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German Pages 304 [301] Year 2024
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Ortstermine Band 2
© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Veröffentlichungen der Akademie CPH
Akademie für Jugend- und Erwachsenenbildung
Ortstermine Politisches Lernen an historischen Orten Band 2
Herausgegeben von Siegfried Grillmeyer und Peter Wirtz Herausgegeben im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft katholisch-sozialer Bildungswerke in der Bundesrepublik Deutschland (AKSB)
WOCHEN SCHAU VERLAG © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Dieser Band wurde herausgegeben von Siegfried Grillmeyer und Peter Wirtz.
Königstraße Königst aße 64, 64 90402 Nürnberg Nü nbe g www.cph-nuernberg.de In der Reihe „Veröffentlichungen der CPH Akademie für Jugendund Erwachsenenbildung“ ist dies Band 9. Bildnachweis Die Bilder entstammen zum einen dem Archiv der werkstatt-weltweit und der Jesuitenmission. Zum anderen wurde von den Autorinnen und Autoren Bildmaterial aus deren Privatbesitz zur Verfügung gestellt. Dafür und für die Zustimmung zur Drucklegung sei allen beteiligten Leihgebern ein herzliches Danke ausgesprochen. Eine detaillierte Übersicht befindet sich im Anhang.
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by WOCHENSCHAU Verlag, Schwalbach/Ts. 2008
www.wochenschau-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden. Umschlag: Ohl Design Gesamtherstellung: Wochenschau Verlag Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier ISBN 978-3-89974237-4 E-Book ISBN 978-3-7566-0078-6 DOI https://doi.org/10.46499/2376
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Inhalt
Peter Wirtz, Siegfried Grillmeyer Ortstermine – zur Aktualität eines Konzepts ....................................................7 Jack Diewald Bürger und Staat im Konflikt. Ein exemplarischer Fall: Wackersdorf.................................................................14 Andrea Göppner und Matthias Weiß Verdrängungsorte. Die italienische Eisdiele und der unbedachte Beginn der Einwanderung in die Bundesrepublik ..........................................................33 Peter Wirtz Der Dom zu Aachen – Symbol politischer Machtansprüche ...........................58 Zeno Ackermann Nürnberg. Vom Zentralort deutscher Erinnerung zum zentralen deutschen Erinnerungsort ...........................................................84 Michaela Behling-Morhart und Bernhard Schoßig Lernort Dachau. Zeitgeschichtliche Studienprogramme für Jugendliche ............106 Bettina Blessing Der Immerwährende Reichstag Regensburg – Ort der Manifestation des Heiligen Römischen Reiches.................120 Thomas Barth Brauchen Hauptstädte Schlösser? Die Residenz in München und ihr Beitrag zum bayerischen Selbstverständnis .............................................142 Jens Hoppe Der jüdische Friedhof. Ein schwieriger Lernort ..............................................169 Daniel Menning, Mechthild Notthoff, Stefanie Paufler und Michael Seelig Ist Adel verschwunden? ................................................................................181 Alexander Weiß Der Reichstag in Berlin Zwischen nationalem und parlamentarischem Andenken..................................195 Claus Zernetschky Die Walhalla als Lernort ...............................................................................217 © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Susanne Kiewitz Die symbolische Hauptstadt West-Berlin als Erinnerungsort der alten Bundesrepublik ..................................225 Rainer Ratmann Deutsche Juden oder jüdische Deutsche? Zur Bedeutung ausgewählter Lernorte für historisch-politische Bewusstseinsprozesse am Beispiel Berlin ...........................................................242 Siegfried Münchenbach Erinnerungsort zu Krieg und Frieden Eine Ausstellung zur Schlacht von Höchstädt und Blindheim 1704 ..................263 Florian Setzen Straßburg Hauptstadt des Elsass und Symbol der europäischen Einigung ...........................278 Autorinnen und Autoren ..............................................................................288 Bildnachweis ................................................................................................292 Inhalt von „Ortstermine Band 1“ .................................................................294 Orte, auf die sich Beiträge der Ortstermine 1 und 2 beziehen.......................296 Nachwort des Herausgebers der Reihe Historisch-politische Bildung in guter Tradition ...........................................299
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Peter Wirtz, Siegfried Grillmeyer
Ortstermine – zur Aktualität eines Konzepts
Im ersten Band „Ortstermine“, der 2006 erschien, wurde unser Konzept des politischen Lernens vor Ort dargestellt. Es ging uns darum, die aus der Praxis gewonnenen Erfahrungen in die pädagogische wie fachwissenschaftliche Diskussion einzuordnen und auf den Prüfstand der kollegialen Kritik zu bringen. Vielfache Rückmeldungen bei Tagungen und Kongressen sowie die bisher eingegangenen Rezensionen halfen uns, das Konzept der „Ortstermine“ zu überdenken.1 Diese Anregungen sollen hier aufgegriffen werden, um den fachwissenschaftlichen Austausch weiterzuführen und – wie angekündigt – auch durch die interne Auseinandersetzung mit dem pointierten Beitrag von Axel Hof fortzuschreiben.2 Nach der Vorlage dieses zweiten Bandes kann die Diskussion fortan im Jahrbuch der AKSB weitergeführt werden, wo in unregelmäßigen Abständen weitere Beiträge zu den Ortsterminen erscheinen werden. Die beiden Herausgeber sprechen an dieser Stelle ein herzliches Danke aus: zum einen den Autorinnen und Autoren für ihre Geduld bei dem gemeinsamen Projekt und zum anderen allen Kolleginnen und Kollegen für ihre konstruktive Kritik. Ebenso sei die mühevolle Tätigkeit von Johannes Kirnich dankend hervorgehoben, der das Lektorat und die Abschlussredaktion übernahm. Ein besonderer Dank gilt schließlich dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, ohne dessen Förderung die konkreten Veranstaltungen wie auch die Publikation des Bandes nicht möglich gewesen wären.
Erinnerungsorte in der politischen Bildung Das Konzept der „Ortstermine“ ist zweifellos ein sehr offenes, und so soll der manchmal provokant gestellten Frage, ob es denn in dieser Definition überhaupt „Nicht-Lernorte“ geben würde, nachgegangen werden. (Diese Kritik betrifft freilich neben unserem Konzept der Ortstermine noch mehr die jüngst erschienenen Versuche, neue Lernorte in der politischen Bildung zu beschreiben.)3 Denn – so diese implizite Kritik – wenn es in erster Linie darum gehe, „Ortstermine“ didaktisch und methodisch zu beschreiben, kommt den einzelnen Bildungsreferenten/innen ein immenses Gewicht zu, und man könnte überspitzt formulieren, sie würden jeden Ort zum Lernort erheben können. Denn die didaktisch Verantwortlichen sind es, welche die ausdrücklich nicht vorhandene „Selbsterklärlichkeit“ eines jeden historischen Ortes im pädagogischen Prozess auflösen müssen. Dieser fundamentalen Kritik seien einige Klarstellungen entgegengebracht: © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Das Spannungsfeld zwischen den Erinnerungsorten, welche sich als Vermittlungsinstanz von Kollektividentitäten eben auch immateriell und ideell beschreiben lassen (so neben Weimar auch Luther und das Wirtschaftswunder) und den real-räumlichen Lernorten gilt es zu allererst neu zu vermessen.4 Ein aufsuchendes Lernen an authentischen historischen Orten bedeutet im Rahmen des hier vorgelegten Konzeptes gerade nicht, die identitätsbildende oder besser konstruierte und kommunikativ zu erschließende Ebene außen vor zu lassen. Ganz im Gegenteil: Sie muss integraler Gegenstand und Bestandteil des Lernprozesses sein. Gleichzeitig ist es unabdingbar, den real-räumlichen Bezug, der eben authentisch und anschaulich Lernprozesse anregen kann, einer Prüfung zu unterziehen, um nicht ins Beliebige abzugleiten. Dieses stete Einbeziehen der kollektiven Identitätsebene von Erinnerungsorten in der Tradition von Etienne François und Hagen Schulze eröffnet dabei außerdem eine Entgrenzung des Konzeptes von der Gedenkstättenpädagogik. Auch wenn in der didaktisch-methodischen Aufbereitung der Erinnerungsorte im Sinne von Gedenkorten viel Handlungsbedarf zu verzeichnen ist, wie erst kürzlich wieder aus dem Blickwinkel des norddeutschen Bereiches dokumentiert, so wollen die „Ortstermine“ zeitlich wie räumlich weitgreifender sein.5 Dies führt umgehend zu einer weiteren Betonung: „Ortstermine“ sind unzweifelhaft konzipiert auf das Lernfeld des historisch-politischen Lernens hin. Auch wenn in der Einleitung zum ersten Band von der Überwindung der Grenzziehung zwischen historischem und politischem Lernen gesprochen wurde, scheinen manche Vertreter der entsprechenden Fachdisziplinen daran festzuhalten. Es geht nicht um historistisches Aufzählen, Einordnen und Verknüpfen von Räumen, sondern um deren Bedeutung und Nutzbarmachung für politische Lernprozesse. Ein ausgewiesener Fachmann historisch-politischer Didaktik wie Dirk Lange hat dafür theoretische Grundlagen geschaffen, die Diskussionen außerhalb der curricularen Bildungszusammenhänge aber in dem kürzlich erschienenen Beitrag bisher nur wenig rezipiert.6 Hier stoßen wir allerdings auf eine grundlegende Problematik, die sich in der Kritik an den „Ortsterminen“ wiederfand, allerdings an anderer Stelle behandelt werden muss: die oftmals scharfe Trennlinie zwischen Schule und außerschulischen Bildungsarrangements und damit korrelierend die Nichtwahrnehmung der einschlägigen Fachdiskurse.7 Die Einbeziehung von Ortsterminen in Lernprozesse erfordert zweifelsohne ein hohes Engagement von den Lehrenden, und dies führte in der Diskussion mit vielen Kolleginnen und Kollegen aus dem schulischen Bereich zur grundsätzlichen Infragestellung der Umsetzbarkeit. Es sei nicht verschwiegen, sondern nochmals explizit betont, dass dieses Konzept im Rahmen der außerschulischen und außeruniversitären Bildungsarbeit entwickelt und erprobt wurde. Hier sollte und soll aber in keiner Weise der Eindruck entstehen, als seien Bildungsreferentinnen und -referenten schlichtweg besser in der Lage, es umzusetzen. Was hier betont werden soll, sind die zu nutzenden Möglichkeiten © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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einer komplementären Bildungskooperation zwischen schulischen und außerschulischen Einrichtungen, zwischen Universitäten und Trägern der Erwachsenenbildung. An außerschulischen Orten kann fernab eines engeren Curriculums und Leistungserhebung ein ganzheitlicher Erfahrungsraum geschaffen werden, der in besonderer Weise pädagogische Wirksamkeit erreichen kann. Das Postulat, die hier zu beschreibenden weiteren Beispiele auch für Exkursionen im Rahmen eines lehrplangeleiteten Unterrichts einzubeziehen, bleibt völlig erhalten. Der Versuch, „Ortstermine“ näher zu beschreiben, hat hier einige Fragen aufgeworfen, die sicher weiterhin den Fachdiskurs bestimmen und hoffentlich auch den Dialog zwischen einzelnen Professionen und Fachrichtungen verstärken.
Zur internen Kritik der Lernorte Im ersten Band der Ortstermine veröffentlichten wir einen Aufsatz von Axel Hof, der sich kritisch mit dem Konzept des historischen Lernortes aus Sicht der historischen Wissenschaften auseinandersetzt. Die folgenden Absätze sollen Axel Hofs Zweifel am Lernortekonzept aus der Perspektive der politischen Bildung beantworten. Zunächst ist Hof beizupflichten, wenn er vor einem allzu naiven Umgang mit historischen Lernorten warnt. In der Tat verlockt der Lernort durch seine vermeintliche Authentizität dazu, dass „systematisch an historischen Gedenkstätten ein vermeintlich objektiver Gehalt des historischen Prozesses im Raum erfahrbar werden soll“ (Hof ). Die „abbildtheoretische Linie“, der vor allem Hofs Kritik gilt, widerspricht dem Ansatz der Politikdidaktik und der von ihr formulierten Ziele von politischen Lernprozessen. Zielpunkt aller politischen Bildung ist es, die politische Entscheidungsfähigkeit des Subjektes zu stärken. In komplexen Gesellschaften kann dies nicht ohne Wissensvermittlung geschehen, doch erstens ist sie nicht Ziel von Lernprozessen und zweitens kann sich ein politischer Lernprozess nicht auf die Aneignung von Wissen beschränken. Ganz im Gegenteil bildet gerade die kritische Reflexion des (im doppelten Sinne) Erfahrenen den Ausgang notwendiger Diskurse, die erst die Basis für selbständige Werturteile schaffen können und auch in Hinsicht auf Handlungsorientierungen unverzichtbar sind. Voraussetzung für politisches Lernen ist somit immer die kritische Aneignung von Kenntnissen oder Kompetenzen. Sie vollzieht sich einem hermeneutischen Zirkel vergleichbar. Bevor wir uns der Funktion des Lernortes in der politischen Bildung zuwenden, vergegenwärtigen wir uns drei Ansätze, die die Einbeziehung der Historie in die politische Bildung sinnvoll machen. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass politische Bildung ein anderes Ziel verfolgt als historische. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Peter Wirtz, Siegfried Grillmeyer
1. Das genetische Lernen: Kein Themenfeld der Politik lässt sich begreifen ohne Kenntnis der historischen Zusammenhänge. Politische Fragestellungen fallen nicht vom Himmel, sie sind historisch gewachsen. Dies gilt vor allem für Fragen, die auf den ersten Blick offenkundig der Vernunft widersprechen. Warum etwa die deutsche Politik ein den Maximen deutscher Außenpolitik nicht selten widersprechendes Verhältnis zum Staat Israel entwickelt hat, lässt sich nur verstehen, wenn die historischen Zusammenhänge des 20. Jahrhunderts einbezogen werden. Jedes ahistorische Politikverständnis beinhaltet die Gefahr eines Positivismus, der auch in anderen Bereichen (z.B. dem des Rechts) zu gravierenden Fehlentwicklungen führen kann. Den Inhalt dessen, was wir Politik oder Geschichte nennen, bilden überwiegend menschliche Beziehungen, die Kommunikation und Interaktion, sei es einzelner Subjekte oder Gruppen, und diese sind geprägt durch ihre Geschichtlichkeit. Insofern befasst sich die politische Bildung mit historischen Zusammenhängen, um ihren eigentlichen Gegenstand, die aktuelle Entwicklung von Politik und Gesellschaft, angemessen zu verstehen. 2. Das exemplarische Lernen: Axel Hofs Schlussfolgerung, aus Geschichte sei nur die Lehre zu ziehen, „dass man aus ihr nicht lernen kann“, lässt sich wohl nur unter der Prämisse vorkritischer Auseinandersetzung mit Geschichte aufrechterhalten. Wird Lernen hier als moralisches Lernen verstanden, so mag die Geschichte in der Tat nichts taugen, ebensowenig wie der Vorwurf der Eltern an die Kinder, ob sie denn nichts aus den Fehlern ihrer größeren Geschwister gelernt hätten. Geschichte (und Politik) besteht nicht aus exemplarischen, verallgemeinerbaren Geschehnissen, sondern immer aus Einzelfällen, die nur aufgrund unwiederholbarer Voraussetzungen geschehen sind. Aber die Tatsache, dass sie geschehen konnten, kann durchaus zu Lehren führen. Während für das genetische Lernen jene historischen Ereignisse geeignet sind, die in besonderer Weise in mehr oder minder starkem kausalen Zusammenhang mit der Gegenwart stehen, scheint das exemplarische Lernen dort am besten zu gelingen, wo jede vermeintliche Kausalität aufgehoben zu sein scheint. Die Kunst, historische Ereignisse exemplarisch auszuwerten, liegt darin aufzuzeigen, dass die Fragen der Gegenwart auch in der Vergangenheit Menschen beschäftigt haben. Dabei birgt die Geschichte keine Handlungsrezepte, aber sie führt Möglichkeiten vor, wie sich Entwicklungen ereignen können. In Umkehr des Novaliszitats vom „Historiker als einem nach hinten gewandten Seher“ könnte man den politischen Prognostiker als einen nach vorne gewandten Historiker bezeichnen. Unsere politischen Entscheidungen fällen wir, weil wir uns in Hinblick auf die Zukunft von ihnen bestimmte Entwicklungen erhoffen. Zu erfahren, wie Antworten in der Vergangenheit ausgesehen und gewirkt haben, schmälert nicht die Verantwortung der Gegenwart und bietet auch keine Entscheidungsrezepte, weitet aber den Horizont und stärkt das kritische Denken. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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3. Das geschichtspolitische Lernen: Jede Geschichtsvermittlung erzählt über die Gegenwart genausoviel wie über die Vergangenheit. Die Auswahl der Fakten, ihre offene oder unterschwellige Bewertung, die Form ihrer Darbietung: all dies sagt viel über politische Interessen und Werthaltungen der Gegenwart. „Geschichte wird gemacht“ – die Mehrdeutigkeit dieses Satzes aus dem Lied „Es geht voran“ ist Grundlage jedes kritischen, geschichtspolitischen Lernens. Gerade die Herstellung vermeintlich gemeinsamen Geschichtsbewusstseins, seiner Mythen und Symbole muss mit äußerster Sorgfalt beobachtet werden, weil sie nicht selten (so „lehrt“ die Geschichte) Ausgangspunkt affektiven kollektiven Verhaltens war, das einer kritischen Überprüfung hinsichtlich ihres Wahrheitsgehaltes im nachhinein nicht standhalten konnte. Dies gilt auch für die „Stiftung“ von „Erinnerungsorten“ […], die von globaler politischer Identität zeugen könnten“ (Hof ). Politische Bildung fördert gerade den kritischen Blick auf die Geschichtsvermittlung und fragt nach den hinter ihnen stehenden aktuellen politischen Interessen, sie betrachtet den „Erinnerungsort“ als Produkt der Gegenwart, in dem Vergangenes vergegenwärtigt werden soll, nicht als historisch Unverrückbares und semantisch Fixiertes. Jeder Erinnerungsort ist eine Konstruktion der Gegenwart, unabhängig davon, wie alt und „echt“ die Steine sind, aus denen er besteht. Politische Bildung sensibilisiert für diese Tatsache, fragt danach, wie die aktuelle Präsentation des Ortes geschieht, sucht nach dem Bewusstsein, das den Ort in seinem aktuellen Aussehen begründet. Sie fragt gerade nicht in erster Linie nach seinen historischen, sondern nach seinen politischen Implikationen. Ideologiekritik ist einer ihrer zentralen Impulse, und sie bezieht sich auch auf den kritischen Umgang mit dem Überlieferten, seinen Formen und verborgenen Absichten. Dabei gerät auch die Geschichte des Erinnerungsortes als „Erinnerungsort“ in den Blick. Denn die Geschichte des Ortes beschränkt sich nicht auf die historische Funktion, für die er äußerlich steht; sondern sie ist auch die Geschichte seiner Präsentation – oder den Versuchen, ihn totzuschweigen oder zu manipulieren. Wie diese zum Gegenstand der Reflexion werden kann, zeigt exemplarisch die Dokumentation der Geschichte des EL-DE-Hauses in Köln und aller Versuche, das während des Nationalsozialismus als Gestapo-Gefängnis betriebenen Haus gerade nicht zu einem Ort des Erinnerns zu machen. Insofern ist der Ansatz des geschichtspolitischen Lernens das zentrale Motiv bei der Auseinandersetzung mit historischen Orten. Erst unter dieser Prämisse macht die Verwendung im Sinne genetischen Lernens Sinn. Politische Bildung nutzt vielfältige Möglichkeiten, um Interesse zu wecken und zur Auseinandersetzung mit politischen Fragen zu motivieren. Der Lernort bietet hierzu einen methodischen Zugang; denn das wenn auch nur vermeintlich Authentische befriedigt das Verlangen des Menschen nach Sicherheiten. Hier hat sich über die Jahrhunderte wenig © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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geändert. Was dem religiös Orientierten des Mittelalters die Reliquien waren, die eine Sicherheit über die Realität der heilsgeschichtlichen Wahrheit geben sollten (und de facto den Gläubigen gaben), ist dem historisch Orientierten der Gegenwart der historische Ort, der das historische Geschehen zu verbürgen scheint. Politische Bildung nutzt die hieraus erwachsende Neugier, die Faszination der scheinbaren Authentizität, aber sie setzt ihre Instrumentarien dazu ein, um im Lauf des Lernprozesses die Distanz zu schaffen, die zur kritischen Auseinandersetzung notwendig ist. Indem der Lernort als etwas in der Gegenwart Gestaltetes in den Blick gerät, wird die Gefahr jeder unkritischen Fixierung gebannt. Schließlich sei dem postmodernen Einwurf noch entgegengehalten, dass es nicht Aufgabe politischer Bildung ist, Antworten zu geben, sondern Fragen zu stellen. Subjektiv zu verantwortende Antworten zu finden ist dann den Teilnehmenden der Bildungsveranstaltung, allgemein gesprochen den Bürgerinnen und Bürgern der demokratischen Gesellschaft überlassen. Dies gilt auch für die vermeintliche Faktizität des Historischen. Der aufklärerische Impuls aller politischen Bildung, der sich auch auf den eigenen Bildungsprozess bezieht, sollte hier ausreichend sein zur Vorbeugung. Dennoch war der Hinweis Axel Hofs ein richtiger Impuls. Denn ob die Praxis politischer Bildung immer ihren theoretischen Prinzipien entspricht, ob z.B. das „Überrollverbot“ des Beutelsbacher Konsens, das für politische Bildung gleich welcher innerdemokratischen Schulen gültig ist, stets Beachtung findet, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden. Insofern dient die Mahnung der Praxis politischer Bildung und verweist auf das, was längst selbstverständlich sein sollte: dass nicht nur die Geschichte, sondern auch ihre Vermittlung Produkt menschlicher Tätigkeit ist.
Anmerkungen 1 Hier sei auf die Tagung an der Gedenkstätte Dachau verwiesen, welche zwischenzeitlich auch in gedruckter Form dokumentiert wurde. (Siegfried Grillmeyer: Lernorte. Politisches Lernen an historischen Orten. In: Kulturreferat der Landeshauptstadt München (Hrsg.): Der Umgang mit der Zeit des Nationalsozialismus. Perspektiven des Erinnerns. Dokumentation der Gesprächsreihe im Rahmen der Projektvorbereitung für ein NS-Dokumentationszentrum in München. München 2007, 172-191.) Im Bereich der Rezensionen kann die kenntnisreiche und abwägende Kritik durch Verena Haug hervorgehoben werden. Zuerst im wissenschaftlichen Forum von H-Soz-u-Kult unter der Adresse http://hsozkult.geschichte. hu-berlin.de/rezensionen/2006-2-073 und dann in geringfügig veränderter Form zusammen mit Christian Geißler-Jagodzinski im Newsletter Nr. 28 (2006) des Fritz Bauer Instituts veröffentlicht. 2 Diese Erwiderung auf den Beitrag von Axel Hof (erschienen im ersten Band unter dem Titel: „Tempel der Gewissheit“. Über Wert und Sinn didaktischer Konzepte politischen © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Lernens an historischen Gedenkstätten, S. 35-58) wurde bereits im Vorwort zum ersten Band (S. 8) angekündigt. Vgl. hierzu die Beiträge in: kursiv. Journal für politische Bildung. Heft 1/2008 unter dem Titel: Ortswechsel. Neue Lernorte in der politischen Bildung. Schwalbach/Ts. 2008. Zur Definition vgl. weiterhin grundlegend Etienne François/Hagen Schulze (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte. 3 Bde. München 2000 f. und die im ersten Band der Ortstermine vorgestellte darauf bezugnehmende Literatur. So in dem Band, der von Dirk Lange herausgegeben wurde und trotz des umfassenderen Titels eine Engführung auf die Zeit der Diktatur in Deutschland aufweist. Vgl. Dirk Lange: Politische Bildung an historischen Orten. Vorüberlegung für eine Didaktik des Erinnerns. In: Dirk Lange (Hrsg.): Politische Bildung an historischen Orten. Materialien zur Didaktik des Erinnerns. Hohengehren 2006, 7-19. Vgl. dazu die richtungsweisende Arbeit von Dirk Lange: Historisch-politische Didaktik. Zur Begründung historisch-politischen Lernens. Schwalbach/Ts. 2004, sowie seine neueste Zusammenfassung: Dirk Lange: Historisches Lernen. In: Volker Reinhardt (Hrsg.): Inhaltsfelder der politischen Bildung [Basiswissen Politische Bildung Band 3]. Hohengehren 2007, 103-109. Hier wird die Entwicklung gerade der außerschulischen Bildungsarbeit wenig einbezogen. Diese Diskussion wurde erst neuerdings in den Ausgaben der beiden Zeitschriften „kursiv“ und „Praxis Politische Bildung“ intensiv geführt. Vgl. hier vor allem Benedikt Widmaier: Politische Jugend- und Erwachsenenbildung – lost in space? Bezugswissenschaften und Wissenschaftsbezüge der Profession, sowie Johannes Schillo: Professionalität in der außerschulischen politischen Bildung. Anmerkungen zur aktuellen Diskussion. In: PPB, Heft 3/2007.
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Bürger und Staat im Konflikt Ein exemplarischer Fall: Wackersdorf
„Zwei in Flammen stehende Polizeifahrzeuge, vermummte Randalierer, die mit Steinen, Stahlkugeln, Molotowcocktails, Holzknüppeln gegen in die Flucht geschlagene Bereitschaftspolizisten vorgehen; BGS-Großraumhubschrauber, die Tränengasbomben in eine schier unübersehbare Menschenmenge werfen, in den Wald flüchtende Familien, weinende Kinder, ein Dutzend Wasserwerfer am WAA-Eisenzaun, niedergerissener Stacheldraht und zersägte Stahlpfosten, ein Kilometer davon entfernt in einem Wasserlauf zu gelblicher Masse erstarrte Rückstände des von der Polizei eingesetzten CS- und CN-Gases, Hunderte von Verletzten: Wackersdorf an Pfingsten 1986.“ 1 So beginnt der Bericht der Regensburger Wochenzeitung Die Woche über die bis dahin schwersten Zwischenfälle im Bereich der Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf (im Folgenden = WAA). Die Bilanz des Spiegel über das Pfingstwochenende 1986 lautete: „Schierer Zufall, daß es keine Toten gab.“2 Schon vor diesem Wochenende hatte es gewalttätige Auseinandersetzungen am Bauzaun der WAA gegeben. Nun war allerdings ein Höhepunkt erreicht, da die Polizei die massive Militanz nicht mehr unter Kontrolle hatte und von der Gewalteskalation völlig überrascht wurde. Auch später gab es noch eine Reihe von Auseinandersetzungen zwischen militanten WAA-Gegnern und der Polizei. Die Staatsmacht gewann zwar sehr schnell wieder die Kontrolle über die Situation in der Oberpfalz, jedoch nur auf Kosten eines regelrechten Ausnahmezustands. Es stellt sich die Frage, wie es überhaupt dazu kam, dass der Name einer kleinen, rund 3.700 Einwohner zählenden Gemeinde über Jahre hinweg in den Fokus des öffentlichen Interesses geraten konnte. Anscheinend hatte niemand geglaubt, dass sich in einem Umfeld wie in Wackersdorf ein Konflikt derart ausweiten, polarisieren und dramatisieren könnte. Auch die Bayerische Staatsregierung schien überzeugt gewesen zu sein, dass Wackersdorf allein schon deshalb ein geeigneter Standort für eine WAA sei, weil dort aufgrund des Strukturwandels in der Wirtschaft (Einstellen des Braunkohleabbaus ab 1982) erhebliche Arbeitsmarktprobleme entstanden waren. In einer Broschüre des Bayerischen Umweltministeriums (der späteren WAA-Genehmigungsbehörde) vom September 1984 wird im Hinblick auf die geplante WAA darauf hingewiesen, dass der „Arbeitsmarkt Schwandorf [...] über genügend Reserven“ verfüge, „so daß für neue industrielle Großbetriebe der Bedarf an Arbeitskräften ohne Schwierigkeiten gedeckt werden kann“. Als weitere © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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wichtige Voraussetzungen für die Ansiedlung eines Großbetriebes wie der WAA wird angeführt, dass „schon von alter Tradition her [...] die Bevölkerung industriefreundlich und arbeitsam“ sei und somit eine „aufgeschlossene Bevölkerung“ erwartet werden könne. Nachdem sich herausgestellt hatte, dass die Menschen in der Oberpfalz – zumindest zu einem großen Teil – die WAA aus verschiedenen Gründen und mit den unterschiedlichsten Mitteln ablehnten und bekämpften, startete die Bayerische Staatsregierung eine Serie von Anzeigenkampagnen in bayerischen Tageszeitungen. So heißt es in einer dieser Anzeigen: „Die WAA ist ein weiterer Schritt, um den Oberpfälzern eine sichere Zukunft zu gewährleisten. Sie ist eines der bedeutendsten Einzelprojekte in Deutschland und wird der ganzen Region wichtige Impulse geben.“ Es schließt sich die Frage an: „Glaubt wirklich jemand im Ernst, daß die Bayerische Staatsregierung eine WAA zulassen würde, die Menschen und Natur gefährdet?“3 Die Tatsache, dass offenbar sehr viele diese Frage für sich persönlich mit einem „Ja“ beantwortet haben, war wohl ein Hauptgrund für den Streit um die WAA. In der Geschichte der Bundesrepublik hat es schon mehrere vergleichbare Konflikte gegeben. Es sei nur an die langjährigen Auseinandersetzungen um die Frankfurter Startbahn West oder an den Widerstand gegen atomare Anlagen in Whyl, Brokdorf oder Gorleben erinnert. Gleichwohl gibt es auch heute Konflikte (z.B. die Errichtung einer Mobilfunkantenne), bei deren Analyse politisches Lernen stattfinden kann. Am konkreten Konfliktfall von Wackersdorf kann beispielhaft die Entstehung und der Verlauf einer Auseinandersetzung zwischen den Bürgern und den staatlichen Institutionen in all ihren unterschiedlichen Facetten aufgezeigt werden. Schließlich gab es in und um Wackersdorf nicht nur gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen CS-Gas versprühenden Polizeieinheiten und Molotow-Cocktails werfenden Autonomentrupps. Die Anzahl der friedlich verlaufenen Demonstrationen war um einiges höher. Hinzu kamen Gerichtsverfahren und Gesetzesänderungen im Zusammenhang mit der WAA. In Wackersdorf war eine Entwicklung zu beobachten, nämlich wie sich die Bürgerinnen und Bürger zuerst zaghaft, dann immer emotionsgeladener und aggressiver gegen das WAA-Projekt zur Wehr setzten, wie sich die Kluft zwischen den Interessen des Staates und den Ansichten eines Teils seiner Bürgerinnen und Bürger mehr und mehr vergrößerte, welche Maßnahmen beide Seiten jeweils ergriffen, um ihre Interessen durchzusetzen und wie sich die Fronten langsam verhärteten. Die Genese des Wackersdorf-Konflikts in allen Einzelheiten darzustellen, würde den vorgesehenen Rahmen sprengen. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass die Diskussion um den Bau einer deutschen WAA in einer Zeit stattfand, in welcher in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit das Thema Atomenergie heftig © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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umstritten war. Standorte für die Errichtung nuklearer Anlagen zu finden stellte folglich die Politik vor ganz erhebliche Probleme. Weshalb sollte die WAA also ausgerechnet in Wackersdorf gebaut werden? Einen entscheidenden Hinweis könnte die Äußerung von August Lang (damals Vorsitzender der CSU-Landtagsfraktion) geben, die ihm in den folgenden Jahren von WAA-Gegnern immer wieder vorgeworfen wurde. Am 30.01.1982 (gesendet in der Tagesschau vom 31.01.1982) sagte er zu Wackersdorf: „Wenn wir die WAA hier in diesem Raum nicht bauen, dann können wir die Anlage nirgends anders in Bayern errichten!“ Wackersdorf wurde als Standort erachtet, der eine größere Akzeptanz der Bevölkerung versprach – bedingt durch eine hohe Arbeitslosenquote, die vermeintliche Gutmütigkeit der Oberpfälzer und deren unterstellte geringe Neigung zum Aufbegehren. Für die Entscheidung der DWK (Deutsche Gesellschaft für Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen) war das persönliche Engagement des Bayerischen Ministerpräsidenten und CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß sicherlich nicht unerheblich. Wenige Tage vor der Standortentscheidung schrieb Strauß am 16.01.1985 einen Brief an die DWK, in dem er den Willen der Bayerischen Staatsregierung versicherte, „[...] auch künftig für eine zügige Durchführung aller erforderlichen Verwaltungsverfahren Sorge [zu] tragen und darauf [zu] achten, daß das Projekt mit keinen ungerechtfertigten Forderungen finanziell belastet wird. [...] Abschließend kann ich Ihnen die Bereitschaft der Bayerischen Staatsregierung versichern, alle Anstrengungen zu unternehmen, um eine rasche und ungestörte Realisierung des Projekts und einen unbehinderten Betrieb der Anlage sicherzustellen. […] Von Bedeutung für die Akzeptanz des Projektes ist auch die Tatsache, daß der Standort Wackersdorf in einem Raum mit industriegewohnter Bevölkerung liegt [...].“ 4 Wie der Konfliktverlauf um Wackersdorf deutlich vor Augen geführt hat, konnte die verwendete Akzeptanzstrategie die erhoffte Wirkung nicht erzielen. Seitens der WAA-Kritiker wurde der Bayerischen Staatsregierung dann auch vorgeworfen, die Region bewusst wirtschaftlich und arbeitsmarktpolitisch ausgetrocknet zu haben, eine verfehlte Wirtschaftspolitik betrieben zu haben, um somit die Bevölkerung für eine Atomfabrik gleichermaßen „reifzuschießen“. Viele Oberpfälzer glaubten damals, dass die Dauerarbeitslosigkeit beabsichtigt sei, um die Akzeptanz für die WAA mit angeblich zahlreichen Arbeitsplätzen zu erhöhen.
1 Struktur und Arten des Widerstandes Es wäre vermessen, den Widerstand gegen das Projekt WAA in all seinem Facettenreichtum schildern zu wollen. Für den Kontext des politischen Lernens ist vielmehr dessen Komplexität von besonderem Interesse: das Neben- und © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Miteinander von Bürgern und Bürgerinnen aus den unterschiedlichsten sozialen Schichten und mit den verschiedensten Lebensläufen; das kooperative Agieren von politisch und weltanschaulich grundsätzlich differierenden Gruppierungen; die enorme Bandbreite der Aktions- und Widerstandsformen vom Widerstand auf juristischer Ebene über den legalen und friedlichen bis hin zum illegalen und militanten Widerstand. Da Protestbewegungen der breiten Öffentlichkeit meist erst dann in den Blick geraten, wenn die Zahl der Demonstranten oder gewalttätige Ausschreitungen das „normale“ Maß überschreiten und somit für die massenmediale Berichterstattung relevant werden, mag außenstehenden Beobachtern das rasche Eskalieren des Widerstandes gegen die WAA überraschend erschienen sein. Viele werden sich gefragt haben, wie gleichsam aus dem Nichts eine breite Bewegung entstehen konnte, die es immer wieder geschafft hat, Zehntausende zu mobilisieren. Bei der Arbeit mit Jugendlichen sollte an dieser Stelle nicht versäumt werden, auf die Problematik des Begriffs „Widerstand“ hinzuweisen. Ursprünglich schien dieser Begriff ausschließlich von historischem Interesse zu sein. Im Zusammenhang mit verschiedenen innenpolitischen Konflikten (Volkszählung, Einführung neuer Personalausweise, Atomkraft, Nachrüstung) wurde dann jedoch häufig der Begriff „Widerstand“ gebraucht und ein Recht auf Widerstand geltend gemacht. Begründet wird dies mit rechtlichen (Art. 20, Abs. 4 Grundgesetz: Widerstandsrecht) und historisch-politischen Argumenten, nicht zuletzt in Erinnerung an die nationalsozialistische Machtergreifung im Jahre 1933. Auf der anderen Seite wird den „Widerständlern“ vorgeworfen, den Widerstand gegen das NS-Regime auf diesem Wege regelrecht zu verunglimpfen, seien doch die Voraussetzungen für eine Inanspruchnahme des Widerstandsrechts nicht gegeben. Nicht nur die Frage, wo ein Recht auf Widerstand beginnt und wo es endet, ist Gegenstand des politischen Streits. Schon die in ihrer Bedeutung unklaren Umschreibungen möglicher Widerstandsformen („gewaltloser Widerstand“, „gewaltfreier Bürgerkrieg“, „ziviler Ungehorsam“) verhindern eine Verständigung zwischen den gegensätzlichen Meinungen. Unbeirrt durch solche Auseinandersetzungen hat sich jedoch auch im Fall Wackersdorf der Begriff „Widerstand“ durchgesetzt. Ein erster Blick auf die Gruppierungen und Organisationen, die in der Protestbewegung gegen die WAA engagiert waren, hinterlässt einen verwirrenden Eindruck: Lokale Bürgerinitiativen agierten neben landes- oder bundesweit etablierten Mitgliederorganisationen; autonome Gruppen thematisierten das WAA-Projekt unter einem betont antikapitalistischen und antiimperialistischen Blickwinkel; christliche Gruppen sahen in der WAA eine Bedrohung der Schöpfung, veranstalteten Andachten und Bittprozessionen. Darüber hinaus gab es unzählige Menschen, die sich als „normale“, unorganisierte Bürger an Aktionen gegen den Bau der WAA beteiligt haben. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Nicht zuletzt hatten innerhalb der Anti-WAA-Bewegung neben den verschiedenen Gruppen und Organisationen einzelne Persönlichkeiten, wie z.B. der damalige Schwandorfer Landrat Hans Schuierer, aufgrund ihrer Symbolfunktion einen großen Einfluss auf den WAA-Widerstand.
1.1 Die Bürgerinitiativen (BI) Im Kontext des Protests gegen die WAA Wackersdorf bildete die Bürgerinitiative Schwandorf den Kern der Oberpfälzer Initiativen. Als im Oktober 1981 etwa 100 Bürger und Bürgerinnen die „Bürgerinitiative Schwandorf gegen die WAA“ gründeten, war man sich darüber einig, dass die BI auf Überparteilichkeit beruhen und für alle Bevölkerungskreise offen sein müsse. Ihre Beschränkung auf ausschließlich legale Formen des Widerstandes und die Verpflichtung zu absoluter Gewaltlosigkeit begründete den sogenannten „oberpfälzischen Weg des Widerstandes gegen Atomprojekte“. Mit dieser strikt legalen Grundorientierung ging eine starke Skepsis gegenüber direkten Protestaktionen einher. Die latent vorhandene Angst „vor den Chaoten aus dem Norden“ war anfangs für viele aktive WAA-Gegner Grund genug, sich nicht an Demos oder ähnlich „spektakulären“ Aktionen zu beteiligen. 1.2 Christen gegen die WAA Ein ebenfalls sehr bedeutendes Element des Widerstandes gegen die WAA bildete der christliche Widerstand. Als sich abzeichnete, dass die protestierenden Christen maßgeblichen Anteil am WAA-Widerstand erlangt hatten und mit allsonntäglichen Andachten eine feste Institution im Protest gegen die WAA etablieren konnten, gerieten sie rasch in Konflikt mit der katholischen Amtskirche und der CSU. Für die CSU war es unverständlich, dass sich in der Auseinandersetzung um den Bau der WAA immer mehr Pfarrer und Gläubige auf den biblischen Auftrag zur Bewahrung der Schöpfung besannen und deshalb die Wackersdorfer Anlage ablehnten, dass sich ehemalige CSU-Wähler und gläubige Christen wegen der geplanten WAA von ihrer Partei abwandten. Einer der damals besonders engagierten Pfarrer lieferte dazu einen Erklärungsansatz: „Ich mein’, dass der Oberpfälzer von Natur aus ein recht ein braver Bursch wär, und gern auch wieder die Regierung weiter bestehen lässt und hätt’ auch gern die CSU immer wieder gewählt – ganz gewiss. Aber jetzt ist da was passiert, das sehr, sehr wichtig ist: Beleidigen lässt sich der Oberpfälzer nicht gern. Und da war eine sehr wichtige Beleidigung: Justizminister Lang hat damals gesagt, die WAA, wenn sie nicht in der Oberpfalz gebaut wird, dann kann sie nirgends gebaut werden. Das bedeutet also: Wir Oberpfälzer sind die größten Deppen von Deutschland. Und das hat die Oberpfälzer recht g’scheit geärgert.“ 5 Gerade die Seelsorger, die – noch immer Respektspersonen – mit ihren öffentlich vertretenen Positionen eine hohe Glaubwürdigkeit genossen und durch ihren Beruf © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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viele Menschen erreichen konnten, machten den christlich motivierten Protest für die CSU so schwierig. Die betont friedlichen Demonstranten ließen sich nur schwer als „Polit-Rowdys“ und „Chaoten“ diffamieren. Dennoch übte vor allem der damalige CSU-Vorsitzende Strauß mehrmals massive Kritik insbesondere an den im WAA-Widerstand aktiven Pfarrern und Theologen. Seiner Ansicht nach betrieben die Pfarrer, die auf dem WAA-Gelände Gottesdienste abhielten „das Werk des Teufels und nicht das Werk Gottes“6. Mehrere Male warf Strauß den Priestern vor, sie lieferten durch ihre kritischen Aussagen Rechtfertigungen für die gewalttätigen Aktionen militanter WAA-Gegner, so auch in einer Sitzung des Bayerischen Landtags vom 17.07.1986: „Die Behauptung, bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie seien Leben und Würde des Menschen und der Bestand der Schöpfung gefährdet, entbehrt jeder stichhaltigen Begründung. Wer trotzdem verkündet, daß der Nutzen der Kernkraft ethisch und moralisch nicht zu verantworten sei, der liefert gewalttätigen Demonstranten und skrupellosen Terroristen eine pseudotheologische Rechtfertigung für ihre Verbrechen.“ 7 Immer wieder wandte sich Strauß im Zusammenhang mit der WAA gegen eine Vermischung von Kirche und Politik – etwas überraschend, wenn man bedenkt, dass er Vorsitzender einer politischen Partei war, die schon alleine mit ihrem Namen Religion und Politik verbindet: „Angesichts dieses beängstigenden Missbrauchs von Kirche und Religion für demagogische Zwecke ist es eine besonders dringende Aufgabe, der Verwirrung der Geister, dem diabolus in ecclesia, entgegenzutreten. [...] Ob die WAA errichtet werden sollte oder nicht, ist eine Frage der Naturwissenschaften und der Politik. Ein gläubiger und verantwortungsbewusster Christ kann mit guten Gründen der Überzeugung sein, daß auch ein Kraftwerk ein Teil göttlichen Auftrags ist: ‚Macht euch die Erde untertan!‘“ 8
1.3 Die Autonomen 1.3.1 Begriffsbestimmung Zu bestimmen, wer oder was die Autonomen sind, gestaltet sich als äußerst schwierige, wenn es nicht gar eine unmögliche Aufgabe ist. Von den Autonomen zu sprechen erscheint deshalb problematisch, da „Autonome“ nicht mehr als ein Sammelbegriff ist: Dieser steht sowohl für kleine, gut organisierte Zirkel von zielstrebigen politischen Aktivisten als auch für ein ideologisch höchst diffuses Spektrum des militanten Protests. Autonome lehnen formelle Organisationen mit hierarchischen Strukturen generell ab und schließen sich deshalb in lockeren örtlichen Kleingruppen zusammen. Bei Demonstrationen fallen sie durch ein einheitliches Äußeres auf: als „schwarzer Block“ und mit „Hasskappen“ vermummt. Ein Merkmal der antistaatlichen Grundhaltung der Autonomen ist die Ablehnung des Parlamentarismus und der ihn tragenden Parteien. Ziel der Autonomen ist die Errichtung einer „herrschaftslosen gewaltfreien Gesellschaft“, wozu es notwendig © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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sei, „diesen Staat zu zerschlagen“. Um dieses Ziel zu erreichen, propagieren die Autonomen nicht nur Gewalt, sondern wenden sie auch an. Wo es notwendig erschien, breitere Aktionsbündnisse mit gemäßigten Gruppen einzugehen, waren die Autonomen dazu bereit, z.B. bei Großdemonstrationen. In der Regel lassen sich die Autonomen jedoch auf keine Diskussionen darüber ein, ob gewalttätige Aktionen vermieden werden sollten. Die Autonomen waren – vor allem wegen ihrer Neigung zu Gewaltaktionen – die auffälligste Gruppierung unter den WAA-Gegnern. Sie praktizierten situationsbezogen Handlungsmuster, die von den üblichen Protestformen über taktische Gewaltfreiheit im Rahmen einer Aktionseinheit mit anderen Gruppen bis hin zur militanten Aktion und der Sabotage reichten. Die Auswirkungen des „Tschernobyleffekts“ nach dem Reaktorunfall in der Ukraine am 26.04.1986 bekam die am Baugelände für die WAA eingesetzte Polizei am Pfingstwochenende 1986 erstmals zu spüren, als sie weder taktisch noch personell in der Lage war, die Tage dauernden Krawalle zu beenden. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen wusste sich die Polizei nur mehr mit Maßnahmen zu helfen, die ihr später den Vorwurf eintrugen, sie habe sich „schlicht von Rachegefühlen und der Lust auf Vergeltung leiten lassen“.9 Das geschah am Montagnachmittag, als ein dreißigköpfiger, angeblich zur Verkehrsregelung ausgerückter Polizistentrupp vorübergehend von Demonstranten eingekeilt war und attackiert zu werden drohte. Daraufhin wurden aus einem tieffliegenden Großraumhubschrauber des BGS Tränengasgranaten abgeworfen. Nach Augenzeugenberichten sei das Gasbombardement erst erfolgt, als die bedrängten Polizisten sich schon wieder in Sicherheit befanden. Jedenfalls wurden die Gasgranaten zu Dutzenden auch in Gruppen von friedlichen Demonstranten abgeworfen. Der Hubschrauber tauchte dabei so tief ab, dass der Luftdruck der Rotorblätter Kinder und ältere Leute umwarf und Verkaufsbuden und Büchertische durch die Luft gewirbelt wurden. Auch ein Versorgungsplatz des Roten Kreuzes wurde von Gasgranaten getroffen.
1.3.2 Die Autonomen und der „brave Bürger” Genau dieser Polizeieinsatz hatte für die autonomen Gruppen überaus positive Konsequenzen. Er bewirkte bei vielen aufgebrachten Einheimischen einen Solidarisierungseffekt zugunsten der Autonomen. Ein Bericht des bayerischen Landesamtes für Verfassungsschutz vermerkte dazu: „Ab diesem Zeitpunkt solidarisierten sich die letzten ‚Oberpfälzer Bürger‘ mit den autonomen Gruppen und schützten sie vor der Polizei.“ 10 Jüngere Oberpfälzer schlossen sich den Autonomen an, um auf diese Weise ihre Wut loszuwerden. So erhielt die autonome Bewegung durch Tschernobyl in Kombination mit polizeilichen Maßnahmen in Wackersdorf einen enormen Auftrieb. Doch abgesehen davon, dass die Autonomen neue „Mitglieder“ © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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„Regensburg pennt – Österreich rennt“ Bettenaktion in Regensburg zur Begrüßung der Fahrradstafette aus Salzburg
begrüßen konnten, war es fü für ih ihr W Wackersdorfer Engagement d durchaus von B Bek d f E h deutung, dass sich viele einheimische WAA-Gegner von dem Klischeebild lösten, wonach Autonome als „Krawallmacher“, „Steinewerfer“ und „schwarz-vermummte Gestalten“ angesehen werden. In der Oberpfalz haben sich die Autonomen die Bewunderung und Sympathie von vielen braven und biederen Bürgern erkämpft. Dies hatte verschiedene Ursachen. Ganz vorne rangiert der Umstand, dass nach dem Unglück in Tschernobyl vielen Bürgern die Argumente der Kernkraftgegner wesentlich plausibler erschienen als die Beschwichtigungsversuche von offizieller Seite. Tschernobyl habe bewiesen, so ein WAA-Gegner im Spiegel, dass „jeder Chaot“ die atomaren Gefahren weitaus realistischer eingeschätzt habe als die Bayerische Staatsregierung. Der Spiegel zog daraus folgenden Schluss: „Selbst Gewalt gegen Menschen scheint da plötzlich vielen angemessen, zumindest aber verständlich – eines der verblüffendsten massenpsychologischen Phänomene der bundesdeutschen Geschichte.“ 11 Nach den schweren Krawallen an Pfingsten und danach geriet das Thema „Gewalt“ immer mehr in den Blickpunkt des öffentlichen Interesses. Den BIs und allen (vermeintlich) friedlichen WAA-Gegnern wurde geraten, sich völlig von den „Chaoten“ zu distanzieren. Doch die Anti-WAA-BIs sahen keinen Grund mehr, die Autonomen-Gewalt zu verurteilen. Im Gegenteil: Um gegen den Spaltungsversuch in „brave Oberpfälzer“ und „gewalttätige Chaoten“ zu protestieren, riefen die BIs die Einheimischen im Juni 1986 auf, vermummt am Bauzaun zu erscheinen.12 Es muss deutlich hervorgehoben werden, dass den Autonomen für die Zeit nach Tschernobyl eine Schlüsselrolle im Widerstand gegen die WAA zukam. Sie waren © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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integraler Bestandteil einer zwar heterogenen, jedoch von einem starken emotionalen Zusammenhalt geprägten Bewegung geworden.
1.4 Der Widerstand auf juristischer Ebene Durch die Errichtung und den Betrieb einer atomaren Anlage werden eine Vielzahl öffentlicher Interessen berührt. Aus diesem Grund ist die Durchführung umfangreicher juristischer Genehmigungsverfahren erforderlich, so auch im Falle der WAA Wackersdorf. Aufgrund der Fülle an juristischen Auseinandersetzungen soll hier aus Platzgründen nur eine Episode zur Veranschaulichung geschildert werden. Im Juli 1988 begann der Erörterungstermin zur zweiten TEG (Teilerrichtungsgenehmigung) für das Hauptprozessgebäude der WAA in Neunburg vorm Wald – ungeachtet der Tatsache, dass der Rechtsstreit um die erste TEG noch nicht entschieden war. Die BIs hatten über 881.000 Einwendungen gegen die zweite TEG gesammelt. Dem Bayerischen Umweltministerium als Genehmigungsbehörde wurde von den WAA-Gegnern vorgeworfen, nicht unvoreingenommen zu sein und den Erörterungstermin lediglich „durchzupeitschen“. In einem Bericht der SZ vom 13.07.1988 heißt es: „Eine kluge Behörde hätte es sich angelegen sein lassen, nicht noch zusätzlich Feuer unter dem Dampfkessel zu schüren, hätte sich wenigstens bemüht, den Einwendern das Gefühl zu vermitteln, dass sie ernst genommen werden, dass auch für die Genehmigungsbehörde die letzte Entscheidung über das Ja oder Nein zur Wiederaufarbeitungsanlage noch nicht gefallen ist, dass dies nicht nur eine Alibiveranstaltung ist, um dem Gesetz genüge zu tun. Genau das Gegenteil ist geschehen.“ Bestärkt wurden die WAA-Gegner in ihrer Skepsis vor allem durch einen Sachverhalt, der während des Erörterungstermins an die Öffentlichkeit gelangte. Die Landesregierung des österreichischen Bundeslandes Vorarlberg beantragte beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof, den beim Bayerischen Umweltministerium für die WAA-Genehmigung zuständigen Beamten, Ministerialdirigent Dr. Josef Vogl, und die Gutachter des TÜV Bayern vom Erörterungstermin auszuschließen. Vogl, so die Begründung, sei „in hohem Maße befangen“ und dem TÜV gehe es „in erster Linie darum, der Behörde recht zu geben und die Einwendungsführer auszutricksen“.13 Beleg für den Vorwurf war den Antragstellern das Protokoll einer Besprechung beim TÜV Bayern vom November 1983. Damals waren acht „goldene Regeln“ festgelegt worden, wie sich die Gutachter des TÜV bei Erörterungsterminen verhalten sollten: 1. Nicht der Behörde widersprechen. 2. Nichts sagen, wenn nicht dazu aufgefordert. 3. Vorrede der Behörde – soweit irgend möglich – bestätigen. 4. Kurze Antworten geben. Details nur soweit speziell gefragt. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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5. Anderen Gutachteraussagen nicht widersprechen, auch wenn sie falsch waren. 6. Antworten für kritische Fragen, deren klare Beantwortung unzweckmäßig ist, vorbereiten. 7. Beantwortung von Fragen, die nicht zum Fachgebiet des Angesprochenen gehören, an den Projektleiter zurückgeben. 8. Strenge Disziplin hinsichtlich der vorgegebenen Ordnung. Durch das Bekanntwerden dieses Protokolls fühlten sich die WAA-Gegner in ihren Zweifeln an der Objektivität der von der Genehmigungsbehörde bestellten Gutachter bestätigt. Hinzu kam, dass Ministerialdirigent Vogl damals Mitglied im Verwaltungsrat des TÜV Bayern war.
2 Das Verhalten des Staates Die exemplarische Qualität des Konflikts um die WAA manifestiert sich vor allem darin, dass im Laufe der Auseinandersetzungen grundlegende Fragen des Verhältnisses zwischen dem Staat und seinen Bürgern/Bürgerinnen berührt wurden. So hat der Bürger/die Bürgerin eines Staates gewisse Rechte, aber auch bestimmte Pflichten dem Staat gegenüber. Staatsangehörige genießen zunächst die jedermann zustehenden Menschenrechte. Darüber hinaus stehen Staatsangehörigen die Bürgerrechte, insbesondere die politischen Grundrechte zu. Besonders herauszustellen sind dabei im vorliegenden Fall die Meinungsfreiheit (Art. 5, Abs. 1 GG), die Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) und das bereits erwähnte Widerstandsrecht (Art. 20, Abs. 4 GG). Auf der anderen Seite stehen die Pflichten der Staatsbürger/-bürgerinnen. Zu unterscheiden sind die Leistungspflicht, die Treuepflicht und die Gehorsamspflicht. Die Leistungspflicht fordert von Staatsbürgern persönliche Dienste und Sachleistungen (z. B. die Schulpflicht, die Zahlung von Steuern, die Wehrpflicht), die zahlreiche Einzelgesetze näher bestimmen. Das hier diskutierte Thema betrifft allerdings mehr die Treuepflicht, welches ein Verhalten fordert, das den Interessen des Staates keinen Schaden zufügt. Der freiheitliche Rechtsstaat verzichtet darauf, von seinen Bürgern/Bürgerinnen „blinden Gehorsam“ oder „linientreues Verhalten“ zu verlangen, wie es von totalitären Staaten bekannt ist. Er verbietet andererseits den Missbrauch der gewährten Freiheitsrechte zum Kampf gegen die freiheitliche und verfassungsmäßige Ordnung. Die Gehorsamspflicht beinhaltet die Verpflichtung zum Gehorsam gegenüber dem Grundgesetz, den Verfassungen der Länder sowie allen Gesetzen und Rechtsverordnungen des Bundes und der Länder. Wenn hier von „Staat“ gesprochen wird, so ist damit fallweise der Freistaat Bayern oder die Bundesrepublik Deutschland gemeint. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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2.1 Die Polizei – der lange Arm des Staates Die gesellschaftlichen Probleme, die zu Konflikten zwischen Teilen der Bevölkerung und der Staatsgewalt führen, haben sich im Laufe der Zeit gewandelt und vervielfacht – dementsprechend auch die staatlichen Vorbereitungen und Reaktionen auf Protest- und Widerstandsbewegungen sowie auf soziale Massenbewegungen mit der Vielfalt an unterschiedlichen Aktionsformen. Im Zuge dieser Entwicklung wurden die Polizeiaufgaben und -befugnisse erweitert, Mittel und Methoden ausdifferenziert und Kapazitäten aufgestockt. Mit der Wahrnehmung ihres „gleichsam gesellschaftssanitären“ Auftrags fungiert die Polizei als eine Art Feuerwehr, nicht nur im sozialen Alltag, sondern auch gegen jede Form politischen Protests. Den Polizeibeamten vor Ort wird damit die Aufgabe übertragen, Konflikte an der politisch-sozialen Front zu regeln; dort, wo die Mittel politischer Konsensfindung versagen, haben sie mitunter unpopuläre Aufträge zu erfüllen und Vorgaben der Regierung – bisweilen gewaltsam – durchzusetzen. Als sichtbare und greifbare Vertreter des Staates, die dessen politische Entscheidungen den Bürgern/Bürgerinnen gegenüber zu verteidigen haben, werden die Polizisten oftmals zum Ziel der Wut und des Ärgers der Bürger/Bürgerinnen. Dies war auch in Wackersdorf der Fall. Franz Josef Strauß äußerte sich angesichts der beispiellosen Gewalteskalation in den Auseinandersetzungen um die WAA einmal folgendermaßen: „Heute erfüllen Polizisten den gleichen Auftrag, den früher Soldaten erfüllt haben: Sie verteidigen unser Land.“ 14 Für viele Demonstranten waren die eingesetzten Polizeibeamten die einzigen Adressaten ihres Protests gegen die WAA, da „man in der Polizei den Repräsentanten einer Regierung sieht, die der Bevölkerung etwas aufzwingt, was sie nicht haben will“.15 Am 31.03.1986 wurde am Bauzaun der WAA erstmals in der Bundesrepublik Deutschland CS-Gas gegen Demonstranten eingesetzt. Es wurde neben dem bisher bei Demonstrationen benutzten CN-Gas dem Wasser der Wasserwerfer beigemischt und in Granaten verschleudert. Das erste Todesopfer war ein asthmakranker Demonstrant, der als Teilnehmer der Wackersdorf-Demonstration einen Asthmaanfall erlitt und kurz darauf starb. Die Polizei und das Innenministerium stritten einen Zusammenhang zwischen dem CS-Gas-Einsatz und dem Tod des Demonstranten entschieden ab.16 Auch bei nachfolgenden Demonstrationen in Wackersdorf setzte die Polizei immer wieder CS- und CN-Gas ein. Ein SPD-Bundestagsabgeordneter zog folgenden Schluss: „Die Polizei hat ziemlich grundlos Wasserwerfer und Reizstoffe auch gegen Schaulustige und Neugierige eingesetzt. Wer so vorgeht, erzeugt Staatsverdrossenheit.“ 17
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10.10.1987: Herbstaktion um die WAA – Die Demo trifft auf eine Polizeieinheit, die den Weg zum Baugelände versperrt
2.2 Veränderungen im Gesetzesbereich18 Im Verlauf des jahrelangen Streits um die WAA wurden eine Reihe von Gesetzen neu eingeführt bzw. geändert (Bundesgesetz zur Beschleunigung verwaltungs- und finanzgerichtlicher Verfahren; Baugesetzbuch; Selbsteintrittsrecht des Staates; Einführung des Unterbindungsgewahrsams, bekanntgeworden als „Lex Wackersdorf“). Exemplarisch soll hier nur auf ein Beispiel näher eingegangen werden: 1989 wurde auf Anregung der Bayerischen Staatsregierung das Demonstrationsstrafrecht geändert. Nach monatelangen Diskussionen wurde das Vermummungsverbot als Straftatbestand, der mit einer Geld- oder Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr geahndet werden kann, installiert. Schon früher konnte die Polizei bei Vermummung und passiver Bewaffnung (z.B. durch Sturzhelme) einschreiten – eine Regelung, die erst im Juli 1985 als Verschärfung des Demonstrationsstrafrechts eingeführt worden war. Die vermummte Teilnahme an einer friedlichen Versammlung war demnach als Ordnungswidrigkeit mit einer Geldbuße von bis zu 1.000 DM bewehrt. Erst wenn aus einer Menschenmenge heraus Gewalttätigkeiten begangen wurden und erst nachdem die Polizei zum Verlassen des Versammlungsortes oder zur Ablegung der Vermummung aufgefordert hatte, griff der Straftatbestand des Landfriedensbruchs. Befürworter eines strafbewehrten Vermummungsverbots verlangten deshalb eine Änderung des Demonstrationsstrafrechts. „Wer demonstrieren will, soll demonstrieren, das ist sein gutes Recht. Er kann für eine gescheite Sache demonstrieren, er kann für eine dumme Sache demonstrieren, er kann für nichts demonstrieren, aber er soll seine Visage offen zeigen dabei“ (Franz Josef Strauß).19
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2.3 Der Staat und seine Diener Im Verlauf der jahrelangen Auseinandersetzungen um die WAA haben sich einzelne Persönlichkeiten, die im WAA-Widerstand mit führend waren, besonders hervorgetan. Vor allem wenn es sich dabei um Beamte und Richter handelte, wurde staatlicherseits versucht, diese im Widerstand aktiven Personen zu disziplinieren. Prominentestes Objekt der Disziplinarmaßnahmen war der Schwandorfer Landrat Hans Schuierer. Mit Schreiben vom 13.01.1986 leitete der zuständige Regensburger Regierungspräsident Karl Krampol Vorermittlungen gegen Landrat Schuierer wegen des Verdachts von Dienstvergehen ein. Bis zu jenem Zeitpunkt waren dienstrechtliche Maßnahmen gegenüber bayerischen Landräten nur eingeleitet worden, wenn es um Subventionsbetrug oder ähnliches ging. Äußerungen eines Politikers dagegen waren bis dahin noch nie Gegenstand eines Vorermittlungsverfahrens gewesen. In der späteren Anklageschrift wurden Schuierer verschiedene Dienstvergehen vorgeworfen: Man hielt ihm vor, bei einer nicht genehmigten Demonstration gegen die WAA als Redner aufgetreten zu sein, das Vorgehen der Polizei bei der Hüttendorfräumung als „Terror in Vollendung“ bezeichnet zu haben und die Vermutung ausgesprochen zu haben, der Polizeieinsatzleitung liege offenbar nichts daran, gewalttätige Demonstranten festzunehmen, man brauche sie für politische Ziele.20 Seit Dezember 1988 wurden dann Gerüchte laut, wonach dem neuen Bayerischen Ministerpräsidenten Max Streibl daran gelegen sei, das Disziplinarverfahren gegen Schuierer zu beenden. Es wurde vermutet, dass die CSU vermeiden wollte, die ohnehin schon große Popularität von Schuierer durch ein Martyrium noch größer werden zu lassen.21 Nachdem die Gespräche zwischen Regierungspräsident Krampol und Landrat Schuierer über eine Einigung bezüglich des Disziplinarverfahrens überraschend gescheitert waren, ging das Disziplinarverfahren weiter. So begann am 07.04.1989 das Verfahren gegen Schuierer vor der Disziplinarkammer des Regensburger Verwaltungsgerichts. Es wurde nach wenigen Tagen eingestellt. Die Urteilsbegründung stellte fest, dass auch einem Landrat das Grundrecht der freien Meinungsäußerung zustehe, welches auch dann für einen kommunalen Wahlbeamten gelte, wenn er Kritik an den Zielsetzungen der Bundesregierung, der Staatsregierung oder eines Ressortministeriums übe.22 Zweieinhalb Jahre später erhielt Schuierer aus der Hand von Innenminister Stoiber die „Medaille für besondere Verdienste um die kommunale Selbstverwaltung in Silber“, in Anerkennung des „verdienstvollen Wirkens“ Schuierers. Die SZ dazu am 23.09.1992: „Mit seinem heftigen Eintreten gegen die WAA hat Schuierer nach besten Kräften dazu beigetragen, dass den Steuerzahlern und Stromkunden mit © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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dem Ende der WAA unsinnige Milliardenausgaben, Polizisten und Demonstranten weitere Zusammenstöße und der Staatsregierung auf Dauer wütende Oberpfälzer erspart blieben. So kann man die Auszeichnung Schuierers auch sehen – selbst wenn sie der Innenminister bestimmt ganz anders verstanden wissen will.“
3 Das Ende für die Wiederaufarbeitungsanlage „Die WAA war nie ein bayerisches Steckenpferd.“ Ministerpräsident Max Streibl, Nachfolger von Franz Josef Strauß23 Die Bekanntgabe der DWK, die Bauarbeiten an der WAA einzustellen, ließ am 30.05.1989 die illusorisch anmutende Anti-WAA-Parole „WAA-Nie“ Wirklichkeit werden. Die Regierungen in Bonn und Paris hatten sich darauf geeinigt, dass Unternehmen beider Länder Verträge über die Wiederaufarbeitung in La Hague abschließen können. Die Auseinandersetzungen um die WAA haben Wackersdorf in ganz Deutschland und darüber hinaus bekannt gemacht. Die Oberpfalz stand über Jahre hinweg im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Der Konflikt wurde jedoch nicht zwischen den kritischen Bürgern/Bürgerinnen und der Betreiberfirma DWK ausgetragen. Vielmehr hatten sich die WAA-Gegner mit dem Staat auseinanderzusetzen: dem Staat, der für die Genehmigung einer derartigen Anlage zuständig ist und dem Staat, der zum Zweck des Objektschutzes seine Polizeibeamten antreten lässt. Konflikte dieser Art hat es in der Bundesrepublik Deutschland schon mehrere gegeben – der politische Konflikt ist schließlich eine dauerhafte Begleiterscheinung demokratisch verfasster Gemeinwesen. Doch die Auseinandersetzungen in und um Wackersdorf haben in mehrfacher Hinsicht bisher gekannte Dimensionen gesprengt. Nach der Standortentscheidung für Wackersdorf änderte sich das Leben für die Bürger/Bürgerinnen in der Region Schwandorf. Die Skepsis gegenüber dem Projekt erfasste große Teile der Bevölkerung. Schon bald wurde deutlich, dass das Thema WAA jeden betraf, keiner konnte sich ausschließen. Die Fronten verhärteten sich, die durch die WAA-Diskussion ausgelösten „Spaltprozesse“ gingen bis tief in die Familien. Der Soziologe Alf Mintzel konstatiert, dass die Bayerische Staatsregierung mit der Einstellung des „heißumstrittenen Prestigeobjekts [...] eine herbe Niederlage einstecken“24 musste. Verloren hat die Staatsregierung vor allem bei den Menschen in der betroffenen Region – denen anfangs erzählt wurde, eine WAA in Wackersdorf sei abwegig, die erfahren mussten, dass eine Genehmigungsbehörde Absprachen mit einem „neutralen“ Gutachter traf („goldene Regeln“ des TÜV), die mit ansahen, wie Polizeibeamte friedliche Demonstranten krankenhausreif schlugen. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Es ist viel von Politik- bzw. Politikerverdrossenheit die Rede – der Fall Wackersdorf ist ein exzellentes Beispiel dafür, wie diese Art der Verdrossenheit entsteht. „Wackersdorf wurde zum Inbegriff all dessen, was man ‚mit uns machen kann‘. Daß es im Verlauf der Affäre zum Synonym dafür wurde, wie planerischer Hochmut zu Fall kommt, konnte zunächst keiner ahnen, am wenigsten die Planer.“ 25
4 Ansätze für die politische Bildung Am Fall Wackersdorf können in exemplarischer Weise verschiedene Themengebiete aus den Bereichen Geschichte und Sozialkunde sowohl im schulischen als auch außerschulischen Zusammenhang erarbeitet werden. Ein kleines Ensemble zentraler Begriffe und deren Einbettung in das Wackersdorfer Geschehen soll hier kurz beleuchtet werden. Konflikt Der tatsächliche Konfliktcharakter von Auseinandersetzungen und Widersprüchen soll aufgedeckt und genau beschrieben werden. Dabei ist die Unterscheidung von latenten und manifesten Konflikten zu beachten: Im vorliegenden Fall bestand Uneinigkeit über den Bau der WAA, im Zentrum stand dabei der latente Konflikt um die Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland, der sich am Beispiel Wackersdorf manifestierte. Allerdings wird eine ungeheure Komplexität des Konflikts deutlich, wenn man beispielsweise an sich im Zuge von Wackersdorf entwickelnde Streitfragen denkt: Verschärfung des Demonstrationsstrafrechts, Einführung des Unterbindungsgewahrsams etc. Konkret ging es um die rechtlichen, basisdemokratischen und auch illegalen Möglichkeiten der Bürger, den Bau zu verhindern und um die Reaktionen des Staates auf die offenbar unerwartet hohe Widerstandsbereitschaft von Teilen der Bevölkerung. Macht Politische Handlungssituationen sind immer auch durch bestimmte Machtkonstellationen definiert. Macht erhält den Status quo einer Gesellschaft, Gegen-Macht verändert sie. Die Kategorie Macht wird verstanden als Inbegriff aller tatsächlichen Möglichkeiten, andere zu einem bestimmten gewünschten Verhalten zu veranlassen. Es stellt sich die Frage nach den durch Macht möglichen Realisierungschancen bestimmter Interessenpositionen angesichts eines Konfliktes. Dabei wird sich herausstellen, dass die einzelnen Interessenpositionen sowohl hinsichtlich des Machtumfangs wie auch der Machtformen nicht gleich sind. Die Parteien im Streit um die WAA konnten auf verschiedene Machtmittel zurückgreifen. Der Staat konnte seine parlamentarischen Möglichkeiten zu © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Gesetzesänderungen nutzen, die Polizei als Mittel zur Durchsetzung seiner Entscheidung für den Bau einsetzen. Die Wirtschaft konnte ihre finanzielle Macht und das Arbeitsplatzargument einsetzen. Die Bürger, die mit dem Bau nicht einverstanden waren, griffen auf die verschiedenen Mittel des kollektiven Widerstandes zurück. Recht Alle politischen Entscheidungen bewegen sich im Rahmen rechtlich markierter Zusammenhänge, Rechtssetzungen sind in der Regel das Ergebnis politischer Auseinandersetzungen. Im Zuge von Wackersdorf gab es auf verschiedenen Ebenen rechtliche Konfrontationen: Raumordnungsverfahren; atomrechtliches Genehmigungsverfahren; Bebauungsplanverfahren; Disziplinarverfahren gegen Politiker, Lehrkräfte und Richter; strafrechtliche Verfahren gegen Demonstranten und Polizisten; parlamentarische Streitigkeiten über Gesetzesänderungen oder die Schaffung neuer Gesetze. Interesse Gemeint sind hier die „unmittelbaren“ Interessen, also die materiellen und immateriellen persönlichen Wünsche und Bedürfnisse, deren Erfüllung an politischgesellschaftliche Voraussetzungen gebunden und nicht allein im Rahmen der privaten Lebensführung zu erreichen ist. Im politischen Unterricht ist an mehreren Stellen von Interessen die Rede. Es ist aber ein Unterschied, ob solche Interessen den Schülern nur als eine Art verobjektiviertes Gegenüber vorgestellt werden, als hätten sie selber keinen Bezug zu ihnen, oder ob die Jugendlichen dazu ermuntert werden, ihre eigenen Interessen zu ermitteln und sich nach den Chancen der Verwirklichung umzusehen. Das didaktische Problem besteht in diesem Zusammenhang darin, dass die Jugendlichen meist noch nicht gelernt haben, ihre politischen Interessen zu erkennen und zu artikulieren. Die subjektiven Interessen beispielsweise der WAA-Gegner zielten hauptsächlich auf die Verhinderung einer Gefährdung ihrer Umwelt und Gesundheit ab. Im Verlauf des Konflikts bezogen sich die Interessen auch auf eine Verhinderung einer Verschlechterung ihrer demokratischen Mitbestimmungsrechte (Einschränkung der Versammlungsfreiheit, der freien Meinungsäußerung etc.). Solidarität Jede politisch-gesellschaftliche Aktion nützt bestimmten Gruppen und benachteiligt gleichzeitig andere. Andererseits kann der Einzelne seine Wünsche und Interessen nicht alleine realisieren. Es bedarf hierzu der Hilfe von Gruppen, zu denen man sich loyal verhält. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Um die WAA zu verhindern gründeten sich etliche Bürgerinitiativen. Doch auch Arbeitnehmer/-innen in der Nuklearindustrie schlossen sich zusammen, um für die WAA zu werben, z.B. durch Demonstrationen und Zeitungsanzeigen. Gemeinwohl Die WAA-Kontroverse beleuchtet schlaglichtartig die Auswirkungen einer politischen Entscheidung. Im Zentrum stand schließlich die Frage, ob der Bau der WAA mit all seinen Konsequenzen (gesundheitliche Gefährdung, Schaffung von Arbeitsplätzen etc.) dem Gemeinwohl dienlich sei. Geschichtlichkeit Dieser Begriff fragt nach dem Geschichtlichen, insofern es einen Konflikt mitbestimmt oder geradezu mitbegründet. Diese Frage öffnet eigentlich erst den Horizont für das Aktuelle. Wenn z.B. die Erinnerung daran, wie in der Vergangenheit demokratische Ansätze in Diktatur umschlugen, verlorengeht, geht auch weitgehend die Möglichkeit verloren, diktatorische Tendenzen in der Gegenwart frühzeitig zu erkennen. Geschichtlichkeit ist beispielsweise dahingehend bedeutsam als es in der Bundesrepublik bereits vor Wackersdorf vergleichbare Konflikte gegeben hat. Auch dort entwickelten die jeweiligen Landesregierungen und die Projektgegner ähnliche Handlungsmuster. Historisches Bewusstsein war bezüglich Wackersdorf aber desgleichen gefragt, wenn man die eventuell verborgenen Hintergründe für den unbedingten Willen zum Bau der WAA ergründen wollte: Strauß hatte schon in seiner Zeit als Verteidigungsminister gefordert, dass die Bundesrepublik als sogenannte Mittelmacht in Europa ebenso wie Großbritannien und Frankreich Atomwaffen erhalten müsse. Die Beschäftigung mit den angeführten Bereichen soll als Ergebnis bei den Jugendlichen zu Einsichten führen, z.B.: y Politik hat im Wesentlichen mit der Gewährung oder Nicht-Gewährung von Interessen zu tun. Nur wenn jemand seine eigenen materiellen, kulturellen und sozialen Interessen erkannt hat, kann er sinnvoll politische Verantwortung übernehmen oder an andere übertragen (Interesse). y Streitfragen und Interessensgegensätze sind oft nur dann verständlich, wenn man die geschichtlichen Hintergründe kennt (Geschichtlichkeit). Die Arbeit mit dem Thema Wackersdorf erscheint gerade aufgrund der Tatsache, dass der Protest gegen die WAA bis dato ein ziemlich blinder Fleck in den Schulbüchern ist, sowohl im schulischen als auch außerschulischen Kontext als lohnend: im Rahmen eines von einem Bildungsträger durchgeführten Wochenendseminars, als Beispiellieferant für unterschiedliche Aspekte im Unterricht oder als Projekt. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Für ein Projekt mit dem Titel „Analyse des Konfliktverlaufs“ böte sich beispielsweise die Befragung von Zeitzeugen an (Frage nach Beurteilung der damaligen Geschehnisse aus heutiger Perspektive; Hinterfragen des eigenen Agierens: „Würde man heute anders handeln?“). Ebenso könnte man einen Vergleich zwischen den Protestbewegungen in Wackersdorf und im aktuell umstrittenen Gorleben anstellen, verbunden mit der Fragestellung, weshalb seit 1989 keine vergleichbare Massenbewegung mehr aufgetreten ist.
