube, es ist in guten Häusern Brauch, nachmittags um fünf eine kleine Erfrischung zu sich 301

o'clock. Where have you been since last Thursday? JACK (Sitting down on the sofa). In the country. ALGERNON. What on earth do you do there? JACK (Pulling off his gloves). When one is in town one amuses oneself. When one is in the country one amuses other people. It is excessively boring. ALGERNON. And who are the people

you amuse?50

zu nehmen. - Wo hast du dich seit Donnerstag herumgetrieben? JACK. Auf dem Lande.

ALGERNON. Was in aller Welt fängst du da denn an? JACK. In der Stadt amüsiert man sich. Auf dem Lande amüsiert man andere. Das ist auf die Dauer fürchterlich langweilig. ALGERNON. Erzähl doch ein bißchen. Wen amüsierst du denn da? 51

Die dialogische Interaktion ist bei Sander, verglichen mit dem Originaltext, wesentlich dynamischer und fröhlicher. Bezeichnenderweise läßt Sander die Wildeschen Regieanweisungen, welche Steifheit ("stiffly"), Bedächtigkeit ("pulling off his gloves"), Ausweichen oder Pausen ("sitting down") suggerieren können, einfach weg. In Wildes Dialog herrscht bei beiden Partnern zu Beginn ein undurchdringlicher Ton konventioneller Unauffälligkeit, der zunächst nur winzige Merkmale von individueller Expressivität andeutet: etwa Jacks Wortkargheit, seine Neigung zum Ausweichen und zum Selbstwiderspruch ("amuse" - "never speak"), woraus man schließen kann, daß er schwindelt. Sanders Text geht flink von der Zunge, ist rhythmisch und intonatorisch schlackenlos durchgefeilt. Es handelt sich um betont gegenwärtige gesprochene Sprache: jugendlich-modische Anredefloskeln (»Hallo«) und Redewendungen eines locker-vertrauten Gesprächsstils (»Wo hast du dich [...] herumgetrieben?«, »Erzähl doch ein bißchen« usw.), zahlreiche Modalpartikeln, die den Sätzen den rhythmischen, intonatorisch-stimmlichen und partnerbezogenen Gestus aufprägen (»natürlich«, »denn«, »doch« usw.), Anakoluthe, die den Text spontan klingen lassen (»Und du - du [...]«). Von der Begrüßung an dominiert bei beiden Gesprächspartnern nicht das Konventionelle, sondern das Spontane, Witzige. Die gelegentliche Verwendung salopp-umgangssprachlicher Redewendungen (»Futtern«) steht zwar in deutlichem Widerspruch zu Sanders programmatischer Ankündigung, seine Sprachgebung sei immer auch »vornehm« und »haltungsvoll«, kann jedoch im Rahmen des hier heiTschenden Konversationstons kaum als Stilbruch empfunden werden, da das angeschlagene Stilregister von Anfang an nicht besonders »vornehm« wirkt: Die Hauptmerkmale der Sprachgebung sind eher Tempo, Direktheit, Ungezwungenheit. Daß es sich bei den Gesprächspartnern trotzdem um eine gesellschaftlich gehobene Schicht und

50 51

Wilde, Importance, S. 7. Sander, Vor allem Ernst!, S. 6 (Original-Hervorhebungen als Sperrung).

302

um gebildete junge Leute handelt, wird sprachlich zum einen durch eine gelegentlich leicht snobistische Wortwahl (untertreibendes »in guten Häusern«; gewähltes »eine kleine Erfrischung«) angedeutet, zum andern durch den ironisch-witzigen Frozzelton, den die beiden miteinander anschlagen (»natürlich wieder beim Futtern«, »herumgetrieben«, »Was in aller Welt« usw.) und der auf große kommunikative Routine schließen läßt. Sander zieht in seiner Sprachgebung alle Register gegenwärtig-spontaner, urbaner Sprechsprache: Den Figuren bleibt vor Überraschung der Mund offenstehn,52 sie verwenden Neologismen,53 sie reagieren unmutig mit modernen Wendungen wie »Quatsch!«, »Das geht dich einen kleinen Dreck an, mein Lieber« oder »Was meinst du nur mit dem blödsinnigen Ausdruck?« usw.54 Die Stilebene ist damit gegenüber Wilde - der sich am Stilniveau aristokratischer Tischgesellschaften (dem "society-English", wie er im Dezember 1891 der Princess of Monaco schrieb)55 orientierte - zwar merklich gesenkt, aber innerhalb der zielsprachlich verfügbaren Register ist doch ein sozial relativ gehobener Gesprächsstil getroffen. Als Modell ließe sich etwa an die emotional distanzierte Gesprächsstrategie der Flachserei und des Unernstes zwischen Kommilitonen oder Jungakademikem denken oder an Filme und Boulevardstücke der mondäneren Sorte (etwa von Curt Goetz), wie sie in den zwanziger Jahren von Berlin aus verbreitet wurden. Es besteht zwar kein Zweifel, daß Algernon in Sanders Text der gewandteste Formulierungskünstler unter den Figuren ist. Doch ebenso zweifelsfrei ist die Tatsache, daß Sander auch sämtliche andere Figuren mit einer gegenüber dem Original gesteigerten rhetorischen Spontaneität und Direktheit ausstattet, die zum Teil deutlich auf Kosten der sprachlichen Individualisierung geht, wie im folgenden anhand detaillierter Vergleiche mit Teschenberg, den Sander als wichtigste Vorlage benutzte, gezeigt werden soll:

ALGY. Übrigens dinierte ich erstens am Montag dort und einmal die Woche bei Verwandten zu dinieren ist ganz genug.56

52 53

54 55 56 57

Erstens bin ich erst Montag zuletzt dagewesen, und einmal in der Woche bei Verwandten essen, ist vollauf ge-

»Wa - ? Shropshire?« (S. 7). »Du brauchst nun aber nicht gleich drauf loszufuttern, als wenn du sie alle aufessen wolltest«; »Und nun schieß los«; »Das ist ziemlich unwitzig« (Sander, Vor allem Ernst!, S. 9, 14, 18). Sander, Vor allem Ernst!, S. 10, 15, 16. Wilde, Utters, S. 306. Teschenberg, Ernst, S. 16. Sander, Vor allem Ernst!, S. 18.

303

Kommentar: 1. Herstellung von gesprochensprachlicher Spontaneität durch Perfekt (statt des förmlichen »dinierte«); 2. stilistische Alltagssprachlichkeit (»dagewesen« und »essen« statt »dinierte« und »dinieren«); 3. Idiomatisierung und Verstärkung der Emphase durch »vollauf genug«; 4. umgangssprachliche Tautologie (»erst Montag zuletzt«), die zusammen mit der Wiederholung »Erstens [...] erst« den Eindruck einer ungekünstelt lockeren Sprechweise vermittelt. (Algernon spricht allerdings bei Sander meist gewandter als in diesem Satz, der den schlechten Einfluß Teschenbergs zu verraten scheint.)

CECILY. Onkel Jack, dessen Gesundheit durch die späten Stunden, die sie in London haben, recht traurig erschüttert ist, wurde von seinem Londoner Arzt für zwölf Uhr Brötchen mit Gänseleberpasteten und 1874er Champagner verordnet.58

Sein Londoner Aizt hat ihm nämlich als Vorspeise Brötchen mit Gänseleberpastete und Champagner verordnet, weil seine Gesundheit durch die Sorge um Sie so erschüttert ist.59

Kommentar: 1. Semantische und syntaktische Entlastung und Kürzung durch Weglassen des Bezugs auf Jacks Londoner Nachtleben und den (besondere Kostspieligkeit suggerierenden) Jahrgang des Champagners; 2. Herstellung besserer Verständlichkeit durch Verwandlung von Passiv in Aktiv und durch klare semantische Gliederung des Satzes (Faktum plus Begründung); 3. größere Nähe zur gesprochenen Sprache durch Ersatz des Präteritums durch Perfekt; 4. Steigerung der Komik durch die psychische Begründung für Jacks Champagner-Kur: Jack ist bei Sander noch heuchlerischer als bei Wilde und Teschenberg, zumal er seine luxuriöse Diät jetzt lediglich als »Vorspeise« zu sich nimmt; per Kontrast wirkt Cecily dadurch noch naiver.

Jenes Telegramm aus Paris scheint ein etwas herzloser Scherz irgend jemandes gewesen zu sein, der Ihren Gefühlen einen Streich spielen wollte.60

DR. CHASUBLE.

Das Telegramm aus Paris scheint ein schlechter Scherz gewesen zu sein.61

Kommentar: 1. Syntaktisch, semantisch und stilistisch starke Vereinfachung des Satzes; 2. Chasuble drückt sich normal, direkt und völlig unumwunden aus. Die sprachlichen Symptome umständlicher Weltfremdheit sind verschwunden. 58 59 60 61

Sander, Vor allem Ernst!, S. 65. Teschenberg, Ernst, S. 45. Sander, Vor allem Ernst!, S. 75. Teschenberg, Ernst, S. 51.

304

Ihr unglücklicher Vater befindet sich zum Glücke in dem Glauben, daß sie einem ungewöhnlich langen Vortrag über den Einfluß des regelmäßigen Einkommens auf das Denken im Unternehmen für Ausdehnung der Universität beiwohnt.62

LADY BRANCASTER.

Ihr unglücklicher Vater befindet sich glücklicherweise in dem Glauben, sie müsse einem ungewöhnlich langen Vortrag über die Einflüsse eines regelmäßigen Einkommens auf das Denken beiwohnen.63

Kommentar: 1. Vereinfachung und Kürzung durch Weglassen der bombastischen Nominalkette am Satzende; 2. rhythmische und syntaktische Vereinfachung durch Ersatz des daß-Satzes durch indirekte Rede ohne >daßAbstammungsnachweis< - vgl. die >Nürnberger Gesetze< vom 15.9.1935 - Stellung nimmt:

87 88 89 90

Wilde, Importance, S. 21 (Hervorhebung R. K.). Sander, Vor allem Ernst!, S. 24 f. - Vgl. dazu oben S. 240, Anm. 171. Sander, Vor allem Ernst!, S. 147. Vgl. Brackmann/Birkenhauer, NS-Deutsch, S. 86. 311

JACK. Ich habe die Hofkalender aus jener Zeit aufbewahrt. LADY BRACKNELL. Die wimmeln von Fehlem und Fälschungen. Falsche Stamm-

bäume - das ist neuerdings ein Erwerbzweig geworden.91 oder die Ehemoral - Lord Henry Wottons Aphorismen aus Dorian Gray variierend - unterminiert: LADY BRACKNELL. [...] Gewöhnlich fängt erst nach der Eheschließung das Glück an, von Leuten abzuhängen, die man gamicht geheiratet hat.92 LADY BRACKNELL. [...] Die Familie ist eine schreckliche Last, besonders für

Leute, die unverheiratet sind.93 Welche Konzeption steckt hinter dieser widersprüchlichen Gestaltung der Lady Bracknell? Es ist offensichtlich nicht möglich, die verschiedenen Facetten, die Lady Bracknell bei Sander hat, alle unter einen Hut zu bekommen. Ihre Prüderie läßt sie reaktionär, ihre Aphorismen lassen sie frivol wirken; ihr Antimarxismus nähert sie dem Nationalsozialismus an, ihre gelegenüiche Ironie distanziert sie von diesem. Man wird daraus wohl den Schluß ziehen müssen, daß Sander kein klares ästhetisches Konzept für die Figur hatte - außer dem, sie keineswegs als leicht durchschaubare Karikatur sozialdarwinistischer Borniertheit zu präsentieren, was eine Aufführung des Stückes vermutlich unmöglich gemacht hätte. Sander löscht daher ihre ideologisch deutlichsten Aussagen und >behängt< sie gleichsam mit einzelnen komischen Merkmalen (z. B. >Prüderiearischen Rasse< und des >Völkischen< sowohl biologisch als auch historisch nachzuweisen. Algernons Anspielung ist unüberhörbar von ironischer Distanzierung geprägt - einmal durch das lässige »weiß ich nicht so ganz«, zum andern durch die wortspielerisch-unernste Interpretation von »Vorgeschichte«, die bisher »höchstens bei Frauen« interessiert habe: Aus beidem geht hervor, daß ihn jedenfalls die »Fortschritte« dieser Wissenschaften nicht sonderlich interessieren. Die explizite Bedeutung (»riesige Fortschritte«) der Äußerung, die gewissermaßen die offizielle Meinung zitiert, wird durch Algernons ironische Distanzhaltung untergraben: Das Gesagte wird durch das Gemeinte boykottiert. Sander wählt für seine zeitsatirischen Pointen keineswegs nebensächliche Fakten des Nationalsozialismus aus, und obwohl die einschlägigen Zitate und Anspielungen nur spärlich im Text auftauchen - gewissermaßen im Text versteckt sind - , ist doch eine thematische Richtung darin zu erkennen: Es geht in erster Linie um den NS-ideologisch zentralen Rassen-Biologismus, der von Sander ironisiert wird. Wie oben dargestellt, beteiligt sich bei Sander selbst Lady Brackneil mit ihrem Verdacht auf Fälschungen von Stammbäumen, was »neuerdings ein Erwerbszweig« geworden sei, an den ironisierenden Zeitbezügen. 104 In dieselbe Kerbe schlägt bei Sander auch Jack, als es darum geht, gegenüber Lady Brackneils Skepsis Cecilys Stammbaum möglichst lückenlos zu belegen. Während Jack bei Wilde bereit ist, eine komische, da semantisch inkongruente Reihe von staatlichen, religiösen und gesundheitlichen Bescheinigungen vorzulegen - "certificates of Miss Cardew's birth, baptism, whooping cough, registration, vaccination, confirmation and the measles; both the German and the English variety" 105 - , hält er sich bei Sander penibel an die Formalitäten des »Ariernachweises«, wie sie in den Nürnberger Gesetzen von 1935 vorgeschrieben wurden: JACK. [...] Und dann habe ich folgende Scheine über mein Mündel aufbewahrt: ihren Geburtsschein und Taufschein, die der Eltern, der vier Großeltem und

103 Sander, Vor allem Ernst!, S. 126 (Hervorhebung R.K.). 104 Sander, Vor allem Ernst!, S. 143. 105 Wilde, Importance, S. 89. 316

acht Urgroßeltern, nebst den Heirats- und Sterbeurkunden, Impfschein, Konfirmationsschein , 106 Jack geht hier in ironisch-pedantischer Überbietung sogar über die Erfordernisse des »kleinen Abstammungsnachweises« bzw. »Ariernachweises«, der lediglich bis zu den vier Großeltern reichen mußte, hinaus. 107 2. Neben diesen ironisch-parodistischen Zitierungen nationalsozialistischer Ideologeme und Gesetze, die noch um einige wenige Anspielungen zu ergänzen wären, 108 stellt Sander durch eine Reihe von Sprüchen und Aphorismen eine weitere Ebene des Zeitbezugs her. Diese Textstellen, die zum größten Teil von Sander selbst stammen, enthalten zwar weniger direkte Bezüge auf das politisch-juristische Umfeld, können aber durch ihren potentiell subversiven Inhalt eine nicht unbeträchtliche antiideologische Wirkung entfalten. So weist Jack sein Mündel Cecily, als diese Algernon zu verteidigen versucht - Algernons Lügen hätten letztlich Jacks eigene Lügengeschichten doch nur unterstützt - , mit den vieldeutigen Worten zurecht: JACK. Cecily, du bist noch ein bißchen zu jung, um solche Dinge zu verstehen. Etwas Falsches unterstützen - das dürfen nur die ausländischen Zeitun-

106 Sander, Vor allem Ernst!, S. 143. 107 Vgl. Brackmann/Birkenhauer, NS-Deutsch, S. 9. 108 Cecily zitiert, wie oben dargestellt, das Erbhofgesetz (Sander, Vor allem Ernst!, S. 113); bereits in ihrem ersten Gespräch mit Miss Prism hatte sie mit dem - von Sander in den Text geschmuggelten - Satz »Landwirtschaft ist doch gegenwärtig so beliebt!« (S. 54) auf den Kontext der >Bhit und Bodenuo>-Bearbeitung überhaupt gespielt werden konnte. Zur Inszenierung von Sanders Text sind nicht weniger als zehn Theaterkritiken erhalten, was einen deutlichen Hinweis auf die starke publizistische

128 129

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»s.«, 16.8.1935 (ohne Quellenangabe; Hamburger Theatersammlung). Eröffnung mit Julia von Hebbel, danach das Lustspiel Zwischen Tür und Angel des jungen Bremer Schriftstellers Ernst Heinrich Maaß; Miß Sara Sampson von Lessing, Die beiden Veroneser von Shakespeare, Ein Monat auf dem Lande von Turgenjew, Lanval von Stucken, Liebe von Wildgans, Klein Eyolf von Ibsen, Ostern von Strindberg, das altflämische Legendenspiel Lanzelot und Sanderein in der Übersetzung von Friedrich Marcus Huebner, das Apostelspiel von Max Meli, ein heiteres Traumspiel Firmian und Christine von Roland Ziersch; als Uraufführungen Liebesopfer von Hans Georg Brenner und Unsterblichkeit von Hans Fritz von Zwehl (im mythischen Griechenland angesiedelt, behandelt die Begegnung zwischen Odysseus und Kirke); schließlich Sanders Neubearbeitung von Bunbury (nach der Aufzählung von »s.«, 16.8.1935; ohne Quellenangabe; Hamburger Theatersammlung). Lüth, Hamburger Theater, S. 56. Lüth, Hamburger Theater, S. 59.

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Beachtung des neugegründeten Theaters darstellt und die Repräsentativität unserer Rezeptionsanalyse gewährleistet. Das Interessante an dem kritischen Echo ist, daß es - klarer als in allen bisherigen Rezeptionsdokumenten - die ideologische Provenienz der Kritiker erkennen läßt: Sanders Text hatte aufgrund seines kabarettistischen Zeitbezugs eine polarisierende Wirkung. Hinsichtlich der Beurteilung von Sanders Aktualisierungkonzeption, die die entscheidende Besonderheit der Bearbeitung ist, zerfiel die theaterkritische Rezeption in zwei Lager. Die negativste, knappste und späteste (volle fünf Tage nach der Premiere) Kritik brachte der Völkische Beobachter: Mit der Bearbeitung Ernst Sanders können wir uns nicht einverstanden erklären. Denn Sander hat tüchtig unter den anderen Bühnenweiken Wildes nach schönen Dialogen Ausschau gehalten und sie einfach in »seinen« Bunbury übernommen. Im übrigen aber halten wir diese neue Bearbeitung für unnötig, denn Oscar Wilde hat uns heute nichts mehr zu sagen. Seine Geistreicheleien konnten ein Publikum vor 30 Jahren begeistern. Die Regie von Friedrich-Carl Kobbe ließ den Dialog in den Vordergrund treten. [...] Das Publikum, das sich wie bei allen Premieren in dem Neuen Theater aus Freunden des Hauses zusammensetzte, erging sich in lebhaften Beifallskundgebungen.132 Die Kritik erwähnt nicht nur mit keinem Wort Sanders auffallige Aktualisierung des Wildeschen Textes, sondern leugnet sie geradezu - ein Anzeichen dafür, daß Sanders ideologische Respektlosigkeiten vom offiziellen Parteiorgan der NSDAP höchst ungnädig aufgenommen worden waren. Angesichts der ärgerlichen Reaktion des Völkischen Beobachters erweist sich Sanders Strategie der ironischen Bedecktheit als nur allzu berechtigt. Da Sander mit der Behauptung, er habe lediglich veraltete Aphorismen Wildes ausgemerzt und durch andere, zum Teil apokryphe »Epigramme« Wildes »ersetzt«, seine BearbeiterOriginalität (und die Hinzufügung eigener Anspielungen und Aphorismen) ironisch heruntergespielt hatte, hatte die >völkische< Kritik keine Handhabe, um Sander selbst für die gezielten politischen Anspielungen haftbar zu machen; zumindest wären dafür aufwendige textkritische Recherchen notwendig gewesen. Stattdessen wählt der Kritiker des Völkischen Beobachters die Strategie der schlichten Ablehnung und Denunziation: Er nimmt Sander beim Wort (oder könnte der Kritiker wirklich so ignorant gewesen sein, Sanders eigene Interpolationen nicht zu erkennen?) und tut ihn - mit der vielsagenden Apostrophierung des Possessivpronomens (»>seinen< Bunbury«) - geradezu als Plagiator ab. Bezeichnend für die Verärgerung des Völkischen Beobachters ist auch die Art, wie der Publikumsbeifall registriert und abqualifiziert wird, wobei auf

132

»ze.«, Völkischer Beobachter, 5.11.1935. 327

die »Freunde des Hauses« der Verdacht (elitären?) gesellschaftlichen Außenseitertums und wohl auch politischer Unzuverlässigkeit geworfen wird. 133 Alle anderen Theaterkritiken vermerken zumindest die ins Auge springende Aktualisierung des Stückes durch Sander, obwohl die Reaktionen darauf recht unterschiedlich sind. Der Kritiker des nationalsozialistischen Hamburger Tageblatts stellt in der Schlagzeile die suggestive Frage »Ist die Wilde-Renaissance echt?«, um zu dem Ergebnis zu kommen: »Nein, die sogenannte WildeRenaissance ist ein SuiTogat, - ein Strohfeuer, das bald verglommen sein wird.« 134 Zwar gesteht der Kritiker der Bühne das Recht zu, Wilde spielen zu dürfen - »ohne darum gleich als hoffnungslos liberalistisch verseucht zu gelten«. Er meint jedoch, Sander sei die Aktualisierung, die »sowohl aphoristisch als auch handlungsmäßig« versucht worden sei, nicht gelungen: »Man kann zum Beispiel nicht in ein betont englisches Stück deutsche volkswirtschaftliche Probleme einführen.« 135 Die deutlicheren und häufigeren Anspielungen auf die Rassengesetzgebung erwähnt er nicht. Hingegen hebt er auf den elitär-dekadenten »Individualismus« des Stückes ab, der überholt sei: Nicht nur aus historischen Gründen findet man die Stilreinheit beeinträchtigt: Wildes Witz, Wildes Zynismus sind individualistisch, - die allgemeinverbindliche politische Satire widerspricht seiner Art. [...] Hinzu kommt allerdings, daß auch der Toleranteste nicht über die Erkenntnis hinwegkommen wird, daß die großen Tage von Oscar Wide vorbei sind. Für die Müden, für die ewig Resignierenden, für die Allzuverfeinerten mag dies die rechte Würze sein, - an sich aber sind weder im Publikum noch unter der Schauspielerschaft die rechten Voraussetzungen für Wilde gegeben. Wir wollen Ernst Sander nicht zu den Müden zählen, bei ihm ist das etwas anderes, - aber seine lange Rechtfertigung für Wide, der seiner Ansicht nach zeitgemäß ist, weil er nicht zeitgemäß ist, scheint doch etwas sehr an den Haaren herbeigezogen.136 Der Wandsbeker Bote lobt »die Geschliffenheit und Schärfe, die Leichtigkeit und den Glanz« von Sanders Übertragung, kritisiert aber die »zersetzenden« Anspielungen: »Allerdings wurden Stellen des Wildeschen Textes, die in ihrer

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Der Bühnenvertrieb Kurt Scholtze Nachf., Leipzig, Braustr. 26, der die Bearbeitung zeitweise in Vertrieb hatte, zitierte in seiner (undatierten) Auswahl aus den Pressestimmen die Kritik des Völkischen Beobachters in ganzen sieben (sinnentstellenden) Worten: »Das Publikum erging sich in lebhaften Beifallskundgebungen« (archiviert im Braunschweiger Sander-Archiv) - auch dies vielleicht eine »undurchdringlich maskierte Parodie«! »G.Th.«, Hamburger Tageblatt (undatiert; Braunschweiger Sander-Archiv). Der Kritiker bezieht sich damit wohl auf die Anspielungen auf die Neuordnung der Landwütschaft und auf die Devisenbestimmungen (Sander, Vor allem Ernst!, S. 54, 93). »G.Th.«, Hamburger Tageblatt.