Literatur Arens, Roman, Beate Seitz und Joachim Wille: Wackersdorf. Der Atomstaat und die Bürger. Essen 1987. Duschinger, Oskar: Unbestechlich. Hans Schuierer: Ein Leben für den Bürger und gegen die WAA. Burglengenfeld 1986. Engelmann, Bernt: Das neue Schwarzbuch: Franz Josef Strauß. Köln 1980. Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Bezirksverband Oberpfalz (Hrsg.): WAA im Unterricht. Regensburg 1985. Graf, Helmut: Dafür oder dagegen? Auf dem Wege zur eigenen Meinung über Atomkraftwerke und die WAA. Amberg 1986. Grassl, Werner und Klaus Kaschel (Hrsg.): Kein Friede den Hütten... Die Tage der „Freien Republik Wackerland“. Burglengenfeld 1986. Haug, Hans-Jürgen: Zu Fuß aus der Atomrepublik. Wackersdorf – Gorleben und zurück. München 1988. Held, Martin (Hrsg.): Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf. Befürworter und Kritiker im Gespräch. München 1986. Jungk, Robert: Der Atomstaat. Vom Fortschritt in die Unmenschlichkeit. München 1977. Lohmeyer, Hartwig und Rainer Steußloff (Hrsg.): Die Chaoten – Bilder aus Wackersdorf. Augsburg 1988. Mayer, Heinrich: Schwandorf im Fadenkreuz. Die WAA und ihr Umfeld. Burglengenfeld 1984. Mayer-Tasch, Peter Cornelius: Die Bürgerinitiativbewegung. Der aktive Bürger als rechts- und politikwissenschaftliches Problem. Reinbek 1985. Mintzel, Alf und Heinrich Oberreuter (Hrsg): Parteien in der Bundesrepublik Deutschland. Bonn 1992. Nowack, Cornelia: Interessen, Kommunikation und politischer Protest. Die Rolle lokaler Interessens- und Kommunikationsstrukturen bei der Entstehung von Bürgerprotest. Frankfurt/M. 1988. Perscy, Nathalie: Protest gegen die WAA in Wackersdorf. München 1999. Serie Schülerwettbewerb „Deutsche Geschichte“ 1999. Plettner, Bernhard: Wackersdorf. Symbol des Fortschritts? Übermut der Technik? München 1986. Roth, Roland und Dieter Rucht (Hrsg.): Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt/M. 1987. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Wenkemann, Tobias: Die Standortfaktoren der Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf. Heroldsbach 1989. Zierer, Dietmar: Radioaktiver Zerfall der Freiheit. Burglengenfeld 1988. Zweck, Erich: Vom WAA-Projekt zum vielseitigen Industriestandort. Schwandorf 1991.
Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25
In: Die Woche vom 22.05.1986. In: Der Spiegel 22/86, 105. Anzeige der Bayerischen Staatsregierung in: Mittelbayerische Zeitung vom 21.04.1986. Zit. nach: Mittelbayerische Zeitung: Dokumentation Wackersdorf. Acht Jahre Streit um die WAA in der Oberpfalz. Regensburg 1989, 16 f. Richard Salzl, katholischer Pfarrer. In: Bertram Verhaag und Claus Strigel: Dokumentarfilm „Spaltprozesse“. 1986/87. Zit. nach: Mittelbayerische Zeitung vom 24.03.1986. Zitat in: H.-J. Haug: Zu Fuß aus der Atomrepublik. München 1988, 141. Zitat in: R. Arens/B. Seitz/J. Wille: Wackersdorf. Essen 1987, 121 f. Ludwig Stiegler, stellv. bayerischer SPD-Landesvorsitzender. Zit. nach: Der Spiegel, 22/86, 111. Zit. nach: Der Spiegel, 31/86, 63. In: Der Spiegel, 30/86, 34. Vgl. Der Spiegel, 30/86, 36. In: Der Spiegel, 29/88, 29. In: Der Spiegel, 30/86, 27. Herbert Schnoor, zit. nach: Der Spiegel, 32/86, 72. Vgl. O. Duschinger: Unbestechlich. Burglengenfeld 1986, 176. D. Zierer: Radioaktiver Zerfall der Freiheit. Burglengenfeld 1988, 150. Informationen zu dem Themenkomplex in: Informationen zur politischen Bildung, 200/91. Zit. nach: Bayernkurier vom 02.03.1985. Vgl. Der neue Tag vom 03.12.1988. Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 03.12.1988. Vgl. Mittelbayerische Zeitung vom 17.04.1989. Bayernkurier vom 10.06.1989. A. Mintzel/H. Oberreuter (Hrsg): Parteien in der Bundesrepublik Deutschland. Bonn 1992, 238. Süddeutsche Zeitung vom 03.02.1993.
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Verdrängungsorte Die italienische Eisdiele und der unbedachte Beginn der Einwanderung in die Bundesrepublik
Erinnerungsort Eisdiele? Nur selten dürften Eisdielen das Ziel eines schulischen Wandertages sein; problemlos hingegen können sie zum Bestandteil seiner geselligen Ausgestaltung werden. Das Eiscafé gehört nicht zu den „Orten“, die gewollte Speicher der Überlieferung sind. Als Plätze der Ökonomie im halb öffentlichen Raum gehören sie jener Sphäre globaler Entgrenzung und Nivellierung an, deren Ausbreitung – verstehen wir den französischen Historiker Pierre Nora richtig – die Sichtung und Sammlung emphatischer Orte der Erinnerung zum Zwecke kollektiver Identitätsstiftung erst provoziert.1 Gleichwohl: Seit Dezember 1991 ist das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn stolzer Besitzer jener Eisdiele, mit der die aus Italien stammende Familie Giacomel „bereits seit Mitte der fünfziger Jahre ihren Gästen aus dem Hamburger Universitätsviertel den Charme des sonnigen Südens“ vermittelte.2 Gerade noch rechtzeitig, bevor die Giacomels nach Italien zurückgingen, konnte das Schmuckstück aus der Zeit des Wiederaufbaus für die museale Selbstpräsentation der Bundesrepublik erstanden werden. Aufgestellt im restaurierten Originalzustand, legt es nun Zeugnis ab von einer Epoche der Industriekultur, die die damalige Lebenswelt mit rasanten Kombinationen aus Edelstahl, schwarzem Glas, grünem Resopal und geschliffenem Kristall versah.3 Ausgestattet mit einer eigens in Chiavenna angefertigten, vier Meter langen, geschwungenen Theke und einer verspiegelten Rückwand in den Farben der italienischen Trikolore, einer beeindruckenden Espressomaschine, Waffeleisen, Eisbechern und Barhockern, aber auch einer leuchtenden Coca-Cola-Reklame sowie einer Music Box, stellt – versichert das Begleitheft des Museums – die Eisdiele der Giacomels einen Raum dar, der „typisch“ ist „für die zweite Hälfte der fünfziger Jahre“.4 Doch nicht der für jenes Jahrzehnt möglicherweise charakteristische Versuch, der um sich greifenden Massenkultur und ihrer grenzenlosen „Reproduzierbarkeit“ (Benjamin) ein letztes Mal das Antlitz des Eigentümlichen und Überdauernden zu verleihen, scheinen in erster Linie den Anspruch der Eisdiele zu begründen, ins „Bonner Gedächtnis“ aufgenommen zu werden. Was der Katalog vor allem © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Eisdiele der aus Italien stammenden Familie Giacomel aus dem Hamburger Universitätsviertel im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn
verspricht, ist lebendige Erinnerung an die „Pubertät der Republik“, womit vor allem gemeint ist: „Erinnerungen an Freizeit und Reisen, Wandel von Ernährungsgewohnheiten und Lebensstil“.5 Was heute für die Bundesbürger selbstverständlich ist, erfährt man an gleicher Stelle, sei „damals aufregend neu und ungewohnt“ gewesen: „köstliche Eisspezialitäten, raffinierte Milchshakes, südländische Speisen und Getränke, mehrwöchiger Urlaub, Urlaubsgeld und offene Grenzen“. Stilisiert zum erfahrungsgesättigten Symbol des historischen Aufbruchs in neue, bessere Zeiten, rückt die italienische Eisdiele dem von Nora ausgewiesenen Bereich der Erinnerung schon näher, insofern diese – im Gegensatz zur differenzierenden Historie – Gemeinschaft stiftet. Eine andere Bemerkung Noras jedoch führt noch weiter: Weil das auf Erinnerung beruhende Gedächtnis „affektiv und magisch“ sei, behalte es „nur die Einzelheiten, welche es bestärken“, nähre sich dabei „von unscharfen, vermischten, globalen oder unsteten Annahmen“ und sei vor allem „zu Übertragungen und Ausblendungen, Schnitten oder Projektionen fähig“.6 Hier scheint sich der retrospektiven Betrachtung der Zusammenhang zur frühen Bundesrepublik nahezu aufzudrängen, deren vielbeschworene Geschichtslosigkeit einerseits aus den Folgen des Krieges, darunter ganz besonders der nationalen Teilung, resultierte, aber andererseits auch Ausdruck einer spezifischen „Realitätsflucht“ war, die nicht zuletzt auf die Herstellung einer akzeptablen Erinnerung zielte.7 So geht es im Folgenden um ein Paradox: um die in der Chiffre des „Südens“ sich manifestierende Sehnsucht nach einem reflexionslosen Neubeginn, © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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der – einem zeitgenössischen Wort Adornos folgend – gleichwohl die „Leistung des allzu wachen Bewußtseins“ war. Um die komplexe Bedeutung der italienischen Eisdiele in diesem Sinn, als einen auf kollektiver Verdrängung beruhenden Erinnerungsort zu erfassen, um ihren Ort im Gewebe kollektiver Aneignungs- und Ausblendungsleistungen herauszuarbeiten, wird in drei Schritten (besser: Schnitten) vorgegangen: Zunächst wird – der Idee der Bonner Ausstellungsmacher folgend – die Eisdiele in die Tradition der deutschen Italiensehnsucht gestellt, die freilich in den 50er Jahren in einen spezifisch veränderten Bedürfnishaushalt eingearbeitet wurde (a). Anschließend wird „ausgegraben“, welche Realität italienischer „Gastarbeiter“ in der frühen Bundesrepublik vom Bild der Eisdiele und ihren Assoziationen überschrieben wurde (b). Schließlich wird das in der Eisdiele bediente Italien-Image als Beitrag zu jener kollektiven Verdrängungsleistung beschrieben, mit deren Hilfe sich die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft als postdiktatorische Opfergemeinschaft stilisieren konnte (c). Wird damit der auf Italien bezogene, diskursive Kontext eines unter öffentlicher Reflexionsstarre sich vollziehenden Beginns europäischer Einwanderung nach Deutschland mit einiger historischer Genauigkeit umrissen, so soll der abschließende didaktische Teil andeuten, dass das italienische Eiscafé der 50er Jahre, begriffen als historischer „Verdrängungsort“, auch exemplarische Qualitäten aufweist.
a)
Zwischen Urlaubsort und Utopie: Das „deutsche Italien“ der 1950er Jahre Südwärts über die Alpen zogen Deutsche seit dem Mittelalter. Zunächst vor allem als Pilger, Soldaten oder Künstler mit den unterschiedlichsten Motiven versehen – doch stets anscheinend in der Hoffnung auf eine Verbesserung, Veredelung oder Überhöhung des Lebens. So diente in der Frühen Neuzeit die Reise durch Italien, die Grand Tour, zur Komplettierung der Persönlichkeit: Junge Adelige aus dem Norden vollendeten an den italienischen Höfen ihre Manieren, gefolgt von bildungshungrigen Bürgern, die – Winckelmann und Goethe vorweg – in den antiken Stätten Roms nach den Ursprüngen der eigenen Kultur suchten. Bis weit ins Eisenbahnzeitalter jedoch blieb die Reise in „das Land, wo die Zitronen blühen“, ein ebenso beschwerliches wie kostspieliges Abenteuer, das sich nur wenige leisten konnten. Gravierende Änderung brachte erst das 20. Jahrhundert. Als auch für die bürgerliche Mittelschicht erschwingliche Gruppenreisen per Eisenbahn oder Omnibus angeboten wurden, ergriff die Sehnsucht nach dem sonnigen Land sogleich breitere Bevölkerungskreise. In ihrem Bestreben, alle Schichten des „deutschen Volkes“ an das Regime zu binden, ermöglichte es dann die NS-Organisation „Kraft durch Freude“ ab 1937 erstmals auch Arbeitern, Italien kennenzulernen; seit 1939 verbrachten deutsche Soldaten ihren Fronturlaub besonders gern an den Küsten des © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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verbündeten Landes.8 Die große „teutonische“ Reiselawine in den Süden setzte jedoch erst in den 50er Jahren ein, wobei die Anlässe zunächst profunder Natur waren: Im „Heiligen Jahr“ 1950 nahmen rund 70.000 westdeutsche Katholiken die Gelegenheit wahr, preisgünstig in die Ewige Stadt zu pilgern; im Jahr darauf begann der „Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge“, Reisen zu den Soldatenfriedhöfen auf der Apenninen-Halbinsel zu organisieren, wo im Zweiten Weltkrieg über 100.000 deutsche Soldaten gefallen waren.9 Wie kein anderes Land wurde Italien zum Sehnsuchtsort der Nachkriegsdeutschen, zumindest der im Westen. Zwar standen zunächst noch Kurzurlaube im Inland hoch im Kurs. Auf Dauer jedoch konnten Oberbayern, Sauerland oder Nordsee nicht mithalten mit einem Süden, der versprach, wonach man sich nach harten Jahren des Mangels, der Mühen und der Verunsicherung so sehr sehnte: Erholung unter immerwährender Sonne und ein – zumindest zeitweiliges – Ausbrechen aus den Zwängen der Aufbaugesellschaft. Schnell spiegelten sich diese Sehnsüchte in Werbung und Freizeitkultur wieder: Mit Italiens Stränden und Palmen, seinem blauen Meer und Himmel, dem Chianti und der Verheißung nach dolce far niente wurde im Laufe der Zeit vom Sportwagen bis zum Softdrink so manches Produkt in Deutschland beworben, zunächst aber vor allem die Reise in das Land selbst, das mit solchen images natürlich nur äußerst grob erfasst wurde. Ein ganzer Zweig der Unterhaltungsindustrie bildete sich im Verlauf der 50er Jahre, losgetreten von Rudi Schurickes süßlicher Einspielung der „Capri-Fischer“, um die Aufgabe, Italien als Verheißung eines neuen, von den Sorgen der Vergangenheit und der Gegenwart unberührten Lebens zu inszenieren. Als Caterina Valente 1956 mit „Komm ein bißchen mit nach Italien“ einen Hit landete10, waren es bereits weit mehr als 2 Millionen Deutsche, die dieser Aufforderung folgten.11 1958 stieg die Zahl auf über 4 Millionen an und wuchs noch weiter, als 1964 „Urlaubsgeld“ gesetzlich wurde. Schon auf der Anfahrt winkte das neue Reich der Freiheit. Wer kein „richtiges“ Auto besaß, konnte die Alpen verwegen mit dem Goggomobil oder dem Roller überwinden oder sogar in mehrtägiger Reise mit dem Fahrrad. Wer es bequemer liebte, buchte eine Pauschalreise mit dem Bus oder Zug. Einreiseerleichterungen zwischen den EWG-Partnern, etwa die Aufhebung der Visumspflicht und der Devisenbeschränkungen von 1958, sowie der Ausbau der Verkehrswege (1959 begann der Bau der Brennerautobahn) und die Erhöhung des gesetzlichen Mindesturlaubs von 12 auf 18 Tage machten den Weg frei für den Massentourismus: Bald gehörten die schnell erreichbaren Orte im nördlichen Italien zu den beliebtesten Reisezielen der Tedeschi.12 Doch nicht nur Rimini, Ligurien und der Gardasee lockten; 1956 antworteten 27 Prozent der Deutschen auf die Frage, was sie gern einmal erleben möchten: „Die Insel Capri“.13 Freier als im vielfach restaurativen, andererseits zwanghaft sich modernisie© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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renden Adenauer-Deutschland glaubte man sich am Urlaubsort selbst geben zu können. Wer es besonders ungebunden liebte, logierte im Zelt oder Wohnwagen. „Camping“ galt als naturverbunden, aber modern und war nebenbei günstig. Doch überhaupt erwies sich, was Unterkunft und Verpflegung anging, Italien als „billig“ gegenüber deutschen Ferienregionen.14 Vor Ort wurde aus dem Reich der Freiheit schnell das Reich der Freizeit. Was der durchschnittliche deutsche Italienurlauber der Nachkriegszeit von den „schönsten Wochen des Jahres“ erwartete, war weniger die Konfrontation mit den Überresten der Antike, den Kunstschätzen der Renaissance oder der italienischen Sprache, ganz zu schweigen von einem Einblick in die gesellschaftlichen Verhältnisse des Landes. Im Vordergrund stand die Erholung beim Baden – unterbrochen von Mußestunden im Eiscafé, die in legerer Kleidung verbracht wurden. Noch etwas machte das Leben frei: So wunderte man sich in Bonn schon 1951 über das „erstaunlich rasche Vergessen der bösen Erfahrungen, die Italien mit Nazi-Deutschland gemacht hat“.15 Dass sich die Deutschen auf der Apenninen-Halbinsel weniger als im sonstigen europäischen Ausland unter Rechtfertigungszwang gestellt sahen, lag indes nicht nur daran, dass Italien seine eigene faschistische Vergangenheit hinter sich hatte und der Tourismus bald eine beträchtliche Bedeutung für die italienische Devisenwirtschaft bekam: Im Zeichen des Kalten Krieges gab es „so etwas wie einen schweigenden Konsens“ zwischen beiden Gesellschaften, „das Gestern einstweilen ruhen zu lassen“.16 Umgekehrt existierten auf deutscher Seite trotz oder auch wegen der Bewunderung für die italienische Lebensart durchaus Vorurteile und Mißtrauen und die verbreitete Befürchtung, über den Tisch gezogen zu werden. Ob der „Stern“Artikel „Urlaub. Liebe inbegriffen“ von 1960 viel mit der Wahrheit der 50er Jahre zu tun hatten, muss indes offen bleiben. Zweifellos lenkten Kino und boomende Zeitschriftenliteratur den Blick – nicht selten unter dem Vorwand moralischer Prävention – auf das Phänomen Amore und den auf deutsche Touristinnen angeblich schon wartenden Latin lover. Ganz ausgeschlossen werden können gesuchte sexuelle Kontakte im Urlaub sicher nicht, angesichts des in Deutschland herrschenden „Männermangels“ und einer öffentlichen Moral, die bereits beim Anblick eines entblößten Filmbusen das „Abendland“ in Gefahr wähnte. Natürlich versuchte man, das in Italien erfahrene Lebensgefühl ein Stück weit in den bundesdeutschen Alltag zu transferieren; Souvenirs und Andenken zeugen bis heute davon. Aber ganz generell trugen Import und Anverwandlung italienischen Lebens-Designs zum kulturellen Aufbruch in der Bundesrepublik bei. Eiscafés und Milchbars – in der Vorkriegszeit noch vereinzelte Phänomene – breiteten sich rasant im Westdeutschland der 50er Jahre aus, wo Kühlschränke einstweilen noch Mangelware waren.17 Mit verheißungsvollen, nun aber auch schon erinnerungsgesättigten Namen wie „Capri“ oder „Venezia“ versehen, luden sie ein, dem damals noch 50-stündigen Arbeitsalltag beim Genuss exotischer © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Eisspezialitäten für kurze Zeit zu entfliehen.18 Da Alkohol nicht ausgeschenkt wurde, konnten sie auch zum bevorzugten Treffpunkt für Jugendliche werden, die sonst kaum Möglichkeiten hatten, in Lokalen zu verkehren. Examensfeiern wurden hier abgehalten, später sogar Uni-Seminare.19 Mit modernem Design und einer Musikbox ausgestattet, war die Gelateria auch mit dem lange Zeit „proamerikanischen“ Lebensgefühl kompatibel. „In der Eisdiele herrschte für uns immer irgendwie eine fremdländische Atmosphäre“, erinnern sich Stammgäste der oben erwähnten Eisdiele Giacomel: Mocca-Flip, Orangen- und Ananaseis vermittelten etwas „vom Traum eines Urlaubs im warmen, sonnigen Süden“.20 Höchste Zeit, einen Blick auf die entgegengerichteten Erinnerungsströme zu richten.
b)
Keine Padroni: Italienische Arbeitskräfte in der frühen Bundesrepublik In den 60er Jahren begann die Pizzeria allmählich das Bild von „Italien in Deutschland“ zu ergänzen und damit rückwirkend die Realität der von Ausländern geleisteten Arbeit in der Bundesrepublik zu überschreiben. Im filmischen Gedächtnis reproduzierte sich dieser Vorgang vor einigen Jahren in Fatih Akims „Solino“: Gerade erst aus ihrem süditalienischen Heimatort im trostlosen Duisburg der 60er Jahre angekommen, eröffnet die Familie Amato nach wenigen Wochen, die der Vater „auf Maloche“ und unter Tage verbringen musste, die erste Pizzeria des Ruhrgebiets.21 Auch wenn der Plot von „Solino“ auf einer wahren Geschichte beruht und das Spezialitätenlokal oder -geschäft tatsächlich für Ausländer zum klassischen Weg in die Selbständigkeit wurde, blieb letztere dennoch lange Zeit die absolute Ausnahme.22 Die Realität der italienischen „Gastarbeiter“, die ab Mitte der 50er Jahre als erste ausländischen Arbeitskräfte zur Absicherung des bundesrepublikanischen „Wirtschaftswunders“ angeworben wurden, sah anders aus. Ende 1954 wurde in der deutschen Öffentlichkeit bekannt, dass Bundeswirtschaftsminister Erhard mit dem italienischen Außenminister Martino über die Anwerbung von bis zu 200.000 Arbeitern für den bundesdeutschen Arbeitsmarkt verhandelte. Das Angebot war aus Italien gekommen, wo im strukturschwachen Mezzogiorno die Beschäftigungslosigkeit abgebaut werden sollte, während in der anlaufenden Hochkonjunktur der Bundesrepublik bereits ganze Regionen von Arbeitskräften leer gefegt worden waren; besonders im Bereich der Landwirtschaft, deren Arbeitsbedingungen mit der allgemeinen Verbesserung nicht mithielten, waren kaum noch einheimische Arbeitskräfte zu finden. Im Wirtschaftsministerium befürchtete man angesichts der Mitte der 50er Jahre stark nachlassenden Zahlen an Flüchtlingen und Kriegsheimkehrern, aber auch wegen der bald einrückenden ersten Bundeswehrjahrgänge, nicht nur einen eklatanten Arbeitskräftemangel, sondern – in der Folge – auch riskante Entwicklungen bei den Löhnen. Nicht bei © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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allen stieß zwar die Idee, deshalb ausländische Arbeitskräfte ins Land zu holen, auf breite Zustimmung.23 Doch auch die Alternativen erschienen – je nach Standpunkt – im Denken der Zeit riskant: Verlängerte Arbeitszeiten, Binnenmigration oder die verstärkte Einbeziehung von Frauen in den Arbeitsmarkt. Für die italienischen Arbeitskräfte selbst bildeten Armut und Perspektivenmangel die stärkste Motivation, Arbeit in Deutschland anzunehmen; nur gelegentlich wohl spielte auch Abenteuerlust eine Rolle, wiewohl Plakate und Prospekte Dante zitierten und von einer vita nuova im Norden schwärmten. Im deutsch-italienischen Anwerbeabkommen, geschlossen am 22. Dezember 1955, wurde die Einrichtung von Anwerbekommissionen in Verona und Neapel verfügt, wo in Zusammenarbeit mit den italienischen Arbeitsämtern die Bewerber auswählt und zugewiesen werden sollten. Deutsche Firmen, die Arbeiter suchten, brauchten dies ihrerseits nur beim örtlichen Arbeitsamt zu melden und 50 Mark für die Vermittlung zu bezahlen. Zwar war es Italienern prinzipiell möglich, sich, ausgestattet mit einem Visum, auch privat auf Arbeitssuche in der Bundesrepublik zu begeben oder direkt von deutschen Firmen angeworben zu werden, doch legten die staatlichen Behörden vor allem in den Anfangsjahren Wert darauf, den Vermittlungsvorgang so umfassend wie möglich zu kontrollieren. Direkten Einfluss auf den Arbeitsort und die Art der Arbeit hatten die Bewerber so in der Regel nicht. Garantiert wurde ihnen jedoch, als Konzession an die Lohndumping fürchtenden Gewerkschaften, die prinzipielle sozial- und tarifrechtliche Gleichstellung mit den inländischen Arbeitnehmern. Nur ungern erinnern sich „Gastarbeiter“ der ersten Stunde an die erniedrigende ärztliche Begutachtung, die sie noch auf italienischen Boden über sich ergehen lassen mussten und in der auf deutscher Seite nicht nur auf Gesundheit, sondern auch auf Größe und Kraft geachtet wurde. Ulderico G. erzählt: „Wir kamen in ein Zimmer, das war in einer großen Halle damals und da wurden wir untersucht. Es waren ungefähr zwei Busse voll, wir waren bestimmt ungefähr einhundert Leute. [...] Alle möglichen Untersuchungen, die ein Arzt machen kann, wurden gemacht. Damals waren das Ärzte, von denen wir sagten: ‚Die sind vom Krieg übrig geblieben‘. So stur und zackig waren die. Und damals hast du ja auch nichts verstanden.“24
Auch die anschließende Reise war beschwerlich und erfolgte in der Regel in – wie es anfänglich hieß – „Sammeltransporten“, ohne dass über Dauer und konkretes Ziel der Fahrt Auskunft gegeben wurde. Am ersten Anlaufpunkt auf deutschem Boden, der Weiterleitungsstelle am Münchner Hauptbahnhof, wurde der in der Anfangszeit reichlich improvisierte Empfang zur nächsten Strapaze für die Neuankömmlinge, bevor sie – ohne Rücksichten auf etwaige Freundschaften – über das Bundesgebiet verteilt wurden. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Verwendung fanden die Arbeitskräfte aus Italien zunächst vor allem in der Landwirtschaft und im Bergbau; erst als Anfang der 60er Jahre der Bedarf auch in der deutschen Industrie rapide wuchs und der Mauerbau zugleich den Zustrom von Arbeitskräften aus der DDR unterbrach, arbeiteten sie verstärkt in der metallverarbeitenden Industrie und anderen Branchen, wo sie in der Regel die niedriger qualifizierten (und bezahlten) Tätigkeiten übernahmen. Die langfristige Domäne der Italiener aber sollte die Arbeit am Bau werden. Als später Vertreter anderer Nationen auf den westdeutschen Arbeitsmarkt traten, waren sie dort schon etabliert und sorgten durch Mundpropaganda für Rekrutierung aus den eigenen Reihen. Unter deutschen Arbeitgebern galten Italiener als „ausgeprägte Gruppenmenschen“ – und deshalb als besonderes für diese Beschäftigung geeignet.25 Wo immer sie jedoch arbeiteten: In der Regel war die Arbeit mühsam, öde und oft auch gefährlich und zudem – wie Müllabfuhr und Straßenreinigung – auch deshalb schlecht angesehen, weil im zum Wohlstand gelangenden Deutschland sie niemand mehr ausführen wollte. Versprochen worden waren im Anwerbevertrag neben dem Recht, den Lohn nach Italien zu transferieren, auch „angemessene“ Unterkünfte sowie die „wohlwollende“ Behandlung des Familiennachzugs. Für die tatsächliche Unterbringung galten jedoch zunächst die Richtlinien für Bauarbeiterwohnheime von 1934: Baracken und Wohnheime, oft mit acht Mann auf einer Stube und ohne Duschen, waren so oft genug traurige Realität.26 Auch das Kochen mit unbekannten Zutaten fiel den Männern schwer, die nicht selten das erste Mal für sich selbst zu sorgen hatten. In der ohnehin raren Freizeit gab es angesichts der beengten Wohnverhältnisse kaum Privatsphäre, so dass man sich vorzugsweise am gut erreichbaren Bahnhof traf, der Umschlagpunkt für Nachrichten von zu Hause war. Die Ansammlungen ausländischer Männer stießen jedoch bei der ansonsten so italophilen deutschen Bevölkerung auf Ablehnung. Waren die italienischen Arbeiter zunächst gekommen, um durch harte Arbeit schnell viel Geld zu verdienen, so fehlte auf deutscher Seite lange das Gefühl dafür, dass sie gleichwohl auf soziale Kontakte, die Ausübung ihrer Religion, aber auch Konsummöglichkeiten angewiesen waren. Einsamkeit und Heimweh plagten die meisten von ihnen. Da Frauen und Kinder oft erst später nachgeholt wurden, bereitete die Entfremdung in den Familien ihnen große Probleme. Erst langfristig sollte die Bildung von eigenen Vereinen, Sportklubs, Rundfunkprogrammen usw. die Zustände deutlich verbessern. Gegenüber der deutschen Öffentlichkeit war nur von der kurzfristigen Deckung des „Spitzenbedarfs“ einiger Branchen die Rede gewesen; tatsächlich jedoch bildete das deutsch-italienische Anwerbeabkommen das Muster für spätere Abkommen mit anderen Ländern und damit den Auftakt einer im Rahmen europäischer Migration stattfindenden Einwanderung nach Deutschland – was im anfänglichen ökonomischen Eifer weder geplant noch vorhergesehen war. Zeitlich befristete © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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17.11.1959: Italienische Bauarbeiter, die eine Sommersaison im Raum Frankfurt gearbeitet haben, bereiten sich auf ihre Rückreise nach Italien vor
Arbeitsverträge signalisierten ebenso wie die Rede von den „Gastarbeitern“, dass der Aufenthalt als vorübergehend gedacht war. Über „etwaige Folgewirkungen und längerfristige Perspektiven der Beschäftigung einer immer größer werdenden Zahl“ dieser „Gastarbeiter“ machten sich die „Verantwortlichen zu dieser Zeit keine Gedanken“.27 Vorurteile existierten allerdings von Anfang an: „Die Süditaliener sind ein beneidenswerter Menschenschlag“, befand etwa 1955 ein Mitarbeiter des Landesarbeitsamtes in Düsseldorf: „Sie arbeiten nur so lange, wie sie Hunger haben. Und da sie geringe Ansprüche haben, arbeiten sie entsprechend wenig.“ Das sei etwas, schloss er, „was sich die Leute, die Italiener beschäftigen wollen, nicht recht überlegen“.28 Hinzu kam seit Anfang der 60er Jahre das Stereotyp einer leichten Beeinflussbarkeit von Italienern durch kommunistische Propaganda.29 Dennoch überwogen die erkennbaren Vorteile die Vorurteile, kamen doch zunächst fast ausschließlich Männer im besten Arbeitsalter in die Bundesrepublik, die volle Sozialabgaben entrichten mussten, ohne später in großem Umfang Leistungen in Anspruch zu nehmen.30 Die Unternehmen andererseits konnten an der Auszahlung betrieblicher Renten sparen, was den Mehraufwand, Wohnheime zur Verfügung zu stellen, weit übertraf. Anfänglich schienen sich die Deutschen so an die Anwesenheit ausländischer Arbeitskräfte in der Bundesrepublik durchaus gewöhnen zu können, doch blieb auch diese „Normalität“ zweifelhafter Natur: „In der Gesellschaft der Bundesrepublik“, schreiben Dunkel/Stramaglia-Faggion, „wurden die Gastarbeiter als Symptom des neuen Reichtums wahrgenommen, © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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wie Farb-TV oder Fußgängerzonen. Eine öffentliche Debatte fand in den 60er Jahren nicht statt [...].“31 Tatsächlich sollte sich die Reaktion der Bundesbürger auf die Anwesenheit ausländischer Arbeitskräfte von einer europäisch-demokratischen Erfolgsgeschichte entfernen, sobald die Konjunktur ins Stottern geriet. Bereits 1959 hatte die FAZ den wesentlichen Vorteil der Ausländerbeschäftigung darin gesehen, dass „bei eventueller Arbeitslosigkeit in Deutschland die ausländischen Arbeiter wieder zurückgeschickt werden können“.32 Als 1966/67 das Wirtschaftswachstum in der Bundesrepublik kurzfristig einbrach, wurden Gehässigkeit und Diskriminierungen schnell zur Dauererfahrung ausländischer Arbeitskräfte.33 Vom respektloses Duzen oder der Ansprache in Infinitiven reichte dies über die offene Beleidigung als „Spaghettifresser“ (im Falle der Italiener) bis zu handfester Benachteiligung bei der Arbeit oder auf dem Wohnungsmarkt, gelegentlich sogar bis hin zum Restaurantverbot. Vor allem aber traf die Antipathie nun zunehmend auch die nachgezogenen Familien oder den bereits in Deutschland geborenen Nachwuchs. 1959 arbeiteten knapp 50.000 Italiener in Deutschland, doch als zu Beginn der 60er Jahre die westdeutsche Wirtschaft unvermindert in Fahrt blieb, stieg ihre Zahl schnell weiter an. Darüber hinaus wurden weitere Anwerbeabkommen geschlossen, zunächst mit Spanien und Griechenland, 1961 mit der Türkei, 1964 mit Portugal und 1968 mit Jugoslawien. Als es 1973 angesichts des schwerwiegenderen Konjunktureinbruches zum faktischen Anwerbestopp für ausländische Arbeitnehmer kam, lebten in der Bundesrepublik insgesamt fast 4 Millionen Ausländer, von denen nur noch 2,6 Millionen einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgingen, darunter 450.000 Italiener.34 Von baldiger Rückkehr, ja von „Rückkehr“ überhaupt, konnte nun nicht mehr die Rede sein; von „Einwanderung“ jedoch wollte noch lange Zeit niemand sprechen.
c)
Gemeinsam ausgeblendet: Deutsche Kriegsverbrechen in Italien – italienische Zwangsarbeiter im Deutschen Reich Im Bonner Museum wurde die Eisdiele der Giacomels so platziert, dass sie wie die „süße Belohnung“ für die Mühen des Wiederaufbaus dasteht. Sie wird damit zum Bestandteil jener mythischen Überhöhung der Rekonstruktion als „Wirtschaftswunder“, die schon bald alle sonstigen Aspekte der Staatsgründung in der bundesdeutschen Selbstwahrnehmung zu überlagern begann, während für die ehemaligen Kriegsgegner die zivilpolitische Befriedung Deutschlands im Zeichen der Demokratie das eigentliche Nachkriegswunder war. Erst seit einiger Zeit scheint man sich auch in Deutschland dem Umstand nüchtern nähern zu können, dass das Personal, das sich nach 1949 anschickte, den gesellschaftlichen Innenausbau der Bundesrepublik vorzunehmen, in weiten Teilen © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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dasselbe war, das noch wenige Jahre zuvor in großer Mehrheit der Demokratie abgeschworen hatte, um seine Energien dem nationalsozialistischen Führerstaat zur Verfügung zu stellen.35 Für Deutsche, die sich wie Konrad Adenauer gegenüber der „volksgemeinschaftlichen“ Versuchung resistent gezeigt hatten, bestand von Anfang an das Fundamentalproblem in der Frage der personellen Kontinuität: „Die mittlere Generation“, so der spätere Kanzler 1946, „fällt nahezu vollständig aus, weil sie in der Partei war. Die junge Generation ist nicht urteilsfähig weder in politischer noch einer sonstigen Hinsicht. Sie muß völlig umerzogen werden.“36 Tatsächlich sollte sich jedoch nach einer Phase eher von außen motivierter Konfrontation mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und ihren Verbrechen die kollektive Selbstbesinnung der Besiegten zunehmend in einem Knäuel von Ohnmachtsgefühlen, Scham und beharrendem Trotz verfangen.37 Gefragt waren „Doppelstrategien“: Wurde einerseits die Negation des Nationalsozialismus zur Staatsräson, ging dies andererseits einher mit der Selbststilisierung als Opfergemeinschaft. Leid existierte angesichts der Folgen von Krieg, Vertreibung und Teilung in der deutschen Nachkriegsbevölkerung zwar ohne jeden Zweifel. Doch wurden nach Gründung der Republik zunehmend auch Besatzungszeit und Entnazifizierung in die „deutsche Katastrophe“ mit einbezogen, darüber hinaus ehemalige Funktionsträger des Hitlerstaates stillschweigend in die „wohlanständige“ Nachkriegsgesellschaft integriert und – etwa bei den Entschädigungen – die Opfer des einstigen Traumes von der homogenen „Volksgemeinschaft“ (erneut) an den Rand des öffentlichen Bewusstseins gedrängt.38 Verstärkt durch den allgegenwärtigen westdeutschen Antikommunismus der Nachkriegszeit, blieben Ausbrüche aus dem sich einstellenden Integrationskonsens vereinzelt und riskant. Nur unter großen Widerständen etwa konnte die Erinnerung an den „20. Juli 1944“ in den 50er Jahren vom Ruch des „Verrates“ gereinigt werden, um ihn in die ethisch-politische Genealogie einer demokratischen Republik einbauen zu können.39 Erst gegen Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre sollte, katalysiert durch den Ulmer Einsatzgruppen-Prozess, die Reaktionen auf die antisemitische Schmierwelle und den Eichmann-Prozess in Jerusalem, der auf Integration abzielende vergangenheitspolitische Konsens auf kultureller Ebene aufgebrochen werden. Die Anstrengungen zur politischen Bildung wurden verstärkt, die „Kritische Theorie“ wurde zum intellektuellen Reflexionsdiskurs der Republik und das – freilich nicht unbedenkliche – Wort von der „unbewältigten“ Vergangenheit zum publizistischen Allgemeinplatz.40 Die erste Anwerbung italienischer Arbeitskräfte war jedoch noch in eine Phase gefallen, in der das populäre Gedächtnis den Krieg am liebsten in der Form verharmlosender Landser-Geschichten oder Offiziersmemoiren erinnerte, während die deutschen Verbrechen in aller Regel nur indirekt und im Code einer allzu schnell generalisierenden humanistischen Moral vergegenwärtigt wurden.41 Die © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Ausblendung der konkreten Ereignisse und Verantwortlichkeiten aber sollte insbesondere auch den deutschen Gedächtnisort „Italien“ betreffen.
Deutsche Kriegsverbrechen in Italien Als Italien, bis dahin „Waffenbruder“, nach der Entmachtung des „Duce“ im September 1943 auf die Seite der Alliierten trat, reagierte die vorbereitete Wehrmacht rasch, indem sie innerhalb weniger Tage die noch nicht von den Amerikanern eroberten Landesteile besetzte. Schon bei der Entwaffnung italienischer Soldaten, die sich weigerten, erneut auf deutscher Seite in den Krieg einzutreten, kam es zu Exzessen, die angesichts des italienischen „Verrats“ von der deutschen Militärführung durchaus gewünscht waren und mehrere Tausende getöteter Italiener zur Folge hatten.42 Widerstandshandlungen italienischer Partisanentruppen „ahndeten“ Wehrmacht und SS mit terroristischen Mitteln, die sich ausdrücklich auch auf die Zivilbevölkerung erstrecken konnten, in der man einen „natürlichen“ Verbündeten der Resistenza erblickte. Umstritten ist in der historischen Forschung, ob sich die deutsche Kriegsführung in Italien besser als eskalierende Form jener Besatzungspraxis charakterisieren lässt, die das Deutsche Reich auch in West- und Nordeuropas ausübte, oder als Übertragung des Vernichtungskrieges, wie ihn Wehrmacht, SS und deutsche Zivilverwaltung von Anfang an in Ostmittel- und Osteuropa geführt hatten.43 Unmittelbar nach der deutschen Machtübernahme jedenfalls setzten gezielte Aktionen gegen „jüdische“ Italiener ein, die in deutsche Vernichtungslager deportiert wurden. In Hinblick auf das Vorgehen gegen den bewaffneten italienischen Widerstand erklärte 1946 Generalfeldmarschall Albert Kesselring, der deutsche Oberbefehlshaber in Italien, vor Gericht, dass ihm die Frage, ob die Zivilbevölkerung aus eigenem Drang oder unter Zwang antideutsche Aktionen unterstützt habe, „gleichgültig“ gewesen sei: Um Gefahren für die eigenen Soldaten abzuwehren, habe er die Situation „nur militärisch“, nicht „gefühlsmäßig“ betrachten dürfen.44 In mehreren Befehlen des Jahres 1944 wurde den „vor Ort“ agierenden deutschen Soldaten auch für brutalstes Vorgehen – „auch gegen Frauen und Kinder“ – nicht nur Rückendeckung von höchster Stelle zugesichert, sondern zu „schlappes“ Vorgehen unter Strafandrohung gestellt.45 Die in Italien kriegsrechtlich unter Kesselrings Verantwortung agierende SS erhielt darüber hinaus immer wieder Möglichkeiten, bei der „Bandenbekämpfung“ selbstständig (das heißt: im Sinne Himmlers) vorzugehen. „Bedenkenlos“, fasst Schreiber diese Besatzungspraxis zusammen, „wurde ein ganzes Volk als Verräter gebrandmarkt; und der tiefe ‚Hass‘, den viele Deutsche zu jenem Zeitpunkt gegenüber Italienern empfanden, dürfte – gemeinsam mit Rachegefühlen – im militärischen Bereich die Akzeptanz von verbrecherischen Befehlen erleichtert haben [...].“46 Lang ist die Liste deutscher Massaker in Italien; sie erstreckt sich über nahezu © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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den gesamten Besatzungszeitraum und reicht von Castiglione di Sicilia (18.8. 1943) bis nach Bolzano (3.5.1945).47 Doch während sich Namen wie Marzabotto, die Ardeatinischen Höhlen bei Rom oder Sant’Anna di Stazzema im italienischen Gedächtnis als Symbolorte sinnloser deutscher Grausamkeit einbrannten, etablierte sich im (west)deutschen Nachkriegsgedächtnis nicht nur der Mythos von der „sauberen Wehrmacht“ als Ganzer, sondern insbesondere auch die Legende vom „sauberen Kriegsschauplatz Italien“, woran in dieser Pauschalität nur richtig war, dass kein einziger deutscher Soldat wegen Übergriffen im Zusammenhang mit der „Bandenbekämpfung“ zur Rechenschaft gezogen wurde.48 Lediglich vorübergehend, unter dem allerersten Schock der unleugbar gewordenen Massenverbrechen im „Osten“, hatte die Solidarität der deutschen Gesellschaft mit den bald weithin als „angebliche Kriegsverbrecher“ bezeichneten Militärführern ausgesetzt, bevor die alliierten Gefängnisse in Werl, Landsberg und Wittlich zu Orten ganz besonderer nachkriegsdeutscher Gedächtnisbildung wurden.49 Beteiligt an der Umformung mnestischer Energien, die bald mehr auf die Rettung eines akzeptablen deutschen Selbstbildes ausgerichtet wurden als auf die Vergegenwärtigung deutschen Unrechts, waren nicht nur die beiden großen Kirchen sowie die rasch sich ausbildenden Netzwerke ehemaliger „Kameraden“ mit ihren Kontakten bis weit in die Bonner Politik hinein. Als im Oktober 1952 der noch 1947 von einem britischen Gericht zum Tode verurteilte Kesselring unter dem Vorwand einer schweren Krankheit aus der Haft entlassen wurde, hallte auch in weiten Teilen des bundesdeutschen Blätterwaldes entnazifizierungsbewältigendes Triumphgeschrei wider.50 Gut zwei Drittel der westdeutschen Bevölkerung hielten den ehemaligen „OB Südwest“ zu diesem Zeitpunkt ohnehin für unschuldig.51 So nahm es nicht Wunder, dass Kesselring nach seiner Entlassung demonstrativ auch im Bonner Kanzleramt empfangen wurde, wo Konrad Adenauer, der Nationalismus wie Militärgeist eigentlich reserviert gegenüberstand, stets Wahlkampf führte und – auch für die Westintegration – die Stimmen jener Millionen ehemaliger Wehrmachtssoldaten brauchte, die weniger denn je glauben wollten, dass ihr Kampf nur den Zwecken eines verbrecherischen Regimes gedient hatte. Im Resultat diente die Kampagne um die Freilassung der deutschen Kriegsverbrecher nicht nur dazu, die unter militärischer Verantwortung verübten Greueltaten im kollektiven Gedächtnis der Bundesrepublik weitgehend zu löschen, sondern auch, ihre Ahndung in einen Justizirrtum umzudeuten und damit die Entnazifizierung selbst zur Irrtumsjustiz zu erklären.52 Daneben gehörte Kesselrings Freilassung auch in den Kontext des Kalten Krieges und der entstehenden Bundeswehr, deren Führungspersonal mit dem öffentlichen Bekenntnis zur sauberen Wehrmacht bezahlt sein wollte.53 Anders zwar als Erwin Rommel, der ebenfalls kurze Zeit in Italien befehligt hatte und nach dem Krieg von seinem einstigen Generalstabschef, Adenauers militärischen © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Chefberater Generalleutnant Speidel, zum aktiven Widerstandskämpfer erklärt wurde, kam Kesselring nach allem, was in den Prozessen bekannt geworden war, als Identifikationsfigur für eine ins westliche Bündnis integrierte Armee denn doch nicht mehr in Frage. Doch auch in Italien, wo seine Entlassung zunächst auf helle Empörung gestoßen war, unterstützte die christdemokratische Regierung bald die deutsche Politik des Beschweigens, indem sie 1956 das erst angelaufene italienische Prozessprogramm gegen deutsche Kriegsverbrecher stoppte, „um die deutsche Verteidigungsbereitschaft und den Aufbau der Bundeswehr nicht zu gefährden“.54 Erneute Debatten über das Verhalten deutscher Soldaten, so der italienische Außenminister Martino, seien nicht wünschenswert, da sich die deutsche Regierung gerade dem Problem gegenüber sehe, „die Widerstände gegen den Aufbau einer neuen deutschen Streitmacht, auf den die NATO ungeduldig dränge, im eigenen Lager zu überwinden“.55
Italienische „Zwangsarbeiter“ Noch etwas anderes wurde Mitte der 50er Jahre im Zusammenhang mit Italien und der NS-Vergangenheit erfolgreich ausgeblendet. Nur scheinbar handelte es sich 1955 bei der Anwerbung von Italienern um ein jungfräuliches Datum; tatsächlich stand sie „in der historischen Kontinuität der Saisonarbeiterbeschäftigung vom Kaiserreich bis zum Ende der Weimarer Republik“ – „mit fließenden Übergängen zur Etablierung des Zwangsarbeitersystems während des Zweiten Weltkriegs“.56 Ein Anwerbeabkommen zwischen beiden Ländern hatte es schon im Juli 1937 gegeben, und über 485.000 Saisonarbeitsverträge für Landwirtschaft, Bergbau und Industrie des Deutschen Reiches wurden bis 1943 in seinem Rahmen unterzeichnet.57 Insgesamt scheint der Empfang unter den Vorzeichen der „Achse“ Rom-Berlin freundlicher gewesen zu sein als in der Nachkriegszeit, obwohl im nationalsozialistischen Staat auch gegenüber den Italienern rassistische Vorstellungen schwelten. Als sich dann jedoch im Sommer 1943 das Verhältnis beider Länder auf dramatische Weise änderte, wurden die zu diesem Zeitpunkt in Deutschland lebenden Zivilarbeiter völkerrechtswidrig als „Zwangsarbeiter“ deklariert. Hinzu kamen bald an die 600.000 entwaffnete italienische Soldaten, die als „Militärinternierte“ ins Reich verschleppt wurden, wo sie zum größten Teil in der deutschen Rüstungsindustrie arbeiten mussten.58 Waren insgesamt im Spätsommer 1944 an die 7,6 Millionen ausländische „Zwangsarbeiter“ damit beschäftigt, die deutsche Kriegsproduktion auf Touren zu halten, zu denen noch etwa 200.000 zur Arbeit abgestellte KZ-Häftlinge kamen, fanden sich die Italiener innerhalb dieses gigantischen Ausbeutungssystems „auf der untersten Stufe der rassistischen Hierarchie wieder und [...] in besonderer Weise der Wut der Deutschen über den italienischen ‚Verrat‘ ausgesetzt“.59 Den „Ausländereinsatz“ im „Dritten Reich“ sollten an die 45.000 von ihnen nicht © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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überleben.60 In der nach 1945 sich ausbildenden Erinnerung an die NS-Zeit und in der öffentlichen Auseinandersetzung mit ihr in den Jahrzehnten nach dem Krieg spielten die ausländischen Zwangsarbeiter jedoch keine bedeutende Rolle.61 Von den Komplexen Krieg und SS deutlich abgetrennt, tauchen sie in persönlichen Erinnerungen meist als „beiläufige Selbstverständlichkeit“ auf, die eher der Privatsphäre als der Ebene staatlicher Verbrechen zugeschlagen wurde, so dass es auch im nachhinein „nicht als etwas NS-Spezifisches betrachtet“ wurde, „dass während des Krieges Ausländer in so großer Zahl in Deutschland arbeiteten“. Verwundert es unter diesen Umständen wenig, dass die Entschädigung italienischer Zwangsarbeiter bis heute auf traurige Widerstände stößt,62 so kann indes kein Zweifel bestehen, dass die Mitte der 50er Jahre erneut einsetzende Beschäftigung von Ausländern in Deutschland prinzipiell von jener nationalsozialistischen Massendeportation zu unterscheiden ist, die Teil einer völkischen Neuordnung Europas unter deutscher Hoheit und Anwendung genozidaler Methodik war. Aber gerade weil die massenweise Ausbeutung ausländischer Arbeitskraft im Nationalsozialismus auch dazu gedient hatte, im Krieg soziale und ökonomische Spannungen in der als „rassisch“-exklusiver Solidargemeinschaft gedachten „Volksgemeinschaft“ abzufedern, erschien eine öffentliche Nichtthematisierung nur gut ein Jahrzehnt darauf riskant, zumal der staatlich verordnete Rassismus gerade über die Ausländerbeschäftigung zu einer Alltagserfahrung der Deutschen hatte werden können. 1959 sprach der remigrierte Philosoph Adorno in seiner vielbeachteten Rede „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“ von einem fortlebenden „Bann“ derselben, der um so gefährlicher sei, je länger seine Auflösung durch helles Bewusstsein vermieden werde.63 Vier Jahre zuvor jedoch waren weder die deutsche Öffentlichkeit noch der Bundestag näher über die von der Regierung ausgehandelten Bestimmungen der Anwerbung informiert worden. Wie sehr sich die Anwerbung von Italienern für den westdeutschen Aufbau im Rahmen kollektiver, staatlich beförderter Reflexionsverweigerung vollzog, zeigte sich schon daran, dass zunächst wie selbstverständlich noch von „Fremdarbeitern“ die Rede war, die in „Sondertransporten“ in die Bundesrepublik gebracht werden sollten, bevor sich für lange Zeit die gutgemeinte, aber ebenfalls problematische Bezeichnung „Gastarbeiter“ einbürgerte.64 Mit Naivität darf diese Blockade freilich nicht verwechselt werden, wenngleich etwa Innenminister Robert Lehr 1951 aufrichtig verwundert gewesen zu sein scheint, als ihm auf sein gutgemeintes Hilfsangebot anlässlich einer Überschwemmungskatastrophe im Po-Gebiet von italienischer Seite bedeutet wurde, dass „das Erscheinen von uniformierten [deutschen] Hundertschaften in Italien doch nicht so freudig begrüßt“ werden würde.65 Und dass auch auf Seiten der Administration trotz allgemeiner Prätention des absoluten Neuanfangs damit gerechnet wurde, dass die Vergangenheit in den Gemütern der Menschen weiterwirkte, zeigte sich etwa daran, dass die Münchner © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Bahnhofsverwaltung tunlichst darauf bedacht war, keine „Ausländer-Transporte [...] mit [ausländischen] Arbeitern in heruntergekommenem Zustand über die Straße zu leiten, weil dadurch der Eindruck eines Kriegszustandes geschaffen würde“.66 Unerwünscht waren die in der deutschen Bevölkerung schlecht gelittenen Versammlungen von Italienern am Bahnhof aber auch deswegen, weil sie Erinnerungen an die Zwangsarbeiter aus der Zeit des Nationalsozialismus aufkommen ließen. So entstand eine eigentümliche Dialektik: Erweckte einerseits das deutsche Anwerbebüro in Verona den Eindruck eines „Gefangenendurchgangs- oder Entlassungslagers“,67 so bemühte man sich andererseits in München „nach Kräften“, „den Bahnhof ‚rein‘ zu halten“, um drittens – wie ein Leiter des Münchener Hauptbahnhofs im Interview verriet – doch zu begreifen, dass die Italiener „schließlich [...] keine Untermenschen“ seien und man „doch nicht SSMethoden anwenden“ konnte, „um das Problem zu lösen“.68 Die „Lösung“, die mittelfristig für die verstörende Ankunft großer Ausländergruppen in Deutschland gefunden wurde, bestach durch ihre Unsichtbarkeit ebenso wie durch die kühne Indienstnahme eines Erinnerungsortes: Gewissermaßen als deutsche Version von Ellis Island wurde ab 1960 der Luftschutzbunker unter dem Bahnhof als Anlaufstelle genutzt, in die die ankommenden Ausländer sofort nach ihrer Ankunft geführt werden konnten. Genauso „pragmatisch“ verhielt sich der öffentliche Diskurs in der Bundesrepublik: Noch jahrzehntelang sollte er auf die Vorgeschichte der „Gastarbeiter“-Beschäftigung mit keinem Wort eingehen, während andererseits etwa das Ausländergesetz von 1965, das die aus der Vorkriegszeit stammende Regelung im polizeilichen Umgang mit Ausländern ablöste, zu Teilen noch immer auf diesem beruhte.69 Noch länger sollte es dauern, bis die deutsche Gesellschaft ihr Selbstverständnis offen mit der geschichtlichen Tatsache der Einwanderung konfrontierte, deren faktische Anfänge sich vollzogen hatten unter der „Suggestion der Geschichtslosigkeit“.70
Zur Didaktik einer Archäologie der italienischen Eisdiele in Deutschland Deutlich geworden sein dürfte, wie sehr das „Italienische“ der Eisdiele in den 50er Jahren angereichert war mit zeitgenössischen deutschen Wünschen und Bedürfnissen, die mittlerweile zum festen Erinnerungsbestand der Bundesrepublik geronnen sind, zugleich aber die Kehrseite darstellen einer über Ausblendungen laufenden Form kollektiver Selbstverständigung, die glaubte, die mnestischen Ströme „pragmatisch“ den Bedürfnissen der Mehrheit auf Reflexionslosigkeit unterordnen zu können. Diese zeittypische Derealisierung, die sensiblen und reflektierten Beobachtern wie Hannah Arendt oder Theodor W. Adorno im Kontakt mit der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft besonders schnell auffielen, endete © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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im Übergang zu den 60er Jahren: Die Ohnmacht des Westens beim Mauerbau enthüllte die Hoffnung auf baldige Wiederherstellung des deutschen Nationalstaates als bloße Rhetorik; die Medien emanzipierten sich im Zusammenhang mit generativen Verschiebungen und Lernerfahrungen von einem Verständnis von Öffentlichkeit als Sphäre sozialintegrativer Repräsentation; die sich verdichtende Konfrontation mit der NS-Vergangenheit schließlich schuf einen Dauerdiskurs über das Selbstverständnis der Westdeutschen und die Qualität ihrer Demokratie. Was hingegen noch Jahrzehnte ausblieb, war die Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass die Bundesrepublik eine Einwanderung erlebte, wobei das Auseinanderklaffen von Fakten und Wahrnehmung zunächst weiter zunehmen sollte. Weit über den hier vorgestellten ‚Ort‘ hinaus erweist sich Erinnerung so als komplexes Ausfallprodukt von bedürfnis- und interessengespeisten Sinngebungen und eben solchen Auslassungen. Was kann angesichts dieser prinzipiellen Einsicht getan werden? Im Folgenden geht es um Vorschläge, die an die drei ermittelten Schichten der Gedächtnisbildung anknüpfen, dies aber in allgemeiner Absicht tun. Dabei soll der Umstand genutzt werden, dass wir es in unserem Verständnis der Eisdiele mit einer Verknüpfung der öffentlichen mit der privaten Sphäre zu tun hatten. Darüber hinaus soll auf einige Projekte im Bereich der politischen Bildungsarbeit hingewiesen werden, die bereits an der retrospektiven „Umpflügung“ des überlieferten Gedächtnisses mitarbeiten.
Die „Italianisierung“ der deutschen Lebenswelt Im Vergleich zu klassischen Erinnerungsorten besitzt die Eisdiele den Vorteil, eigener Recherche – ob in privater Form oder in einem Projekt – zugänglich zu sein, deren Resultate zu immer kompletteren Bildern zusammengesetzt werden können. So kann zunächst den Spuren der Anreicherung des (kulturellen) Eigenen nachgegangen werden, einer Anreicherung, die die im Laufe der bundesrepublikanischen Geschichte sich vollziehende Erosion volksgemeinschaftlicher Mentalitäten begleitete, deren Kern die rückhaltlose Glorifizierung des „Deutschen“ als homogener und exklusiver historischer Größe war. Ausgangspunkt könnte hier die nahezu omnipräsente italienische „Sachkultur“ im eigenem Heim sein: Urlaubssouvenirs und Andenkenstücke aus Muranoglas oder Muscheln, bastumwickelte Chiantiflaschen oder beleuchtbare Plastikgondeln, Heiligenbildchen und Ähnliches mehr. Geht man den Geschichten hinter diesen zum Teil kitschig wirkenden Gegenständen nach, wie sie etwa die Ausstellung „Neapel–Bochum–Rimini“71 versammelt hat, wird nicht selten deutlich, dass sie im Wohnzimmer der Eltern und Großeltern oft einen Ehrenplatz einnahmen und – da sie von Gästen als authentische Objekte aus dem Urlaub erkannt wurden – auch beträchtlichen Repräsentationswert besaßen. So manches lässt sich auch hinten im Kleiderschrank der Eltern finden, was von © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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der „Auflockerung“ des deutschen Lebensgefühls Zeugnis gibt: die ersten CapriHosen, der Strohhut oder der Rock im „Riviera-Stil“. Der Plattenschrank mag sich darüber hinaus mit dem ein oder anderen Italienschlager als Speicher vergangener Klischees vom Traumland der Liebe und unbeschwerter Lebenslust erweisen, und die im öffentlichen Fernsehen immer wieder zu sehenden einschlägigen Filme wie „Italienreise – Liebe inbegriffen“ oder „Südliche Nächte“ fassen solche Details gleich reihenweise zusammen.72 Fortgeschrittenes Ziel einer Oral History im Familienrahmen könnten Einblicke in die allmähliche Wandlung des deutschen Lebensgefühls sein, insofern es sich als „Italianisierung“ darstellt: Wann kamen die ersten Spaghetti Napoli auf den heimischen Tisch? Oder der Dosenschlager Ravioli, der 1958 in Serie ging und angeblich schon drei Jahre später in 75 Prozent aller deutschen Haushalte ein Begriff war? Der allmählich sich durchsetzende grüne Salat bzw. der Rotwein am Abend weisen (Stichwort: „Toskana“) auf eine auch im Medium des „Italienischen“ sich vollziehende Generationenfolge in der Bundesrepublik hin, ebenso wie der erst seit den 70er Jahren in Mode gekommene, zunächst noch auf die Großstädte beschränkte Familientag in der Pizzeria,73 während Erscheinungen der jüngeren Zeit, die obligatorische Espresso-Bar und der Benetton-Laden in der Innenstadt, bereits in die jüngste Geschichte der Globalisierung gehören. Sofern die eigene Familie nicht selbst immigriert ist, dürften sich vielerorts Erzählungen der Eltern bzw. Großeltern an erste Italienurlaube anknüpfen lassen, verbunden mit einer Vergegenwärtigung des damaligen deutschen Lebensgefühls im Ausland. Möglich ist vielleicht auch ein Transfer auf eine spezifisch ostdeutsche Italienerfahrung nach dem Fall der Mauer.
Verdrängung der NS-Zeit Andere Aspekte sind schwieriger zu erfahren und erfordern Takt, Mut und ein erhöhtes Maß an Selbstreflexion. Mag aus Berichten über erste Auslandsaufenthalte auch so manche Kontinuitätsproblematik wie von selbst aufscheinen, so dürften „Interviews“ über Kriegserfahrungen in Italien – sofern sie überhaupt noch möglich sind – schnell mit den üblichen Blockaden und Ausweichmanövern belastet sein. Fortbildungen, wie sie etwa das Bildungswerk der Humanistischen Union NRW anbietet, zeigen freilich, das in größerem Rahmen und mit Engagement doch Manches möglich ist. So wurden in den letzten Jahren regelmäßig in Verbindung mit „Istoreco“, dem Istituto per la Storia della Resistenza der Reggio Emilia, Studienfahrten angeboten mit Führungen durch die Gedenkstätte und Gesprächen mit Überlebenden und Widerstandskämpfern. Auch im Rahmen der von Erinnerungsinstituten derselben Region erstellten Wanderausstellung „Partigani“ gab es etwa in der Münchner Seidel-Villa die Gelegenheit zu einem Zeitzeugengespräch.74 Ebenfalls möglich dürfte es mit einigem Aufwand sein, auf kommunaler Ebene © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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den vor Ort eingesetzten italienischen „Zwangsarbeitern“ nachzugehen, deren Anerkennung als Entschädigungsopfer bis heute in der Regel aussteht.
Immigration Besonderen Takt erfordert auch die Erfragung von Ausländer-Biografien in der Bundesrepublik, enthalten diese doch nicht selten schmerzhafte und schamvolle Erinnerungen. Den Weg weisen hier die Ausstellungen von Bochum und München, aus deren Begleitpublikationen ausführlich zitiert worden ist. Vor allem der Münchner Band „Für fünfzig Mark einen Italiener“ beruht auf Oral-history-Arbeit. Diese hat zwar einen wissenschaftlichen Hintergrund, doch ist nicht einzusehen, warum nicht auch beim Thema Immigration auf die Erfahrungen zurückgegriffen werden sollte, die etwa das „Nürnberger Erinnerungsparlament“ bei dem Versuch gewonnen hat, ausgewählte Zeitzeugen mit einer interessierten Öffentlichkeit ins vertiefte Gespräch zu bringen.75 In kleinerem Rahmen und nach Absprache könnte jedoch sicherlich die überall in Deutschland zu findende italienische Eisdiele bzw. Pizzeria den Ort abgeben für den Austausch lebendiger Erinnerung jenseits von Abgrenzung und Verdrängung. Und natürlich sind auch „der Grieche“ um die Ecke oder der Dönerstand Ausgangspunkte interessanter Recherchen, mit denen verborgene Geschichte(n) zu Tage gefördert werden können.76 Pierre Nora hat über die gegenwärtige Beschäftigung mit den lieux de mémoire gesagt, dass dabei nicht mehr die Nation gefeiert, sondern ihre Feierstunden studiert werden. Nach all dem Gesagten gilt, dass dazu auch ein Blick unter die Tischdecke des Erinnerten nötig ist. Welcher Zugang jedoch auch immer gewählt wird, das „Ausgeschiedene“ der „erinnerungswerten“ Wahrnehmung erneut zu präsentieren: Kaum etwas sollte stärker für die Abgründe kollektiver Sinnstiftung sensibilisieren, als die Geschichte deutscher Ausgrenzungsobsessionen im 20. Jahrhundert.
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Anmerkungen 1 P. Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Frankfurt/M. 1998, bes. 32 f. 2 Vgl. dazu die lesenswerten Ausführungen unter www.hdg.de (Ausstellungen/Dauerausstellung/ Highlights/Eisdiele; Stand: Februar 2007). Dort findet sich auch ein Foto der Eisdiele. 3 Fotografien eines weniger eindrucksvollen, gleichwohl repräsentativen Exemplars aus Witten (1954) in A. Asfur/D. Osses (Hrsg.): Neapel–Bochum–Rimini. Dortmund 2003, 23 u. 72. 4 Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): Eisdiele. Bonn 1998, 11. 5 Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): A.a.O. 11. 6 P. Nora: A.a.O. 13. 7 Vgl. Hannah Arendt: Besuch in Deutschland (1950). Berlin 1993, Zitat 29.