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zersetzenden Schärfe beißende Kritik üben, teilweise unnötig weit in den Vordergrund gespielt.« 137 Zwei weitere Kritiker sind nicht so leicht einzuordnen, scheinen mir aber doch eher dem Nationalsozialismus nahezustehen: Sie kritisieren Sanders Text von einem Standpunkt aus, der ihm Verrat an den Zielen des Neuen Theaters vorwirft. Das Stück liege »durchaus nicht auf der vom Neuen Theater proklamierten idealistischen Linie«: Die freie Übertragung und Bearbeitung von Emst Sander unterstreicht trotz der Verlegung in eine auch für Britannien nicht mehr recht vorstellbare Gegenwart und trotz einiger harmloser Zeitspitzen nur den Eindruck, den auch das Original auf den heutigen Hörer macht: Ein zeitlos-unwirkliches Puppenspiel, das vom scharfen, aber unverbindlichen Aphorismus lebt [...]. Der ungewöhnlich dauerhafte Beifall galt den in diesem Falle lebensspendenden, zuweilen auch einmal mißverstandenen Witzworten.138 Wolf Schramm, der laut Lüth 1939 wegen einer zu negativen Kritik strafversetzt wurde, 139 sprach - offenbar ganz erfüllt vom Geist der neuen Zeit - vom »bestürzend gealterten Bunbury«; Sander habe sich zwar mit »inniger Breite über seine Absichten, Ansichten und Einsichten (im Programmheft) geäußert«, eine »Rettung für den geschminkten Greis, den dieses Stück nun einmal (auch mit den mehr als deudichen Anspielungen auf die Gegenwart) darstellt«, habe es jedoch nicht gegeben. Seine weiteren Ausführungen scheinen vom völkischheroischen Pathos der Goebbelsschen Kunstauffassung getragen zu sein: Es hat keinen Sinn, an Einzelheiten herumzurätseln: die Aufführung war lustlos, sie war weder vom Glauben an eine gute Sache, noch von der Überzeugung eines ehrlichen Kampfes für eine mittelmäßige Sache getragen; der Lärm des Beifalls nach einigen Pointen von Wilde oder einigen Spitzen von Sander ändert daran nichts. Aber wenn irgendwo der Einzelne und die Gesamtheit Ursache hat, das Schicksal auf das Selbstvertrauen, die Unterordnung unter eine Idee und den Gemeinschaftssinn zu stellen, so hier an diesem Theater. Und wer auch immer dieses Fundament angreift, untergräbt die Zukunft dieser Bühne: So ist das Problem dieser Wilde- Aufführung gar kein künstlerisches, sondern ein menschliches, und die Forderung, die sich aus ihm ergibt, heißt: Selbstbesinnung... für jeden. [...] Jetzt jedenfalls erscheint es an der Zeit, das Wort vom »idealistischen Theater« in seiner innersten Bedeutung Wirklichkeit werden zu lassen, sonst gelangt man zu nichts als zu der Abwicklung eines äußeren Programms, dem die Überzeugungskraft fehlt.140

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Wandsbeker Bote (ohne Verfasserangabe, undatiert; Braunschweiger Sander-Archiv). »Kpff.« (ohne Quellenangabe, undatiert; Braunschweiger Sander-Archiv). Lüth, Hamburger Theater, S. 32. Wolf Schramm, Hamburger Anzeiger, 1.11.1935 (Original-Hervorhebungen als Sperrung). 329

Neben diesen fünf NS-motivierten oder -inspirierten, die kabarettistisch-politischen Frivolitäten des Textes ignorierenden oder ablehnenden Kritiken steht eine gleich große Zahl von Besprechungen, die mehr oder weniger enthusiastisch Sanders Aktualisierung rühmen. H. N. am Mittag spricht von »geistige^] Verwandtschaft« zwischen Wilde und Sander, die das funkelnde Spiel des Witzes und Geistes neu aufleuchten und die Spanne der vierzig Jahre zwischen damals und heute durch aktuelle und persönlich gefärbte EinfäUe nicht mehr spürbar werden läßL [...] Es ist ein durchaus zeitgemäßer Oscar Wilde, angefangen von den Stahlmöbeln auf der Bühne bis zur Wiedergabe der Völkerbundsitzung im Lautsprecher [...], aber ein Oscar Wilde, der nicht ohne kleine amüsante Boshaftigkeiten ist [...].141 Auch Sanders und Kobbes Kritiker-Kollege von den Hamburger Nachrichten, Otto Küster, lobte die Art, wie Sander seinen Bunbury »mitten in die deutsche Gegenwart hineinstellt«: [...] denn was Sander aus Eigenem hinzufügte, das Zeitlich-Erheiternde, die schmunzeln machenden liebenswürdigen Spitzen, das gibt dem Stück gerade die Zeitnähe, und das möchte man keinesfalls missen, sofern man noch Sinn für Humor hat. [...] mit fröhlicher Ausgelöstheit gibt man sich ihm gefangen und klatscht jubelnd Beifall.142 Ebenso urteilen das Hamburger Fremdenblatt, die Altonaer Nachrichten, das Altonaer Tageblatt·. Darüber hinaus gibt es auch zeitgemäße Anspielungen eigener Erfindung oder unbestimmbarer Herkunft, die sich etwa in der Mitte zwischen den köstlichen Pointen aus Shaws »Insel der Überraschungen« und den aktuellen Witzen eines guten Kabaretts halten. Gerade diese Wendungen zündeten und wurden spontan beklatscht.143 Sander scheut bei den Anreicherungen sogar vor der Aktualität nicht zurück, und die lachende Zustimmung der Hörer gibt seinem Vorgehen recht.144 Er hat aus der [...] Komödie [...] ein Gegenwartsstück gemacht, das allen humorigen Hörern »passend« vorkommend dürfte. Man spürt den Humor, die kleine Bissigkeit, genau so wie die schriftstellerische Eleganz des in Hamburg hochgeschätzten Journalisten und Romanschriftstellers Ernst Sander, und so konnte

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H.N. am Mittag (ohne Verfasserangabe, undatiert; Braunschweiger Sander-Archiv). Otto Küster, Hamburger Nachrichten, 1.11.1935. Georg Meyer, Hamburger Fremdenblatt, 1.11.1935. »ha.«, Altonaer Nachrichten (undatiert; Braunschweiger Sander-Archiv).

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er im Neuen Theater - besonders mit seinen kleinen aktuellen Anspielungen einen vollen Erfolg buchen [...].145

Während die Kritikermeinungen hinsichtlich der ironischen Zeitbezüge ideologisch polarisiert sind, herrscht über die sprachliche Qualität der Dialoge, das »Florettieren mit geistreichen Wendungen zwischen Emst und Ulk« (.Altonaer Nachrichten) fast einhellige Übereinstimmung. »Im ganzen ist der Dialog witzig und unbestimmt funkelnd; es sind Wortgefechte, denen man folgen soll wie einem ätherischen Florettkampf [,..].«146 Ebenso einig sind sich die Kritiker darin, daß die Aufführung und die Schauspieler den Anforderungen des brillanten Sanderschen Textes nicht gewachsen waren; die Vorstellung habe zu lange gedauert,147 das Spieltempo sei nicht rasch genug gewesen: »Die Regie hätte das Tempo auf ein zündendes Presto ankurbeln, den Ton auf Leichtigkeit abstimmen, vor allem einen durchgehenden einheitlichen Darstellungsstil finden müssen.«148 - »Friedrich-Carl Kobbes Spielleitung hätte sprühendes Tempo haben müssen [...].«149 Die Darsteller hätten »eine gewisse Verkrampftheit« gezeigt (Hamburger Tageblatt), der Darsteller des Jack sei »zu laut«, der des Algernon »nicht elegant genug« gewesen {Altonaer Tageblatt), sei »mit reichlich schwerem Schritt über die Bühne gegangen« (Hamburger Nachrichten), habe »mit dem Algernon nichts anzufangen« gewußt (Völkischer Beobachter). Die Frauen hätten noch am besten abgeschnitten (Altonaer Nachrichten): Sibylle Busse war als Lady Brackneil eine vornehme Engländerin vom Scheitel bis zur Sohle, eine Lady, die es verstand, auf Abstand zu halten, und Stefani Schulz' Miß Prism ein spätes Mädchen von erstaunlich komischem Gehaben. [...] Karl Heidmann (war) als Pfarrer Chasuble ein frommer Gottesmann; [...].150

Nach Meinung von »Kpff.« hätte »Sibylle Busse [...] für die dankbare Rolle der Lady Bracknell einen kräftigen Schuß Sandrockscher Groteske brauchen können«. Zusammenfassung : 1. Sanders Aktualisierung und seine sporadischen kabarettistischen Zeitbezüge, die aufgrund ihrer ironischen Mehrdeutigkeit aus heutiger Sicht nur schwer einzuschätzen sind, führten in der kritischen Rezeption zu einer ideologischen Polarisierung. Daran läßt sich einmal ermessen, wie begrenzt auf der Produk-

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»A.«, Altonaer Tageblatt (undatiert; Braunschweiger Sander-Archiv). Georg Meyer, Hamburger Fremdenblait, 1.11.1935. »Dreieinhalb Stunden« laut Wolf Schramm, Hamburger Anzeiger, 1.11.1935. Ebd. »Kpff.« (ohne Quellenangabe, undatiert; Braunschweiger Sander-Archiv). Otto Küster, Hamburger Nachrichten, 1.11.1935. 331

tìonsseite der Spielraum für kritische Gegenwartsbezüge war - was Sanders aktualisierende Äanftuo'-Bearbeitung als wagemutiges Unterfangen erscheinen läßt - , wie hellhörig und verschieden andererseits die Rezipierenden auf subtile ironische Anspielungen reagierten. Insgesamt bestätigt sich hier die bereits oben getroffene Beobachtung, daß bis zum Ende des Olympiajahres 1936 - also bis zum Verbot der Theaterkritik und zur Einführung der >Kunstbetrachtung< - in der Theaterkritik des Dritten Reiches ein gewisser Pluralismus herrschte. 2. Die kritische Rezeption läßt erkennen, daß Sanders brillante Dialoggestaltung mit ihrer figurensprachlichen Homogenisierung sich insofern in die Inszenierung hinein fortsetzte, als in keiner einzigen Kritik der figuralen Charakterisierung besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird: Der Held des Sanderschen Textes ist die elegant-witzige Sprache als solche. Die figurale Bindung der individual-komischen Sprechweise, die bei Wilde erkennbar ist, ist bei Sander praktisch aufgegeben. 3. Der Sandersche Text wurde von der Kritik als sprachlich brillantes Inszenierungsangebot wahrgenommen, das aber von der behäbigen Regie und den allzu jugendlichen oder mittelmäßigen Schauspielern nicht ausgeschöpft wurde. Zwischen der dialogischen Qualität der Bearbeitung und der schauspielerischen Realisierung klaffte ein Widerspruch. Zum ersten Mal in der Rezeptionsgeschichte der Wildeschen Komödien war der Fall eingetreten, daß die Qualität des Textes (der Übersetzung/Bearbeitung) als von der Theatralisierung nicht eingeholt erkannt wurde. Der Text war besser als das Schauspiel: Ernst Sanders ehrlich durchgeführte Devise lautet: Vor allem Oscar Wilde! [...] Nach mancher Uraufführung wird der Autor mehr oder weniger deutlich darauf hingewiesen, daß er sich bei den Darstellern bedanken müsse, weil diese sein Stück zum Erfolg geführt hätten. Diese edle Sitte [...] wäre in unserem Falle fehl am Platz. [...] Nun denn: das Neue Theater möge sich bei Oscar Wüde dafür bedanken, daß der Erfolg so stark war.151

Exkurs: Zur »Opposition«

im Theater des Dritten

Reiches

Ernst Sanders Bunbury-Bearbeitxing wurde trotz ihrer sprachlichen Frische selbst in den Jahren der deutschen >Wilde-Renaissance< bei weitem nicht so oft gespielt wie die Teschenberg/Vallentinsche oder Blei/Zeißsche Fassung, geschweige denn wie die Lerbsschen Bearbeitungen, offensichtlich deswegen, weil Sanders ironische Zeitbezüge nicht nur eine gewisse Toleranz der Behörden und des Publikums, sondern eine gewisse politische Risikobereitschaft der

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Georg Meyer, Hamburger Fremdenblatt, 1.11.1935.

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Theater vorausgesetzt hätten, was in den deutschen Großstädten und Großtheatern - vor allem nach dem Ende des Olympiajahres 1936 - immer unwahrscheinlicher wurde. So wurden Lerbs' regimekonforme Wilde-Bearbeitungen in allen Großstädten Deutschlands gespielt, Sanders Bunbury dagegen wurde weder in Hamburg noch in Berlin noch in München von einem größeren Theater übernommen: Im April 1937 spielte man am Staatstheater Berlin im Beisein Görings die risikolose Blei/Zeißsche Fassung, im Mai desselben Jahres am Hamburger Schauspielhaus die Teschenberg/Vallentinsche Version, im Juni 1938 in den Münchner Kammerspielen wieder die Blei/Zeißsche Fassung. Offensichtlich wollte keines dieser Theater die politisch-ideologischen Frivolitäten der Sanderschen Aktualisierung in Kauf nehmen. Wohl gab es in Hamburg und Berlin durch Fehling großartige KlassikerInszenierungen (ζ. B. Don Carlos in Hamburg, Richard der Dritte in Berlin), 152 bei denen - allein schon aufgrund der Thematik - den kritischen Köpfen im Publikum so mancher Gegenwartsbezug hätte mehr oder weniger deutlich aufgehen können, doch waren derartige zeitgeschichtliche Bezüge höchstens private, rezipientenabhängige Assoziationen, die nicht auf die suggestive Zeichensprache den Inszenierungen selbst zurückzuführen waren. Wenn die Zuschauer daher im Don Carlos bei Posas Worten »Sire, geben Sie Gedankenfreiheit« hie und da in Beifall ausbrachen, so ging der darin eventuell zum Ausdruck kommende Wille zum Protest bzw. der eventuelle kreative politische Aktualisierungseffekt - falls der Beifall an dieser Stelle sich in diesem Sinne monosemieren ließe - nicht unbedingt von der Inszenierung aus, sondern von jenem mutigen Zuschauer, der mit dem (überraschenden?) Beifall anfing.153 Weder Fehling noch Gründgens hätten sich - etwa durch die zwei-

152 vgl. dazu Fischer-Lichte, Kurze Geschichte des deutschen Theaters, S. 385-388; Ahrens (Hrsg.), Das Theater des deutschen Regisseurs Jürgen Fehling; Riess, Gründgens, S. 211-214. 153

Günther Rühles im Hinblick auf den Nationalsozialismus sowie die DDR formulierte These, daß in totalitär »geschlossenen Situationen [...] Stücke unserer Klassiker, die ja auf Freiheit hin angelegte Lebensmodelle enthalten (auch solche im machtgesicherten Feld wie etwa der Don Carlos oder der Wilhelm Teil), anders zu sprechen« beginnen (Rühle, Was soll das Theater?, S. 221; Hervorhebung R.K.), ist m.E. insofern eine petitio principii, als Rühle durch das Verb »sprechen« von vornherein die Aktivität der Rezipienten zugunsten der Institution des Theaters unterschlägt. Er bedenkt nicht, daß das Theater die Klassiker womöglich nur >wie gehabt< »sprechen« läßt, während jedoch die (oder einige) Zuschauer anderes »hören« und »verstehen«, weil sie bewußt anderes hören und verstehen wollen; die (konformistische) intentio actorum könnte durch die (subversive) intentio spectatorum quasi überstimmt werden; in der Retrospektive neigt man wohl immer dazu, produktions-deterministisch zu denken. Rühle scheint mir auch nicht genügend zu berücksichtigen, daß Institutionen, die Lebensmodelle über die Tagesgeschichte hinaus weitertradieren (Literatur, Theater, Religion, Museum), damit zwangsläufig eine »versteckte Opposition« (Rühle, Was soll das Theater?, S. 77 über Hilpert, Gründgens, Fehling im Dritten Reich) alternativer Wel333

deutige Semantìsierung einer Figur oder irgendwelcher theatralischen Zeichen einen pragmatischen Bezug auf Hitler, Goebbels oder eine Kritik an der SS oder der Rassenpolitik leisten können. 154 Wenn Günther Rühle über Jürgen Fehlings noch heute als beispielhaft empfundene Inszenierung von Shakespeares Richard der Dritte am Berliner Staatstheater von 1937 meint, es »grinste und hinkte aus seiner Maske Joseph Goebbels«, 155 so handelt es sich dabei um eine retrospektive Überinterpretation, die weder aus den Bilddokumenten noch aus sonstigen Quellen jener Zeit zu belegen ist: Das Hinken und die Mißgestalt gehören nun einmal zur Rolle, und Werner Krauß' rundlichschwammiges Gesicht und sonstige Maske als Richard konnte beim besten Willen nicht an Goebbels gemahnen. Hätte man dies beabsichtigt, so wäre es dem Maskenbildner leichtgefallen, der Zuschauerphantasie auf die Sprünge zu verhelfen. 156 Derartige Pragmatisierungen der theatralischen Zeichensprache wären nach 1936 jedoch weder in Hamburg noch in Berlin auch nur über die

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ten enthalten, wobei in totalitären Verhältnissen der Akzent auf dem Adjektiv »versteckt« liegt. So berichtet Riess, daß Gründgens in Fehlings Inszenierung von Richard der Dritte »zumindest das, was lebensgefährlich gewesen wäre«, gestrichen habe (Riess, Gründgens, S. 213), ohne allerdings anzudeuten, worum es sich dabei handelte. - Werner Fincks Kabarett Katakombe wurde der gezielten politischen Zweideutigkeiten wegen im Mai 1935 geschlossen, Finck kam ins KZ, woraus er auf Anordnung Görings (durch Vermittlung Käthe Dorschs) zwei Monate später entlassen wurde (Otto/Rösler, Kabarettgeschichte, S. 143; Deißner-Jenssen [Hrsg.], Die zehnte Muse, S. 346). Vgl. oben S. 323, Anm. 119. Hier zitiert nach Fischer-Lichte, Kurze Geschichte des deutschen Theaters, S. 388. Barlog soll »später von einem »offensichtlichen Goebbels-AbbildUmweg< über die Überzeitlichkeit der Symbolsprache gebunden. Tagespolitische Abstinenz und ästhetische Enthistorisierung waren somit die Voraussetzung dafür, daß der humanisierende Appell der großen Kunst im Kontext des Nationalsozialismus hie und da inszeniert werden konnte.157 Demgegenüber stand Sanders aktualisierendes Verfahren der ironischen Anspielungen und der - im Namen Wildes vollzogenen - Implantierung ideologiefeindlicher Aphorismen künstlerisch natürlich auf einem wesentlich anspruchsloseren Niveau (als etwa die auch heute noch als avantgardistisch empfundenen Inszenierungen Fehlings) - eben auf dem Niveau eines Kabaretts. Politisch jedoch (im Sinne der Theateipolitik des Dritten Reiches) verstieß es deutlicher gegen die Grenzen der Zensur, die der Kunst damals gesteckt waren, als die ästhetisch kühnen, betont transhistorisch-symbolischen Schiller- und Shakespeare-Inszenierungen Fehlings. Die »zersetzende Schärfe« einzelner Stellen, die »Boshaftigkeiten«, die in die Gegenwart zielten und bei der Hamburger Erstaufführung den Grund für die Ablehnung des Textes durch den Völkischen Beobachter bildeten, mußten jeden Dramaturgen, der einer Konfrontation mit den Machthabem aus dem Weg gehen wollte, von der Übernahme des Textes ins Spielprogramm abschrecken. Nur so läßt sich erklären, daß nach der Hamburger keine weiteren Aufführungen von Sanders Version an größeren Theatern nachzuweisen sind. Nicht einmal die Hamburger Inszenierung selbst scheint überregional registriert worden zu sein: Das 1941 erschienene Dramen-Lexikon nennt als Erstaufführungsdatum fälschlich: »Burgth. Wien 38«. 158

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Der Kölner Theaterkriüker Ruppel sah durchaus die Gefahr, die der Kunst von Seiten der NS-Politik drohte, und bestand in seinen >Kunstbetrachtungen< bis 1943 darauf, die Autonomie der Kunst gegenüber dem Zeitgeschehen zu schützen: Er verwirft jene Dramatik, »die in historischen Verläufen Parallelen zur Gegenwart sucht und umso lauter Bekenntnis wird, je mehr es ihr an Formkraft gebricht. [...] immer dringlicher drängt die Frage zur Entscheidung, ob Dichtung auch in Zukunft noch als Kunst oder nur als Begleitung zum Zeitgeschehen zu gelten habe« (Ruppel, Berliner Schauspiel, 1943, S. 343 f.). Schulz, Dramen-Lexikon, S. 34.

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2 Wien, Burgtheater, 26. Oktober 1938: »Modeschau des guten Burgtheatertons« (Neue Freie Presse)159 Regie: Jack: Algernon: Chasuble: Crisby: Lane: Merriman:

Ulrich Bettac Hermann Thimig Ulrich Bettac Julius Karsten Hanns Hitzinger Richard Eybner Karl Friedl

Bühnenbild: Bracknell: Gwendolen: Cecily: Prism:

Fritz Judtmann Hedwig Bleibtreu Alma Seidler Maria Kramer Rosa Albach-Retty

Der historische Kontext ist rasch umrissen: Am Tag des >Anschlusses< Österreichs (13. März 1938) trat Röbbeling vom Direktorium des Burgtheaters zurück, und der antisemitische Scharfmacher Dr. Mirko Jelusich wurde auf einige Monate vom Propagandaministerium zum »Kommissarischen Leiter« ernannt.160 Acht namhafte Schauspieler und Schauspielerinnen wurden (trotz des Protestes einiger Kollegen, namenüich Paul Hörbigers) »aus rassischen Gründen ausgeschieden«.161 Vom 6. Juli an übernahm der populäre Burgschauspieler Ulrich Bettac, der vor allem in Liebhaberrollen geglänzt hatte, als »Provisorischer Leiter« für die Spielzeit 1938/39 die Direktion, bevor er dann im Mai 1939 von Lothar Müthel (bisher an Gründgens' Berliner Staatstheater) abgelöst wurde. Bettacs Direktorium, in das die Festlichkeiten zum fünfzigjährigen Bestehen des neuen Hauses fielen - Höhepunkt war eine feierliche Aufführung von Schillers Don Carlos im Oktober 1938 - , war als Übergangszeit gedacht. Nach der Jelusich anvertrauten >Säuberungsaktion< sollte wieder in das ruhigere Fahrwasser der Burgtheatertradition zurückgesteuert werden. Der Rückgriff auf Bunbury, das in Wien schon dreimal gespielt worden war, am erfolgreichsten in Rombergs burlesker Burgtheater-Inszenierung von 1920, bot sich an, wie ein Kritiker vermerkte: Das Burgtheater hat [...] seine guten Gründe gehabt, Bunbury in neuer Inszenierung auf den Spielplan zu setzen. Denn einerseits hat es bereits mit diesem Stück, das vom September 1920 bis März 1926 nicht weniger als 61 Aufführungen erlebte, die besten Erfahrungen gemacht, und anderseits tut es gut daran, das

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Besetzung nach dem Theaterzettel vom 29. Oktober 1938, Österreichisches TheaterMuseum. »Jelusich war vor allem deshalb berufen worden, weil die Wiener Stadtverwaltung in der letzten Zeit des Regimes Schuschnigg die Eröffnung eines unter seiner [= Jelusichs] Leitung geplanten judenfreien Privattheaters verhindert hatte und die neue nationalsozialistische Regierung ihm nun eine Genugtuung verschaffen wollte« (Doublier/ Zeleny, Hedwig Bleibtreu, S. 392 f.). Vgl. Burgtheater. Eine Chronik in Bildern, S. 60; Schreyvogel, Das Burgtheater, S. 158 f.; Haeusserman, Das Wiener Burgtheater, S. 120-126.

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Programm nicht ausschließlich der tragischen Note zu verschreiben, die mit Don Carlos für die klassische Vergangenheit, Thomas Paine für die Gegenwart angeschlagen wurde. Neben der gedämpften Heiterkeit der Freier brauchte es daher noch den scharf pointierten Witz, den funkelnden Sarkasmus, die treffsichere Ironie, wie sie in Bunbury Feste feiern. 162

Im Burgtheaterprogramm wurde nicht etwa - wie in Hamburg - Sanders Essay abgedruckt, in dem er die Wiederbelebung des Spötters Wide rechtfertigt, sondern ein uninteressanter, überwiegend biographischer Essay, der trotz seines aktuell klingenden Titels »Oskar Wilde heute« nicht den geringsten Hinweis auf die Aktualisierung des Textes durch Sander oder auf eine sonstige Aktualität Wildes enthält. Im Gegenteil: Der Essay porträtiert Wilde ausdrücklich als »typischefn] Repräsentant[en]« des 19. Jahrhunderts. Mide sei in seinem, dem ausgehenden Jahrtiundert verhaftet: seine Grundsätze und seine Erkenntnisse sind zu spürbar auf das Geschmacksempfinden jener Zeit abgerichtet, als daß sie uns heute noch in einem tieferen Sinne direkt anrufen könnten. 163

Zwar spricht Wagner vom »zischenden Sprühregen von Pointen«, dem »Furioso von Geist, Ironie und tieferer Bedeutung«, dem Protest Wildes »gegen das Dutzendtum«, fügt aber beschwichtigend hinzu, er sei »weniger grob als Shaw; die großen und kleinen Boshaftigkeiten haben bei ihm eine samtne Verkleidung und das süße Gift der Satire spritzt er nur fein zerstäubt aus der Phiole«. 164 Die eigentlichen Gründe für den Rückgriff auf Bunbury waren laut Wagner nicht Wildes Aktualität, denn die in seinen Theaterstücken behandelten Probleme gehörten »längst ins Arsenal der Erinnerung«, sondern zwei recht pragmatische Dinge: einmal die Tatsache, daß die Werke Wildes »heute noch Beifall finden«, zum andern der »Mangel an wirklich geistvollen Unterhaltungsstücken«.165 Die am Burgtheater gespielte fiunèao'-Fassung Sanders war durch den rezeptionssteuernden Essay Wagners im Programmheft vom Verdacht irgendeines subversiven Gegenwartsbezugs gereinigt. Eine ähnlich rezeptionsvorbereitende Funktion konnte - beabsichtigt oder nicht - ein Probenbericht mit Schauspielerinterviews erfüllen, der zweieinhalb Wochen vor der Aufführung unter dem Reklame-Titel »Man probt >BunburyBunbury< im Burgtheater«, in: Programmheft vom November 1938, S. 13-20, hier S. 14, 16. 164 Wagner, »Wilde heute«, S. 18 f. 165 Wagner, »Wilde heute«, S. 19.

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aktualisierenden Zeitbezüge der Sanderschen Fassung, mehrfach wird jedoch nostalgisch auf frühere Inszenierungen angespielt: Bunbury heißt für den, der das Stück kennt, der Adele Sandrock als Tante miterlebte: Lachen, Laune und wieder Lachen. [...] Und ob man sich noch an Bunbury erinnert! [...] Das Burgtheater weiß, warum es jetzt gerade Bunbury auf den Spielplan setzt. Seit jeher hatte das kultivierte Lustspiel in diesem Hause neben den Klassikern und den ernsten Schauspielen der modernen Dichtung einen Ehrenplatz.166 Als besonderer Leckerbissen wird auf die Verkörperung der Lady Bracknell durch die beliebteste und prominenteste Schauspielerin des Ensembles, Hedwig Bleibtreu, hingewiesen, wobei der Kritiker Lady Bracknells Herz, Humor und Charme anpreist, als handle es sich um die Dramatisierung eines CourthsMahler-Romans: Die Zügel des Stückes hat natürlich Hedwig Bleibtreu in Händen. Sie ist die humorvolle, alte Tante, die auf den ersten Blick errät, wie die Sache steht, die den Schwindel nur mitmacht, um ihn zu durchschauen. Wilde hat hier eine alte Dame mit solchem Chaime gezeichnet, daß diese Rolle seit langem zu den begehrtesten der Lustspielbühne gehört. Daß Hedwig Bleibtreu sie mit ihrer persönlichen Liebenswürdigkeit ausstatten wild, kann man sich denken. Sie wird mit feinem Humor das turbulente Treiben der jungen Leute auf der Bühne beobachten und zu Ende führen.167 Bunbury wurde somit im Programm und bei den Proben als zeitentrückte, unsatirische Harmlosigkeit vorgestellt, als Brückenschlag zu einer spezifisch österreichisch-liebenswürdigen Komiktradition. Daß diese Anbindung an die spezifisch Wienerische Tradition burlesker Bunbury-Inszenierungen von der Burgtheater-Ommaturgie bewußt gesucht wurde, geht auch aus dem Aufführungstext hervor, wie er im Inspizientenbuch der Bettacschen Inszenierung überliefert ist. 168 Der Text enthält nicht nur zahlreiche Striche, sondern auch maschinenschriftliche Korrekturen und Zusätze, die alle aus Rombergs Regiebuch von 1920 übernommen sind. 169 Der dramaturgische Bearbeiter des Burgtheaters hat Sanders Text von Anfang bis Ende mit Rombergs (bzw. Teschenberg/Greve/Rombergs) Text verglichen, jenen durch diesen ergänzt, wobei er Rombergs burgtheatererprobtem Text vor allem an aphoristischen Stellen die größere Authentizität zubilligte. Wo etwa ein Sanderscher Aphorismus in Rombergs Regiebuch keine Entsprechung hatte, wurde er oft gestrichen. 166 167 168 169

»w.f.m.«, Neues Wiener Journal, 11.10.1938. »w.f.m.«, Neues Wiener Journal, 11.10.1938. In Zukunft zitiert als: Sander, Vor allem Ernst!, Insp. Zu Rombergs Textfassung und Inszenierung vgl. 6. Kapitel, S. 211, Anm. 85.

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Welche konzeptionellen Tendenzen läßt die dramaturgische Überarbeitung erkennen? Das Inspizientenbuch verzeichnet zwar den genauen Text sowie die Zeitpunkte und Richtungen der Auftritte und Abgänge, enthält aber - im Gegensatz zu einem Regiebuch - keine Skizzen und Randbemerkungen, aus denen sich etwa semiotische Substitutionen (z.B. Ersatz von Sprache durch Aktion) mit einiger Sicherheit rekonstruieren ließen. Dennoch scheinen die folgenden Hypothesen erlaubt zu sein: Die Änderungen zielen in Richtung einer sprachlichen Entintellektualisierung, einer Verstärkung der Charakterkomik, einer Reduzierung des Gegenwartsbezugs. 1. Die tendenzielle Entintellektualisierung des Textes zeigt sich am deutlichsten in der Streichung von Aphorismen und Witzworten. Es entfallen ζ. B. die Anmerkungen über »das Wesen des Romantischen«, der Aphorismus, daß »Ehen [...] im Himmel geschieden« werden, die Anspielungen auf »das verderbte französische Drama« usw.170 Da Sander fast allen Figuren (außer Miss Prism und Chasuble) zusätzliche Aphorismen in den Mund gelegt hatte, werden dadurch alle Figuren tendenziell etwas schlichter. Gelegentlich werden auch sprachliche Neologismen wie »unwitzig«, die vielleicht als besonders norddeutsch empfunden wurden, gestrichen.171 Komplementär dazu fügt die dramaturgische Überarbeitung einige komische Vergröberungen (wieder) hinzu, die Sander reduziert hatte, ζ. B. staccatohafte Wiederholungskomik, Verlängerung der komischen Namensuche in der letzten Szene.172 Am auffälligsten zeigt sich die Restituierung burlesker Züge im Streit zwischen Cecily und Gwendolen im 2. Akt. CECILY. [...] This is no time for wearing the shallow mask of manners. When I see a spade I call it a spade. GWENDOLEN (Satirically). I am glad to say that I have never seen a spade. It is obvious that our social spheres have been widely different. 173

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Sander, Vor allem Ernst!, Insp., S. 8, 9, 19 f. Sander, Vor allem Ernst!, Insp., S. 18, 73. Sander, Vor allem Ernst!, Insp., S. 125, 165. Wilde, Importance, S. 70. - Bei Wilde äußert Cecily keine Beleidigung, sie verwendet vielmehr die englische Redewendung to call a spade a spade (»eine Sache beim rechten Namen nennen«), Gwendolen dagegen interpretiert die Redewendung beleidigendunkooperativ, indem sie sie wörtlich nimmt - eine Komisierungstechnik, die Wilde auch in anderen Komödien einsetzte (Vgl. Kohlmayer, »Sprachkomik«, S. 367 f.). Wildes Instrumentierung des rhetorischen Gegensatzes der beiden jungen Damen ist bemerkenswert: bei Cecily zwei schlichte, direkte Sätze in festem Rhythmus und apodiktischem Ton (Alliteration, Wortwiederholung), bei Gwendolen eine elaborierte Sprechweise, die vor allem durch die indirekt-distanzierte Einleitung ihrer Sätze markiert ist ("I am glad to say that", "It is obvious that"). Der sozialsprachliche Gegensatz zwischen hauptstädtischem Snobismus und ländlicher Naivität wird von Wilde hier en miniature inszeniert.

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Sander ließ Cecily, bevor der Streit durch den Auftritt des Dieners unterbrochen wird, Gwendolen folgendermaßen provozieren: CECILY. Wollen Sie vielleicht sagen, Miss Fairfax, ich hätte Ernst verlockt, sich mit mir zu verloben? Was fällt Ihnen eigentlich ein?174 Dabei wird durch den Einbau der Modalpartikeln (»vielleicht«, »eigentlich«) in die rhetorischen Fragen die stimmlich-mimische Zuspitzung des Gestus suggeriert. Der Wiener Dramaturg übernahm dagegen von Romberg 175 die gröbere und als theatralischer Gesprächsabschluß weitaus wirksamere Variante: CECILY. Wollen Sie vielleicht sagen, Miss Fairfax, ich hätte Ernst verlockt, sich mit mir zu verloben? Wie können Sie das sagen? Es ist nicht Zeit, die leere Maske der Form zu tragen. Ich nenne einen Misthaufen einen Misthaufen und GWENDOLEN. Glücklicherweise habe ich nie einen Misthaufen gesehen. Offenbar sind unsere sozialen Sphären gänzlich verschieden.176 Sanders Text fehlte - aus der Sicht des Burgtheater-Dramaturgen - die theatralische Pointe und blieb beim rein Rhetorischen stehen. Im Gegensatz zu Wildes Text geht in der überarbeiteten Version die Beleidigung aber von Cecily aus, die dabei auch lexikalisch aus der Rolle fällt. Hier wird einen Augenblick lang nicht mehr mit dem Florett gefochten, sondern eher mit Kuhfladen geworfen. 2. Eine gewisse Verstärkung der Charakterkomik deutet sich lediglich bei Miss Prism an, deren Text zwar auch etwas gekürzt wird, 177 aber auch durch Übernahmen aus Romberg etwas anders komisiert wird. Dabei werden die von Sander weggelassenen Wortspiele nicht wieder hinzugefügt; Miss Prism ist jedoch wieder etwas exzentrischer geworden. Man vergleiche Sanders Text mit den Änderungen im Inspizientenbuch: Miss PRISM. Das hängt von den intellektuellen Sympathien der Frau ab. Reife flößt stets Vertrauen ein. Junge Frauen sind grün. Ich wandte ein landwirtschaftliches Gleichnis an.178

174 175 176 177 178 179

Sander, Vor allem Ernst!, S. 112. Romberg, Bunbury, Regiebuch 1920, S. 80. Sander, Vor allem Ernst!, Insp., S. 112. Sander, Vor allem Ernst!, Insp., S. 53, 66. Sander, Vor allem Ernst!, S. 67. Sander, Vor allem Ernst!, Insp., S. 67.

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Miss PRISM. Das hängt von den intellektuellen Sympathien der Frau ab. Der Reife kann man vertrauen, auf die Frucht kann man sich verlassen. Junge Frauen sind griin. Ich sprach metaphorisch, meine Metapher war von den Früchten genommen.179

Der Dramaturg entschied gegen die lexikalisch gewandtere Version Sanders (»einflößen«, »landwirtschaftliches Gleichnis«) und für die - auch geistig kurzatmigere, inkohärentere Version, in der aber die erotischen Untertöne in Miss Prisms Assoziationen wieder deutlicher werden. Im übrigen ist anzunehmen, daß die Reduzierung der Aphorismen und des rein sprachlichen Witzes, wovon oben die Rede war, mit einer Verlagerung des Komikpotentials aus dem verbalen in den nonverbalen Bereich einherging, was ja - von Vallentin bis Romberg - geradezu einer Wiener Tradition der WildeInszenierungen entsprach, doch läßt sich dies aus dem Inspizientenbuch allein nicht belegen. Darüber werden die Theaterkritiken Auskunft geben müssen. 3. Die dritte Tendenz betrifft den Umgang der Wiener Dramaturgie mit Sanders Aktualisierungsstreben bzw. mit seinen ironisch-kabarettistischen Zeitbezügen. Offensichtlich war dem Text die Plazierung in die dreißiger Jahre so konsequent eingeschrieben, daß schon eine vollständige Umarbeitung notwendig gewesen wäre, hätte man Telephon, Auto, Radio und sämtliche Anspielungen auf den nationalsozialistischen Zeithintergrund wieder eliminieren wollen. Die Wahl des Sanderschen Textes bedeutete auf jeden Fall eine Entscheidung zugunsten eines sprachlich-modernen, in der Gegenwart spielenden Stücks mit ironischen Zeitbezügen, die in Einzelfällen bis zu NS-subversiven, »zersetzenden« Aphorismen reichten. Die Überarbeitungsstrategie zielte auf eine Dämpfung der als polemisch interpretierbaren Bezüge: Punktuelle Ironie blieb erhalten, grundsätzliche Kritik wurde gestrichen. So wurden zu Beginn des dritten Aktes genau jene - von Sander in den Text gefügten - zwei Aphorismen Algernons ersatzlos gestrichen, in denen er Kritik an »Grundsätzen« und »Motiven« übte, wodurch die ideologisch geforderte Unterordnung des Individuums unter die völkische Gemeinschaft aphoristisch bestritten wurde;180 ebenso entfiel Gwendolens - ihrer Mutter gegenüber geäußerter, von Sander hinzugefügter - ironischer Ausspruch: »Man kann tatsächlich den moralischen Instinkt so ausbilden, daß

180

Sander, Vor allem Ernst!, Insp., S. 136,137. - Karl Lerbs' nationalsozialistisch eingefärbte Wilde-Bearbeitungen bieten zahlreiche Beispiele für die Entfernung derartiger, als >individualistisch< interpretierbarer Aphorismen; Wildes Kritik an sozialen Prinzipien, die das Individuum unterdrücken, waren mit Lerbs' Gemeinschaftsideologie und Wilde-Bild nicht zu vereinbaren. Lord Gorings "I don't like principles, father, I prefer prejudices", an signifikanter Stelle in An Ideal Husband geäußert, wurde von Lerbs natürlich gestrichen (Vgl. zu diesem und anderen Beispielen Kohlmayer, »Dandy«, S. 298-300). - Das unterschiedliche Verhalten Lerbs', Sanders und des Wiener Bearbeiters gegenüber Wildes Kritik an solchen >Grundsätzen< kann geradezu als Maßstab ihrer unterschiedlichen Einstellung gegenüber dem Nationalsozialismus dienen: Die ideologische Perspektive der Übersetzer oder Bearbeiter verrät sich an Stellen, wo es >ums Prinzip< geht. 341

er überall hervorbricht, wo er überflüssig ist«,181 der auch ein erhebliches zeitkritisches Assoziationspotential enthielt; es entfiel auch Algernons Verteidigung des bloßen Redens, welches angeblich schwieriger sei als das Handeln, 182 was im Kontext der Völkerbundproblematik wohl als Kritik am deutschen Völkerbundaustritt hätte verstanden werden können. Eine Abschwächung erhält Algernons Ironisierung der »Vererbungswissenschaft«, indem der ironische Vergleich mit der »Vorgeschichte«, die bisher nur bei Frauen interessiert habe, wegfällt.183 Dagegen blieben die anderen Anspielungen auf Gesetze oder Ideologeme des Nationalsozialismus stehen: Jacks Ausruf »Um Himmelswillen! Erbkranker Nachwuchs!«,184 Cecilys Erwähnung der »Erbhöfe«, Lady Bracknells Kritik an der Fälschung von Stammbäumen als neuem »Erwerbszweig«, Jacks Präzisierung von Cecilys Stammbaum bis zu den »acht Urgroßeltern«, die Anspielung auf die Privilegien der »ausländischen Zeitungen«; auch Lady Bracknells Hinweis auf die Möglichkeit des Simulierens blieb erhalten.185 Der im Burgtheater gespielte Text wurde insgesamt, um ein Fazit zu ziehen, unter anderen Bedingungen als in Hamburg präsentiert: Im Programm und in vorausgehenden Pressekommentaren als harmlos und historisch entrückt angekündigt, durch die dramaturgische Bearbeitung seiner polemischsten Zeitbezüge bzw. seiner kritischsten Aphorismen beraubt Was übrigblieb, war ein geschliffener Text, viel sprachlicher Witz und dialogische Brillanz; die wenigen übriggebliebenen gegenwartsbezogenen Spitzen konnten dem Publikum den Eindruck vermitteln, als herrsche Toleranz, als gäbe es keine Zensur und keine Tabus. Wie selektiv aber die politischen Anspielungen toleriert und dosiert wurden, geht aus dem Vergleich der vollständigen Fassung Sanders und der tatsächlich im Burgtheater gespielten Fassung hervor. Das in Wien vorliegende Inszenierungsangebot zeigt stärker den Zwang zur Selbstzensur als Sanders Original und bot weniger Möglichkeiten, unter dem Tarnmantel einer zeitgemäßen Adaptation »zersetzende« Aphorismen über die Rampe zu bringen. Die Theaterkritiken in den Wiener Zeitungen sind sich über die großartige sprachliche und schauspielerische Qualität der Inszenierung einig; sie unterscheiden sich lediglich in der Frage der Gegenwartsbezüge. 1. Das Erstaunliche dabei ist, daß eigentlich nur ein einziger Kritiker auf die Aktualisierung des Textes eingeht, daß dagegen fast alle anderen Kritiken mit 181 182 183 184

185

Vgl. Sander, Vor allem Ernst!, Insp., S. 142. Vgl. Sander, Vor allem Ernst!, Insp., S. 130. Vgl. Sander, Vor allem Ernst!, Insp., S. 126. Sander, Vor allem Ernst!, Insp., S. 43. - Der Bearbeiter machte aus Sanders »Um Gotteswillen!« lediglich ein (schwächeres?) »Um Himmelswillen!«; Romberg hatte (wie Teschenberg) »Gütiger Himmel!« (Teschenberg, Ernst, S. 32.) Sander, Vor allem Ernst!, Insp., S. 113, 143, 147, 148.