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8 1937 lief zum ersten Mal ein KdF-Dampfer nach Italien aus. Bis Kriegsbeginn nahmen ca. 95.000 Deutsche an den Schiffsreisen teil, weitere Fahrten wurden per Eisenbahn organisiert. Vgl. T. Luther: Die Italienreise im 20. Jahrhundert. Karlsruhe 1997, 89. 9 Vgl. dazu G. Kindler: Sehnsucht nach Italien in den fünfziger Jahren. Karlsruhe 1997, 100 ff. Die Deutsche Bundesbahn gewährte den Angehörigen zu diesem Zweck eine Fahrpreisermäßigung von 50 Prozent. 10 „Komm ein bißchen mit nach Italien, komm ein bißchen mit ans blaue Meer, und wir tun, als ob das Leben eine schöne Reise wär’...“ Für diesen Gassenhauer, den die Valente mit Peter Alexander und Silvio Francesco sang, erhielt der Texter Kurt Feltz einen Orden vom italienischen Staatspräsidenten Giovanni Gronchi, verliehen für besondere Verdienste um den Fremdenverkehr des Landes. Zum Italienbild im deutschen Schlager vgl. A. Neuner: „Mandolinen der Liebe erklingen ...“ Karlsruhe 1997. 11 Vgl. T. Luther: A.a.O. 91. 12 Innerhalb weniger Jahre wurden diese Regionen für den Massentourismus erschlossen und im Sommer zur Protoform des „Teutonengrills“. In dem bekannten Badeort Marina di Massa am Golf von Genua, wo 1950 noch kein einziges Fremdenbett stand, gab es 1956 bereits derer 800 und 1961 sogar 7.000. Vgl. G. Kindler: A.a.O. 111. 13 Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): A.a.O. 32. 14 Vgl. M. Berwing: Die Reisewelle der fünfziger Jahre. Regensburg 1984, 206. 15 J. Petersen: Das deutschsprachige Italienbild nach 1945. In: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken, 76 (1996), 460. 16 Ebd. 17 Zwischen 1958 und 1961 stieg der Bestand an privaten Kühlschränken in westdeutschen Haushalten von 19 auf 39 Prozent. Vgl. M. Wildt: Privater Konsum in Westdeutschland in den 50er Jahren. Bonn 1998, 283. 18 1955 betrug die durchschnittliche Wochenarbeitszeit in der bundesdeutschen Industrie 48 Stunden, Überstunden waren aber an der Tagesordnung. Vgl. Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): A.a.O. 33. 19 Vgl. Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): A.a.O. 8 f. 20 Ebd. 10. 21 „Solino“ kam 2002 in die deutschen Kinos. Ein Interview mit dem Regisseur Fatih Akim sowie Zuschauer-Reaktionen finden sich auf: www.filmszene.de/kino/s/solinointerview.html 22 Ein Viertel aller Münchner Gaststätten wurde 1977 von Ausländern betrieben, gut ein Drittel davon von Italienern. Noch 1995 waren nur 3,9 % der Ausländer selbstständig beschäftigt. Vgl. F. Dunkel/G. Stramaglia-Faggion: Zur Geschichte der Gastarbeiter in München. München 2000, 148-154. 23 Widerstand kam vor allem aus den Reihen der Vertriebenenverbände sowie der Gewerkschaften, die eine Unterspülung des einheimischen Lohnniveaus fürchteten. Aber auch in der CDU war man der Auffassung, dass erst der letzte einheimische Arbeiter beschäftigt sein müsse, bevor an Anwerbungen im Ausland zu denken sei. Im Arbeitsministerium konnte auf immerhin noch 7 % einheimischer Arbeitsloser verwiesen werden, wobei deren Zahl freilich trotz weiteren Zuzugs von DDR-Flüchtlingen stetig schrumpfte und bereits im darauf folgenden Jahr nur noch 5,1 % betrug. Vgl. dazu U. Herbert: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. München 2001, 202 ff. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Zitiert aus: F. Dunkel/G. Stramaglia-Faggion: A.a.O. 74 f. F. Dunkel/G. Stramaglia-Faggion: A.a.O. 123. Vgl. U. Herbert: A.a.O. 214-216. F. Dunkel/G. Stramaglia-Faggion: A.a.O. 43. Zitiert nach A. Asfur: „Makkaroni“ und „Amore“. Dortmund 2003, 26. F. Dunkel/G. Stramaglia-Faggion: A.a.O. 248. Über 80 % der Ausländer in der Bundesrepublik waren 1961 erwerbstätig, gegenüber nur 47 % der einheimischen Bevölkerung. Vgl. U. Herbert: A. a. O. 212. F. Dunkel/G. Stramaglia-Faggion: A.a.O. 38. Vgl. U. Herbert: A.a.O. 209. F. Dunkel/G. Stramaglia-Faggion: A.a.O. 315. U. Herbert: A.a.O. 233. Grundlegend: N. Frei (Hrsg.): Hitlers Eliten nach 1945. München 32007; U. Herbert (Hrsg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Göttingen 2002 (Einleitung). In einem Brief an Paul Silverberg vom 23.4.1946. In: K. Adenauer: Briefe über Deutschland. München 1999, 46 f. Grundlegend für die Betrachtung der mentalen deutschen Ausgangsposition nach „1945“: W. Benz: Nachkriegsgesellschaft und Nationalsozialismus. Erinnerung, Amnesie, Abwehr. In: Dachauer Hefte 6 (1990), 12-24; H. Knoch: Die Tat als Bild. Hamburg 2001; N. Frei: 1945 und wir. München 2005; sowie als Quelle: Saul K. Padover: Der Lügendetektor. Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/45. Frankfurt/M. 1999. Für die Situation nach 1949: H. Arendt: A.a.O. Vgl. die prägnante Zusammenfassung der „Doppelstrategien“ in: H. König: Die Zukunft der Vergangenheit. Frankfurt/M. 2003, 17-30; Zitate: 24 u. 26. Zur „Opfergemeinschaft“ v.a.: H. Knoch: A.a.O. 425; P. Reichel: Erfundene Erinnerung. München/Wien 2004. Vgl. N. Frei: Erinnerungskampf. Der 20. Juli 1944 in den Bonner Anfangsjahren. In: N. Frei: 1945 und wir. München 2005, 129-144. Vgl. D. Siegfried: Zwischen Aufarbeitung und Schlussstrich. In: A. Schildt u.a. (Hrsg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in beiden deutschen Gesellschaften. Hamburg 2000, 77-113. H. Knoch: A.a.O. 423. In einem Befehl für die „Behandlung Badogliohöriger [ital. Oberfehlshaber] ital. Truppen“ vom 23.09.1943, den die deutsche Militärführung auch als Warnung über den italienischen Rundfunk verkünden ließ, hieß es: „Irgendwelche sentimentalen Hemmungen des deutschen Soldaten gegenüber Badogliohörigen Banden in der Uniform des ehemaligen Waffenkameraden sind völlig unangebracht. Wer von diesen gegen den deutschen Soldaten kämpft, hat jedes Anrecht auf Schonung verloren und ist mit der Härte zu behandeln, die dem Gesindel gebührt, das plötzlich seine Waffen gegen seinen Freund wendet.“ Zitiert nach G. Schreiber: Deutsche Kriegsverbrechen in Italien. München 1996, 50. Zur Einschätzung der deutschen Besatzung Italiens in Abgrenzung zur Vernichtungspolitik im „Osten“: L. Klinkhammer: Grundlinien nationalsozialistischer Besatzungspolitik in Frankreich, Jugoslawien und Italien. Köln 1998, 196 u. 204f. Dezidiert anderer Meinung: G. Schreiber: A.a.O. bes. 42 f., der z.B. das Verhalten der Deutschen gegenüber Italiens Militärangehörigen als selbst im Vergleich mit dem Krieg im „Osten“ einzigartig bezeichnet. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Zur Übertragung der Anweisung zur „Bandenbekämpfung“ im Ostfeldzug auf das Vorgehen in Italien vgl. ders. 95. Zitiert nach: K. von Lingen: Kesselrings letzte Schlacht. Paderborn 2004, 61. 1957 musste Kesselring freilich zugeben, dass es das Vorgehen deutscher Uniformträger selbst war, das „selbst die gutgesinnten Kreise der italienischen Bevölkerung in die Reihen der Partisanen“ trieb; zitiert nach: G. Schreiber: A.a.O. 53. Kesselrings Befehl vom 17. Juni 1944, zitiert nach: K. von Lingen: A.a.O. 65. G. Schreiber: A.a.O. 41. Allein in der Gegend von Marzabotto bei Bologna töteten SS- und Wehrmachtseinheiten im Rahmen der vorgeblichen „Partisanenbekämpfung“ binnen weniger Tage 955 überwiegend wehrlose Menschen. Bis die Deutschen am 2. Mai 1945 endlich auch auf der militärisch schon lange verlorenen Apenninen-Halbinsel kapitulierten, ermordeten sie fast 10.000 italienische Zivilisten. (Zu den Zahlen vgl. G. Schreiber: A.a.O. 197 u. 214.) G. Schreiber: A.a.O. 98. Zur Legende der „sauberen Wehrmacht“ vgl. W. Wette: Die Wehrmacht. Frankfurt/M. 2005, 197-244. Zur italienischen Erinnerung vgl. J. Staron: Fosse Ardeatine und Marzabotto. Paderborn 2002. Zum gesamten Komplex: N. Frei: Vergangenheitspolitik. München 1999, 133-306; Ausführlich: Bert-Oliver Manig: Politik der Ehre. Die Rehabilitierung der Berufssoldaten in der frühen BR. Göttingen 2004. Vgl. K. von Lingen: A.a.O. 310. Die Verbrechen in Italien werden in den Zeitungen dabei kaum erwähnt. In Italien trifft die Freilassung Kesselrings dagegen auf scharfe Proteste und wurde als „Schlag ins Gesicht derer, die die Anschläge überlebt hatten“ empfunden (L’Avanti, 30.10.1952, zitiert nach K. von Lingen: A.a.O. 308 f.). Auf die Proteste reagierte die Deutsche Botschaft in Rom mit dem Appell, man solle auf die zukünftigen Gemeinsamkeiten setzten und nicht „alte Wunden wieder aufreißen“. (Zitiert nach K. von Lingen: A.a.O. 311.) Vgl. E. Noelle/P. Neumann (Hrsg.): Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1947-1955. Allensbach 1956, 202. K. von Lingen: A.a.O. 356. Schon 1950 hatten deutsche Wehrmachtsveteranen in einem Atemzug die „Rehabilitierung des deutschen Soldaten durch eine Erklärung von Regierungsvertretern der Westmächte“, die „Freilassung der als ‚Kriegsverbrecher‘ verurteilten Deutschen“ (soweit sie sich im Rahmen der NS-Regelungen bewegten) sowie die „Einstellung jeder Diffamierung des deutschen Soldaten“ (einschließlich der Waffen-SS) und „Maßnahmen zur Umstellung der öffentlichen Meinung im In- und Ausland“ gefordert. Siehe die Denkschrift des militärischen Expertenausschusses über die Aufstellung eines deutschen Kontingents im Rahmen einer übernationalen Streitmacht zur Verteidigung Westeuropas vom 09.10.1950, in: K. von Schubert (Hrsg.): Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland. Bonn 1978, 9198. Zitat des italienischen Außenministers Martino, nach: K. von Lingen: A.a.O. 320. Eine kritische Sichtung der italienischen Erinnerung an Krieg und Faschismus bieten die einschlägigen Aufsätze in: Ch. Cornelißen/L. Klinkhammer/W. Schwentker (Hrsg.): Erinnerungskulturen. Frankfurt/M. 2003. Brief Martinos an den Verteidigungsminister Paolo Emilio Taviani am 10. Oktober 1956, hier zitiert nach K. von Lingen: A.a.O. 320. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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56 U. Herbert/K. Hunn: Gastarbeiter und Gastarbeiterpolitik in der Bundesrepublik. Hamburg 2000, 274 f. 57 Vgl. dazu und im Folgenden: A. Asfur/D. Osses (Hrsg.): Neapel – Bochum – Rimini. Dortmund 2003, 46. 58 Den Italienern wurde der Status von Kriegsgefangenen verweigert. Sie fielen damit nicht unter die Genfer Konvention, waren der Kontrolle des Roten Kreuzes entzogen und konnten zur Zwangsarbeit eingesetzt werden. Vgl. U. Herbert: A.a.O. 145f. und A. Asfur/D. Osses (Hrsg.): A.aO. 46. 59 U. Herbert: A.a.O. 146. 60 Vgl. K. von Lingen: A.a.O. 53. 61 U. Herbert: A.a.O. 188. Dort auch das folgende Zitat. 62 Zur deutsch-italienischen Entschädigungsdiskussion in den 1950er Jahren vgl. L. Klinkhammer/F. Focardi: Wiedergutmachung für Partisanen? In: H. G. Hockerts/Cl. Moisel/T. Winstel (Hrsg.): Grenzen der Wiedergutmachung. Göttingen 2006. 63 Th. W. Adorno: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, 10 u. 24 f. 64 Vgl. dazu und im Folgenden F. Dunkel/G. Stramaglia-Faggion: A.a.O. 13f. 65 O. Lenz: Im Zentrum der Macht. Düsseldorf 1989. 20. 11. 1951, 178. 66 Zitiert nach F. Dunkel/G. Stramaglia-Faggion: A.a.O. 14. 67 Zitat eines deutschen Botschaftsangehörigen nach einer Visite in Verona, zitiert nach: U. Herbert/K. Hunn: A.a.O. 279. 68 Zitiert nach F. Dunkel/G. Stramaglia-Faggion: A.a.O. 209. 69 Vgl. U. Herbert/K. Hunn: A.a.O. 273 u. 289. 70 U. Herbert: A.a.O. 339. 71 Die Ausstellung fand 2003 in Bochum statt und wurde danach auch in mehreren italienischen Städten präsentiert. 72 Vgl. dazu A. Neuner: A.a.O. 144-153. 73 Einschlägig: Reinhard Meys Song „In Lucianos Restaurant“. 74 Im gleichnamigen Katalog finden sich auch italienische Kontaktadressen. Er kann über den Verein zur Förderung alternativer Medien e.V. Erlangen (www.resistenza.de) bezogen werden. Auf seiner Homepage hat der Verein außerdem Berichte von italienischen Zeitzeugen der deutschen Besatzung (in deutscher Übersetzung) zusammengestellt. Broschüren zu diesem Thema – mit Zeitzeugenberichten – sind ebenfalls kostenlos zu beziehen. 75 Ein Erfahrungsbericht findet sich auf: www.erinnerungsparlament.de 76 Zu den soziopolitischen Voraussetzungen der Durchsetzung des Dönerkebabs vgl. etwa Möhring: TransLokal. In: traverse 2007/3, 85-96.
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Der Dom zu Aachen – Symbol politischer Machtansprüche
Vorbemerkung Bauwerke sind nicht nur Ausdruck eines ästhetischen Willens. Häufig drückt sich in ihnen das gesellschaftliche und politische Selbstverständnis ihres Bauherrn aus. Dies gilt für öffentliche Bauten nicht weniger als für private. Der Bauherr eines Bürgerhauses möchte seine soziale Stellung und seinen Geschmack demonstrieren, die Bank ihre finanzielle Potenz, der Fürst seine politische Macht. Manche Bauwerke sollen aber darüber hinaus einem Volk oder „aller Welt“ nicht nur verkünden, wie reich, mächtig oder kultiviert ihre Erbauer sind; sie sollen ein umfassendes Verständnis von Geschichte und Welt dokumentieren und nahelegen – und dadurch Herrschaft legitimieren. Eines der anschaulichsten Beispiele für diese Absicht ist der Dom zu Aachen. Der Aachener Dom zählt zu den bedeutendsten Bauwerken Europas. Als erstes deutsches Bauwerk überhaupt wurde er von der UNESCO in die Liste der schützenswerten Weltkulturgüter aufgenommen. Von Kaiser Karl dem Großen erbaut und im Jahr 800 eingeweiht war seine Kuppel viele Jahrhunderte lang die größte nördlich der Alpen. Neben seine religiöse Bedeutung, unter anderem als mittelalterliche Wallfahrtsstätte, tritt seine politische. Als Krönungskirche des Deutschen Reiches erlebte er zwischen 936 und 1531 die Krönungszeremonien von 30 deutschen Königen. Kaum ein deutscher Herrscher versäumte es, durch Gaben oder Beiträge zur Renovierung des Domes an seine Amtszeit zu erinnern. Bis in die Gegenwart reicht die Geschichte des Domes als Symbol politischer Herrschaft und Ideen. Der folgende Text beruht auf Erfahrungen, die in zahlreichen Kursen der politischen Bildung – viele im Kontext internationaler Jugendarbeit durchgeführt – gesammelt wurden. Zwei didaktische Ziele stehen dabei im Vordergrund: 1. Am Beispiel des Aachener Domes soll verdeutlicht werden, wie sich der nationale und der europäische Gedanke in einem Sakralbauwerk ausdrücken können. Die Begriffe „national“ und „europäisch“ sind hier in einem weiten Sinne verstanden, wohl wissend, dass das Mittelalter weder die Begriffe Nation noch Europa als politische Ordnungskategorien kannte. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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2. Aufgrund der Klarheit, in der im Aachener Dom politischer Wille seinen Ausdruck in Architektur findet, eignet er sich in herausragender Weise, um exemplarisch den Zusammenhang zwischen Politik und Baukunst zu vermitteln. Im Folgenden soll deshalb dargestellt werden, welche Inhalte hierzu im Rahmen einer eintägigen Bildungsveranstaltung vermittelt werden können. In mehreren Schritten sollen didaktische Zugänge zum Verständnis des Aachener Domes und allgemein der Verwendung von Architektur und Kunst als politische Symbole veranschaulicht werden. Als sinnvoll hat sich die folgende didaktische Struktur erwiesen: 1. Eine Einführung in die politische Ikonographie von Bauwerken, um überhaupt ein Bewusstsein für die Bedeutung von Bauwerken zu vermitteln. 2. Eine kurze Einführung in mittelalterliche Ästhetik, ohne deren Kenntnis die Entschlüsselung des Domes nicht möglich ist. 3. Eine Übersicht über die Geschichte der Franken, um zu verdeutlichen, auf welche historischen Herausforderungen der Dom eine Antwort ist. 4. Die Besichtigung des Domes. 5. Die Auswertung des Dombesuches und die Klärung noch offener Fragen, die die aktuelle Politik berühren. Kurz sollen zunächst die Schritte 1 bis 3 dargelegt werden, da eine ausführliche Darstellung der Inhalte und empfehlenswerten Methoden den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen würde. Dabei werde ich mich darauf beschränken zu zeigen, welche Ergebnisse der drei ersten Lerneinheiten erforderlich sind, um während des Dombesuches den angestrebten Lernerfolg zu sichern.
1 Die politische Bedeutung von Bauten1 Den Jugendlichen sollte zunächst verdeutlicht werden, dass Bauwerke über ihre Funktion hinaus auch eine politisch-gesellschaftliche Bedeutung besitzen können. Dies kann dadurch geschehen, dass anhand von Bildern bestimmter Bauwerke wie Kirchen, Paläste, Burgen, Tempel, Wirtschaft- und Industriegebäude, Bürgerhäuser, Museen, Theaterbauten ihre Funktion beschrieben wird. Dabei sollten die analysierten Gebäude verglichen und die Abhängigkeit der äußeren Gestalt von der Funktion herausgearbeitet werden. Im zweiten Schritt wird die über die Funktion hinausgehende symbolisch-ideelle Bedeutung der Bauten erschlossen unter der Fragestellung: Welche Wirkung übte das Gebäude auf die Menschen aus? So lassen sich Paläste und Bürgerhäuser als Ausdruck nicht mehr martialischer, sondern finanzieller Macht deuten, Kirchen als Symbol des Himmlischen und Gebäude mit kultureller Funktion als kollektive Weihestätten. Ergänzt werden © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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kann die Analyse durch Vermittlung von Faktenwissen. Zu empfehlen ist vor allem, politische Bedeutungen sakraler Bauten an einem allgemeinen Beispiel zu verdeutlichen, etwa an der West-Ost-Achse als Gegenüberstellung von sakraler und weltlicher Gewalt.
2 Mittelalterliche Ästhetik Wer mittelalterliche Bauwerke verstehen will, muss sich klarmachen, dass sich das Bewusstsein des mittelalterlichen Menschen in zwei wesentlichen Beziehungen von dem des heutigen Menschen unterscheidet. Dies betrifft zum einen den Wirklichkeitsbegriff, zum anderen den Kunstbegriff. Für den modernen Menschen ist es selbstverständlich, dass alles, was er mit den Sinnen aufnimmt, weder Wirklichkeit noch ein genaues Abbild von Wirklichkeit ist. Wir haben gelernt, unseren Sinnen zu misstrauen, selbst Messgeräten schenken wir nur noch bedingt Glauben. Deshalb entwickeln wir Theorien über die Wirklichkeit, aber ob diese Theorien stimmen oder nicht, lässt sich nie endgültig sagen. Insbesondere haben wir gelernt, dass wir uns kein komplettes Bild von der Wirklichkeit machen dürfen. Das heißt, wir stellen bestimmte Sachverhalte fest, aber wir sagen nichts mehr darüber aus, welcher Sinn in den Dingen steckt. Den Glauben daran, dass sich ein bestimmter Sinn hinter den Dingen verbirgt – oder dass sich kein Sinn dahinter verbirgt –, nennen wir Weltanschauung. Jeder Mensch hat eine bestimmte Weltanschauung, aber wir betrachten sie als Privatsache, nicht als Wissenschaft. Das war im Mittelalter ganz anders. Der Mensch des Mittelalters glaubt daran, dass die Welt Schöpfung Gottes ist, „ordo“, Gottes Ordnung. Weil dies so ist, gibt es kein Chaos, alle Dinge stehen auf wundervolle Weise miteinander in Beziehung. Wie in einem guten Roman jedes Kapitel aufeinander bezogen ist und seinen Platz hat, wie in einem guten Musikstück jede Note in bewusster Harmonie oder Disharmonie zu anderen Noten steht, so sieht der mittelalterliche Mensch Natur, Gesellschaft, Religion, Politik, Kunst – kurz: alle Gegenstände der Welt als miteinander verbunden an. Weil alles von Gott geschaffen ist, verweist es auf Gott. Das gilt nicht nur für erhabene natürliche Dinge wie majestätische Gebirge oder das unendlich scheinende Meer. Auch die Gesellschaft wird als von Gott geordnet betrachtet – der Herrscher ist somit Herrscher „von Gottes Gnaden“, und nicht weil die Menschen es so wollen. Der König ist nicht König, weil er stärker ist als alle anderen Adeligen oder weil die Mehrheit der Fürsten ihn unterstützt, sondern weil Gott ihn zum König bestimmt hat. Das heißt aber auch, dass er sich dessen bewusst werden muss, dass seine Macht nur geliehen, ein „Lehen“ Gottes ist. Jede Macht ist nur ein Symbol für die viel größere Macht Gottes. Dadurch wird Macht gleichzeitig begründet © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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wie auch relativiert. Der Mensch darf sie nicht zu seinem Nutzen missbrauchen, sondern nur gemäß dem göttlichen Willen. Die Welt ist somit „objektiv“, nicht Produkt von Menschen, sondern einer höheren Macht, der Macht Gottes. Dem Menschen ist es gegeben, diese „objektive“ Wirklichkeit zu erkennen. Er kann in sich ein Bild dieser Wirklichkeit bilden, und je mehr dieses Bild der von Gott geschaffenen Wirklichkeit entspricht, desto mehr Kenntnisse und Wahrheit besitzt er. Seinen bedeutendsten Ausdruck findet dieses Denken in der Philosophie der Scholastik. Ihr Anliegen war es nicht, Neues zu entdecken, wie dies für den Menschen seit der Neuzeit selbstverständlich ist, sondern die objektive Wirklichkeit der Welt besser zu erkennen und besser zu formulieren. Ähnliches gilt für die Kunst. Der Künstler selbst, der seit der Renaissance als der eigentliche „Schöpfer“ des Kunstwerkes betrachtet wird, ist im Mittelalter nichts anderes als eine Mischung aus Handwerker und Wissenschaftler. Ihm kommt es nicht zu, etwas Neues zu schaffen, sondern durch seine Kunst die Wirklichkeit abzubilden. Mit dem Begriff Wirklichkeit ist nicht die äußere Erscheinung eines Gegenstandes gemeint, sondern der Künstler soll durch seine Kunst zeigen, welche Bedeutung im Gesamtgefüge der Welt dem Kunstinhalt zukommt. Wenn Heilige statt vor einer Landschaft vor goldenem Hintergrund dargestellt werden, dann wird dies nicht als unecht empfunden, sondern im Gegenteil: da die goldene Farbe für das Himmlische steht, werden die Heiligen in ihrer eigentlichen Erscheinung, nämlich als Heilige, abgebildet. Die Darstellung ist somit nicht subjektive Interpretation durch den Künstler, wie wir es aus der Moderne kennen, sondern der Künstler macht nur das sichtbar, was „objektiv“ als wirklich verstanden wird. Jedes Kunstwerk ist nicht durch sich selbst schön, sondern weil es auf etwas Höheres verweist und dieses Höhere, diese tiefere Wirklichkeit, in ihm sichtbar wird. Der italienische Kunstwissenschaftler Rossario Assunto definiert dies so: „Für den mittelalterlichen Menschen war das Kunstwerk ein Gegenstand, der die Aufgabe hatte, zu einem bestimmten Zweck nützlich zu sein und gleichzeitig bestimmte Bedeutungen zu übermitteln und bestimmte Wirkungen hervorzurufen.“2 Für eine Kirche kann dies heißen: sie dient einem bestimmten Zweck, nämlich dem Gottesdienst; sie übermittelt eine bestimmte Bedeutung, nämlich die von der Allmacht Gottes; und sie ruft eine bestimmte Wirkung hervor, nämlich Ehrfurcht des Gläubigen. Der mittelalterlich Betrachter wird also niemals denken: So also sieht der Künstler das, sondern immer: So also ist die Wirklichkeit. Dieser Gedanke ist entscheidend, um das Anliegen, das die Bauherren mit der Errichtung des Aachener Domes verbanden, nicht misszuverstehen. Wenn der Dom dazu diente, die politische Bedeutung zunächst Karls des Großen und später der deutschen Könige und Kaiser vorzustellen, so heißt das nicht, dass im modernen Sinne Propaganda betrieben werden sollte. Es bedeutet lediglich, dass © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Karl als ursprünglicher Bauherr und die deutschen Könige in seiner Nachfolge in und mit dem Dom die von ihnen geglaubte Realität sichtbar machen wollten. Dies war gemäß der mittelalterlichen Kunsttheorie nur deshalb möglich, weil das Ergebnis der Realität entsprach. Eine besondere Bedeutung kommt hierbei der Materie zu. Während in der modernen Kunst die materielle Seite des Kunstwerks eher etwas Akzidentielles ist, gehört sie im Mittelalter wesentlich zum Kunstwerk hinzu. Auch das Material verweist auf etwas Höheres, und zwar nicht nur, weil sie in entsprechender Weise bearbeitet wird. Wenn deshalb große Mengen an Geld und Mühen investiert werden, um z.B. bestimmte Baumaterialien zu erhalten oder Gegenstände aus dem Süden Europas in den Norden zu transportieren, dann nur deshalb, weil Material oder Gegenstand selbst in Verbindung mit einer höheren Wirklichkeit stehen. Während ähnliche Praktiken seit der Neuzeit eher symbolischen Charakter haben, kommt ihnen in Mittelalter eine unmittelbare Bedeutung zu.
3 Historische Grundkenntnisse als Voraussetzung Um die politischen Dimensionen des Aachener Doms zu verstehen, sind vor allem Grundkenntnisse der fränkischen und deutschen Geschichte unerlässlich. Wichtig ist zu erkennen, welche politischen Motive Bauherrn haben können, um ihre Machtansprüche zu legitimieren. Karl der Große kann hier als Paradigma gelten. Karl gilt nicht nur als herausragende Figur der europäischen Geschichte, weil er nach der Völkerwanderung die Grundlagen des mittelalterlichen – und in gewisser Weise auch des heutigen – Europas schuf. Es kommt ihm das Verdienst zu, deutlicher als viele andere erkannt zu haben, dass eine stabile politische Macht nicht nur auf militärischer Kraft bauen kann. Sie bedarf darüber hinaus einer Akzeptanz in allen Teilen des Volkes, das heißt, sie muss von allen als legitimiert verstanden werden. Karl musste sich Legitimation in zweierlei Hinsicht verschaffen: zum einen als König seines eigenen Volkes, der Franken, zum anderen als Herrscher über einen großen Teil Europas – und damit über andere Völker. Die „Karolinger“ – und damit sind auch schon Karls Vorfahren gemeint – hatten sich die Königswürde der Franken auf eine nicht legale Weise verschafft, nämlich durch den Sturz des Hauses der Merowinger. Seit 639, dem Tod des Merowingerkönigs Dagobert I., übten sie als „Hausmeier“ die eigentliche Macht im Frankenreich aus. 751 ließ sich Pippin der Jüngere vom Papst zum König krönen und schickte den letzten Merowingerkönig Childerich III., der faktisch bereits keine Macht mehr besaß, ins Kloster. Bis zu Karl mehrten die Karolinger zwar faktisch ihre Macht, standen aber dennoch unter einem Legitimitätsvorbehalt. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Ganz ähnlich verhielt es sich auf europäischer Ebene. Schon früh hatten die Karolinger ihren Machtanspruch über die Grenzen ihres Reiches geltend gemacht und zahlreiche Gebiete erobert. Legendär ist die Schlacht bei Poitiers (732), in der Karls Großvater Karl Martell die Araber vernichtend schlug und so dem Vormarsch des Islam auf Mitteleuropa ein Ende setzte. Er unterstrich damit auch den Anspruch der Franken, die zentrale christliche Macht Europas zu sein. Deutlich wird dies auch im Beistand, den Karls Vater, Pippin der Jüngere, dem Papst zukommen ließ, als dieser durch den langobardischen König Aistulf bedroht wurde. Pippin zwang die Langobarden, die Bedrohung des Papstes aufzugeben, und gründete den Kirchenstaat, der bis 1870 Bestand haben sollte. Karl war gezwungen, sowohl den dauerhaften Anspruch auf die fränkische Krone als auch die europäische Vorherrschaft als Kaiser zu legitimieren. Er tat dies, indem er zwei sehr unterschiedliche Stränge nutzte: zum einen den der historischen Entwicklung Europas, als dessen großes Vorbild stets das römische Imperium gegolten hatte, zum anderen den des sich immer mehr im Volke etablierenden christlichen Glaubens mit seiner biblischen Überlieferung. Die Aachener Pfalzkapelle war für ihn der Ort, an dem er allen sichtbar beide Aspekte, den römischen und den biblischen, verbinden und eine Interpretation der Geschichte vorweisen wollte, die dem Menschen seiner Zeit die Berechtigung seiner Herrschaft einsichtig machen sollte. Mit Beginn des Hochmittelalters, also seit der Königskrönung Ottos I. im Jahr 936, diente der Aachener Dom den deutschen Königen zur Legitimation ihres Machtanspruches in Europa. Zahlreiche Könige haben durch Baumaßnahmen oder Geschenke versucht, auf das äußere und innere Bild des Domes Einfluss zu nehmen und dadurch einen Beitrag zur Legitimation ihrer Herrschaft zu leisten. Dabei spielte der Bezug zu Karl dem Großen als vermeintlichem Urvater des Reiches eine wesentliche Rolle – was auch zum Versuch der Heiligsprechung auf Initiative Friedrichs I. führte. Nach Ende des Mittelalters erlangte der Dom neue Bedeutung als Magnet für Pilger und Reisende und wurde damit zu einem Wirtschaftsfaktor für die gesamte Region. Im 20. Jahrhundert geriet mit der Entstehung des modernen europäischen Gedankens auch seine historische Bedeutung für die Idee Europa wieder stärker in den Mittelpunkt.
4 Die Dombesichtigung Bevor man mit der Führung durch den Dom beginnt, sollte man sich die wesentlichen herrschaftsbegründenden Funktionen verdeutlichen, die der Dom im Interesse seines Erbauers erfüllen sollte und auch tatsächlich erfüllt: Er sollte Karls innerfränkische Herrschaft begründen. Hierzu war es erforderlich, © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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dass er die Gottgewolltheit der Herrschaft Karls deutlich machen, er musste Karl also in einen heilsgeschichtlichen Zusammenhang stellen. Der Dom sollte Karls europäische Vormachtstellung anschaulich machen. Dies konnte er vor allem dadurch, dass er die Herrschaft Karls in einen Kontext mit der antiken römischen Weltherrschaft stellt und das fränkische Reich als legitimen Nachfolger des römischen Reiches interpretierte. Der Dom sollte die Rolle der deutschen Könige als Nachfolger Karls des Großen – und damit als Führer der Christenheit – anschaulich machen.
4.1 Die Außenansicht Es ist ratsam, sich zunächst von außen einen Überblick über das gesamte Kirchengebäude zu verschaffen. Hierzu wählt man sinnvollerweise den Katschhof, den Platz zwischen Dom und Königshalle, an deren Stelle heute das Aachener Rathaus – auf den Fundamenten des alten Karlspalastes – steht. Man blickt nun von Norden auf den Dom und erkennt sehr leicht die Dreiteilung: im Osten die gotische Chorhalle, die 1414 vollendet wurde, in der Mitte die alte achteckige Pfalzkapelle mit ihrem im 17. Jahrhundert aufgestockten Kuppeldach und daran anschließend den Westturm über dem Eingang, der erst 1850 erbaut wurde. Der untere Teil der Pfalzkapelle, der ein Sechzehneck bildet, wird weitgehend durch in späterer Zeit angebaute Kapellen verdeckt, die Hubertus- und Karlskapelle im östlichen und die Nikolaus- und Michaelskapelle im westlichen Bereich. Im 15. Jahrhundert war der Plan entstanden, die gesamte Pfalzkirche von einem Kapellenkranz zu umlagern, konnte dieses Vorhaben aber nicht vollenden. Umläuft man den Dom nun in östlicher Richtung, fallen die hohen Fenster des Chores auf, die zu den größten Kirchenfenstern der Welt zählen. An den Ostchor schließen sich mit der Matthias-, Anna- und Ungarnkapelle drei weitere Bauten an. Vor dem Westportal des Doms befindet sich ein Hof, das Atrium, der heute noch die gleichen Ausmaße besitzt wie zur Zeit Karls des Großen. Genau in der Mitte verläuft quer über den Platz ein Wasserkanal, durch den ein Brunnen gespeist wurde. Von hier aus hat man einen guten Blick auf das Westwerk des Domes. Zu erkennen ist noch die Westnische, hinter der sich im Inneren der Königsstuhl befindet. Es entsprach einer alten durch das ganze Mittelalter wirksamen Tradition, in Königskirchen das Westwerk der weltlichen Macht vorzubehalten. Karl konnte sich von hier aus seinem im Atrium versammelten Volke zeigen. Flankiert wird die Westnische von zwei Treppentürmen. Insgesamt bot das Westwerk zur karolingischen Zeit einen burgartigen, fast martialischen Anblick, der die Bedeutung des Kaisers als Verteidiger des Christentums betont. Da das Westwerk erst nachträglich dem Oktogon hinzugefügt wurde – allerdings im unmittelbaren Anschluss an dessen Fertigstellung – wird davon ausgegangen, dass es in der Tat die Position des Glaubensverteidigers demonstrieren soll. Während die Bauplanung © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Blick von Norden. Rechts: Westturm, links: gotische Chorhalle, Mitte: karolingische Pfalzkapelle
des Oktogons zu einer Zeit stattfand, als Karl noch nicht mit einer Kaiserkrönung rechnen konnte, wurde das Westwerk vermutlich erst angebaut, als Karl schon im Besitz der Kaiserwürde war. Das Westwerk hat damit nicht mehr unmittelbar die Aufgabe, Karls Führungsanspruch zu begründen, sondern nur noch die, ihn auszudrücken.3 Man betritt den Dom vom Westportal her durch eine Einganghalle, die 1788 erbaut wurde. Ursprünglich war der Eingangsbereich vermutlich offen. Als erstes fallen dem Besucher die beiden großen Bronzetüren auf, die in die Vorhalle führen und ca. 3,9 x 1,3 Meter groß sind. Sie standen ursprünglich zwischen Oktogon und Vorhalle, wurden aber 1788 zum Abschluss der Eingangshalle versetzt. Jede Tür besteht aus acht rechteckigen Bronzetafeln, von denen jede 2.150 kg wiegt. Anfang des 20. Jahrhunderts fand man auf dem Katschhof die Überreste einer © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Eisenhütte, die nahelegen, dass die schweren Türen hier entstanden sind. Es handelte sich um die erste Gießhütte nördlich der Alpen seit der Römerzeit. Erst Jahrhunderte später sind den Bronzetoren vergleichbare Produkte im nördlichen Europa entstanden, ein Zeichen dafür, welche Bedeutung das Aachener Dombauprojekt in seiner Zeit besaß.
4.2 Die Eingangshalle In der Eingangshalle sehen wir zwei große Bronzeskulpturen, einen Pinienzapfen sowie das lebensgroße Abbild einer Wölfin. Seit dem späten Mittelalter wird berichtet, dass beide zur Zeit Karls des Großen im Hof vor dem Dom, dem Atrium gestanden hätten. Es ist zwar historisch nicht zu belegen, ob die Figuren ursprünglich überhaupt im Bereich des Domes aufgestellt waren, zeigt aber, in welchen Deutungszusammenhang beide Figuren von späteren Zeiten gebracht wurden. Gesichert ist hingegen, dass die Wölfin zur Zeit Kaiser Marc Aurels, also zwischen 160 und 180 n. Chr. in Rom gegossen wurde. Es darf davon ausgegangen werden, dass Karl sie nach Aachen transportieren ließ, weil er darin ein Abbild der römischen Wölfin sah, die der Sage nach die Gründer Roms, Romulus und Remus, genährt hatte. Ikonographisch steht die Wölfin schon seit der Antike für Macht und Stärke. Gegenüber der Wölfin befindet sich ein 91 cm hoher bronzener Pinienzapfen, die Pigna. Es ist nicht gesichert, ob es sich dabei ebenfalls um ein antik-römisches Kunstwerk, ein Produkt der karolingischen Wertstätten oder ein erst in ottonischer Zeit entstandenes Objekt handelt. An den Sockelecken befanden sich Darstellungen der vier Paradiesesströme. Der Sockel war von vier Seitenflächen umfasst, von denen noch zwei erhalten sind, und die die folgende Aufschrift zeigen: „Ursprung allen Gewässers, reichen der Erde die Flur dar: Euphrat, der fruchtbare Fluss, und pfeilschnell eilend der Tigris; goldhaltig der Phison und Gehon mit sanfteren Wellen; Fromm singt Dank dem Schöpfer der Dinge Udalrich unser Abt.4 Die Spitzen der 129 Blätter der Pigna zeigen kleine Löcher, die darauf deuten, dass sie ursprünglich als Brunnenfigur verwendet wurde, und es gilt heute als wahrscheinlich, dass sie in der Mitte des Domvorhofes stand. Die Symbolik der vier Paradiesesflüsse lässt vermuten, dass der Vorhof das Paradies symbolisieren sollte. Ikonographisch steht der Pinienzapfen auch für Fruchtbarkeit, eine ebenfalls sinnvolle Ergänzung zum Symbol der Stärke durch die Wölfin. Zwei weitere Parallelen zu Rom sind denkbar: Die Wölfin erinnert an die Figur der Wölfin vor dem Papstpalast des Lateran, die Pigna an den Pinienzapfen, der den Paradiesbrunnen im Vorhof der alten Peterskirche in Rom schmückte. Beide Figuren signalisierten dem mittelalterlichen Menschen, dass die Herrscher dieses Domes Nachfolger des römischen Reiches sind und somit legitim die europäische Vormachtstellung in Anspruch nehmen dürfen. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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4.3 Der Dom Karls des Großen – Architektur und Ausstattung 4.3.1 Das karolingische Oktogon Über mehrere Stufen betreten wir nun den Kern der alten Pfalzkapelle, das Oktogon. Die Mitte des Raumes bildet ein Achteck, das durch schwere Säulen eingefasst ist. Außen herum läuft ein Umgang, der ein Sechzehneck bildet. Dies lässt den Eindruck entstehen, es handele sich um einen fast runden Raum. Blicken wir in die Höhe, sehen wir im Bereich des Umgangs eine viergeteilte Anlage. Über dem Erdgeschoss befindet sich ein zweites Geschoss, das durch eine doppelte Säulenreihe zum achteckigen Mittelraum abgetrennt wird und so eine Zweigeschossigkeit vortäuscht. Darüber erhebt sich die Fensterreihe, die von der Kuppel überwölbt wird. In vielfältiger Weise symbolisieren der architektonische Aufbau des Domes und seine Zahlenmaße den Anspruch Karls, legitimer Nachfolger des Römischen Reiches und politischer Führer der Christenheit zu sein. In der Symbolik der geometrischen Formen steht der Kreis für das Göttliche. Aniela Jaffé zeigt, dass der Kreis in allen Religionen auf „die ursprüngliche Ganzheit“5 verweist. Diese Bedeutung des Kreises rührt von seiner Geschlossenheit, die weder Anfang noch Ende kennt, also zum Zeichen der Unendlichkeit wird. Ihm gegenüber steht das Quadrat als Symbol alles Irdischen; es verweist z.B. auf die vier Himmelsrichtungen oder die antiken vier Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde. Das Oktogon als geometrische Umsetzung der Zahl 8 bildet zunächst die Mitte zwischen Viereck und Kreis, vermittelt also zwischen der göttlichen und irdischen Sphäre. Es waren die römischen Kaiser gewesen, die sich als göttliche Menschen – damit als zwischen Himmel und Erde stehend – interpretiert hatten. Darüber hinaus „erscheint die 8 (sowohl als Neues nach der ‚bösen Sieben‘,6 wie als noch nicht erreichte Vollendungszahl 9 [...]) als Sinnbild der Weihe zur Pflichterfüllung im Streben nach Vollendung und damit auch als eine Rettungs- und Glückszahl“.7 Bedeutsam scheint der alttestamentarische Zusammenhang dadurch, dass der Tempel Salomons nach siebenjähriger Bauzeit im achten Jahr geweiht wurde. Und zur Zeit Karls datierte man Jesu Erscheinung nach der Auferstehung auf den Tag nach dem Sabbath, also den achten Tag. Es wird deutlich, dass die Symbolik des Neuanfangs offensichtlich eines der Motive für die Wahl des Oktogons als Grundform des Domes war. Das Sechzehneck, also die Form des Umgangs, ist dann eine noch größere Annäherung des Quadrats an den Kreis. Sie wird auch als Zahl der Vervollkommnung des Irdischen gesehen, da sie die differenziertere Form der 16 Weltgegenden verkörpert.8 Übersetzt kann dies heißen: Mit dem Reich Karls des Großen hat die Weltgeschichte ihre von Gott gewollte Form gefunden. Ein zweiter Zugang zur Bedeutung der Bauform des Domes findet sich in der architekturhistorischen Ebene. Unmittelbares Vorbild des Aachener Domes war © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Blick von Nordosten auf die Pfalzkapelle
San Ravenna, di die H Hofkirche S Vitale Vit l iin R fki h des d byzantinischen b ti i h Kaisers Justinian des Großen (482-565). Karl der Große hatte sie bei seinem Aufenthalt in Ravenna im Jahr 787 kennengelernt. Auch hier findet sich die Form des kuppelgewölbten Oktogons, also des Zentralbaus, allerdings ohne das karolingische Westwerk. Dieses geht wohl auf den römischen Einfluss zurück, indem die Polarität von geistlicher und weltlicher Macht durch die Gegenüberstellung des dem Altar vorbehaltenen Ostwerks mit dem dem Herrscher vorbehaltenen Westwerk verdeutlicht wird. Die Bedeutung des Bezugs auf diese Vorbilder ist nur zu deutlich. Karl reklamiert für sich die Nachfolge der oströmischen Kaiser, die seit dem Ende des weströmischen Kaisertums den Alleinanspruch als höchste Verteidiger des Christentums erhoben hatten. Aachen wird damit zur „Roma secunda“, zum zweiten Rom, das Byzanz – bzw. Konstantinopolis – ablösen soll. Aber nicht nur durch diese historische sowie die vorher beschriebene geometrischsymbolische Anspielung stellt sich Karl in heilsgeschichtliche Zusammenhänge. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Vorlage für den Bau des Domes bietet nämlich das 21. Kapitel der Offenbarung des Johannes (auch „Apokalypse“ genannt). Hier wird die Vision des himmlischen Jerusalem beschrieben, das am Ende der Welt die Herrschaft Gottes manifestiert: Da entrückte er mich in der Verzückung auf einen großen, hohen Berg und zeigte mir die heilige Stadt Jerusalem, wie sie von Gott her aus dem Himmel herabkam, erfüllt von der Herrlichkeit Gottes. Sie glänzte wie ein kostbarer Edelstein, wie ein kristallklarer Jaspis. Die Stadt hat eine große und hohe Mauer mit zwölf Toren und zwölf Engeln darauf. Auf die Tore sind Namen geschrieben: die Namen der zwölf Stämme der Söhne Israels. Im Osten hat die Stadt drei Tore und im Norden drei Tore und im Süden drei Tore und im Westen drei Tore. Die Mauer der Stadt hat zwölf Grundsteine; auf ihnen stehen die zwölf Namen der zwölf Apostel des Lammes. Und der Engel, der zu mir sprach, hatte einen goldenen Messstab, mit dem die Stadt, ihre Tore und ihre Mauer gemessen wurden. Die Stadt war viereckig angelegt und ebenso lang wie breit. Er maß die Stadt mit dem Messstab; ihre Länge, Breite und Höhe sind gleich: zwölftausend Stadien. Und er maß ihre Mauer; sie ist hundertvierundvierzig Ellen hoch nach Menschenmaß, das der Engel benutzt hatte. Ihre Mauer ist aus Jaspis gebaut, und die Stadt ist aus reinem Gold, wie aus reinem Glas. [...] Einen Tempel sah ich nicht in der Stadt. Denn der Herr, ihr Gott, der Herrscher über die ganze Schöpfung, ist ihr Tempel, er und das Lamm. Die Stadt braucht weder Sonne noch Mond, die ihr leuchten. Denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie, und ihre Leuchte ist das Lamm. Die Völker werden in diesem Licht einhergehen, und die Könige der Erde werden ihre Pracht in die Stadt bringen.9 Eine für die Maße des Domes zentrale Aussage ist die Länge des Heiligen Jerusalem mit 144 Ellen. Die Zahl 144 entspricht 12 x 12. 12 wiederum ist eine heilige Zahl, weil sie das Produkt aus 3 und 4 ist, wobei 3 für die Göttlichkeit (Dreifaltigkeit), 4 für die Welt (vier Himmelsrichtungen) steht. Die Baumeister des Domes übersetzten die biblischen Ellen in karolingische Fuß, die eine Länge von 33,3 cm haben. Die Gesamtlänge des Domes beträgt 144 Fuß, also 48 Meter. Genau dieselbe Zahl erreicht der Umfang des Oktogons. Das Oktogon selbst misst 7 x 12 Fuß (ca. 28 m), und zwar in Länge, Breite und Höhe, womit die Forderung des 16. Verses erfüllt ist, nach der das Himmlische Jerusalem ebenso hoch wie lang wie breit ist. Der gesamte Dom ist also als ein Abbild des Himmlischen Jerusalems zu verstehen. Karl sieht sich selbst somit als Herrscher, der die Voraussetzungen für das kommende Reich Gottes schafft.
4.3.2 Ausstattung Aber nicht nur in mathematischen und geometrischen Zusammenhängen, sondern auch in den Einrichtungsgegenständen der Kirche zeigt sich der Anspruch Karls © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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und seiner Nachfolger. Steht man im Oktogon und blickt zum oberen Geschoss hoch, so fällt die Doppelreihe schlanker Säulen ins Auge. Karls Biograph Einhard erwähnt die Säulen und ihre Herkunft ausdrücklich.10 Bereits 787 hatte Karl Papst Hadrian in einem Schreiben gebeten, ihm Materialien aus Rom und Ravenna für die geplante Pfalzkapelle zuzuschicken. Auch hierdurch sollte verdeutlicht werden, dass seine Herrschaft in der Tradition der römischen und byzantinischen steht. Einen Abschluss des oberen Umgangs zum Oktogon bilden acht Bronzegitter. Auch sie stammen aller Wahrscheinlichkeit nach aus der Gießhütte Karls. Sie waren mit Sicherheit ursprünglicher Schmuck des Domes, denn sie werden bereits 796 in der „Chronicon Moissiaconse“ erwähnt. Die Gitter weisen unterschiedliche Formen auf, die vielfach auf römische Vorbilder aus der Zeit Kaiser Augustus zurückgehen. Im Westteil des oberen Umgangs, unmittelbar dem Hochaltar gegenüber, befindet sich der Krönungsthron der deutschen Könige, nach seinem Stifter auch „Karlsthron“ genannt. Vier steinerne Stufen auf einer Grundplatte führen zu einer Steinplatte, auf der der Thron steht, ein mit Marmorplatten verkleideter Holzsitz, der somit über sechs Stufen erreicht wird. Dies entspricht der Beschreibung des Thrones Salomos im Alten Testament, ein weiteres Symbol für Karls Anspruch, sich in die Reihe gottgewollter Herrscher der Heilsgeschichte einzureihen. Auf der südlichen Marmorplatte des Thrones kann man die Zeichnung eines antiken Mühlespiels erkennen. Römische Soldaten hatten solche Spielpläne häufig in die Platten von Palästen gezeichnet, in denen sie Wache standen, um sich durch Spielen die Zeit zu vertreiben. Es ist deshalb mit großer Sicherheit davon auszugehen, dass die Marmorplatten des Throns aus einem antiken Palast aus dem ostmediterranen Raum stammen, wobei aufgrund von Bemerkungen in den Reichsannalen Vermutungen existieren, sie seien aus dem Palast in Jerusalem nach Aachen gebracht worden, um auch materiell an die jüdische gottgewollte Herrschaft anzuschließen. Die Tatsache, dass es sich um offensichtlich bereits in anderer Funktion verwendete Platten handelt, lässt den Schluss zu, dass ihr Reliquienwert höher bewertet wurde als ihr ästhetischer. Darüber hinaus barg der Thron offensichtlich die Möglichkeit, Heiligenreliquien wie die Stefansbursa in ihm unterzubringen, womit sich sein ideeller Wert nochmals erhöht. Die Bedeutung des Thrones ist unbestritten. Es ist historisch gesichert, dass Otto der Große 936 auf diesem Thron gekrönt wurde, und bis 1531 weitere 30 deutsche Könige. Der Raum unter dem Thron ist groß genug, dass die Vasallen unter ihm hindurchkriechen konnten als Zeichen ihrer Unterordnung. Als Napoleon nach der Eroberung Aachens erstmals den Dom besichtigte, setzte er sich mit den Worten „Je suis Charle Magne“ auf den Krönungsthron; und selbst Hermann Göring ließ sich hier anlässlich einer Dombesichtigung nach der Machtergreifung nieder.11 © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Blickt man in die Kuppel des Oktogons, so sieht man dort ein Mosaik, das Christus als den Weltenherrscher zeigt, dem – wie in der Apokalypse beschrieben – die 24 Ältesten huldigen, indem sie ihm ihre Kronen darbieten. Das heutige Mosaik stammt aus dem 19. Jahrhundert und ist einem mittelalterlichen nachgebildet, das vermutlich zur Zeit der Staufer entstand. Man geht davon aus, dass sich hier zu Karls Zeiten Fresken befanden. Untersuchungen am Untergrund des jetzigen Mosaiks lassen den Schluss zu, dass in der Mitte der Kuppel die Figur eines Lammes abgebildet war, ein Motiv, das Karl ebenfalls aus Rom gekannt hat. Gesichert ist, dass auch hier der Bezug zur Offenbarung des Johannes vorlag und die 24 Ältesten bei der Huldigung des Erlösers zu sehen waren. Ganz offensichtlich wurde die Figur des Lammes in staufischer Zeit durch die des herrschenden Christus ersetzt. Das Motiv verweist schon in römischer Zeit auf ein ähnliches des antiken Roms, das Aurum-Coroniarium-Motiv. Hiermit wurden Darstellungen bezeichnet, in denen die Vertreter unterworfener Völker dem römischen Imperator goldene Kränze darbringen. Es sollte also offensichtlich eine Analogie zwischen Christus, dem Weltenrichter, und dem König bzw. Kaiser hergestellt werden, die dessen heilsgeschichtliche Funktion untermauert. Karl hat somit durch Architektur und Ausstattung des Domes beide zentrale Linien verdeutlichen wollen: seine Rolle als Nachfolger der römischen Kaiser und seinen Anspruch als führender christlicher Herrscher, der den Weg in das Himmlische Jerusalem bereitet.
4.4 Der Dom zur Zeit der Ottonen Mit der Teilung des fränkischen Reiches in zunächst drei, dann zwei Reiche wird der Grundstein für das spätere Deutsche Reich und Frankreich gelegt. Sowohl das deutsche wie auch das französische Königtum berufen sich auf Karl den Großen zur Legitimation ihrer Herrschaft. Zahlreiche deutsche Könige nutzen den Aachener Dom, um ihre rechtmäßige Nachfolge augenscheinlich zu machen. Sie versuchen damit nicht nur, ihre Herrschaft über die – ursprünglich ostfränkischen – Teile Deutschlands zu legitimieren, sondern ebenso ihre Vormachtstellung in Europa, die sich in der Verleihung der Kaiserwürde durch den Papst ausdrückte. Karl selbst hatte im Jahre 813 seinen Sohn Ludwig den Frommen im Aachener Dom zum Mitkaiser gekrönt. Nur vier Jahre später erhielt Karls Enkel Lothar I. an gleicher Stelle die Kaiserkrone durch seinen Vater Ludwig. Damit wurde die Tradition begonnen, in der sich zahlreiche Deutsche Könige im Aachener Dom krönen ließen. Otto I. (der Große) wurde als erster deutscher nachkarolingischer König im Jahr 936 im Dom zum König gekrönt. Mit der Wahl des Ortes stellte er sich in offene Konkurrenz zu Ludwig IV., der im gleichen Jahr zum westfränkischen Herrscher gekrönt worden war. 925 war zudem Lotharingen durch Heinrich I. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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in das ostfränkische Reich eingegliedert worden, nachdem es sich unter Konrad I. dem westfränkischen angeschlossen hatte. Mit der Zeremonie in Aachen, der bedeutendsten Königspfalz Lotharingens, sollte neben dem Anspruch auf die legitime Vorherrschaft über das Frankenreich die Zugehörigkeit Lotharingens zum ostfränkischen Reich und zum Geschlecht der Ottonen Ausdruck erhalten. 961 wurde Ottos Sohn Otto II. im Dom gekrönt. Er verlieh der Pfalzkapelle fünf Jahre später das Recht, ihren Probst frei zu wählen, und hob sie damit in besonderer Weise hervor. Otto III., Sohn Ottos II., erhielt am Weihnachtsfest 983 im Dom im Alter von nur drei Jahren die Königswürde. Er fühlte sich in besonderer Weise Zeit seines Lebens dem Dom verbunden. Eines der kostbarsten Geschenke, die er der Kirche machte, ist der Goldaltar, die „Pala d’oro“.12 Siebzehn Einzelreliefs bilden einen Zyklus, auf dem das Leiden Jesu Christi zu erkennen ist. In welcher Zusammenstellung die einzelnen Teile zur Zeit Ottos im Dom angebracht waren, lässt sich heute nicht mehr mit Sicherheit nachvollziehen. Kaiser Wilhelm I. ließ sie im Jahr 1872 in einen neuromanischen Rahmen fassen. Im Jahr 1951 wurden die Goldplatten dann an ihrem heutigen Platz vor dem Hauptaltar angebracht. Als erstes fällt der Blick auf die Mandorla mit dem thronenden Christus in der Mitte der Gesamtkomposition. In der Rechten hält er das Kreuz, in der Linken das Buch des Evangeliums. Links von ihm ist Maria zu erkennen, die Schutzpatronin der Kirche. Zur Rechten finden wir aber nicht – wie unter dem Kreuz, den Lieblingsjünger Johannes, sondern den Erzengel Michael, der mit einer Lanze den Drachen bezwingt. Es scheint so, als seien Maria und Kreuz, Evangelium und Erzengel gegenübergestellt. Während durch erstere das Duldsame des Christentums symbolisiert ist, deuten die letzteren auf das Kämpferische. Die zehn rechteckigen Reliefs geben die Leidensgeschichte wieder, beginnend mit dem Einzug in Jerusalem bis zur Szene des leeren Grabes. Die Reliefs zeigen Christus – abgesehen von der Ölbergszene – nicht als menschlich Leidenden, sondern immer schon im Verweis auf die Auferstehung. Tatsächlich war es in der Ottonischen Zeit sehr ungewöhnlich, Darstellungen der Leidensgeschichte mit der Auferstehung enden zu lassen. Dagegen korrespondiert im Aachener Zyklus der auf einem Stuhl sitzende (!) Christus beim Empfang der Dornenkrone mit dem thronenden Christus im Mittelpunkt der Gesamtkomposition. Ebenso verrät die Darstellung des Gekreuzigten keinen Schmerz, während die der Kreuzigung zugeordneten römischen Soldaten Longinus und Stephaton mit ihrer Gestik Erstaunen und Verwirrung ausdrücken und damit auf den Fortgang des Geschehens zur Auferstehung verweisen. Vielfältig sind wie schon bei den Maßeinheiten des karolingischen Domes auch im Fall des Goldaltars die Bezüge zur Offenbarung des Johannes. Im fünften Kapitel wird beschrieben, wie das Lamm (Christus) aus der Hand des auf dem Thron sitzenden Gottes das „Buch“ empfängt, das für die Heilsgeschichte und © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Erlösung steht. Die Szene deutet der Goldaltar dahin um, dass Christus direkt auf dem Thron, das Buch in den Händen, dargestellt wird. Somit weist die gesamte Komposition auf die Erlösung der Welt. Indem Christus selbst auf den Thron gesetzt wird, die Rolle des „Lammes“ durch die des „Herrschers“ ersetzt wird, verbinden sich in seiner Person „Liturgie und Herrschaftsausübung, Kaiserherrschaft und Weltherrschaft Christi, Gnade Gottes und Auftrag des Herrschers“;13 auch die Darstellung des Erzengels anstelle des Lieblingsjüngers weist auf diese Doppelfunktion hin. Das Relief dient somit dazu, Herrschaft in der Nachfolge Christi zu legitimieren und mit sakraler Würde auszustatten. Dadurch, dass der Zyklus mit der Darstellung des Einzugs in Jerusalem, der seit dem 4. Jahrhundert in der bildenden Kunst als Einzug des Kaisers dargestellt wurde, beginnt, kann zudem ein Verweis auf das Reisekönigtum der Ottonen gesehen werden. Ein Beleg für die Eigeninterpretation der Ottonen in ihrer heilsgeschichtlichen Rolle kann auch darin gesehen werden, dass Otto III. im Gegensatz zu allen bisherigen Gebräuchen am Ostersonntag des Jahres 1002 im Aachener Dom begraben wurde. Der Goldaltar ist nicht das einzige Geschenk, das Otto III. dem Aachener Dom macht. In der Schatzkammer findet sich das Lotharkreuz, das um 1000 entstand. Es zeigt auf der einen Seite das Bild des Gekreuzigten, über dem die Hand Gottes erscheint, die einen Lorbeerkranz hält, in dem eine Taube sitzt. Sie deuten auf den Sieg, den Christum im Kreuzestod errungen hat. Auf der Rückseite des Kreuzes findet sich im Schnittpunkt der Balken ein Bild des römischen Kaisers Augustus, dessen Haupt ebenfalls durch einen Lorbeerkranz verziert ist. Am unteren Teil des Kreuzes findet sich noch eine Inschrift im karolingischen Siegelschnitt; dort ist zu lesen: XPE ADIVVA HLOTARIVM REG, übersetzt: „Christus, hilf dem König Lothar“. Gemeint ist hier Lothar II. von Lothringen (855-869). Auch dies dient Otto dazu, eine Gleichsetzung von Christus und Kaiser anzudeuten, gleichzeitig aber auch die karolingisch-ottonischen Herrscher in deren Nachfolge zu setzen. Rechts vom Hauptaltar sieht man die Kanzel, den „Aachener Ambo“. Er wurde von Heinrich II. Anfang des 11. Jahrhunderts gestiftet, was durch eine Inschrift des Stifters belegt wird. Er besteht aus einem Halbzylinder in der Mitte und zwei Viertelzylindern an den Seiten, die die Form eines durchgeschnittenen Kleeblatts nahelegen. Im Mittelteil finden sich drei Reihen von je drei Kunstgegenständen, in den äußeren Teilen jeweils eine Reihe. Die neun Felder des mittleren Teils sind so angeordnet, dass die vier Ecken von Goldreliefs der Evangelisten gebildet werden, während die übrigen fünf Felder aus Schalen bestehen, die eine Kreuzform ergeben. In den sechs Feldern der äußeren Bereiche des Ambos finden sich Elfenbeinschnitzereien. Die gesamte Kanzel ist goldverziert und mit zahlreicheren kleinen Edelsteinen und 27 Schachfiguren geschmückt. Die Kanzel ist in der christlichen Liturgie einer der Orte, von dem aus das Wort Gottes verkündet wird. Während der Königskrönungen im Aachener Dom © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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war es dem neuen König selbst vorbehalten, von der Kanzel aus das Evangelium vorzulesen. Dadurch wurde die Aufnahme des Königs unter die Stiftsherrn symbolisiert. Über seine weltliche Funktion des Herrschers erhielt er somit gleichzeitig eine geistliche. Die in dem Ambo eingegliederten Kunstgegenstände sind teilweise heidnischen Ursprungs und stammen mit großer Sicherheit aus Byzanz. Dies gilt im Besonderen für die auf den äußeren Bahnen befindlichen Elfenbeinschnitzereien. Es gilt als sicher, dass sie Teile des Brautschatzes der byzantischen Prinzessin Theophanu (955991) waren, die 972 mit Otto II. vermählt wurde, um einen Ausgleich zwischen ost- und weströmischem Kaisertum zu finden. Die Schnitzereien stellen heidnische Gottheiten wie Bacchus und Isis, mythologische Figuren wie Wassernymphen sowie einen heidnischen Herrscher und einen Reiter dar. Das Gemmenkreuz, das den Mittelteil der Kanzel bildet, ist nicht in seiner ursprünglichen Form erhalten. Die in der Mittelachse befindliche Rippenschale, die aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert stammt, wurde erst bei einer Restaurierung im 20. Jahrhundert dort angebracht, da das ursprüngliche Mittelstück verloren gegangen war. Dabei handelte es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um den seit 1750 in Wien befindlichen Adler-Kameo, der ein Siegeszeichen des Kaisers Augustus war.14 Die Maße des Kameo passen exakt zu dem Mittelstück des Ambos. Zudem befindet sich ein weiteres Kameo des Augustus an gleicher zentraler Stelle des Lotharkreuzes. Der Ambo wird somit in seiner Verbindung von Funktion und Komposition und zu einem Symbol für das ottonische Weltbild des frühen 11. Jh. Im Zentrum verbindet sich mit dem Adler-Kameo des Augustus das Zeichen des Weltherrschertums mit dem christlichen Symbol des Kreuzes und proklamiert damit das christliche Herrschertum des deutschen Kaisertums als Mittelpunkt der Weltordnung. Es wird flankiert durch die Reliefs der vier Evangelisten, die die Eckpunkte der Weltordnung abstecken. An den beiden Außenbahnen dagegen, fortgedrängt vom Zentrum, befinden sich die heidnischen Motive. Sie deuten nicht nur auf die Verdrängung der vorchristlichen Antike durch das christliche Kreuz, sondern stehen gleichzeitig mit Bezug auf ihre byzantinische Herkunft für die Ablösung des alten oströmischen christlichen Kaisertums durch das neue, weströmische.
4.5 Der Dom zur Zeit der Staufer In besonderer Weise mit dem Aachener Dom verbunden ist der Stauferkaiser Friedrichs I. (Barbarossa), der 1152 in Aachen zum König und 1155 zum Kaiser gekrönt wird. Vorausgegangen war ein Jahrhundert des Kampfes um die Vormachtstellung zwischen dem Papst und den deutschen Kaisern/Königen, der im Investiturstreit seinen deutlichsten Ausdruck fand. Friedrich I. war nicht bereit, seinen Herrschaftsanspruch rein weltlich zu interpretieren und sich damit dem © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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des Papstes unterzuordnen. Deshalb war es sein Anliegen, die heilsgeschichtliche Rolle des Kaisertums herauszustellen unter Berufung auf die Bedeutung Karls des Großen, der Weihnachten 1165 auf Friedrichs Betreiben hin mit der Billigung des Gegenpapstes Paschalis I. in Aachen heiliggesprochen wurde. Ein weiteres Motiv für eine Betonung der karolingischen Tradition lag in dem offenen Anspruch der carpetingischen Dynastie auf die europäische Vormachtstellung. Bereits Suger von St. Denis (1081-1151) hatte den Carpetinger Ludwig VI. als legitimen Erben Kaiser Karls deklariert. Dieser beanspruchte vor der Versammlung von 1124 die Nachfolge des alten fränkischen Reiches und damit auch die Herrschaft über Deutschland. Der Staufer Friedrich belebte deshalb die karolingische Idee von der „civitas dei“, die im Aachener Dom ihren architektonischen Ausdruck gefunden hatte, aufs neue und entwickelte sie weiter zum „Sacrum Imperium“, als dessen „Hauptkirche“15 die Pfalzkapelle zu Aachen galt. Seit 1157 wurde der Begriff des „heiligen Reiches“ von der kaiserlichen Kanzlei bewusst verwendet. Ihren hervorragenden Ausdruck fand diese Idee im Aachener Radleuchter, dem sogenannten Barbarossaleuchter, der der Überlieferung zufolge am Tag der Heiligsprechung Karls eingeweiht wurde. Er befindet sich im Zentrum des Oktogons und spiegelt mit einem Durchmesser von 4,16 Metern dessen Maßzahlen im Verhältnis von 1:4 wieder. Der Leuchter besteht aus acht Kreissegmenten, an deren Nahtstellen sich kleine viereckige Türmchen befinden und in deren Mittelpunkt sich jeweils ein kleineres rundes Türmchen befindet. Damit greift der Radleuchter die Idee des achteckigen Oktogons und seines 16eckigen Umgangs auf. Die Inschrift des Leuchters bezieht sich ausdrücklich auf das „Himmlische Jerusalem“, das als „Erscheinung des Friedens“ gedeutet wird. Der Kaiser selbst bezeichnet sich in dieser Inschrift als „Friedrich, König der Römer, selbst gottesfürchtig“ und weist den Leuchter als „nach dem Vorbilde des Gotteshauses“16 gebildet aus. Vergleicht man den Bau des Leuchters direkt mit den Beschreibungen des Himmlischen Jerusalems in der Offenbarung des Johannes, so finden sich wenige Bezüge. Diese entstehen erst über den Umweg des Domes; dieser greift die Zahlenverhältnisse der Offenbarung auf und verbindet sie mit der christlichen Zahlenmystik (insbesondere der Bedeutung der Zahl 8), die wiederum vom Leuchter selbst aufgegriffen wird. Der Bezug zwischen dem „Himmlischen Jerusalem“ des Johannes und dem Leuchter des Kaisers Barbarossa wird somit über den Dom Karls gebildet und damit eine bestimmte Traditionslinie entwickelt, in der sich die Position des Kaisers als gleichermaßen eigenständig wie vergangenheitsbezogen herausbildet. Damit wird die Idee eines selbständigen, nicht vom Papsttum abhängigen Gottesgnadenkönigtums untermauert. Deutlicher noch wird der Anspruch des Kaisertums durch den von Friedrich I. gestifteten „Karlsschrein“, in den die Gebeine Karls im Nachgang zur Heiligspre© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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chung überführt werden. Wie jüngste, dendrochronologische Forschungen gezeigt haben, kann die viele Jahrzehnte als gültig betrachtete Annahme, die Gebeine Karls seien bei der Heiligsprechung in den Karlsschrein umgebettet worden, nicht mehr aufrecht erhalten werden. Die Fertigstellung des Schreins wird heute auf das Jahr 1215 angesetzt; ebenso gilt es aber auch als sicher, dass der Beginn der Herstellung noch in die Zeit Friedrichs I. fällt und insofern auch das Konzept des Schreins auf seinen Einfluss zurückgeht. Auf den beiden Längsseiten des Karlsschreins befinden sich je acht Herrscherfiguren. Sie repräsentieren deutsche Herrscher der Franken, Sachsen, Salier, Staufer und Welfen. Unter ihnen befindet sich kein einziger Herrscher der westfränkischen Linie, so dass deutlich das Erbe Karls für die deutschen Herrscher in Anspruch genommen wird. Auf der Stirnseite befindet sich in der Mitte die Figur Mariens mit dem Kind auf dem Schoß, ihr zur Seite stehen die Erzengel Michael und Gabriel. Über ihr befinden sich in Rundfeldern die Personifizierungen der christlichen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe. Auf der anderen Seite findet sich die gleiche Dreiteilung, nur steht hier Karl der Große in der Mitte, flankiert von Papst Leo III. und Erzbischof Turpin von Reims. Leo III. hat der Legende nach den Dom konsekriert, Turpin galt als Verfasser der „Heiligengeschichte“ Karls. Beide Figuren sind kleiner als die des Kaisers und in gebückter Haltung dargestellt, um ihre Unterordnung unter Karl zu verdeutlichen. Unmittelbar über Karl befindet sich eine einem Rundfeld die Figur des Karl segnenden Christus. Die beiden Rundfelder zu seinen Seiten sind leer. Vermutlich enthielten sie Darstellungen von Sonne und Mond: das von der Figur Karls gehaltene Modell des Domes wurde erst in späterer Zeit hinzugefügt; es wird angenommen, dass es eine Weltkugel ersetzte, die die irdische Vorherrschaft des Kaisers symbolisieren sollte. Auf den Dachflächen sind acht Reliefs angebracht, die legendäre Szenen aus dem Leben Karls schildern, beginnend mit der Berufung Karls durch den Apostel Jakobus. Es folgen Wunderereignisse, die Karl im direkten Dialog mit Gott zeigen, die Schlacht gegen die Sarazenen, Karls Schulbekenntnis seines Inzests gegenüber dem heiligen Ägidius, den Empfang der Dornenkrone in Konstantinopel und das Geschenk des Aachener Doms an die Muttergottes. Der Karlsschrein greift die beiden zentralen Anliegen der Staufer auf: er demonstriert die Nachfolge des deutschen Zweiges der Karolinger als rechtmäßige Weltherrscher, und er behauptet gleichzeitig eine von Gott legitimierte Überordnung des karolingischen Herrschertums über das Papsttum.
4.6 Der Dom im späten Mittelalter Die Bedeutung der Karlsverehrung des Mittelalters treibt endlose Pilgerscharen nach Aachen. Aachen wird neben Köln zum bedeutendsten Pilgerort nördlich der Alpen. Doch der kleine Raum des karolingischen Domes kann die Menge der © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Pilger, die zum Grab Karls wallfahren, nicht mehr fassen. Deshalb beschließt das Domkapitel Mitte des 14. Jahrhunderts, einen Chor an das Oktogon zu bauen. Dieser wird drei Tage vor dem 600. Todestag Karls im Jahr 1414 eingeweiht. Der Chor besteht aus zwei Querjochen, an die sich die neun Seiten eines Vierzehnecks anschließen, die die polygonale Struktur des Oktogons aufgreifen. Mit einer Höhe von 32,20 Metern verfügt er über die mit ihren 25,55 Metern Länge vermutlich größten Kirchenfenster Europas, die den gesamten Bau einer Form des Schreins nahebringen. Die 14 Pfeiler des Doms sind durch die lebensgroßen Figuren der zwölf Apostel geschmückt, die an der Stirnseite durch die Figuren Mariens und Karls ergänzt werden. Auch der Chor greift damit das Motiv des Himmlischen Jerusalems wieder auf, dessen zwölf Ecksteine die Apostel bilden. Anders als bei der frühmittelalterlichen Zahlenmystik wird in der Gotik die figürliche Übertragung und mittels der großen Fenster die Lichtsymbolik gewählt. Damit wird die Bedeutung des Himmlischen Jerusalems als leuchtende Stadt versinnbildlicht. Bezeichnend ist die zentrale Position, die Karl dem Großen zugedacht wird, der neben Maria und den Aposteln als Eckstein der Stadt Gottes erscheint.17 Der Beginn der Bautätigkeiten fällt in die Regierungszeit Kaiser Karls IV. von Luxemburg (1316-1378). Dieser war nach heftigen und langwierigen Auseinandersetzungen mit dem Haus Wittelsbach um die Vorherrschaft in Deutschland 1446 im Bonner Münster zum König gekrönt worden, nachdem sich ihm das Aachener Domkapitel verweigert hatten. Erst drei Jahre später wird die Königskrönung im Aachener Dom nachgeholt, nachdem es zu einem Ausgleich mit den Wittelsbachern gekommen war. Neben dem Bau der Chorhalle bezeugt Karl IV. seine Verbundenheit mit der Pfalzkapelle Karls des Großen durch zahlreiche Schenkungen, unter denen die „Karlsbüste“ hervorsticht, die sich heute im Domschatz befindet. Sie bildet den Kopf Karls des Großen nach und birgt die Schädeldecke Karls. Die Krone der Karlsbüste soll jene sein, die Karl IV. bei seiner Krönung getragen hat, da er nicht im Besitz der Reichskrone war. Gesichert ist, dass es sich um eine Luxemburgische Hauskrone handelt, die vor 1349 entstanden ist. Sie wurde von König Sigismund bei seiner Krönung 1414 getragen. Indem das Reliquiar mit der Schädeldecke Karls die Krone der Luxemburger erhielt, wurde ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der karolingischen Tradition und dem Luxemburgischen Herrscherhaus hergestellt, der wiederum zur Begründung des Herrschaftsanspruchs diente. Das Reliquiar wurde seit dieser Zeit jedem neuen Herrscher, der in Aachen gekrönt wurde, beim Einzug in den Dom vorangetragen, um die Nachfolge Karls zu symbolisieren. Zahlreiche weitere europäische Herrscher des Mittelalters hinterließen Spuren in Aachener Dom, unter ihnen König Ludwig XI. von Frankreich, Margareta von © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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York, Karl der Kühne und der König von Böhmen. Vielen von ihnen ging es nicht wie den deutschen Königen darum, ihre legitime Nachfolge der karolingischen Herrschaftswürde zu belegen, sondern in Anerkennung der europäischen Vorherrschaft Karls die eigene territorial begrenzte Herrschaft als mit dem übergeordneten karolingischen System vereinbar darzustellen und womöglich gegen andere sie bedrückende Ansprüche auf ihr Reich zu verteidigen. Herausgehoben werden sollen hier die ungarischen Herrscher. Im Jahr 1221 fand die erste nachweisbare Wallfahrt ungarischer Ritter zum Aachener Dom statt. Der ungarische König Ludwig I. (1342-1382) stiftete eine gotische Kapelle, die an der Südseite an das Oktogon angebaut wurde und den Namen „Ungarnkapelle“ erhielt. Ludwig stattete sie mit zahlreichen Reliquien aus, die heute im Aachener Domschatz zu sehen sind. 1754 musste die mittelalterliche Kapelle abgerissen und durch einen Barockbau ersetzt werden, dessen Altar u.a. auch Stephanus von Ungarn und allen übrigen heilig gesprochenen Königen Ungarns geweiht wurde. Eine Statue Stephanus’ ist außen vor der Kapelle zu sehen. Wallfahrten zum Aachener Münster können nicht nur religiös gedeutet werden. Seit 1686 war Ungarn Teil des Habsburgerreiches, und die Wallfahrt nach Aachen in der Tradition der alten ungarischen Könige war auch Zeichen der Unabhängigkeit. 1776 wurde sie deshalb vom Habsburgischen Kaiser Joseph II. verboten.
4.7 Nach dem Mittelalter Nach Ende des Mittelalters ließ zwar nicht die generelle Verehrung Karls des Großen, wohl aber die Pilgerschaft zu seinem Grabe nach. Aber es ergab sich ein zweiter Grund, einen Anlass für regelmäßige Pilgerreisen nach Aachen zu finden, durch die Dom und Stadt großen Nutzen hatten. Nach der Überlieferung hatte der Patriarch von Jerusalem Karl vier große Heiligtümer geschenkt: das Kleid Mariens, Windeln und Lendentuch Jesu sowie das Enthauptungstuch Johannes des Täufers. 1238 wurden sie in einen zu diesem Zwecke hergestellten Schrein, den Marienschrein, überführt und seither dort aufbewahrt. Im Jahre 1347 begann die Tradition der Heiligtumsfahrten: seither werden die vier Heiligtümer alle sieben Jahre aus dem Schrein genommen und den Gläubigen gezeigt. Bis heute ist dieser Brauch üblich, und immer noch zieht er Scharen von Gläubigen aus aller Welt alle sieben Jahre in den Dom. Seit Ende des 14. Jahrhunderts stand der Schrein neben dem kaiserlichen Schutz auch unter dem des Rates der Stadt Aachen. An den Längsseiten des Marienschrein, der sich im vorderen Teil der Chorhalle befindet, sieht man die Figuren der Apostel, in deren Mitte auf einer Seite Maria mit dem Jesuskind auf dem Schoß, an der anderen Karl der Große mit einem Modell des Aachener Doms zu sehen ist. Das Dach des Schreins ist mit silbernen Reliefs ausgelegt, die die Geschichte Mariens und Jesu von der Verkündigung bis zur Grablegung zeigen. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Im Jahr 1656 verwüstete ein Feuer weite Teile der Stadt. Auch der Dom war in Mitleidenschaft gezogen, und das mittelalterliche hölzerne Dach brannte vollkommen ab. Es wurde durch eine Faltkuppel ersetzt, die die Formensprache des Oktogons weiterführt. Die Renovierung des Dominneren sollte die dunkle, mittelalterliche Atmosphäre durch eine lichte, barocke ersetzen. Hierzu wurden zahlreiche Wandmalereien angefertigt, die zwar heute nicht mehr vorhanden sind, aber in Teilen durch überlieferte Zeichnungen nachvollzogen werden können. Neben Figuren der Apostel und Kirchenväter waren auch Karl der Große und Papst Leo III. zu sehen. Bemerkenswert ist die Darstellung des Habsburger Adlers mit Zepter und Schwert, der im östlichen Bereich des Tambourfeldes zu sehen war. Unter ihm waren Waffen und türkische Fahnen dargestellt, die an die Rettung Wien im Jahre 1683 erinnern sollten. Damit wurden die Habsburger als legitime Nachfolger Karls in der Verteidigung des Christentums geehrt.
4.8 Das 19. und 20. Jahrhundert Auch in jüngerer Zeit wurde der Dom nicht nur als Ort des Glaubens, sondern auch der Politik verstanden. 1794 besetzen französische Truppen die Stadt Aachen, die nun für 20 Jahre zum französischen Herrschaftsbereich gehörte. Den Domschatz hatte man vorher nach Paderborn bringen lassen, zahlreiche andere Objekte wurden aber nach Frankreich geschafft. 1802 wurde auf Napoleons Betreiben das Bistum Aachen eingerichtet – es wurde nach 19 Jahren wieder aufgelöst und erst 1930 endgültig neu gegründet –, und zwei Jahre später wurde ebenfalls auf Befehl Napoleons der Domschatz zurück an seinen alten Ort gebracht. Doch hatte der Habsburgerkaiser Franz I. drei der für das Deutsche Reich zentralen Stücke, die „Aachener Reichskleinodien“ Stephanusbursa, Reichsevangeliar und den „Säbel Karls des Großen“, vorher nach Wien bringen lassen, wo sie bis heute aufbewahrt werden. Auf Bitten des neuen Aachener Bischofs ließ Napoleon auch von der französischen Armee entwendete Gegenstände nach Aachen zurückbringen, jedoch verblieben einige bedeutende wie der „Talisman Karls des Großen“, das staufische Armreliquiar und die Lukasmadonna in französischem Besitz. Die Bedeutung, die Napoleon dem Dom zumaß, lässt sich gut daran ermessen, dass er seinen Sohn, den „König von Rom“, im Aachener Dom taufen ließ. Am bemerkenswertesten ist jedoch die Geschichte der Bronzegitter und Säulen, die sich im oberen Bereich des Oktogons befinden. Beide hatte die französische Armee nach der Eroberung Aachens herausbrechen lassen und für einen Abtransport nach Paris bestimmt. Die 36 Säulen waren von Karl aus Italien nach Aachen gebracht worden als Symbol für die legitime Nachfolge des römischen Reiches. Mit ihrer Überführung nach Paris sollte verdeutlicht werden, dass nun das französische Reich neuer legitimer Nachfolger des römischen und fränkischen sein soll. Während © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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die Säulen nach Paris gebracht und dort im Louvre eingebaut wurden, gelang es Aachener Bürgern, die Gitter zu entwenden und zu vergraben, so dass sie dem Abtransport nach Paris entgingen. Nach Ende der französischen Herrschaft wurden sie wieder an alter Stelle eingebaut, jedoch das östliche mit dem westlichen Gitter versehentlich vertauscht. 28 Säulen der 36 entwendeten Säulen wurden im Jahr 1815, nach dem zweiten Pariser Frieden, wieder zurück nach Aachen gebracht. Hier wurden sie zunächst nur gelagert, denn die Kosten des Einbaus konnten nicht sogleich aufgebracht werden. Eine neue Epoche bricht auch für den Aachener Dom an, als Friedrich Wilhelm IV. 1840 den preußischen Thron bestieg. Sein Vater Friedrich Wilhelm III. hatte Aachen, das vom Wiener Kongress Preußen zugeschlagen war, zur Preußischen Badestadt ausbauen lassen und mehrere von Friedrich Schinkel entworfene Repräsentationsbauten erstehen lassen. Er war – zumindest in seinen späteren Regierungsjahren – restaurativ gesinnt, während sein Sohn, der als „Romantiker auf dem Thron“ bezeichnet wurde, ein christlich-germanisches Staatsideal vertrat. Die Wiederherstellung des Aachener Domes als des Symbols der europäischen Vormachtstellung Deutschlands war ihm ebenso ein Anliegen wie die Vollendung des Kölner Doms, die er ebenfalls herbeiführte. Er stellte deshalb die Mittel zum Wiedereinbau der Säulen und der Bronzegitter bereit. Doch auch das Innere des Domes wurde neu gestaltet. Hier tritt erstmals neben dem preußischen Staat, vertreten durch Denkmalpflege und Ministerium für geistliche Angelegenheiten, dem Kölner Domkapitel als zuständiger Bistumsleitung und dem Aachener Stiftskapitel eine vierte Interessensgruppe auf, nämlich die Aachener Bürgerschaft in Gestalt des Karlsvereins. Einigkeit bestand weitgehend darin, dass die barocke Ausschmückung des Domes beseitigt werden sollte, jedoch standen sich im Hinblick auf eine Neugestaltung zwei Positionen gegenüber: eine Wiederherstellung des mittelalterlichen Doms auf der einen Seite und eine aktuelle Bildgestaltung auf der anderen. Erst 1869 einigte man sich darauf, dass die Kuppel durch ein Mosaik nach italienischen Vorbildern verziert werden sollte. Der beauftragte Künstler Baron Jean Baptiste Bethune begab sich eigens hierfür auf eine Italienreise, um in Städten wie Rom, Mailand, Venedig und Ravenna nach Vorbildern zu suchen. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden auch die Fenster der Chorhalle neu gestaltet. Sie entstanden unter dem Eindruck des 1854 ausgesprochenen Dogmas von der Unbefleckten Empfängnis Mariens unter der Leitung von Peter Cornelius. So zeigte das erste Nordfenster Maria mit dem Jesuskind auf dem Thron sitzend, an dessen Stufen Karl der Große mit dem Modell des Domes kniet. Diese Darstellung folgte ganz den Traditionen. Das zweite Nordfenster zeigte ebenfalls Maria sowie Papst Pius IX., der in seiner linken Hand die Schriftrolle mit dem Dogmentext hielt. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Aber neben den dargestellten Bischöfen und Kardinälen befinden sich auch der Maler Claßen sowie der Präsident des Karlsvereins, Jungbluth. Die Inschrift des Fensters bezeichnete den Aachener Bürgermeister Karl von Nellessen als Stifter. Erstmals hinterlässt auch das Bürgertum Spuren im Aachener Dom. Im Anschluss an das Kuppelmosaik wurde die neue Ausschmückung des Tambours geplant, über die erst Anfang des 20. Jahrhunderts im Wilhelminischen Deutschland beschlossen wurde. Es entstand eine Gruppe mit Maria, Johannes, den zwölf Aposteln und Engeln. Zu den Füßen Marias knien Papst Leo III. und Karl der Große; letzterer trägt unverkennbar Züge Bismarcks, womit die Tradition der Nachfolge des römischen Kaiserreichs auf das Zweite Deutsche Reich übertragen wurde. Zwei weitere wichtige Veränderungen des Domes gehen auf Kaiser Wilhelm II. zurück. 1875 wurde ein neuer Hochaltar im Chor errichtet, und zu seinem Schmuck wurde auf Anordnung Kaiser Wilhelms II. der Papa d’oro neu zusammengestellt und mit einem Rahmen versehen. Dieser war jedoch so bombastisch gestaltet, dass die mittelalterlichen Reliefs von ihm erdrückt wurden und er deshalb nach Ende des Deutschen Reiches wieder entfernt wurde. Ähnlich verhielt es sich mit einer Marmorkanzel, die vom deutschen Kaiser 1913 gestiftet worden war. Sie stand auf einem Löwensockel und war durch einen Kaiseradler geschmückt, Ausdruck des kaiserlichen Herrschaftsanspruchs im Dom als Fortführung der deutschen Reichsherrschaft. Die Kanzel wurde 1982 entfernt, um das ursprüngliche Aussehen des Domes wiederherzustellen. Starke Schäden hat der Zweite Weltkrieg am Aachener Dom hinterlassen. In den Jahren 1941 und 1943 trafen Fliegerbomben den Dom und zerstörten unter anderem die Fenster des Chores. Dass es nicht zu schweren Schäden kam, ist vor allem den Jugendlichen zu verdanken, die Nacht für Nacht als Domwache tätig waren und bei Einschlägen sofort die Brände löschten. Die Gestaltung der neuen Fenster wurde nach dem Krieg in Angriff genommen. Die Fenster am Chorabschluss sowie die daran nördlich und südlich anschließenden zeigen Motive der Bibel und der Kirchengeschichte. Die anschließenden Fenster aber folgen einem Konzept, das durch die Begriffe „Heilige Heimat“, „Heiliges Reich“ und „Heilige Wissenschaft“ bzw. „Heilige Kunst“ gebildet wird. Hier finden sich neben Heiligenfiguren aus dem deutschen Raum wie Hubertus, Adalbert, Bonifatius und Thomas von Kempen in der Kategorie „Heiliges Reich“ Herrscherbilder wie das von Karl, Heinrich II. und Otto III, ebenso aber Ludwig IX. und Eduard dem Bekenner. Die Aufnahme nicht deutscher Herrscher, die von der Kirche heilig gesprochen wurden, zeigt, dass hier ein anderer Reichsgedanke Verwendung fand als noch zu Zeiten der preußischen Kaiser. Reich wird hier nicht als nationales Phänomen, sondern im Sinne einer europäischen Idee der Christenheit verstanden, an der Herrscher aller europäischen Völker mitwirkten. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Interpretiert werden kann dies als Einfluss eines europäischen Denkens, das nach Kriegsende den Blick weitete über die nationalen Grenzen hinaus.
5 Nach dem Dombesuch Es scheint didaktisch sinnvoll, die vielen Eindrücke, die sich mit dem Besuch des Domes verbinden, in einer letzten Arbeitseinheit zu reflektieren und zu ordnen. Dabei sollte vor allem berücksichtigt werden, dass der Dom in der Form, in der er heute dem zeitgenössischen Betrachter erscheint, keinesfalls „authentisch“ ist, sondern Produkt in der Gegenwart getroffener Entscheidungen. Am deutlichsten lässt sich dies dadurch aufzeigen, dass fast alle Änderungen, die im zweiten deutschen Kaiserreich angeordnet wurden, nach dem Zweiten Weltkrieg wieder rückgängig gemacht worden sind. Möglich wäre es, eine Debatte zu initiieren, indem sich die Jugendlichen in zwei Kleingruppen aufteilen und zwei gegensätzliche Positionen erarbeiten: 1. eine historistische, deren Anliegen es ist, den Dom so authentisch wie möglich in seiner mittelalterlichen Struktur zu bewahren und von allen späteren Einflüssen möglichst frei zu halten; und 2. eine funktionale, die zwar die historischen Elemente nicht eliminiert, jedoch die aktuelle Funktion des Domes als Bischofskirche ins Zentrum rückt. Sofern ausreichend Zeit vorhanden ist, bietet sich auch die Möglichkeit, die Jugendlichen darüber reflektieren zu lassen, wie der Dom gestaltet werden müsste, damit – analog zur Gestaltung früherer Zeiten – heute gültige politische Grundeinstellungen in ihm deutlich werden. Dabei wäre zunächst danach zu fragen, welche politischen Leitgedanken typisch für die Gegenwart sind und in einem zweiten Schritt, wie sich solche Schlüsselgedanken wie Demokratie, Zivilgesellschaft, Europa oder Völkerverständigung in ein an religiösen Inhalten orientiertes Konzept einbetten ließen. Gerade dadurch, dass die Jugendlichen eigene Überlegungen zur architektonischen und künstlerischen Umsetzung von Leitgedanken der Gegenwart anstellen, können sie dafür sensibilisiert werden, auch aktuelle Architektur und ihre Ausschmückung mit kritischerem Blick zu betrachten.
Anmerkungen 1 Siehe Peter Wirtz: Ikonologie der Architektur und politische Bildung. In: S. Grillmeyer/P. Wirtz (Hrsg.): Ortstermine. Bd. 1. Schwalbach/Ts. 2006, 23-34. 2 Rasario Assunto: Die Theorie des Schönen im Mittelalter. Köln 1982, 24. 3 Vgl. Günter Bandmann: Mittelalterliche Architektur als Bedeutungsträger. Berlin 81985, 105 f. 4 Zitiert nach: Ernst G. Grimme: Der Dom zu Aachen. Architektur und Ausstattung. Aachen 1994. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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5 Aniela Jaffé: Bildende Kunst als Symbol. In: C.G. Jung (Hrsg.): Der Mensch und seine Symbole. Olten 91986, 240 ff. 6 Zur Doppeldeutigkeit der Sieben als guter und böser Zahl (z.B. in der Offenbarung des Johannes) vgl.: Ingrid Riedel: Bilder in Therapie, Kunst und Religion. Stuttgart 1988, 199 ff. 7 Ernst Bischoff: Mystik und Magie der Zahlen. Wiesbaden 1992, 211. 8 Vgl. ebd. 222. Die 16 Weltgegenden finden sich auf genaueren Kompassen: N, NNO, NO, ONO; O, OSO, SO, SSO; S, SSW, SW, WSW; W, WNW, NW, NNW. 9 Offb. 21, 10-18, 22 ff, zitiert nach der Einheitsübersetzung. 10 Einhard: Das Leben Karls des Großen. Nach der Übersetzung von Wilhelm Wattenbach. Essen und Stuttgart 1986, 75: „Da er die Säulen und den Marmor für die Kirche anderswoher nicht bekommen konnte, ließ er sie aus Rom und Ravenna herbeischaffen.“ 11 Vgl.: Werner Georgi: Sedes Karoli – Herrschersitz oder Reliquienthron? Ein historischer Versuch zum „Karlsthron“ der Aachener Marienkirche. In: Max Kerner (Hrsg.): Der Aachener Dom als Ort geschichtlicher Erinnerung. Köln 2004, 108. 12 Ob das Altarrelief tatsächlich von Otto III. oder seinem Nachfolger Heinrich II. stammt, ist in der Forschung mittlerweile umstritten, spielt aber hinsichtlich seiner Interpretation als Herrschaftslegitimation der Ottonen keine Rolle. Vgl. Lioba Geis: Die Aachener Pala d’oro. In: Max Kerner: Der Aachener Dom als Ort geschichtlicher Erinnerung. Köln 2004, 315-336. 13 A.a.O.: 331 14 Vgl. Horst Appuhn: Das Mittelstück des Ambos König Heinrichs II. In: AKB 32, 1966, 70-74. 15 Vgl. Lacomblet: Urkundenbuch für die Geschichte des Niederrheins. Düsseldorf 1840, 317. 16 Zitiert nach: Ernst G. Grimme: Der Dom zu Aachen. Architektur und Ausstattung. Aachen 1994. 17 Erich Stephany hat darauf hingewiesen, dass Karl jene Position einnimmt, die im Kölner Dom Christus selbst zugedacht war. Vgl. E. Stephany: Aulae caelestis particeps – der Halle des Himmels teilhabendes Nachbild. In: AKB, Bd. 17/18. 1968/69, 47-57.
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Nürnberg Vom Zentralort deutscher Erinnerung zum zentralen deutschen Erinnerungsort
An einem Samstag des Jahres 1993 befindet sich Jacques Austerlitz auf einer Zugreise durch Deutschland. Der in England lebende Kulturwissenschaftler kommt aus Tschechien, wo er sich seiner verschütteten Familiengeschichte gestellt hat. Als Kind jüdischer Eltern in Prag geboren, gelangte er als Fünfjähriger mit einem Kindertransport nach England und wurde dort von Gasteltern in Unkenntnis seiner Herkunft erzogen. Seine wirklichen Eltern, so hat Austerlitz eben erfahren, wurden Opfer des Holocaust. Es ist Nürnberg, wo Austerlitz sich entscheidet, seine Reise zu unterbrechen und zum ersten Mal eine deutsche Stadt zu besuchen. Doch auf dem Rückweg von der Altstadt zum Bahnhof wird er von unbestimmten Gefühlen überwältigt. Austerlitz hat „das Gefühl, ankämpfen zu müssen gegen eine immer stärker werdende Strömung“. Schließlich muss er sich „gar nicht mehr weit vom Bahnhof, am Verlagshaus der Nürnberger Nachrichten unter einen Fensterbogen aus rötlichem Sandstein stellen“ und warten, dass sich „die Scharen der Einkäufer“ verlaufen. „Wie lange ich mit benommenen Sinnen gestanden bin am Rande des ohne Unterbrechung an mir vorüberziehenden Volks der Deutschen“, so berichtet der Reisende, „kann ich mit Gewißheit heute nicht mehr sagen.“1 Diese Nürnberg-Episode ist eine Fiktion. Sie stammt aus einem Roman von Winfried G. Sebald, der 1944 in Deutschland geboren wurde, jedoch bereits 1969 dauerhaft nach England übersiedelte. Signifikant ist somit weniger die zitierte Reisegeschichte selbst als die Tatsache, dass Sebald Nürnberg als Schauplatz der einzigen direkten Begegnung seines Protagonisten mit Deutschland und somit als schicksalhaften Ort der Konfrontation eines Opfers des Nationalsozialismus mit dem „Volk der Deutschen“ figurieren lässt. Denn Austerlitz ist ein Roman nicht nur über Erinnerung, sondern insbesondere auch über Erinnerungsorte. Durchgängig handelt das Buch von der Gegenwärtigkeit verdrängter Geschichte und von der Vermittlung dieser Gegenwärtigkeit über die spezifische Aura von Orten.
Zwei wesentliche Funktionen des Erinnerungsorts Nürnberg Im Zusammenhang mit der unterstellten erinnerungspsychologischen Wirkung der Nürnberger Altstadt kommen bei Sebald zwei wesentliche Funktionen des Erinnerungsorts Nürnberg zum Tragen. Zum einen die enge Verbindung der Stadt © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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mit der „nationalsozialistischen Vergangenheit“: Der Name „Nürnberg“ diente und dient als Chiffre für das Deutschland des „Dritten Reichs“, denn er steht nicht nur für nationalsozialistische Selbstinszenierung („Stadt der Reichsparteitage“), sondern auch für die im Zeichen des Nationalsozialismus verübten Verbrechen („Nürnberger Gesetze“) sowie für den ersten wesentlichen Schritt ihrer Ahndung („Nürnberger Prozess“) – hinzu kommt Nürnbergs Bedeutung als bevorzugter Bildspender sowohl für den Nationalsozialismus selbst wie auch für spätere Visualisierungen des Nationalsozialismus.2 Ebenfalls von Sebald ins Spiel gebracht wird eine zweite Funktion Nürnbergs, die mit der ersten zusammenhängt, aber von ihr zu differenzieren ist: die Bedeutung als – auch aus der Außenperspektive so wahrgenommener – Zentralort deutscher Selbstvergewisserung nicht nur während, sondern auch vor und nach der Zeit des Nationalsozialismus. Beide Bedeutungen Nürnbergs – als spezifisch „deutscher“ und als spezifisch „nationalsozialistischer“ Ort – werden auch in einem Nürnberg-Essay aufgegriffen,
Albrecht-Dürer-Haus in der Nürnberger Altstadt © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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den Horst Krüger zum „Dürerjahr“ 1971 verfasste. Bilanzierend wendet sich der aus Berlin stammende Schriftsteller an die Nürnberger: „Ich sehe also Deutschland bei euch, im Spiegelbild. Ich sehe mein Vaterland, ziemlich präzise verkleinert, lupenrein, in der Stadt. Ihr seid schon sehr deutsch, das ist einzuräumen. Ich sehe auf euren Dächern unsere Geschichte liegen: den Traum vom Reich, dem ersten, dem zweiten, dem dritten, und wie es zerbrach, das Reich. Da hinten sind doch schon die Grenzen der DDR, nicht wahr?“ 3 Tatsächlich diente Nürnberg, schon lange bevor es im „Dritten Reich“ zur „deutschesten aller deutschen Städte“ erklärt wurde, als Bezugspunkt der Konstruktion von deutschen Identitäten und Ideologien. Die nationalsozialistische Propaganda griff auf ein bestehendes Repertoire von Nürnberg-Bildern zurück, wobei bestimmte Gehalte selektiert und radikalisiert, andere aber auch verdrängt wurden. Nach 1945 wollte die Stadt vom Nationalsozialismus kontaminierte affirmative Erinnerungsbestände rehabilitieren. Dies erforderte aber eine Auseinandersetzung mit dem Gebrauch, der im „Dritten Reich“ (unter kräftiger örtlicher Beteiligung) von Nürnberg gemacht worden war: Eine kritische Erinnerung an die nationalsozialistische Erinnerungspraxis war gefragt bzw. wäre gefragt gewesen. Gleichzeitig ist, weil sich die Stadt als Chiffre für das „Dritte Reich“ etabliert hatte, die Notwendigkeit einer ehrlichen und angemessenen Erinnerung an den Nationalsozialismus – seine Symbolizität wie auch seine Realität – in Nürnberg schwerer zu ignorieren gewesen als an vielen anderen Orten. Wie „deutsch“ also ist Nürnberg als Essenz wie auch als Exempel? Was hält die für den Ort charakteristischen Serien ineinander verschränkter erinnerungskultureller Aufladungen4 zusammen? Und was wäre aus diesem Bestand zu machen? Im Folgenden sollen einige Facetten Nürnbergs als eines vielschichtigen Erinnerungsorts im Spannungsfeld von „deutscher Geschichte“ und „deutscher Vergangenheit“ ausgelotet werden. Es wird dafür plädiert, Nürnberg, das einst ein Zentralort deutscher Erinnerung war, heute als einen zentralen deutschen Erinnerungsort ernst zu nehmen und zu nutzen.
Nürnberg bis zum Aufstieg des Nationalsozialismus Deutsche Selbstvergewisserung zwischen Ethnisierung und Integration Kaiserstadt und Freie Reichsstadt Fundament der Konstitution Nürnbergs als Zentralort deutscher Erinnerung war die enge Verbundenheit mit Kaiser und Reich, welche die Geschichte der Stadt von Anfang an bestimmte. Der Ort geht nicht auf eine Römersiedlung zurück, noch wurde er jemals zum Bischofssitz. Stattdessen entwickelte er sich zunächst als Objekt der Reichsgut-Politik der salischen Könige und erblühte dann unter der © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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politischen Obhut der Staufer als Freie Reichsstadt. Die Goldene Bulle Karls IV. schließlich bestimmte im Jahr 1356, dass jeder neu gewählte König seinen ersten Hoftag in Nürnberg abhalten solle, womit das Prestige der Stadt als Kaiserstadt festgeschrieben war. Im 15. Jahrhundert erhielt zudem der Rat der Stadt die Reichskleinodien zur dauernden Verwahrung. Aber auch mit dem Bedeutungsverlust des „Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation“ verlor Nürnberg seine herausgehobene Stellung keineswegs – sie ging lediglich vom Politischen ganz ins Symbolische über. Obwohl 1649 die letzte reichspolitisch bedeutsame Versammlung in Nürnberg stattfand und obwohl die Stadt durch den Dreißigjährigen Krieg wirtschaftlich stark geschwächt war, gelang es ihr, „die Insignien der Kaisermacht überall sichtbar in die Neuzeit zu retten“.5
Sehnsuchtsort der deutschen Romantik Vor dem Hintergrund des endgültigen Niedergangs des Alten Reichs, der auch den Niedergang Nürnbergs als Freier Reichsstadt bedeutete, wird die Stadt an der Wende zum 19. Jahrhundert dann als Sehnsuchtsort der deutschen Romantik entdeckt, als „sentimentales Biotop“,6 in dem sich Reste vergangener deutscher Größe erhalten haben. Repräsentativ ist die Anrufung Nürnbergs, die Wilhelm Heinrich Wackenroder in den zuerst 1796 veröffentlichten Herzensergießungen – einem Schlüsseltext der deutschen Romantik – der Persona eines „kunstliebenden Klosterbruders“ in den Mund legte: „Nürnberg! du vormals weltberühmte Stadt! Wie gerne durchwanderte ich deine krummen Gassen; mit welcher kindlichen Liebe betrachtete ich deine altväterischen Häuser und Kirchen, denen die feste Spur von unsrer alten vaterländischen Kunst eingedrückt ist! Wie innig lieb ich die Bildungen jener Zeit, die eine so derbe, kräftige und wahre Sprache führen! Wie ziehen sie mich zurück in jenes graue Jahrhundert, da du, Nürnberg, die lebendigwimmelnde Schule der vaterländischen Kunst warst [...]“ 7 Der Fokus dieser als Trauerarbeit figurierenden Erinnerungstätigkeit ist zunächst auf Dürer und damit auf die kulturellen Leistungen Deutschlands gerichtet. Deren Wertschätzung hat vor dem Hintergrund der – dann auch nach Nürnberg gelangenden – Kriege mit dem revolutionären Frankreich aber auch eine politische Note. Zudem wird die „alte vaterländische“ oder „altväterische“ Kunst als Zeugnis eines noch unverstellten und selbstbewussten deutschen Charakters betrachtet: „Als Albrecht den Pinsel führte, da war der Deutsche auf dem Völkerschauplatz unsers Weltteils noch ein eigentümlicher und ausgezeichneter Charakter“, erklärt der Klosterbruder und attestiert Dürer „dieses ernsthafte, grade und kräftige Wesen des deutschen Charakters treu“ eingefangen zu haben.8 Dürer, Sohn eines ungarischen Einwanderers, erscheint als spezifisch „deutsche“ Antwort auf die italienische Renaissance. Als ungekünstelt und echt – bodenständig im besten Sinne – galten auch der gerne als ingeniöser Grobian geschilderte Humanist © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Willibald Pirckheimer und der „Schuhmacher-Poet“ Hans Sachs, die ebenfalls bei Wackenroder Erwähnung finden. In Nürnberg soll so etwas wie ein „deutscher Volksgeist“ aufgesucht werden – eine Tendenz, die auch bei anderen Reisenden dieser Zeit deutlich ist.9 Die romantische Perspektive auf das spezifische kulturelle Umfeld des alten Nürnberg spielte so latent in eine ethnisierende Deutung der in der Stadt symbolisch konservierten Reichsgeschichte hinüber.
Verbindung von Reichstradition und stadtbürgerlichem Fortschritt Auch der Anschluss an Bayern im Jahr 1806 tat der symbolischen Bedeutung Nürnbergs keinen Abbruch. Wirtschaftlich erwies er sich auf längere Sicht sogar als vorteilhaft. In der Tat wurde im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts der Kontrast zwischen der politischen Bedeutungslosigkeit Nürnbergs und seiner symbolischen Signifikanz durch einen neuen Widerspruch abgelöst, der sich nun zwischen dem ungebrochenen Bild vom „alten“ Nürnberg und dem Stellenwert der Stadt als einer Vorreiterin der Industrialisierung in Deutschland auftat. Die Spannung zwischen beiden verkörpert der für Nürnberg prägende Kommunalpolitiker und Sozialreformer Johannes Scharrer, der einerseits den Geist der spätmittelalterlichen Stadt auferstehen lassen wollte10 und andererseits als Mitbegründer und Direktor der ersten deutschen Eisenbahn wirkte, die seit 1835 zwischen Nürnberg und Fürth verkehrte. Unter solchen Vorzeichen verschob sich die Bedeutung des Erinnerungsorts. Durch die „Verbindung von Reichstradition und stadtbürgerlichem Fortschritt im Medium des Protestantismus“, so stellt Kosfeld fest, wurde die ehemalige Freie Reichsstadt nun zum Symbol einer „protestantisch-bürgerlich geprägten, nationalen Integrationsidee“.11 Sitz des deutschen Nationalmuseums Während des Vormärz war Nürnberg ein Zentrum des Liberalismus. Hier fand 1848 die erste bayerische Volksversammlung der Revolution statt.12 Unmittelbar nach dem Scheitern der Revolution – ihrer bürgerlich-demokratischen ebenso wie ihrer nationalistischen Programmatiken – wurde durch die Einrichtung des Germanischen Nationalmuseums die Stellung Nürnbergs als Bezugspunkt eines jetzt wieder stärker ins Kulturelle gewendeten Nationalismus festgeschrieben. 1857 erfolgte die abschließende Entscheidung für Nürnberg als Museumssitz. Der abgedankte bayerische König Ludwig I. unterstützte das Unternehmen; sein Sohn, Max II. schenkte dem Museum das ehemalige Kartäuserkloster als Ausstellungsort. Während der Vormärz durch kontroverse Funktionalisierungen Nürnbergs gekennzeichnet gewesen war, markiert die unter aristokratischer Ägide vollzogene Gründung des Germanischen Nationalmuseums den Übergang zu homogenisierten-nationalen Erinnerungskonstruktionen, die dann durch das Kaiserreich hindurch bis in die Weimarer Republik bestimmend blieben. Dem © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Anspruch seines Titels entsprechend entwickelte sich „das Germanische“ zum größten Museum deutscher Kunst- und Kulturgeschichte. Nürnberg wurde somit im Grunde Sitz des deutschen Nationalmuseums – eines Museums übrigens, das durch die schiere Heterogenität seiner Sammlungen nicht zuletzt den Konstruktcharakter deutscher Nationalismen vor Augen führt.
„Des deutschen Reiches Schatzkästlein“ und integrativer Erinnerungsort Die Funktion Nürnbergs als bürgerlicher Erinnerungsort und der wenigstens potentiell fortschrittliche, d.h. auch soziokulturell integrative Charakter des in diesem Kontext betriebenen Nationalismus blieben auch über die gescheiterte Revolution von 1848 hinaus von Bedeutung. Dafür spricht nicht zuletzt die Eingebundenheit der – freilich sehr weit gehend um „Assimilation“ bemühten – jüdischen Gemeinde in die Stadtgesellschaft. Sie wird an den Feierlichkeiten zur Einweihung der kurz nach der Reichsgründung neu errichteten Synagoge im Jahr 1874 deutlich. OB Karl Otto Freiherr von Stromer wurde gebeten, das Gotteshaus symbolisch aufzuschließen. Er nutzte die Gelegenheit, um fast demütig an die unrühmliche Rolle zu erinnern, die sein Vorfahr Ulrich von Stromer einst beim Pogrom von 1349 gespielt hatte. „Gegenüber der mittelalterlichen Anschauung“, so stellte der Bürgermeister fest, sei man „jetzt allgemein zu der Erkenntnis gekommen, daß die Lösung der sogenannten Judenfrage gleichen Schritt mit der Entwicklung und Vermehrung der Gesittung und Humanität bei Nationen und Einzelnen hält.“13 Dass sich das jüdische Gotteshaus in die Nürnberger Stadtlandschaft ebenso wie in die Nürnberger Erinnerungslandschaft einbauen ließ, zeigt unter anderem die große Beliebtheit, welche die Synagoge bis zum Beginn des „Dritten Reichs“ als Postkartenmotiv genoss.14 „Des deutschen Reiches Schatzkästlein“, wie Nürnberg seit dem 19. Jahrhundert immer wieder genannt wurde,15 war in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts zu einem integrativen Erinnerungsort geworden, an dessen Bedeutungen z. B. auch die in der Stadt besonders starken Sozialdemokraten partizipierten: Galt Hans Sachs in bürgerlichen Kreisen als patriotischer Vermittler zwischen Klassen und Ständen, so konnte er in Kulturveranstaltungen der Arbeiterschaft gleichzeitig als dichtender Arbeiter repräsentiert werden.16 Solche eher synkretistischen als kontroversen Konstruktionen hielten im Wesentlichen noch über den Ersten Weltkrieg hinaus. Sie bildeten eine Grundlage der modernen, partizipativen Kommunalpolitik, die der mit sozialdemokratischer Mehrheit regierende DDP-Bürgermeister Hermann Luppe während der Weimarer Republik betrieb. In seinem 1940 erschienen Emigrantenroman Exil ließ Lion Feuchtwanger den Komponisten und Nazigegner Sepp Trautwein von Paris aus auf die von den Nationalsozialisten ausgelöschten Bedeutungen Nürnbergs als integrativem Erinnerungsort zurückblicken. Das Nürnberg der Reichsparteitage wird in einem mit © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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dem Namen der Stadt überschriebenen Kapitel zum Symbol des Scheiterns einer deutschen Kultur oder Kulturideologie, die nicht hatte „helfen können, die Zustände der Menschen zu verbessern“: „Nürnberg, das war in Wahrheit ein Gleichnis. Nürnberg: Gottfried Keller hatte daran geglaubt und es dargestellt als eine Stätte und eine Gemeinschaft des Wissens, der Kunst, der Zivilisation. Nürnberg: Richard Wagner hatte daran geglaubt und es auf die Bühne gezaubert als einen festlichen Rausch von Glanz und Gloria. Nürnberg: die Hitler und Streicher, in diesen Zeiten des ‚Wartesaals’, hatten es zu einem Versammlungsort des Pöbels gemacht, zum Aufmarschgelände der Dummheit und Gewalt. Jetzt hatte es ein doppeltes Gesicht bekommen, dieses deutsche Nürnberg.“ Dem „Nürnberg Hitlers“ stellt Feuchtwangers Protagonist dann das „Nürnberg Albrecht Dürers“ gegenüber.17 Wer die Geschichte des Erinnerungsortes Nürnberg überschaut, wird aber auch unterstreichen müssen, dass nicht nur die Deutung als spezifisch „deutsche“ Stadt, sondern auch die ethnisierenden Konnotationen dieser Deutung latent schon lange vor dem „Dritten Reich“ vorhanden gewesen waren. Wenn es auch der gewalttätige Chauvinismus des Nationalsozialismus war, durch den die Stadt ein „doppeltes Gesicht“ bekam, so war doch ihre doppelte Identität schon älter.
Nürnberg in der Zeit des Nationalsozialismus Nationalsozialistischer Erinnerungs- und Ritualort „Praktische“ Zusammenhänge Dass Nürnberg zum bedeutendsten nationalsozialistischen Erinnerungs- und Ritualort wurde, hat neben den geschilderten metaphorischen Aufladungen der Stadt auch andere Gründe. Wichtig war, dass die NSDAP unter der Ägide des späteren „Frankenführers“ Julius Streicher hier schon sehr früh erfolgreiche Organisationsstrukturen aufbauen konnte. Die verhältnismäßig zentrale Lage, die günstige Verkehrsanbindung und das Vorhandensein eines gut erschlossenen Aufmarschgeländes im Luitpoldhain trugen ebenfalls dazu bei, dass sich Nürnberg schon während der Weimarer Republik als Veranstaltungsort von Reichsparteitagen der NSDAP empfahl. Eine Voraussetzung für die 1927 und 1929 stattfindenden ersten beiden Nürnberger NS-Parteitage18 war auch die unterstützende Haltung des rechtskonservativen Direktors der verstaatlichten Nürnberger Polizei, Heinrich Gareis. Auch hatte bereits 1923 ein von verschiedenen völkischen Gruppierungen veranstalteter „Deutscher Tag“ in der Frankenmetropole stattgefunden. Damals hatte übrigens gerade der Charakter Nürnbergs als einer Arbeiterstadt mit starker republikanischer Stadtregierung eine Rolle für die Wahl des Veranstaltungsorts gespielt – und eine ähnliche Motivation dürfte für die Nationalsozialisten auch weiterhin von Bedeutung gewesen sein. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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„Stadt der Reichsparteitage“ Trotz des Gewichts solcher eher „praktischer“ Zusammenhänge ist die eminente Rolle Nürnbergs für den Nationalsozialismus ohne die schon lange vor 1933 etablierte Signifikanz als „Kaiser-“ und „Reichsstadt“ sowie als Ort deutscher Selbstvergewisserung jedoch nicht verständlich. Bereits 1933 verkündete Hitler, dass nun alle Parteitage in Nürnberg stattfinden sollten. Hierauf entwickelte sich der Slogan „Stadt der Reichsparteitage“, der 1937 durch eine Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum endgültig festgeschrieben wurde: „Nürnberg, die deutsche Stadt: Von der Stadt der Reichstage zur Stadt der Reichsparteitage“. Ideologisch-propagandistisch hatte Nürnberg – das neben Berlin, München, Hamburg und Linz zu einer von fünf „Führerstädten“ avancierte – vier wesentliche, ineinander verschränkte Funktionen: 1. Nürnberg war Ort der fiktiven Realisierung der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“. Die Choreografie der Parteitagsaufmärsche und die Gestaltung der Kulissen folgten einer politischen Ästhetik, die die „Masse“ als eine gegen äußere wie innere „Feinde“ wehrhafte „Gemeinschaft“ inszenierte.19 2. Wie kaum ein anderer Ort lieferte Nürnberg die Szenerie für das persönliche Erscheinen Hitlers und seine Begegnung mit dem Volk. „All mein Hoffen, Wünschen und Sehnen“, so schrieb ein Parteimitglied 1936 über das Erlebnis, „gingen nach dieser Stadt, denn dort kam der Führer hin, der Mann, den uns Gott gesandt [...], der Führer, dessen herrliche Worte und Reden ich gelesen hatte“.20 3. Nürnberg fungierte als Ankerpunkt nationalsozialistischer Geschichtsideologie. Indem sich der Nationalsozialismus bildgewaltig der Stadt bemächtigte, wollte er sich auch der deutschen Geschichte und Kulturgeschichte bemächtigen und sich als deren konsequentes Ergebnis präsentieren. 4. Nürnberg diente der Selbstvergewisserung des Nationalsozialismus als „deutscher“ Bewegung. Gleichzeitig mit der Rede von der „Stadt der Reichsparteitage“ wurde die überlieferte Formel von der „deutschen Stadt“ in einem für die Sprache des „Dritten Reichs“ charakteristischen Superlativ übersteigert: Das nationalsozialistische Nürnberg galt nun als „deutscheste aller deutschen Städte“.21 Dem entsprach die Rolle der Stadt als Zentralort rassistischer Propagandatätigkeit – nicht nur während der Reichsparteitage, sondern durch die Tätigkeit des Stürmer-Verlags über das ganze Jahr hinweg. Der Nationalsozialismus erhob erfolgreich Anspruch auf das ganze Nürnberg: Nicht nur das um den Dutzendteich herum als „Tempelstadt der Bewegung“ entstehende Reichsparteitagsgelände, sondern vor allem auch die Altstadt dienten als Kulisse der Performation nationalsozialistischer Ideologie. Den Konnex zwischen beiden Polen dieser Konstruktion verkörperte die 1939 als Zentralachse des Parteitagsgeländes fertig gestellte „Große Straße“, die symbolisch auf die Burg ausgerichtet © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Reste der 300 Meter langen Zeppelintribüne, die als Haupttribüne des Zeppelinfeldes zwischen 1934 und 1937 auf der Zeppelinwiese entstand
war und in der anderen Richtung geradewegs in das (unvollendet gebliebene) „Märzfeld“ hineinführte. Konnte die Burg, auf der einst die Zollern Burggrafen gewesen waren, sowohl für das „Erste“ wie auch für das „Zweite Reich“ stehen, so würde nach seiner Fertigstellung das riesige, für die Waffenschauen der Wehrmacht konzipierte Märzfeld für das „Dritte Reich“ eine „großdeutsche“ Zukunft markieren, die mit den Mitteln des Krieges verwirklicht werden sollte.
Ort von Verfolgung und Ausbeutung Doch die Bedeutung Nürnbergs für das nationalsozialistische Deutschland erschöpfte sich keineswegs im Symbolischen. Als Industriestandort war die Stadt von eminenter Bedeutung für Zivilwirtschaft, Aufrüstung und Kriegswirtschaft. Wichtig für die Militärmaschine des „Dritten Reichs“ waren vor allem MAN, Siemens und Diehl. Nürnberg lieferte u.a. Motorräder, Motoren und Munition; bis Kriegsende sollen in den Werken der Stadt mehr als 3000 Kampfpanzer hergestellt worden sein.22 Die Produktivität wurde im Krieg durch die Beschäftigung einer besonders großen Zahl von Zwangsarbeitern gesichert: Bereits 1941 – also noch vor dem Einsatz von Kriegsgefangenen und Deportierten aus der Sowjetunion – waren 224 Nürnberger Firmen gemeldet, die Zwangsarbeiter heranzogen.23 Auch © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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bei der Ausgrenzung und Verfolgung jüdischer Bürger war Nürnberg sicherlich nicht nur Propagandazentrum. Unter der Führung Streichers wurden die als „Arisierung“ bezeichneten Raubaktionen hier besonders rabiat durchgeführt. Die Pogromnacht vom 9. November 1938 verlief in Nürnberg überaus brutal und forderte überdurchschnittlich viele Tote. Zudem war die oben als etabliertes Symbol deutsch-jüdischer Präsenz erwähnte Hauptsynagoge bereits im August 1938 zerstört worden. In seiner Ansprache vor der zustimmenden Menschenmenge, die sich zum Auftakt des Abrisses der Synagoge versammelte hatte, bot OB Liebel alle damals verfügbaren Nürnberg-Klischees auf, indem er die Aktion als Teil seiner Mission wertete, „aus dieser Stadt wieder eine wahrhaft deutsche Stadt, das Schatzkästlein des deutschen Reiches, zu machen“ und „dieser deutschesten aller Städte ihren Charakter“ zurückzugeben.24
Prätendierte Erinnerung? Nürnberg als Paradigma des deutschen Umgangs mit dem Nationalsozialismus Erinnerungsarbeit an einem historischen Ort Aufgrund seiner vielschichtigen, praktischen wie symbolischen Verstrickungen und Verwertungen während des „Dritten Reichs“ gilt Nürnberg mit Recht als ein zentraler Erinnerungs- und Lernort im Hinblick auf die „deutsche Vergangenheit“ des Nationalsozialismus. Die Auseinandersetzung mit dem Ort und seinen Implikationen muss nicht nur nach den Funktionen der Stadt als nationalsozialistischem Erinnerungsort – und damit nach dem Platz des Nationalsozialismus innerhalb der deutschen Geschichte und deutscher Identitätskonstruktionen – fragen, sondern auch nach den Mechanismen der alltäglichen Verpflichtung und Partizipation. Dass Nürnberg als Schauplatz der Nürnberger Prozesse zudem mit der juristischen Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen verbunden ist, trägt ebenfalls dazu bei, dass die hier zu leistende Erinnerungsarbeit besondere Anforderungen stellt, aber auch besondere Erkenntnis- und Bewusstwerdungspotentiale hat. Die Aufgabe öffentlicher Erinnerungsarbeit an einem historischen Ort liegt darin, die mit ihm verbundene Geschichte zu rekonstruieren und in angemessener Weise zu vergegenwärtigen. Es geht darum, die Implikationen eines Orts zu bestimmen und ihnen in befriedigender Form gerecht zu werden. Es ist also keineswegs Inhalt von Erinnerungsarbeit, den Grad der Verstrickung eines Orts in den Nationalsozialismus zu taxieren und mit Befunden zu anderen Orten zu vergleichen. Genau diese Tendenz, einen Ort anstelle der beteiligten Personen als Agens der Geschichte zu verstehen und ihn in Haftung zu nehmen bzw. eine solche Haftungsverpflichtung abzustreiten, hat jedoch den Diskurs über Nürnberg stets beeinflusst. So trifft z.B. Christiane Kohl in ihrer Darstellung des Schicksals Leo Katzenbergers, des 1942 hingerichteten Vorsitzenden der Israelitischen Kultus© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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gemeinde, folgende Aussage über die Zeit um 1933: „Deutschland stand an der Schwelle zur Nazi-Diktatur – Nürnberg, die Heimat der Lebkuchenbäcker und Bleistiftdreher, aber marschierte in der ersten Reihe.“25
Diffuses Bild vom Verhältnis der Stadt zum Nationalsozialismus Die Stadt und ihre Bewohner haben sich gegen derartige Urteile stets zu Wehr gesetzt. Sie verwahrten sich dagegen, Nürnberg als Projektionsfläche und Auslagerungsort einer in Wirklichkeit alle Deutschen angehenden Vergangenheit zu missbrauchen. Und tatsächlich scheinen auch die Fakten ein widersprüchliches Bild vom Verhältnis der Stadt zum Nationalsozialismus zu zeichnen: Neben der frühen Aktivität eines mit der Symbolfigur Streicher verbundenen „braunen“ Nürnberg, stehen eine durch den Namen Hermann Luppe gekennzeichnete republikanische Tradition sowie das Image als „rote“ Arbeiterstadt. Zwar erzielte die NSDAP hier schon sehr früh zweistellige Ergebnisse – bei der Reichstagswahl vom Mai 1928 waren es 10,6% bei einem Reichsdurchschnitt von nur 2,6% –, doch bereits vor Hitlers Kanzlerschaft hatte sich das Bild verändert: Während im November 1932 insgesamt 33,1% der wahlberechtigten Deutschen ihre Stimme der NSDAP gaben, waren es in Nürnberg mit 32,8% etwas weniger – eine Tendenz, die sich zum Urnengang des März 1933 noch leicht verstärkte, als 43,9% im Reich 41,7% in Nürnberg gegenüberstanden.26 Und bei der letzten Nürnberger Großkundgebung zur Verteidigung der Republik sollen sich am 12. Februar 1933 noch 60.000 Demonstranten auf dem Hauptmarkt versammelt haben.27 Durchsichtige Verdrängungs- und Verschiebungsprozesse Im Zuge der Zurückweisung vereinfachender Interpretationen des Verhältnisses Nürnbergs zum Nationalsozialismus wurden und werden aber immer wieder auch notwendige Fragen nicht nur nach der konkreten Schuld von Personen, sondern auch nach dem besonderen Charakter des Nürnberger Wegs in den Nationalsozialismus sowie nach Hintergründen, Wirkungen und Signifikanz besonderer symbolischer Zuschreibungen an den Ort blockiert. Die Projektionen, zu denen von außen gesehen schon der bloße Name der Stadt einlädt, waren aus der Innenperspektive heraus gleichermaßen Ursache wie Vorwand, ihre Geschichte während des Nationalsozialismus auszuklammern oder mit einer fragwürdigen Opfergeschichte zu überschreiben. So hieß es in einer 1974 vom Nürnberger Presseamt publizierten, aufwendigen illustrierten Broschüre: „Nürnberg gestern – das ist eine Stadt, in der Kaiser und Könige Hof halten, Handel und Wandel blühen, Bürgerfleiß und Bürgerstolz daheim sind. Das Auf und Nieder deutscher Geschichte gräbt seine Spuren in diese Stadt. Der Hochblüte des Mittelalters folgt der Niedergang nach dem Dreißigjährigen Krieg und den Napoleonischen Feldzügen. Das industrielle Zeitalter bringt einen neuen Aufschwung. Aber die Möglichkeiten der (Kriegs-)Technik führen auch zum tiefsten © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Sturz im Leben dieser Stadt. Eine ‚ruppige, häßliche, trostlose Schutthalde‘ bleibt am Ende des Zweiten Weltkriegs übrig. Mitten im 20. Jahrhundert erblüht jedoch die Stadt zu neuem Leben – die Stadt, die in Jahrhunderten gebaut, in Stunden niedergewalzt, in gut zwei Jahrzehnten wieder aufgebaut worden ist. Nürnberg hält dabei an seinem unverwechselbaren Antlitz fest, in dem die Sonnenstrahlen und Stürme seiner mehr als 900jährigen Geschichte ihre Furchen hinterlassen haben.“28 Der hier sichtbare Verdrängungs- und Verschiebungsprozess ist in Nürnberg kaum anders abgelaufen als in den meisten übrigen deutschen Städten. Er war aufgrund der engen Assoziation mit dem Nationalsozialismus und wegen seiner unübersehbaren baulichen Hinterlassenschaften hier aber durchsichtiger. Besonders irritierend ist die Ausblendung der Vergangenheit in Nürnberg auch darum gewesen, weil die typische Geschichtsvergessenheit sich in der alten Reichsstadt mit einer besonderen Geschichtsversessenheit verband. Denn wie das Zitat aus der Broschüre des Presseamts zeigt, ging das Verdrängen der „Stadt der Reichsparteitage“ mit einem bruchlosen Anknüpfen an den Überlieferungszusammenhang von der „Stadt der Reichstage“ einher. Dass beide Konstruktionen fast unzertrennlich miteinander verschweißt worden waren, wurde ignoriert. Erst recht versäumte man es, die schwierige Frage nach Analogien und genealogischen Zusammenhängen zwischen beiden ideologischen Traditionen zu stellen. Natürlich provozierte dieses Insistieren auf der Wiederherstellung einer unbefleckten Vergangenheit – die sich übrigens in der Prätention spiegelte, die fast völlig zerstörte Altstadt sei wie Phönix aus der Asche wiedererstanden – Reaktionen von außen, die aus der Innenperspektive heraus wiederum das Gefühl verstärken mussten, dass Nürnberg Unrecht getan würde.
Erste Erinnerungsversuche in der Nachkriegszeit Aber auch als Ort der Erinnerung an die nationalsozialistische Vergangenheit hat Nürnberg das von Feuchtwanger attestierte „doppelte Gesicht“ bewiesen. Denn kennzeichnend für die Stadt waren auch vergleichsweise früh geleistete Erinnerungsversuche. Zu nennen wäre u.a. die Israelreise des Nürnberger Bürgermeisters Andreas Urschlechter im Jahr 1956, auf welcher der OB emigrierte Nürnberger Bürger besuchte. Nachdem schon 1964 eine Ausstellung über den Aufstand im Warschauer Ghetto zu sehen gewesen war,29 wurden dem Nürnberger Publikum 1965 gleich zwei wichtige Ausstellungen gezeigt: im Großen Rathaussaal eine Dokumentationsausstellung über Auschwitz sowie im Luitpoldhaus eine vom Stadtarchiv und der Volksbücherei zusammengestellte Ausstellung mit dem Titel „Schicksal jüdischer Mitbürger in Nürnberg 1850-1945“. Beide Ausstellungen standen im Zusammenhang mit dem ersten der vom jungen Nürnberger Schulund Kulturdezernenten Hermann Glaser veranstalteten „Nürnberger Gespräche“, zu dessen Teilnehmern u.a. Fritz Bauer und Schalom Ben Chorin gehörten.30 © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Gerade im Licht jüngerer Entwicklungen des Erinnerungsdiskurses in Nürnberg und in Deutschland insgesamt ist es erhellend, dass die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in der Stadt – dort, wo sie überhaupt stattfand –, zunächst als Besinnung auf die Verbrechen und ihre Opfer erfolgte.
Vermittlung der Geschichte des ehemaligen Reichsparteitagsgeländes Doch wenn von Nürnberg als Ort der Erinnerung an den Nationalsozialismus gesprochen wird, richtet sich der Blick zumeist nicht auf die Zeugnisse und Zeugen nationalsozialistischer Verbrechen, sondern auf das ehemalige Reichsparteitagsgelände als Ort „volksgemeinschaftlicher“ Emphase.31 Noch lange nach 1945 konkurrierten im Umgang mit dem Areal und seinen Bauten schamhaftes Rückbauen und naiv-unbefangene Umnutzungen miteinander. Hinweisschilder gab es bis in die Achtzigerjahre hinein nicht: Die – durchaus zahlreichen – interessierten Nürnberg-Besucher mussten sich zum ehemaligen Reichsparteitagsgelände ebenso durchfragen wie zum Oberlandesgericht (dem Ort der Nürnberger Prozesse). Wieder gehörte Hermann Glaser zu den frühen Initiatoren eines Wandlungsprozesses, der zu einer Öffnung gegenüber der Vergangenheit führte. 1976 gab das Presse- und Informationsamt auf Initiative des Schul- und Kulturdezernenten eine Broschüre heraus, die Nürnberg-Besucher nun auch über die Geschichte der Stadt zwischen 1933 und 1945 informierte und so ein Gegengewicht zu den farbigen Selbstdarstellungen der historischen Noris gewährleistete. Anfang der Achtzigerjahre setzte Glaser dann einen Ausschuss ein, um nach adäquaten Möglichkeiten zur Vermittlung der Geschichte des ehemaligen Reichsparteitagsgeländes zu suchen. Hatte die Stadt 1967 die Arkadengänge und die Seitenpylonen der Zeppelintribüne wegen Baufälligkeit abtragen lassen, so wurde 1983 der Restbestand der Anlage restauriert. Im Zentralgebäude der Tribüne – das nach der Übergabe durch die amerikanischen Streitkräfte als Lagerraum des Nürnberger Motorsport-Clubs genutzt worden war – eröffnete 1985 eine als Provisorium gedachte Ausstellung, die sich unter dem Titel „Faszination und Gewalt“ mit der Geschichte des Geländes und der Stadt im Nationalsozialismus auseinander setze. Zwar konnte ein Konsortium noch 1987 ernsthaft den Umbau des Kongresshallen-Torsos zu einem Einkaufs- und Freizeitparadies vorschlagen – mit „Schwimmbad und Sporthalle auf dem Dach“, wie ein Artikel in den Nürnberger Nachrichten ohne Ironie meldete.32 Doch dies führte zu öffentlichen Protesten, die das Projekt im Stadtrat durchfallen ließen. Tatsächlich hatte sich in weiten Kreisen der Bürgerschaft ein neues Bewusstsein etabliert – das auch durch die Einsicht erleichtert worden sein mag, dass das ehemalige Reichsparteitagsgelände Touristen eher anzog als abschreckte. Eine bedeutungsvolle Wegmarke stellte das Gedenkjahr 1995 dar. Das umfangreiche und auch gerade aus heutiger Perspektive noch eindrucksvoll anmutende Programm wurde damals von einem Trägerkreis © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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koordiniert, dem neben dem Oberbürgermeister auch der Vorsitzende des DGB Mittelfranken, der Vorsitzende der israelitischen Kultusgemeinde sowie der katholische und der evangelische Stadtdekan angehörten. Gemeinsam hatte man das Gedenkjahr unter das Motto gestellt: „Erinnerung ist nicht teilbar – Nürnberg 1935/1945/1995 – Trauer, Dankbarkeit, Selbstverpflichtung“.33 Im Gedenkjahr wurde auch der aus Granitplatten der „Großen Straße“ bestehende und 1991 vollendete „Nürnberger Kreuzweg“ des österreichischen Künstlers Karl Prantl dauerhaft neben der Lorenzkirche aufgestellt. Unabhängig davon, dass die emphatische Inschrift des Denkmals historisch nicht korrekt ist,34 bewies die Stadt hier eine neue Haltung. Denn mit den Platten holte man sich das vormals meist verborgen gehaltene Reichsparteitagsgelände mitten in die Altstadt.
„Stadt des Friedens und der Menschenrechte“ Ein weiterer bedeutender Akt war 1995 die erstmalige Verleihung des Nürnberger Menschenrechtspreises, der im Anschluss an die vom israelischen Künstler Dani
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Karavan angeregte und durchgeführte Umgestaltung der Karthäusergasse in eine „Straße der Menschenrechte“ gestiftet worden war. Karavans bereits 1993 eingeweihte monumentale Inszenierung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch eine Reihe von mehr als zwei Dutzend Betonsäulen war auch Anregung zur Institutionalisierung eines neuen Attributs für die Stadt. Nürnberg, einstige „Stadt der Reichstage“ und „Stadt der Reichsparteitage“, versteht sich seither als „Stadt des Friedens und der Menschenrechte“ und vermag durch eine ungewöhnlich konsequente Würdigung der Nürnberger Prozesse der Verknüpfung der Stadt mit dem Dritten Reich nun auch eine affirmative Seite abzugewinnen. Tatsächlich ist die Notwendigkeit des Erinnerns inzwischen überparteilicher Konsens geworden. Diese, wenigstens oberflächliche, Übereinstimmung machte es möglich, das lang diskutierte Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände im Jahr 2001 schließlich in einem Kopfbau des Kongresshallentorsos zu eröffnen und so das (inhaltlich gelungene, aber infrastrukturell ungenügende) Dauer-Provisiorium der Ausstellung in der Zeppelintribüne abzulösen. Zum Sprung über die mit dem Zwanzig-Millionen-Projekt Dokumentationszentrum verbundenen finanziellen Hürden waren Land und Bund auch dadurch genötigt worden, dass der Verleger der Nürnberger Zeitung, Bruno Schnell, 250.000 Mark als zeichenhafte Anschubfinanzierung gegeben hatte. Im Vorwort zu einer 2002 in der Schriftenreihe des Dokumentationszentrums erschienenen Studie über die NS-Reichsparteitage zieht Schnell eine positive Bilanz der von ihm beförderten Nürnberger ErinnerungsGeschichte: „Spätestens im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts“ habe sich Nürnberg „mit seinem Anteil an dem Marsch in den Abgrund so intensiv, konsequent und kontinuierlich auseinandergesetzt wie kaum eine andere deutsche Stadt“. Ergebnis sei „eine neue Kultur im Umgang mit der braunen Vergangenheit, ja inzwischen sogar eine Tradition des Erinnerns, die als beispielhaft gelten darf “.35
Verschränkungen von Verdrängen und Bekennen Beispielhaft ist Nürnberg jedoch nicht nur für die Möglichkeiten, sondern auch für die Schwächen des einer eigenen Dialektik von Öffnung und Beschränkung folgenden neuen deutschen Vergangenheitsbewusstseins. So kehrt auch Schnell im zitierten Vorwort zu klischeehaften und fragwürdigen Geschichtskonstruktionen zurück: „Im düstersten, grausamsten Kapitel der deutschen Geschichte“ habe Nürnberg zwar „eine auf fatale Weise besondere Rolle gespielt“ – diese sei der Stadt jedoch „aufgezwungen“ worden, deren „große Vergangenheit“ man „missbraucht“ habe.36 Der Drang, die bedeutungsvolle Geschichte Nürnbergs von allen Verbindungen mit ihrer nationalsozialistischen Verwertung zu reinigen, verhindert die Auseinandersetzung mit Genese und Signifikanz des nationalsozialistischen Nürnberg-Bilds. Die vom Nationalsozialismus aktivierte ideologische Tiefenstruktur Nürnbergs als „deutschem“ Erinnerungsort wird ausgeblendet. Der Blick auf © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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die komplexen Strukturen symbolischer und praktischer Vereinnahmung wird verstellt. Stattdessen soll die Geschichte Nürnbergs während des „Dritten Reichs“ auf das Areal des Reichsparteitagsgeländes und auf dort vollzogene symbolische Handlungen eingegrenzt werden. Diese Verschränkungen von Verdrängen und Bekennen stellen sich aus der Außenperspektive besonders deutlich dar. So spricht der englische Nürnberg-Kenner Neil Gregor bezüglich des örtlichen Umgangs mit der Vergangenheit sogar von einer „illusion of remembrance“, also einer nur scheinbaren oder prätendierten Erinnerung. Der Fokus auf das Brimborium des Reichsparteitagsgeschehens, auf die eingeführte Anti-Figur Julius Streicher und auf den dramatischen Akt der Nürnberger Prozesse fördere letztlich die Fortsetzung des Schweigens über konkrete Verwicklungen der Stadt oder ihrer Bürger in die alltägliche Maschinerie des Nationalsozialismus. Indem lokale Erzählungen den Nationalsozialismus vor allem als Propagandaphänomen fokussierten, würden sie letztlich die weit gehende Beteiligung und Zustimmung der Bevölkerung am Regime und seinen Verbrechen verschleiern.37 Als konkretes Beispiel zieht Gregor den Fall des Nürnberger Industriellen Karl Diehl heran. 1997 wurde der damals Neunzigjährige, dessen Firma nicht nur zu den wichtigen Ausrüstern der NATO-Armeen gehört, sondern auch eine wesentliche Rolle bei der Aufrüstung der deutschen Wehrmacht und in der Kriegswirtschaft des „Dritten Reichs“ spielte, zum Ehrenbürger Nürnbergs ernannt. Die darauf hin entbrennende Debatte über Diehls Verwendung von Zwangsarbeitern – auch aus Konzentrationslagern – führte zwar zu erheblichen Irritationen, aber eben nicht zur Aberkennung der Ehrenbürgerschaft durch die „Stadt des Friedens und der Menschenrechte“. Tatsächlich gibt es Anhaltspunkte dafür, dass das mit Fokus auf das ehemalige Reichsparteitagsgelände sich formierende konsensuelle Gedenken auch mehr oder weniger sublime Akte der Verdrängung beinhaltet. Als Beispiel muss auch die im Übrigen verdienstvolle Ausstellung im Dokumentationszentrum genannt werden. Denn die von der alten Ausstellung übernommene und sicherlich glücklich gewählte Thematik „Faszination und Gewalt“ wird nur teilweise im Konkreten eingelöst: „Gewalt“ – als Voraussetzung, Inhalt und Ergebnis der unzweifelhaften Faszinationskraft des Nationalsozialismus – wird vor allem abstrakt, mit Bezug auf konventionalisierte Bilder ohne lokalen Bezug (etwa das topologische Tor von Auschwitz-Birkenau) repräsentiert, während der Aspekt der Faszination durchaus konkret nachvollziehbar gemacht und in Nürnberg verortet wird. Dabei hätte es auch bezüglich der „Gewalt“ ganz konkrete Bezüge gegeben – und dies auch im engeren Bereich des Reichsparteitagsgeländes. Zwar behandelt die Ausstellung die Zwangsarbeit, welche die Häftlinge von Konzentrationslagern durch das Brechen und die Bearbeitung von Steinen für Repräsentationsbauten zu leisten hatten. Aber es ist nicht davon die Rede, dass während des Krieges Tausende von © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Kriegsgefangenen auf dem Gelände festgehalten wurden und starben.38 Ebenso wenig erfährt der Besucher von den Deportationen jüdischer Nürnberger über den (auf dem Areal liegenden und in direkter Beziehung zum Parteitagsgeschehen stehenden) Nebenbahnhof Märzfeld.39 Dass die Ausstellung auch jenseits lokaler Bezüge möglicherweise zu wenig tut, um distanzierende oder personalisierende Interpretationen des Nationalsozialismus zu irritieren, scheint zum Beispiel eine überaus positive Besprechung nahezulegen, die 2002 in den Zeitungen des Presseverbunds „Rhein Main Presse“ erschien. Deren Verfasserin gelangt zu dem Fazit: „Das Dokumentationszentrum beweist: Ein einziger Mann, dessen Charisma seine Gefolgschaft und die Massen faszinierte, war Urheber des Unheils europäischer Völker. Worauf beruhte seine ‚besondere Ausstrahlung‘? Es wird nie zu entschlüsseln sein.“ 40
Ostentative Unbefangenheit im Umgang mit den Relikten des Nationalsozialismus Kennzeichnend für den gegenwärtigen Umgang mit dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände ist neben der durch das Dokumentationszentrum und seine Architektur manifestierten Erinnerungsanstrengung und neben dem Stolz auf die vollbrachten Erinnerungsleistungen aber weiterhin die seit Nachkriegstagen charakteristische ostentative Unbefangenheit im Umgang mit den Relikten des Nationalsozialismus. Nach wie vor findet das Nürnberger Volksfest unmittelbar neben dem riesigen Torso der nationalsozialistischen Kongresshalle statt und immer noch umkreisen Rennwagen auf dem „Norisring“ die Zeppelintribüne. Das Areal ist so in eigentümlichem Nebeneinander beides: großräumiges Denkmal für nationalsozialistische Emphase und „volksgemeinschaftliche“ Ekstase wie auch modernes Naherholungsgebiet. Wie leicht sich das eine bei der Beachtung des anderen ausblenden lässt, zeigt ein 2005 im Nürnberger Stadtanzeiger erschienener Artikel über einen beliebten örtlichen Biergarten: „Warum schmeckt das Bier im Wanner besonders gut? Was macht eigentlich den Reiz dieser Lokalität aus?“ So fragt die Verfasserin – und antwortet: „Auf jeden Fall der Blick über den See, vor allem wenn die Abendsonne von Westen goldgelb zwischen den Blättern der großen Eichen durchscheint.“ 41 Scheinbar unbemerkt bleibt, worauf sich der verklärende Blick unumgänglich richten muss: nämlich auf den am gegenüberliegenden Seeufer gelegenen, mehr als 200 Meter breiten Torso der nationalsozialistischen Kongresshalle. Solche überraschende Ausblendungen scheinen in Nürnberg alltäglich. Gleichzeitig aber ist die Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus inzwischen fester, ja fast allgegenwärtiger Bestandteil städtischer Selbstdarstellungen geworden. Im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft von 2006 war auf den Seiten eines von der Stadt betriebenen Internet-Portals folgende Kurzcharakteristik zu lesen: „Nürnberg – da denkt der eine an Bratwürste, Lebkuchen und den Christkindlesmarkt, der © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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andere an die von den Nationalsozialisten missbrauchte ‚Stadt der Reichsparteitage‘ und die Nürnberger Prozesse, wieder andere an die Renaissance-Stadt von europäischem Rang, in der Geistes- und Kunstgrößen wie Albrecht Dürer und Willibald Pirckheimer wirkten.“ 42 Aus der zitierten Passage spricht ein neuer Synkretismus, der am Nationalsozialismus zwar nicht mehr vorbei kann, sich aber auch nicht zur Herstellung von Zusammenhängen verpflichtet fühlt. Auch hierin ist Nürnberg wohl repräsentativ für den Stand eines deutschen Vergangenheitsdiskurses, der zwar zunehmend hektisch Erinnerungsfragmente (re)produziert, aber gleichzeitig darauf verzichtet, sie in historisches Bewusstsein zu übersetzen. Dies kritisierte jüngst auch die Erinnerungsforscherin Aleida Assmann: „Erinnerung schottet sich ab, sie ist kleinteilig. Deshalb brauchen wir historisches Bewusstsein. Wir brauchen zu den atomisierenden Episoden der Erinnerung das größere Tableau. Nur dann kann man auch die eigene Blindheit erkennen, dass wir mit dem Erinnern immer etwas vergessen.“ 43
Die Potentiale Nürnbergs als zentraler deutscher Erinnerungsort Fast scheint es, als sei in Nürnberg heute das Selbstverständnis als erinnerungskultureller Musterort oder als „Stadt des Friedens und der Menschenrechte“ an die Stelle des Leidens an der Vergangenheit und der „Sündenbock“-Rolle der Stadt getreten. Diesen Eindruck erweckt jedenfalls ein interner Nürnberger Diskurs, der mit Stolz auf die in der Stadt tatsächlich vollbrachten Erinnerungsleistungen verweist und diese – nicht ohne Berechtigung – mit dem anhaltenden Schweigen anderer Städte, z.B. Münchens, über ihre spezifische Vergangenheit vergleicht. Wie aber etwa die Rolle Nürnbergs in W. G. Sebalds eingangs zitiertem, 2001 erschienenen Roman Austerlitz zeigt, wird aus der Außenwahrnehmung heraus der vermeintliche oder tatsächliche Sonderstatus Nürnbergs weiterhin fortgeschrieben. Ein Grund für dieses letztlich unhintergehbare Beharren auf der besonderen Rolle Nürnbergs und auf dem besonderen Klang seines Namens liegt in der tief verwurzelten Funktion der Stadt als eines überdeterminierten Erinnerungsorts, dessen vielfache Bedeutungen sich nicht mehr selektiv ratifizieren lassen: Man kann die „Dürerstadt“ nicht ohne die „Führerstadt“ haben. Vielleicht lässt sich auf Nürnberg übertragen, was C. K. Williams in provokativer Absicht für das „Volk der Deutschen“ insgesamt feststellt. Diese, so argumentiert der amerikanische Lyriker, würden einfach nicht begreifen, dass die Verstrickung in die unerhörten nationalsozialistischen Verbrechen sie zu einem „symbolischen Volk“ gemacht habe. Als solches würden sie in erster Linie nicht „dadurch definiert werden, was sie tatsächlich sind oder tun“, sondern „durch das, wofür sie stehen“. Freilich sei in solchen Fällen die Wahrnehmung verzerrt, „Techniken der Unterlassung und Vermeidung“ würden den Symbolwert allerdings nur aufladen. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Wesentlich sei hingegen, „veränderte Zeichen“ hervorzubringen, die sowohl Selbst- wie auch Fremdwahrnehmung reformieren könnten. „Ich zweifle daran“, so schreibt Williams, „dass die Errichtung von Denkmälern und Museen ausreicht.“44 Auch wenn die These vom „symbolischen Volk“ letztlich Bedenken hervorrufen muss, lässt sie sich doch als im positiven Sinn provokative außenperspektivische Intervention in eine wieder zunehmend autistische deutsche Debatte begreifen. Es geht dann bestimmt nicht darum, die von Williams skizzierten symbolischen Zuschreibungsmechanismen zu akzeptieren. Wichtig wäre dagegen, sie in ihrer Bedingtheit zu begreifen und womöglich als Anstoß zu nutzen. So lassen sich auch die schlagworthaften Bedeutungen des symbolischen Orts Nürnberg – z.B. als „die deutscheste aller deutschen Städte“ oder „die aggressivste Nazi-StadtDeutschlands“45 –kaum durch erinnerungspolitische Interventionen zurechtrücken. Sie sollten stattdessen als Ausgangspunkt fruchtbarer Reflexion genutzt werden. Fruchtbar könnte eine solche Reflexion in Nürnberg auch darum sein, weil sich der symbolische Ort konkret als vielseitige und durchaus heterogene Erinnerungslandschaft darbietet und damit Interventionen in den aktuellen Bedeutungsgehalt überlieferter Symbole ermöglicht. Zu den Sehenswürdigkeiten dieser Landschaft gehören neben den Relikten des Reichsparteitagsgeländes etwa die beiden Nürnberger Bundesbehörden: die in der Nähe des Luitpoldhains liegende Bundesagentur für Arbeit ebenso wie das in der ehemaligen „SS-Kaserne“ untergebrachte Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Zu erwägen oder zu besichtigen wären aber auch die auf dem Zustrom „fremder“ Handwerker und Wissenschaftler beruhende Inventions- und Produktionskraft der mittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Stadt, das in der Nähe der Mauthalle aufgestellte Zentraldenkmal der Bayerischen Staatsregierung für die Vertriebenen oder die „Straße der Menschenrechte“. Dieses erstaunliche Gesamtensemble provoziert nicht nur Fragen nach Kontexten und Zusammenhängen, Vorgeschichten und Nachwirkungen des Nationalsozialismus – also nach seinem Platz innerhalb einer bis in die Gegenwart reichenden deutschen Geschichte. Es lädt auch dazu ein, in Nürnberg als einem zentralen deutschen Erinnerungsort über das Verhältnis zwischen „Deutschen“ und „Fremden“ nachzudenken, wie dies W. G. Sebald in der eingangs zitierten Nürnberg-Episode tut und wie dies Neil Gregor in seinem oben paraphrasierten Nürnberg-Aufsatz fordert. Ebenso wie es für den nationalsozialistischen Staat durchaus konsequent war, die diskriminierenden Rassegesetze von 1935 in Nürnberg zu verabschieden und zu verkünden, wäre es heute folgerichtig und lohnend, in der „deutschesten aller deutschen Städte“, die ja eine stark von Einwanderern geprägte Stadt ist, nach tragfähigen und produktiven Erinnerungskonstruktionen für die gerne als „Zuwanderungsgesellschaft“ apostrophierte metropolitane Differenzgesellschaft der BRD zu suchen. Es ginge darum, Erinnerungstraditionen und Handlungskonzepte zu begründen, die auf Partizipation ohne Ausschluss zielen. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Anmerkungen 1 Winfried G. Sebald: Austerlitz. Frankfurt/M. 2003, 323. Mit „Verlagshaus der Nürnberger Nachrichten“ ist offenbar die Geschäftsstelle der Zeitung in der Mauthalle, Ecke Hallplatz und Königstraße, gemeint. 2 Vgl. Siegfried Zelnhefer: Die Reichsparteitage der NSDAP in Nürnberg. Nürnberg 2002, 11-12: „Wer zur wissenschaftlichen oder populären Literatur greift, die sich in irgendeiner Form mit dem Thema Nationalsozialismus beschäftigt, kann ziemlich sicher sein, als Illustration Bildern von den Reichsparteitagen zu begegnen. [...] Die Parteitage der NSDAP gelten oftmals [...] als Synonym für das gesamte NS-Regime.“ 3 Horst Krüger: Nürnberger Augenblicke 1971. Deutsche Stadtpläne: Reiseprosa. München 1984, 168 f. 4 Vgl. Katja Czarnowski: Nürnberg – ‚gemauerte Chronik‘ oder ‚Abfallhaufen der Geschichte‘? Steinbruch – Deutsche Erinnerungsorte: Annäherung an eine deutsche Gedächtnisgeschichte. Hrsg. von Constanze Carzenac-Lecomte et al. Frankfurt/M. 2000, 167. Hier wird Nürnberg als „ein Mosaik von Symbolen und Mythen“ charakterisiert, deren Rezeptionsgeschichte als „Knäuel verschiedenster Wahrnehmungsstränge“ erscheint. 5 Anne G. Kosfeld: Nürnberg. Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1. Hrsg. von E. François und H. Schulze. München 2001, 72. 6 Siegfried Zelnhefer: Die historische Kulisse: Bild und Selbstbild der Stadt der Reichsparteitage. Unterm Hakenkreuz: Alltag in Nürnberg 1933-1945. München 1993, 32. 7 Wilhelm Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck: Ehrengedächtnis unseres ehrwürdigen Ahnherrn Albrecht Dürers von einem kunstliebenden Klosterbruder. Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders. Stuttgart 1979, 50f. Gemeinsam mit Tieck hatte Wackenroder 1793 in Erlangen studiert und von dort aus mehrmals Nürnberg besucht. Ergebnis waren die in der Folgezeit großen Teils von Wackenroder verfassten Texte, die Tieck ohne Wissen seines Freunds 1796 in einem auf 1797 datierten Band veröffentlichte. 8 Ebd. 56. 9 Vgl. A. G. Kosfeld: A.a.O. 72. 10 Vgl. Johannes Scharrer: Die Blüthezeit Nürnberg’s in den Jahren 1480–1530: Eine historische Skizze als Einladungsschrift zum Feste der Grundsteinlegung für Albrecht Dürer‘s Denkmal in Nürnberg den 7. April 1828. Nürnberg 1828. 11 A. G. Kosfeld: A.a.O. 78. 12 Vgl. Charlotte Bühl: Revolution, Demokratie, Reichsbewußtsein: Nürnberg 1848/49. Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 85. Nürnberg 1998, 185-277. 13 Vgl. Arnd Müller: Geschichte der Juden in Nürnberg 1146-1945. Nürnberg 1968, 167 f., 184. Zitat Stromer 168. 14 Schon vor ihrer Einweihung war die Synagoge in einen wichtigen Nürnberger Erinnerungsakt eingebunden gewesen: Als das nahe liegende Hans Sachs-Denkmal eingeweiht wurde, stellte die jüdische Gemeinde die Freitreppe der noch nicht geöffneten Synagoge zur Verfügung und das Gebäude wurde eigens für den Festakt beleuchtet. A. Müller: A.a.O. 184. 15 Die im touristischen Kontext gelegentlich noch immer zitierte Floskel entstand erst relativ spät. Sie geht wohl auf die Fremdenverkehrswerbung des späten 19. Jahrhunderts zurück und tauchte, vor ihrer allseitigen Strapazierung durch nationalsozialistische Organe, vor © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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allem in Broschüren zum Dürerjahr 1928 auf. Vgl. Matthias Mende: ‚Des deutschen Reiches Schatzkästlein‘. Von der Last eines Namens. Erinnerung ist nicht teilbar – Nürnberg 1935, 1945, 1995. Sonderheft von Nürnberg Heute. Nürnberg 1994, 4-7. Vgl. A. G. Kosfeld: A.a.O. 80; K. Czarnowski: A.a.O. 179. Lion Feuchtwanger: Exil. Berlin 1976, 708. Es handelte sich um den dritten und den vierten Reichsparteitag der NSDAP. Die ersten beiden hatten 1923 in München und 1926 in Weimar stattgefunden. Zur politischen Ästhetik der NS-Reichsparteitage siehe: Martin Loiperdinger: Rituale der Mobilmachung. Der Parteitagsfilm Triumph des Willens von Leni Riefenstahl. Opladen 1987; Bernd Ogan und Wolfgang W. Weiß (Hrsg.): Faszination und Gewalt. Zur politischen Ästhetik des Nationalsozialismus. Nürnberg 1992; Yasmin Doosry: „Wohlauf, laßt uns eine Stadt und einen Turm bauen“. Studien zum Reichsparteitagsgelände in Nürnberg. Tübingen 2002. Zit. in Marlene Müller-Rytlewski: Alltagsmühsal und Parteitagsherrlichkeit. Aus Erlebnisberichten der ‚Alten Garde‘. In: B. Ogan und W. W. Weiß (Hrsg.): A.a.O. 113. Die Floskel wurde von NS-Oberbürgermeister Willy Liebel spätestens ab 1936 gebraucht (zit. bei S. Zelnhefer: Reichsparteitage, 163, 293). Vgl. Egon Fein: Hitlers Weg nach Nürnberg. Nürnberg 2002, 201. Fein gibt an, Hitler habe schon 1931 Nürnberg als „deutscheste Stadt überhaupt“ bezeichnet. Noch am 18.04.1945 schrieb Gauleiter Karl Holz an Hitler, er wolle „in der deutschesten aller deutschen Städte bleiben, kämpfen und fallen“ (zit. in E. Fein: A.a.O. 440). Bei K. Czarnowski: A.a.O. 173, Anm. 17, findet sich der Hinweis, dass OB Georg Ritter v. Schuh womöglich schon Anfang des 20. Jahrhunderts von „der deutschesten aller deutschen Städte“ gesprochen habe. Georg Wolfgang Schramm: Nürnberg im Fadenkreuz. Bombardierung und Vernichtung. Unterm Hakenkreuz, hrsg. vom Centrum Industriekultur, 198. Neil Gregor: ‘The Illusion of Remembrance‘: The Karl Diehl Affair and the Memory of National Socialism in Nuremberg, 1945-1999“. The Journal of Modern History 75 (2003), 610. Bericht im Parteiblatt Fränkische Tageszeitung, 11.08.1938; zit. in A. Müller: A.a.O. 237. Zu Arisierung und Pogromnacht siehe A. Müller: A.a.O. 219-229, 239-251. Der besondere Druck, der in Nürnberg auf jüdische Bürger ausgeübt wurde, wird auch durch deren frühe Emigration belegt. Vgl. A. Müller: A.a.O. 256: „Die besondere Rolle Nürnbergs in der Judenverfolgung hat manchen heutigen Israelis das Leben gerettet. In dieser Stadt hatten viele Menschen schon zeitig erkannt, daß mit dem Naziregime nicht zu spaßen war.“ Christiane Kohl: Der Jude und das Mädchen. Eine verbotene Freundschaft in Nazideutschland. Hamburg 1997, 29. Auffallend ist, dass Kohl dieses Radikal-Urteil im Nachwort ihres Buches (S. 357) dann bis zur Bedeutungslosigkeit relativiert: „Daß die Geschichte sich in Nürnberg ereignete, ist aber wohl eher ein Zufall – sie hätte sich so oder ähnlich sicher in fast jeder anderen deutschen Stadt zutragen können.“. Wahlergebnisse nach Michael Diefenbacher und Rudolf Endres (Hrsg.): Stadtlexikon Nürnberg. Nürnberg 22000, 1243. Helmut Beer und Udo Winkel: SPD. In: M. Diefenbacher und R. Endres (Hrsg.): A.a.O. 1004.