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keinem Wort diesen auffalligsten Zug des Sanderschen Textes auch nur erwähnen. In den Augen eines Kritikers gestalteten die Schauspieler gar »treffsicher Oscar Wildes Märchenwelt, die einmal Alltag war - englischer Alltag«. 186 Auf einen anderen wirkten die Personen »sehr englisch, aber auch dies in der besonderen Wilde-Manier«. 187 Der Kritiker der Volkszeitung erwähnt zumindest den Zeitbezug, wenn auch erst in der vorletzten Zeile und in Klammern, nimmt diese Andeutung von Aktualität aber durch den Ausdruck »Reprise« gleich wieder halb zurück: »Die (da und dort der Zeit angenäherte) Reprise war ein unbestreitbarer Heiterkeitserfolg.« 188 Louis Barcata von der Neuen Freien Presse ging als einziger Kritiker (bzw. »Kunstschriftleiter«, wie die offizielle Bezeichnung seit dem 27.11.1936 lautete) in einem längeren und grundsätzlichen Essay genau auf Sanders Aktualisierung ein, wobei er sich auch über die Hamburger Inszenierung (abgesehen von der falschen Datierung) und - wie man aufgrund einiger Anspielungen vermuten darf - Sanders dazugehörigen Essay informiert zeigte: Das Burgtheater wählte, als es an die Neuinszenierung der Oscar Wildeschen Komödie Bunbury schritt, eine Bearbeitung des Werkes, die Emst Sander vor einigen Jahren durchgefühlt hat und die 1936 [sie/] im Hamburger Neuen Theater uraufgeführt worden ist Die Neufassung verlegt die Handlung der Komödie in die Gegenwart und füllt sie dementsprechend an Stelle anscheinend veralteter »Aktualitäten« mit einer Reihe offensichtlich heutiger Bemerkungen an, die zwar einen witzigen Autor haben, aber keineswegs immer die spezifisch Wildesche Geisteshaltung besitzen, über die hier noch einiges zu sagen sein wird. Die »Modernisierung« des Müieus ist das auffallendste an der vorliegenden Bearbeitung. Sie ist nicht ohne Takt, ja mit Geschmack besorgt worden. Indessen drängt sich gerade bei Bunbury die Frage auf, ob die Neufassung einem Bedürfnis des Theaters unserer Zeit nach aktuelleren Reizen entgegenkam oder ob sie gewissermaßen um ihrer selbst willen angestellt wurde [...].189 Die letzte Frage, sofern sie ehrlich gemeint ist, scheint zu beweisen, daß nicht zu erkennen war, welche pragmatische Funktion die Zeitbezüge haben sollten. Durch die Dämpfung der Gegenwartsbezüge war die Botschaft der Bearbeitung, die dem Sanderschen Text eingeschriebene Ironisierung des omnipräsenten Nationalsozialismus und die Verteidigung eines nicht politisierten Individualismus, abhanden gekommen. Der Kritiker suggeriert jedenfalls, daß Sanders Aktualisierung funktionslos sei, »um ihrer selbst willen« erfolgt sei. Er streitet die Berechtigung ab, Wilde als Spötter und Gesellschaftskritiker wiedererstehen

186

187 188 189

Fritz Weber, Wochenausgabe Neues Wiener Tagblatt (undaüert; Burgtheaterarchiv; Hervorhebungen R. K.). »R. H.«, Wiener Zeitung, 28.10.1938 (Hervorhebung R. K.). Dr. Otto Homy, Volkszeitung, 28.10.1938. Louis Barcata, Neue Freie Presse, 29.10.1938. 343

lassen zu wollen: Wilde sei »durchaus nicht gesellschaftskritisch«, seine Form sei »nicht der moralisierende Spott«: Der Spötter muß an die Welt glauben, deshalb zielt er mit seinem Witz sozusagen ins »Volle« der Gesellschaft oder einer anderen Institution, die er verbessern will. Oscar Wildes spitzer, milder und melancholischer Witz, hinter dem das durchdringende, unabwendbare und unentrinnbare Wissen des Pessimisten steht, ist bewußt ins Leere gerichtet.190 Entsprechend seien Wildes Gestalten »keineswegs Menschen aus der englischen Gesellschaft«, sondern »eher Typen als Charaktere«, Marionetten, in denen kein Blut pulst, in denen indessen ein kühner, eisiger und zeitloser Geist wirksam ist. [...] Sie sind, da sie das Fleisch der Zeit auch damals, als sie entstanden, nur zum Zweck der besseren Verständlichkeit trugen, wahrhaft zeitlos [...]. Nicht, was sie sind, ist wirklich, sondern was sie sagen; sie stellen nichts anderes dar als ein wandelndes Lehrbuch der Psychologie. Was sie sagen, schmerzt nicht, denn es geht nicht um die Fehler einzelner, sondern um die Fehler aller.191 Wie man sieht, wird hier nicht nur Sanders Text, soweit er in die Gegenwart zielt, als funktionslos zurückgewiesen, sondern Wilde selbst wird jeder gesellschaftskritische Impuls abgestritten, so, als spielten Wildes Gesellschaftskomödien in einem rein psychischen Raum ohne Zeit- und Gesellschaftsbezug, als habe Wilde niemals mit seiner utopischen Schrift The Soul of Man under Socialism in die sozialpolitische Debatte seiner Zeit eingegriffen. Der Essay Barcatas ist - gerade im Zusammenhang mit der Dämpfung der Zeitbezüge in der Burgtheater-Bearbeitung - ein deutliches Zeugnis dafür, daß nach dem Olympiajahr die Konjunktur des politisierten M i d e in Deutschland vorbei war. Weder Lerbs' stark politisierte Bearbeitung des Idealen Gatten noch Sanders Bearbeitung von Bunbury zum Zeitstück stießen auf ein eindeutig positives Echo: Das Wilde-Bild nach 1936 war unpolitisch und gegenwartsentrückt. Typisch für diese historisierende Einengung der Rezeption war, wie bereits oben dargestellt wurde, die Neuauflage der Werke Wildes 1937, in der Arnold Zweigs aktualisierende Einleitung durch die distanzierende von Wolfgang Goetz substituiert wurde. Typisch waren auch die wirklichkeitsentrückenden Inszenierungen von Bunbury in Berlin und Wien, wobei beide Male auch die prachtvollen Bühnenbilder (Traugott Müller in Berlin, Fritz Judtmann in Wien) zur Entrückung des Bühnengeschehens von der Aktualität beitrugen.

190 191

Ebd. Ebd.

344

2. Die Brillanz der Dialoge wird von allen Kritikern gelobt. Im Gegensatz zur Hamburger Erstaufführung, die sich über mehr als drei Stunden erstreckt hatte, betrug - bei etwa gleicher Textmenge - die Aufführungsdauer in Wien laut Theaterzettel eine volle Stunde weniger,192 woraus man schließen muß, daß der Hauptfehler der Hamburger Erstaufführung, die Verschleppung des Tempos, in Wien jedenfalls nicht begangen wurde. Die Burgschauspieler unter Bettacs Regie brillierten in »der geschliffenen, gepflegten Sprache« des Stückes: Hier erhielt der Dialog eine muntere und naive Frische, über die das Publikum entzückt war, mit Grandezza wurden feine Menschen über die Bühne geführt und gleichsam in einer Modeschau des guten Burgtheatertons gezeigt. Jedes Apercu wurde wie auf dem Tablett serviert, und es war unmöglich, einen Witz zu überhören. 193

Ähnlich loben auch die anderen Kritiker den »geschliffenen Dialog« und das »vollendete Zusammenspiel aller Darsteller«. Alles in allem ergibt sich aus den Theaterkritiken, daß die elegante Sprechkultur, die das Burgtheater seit der Jahrhundertwende an Gesellschaftsstücken von Bahr, Schnitzler, Hofmannsthal, Shaw und Wilde ausgebildet hatte - eben der von Louis Barcata gepriesene »gute Burgtheaterton« - , sich hier an einem idealen Sprechtext bewähren konnte. Es ist eine Lust, mit welcher Behendigkeit und Wendigkeit die Wortkunst und Geistesfechterei Wildes serviert wird. Mit vollendeter Ensemble-Noblesse allzumal! Man spielt sich in die Hände und bringt einander die Pointen. 195

3. Das dritte - und prominenteste - Thema der Theaterkritiken ist die schauspielerische Gestaltung der Rollen. Die von Sanders geschliffenem Text suggerierte sprachliche Homogenität der Figuren wurde durch die individualisierende Rollencharakterisierung konterkariert bzw. aufgehoben. Aus einem Presse-Interview mit dem Regisseur Bettac geht hervor, daß bereits bei der Stückwahl, also noch vor der Wahl des Übersetzungstextes, die Rollengestaltung für die Inszenierung ausschlaggebend war: [...] Was mich besonders bewog, ja geradezu zwang, das Stück zu wählen, sind seine Rollen. Kann man sich eine kösüichere Hedwig-Bleibtreu-Rolle denken als die jener alten englischen Tante? Kann man Frau Retty eine schönere Aufgabe

192

193 194 195

»Anfang 19.30, Ende vor 21.45 Uhr. [...] Nach dem zweiten Akt eine größere Pause« (Theaterzettel vom 29.10.1938 im Österreichischen TheaterMuseum, Wien). Louis Barcata, Neue Freie Presse, 29.10.1938. Fritz Weber, Wochenausgabe Neues Wiener Tagblatt. »R. H.«, Wiener Zeitung, 28.10.1938. 345

wünschen als diese schrullige, ältere Erzieherin, die mit ihrem Märchen von dem Findelkind das ganze Schwindelspiel ins Rollen bringt? Auch Frau Seidler und Fräulein Kramer haben in >Bunbury< schöne Rollen. Hermann Thimig und ich selbst sind die beiden jungen Engländer, die das Spiel der Verwechslungen ad absurdum treiben... 196

Offensichtlich ging in dieser Inszenierung die spezifische Burgtheatertradition der Wilde-Inszenierung mit Sanders modernem Text eine einzigartige theatralische Synthese ein: Sanders Text steuerte als Inszenierungsangebot den homogenen Gesellschaftston und sprechsprachlichen Witz bei (»Alle Personen [...] sind [...] leise gescheit und entzückend verrückt«, schrieb die Wiener Zeitung), die Wiener Schauspieltradition die individuelle Rollenkomik, die - aus der Sicht des Regisseurs - auf einem an die Körpersprache bestimmter Schauspieler gebundenen Rollenbild beruhte, ohne daß dadurch aber Sanders Text seinen Einfluß auf die tatsächliche Rollenverkörperung völlig verloren hätte. Dies läßt sich beispielsweise an Hedwig Bleibtreus Lady Brackneil zeigen, die von Sander - als Spielangebot - weniger grotesk, dafür widersprüchlicher, liebenswürdiger, gescheiter, zahmer gemacht worden war. Hedwig Bleibtreu hatte genügend Ausstrahlungskraft, um die widersprüchlichen Facetten in ihrer Rolle zu bündeln. Sie schuf in ihrer Lady Bracknell das Urbild der englischen Aristokratin, die viel Gescheitheit, viele Vorurteile und einen tüchtigen Schuß Eigendünkel in sich vereinigt. 197 Herrlich, wie gesagt, Frau Bleibtreu als unerbittliche Vertreterin von Grundsätzen - auf Widerruf und je nach praktischem Bedarf. Jeder Satz eine Pointe!198 [...] Hedwig Bleibtreu ist wie immer jeder Zoll eine Dame der Gesellschaft

Hedwig Bleibtreu bietet wieder eine ihrer prächtigen Müttergestalten.200 Hedwig Bleibtreu teilt als Lady Brackneil vornehm-gelassen funkelnde Bosheiten

196

197 198 199 200 201

»Burgtheaterpremiere: Bunbury. Ulrich Bettac - Direktor, Spielleiter und Schauspieler« (Zeitungsartikel ohne Quellenangabe; handschriftlich datiert: »Okt. 38«; Kölner Theatermuseum). Fritz Weber, Wochenausgabe Neues Wiener Tagblatt. »R.H.«, Wiener Zeitung, 28.10.1938. Dr. Theodor Heinrich Mayer (ohne Quellenangabe; undatiert; Burgtheaterarchiv). »K. M.G.«, Journal, 27.10.1938. Dr. Otto Homy, Volkszeitung, 28.10.1938.

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In Hedwig Bleibtreus Interpretation der Lady Bracknell dominierten die menschlich-normalen Züge: Alles Groteske und Karikaturistische - was bereits ein Hamburger Kritiker, an die Sandrock erinnernd, vermißt hatte - wurde gemieden, so daß in Wien - ähnlich wie im Voijahr am Berliner Staatstheater auch eine völlig positive, vorbildhafte Deutung der Rolle durch die Kritik möglich wurde. Sie verkörperte die unproblematische gesellschaftliche »Norm«: Da ist vor allem Frau Hedwig Bleibtreus Lady Bracknell! Sie verkörpert in unübertrefflicher Form den breiten Mittelweg in der Parklandschaft der englischen Gesellschaft des auslaufenden neunzehnten Jahrtiunderts. Mag die Jugend links und rechts ihr Spiel um die Liebe treiben - dieser Weg zwingt sie schließlich zurück zu jener Norm, mit der allein ihrem Glücke gedient ist. Eine gebietende Lady, eine vollendete Dame, die jedes Abweichen von den Pfaden der Parklandschaft nur insofern duldet, als es zweckdienlich erscheint. Der Respekt, den sie allenthalben auslöst, ist selbstverständlich [...].202 Die bei Sander stark reduzierte wortspielerische Komik des Pärchens PrismChasuble wurde in Bettacs Inszenierung durch die »groteske Überspitzung« 203 der Körpersprache wettgemacht: [...] nur wer ein Wickelkind mit einem dicken Romanmanuskript verwechselt und in einem Bahnhof weglegt, kann so aussehen, kann dieses Rettysche Menschenexemplar sein. Ihre unbedingt schicksalsgewollte Folie ist bildhaft Herrn Karstens Pfarrer Chasuble.204 Die Verschiebung der sprachlichen in die bildhaft-aktionale Komik zeigte sich darin, daß nach der Auffassung der Kritik Rosa Albach-Rettys »Zusammenspiel mit dem körperlich so stark kontrastierenden Chasuble Julius Karstens von bezwingender Komik« 205 war. Ein Kritiker berichtet gar: Von den Damen muß Frau Albach-Retty in erster Linie genannt werden, ihre alte Gouvernante erregte mit jedem Wort unbändige Heiterkeit, und ihr »Liebesspiel« mit dem um gut vier Köpfe größeren Landpastor Karstens war zwerchfellerschütternd.206 Die stark individualisierende Ausfeilung der übrigen Rollen soll hier nur noch stichwortartig angedeutet werden: Ulrich Bettac spielte den Algernon

202 203 204 205 206

Fritz Weber, Wochenausgabe Neues Wiener Tagblatt. Louis Barcata, Neue Freie Presse, 29.10.1938. »R. H.«, Wiener Zeitung, 28.10.1938. Dr. Otto Homy, Volkszeitung, 28.10.1938. Dr. Theodor Heinrich Mayer (ohne Quellenangabe; undaüert; Burgtheaterarchiv; Hervorhebung R. K.). 347

mit Scharm und Schwung, humorig-überlegen, in jeder Bewegung Grandseigneur der Bühne und doch menschlich-liebenswürdig, ja manchmal mit einem gewinnend jungenhaften Anstrich.207 Die sprachliche Perfektion des Sanderschen Textes ermöglichte es, daß Bettac sich als moderne Verkörperung von Wilde präsentieren konnte. 208 Er nahm sich [...] in Gestalt, Sprache und Gebärde den Dichter selbst zum Vorbild, der seine ätzenden Weisheiten mit dem blasierten Hochmut des Dandys voll verletzender Gleichgültigkeit von sich gibt.209 In starkem Kontrast dazu stand Hermann Thimig als Jack; dessen schnacksig-unruhige Art belebte die Szene gestisch und mimisch sehr vorteilhaft.210 Nicht ganz das gleiche Lob restloser Einfühlung in das Stück kann ich Hermann Thimig zollen, der manchmal einen possenhaft-nestroyschen Grundton anschlug, mit dem er allerdings großen Lacherfolg erntete.211 Auch andere Kritiker weisen auf Thimigs »urkräftige Clowndrastik« 212 hin: Er »faßte die Figur des Jack Worthing mehr als pommerscher Junker denn als englischer Landedelmann auf«. 213 Das Prinzip der komischen Kontrastierung und Individualisierung galt auch für den Gegensatz zwischen Gwendolen und Cecily, von denen jene als »das intellektuelle und selbständige«, diese als »das frische und natürliche Mädel« gegeben wurde. 214 Die von Herbert Ihering hochgerühmte Schauspielerin Alma Seidler 215 spielte Gwendolen als »gut gesehene, eigenwillige Kopie ihrer aristokratischen Mutter«. 216 Zusammenfassung: Die Burgtheaterinszenierung der Sanderschen Bearbeitung, die vom 26. Oktober 1938 bis zum 12. Mai 1939 insgesamt 26mal gespielt wurde, ist ein Beispiel dafür, daß zwischen dem dramatischen Inszenierungs-

207 208 209 210 211 212 213 214 215 216

Dr. Otto Horny, Volkszeitung, 28.10.1938. Vgl. das Foto mit Bettac im Journal, 27.10.1938, das ihn als eleganten Schönling zeigt. Fritz Weber, Wochenausgabe Neues Wiener Tagblatt. Louis Barcata, Neue Freie Presse, 29.10.1938. Fritz Weber, Wochenausgabe Neues Wiener Tagblatt (Hervorhebung R.K.). »R. H.«, Wiener Zeitung, 28.10.1938. Dr. Otto Homy, Volkszeitung, 28.10.1938. Dr. Theodor Heinrich Mayer (ohne Quellenangabe; undatiert; Burgtheaterarchiv). Vgl. Ihering, Von Josef Kainz bis Paula Wessely, S. 185 f. Fritz Weber, Wochenausgabe Neues Wiener Tagblatt.

348

angebot und der bühnenmäßigen Theatralisierung ein deutlicher Motivationszusammenhang besteht. 1. Der homogene Gesellschaftston des Sanderschen Textes, Tempo und Witz der brillanten und modernen Sprechsprache verlangten nach einer temporeichen, sprachlich kultivierten Darstellung durch die Schauspieler, wie dies vom Schauspielerensemble in der Tat realisiert wurde. 2. Sprachlich nicht vorprogrammiert war jedoch, daß die verschiedenen Charaktere durch die diversen Mittel der theatralischen Köipersprache komisch ausdifferenziert und miteinander kontrastiert wurden. Die Kritik sah - mit Ausnahme vielleicht von Louis Barcata - in der schauspielerisch virtuosen Komisierung der jeweiligen Rollen den Schwerpunkt der Inszenierung. 3. Der Weg von Sanders politisch anspielungsreichem Text zur gegenwartsentrückt-heiter-schwerelosen Inszenierung Bettacs zeigt - ideologiekritisch gesehen - deutliche Spuren von politischem Eskapismus.

3 Frankfurt, Kleines Haus, 21. Januar 1939: ein »Riesenspaß« (Frankfurter Zeitung) 217 Regie: Jack: Algernon: Chasuble: Lane: Merriman:

Herbert Wahlen Fritz Saalfeld Alf von Sivers Willy Gallwitz Fritz Frick Gert Fröbe

Bühnenbild: Brackneil: Gwendolen: Cecily: Prism:

Peter Steinbach Cornelia Gebühr Cläre Kaiser Eva Bubat Ary von Heister

Mit der Spielzeit 1935/36 mußte Arthur Hellmer, 218 der letzte jüdische Theaterdirektor Deutschlands, aufgrund starken politischen Drucks die Leitung seines Privattheaters aufgeben; das Neue Theater, das durch seine Uraufführungen zeitgenössischer Autoren (Brecht, Hasenclever, Kaiser, Kornfeld, Sternheim, Zuckmayer u. v. a.) weit über den Frankfurter Raum hinaus bekannt geworden war, wurde an die Stadt Frankfurt verpachtet. Mit der Spielzeit 1936/37 wurde es in Kleines Haus umbenannt, wodurch die Unterstellung unter den Intendanten des Frankfurter Schauspielhauses, Hans Meißner, verdeutlicht wurde219 Hans Meißner und der ihm »auf höchste Veranlassung hin« 220 beigegebene Chefdramaturg Friedrich Bethge forderten einen nationalsozialistisch geprägten Spielplan, in dem, abgesehen von bekannten >Blut und Bodennachhaltiger und tiefer den Glauben an die frohe deutsche Kunst bestärken würdeheute< spiele, aber das ist das einzige, was wir ihm [...] nicht glauben wollen« (René Drommert, Hamburger Anzeiger, 6.3.1939). - Ein dritter Kritiker zitiert den Mythos der Entstehung der Komödien »aus Wetten«, um den Regisseur desto mehr zu loben: »Weißbach führt mit starken Strichen die Geschichte zu einem versöhnlichen Ausklang, der ein gesundes Ethos siegen läßt, während dennoch der Skeptizismus der Wildeschen Weltauffassung, die jedes starken Ethos entbehrt, immer im Hintergrund steht« (Max Baumann, 6.3.1939; ohne Quellenangabe; Hamburger Theatersammlung; Hervorhebung R. K.). - An Weißbachs Bearbeitungen der Wildeschen Stücke (vgl. oben Anm. 7), aber auch an der Reaktion der Kritiker zeigt sich, daß ab 1937 die Versuche, Wildes Stücke gegenwartsnah zu spielen, vorbei waren. Die Bearbeitung von Ernst Lothar (1890-1974) wurde anläßlich des 80. Geburtstags von Emst Lothar, der von 1935 bis zum >Anschluß< Direktor des Theaters in der Josefstadt gewesen war und nach der Rückkehr aus der Emigration wieder eine wichtige Rolle im Österreichischen Theaterleben spielte, unter der Regie von Rudolf Steinboeck im Josefstädter Theater in Wien gespielt. - Die Kritik zitierte zwar wieder einmal die Legende, Wildes Stücke seien das Resultat von Wetten, lobte aber »Emst Lothars glän357

Schmitz Hoeppener Hesse Kollakowsky

Ein idealer

1971, Buch w 1975/1982, Buch w 1980, Ms. 1983, Ms.

Üb Üb Be Be Be Be Be Be Üb Be Be Be Üb Be Be Be Be Üb Üb Be Be* Üb

1903 ff., 1923 5 Auf1·, Buch E 1908/1918/1922/1930/1937, Buch w 1906, Regiefassung (= Buch K 1947) 1930, Ms. 1935, Ms. 1935, Filmdrehbuch für Selpin 1947/1960, Buch K 1948, Ms. 1952, Ms. 1953, Ms. 1955, Ms. 1961, Ms. 1963, Buch E 1964, Ms. (= Buch K 1969) um 1965, Ms. 1969, Buch K 1969, Ms. 1970, Buch w 1971, Buch w 1973, Ms. 1974, Ms. 1 4 1975/1982, Buch w

Gatte

Pavia/Teschenberg Neumann Hagemann Frank Lerbs Harbou Hagemann Metzner Fischer-Wemecke Neumann/E. Lothar Jung-Alsen Meyen Epple Gillner Sakmann Gillner Lerbs-Lienau Baudisch Schmitz Jung-Alsen Thiem Hoeppener

14

Üb Üb Be Üb

zende deutschsprachige Bühnenfassung« (Rudolf U. Klaus, Kurier, 24.10.1970). - Der Text war leider nicht zu bekommen. Es ist zu vermuten, daB die Bearbeitung wesentlich früher entstanden ist; da aber über eine frühere Aufführung nichts bekannt ist, wird sie hier auf das Jahr 1970 datiert. Willy Thiems Bearbeitung wurde anscheinend eigens für die Inszenierung mit Kulenkampff im Frankfurter Theater im Zoo (Regie: Do von Janko) mit anschließender Tournee geschrieben. Leider war es nicht möglich, einen Text zu bekommen. Die zahlreichen Kritiken waren negativ: »[...] das allzu ausführlich gesponnene Intrigenstück [kann] sehr viel Interesse nicht mehr wecken [...]. Warum wird es gespielt?« (Renate Bang, Frankfurier Rundschau, 20.4.1974.) - »Der Dialog müBte funkeln, doch hier gab er nur einen trüben Widerschein« (Hans Esderts, Bremer Νachrichten, 3.3.1975). »So war die Lust am Beifall nicht überwältigend [...], die Sehnsucht nach einem Bier [war] größer als die nach Hans-Joachim Kulenkampff« (Gero von Billerbeck, Nordbayerischer Kurier, 30.3.1975). - »[...] zu schwerfällig, zu sehr belastet mit moralischem Tiefsinn« (»C.S.«, Hessische Allgemeine, 9.4.1975). - Usw.

358

Kollakowsky Wollschläger Kohlmayer Kohlmayer

Üb Üb Üb Be

1983, 1986, 1991, 1991,

Ms. Buch E Buch E Ms.

Üb* Üb Üb Be Be Be Be Üb Be* Be Be* Be Be Be* Be Be Üb/Be Be Be Be* Üb Be* Be Üb

1902, Ms. 15 (= Buch E 1903) 1903, Buch E 1903/1907, Buch E 1905, Ms. 1905, Ms. 1906*/1920, Ms. 1907, Regiefassung (= Buch K 1947) 1908/1918/1922/1930/1937, Buch w 1932, Filmdrehbuch für Wenzler 1934/35, Ms. um 1939, Ms. 16 1945/46, Ms. 1947/1960, Buch K 1955, Ms. 17 1955, Ms. um 1961, Ms. 1961, Buch E 1962, Ms. 1964, M s * (= Buch 1969) 1964, Libretto für Gerd Natschinski 1965, Ms. 1966, Libretto für Paul Burkhard 1969, Buch K 1970, Buch w

Bunbury Greve Greve Teschenberg Vallentin Blei Blei/Zeiß Hagemann Greve Lüthge/Braun/Rotter Sander Weißbach Sander Hagemann Frank Lothar Anouilh/Geiger Steeb Blei/Epple Metzner Gillner Bez/Degenhardt Zadek/Becker Weigel Gillner Baudisch

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Grevés Bahnenmanuskript bzw. der genaue Spieltext, welcher der deutschen Erstaufführung von Bunbury im November 1902 zugrundelag, ist nicht erhalten. Er dürfte jedoch nahezu identisch sein mit der Buchausgabe des Bruns-Verlags von 1903. In Schulz, Dramen-Lexikon (S. 52) wird Ernst sein ist alles von Oscar Wilde in einer Bearbeitung von Hans Weißbach aufgelistet (Bühnenvertrieb: Neuzeit-Verlag, München). Da kein Erstaufführungsdatum genannt wird, ist die Fassung vermutlich niemals gespielt worden. Weißbachs Fassung muß also als verloren gelten. Die Bearbeitung von Frank Lothar wird zwar in der Berliner Zentralkartei geführt, muß aber als verschollen gelten. Sie wurde am 27.5.1955 unter der Regie Frank Lothars in der Berliner Tribüne erstaufgeführt: »Schlafmittelmäßige Aufführung, die den abgeschabten Wortbrokat Oscar Wildes aufdeckte« (Manfred Barthel, undatiert, ohne Quellenangabe; Kölner Theatermuseum). 359

Schmitz Jung-Alsen Hoeppener Greve/Klingenberg Zadek/Greiffenhagen Kollakowsky Kohlmayer Tragelehn H. H. Fischer E. Lothar Leegaard

Üb Be Üb Be Be Üb Üb Üb Üb Be Be

1971, Buch w 1971, Ms. 1975/1982, Buch' 1976, Ms. 1979, Ms. 1980, Ms. 1981/1988, Buch1 1983, Ms. 1992, Ms. (50er Jahre), Ms. (60er Jahre), Ms.

Chronologische Synopse der Übersetzungen und Bearbeitungen Frau

Gatte

Jahr

Lady

1902 1903

P/T

P/T

-

-

1905

-

-

1906 1907

-

-

-

-

Brieger

Neumann

-

Greve Hagemann

Greve Greve Teschenberg Vallentin Blei Blei/Zeiß Teschenberg1 Au£L Hagemann Greve

-

-

Hagemann

-

-

-

Greve Greve Blei/Zeiß Greve

Neumann

1908 1910 1912 1914 1918 1920 1922

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19

-

Brieger Brieger Brieger

P/T pfY 2. Aufl. Hagemann

p^p 4. Aufl.

Bunbury

Greve

-

Neumann

Greve

Die Bearbeitungen von Emst Lothar und Alf Leegaard konnten von den Biihnenverlagen (S. Fischer und Mörike) nicht datiert werden. Die Synopse unterscheidet nicht zwischen Buch und Bühnenmanuskript. - Die Wiederholungsauflagen der Übersetzungen der Wiener Ausgabe von 1908/1918/1922/1930/ 1937 (Brieger, Lady; Greve, Frau; Neumann, Gatte; Greve, Bunbury) werden der Reihe nach aufgeführt, da dabei die äußere Präsentation, ab 1922 auch die Textgestalt verändert wurde; auch die Neuauflage der Hagemannschen Komödienausgabe von 1960 ist verzeichnet. Die Daten der Neuauflagen der Pavia/Teschenbergschen Texte konnten nur zum Teil recherchiert werden. - Nicht datierbare Texte (z. B. Thimigs Lady Windermeres Fächer, Leegaards sowie E. Lothars Buw/jury-Bearbeitungen) werden in der Synopse nicht aufgeführt.

360

Jahr 1923 1925 1927 1930 1932 1934 1935 1936 1937 1939 1945 1947 1948 1949 1950 1952 1953 1954 1955

Lady

1962 1963 1964 1965

Gatte P/T

Bunbury

5. Aufl.

p ^ j . 4. Aufl.

Brieger

P/T 3. Aufl. Greve

Lerbs Lerbs u. a.

Lerbs

p y j 5. Aufl.

Harbou Greve Weißbach

Brieger

Hagemann

Neumann Frank

Greve Liithge u. a. Sander

Lerbs Harbou

Hagemann Becker

Neumann

Hagemann

Greve Weißbach Sander Hagemann

Metzner Metzner Wernecke F.-Wemecke E. Lothar

Bruhn Metzner Jung-Alsen

1957 1960 1961

Frau

Hagemann

Hansen Jung-Alsen Hagemann

Anouilh/Geiger F. Lothar

Hagemann Meyen

Hagemann Blei/Epple Steeb Metzner

Epple Gillner

Gillner Farkas Lerbs-Lienau Epple

1966 1967 1969

Jung-Alsen

Sakmann

Gillner Bez/Degenhardt Zadek/Becker Weigel

Epple Lerbs-Lienau

1970

Baudisch

1971

Schmitz

Baudisch E. Lothar Schmitz

Lerbs-Lienau Gillner Baudisch

Gillner

Schmitz

Schmitz Jung-Alsen

Baudisch

361

Jahr

Lady

1972 1973 1974 1975 1979 1980 1981

R Resinelli/Gobert -

1983 1986 1988 1991 1992

Frau

Hoeppener

Hoeppener

Jaray Kollakowsky

Hesse

Kollakowsky -

Gatte

Bunbury

Jung-Alsen Thiem Hoeppener

Hoeppener Zadek/Greiffenh. Kollakowsky Kohlmayer

Kollakowsky Wollschläger

Tragelehn -

Tragelehn Kohlmayer -

Fischer

B. Typologie der Übersetzungen und Bearbeitungen und Filiation textueller Abhängigkeiten Bei mehrfach übersetzten Texten lassen sich oft deutliche Abhängigkeiten zwischen Vorgänger- und Nachfolgeübersetzungen feststellen, wie vor allem das Göttinger Forschungsteam um Armin Paul Frank am Beispiel der verschiedenen »Kometenschweife« amerikanischer Kurzprosa in deutschen Übersetzungen ausgiebig demonstriert hat 2 0 Im Korpus der Wildeschen Komödienübersetzungen und -bearbeitungen liegen die Abhängigkeiten eher noch offener zutage als bei Prosatexten. Die individuellen Unterschiede des Verhaltens gegenüber Vorläuferübersetzungen lassen sich cum grano salis auf jeweils drei Grundtypen reduzieren.

1 Zur Typologie des Übersetzer- u n d Bearbeiterverhaltens 2 1 a. Eine Typologie des Übersetzerverhaltens muß zwischen dem Verhalten von Erstübersetzem und Nachfolgeübersetzem unterscheiden. Je höher der Status des Originals vom Erstübersetzer eingeschätzt wird, desto enger bleibt er die-

20 21

Frank (Hrsg.), Der lange Schatten kurzer Geschichten. Die hier vorgelegte >Typologie< des Übersetzerverhaltens bei Mehrfachübersetzungen versteht sich als Extrapolation aus den oben aufgelisteten Wilde-Übersetzungen. Inwieweit sie repräsentaüv und relevant ist, kann nur der Vergleich mit anderen Korpora bzw. Analysen zeigen. Meines Wissens liegt bisher keine ähnliche Hypothese vor.

362

sem verhaftet, oft auf Kosten des zielsprachlichen Stils. Im Zusammenhang der Filiation der Abhängigkeiten interessiert hier jedoch weniger der Erstübersetzer als vielmehr das Verhalten der späteren Übersetzer. Drei typische Formen des Nachfolgeverhaltens zeichnen sich beim Vergleich der verschiedenen Komödienübersetzungen ab, wobei allerdings die Abgrenzungen - vor allem zwischen dem ersten und dem zweiten Typ - nicht immer sauber zu ziehen sind: 1. Enge Orientierung an älteren Übersetzungen. Übersetzer schreiben relativ selten ganze Passagen unverändert von ihren Vorgängern ab. Dagegen ist es üblich, daß Nachfolgeübersetzer sich von Anfang bis Ende und Satz für Satz an einer älteren Vorlage orientieren. Die Übersetzertätigkeit besteht dabei zum großen Teil im sprach-stilistischen Korrigieren und Modernisieren der gewählten älteren Vorlage, während die gleichzeitige Orientierung am Original nur punktuell zu Korrekturen der Vorlage führt.22 Im Korpus der vorliegenden Wilde-Übersetzungen gilt diese enge Bindung an eine frühere Übersetzung z. B. für das Verhältnis von Becker zu Greve (Eine Frau ohne Bedeutung) und von Fischer-Wernecke zu Neumann (Ein idealer Gatte).23

22

23

Nur selten wird die benutzte Vorläuferübersetzung genannt - vermutlich aus Gründen der Copyrightgesetze oder des Verlagsethos. So stützt sich Emst Sander bei seiner Übersetzung des Dorian Gray (1924) auf seinen Vorgänger Bernhard Oehlschlägel, dessen Übersetzung 1907 (2. Auflage 1912) erschienen war. Die Verlagsnotiz bleibt diplomatisch vage: »Nach älteren Übertragungen bearbeitet von Ernst Sander« (Oscar Wilde, Das Bildnis des Dorian Gray, Berlin 1924, S. 4). In keiner anderen der rund 25 Dorian Gray-Übersetzungen wird die Vorläufer-Abhängigkeit - und sei sie noch so deutlich - vom Verlag, Herausgeber oder Übersetzer auch nur erwähnt. Man vergleiche etwa folgende Passage aus Greves und Beckers Übersetzung von Eine Frau ohne Bedeutung: LORD ILUNGWORTH. [...] According to our ridiculous English laws, I can't legitimise Gerald. But I can leave him my property. Illingworth is entailed, of course, but it is a tedious barrack of a place. [...] There is the Puritan, of course, the Puritan in white muslin, but she doesn't count. She couldn't tell the story without explaining that she objected to being kissed, could she? And all the women would think her a fool and the men think her a bore (Wilde, Woman, S. 112f.). LORD ILLINGWORTH. [...] Nach unseren lächerlichen englischen Gesetzen kann ich Gerald nicht legitimieren. Aber ich kann ihm meinen Besitz hinterlassen. Illingworth ist natürlich Majorat, aber es ist eine langweilige Kaserne. [...] Es bleibt natürlich noch die Puritanerin, die Puritanerin im weiBen Musselin, aber die rechnet nicht mit. Sie kann die Geschichte nicht erzählen, ohne zu erklären, daß sie sich gegen einen Kuß gewehrt hat, - nicht wahr? Alle Frauen würden sie für eine Närrin halten, und die Männer für eine langweilige Pute... (Greve, Frau, 1930, S. 288). LORD ILLINGWORTH. [...] Nach unseren lächerlichen englischen Gesetzen kann ich Gerald nicht legitimieren. Aber ich kann ihm meinen Besitz überlassen. Illing363

2. Konsultieren von Vorläufern. Die große Mehrheit der Übersetzer benutzt bzw. konsultiert kontinuierlich eine oder zwei Vorgängerübersetzungen als Verständnishilfe oder als eine Art Contextuelles Wörterbuchoriginelle< Übersetzungslösung bietet. Da es diesen Übersetzern - im Gegensatz zu dem unter 1. charakterisierten Übersetzertyp - keinesfalls nur um die modernisierende Redigierung von Vorläufern geht, sondern um translatorische Eigenständigkeit gegenüber dem Original, geraten sie an solchen Stellen zwangsläufig in einen Normenkonflikt zwischen Originaltreue und eigenem Originalitätsanspruch: Jenes Prinzip begünstigt die Übernahme der vorgefundenen, als >gut< oder >optimal< empfundenen Lösung, dieses ihre Vermeidung durch Paraphrase oder Substitution. Diese Doppelbindungssituation von Benutzung und Vermeidung einer Vorlage hinterläßt eine deutliche Spur in diesem Typ von Übersetzung.24 Regelmäßig wiederkehrende Bindungen (Übernahmen) und Distanzierungen (Paraphrasen) dieser Art bestehen etwa zwischen den Übersetzungen von Schmitz gegenüber Brieger (bei Lady Windermeres Fächer), Schmitz

worth ist zwar Majorat, aber es ist ein öder Kasten. [...] Allerdings bleibt da noch die Puritanerin, die Puritanerin im weißen Musselin, aber die zählt nicht mit. Sie könnte die Geschichte nicht ausplaudern, ohne zu erwähnen, sie habe sich gegen einen Kuß gewehrt, nicht wahr? Und dann würde sie jede Frau für eine Närrin halten und jeder Mann für eine langweilige Gans (Oscar Wilde, Eine Frau ohne Bedeutung. Schauspiel, übertragen von Franz Becker, Düsseldorf 1947, S. 112).

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Becker hält sich eng an Greves Übersetzung. Seine Abweichungen bestehen nur in zwei Fällen aus ausgangssprachlich motivierten Korrekturen: Bei "tedious barrack" beseiügt er Greves (unangebrachte) militärische Assoziationen, zu Beginn des letzten Satzes fügt er das von Greve weggelassene Kohärenzsignal ("And [...]") hinzu. Die Mehrzahl der Änderungen besteht aus zielsprachlich motivierten Korrekturen an Greves Text: Idiomatisierungen und Modernisierungen (»zählt nicht mit«, »ausplaudern«, »erwähnen«, »langweilige Gans«), Anhebung des Sülniveaus durch indirekte Rede (»sie habe sich gegen einen Kuß gewehrt«), vermutlich sprechrhythmisch bedingte Umstellung (»Allerdings bleibt da noch [...]«), stärkere Emphase im Schlußsatz (»jede Frau«, »jeder Mann«), Becker orientiert sich ständig sowohl an Greves Text als auch am Original. Vgl. die Definition von »zielseitige Meidung« in Frank (Hrsg.), Der lange Schatten kurzer Geschichten: »Nachweisliche Entscheidung eines Übersetzers, eine Übersetzungslösung oder eine Klasse von Übersetzungslösungen einer Vorläuferübersetzung nicht zu übernehmen« (S. 267).

364

gegenüber Neumann (bei Ein idealer Gatte) oder zwischen Kollakowsky und Baudisch (bei Ein idealer Gatte).25 3. Außerachtlassen von Vorläufern. Relativ selten sind die Fälle, daß spätere Übersetzer eines mehrfach übersetzten Werkes radikal ab ovo beginnen, sich gewissermaßen gewaltsam in die Situation eines Erstübersetzers versetzen. Diese Situation scheint - wenn wir vom Korpus der Wilde-Übersetzungen ausgehen - nur dort aufzutauchen, wo die Nachfolgeübersetzer über einen besonders gesicherten Status verfugen, sei es, daß sie >prominent< sind (z.B. Hans Wollschläger, der An Ideal Husband 1986 neu übersetzte),26 sei es, daß sie monopolistisch abgesichert sind (bzw. waren), wie ζ. B. Christine Hoeppener, die 1975 die Theaterstücke Wildes in der DDR neu übersetzte. Durch den Verzicht auf die Konsultierung von Vorgängern können solche Pioniere einerseits Neuland entdecken bzw. interpretatorisch oder stilistisch innovativ wirken, andererseits setzen sie sich - aufgrund ihres gegenüber dem akkumulierten Wissen von mehreren Vorläufern im allgemeinen wohl geringeren Sprach- und Fremdkulturwissens - dem Risiko punktueller Mißverständnisse aus. So finden sich zum Beispiel in Christine Hoeppeners Neuübersetzungen, bei denen es der

25

Man vergleiche etwa folgende Passage aus dem Anfang von An Ideal Husband in der Übersetzung von Neumann und Schmitz: MRS MARCHMONT. I come here to be educated. LADY BASILDON. Ah! I hate being educated! MRS MARCHMONT. SO do I. It puts one almost on a level with the commercial classes, doesn't it? (Wilde, Husband, S. 133f.) Mrs. MARCHMONT. ZU den Chiltem hier komme ich, um mich zu bilden. LADY BASILDON. Ich hasse Bildung.

MRS. MARCHMONT. Ich auch. Sie bringt einen fast auf dasselbe Niveau mit Gevatter Schneider und Handschuhmacher, nicht? (Neumann, Gatte, 1930, S. 295.) MRS. MARCHMONT. Hierher komme ich, um mich zu bilden. LADY BASILDON. Ah! Ich finde Bildung abscheulich! MRS. MARCHMONT. Ich auch. Sie stellt einen fast auf eine Stufe mit Kaufleuten und Handwerkern, nicht? (Schmitz, Gatte, S. 349.)

26

Neumanns konkretisierende Paraphrase für den Ausdruck "commercial classes" wird von Schmitz nicht wörtlich, wohl aber der Struktur nach übernommen; vielleicht ist auch Schmitz' Inversion des ersten Dialogschritts durch Neumann (»Zu den Chiltem hier komme ich« »Hierher komme ich«) angeregt. Seine Neuübersetzung zeigt Spuren des Neumannschen Textes. Schmitz hat Neumann offensichtlich konsultiert, hält sich aber enger an das Original als dieser: Er orientiert sich am Original, konsultiert jedoch ständig eine Vorläuferübersetzung. Wollschläger wurde durch seine U(ysses-Übersetzung berühmt. Das leinengebundene Bändchen seiner Übersetzung von An Ideal Husband, die dem Stück zum ersten Mal seit 80 Jahren einen neuen deutschen Titel gibt (Ein idealer Ehemann), trägt auf dem Vorderumschlag in Goldbuchstaben die Angabe »Deutsch von Hans Wollschläger«. 365

Übersetzerin vor allem um die Erzielung einer nie zuvor erreichten semantischen Genauigkeit ging, vereinzelte Fälle mangelnden Faktenwissens, die durch Konsultierung eines Vorgängers leicht hätten behoben werden können.27 b. Bei den Bearbeitungen spielen vor allem der Bearbeitungsanlaß und die medialen Bedingungen eine Rolle: Im Falle der Wilde-Komödien geht es dabei einmal um Filmdrehbücher und Libretti, die wir hier jedoch ausklammem wollen, zum andern um Bühnenmanuskripte. Bei den Bühnenbearbeitungen der Wildeschen Komödien scheint es folgende drei Typen des Bearbeiterverhaltens zu geben: 1. Außerachtlassen des Originals. Die anhand von ein oder mehr deutschen Übersetzungen/Bearbeitungen und ohne Rekurs auf das Original hergestellte Bearbeitung, z. B. die Βunbury-Fussungen von Richard Vallentin, Franz Blei, die vier Komödienfassungen von Carl Hagemann, die Fassungen des Idealen Gatten von Bruno Frank, Harry Meyen, Bertold Sakmann, Ernst Lothar, die drei Lerbs-Bearbeitungen von Renate Lerbs-Lienau.28 Nach der Feststellung des Göttinger Forscherteams um Frank sind bei Mehrfachübersetzungen amerikanischer Prosatexte ins Deutsche die Fälle »ausschließlich zielseitigefr] Manipulation ohne Rückgriff auf den Grundtext nur selten zu beobachten«.29 Die hier genannten acht Bearbeiter und Bearbeiterinnen haben nicht weniger als dreizehn Texte ohne Benutzung des Originals hergestellt. Bei den Bühnenbearbeitungen von Wildes Komödien ist also eher der Rückgriff auf den Grundtext »nur selten zu beobachten«! An dieser Situation sind verschiedene Ursachen und Motive beteiligt, die sich auch überlagern können. Vermutlich spielen der >interimäre< Status übersetzter Bühnentexte,30 die schlechte Qualität der frühen Komödien-Übersetzungen Pavia/Teschenbergs, der traditionell niedrige Status der Wilde-Komödien im deutschen Literaturkanon eine Rolle, wodurch

27

28

29 30

So wird bei Wilde Lord Gorings Bibliothek in seinem Haus in der Curzon Street als "An Adam room" (Wilde, Husband, S. 212) bezeichnet, was Hoeppener mit »Ein adamkeuscher Junggesellenraum« deutet (Hoeppener, Gatte, S. 212). Gemeint ist ein von dem klassizistischen Architekten Robert Adam (1728-92) gestaltetes Zimmer. Die Nennung des antikebegeisterten Architekten ist bezeichnend für Lord Gorings antiviktorianischen Hellenismus. - Oder "the Lambeth Conference" (Wilde, Husband, S. 193), also die jährlich im Londoner Lambeth-Palast stattfindende Βischofskonferenz, wird zu einer rätselhaften »Lambeth-Beratung« (Hoeppener, Gatte, S. 198); die Redewendung "No use beating about the confounded bush" (Wilde, Lady, S. 33) wird wörtlich übersetzt als »Keinen Sinn, auf den verwünschten Busch zu klopfen« (Hoeppener, Lady, S. 32). Abgesehen von Lerbs' Witwe, Renate Lerbs-Lienau, ist Ernst Lothar der einzige, der auf dem Titelblatt des Bühnenmanuskripts seine tatsächliche Quelle (d. h. Alfred Neumann) nennt. Wetzel-Sahm, »Fazit«, S. 213. Vgl. dazu die Ausführungen im 2. Kapitel, S. 88-91.

366

der ungehemmte Umgang mit den Texten und die generelle Boulevardisierung der Stücke begünstigt wurde. Schließlich gibt es auch finanzielle Anreize für die Herstellung >neuer< Bearbeitungen: Da Bearbeiter Anspruch auf Autorentantieme haben, werden nicht selten frühere Texte als »Steinbruch« benützt, um sie in »Goldminen« zu verwandeln.31 Die das Original nicht konsultierenden Bearbeiter neigen faktisch dazu, ihre Aufgabe rein monofunktional lind zielkulturell zu sehen, nicht polyfunktional und interkulturell, wie von Pavis modelliert.32 2. Konsultierung des Originals. Die unter Konsultierung des Originals und unter Benutzung von ein oder mehr deutschen Übersetzungen/Bearbeitungen hergestellten Komödien-Bearbeitungen, ζ. B. die ÄMHÄuo'-Fassungen von Blei/ Zeiß, Sander, die Komödien-Fassungen von Metzner, Gillner, Hesse. 3. Außerachtlassen von Vorläufern. Die direkt vom englischen Original abgeleitete Bearbeitung; dazu scheinen lediglich die von Lerbs und Jung-Alsen hergestellten Bühnenversionen zu gehören.33

2 Zur Filiation textueller Abhängigkeiten Im folgenden sollen einige Abhängigkeiten von Nachfolge-Übersetzungen und -Bearbeitungen von ihren jeweiligen deutschen Vorlagen graphisch veranschaulicht werden. Dabei geht es nicht um Vollständigkeit. Fälle von punktueller Abhängigkeit werden hier nicht berücksichtigt, auch wenn sie eindeutig nachzuweisen sind.34 Ich beschränke mich auf zwei Grade der Abhängigkeit, deren Abgrenzung voneinander gelegentlich im Detail, kaum aber insgesamt problematisch ist: a. starke und b. deutliche Abhängigkeit. Bei starker Abhän-

31

32

33

34

Vgl. den polemischen Aufsatz von Andreas Rossmann, »Wo der Steinbruch zur Goldmine wird« {Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.12.1991). So läßt sich ζ. B. nur durch finanzielle Motive erklären, weshalb Harry Meyen oder Bertold Sakmann aus jeweils besseren Vorlagen ihre angeblich >eigenen< Bearbeitungen des Idealen Gatten zusammenbastelten (siehe unten die graphische Darstellung der Textabhängigkeiten). Vg. dazu das 2. Kapitel, S. 68 ff. - Bei der Theatralisierung dieser Texte besteht allerdings durchaus die Möglichkeit, daB der Regisseur, falls er die Spezifizität des Originals kennt und zumindest darauf hinweisen möchte, die verbal verlorenen ausgangskulturellen Bezüge durch para- und nonverbale Zeichen restituiert, wie dies etwa Richard Vallentin versuchte. Bei Lerbs gibt es Spurenelemente früherer Übersetzungen. Gegenüber der konzeptionellen Eigenständigkeit von Lerbs fallen diese seltenen Anklänge nicht ins Gewicht. Die Aufdeckung punktueller Bezüge dieser Art ist für die Eruierung der übersetzerischen Konzeptionen, um die es in dieser Untersuchung vor allem geht, ebenso unwichtig wie die Rückführung punktueller lexikalischer Übersetzungslösungen auf die Benutzung bestimmter Wörterbücher.