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28 Stadt Nürnberg, Presse- und Informationsamt (Hrsg.): Nürnberg – gestern, heute, morgen. Nürnberg 1974, keine Seitenzählung. 29 N. Gregor: A.a.O. 624. 30 A. Müller: A.a.O. 298-299. 31 Zum Umgang mit dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände nach 1945 siehe: Eckart Dietzfelbinger: Der Umgang der Stadt Nürnberg mit dem früheren Reichsparteitagsgelände. Nürnberg 1990; ders. und Gerhard Liedtke: Nürnberg – Ort der Massen. Das Reichsparteitagsgelände – Vorgeschichte und schwieriges Erbe. Berlin 2004. 32 Centrum Industriekultur Nürnberg (Hrsg.): Reproduktion des Artikels mit Skizze zum projektierten Umbau der Kongresshalle in Kulissen der Gewalt. Das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg. Nürnberg 1992. 33 Vgl. das im Dezember 1994 vom Presse- und Informationsamt der Stadt Nürnberg unter dem Titel „Erinnerung ist nicht teilbar“ zum Gedenkjahr herausgegebene, mit zahlreichen fundierten Aufsätzen ausgestattete Sonderheft von Nürnberg Heute (mit beigelegter Programmübersicht). 34 Die Inschrift verweist darauf, dass Steine für das Reichsparteitagsgelände durch KZ-Häftlinge gefertigt werden mussten. Dies ist zwar richtig, trifft aber gerade auf die Platten der „Großen Straße“ nicht zu. Siehe hierzu und zum „Nürnberger Kreuzweg“ insgesamt: Alexander Schmidt: Geländebegehung. Das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg. Nürnberg 32002, 62. 35 Bruno Schnell: Vorwort. In: S. Zelnhefer: Die Reichsparteitage der NSDAP in Nürnberg. Nürnberg 2002, 6. 36 Ebd. 6. 37 N. Gregor: A.a.O. besonders 596 und 630. 38 Nach E. Dietzfelbinger (A.a.O. 6) sind während des Krieges in Langwasser etwa 3.300 sowjetische Soldaten gestorben. Inhaftiert waren aber auch Kriegsgefangene aus vielen anderen Nationen. Vgl. Erika Sanden: Das Kriegsgefangenenlager Nürnberg-Langwasser 1939–1945. Ergebnisse einer Spurensuche. Nürnberg 1993. 39 Zu den Deportationen über den Bahnhof Märzfeld siehe Müller 279-287 und Schmidt 232-235. 40 Ester Knorr-Anders: Das schwere Erbe. Gedanken zum Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände in Nürnberg. In: Wiesbadener Kurier, 9. März 2002. 41 Christine Anneser: Viele Plätze für einen Biergarten. Ist das ‚Erlebnis Wanner‘ wirklich so einmalig? In: Nürnberger Stadtanzeiger, 16. März 2005, 3. Beim Stadtanzeiger handelt es sich um eine gemeinsame Beilage der Nürnberger Nachrichten und der Nürnberger Zeitung. 42 „Nürnberg im Herzen Frankens“, http://www.wm2006.nuernberg.de/ver2003/scripts/01_wmstadt-nuernberg.php (Zugriff am 9. Februar 2005). 43 Aleida Assmann in „‚Das ist unser Familienerbe‘: Ein Gespräch über falsches Erinnern und richtiges Vergessen mit Aleida Assmann und Harald Welzer“, Wochendbeilage der tageszeitung vom 22./23. Januar 2005, ii. 44 C. K. Williams; Das symbolische Volk der Täter. In: Die Zeit, 07. November 2002, 37. 45 Letzterer Nürnberg-Slogan stammt von Peter Roos: Hitler lieben. Roman einer Krankheit. Leipzig 2000, 80.
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Lernort Dachau Zeitgeschichtliche Studienprogramme für Jugendliche
Die KZ-Gedenkstätte Dachau wird alljährlich von ca. 700.000 bis 900.000 Menschen aus dem In- und Ausland besucht. Darunter befinden sich auch zahlreiche Jugendliche. Diese große Besucherzahl lässt auf eine besondere Ausstrahlung und Anziehungskraft dieses Ortes schließen. Ohne auf andere Funktionen und Aufgaben der Gedenkstätte einzugehen, sollen hier aus Sicht der historisch-politischen Bildung die pädagogischen Chancen und Möglichkeiten, die die Gedenkstätte und ihr Umfeld bieten und die den besonderen „Lernort Dachau“ konstituieren, erörtert werden. Nach einer knappen Beschreibung des historischen Ortes und seiner Veränderungen in den über sechzig Jahren seit der Befreiung des Konzentrationslagers wird nach einem Exkurs zum Jugendgästehaus Dachau exemplarisch das Konzept der mehrtägigen zeitgeschichtlichen Studienprogramme für Schulklassen und Jugendgruppen im Jugendgästehaus Dachau vorgestellt. In einem abschließenden Teil werden weiterführende Überlegungen zum „Lernort Dachau“ diskutiert.
Der historische Ort Das Konzentrationslager wurde bereits wenige Wochen nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, am 22. März 1933, auf dem Gelände einer nach dem 1. Weltkrieg stillgelegten Pulver- und Munitionsfabrik nahe dem damaligen Markt Dachau eingerichtet. Das Lager bestand ununterbrochen bis zur Befreiung durch die amerikanische Armee am 29. April 1945. Damit war es auch das einzige Konzentrationslager, das während der gesamten zwölf Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft existierte.1 Der Dachauer Lagerkomplex umfasste neben dem so genannten „Schutzhaftlager“ einen – räumlich wesentlich ausgedehnteren – Bereich der SS. Dort waren nicht nur die Wachmannschaften des Konzentrationslagers stationiert, sondern auch weitere Verbände und Einrichtungen der SS, die organisatorisch nicht zum Konzentrationslager gehörten.2 Zunächst waren in dem Lager vor allem politische Gegner der Nationalsozialisten – sowohl Angehörige der politischen Linken als auch konservativer Kreise – inhaftiert. Ab 1936 weitete sich die nationalsozialistische Verfolgungs- und Terrorpolitik aus. Nunmehr wurden Menschen, die nach nationalsozialistischer © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Am Lagertor im Jourhaus ließ die SS den Spruch „Arbeit macht frei“ anbringen
Auffassung nicht zur „Volksgemeinschaft“ gehörten, in immer größerer Zahl in Volksgemeinschaft“ gehörten Konzentrationslager eingewiesen. Dazu zählten beispielsweise Personen, die von dem nationalsozialistischen Verfolgungs- und Terrorapparat als „vorbestrafte Kriminelle“, „Asoziale“, „Zigeuner“ oder „Arbeitsscheue“ eingestuft wurden, aber auch Homosexuelle, Bibelforscher, Artisten aus Nachtclubs, professionelle Tänzer und vorbestrafte Juden. Nach der Pogromnacht am 9. November 1938 wurden über 10.000 jüdische Männer eingeliefert. Die Internationalisierung der Häftlingsgesellschaft begann mit der Annexion Österreichs (13. März 1938). Der erste Transport aus Wien erreichte das Lager am 1./2. April 1938. Mit der Besetzung des tschechoslowakischen Grenzgebietes nach dem Münchner Abkommen (30.09.1938) und der Okkupation der RestTschechoslowakei (15. März 1939) erweiterte sich der Kreis der Häftlinge um Bürger dieses Landes. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Mit dem Kriegsbeginn am 1. September 1939 setzte dann vollends die Internationalisierung der Häftlingsgesellschaft ein. Am Ende des Krieges befanden sich im Konzentrationslager Menschen aus über 30 Nationen. Die deutschen Häftlinge wurden im Verlauf dieser Entwicklung zu einer Minderheit, die etwa 9 % der gesamten Häftlingsgesellschaft ausmachte. In den zwölf Jahren zwischen 1933 und 1945 sind insgesamt mehr als 206.000 Häftlinge registriert worden. Hinzu kommt noch eine unbekannte Zahl nicht verzeichneter Einlieferungen. Über 45.000 Menschen kamen in Dachau um. Für die Kenntnis des historischen Ortes ist auch der Hinweis bedeutsam, dass sich das Gefangenenlager zunächst in vorhandenen Gebäuden der ehemaligen Fabrik befand. Erst 1938 wurde ein neues „Schutzhaftlager“ auf einem 600 x 300 Meter großen Areal neu errichtet. Die heutige Gedenkstätte befindet sich auf diesem Gelände. Nicht im Bereich des Schutzhaftlagers, sondern im Bereich der SS befanden sich die 1940 und 1943 errichteten Krematorien, die nur über den SS-Bereich zu erreichen waren. Eine unmittelbare Verbindung gab es damals – anders als heute – nicht. Infolge des Kriegsverlaufes und der Verknappung der Arbeitskräfte wurden die Gefangenen des Konzentrationslagers Dachau zunehmend in der Kriegsproduktion eingesetzt. Das hatte zur Folge, dass ab 1942 eine Vielzahl großer und kleinerer Außenlager und Außenkommandos im süddeutsch-österreichischen Raum entstand. Landsberg-Kaufering und Mühldorf, wo versucht wurde, rüstungsindustrielle Fertigungsanlagen unterirdisch bzw. mit besonderem Betonschutz gegen Luftangriffe zu erbauen, zählen zu den größten Außenlagern des Konzentrationslagers Dachau. Die Geschichte des Konzentrationslagers endet zwar mit der Befreiung, aber die Geschichte des Lagerkomplexes geht weiter.3 Zwischen 1945 und 1948 diente das Gelände als Lager für Kriegsverbrecher sowie als Internierungslager für Angehörige der SS, Nazifunktionäre und andere mit dem Regime verbundene Personen. Hier wurden auch die Dachauer Prozesse gegen Angehörige der Kommandanturstäbe des KZ Dachau und anderer Konzentrationslager sowie gegen Wachmannschaften verschiedener Konzentrationslager durchgeführt.4 Der ehemalige Schutzhaftlagerbereich wurde 1948 der bayerischen Verwaltung übergeben, die in den Baracken Wohnungssuchende, Heimatvertriebene und Flüchtlinge unterbrachte, während der ehemalige SS-Bereich noch bis 1972/1973 von der amerikanischen Armee genutzt wurde.5 Die Unterbringung von Flüchtlingen und Heimatvertriebenen in dem nunmehr als „Wohnsiedlung Dachau-Ost“ bezeichneten ehemaligen Schutzhaftlager dauerte bis in die 60er Jahre. Anlässlich des zehnjährigen Jahrestages der Befreiung (1955) kamen Überlebende aus vielen Ländern, überwiegend aus Westeuropa, nach Dachau, die über den verwahrlosten Zustand des ehemaligen Konzentrationslagers entsetzt waren. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Sie erhoben die Forderung, an diesem Ort eine Gedenkstätte zu errichten, in der in würdiger Form der Leiden der verstorbenen Kameraden gedacht werden könne. Um diese Forderung durchzusetzen, wurde das „Comité International de Dachau“, das 1945 kurz vor der Befreiung als geheime Häftlingsorganisation entstanden war, wieder ins Leben gerufen. Ihm gelang es, mit der Bayerischen Staatsregierung eine Vereinbarung über die Errichtung einer Gedenkstätte zu treffen, so dass zum zwanzigsten Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers 1965 die KZ-Gedenkstätte eröffnet werden konnte. Bereits 1960 war im Zusammenhang mit dem Eucharistischen Weltkongress in München die Katholische Todesangst-Christi-Kapelle auf dem Gelände des ehemaligen Schutzhaftlagers errichtet worden. Weitere religiöse Gedenkstätten folgten: das Karmel-Kloster „Heilig Blut“ (1963/1964), die Evangelische Versöhnungskirche (1967) sowie die Jüdische Gedenkstätte (1967). Im Jahr 1994 kam eine Russisch-Orthodoxe Kapelle hinzu. Auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte befinden sich verschiedene Bauten aus der Zeit des Konzentrationslagers: Wirtschaftsgebäude, Bunker (Lagergefängnis), Jourhaus (Torhaus) und die beiden Krematorien. Die Baracken, in denen die Häftlinge untergebracht waren, sind nicht erhalten. Sie wurden nach dem Auszug der letzten Bewohner der „Wohnsiedlung Dachau-Ost“ vollständig abgerissen. Im Zuge der Errichtung der Gedenkstätte wurden zwei Baracken rekonstruiert, die einen Eindruck von den damaligen Lebensverhältnissen im Lager vermitteln sollen. Die Lage der anderen Baracken wird durch Steinumrandungen, die jedoch nicht die ursprünglichen Fundamente darstellen, markiert. Das Hauptgebäude des Komplexes, das U-förmige Wirtschaftsgebäude, beinhaltet im Innenbereich nur an wenigen Stellen noch originale Bausubstanz, da es in der Nachkriegszeit vielfach umgebaut wurde. Der Eingang der KZ-Gedenkstätte befand sich vierzig Jahre lang an einer Stelle, an der es während der NS-Zeit keinen Zugang gegeben hatte. Man kam nur durch einen nachträglich geschaffenen „Hintereingang“ auf das Gelände des ehemaligen Schutzhaftlagers. Seit 1995 läuft ein Prozess der Sanierung der vorhandenen Baulichkeiten sowie einer wissenschaftlich fundierten Neugestaltung der Gedenkstätte. In diesem Kontext wurde auch festgelegt, den historischen Zugang durch das Jourhaus wieder zu öffnen. Diese Planung wurde anlässlich des 60. Jahrestages der Befreiung am 1. Mai 2005 realisiert.6 Den Gedenkstättenbesuchern wird seitdem ermöglicht, die Gedenkstätte auf dem Weg zu betreten, den auch die Häftlinge gehen mussten. Damit wird einem zentralen Element der Neugestaltung, den „Weg der Häftlinge“ sichtbar zu machen, Rechnung getragen. Im Wirtschaftsgebäude befindet sich seit dem Jahr 2003 eine umfangreiche neu erarbeitete und gestaltete Ausstellung zur Geschichte des Konzentrationslagers. Einzelne Orte im Gelände der Gedenkstätte werden durch dort aufgestellte Tafeln mit Fotos und Texten erläutert. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Schon aus dieser komprimierten Beschreibung wird deutlich, dass das Gelände im Lauf der Zeit mehrfach überformt wurde und nur bedingt einen Eindruck von dem Konzentrationslager vermitteln kann. Der historische Ort spricht nicht von selbst und die verschiedenen historischen Schichten erschließen sich nicht ohne weiteres. Die Frage stellt sich, wie dieser Ort zu einem Lernort werden kann und was hier überhaupt wie gelernt werden kann und soll.
Exkurs: Das Jugendgästehaus Dachau Das im Jahr 1998 eröffnete Jugendgästehaus Dachau wurde von der „Stiftung Jugendgästehaus Dachau“ errichtet, die vom Freistaat Bayern, der Stadt Dachau und dem Landkreis Dachau getragen wird.7 Es liegt geographisch etwa in der Mitte zwischen der Dachauer Altstadt und der KZ-Gedenkstätte, die beide zu Fuß erreichbar sind. Die nach der Stiftungssatzung erste Aufgabe des Hauses besteht darin, jungen Menschen die Gelegenheit zu geben, sich im Rahmen eines mehrtägigen Aufenthaltes in Dachau mit der KZ-Gedenkstätte und der damit verbundenen Thematik zu beschäftigen. Das Haus soll jedoch auch für andere der Erziehung und Bildung junger Menschen dienenden Nutzungsarten (internationale Jugendbegegnung, Schüleraustausch, Schullandheimaufenthalte, Tagungen von Jugendverbänden, Fortbildungsmaßnahmen für Lehrer und Mitarbeiter in der Jugendarbeit, kulturelle Veranstaltungen) zur Verfügung stehen. Dabei sollen die Gäste auch die Möglichkeit haben, die Stadt und den Landkreis Dachau in ihren Eigenarten und Schönheiten näher kennen zu lernen. Die dritte Säule stellt der allgemeine Jugendtourismus dar; denn das Jugendgästehaus wird vom Deutschen Jugendherbergswerk, Landesverband Bayern, als Betriebsträger geführt und gehört damit dem weltweiten Verbund der Jugendherbergen an. Für die pädagogischen Aufgaben hat die Stiftung Jugendgästehaus Dachau einen eigenständigen pädagogischen Arbeitsbereich eingerichtet. Das pädagogische Profil der Einrichtung weist inzwischen drei Schwerpunkte auf: Das Jugendgästehaus hat sich zu einem Zentrum für historisch-politische Bildung, zu einer internationalen Begegnungsstätte und zu einer Beratungs- und Servicestelle entwickelt. Seit Oktober 1999 werden in größerem Umfang mehrtägige zeitgeschichtliche Studienprogramme für Schulklassen und Jugendgruppen durchgeführt. Diese Studienprogramme bestehen aus einer Führung durch die KZ-Gedenkstätte und mehreren parallelen Kleingruppen-Workshops zu einzelnen Aspekten der NS-Geschichte, beispielsweise Jugend und Erziehung, Widerstand und Alltag im Konzentrationslager. Jährlich wird eine Fachtagung zu Fragen der pädagogischen Arbeit in Gedenk© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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stätten oder zur Zeitgeschichte durchgeführt. Das Jugendgästehaus ist Mitveranstalter des von der Stadt Dachau ins Leben gerufenen „Dachauer Symposiums zur Zeitgeschichte“, das ebenfalls jährlich stattfindet. Das Jugendgästehaus ist auch im Bereich der internationalen Jugendbildung und -begegnung aktiv. Multilaterale Projekte mit Teilnehmern aus Algerien, Frankreich, Israel und Deutschland mit den Schwerpunkten Friedenserziehung und Auseinandersetzung mit der Geschichte haben bereits stattgefunden ebenso wie deutsch-französische und deutsch-israelische Jugendbegegnungen. Der pädagogische Arbeitsbereich führt nicht nur eigene Angebote durch, sondern versteht sich auch als Service- und Beratungsstelle für Jugendgruppen, Schulklassen und andere Organisationen, die einen Aufenthalt im Jugendgästehaus planen und sich dabei mit zeitgeschichtlichen und politisch-gesellschaftlichen Themen beschäftigen wollen. Erwähnt werden muss auch, dass im Jugendgästehaus auch zahlreiche Veranstaltungen anderer Träger stattfinden. Ein „Leuchtturm“ ist dabei die Internationale Jugendbegegnung (bis 1997: Internationales Jugendbegegnungszeltlager) im Sommer, die 2007 zum 23. Mal durchgeführt wurde.
Zeitgeschichtliches Studienprogramm: Ein Modellprojekt zur Geschichte des Konzentrationslagers Dachau Nach den Erfahrungen der ersten Jahre mit mehrtägigen zeitgeschichtlichen Studienprogrammen wurde vom Team des Jugendgästehauses ein neues Modellprojekt unter dem Arbeitstitel „Dachkonzept: Geschichte des Konzentrationslagers Dachau“ für Schulklassen und Jugendgruppen entwickelt. Die inhaltliche Leitidee geht von der Beobachtung aus, dass viele Besucher/innen der Gedenkstätte das Konzentrationslager vor allem mit den Schreckensbildern der letzten Monate vor der Befreiung verbinden. In dieser Sicht wird das Konzentrationslager zu einem isolierten, quasi außergesellschaftlichen Ort des Terrors und unvorstellbaren Schreckens, der einem historischen Verständnisprozess nicht mehr zugänglich ist. Dem gegenüber bietet sich ein Zugang an, der die verschiedenen Phasen der KZ-Geschichte differenziert betrachtet und sie auch in übergreifende historische Zusammenhänge der nationalsozialistischen Herrschaftsperiode einordnet. Methodisch geht es darum, die umfangreiche Geschichte des Konzentrationslagers und seiner Nachkriegsgeschichte sinnvoll aufzuteilen auf parallele Arbeitsgruppen, die den jeweiligen Zeitraum unter gleichen Fragestellungen behandeln und ihre Ergebnisse am Ende zu einer Gesamtdarstellung der Geschichte des Konzentrationslagers zusammenführen. Mit dem Dachkonzept wird versucht, ein umfangreiches Bildungsangebot in Form eines pädagogischen Projektes anzubieten, das über ein reines Informa© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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tionsangebot, wie es etwa im Rahmen einer Gedenkstättenführung umgesetzt wird, hinausgeht. Das Dachkonzept orientiert sich dabei an der Periodisierung, die der Historiker und Überlebende des Konzentrationslagers Dachau Stanislav Zamecnik8 entwickelt hat: 1. Die Phase der Konsolidierung des NS-Regimes und der Kriegsvorbereitungen (1933-1938), 2. Die Zeit der militärischen Erfolge (1939-1941) und 3. Die Eingliederung der Häftlinge in die Kriegsproduktion (1942-1945). Hinzu kommt als vierte Phase die Nachkriegsgeschichte des ehemaligen Lagerkomplexes. Zu Beginn der zeitgeschichtlichen Studienprogramme stellen die Referenten (Teamer) der Gesamtgruppe (Schulklasse/n, Jugendgruppe) sich und die von ihnen geleiteten Arbeitsgruppen vor. Jede Teilnehmerin/jeder Teilnehmer kann dann entscheiden, zu welchem Thema sie/er in den nächsten drei Tagen arbeiten möchte. Das Prinzip einer weitgehend freiwilligen Workshopwahl garantiert zwar nicht bei jedem Jugendlichen hundertprozentiges Interesse, erhöht erfahrungsgemäß jedoch die Zahl motivierter Teilnehmer/-innen. Die Arbeit in den einzelnen Workshops, die ca. 10 bis 15 Personen umfassen, beginnt mit einer Vorstellungsrunde und einer Klärung der Erwartungen an das dreitägige Studienprogramm. Dieser Einstieg ist für den weiteren Verlauf des Workshops von entscheidender Bedeutung. Zum einen dient er dazu, die Vorstellungen, Interessen und Vermutungen der Teilnehmer/-innen sowohl in Bezug auf den Besuch der KZ-Gedenkstätte als auch hinsichtlich des Seminars kennen zu lernen. Zum anderen sind es gerade die individuellen Erwartungshaltungen, die für jeden Teilnehmer/jede Teilnehmerin die Basis darstellt, von der aus er/sie Neues lernt. Im Anschluss daran erfolgt die gemeinsame Erarbeitung eines Zeitstrahles für die Jahre 1933-1945. Er dient einerseits dazu, das Vorwissen der Teilnehmenden in Erfahrung zu bringen und stellt andererseits eines der zentralen Elemente dar, das wie ein roter Faden den ganzen Workshop über präsent bleibt und bei Bedarf immer wieder um neue Daten ergänzt wird. Im Rahmen des Dachkonzeptes hat sich ein Zeitstrahl mit drei parallelen Ebenen bewährt. Allgemeine Informationen und Daten werden entweder der innen- oder der außenpolitischen Ebene zugeordnet. Die wichtigsten Daten zur Geschichte des KZ Dachau werden auf einer dritten Ebene gesammelt. Das Festhalten wichtiger innen- und außenpolitischer Ereignisse und ihrer Auswirkungen auf das Konzentrationslager Dachau auf dem im Laufe des zeitgeschichtlichen Studienprogramms immer dichter werdenden Zeitstrahl erleichtert den Teilnehmenden die Vernetzung singulärer Ereignisse, stellt Zusammenhänge von „großer“ Geschichte mit der Geschichte des Konzentrationslagers Dachau her und verdeutlicht ihnen visuell, wie sich ihre Kenntnisse erweitern und vertiefen. In der Regel findet bereits am ersten Tag eines zeitgeschichtlichen Studienpro© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Jourhaus von außen. Durch dieses Tor mussten die Häftlinge zum ersten Mal das Lager betreten und dann täglich zu den Arbeitskommandos marschieren
k h eine i zweii bi i di F h d h di gramms in jedem W Workshop bis d dreistündige Führung durch die KZ KZGedenkstätte statt. Sie bietet anhand der erhaltenen und rekonstruierten Bauten und Einrichtungen der Gedenkstätte einen Überblick über die Geschichte des Konzentrationslagers sowie Hinweise zur Nachkriegsverwendung des Lagerareals. Im Rahmen dieses dreitägigen Projekts nimmt die Gedenkstättenführung die Funktion eines ersten Inputs in Form einer ersten Orientierung an dem Ort ein, mit dessen Geschichte sich die Teilnehmenden in den folgenden Tagen aktiv und eigenständig beschäftigen. Der Besuch der Gedenkstätte wird anschließend im Jugendgästehaus reflektiert und ausgewertet. Die den ersten Projekttag abschließende Reflexionseinheit dient sowohl der inhaltlichen Ergänzung als auch, und darauf liegt der Schwerpunkt, der kognitiven und emotionalen Verarbeitung des Besuches in der KZ-Gedenkstätte. Für die Teilnehmenden bietet die Reflexion die Möglichkeit, ihre Vorstellungen der KZ-Gedenkstätte zu ergänzen und gegebenenfalls zu korrigieren sowie ihr bisheriges Wissen über Konzentrationslager, das in der Regel aus Büchern und Filmen stammt, um die Informationen und Eindrücke zu ergänzen, die sie am authentischen Ort sammeln konnten. An den nächsten beiden Programmtagen befasst sich jede Workshopgruppe mit dem von ihr übernommenen zeitlichen Abschnitt der Konzentrationslagergeschichte anhand der nachstehenden Fragestellungen: 1. Welche Menschen und welche Personengruppen wurden als Opfer nationalsozialistischer Verfolgungspolitik im Konzentrationslager inhaftiert? Welche Häftlingsgruppen gab es im Konzentrationslager Dachau und welche Auswirkungen hatte die Zugehörigkeit zu einer dieser Gruppen für den Einzelnen? © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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2. Welche Funktion und Bedeutung hatte Arbeit in einem Konzentrationslager? Welche Arbeiten mussten die Häftlinge verrichten? Unter welchen Bedingungen geschah dies? 3. Wie sahen die Lebensbedingungen und Überlebenschancen im Konzentrationslager aus? Wie waren die Häftlinge untergebracht, wie war die Ernährungslage beschaffen? Welchen Schikanen waren Häftlinge außerhalb der Arbeitszeiten ausgesetzt? Wie wirkten sich Strafen und medizinische Versuche auf die Überlebenschancen aus? Für die Bearbeitung dieser Fragen wird auch die neu gestaltete Ausstellung der KZ-Gedenkstätte genutzt. In den einzelnen Workshops bilden sich drei- bis vierköpfige Rechercheteams, die anhand eines Arbeitsbogens in der Ausstellung Informationen sammeln. Bei der Ausarbeitung des Bogens wurde versucht, eine Konzentration auf Daten und Fakten und das damit verbundene Abschreiben von Ausstellungstafeln zu vermeiden. Vielmehr wurden Selbstzeugnisse von Häftlingen in die Arbeitsbögen aufgenommen und die Teilnehmer/innen durch Transfer- und Meinungsfragen zu selbständigem Denken und Diskussionen in der Kleingruppe angeregt. Abschließender Arbeitsauftrag für die Ausstellungsrecherche ist es, in der Gedenkstätte einen Ort zu finden, der dem von der Kleingruppe erarbeiteten Aspekt entspricht. Die Rechercheteams sind auf drei bis vier Personen begrenzt, um einen intensiven Austausch innerhalb der Kleingruppe zu ermöglichen. Diese geringe Zahl trägt darüber hinaus auch den räumlichen Verhältnissen der Ausstellung und der starken Besucherfrequentierung Rechnung. Nachstehend wird exemplarisch der Arbeitsauftrag einer Kleingruppe beschrieben.
Die ersten Häftlinge des Konzentrationslagers Dachau 1933 bis 1938 1. Aufgabe a) Im ehemaligen Schubraum findet ihr eine Fahne mit diesen Privatfotos. Wählt eines dieser Bilder aus. Beschreibt, was das Foto über den/die Menschen aussagt und wie er/sie gesehen werden wollten. b) Das von euch ausgesuchte Foto findet ihr in Abteilung 4 wieder. Was erfahrt ihr über den/die Menschen auf dem Bild? 2. Aufgabe a) Findet heraus, aus welchen Gründen Deutsche in den Jahren 1933 bis 1938 in „Schutzhaft“ genommen werden konnten und welchen Kategorien sie damit zugeordnet wurden. Achtet dabei besonders auf die Begriffe, die die Nationalsozialisten verwendeten. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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b) Überlegt euch, welche Ziele das nationalsozialistische Regime mit der Kategorisierung der Häftlinge verfolgte. 3. Aufgabe Wieso kamen bereits 1938 die ersten ausländischen Häftlinge ins Konzentrationslager Dachau? Aus welchen Ländern kamen sie? 4. Aufgabe „Alle gleich? Hier so wenig wie draußen. Ungleich von Natur und ungleich von Charakter. Es gab unter uns Starke und Schwache, Gesunde und Kranke, Einfache und Komplizierte, Vernünftige und Unvernünftige, Kluge und Unkluge, Saubere und Unsaubere, Hilfsbereite und Selbstsüchtige, Feine und Gemeine. Ungleich in der Ernährung […], ungleich in Kleidung […]. Und nicht gleich in der Unterkunft […]. Selbst in der Behandlung waren Unterschiede. Nein, selbst am Ort des gemeinsamen Leids und des Sterbens herrschte keine Gleichheit. Nur im Tod waren sich auch hier alle gleich.“ Joseph Loos: Leben auf Widerruf. Basel 1946, 97 f. Das Zusammenleben so vieler unterschiedlicher Menschen war nicht einfach. Wo konnten Konflikte innerhalb der Häftlingsgesellschaft auftauchen? Welche Bedeutung für das Überleben hatten Zusammenhalt und Solidarität? 5. Aufgabe Sucht in der Gedenkstätte einen Ort, der das Thema Häftlingsgruppen aufgreift, und fotografiert ihn. Wie wirkt dieser Ort auf euch, und welche Bedeutung nimmt er eurer Meinung nach in der Gedenkstätte ein? In der anschließenden Workshopeinheit geht es darum, das in der Ausstellung erworbene Wissen zu erweitern und zu vertiefen. Gemäß den Prinzipien des forschenden Lernens sichten und bearbeiten die Teilnehmer das zu Verfügung gestellte Material anhand zuvor gemeinsam entwickelter Fragestellungen und bereiten es für eine Präsentation auf. Das ausgewählte Material stammt aus der Erinnerungs- wie der Fachliteratur und wird durch den Einsatz weiterer Medien wie Zeitzeugeninterviews, CD-Roms und Internet ergänzt. Die Vielfalt der Materialien versucht die unterschiedlichen Fähigkeiten und Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler anzusprechen. Jugendliche, die beim Lesen eines Textes große Schwierigkeiten haben, werden von Videos oder CDRoms eher angesprochen und so stärker zur aktiven Mitarbeit angeregt. Anders als viele Jugendliche es in der Schule erleben, ist das Lernen bei zeitgeschichtlichen Studienprogrammen primär nicht ziel-, sondern prozessorientiert, wenngleich am Ende eines Workshops auch ein Arbeitsergebnis, beispielsweise in © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Form einer Plakatcollage oder einer szenischen Lesung vorliegen sollte. So geht es nicht nur um die Vermittlung von Inhalten, sondern auch um „soft skills“, wie zum Beispiel Empathie, Teamfähigkeit, Kommunikationsverhalten, aber auch Organisationsfähigkeit und Zeitmanagement. In den Workshops geht es den Teamern darum, eine von Leistungsdruck freie Atmosphäre zu schaffen, in der Lernen Spaß macht. Wenn auch bei diesem Workshopthema der Fokus auf den Jahren 1933 bis 1945 liegt, werden während der Workshoparbeit Fragen nach der Bedeutung dieser historischen Erfahrung und Verantwortung für die Gegenwart diskutiert. In der Abschlusspräsentation, zu der alle Workshops zusammenkommen, wird das, was in den Workshops zu den einzelnen Phasen und Themenstellungen erarbeitet wurde, zu einer Überblicksdarstellung zusammengefügt. Für die Jugendlichen ist diese Präsentation der gemeinsame Abschluss ihres Aufenthaltes in Dachau. Während des dreitägigen Projekts erweitern die Teilnehmenden nicht nur ihre Kenntnisse über Nationalsozialismus und Konzentrationslager, sie lernen auch, in einem Team zu arbeiten, anderen das zu erklären, was sie sich zuvor selbständig erschlossen haben, und erleben, dass Lernen Spaß machen kann. Das hier beschriebene Dachkonzept lässt sich um einen vierten Workshop erweitern, in dem die Nachkriegsgeschichte dieses Ortes – der Weg vom Internierungslager über das Flüchtlingslager bis zur KZ-Gedenkstätte Dachau – im Mittelpunkt steht. Als Dachkonzepte eignen sich auch andere Themengebiete wie zum Beispiel „Jugend und Erziehung im Nationalsozialismus“, das parallele Workshops über die Hitlerjugend, Jugendliche im Widerstand, Kinder und Jugendliche als Opfer nationalsozialistischer Verfolgung sowie Mädchen und junge Frauen während der NS-Zeit umfasst. Auch im Rahmen dieses Dachkonzeptes lassen sich immer wieder unmittelbare Bezüge zum „Lernort Dachau“ herstellen.
Weiterführende Überlegungen Wenngleich seit Jahrzehnten ungezählte Schulklassen und andere Gruppen die KZ-Gedenkstätte Dachau besuchen, so ist vielfach unbestimmt geblieben, was und vor allem wie an diesem Ort gelernt werden kann. Es lässt sich eine „naive“ Auffassung ausmachen, die teilweise noch heute verbreitet ist.9 Das hier zugrunde liegende pädagogische Verständnis kann etwa folgendermaßen umrissen werden: Jugendliche werden durch den Besuch der KZ-Gedenkstätte unmittelbar und quasi von selbst dazu gebracht, den historischen Nationalsozialismus, aber auch heutigen Rechtsextremismus abzulehnen. Unterstellt wird damit im Grunde, dass der Besuch des Ortes eine unmittelbar reinigende Wirkung auf Jugendliche ausübt. Es hat sich jedoch gezeigt, dass die © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Wirkung eines Gedenkstättenbesuches nicht unmittelbar und ohne weiteres zu einer Immunisierung gegenüber rechtsextremistischen Auffassungen führt. Der Ort spricht nicht von selbst. Es sind sogar bei und nach Besuchen eher positive Einstellungen hinsichtlich des Rechtsextremismus zu beobachten gewesen. Der Besuch dieses authentischen Ortes hat also nicht notwendigerweise eine eindeutige pädagogische Wirkung. Das bedeutet auf der anderen Seite aber nicht, dass ein Besuch in der Gedenkstätte und die Auseinandersetzung mit der Geschichte dieses Ortes sinnlos sind. Vielmehr kann gerade von dem Erlebnis dieses authentischen Ortes eine Motivation ausgehen, sich mit der Geschichte differenziert zu beschäftigen. Dazu bedarf es aber auch einer grundsätzlichen Einordnung dessen, was hier geschehen ist, und Transferüberlegungen zu Gegenwart und Zukunft. Man kann das, was ein Konzentrationslager ausmacht, zuspitzen und mit einer Definition von Rechtsextremismus, die zwei Komponenten umfasst, verbinden: die Ideologie der Ungleichheit und die Akzeptanz von Gewalt gegen Menschen als Mittel der Politik. Die Konzentrationslager waren Teil eines gesellschaftspolitischen Konzeptes, das auf diesen beiden Grundlagen beruhte. Während auf der einen Seite die Integration in die Volksgemeinschaft durch vielfältige Maßnahmen gefördert wurde, wurden die nach Auffassung der Nationalsozialisten nicht zur Volksgemeinschaft gehörenden Menschen ausgegrenzt und in Konzentrationslager eingeliefert. Hier wurde ihnen die persönliche Würde genommen, und sie wurden zu Objekten eines Willkürsystems, das in keinerlei Weise mehr an rechtliche Normen gebunden war. Menschen wurden in diesem System als nicht lebenswert angesehen und jeglicher Gewalt bis hin zur Tötung unterworfen. Am Beispiel des Konzentrationslagers Dachau lässt sich also zeigen, wie eine Gesellschaftsordnung funktioniert, die Werten wie persönlicher Würde und Menschenrechten keine Bedeutung zumisst und die keine rechtlichen Bindungen staatlichen Handelns kennt. Um es positiv zu formulieren: An diesem Beispiel kann man deutlich machen, warum in der politischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland die Menschen- und Bürgerrechte an erster Stelle verankert wurden und eine Änderung bestimmter Grundrechte ausgeschlossen wurde. Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die Bindung des staatlichen Gewaltmonopols an Recht und Gesetz sowie die Möglichkeit zur gerichtlichen Überprüfung staatlichen Handelns. Aber nicht nur in Bezug auf die bundesrepublikanische Grundordnung lassen sich Richtziele pädagogischer Arbeit ableiten, sondern auch im Hinblick auf die europäische Dimension. Im Lager Dachau waren Menschen aus fast allen Ländern Europas inhaftiert. Sie haben versucht, unter den schlimmsten Bedingungen zu überleben. Die überlebenden Häftlinge sprachen von dem „Geist der Lagerstraße“ und bezeichneten damit eine Solidarität über die Grenzen der nationalen Grup© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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pen hinaus. Damit lässt sich in der Geschichte des Konzentrationslagers auch ein Ausgangspunkt des Europagedankens erkennen. In dieser Betrachtungsweise stellt Dachau, der Ort des Schreckens und des Terrors, einen positiven Lernort dar: Demokratie, Toleranz, gewaltfreie Konfliktlösungen und eine europäische Friedensordnung auf freiheitlicher und demokratischer Basis sind einschlägige Stichworte. Wenn man also den authentischen Ort, an dem sich früher das Konzentrationslager befunden hat, besucht, dann lässt sich eine differenzierte historische Darstellung, die sich nicht nur von den Schrecken und dem unvorstellbaren Terror überwältigen lässt und ihn quasi außergesellschaftlich verortet, ermöglichen und darüber hinaus eine Diskussion über Gegenwarts- und Zukunftsfragen anschließen. Das lässt sich aber im Regelfall im Rahmen zwei- bis dreistündiger Führungen kaum leisten, selbst wenn sie gut – was auch nicht selbstverständlich ist – vor- und nachbereitet werden. Von einem im günstigsten Fall guten Informationsangebot ist es ein bedeutender qualitativer Sprung zu einer zeitintensiven Projektarbeit, die im Rahmen einer Kooperation von Schule und außerschulischer Bildungseinrichtung mit anderen Lernformen („forschendes Lernen“, Teamarbeit), anderen Bezugspersonen („Teamern/-innen“) und anderen Sozialkonstellationen (Aufteilung der Klassen, zum Teil auch Kooperationen mit Schülern/innen anderer Klassen bzw. Schulen) ein neues und anregendes pädagogisches Arrangement herstellt. Hier wird es möglich, das einzulösen, was in dem Begriff „Lernort“ enthalten ist: Die Herausforderung, den authentischen Ort sich selbst zu erschließen und so in seiner auch nicht immer widerspruchsfreien Komplexität zum Sprechen zu bringen. Die KZ-Gedenkstätte Dachau wird nicht von selbst ein Lernort, sondern erst durch entsprechende pädagogische Bearbeitung. Dann aber kann sie einen wirkungsvollen Beitrag zur historisch-politischen Bildung leisten.
Anmerkungen 1 Zur Geschichte des Konzentrationslagers Dachau vgl. Barbara Distel/Wolfgang Benz: Das Konzentrationslager Dachau 1933-1945. Geschichte und Bedeutung. München 1994; Stanislav Zámecník: Das war Dachau. Luxemburg 2002; Günther Kimmel: Das Konzentrationslager Dachau. Eine Studie zu den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen. In: Martin Broszat/Elke Fröhlich (Hrsg.): Bayern in der NS-Zeit. Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt. Bd. II. München/Wien 1979. 2 Vgl. Reinhard Papenfuß: Das Areal der VI. Bereitschaftspolizeiabteilung Dachau. Gebäudeund Geländenutzung 1915-1993. Dachau o.J. (1993), 13 ff; Hans-Günter Richardi u.a.: Dachauer Zeitgeschichtsführer. Dachau 1998, 109 ff. 3 Vgl. hierzu H.-G. Richardi: A.a.O. 241 ff; Harold Marcuse: Legacies of Dachau. The Uses and Abuses of a Concentration Camp. 1933-2001. Cambridge 2001. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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4 Vgl. Ludwig Eiber/Robert Sigel (Hrsg.): Dachauer Prozesse: NS-Verbrechen vor amerikanischen Militärgerichten in Dachau 1945-1948. Göttingen 2007. 5 Seit 1972/73 sind auf diesem Gelände Einrichtungen und Einheiten der Bayerischen Bereitschaftspolizei (VI. Bereitschaftspolizeiabteilung Dachau) untergebracht. Vgl. R. Papenfuß: A.a.O. 28 f. 6 Das Konzentrationslager wurde am 29. April 1945 befreit. Die jährliche Befreiungsfeier findet in der Regel am Sonntag nach dem 29. April – soweit dieser Tag nicht gerade ein Sonntag ist – statt. 7 Vgl. hierzu Bernhard Schoßig: Das Jugendgästehaus Dachau. Internationale Begegnungsstätte und Zentrum der historisch-politischen Bildung. In: Internationaler Jugendaustausch- und Besucherdienst der Bundesrepublik Deutschland (IJAB) e.V. (Hrsg.): Forum Jugendarbeit International 2001. Münster 2000; Judith Bauer: Das Jugendgästehaus Dachau. Ein Beispiel für die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in der Bundesrepublik Deutschland. München 2004. 8 Vgl. S. Zámecník: A.a.O. 5 ff. 9 Vgl. Bernhard Schoßig: Dachau: Thesen über einen „Ort des Schreckens“ als internationaler Lernort für Menschenrechte, Toleranz und Demokratie. In: Politisches Lernen 1-2/03, 21. Jg., 20 ff.
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Der Immerwährende Reichstag Regensburg – Ort der Manifestation des Heiligen Römischen Reiches
Nur wenige historische Stätten sind so prädestiniert wie Regensburg, um die Geschichte des Heiligen Römischen Reichs und seiner Verfassung vor Augen zu führen. Im Alten Rathaus der Stadt tagte einst der Reichstag. Der Reichssaal zeigt sich fast noch so, wie ihn einst Fürsten und Gesandte erblickten. Neben Wien mit Hofburg und Hofrat sowie Wetzlar mit Sitz des Reichskammergerichts war Regensburg durch die Konstituierung des Immerwährenden Reichstags der dritte Ort, an dem sich das Reich manifestierte.1 Wie der Bundestag der Bundesrepublik Deutschland so ist auch der Reichstag des Ancien Régime ein Beispiel für die politische Organisation einer Gesellschaft.
Unbekannter Künstler (1663): Reichstagssitzung. Inschrift oben: Eigentlicher Abriß der Reichstags Solennität so den 10/20 January Anno 1663 in Regensburg auff dem gewöhnlichen großen Rathhauß-Saale bei eröffneter Keiserlichen Proposition angestellet und gehalten worden © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Politisches Lernen an historischen Orten ermöglicht vor Ort Kenntnis zu erlangen, wie eine Gesellschaft ihre Politik gestaltete und wie ihre Entscheidungsprozesse abliefen. Historische Schauplätze, die Geschichte zu einem „sinnlichen Erlebnis“2 werden lassen, setzen jedoch voraus, dass Bildungsarbeit geleistet wird, da historische Orte keineswegs automatisch Lernorte sind. Dies ist um so wichtiger, da die Stadt Regensburg abgesehen von den historischen Räumen zwar ein kleines Reichstagsmuseum besitzt, bisher jedoch noch kein didaktisches Dokumentationszentrum konzipiert hat, das die Strukturen des Reichstags und seine Funktionen systematisch erläutert.
1 Regensburg als Sitz des Immerwährenden Reichstags 1.1 Die Reichsstadt Regensburg Für Regensburg als Tagungsstätte des Reichstags sprach erst einmal der Verfassungsstatus der Stadt. Wenn auch Regensburg bis zu Beginn des 15. Jahrhunderts für sich in Anspruch nahm, als Freistadt keine Leistungen an das Reich erbringen zu müssen, konnte die Stadt diesen Status nicht aufrechterhalten und musste allen Verpflichtungen einer Reichsstadt nachkommen und Leistungen an Kaiser und Reich erbringen. Als Reichsstadt unterstand Regensburg unmittelbar dem Kaiser; er war ihr alleiniger Stadtherr. Verfassungsrechtlich standen die Reichsstädte auf einer Stufe mit den Territorialstaaten.3 Von ca. 86 Reichsstädten zu Beginn des 16. Jh. war ihre Zahl zum Ende des 18. Jh. auf 51 geschrumpft. Die Mehrzahl der Städte des Heiligen Römischen Reichs waren jedoch Territorialstädte, d.h. sie waren einem Landesherrn untertan und unterstanden dem Kaiser daher nur „mittelbar.“ Der Kaiser übte über die Reichsstädte sowohl Aufsichts- als auch Schutzfunktionen aus. Als Stadtherr war er zudem ihr oberster Steuerherr; d.h. die Reichsstädte waren ihm abgabepflichtig. Darüber hinaus hatten sie auch Truppenkontingente zum Reichsheer zu stellen. Als Oberhaupt der Reichsstadt konnte der Kaiser zudem in die innerstädtische Verfassungsordnung eingreifen. Eine Reichsstadt musste sich keiner territorialen Gerichtsgewalt unterwerfen, sondern der Kaiser war ihr oberster Gerichtsherr. Seine Gerichtsbarkeit ließ er allerdings durch Schultheißen bzw. Amtmänner ausüben. Seit dem Spätmittelalter waren diese Ämter sukzessive von reichsstädtischen Amtsträgern übernommen worden, so dass die „königliche Gerichtsherrschaft zwar noch de jure gegeben war, aber de facto in Händen der Städte selber lag“.4 Die kaiserliche Stadtherrschaft schlug sich außerdem in dem Recht der Verpfändung nieder. Verpfändete der Kaiser eine der Reichsstädte und löste er sein Pfand dann nicht ein, konnte dies das Ende der Reichsfreiheit einer Stadt bedeuten. Die Reichsstädte hatten im Zuge der „Reichsreform“ zum Ende des 15. Jh. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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das Recht errungen, zu den Reichstagen geladen zu werden und besaßen seit dem Westfälischen Frieden endgültig das volle Stimmrecht. Der Kaiser, dem als obersten Herrn des Reichs das alleinige Recht zur Einberufung der Reichstage zustand, entschied sich seit 1521 nur noch für die Städte, deren oberster Stadtherr er war; als Tagungsorte wählte er z.B. die Reichsstädte Worms, Speyer, Augsburg und Nürnberg.5
1.2 Regensburg als Versammlungsstätte des Reichs Dass seit 1556/57 zahlreiche Reichstage nach Regensburg einberufen wurden bzw. nach 1594 die Stadt ausschließlich als Tagungsort diente, ist u.a. auf die „verfehlte“ Ratspolitik der Stadt zurückzuführen, die sich einen wohl einmaligen Schildbürgerstreich in der Geschichte des Heiligen Römischen Reiches leistete, indem sie sich freiwillig mediatisieren ließ. Regensburg hatte sich 1486 – verursacht durch hohe Verschuldung – unter die Herrschaft des Bayerischen Herzogs gestellt, der schon seit langem bestrebt war, die Stadt, die ganz von seinem Territorium umgeben war, seinem Herrschaftsverband einzuverleiben. Die Rechnung war jedoch ohne den obersten Stadtherrn, den Kaiser, gemacht worden, der die Stadt wieder in das Reich eingliederte und bis 1555 durch Einsetzung eines Reichshauptmanns direkte Kontrolle ausübte. Die Ereignisse von der Wende vom 15. zum 16. Jh. scheinen die Stadt verstärkt in das Blickfeld des Kaiserhauses gerückt und dazu beigetragen zu haben, durch Ausschreibung der Reichstage nach Regensburg den habsburgischen Herrschaftsanspruch den weiterhin bestehenden Annexionsplänen Bayerns entgegenzustellen.6 Auch die geografische Lage trug zur Beliebtheit Regensburgs bei. Hussitenkrieg und Türkenbedrohung zwangen das Reich zum Handeln und führten daher im 15. Jh. zu einer Intensivierung der Reichstage. Es entsprach „einer gewissen Gepflogenheit“, sich in den Reichsstädten zu Beratungen zu treffen, die den Ereignissen geografisch am nächsten lagen.7 Von Regensburg aus konnten die Angehörigen des Reichstags schnell mit neuesten Nachrichten von Prag und Wien über das „ungarische Kriegstheater“ beeindruckt werden.8 Zudem war Regensburg die Wien am nächsten gelegene Reichsstadt. Auch unter dem verkehrsstrategischen Aspekt eignete sich die Stadt als Tagungsstätte. Die Donau sowie auch die weiteren Straßenverkehrswege verbanden den Habsburgischen Herrschaftsbereich mit den alten Kerngebieten des Reichs in Franken, Schwaben und am Rhein.9 Die Attraktivität Regensburgs war außerdem seit 1663 durch die verbesserte Einbindung in das Reichspostsystem gesteigert worden.10 Darüber hinaus verfügte die Stadt über ausreichende Versorgungs- und Beherbergungskapazitäten.11 Nicht nur die Reichstagsangehörigen und ihr Personal konnten in Regensburg versorgt werden, sondern auch für ihre Pferde und Kutschen war genügend Platz vorhanden. Das Golde Kreuz, das zu den renommiertesten Herbergen des Reiches zählte, sowie © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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später der Bischofshof boten dem Kaiser eine standesgemäße Unterkunft. Die Herbergen der Kurfürsten und Fürsten bzw. ihrer Gesandten lagen anscheinend bevorzugt am Haidplatz und in der Gesandtenstraße. Per Dekret forderte der Rat der Stadt seine Bürger auf, Quartiere zur Verfügung zu stellen.12 Auch der konfessionelle Charakter der Stadt sprach für Regensburg. Sowohl für protestantische als auch für katholische Kongressteilnehmer war Regensburg gleichermaßen akzeptabel. Seit 1542 hatte sich die Stadt dem Protestantismus lutherischer Prägung zugewandt und wurde bis zum Ende der reichsstädtischen Ära (1802/3) von einer evangelischen Obrigkeit regiert. Dass ein verhältnismäßig hoher Anteil an Katholiken dennoch weiterhin in der Stadt blieb, ist sowohl auf die vier geistlichen Reichsstände, nämlich auf den Bischofssitz, das Kloster St. Emmeram sowie auf die adeligen Damenstifte Ober- und Niedermünster zurückzuführen als auch auf die zahlreichen Klöster, Kommenden und Kollegiatstifte, die allesamt vom Ratsregiment Regensburgs unabhängig waren. Im Zuge der Gegenreformation ließen sich außerdem drei weitere Orden nieder. Zudem lebten noch Katholiken in der Stadt, die dem reichsstädtischen Magistrat unterstellt waren. Regensburg bot beiden Konfessionen ausreichende Gelegenheiten, öffentliche Gottesdienste in repräsentativen Kirchen zu besuchen. Bekanntheit hatte die Reichsstadt darüber hinaus durch die 1541, 1546, 1601 in ihren Stadtmauern geführten Religionsgespräche erlangt, die die Beseitigung der kirchenpolitischen Gräben sowie die Wiederherstellung der Einheit der Kirche zum Ziel hatten. Überdies besaß Regensburg als Versammlungsstätte des Reichs eine lange Tradition. Schon im Mittelalter, als der „Reichstag“ noch nicht im Sinne eines „Repräsentativorgans“ existierte, hatten hier zahlreiche Hoftage stattgefunden, zu denen ein „bunt zusammengesetzter Besucherkreis“13 der Großen des Reichs erschien. Im 15. Jh. stellten Hussitenkriege und die heraufziehende Bedrohung durch die Türken neue Herausforderungen an das Reich und zwangen den Kaiser nach einer 150- bzw. 200jährigen Unterbrechung Reichsversammlungen einzuberufen, so u.a. auch nach Regensburg. Aufgrund der Gefahrenlage war der Kaiser auf die Hilfe der Fürsten angewiesen, die im Gegenzug ihre Forderungen stellten und somit schließlich auch die „Umformung der Reichsverfassung“ in die Wege leiteten. Zum Ende des 15. Jh. beginnt die Geschichte des frühneuzeitlichen Heiligen Römischen Reichs, das von dem Ringen des Kaisers und der Reichsstände um eine monarchisch-zentralistische bzw. ständisch-föderalistische Macht geprägt war. Das Reich als Ganzes war nur „auf der Grundlage des Konsens zwischen Kaiser und Reichsständen“ handlungsfähig.14 1495 spricht der Kaiser zum ersten Mal vom Reichstag, dessen Organisation zu Anfang aber noch keineswegs fest umrissen war.15 © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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1.3 Der Immerwährende Reichstag in Regensburg 1663-1806 Die beständige Einrichtung eines Deputiertenkongresses war das Ergebnis einer durch den Dreißigjährig Krieg bedingten Situation. Wenn auch der Kaiser zur Finanzierung der Türkenabwehr den Reichstag 1663 nach Regensburg einberufen hatte, sollten darüber hinaus noch offene Verfassungsfragen, die seit dem Westfälischen Friedenskongress bestanden und über die auch auf dem Reichstag von 1653/54 keine Einigung erzielt worden war, erörtert werden. Zu den Streitpunkten zählte u.a. das den Kurfürsten exklusiv zustehende Recht der Königswahl; zudem wurden Forderungen nach einer ständigen Wahlkapitulation erhoben. Zur Diskussion standen außerdem Reformen des Justiz-, Steuer- und Militärwesens sowie eine Mitwirkung der Stände bei der Reichsacht.16 Da der Kaiser im Jahr 1663 allein wegen der Türkenhilfe nach Regensburg gekommen war und sich nur bis zur Bewilligung einer angemessenen Reichshilfe in der Reichsstadt aufhielt, reisten auch die Fürsten nach seinem Abzug wieder ab und ließen zur Lösung der seit 1648 bestehenden Verfassungsprobleme ihre Gesandten zurück, deren Arbeit sich mehr und mehr in die Länge zog, bis sich schließlich der Reistag zu einem ständigen Gesandtenkongress entwickelt hatte, der bis zum Untergang des Alten Reichs, also gute 140 Jahre, Bestand haben sollte.17 Darüber hinaus hatten offenbar sowohl der Kaiser als auch die Reichsstände Interesse an der Errichtung einer dauerhaften Institution. Den Reichsständen bot eine permanente Versammlung die Gelegenheit stetiger Mitregierung sowie auch einer verstärkten Kontrolle über das Reichsoberhaupt. Dem Kaiser eröffnete der Immerwährende Reichstag die Möglichkeit, der Bildung von Parteien, z.B. der einiger ambitionierter Reichsfürsten, im Reich vorzubeugen.18 Die Einrichtung eines ständig tagenden Reichstags sah die Öffentlichkeit allerdings auch kritisch; so prangerten Flugschriften zu Beginn der zweiten Hälfte des 17. Jh. die Verlängerung als Skandal an.19 Gegen die Gesandten erhob man den Vorwurf, durch Verschleppungen der Verhandlungen ihre Einkünfte zu Lasten der Fürsten steigern zu wollen.
2 Der Reichstag 2.1 Aufgaben des Reichstags Der Reichstag war das zentrale politische Forum des Reichs. Der Kaiser bedurfte in fast allen Entscheidungen, die das Reich betrafen, der Zustimmung der Reichsstände. Die Aufgaben waren seit dem Westfälischen Frieden klar umrissen; so fällte der Reichstag Entscheidungen in der Außenpolitik, z.B. über Krieg und Frieden, aber auch über die Innere Sicherheit sowie über das Justiz- und Militärwesen. Zudem war er für die Sozial- und Wirtschaftspolitik des Reiches zuständig, z.B. für das Steuer- und Münzwesen, den Zoll, den Handel und das Handwerk. Nur © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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wenige, und zugleich auch unbedeutende Rechte, standen dem Kaiser exklusiv zu. Zu den sog. Reservatsrechten zählte z.B. die Legitimation unehelicher Kinder, Verleihung akademischer Grade, Adelserhebungen, das Postrecht, das Recht, dem Reichstag die abzuarbeitenden Tagungsordnungspunkte vorzulegen.20
2.2 Reichsstandschaft Das Recht am Reichstag teilzunehmen stand nur denjenigen zu, die über Stimme und Sitz am Reichstag verfügten, also den Kurfürsten, Reichsfürsten und Reichsstädten. Voraussetzung der Reichsstandschaft war grundsätzlich der Besitz eines reichsunmittelbaren Territoriums. Umgekehrt war aber der Status der Reichsunmittelbarkeit allein nicht ausreichend; so waren Reichsdörfer und Reichsritterschaften, also Territorien, die keinem Landesherrn, sondern direkt dem Kaiser unterstanden, auf dem Reichstag nicht vertreten. Seit Aufstellung der Reichssteuermatrikel zu Beginn des 16. Jh. war der Kreis der Reichsstände weitgehend festgelegt worden. Die Reichsstände mussten Reichssteuern entrichten und Truppenkontingente zum Reichsheer stellen.21 2.3 Organisationsstruktur des Reichstags Der Reichstag war in drei Kollegien untergliedert: in den Kurfürstenrat, in den Fürstenrat und in den Städterat. Jede Kurie verfügte über ein eigenes Direktorium.