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gigkeit wird - neben dem oder auch ohne Original - von Anfang bis Ende ein Vorgängertext benutzt, der abgeschrieben, modernisiert oder umgearbeitet wird. Bei deutlicher Abhängigkeit wird neben dem Original immer wieder ein Vorgängertext konsultiert, wobei aber die Eigenleistung des Übersetzers insgesamt durchaus dominiert. Besonders interessant an den Abhängigkeitsverhältnissen dürften folgende Beobachtungen sein: a. Die Wirkung der frühesten Wilde-Übersetzungen und -Bearbeitungen reicht weit in das 20. Jahrhundert hinein. Langfristige Wirkungen gehen dabei nicht nur von gedruckt vorliegenden Texten aus, sondern auch von hand- oder maschinengeschriebenen Bühnenmanuskripten, die im Rahmen lokaler Theatertraditionen über Jahrzehnte hinweg für die Herstellung von Bühnentexten benutzt werden. Die materiellen Kanäle der Traditionsbildung sind dabei nicht nur die von den Buch- und Bühnenverlagen vertriebenen Texte, sondern auch die in den lokalen Theaterarchiven verfügbaren Regiebücher. Im Falle von Wien konnte zum Beispiel gezeigt werden, wie die im Burgtheaterarchiv gespeicherte Text- und Regiefassung Rombergs die später dort gespielte Bühnenfassung Sanders beeinflußte. Ähnliche Spieltraditionen scheint es auch anderswo, ζ. B. in Dresden und Frankfurt, gegeben zu haben. Da wir bei der Filiation der Abhängigkeiten hier aber nur die gedruckten Buch- oder Bühnenverlagsfassungen, nicht die Regiebücher berücksichtigen, wird der Grad der hausinternen Traditionsbildung graphisch nicht erkennbar. Andererseits läßt das rudimentäre Filiationsbild der deutschen Bunbury-Fussungen, wenn man es mit der Inszenierungsgeschichte verbindet, die lange Nachwirkung der ersten Textfassungen auf exemplarische Weise erkennen: So geht von Richard Vallentins nie im Druck erschienener Regiefassung von Bunbury, die durch Stilsenkung und Verdrängung der reinen Sprachkomik gekennzeichnet war, eine gewissermaßen unterirdisch fortwirkende Tradition der Bunbury-Inszenierungen aus, die sich einerseits über die Vermittlung des Regisseurs Eugen Robert in die >Sandrock-LinieA Woman of No Importance< in Deutschland, S. 52-59. Die einzige Ausnahme scheint auch hier wieder die Bunbury-Fasswig von Blei/Epple in Reclams Universal-Bibliothek zu sein: Epple korrigierte und ergänzte die Bearbeitung von Blei/Zeiß, so daß aus der Bearbeitung eine Teilübersetzung wurde.

369

Lady Windermeres Fächer

37

Eine Frau ohne Bedeutung

37

Starke Abhängigkeit ist durch durchgezogene Linie (—»-), deutliche Abhängigkeit durch gestrichelte Linie ( »-) symbolisiert.

370

Ein idealer Gatte

371

C. Inszenierungen der Wildeschen Komödien von 1902 bis 1992 Die unten abgedruckte Liste von 200 Inszenierungen von Wildes Komödien ist bei weitem nicht vollständig. Im Prinzip sind diejenigen Inszenierungen erfaßt, die durch Theaterzettel und vor allem Theaterkritiken in den Theaterarchiven und -museen in Berlin, Düsseldorf, Frankfurt, Hamburg, Karlsruhe, Köln, Mannheim, München, Stuttgart, Wien, Wiesbaden, Zürich u. a. relativ gut belegt sind. Die statistische Repräsentativität dieses Korpus ist schwer einzuschätzen. Die Theatergroßstädte sind deutlich über-, die >Provinz< ist unter-, die Amateurbühnen (bei denen sich Bunbury besonderer Beliebtheit erfreut) sind überhaupt nicht repräsentiert. Aus der hier belegten Inszenierungsdichte lassen sich daher nur mit Vorsicht Schlüsse ziehen. 38 Dessenungeachtet sind aus dem Material der Jahre 1902 bis 1992 zunächst zwei Folgerungen mit einiger Zuverlässigkeit ableitbar: 1. Bunbury ist mit 64 Inszenierungen, d.h. fast einem Drittel der ermittelten Komödien-Inszenierungen, die in Deutschland erfolgreichste Komödie Mides. Ein idealer Gatte liegt mit 54 Inszenierungen zwar deutlich dahinter, aber erreicht immerhin noch mehr als das statistisch erwartbare Viertel sämdicher Inszenierungen. Vergleicht man nur die Zahl der Inszenierungen seit 1945, so liegt Ein idealer Gatte sogar an der Spitze. 39 Am unteren Ende steht Eine

38

39

Da gerade für den Schweipunkt 1902 bis 1939 die Aufführungshäufigkeit meist nicht ermittelt werden konnte, wurde in den Tabellen völlig auf diese Angabe verzichtet. Verteilung der 200 erfaBten Inszenierungen auf die vier Stücke: Fächer 48, Frau 34, Gatte 54, Bunbury 64. Inszenierungen seit 1945: Fächer 23, Frau 9, Gatte 29, Bunbury 28. - Wilde selbst hatte - im Gegensatz zu fast allen Kritikern, die in An Ideal Husband meist nur eine Nachahmung französischer Intrigenstücke sehen - von diesem Stück eine besonders hohe Meinung. "I really think it reads the best of my plays", schrieb er 1899 anläßlich der Drucklegung des Stücks an seinen Verleger - eine Aussage, die erstmals 1985 (!) veröffentlicht wurde (Hart-Davies [Hrsg.], More Letters of Oscar Wilde, S. 181). Es ist auch das Stück, das am deutlichsten auf den in Wildes Sozialismus-Essay evozierten utopisch-anarchistischen Hintergrund verweist und - in Lord Goring - das schönste Bild individueller Freiheit inmitten einer von Kommerz und Machtstreben verkrüppelten Welt entwirft. - In der relaüv intensiven deutschen, meist im Boulevard-Theater stattfindenden Rezepüon des Stückes, deren bisheriger Höhepunkt - wenn auch mit völlig eigenwilliger Akzentsetzung - Herbert Selpins Filmversion von 1935 war (s.o. S. 236f.), ist das psychologische und utopische Potential von Wildes politischer Komödie (im Sinne der von Wilde unternommenen ästhetischen Erziehung< der Zuschauer) kaum konkretisiert worden (vgl. Kohlmayer, »An Ideal Husband«, S. 276-281). Dagegen hat es in jüngster Zeit in Glasgow (Philip Prowse, 1986) und in London (Peter Hall, 1992) hervorragende Inszenierungen von An Ideal Husband gegeben. Über die Inszenierung des Stücks im Londoner Globe-Theatie

372

Frau ohne Bedeutung, das auf knapp ein Sechstel der Inszenierungen kommt, wobei in den oben genannten Theaterarchiven für die letzten 30 Jahre nur eine einzige Inszenierung belegt ist. Auf Lady Windermeres Fächer entfällt das statistisch zu erwartende Viertel aller Inszenierungen. Von Wildes Komödien scheinen das politischste (Ein idealer Gatte) und das unpolitischste (Bunbury) Stück die Zeit am besten zu überdauern, während die beiden Stücke mit ausgesprochener >Frauen< -Thematik für die Gegenwart neu entdeckt werden müß40 ten. 2. Die stärkste Inszenierungsdichte für Wildes Komödien liegt allem Anschein nach in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts, wobei die boulevardisierenden Bearbeitungen Metzners und Hagemanns den Löwenanteil verbuchen konnten. 41 Diese Aussage ist jedoch insofern zu relativieren, als gerade in diesem Zeitraum die Theaterprovinz von Oldenburg bis Bern stärker vertreten ist als je zuvor. Damit mag auch zusammenhängen, daß in den 1950er Jahren auch noch Lerbs' NS-geprägte Bearbeitungen (vor allem der >FrauenstückeFrauenstiicke< Wildes von den Spielplänen in den politisierten 60er Jahren. Lady Windermeres Fächer wurde an größeren Bühnen seither zwar regelmäßig wieder gespielt, aber ohne >aktuell< zu wirken. - Katherine Worth hat in eindringlichen Analysen die "Ibsen-like subüety" des Textes von A Woman of No Importance (Oscar Wilde, S. 123) und die "psychological truth" von Lady Windermere's Fan (Worth, »Lady Windermere's Fan«, S. 408 f.) hervorgehoben. Kate Millett gab in Sexual Politics Wilde ein >frauenfeindliches< Image, das erst allmählich wieder abgebaut wird (z.B. in Finney, Women in Modern Drama, S. 68f.; Behrendt, Oscar Wilde: Eros and Aesthetics). Nach einer Statistik, die mir Hagemanns Neffe, Dr. Jürgen Bengsch, freundlicherweise zur Verfügung stellte, wurden Hagemanns Bearbeitungen von Bunbury und Ein idealer Gatte zwischen 1951 und 1957 achtmal inszeniert und 139mal aufgeführt. In meiner Inszenierungsliste sind davon nur jene zwei Inszenierungen angeführt, zu denen in den Theaterarchiven Kritiken zu finden waren. 373

Lady Windermeres Fächer42 Jahr

Bühne

Übers ./Bearb.

Regie

1902 1903

Breslau, Lobetheater Hamburg, Stadt-Theater Mannheim, Nationaltheater Düsseldorf, Stadttheater Köln, Neues Stadttheater Berlin, Deutsches Theater Berlin, Schiller Theater Hamburg, Schauspielhaus Wien, Stadttheater Mannheim, Nationaltheater München, Neues Theater Berlin, Residenztheater Dresden, Schauspielhaus Frankfurt, Neues Theater München, Residenz Wien, Burgtheater Hamburg, Thalia Bochum Bremen, Schauspielhaus Frankfurt, Neues Theater Berlin, Renaissancetheater Frankfurt, Neues Theater München, Kammerspiele Berlin, Kleines Theater Hamburg, Thalia Berlin, Komödie Bremen, Künsdertheater Wiesbaden, Staatsschauspiel München, Kleine Komödie Lübeck, Kammerspiele Ostfiies. Landesbühne Oldenburg, Staatstheater Zürich, Schauspielhaus Hamburg, Thalia Wien, Bürgertheater Leipzig, Kammerspiele

P/T P/T P/T P/T P/T P/T P/T P/T P/T Hagemann P/T P/T P/T P/T P/T P/T P/T P/T Lerbs Lerbs Lerbs Lerbs Lerbs Lerbs Hagem./Weißb. ? ? Lerbs Metzner Lerbs ? Lerbs Metzner? Bruhn Metzner? Jung-Alsen

Teuscher Horvath Bassermann Schlismann-B. ? Lindau ? Hagemann ? Hagemann Schreiner Rotter Rotter Walleck Waldau Asian Röbbeling ? Schultze-G. Chmelnitzky Bernau Salzmann Kiesau Bernau Hagemann Graf Keddy Mettin Metzner Eschenbrücher Zibell Kremer Litten Maertens Krastel Görs

1904 1912 1917 1918 1920 1923 1924 1925 1926 1928 1934 1936 1937 1948 1949 1950 1952 1953 1955

42

Wo es nicht möglich war, den Namen des Übersetzers oder Regisseurs zu ermitteln, steht ein Fragezeichen.

374

Jahr

Bühne

Übers ,/Bearb.

Regie

1957

Augsburg, Komödie Stuttgart, Marquardt Basel, Komödie Kassel, Komödie Hamburg, Thalia Baden-Baden Wien, Josefstadt München, Kleine Komödie Hamburg, Altonaer Theater Düsseldorf, Komödie Frankfurt, Theater im Zoo Düsseldorf, Schauspielhaus

Lerbs Baudisch Resinelli/Gobert Resinelli/Gobert Gillner Jaray Metzner? Fitze Sposa Sposa Tragelehn

Gaick Kutschera Spalinger Antlitz Gobert Poch Jaray Wieland Fitze Höckmann Teluren Schönemann

1975 1976 1979 1980 1982 1983 1984 1987 1988

?

Eine Frau ohne Bedeutung Jahr

Bühne

Übers ./Bearb.

Regie

1903

Berlin, Neues Theater Hamburg, Stadttheater Wien, Deutsches Volkstheater Hamburg, Schauspielhaus Dresden, Schauspielhaus Frankfurt, Schauspielhaus Karlsruhe, Hoftheater Wien, Stadttheater München, Schauspielhaus Breslau, Lobetheater München, Schauspielhaus Berlin, Residenztheater Berlin, Lessing-Theater Wien, Deutsches Volkstheater Frankfurt, Neues Haus Bochum, Stadttheater Nürnberg, Altes Stadttheater Wiesbaden, Staatstheater Bremen, Schauspielhaus Frankfurt, Neues Theater Dresden, Schauspielhaus Mannheim, Nationaltheater Berlin, Renaissance

P/T P/T P/T Hagemann P/T/Holz P/T P/T P/T P/T P/T P/T P/T P/T P/T P/T P/T P/T Hagemann Lerbs Lerbs Lerbs Lerbs Lerbs

Vallentin Stephany Vallentin Hagemann Holz Pfeil Kronacher Strobl Körner Arnfeld Kömer Kanehl Kanehl

1907 1910 1911 1913 1914 1916 1919 1920 1922 1924 1925 1926 1928 1929 1934 1935 1936

?

Goldberg Buxbauer Schubert Seilnick Schul tze-G. Hellmer Kiesau Hölzlin Bernau

375

Jahr

Bühne

Übers ,/Bearb.

Regie

1939

Hamburg, Thalia München, Schauspielhaus Berlin, Tribüne Essen Hannover, Köln (Tournee) Stuttgart, Kammertheater München, Kleine Komödie Zürich, Centraltheater Hamburg, Thalia Stuttgart, Marquardt Wien, Josefstadt

Weißbach Lerbs Greve? Lerbs Lerbs? Lerbs Metzner ? Hansen ? E. Lothar

Weißbach Müller de Kowa Dietz Melotte Hoffmann Metzner Cella Maertens Kutschera Steinboeck

Übers ./Bearb.

Regie

1946 1950 1951 1953 1955 1956 1957 1960 1970

Ein idealer Gatte Jahr

Bühne

1905 1906

München, Residenz P/T Hamburg, Thalia P/T Düsseldorf, Stadttheater P/T Berlin, Kleines Theater P/T Wien, Josefstadt P/T Mannheim, Nationaltheater P/T Dresden, Schauspielhaus P/T Düsseldorf, Schauspielhaus P/T Wien, Burgtheater P/T Berlin, Schiller-Theater P/T München, Neues Theater P/T Berlin, Lessing-Theater P/T München, Schauspielhaus P/T P/T Wien, Burgtheater München, Kammerspiele P/T P/T Hamburg, Schauspielhaus Dresden, Schauspielhaus Ρ/Γ ? Bochumer Theater München, Berlin, Wien usw. Frank (Harry-Liedtke-Toumee 1930/31) Bremen, Schauspielhaus Lerbs Frankfurt, Neues Theater Lerbs Hamburg, Thalia Lerbs Berlin, Staatstheater Lerbs

1907 1910 1911 1918 1920 1921 1925 1926 1927 1930

1935

376

Basil Jeßner ? Welisch Jarno Hagemann Zeiß Holz Hartmann ? Schindler Bamowsky Nebelthau Brahm Korff Wauer Gielen Buxbaum Robert Harprecht van der Becke Weißbach Leibelt

Jahr

Bühne

1936

München, Kammerspiele Lerbs Wien, Deutsches Volkstheater Lerbs ? Stuttgart, Neues Theater Linzer Theater Lerbs? München, Kleine Komödie Metzner Metzner Hamburg, Thalia Zürich, Centraitheater Metzner Baden-Baden Fischer-W. Osnabrück, Domhoftheater Metzner Wuppertal, Schauspielhaus Lerbs? Metzner Basel, Komödie Bern, Atelier-Theater Lothar ? Düsseldorf, Zimmertheater Hagemann Neuß, Rhein. Landesth. Metzner Braunschweig, Staatstheater Meyen Berlin, Komödie Wien, Burgtheater Lothar Sakmann Stuttgart, Marquardt Thiem Frankfurt, Theater im Zoo (Kulenkampff-Tournee 1974/75/76) München, Kleine Komödie Metzner Sakmann Stuttgart, Marquardt Gillner Hamburg, Altonaer Theater Flensburg, Schl.-Holst. L. th. Gillner? Wien, Josefstadt Lothar Berlin, Renaissancetheater Gillner Salzburg, Kammerspiele Gillner Baden-Badener Theater Gillner Kollakowsky Basel, Komödie Meyen Kassel, Komödie Sakmann Harburger Theater (und Altonaer Theater) Freiberg, Stadttheater Kohlmayer

1947 1948 1949 1952 1953

1954 1956 1960 1961 1965 1974 1975 1976 1978 1979 1981 1984 1985 1992

Übers./Bearb.

Regie Falckenberg Chmelnitzky Schroer Burger Metzner Maertens Siedel ? Scheuer Schroer ? Spalinger Bertram Müller-Stein Bockx Meyen Lothar Sakmann von Janeo Wieland Sakmann Fitze Drache v. Ambesser Drache Haberland Ledwoch Quetes Buchmann Fitze Greiner

Bunbury Jahr

Bühne

Übers ./Bearb.

Regie

1902 1904 1905

Berlin, Kleines Theater Hamburg, Altonaer Stadtth. Wien, Volkstheater

Greve Tesch. Vallentin

Kayßler Jelenko Vallentin

377

Jahr

Bühne

Ubers./Bearb.

Regie

1906

Dresden, Schauspielhaus Wiesbaden, Kgl. Schauspiele München, Residenz Berlin, Kleines Theater Mannheim, Nationaltheater Düsseldorf, Schauspielhaus Dresden, Schauspielhaus Hamburg, Schauspielhaus Frankfurt, Neues Theater München, Kammerspiele Mannheim, Nationaltheater Berlin, Tribüne Dresden, Schauspielhaus Wien, Schönbrunn. Schloßth. München, Residenz Dresden, Zentraltheater Bochum, Stadttheater Hamburger Kammerspiele Nürnberg, Altes Stadttheater Berlin, Residenz-Theater Dresden, Schauspielhaus Berlin, Tribüne München, Residenz Frankfurt, Schauspielhaus Wien, Deutsches Volkstheater Berlin, Renaissancetheater Hamburg, Neues Theater Berlin, Staatstheater Hamburg, Schauspielhaus München, Kammerspiele M e n , Burgtheater Frankfurt, Kleines Haus Zürich, Schauspielhaus Berlin, Komödie München, Kammerspiele Wiesbaden, Staatstheater Berlin, Tribüne Frankfurt, Kleines Haus Göttingen, Deutsches Theater Stuttgart, Marquardt Berlin, Kammerspiele Berlin, Renaissance-Theater

Blei/Zeiß Blei/Zeiß Blei Vallentin Vallentin/Hagem. Teschenberg Blei/Zeiß Vallentin/Hagem. Blei/Zeiß Greve Hagemann Vallentin Blei/Zeiß Teschenb./Greve Blei/Zeiß Greve Blei/Zeiß Blei/Zeiß Blei/Zeiß Blei/Zeiß? Vallentin Vallentin Blei/Zeiß Blei/Zeiß Vallentin Vallentin Sander Blei/Zeiß Vallentin Blei/Zeiß Sander Sander Blei/Zeiß

Zeiß Braumüller Runge Oberländer Hagemann Holz Zeiß Hagemann Hellmer Kalbeck Gsell Robert Mehnert Romberg Liebscher George Ahlers Gründgens Hübner Sanden Gielen Robert Pape Buch Furreg Bernau Kobbe Bildt Meyn Danegger Bettac Wahlen Heinz Hübner Mittler Ivers F. Lothar Geng Schmiedel Sakmann Grosse Meyen

1907 1911 1912 1913 1918 1919 1920

1921 1925 1926 1927 1928 1929

1931 1934 1935 1937 1938 1939 1941 1946 1952 1953 1955

1956 1958

378

?

Blei/Zeiß Hagemann F. Lothar Anouilh/Geiger Anouilh/Geiger ? Anouilh/Geiger Blei/Zeiß

Jahr

Bühne

Übers./Bearb.

Regie

1960 1962

Düsseldorf, Schauspielhaus Karlsruhe, Bad. Staatstheater München, Kleine Komödie Wuppertal Hamburg, Schauspielhaus Stuttgart, Kleines Haus Wien, Burgtheater Berlin, Volksbühne Bremen, Kammerspiele Köln, Schauspiel Darmstadt Düsseldorf, Kleines Haus Dresden, Staatsschauspiel Hannover, Landesbühne Zürich, Schauspielhaus Berlin, Renaissance-Theater Heidelberg, Zimmertheater Heilbronn, Stadttheater Göttingen, Deutsches Theater

Blei/Zeiß Hagemann Metzner ? Blei/Epple Zadek/Becker Klingenb./Greve Zadek/Greiffenh. Zadek/Greiffenh. Zadek/Greiffenh. ? C.M. Trag. Tragelehn Kohlmayer Metzner Kohlmayer Klingenb./Greve Kohlmayer Fischer

Zeiser Schwarz Metzner Hamel Beauvais Palitzsch u. a. Klingenberg Zadek Kauenhowen Bindseil Seebach Β. K. Tragelehn König Rüdiger Klingenberg Tabor Gressl Bäck Engels

1963 1966 1969 1976 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1989 1990 1992

D. Phasen der übersetzerischen und theatralischen Rezeption der Wildeschen Komödien im 20. Jahrhundert Die obigen Tabellen veranschaulichen die Tatsache, daß das ganze 20. Jahrhundert hindurch in Deutschland eine starke Nachfrage nach Wildes Komödien - als Lesetexten wie als Bühnenaufführungen - herrschte. Wilde gehört in allen deutschsprachigen Ländern zu den bekanntesten, beliebtesten, gelesensten und meistgespielten Autoren überhaupt.43 Die chronologischen Übersichten zeigen aber auch, daß die Rezeption der Wildeschen Komödien im 20. Jahrhundert - obzwar niemals unterbrochen doch deutliche Höhe- und Tiefpunkte erkennen läßt. Wenn man von der Häu-

43

Laut einer dpa-Meldung stand Hoeppeners Übersetzung der Wildeschen Dramen Anfang 1976 an der Spitze der »Liste der am meisten gekauften Bücher in der DDR« (Frankfurier Allgemeine Zeitung, 5.1.1976). - Laut Statistik des Deutschen Bühnenvereins gelangt Wilde gelegentlich noch in die Spitzengruppe der an deutschsprachigen Theatern meistgespielten Autoren (ζ. B. 1985/86 auf Rang 19, 1989/90 auf Rang 56; hier zitiert nach der Zeitschrift der Dramatiker-Union Der Autor 1/1987, S. 108, und 1/1991, S. 97).

379

figkeit und Dichte der Übersetzungen, Bearbeitungen und Inszenierungen ausgeht, erhält man eine relativ klare Periodisierung der Komödienrezeption. 1. 1902-1908 Die erste Rezeptionsphase der Wildeschen Komödien beginnt mit Greves mißglücktem Bunbury an Max Reinhardts Theater und endet mit dem Erscheinen der Wiener Wilde-Ausgabe von 1908, deren Texte in der Folgezeit immer wieder aufgelegt werden. Die Rezeption der Wildeschen Komödien als Lesewie als Bühnentexten erfolgt in der ersten Phase fast ausschließlich über die Vermittlung der Pavia/Teschenbergschen Übersetzungen. Sie werden aber meist nicht nur gekürzt, sondern auch auf recht verschiedene Weise umgeschrieben, wobei - im Falle von Bunbury - die Weichen gestellt werden für unterschiedliche Rezeptionsweisen: situationskomische Burleske (Vallentin) versus sprachliche Eleganz (Blei/Zeiß). Gides negatives Urteil über die Komödien, das durch Hagemann (»Schwankfutter«) und die Theaterkritik wiederholt und weit verbreitet wird, verhindert auf Jahrzehnte hinaus, daß Wildes Gesellschaftskomödien in den gehobenen Literaturkanon aufgenommen werden. 2. 1908-1930 Durch das Erscheinen der Wiener Ausgabe, die 1918 und 1922 nachgedruckt wird, liegen Lesefassungen vor, die sprachlich bühnengeeigneter sind als Pavia/Teschenbergs unidiomatische Übersetzungen. Sie wirken jedoch - wohl aufgrund der bühnenrechtlichen Verhältnisse - nur wenig auf die Inszenierungsgeschichte ein. In dieser Zeit gibt es - abgesehen von Hagemanns Mannheimer Regiefassungen, die aber erst 1947 gedruckt werden - keine durchgreifenden Neuübersetzungen und -bearbeitungen der Komödien. Sowohl die Buchausgaben (Lesetexte) als auch bestimmte Bühnenversionen scheinen sich etabliert zu haben. Im expressionistischen Jahrzehnt (ca. 1910 bis 1920) liegt ein erster Tiefpunkt der deutschen Wilderezeption. Nach 1920 werden die Stücke wieder häufig gespielt, zum Teil mit krasseren Konturen und schärferer Akzentuierung der Gesellschaftssatire. Adele Sandrock als Lady Brancaster in Bunbury und als Herzogin von Berwick in Lady Windermeres Fächer verhilft den Stücken in den zwanziger Jahren zu ungeheurer Popularität. 3. 1930-1939 (bzw. -1945) Die dritte Phase zerfällt selbst in drei sich teilweise überlagernde Sequenzen oder Schichten. Sie beginnt 1930 mit dem Erscheinen der zweibändigen, weitverbreiteten Wilde-Ausgabe Arnold Zweigs im Knaur-Verlag, wobei Zweig im Vorwort Wilde in eine anarchistisch-sozialistische Tradition stellt, und mit Bruno Franks Neufassung des Idealen Gatten, deren aktualisierender Elan jedoch in der Star-Tournee Harry Liedtkes versandet. Diese erste, durch (antikapitalistische) Politisierung gekennzeichnete Sequenz wird 1933 durch Lerbs' NS-konforme, moralisierende Bearbeitungen der drei >seriösen< Gesellschafts380

dramen Wildes beendet bzw. verdrängt. Mitte der dreißiger Jahre liegt der Höhepunkt der Wilde-Welle des Dritten Reiches. Die drei von Lerbs populär gemachten Komödien Wildes werden von fast allen wichtigen Bühnen gespielt und von bedeutenden Regisseuren verfilmt Gleichzeitig damit versucht Ernst Sander in seiner kabarettistischen Bunbury-Bearbeitung, das Stück des individualistischen »Spötters« Wilde als Forum für die Befürwortung eines nichtpolitisierten Freiraums inmitten der >völkischen< Gegenwart zu benutzen. Es handelt sich dabei um ein - meines Wissens einzigartiges - ironisches Dokument einer undurchdringlich maskierten inneren Emigration. Mit dem Ende des Olympiajahres und der Abschaffung der Theaterkritik nimmt die betont unpolitische, gegenwartsentrückte Wilde-Rezeption (wieder) überhand. Auf Lerbs' nationalsozialistische Ideologisierung des Idealen Gatten antwortet die Kritik bereits 1935 mit dem Vorwurf, Wilde mangele es an Ethos, um für die Gegenwart noch relevant zu sein.44 Arnold Zweigs Ausgabe wird 1937 ohne Nennung des Herausgebers neu aufgelegt, sein >sozialistisches< Vorwort wird durch das betont unpolitische von Wolfgang Goetz ersetzt; die Wilde-Inszenierungen spielen entweder in einer märchenhaften Bühnenwirklichkeit45 oder werden gar - wie von Hans Weißbach in Hamburg - zu musealen Rührstücken verarbeitet.46 In Sanders Text werden die kritischen Pointen reduziert: Wildes Stücke dienen der Wirklichkeitsflucht, kaum noch dem satirischen Wirklichkeitsbezug. 4. 1945-1969 Die Nachkriegsphase der Wilde-Rezeption wurde durch Otto Hakes Versuch über Wilde (1946) eingeleitet, der an das integrale Wilde-Bild vor der Rezeption von Gides Essay anknüpft und die Verbindung zwischen Wildes Komödien und seinem gesamten Leben und Werk (wieder) herstellt: »Seine Stücke zeigen, was unter sorgenfreien Menschen der Geist der Gesellschaft sein könnte,«47 Flakes Hinweise auf Wildes »Tiefgang«, auf seine Sprachmusik, auf den utopischen Hintersinn seiner Komödien blieben jedoch ohne Echo bei Übersetzern, Bearbeitern und Regisseuren. In der Zeit zwischen 1945 und 1969 erschien keine einzige Gesamtausgabe der Werke Wildes. Die theatralische Rezeption in dieser Phase ist geprägt durch die Entschärfung der Sozialsatire und die hemmungslose Boulevardisierung der Stücke, wobei das »Unterhaltungstheater«48 der Nachkriegszeit im Grunde genommen in unbewußter Kontinuität an die eskapistischen Inszenierungstendenzen nach 1936 an-

44 45 46 47

48

Vgl. oben S. 233 ff. Vgl. oben S. 242, 344. Vgl. oben S. 355 (Anm. 7), S. 356 (Anm. 12). Flake, Versuch über Oscar Wilde, S. 57 (Original-Hervorhebung als Sperrung). Vgl. oben S. 112ff„ 274f. Metzner, »Kunst und Unterhaltung«, S. 16. Vgl. oben S. 275, Anm. 94. 381

knüpfte; Hagemanns 1947 und wieder 1960 im Druck erschienene Bearbeitungen, deren Entstehung zum Teil bis ins erste Jahrzehnt des Jahrhunderts zurückreicht, stellten die Kontinuität der Tendenz zur vergröbernden Schwankhaftigkeit sicher. Zwar gibt es in dieser Zeit auch einige wenige relativ originalnahe Neuübersetzungen von einzelnen Stücken, die sich zum Teil aber sehr eng an die alten Texte der Wiener bzw. Zweigschen Ausgabe anlehnen (Becker, Wernecke).49 Es überwiegen jedoch Bearbeitungen bzw. Weiterbearbeitungen früherer Bearbeitungen, die - meist ohne Kenntnis des Originals - die Wildeschen Stücke den Erwartungen des deutschen Boulevardtheaters anzupassen suchen (Hagemann, Metzner, Meyen, Gillner, Steeb, Sakmann, Lerbs-Lienau). Wildes Stücke verschwinden in den 60er Jahren praktisch von den Spielplänen der größeren Theater - vermutlich ein Symptom dafür, daß Wilde - u. a. aufgrund der boulevardisierenden Bearbeitungen, die von den Bühnenverlagen vertrieben wurden - das Image eines harmlos-unterhaltsamen Boulevardautors besaß, der nicht mehr in das politisierte Klima der 60er Jahre zu passen schien. 5. 1969 bis Gegenwart Hier muß der Hinweis auf einige wenige Konturen genügen. Durch das kurz nacheinander erfolgende Erscheinen der Wilde-Biographie von Peter Funke (1969) sowie der drei umfassenden Wilde-Ausgaben in den Verlagen Hanser (1970), Winkler (1971) und Insel (1975 im Osten, 1982 im Westen) mit einheitlichen und soliden Übersetzungen aller Stücke (durch Paul Baudisch, Siegfried Schmitz, Christine Hoeppener) wird Wilde zum deutschen Lese-Klassiker. Durch Norbert Kohls, Ulrich Horstmanns und Andreas Höfeies Habilitationsschriften, durch Manfred Pfisters Buch über den Dorian Gray,50 vor allem aber durch die generelle Neuentdeckung der Literatur der Jahrhundertwende seit etwa den 70er Jahren51 ist Wilde zu einem zentralen Gegenstand der deutschen Anglistik und Komparatistik geworden. Das Angebot der Bühnenversionen reicht gleichzeitig von niveaulosen Boulevardbearbeitungen bis zu sprachlich anspruchsvollen Bühnenübersetzungen (ζ. B. Kollakowsky). Bunbury ist die einzige Komödie Wildes, die in den letzten 15 Jahren von prominenten Regisseuren und an großen Bühnen relativ erfolgreich inszeniert worden ist, von Zadek 1980 in Berlin derb-realistisch, von Tragelehn 1983 in Düsseldorf marionettenhaft verfremdet.52 Wollschlägers herausragende, sprachlich hoch-

49 50

51 52

Zu Becker vgl. oben S. 363, Anm. 23. Kohl, Wilde, 1980; Horstmann, Ästhetizismus und Dekadenz, 1983; Höfele, Parodie und literarischer Wandel, 1986; Pfister, Dorian Gray, 1986. Von großer Ausstrahlung war Koppen, Dekadenter Wagnerismus, 1973. Zadek war beim Publikum, Tragelehn bei der Kritik erfolgreich. Beide Inszenierungen zeigen deutlich den EinfluB der jeweils benutzten Übersetzung. - Zadek brachte das Stück in seiner eigenen, zuweilen derben Fassung: "Good heavens!" wird zu »Himmelarschundzwirn!« (Wilde, Importance, S. 79; Zadek/Greiffenhagen, Bunbury, S. 88).

382

elegante Übersetzung von Ein idealer Ehemann (1986) - wenn sie auch an einzelnen Stellen allzu manieriert klingen mag 53 - setzt neue zielsprachliche Maßstäbe für künftige Wilde-Übersetzungen: Aus Hagemanns »Schwankfutter« ist bei Wollschläger eine Delikatesse für Feinschmecker geworden.

53

»Jubel für Zadek«; »der Beifall deckte manche Textpassage zu«; »rauschender Schlußbeifall« usw. (Ulrich Kersten, Rheinische Post, 29.4.1980). Die Kritik warf dem Regisseur vor, daß er zu sehr »vergröberte« (Gerhard Stadelmaier, Stuttgarter Zeitung, 28.4. 1980). Ähnlich Sibylle Wirsing in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: »keine Noblesse«, »bis zur Burleske auf[ge]rauht«. Der Regisseur habe »die Lebensart einer hermetisch abgeschlossenen Oberschicht durch ein tölpel- und rüpelhaftes Allotria ersetzt« (28.4.1980). »Er ist kein Regisseur der Form, sondern der Verletzung der Form« (Benjamin Henrichs, Die Zeit, 9.5.1980). - Tragelehn inszenierte das Stück in einer von Christa Tragelehn angefertigten »Übersetzung«, die ständig den lähmenden EinfluB der Version Hoeppeners verrät (vgl. oben S. 82, Anm. 74). Die Inszenierung war betont unrealistisch. »Die meiste Zeit stehen und sitzen die Akteure da, dem Publikum zugewandt, bewegungslos wie bei einer Lesung [...] - und sprechen ganz langsam, fast drei Stunden lang. Das Munterste scheint mitunter der Teewagen zu sein« (Birgit Kölgen, Neue Rhein Zeitung, 22.4.1983). Die Übersetzung »ist trockener, wirkt spröder als andere deutsche Fassungen. Das kommt, natürlich, den Regieabsichten ihres Mannes entgegen. [...] Oscar Wildes Personen haben keine eigene Sprache mehr, sondern diese hat sie, degradiert sie zu femgesteuerten Marionetten. Sie kommunizieren nicht, sie funktionieren nur noch.« Dadurch mache Tragelehn »den gesellschaftlichen Druck auf den Einzelnen« sichtbar: »Tragelehn gelingt diese Demaskierung, ohne die Figuren je zu denunzieren« (Reinhard Kiel, Rheinische Post, 22.4.1983). Die Inszenierung klischiere »die Figuren derart, daß von Wirklichkeitsnähe im Sinne eines realistischen Theaters keine Rede mehr« sein könne, was laut Ulrich Schreiber dialektisch zu verstehen sei: »Durch das Ausstellen gesellschaftlicher Substanzlosigkeit macht Tragelehn aus dem Boulevard den Königsweg eines denkbaren Theaters der Kritik an der Gesellschaft. Das ist mehr als man von der belanglosen Farce erhoffen durfte« (Frankfurter Rundschau, 2.5.1983). In Bunbury, seinem »kältesten und virtuosesten Stück«, habe Wilde angeblich »die letzten Reste von sozialem Interesse« getilgt, was von dem FAZKritiker als besonders zeitgemäß empfunden wird: »Wenn Wilde [...] so selbstverständlich absurd sein kann wie bei Tragelehn, dann muß Oscar sein, nicht immer, aber manchmal [...]. Die Welt im Kopfstand zu betrachten, ist nicht logisch, aber angenehm. Und manchmal wird nur der Kopfstand den Absurditäten der Welt gerecht« (Georg Hensel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.4.1983). So übersetzt Wollschläger die schlichte Regieanweisung "moves away" (Wilde, Husband, S. 153) mit »separiert sich« (Wollschläger, Ehemann, S. 31). 383

Zusammenfassung Systematisierung der sprachlichen, kulturellen, ideologischen und theatralischen Rezeptionsprobleme

Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung sind zu vielfaltig, um zum Schluß unter den Teppich eines knappen Begriffsschemas gekehrt zu weiden. Dennoch soll der Versuch gemacht werden, die empirische Vielfalt der Rezeptionsweisen nicht nur in historischer Reihenfolge zu ordnen, wie dies in der hypothetischen Periodisierung der verschiedenen Rezeptionsphasen geschah, sondern auch in thematischer Hinsicht. Im folgenden werden die im 2. Kapitel als Suchraster beschriebenen Konzeptionsunterschiede1 auf vier Kategorien reduziert und in sich aufgegliedert, um so die in den historischen Fallstudien ausgebreiteten Ergebnisse in eine systematische, auf andere Übersetzungskorpora anwendbare begriffliche Ordnung zu bringen. Als Leitfrage soll dabei dienen, welche konstanten sprachlichen, kulturellen, ideologischen und theatralischen Rezeptionsprobleme sich beim übersetzerischen und theatralischen Transfer der Wildeschen Komödien in die deutsche Zielkultur ergeben haben.

1 Sprache Die Sprache von Wildes Komödien stellt in der gesamten Rezeptionsgeschichte eines der Hauptprobleme für die Übersetzer dar. Wilde war in allen seinen Werken ein außerordentlich sprachbewußter Schriftsteller, der sich in seinen Essays auch immer wieder theoretisch über sprachliche Probleme äußerte.2 Die Sprachgebung in den Komödien weist mindestens die folgenden vier komplexen Eigenschaften auf. Es handelt sich dabei einmal um:

1 2

Siehe oben S. 9Iff. Zum Studium in Oxford vgl. Smith H/Helfand (Hrsg.), Oscar Wilde's Oxford Notebooks. In seinem im Gefängnis verfaßten Rechenschaftsbrief De Profundis charakterisiert Wilde sich als "a lord of language" (Wilde, CW, S. 905). Zur Thematisierung der Sprache in The Critic as Artist s.o. S. 83ff. Wildes Sozialismus-Essay verbindet auf höchst moderne Weise Sprach- und Ideologieanalyse.

384

a. "society-Εnglish",3 also um die Sprache der höchsten Gesellschaftsschicht, b. zweitens um "the English of the salon and the boudoir, the English one talks",4 also um gesprochene Sprache; c. drittens ist diese Sprache von Wilde ästhetisiert im Sinne dandystisch-aphoristischer »Floretteleganz«;5 d. viertens ist sie figurensprachlich hochgradig nuanciert.6 Beim Transfer der Stücke ins Deutsche stellte sich somit das vierfache Problem, wie gleichzeitig das soziolinguale Sprachniveau, die Oralität, die Eleganz und die idiosynkratische Sprachgebung wiedergegeben werden sollten. Da es um die Jahrhundertwende - wie Greve überzeugt war - »im Deutschen an einer stereotypen Gesellschaftssprache völlig fehlt«,7 entstand für die Übersetzer hier ein grundlegendes Transferproblem, welches durch die übrigen sprachlichen Anforderungen noch potenziert wurde. Jeder Übersetzer bzw. Bearbeiter reagierte darauf etwas anders. Die Prioritätenhierarchie der einzelnen BunburyFassungen für die Wiedergabe der Wildeschen Sprachkomplexität sah etwa so aus: Greve optierte für eine stilistisch glanzlose, kaum individualisierte Normalisierung der Sprachebene und die Beibehaltung der Mündlichkeit; Teschenberg für ein einförmig gespreiztes, schwer sprechbares Amtsdeutsch ohne rhetorische Eleganz; durch Vallentin und - diesen übertrumpfend - Hagemann wurde das verbalsprachliche Niveau Bunburys (bzw. im Falle Hagemanns: der vier Stücke) auf die Anspruchslosigkeit des Boulevardtheaters heruntergebracht; bei Blei/Zeiß gab es bemerkenswerte punktuelle Ansätze zu lexikalischer Kompensation und Restitution der Sprachebene und zum Streben nach gesprochensprachlicher Eleganz, während die figurensprachliche Exzentrik eher eingeebnet wurde; Sander ging bewußt von einer auf soziolinguale Angemessenheit und

3 4 5

6

7

Wilde, Utters, S. 306. Ebd. Meyerfeld, »Oscar Wilde in Deutschland«, Sp. 462. - Vgl. Audens Charakterisierung von The Importance of Being Earnest als "perhaps the only pure verbal opera in English" (»An Improbable Life«, S. 136). Zu Beginn der Arbeit an Lady Windermere's Fan schickte Wilde einen brieflichen Stoßseufzer an George Alexander, woraus sein Streben nach präziser individueller Charakterisierung der Figuren hervorgeht: "My dear Aleck, I am not satisfied with myself or my work. I can't get a grip of the play yet: I can't get my people real" (Wilde, Letters, S. 282). - Zur Individualisierung der Figuren von The Importance of Being Earnest s. o. S. 35, Anm. 100. - Katherine Worth hat in Wildes Komödien eindringlich auf den psychologisch realistischen '"between the lines' style" hingewiesen, den er mit Tschechow teile (Wilde, S. 9): "Wilde is calling in fact for close readings of the kind for which he is not usually given credit. Under the brittle snap of the dialogue the subterranean life of feeling is delicately conveyed" (S. 83). Was sie über A Woman of No Importance sagt, gilt in gleichem Maße für alle Wildeschen Komödien: "All the voices are idiosyncratic" (S. 102; Hervorhebung R. Κ.). Greve, »Drama«, S. 67. 385

auf ästhetische, gesprochensprachliche Eleganz bedachten Gesamtkonzeption aus und lieferte in der Tat die erste deutsche Fassung einer Wildeschen Komödie, die allen vier Dimensionen der Sprachgebung Rechnung zu tragen suchte, wenn Sander dabei auch die Sprachebene etwas senkte und die Figurensprache anders oder auch undeutlicher markierte. Aufgrund des durchgehenden - und mutigen - Zeitbezugs der Sanderschen Bearbeitung war sein Text nach 1945 nicht mehr spielbar, seine flotte Sprachgebung blieb daher ohne Auswirkung auf die nach 1945 entstehenden Übersetzungen und Bearbeitungen. Erst von Baudisch (1970) und Wollschläger (1986) wird Sanders homogene sprachliche Eleganz wieder erreicht und womöglich übertroffen. Für diese Verzögerung der übersetzerischen Wiedergabe der spezifisch Wildeschen Sprachbrillanz - deren ästhetischer Reiz in der >griechischen< Einfachheit und Schönheit der Oberfläche besteht - gibt es sicher verschiedene Erklärungen; der von Greve resignativ angeführte Grund - das zielsprachliche Fehlen einer typischen Gesellschaftssprache, was man mit dem Fehlen einer deutschen Tradition hauptstädtisch-mondäner Gesellschaftsstücke und der Abwesenheit einer entsprechenden Konversationskultur parallel setzen könnte ist sicher wichtig, aber nicht hinreichend, setzt er doch eine zielkulturelle Statik und Homogenität voraus, die keine innovative Sprachveränderung und Stilebenendifferenzierung zuließe, wie sie doch durch Übersetzer und Schriftsteller immer wieder bewerkstelligt wurde und wird. Gewichtiger ist wohl die Tatsache, daß Wildes Komödien von Anbeginn an aufgrund des von Gide herrührenden und von Hagemann verbreiteten Deutungsmusters in die Kategorie des populären Unterhaltungstheaters ohne bleibenden literarischen Anspruch eingeordnet wurden: Es fehlte - trotz Meyerfelds oder Parths (publizistisch allzu versteckten) Hinweisen auf die Stilisierungskunst und die »Floretteleganz« der Stücke8 - den ersten Übersetzern, mehr noch den späteren Bearbeitern, am authentischen Wissen über die Sprachkunst der Originaltexte und die individuellen Nuancen der Figurensprache. Obwohl sich beispielsweise Franz Blei in seinen eigenen Essays als glänzender Stilist erweist, behandelt er in der lieblos fabrizierten Bunbury-Fassung von 1905 Wildes Stück, das er nicht einmal im Original konsultierte, wie eine x-beliebige Schmierenkomödie. Trotz aller Lippenbekenntnisse Bleis über die »künstlerische Hinterlassenschaft Wilde's«9 läßt sich aus der stilistischen Sorglosigkeit seiner BU/I^MO*-Bearbeitung erkennen, daß er letzten Endes Gides, Grevés und Hagemanns Verurteilung der Komödien akzeptiert hatte. 10 Blei fehlte es zweifellos nicht am sprachlichen

8 9 10

Siehe oben S. 111 ff. Blei (Hrsg.), Oscar Wilde, S. 49. Vgl. oben S. 118. Noch in einem 1930 erschienenen, oft brillant formulierten Essay Bleis (»Oscar Wilde«, in: Franz Blei, Männer und Masken, S. 171-198), der hauptsächlich von Wildes Homosexualität als sozialpsychologischem Problem handelt - »Der bipolare Eros wird von einem multipolaren abgelöst. Die Überlastung der Frau mit ausschließlich erotischen Inhalten, die sie verkrüppeln ließ, scheint zu Ende zu gehen [...]«

386

Können fìir die Reproduktion der Wildeschen Sprachkunst und die Schaffung eines entsprechenden soziolingualen Sprachniveaus im Deutschen, sondern an der Kenntnis des Originals - und wohl auch an wirklichem übersetzerischem Interesse. So scheint sich insgesamt weniger das Fehlen einer »stereotypen Gesellschaftssprache« (Greve) blockierend ausgewirkt zu haben, als vielmehr die stereotyp wiederholten Vorurteile über die literarische Minderwertigkeit der Komödien. Überspitzt gesagt: Nicht die Komödientexte selbst, sondern das >Bild< von Wildes Komödien dominierte die deutsche Rezeption.