Kurien des Reichstags Kurfürsten 7 bzw. 9 (8) Geistliche
Weltliche
Reichsfürsten
Reichsstädte
ca. 200 Geistliche Bank
Weltliche Bank
80-51 Rheinische Bank
Schwäbische Bank
2.3.1 Kurfürstenrat Die Anzahl der Kurfürsten belief sich ursprünglich auf sieben, später zeitweilig auf neun. Die Kurie war in zwei Gruppen unterteilt, nämlich in weltliche und geistliche Kurfürsten. Die weltlichen rekrutierten sich aus den großen Herrscherdynastien, z.T. waren aber auch die geistlichen Kurfürsten Angehörige dieser Dynastien. Die Kurie der Kurfürsten war die kleinste, aber auch die einflussreichste der drei Kurien. Eine zahlenmäßige Veränderung der weltlichen Kurfürsten hatte sich im 17. und an der Wende vom 17. zum 18. Jh. ergeben: Der Herzog von Bayern, Maximilian I., erhielt infolge der Ächtung seines pfälzischen Vetters, des Kurfürsten Friederich V., im Jahr 1623 dessen Kurwürde. Der Pfälzer hatte sich zum König von Böhmen krönen lassen und somit die Voraussetzungen für die protestantische Mehrheit im kurfürstlichen Kollegium geschaffen. Mit dem militärischen Sieg des katholischen, © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Kurfürsten Reichserzkanzler
Erzbischof von Mainz Erzbischof von Köln Erzbischof von Trier König von Böhmen
Habsburger
Reichsvikar
Pfalzgraf bei Rhein
Wittelsbacher
Reichsvikar
Kurfürst von Sachsen
Wettiner
Kurfürst von Brandenburg
Hohenzollern
Kurfürst von Bayern
Wittelsbacher
Kurfürst von Braunschweig Hannover
Welfen
Reichsvikar
bayerischen Herzogs am Weißen Berg zu Prag war 1620 die Herrschaft des Pfälzers, die nur einen Winter währte und ihm daher den Namen Winterkönig eintrug, jedoch beendet. Für die Pfalz wurde dann aber im Westfälischen Frieden eine neue Kurwürde errichtet, so dass es nun acht Kurfürsten gab. Als allerdings 1777 die Wittelsbacher Linie in Bayern ausstarb und der Wittelsbacher Pfälzer, Kurfürst Karl Theodor, bayerischer Landesherr wurde, besaß er nur eine Kurwürde. Eine weitere Kurwürde war ebenfalls als Dank für militärische Hilfe für das Haus Hannover 1692 geschaffen worden, die der Reichstag allerdings erst 1708/09 bestätigte. Die Errichtung der neuen Kurwürden hatte zu heftigen Auseinandersetzungen mit den Reichsfürsten geführt, die sich in ihrer verfassungsrechtlichen Mitsprache übergangen fühlten.22 Da seit 1714 die Hannoveraner Kurfürsten durch Eheschließung auch Könige von Großbritannien geworden waren, war somit bis zum Untergang des Alten Reichs der englische König Mitglied des Reichstags. Kurz vor Untergang des Alten Reichs kam es allerdings noch zu einer grundlegenden Veränderung, da infolge des Friedens von Lunéville 1801 und des Reichsdeputationshauptschluss 1803 die Kurwürden von Köln und Trier abgeschafft und neue weltliche Kurfürstentümer (Salzburg, Baden, Württemberg; Hessen-Kassel) errichtet wurden. Die geistliche Kurwürde von Mainz sowie das damit verbundene Reichserzkanzleramt waren auf den geistlichen Kurfürsten Carl Theodor Dalberg übertragen worden, der zum Landesherrn der neugeschaffenen Kurfürstentümer Regensburg und Aschaffenburg sowie der Grafschaft Wetzlar wurde. Innerhalb des Kurfürstenrats galt das Mehrheitsprinzip; durch die ursprüngliche Beschränkung auf sieben Wählerstimmen waren Pattsituationen ausgeschlossen © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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gewesen. Die Goldene Bulle hatte die Unteilbarkeit der Kurfürstentümer angeordnet; es galt die Primogenitur-Erbfolge. Somit war z.B. auch geregelt, dass nicht mehrere Teilhaber einer Kurfürstenwürde zur Königswahl schritten. Im Gegensatz zum Fürstenrat war im Kurfürstenrat grundsätzlich Stimmenakkumulation ausgeschlossen. Der Erzbischof von Mainz, zugleich Erzkanzler des Reichs, nahm eine herausragende Stellung ein, da ihm die Leitung des Kurfürstenrats oblag.23 Die exponierte Position der Kurfürsten ist u.a. daran abzulesen, dass sie es allein waren, die den König wählten. Einer päpstlichen Zustimmung bedurfte das frühneuzeitliche Kaisertum nicht mehr. Im 16. Jh. erfolgte die Zusammenlegung von Wahl- und Krönungsort. Bis 1531 hatten die Krönungen gemäß der Goldenen Bulle (1356) in Aachen stattgefunden, ab 1562 am Wahlort Frankfurt.24 Allerdings gab es während der Frühen Neuzeit auch Ausnahmen; z.B. fand die Wahl und Krönung Ferdinand III. sowie die Krönung seines Sohnes Ferdinand IV. in Regensburg statt. War nicht schon zu Lebzeiten des Kaisers sein Nachfolger gewählt worden, sondern erst nach seinem Tod, amtierten während der Vakanz die Kurfürsten von der Pfalz und von Sachsen als Reichsvikare. Von den 16 zwischen 1519 und 1792 vorgenommenen Wahlen ereigneten sich sieben noch zu Lebzeiten des Kaisers. Durch zeitige Königswahlen vermied man kaiserlose Zeiten, die als ein unkalkulierbares Risiko angesehen wurden.25 Allerdings hatte der Verlust der pfälzischen Kurwürde auch den des Reichsvikariats zur Folge. Nachdem der Pfälzer erneut Kurfürst geworden war, musste er das Reichsvikariat gemeinsam mit dem bayerischen Kurfürsten wahrnehmen; später wurde das Vikariat von den Wittelsbachern alternierend ausgeübt.26
2.3.2 Der Reichsfürstenrat Fürstenrat (ca. 200 Fürsten) Weltliche Bank
Geistliche Bank
60 fürstliche Virilstimmen
30 geistliche Virilstimmen
4 Kuriatstimmen von rund 100 Grafen u. Herren
2 Kuriatstimmen von über 40 geistlichen Kleinterritorien
Der Fürstenrat war der mitgliederreichste der drei Kurien, ihm gehörten ca. 200 geistliche und weltliche Fürsten an. Er zeichnete sich im Gegensatz zu den beiden anderen Kurien durch eine sehr inhomogene Mitgliederstruktur aus. Insgesamt wurden aber nur ca. 100 Stimmen geführt, da einigen Reichständen lediglich gemeinsam eine Stimme zustand. Die Zahl der Reichsfürsten war allerdings einer © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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ständigen Schwankung unterworfen, z.B. durch Säkularisierung und Mediatisierung sowie auch durch Standeserhöhungen. Gelegentlich konnte ein Reichsfürst, z.B. durch Erbe verschiedener Territorien, mehrere Reichstagsstimmen auf sich vereinen. Allein die Herrscher im Fürstenrang besaßen eine volle Stimme (die sog. Virilstimme), während Grafen, Freiherren und nicht gefürstete Prälaten lediglich über gemeinsame Stimmen (Kuriatstimme) verfügten. Auf der weltlichen Bank gab es 60 fürstliche Virilstimmen, während rund 100 Grafen und Herren in vier Kuriatstimmen zusammengefasst waren. Auf der geistlichen Bank saßen etwa 30 geistliche Reichsfürsten und zwei weitere Vertreter, die ca. 40 geistliche Kleinterritorien vertraten. Die Fürstbischöfe waren wie die weltlichen Fürsten auch Landesherren. Ihre Herrschaft umspannte zwei unterschiedliche Herrschaftsbereiche, der größere war die Diözese, hier war der Bischof geistliches Oberhaupt, der kleinere Teil des Diözesangebiets war das Hochstift, das er als Landesherr regierte. In dieser Funktion erließ er z.B. Verordnungen und erhob Steuern.27 Während die weltlichen Fürsten ihr Amt erbten, wurden die zum Zölibat verpflichteten Fürstbischöfe vom Domkapitel gewählt; geistliche Territorien waren also Wahlfürstentümer. Die Reichsprälaten – Reichsäbte, Reichspröbste und Reichsäbtissinnen – waren Vorsteher eines reichsunmittelbaren Klosters oder einer klosterähnlichen Gemeinschaft. Ihre Zahl war vom Beginn bis zum Ende der Frühen Neuzeit von 63 auf 26 geschrumpft. Es gab eine schwäbische und eine rheinische Prälatenbank.28 Auch die Grafen hatten sich in vier Bänken formiert: Wetterau, Schwaben, Franken und Westfalen. Die Stimmen der Reichsfürsten wurden im Allgemeinen von einer wesentlich geringeren Anzahl von Gesandten übernommen; ihre Zahl schwankte um die zwanzig. Wie im Kurfürstenrat galt auch im Reichsfürstenrat bei Stimmabgabe das Mehrheitsprinzip. Das Direktorium im Fürstenrat führte Österreich; d.h., die Leitung übten alternierend der Erzherzog von Österreich und der Erzbischof von Salzburg aus.29
2.3.3 Reichsstädterat Im Städterat saßen ausschließlich Reichsstädte. Am Ende des Alten Reichs gehörten lediglich noch 50 Städte diesem Kollegium an, das in eine schwäbische und in eine rheinische Bank untergliedert war. Da es für viele Reichsstädte zu kostspielig war, einen eigenen Gesandten zu unterhalten, übertrugen sie einem Komitialbevollmächtigten ihre Stimme, mit Vorliebe Regensburger Ratsherren. Mit der Stimmführung konnte allerdings auch das reichsstädtische Direktorium beauftragt werden. Folge war, dass die Häufung der Stimmen in Händen der Regensburger zu einer großen Übereinstimmung im Reichsstädterat führte.30 Als Gastgeberstadt leitete Regensburg das Reichsstädtedirektorium. Ihm gehörten © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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in aller Regel drei Regensburger Ratsherren sowie zwei Konsulenten bzw. zum Ende des 18. Jh. auch Syndici an. Die Führung des Protokolls übertrug man dem reichsstädtischen Sekretär.31 Zu Beratung wurde das Kollegium jedoch erst herangezogen, wenn Kurfürstenrat und Reichsfürstenrat abgestimmt hatten. Dem rangniederen Städtekollegium sollte keine Schlüsselrolle zufallen.32
2.4 Die Gesandten Gelegentlich hatten sich die Reichsstände schon vor 1663 von Gesandten auf Reichstagen vertreten lassen bzw. mehrere Angehörige eines Reichsstandes hatten auch zuvor gemeinsam einen Gesandten beauftragt. Für gemeinsame Komitialgesandte entschied man sich, wie schon erwähnt, vor allem aus Kostengründen. Umfassend setzte sich die Beauftragung von weisungsabhängigen Gesandten aber erst seit Einführung des Immerwährenden Reichstags durch. Trotz ihrer Weisungsabhängigkeit dürfen die Reichstagsgesandten aber nicht bloß als die „Briefboten“ oder „Sprachrohre“ ihrer reichsständischen Herren gesehen werden; so nahmen sie durch Erstellung ihrer Gutachten einen nicht unwesentlichen Einfluss auf die Reichspolitik.33 Im Allgemeinen ernannten die Reichsstände nur diejenigen zu Gesandten, die ausreichend qualifiziert waren. Die Amtsträger der Reichsstadt Regensburg, die von anderen Reichsstädten als Komitialbevollmächtigte beauftragt worden waren, hatten alle eine akademische Ausbildung genossen, sich über Jahre hinweg im Dienst der Stadt Regensburg profiliert und verfügten somit auch über eine entsprechende Reputation.34 Grundsätzlich trafen sich die Gesandten zweimal die Woche, montags und freitags, zu formellen Beratungen im Regensburger Rathaus.35 Unterbrochen wurde der Zyklus nur durch die Sommerferien. Entweder tagten die Gesandten gemeinsam im Reichstagsaal oder sie berieten sich pro Kurie in eigens hierfür vorgesehene und bis heute noch zu besichtigenden Tagungsräumen. Darüber hinaus kontaktierte man sich selbstverständlich auch außerhalb des Rathauses. Die in Regensburg anwesenden Reichstagsangehörigen, ca. 70 Gesandte und ihr Gefolge, werden auf 700 bis 1000 Personen geschätzt. Sie unterstanden nicht der reichsstädtischen Obrigkeit und konnten somit von ihr weder rechtlich noch steuerlich belangt werden.36 An den Gesandtschaftshäusern war im Allgemeinen ein Wappen angebracht, das jedem anzeigte, von welchem Hause der Gesandte abgeordnet war.37 Die Gesandten konnten aber auch außerhalb Regensburgs Quartier beziehen; so erwarben einige beispielsweise Landsassengüter in der Oberpfalz bzw. Pfalz-Neuburg.38 2.5 Leitung des Reichstags Die Geschäftsführung des Reichstags lag in Händen des Kurfürsten von Mainz, Erzkanzler des Reichs und Leiter des Kurfürstenrats. Er bzw. sein Vertreter, der © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Reichsdirektionalgesandte, der in Regensburg residierte, leitete das Reichstagsdirektorium. Der Schriftverkehr zwischen dem Reichsdirektorium und den Gesandten der Reichsstände wurde in der sog. Diktatur, die sich gegenüber dem Rathaus befand, abgewickelt.39 Die anfallenden Geschäfte waren vielfältig; so mussten alle Schriftstücke, die dem Reichstag zugestellt wurden, vom Reichstagsdirektorium zur Kenntnis genommen und den Gesandten bzw. ihren Sekretären mitgeteilt werden; d.h., entweder mussten sie ihnen diktiert oder in Kopie aushändigt werden. Auf die Verhandlungen und die Abstimmungen des Reichstags hatte das Reichstagsdirektorium keinen – formalen – Einfluss.40 Außerdem nahm das Reichstagsdirektorium die Beglaubigungsschreiben der Reichstagsgesandten sowie die der Gesandten auswärtiger Staaten entgegen, die sich hier wie auch beim Prinzipalkommissar (s.u. 2.8) legitimieren mussten.
Weltliche Reichsfürsten
Geistliche Reichsfürsten
2.6 Sitzordnung des Reichstags Die politische Hierarchie der Reichsstände spiegelte sich u.a. in der Sitzungsordnung41 des Reichstags wider. Der jeweilige Sitz am Reichstag war das sichtbare Symbol der unmittelbaren Teilhabe am Reich.42 Seit jeher war das Sitzen ein Zeichen von Herrschaft. Je weiter entfernt die Reichsstände vom Kaiser saßen, desto geringer war ihre Rangordnung. In der Mitte der Stirnwand stand, erhöht durch vier StuKaiser fen, der Thron des Kaisers. Kurfürsten Kurfürsten PrinzipalRechts und links von ihm, kommissar saßen, allerdings zwei Stufen Kurfürst unter ihm, auf Bänken die von Trier Kurfürsten. Allein der Kurfürst von Trier nahm aufgrund seiner in der Goldenen Bulle festgelegten Stellung gegenüber dem Kaiser Platz. Die beiden Bänke an den Längsseiten waren den Reichsfürsten in fester Reihenfolge vorbehalten. Ihre Plätze wa2 Evangel. Bischöfe ren jedoch nur noch durch Prälaten eine Stufe erhöht. Auch die Grafen, Herren Schwäb. und Plazierung rechts oder links Rheinische Bank vom Kaiser war nicht wahllos. Reichsstädte Reichsstädte Der rechten Seite gebührte der Rheinische Schwäbische Vorzug; aus der Perspektive © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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des Kaisers gesehen, saßen hier grundsätzlich die geistlichen Reichsfürsten.43 Da sich die Geistliche Bank fast ausschließlich aus katholischen Reichsständen zusammensetzte, hatte man für die beiden evangelischen Bischöfe von Osnabrück und Lübeck auf der Seite der geistlichen Reichsfürsten – aber natürlich auf einer Stufe erhöht – eine eigene kleine Querbank errichtet. Hinter ihnen nahmen auf der einen Seite die rheinischen und schwäbischen Prälaten, auf der anderen die schwäbisch, wetterauischen, fränkischen und westfälischen Grafen, also die Inhaber der Kuriatstimmen, Platz. Die sich nach hinten anschließenden Bänke waren den Reichsstädten vorbehalten, links vom Eingang standen die rheinische und rechts die schwäbische Bank. Sie waren durch ein niedriges Gatter von den übrigen Reichsständen getrennt. Von einer Empore aus konnte die interessierte Öffentlichkeit den Verhandlungen folgen.
2.7 Das Reichsgesetzgebungsverfahren Das Gesetzgebungsverfahren lag bei Kaiser und Reich: Ohne kaiserliche Zustimmung konnten die Reichsstände kein Gesetz erlassen sowie auch umgekehrt dem Kaiser ohne Einvernehmen der Reichsstände keine Gesetzeskompetenz zustand. Die von der Mehrheit der Reichsstände beschlossenen Reichsgesetze waren für alle Mitglieder des Reichsverbandes verbindlich, also auch für diejenigen Reichsverbände, die dagegen gestimmt hatten; Reichsrecht brach Landesrecht.44 Der Kurfürst von Mainz, Erzkanzler des Reichs sowie Leiter des Kurfürstenrats und des Reichstags, unterbreitete den im Reichsaal sitzenden Kurien die vom Kaiser vorgelegte Proposition (Beratungsgegenstand); d.h. die Gesetzesinitiative ging vom Kaiser aus. Anschließend zogen sich die drei Kollegien zu getrennten Beratungen in ihre eigenen Zimmer zurück. Zuerst verfasste der Kurfürstenrat eine Stellungnahme (Relation), die er dann dem Reichsfürstenrat zuleitete. Dieser schrieb daraufhin ein eigenes Gutachten (Korrelation). Kam es zur Übereinstimmung beider Kollegien, wurde diese dem Städterat vorgelegt, dessen Mitspracherecht, wie schon erwähnt, aufgrund der einheitlichen Stellungnahme der beiden höheren Kollegien politisch unbedeutend blieb, da im Fall seiner Nichtzustimmung alle drei Voten dem Kaiser vorgelegt wurden, der als Stadtherr der Reichsstädte diese zum Nachgeben bewegte. Lag die Übereinstimmung aller drei Kurien vor, wurde das Ergebnis vom Kurfürsten von Mainz in einem sog. „Reichsgutachten“ (consultum imperii) zusammengefasst und dieses dem Kaiser bzw. dem Prinzipalkommissar zur Ratifikation offiziell überreicht. Erst die Zustimmung (sanctio) des Reichsoberhaupts verlieh dem „Reichsschluss“, dem Gesetz (conclusum imperii), Rechtskraft.45 Der Kaiser konnte seine Zustimmung aber auch verweigern wie 1671, als die Reichsstände ihre Rechte gegenüber Untertanen und Landständen erweitern wollten.46 © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Solange es noch keinen Immerwährenden Reichstag gab, waren am Ende einer jeden einberufenen Reichsversammlung alle Reichsschlüsse vom Mainzer Kurfürsten im sog. Reichsabschied zusammengestellt worden. Erst seit Konstituierung des permanenten Reichstags gab es keine Reichsabschiede mehr, sondern nur noch Reichsschlüsse. Der Reichsabschied von 1654 wird als jüngster, d.h. als letzter Reichsabschied bezeichnet.47 Zu den großen Gesetzeswerken der Frühen Neuzeit gehörten z.B. die Reichshandwerksordnung von 1731 und die Reichsmünzordnung von 1737. 1532 war auf dem Regensburger Reichstag unter Karl V. auch das erste deutsche Gesetzbuch zum Strafrecht und Strafprozess verabschiedet worden, die „Peinliche Gerichtsordnung“ (abgekürzt auch als Carolina bezeichnet).
2.8 Prinzipalkommissar War der Kaiser auf dem Reichstag nicht anwesend, wurde seine Position vom sog. Prinzipalkommissar wahrgenommen. Als kaiserlicher Vertreter war er zwar an die Weisungen des Wiener Hofs gebunden; er war jedoch nicht Stellvertreter im juristischen Sinn, sondern sein Auftrag beschränkte sich darauf, den Rang des Kaisers zu wahren und ihn allen zu vergegenwärtigen. Folgt man dem Aufklärer Johann Pezzl, bestand die Aufgabe des Prinzipalkommissars darin, die „Honeurs“ des Reichstags und der Stadt zu machen.48 Weilte das Reichsoberhaupt nicht in Regensburg, saß während der Reichstagssessionen der Prinzipalkommissar auf seinem Thron im Reichstagssaal. Wenn auch der Kaiser in seiner Entscheidung frei war, wen er zum Prinzipalkommissar49 ernannte, fiel seine Entscheidung stets auf Personen von fürstlichem Rang und katholischer Konfessionszugehörigkeit; Repräsentanten waren geistliche wie weltliche Fürsten. Da sich die Repräsentation jedoch als sehr kostspielig erwies, erschöpften sich die ökonomischen Ressourcen der Fürsten in der Regel nach einiger Zeit, so dass ihre Amtszeit auf einige Jahre begrenzt blieb. Erst dem Haus Thurn und Taxis gelang es, von 1743/48 bis zum Untergang des Alten Reichs, das Prinzipalkommissariat in drei Generationen zu bekleiden. Während Wien für das Prinzipalkommissariat lediglich 25.000 Gulden bereitstellte, lagen die Repräsentationskosten des Hauses Thurn und Taxis üblicherweise zehnmal höher, die vor allem durch das Einkommen aus der Reichspost gewährleistet waren. Abgesehen davon, dass die Fürsten von Thurn und Taxis über die nötigen Finanzmittel verfügten, um das Amt des Prinzipalkommissars am Immerwährenden Reichstag zu bekleiden, war es auch für sie von Vorteil, nicht nur einen stetigen und guten Kontakt zum Kaiser zu unterhalten, sondern auch zu den übrigen Reichsständen. Während man sich im Mittelalter zur Beförderung der Post nur beauftragter Boten bediente, schuf Thurn und Taxis zum Ende des 15. Jh. durch den Ausbau fester Postrouten die Voraussetzungen für das heutige Postwesen. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Durch Errichtung von Relaisstationen, an denen Pferde und Reiter gewechselt wurden, konnte die Post immer zügiger und zuverlässiger befördert werden. Die wirtschaftliche Existenz des international agierenden Verkehrsunternehmens hing jedoch letztlich von einer weitgehenden Monopolisierung ab. Da auch der Kaiser Interesse an einem florierenden Postwesen besaß, gründete er die Reichspost und ernannte zum Ende des 16. Jh. Leonard von Taxis zum Generalpostmeister. 1615 wurde das kaiserliche Generalpostmeisteramt dann sogar zu einem Erbmannslehn der Taxis umgewandelt. Einher mit dem Unternehmensaufstieg ging auch der Standesaufstieg des Hauses: 1608 erfolgte die Erhebung in den Reichsfreiherrnstand, 1624 in den erblichen Reichsgrafenstand und schließlich 1695 in den Reichsfürstenstand. Das Reichserbpostlehn wurde 1744 sogar zu einem kaiserlichen Thronlehn erhoben. Der Aufstieg der Familie spiegelte sich auch in der Wahl der Ehepartnerinnen wider; ihr Kreis nahm an Exklusivität stetig zu. Allerdings kam es erst nach Untergang des Alten Reichs zu den Spitzenverbindungen mit Habsburg und Wittelsbach. „Gekrönt“ worden war der Aufstieg des Hauses zweifelsohne auch durch die Verleihung des Prinzipalkommissariats. Aber sowohl die Errichtung der Reichspost als auch ihre Betreibung durch Thurn und Taxis führten bis ins 19. Jh. zu einem immer wiederkehrenden Streit zwischen Kaiser und Ständen. Die Landesherren begannen unabhängig von der Reichspost eigene Postsysteme aufzubauen. Zu den größten Verfechtern einer Landespost gehörten die Kurfürsten von Brandenburg und sogar Habsburg hatte seine österreichische Hofpost zur Landespost heranwachsen lassen. Für das Haus Thurn und Taxis war es daher geradezu notwenig – zumal sie sich im Gegenzug für die Erblichkeit des Reichspostlehns verpflichtet hatten, konkurrierende Unternehmen anzuerkennen – zu Kaiser und Ständen exzellente Beziehungen zu pflegen. Das Amt des Prinzipalkommissars am Immerwährenden Reichstag bot ihnen daher nicht nur die Möglichkeit einer glanzvollen Repräsentation ihres Hauses, sondern vor allem auch die Chance ihre hauspolitischen Ziele bestmöglich zu verfolgen.50 Zu den Aufgaben des Prinzipalkommissars gehörten das Vortragen der kaiserlichen Propositionen sowie die Endgegennahme der Reichstagsbeschlüsse an den Kaiser. Die eigentlichen Direktionalgeschäfte übernahm jedoch, wie erwähnt, der Kurfürst von Mainz. Besonders glanzvoll gestaltete das Haus Thurn und Taxis die Akkreditierung sowie auch die Audienzen der Reichstagsgesandten, die zu ihrem Alltagsgeschäft gehörten. Das Zeremoniell war nach dem Rang der Gesandten gestaffelt; d.h. am schlichtesten fiel das Zeremoniell für die diplomatischen Vertreter der Reichsstädte aus. Die Etikette war streng und für den Prinzipalkommissar bindend. Als Repräsentant des Kaisers nahm der Prinzipalkommissar auch die Huldigung der Regensburger Bürger auf einen neu gewählten Kaiser entgegen. Durch © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Eid bekundeten die reichsunmittelbaren Stände als Untertanen des Kaisers ihre Treuebindung an ihn. Die Regensburger hatten in ihrer Festtagskleidung, d.h., im sauberen Mantel und mit Degen, vor der Residenz des Prinzipalkommissars zu erscheinen. Während der Huldigungszeremonie wurde im Allgemeinen ein Porträt des neu gewählten Kaisers aufgestellt. Mit Ehrerbietung sollte die Bürgerschaft den vorgelesenen Huldigungseid mit aufgestreckten Fingern nachsprechen und anschließend das dreifache „Vivat“ auf den neu gewählten Kaiser ausrufen. Außerdem richtete der Prinzipalkommissar im Auftrag Habsburgs Feste aus, die Eindruck hinterließen; z.B. 1717 nach der Eroberung Belgrads oder 1736 anlässlich der Hochzeit Maria Theresias mit Franz Stephan von Lothringen. Auch wenn der Kaiser in Regensburg nicht anwesend war, erfüllten die vom Prinzipalkommissar ausgerichteten Feste die Funktion, Macht und Glanz des Herrscherhauses allen vor Augen zu führen; so wurde jährlich der Namenstag des Kaisers mit großem Aufwand zelebriert. Der Prinzipalkommissar präsentierte sich mit seinem Hofstaat von seiner Residenz zum Dom in einem prachtvollen Zug der Öffentlichkeit. Außerdem veranstaltete er auch im eigenen Namen große Feste.51
3 Zeremoniell 3.1 Funktion des Zeremoniells Herrschaftsträger nutzten und nutzen das Zeremoniell zur effektvollen Selbstinszenierung. Das Zeremoniell bringt die soziale Differenzierung einer Gesellschaft sichtbar zum Ausdruck, z.B. Gleichrangigkeit sowie auch Über- und Unterordnungen.52 Gegenstände, Gebärden, Redeformen sowie die Anordnung von Personen in einem Raum oder auch an einem Tisch vergegenwärtigen den aktiven wie passiven Beteiligten die Rangordnung.53 Unter zeremoniellen Handlungen werden soziale Handlungen verstanden, die „formalisiert“ sind; ihre äußere Form ist im Gegensatz zu Spontanhandlungen genau normiert.54 Sie haben sozialen Zeichencharakter; d.h., sie bilden eine sozialpolitische Ordnung ab. Durch Einhaltung des Zeremoniells vergewissert sich die Gruppe immer wieder, dass alle bereit sind, Rangordnung und Spielregeln zu akzeptieren; zeremonielles Handeln wirkt somit herrschaftsstabilisierend.55 Dieser Wirkung waren sich selbstverständlich auch die Stände der Frühen Neuzeit bewusst, die ihre Rangordnung auf dem Reichstag durch soziale wie räumliche Distanz zu markieren wussten.56 Zur Rangerhaltung präsentierte man sich aber auch der Öffentlichkeit. Zur Inszenierung von Herrschaft organisierte „die Welt des Reichstags“ u.a. glanzvolle Feste; so repräsentierten die Gesandten ihr Herrscherhaus durch spektakuläre Veranstaltungen, z.B. anlässlich der Geburt eines Erbprinzen, einer Vermählung oder eines militärischen Siegs. Ein glanzvolles Fest bot den Gesandten die Möglichkeit, sich und ihren Souverän – zumindest für © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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einige Zeit – in den gesellschaftlichen Mittelpunkt zu stellen. Zu den Charakteristika der barocken Festkultur am Sitz des Immerwährenden Reichstags gehörten Illuminationen (Lichterarrangements) sowie Feuerwerke und Festbankette. Auch die Bevölkerung schloss man nicht aus, so wurden Münzen, gelegentlich auch Brot und Konfekt, unter das Volk geworfen, Brunnen mit Wein gefüllt und bei großen Ereignissen Ochsenbratereien aufgestellt.
4 Geschichte vor Ort Da dem Reichstag der Frühen Neuzeit nur wenig Platz im schulischen Geschichtsunterricht eingeräumt wird, sollte es das Ziel sein, jungen Menschen seine strukturellen Zusammenhänge aufzuzeigen. Ein Vergleich mit dem Immerwährenden Reichstag und anderen älteren Regierungssystemen fördert das Verständnis für den heutigen Bundestag der Bundesrepublik Deutschland. Im Reichstag sowie in einer Dauerausstellung wird mit Schautafeln auf die politischen Strukturen
Andreas Geyer (1729): Das Rathaus zu Regenspurg. Inschrift unten: A. Pforte, wo die Churfürstl. Herren Gesandte, wan Sie in Reichs-Rath fahren, in das Churfürstl. Collegium, wie auch in den großen Re- und Correlation-Saal hinauf gehen. B. Der große Re- und Correlation-Saal. C. Das Churfürstliche Collegium. D. Das Churfürstl. Neben-Zimmer. E. Pforte, wo die Fürstl. Herren Gesandte in das Fürstliche Collegium hinauf gehen. F. Das Fürstl. Collegium. G. Pforte, wo der StadtRath hinauf gehet. H. Die Stadt-Bibliothec. I. Das neue Gebau, so Anno 1722 aufgefuhrt worden. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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der Gegenwart Bezug genommen. Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie deren Folgen können zur Diskussion gestellt werden. Bei der Besichtigung vor Ort erweist es sich als sinnvoll, die Reichsstände in den Mittelpunkt zu rücken. Schülergruppen können die Rollen der verschiedenen Reichsstände übernehmen und deren spezifische Funktionen vortragen. Darüber hinaus bietet es sich an, sie fiktive Sitzordnungen entwerfen zu lassen, damit sie ihre Vorstellungen von Hierarchie in einem öffentlichen Raum darlegen. Besichtigt werden können der Reichstagssaal sowie die Beratungszimmer der Kurfürsten, Reichsfürsten und Reichsstädte im Alten Rathaus. Die auf drei kleine Räume verteilte Dauerausstellung greift zahlreiche Aspekte zur Geschichte des Reichstags und des Heiligen Römischen Reichs auf. Ein Teil der Ausstellung widmet sich dem Leben der Reichsstände und ihrer Gesandten in der Reichsstadt Regensburg. In der Ausstellung ist eine Sänfte zu sehen, wie es sie seit Beginn des 18. Jh. in Regensburg gab. Ein Kupferstich zeigt die Auffahrt der Gesandten zu den zweimal wöchentlich abgehaltenen Reichstagssessionen; je nach Vermögen und Geschmack wählten sie eine Kutsche oder Sänfte oder gingen auch zu Fuß. Um Aufschlüsse zur Sozialtopographie zu gewinnen, können die Besucher per Knopfdruck die Wohnorte einiger Reichstagsgesandter ermitteln. Erhalten hat sich zudem ein Häuserschild, wie es die Gesandten an ihren Quartieren anzubringen pflegten. Ein kleines Porträt zeigt den Reichsquartiermeister von Papenheim. Bezug genommen wird auch auf die Willkommensgeschenke, die die Reichsstadt Regensburg hohen Potentaten und ihren diplomatischen Vertretern überreichte. Eine Brunnensäule verweist auf die angenehmen Seiten des Lebens in der Stadt des Immerwährenden Reichstags, aus ihr flossen bei hohen Festen der Wein für das Volk. Als Beispiel für die beliebten Festdekorationen des 17. und 18. Jh. ist ein aus Zucker modellierter Tafelaufsatz nachgebaut worden. Ein weiterer Aspekt der Ausstellung beschäftigt sich mit den Reichsständen. Vorgestellt werden einige Staatsoberhäupter; so kann bei einem Bild Karls des Großen, bei dem es sich um eine weit verbreitete Kopie eines Albrecht Dürers Bildes handelt, auf die Reichsinsignien Krone, Schwert und Reichsapfel hingewiesen werden. Grundsätzlich sollten aber alle Reichsinsignien und ihre Symbolik mit den Jugendlichen erörtert werden. An einem weiteren Gemälde können Merkmale der Kaiserkrönung aufgezeigt werden: dargestellt wird die Kaiserkrönung Franz I. im Frankfurter Dom. Der Repräsentant des Kaisers, der Prinzipalkommissar Carl Anselm von Thurn und Taxis, wird bei Ausübung einer seiner Amtspflichten auf einer Tribüne unter einem Baldachin sitzend dargestellt: Er nimmt den Huldigungseid der Regensburger Bürger entgegen. Die Kurfürsten werden auf einem Glashumpen gezeigt. Als Beispiel eines geistlichen Reichsfürstenstandes präsentiert die Ausstellung auch das Bild einer Frau, nämlich das der Fürstäbtissin des Re© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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gensburger Obermünsters. Die auf einem Kissen liegenden Schlüssel ermöglichen, auf das Verhältnis von Reichsstädten und Kaiser einzugehen. Am Beispiel der Porträts der Gesandten können ihre Funktionen erörtert werden. Auch auf die Verfassungsstrukturen des Reichstags und des Heiligen Römischen Reichs, z.B. die Reichskreise, wird kurz eingegangen; ein attraktiv gestalteter, aufklappbarer Doppeladler zeigt, über welche Materien der Reichstag verhandelte. Aufmerksamkeit sollte auch der in den zahlreichen Räumen des Alten Rathauses angebrachte Doppeladler, das Wappen von Kaiser und Reich, erregen. Auf der Brust des Adlers befindet sich häufig das Stadtwappen Regensburgs, die gekreuzten Schlüssel.
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Anmerkungen 1 So der Reichsstaatsrechtler Johann Stephan Pütter im späten 18. Jahrhundert, vgl. W. Schulze: Regensburg. München 2003, 258. 2 Ebd. 257. 3 K. Gerteis: Die deutschen Städte in der Frühen Neuzeit. Darmstadt 1986, 65 f. 4 R. A. Müller: Der Kaiser als Stadtherr. München 1987, 248. 5 Tabellarischer Überblick der Reichstagsorte bei Ziegler (Quelle fehlt) 1979, 117-119; vgl. allgemein zu Reichsstädten R. A. Müller: A.a.O. 19-22, 247-249; K. Gerteis: A.a.O. 65-71; H. Neuhaus: Das Reich in der Frühen Neuzeit. München 2003, 34-36; HRG Bd. 4, Sp. 758; zur Problematik des Reichsreformbegriffs vgl. P. Moraw: Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung. Berlin 1985, 416; H. Neuhaus: A.a.O. 2, 64 f. 6 Vgl. in diesem Sinn auch P. Schmid: Könige und Kaiser, Hoftage und Reichstage in Regensburg. Regensburg 2000, 54; zu den Vorgängen in Regensburg von 1486-1555 A. Schmid: Regensburg. München 1995, 179-190. Sowie zu den Jahren Regensburgs als bayerische Stadt siehe F. Fuchs: Der Kampf um Regensburg. Regensburg 2000, 19-28. 7 P. Schmid: A.a.O. 52. 8 W. Schulze: A.a.O. 265. 9 A. Schindling: Die Anfänge des Immerwährenden Reichstags zu Regensburg. Mainz 1991, 59. 10 M. Dallmeier: Kommunikation und Publikation am Immerwährenden Reichstag zu Regensburg. Kallmünz 2001, 41. 11 A. Schmid: A.a.O. 197; H. Wolff: Regensburgs Häuserbestand im späten Mittelalter. Regensburg 1985, 91-198. 12 G. Adlhoch/Ch. Joist/M. Kamp: Die Einzüge. Regensburg 1986, 38; K. Bauer: Regensburg. Regensburg 41988, 261-264. 13 D. Willoweit: Deutsche Verfassungsgeschichte. München 42001, 108 f. 14 P. Moraw: A.a.O. 411, 417, 419; H. Neuhaus: A.a.O. 3. 15 H. Neuhaus: A.a.O. 2; P. Moraw: A.a.O. 418 f. 16 Zu den Reformvorhaben von 1653/54 vgl. A. P. Luttenberger: Der Immerwährende Reichstag zu Regensburg. Kallmünz 2001, 14. 17 W. Fürnrohr: Der Immerwährende Reichstag zu Regensburg. Kallmünz 41987, 7 f.; W. Schulze: A.a.O. 266 f.; zu den Reichsbeschlüssen seit 1663 vgl. A. P. Luttenberger: A.a.O.
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15-23. Allerdings war der Immerwährende Reichstag für kurze Zeit zweimal verlegt worden, nämlich 1713, als in Regensburg die Pest wütete, nach Augsburg und 1742, als der bayerische Kurfürst zum Kaiser gewählt worden war und österreichische Truppen Bayern besetzten, nach Frankfurt. K. Härter: Reichstag und Revolution 1789-1806. Göttingen 1992, 35 f. W. Schulze: A.a.O. 267. A. Gotthard: Das Alte Reich 1495-1806. Darmstadt 2003, 11 f., 18; H. Neuhaus: A.a.O. 17 f.; zur Problematik der Standeserhebungen vgl. K. Härter: A.a.O. 37. D. Willoweit Deutsche Verfassungsgeschichte. München 42001, 189; H. Neuhaus: A.a.O. 36-38; Auflistung der Reichsstände von 1521 und 1755 bei G. Oestreich: Verfassungsgeschichte vom ... Stuttgart 1974, 137-155. A. P. Luttenberger: A.a.O. 12. H. Neuhaus: A.a.O. 21-27, 41; D. Willoweit: A.a.O. 163. H. Neuhaus: A.a.O. 7. W. Gotthard: A.a.O. 9 f. H. Neuhaus: A.a.O. 26. W. Gotthard: A.a.O. 17 f. H. Neuhaus: A.a.O. 30 f. Vgl. zum Aufbau des Fürstenrats D. Willoweit: A.a.O. 191; H. Neuhaus: A.a.O. 27-33, 41. W. Fürnrohr: A.a.O. 17 f. B. Blessing: Städtische Bedienstete ... Gießen 2001, 423-430. H. Neuhaus: A.a.O. 34-36; W. Fürnrohr: A.a.O. 17 f. K. Härter: A.a.O. 52, 57, 59. B. Blessing: A.a.O. 427. K. Härter: A.a.O. 59. M. Freitag: Gesandte und Gesandtschaften am Immerwährenden Reichstag. Kallmünz 2001, 179. A. Chr. Kayser: Versuch einer kurzen Beschreibung ... Regensburg 1797, 54. Th. Barth: Diplomatie und ländliche Gesellschaft im 18. Jh. 2003. D. Willoweit: A.a.O. 191. K. Härter: A.a.O. 54 f. M. Angerer/K. Färber/H.-E. Paulus: Ein Führer durch die Beratungszimmer des Alten Reichstags mit Reichstagsmuseum und mittelalterlicher Fragstatt. Regensburg 1992, 3436. B. Stollberg-Rilinger: Zeremoniell als politisches Verfahren. Berlin 1997, 107. HRG Bd. 5, Sp. 1058. K. Härter: A.a.O. 44. W. Gotthard: A.a.O. 20 f; D. Willoweit: A.a.O. 191 f. G Oestreich: A.a.O. 1974, 60. W. Gotthard: A.a.O. 22 f., 115. W. Behringer: Thurn und Taxis. München 1990, 223. Zum Amt vgl. grundsätzlich: M. Piendl: Prinzipalkommissariat und Prinzipalkommissare
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Der Immerwährende Reichstag
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am Immerwährenden Reichstag. Regensburg 1980, 131-149; W. Behringer: A.a.O. 214 f., 220-224. Vgl. zum Haus Thurn und Taxis grundlegend W. Behringer: A.a.O. 95-239. K. Möseneder (Hrsg.): Feste in Regensburg. 1986, 11-24. HRG Bd. 5., Sp. 1678 f. Grundsätzlich zu dieser Thematik B. Stollberg-Rilinger: A.a.O. 95. Sowie zu dem Reichstagszeremoniell des 16. Jh. A. P. Luttenberger: Gesellschaftliche Repräsentation und Zeremoniell auf dem Reichstag. München 1987, 291-326. B. Stollberg-Rilinger: A.a.O. 94. HRG Bd. 5, Sp. 1678 f. Vgl. z.B. die Sitzordnung im Reichstagssaal: Ziff. 2.6.
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Thomas Barth
Brauchen Hauptstädte Schlösser? Die Residenz in München und ihr Beitrag zum bayerischen Selbstverständnis
Obwohl durchschnittliche Besucher/-innen der bayerischen Landeshauptstadt München den Marienplatz als städtisches Zentrum betrachten werden, kommen sie kaum umhin, die Schritte auch in Richtung Residenz bzw. Odeonsplatz zu lenken. Unter sachkundiger Anleitung werden sie erfahren, dass der kurze Spaziergang in historischer Hinsicht einen Wechsel vom bürgerlichen Mittelpunkt der mittelalterlichen Stadt an den höfischen Rand bedeutet. Stehen sie dann am Odeonsplatz vor dem Hofgartentor, oder durchschreiten sie die Residenzstraße vom Max-Joseph-Platz her, so ist eine gewisse Enttäuschung nicht ausgeschlossen. Viele Urlauber/-innen dürften kaum erfahren haben, was sich hinter den dicken Mauern des Gebäudes verbirgt, das sich neben dem städtebaulich dominierenden Nationaltheater befindet. Obwohl groß und imposant handelt es sich im Grunde genommen doch um einen Bau, der architektonisch im Schatten des Opernhauses steht. Das Nationaltheater mit seinem mächtigen Portikus lässt dagegen immerhin den Schluss zu, dass es sich um ein öffentlich zugängliches und genutztes
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Bauwerk handeln muss. Die Residenz hingegen verbirgt an dieser Stelle diesen Tatbestand, obwohl es sich nach dem Louvre in Paris und der Wiener Hofburg um eine der größten Palastanlagen Europas handelt.1 Die Architektur ordnet sich dem benachbarten Opernhaus unter, so dass weder ein Portikus noch ein Balkon als architektonisch gestalteter Blickfang auf den Eingangsbereich und damit auch auf die öffentliche Rolle des Gebäudes aufmerksam machen. Umrundet der Besucher die gesamte Anlage, was einige Zeit in Anspruch nimmt, so findet er eigentlich nur auf der Hofgartenseite einen eindeutig als Eingang zu identifizierenden Bereich. Ansonsten steht er vor dicken Mauern und verschiedenen Toren, die einen verschlossenen Eindruck erwecken. Diese wenig einladenden Portale ermöglichen den Zugang zu verschiedenen Gebäudeteilen, die zwar offensichtlich zusammengehören, aber trotzdem kaum als geschlossenes Ensemble identifiziert werden können. Immerhin kann dieser Blickwinkel zum Ausgangspunkt für die geschichtliche Analyse der Münchner Residenz gemacht werden. Die Residenz muss, was erst ihren historischen und kunstgeschichtlichen Wert begründet, als Gebäudeensemble begriffen werden, das als Gesamtkunstwerk im Verlauf mehrer Jahrhunderte entstand. Bis in die Gegenwart wurden immer wieder Ergänzungen, Erweiterungen und Veränderungen vorgenommen. Die keineswegs vollständige Rekonstruktion der von König Ludwig I. gebauten Allerheiligenhofkirche wurde zum Beispiel erst vor kurzer Zeit beendet und ein Anbau des Nationaltheaters am Marstallplatz, der beim Wiederaufbau des Opernhauses nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet wurde, riegelt seitdem das Residenztheater und die Allerheiligenhofkirche vom eigentlichen Marstallplatz ab, was als Widerspruch zur ursprünglichen Raumkomposition gewertet werden kann. Die Geschichte der Residenz kann nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Erschließung immer neuer Gebäudeteile betrachtet werden, die sich im Verlauf der Jahrhunderte um normalerweise unzugängliche, der Öffentlichkeit nicht zur Verfügung stehende Innenhöfe gruppierten, sondern auch als Abfolge von Vernichtung und Wiederaufbau. Dabei ging es den früheren bayerischen Herzögen, Kurfürsten, Königen und in der Zeit nach 1918 den bayerischen Finanzministern, die seitdem für diese Bauten die Verantwortung übernommen haben, darum, die Bauten und Räume für die Durchsetzung der jeweils vorherrschenden politischen Ziele zu nutzen und zu instrumentalisieren. Der Zweck der Bauten erstreckte sich daher immer auch auf zeremonielle Belange, da die Zimmerfluchten nicht nur für komfortable Wohnzwecke und die Unterbringung des Hofstaats, sondern auch für die Repräsentation der fürstlichen bzw. monarchischen Macht errichtet wurden.2 In dieser Hinsicht sollte die Residenz als Kern der Residenzstadt München betrachtet werden, die gebaut wurde, um den Herrschaftsanspruch der wittelsbachischen Dynastie künstlerisch und ästhetisch (durch Ikonographie und Herrschaftssymbole) zu begründen. Daran änderte die Novemberrevolution und © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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die Ausrufung der Republik nur wenig. Auch in der Gegenwart des bayerischen Freistaates wird immer noch auf die Ressource Geschichte zurückgegriffen, um mit Hilfe der Residenz eine optimale Selbstdarstellung des bayerischen Gemeinwesens zu erreichen. Staatsempfänge der bayerischen Landesregierung finden heute noch innerhalb der Residenz statt.3 In diesem Beitrag sollen deswegen die Begriffe Öffentlichkeit, Zeremoniell, Hauptstadtbildung, Repräsentation von Herrschaft und deren geschichtlicher Wandel in den Vordergrund gerückt werden, um begreiflich zu machen, dass repräsentative (Herrschafts-)Architektur immer sozialen und geschichtlichen Bindungen unterlag und genau bestimmte Funktionen erfüllte. Im Endeffekt geht es darum zu verdeutlichen, dass Architektur als Teil einer symbolischen Politik betrachtet werden muss, die darauf angelegt ist, durch Inszenierung von Macht Gemeinschaft herzustellen, Sinnstiftung zu betreiben und eine politisch gewollte Identität zu schaffen.4 Zudem sollte klar werden, dass viele Motive, Gedankengänge und Absichten heute, in den Zeiten einer repräsentativen Demokratie nicht mehr ohne weiteres erkennbar sind. Dazu kommen eine Reihe von Brüchen, die die historische Kontinuität an einigen Stellen kappten: Für die meisten dürfte es wahrscheinlich eine Überraschung sein, dass die Pfälzer Weinstube, die seit dem Wiederaufbau, nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs hier ihr Domizil gefunden hat, als Hinweis auf die frühere Zugehörigkeit der Pfalz zu Bayern zu verstehen ist. Erst in einer Volksabstimmung im Jahre 1956 fand diese Beziehung ein endgültiges Ende, der Bayern immerhin sein Wappentier verdankt, da es sich bei dem bayerischen Löwen im eigentlichen Sinne um einen pfälzischen Löwen handelt. Beinahe überflüssig erscheint daneben der Hinweis auf die Bedeutung der Residenz als historische Stätte, da an dieser Stelle in den letzten 500 Jahren die politischen Geschicke Bayerns entscheidend beeinflusst wurden. Nicht umsonst glaubte das besonders abergläubische 19. Jahrhundert, in den alten Gemäuern den Spuk einer schwarzen Frau erkennen zu können.5 Diese spürbare Nähe von Geschichte ergab sich ganz einfach durch die Funktion der Residenz als (Winter-) Wohnsitz der Wittelsbacher, die im Verlauf ihrer Geschichte immer wieder den Versuch unternahmen, die Stellung der Habsburger auf Reichsebene zu untergraben und ihre Kaiserkrone zu übernehmen. Ein Mittel zum Zweck war auch die Schaffung prächtiger, beeindruckender Bauten, die den Anspruch auf Ranggleichheit bzw. kaiserliche Ehren untermauern sollten. Während Kurfürst Max Emanuel damit im Spanischen Erbfolgekrieg scheiterte und die österreichische Besetzung seines Landes hinnehmen musste, konnte sein Sohn Karl Albrecht zwar als Karl VII. die Kaiserkrone gewinnen, musste aber am Ende trotzdem seine Niederlage eingestehen, da er bereits zuvor Bayern an die österreichischen Truppen verloren hatte. Bayern verdankt diesem im Grunde fehlgeleiteten und realitätsfernen Ehrgeiz, © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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der das Land katastrophal belastete, heute die Sommerschlösser Nymphenburg und Schleißheim,6 und eben auch die eigentliche Residenz in München.
Baugeschichte7 Den eigentlichen Anlass für den Baubeginn im Jahre 1384 bildete ein Aufstand der Münchner Bürger gegen die Herzöge. Um ein derartiges Aufbegehren in Zukunft zu verhindern entstand am Rande der damaligen Stadt eine Burg, die sich nicht nur gegen Angreifer von außen, sondern auch gegen Aufstände, die innerhalb der Stadt ausbrachen, zur Wehr setzen konnte. Dieser doppelsinnige Charakter der neuentstandenen Fortifikationsanlage, die als Ausdruck der sich im späten Mittelalter verdichtenden Staatsgewalt betrachtet werden sollte,8 bestand bis in das 16. Jahrhundert. Die Herrscher Bayerns residierten im „Alten Hof“ und benutzten die heutige Residenz ausschließlich für militärische Zwecke. Ein Wandel trat erst am Beginn des 16. Jahrhunderts ein, als Herzog Wilhelm IV. die Hofhaltung in die neue Veste verlegte. Sein Sohn Albrecht V. ließ in der zweiten Hälfte des 16 Jahrhunderts das Antiquarium erbauen, das für sich in Anspruch nehmen konnte, der prachtvollste und größte profane Saal der Renaissancezeit zu sein. Von nun an erfüllte die Residenz den bis in die Gegenwart gültigen Zweck, als repräsentative Bühne der Hofgesellschaft zu dienen. Dazu trat ihre Funktion als eindrucksvolle Wohnstätte der Herrscher Bayerns, die damit auf augenfällige Weise ihre Überlegenheit über den landsässigen Adel zum Ausdruck brachten. Ihren wehrhaften Charakter bewahrte die Residenz in den nächsten zwei Jahrhunderten. Als zweiter Höhepunkt im 17. Jahrhundert kann die Herrschaft von Herzog Maximilian gewertet werden. Die Zeitgenossen beeindruckte er nicht nur durch die konsequente und schnelle Sanierung der durch seinen Vater erschütterten bayerischen Staatsfinanzen, durch die effektive Durchführung der Gegenreformation, die Bayern zusammen mit Österreich zur Vormacht im katholischen Lager werden ließ, und durch die Inbesitznahme des Kurfürstentitels bzw. der Oberpfalz, die bis dahin kurpfälzisch gewesen war, sondern auch durch den großzügigen Ausbau der Residenz. Der schwedische König Gustav Adolph, der München im Dreißigjährigen Krieg eroberte, zeigte sich von den architektonischen Anstrengungen Maximilians so beeindruckt, dass er ironisch den Wunsch äußerte, die Residenz auf Rädern nach Stockholm transportieren zu können.9 Der heute noch bestehende Westflügel geht auf die Initiative Maximilians zurück. Die Fassade beinhaltet beispielsweise die Figur der Patrona Boiariae, die zum Ausdruck der gegenreformatorischen Frömmigkeit Maximilians wurde. Auch die Mariensäule am Marienplatz lässt sich auf diese Phase der Baugeschichte zurückführen, ebenso die Hofkapelle innerhalb der Residenz. Dazu kam die Anlage des Hofgartens.10 Die Zurschaustellung des kurfürstlichen Titels, die Ausweitung der Machtbasis © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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durch den Anschluss der Oberpfalz und das Bemühen um den rechten, katholischen Glauben gingen dabei Hand in Hand und fanden ihren Ausdruck in der architektonischen Form. Den aus Berlin stammenden Aufklärer F. Nicolai erinnerte beispielsweise im ausgehenden 18. Jahrhundert die Fassade der Residenz eher an ein Kloster als an einen Palast.11 Diesen Eindruck kann die Westseite der Residenz tatsächlich bis heute erwecken, da die Fassade nur einen schwachen Hinweis auf den Luxus der Innenräume liefert. Architektur wurde hier zum Ausdruck der politischen Überzeugungen Maximilians, der mit voller Absicht seine Prunkliebe nur den Standeskollegen offenbarte. Auf einen weiteren Punkt, der sich mit der Baugeschichte verbindet, sollte in diesem Zusammenhang hingewiesen werden: Obwohl die Herrschaftsjahre Maximilians gerne mit dem Attribut frühabsolutistisch versehen werden und er seine Machtbasis gegenüber dem Adel und den übrigen Ständen tatsächlich beträchtlich ausweiten konnte, sah sich der zum Kurfürsten aufgestiegene Herrscher Bayerns gezwungen, die zum Ausbau der Residenz notwendigen Grundstücke käuflich zu erwerben. Es fand also keine Enteignung statt, wie sie vielleicht der Begriff einer absolutistischen Herrschaftsform suggerieren würde. Die unregelmäßige Form der Residenz, ergibt sich deswegen bis heute durch den Verlauf verschiedener Bäche und des Schwabinger Stadttores, das bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts die nördliche Grenze Münchens markierte. Erst im Zuge des Wiederaufbaus des Armeemuseums in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts, das heute als Staatskanzlei genutzt wird, konnte der zuvor kanalisierte Bach wieder freigelegt werden. Die Grundstücke zwischen der mittelalterlichen Neuveste und dem westlich gelegenen Tor wurden erst im Verlauf der weiteren Jahrhunderte hinzuerworben, um die Residenz nach und nach zu erweitern. Damit erreichte die Anlage das Gepräge eines historisch langsam gewachsenen Bauensembles, das bewusst die Architektur verschiedener Jahrhunderte umfasste. Im Gegenzug aber wirkte es immer schon uneinheitlich und hatte mit Ausnahme der Westfassade bis in das 19. Jahrhundert keine wirkliche Schauseite aufzuweisen. Bei gutwilliger Betrachtung konnte diese Stilmischung und der ins Auge springende Zustand des Noch-nicht-Vollendeten als malerisch bezeichnet werden. Weniger freundlich gesonnene Gemüter konnten diese Form der Anlage aber bereits im 18. Jahrhundert als altmodisch abtun, zumal um 1800 die Stadt über die Stadtmauern hinaus sich ausdehnte und immer näher heranrückte. Handlungsbedarf ergab sich um 1800, als durch die Säkularisation das Franziskanerkloster im Norden wegfiel, auf dessen Grundstück dann das Nationaltheater errichtet wurde. Im Zuge der nun unabdingbaren Stadterweiterung verschwand auch das im Norden gelegene Schwabinger Tor aus dem Stadtbild. Die bisher schon wenig einnehmende äußere Gestalt der Residenz wurde nun vollends untragbar, da die wenig ansehnlichen Seiten der Residenz im Norden, Osten und © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Westen einsehbar wurden.12 Dazu kam die Entscheidung Napoleons, Bayern als französischem Verbündeten die Königswürde zuzugestehen. Obwohl also genügend gute Gründe vorlagen, einen Aus- bzw. Neubau in die Wege zu leiten, entschied sich Bayerns erster König, Maximilian I., nach dem der nördliche Vorplatz der Residenz benannt wurde, für ein Aussitzen der baulichen und ästhetischen Probleme. Unbeeinflusst vom Baulärm wollte er ganz einfach seine Ruhe haben.13 Erst sein Sohn Ludwig I. begann das ambitionierte Vorhaben zu entwickeln, aus München eine dem Königreich Bayern würdige Haupt- und Residenzstadt zu machen und die Residenz als repräsentativen Wohnsitz baulich zu vollenden. Nicht ohne Hintergedanken nannte er den Bauabschnitt im Süden, der die Anlage zum Max-Joseph-Platz bzw. zum Nationaltheater abschloss, Königsbau. An der entgegengesetzten Stelle im Norden, der den Hofgarten baulich einfasste, entstand der sogenannte Festsaalbau, der u.a. den im Krieg verloren gegangenen Thronsaal umfasste.14 Architektonisch, ästhetisch und in zeremonieller Hinsicht hatte sich der neue, seit 1825 amtierende bayerische König mit mehreren Problemen auseinanderzusetzen: Einer der Gründe, warum seine Vorgänger auf einen angemessenen Ausbau des gesamten Ensembles verzichtet hatten, stellten sicherlich die geringen Finanzmittel des Kurfürstentums Bayerns im späten 18. Jahrhundert dar. Nachdem 1745 mit dem Tod von Karl Albrecht die imperialen Pläne Bayerns endgültig zu Grabe getragen worden waren, kehrte bei der Formulierung politischer Ziele in der Münchner Residenz wieder eine gewisse Bescheidenheit ein. Gerade der in der Kurpfalz (Mannheim) residierende und aus Pfalz-Sulzbach stammende Kurfürst Karl Theodor, der 1777 nach dem frühen Tod von Max III. Joseph die bayerischen Wittelsbacher beerbte, gab sich angesichts der finanziellen Malaise, seines vorgerückten Alters und seiner Kinderlosigkeit kaum noch Mühe, München seinen Stempel aufzudrücken. Im Gegensatz zu Bayern führte allerdings in Preußen Friedrich II. (der Große) nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges seine Baupolitik in Berlin und Potsdam unbeeindruckt von derartigen Erwägungen fort. So entstand beispielsweise in Potsdam das Neue Palais, um seine politischen Ambitionen und seinen (reform-)absolutistischen Anspruch zu untermauern. In diesem Zusammenhang darf jedoch nicht übersehen werden, dass gerade finanzielle Erwägungen die bayerische bzw. wittelsbachische Baupolitik zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert selten gehemmt hatten, wenn es darum ging, politische Ansprüche in architektonische Formen zu gießen. Die Zurückhaltung am Ende des 18. Jahrhunderts musste somit noch mit weiteren Gründen in Zusammenhang stehen: Genannt werden sollte beispielsweise eine in dieser Zeit zunehmende Hof- und Adelskritik, die das seit dem 16. Jahrhundert entwickelte höfische Zeremoniell zunehmend in Frage stellte. Gerade die kritische Fragen formulierende Aufklärung, die in rationellen Kategorien dachte und kamerali© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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stische Argumente benutzte, ließ die höfische Welt des Barock und Rokoko als überkommenen Bestandteil einer untergehenden Welt erscheinen. Zeremonielle Formen, die bisher weitgehend die politischen Inhalte vorgeprägt hatten, hörten am Vorabend der Französischen Revolution auf, ihren Zweck zu erfüllen. An die Stelle von Identität, die in den Jahrhunderten zuvor mit Hilfe zeremonieller und architektonischer Mittel geschaffen worden war, trat nun Konfusion, da das bisher bestehende Regelwerk seine bindende Wirkung zumindest teilweise eingebüßt hatte und seinen Zweck nur noch unvollständig erfüllte.15 Der herrschende Zeitgeist sprach sich entschieden nicht nur gegen den inzwischen als altmodisch geltenden Rokokostil aus, der überkommene und untergegangene Werte zum Ausdruck brachte, sondern auch gegen teure Schlossbauten. Klenze, der bestimmende Architekt König Ludwigs I., der die Kategorien des französischen Empire, der italienischen Renaissance und der Antike zum Maßstab erhob, ging (angeblich) sogar soweit, Baupläne der Rokokozeit vernichten zu lassen, um sie so für alle Zeiten aus dem Gedächtnis zu streichen. Die Vollendung gelang damit erst König Ludwig I. im Vormärz. Gemeinsam mit Kurfürst Maximilian im 17. Jahrhundert muss er als eigentlicher Bauherr der Residenz betrachtet werden.
Zeremoniell und Öffentlichkeit in der Münchner Residenz Ludwig I. konnte sein bauliches Programm kaum als Fortführung bestehender Traditionen betrachten. Kunstgeschichtlich hatten sich derweil klassizistische Formen, Teile der Revolutionsarchitektur und das von der Herrschaft Napoleons gespeiste Empire durchgesetzt. Politisch dominierten restaurative Überzeugungen, die zusammen mit den liberalen und bürgerlichen Vorstellungen der Opposition eine gefährliche Gemengelage bildeten und in der Revolution 1848 zur Explosion kamen. Im Revolutionsjahr verlor Ludwig I. nicht nur wegen seiner Affäre mit Lola Montez seinen Thron. In den Jahren zwischen der Niederlage Napoleons und seinem Rücktritt 1848 verfolgte Ludwig I. eine Baupolitik, die seine Überzeugungen bildhaft zum Ausdruck bringen sollten. Berühmtheit erlangte sein Ausspruch: „Ich will aus München eine Stadt machen, die Teutschland so zur Ehre gereichen soll, dass keiner Teutschland kennt, wenn er nicht auch München gesehen habe.“ Um Ludwigs Einstellungen und Interessen zu beschreiben, kann auf Vokabeln wie Neoabsolutismus, AntiSäkularisation bzw. romantischer Katholizismus, Griechenland- bzw. Italienbegeisterung und schließlich auch Frankophobie zurückgegriffen werden. Beinahe wie eine boshafte Ironie erscheint es deswegen, dass der gegenüber Frankreich alles andere als wohlgesonnene bayerische König keineswegs auf Ideen aus dem napoleonischen Frankreich verzichten konnte, um seinen Traum eines unabhängigen, aber deutschen, katholischen und v. a. monarchischen Bayerns Ge© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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stalt werden zu lassen. Trotzdem sollte der Bezug auf die florentinische Renaissance beim Königsbau, der den Palazzo Pitti in Florenz weitgehend imitierte, bzw. die Verwendung von Formen des Palladianismus beim Festsaalbau als architektonisches Bemühen ernstgenommen werden, auf die im 17. und 18. Jahrhundert dominierende französische Formensprache zu verzichten. Die Hinwendung zu Florenz konnte aber auch noch in einen anderen Bezugsrahmen eingeordnet werden. Der König stellte sich damit in eine Reihe mit den Mäzenen der florentinischen Kultur und ihrer einflussreichen Kunstpolitik. Der Tag, an dem die Grundsteinlegung des Königsbaus erfolgte, brachte die politischen Überzeugungen des Königs ebenfalls sinnfällig zum Ausdruck. Zehn Jahre nach dem Sieg bei Waterloo, der die französische Vorherrschaft in Europa endgültig beendet hatte, am 18. 6. 1825 begannen symbolisch die Bauarbeiten. Der König verbot ausdrücklich, bei der Innendekoration auf Tapeten oder Wandvertäfelung zurückzugreifen, da diese mit der französischen Kultur assoziiert werden konnten. Im Thronsaal der Königin wies zum Beispiel die ornamentale Formensprache auf maurische bzw. spanische Vorbilder hin. Einem aufmerksamen Beobachter war natürlich bewusst, dass gerade der in Spanien entwickelte Guerillakampf gegen die französischen Truppen den Auftakt zu den (deutschen) Befreiungskriegen dargestellt hatte. Auch aus diesem Grund fühlte sich der König der spanischen Kultur immer stark verbunden und unterhielt sich bzw. führte die Korrespondenz mit Irin Lola Montez, die sich als Spanierin ausgab, in dieser Sprache. Obwohl Ludwig trotz seiner wenig freundlichen Gefühle gegenüber Frankreich nolens volens kaum auf Teile des französisch inspirierten Hofzeremoniells bei seinem Neu- und Umbau der Residenz verzichten konnte, kam bei seinen Neubauplänen noch ein weiterer, jetzt nicht mehr zu übersehender Gesichtspunkt zum Vorschein: Trotz der nach 1815 betriebenen restaurativen Politik begann sich das gesamte Politikverständnis in dieser Zeit zu ändern. Die politische Kultur des beginnenden 19. Jahrhunderts akzeptierte im Rahmen der monarchischen Herrschaftslegitimation die absolutistischen Formen und Zeremonien nur noch unvollständig und bedingt. Der Absolutismus der Frühen Neuzeit war unwiderruflich an sein Ende gelangt, obgleich der Terror der Revolution die um 1789 denkbaren (inhaltlichen und symbolischen) Alternativen weitgehend diskreditiert hatte. Ungeachtet des Anscheins, dass nach 1815 ein Wiederanknüpfen an die alte, vorrevolutionäre Zeit möglich schien, veränderte sich jetzt eine maßgebliche Kategorie: Es entstand eine neue Form der Öffentlichkeit, in der bürgerliche Belange nicht mehr wie im Absolutismus völlig übergangen werden konnten. Ein Wandel der gesamten politischen Kultur war die Folge. Vielleicht muss gerade deswegen das gesamte 19. Jahrhundert als Epoche begriffen werden, in der sich ein durchgehender, europaweiter Hang zu prächtigen, immer größeren und beeindruckenderen Mo© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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numentalbauten entwickelte, um das Bürgertum auf symbolische Art und Weise mit der Monarchie zu versöhnen.16 Seinen Widerhall fand dies in der Baupolitik Ludwig I. Als Beleg dafür kann der Königsbau herangezogen werden. In seiner internen Ausgestaltung der klassischen Enfilade-Struktur, die die Antichambres und Gemächer des Königs und der Königin symmetrisch in einer Raumflucht zuordnete,17 nahm er zwar Bezug auf die barocken Vorbilder, aber im Gegensatz zu ihnen ordnete er die königlichen Zimmer am Max-Joseph-Platz an, womit sie für die Münchner Öffentlichkeit einsehbar wurden. Laut Ludwig I. konnte jedermann in seiner Residenzstadt damit erkennen, dass er als Frühaufsteher seine Pflichten als Monarch überaus ernst nahm. Die für das Zeremoniell verantwortlichen Architekten früherer Jahrhunderte hatten indessen einen völlig anderen Weg gewählt. Seit dem 16. Jahrhundert bemühten sich die Veranstalter höfischer Feste, sich aus der breiten Bevölkerung zurückzuziehen, wofür im Verlauf der Zeit aufwendige und prachtvolle Innenhöfe gebaut wurden, die bis heute das Erscheinungsbild der Residenz bestimmen. Die Gestaltung der äußeren Fassade trat im 17. Jahrhundert eher in den Hintergrund. Diese sprach sich, wie etwa in Aschaffenburg, für den Bau von wehrhaft erscheinenden, abweisenden Vierflügelanlagen aus, wofür Florenz das Vorbild geliefert hatte. Im Barock setzte sich dann allmählich das aus Frankreich (Versailles) übernommene Modell einer Dreiflügelanlage mit einem (vergitterten) Ehrenhof durch. In der Münchner Innenstadt ließ sich das Versailler Modell jedoch kaum anwenden, da dafür einerseits der zur Verfügung stehende Platz nicht mehr ausreichte und andererseits Kurfürst Maximilian die Bauarbeiten bereits zu einem sinnvollen Ende gebracht hatte, als Versailles nur ein unzugängliches Sumpfgelände bzw. ein bescheidenes Jagdschloss aufzuweisen hatte. Zudem darf nicht vergessen werden, dass um 1700 sowohl in Wien als auch Berlin das imponierende französische Vorbild nur sehr beschränkt übernommen wurde und das habsburgische Kaiserhaus auch in kultureller Hinsicht die Konkurrenz mit den Bourbonen suchte. Ein aus Wien ausgehender ‚Reichsstil‘ sollte eine Alternative zum Versailler Vorbild liefern. Demzufolge konnte auch München trotz seiner politischen und kulturellen Nähe zu Frankreich, die vor allem unter Max Emanuel offensichtlich wurde, nicht ohne weiteres vollständig von dem Wiener Vorbild abweichen. Ansonsten hätte sich leicht der Vorwurf des fehlenden Reichspatriotismus erheben können. Nicht übersehen werden darf, dass beinahe alle Höfe im Deutschen Reich einen großen Teil der ihnen zur Verfügung stehenden Finanzmittel im ausgehenden 17. und beginnendem 18. Jahrhundert in den Bau von Sommerresidenzen (Schönbrunn, Charlottenburg, Sanssouci, Nymphenburg und Schleißheim) lenkten, um mit Versailles konkurrieren zu können. Trotzdem sollte festgehalten werden, dass keiner der wichtigen Höfe in Deutschland das französische Vorbild vollständig © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Charakteristischer Innenhof der Residenz
übernahm. Nirgendwo gewann damit die Sommerresidenz eine dominierende Rolle wie in Versailles. In der Münchner Residenz wurde zwar unter Karl Albrecht ein Paradeschlafzimmer wie am französischen Hof angeschafft, tatsächlich aber nie wirklich benutzt. Es handelte sich um ein museales Schaustück, um die Gleichwertigkeit mit konkurrierenden Höfen zu demonstrieren. Der Münchner Hof orientierte sich auch weiterhin weitgehend am spanischen, also in Wien üblichen Hofzeremoniell. In München war deswegen ein zeremonielles und ritualisiertes Aufstehen oder Zubettgehen (lever et coucher) wie in Frankreich kaum verbreitet, so dass bei derartigen Gelegenheiten in der Residenz nur ein sehr eingeschränkter Personenkreis anwesend war. Auf keinen Fall herrschten Versailler Verhältnisse, bei denen morgens oder abends der gesamte Hof als Auditorium für den königlichen Auftritt fungierte. Umgekehrt schloss dies aber nicht aus, dass bestimmte Neuerungen aus Versailles nicht begierig übernommen worden wären.18 Die deutschen Kaiser in der Wiener Hofburg hielten in Konkurrenz mit Frankreich an der bisherigen Bausubstanz in der Wiener Innenstadt fest und bemühten sich, einen eigenständigen Stil zu kreieren, der die Abgrenzung zu Frankreich erlaubte. Augrund dieser Vorgaben ergab sich für die mit den Habsburgern konkurrierenden Wittelsbacher im 18. Jahrhundert kein dringlicher Grund oder Anlass, einen weitgehenden Abriss und Neubau der Residenz zu planen. Die Bauten Maximilians mit ihren charakteristischen Innenhöfen blieben bis zum frühen 19. Jahrhundert, als die Stadterweiterung Veränderungen nötig machte, der dominierende Teil der Residenz. Wenn überhaupt, dann setzte sich © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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bei Umbauten im 18. Jahrhundert nur bei der Innendekoration der französische Geschmack durch, zum Beispiel bei den Reichen Zimmern, die nach einem Brand 1729 im Rokokogeschmack neu ausgestattet wurden. Aber ob Drei- oder Vierflügelanlage, ob Cour d’honneur oder geschlossener Innenhof, die Veränderungen der höfischen Gesellschaft und ihrer Feierlichkeiten waren in der Frühen Neuzeit unübersehbar. Hatten die Herrscher des Mittelalters ihre Feste (beispielsweise bei der noch heute präsenten Landshuter Fürstenhochzeit) im Beisein des Volkes gefeiert, formierte sich spätestens im 17. und 18. Jahrhundert eine elitäre, aristokratische Hofgesellschaft, die in ihren Privilegien, also dem Zugang zum Fürsten bzw. Monarchen, vielfach abgestuft die eigentliche Öffentlichkeit des Absolutismus bildete. Dem musste architektonisch Rechnung getragen worden. Dafür entwickelten die Architekten eine immer längere Abfolge von Vorzimmern, Audienzzimmern, Kabinetten und Antichambres. An diese Paradezimmer (Appartement de parade), die für das streng ritualisierte diplomatische Zeremoniell gedacht waren, schlossen sich Appartement de société an, in denen der Hofstaat zwanglos, im Stile Versailles feiern konnte. Dazu traten die eigentlichen Privatgemächer (Appartement privé) der Souveräne. In München erreichte diese Entwicklung von durchgehenden, funktional genau abgestimmten Raumfluchten ihren Höhepunkt bei den sog. Reichen Zimmern unter Kurfürst Karl Albrecht. Er träumte den Traum eines wittelsbachischen Kaisertums, setzte ihn als Kaiser Karl VII. in die Wirklichkeit um und scheiterte dabei letztlich. Die Reichen Zimmer waren dabei für das diplomatische Zeremoniell gedacht, die Schönen Zimmer für die sog. Appartements, also die zwangloseren Zusammenkünfte, bei denen getanzt, gespielt und selbstverständlich Konversation betrieben wurde, und das Gelbe Appartement für das Privatleben. Während die Paradezimmer das Wiener Vorbild nachahmten, stellten die Appartements eine Übernahme französischer Sitten dar.19 Diese Formierung der höfischen Gesellschaft bedeutete selbstverständlich nicht, dass sich der Fürst vollständig aus der (nichtadeligen) Öffentlichkeit zurückzog, wie die in den Hofkalendern veröffentlichten Termine verdeutlichten. München im 18. und frühen 19. Jahrhundert kann dem Typus der klassischen Residenzstadt zugeordnet werden, so dass um 1800 kein geringer Teil der etwa 40.000 Einwohner Münchens von der Residenz sein Auskommen bezog. Zusätzlich lebten viele Münchner von den ansässigen Adeligen, die ein Stadtpalais im unmittelbaren Umkreis der Residenz bewohnten.20 Kontakte zwischen der aristokratischen und bürgerlichen Welt waren so beinahe unvermeidlich. Zumindest im Straßenbild blieb die aristokratische Gesellschaft immer präsent, was natürlich auch Auswirkungen auf die Kultur des hier beheimateten Bürgertums hatte, das sich von adeligen Sprach- und Verhaltensformen beeinflussen ließ.21 Als Konzession an die Aufklärung kann immerhin die Öffnung des Hofgartens 1780 betrachtet werden, © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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in dem von nun an auch bürgerliche Bewohner der Stadt Zugang hatten. Von nun an zeichnete sich erkennbar die Tendenz ab, dass die Abschottung der höfischen Welt ihren Höhepunkt überschritten hatte. Trotzdem bildete die Residenz noch lange Zeit einen isolierten Bereich innerhalb Münchens. Normalerweise legte der bayerische Kurfürst in der gesamten Frühen Neuzeit mehr Wert auf seine Wirkung auf Standeskollegen als auf seine Erscheinung beim gewöhnlichen Volk. Gerade diese Abwägung erklärt, warum die Residenz bis heute einen verschachtelten, im Grunde genommen abweisenden Eindruck vermittelt, zumal das bewunderte Versailler Vorbild wegen der kulturellen Nähe zu Wien nicht vollständig übernommen werden konnte. Inwieweit die Münchner Residenz des 18. Jahrhunderts in ihrer baulich bedingten Unzugänglichkeit wirklich den Anspruch erheben kann, typisch zu sein ist, bleibt trotzdem zweifelhaft. Obwohl selbstverständlich auch andere Stadtresidenzen (zum Beispiel das Berliner Stadtschloss, Stuttgart, Würzburg, Bonn, Koblenz) dem gleichen Prinzip der exklusiv aristokratischen, hoffähigen Öffentlichkeit folgten, verzichteten sie trotzdem nicht auf eine wirkungsvolle Außenfassade. Wahrscheinlich ergab sich die geringe Außenwirkung der Münchner Anlage vornehmlich durch die besondere Lage der im 18. Jahrhundert gültigen Platzgestaltung mit einem Festungstor im Nordwesten, einem Kloster im Süden, Gartenanlagen im Norden und Stallungen im Osten. Obwohl der Königsbau des 19. Jahrhunderts auf die heutigen Besucher ebenfalls einen wenig einladenden Eindruck vermittelt, folgte sein Architekt unter der Anleitung seines Königs jetzt anderen Auffassungen. Ludwig I. beabsichtigte nicht mehr nur eine Fertigstellung der Residenz, die ihm und dem höfischen Adel eine wirkungsvolle Bühne bot, sondern ebenso die Errichtung einer ebenso prächtigen Hauptstadt, die eine neue Form von Öffentlichkeit hervorbringen konnte. Trotz der Tatsache, dass der König keineswegs in liberalen, konstitutionellen oder demokratischen Kategorien dachte, bemühte er sich jetzt, das gewöhnliche Volk in seine Strategie der architektonischen Identitätsfindung einzubeziehen, um ein gesamtbayerisches Bewusstsein zu schaffen. Dazu kam eine weitere, gesamteuropäische Entwicklung, die sich auf den Bau von Palästen im beginnenden 19. Jahrhundert auswirkte. Wahrscheinlich bedingt durch die revolutionären Ereignisse in Frankreich und unterstützt durch das bewunderte napoleonische Vorbild war das Versailler Modell vollends altmodisch geworden. In den Mittelpunkt der Überlegungen rückten ab dem frühen 19. Jahrhundert wieder die Stadtresidenzen bzw. der Ausbau repräsentativer Straßenzüge in den Hauptstädten.22 Der in den Kategorien des Gottesgnadentums denkende, in religiösen Belangen konservativ katholisch eingestellte König wandelte sich zu einem Art Bürgerkönig, indem er den von ihm betriebenen ‚Neoabsolutismus’ durch sein ‚Kunstkönigtum’ © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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auf eine breitere Basis zu stellen versuchte.23 Der Neubau der Allerheiligenhofkirche am Marstallplatz brachte nicht nur seinen Hang für romantische Anwandlungen zum Ausdruck, da der Besuch einer stimmungsvollen Christmette in Sizilien den Anstoß für das Projekt gegeben hatte, sondern wurde auch zum Symbol für die neue Religionspolitik. Diese ging nun daran, die Säkularisation seines Vaters zumindest teilweise wieder rückgängig zu machen. In der als Prachtstraße konzipierten, bereits 1822 nach dem Thronfolger benannten Ludwigstraße kamen etwa der Kronprinz bzw. spätere König und sein Architekt kaum umhin, als Bauherren auch kleine Handwerksmeister zu akzeptieren, die ihrerseits palastähnliche, im Grunde genommen unpraktische Wohnungen hinnehmen mussten. Ludwig bevorzugte nämlich sehr hohe Geschosshöhen und große Wandflächen bei den Außenfassaden mit wenigen Fenstern, um seinen Traum einer majestätischen Magistrale zu verwirklichen. Obwohl auch weiterhin in der Residenz die seit dem Absolutismus gültige Hofordnung in Kraft blieb, die genau den Zutritt zu bestimmten Bereichen des königlichen Palastes regelte, führte der Stolz des königlichen Bauherrn und sein politisches Kalkül doch dazu, dass praktisch der gesamte Neubau für interessierte Besucher aus allen Ständen geöffnet wurde. In den Jahrhunderten zuvor waren zwar Beschreibungen und Kupferstiche der Residenz erschienen, der Zugang für bürgerliche Besucher blieb aber stark beschränkt. Ludwig öffnete nicht nur das Erdgeschoss mit den von vornherein für Besichtigungen und öffentliche Veranstaltungen geplanten Nibelungensälen, deren Bildprogramm erzieherische Wirkung ausüben sollte, sondern auch seine eigenen Privaträume. In gewisser Weise gewann damit das bayerische Königtum einen hohen Grad an Transparenz, um durch eine solche, scheinbare Volksnähe unter Umgehung gewählter Abgeordneter die Botschaft einer modernisierten Monarchie zu verkünden, die allerdings auf eine parlamentarische Mitsprache verzichtete. In Frankreich perfektionierte später Louis Napoleon diesen bonapartistischen Regierungsstil. Was ihn bei seiner Baupolitik von seinen Zeitgenossen unterschied, war seine Vorreiterrolle. Der König baute seine Residenzstadt zu einem Zeitpunkt zur Hauptstadt aus, als dies aufgrund des Bevölkerungswachstums und der politischen Bedeutung Bayerns (noch) nicht dringend geboten schien. Gerade deswegen beherrschen seine Bauten bis heute das Stadtbild. Kleinere Stadtreparaturen, wie es die Vorgänger Klenzes um 1800 planten, aber eben nicht ausführten, hätten wahrscheinlich vollauf genügt, um die Funktionsfähigkeit der Stadt zu gewährleisten. Wie in vielen anderen Städten wäre dann die Vielzahl repräsentativer Gebäude (Ministerien, Museen, Konzertsäle) erst 50 oder 75 Jahre später mit einem völlig anderen architektonischen Gesicht entstanden. In anderen Städten erfolgte ein entsprechender Ausbau erst ein halbes Jahrhundert später, so dass beispielsweise Berlin (trotz Schinkel) und Wien im Gegensatz zu München bei entsprechenden © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Repräsentationsbauten einen neobarocken Eindruck erwecken. München dagegen blieb bis in die Gegenwart eine klassizistische von der Architektur Klenzes und Gärtners geprägte Stadt.24 Ludwigs (anfänglicher) Hausarchitekt Klenze orientierte sich bei der Gestaltung der Ludwigs- bzw. Brienner Straße, die eine Stadterweiterung außerhalb des bisherigen Festungsringes nach Norden bzw. Westen ermöglichten, an den gedruckt vorliegenden Plänen des französischen Empirestils, benutzte dann aber, um seinem königlichen, frankreichkritischen Auftraggeber entgegenzukommen, das architektonische Repertoire der römischen und florentinischen Renaissance. Gemäß den Wünschen Ludwigs sollte dadurch ein monumentaler Eindruck erzeugt werden. Diese beiden Stadtachsen sollten in Zukunft als prachtvolle Boulevards die Residenz zum Zentrum der Stadt machen, nachdem im mittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen München die Neuhäuser- und Kaufingerstraße beinahe ausschließlich den bürgerlichen Bedürfnissen entgegengekommen waren. Dementsprechend umging diese bis heute bedeutende Verkehrsachse die am Rande gelegene Residenz. Wenn heutige Betrachter der Ludwigstraße Bäume und Geschäfte vermissen, so ist dies auf die ursprünglichen Wünsche Ludwigs zurückzuführen. Dem König kümmerte es dabei wenig, dass am Beginn der Bauausführung vornehmlich bürgerliche Bauherren Grundstücke zum Wohnen oder für Spekulationszwecke kauften und über die vom König geforderte Geschosshöhe, die der Monumentalisierung der Gebäude diente, entsetzt waren. Eine geringere Zimmerhöhe bedeutete ganz einfach ein weiteres Stockwerk und damit zusätzliche Einnahmen. Tatsächlich platzte die Spekulationsblase bereits am Beginn der dreißiger Jahre, da Ludwigs Ausbaupläne eine Nummer zu groß ausgefallen waren, trotz der nicht unbeträchtlichen Zunahme der Stadtbevölkerung. Lebten 1827 etwa 67.000 Menschen in München, so stieg ihre Zahl innerhalb eines Jahrzehnts auf 86.000. 1852 waren 94.000 Einwohner ansässig und im Jahre 1861 bereits 130.000. Um 1900 waren es schließlich eine halbe Million Einwohner. Trotzdem konnte München in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Wien kaum konkurrieren. Während in der österreichischen Kaiserstadt um 1800 bereits 250.000 Einwohner lebten, kam die bayerische Residenzstadt nur auf etwa 40.0000. Der Abstand zwischen den beiden Städten an politischer, wirtschaftlicher und demographischer Bedeutung blieb noch lange Zeit eklatant. Nur in kultureller Hinsicht gelang es München durch die Kulturpolitik von Ludwig I. für einige Zeit, Wien einzuholen, ehe es in der zweiten Jahrhunderthälfte erneut zurückfiel.25 Als Konsequenz der wirtschaftlichen Baisse verpflichtete der König staatliche Institutionen zum Neubau in seiner Prachtstraße und verzichtete ab einem gewissen Zeitpunkt auf die Dienste seines bisherigen Chefplaners Klenze, der durch Friedrich von Gärtner ersetzt wurde. Dieser baute den Boulevard in der vom König gewünschten Monumentalität zu © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Ende. Zu diesem Zweck griff er bei den Fenstern auf den Rundbogenstil zurück, der den nördlichen Teil der Straße bis zur Universität prägen sollte. Fasst man den Ausbau der Residenz und ihrer Umgebung durch Ludwig I. zusammen, so muss auf die Formel Diskontinuität und monarchische Restauration zurückgegriffen werden, um diese Pläne angemessen einordnen zu können. Die Residenz präsentierte sich um 1842 in einem Zustand, der dem Erscheinungsbild der Gegenwart annähernd, mit wenigen Ausnahmen entsprach. Die Aufklärung, die Französische Revolution, die Befreiungskriege, Säkularisation und Mediatisierung, die Integration neuer Landesteile in Franken, Schwaben und der Pfalz bildeten den Hintergrund für den Versuch, an die Herrschaftsvorstellungen der Vergangenheit anzuknüpfen und sie zugleich zu popularisieren. Auf eine breitere gesellschaftliche Grundlage gestellt, sollte damit die bayerische Monarchie für die Zukunft gewappnet werden. Im Grunde genommen handelte es sich um eine gewaltige Selbstüberschätzung, wenn Ludwig I. glaubte, diese Agenda auch durch Kunst und architektonische Mittel erreichen zu können. Vielleicht auch aus diesem Grund blieb die Folgewirkung der Bauten Klenzes in und um die Residenz relativ gering. Klenzes Verdienste wurde eher im Bereich der Museumsarchitektur gesehen, sein Königs- und Festsaalbau dagegen eher reserviert und kritisch rezipiert. Trotzdem sollte festgehalten werden, dass die Residenz in ihrer heutigen Gestalt die Prinzipien ihres Bauherrn immer noch zum Ausdruck bringt.