2 Kultur Die Bühnenübersetzung stellt immer - die Bühnenbearbeitung in der Regel 11 - einen Versuch dar, zwischen der fremdkulturellen Welt, aus der der Text stammt und die auf der Bühne darzustellen ist, und der eigenkulturellen Welt der Leser oder Zuschauer einen Kompromiß auszuhandeln.12 Bei den

11

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(S. 198) - zeigt sich Bleis negatives Bild von den Komödien in zwei kurzen Kommentaren: »Die Theaterstücke sind witzige Hinnahme eines Typus von Stücken, wie ihn in England Pinero gab, mit ein wenig Parodierung dieses Typus durch einen geistreichen Mann« (S. 173); Wilde habe sie nur um des Geldes willen geschrieben (S. 193). Es gibt natürlich auch Bearbeitungen, die zwar von einem Stück angeregt sind, es aber nicht einfach >modemisieren< oder >verfremdenanspielenkommentieren< oder >zitierenKompromiß< zwischen Original und Bearbeitung keine Rede sein, da die Bearbeitung sich dem Original gegenüber auf einer anderen Ebene befindet. (Man würde in diesen Fällen daher besser von >Verarbeitung< sprechen.) - Unter den deutschen Wilde-Bearbeitungen gibt es dafür kein Beispiel. Ein interessantes französisches Beispiel ist: Fin de siècle von Richard Bean und Louis-Charles Sirjacq d'après 'L'Éventail de Lady Windermere' d'Oscar Wilde, das am 7. Februar 1991 am Théâtre National de Strasbourg Premiere hatte. Das Stück verwendet nur noch einzelne Motive aus Wildes Original, was ohne den Hinweis auf dem Programmzettel allerdings kaum zu bemerken wäre; die identitätslosen Figuren haben andere Namen als bei Wilde (Glenda, Pamela, Patricia, Alex, Gino, Tchad usw.); die Gesellschaftssprache ist reduziert auf ein chorisch-ballettöses Ritual von dadaistischem Geschnatter. Thema oder Leitmotiv der Szenenfolge ist etwa: Unterdrückung der (vor allem: weiblichen) Sexualität als Ursache universaler Neurose. Romy Heylen (Six French 'Hamlets') schlägt als "cultural model of translation" folgendes Dreierschema für den Prozeß der übersetzerischen "acculturation" vor: 1. "translations that do not really attempt to acculturate the original work"; 2. "translations that negotiate and introduce a cultural compromise"; 3. "translations that completely acculturate the original work" (S. 23 f.). Meiner Meinung nach handelt es sich auch bei Typ 1. und 3. um Kompromisse. Vgl. auch oben S. 69 (Anm. 31), 95. Eine Übersetzung ohne Kompromiß wäre so paradox wie eine Kommunikation ohne Kooperation. Eine der - bisher noch nicht formulierten - >Griceschen< Maximen des Übersetzers (vgl. Polenz, Satzsemantik, S. 311) müßte lauten: »Sei kompromißbereit!« 387

oben analysierten Wilde-Übersetzungen und -Bearbeitungen lassen sich tendenziell vier Typen solcher Kompromisse unterscheiden: a. Exkulturation: Die Übersetzung versetzt das Stück und die Leser oder Zuschauer in ein kulturelles Niemandsland: Die Sprache ist soziolingual nicht markiert, englische Redewendungen werden wörtlich wiedergegeben, die Bezeichnungen der fremden Kultureme (Personen, Titel, geographische, historische, institutionelle Bezeichnungen usw.) werden weitgehend beibehalten oder interlinear übersetzt. Diesem Typ entsprechen tendenziell am ehesten die Übersetzungen Pavia/Teschenbergs, die sich sprachlich und kulturell quasi an der Grenze der Verständlichkeit entlang bewegen; verstehen kann man manchmal nur, wenn man im englischen Original nachschlägt.13 b. Von Dekulturation kann man sprechen, wenn die fremden Realia und Kultureme überwiegend weggelassen und - soweit beibehalten - durch zielsprachliche ersetzt sind. Die Reduzierung der punktuellen pragmatischen Bezüge kann sich bis zur Ausblendung der Realität überhaupt summieren, so daß das Theaterstück bzw. die Bühnenwelt als besonders selbstreferentiell, märchenhaft, als Phantasiegebilde ohne historische Verankerung erscheint Diesem Typ scheint am ehesten die Blei/Zeißsche Bunbury-Version zu entsprechen, obwohl auch Vallentins Text - wenn man dessen paraverbale Einbettung nicht berücksichtigt - und Hagemanns Fassungen sehr weit in diese Richtung gehen. Durch die Kappung der Realitätsbezüge vermindert sich das satirische Potential. Die Stücke werden verfügbar für das eskapistische Unterhaltungstheater.14 c. Als Akkulturation15 kann man die Übersetzung oder Bearbeitung bezeichnen, die die pragmatischen Bezüge des Ausgangstextes - sprachlicher, historischer, geographischer, kultureller Art - konsequent durch solche der Zielkultur ersetzt. Die Welt der Leser oder Zuschauer wird im Theaterstück bzw. auf der Bühne widergespiegelt. Die Fremdheit des Stückes verschwindet, es wird zur >nostra resaktuell< und >relevantverfremdet< wird. Zwischen Zuschauerwelt und Bühnenwelt wird eine sprachliche Verbindung hergestellt, die aber durch kulturspezifische Besonderheiten der Bühnenfiguren oder sonstigen Zeichen gleichzeitig als bewußte Konstruktion und Illusion sieht- oder hörbar gemacht wird. Das einzige konsequente (und erfolgreiche) Beispiel für diesen Typ kulturellen Transfers bildet Richard Vallentins Regiebuch bzw. seine BunburyInszenierung von 1905, bei der die verbale Eindeutschung durch die paraverbale Anglisierung kontrastiert wurde. In der Folgezeit versuchten Hagemann und Kalbeck an Vallentins Regiekonzept anzuknüpfen, allerdings ohne Erfolg bei Publikum und Kritik.17

3 Ideologie Zwischen sprachlichen, kulturellen und ideologischen Sachverhalten läßt sich gewiß nicht immer klar trennen, da Ideologien immer parasitär innerhalb bestimmter kultureller Lebenswelten auftauchen und diese zu durchdringen versuchen. Während kulturelle Normen im engeren Sinn meist für begrenzte Sprach- oder Traditionsgemeinschaften, die dadurch ihre historische Identität sichern, in Bezeichnungen, Institutionen, Bräuchen, Verhaltensweisen usw.

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Zu Sander vgl. oben S. 299 ff.; zu Bruno Frank siehe S. 99, 221 (Anm. 114); zu Lerbs siehe S. 223 ff. Zu Greve vgl. Greve, Bunbury, 1903, S. 5, 85 und 29, 93; siehe auch oben S. 287, besonders Aran. 18. Zu Vallentin s.o. S. 161 ff.; zu Hagemann S. 265ff.; zu Kalbeck S. 56f.

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>unbewußt< fixiert sind, sind Ideologien und Ideologeme eher Bewußtseinsinhalte und Wertvorstellungen, die von Diskursgemeinschaften als selbstverständlich oder wissenschaftlich gestützt verstanden werden und universale Geltung beanspruchen.18 Der expansive Geltungsdrang ideologischer Perspektiven äußert sich in vier typischen Weisen übersetzerischer und adaptatorischer Interventionen gegenüber dem Ausgangstext:19 a. Ideologische Monosemierung: »Der Übersetzer wählt systematisch aus einem komplexen Konnotationsspektrum des Ausgangstextes genau jene Konnotationen aus, die ihm am besten >ins Konzept passenMenschenbild< (mit)prägt. Die ideologisierende Wirkung entsteht durch die Rekurrenz der vom Übersetzer immer wieder dominant gesetzten Konnotationen.«20 Dabei werden 1. Isotopien, die im Ausgangstext nicht oder nicht so deutlich vorhanden waren, implantiert bzw. akzentuiert, oder es werden 2. Isotopien des Ausgangstextes, die nicht in die übersetzerische Perspektive passen, neutralisiert. Das beste Beispiel für die Implantation neuer Isotopien ist die Heroisierung des Männer- und Frauenbildes bei Karl Lerbs, worüber im 6. Kapitel gesprochen wurde.21 Dabei brauchte Lerbs im Falle des Idealen Gatten eigentlich nur Alfred Neumanns forsche Nietzscheanisierung der Politiker- und Dandy-Figur nationalsozialistisch >fortzuschreibenSubtext< zu verdunkeln.25 b. Ideologische Substitution: Während bei der ideologischen Monosemierung, gegen die keine Übersetzung gefeit ist, in erster Linie >Unbestimmtheitsstellen< und Ambiguitäten26 entsprechend den ideologischen Präferenzen des Translators konkretisiert oder >besetzt< werden oder - umgekehrt - ideologisch bedenkliche Konnotationsmöglichkeiten per semantische Generalisierung zu >Unbestimmtheitsstellen< verwässert werden, ist die ideologische Substitution ein weitaus gröberes und auffalligeres Verfahren, das in Übersetzungen - im Gegensatz zu Bearbeitungen - daher auch relativ selten vorkommt Es verstößt offen gegen das Prinzip der übersetzerischen Loyalität, da dabei ein Lexem oder ein Ausdruck, der - rein sprachlich gesehen - keinerlei Übersetzungsschwierigkeit darstellt, aus ideologischen Gründen durch einen zielsprachlichen Ausdruck wiedergegeben wird, der nicht nur eine punktuelle, sondern eine >strukturelle< oder >globaleprinzipiellen< Stelle, von der ein starker Ausstrahlungseffekt ausgegangen wäre: Er >übersetzt< bewußt geradezu das Gegenteil des Gemeinten. Fälle dieser Art begegneten in Bunbury vor allem bei der übersetzerischen Retuschierung von Wildes emanzipatorischem Frauenbild. Greve übersetzt Gwendolens "I may marry someone else" mit »heiraten muß«, Teschenberg übersetzt "thoroughly experienced young lady" mit »gänzlich unerfahrene, junge Dame«.28 In Sanders Text wird dagegen Gwendolens Männerideal, wonach Männer, die "effeminate"

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Wilde, Importance, S. 87; Sander, Vor allem Ernst!, S. 37 f. Wilde, Husband, S. 175; Lerbs, Gatte, S. 51. Zu Greve siehe z.B. oben S. 45f.; zu Sander S. 307ff. Zu den deutschen Übersetzungen des von Wilde absichtlich extrem ambig formulierten Briefchens Gertrudes in An Ideal Husband vgl. Kohlmayer, »Ambiguität und Ideologie«, S. 43Iff. Siehe oben S. 58, Anm. 3. Wilde, Importance, S. 38, 78; Teschenberg, Ernst, S. 86; Greve, Bunbury, 1903, S. 38. 391

sind, für Frauen angeblich "so very attractive" werden, dem soldatischeren Männerbild der NS-Zeit zuliebe in sein genaues Gegenteil verkehrt.29 In Bearbeitungen, die sich ja von vornherein nicht auf ein satzlineares Vorgehen beschränken, sind ideologische Korrekturen dieser Art dagegen eher die Regel. So lassen sich etwa die Wandlungen, die die Figur des Dandys bei Lerbs und in den Filmen des Dritten Reiches generell erfahrt, am einfachsten als figurale Substitution zusammenfassen, wobei die oben beschriebenen Monosemierungsvorgänge zwar vorkommen, aber neben den massiveren Transformationsmethoden eher eine Randerscheinung darstellen. Bei Lerbs werden - besonders deutlich im Idealen Gatten - generell die >dekadenten< Aspekte des Dandys durch >gesunde< ersetzt: Straffe Haltung, autoritäre Interaktion, völkisches Wir-Bewußtsein, worin sich der letztlich ideologische Hintergrund dieser figuralen Substitution erweist.30 c. Ideologische Textkürzung: Auch dieses Verfahren ist, da es gegen das übersetzerische Prinzip der Linearität verstößt, in Übersetzungen relativ selten zu finden. Die wenigen Stellen, die bei Greve und Teschenberg tatsächlich weggelassen werden, betreifen bezeichnenderweise wieder Passagen, in denen Wilde das prä-emanzipatorische Frauenbild der Jahrhundertwende ironisiert bzw. den neuen Frauentyp der >New Woman< evoziert.31 Daß sowohl Greve wie Teschenberg völlig unabhängig voneinander und von verschiedenen Textvorlagen ausgehend (und in Teschenbergs Gefolge Blei/Zeiß und Hagemann) genau jene Stelle tilgen, wo Gwendolen sich ausmalt, sie werde vielleicht »oft heiraten«,32 kann nur sinnvoll erklärt werden als Fall von ideologischer Verdrängung - gleichgültig ob die Übersetzer dabei im eigenen Namen handelten oder eher mit Rücksicht auf ihr Publikum so handeln zu müssen glaubten: Sie verteidigen durch diese punktuelle Tilgung die traditionelle Vorstellung, daß eine junge Frau die Eheschließung als etwas Einmaliges und Endgültiges zu betrachten habe; sie löschen die >New WomanSündenfall< der Puritanerin (Gertrudes Notlüge dem eigenen Mann gegenüber: die anarchistische Pointe

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Wilde, Importance, S. 67; Sander, Vor allem Ernst!, S. 107. Vgl. dazu oben S. 313. Selbst bei Christine Hoeppener, die wie kein anderer Übersetzer semantisch >linear< übersetzt, gibt es im S. Kapitel des Dorian Gray zumindest eine Stelle, wo sie eine >ideologische< Substitution durchführt, um aus Wildes metaphorischer Verwendung von "race-instinct" einen weniger metaphorischen »Klasseninstinkt« zu machen (Wilde, CW, S. 61; Hoeppener, Dorian Gray, in: Kohl [Hrsg.], Sämtliche Werke, Band 1, S. 79). Zu den Einzelheiten vgl. Kohlmayer, »Dandy«, S. 291-298. Vgl. auch oben S. 240, besonders Anm. 171, und S. 310f. Vgl. dazu oben S. 135 ff. Vgl. dazu oben S. 135, 285 f.

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des Stückes) der Selbstzensur zum Opfer: 33 ein Zeichen dafür, daß gegen Wildes Kritik am verdinglichenden Idealismus und gegen seine Relativierung abstrakter und letzten Endes unmenschlicher >Prinzipien< in der deutschen Rezeption des Stückes - nicht nur im Boulevardtheater - hartnäckig der Wunsch nach der ungebrochenen Perfektion der >positìven< Heldin (Gertrude Chiltern) und nach der unerschütterlichen Geltung des Prinzips der Wahrhaftigkeit die Oberhand behielt; Wildes spielerisch-frivol vorgetragene situative Ethik - eine pluralistische Ethik der >Differenznegativ< erscheinenden Heldin (Gloria Cheveley) - das polare ideologische Schema aufgelöst wird.35 Die Bearbeitungen Lerbs' und Sanders bieten ansonsten für die Strategie der ideologiebedingten Tilgungen naturgemäß die auffallendsten Beispiele: In Lerbs' Ein idealer Gatte entfallen Lord Gorings prinzipien- und politikfeindliche Äußerungen ("I don't like principles, father, I prefer prejudices"36 und dgl.), die seine Umfunktionierung zum vorbildlichen Zeitgenossen erheblich beeinträchtigt hätten. Sander wiederum entfernt aus Lady Bracknells Text ihre faschistisch klingenden Tiraden gegen >Dekadenz< und für >Gesundheitindividualistische< Aphorismen und eine völlig neu verfaßte Eingangsszene des 3. Aktes, die ihm vermut-

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Vgl. dazu oben S. 248 und Kohlmayer, »Sprachkomik«, S. 375-382. Zu Wildes >situativer EthikWende< in Unzeitgemäßheit über. Die kabarettistische Anbindung von Sanders BuH^M^-Fassung an die ideologische Großwetterlage von 1934/35 und die nationalsozialistische Jargonisierung von Lerbs' Ein idealer Gatte von 1935 verhinderten, daß diese beiden Fassungen nach 1945 noch gespielt wurden. Dagegen wurden Lerbs' Versionen von Lady Windermeres Fächer und Eine Frau ohne Bedeutung in der bundesrepublikanischen Theaterprovinz auch noch in der Adenauerzeit weitergespielt, zum Teil sogar mit der Besetzung und Interpretationsweise der dreißiger Jahre, ohne daß der Kritik die latente Ideologisierung von Lerbs' heroischem Frauenbild aufgefallen wäre. 39 Läßt man den rein klassifikatorischen Aspekt der ideologischen Interventionen der Übersetzer und Bearbeiter beiseite, um abschließend die Themen zusammenzufassen, die auf so vielfältige Weise modifiziert, substituiert oder weggelassen wurden, so zeichnet sich - wenn wir einmal von Hagemann absehen, der in den drei frühen Komödien vor allem die als >sentimental< empfundenen Stellen kürzt40 - folgende Konstante ab: Die ideologischen Korrekturen be38 39

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Siehe oben S. 318 ff. Siehe oben S. 228 f., 238. Das heroische Frauen- und besonders Mutterbild wurde anscheinend unbemerkt in die Adenauerzeit übernommen, wobei nicht zuletzt das harte Schicksal der >Trümmerwitwen< eine Rolle gespielt haben dürfte. Über Hilde Hildebrands Darstellung der Mutterrolle in der Windermere-PiemitK des Wiesbadener Staatsschauspiels am Weihnachtstag 1949 berichtete die Kritik in demselben »Jargon der Eigentlichkeit« (Adorno) wie IS Jahre zuvor in Berlin. Damals sah die Kritik »ein überzeitliches, großes Seelenerlebnis« (Franz Dietzenschmidt, Berliner Tageblatt, 13.9. 1934); der Wiesbadener Kritiker fand es »bestechend, wie Hilde Hildebrand die Gestalt der Mrs. Erlynne aus dem Bereich der Kolportage ins wahrhaft Menschliche hob. [...] Wenn mit einmal die Träne im Auge quillt, dann [...] dank ebensolcher Gestaltung, die jede Faser des erschütterten Wesens noch mit Blut durchdringt, Ausfluß wahrhaftigen Fühlens« (»DrHK«, Wiesbadener Kurier, 27.12.1949). - In den 60er Jahren überarbeitete Renate Lerbs-Lienau die drei Wilde-Versionen ihres Mannes, wobei sie vor allem Lerbs' hehren Jargon und heroisches Pathos ausdünnte. So wird aus Lady Chilterns Unterwerfungsrhetorik: »Ich habe mir angemasst, zu richten, wo ich hätte verstehen und verzeihen sollen. Du warst grösser als ich, Robert« (Lerbs, Gatte, S. 152) verschüchterte Resignation: »Gewandelt hat mich nichts. Ich habe nur eingesehen, daß ich mich anpassen muß. Ich will versuchen, nicht mehr zu richten, will nicht nur fordern, wo ich besser Verständnis zeigen sollte« (Lerbs-Lienau, Gatte, S. 119; Hervorhebung R. K.). - Trotz Lerbs-Lienaus Renovierungsbemühungen wurden die Lerbsschen Fassungen von den Bühnen nicht mehr übernommen. In den 70er Jahren gewannen die gegenwartssprachlich entrümpelten, >sozialkritisch< klingenden Texte Robert Gillners die Gunst der Bühnen. Siehe oben S. 247, 249.

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treffen seit Beginn der Komödienrezeption am stärksten die individualistischen Dandy-Figuren männlichen und weiblichen Geschlechts, deren Aphorismen und Handlungsweise in der Tat für jede nicht-anarchistische, auf autoritäre Strukturen angewiesene Gesellschaftsordnung eine Provokation darstellen. In dem absolut autoritätsfeindlichen Individualismus dieser Figuren (Lord Darlington und Mrs. Erlynne in Lady Windermere's Fan, Lord Illingworth und Mrs. Allonby in A Woman of No Importance, Lord Goring und Mabel in An Ideal Husband), gemäß deren aphoristischer Rhetorik jede kollektive Wahrheit, Ästhetik und Ethik abzulehnen und durch Selbstdenken, Entfaltung der eigenen Kreativität und situative Differenzierung der Moral zu ersetzen ist,41 liegt das >AnstößigeBekehrungs-< und Befreiungsprozeß der jugendlichen Puritanerinnen Lady Windermere, Hester Worsley und Lady Chiltern demonstriert, ist durch keine wie immer geartete soziale Ordnung aufzufangen: Die Bühnenrealität spielt eine ästhetische Utopie vor, in der alle Realitätsbezüge und kollektiven Strukturen von vornherein dazu verurteilt sind, nur als individualitätsfeindliche Hindemisse oder psychische Blockierungen aufzutreten und der Lächerlichkeit anheimzufallen. Die Besonderheit und die Pointe der Wildeschen Komödien liegt in dieser sanften Verführung zur individuellen Befreiung:42 In der Schlußszene der ersten drei Stücke fangen die drei Puritanerinnen, die zuvor die übliche Prinzipienstrenge des selbstgerecht-moralischen Viktorianismus veitraten und insofern als Identifikations- oder Demonstrationsfiguren für das zeitgenössische Publikum geeignet waren, jeweils ein

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Eine Kurzfassung der anarchistischen Aufforderung zur Individualisierung des Schönen, Wahren und Guten gibt Lord Goring - bei dieser Gelegenheit als "the first well-dressed philosopher in the history of thought" präsentiert (Wilde, Husband, S. 212) - zu Beginn des 3. Aktes von An Ideal Husband: "Fashion is what one wears oneself. What is unfashionable is what other people wear. [...] Just as vulgarity is simply the conduct of other people. [...] And falsehoods the truths of other people. [...] To love oneself is the beginning of a life-long romance" (S. 213). - Im Sozialismus-Essay hatte Wilde diese Gedanken ausführlich entfaltet, wobei er immer wieder knappe Formeln fand, um seine individualistische Utopie entwicklungsgeschichtlich zu legitimieren: '"Know thyself!' was written over the portal of the antique world. Over the portal of the new world, 'Be thyself' shall be written. And the message of Christ to man was simply 'Be thyself'" (Wilde, CW, S. 1085). - Die meines Ermessens avanciertesten Interpretationen des Sozialismus-Essays finden sich in Viktor ¿megaC, »Kunst und Gesellschaft im Ästhetizismus des 19. Jahrhunderts«, S. 32-34 (¿megaC betont Wildes Nähe zu Schillers >ästhetischer Erziehung