Memoria: Das kollektive Gedächtnis als Mittel der politischen Identitätsfindung König Ludwig I. war sich bewusst, dass ein kultureller und politischer Bruch geschehen war, der ihn und seine Herrschaft von der Vorstellungswelt des Barocks trennte. Gerade deswegen legte er Wert darauf, nicht nur als Schöpfer eines neuen Münchens, sondern auch als Bewahrer der Vergangenheit in Erscheinung zu treten. Wie gesagt, das Alte Reich hatte bis zu seinem Untergang 1806 die Geschichte, historische verbriefte Rechte (das sog. „alte Herkommen“) und die Erinnerung daran immer besonders gepflegt, um durch die Bewahrung von Traditionen die Fundamente des durchaus labilen Staatsgefüges zu bewahren. Die Unförmigkeit der Residenz vor 1825 und der Reichsverfassung entsprachen sich beinahe in paradoxer Weise. Immer neue Anbauten hatten das Alte auf seltsame Weise bewahrt. Obgleich Ludwig I. durch seine An- und Umbauten eine Neuordnung und Bereinigung der Architektur erstrebte, wie sie Napoleon für das politische Deutschland erreicht hatte, so war er nicht gewillt, auf die Legitimation seiner Herrschaft durch die Bezugnahme auf historische Kontinuität vollständig zu verzichten. Obwohl er Frankreich äußerst kritisch gegenüberstand, kam er gleichwohl nicht © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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umhin, insgeheim Napoleon und vor allem Ludwig XIV. zu bewundern und zu imitieren. Politisches Kalkül und die Notwendigkeit, französische und bayerische Traditionen in Einklang zu bringen, führten deshalb zu Kompromissen bei der Traditionspflege. Der Widerstreit zwischen französischen und bayerischen Traditionen kann dabei auch als Konflikt zwischen der absolutistisch-monarchischen und regionalen Identität des Königs gedeutet werden. Politik und architektonisches Bemühen ließen sich auch noch nach 1825, als der zweite bayerische König den Thron bestieg, zueinander in Beziehung setzen. Herrschaftsarchitektur blieb, was es immer gewesen war, symbolische Politik. Der königliche Bauherr verbot beispielsweise das vollständige Abtragen eines alten Turms, da ein Aberglaube überlieferte, dass mit dem Fortbestand des Christopherusturms die Herrschaft der Wittelsbacher in Bayern verknüpft war. Wenn Ludwig seinen Architekten Klenze bei der Neuplanung bremste, so war dies nicht nur auf eine mögliche Kosteneinsparung zurückzuführen, sondern auch der Bemühung geschuldet, so viel wie möglich aus der alten Residenz zu bewahren. Ludwig sah sich eben sowohl als Bewahrer als auch als Erneuerer. Trotzdem belegt die Heranziehung der florentinischen Renaissance beim Königsbau, dass Architekt und sein Bauherr bestrebt waren, Neues zu schaffen. Daneben darf nicht übersehen werden, dass sich bereits die Zeitgenossen über die politische Symbolik des Neubaus im Klaren waren. Als Anstoß erregend galten eben nicht nur die hohen Kosten, sondern auch die machtpolitischen Hintergründe, die mit der Kunstpolitik Ludwigs I. eine untrennbare Beziehung eingegangen waren. Die Kritiker des Königs hatten diese Verknüpfung sehr bald durchschaut, so dass der Architekt als Prügelknabe benutzt wurde, um die monarchischen Positionen kritisieren zu können, die nach den revolutionären Unruhen 1830 in Frankreich zusehends konservativer wurden. Zum Streitpunkt entwickelte sich u. a. die gewünschte permanente Zivilliste des Königs, der damit unter Umgehung des parlamentarischen Etatrechts seine autokratische, weitgehend auf München fixierte Baupolitik fortführen wollte. Im Landtag 1831 fiel deshalb über Klenzes Leistung die boshafte Bemerkung: „Überall Glanz und nichts als Glanz; diese Glänze ... erdrücken das Volk!“26 Der Umstand, dass es sich bei den Bauvorhaben auch um riesige Investitionsvorhaben und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen handelte, geriet dabei beinahe in Vergessenheit. Die Residenz in München sollte durch eine Zweifachstrategie im kollektiven Gedächtnis Bayerns verankert und zum steinernen Symbol der wittelsbachischen Monarchie gemacht werden. Zum einen sollte dies mit Hilfe der klassischen Antike geschehen, die zeitlose, außerhalb der Geschichte stehende Motive bereithielt, zum anderen durch konkrete historische Verweise bzw. die Berufung auf dynastische Traditionen. Dazu traten neben der antiken Architektur, Mythologie und Dichtung auch Elemente der deutschen Literaturgeschichte, wie etwa das Nibelungenlied. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Diese bildungsbürgerlichen Inhalte, die mit dem Bezug auf deutsche Motive auch eine gewisse nationale Richtung vorgaben, machen deutlich, dass der König auch auf ein Einverständnis mit dieser Gesellschaftsgruppierung abzielte. Das Bildungsbürgertum sollte einbezogen, seine monarchische Regierungsform auf eine breitere gesellschaftliche Grundlage gestellt werden. Wenngleich der König 1848 nicht nur wegen seiner Affäre mit Lola Montez, sondern auch politisch scheiterte, so blieb doch sein architektonisches Erbe. Obgleich es die in ihm gesetzten Erwartungen auf der Ebene der politischen Symbolik nie wirklich erfüllen konnte, so akzeptierten es die Münchner langfristig doch als Teil des eigenen kulturellen Selbstverständnisses. Die Umbauten Ludwigs I. machten die Residenz für ihre königlichen Bewohner vielleicht nicht bequemer, formulierten aber trotz aller Kritik und Widersprüche den politischen Anspruch der wittelsbachischen Monarchie immerhin so überzeugend, so dass sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts weitere Ergänzungen im Umkreis der Residenz (beinahe) erübrigten.27 Die hochfliegenden idealistischen und romantischen Träume Ludwig I., der in seiner egozentrischen Weltsicht die Möglichkeiten architektonischer Gestaltung und Sinnstiftung weit überschätzt hatte, gerieten darüber beinahe in Vergessenheit. Letztlich errang die biedermeierliche Gesinnung der Münchner den Sieg über das repräsentative Bedürfnis des Königs. Obwohl sein Sohn Maximilian II., der die nach ihm benannte Maximiliansstraße in Auftrag gab, ein Leben davon träumte, einen eigenen Nationalstil zu schaffen, blieb auch ihm der Erfolg auf diesem Gebiet versagt. Durch den Rückgriff auf bereits bekannte Formen setzte er sich ebenfalls wie sein Vater dem Vorwurf der Epigonalität aus. Im Gegensatz zu Ludwig I., der die Renaissance bevorzugte, zog er jedoch die englische Neogotik vor, um die gewünschte Prachtentfaltung zu erreichen, die einer Monarchie angemessen schien.28 Möglicherweise kann das Festhalten an dem von Ludwig I. gestifteten Erbe, das durchaus mit der konservativen Grundbefindlichkeit der Bayern einherging, auch auf die Person Ludwigs II., Enkel von Ludwig I., zurückgeführt werden. Trotz seiner Bauwut, die der seines Großvaters entsprach, blieb sein Interesse an München ein Leben lang gering, so dass er innerhalb der Residenz nur die Innenausbauten verändern ließ, die den Zweiten Weltkrieg nicht überstanden. Ein von ihm in Auftrag gegebener Wintergarten wurde nach seinem Tod aus statischen Gründen bald wieder beseitigt. Sein Nachfolger, Prinzregent Luitpold, ein Onkel, hatte sich dagegen mit den fiskalischen und politischen Folgen der Baupolitik seines Neffen auseinanderzusetzen, so dass auch er nur geringe Ambitionen entwickelte, der Residenz eine zeitgemäßere und repräsentativere Außenfassade zu geben. In einem noch geringeren Ausmaß als sein Vorgänger veränderte er wenige Bereiche der Residenz im Inneren. Die Bauten Ludwig I. wurden ihrerseits im Verlauf des Jahrhunderts zum Bestandteil des historischen Erbes, die sich jetzt problemlos © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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zur Legitimierung der bayerischen Monarchie heranziehen ließen, auch wenn ihr ursprünglicher Zweck durch die Ereignisse der Revolution 1848 hinfällig geworden war und ihr symbolischer Gehalt nie richtig verstanden wurde. Den vollständigen Bruch mit der Vergangenheit führte erst die Novemberrevolution 1918 herbei. Für das nunmehr republikanische Bayern ergaben sich damit enorme Probleme, das monarchische Erbe der Vergangenheit zu verwalten und sinnvoll zu nutzen. Als Ausweg blieb nur die museale Nutzung. Hatte es sich vor 1918 um ein belebtes, mit uniformierten und bedeutsam wirkenden Menschen, mit Geräuschen und Küchendüften angefülltes Gebäude gehandelt, so fiel es in der Zeit danach in einen Dornröschenschlaf.29 Vielleicht auch nur deswegen, um demonstrieren zu können, dass es eigentlich einer anderen, vergangenen Zeit angehörte. Seinen eigentlichen Zweck, die Monarchie zu repräsentieren, konnte es seitdem nicht mehr erfüllen.
Das architektonische Erbe des Absolutismus in der Demokratie Zwischen 1943 und 1945 lösten sich derartige Probleme in Schutt auf, die Residenz versank in den Trümmern des Zweiten Weltkriegs. Übrig blieben größtenteils nur die Umfassungsmauern. Damit wies die Residenz in München wahrscheinlich wesentlich stärkere Zerstörungen auf als das Berliner Stadtschloss, dass von der DDR-Regierung am Beginn der fünfziger Jahre in die Luft gesprengt wurde, um auf sinnfällige Art und Weise mit dem preußischen Militarismus und Feudalismus abzurechnen. In Bayern dachten die Verantwortlichen dagegen an den Wiederaufbau. Selbst für optimistische Gemüter überraschend, gelang die Rekonstruktion der Außenfassaden, Innenhöfe und bestimmter, ausgewählter Innenräume in relativ kurzer Zeit. Bereits Ende der fünfziger Jahre waren große Teile mit Ausnahme der Räume im Königsbau wiederhergestellt.30 Das bemerkbare Zögern, die Wiederherstellung auch des Königsbaus voranzutreiben, stand allerdings nicht nur mit konservatorischen Gründen in Zusammenhang. Ganz allgemein traf die Kunst des 19. Jahrhunderts damals auf Ablehnung, da sich diese Haltung seit dem Anbruch der Moderne beinahe als dogmatische Glaubensüberzeugung durchgesetzt hatte. Gleichwohl konnte im Jahre 1962 beispielsweise der französische Staatspräsident Charles de Gaulle standesgemäß in den barocken Prunkräumen der Residenz nächtigen, was natürlich auch als Hinweis auf die besonders engen bayerisch-französische Bindungen im 18. Jahrhundert (Spanischer und Österreichischer Erbfolgekrieg, Siebenjähriger Krieg, Dritter Koalitionskrieg, Königserhebung, Russlandfeldzug Napoleons) verstanden werden konnte bzw. sollte. Ebenso wie die DDR betrieb die bayerische Staatsregierung mit dem Wiederaufbau natürlich Geschichtspolitik. Während Ost-Berlin dies durch Sprengungen ex © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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negativo zu erreichen versuchte, um auf diese Weise sozialistische Persönlichkeiten zu schaffen, knüpfte Bayern weitgehend an die Vergangenheit an. Eine Ausnahme stellte in München die endgültige Zerstörung des von König Maximilian II. im neogotischen Stil erbauten Wittelsbacherpalais dar, in dem Ludwig I. nach seinem Rücktritt residiert hatte, bzw. die Verlegung des Landtages in das Maximilianeum. Immerhin erweckte dieser sehr bald in seinem neuen Domizil den Eindruck, schon immer hier gewesen zu sein. Als Grund, den Wittelsbacherpalast nicht zu rekonstruieren, muss seine Umnutzung im Dritten Reich benannt werden. Nachdem es als Münchner Zentrale der Gestapo genutzt worden war, erschien es geschichtlich als so kontaminiert, dass nur die vollständige Zerstörung in Frage kam, was wie in der DDR den Tatbestand der damnatio memoriae erfüllte. Der Residenz blieb ein solches Schicksal erspart, u.a. auch deswegen, weil sie als prominenter Teil der Altstadt allein in städtebaulicher Hinsicht nur schwer zu ersetzen gewesen wäre. In anderen Städten (zum Beispiel Kassel und Braunschweig im Westen bzw. Potsdam im Osten) bedeuteten derartige Lücken im Stadtbild allerdings keine hohe Hürde, wenn es darum ging, sich vom Erbe der Vergangenheit zu lösen. In der bayerischen Landeshauptstadt sah man dies aus einem anderen, letztlich vorausschauenderem Blickwinkel, begründete aber den kostspieligen Wiederaufbau mit einer Funktionsumnutzung des Ensembles. Als Rechtfertigung für die beträchtlichen Haushaltsmittel, die in den fünfziger Jahren den bayerischen Haushalt beinahe in ähnlicher Weise belasteten wie die Baupläne von Ludwig I. bzw. II. im 19. Jahrhundert, wurde nach 1945 der zentrale Gedanke formuliert, die Residenz wieder mit Leben zu erfüllen. Eine ausschließlich museale Nutzung erschien angesichts der hohen Ausgaben weder ökonomisch noch kulturell sinnvoll, so dass nun Gebäudeteile, die vormals für Dienstwohnungen, Aufenthaltsräume, Büros, Küchen- und Servicezwecke etc. genutzt worden waren, nach dem Wiederaufbau für Museumszwecke umgewidmet und herangezogen wurden. In der Residenz befindet sich deswegen heute die Staatliche Sammlung Ägyptischer Kunst, die Münzsammlung, eine Porzellanausstellung und natürlich die Schatzkammer, die vor dem Krieg nur provisorisch und unzureichend präsentiert werden konnte. Für die Ausstellung dieser Pretiosen wurde baulich auf den früheren Küchentrakt zurückgegriffen. Um von der rein musealen Nutzung wegzukommen, entschlossen sich die Verantwortlichen in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts auch, in der wiederaufgebauten Residenz wissenschaftliche Institutionen, wie etwa die Bayerische Akademie der Wissenschaften und das spanische Kulturinstitut, zusätzlich aber auch Geschäfte und eine Gaststätte unterzubringen. Die bereits erwähnte Pfälzische Weinprobierstube eröffnete ihre Gaststube in dem Bereich, in dem früher das Wachlokal der Garde beheimatet gewesen war. Diese Konzeption sollte jeweils dazu beitragen, die Residenz in das öffentliche Leben der Stadt zu integrieren © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Blick vom Hofgarten auf die Residenz (rechts im Schatten) und die Staatskanzlei (links)
und natürlich auch die Akzeptanzprobleme, die sich mit dem teuren Wiederaufbau verbanden, zu verringen. Um die Residenz zu öffnen, also Öffentlichkeit herzustellen, wurden bei der Wiederaufbauprojektierung, die dabei keineswegs einem Generalplan folgte, sondern eher pragmatisch vorging, auch Konzert- und Veranstaltungssäle eingeplant. Dazu kam der unumstrittene Neubau des Residenztheaters, da dieses als Aufführungsstätte des Bayerischen Staatsschauspiels dringend benötigt wurde. Problematischer erscheint aber im Vergleich dazu die Unterbringung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in der Residenz, die vor den Kriegszerstörungen in der Neuhauserstraße untergebracht war. Keineswegs, weil diese Entscheidung in funktionaler Hinsicht für die angemessene Nutzung der Residenz falsch gewesen wäre, sondern weil kunsthistorisch bei der Neugestaltung des Festsaalbaus die Originalsubstanz geopfert wurde. Geschuldet war dies natürlich dem geringen Ansehen, das die Kunst des 19. Jahrhunderts in den fünfziger Jahren, als der Wiederaufbau und die Umnutzung ins Auge gefasst wurden, genoss. Auch die Innenausstattung des alten Residenztheaters (Cuvilliéstheater) wurde schließlich in dem von Klenze errichteten klassizistischen Trakt untergebracht und damit entsprechend umgenutzt. Nachdem an der alten Position des Residenztheaters der moderne Theaterbau errichtet worden war, blieb für das vor der Zerstörung ausgebaute und damit gerettete Original nur das Ausweichquartier im Festsaalbau. Dafür wurden auch Teile des alten Ballsaals verwendet, der im 17. und 18. Jahrhundert nicht etwa für höfische Feste, sondern für Ballspiele (Jeu de Paume) genutzt worden war. Augrund dieser Entscheidung beim Wiederaufbau beherbergt der Gesamtkomplex inzwischen drei Theater (Nationaltheater, altes © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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und neues Residenztheater). Dazu kommen verschiedene Säle, wie etwa der Herkulessaal, der als Konzertsaal konzipiert wurde und an die Stelle des Thronsaals Ludwig I. trat. Gerade der Herkulessaal kann aus zweierlei Gründen kritisiert werden. Um Missverständnisse auszuschließen: Unzweifelhaft erscheint auch in seinem Fall die entsprechende Umnutzung der Residenz für konzertante Aufführungen sinnvoll. Ebenso unstrittig sollten die Begleitumstände seiner Entstehung akzeptiert werden. Erst nachdem sich der Bayerische Rundfunk bereiterklärte, einen Zuschuss zu leisten, konnte dieser bauliche Abschnitt finanziell gerechtfertigt werden. Bloß, dafür wurde der Thronsaal Ludwig I. geopfert, der in zeremonieller und ikonographischer Hinsicht das Herzstück des Festsaalbaus bildete. Nimmt man die Argumentation ernst, dass der Wiederaufbau auch im Hinblick auf die Schaffung einer bayerischen Identität betrieben wurde, um diese in einen historischen Gesamtzusammenhang einzufügen, so handelte es sich um eine Fehlentscheidung, da mit der Negierung des gesamten 19. Jahrhunderts ein sehr eingeschränktes und selektives Geschichtsbewusstsein zum Tragen kam. Andererseits darf natürlich nicht vergessen werden, dass auch in der Vergangenheit Räume und Trakte umgenutzt, erneuert und der jeweiligen Mode angepasst wurden. Dabei wurden selbstverständlich auch Gebäudeteile abgerissen und ersetzt. Am Platz des heutigen Bazargebäudes, das den Hofgarten vom Odeonsplatz abtrennt, stand beispielsweise bis zum Beginn der von Klenze verantworteten Umbauten ein Turnierhaus, in dem bis zum 18. Jahrhundert Ritterspiele abgehalten wurden. Das Armeemuseum ersetzte um 1900 eine alte Kaserne und wurde wiederum von der Staatskanzlei abgelöst. Auch der Verlust des Ballhauses kann verschmerzt werden, da die hier betriebenen Spiele bzw. Sportarten bereits im 19. Jahrhundert in Vergessenheit gerieten. Entsprechendes lässt sich über die Stallungen und Remisen sagen. Trotzdem erscheinen aus heutiger Sicht einige Entscheidungen der Nachkriegszeit übereilt, da sie die gebotene Sensibilität gegenüber der historischen Entwicklung vermissen ließen. Die Renovierung erfolgte nicht im Einklang mit ihr, sondern wurde als eine Art Schluss-Strich durchgeführt. Der Dialog mit der Vergangenheit brach ab. Zudem waren sich die Verantwortlichen bei den Wiederherstellungsarbeiten der fünfziger Jahre nicht darüber klar, dass mit dem endgültig zerstörten Thronsaal ein wichtiger Veranstaltungsort für repräsentative Zwecke fehlte und letztlich das wiederhergestellte Antiquarium aus dem 16. Jahrhundert alleine aus konservatorischen Gründen überstrapaziert wurde. Aufgrund derartiger Überlegungen folgte deswegen in den achtziger Jahren eine Korrektur. Bei der Wiederaufbauplanung des westlichen Hofgartentrakts wurden nicht etwa die zerstörten klassizistischen Hofgartenzimmer von König Maximilian I. wiedererrichtet, da sie angeblich als endgültig verloren zu betrachten waren, sondern der Kaisersaal aus dem 18. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Jahrhundert, der seinerseits bereits um 1800 für diese Privatgemächer umgebaut und damit zerstört worden war. Auch wenn diese Wiederaufbauplanung aus historischer und konservatorischer Sicht eine fragwürdige Entscheidung darstellte, da sie dem Besucher eine Kontinuität vorgaukelt, die so überhaupt nicht vorhanden ist, kann sie trotzdem mit einigen guten Gründen nachvollzogen werden. Schlösser in Hauptstädten erfüllen auch in der Gegenwart immer noch ihren ursprünglichen Zweck, nämlich für zeremonielle Anlässe eine repräsentative Bühne zu bieten. Die Nutzung für Wohnzwecke ist sowieso bereits seit 1918 hinfällig. Gerade aus diesem Grund ist die Wiederherstellung großer Räume, die sich für entsprechende Veranstaltungen anbieten, sinnvoller als die Rekonstruktion von kleineren Privaträumen, die ausschließlich museal genutzt werden können. Daneben darf nicht übersehen werden, dass auch demokratisch verfasste Republiken in gewisser Weise dem monarchischen, absolutistischen Erbe verpflichtet sind: Auch in der Gegenwart gibt es Anlässe und Gelegenheiten für zeremonielle Akte, die in vordemokratischen Zeiten entwickelt wurden und ihre Gültigkeit bewahrt haben. Auch wenn im demokratischen Politikdiskurs die Inhalte normalerweise die Form in den Hintergrund rücken und eine moderne Demokratie ein sehr viel geringeres Bedürfnis für zeremoniellen Regelungen entwickelt als eine Monarchie, in der umgekehrt die Form den Inhalt weitgehend bestimmte, so gibt es immer noch genügend zeremoniellen Pomp: Der Große Zapfenstreich bei der Verabschiedung des Bundespräsidenten mag seltsam anmuten, stellt aber gleichwohl einen nicht zu unterschätzenden Bestandteil des zeremoniellen und damit auch geschichtlichen Selbstverständnisses der deutschen Nation dar. Außerdem sollte nicht übersehen werden, dass die Faszination monarchischer Rituale ungebrochen ist: Hochzeiten und Todesfälle in den europäischen Monarchien erreichen steigende TV-Einschaltquoten und bestätigen damit die These, dass in modernen Gesellschaften weder das Bedürfnis für zeremonielle Akte abhanden gekommen ist noch die alten Rituale durch neue demokratische Verfahren ersetzt werden konnten.
Zusammenfassung Die Münchner Residenz bietet heute ein städtebaulich und kunsthistorisch überzeugendes Bild. Weite Teile der repräsentativen Räume wurden (korrekt) rekonstruiert und die verschiedenen Ensembleteile wieder mit Leben erfüllt. Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht stellt sich aber noch eine ganz andere Frage, die für Kunsthistoriker, Denkmalpfleger oder Städteplaner nicht immer die gleiche Relevanz besitzt: Lieferten die verlorengegangenen Bauwerke zur nationalen oder regionalen Identität einen wichtigen Beitrag oder nicht? Für Historiker ist bei der Diskussion über den Sinn und Unsinn des Wiederaufbaus durchaus der © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Umstand bedeutsam, ob die Gebäude als Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses zu betrachten sind bzw. diese Erinnerungsorte historische Relevanz beinhalteten und ein geschichtliches Vermächtnis bereithalten. Die DDR-Regierung entschied sich bei dieser geschichtspolitischen Frage negativ und zerstörte das Berliner bzw. Potsdamer Stadtschloss endgültig, um die damit verknüpften Erinnerungen tilgen zu können. Der Ingrimm, mit dem diese Vernichtung durchgeführt wurde, gestand immerhin den Bauwerken zu, wichtige Bausteine der vormaligen Identität gewesen zu sein.31 Nach dem Untergang der DDR entstand deswegen auch eine erneute Diskussion, die zerstörten Schlösser wieder zu rekonstruieren und damit das bauliche Erbe der Hohenzollern als Teil der gesamtdeutschen Identität zu akzeptieren. Im Grunde genommen geht es dabei immer auch um die Frage, wie eine Demokratie mit ihrem absolutistischen bzw. monarchischen Erbe verfährt. Die im Titel gestellte Frage, ob auch heute noch Schlösser für das Funktionieren von Hauptstädten und Demokratien gebraucht werden, ist damit immer noch aktuell, obwohl der ursprüngliche Zweck dieser Schlösser schon lange nicht mehr erfüllt wird. Ungeachtet des letztlich misslungenen Versuchs von König Ludwig I. und seinen Nachfolgern, mit dem Ausbau von München auch die Grundlagen für eine bayerische Nation zu legen, was in den Begriffen Nationaltheater und Nationalmuseum immer noch erkennbar ist, müssen seine baulichen Hinterlassenschaften doch als Ausdruck des historischen Erbes verstanden werden, auch wenn sie nur einen Teil der historischen Wahrheit offenbaren. Das Elend des vorindustriellen bzw. industriellen Pauperismus, die von Ludwig I. zu verantwortende Zensur und politische Verfolgung der Opposition geraten beim Anblick der Residenz, die unzweifelhaft in die Kategorie der Herrschafts- bzw. Repräsentationsarchitektur fällt, leicht aus dem Blickfeld. Trotzdem wäre es zu billig, diese Architektur nur als Kitsch, Kulisse oder Propaganda wahrzunehmen, da die Geschichte viele Blickwinkel und Zugänge benötigt, um ein angemessene Darstellung zu bieten. Identität ohne Geschichte ist grundsätzlich schwer vorstellbar, so dass München bis heute im Einklang mit diesem baulichen Erbe lebt. In anderer Hinsicht darf die Gültigkeit und das Fortleben zeremonieller, im Absolutismus entworfener Regelungen nicht übersehen werden. Diese besitzen auch in den Demokratien noch ihre Gültigkeit. In diesem Zusammenhang ist die Residenz in der Gegenwart immer noch, was sie im Verlauf ihrer Geschichte war: Ein Symbol und zugleich eine präsente Bühne der bayerischen Staatlichkeit. Stellen wir uns allerdings zum Schluss die Frage, welchen Stellenwert die Residenz für die bayerische Durchschnittsidentität wirklich besitzt, so könnte die Antwort trotzdem zwiespältig ausfallen: Tatsächlich erschließen sich auch dem gebildeten Zeitgenossen viele ikonographische und symbolische Bezüge nicht mehr auf den ersten Blick. Als Beispiel kann die Farbdramaturgie in den sog. Reichen © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Zimmern Karl Albrechts genannt werden. Die Farbe rot wurde etwa gezielt für die Durchsetzung der imperialen Ansprüche des bayerischen Kurfürsten genutzt, was nicht sofort erkennbar ist.32 Wahrscheinlich würde sich ein Großteil der Bevölkerung viel eher mit den Königsschlössern Ludwigs II. identifizieren als mit der Residenz, die bis heute bei einem derartigen Vergleich einen eher untergeordneten Rang einnimmt, auch wenn ihr der Baedeker den Rang einer „Herzkammer Bayerns“ zuspricht.33 Wenn überhaupt, dann sind es vor allem die an diesem Ort zahlreich vertretenen bayerischen Löwen im Umfeld der Residenz, die auch heute noch patriotische Stimmungen erzeugen können. Die Feldherrenhalle im Süden mit den beiden flankierenden Löwen oder das Siegestor im Norden mit seiner Löwen-Quadriga laden wohl eher dazu ein, eine bayerisch-patriotische Befindlichkeit zu pflegen. Während beim Siegestor die Inschrift immer noch auf die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs hindeutet, ist bei der Feldherrenhalle am Beginn der Straße kaum noch ein Hinweis auf ihre Einbindung in den Kult des nationalsozialistischen Münchens zu entdecken. Im Dritten Reich erwartete zum Beispiel eine hier postierte Ehrenwache der SS den Hitlergruß der Passanten.34 Damit erlangte sie in der Nachkriegszeit durch die Ausblendung dieses Kapitels den Status zurück, den sie bereits vor 1933 besessen hatte, obwohl inzwischen auch der eigentliche Anlass für ihre Errichtung in Vergessenheit geraten ist. Nur noch ganz wenige Betrachter werden wohl den siegreichen Abschluss der Befreiungskriege gegen Frankreich mit den beiden Monumenten in Verbindung bringen. Symbole können also ohne weiteres umgedeutet, modernisiert und angepasst werden, ohne ihren eigentlichen Stellenwert zu verlieren. Im Bewusstsein der meisten Einwohner Bayerns oder sogar Deutschlands ist Neuschwanstein verglichen mit der Residenz sicherlich der bekanntere Name. Mit diesem Ort verbindet sich ein Bild, das sich tief in das kollektive Gedächtnis bzw. das deutsche Gemüt eingegraben hat, obwohl in historischer Hinsicht dieses Königsschloss nie wirklich seine Funktion ausüben konnte und nur die traurige Geschichte seines Erbauers zu erzählen vermag. In Vergessenheit geraten ist der Umstand, dass auch die Residenz das Denkmal eines gescheiterten Königs ist. Es liegt als auch an der Geschichtswissenschaft bzw. ihrer Didaktik, Orte, (mentale) Bilder, Räume und Gebäude als Quelle zum Sprechen zu bringen. Immerhin bietet die Residenz dafür reichhaltiges Ausgangsmaterial, da sich an diesem Ort beinahe sieben Jahrhunderte der bayerischen, deutschen und europäischen Geschichte mit ihren Kontinuitäten und Brüchen konzentrieren. Was unterbleiben sollte, ist die Disneyfizierung, die ein geschöntes und aus den historischen Zusammenhängen gelöstes Bild zeichnen würde, das die Diskontinuitäten verheimlicht. Geschichte nur noch als „Event“ und historische Stätten ausschließlich als beliebig einsetz-, reproduzier- und verwertbare Erlebnisparks zu © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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betrachten, wäre dabei eine logische, aber eben auch verhängnisvolle Entwicklung. Geschichtliche Abläufe und Orte würden auf diese Art und Weise nur noch als Ausgangsbasis für die Aktivitäten der Unterhaltungsindustrie präsentiert und damit eklatant missverstanden werden. Gerade die Didaktik kann ihren Beitrag dazu leisten, dies zu verhindern.35
Anmerkungen 1 Carl-Georg Böhme u.a.: Das Stadtschloss. Berlin 1998. 2 Vgl. beispielsweise Miloš Vec: Zeremonialwissenschaft im Fürstenstaat. Studien zur juristischen und politischen Theorie absolutistischer Herrschaftsrepräsentation. Frankfurt/M. 1998. Werner Paravicini (Hrsg.): Zeremoniell und Raum. Sigmaringen 1997. 3 Die Kunstfigur Stefan Derrick, die im Ausland als Verkörperung deutscher Tugenden eine beinahe unglaubliche Popularität gewann, wurde zum Beispiel in einem (natürlich fiktiven) Festakt in der Residenz aus dem bayerischen Polizeidienst verabschiedet. 4 Zum Konzept der symbolischen Politik vgl. etwa Andreas Dörner: Politischer Mythos und symbolische Politik. Der Hermannsmythos. Reinbek 1996. In bezug auf die historische und sozialwissenschaftliche Kategorie ‚Identität‘ ist inzwischen die Literatur kaum noch zu überblicken. Vgl. als Einführung etwa Lutz Niethammer: Kollektive Identität. Reinbek 2000. 5 Vgl. Adalbert Prinz von Bayern: Als die Residenz noch Residenz war. München 1967, 293 f. 6 Samuel John Klingensmith: The utility of splendor. Chicago u.a. 1993, 139. 7 Vgl. Otto Meitinger: Die baugeschichtliche Entwicklung der Münchner Residenz. In: Tino Walz u. a. (Hrsg.): Die Residenz zu München. Entstehung – Zerstörung – Wiederaufbau. München 1987, 7-14; Sabine Heym: Kunst und Repräsentation. Zur Entwicklungsgeschichte der Residenz der Wittelsbacher. In: Brigitte Langer (Hrsg.): Pracht und Zeremoniell. Die Möbel der Residenz München. München 2002, 29-43. Auch Angaben im amtlichen Führer von Herbert Brunner u.a.: Residenz München. München 1996. Weitere bibliographische Hinweise in Egon J. Greipl: Macht und Pracht. Die Geschichte der Residenzen in Franken, Schwaben und Altbayern. Regensburg 1991. 8 Vgl. dazu den einprägsamen Titel: Peter Moraw: Von offener Verfassung zur gestalteten Verdichtung. Das Reich im späten Mittelalter. Berlin 1985. 9 Vgl. Hans Nöhbauer: München. Eine Geschichte der Stadt und ihrer Bürger. München 2 1989, 167. 10 Zur Geschichte des Hofgartens vgl. Michael Petzet (Hrsg.): Denkmäler am Münchner Hofgarten. München 1988. 11 „Aber freylich das rechte Ansehen eines landesherrlichen Schlosses hat sie doch nicht. Ich hätte das Gebäude eher für eine reiche Prälatur angesehen.“ Friedrich Nicolai: Beschreibung einer Reise durch Deutschland. Bd. 6. Berlin u.a. 1785, 517. Vgl. auch S. J. Klingensmith: A.a.O (Anm. 6), 119. 12 F. Nicolai: A.a.O (Anm. 11), 516 schrieb darüber bereits 1785: „Die Residenz [...] ist ein ungeheuer großes schlecht zusammenhängendes Gebäude ohne Symmetrie [...], von dem noch dazu 1750 ein Theil abgebrannt ist, der noch unaufgebaut da stehet.“ © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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13 „[...] mit dem Neubau des Schlosses ist es nichts, das will ich dem Louis überlassen, ich aber will in meiner Ruhe bleiben.“ Zit. nach Adrian von Buttlar: Leo von Klenze. München 1999, 211 f. Zu Maximilians Baupolitik, die im Vergleich zu allen seinen Nachfolgern im 19. Jh. den geringsten Ehrgeiz entwickelte, stilprägend zu sein, vgl. Carola Friedrichs-Friedlaender: Architektur als Mittel politischer Selbstdarstellung im 19. Jahrhundert. München 1980. 14 Zur Baugeschichte der Residenz unter König Ludwig I. vgl. neben A. v. Buttlar: A.a.O. (Anm. 13) die Beiträge in den Ausstellungskatalogen von Winfried Nerdinger (Hrsg.): Leo von Klenze. Architekt zwischen Kunst und Hof 1784-1864. München u.a. 2000; Ders. (Hrsg.): Klassizismus in Bayern, Schwaben und Franken. München 1980; Ders. (Hrsg.): Romantik und Restauration. München 1997 und B. Langer (Hrsg.): A.a.O. (Anm.7). 15 Vgl. dazu aus kunstgeschichtlicher Perspektive Werner Hofmann: Das entzweite Jahrhundert. München 1995. 16 Vgl. Jörg Traeger: Der Weg nach Walhalla. Regensburg 21991, 232 ff. Zur Bedeutung der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, die beinahe einen religiösen Charakter annahm vgl. etwa Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte. 1800-1866. München 51991, 533-587. 17 Vgl. S. J. Klingensmith: A.a.O (Anm. 6), 141 f. 18 Ebd.: 118-125 und 155 ff.; S. Heym: A.a.O. (Anm. 7), 37 und H. Graf: „... umb Ihro Mayestät Zeit zu geben, sich stöllen zu khönen“. Das europäische Hofzeremoniell des 17. und 18. Jahrhunderts exemplarisch dargestellt am Münchner Hof. In: B. Langer: A.a.O. (Anm. 7), 80 ff. bzw. Dies.: Die Residenz in München. München 2002, 95-144. 19 Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Frankfurt/M. 21991, 64. Zum Konzept der rangmäßigen, zeremoniellen Abstufung, die eine Selektion der Besucher der Residenz herbeiführte, vgl. S. J. Klingensmith: A.a.O (Anm. 6), 136 ff. Zur architektonischen Umsetzung in der Residenz unter Karl Albrecht vgl. H. Graf: A.a.O (Anm. 18). 20 Vgl. Manfred Peter Heimers: Die Strukturen einer barocken Residenzstadt. In: Richard Bauer (Hrsg.): Geschichte der Stadt München. München 1992, 211-243; Ralf Zerback: München und sein Stadtbürgertum. Eine Residenzstadt als Bürgergemeinde. München 1997. 21 Lorenz Westenrieder: Beschreibung der Haupt- und Residenzstadt München. München1782, 320: „Die gemeinste ausländische Sprache ist die französische, welche fast jedermann spricht [...]“ 22 Vgl. W. Nerdinger (Hrsg.): Klassizismus (Anm. 14), 134. 23 Vgl. etwa Manfred Treml: Königreich Bayern (1806-1918). In: Ders. (Hrsg.): Geschichte des modernen Bayerns. München 1994, 44 ff. Zum ideengeschichtlichen Hintergrund der Kunstpolitik Ludwigs vgl. Jörg Traeger: A. a. O. (Anm. 16). 24 Vgl. zu dieser gesamteuropäischen Entwicklung den Überblick bei Thomas Hall: Planung europäischer Hauptstädte. Stockholm 1986; Gerhard Brunn u.a. (Hrsg.): Metropolis Berlin. Bonn u.a. 1992; Theodor Schieder u.a. (Hrsg.): Hauptstädte in europäischen Nationalstaaten. München u.a. 1983; Donald J. Olsen: Die Stadt als Kunstwerk. London – Paris – Wien. Frankfurt 1988 (vergleicht exemplarisch die Entwicklung dieser drei Hauptstädte im 19. Jh. miteinander). 25 In einem 1868 erschienenen Nachruf auf König Ludwig I. in einer Würzburger Zeitung, die für den Verstorbenen sehr honorig, für München allerdings eher sarkastisch ausfiel, hieß © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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es: „Als der kunstsinnige Fürst im Jahre 1825 den Thron bestieg, gab es in München kein merkwürdiges Gebäude als die Brauereien. Der Altbayer ward geboren, trank Bier und starb. Fremde führte höchstens der Zufall oder sehr entwickelter Durst nach München, dessen Kunstschätze sich damals auf die steinernen Maßkrüge beschränkten. Da winkte König Ludwig, und wie mit einem Zauberschlage kam neues Leben in das träge Baywarentum.“ Zit. nach Hans F. Nöhbauer: A.a.O. (Anm. 9), 258. Zit. nach Adrian von Buttlar: A.a.O. (Anm. 13), 11. Zu den politischen Auseinandersetzungen 1831 vgl. Carola Friedrich-Friedlaender: A.a.O. (Anm. 13), 90 ff. Auguste Amalie von Leuchtenberg, die Schwester Ludwigs I. und Gattin von E. Beauharnais, des Stiefsohns von Napoleon, merkte dazu an: Der Königsbau sei zwar „suberbe“, aber sie möchte nicht darin wohnen, da „nicht die geringste Bequemlichkeit vorhanden sei [...] alles ist groß und streng.“ (Zit. nach Petra Hölscher: Die Wohnung König Ludwigs I. und Königin Thereses im Königsbau der Münchner Residenz. In: B. Langer (Hrsg.): A.a.O. (Anm. 7), 93-105, hier 102. Vgl. den Ausstellungskatalog Winfried Nerdinger (Hrsg.): Zwischen Glaspalast und Maximilianeum. München 1997. Zum Alltag in der Residenz im 19. Jh. vgl. etwa Adalbert Prinz von Bayern: A.a.O. (Anm. 5). Carl Eduard Vehse: Die Höfe zu Bayern. Bd. 1-2. Leipzig 1994 (ND). Zum Wiederaufbau der Residenz vgl. Bayerische Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen (Hrsg.): Festschrift zur Wiedereröffnung des Residenzmuseums München. München 1958; T. Walz u.a. (Hrsg.): A.a.O. (Anm. 7). Der Zustand der Residenz vor dem Zweiten Weltkrieg kann anhand der ‚Kunstdenkmäler‘ (G. v. Bezold u.a.: München) bzw. des Baedekers München und Südbayern. Leipzig 381928 nachvollzogen werden. Vgl. Winfried Speitkamp (Hrsg.): Denkmalsturz. Göttingen 1997. S. Heym: A.a.O. (Anm. 7), 36 f. Baedekers München. Ostfildern-Kemnat 61992, 188. Vgl. den Ausstellungskatalog München – „Hauptstadt der Bewegung“. München 1993, 334 ff., 352 ff. Vgl. dazu Regina Bormann: Von Nicht-Orten, Hyperräumen und Zitadellen der Konsumkultur. In: Tourismus Journal 4 (2000), 215-233. Dies.: Eventmaschinerie Erlebnispark. In: Winfried Gebhardt u.a. (Hrsg.): Events. Soziologie des Außergewöhnlichen. Opladen 2000, 137-160. Dies.: Spaß ohne Grenzen. Kulturtheoretische Reflexionen über einen europäischen Themenpark. In: Sociologia internationalis 36 (1998), 33-60.
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Der jüdische Friedhof Ein schwieriger Lernort
Jugendliche und junge Erwachsene, die sich der jüdischen Geschichte eines Ortes oder einer Region in Deutschland nähern wollen, haben nur noch in den wenigen Städten, in denen heute eine jüdische Gemeinde existiert, die Möglichkeit, dies mit Juden zusammen zu tun und so Judentum als etwas Lebendiges mit langer Vergangenheit zu erfahren. Für die Übrigen bleibt nur die Suche nach Spuren jüdischen Lebens in den Heimatorten. Eine für die jüdische Regionalgeschichte zentrale, aber didaktisch schwierig zu erschließende Stätte, die hierbei aufgesucht werden kann, ist ein jüdischer Friedhof einer früheren Gemeinde oder ein so genannter Verbandsfriedhof mehrerer früherer Gemeinden. Da ein Friedhof zu den unbedingt notwendigen Einrichtungen einer jüdischen Gemeinde gehört und zudem nach seiner Einrichtung immerwährenden Bestand haben sollte (einer der hebräischen Bezeichnungen beschreibt dies deutlich: bet olam, „Haus der Ewigkeit“), existieren sehr viele. In der Bundesrepublik Deutschland gibt es beinahe 2.000 bis heute durch erhaltene Grabsteine klar als solche erkennbare jüdische Friedhöfe.1 Beispielsweise verzeichnen Michael Brocke und Christiane Müller für Bayern fast 150 und für Rheinland-Pfalz sogar 328 Friedhöfe.2 Allein diese Anzahl macht deutlich, dass für viele Jugendgruppen oder Schulklassen ein Besuch des Lernortes „jüdischer Friedhof“ ohne größeren Reiseaufwand möglich ist. Dass Friedhöfe zumindest im schulischen Zusammenhang tatsächlich bereits seit Längerem aufgesucht und für spezifische Erfahrungen und die Entwicklung bestimmter Kompetenzen der Schüler und Schülerinnen genutzt werden, lässt sich an Publikationen, in denen Ergebnisse von Projekten präsentiert oder Unterrichtsempfehlungen ausgesprochen werden, leicht ablesen.3 Wie generell erschließt sich auch dieser Ort des Lernens nicht ohne umfangreiche Vorbereitungen durch die Gruppenleitung oder die Lehrkräfte. Im günstigsten Fall gibt es eine veröffentlichte Friedhofsdokumentation, die Angaben zur Geschichte des Friedhofs und zu derjenigen der zugehörigen jüdischen Gemeinde(n), zur Belegung desselben (einschließlich eines Friedhofsplans) und zur Gestaltung der Grabsteine sowie eine (Teil-)Übersetzung der hebräischen Inschriften umfasst.4 In diesem Fall liegen breite Kenntnisse vor, die für den Besuch des Friedhofs aufbereitet werden können. Meistens wird eine solche Friedhofsdokumentation indes fehlen. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Ältester erhaltener jüdischer Friedhof in Europa „Heiliger Sand“ im Südwesten von Worms
Wie kann nun ein jüdischer Friedhof als Lernort genutzt werden? Welche Vorarbeiten sind nötig? Was kann an einem Friedhof für Jugendliche anders erkennbar werden als im „normalen“ schulischen Unterricht? Was können junge Menschen vor Ort lernen und wie? Im Folgenden nähert sich der Beitrag diesen Fragen in verschiedenen Schritten: 1. Vorbereitung des Lehrers oder Seminarleiters. 2. Was lässt sich an jüdischen Friedhöfen ablesen? 3. Was können junge Menschen vor Ort tun? 4. Rülzheim und die Erschließung eines Friedhofs durch Schüler. Ein Beispiel aus Rheinland-Pfalz. 5. Fazit.
1 Die Vorbereitung durch den Lehrer oder Seminarleiter Als erstes ist die Frage nach der Stellung im Bildungsseminar oder Unterricht zu klären. Soll der Friedhof in einer Projektwoche oder durch eine Arbeitsgemeinschaft erschlossen oder als Ziel eines Ausflugs an einem Tag aufgesucht werden? Je nach Beantwortung dieser Frage fällt die Vorbereitung unterschiedlich aus. Im vierten Abschnitt zum Rülzheimer Beispiel wird die Erschließung eines Friedhofs durch eine Arbeitsgruppe thematisiert, sodass hier der einmalige Besuch in Klassenstärke behandelt wird. Ein einmaliger Besuch verlangt sehr viel Vorarbeit, weil die Grabsteine nicht leicht zu „lesen“ sind, unabhängig von den meist fehlenden Hebräischkenntnis© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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sen. Zentral ist dabei die Aufarbeitung der Geschichte der jüdischen Gemeinde, die ihre Toten auf dem aufzusuchenden Friedhof bestattet hat. Dies dürfte in der Regel mit Hilfe einschlägiger Literatur möglich sein. Mitunter wird ein Gang in das kommunale Archiv unerlässlich sein. Unter Rückgriff auf das Modell des forschenden Lernens kann der Archivbesuch auch mit den Jugendlichen zusammen unternommen werden. Anhand der dabei gewonnenen Erkenntnisse lässt sich der Friedhof in die geschichtliche Entwicklung der Gemeinde einordnen. Außerdem bedarf es einer Beschäftigung mit den Riten und Bräuchen rund um Tod und Beerdigung. Dies ist wichtig, weil nur so etwa Anfang- und Endpunkt der Belegung, aber auch der Grund für die spezifische Lage desselben im Umland des Ortes, bestimmte Gestaltungsmerkmale der Grabsteine und eventuell erhaltene Baulichkeiten erklärbar werden. Beispielsweise wird dadurch nachvollziehbar, warum männliche Besucher des Friedhofs (also auch Gruppenleiter und die jugendlichen Besucher, Lehrer sowie Schüler) eine Kopfbedeckung tragen müssen, wenn sie den Friedhof betreten. Als zweiter Schritt sollte ein längerer Besuch des jüdischen Friedhofs folgen, um sich mit diesem vertraut zu machen und dabei zu ermitteln, welche Grabsteine es dort gibt, was darauf ablesbar ist und wo Kenntnisse anderer Personen nötig sind. Zum Beispiel können meistens evangelische Pfarrer oder Religionslehrer mit entsprechenden Sprachkenntnissen für die Übersetzung einiger (oder bei kleinen Friedhöfen aller) Inschriften aus dem Hebräischen ins Deutsche sowie ein Kunstlehrer für die Stilentwicklung der Grabsteingestaltung behilflich sein.5 Abschließend muss ein Konzept für den Besuch mit den Jugendlichen und jungen Erwachsenen entwickelt werden: Was sollen sie sich ansehen, was erforschen, was nach dem Besuch erfahren haben? Damit stellt sich die im Folgenden zu beantwortende Frage, was generell an jüdischen Friedhöfen ablesbar ist. Letztlich dürfte beim konkreten Friedhofsbesuch regelmäßig auf das Modell des entdeckenden Lernens zurückgegriffen werden, bietet es nicht nur eine gute Möglichkeit zum selbstgesteuerten Lernen, sondern auch dazu, Kompetenzen ausbauen zu können, die für die Erschließung von Unbekanntem wichtig sind.
2 Was lässt sich an jüdischen Friedhöfen ablesen? Beispielhaft soll hier auf einige Punkte verwiesen werden. Ein jüdischer Friedhof in einer Gemeinde ohne gegenwärtiges jüdisches Leben steht zuerst einmal als Zeugnis für Vergangenes, für etwas, das vorhanden war, aber heute aus irgendwelchen Gründen nicht mehr da ist. Hier ergibt sich bereits aus den Jahreszahlen auf den Grabsteinen eine Spur, die zur Beantwortung der Fragen nach dem Ende der jüdischen Gemeinde und dem Warum führt. Nicht immer sind die Gründe dafür, dass ein Friedhof nicht fortgeführt wurde, im Nationalsozialismus oder © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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der Shoah zu suchen. Vielmehr kam es mitunter bereits deutlich vor 1933 durch Abwanderung in größere Städte und ins Ausland zur Auflösung örtlicher jüdischer Gemeinden und zum Ende der Belegung der zugehörigen Friedhöfe. Die Lage des Friedhofs veranschaulicht die früheren Verhältnisse im Zusammenleben zwischen Juden und Nichtjuden und ist zugleich Ausdruck einer bestimmten religiösen Auffassung von Tod und Toten. Jüdische Friedhöfe in ländlichen Regionen mussten auf Grundstücken angelegt werden, die von den christlichen Obrigkeiten als zulässig genehmigt wurden. Hierbei handelte es sich fast ausschließlich um solchen Grund, der nicht landwirtschaftlich genutzt werden konnte, etwa auf steilen, steinigen Parzellen, bei früheren Hinrichtungsplätzen oder auf aufgelassenen Lehmgruben.6 In Großstädten finden sich vielfach auf den Zentralfriedhöfen eigene jüdische Abteilungen. An Letzterem spiegelt sich die Idee der Integration der Juden in die bürgerliche Gesellschaft. Judentum wurde dabei als eine „Konfession“ unter anderen verstanden. Da die großstädtischen Friedhöfe gewöhnlich im Stadtgebiet lagen, bedurfte es aber auch einer veränderten Auffassung von Tod und Toten durch Juden. Denn in früheren Zeiten galten Tote – anders als bei Christen, die ihre Toten rund um die Kirchen begraben haben – als unrein und mussten daher außerhalb der Siedlungen beerdigt werden. Kohanim, Nachfahren des israelitischen Priestergeschlechts, die besonders auf ihre kultische Reinheit achten sollen, hatten auf Grund einer Vorschrift der Thora sogar außerhalb der Friedhöfe zu bleiben, um nicht unrein zu werden.7 An den Grabsteinen lässt sich darüber hinaus eine sprachliche Wandlung erkennen. Sind die ältesten Grabsteine stets hebräisch beschriftet, beginnt im 19. Jahrhundert eine Zweisprachigkeit, die anfangs allerdings auch mit hebräischen Lettern geschriebenes Deutsch beinhalten konnte.8 Zu Beginn der Zweisprachigkeit waren die hebräischen Texte wesentlich länger als die deutschen, doch kehrte sich das Verhältnis im Laufe der Zeit um. Im 20. Jahrhundert beschränkte sich die hebräische Beschriftung, allerdings mit Ausnahme neo-orthodoxer Juden, oft nur noch auf die (hier männliche) Einleitungsformel (נ״פ, „Hier ist begraben“) und die Schlussformel (ה״בצנח, „Seine Seele sei eingebunden in das Bündel des Lebens“). Dies darf aber nicht als einfache „Annäherungs-“ oder „Assimilationsgeschichte“ gelesen werden. Vielmehr wird an der sprachlichen Vielfalt auf den (größeren) jüdischen Friedhöfen die vielfältige Antwort von Juden auf sich stark wandelnde Lebensbedingungen deutlich.9 Judentum wird damit für Jugendliche als etwas Vielfältiges erkennbar, so dass dem Bild eines einheitlichen „Weltjudentums“ entgegengearbeitet werden kann. Aber auch die künstlerische Gestaltung der Grabsteine bietet vielfältigste Entdeckungsmöglichkeiten. Allein die Betrachtung der abgebildeten Symbole liefert ein breites Spektrum an Fragen und zugleich an Hinweisen auf den Lebensalltag der dort beerdigten Menschen: Was bedeutet eine Kanne (plus Schale) auf dem © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Auf Blumenschmuck wird verzichtet, stattdessen werden kleine Steine auf die Grabplatten gelegt. Auf den Grabsteinen von berühmten Gelehrten werden auch Zettel mit Bitten abgelegt – wie an der Westmauer des Tempelbergs in Jerusalem.
Grabstein? (Hier liegt ein Levit.) evit.) Wieso finden sich auf einigen Grabsteinen segnende Hände (hier liegt ein Kohen), auf anderen ein gebogenes Widderhorn, Schofar genannt (hier liegt ein Schofarbläser), während wieder andere ein Messer (hier liegt ein Mohel, der die Beschneidungen der neugeborenen Jungen vornimmt) zeigen? Diese Symbole verweisen folglich auf Personen, die bestimmte Funktionen in der Gemeinde innehatten und damit entsprechendes Ansehen besaßen. Aber auch gebrochene Zweige, umgestürzte Fackeln, Tierdarstellungen wie Bär, Hirsch oder Löwe können auf Grabsteine abgebildet sein. Diese Symbole deuten auf früh Verstorbene und auf Namen hin. Die einzelnen Grabsteine wurden in verschiedenen Stilen gestaltet. Dabei finden sich z.B. auf dem jüdischen Friedhof in Rülzheim Grabsteine mit klassizistischer, maurischer und Art-Déco-Gestaltung.10 Auf sehr alten Friedhöfen können daneben aber auch barocke, gotische oder romanische Anklänge bei Grabsteinen auftreten. Diese, dem allgemeinen Stilwandel folgende Grabsteingestaltung zeigt, dass Juden am künstlerischen Wandel der Gesellschaft Teil hatten. Sie lebten demnach keineswegs in einem von der nichtjüdischen Umwelt abgeschlossenen Getto. Besonders diese Erkenntnis lässt sich plastisch und vor Ort wesentlich anschaulicher und bleibender vermitteln als über Sachbücher.
3 Was können junge Besucher auf dem Friedhof tun? Auch hier wird an wenigen Beispielen gezeigt, auf welche Weise jugendliche Besucher auf jüdischen Friedhöfen aktiv werden können. Dabei gilt es zu bedenken, dass © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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die Totenruhe bei allen Aktivitäten zu beachten ist. Wenn die Jugendlichen einen jüdischen Friedhof zum ersten Mal betreten, kann ihnen Raum zur eigenständigen Erkundung gegeben werden, so dass sie ihren eigenen Zugang zur Örtlichkeit finden können. Anschließend sollte vor Ort in der Gruppe dem Gespräch über diese Zugänge Raum gegeben werden, um die Eindrücke und Empfindungen einzuordnen. Hierbei sollte auch die Frage nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zu christlichen (und moslemischen) Friedhöfen thematisiert werden, weil so ein Anschluss an den Lebensbereich der Jugendlichen herstellbar ist.11 Die weitere Beschäftigung könnte mit der Erschließung der Friedhofsstruktur beginnen, d. h. mit der Erfassung der Lage und Anzahl der Gräber, der Lage und des Aussehens eines eventuellen Totenhäuschens, der auf den Grabsteinen genannten Geburts- und Sterbeorte sowie der ältesten und jüngsten Belegung (ältestes und jüngstes Sterbedatum). Bei alten Grabsteinen verlangt die Ermittlung der Daten und Ortsangaben allerdings Hebräischkenntnisse. Nach der äußeren Erschließung ist eine auf das einzelne Grab orientierte „innere“ Erschließung sinnvoll. Ein erster Einstieg lässt sich beispielsweise darüber finden, dass die Jugendlichen die Vornamen der Beerdigten nach den Todesjahren ordnen, denn dadurch wird einerseits ein Wandel in der Namengebung – weg von Vornamen aus der Thora, hin zu deutschen Vornamen – ablesbar und zugleich eine Verbindung zu den Vornamen der Teilnehmenden möglich, weil einige biblische Namen heute bei Nichtjuden weit verbreitet sind. Ein anderer Einstieg kann per Abzeichnen von Symbolen auf den Grabsteinen und daran anschließender Diskussion über deren Bedeutungen erfolgen. Je nach Alter der Jugendlichen bietet sich an, die hebräischen Buchstaben eines Grabsteins abpausen oder abzeichnen zu lassen und dann die ermittelten Texte zu übersetzen. Hierbei sind gute Kenntnisse des Hebräischen und eine Vertrautheit mit jüdischen Grabsteininschriften vonnöten, weil diese Texte zahlreiche Abkürzungen und Anspielungen bzw. Zitate aus Thora und Talmud enthalten können.12 An zwei Beispielen soll die Struktur und Aussagefähigkeit von Grabinschriften verdeutlicht werden. Das erste Beispiel stammt aus Frankfurt am Main und verweist auf eine 1773 verstorbene Frau.13 „Die angesehene Frau, die Herrscherliche, die betagte Frau Fradle, Gattin des Teuren und Erhabenen, des Almosenverwalters, des geehrten Michel Kulp (sein Andenken zum Segen), die Tochter des Teuren und Erhabenen, des Hauptes der Gerichtsbarkeit, des weit bekannten Vorstehers und Leiters, unseres Lehrers und Meisters, Herrn Hirz Gans (das Andenken des Gerechten zum Segen), verschieden in gutem Namen – Zur roten Tür – und begraben am Tag 5, 20. Ijjar 533 nach der kleinen Zeitrechnung. Hier ist geborgen und verwahrt die tüchtige Gattin, züchtig und würdig, zu jeder Gebotserfüllung war ihr Herz bereit, und all ihre Absicht war, den Willen ihres Schöpfers © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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zu tun, bis ins Alter, ja bis ins Greisenalter machte sie sich stets frühmorgens auf, zur Synagoge zu gehen, um mit Andacht zu beten, ihre Hand streckte sie aus Armen und Bedürftigen, Nahen und Fernen und jedem, der sich an sie wandte. Sie ergriff die Hände Armer, Thoralernender, die lernen Tag für Tag, Liebeswerk erweisend anmutigen Jünglingen an ihrem Tische; und die übrigen Wohltaten und guten Werke sind nicht zu zählen, – um dessentwillen sei ihre Seele eingebunden in das Bündel des Lebens mit den übrigen gerechten Männern und Frauen im Garten Eden.“
An diesem durchschnittlich langen Text lässt sich neben der Verwandtschaft und der häuslichen Zuordnung in der Frankfurter Judengasse (Haus „Zur roten Tür“) erkennen, dass Frau Fradle bis ins höchste Alter hinein am Gottesdienst teilgenommen hat, dass sie sehr wohltätig war und damit dem zentralen Gebot der Zedaka nachkam. Letztlich dürfte sie aus einer angesehenen Familie stammen, einem großen Haus vorgestanden, dabei auch arme Verwandte und mittellose junge Männer gespeist sowie einen Mittagstisch für bachurim, also Talmud lernende junge Männer, unterhalten haben. Das zweite Beispiel stammt aus Rülzheim und verweist auf einen 1872 verstorbenen Jungen.14 „Hier ist geborgen der Knabe Menachem, Sohn des Ascher Hakohen aus Germersheim, der schwimmen ging im Fluss Rhein mit seinen Freunden und er ertrank und starb am Tag des 22. Aw. Und es weinten um ihn alle, die ihn kannten, und sie begruben ihn [am] 29. Aw 632. Seine Seele sei eingebunden in das Bündel des Lebens.“
An diesem kurzen Text wird ein Alltagsunglück erkennbar. Menachem ist im Sommer (der Monat Aw liegt im Juli/August) mit Freunden schwimmen gegangen und dabei tödlich verunglückt. Der große Unterschied zwischen dem Todestag (22. Aw) und dem Beerdigungstag (29. Aw) zeigt zudem an, dass seine Leiche von der Polizei zurückgehalten oder nicht sofort gefunden wurde, denn ansonsten wäre sie innerhalb von längstens zwei Tagen beerdigt worden. Insgesamt wird deutlich, dass sich an die Übersetzung solcher Texte zahlreiche Fragen anschließen, etwa: Welche Aufgabe hatte ein Almosenverwalter? Wer war der Vorsteher Hirz Gans? Wieso liegt ein Jude aus Germersheim in Rülzheim begraben? Spielten jüdische Kinder auch mit nichtjüdischen? Um solche Fragen zu beantworten, bedarf es intensiverer Vorbereitungen und/oder Arbeit im Nachgang des Friedhofsbesuchs. Dies deutet darauf hin, dass ein jüdischer Friedhof am ehesten in einer Projektgruppe oder durch eine Arbeitsgemeinschaft erfolgreich als Lernort genutzt werden kann. Nicht zuletzt die enge Verbindung zwischen Friedhof als Ort der Toten und der Stadt als Ort ihres früheren Lebens lässt sich © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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bei einem Tagesbesuch kaum angemessen sichtbar machen. Immerhin wäre eine räumliche Verbindung einfach herzustellen, indem die Teilnehmenden nicht mit einem Bus zum Friedhof gebracht werden, sondern zu Fuß vom Ortskern (oder dem Standort der früheren Synagoge) zu ihm gehen. Auf diese Weise erschließt sich ihnen nicht nur die räumliche Verbindung zwischen dem Platz der Toten und ihres früheren Lebensumfelds, sondern auch der letzte Gang eines Toten. Nach Ausweis des Pädagogischen Zentrums des Landes Rheinland-Pfalz in Bad Kreuznach führt der Besuch eines jüdischen Friedhofs unter Nutzung des Konzepts vom entdeckenden Lernen durch die Schüler beinahe von allein zu Fragen an Vergangenheit und Gegenwart.15 Solche Fragen beziehen sich in erster Linie auf Juden und lauten etwa: Gab es eine Integration oder Assimilation der jüdischen Bevölkerung in Deutschland? Wo liegen die Gründe für Verfolgung und Vernichtung der Juden? Wie leben Juden heute in Deutschland? Fragen beziehen sich aber auch auf die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft: Wie kam es zur nationalsozialistischen Herrschaft? Wo liegen die Ursachen für Ausländerfeindlichkeit und Rassenhass? Auch diese Fragen verlangen Zeit und Raum für Nacharbeiten des Besuchs.
4 Rülzheim und die Erschließung des Friedhofs durch Schüler. Ein Beispiel aus Rheinland-Pfalz Am Beispiel des Rülzheimer jüdischen Friedhofs wird im Folgenden gezeigt, auf welche Weise ein jüdischer Friedhof durch eine Schüler-AG als Lernort genutzt werden kann. Schüler der 10. Klasse der Regionalen Schule Rülzheim haben unter Leitung des Schulrektors und Deutschlehrers, Karl Geeck, den Friedhof erschlossen. Anstoß gab ein Besuch im Jahr 1995, der im Zuge der Suche von Schülern nach Spuren jüdischen Lebens im Ort erfolgt war. Auf Grund des großen Interesses der Schüler und der zahlreichen offenen Fragen wurde eine längerfristige, freiwillige Beschäftigung mit dem jüdischen Friedhof beschlossen.16 Die sich daraufhin bildende erste Arbeitsgruppe konnte die Erschließungsarbeit jedoch nicht fertigstellen, so dass eine zweite Gruppe, wiederum Schüler der 10. Klasse, die Arbeiten fortsetzte. An dem gesamten Projekt waren Lehrer der Fächer Deutsch (Planung und Durchführung des Gesamtprojektes, Erarbeitung der Manuskripte), Geschichte (Aufarbeitung der jüdischen Geschichte) und Englisch (Übersetzung von Briefen ehemaliger Rülzheimer Juden) beteiligt.17 Die Übersetzung der hebräischen Grabinschriften übernahm eine Mitarbeiterin des Landesamtes für Denkmalpflege in Rheinland-Pfalz, während die fotografischen Arbeiten vom Leiter des Fotoarbeitskreises der Kulturgemeinde Rülzheim übernommen wurden. Eine Beratung erfolgte durch Mitarbeiter des Pädagogischen Zentrums in Bad Kreuznach.18 Aber auch die künstlerische Erschließung der Grabsteine wurde von außen unterstützt, © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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indem ein Grafiker und Zeichner den Schülern dabei Anregungen gab und sie in die Technik der „Frottage“ einführte.19 Da das gesamte Projekt über mehrere Jahre erarbeitet wurde, umfasst es vielfältige Arbeitsschritte. Im Folgenden werden lediglich diejenigen aufgeführt, die dem Geschichtsbereich zuzuordnen sind. Den Anfang machte eine Befragung von Rülzheimer Bürgern, die in ihrer Kindheit noch jüdisches Leben kennengelernt hatten. Allerdings stellte sich dabei heraus, dass diese fast nichts über jüdische Riten und Bräuche um Sterben und Tod wussten. Lediglich zur Beerdigung konnten sie umfangreichere Angaben machen. Daher wurde von den Schülern Kontakt zu ausgewanderten Rülzheimer Juden aufgenommen, um von ihnen weitere Informationen zu erhalten.20 Zugleich wurde die Geschichte so mit konkreten Personen verbunden. Außerdem bearbeiteten Schüler Archivalien, die Auskunft über den jüdischen Friedhof geben konnten. Dabei trat als eine wichtige Erkenntnis zu Tage, dass Quellen nicht immer eindeutig sind und daher Lücken offen und Fragen unbeantwortet bleiben.21 Neben den auf den Friedhof ausgerichteten Arbeiten gab es auch solche, die sich dem Umfeld der Toten zuwandten. Um sprachliche Spuren der jüdischen Bewohner aufzudecken, wurden ältere Rülzheimer mit einer Liste von Ausdrücken mit jüdischem Ursprung aus südhessischen und pfälzischen Mundarten konfrontiert. Als Ergebnis stellten die Schüler überrascht fest, dass zahlreiche Ausdrücke, wenn auch mitunter mit kleinen Bedeutungsverschiebungen, Teil des Sprachguts in der älteren Bevölkerung Rülzheims waren.22 Abschließend standen Arbeiten zur Dokumentation der erzielten Arbeitsergebnisse an, die vom Deutschlehrer Karl Geeck geleitet wurden. Als Ergebnis entstand eine in zweiter Auflage existierende Dokumentation des jüdischen Friedhofs in Rülzheim. Allerdings bedarf es neben der Bereitschaft der Schüler zu intensiver Arbeit hierzu auch einer breiten Unterstützung durch außerschulische Einrichtungen: „Nur wenn eine der Geschichte verpflichtete Gemeindeverwaltung, eine ebenbürtige Kulturgemeinde und Schule und solche Schülerinnen und Schüler gemeinsam das gleiche Ziel verfolgen, kann ein so vorbildliches Schüler-Projekt [wie in Rülzheim] gelingen.“23
5 Fazit Der Besuch eines jüdischen Friedhofs bietet, wie am oben Dargestellten erkennbar, vielfältige Möglichkeiten für Jugendliche, Fertigkeiten zu entwickeln und Lernerfolge zu erzielen. Hierfür stehen nicht nur die Konzepte des entdeckenden und forschenden Lernens zur Verfügung, sondern auch die Möglichkeit zur selbstgestalteten Erschließung des Ortes. Der Einstieg lässt sich über den direkten Bezug zur eigenen Lebenswelt, in der Tod und Tote zwar an den Rand gedrängt © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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sind, aber Friedhöfe trotzdem zum Bereich des Alltagswissens gehören, leicht herstellen. Dies gilt ebenfalls für islamische Jugendliche. Auch werden Fragen bei den Teilnehmenden schnell und zahlreich auftauchen. Von den Seminarleitern und Lehrkräften wird wiederum eine umfangreiche Vorarbeit verlangt, weil sie sich mit der jüdischen Geschichte in der Region und in Deutschland sowie mit religiösen Grundlagen des Judentums vertraut machen müssen. Indessen bedarf es Hebräischkenntnisse, um eine tiefer gehende Nutzung als Lernort zu ermöglichen. Bei Besuchen mit einer Gruppe, wo derartige Sprachkenntnisse fehlen, erschöpft sich der Elan der Besucher schnell.24 Entsprechend forderten in Rülzheim die Schüler rasch und nachhaltig eine solche Übersetzung ein. Erst als diese, zumindest in Teilen, vorlag, konnte dort die Projektarbeit nach der Anfangsphase fortgesetzt werden.25 Ohne Übersetzung der hebräischen Inschriften ist folglich ein wichtiger Teil des Friedhofs nicht zu nutzen. Dies unterstreicht, dass diese Stätte nur schwierig zu erschließen ist. Eine mögliche Lösung dieses Problems ist das Hinzuziehen von außerschulischen Fachleuten mit Hebräischkenntnissen oder von Religionslehrern. Insgesamt bietet sich eine Fächer übergreifende Zusammenarbeit und Erschließung des Lernortes an. Falls derartige Möglichkeiten nicht vorhanden sind, können Jugendliche (besonders auf größeren Friedhöfen) zumindest den deutschsprachigen Teil der Grabinschriften und die Symbolwelt erforschen. Diesen Weg beschritt etwa die Schülerinnen-AG „Jüdischer Friedhof Busenberg“ des Leibniz-Gymnasiums in Pirmasens im Juli 1996, als sie in der Projektwoche fast alle deutschen Inschriften entziffert und ein Symbol- und Namenregister angelegt hat.26 Auch dieses Beispiel verweist darauf, dass der einmalige Besuch eines Friedhofs diesem nur bedingt gerecht werden kann. Am ehesten ist ein jüdischer Friedhof in seinen vielfältigen Dimensionen im Rahmen eines Projektes oder einer Arbeitsgemeinschaft zu erschließen. Dabei können die Teilnehmenden ihre Kompetenzen beim Umgang mit Fremdem ebenso erweitern wie sie zum Nachfragen angeregt werden. Ein Besuch dürfte ihre Entdeckerfreude genauso ansprechen wie er ihre Kreativität anregen kann. Letztlich ist ein jüdischer Friedhof durchaus ein erlebnisorientierter Lernort, bei dem das Lernen selbstorganisiert, selbstgesteuert, emotional und ästhetisch stattfindet.27 Sollten die Arbeitsergebnisse in einer Ausstellung (mit Fotografien, Archivalien, Texten der Teilnehmenden) oder einer Publikation dokumentiert werden, so kämen weitere Aspekte hinzu, nicht zuletzt kreativer und sprachlicher Art.
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Anmerkungen 1 Michael Brocke, Christiane E. Müller: Haus des Lebens. Jüdische Friedhöfe in Deutschland. Leipzig 2001, 6. Jeanette Jakubowski: Geschichte des jüdischen Friedhofs in Bremen. Bremen 2002, 9, spricht von über 2.500 jüdischen Friedhöfen in der Bundesrepublik Deutschland, doch dürfte diese Zahl auch solche ohne erhaltene Grabsteine einschließen. 2 M. Brocke, Ch. E. Müller: A.a.O. 236-237 (Ortsliste Bayern) und 249-252 (Ortsliste Rheinland-Pfalz). 3 Vgl. z.B. Autorenkollektiv unter Leitung von Frank Thiele (Hrsg.): Neuer jüdischer Friedhof in der Dresdner Johannstadt. Dokumentation der Projektgruppe Pegasus des Gymnasiums Großzschachwitz. Dresden o.J.; Regionale Schule Rülzheim (Hrsg.): „... eingebunden in den Bund des Lebens!“ Jüdischer Friedhof in Rülzheim – Ein regionales Zeugnis jüdischreligiöser Kultur – Betrachtung und Dokumentation. Rülzheim 22000; Pädagogisches Zentrum des Landes Rheinland-Pfalz Bad Kreuznach und Kreisverwaltung Bad Kreuznach (Hrsg.): Jüdische Grabstätten im Kreis Bad Kreuznach. Geschichte und Gestaltung. Teil II: Unterrichtsmaterialien für die Sekundarstufen I und II (=PZ-Information 1/93: Geschichte). Bad Kreuznach 1993. 4 Beispielhaft, aber in einigen Aspekten nicht immer vorbildlich, seien hier einige Publikationen angeführt, für Baden-Württemberg: Nathanja Hüttenmeister: Der jüdische Friedhof Laupheim. Eine Dokumentation. Laupheim 1998; für Bayern: Rajaa Nadler: Der jüdische Friedhof Ermreuth. Hrsg. vom Zweckverband Synagoge Ermreuth. Forchheim 1998; für Berlin: Salomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte und Prenzlauer Berg Museum für Heimatgeschichte und Stadtkultur (Hrsg.): Anspruch der Steine. Jüdischer Friedhof Berlin, Schönhauser Allee. Inventarisation und Erforschung. Duisburg, Berlin 2000; für Hamburg: Eberhard Kändler, Gil Hüttenmeister: Der jüdische Friedhof Harburg. Hamburg 2004; für Hessen: Hartmut Heinemann, Christa Wiesner: Der jüdische Friedhof in Alsbach an der Bergstraße. Wiesbaden 2001; für Niedersachsen: Bernhard Gelderblom: Der jüdische Friedhof in Hameln. Hameln 1988; für Nordrhein-Westfalen: Michael Brocke, Dan Bondy: Der alte jüdische Friedhof in Bonn-Schwarzrheindorf 1623-1956. Bildlich-textliche Dokumentation. Köln, Bonn 1998; für Rheinland-Pfalz: Otmar Weber: Wie eine weiße Lilie in ihrer ersten Blüte... Der jüdische Friedhof Busenberg. Die zentrale Begräbnisstätte der Juden im Wasgau. Dahn 1998; für Sachsen-Anhalt: Werner Grossert: Der israelitische Friedhof Dessau. Dessau 1994. 5 Bei der Arbeit mit Schülern in Rülzheim übernahm mit Martina Strehlen eine Judaistin, die bereits Erfahrungen in der Beschäftigung mit jüdischen Friedhöfen hatte, die Übersetzungsarbeit. Vgl. Regionale Schule Rülzheim (Hrsg.): A.a.O. 150. 6 So liegt der jüdische Friedhof in Busenberg auf der Gemarkung „bei der Lehmgrube“. Vgl. O. Weber: A.a.O. 95. 7 Joachim Hahn: Steigfriedhof Bad Cannstatt, Israelitischer Teil. Friedhöfe in Stuttgart, Bd. 4. Stuttgart 1995, 48. Bei diesem jüdischen Friedhof gab es daher ein so genanntes KohanimFenster in der Friedhofsmauer, durch das die Kohanim schauen und so an der Beerdigung teilnehmen konnten. 8 M. Brocke, Ch. E. Müller: A.a.O. 92. 9 Ebd. 33.
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10 Regionale Schule Rülzheim (Hrsg.): A.a.O. 48-53. 11 Diese Frage nach den Unterschieden lässt sich besonders dann nutzen, wenn nur ein kurzer Aufenthalt von unter 60 Minuten vorgesehen ist. Ein Beispiel hierfür bietet die Schilderung eines Besuchs einer 9. Klasse der Realschule von Sobernheim auf dem dortigen jüdischen Friedhof auf dem Domberg. Vgl. den Bericht von Hans-Eberhard Berkemann, abgedruckt in Jüdische Grabstätten im Kreis Bad Kreuznach, 101-102. 12 M. Brocke, Ch. E. Müller: A.a.O. 56, gehen daher davon aus, dass autodidaktisch erworbene Hebräischkenntnisse nicht ausreichen, um Inschriften über die Namen des Verstorbenen und dessen Lebensdaten hinaus sachgerecht zu erfassen. 13 Die hebräische Inschrift und die deutsche Übersetzung finden sich in M. Brocke, Ch. E. Müller: A.a.O. 50. 14 Die hebräische Inschrift und die deutsche Übersetzung finden sich in Regionale Schule Rülzheim (Hrsg.): A.a.O. 113. 15 Hier und im Folgenden Jüdische Grabstätten im Kreis Bad Kreuznach, 1. 16 Regionale Schule Rülzheim (Hrsg.): A.a.O. 6. 17 Ebd. 167. 18 Ebd. 6. 19 Ebd. 146. „Frottage“ bedeutet, dass auf die wiederzugebende Stelle eines Grabsteins Papier gelegt wird und anschließend mit einem weichen Bleistift, Kohlestift oder Ölkreide so lange über das Blatt gerieben wird, bis die Stelle deutlich zu sehen ist. 20 Ebd. 13-14. 21 Ebd. 159. 22 Ebd. 82. 23 Ebd. 165. 24 Der Autor hatte mit einer Gruppe von 30 Personen 2002 den jüdischen Friedhof in Alsbach an der Bergstraße im Rahmen der Erwachsenenbildung besucht. Der Pfarrer, der vor Ort zur Verfügung stehen und Übersetzungshilfe geben sollte, musste kurzfristig absagen, sodass sich die Besichtigung vor allem auf die Erschließung des Geländes und auf Symbole auf Grabsteinen beschränken musste. Das Fehlen der Übersetzungen war für zahlreiche Gruppenmitglieder demotivierend. Dies dürfte, wenn auch abgeschwächt, ebenfalls auf Jugendliche zutreffen, deren Wunsch nach Übersetzung von Inschriften regelmäßig groß ist. 25 Regionale Schule Rülzheim (Hrsg.): A.a.O. 6. 26 O. Weber: A.a.O. 323. 27 Vgl. Wolfgang Nahrstedt, Dieter Brinkmann, Heike Theile, Guido Röcken: Lernort Erlebniswelt. Neue Formen informeller Bildung in der Wissensgesellschaft. Endbericht des Forschungsprojektes: Erlebnisorientierte Lernorte der Wissensgesellschaft. Bielefeld 2002, 86-87.
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Ist Adel verschwunden?
Nach dem 60. Jahrestag des Hitlerattentates vom 20. Juli 1944 ist die Frage nach der Rolle des Adels in der deutschen Geschichte auch in breiteren Bevölkerungskreisen wieder aktuell geworden. Welchen Anteil hatte der Adel am Verlauf der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts? Die Geschichte des Adels im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist relativ gut erforscht, mit derjenigen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat man sich bisher hingegen wenig beschäftigt. Lassen sich aber auch Spuren des Adels in der deutschen Geschichte der letzten 50 Jahre auffinden? Ein Seminar des Historischen Instituts der Universität Duisburg-Essen zum Thema „Ostelbischer Adel (1750-1950)“ hat sich dieser Frage im Rahmen einer Exkursion gestellt.1 Die Spuren des Adels sprichwörtlich im „märkischen Sand“ aufzusuchen und mit dem Wissen der historischen Forschung zu hinterfragen war Inhalt des Seminars. Die Ergebnisse sollen im Folgenden beispielhaft an den Orten Friedersdorf und Neuhardenberg dargestellt werden. Sind Neuhardenberg und Friedersdorf zwei Orte, die Geschichte ausstrahlen, oder provinzielle Dörfer im Bundesland Brandenburg, an denen die deutsche Geschichte vorbeigegangen ist? Wenn sie Geschichte widerspiegeln, welche?
Luftbild des Schlossensembles und der Schinkel-Kirche von Neuhardenberg © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Adel im 19. und 20. Jahrhundert Definition Adel ist ein durch Herkommen und Geburt konstituierter Stand, der über die Fremd- und Selbstbezeichnung, eine Elite zu sein, führende Positionen in Staat und Gesellschaft für sich beansprucht.2 Als ein zu sozialer Abschließung tendierender Stand definiert er sich über die drei Kriterien des Geschlechts, der Familie und des Hauses. Über das symbolisch-kulturelle Konstrukt der Tradition wird ein Zusammenhang zwischen Vorfahren und zeitgenössischen Mitgliedern eines adeligen Sozialverbandes hergestellt. Dieser gewährleistet Kontinuität und Zusammenhalt im inneren sowie Abschottung nach außen. Ein zentrales Charakteristikum von „Adeligkeit“ ist das Selbstverständnis des Adels: Er versteht sich, durch seine ihm qua Abstammung und Geburt innewohnenden Qualitäten, zu Herrschaft über Land und Leute befähigt und berechtigt zu sein. Dies wird in der modernen Forschung als „Adelshabitus“ bezeichnet. Wesentlich bedingt durch dieses Elitenverständnis beanspruchte der Adel bis weit in das 19. Jahrhundert, an fürstlicher Regierungsgewalt beteiligt zu werden. Da er jedoch zunehmend durch bürgerliche Leistungskriterien und die Entstehung des modernen Staates in seinen exklusiven Positionen angefochten wurde, gelang es ihm nur noch defensiv, zentrale Stellen staatlicher Macht zu behaupten. Aus der großen und sozial äußerst heterogenen Gruppe des Adels, der östlich der Elbe lebte, wird im Folgenden der brandenburgische Adel untersucht. Betrachtet man den brandenburgischen Adel um 1800 im Vergleich zu anderen Adelslandschaften des Alten Reichs, lässt sich die idealtypische Aussage treffen, dass er größtenteils landsässig, untituliert und vergleichsweise arm war, aber eine besondere Nähe zum Herrschaftszentrum Berlin hatte. Seine Einkünfte bezog er aus eigenwirtschaftlich verwaltetem Großgrundbesitz, der in der für Nordostdeutschland typischen Form der Gutsherrschaft organisiert wurde.3 Die gutsherrliche Wirtschaftsverfassung verlieh den adeligen Grundbesitzern zahlreiche Feudalrechte, die ihre Herrschaftsgewalt in alle zentralen Bereiche des alltäglichen Lebens eindringen ließ. Die sozioökonomischen und soziopolitischen Vorrechte des brandenburgischen Adels gewährten ihm nahezu eine Allgegenwart, der sich die ländliche Bevölkerung schwerlich entziehen konnte. Im Verlaufe des 17. und 18. Jahrhunderts hatte sich ein Kompromiss zwischen den gegensätzlichen Parteien – die preußische Krone einerseits und der preußische Adel andererseits – herausgebildet, der dem König eine absolutistische Herrschaft auf zentralstaatlicher Ebene ermöglichte, im Gegenzug jedoch dem brandenburgischen Adel exklusive Domänen in der Verwaltung, in der Diplomatie, im Militär und auf der lokalen Ebene einräumte.4 Auf dieser lokalen Ebene vereinten sich Kirchenpatronat, dörfliche Verwaltung und Rechtsprechung in der Hand des © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Gutsherrn. Sein Selbstverständnis schloss neben diesen Rechten auch die soziale Verantwortung eines Vaters der Gemeinde ein.
Das 19. Jahrhundert Nach der Niederlage gegen das revolutionäre Frankreich 1806 bei Jena und Auerstedt setzten in Preußen intensive Reformmaßnahmen ein, die bis ca. 1830 zu einem Erosionsprozess adeliger Herrschaft führten. Die „preußischen Reformen“, deren Ziele in der Bezahlung der Kriegskontributionen an Frankreich und der Mobilisierung aller staatlichen Kräfte zur Wiedererlangung eines europäischen Großmachtstatus bestanden, betrafen die Gesellschaft in all ihren Facetten.5 Mit den Militärreformen wurde das alleinige Anrecht des Adels auf Offiziersstellen aufgehoben, die Agrarreformen beseitigten die Erbuntertänigkeit und beendeten das alleinige Recht des Adels auf Landbesitz. Durch die Reform der Verwaltung wurde ein weiteres Kernelement der adeligen Berufswelt berührt. Alles in allem schränkten die preußischen Reformen nicht nur den brandenburgischen, sondern den preußischen Adel insgesamt als einen eigenberechtigten, feudalen Stand des Ancien Régime in seinen Rechten ein. Trotz aller Anfechtung besaß er jedoch die Fähigkeit, sich in einem defensiven Formwandel den modernen Zuständen des 19. Jahrhunderts anzupassen und dabei zentrale Elemente seiner Adeligkeit zu bewahren. Auf diese Weise verlor er zwar seine rechtlich gesicherte Herrschaft auf dem Land, diese konnte er aber in eine informelle patriarchalische Herrschaft umwandeln. Nach 1830 war die informelle Herrschaft des Adels auf dem Land gefestigt. Er ging jetzt in eine Transformationsphase über. Da sich das aufstrebende Bürgertum Schritt für Schritt als eine mit dem Adel konkurrierend Führungselite etablierte, sah sich der brandenburgische Adel gezwungen, sich in bisher selbstverständlich bekleideten Positionen behaupten zu müssen. Neben diesem Prozess der Behauptung, der zum Teil nur durch Leistung im Wettbewerb mit Bürgerlichen zu erreichen war, führten die gesellschaftlichen und politischen Umbrüche und Umbruchsversuche des 19. Jahrhunderts zu (scheinbaren) Einschnitten für den Adel. Eine entscheidende Zäsur für die adelige Welt im 19. Jahrhundert bildete neben den preußischen Reformen die Revolution von 1848/49. Der Adel sah sich hier als rechtlicher Stand bedroht und gezwungen, seine altständische Vorrangstellung zu verteidigen. Nach der Niederschlagung der Revolution wurden ihre Errungenschaften von königlicher Seite transformiert. Die Umformung der ersten Kammer in das preußische Herrenhaus, das bis 1918 vom Adel dominiert wurde, sicherte weitestgehend den Einfluss adeliger Gutsbesitzer.6 In die Zeit um 1848 fällt auch die Bildung der politischen Richtung des Adelskonservatismus.7 Dieser klassische Konservatismus war durch eine grundlegende Modernitätsfeindlichkeit geprägt und strebte eine möglichst umfassende Aufrecht© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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erhaltung der Zustände des Ancien Régime, also der Zustände vor 1800, an. Der Adelskonservatismus führte zu einer sich verbreitenden Betätigung in konservativen Parteien (z.B. Deutschkonservative Partei (DKP)) und z.B. landwirtschaftlichen Interessenverbänden. In diesen hatten die Adeligen zwar die leitenden Funktionen, jedoch kann man nicht von einem einheitlichen Adelskonservatismus sprechen. Zum einen waren die Ziele nicht eindeutig definiert oder abgestimmt, zum anderen waren die Konservativen in verschiedene Parteien und Organisationen gespalten. Der große Einschnitt der Reichsgründung 1871 und der damit verbundene, nun auch bürgerliche Parlamentarismus gefährdete dieses Engagement allerdings wieder, da die Politik sich nun zum Beruf entwickelte und kein Ehrenamt mehr war. Schon das adelige Selbstverständnis als geborener Herrschaftsstand widersprach einem solchen Engagement. Trotzdem bildete der Adel am Beginn und auch während des Kaiserreichs die Stütze der Monarchie und damit der Macht. Durch seinen Rückhalt in der Landbevölkerung war der Adel in den Parlamenten stark vertreten und in den Regierungen fast ausschließlich zu finden. Die leitenden bzw. repräsentativen Funktionen in der Beamtenschaft hatte trotz zahlreicher Positionsverluste im Laufe des 19. Jahrhunderts immer noch der Adel inne. Das Heer war ebenfalls fest in adeliger Hand; die Öffnung des Offizierkorps für das Bürgertum war faktisch nicht vollzogen worden. Trotzdem blieb in allen Domänen des Adels (Land, Heer, Parlamente) die Gefahr einer schleichenden Übernahme durch das Bürgertum bestehen. Der Adel musste sich so durch Leistung für die zu professionalisierten Berufen transformierten Ämter qualifizieren und mit bürgerlichen Konkurrenten um Bekleidung dieser kämpfen.
Erster Weltkrieg und Weimarer Republik Der Erste Weltkrieg enttäuschte nicht nur die Hoffnung des Adels, wie in den Kriegen der Reichseinigungszeit als Träger des Militärs und somit der Macht hervorstechen zu können, sondern endete in der Revolution von 1918 und somit in der schwersten Krise, die der Adel bis dahin zu bewältigen hatte. Der Schock der Revolution führte zu einer Untergangsstimmung, die in eine wahre Identitätskrise des Adels mündete.8 Das Wegfallen des bisherigen Fixpunktes der Monarchie mit all ihren Privilegien, Aufgaben und der Legitimation für den Adel war der schwerwiegendste Verlust. Die Beschränkung der Reichswehr auf 100.000 Mann traf den Offiziersstand und damit besonders den Adel. Darüber hinaus wurde der Adel in der Weimarer Verfassung als privilegierter Stand abgeschafft und durch das Wahlrecht der übrigen Bevölkerung gleichgestellt. Neben diesen realen Verlusten wog allerdings das Gefühl der Orientierungslosigkeit und der durch adelige Flüchtlinge aus dem Osten verbreiteten Angst der Gefährdung von Eigentum und eigenem Leben noch schwerer. Die Republik wurde im Adel vielfach als Fortsetzung der © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Revolution und damit der größten Gefahr und des größten Übels gesehen. Aus all diesen Erfahrungen resultierte eine weit verbreitete Ablehnung der Weimarer Republik durch den Adel. Verschiedene Handlungsweisen des Adels lassen sich auf diesen gemeinsamen Nenner zurückführen. Einige zogen sich gänzlich aus der Öffentlichkeit ins Private zurück. Viele versuchten an die Spitze der Republik zu gelangen, um von dort aus die alten Verhältnisse wieder herstellen zu können. Andere lehnten die Republik durch öffentliche Förderung republikfeindlicher Tendenzen aktiv ab. Demokratisch motiviert war keine dieser Handlungsweisen. Die schwerwiegendste war allerdings die Unterstützung des Nationalsozialismus, in dessen Volksführertum viele Adelige einen Ersatz für die Monarchie sahen.
Adel und Nationalsozialismus Die vermeintlich gleichen Ziele und der offene Antirepublikanismus bewogen viele Adelige zur Mitgliedschaft, Unterstützung oder Sympathie für den Nationalsozialismus, so dass der Adel zum einen 1933 in der NSDAP und ihren Untergruppierungen in seinem anteilmäßigen Verhältnis zur Gesamtbevölkerung überrepräsentiert war und zum anderen Versuche zur Überwindung der Republik auch von anderen Seiten offen unterstützte. Der Herrschaftsanspruch des Adels ließ sich auf Dauer allerdings nicht mit dem Nationalsozialismus vereinbaren. Das Ziel, die NS-Ideologie für seine Zwecke einzuspannen, hatte nicht funktioniert. Im Gegenteil dazu wurde der Adel, der auch in der Weimarer Republik noch wirtschaftlich, politisch und vor allem militärisch führend war, vom Nationalsozialismus eingespannt. Unter dem Eindruck der drohenden Kriegsniederlage entschlossen sich einige Adelige zum Widerstand gegen Hitler. Der Widerstand am 20. Juli 1944 war jedoch kein rein adeliger. Außerdem schloss sich nur ein kleiner Teil des Adels dem Widerstand an. Darüber hinaus geschah dies nicht mit dem Ziel, nach dem Sturz des Nationalsozialismus ein demokratisches System zu etablieren. So ändert sich auch am Ende des Zweiten Weltkriegs das Bild eines republik- und demokratiefeindlichen Adels nur geringfügig. Adel nach 1945 Im Februar 1945 wurde auf der Konferenz von Jalta die Aufteilung des Deutschen Reiches nach dem Kriegsende besprochen. Das verbleibende deutsche Territorium sollte in vier Besatzungszonen aufgeteilt werden, wobei der Sowjetunion die Kontrolle über die brandenburgischen Gebiete bis zur westlichen Oder zufiel. Da es so etwas wie den Zweiten Weltkrieg nie wieder geben sollte, waren sich die Alliierten einig, innerhalb der Besatzungszonen umfangreiche Entnazifizierungsund Demokratisierungsprogramme durchzuführen. Ein Hauptaugenmerk richtete sich hierbei auf die Adeligen. Sie galten als Zerstörer der Weimarer Republik, Helfer der Machtergreifung Hitlers und als © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Kriegstreiber des Zweiten Weltkriegs. Die Bezeichnung der Adeligen als „Junker“ fasste hierbei den Adel als undemokratisch und manipulierend, militaristisch und egoistisch zusammen, reduzierte und vereinheitlichte ihn und war darüber hinaus als Kampfbegriff nutzbar. Diese Interpretation herrschte sowohl im Osten als auch im Westen unter den Alliierten vor, so dass es Ziel der Entnazifizierungskampagne sein musste, die Macht des Adels für die Zukunft zu brechen.9 Zwar war der Adel mit der Gründung der Weimarer Republik abgeschafft worden, er hatte aber trotzdem in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus eine führende Rolle spielen können. Als Quelle dieser Macht wurden die starke ökonomische Stellung des Adels auf dem Land und die damit verbundene soziale Dominanz ausgemacht. Um die Macht des Adels zu brechen, bedurfte es daher, nach Ansicht aller Alliierten, einer umfangreichen Bodenreform. In der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) begann sie im September 1945 und sah vor, alle Güter über 100 ha zu enteignen und an Landarme, Landarbeiter und Flüchtlinge aus dem Osten zu verteilen. Zwar wurde damit, von der etwaigen Kriegsschuld des Einzelnen unabhängig, die ökonomische Macht des Adels zerstört, die mentalen Bindungen der Dorfbewohner zum Adeligen aber nicht. Der Adel wurde in der SBZ daher, falls er nicht schon vorher geflohen war, umgesiedelt, und über 2.000 Gutshäuser in der Mark Brandenburg wurden gesprengt, um die Spuren des Adels zu zerstören.10 Für große Teile des Adels führte danach der Weg in die westlichen Besatzungszonen. Das Ende der Entnazifizierungspolitik im Zusammenhang mit der Verschärfung des Kalten Krieges führte in der BRD zum sanften Aufgehen des Adels in der bürgerlichen Gesellschaft. Die Öffnung der Mauer in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 läutete das Ende der Teilung Deutschlands ein. Mit dem Inkrafttreten des Einigungsvertrages war die Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 vollzogen. Für den brandenburgischen Adel, der nach dem Zweiten Weltkrieg in den Westen geflohen oder übergesiedelt war, ergab sich damit eine neue Perspektive. Der Besuch der alten Heimat stand nun allen frei. Die Frage nach einer Rückgabe der ehemaligen Besitzungen war dagegen weitaus schwieriger. Viele stellten Restitutionsansprüche, um ihre enteigneten Besitztümer zurückzuerhalten. Jedoch hatte nur der Adel, der (im Zuge des Widerstands) noch von den Nationalsozialisten enteignet worden war, Anspruch auf eine vollständige Rückerstattung. Die durch die Bodenreform enteigneten Güter waren durch den Lastenausgleich im Westen aufgewogen worden. Alle anderen Enteigneten hatten ebenfalls wenige Chancen auf Rückgabe ihrer Besitzungen. So konnten nur wenige Adelige ihre Ansprüche geltend machen. Man räumte den Adeligen lediglich ein Vorkaufsrecht für den Erwerb der meist nicht einmal vollständigen Ländereien und Gebäude ein. Doch dafür fehlten vielen die finanziellen Mittel, zumal die Besitzungen durch jahrelange Vernachlässigung oder Zweckentfremdung in einem renovierungs- bzw. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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sanierungsbedürftigen Zustand waren. Neben diesen wirtschaftlichen Hindernissen stellte sich vielen die Frage nach dem Wunsch zur Rückkehr. Viele Adelige hatten in der BRD räumlich und mental eine neue Heimat gefunden und sich auch eine neue wirtschaftliche Existenz aufgebaut. Viele Vertriebene waren als Kinder geflüchtet oder mittlerweile zu alt zur Rückkehr. Die adeligen Nachfahren erfuhren zum Teil erst jetzt von der Heimat ihrer Eltern und Vorfahren. Die Stigmatisierung als Junker war während der gesamten DDR-Jahre bestehen geblieben. So war der Rückkehrwille bei vielen gar nicht vorhanden oder die Angst vor einer unfreundlichen Aufnahme und eines schwierigen Neuanfangs zu groß. Trotz all dieser Hindernisse haben einige Adelige die Rückkehr gewagt, nicht alle davon erfolgreich. Die Gründe dafür waren meist finanzieller Art.
Methodische Umsetzung Kehrt man nun nach der makrohistorischen Beschreibung in die eingangs erwähnten Orte Neuhardenberg und Friedersdorf zurück, so stellt man fest, dass sich der Wandel des Adels zwischen 1800 und heute in den Orten nur bedingt widerspiegelt. Verantwortlich hierfür ist die beschriebene Ungleichheit zwischen formellem Recht und informeller, gewandelter Herrschaftskontinuität. Einerseits haben zwischen 1800 und 2000 historische Wandlungsprozesse stattgefunden, die im Ortsbild zu erkennen sind, andererseits sind viele Strukturen konstant geblieben. Möglich ist daher nur ein Einblick in einzelne Aspekte von Adelsgeschichte. Die methodische Umsetzung von Adelsgeschichte an einem außerschulischen Lernort muss sich daher daran orientieren, diesen Bruch als solchen greif- und begreifbar zu präsentieren. Dies muss in drei Schritten erfolgen, so dass die Teilnehmenden beide Ebenen erkennen. Wir wollen hier eine Skizze dessen liefern, was die drei Schritte beinhalten. Der erste Schritt, die Vorbereitungsphase, lässt sich dabei aus der Sachanalyse ableiten. Der dritte dient der Nachbereitung und Verknüpfung der ersten beiden, während der zweite Schritt im Anschluss an die Skizze ausführlich an Hand der Beispiele Friedersdorf und Neuhardenberg beschrieben werden soll. Als erstes müssen die Teilnehmer/-innen in der Vorbereitungsphase allgemein an das Thema Adel herangeführt werden. Die Lokalisierung im Raum des heutigen Bundeslandes Brandenburg und die Beschreibung als ein Herrschaft ausübendes Subjekt sind hierbei der Ausgangspunkt. Der schrittweise formelle Verlust von Herrschaft, ausgehend von den preußischen Reformen am beginnenden 19. Jahrhundert bis zur Gründung der Weimarer Republik 1918/19, müssen thematisiert werden. Die Rolle des Adels im Dritten Reich und die Bedeutung des Jahres 1945, verbunden mit dem Besitzverlust und der Vertreibung, der Stigmatisierung als © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Kriegsschuldige in der DDR, sowie die Rückkehrmöglichkeit in ein demokratisches Land Brandenburg nach 1990 stellen die weiteren Wegmarken der Vorbereitungsphase dar. Entscheidend ist es, dass hier nur die formelle Seite von Herrschaft und deren Verlust für die Teilnehmer/-innen sichtbar wird. Der zweite Teil des Projekts ist der Besuch des Lernortes. Hier werden die Teilnehmer/-innen damit konfrontiert, dass für die Zeiten um 1800 und um 1918 im Ort keine Brüche zu erkennen sind, sondern sich vielmehr eine Kontinuität zwischen ca. 1750 und 1945 zeigt. Erst dann werden Veränderungen massiv sichtbar, bedingt durch die deutsche Niederlage und die Trennung von Raum und Subjekt, die zu einem Ende von informeller Herrschaft führten. In der Nachbereitung des Besuches müssen dann beide Handlungsstränge zusammengefügt werden. So wird sichtbar, wie Adel trotz formellen Machtverlusts, der in der Vorbereitung besprochen wurde, eine führende Rolle in der deutschen Gesellschaft bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges spielen konnte – dies aber nur mittels seiner informellen Herrschaft, die beim Besuch vor Ort sichtbar geworden ist. Wie die im zweiten Schritt beschriebene Kontinuitäten und Brüche vor Ort aussehen, soll im Folgenden für Friedersdorf und Neuhardenberg beschrieben werden. Hierbei können beispielhaft fünf Elemente erfasst werden, in denen sich Geschichte im Ort manifestiert. Dies ist die Topographie des Ortes, die eine Ausrichtung auf das Herrschaftszentrum aufweist. In diesem Herrschaftszentrum befindet sich das Gutshaus. Des weiteren sind Kirche, Friedhof und Denkmäler, häufig ebenfalls nahe dem Herrschaftszentrum gelegen, Teile von Erinnerungskultur an Vergangenes und Vergangene. Deren Bedeutung für Herrschaftskontinuität hat Ewald Frie formuliert: „Rund um den Tod sind Rituale und Institutionen gebaut worden, die Kontinuität darstellen. Ein wesentliches Element dieser Funeral- und Sepulkralkultur sind Grabmäler, Epitaphien und Inschriften. Sie symbolisieren die Anwesenheit des Abwesenden. Sie verlängern Ordnungen, die auf personaler Interaktion beruhen, über den Tod der Person hinaus. Sie verbinden die Nachlebenden erinnernd und verpflichtend mit den Verblichenen – und Verpflichtung wie Erinnerung können für Familienmitglieder und Klientelgenossen (!) gelten [...].“11
Friedersdorf und Neuhardenberg sollen im Folgenden getrennt vorgestellt werden. Dabei orientiert sich die Beschreibung der Orte an einem möglichen Rundgang. Die einzelnen Elemente, in denen sich Geschichte vor Ort manifestiert hat, sollen dabei jeweils in ihrer Bedeutung und Reflexion von Geschichte für den gesamten Zeitbereich beschrieben werden.
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Friedersdorf Anhand einer Karte aus der Mitte des 19. Jahrhunderts hat Ewald Frie die Dorfstruktur von Friedersdorf beschrieben. „Das Schloß war innerhalb des dörflichen Gefüges deutlich hervorgehoben, der von Seelow kommende Weg führte direkt auf das zentrale Gebäude zu, teilte sich dann aber, um dem Dorfteich Platz zu machen. Die Außenseite des so entstehenden Dreiecks wurde von den Bauernhäusern gesäumt. Ihnen gegenüber an den Innenseiten der beiden den Dorfteich umfassenden Straßen befanden sich meist kleinere Anwesen, in denen die Nichtbäuerlichen lebten. Auf sie alle sah der Schloßherr herunter. Sein Anwesen beherrschte, durch den Dorfteich distanziert, die Grundseite des Dreiecks.“12
Kirche Friedersdorf – ein mittelalterlicher Feldsteinbau aus dem 13. Jh.
Das Gutshaus wurde während der Schlacht an den Seelower Höhen 1945 beschädigt und nach dem Krieg aus politischen Gründen gesprengt. Trotzdem ist die Ausrichtung des Ortes auf dieses nun leere Zentrum weiterhin vorhanden. Hieran wird einerseits die bis 1945 symbolisierte Herrschaft durch die bautechnische Anlage des Ortes deutlich, andererseits der Bruch, der mit der Trennung von Ort und Subjekt 1945 erfolgte. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Neben diesem nun leeren Zentrum des Dorfes befindet sich die Kirche, von der Fontane meinte, dass sie an Schönheit „[...] sehr wahrscheinlich in märkischen Landen nicht ihresgleichen hat“.13 Sie wurde ebenfalls während des Krieges beschädigt und in den sechziger Jahren aus bautechnischen Gründen gesperrt. Erst nach 1990 haben im Zusammenhang mit der Rückkehr Hans-Georg von der Marwitz’ umfangreiche Restaurationsarbeiten begonnen, die eine möglichst vollständige Wiederherstellung bezwecken sollen. Durch seinen Einsatz für das Dorf und die Kirche knüpft der zurückkehrende Marwitz an die Tradition seiner Familie an. Die Vorstellungen der Denkmalschützer werden hierbei nicht durchgängig beachtet. Die Kirche mit zahlreichen Epitaphien ist durch die Bemühungen der letzten 15 Jahre jetzt wieder zugänglich. Diese Epitaphien repräsentieren hierbei eine Kontinuität von Familiengeschichte der Marwitz’, die im Sinne des oben genannten Zitates Teil von Herrschaftslegitimierung waren. Der Bruch in der Geschichte des Adels mit dem Jahr 1945 wird durch die vollständige Restaurierung aber verdeckt, was ein Grund für die Kritik des Denkmalschutzes sein mag. In der Kirche befindet sich auf einer Empore die aus dem 18. Jahrhundert stammende Orgel, die vom Reichtum der Marwitz’ als Kirchenpatrone zeugt. Vom Altar gesehen auf der rechten Seite befindet sich die ebenfalls erhöhte Patronatsloge. Von hier wurden die Gläubigen, aber auch der Pfarrer, im Gottesdienst überblickt und soziale Unterschiede verdeutlicht. Die Epitaphien beginnen mit Joachim von Görtzke, der Friedersdorf nach dem Dreißigjährigen Krieg erhielt, und enden mit Bernhard von der Marwitz, der 1918 im Krieg starb. Da im Jahre 1919 Bodo von der Marwitz das Gut übernahm und hier bis 1945 lebte, endet mit Bernhard die Vergegenwärtigung im Kirchraum, seines ist das letzte Epitaph. Die Kirche symbolisiert in ihrer Ausgestaltung zwei Herren, den Herrn Gott und die Herrn auf Friedersdorf, die Marwitz. Direkt an der Kirche befinden sich zwei Denkmäler: eines für die sowjetischen Gefallenen des Zweiten Weltkrieges, besonders der der Schlacht an den Seelower Höhen, und eines für die gefallenen Friedersdorfer des Ersten und Zweiten Weltkrieges. Der Erste Weltkrieg und der politische Wandel in seiner Folge haben auch in Friedersdorf ihren Niederschlag gefunden. Spiegelt die Existenz des Steines die große Ereignisgeschichte im Dorf wider, zeigt sich der politische Wandel in der Folgezeit darin, dass Bernhard von der Marwitz hier nicht in herausgehobener Position steht, sondern zusammen mit den anderen gefallenen Bürgern Friedersdorfs aufgelistet ist. Dies steht im Gegensatz zur Kirche, wo nur ihm eine Gedenktafel gewidmet ist. Für den Zweiten Weltkrieg finden sich keine Namen auf dem Stein, eine Individualisierung der Schicksale hat nach 1945 nicht stattgefunden, da es im neuen politischen System möglicherweise nicht opportun war. Der Gedenkstein für die sowjetischen Gefallenen markiert einen Bruch in der Geschichte des Ortes. Nach 1990 ist für alle sowjetischen Denkmäler in der ehemaligen DDR im © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Einigungsvertrag Bestandsschutz garantiert worden. Er symbolisiert zusammen mit dem fehlenden Gutshaus den Bruch in der Geschichte des Adels und die 45 Jahre währende Abwesenheit der Familie von der Marwitz in Friedersdorf. Hinter diesen Denkmälern, an der Wand der Kirche, liegt der Familienfriedhof der Marwitz’. Er ist durch eine Mauer von der Außenwelt getrennt und nur durch ein Gittertor zu betreten bzw. einzusehen. Hier liegen die Generationen der Herren auf Friedersdorf begraben. Der Vater des heute in Friedersdorf lebenden Hans-Georg von der Marwitz’ wurde hier ebenfalls nach seinem Tod in den neunziger Jahren beigesetzt. Wie bereits das Innere der Kirche werden auch mittels des Friedhofes Kontinuität und Exklusivität verdeutlicht. Ähnlich wie die möglichst vollständige Restaurierung der Kirche beginnt die letzte Beerdigung bereits den Kontinuitätsbruch der DDR-Zeit zu überdecken. Im Friedersdorfer Kunstspeicher wird heute zusätzlich die Geschichte des Dorfes respektive der Familie ausgestellt.
Neuhardenberg Die zentrale Ausrichtung auf das Herrschaftszentrum ist ebenfalls in Neuhardenberg deutlich erkennbar. Durchaus kann hier eine Beschreibung eines Lageplans von 1817 stellvertretend für die heutige Dorfstruktur gelten: „Ein Angerdorf mit annähernd geradlinig verlaufener Hauptachse und mit der für märkische Verhältnisse bedeutenden Länge von zwei Kilometern [...]. Das Dorf Neuhardenberg wurde von gleichartigen Kleinbauern- und Arbeiterhäusern geprägt. Sie säumten die zweiadrige Dorfstraße mit Lindenallee und einen weiten, sich von Osten nach Westen erweiternden, dazwischenliegenden Dorfanger mit Löschteich in unmittelbarer Nähe der Kirche. [...] Vom Dorfanger mit der Lindenallee und der Kirche relativ weit nach Süden zurückgesetzt, liegt das Schloß.“14
Im Gegensatz zum zuvor beschriebenen Ort Friedersdorf blieb das Dorf Neuhardenberg weitestgehend von militärischer und sozialistischer Zerstörung verschont. Weiterhin bildet das erhalten gebliebene Schloss das Zentrum des Ortes, ebenfalls existieren bis heute sowohl die Kirche als auch die Lindenallee. In Neuhardenberg symbolisiert eben nicht ein architektonischer Wandel den Bruch in der Geschichte des Adels mit dem Jahr 1945, sondern hier wurde vielmehr die präsente, sichtbare Vergangenheit einer besonderen Form der Restaurierung unterzogen: durch einen neuen Ortsnamen. In den Jahren von 1949 bis 1991 trug dieser Ort den Namen Marxwalde. Nach der Rückbenennung begann 1996 auch die aufwendige Restaurierung des Ortes, die zugleich als Versuch angesehen werden kann, erneut die Geschichte des Ortes zu verändern: Mit der Rekonstruktion des Zustandes vor 1945 sind zunächst kaum noch Spuren des Sozialismus erkennbar. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Am Schloss sind keine Kontinuitätsbrüche sichtbar; es erstrahlt seit der Restaurierung im Glanz der alten „adeligen“ Zeiten, den Plänen des Architekt Karl Friedrich Schinkel folgend. Diese äußere Reproduktion lässt nicht mehr erkennen, dass dieses Gebäude seit 1949 zunächst als Dorfschule, dann als Jugendclub, Trainingsstätte für Gewichtheber und ab 1988 als Museum fungierte. Restitutionsansprüche konnten nach 1989 zwar geltend gemacht werden, aus finanziellen Gründen übergab die Familie von Hardenberg das Schloss allerdings an den Sparkassenverband. Erst im Innenbereich wird der Bruch deutlich, da hier, bedingt durch Zweckentfremdung und Plünderungen, das luxuriöse Inventar von vor dem Zweiten Weltkrieg nicht wieder ersetzt werden konnte. Schweift jedoch der Blick ab von der Architektur des Schlosses, so wird ein Bruch in der Geschichte des Ortes deutlich sichtbar: Unmittelbar vor dem Schloss, auf dem ovalen Rasen, befindet sich eine Grabstelle mit etwa 100 russischen Opfern des Zweiten Weltkrieges. Ein Sowjetstern schließt dieses Ensemble ab. Beim ersten Blick auf das Schloss ist die Wahrnehmung dieser Gedenkstätte nicht garantiert; mit der Annäherung an das Denkmal wird dennoch eine Distanz zum Herrschaftszentrum geschaffen, sowie Feudalismus und Sozialismus miteinander konfrontiert. Hinter dem Schloss liegt ein großzügiger Park mit Teich. Dort am Rande des Teiches steht ein durch Hügel und Podest erhöhtes Denkmal, das erneut die wechselvolle Geschichte des Ortes widerspiegelt. Aus Marmor gefertigt, trauern die Figuren Mars und Minerva, lebensgroß geformt, um ein Bildnis des Preußenkönigs Friedrich II. Dieses Monument wurde von dem Ehepaar von Prittwitz im Jahre 1792 gestiftet und bildet mit der Inschrift im Sockel den einzigen sichtbaren Hinweis auf die Vergangenheit des Dorfes unter dem Namen Quilitz und seiner damaligen Gutsbesitzer. Selbst zu DDR-Zeiten blieb dieses Marmordenkmal an seinem ursprünglichen Standort erhalten, lediglich die Inschrift, die einen Hinweis auf seine Stifter gibt, wurde in dieser Zeit beseitigt. Wendet man sich nun wieder der Vorderseite des Schlosses zu, befindet sich links davon, vor den Wirtschaftsgebäuden gelegen, die Kirche. Sie wurde ebenfalls von Schinkel gestaltet und 1817 eingeweiht. Der äußeren Gestaltung des Gotteshauses sprach Fontane nicht ein solches Lob aus wie der Dorfkirche in Friedersdorf: „Das Ganze sieht nicht nur aus, sondern entspricht auch den Proportionen, wie wenn man ein ovales Serviettenband auf eine oblang geformte Teebüchse stellt.“15
Die Innengestaltung der Kirche wirkt zunächst nüchtern, ganz im Sinne des protestantischen Glaubens. Rechts neben dem Altar erstreckt sich die schlichte Patronatsloge, auf der früher die gräfliche Familie am Gottesdienst teilnahm. Nähert man sich jedoch dem Altar, wird hier ähnlich wie in Friedersdorf die Präsenz zweier Herren in der Kirche deutlich. Der Altar „beherbergt“ das Herz © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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des Reformkanzlers Hardenberg, das hier entgegen jeglicher protestantischer Tradition eingelassen wurde. An der äußeren Rückseite der Kirche spiegelt sich der Herrschaftsanspruch erneut wider. Schinkel entwarf das hier zu Ehren des Kanzlers errichtete Mausoleum, vor welchem der Friedhof der Familie Hardenberg liegt. Die Vollendung von Adelsgeschichte in Neuhardenberg stellt die Überführung und feierliche Beisetzung der Urnen von Renate und Carl-Hans von Hardenberg im Jahre 1991 dar. Heute dient Neuhardenberg als Tagungsort und wird unter anderem von der Bundesregierung genutzt.
Fazit Ist Adel verschwunden? Sicher ist, dass seit der rechtlichen Gleichstellung aller Bürger in der Weimarer Republik und in der Bundesrepublik das Adelsprädikat „von“ nur noch ein Bestandteil des Namens ist und nicht eines, das politische Bevorzugung beinhaltet. Mit dem Verlust der ökonomischen Basis im Zuge der Bodenreform in der DDR wurde die rechtliche Gleichstellung unterstützt. Aber sosehr der Adel in den 150 Jahren bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges von der Geschichte geprägt wurde und diese prägte, so sehr hat er auch das Land geprägt, in dem er lebte. Die Spuren des Adels im „märkischen Sand“ sind vielfältig, sie haben die DDR überlebt, auch wenn sie von ihr geprägt wurden. Friedersdorf, heute ohne Gutshaus, dafür mit zurückgekehrtem Adel, ist hier genauso ein Beispiel wie Neuhardenberg, das zwar noch sein Gutshaus besitzt, aber keinen Adeligen mehr beherbergt. Beiden Orten ist gemeinsam, dass sie Geschichte und ihren Wandel sichtbar werden lassen und charakteristische Züge des für den Verlauf der deutschen Geschichte wichtigen brandenburgischen Adels aufzeigen. Die Spuren des Adels prägen das Land und unsere Geschichte. Sie sind nicht verschwunden, sondern Teil unserer Identität.
Anmerkungen 1 An diesem Aufsatz hat außerdem Anne Dieckmann mitgewirkt. Ihr danken wir ebenso wie Prof. Dr. Dirk Blasius und HDoz. Dr. Ewald Frie für die „heldenhafte“ Exkursion und die Unterstützung und Betreuung dieses Aufsatzes. 2 Vgl. im Folgenden Gerhard Dilcher: Der alteuropäische Adel – ein verfassungsgeschichtlicher Typus? In: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.): Europäischer Adel 1750-1950. Göttingen 1990, 57-86; Marcus Funck/Stephan Malinowski: Geschichte von oben. Autobiographien als Quellen einer Sozial- und Kulturgeschichte des deutschen Adels in Kaiserreich und Weimarer Republik. In: Historische Anthropologie 7 (1999), 236-270. 3 Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 1: Vom Feudalismus des © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700-1815. München 3 1996, 140-144. Ebd. 228; Francis L. Carsten: Geschichte der preußischen Junker. Frankfurt/M. 1988, 55. Vgl. Elisabeth Fehrenbach: Vom Ancien Régime zum Wiener Kongreß (OGG; 12). München 3 1993, 105-121; 194-205. Vgl. im Folgenden Heinz Reif: Adel im 19. und 20. Jahrhundert (EDG; 55). München 1999, 15-55. Zum klassischen Konservatismus siehe Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 2: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution“ 1815-1845/49. München 31996, 441-457. Vgl. im Folgenden Stephan Malinowski: Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat. Berlin 22003. Auch Eckart Conze: Von deutschem Adel. Die Grafen von Bernstorff im 20. Jahrhundert. Stuttgart u.a. 2000. Vgl. zur Wortgeschichte des Begriffs „Junker“ Heinz Reif: Die Junker. In: Etienne François/ Hagen Schulze (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte (Bd. 1). München 2001, 520-536. Arnd Bauerkämper: Strukturumbruch ohne Mentalitätenwandel. Auswirkungen der Bodenreform auf die ländliche Gesellschaft in der Provinz Mark Brandenburg. In: Ders. (Hrsg.): „Junkerland in Bauernhand“? Durchführung, Auswirkungen und Stellenwert der Bodenreform in der Sowjetischen Bestatzungszone. Stuttgart 1996, 69-85. Ewald Frie: Herrschaftsstäbe, Adelskreise und des Königs Rock. Vom Bestattungsverhalten der Brandenburgischen Nobilität im 18. Jahrhundert. In: Mark Hengerer (Hrsg.): Macht und Memoria. Begräbniskulturen europäischer Oberschichten in der Frühen Neuzeit. Köln/u.a. 2005, 231. Ders.: Friedrich August Ludwig von der Marwitz (1777-1837). Biographien eines Preußen. Paderborn u.a. 2001, 107. Die Friedersdorfer Karte findet sich auf S. 108. Ebenso finden sich hier Abbildungen des Herrenhauses. Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Essen o.J., 382. Freundeskreis Schlösser und Gärten der Mark (Hrsg.): Schlösser und Gärten der Mark Brandenburg. Berlin 1991, 3. Theodor Fontane: A.a.O. 352.
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Der Reichstag in Berlin Zwischen nationalem und parlamentarischem Andenken
Die Geschichte des Deutschen Reichstags, die sich heute am Ort selbst an vielen Symbolen ablesen lässt, ist nicht kontinuierlich und nicht zielgerichtet verlaufen, sondern an vielen Stationen ihrer Entwicklungen Deutungs- und Richtungskämpfen ausgesetzt gewesen. An drei von ihnen soll die Konflikthaftigkeit dieser Geschichte nachgezeichnet werden. Wer vor dem Reichstagsgebäude steht, dem fällt über dem Eingangsbereich die Inschrift „DEM DEUTSCHEN VOLKE“ auf. Beim Gang durch das Gebäude sieht man in den Plenarbereich. Dabei kann man erkennen, dass die Abgeordneten in einer bestimmten Sitzordnung zusammensitzen. Schließlich enden die meisten Besuche des Reichstags in der gläsernen Kuppel, dem Symbol des Parlaments, ja der Berliner Republik. Diese drei Objekte, die Inschrift, die Sitzordnung und die Kuppel, sind Ergebnisse der bisherigen Geschichte des deutschen Parlamentarismus, eingebettet in die nationale politische Geschichte. In ihnen hat sich jeweils ein Abschnitt dieser Geschichte sedimentiert. Hier werde ich, ausgehend von den drei genannten Objekten, die Geschichte rückwärts lesen und fragen, welche Entwicklungen zu diesen Ergebnissen geführt haben und welches Verständnis von Parlamentarismus sich in ihnen ausdrückt.
Der Reichstagsbau und die Inschrift Die Vorgeschichte 1: Der Parlamentarismus Das 1894 nach 13 Jahren Planungszeit und weiterer zehnjähriger Bauzeit vollendete Reichstagsgebäude stammt aus der Anfangsphase des deutschen Einheitsstaats. Das eine deutsche Projekt des 19. Jahrhunderts war vollendet, Deutschland war eine geeinte Nation. Das andere Projekt hingegen, das der Demokratisierung und Parlamentarisierung, war bereits 1849 gescheitert, und in der Folge drifteten nationales Denken und demokratisches Denken mehr und mehr auseinander. Wie ist es aber zu verstehen, dass mit dem Reichstagsgebäude das deutsche Parlament einen derart prominenten und prunkvollen Ort in Berlin erhielt, während zugleich der Parlamentarismus im politischen System des Kaiserreichs an den Rand des politischen Machtgefüges gedrängt war? Um diese Frage zu beantworten ist es nötig, die Besonderheiten des Parlamentarismus und des Parlamentsverständ© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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nisses in Deutschland zu kennen, gerade auch im Vergleich mit Entwicklungen in anderen Staaten. Als parlamentarische Institution steht der Reichstag nämlich in einem Zusammenhang mit anderen Parlamenten und Versionen des Parlamentarismus, die sich in Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika seit Beginn des Zeitalters der Repräsentativverfassungen, also seit den Revolutionen in Amerika und Frankreich, entwickelt haben. Zugleich standen bereits Erfahrungen mit dem Parlamentarismus aus Deutschland bereit, angefangen mit den Jakobinerclubs, die in den 1790er Jahren nach französischem Vorbild in einigen deutschen Städten entstanden, über die Parlamente in verschiedenen Staaten aus der Restaurationszeit, bis zum Parlament der 1848er Revolution in der Frankfurter Paulskirche. In vielen europäischen Staaten vollzog sich während des „langen 19. Jahrhunderts“, von den Revolutionen bis zum Ersten Weltkrieg der Prozess der Parlamentarisierung der politischen Systeme. Damit ist ein Kompetenzzuwachs der Parlamente in verschiedenen Punkten gemeint: Parlamente entwickelten sich von Beratungsgremien zum Gesetzgeber und darüber hinaus vom Gesetzgeber in nur wenigen Politikbereichen – wie dem Budgetverweigerungsrecht – zum Gesetzgeber in fast allen Politikbereichen, so dass die Bereiche, in denen die Exekutive souverän entscheiden konnten, immer kleiner wurden. Außerdem setzten sie die so genannte doppelte Ministerverantwortlichkeit durch. Zum einen konnten Parlamente die Minister der Regierung vor einem Gericht anklagen, wenn diese einen Rechtsbruch begangen hatten. Das war zumeist der erste Gewinn, den die Parlamente durchsetzten. Bis heute existiert dieses Recht etwa im US-amerikanischen „impeachment“. Zum anderen erreichten sie, dass die Minister dem Parlament politisch verantwortlich waren, also von diesem abberufen werden konnten; heute ist dieses Recht zumeist als Misstrauensvotum gegenüber einem Regierungschef institutionalisiert worden.1 Über die gleichzeitige Ausweitung des Umfangs des Wahlrechts bis hin zur Einführung des Frauenwahlrechts, das in den meisten europäischen Staaten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchgesetzt wurde, entwickelten sich Parlamente zu demjenigen Akteur, der über direkte demokratische Legitimität verfügte. Die Parlamentarisierung der Staaten wurde also begleitet von einer Demokratisierung des Parlamentarismus. Dieser Weg in den repräsentativen, demokratischen Verfassungsstaat mit starkem Parlament wurde lange für einen zumindest in allen westlichen Staaten erwartbaren, wenn nicht notwendig eintretenden Modernisierungsprozess gehalten. An dieser Modernisierungsgeschichte mögen heute insgesamt Zweifel angebracht sein, jedenfalls bleibt die Beobachtung, dass Deutschland lange Zeit einen Weg eingeschlagen hat, der von den institutionellen Vorbildern auf diesem Weg – Frankreich, Großbritannien und Schweden – abweicht. Der deutsche „Konstitutionalismus“ des 19. Jahrhunderts bestand im Gegensatz zu diesen Vorbildern in der Idee einer zweiten, neben dem Parlament stehenden © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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und von diesem weitgehend unabhängigen Legitimitätssäule. Auf dieser Säule stand der eigentliche Souverän, der Monarch, der in Hegels Worten „den Punkt auf das I setzt“.2 Die Regierung bekam in diesem System eine eigenartige und letztlich nie geklärte Mittelposition zwischen den beiden Legitimitätssäulen. Sie war einerseits dem Souverän gegenüber verantwortlich, sollte aber andererseits durch das Parlament kontrolliert werden. Wegen dieser Verantwortung der Regierung gegenüber dem Monarchen wurde der entscheidende Schritt hin zum parlamentarischen Regierungssystem nicht begangen, der nämlich darin besteht, die Regierung aus dem Parlament hervorgehen zu lassen, sei es – wie im Verständnis des revolutionären Frankreichs – unter Ausschluss einer gemeinsamen Mitgliedschaft in Parlament und Regierung, sei es – wie in der englischen Tradition – mit dem Verständnis, dass eben diese doppelte Mitgliedschaft erwünscht ist. Gegenüber diesen Vorbildern hatte der Deutsche Reichstag im Kaiserreich also entscheidend weniger Kompetenzen. Zwar gab es Ereignisse, anhand derer das Kräfteverhältnis zwischen den politischen Gewalten für neue Interpretationen und Konstellationen offen schien, die Hoffnung auf einen „stillen Wandel zum Parlamentarismus“ war aber verfehlt, denn anders als in anderen Staaten wie England und Frankreich folgte in Deutschland keine Institutionalisierung der parlamentarischen Emanzipation, so dass die Superstruktur des Konstitutionalismus, die zwei Legitimitätssäulen, dominant blieb. Der Begriff des parlamentarischen Systems ist im engeren Sinne also bezogen auf Systeme, in denen die Regierung aus dem Parlament hervorgeht. Im herrschenden deutschen Verständnis des späten 19. Jahrhunderts – und mit Nachwirkungen bis heute – kommt dem Parlament aber eine andere Hauptfunktion zu als in den parlamentarischen Systemen mit sich emanzipierenden Parlamenten. Nicht Kontrolle der Regierung, Mitwirkung bei der Gesetzgebung, Diskussion und Abwägung konkurrierender Positionen und Repräsentation der Bevölkerung waren die eigentliche Funktion des Parlaments im Deutschen Kaiserreich, sondern die Integration der Bevölkerung und damit die Anbindung der Gesellschaft an den ihr gegenübertretenden Staat. Es ging nicht wie in England vor allem um den Ausgleich gesellschaftlicher Interessen durch Diskussion (Bentham, Mill) oder um das Finden und Formulieren eines Gemeinwillens wie in Frankreich (Sieyes), sondern um die Unterordnung gesellschaftlicher Differenzen unter die nationale, staatliche Einheit (Hegel und der Hegelianismus). Im weit verbreiteten Verständnis war das deutsche Parlament vor allem dazu da, die zunehmend pluralistische Gesellschaft zu integrieren und so eine Art von Scharnierfunktion zwischen der ungeordneten Gesellschaft und dem wohlgeordneten Staat einzunehmen. Keinesfalls war in diesem Bild vorgesehen, dass der Reichstag sich gegen die anderen Staatsgewalten emanzipiert. Die nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 in Deutschland verbliebenen Liberalen, die weiterhin das Ziel der Parlamentari© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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sierung Deutschlands verfolgten, waren gegen Ende des Jahrhunderts nur noch eine schwache Minderheit.
Die Vorgeschichte 2: Der Bau Der Bedarf für ein neues Reichstagsgebäude wurde schon 1871 gesehen, da das Provisorium der Königlichen Porzellanmanufaktur schlichtweg zu klein war, um dem Reichstag und den Journalisten ausreichend Arbeitsmöglichkeiten bereitzustellen. Dennoch sollte das Parlament 23 Jahre in diesem „Provisorium“ tagen.3 Ein erster Architektenwettbewerb wurde schon 1872 ausgeschrieben, aus dem Ludwig Bohnstedt mit einem neogotischen Entwurf als Sieger hervorging. Auf Grund von Kompetenzstreitigkeiten wurde der prämierte Beitrag allerdings nie verwirklicht. Als großes Hindernis eines schnellen Baubeginns erwiesen sich zusätzlich die Schwierigkeiten, einen geeigneten Bauplatz zu finden. Der favorisierte Ort war der ehemalige Exerzierplatz neben der Siegessäule – also das Gelände, auf dem dann tatsächlich der Reichstag gebaut wurde. Graf Raczynski, dem das Grundstück gehörte, war bei der Planung zunächst jedoch schlichtweg übergangen worden und später ein zäher Verhandlungspartner, und erst im Dezember 1881 kam es zur Einigung zwischen dem Grafen und dem Reichstag, so dass 1882 ein zweiter Wettbewerb um den Bau eines Parlamentsgebäudes stattfinden konnte. Diesen gewann der Architekt Paul Wallot, und nach einer weiteren Phase von Änderungen im Plan auf Grund von Einwänden sowohl der Akademie des Bauwesens als auch von Kaiser Wilhelm I. konnte am 9. Juni 1884 endlich der Grundstein für den Reichstag gelegt werden. Die Einheitseuphorie von 1871 war allerdings längst verflogen, und die frühe Phase eines Staates, in dem die Kräfteverhältnisse innerhalb einer Verfassung austariert werden können, war zu Ungunsten des Parlaments ausgegangen. In der dritten französischen Republik, die ebenfalls seit 1871 bestand, hatte sich das Parlament noch bis 1875 im Machtkampf mit dem Präsidenten zum stärksten politischen Akteur entwickelt und damit die politischen Rahmenbedingungen für die weitere Zeit der dritten Republik maßgeblich geprägt. In Deutschland hatten sich viele bei der Reichsgründung – als das Institutionengefüge noch „weich“ und formbar war – Ähnliches erhofft. Als der Grundstein für das Reichstagsgebäude gelegt wurde, waren diese Hoffnungen längst Vergangenheit. Bismarck hatte es zu gut verstanden, den Reichstag klein zu halten,4 und das ganze Procedere von der Initiierung bis hin zur Grundsteinlegung war ein Symbol für die verächtliche Haltung gegenüber dem Parlament und dafür, wie weit Deutschland tatsächlich von der westlichen Demokratieentwicklung entfernt war. Michael S. Cullen fragt hinsichtlich der Kompetenzen und Entscheidungswege während der Phase vor Beginn des Baus zu Recht: „Kann man sich eine parlamentarische Demokratie vorstellen, in der der Premier und das Staatsoberhaupt es wagen, die Geschäfte © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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des Parlaments unter sich zu regeln, ohne überhaupt den Parlamentspräsidenten zu konsultieren? Im 2. Deutschen Reich des Jahres 1884 war das nicht nur Usus, es kam auch keinem – nicht einmal dem Parlament – in den Sinn, dieses Verfahren in Frage zu stellen. Wie ein roter Faden zog sich die bewusste Verhöhnung des Reichstags und der Volkssouveränität durch die gesamte Baugeschichte des Gebäudes, ohne dass das Parlament tatsächlich berechtigte Kritik äußerte.“5
Endlich: Die Inschrift An der Inschrift am Portal des Reichstags „ Dem deutschen Volke“ und an der Debatte um ihre Installierung kann man die Geringschätzung des Parlaments erkennen. Der Vorschlag zur Inschrift stammt von Paul Wallot, dem Architekten des Reichstags. Wilhelm II. hatte sich für den Text „Der deutschen Einigkeit“ ausgesprochen und damit deutlich gemacht, dass für ihn die Funktion des Parlaments das Finden gemeinsamer Positionen sei und nicht etwa die kritische Kontrolle der Regierung durch das Formulieren von Gegenpositionen.6 Dieses Verständnis von Parlamentarismus, nach dem die Auseinandersetzung als notwendiges Übel akzeptiert, das Finden gemeinsamer Positionen oder zumindest von Positionen, die von sehr großen Mehrheiten getragen werden, hingegen als das eigentliche Ziel angesehen werden, ist konstitutiv geblieben für die Erwartungen, die bis heute von weiten Teilen der Bevölkerung an das Parlament und die Parteien gerichtet werden.
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Der Reichstag wehrte sich allerdings erfolgreich gegen den Vorschlag des Kaisers, und so blieb die dreieckige Fläche zunächst leer und damit ein Symbol für die Deutungsoffenheit des deutschen Parlamentarismus. Im Ersten Weltkrieg dann, als Wilhelm II. im Gegenzug für die Gewährung der wichtigen Kriegskredite dem Parlament Zugeständnisse machen musste, setzte sich das Parlament mit der Formulierung „Dem deutschen Volke“ durch. Es war allerdings, wie auch die Bewilligung der Kriegskredite zeigt, in seinem Selbstverständnis so sehr eine der nationalen Sache verpflichtete Institution, dass das Material für die Buchstaben der Inschrift nicht etwa beispielsweise aus der Paulskirche entnommen wurde, um explizit an die parlamentarische Tradition anzuknüpfen, sondern aus während der Kriege gegen Napoleon erbeuteten französischen Kanonen. Man sah es als eine besondere Wertschätzung des Parlaments an, dass der Reichstag es erreichte, dass Wilhelm zwei Kanonen – statt der von ihm vorgesehenen einen Kanone – investierte. Die Tatsache aber, dass die Formulierung „Dem deutschen Volke“ die proparlamentarische Version innerhalb der Auseinandersetzung über die Inschrift war, zeigt auch, wie verschoben der Diskurs in Deutschland insgesamt war. Im westlichen Demokratieverständnis repräsentiert sich die Bevölkerung in ihrem Parlament selbst, so dass eigentlich die Aufschrift „Das deutsche Volk“ oder „Vom deutschen Volk“ zu erwarten wäre. In Deutschland gab es jedoch die Tradition der „von oben“ eingesetzten Institutionen im Gegensatz zu den „von unten“ revolutionär erworbenen, und folgerichtig wurde auch der Reichstag von den Kaisertreuen stets als ein gewährtes Zugeständnis verstanden, das „dem deutschen Volke“ geschenkt wird. Die Sichtweise, dass das Parlament ein Instrument der Integration sei, war weit verbreitet und ging weit über die kaisertreuen Gruppen vor dem Weltkrieg und die rechtshegelianischen Kreise der Weimarer Republik hinaus, die gegen das Parlament einwandten, dass es das Einfallstor der chaotischen Gesellschaft in die wohlgeordnete Sphäre des Staates sei. Die Position fand sich ebenfalls etwa beim liberalen Hans Kelsen, der von der „Fiktion der Repräsentation“ sprach, dem irrigen Glauben an eine wirkliche Repräsentation der Bevölkerung durch das Parlament, der allerdings trotz der falschen Grundannahme eine wichtige gesellschaftliche Funktion zukomme: „Sie [die Fiktion, A. W.] hat die unter dem gewaltigen Druck der demokratischen Idee stehende politische Bewegung des 19. und 20. Jahrhunderts auf einer vernünftigen mittleren Linie gehalten. Indem sie glauben machte, dass die große Masse des Volkes sich in dem gewählten Parlamente politisch selbst bestimme, hat sie eine exzessive Überspannung der demokratischen Idee in der politischen Wirklichkeit verhindert; eine Überspannung, die nicht ohne Gefahr für den sozialen Fortschritt, weil notwendig mit einer unnatürlichen Primitivierung der politischen Technik verbunden gewesen wäre.“7 Danach „ist das Wesen des Parlamentarismus [...] auch ohne Zuhilfenahme der Repräsentationsfiktion zu © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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bestimmen und sein Wert als spezifisches, sozialtechnisches Mittel zur Erzeugung der staatlichen Ordnung zu rechtfertigen“.8 Auf gewisse Weise wird diese Vernachlässigung der Forderung nach echter Repräsentation auch an der Geschichte der jüdischen Familie Loevy deutlich, die über Generationen erfahrene und erfolgreiche Bronzegießer in Berlin hervorgebracht hatte. Zur selben Zeit, als Kaiser Wilhelm II. minutiös den Anteil jüdischer deutscher Soldaten an der Front ermitteln ließ, weil das Vorurteil, die Juden würden sich dem Dienst am Vaterland entziehen, immer lauter geäußert wurde, bekam die Familie Loevy ganz selbstverständlich den Auftrag, die Bronzelettern für die Inschrift herzustellen. Im Dritten Reich emigrierten Teile der Familie, und diejenigen, die es nicht schafften, wurden in Konzentrationslagern umgebracht. Lange Zeit war dieser Hintergrund der Inschrift in Deutschland in Vergessenheit geraten, bis der Historiker Armin Steuer Forschungen anstellte, die zu einer Sonderausstellung über die Familie Loevy im Jüdischen Museum und schließlich auch zur Installierung einer Gedenktafel im Reichstagsgebäude im Jahr 2001 führten. Der Text auf der Tafel lautet: „Die Inschrift über dem Westportal des Reichstagsgebäudes ‚Dem Deutschen Volke‘ wurde Ende 1916 von der Berliner Bronzegießerei Albert und Siegfried Loevy (18561925, 1859-1936) angebracht. Deren Familien wurden – weil sie Juden waren – Opfer des Nationalsozialismus. Sie wurden verfolgt, enteignet und in Plötzensee, Theresienstadt und Auschwitz ermordet.“
Die Sitzordnung Weitere Entwicklung: Weimar Gebaut 1894 als Parlamentsgebäude in einem Staat, der im verbreiteten Verständnis auch ohne dieses Parlament vollständig und wohlgeordnet hätte sein können, entwickelt sich das Reichstagsgebäude, nicht aber die Institution, im Verlauf der wechselhaften Geschichte zu einem Ort, der als pars pro toto für die Nation begriffen wird. Mit zentralen Ereignissen verbindet sich das, was Michael Diers Schlagbilder nennt: Einzelne Bilder, die für uns exemplarisch für Bedeutungen in großen Zusammenhängen stehen.9 Ein solches Bild ist etwa die Proklamation der Republik durch den Fraktionsvorsitzenden der SPD, Philipp Scheidemann, am 9. November 1918, der auf einem Seitenbalkon des Reichstags steht.10 Nicht zu unterschätzen ist hier, dass zum einzigen Mal in der Geschichte des Reichstagsgebäudes dieses als Ort staatlicher Veränderung verstanden wird. Seit seinem Bau bis heute ist der Reichstag sonst eher ein Gebäude, in dem die staatliche Ordnung, die an anderen Orten festgelegt wurde, dann ausgeführt wird. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Am 27. Februar 1933 brennt der Reichstag. Dieser Anschlag funktionierte sofort als das öffentliche Schlagbild, für das die Nazis ihn instrumentalisieren wollten: Hiermit konnte öffentlich Unterstützung für die antiparlamentarische Politik der Folgezeit eingeworben werden.11 Das „Ermächtigungsgesetz“, mit dem die staatliche Ordnung dauerhaft umprogrammiert wurde, gab man als Reaktion auf diesen Reichstagsbrand aus. Ort dieses Beschlusses war das zum Parlament umfunktionierte Gebäude der Krolloper, die in unmittelbarer Nähe im Reichstag stand, in dem noch die Fraktionen in ihren Fraktionssälen über das Gesetz debattierten. Die Krolloper war auch das Gebäude, in dem die Nationalsozialisten ihre pseudoparlamentarischen Inszenierungen aufführten, während der Reichstag ohne Funktion leerstand. Im Leerstehen drückte sich symbolisch das Desinteresse der Nazis an parlamentarischer Politik, die darüber hinausgeht, der Exekutive eine Präsentationsbühne für ihre Politik zu bieten, aus. Umso erstaunlicher angesichts der objektiven politischen Bedeutungslosigkeit des Reichstags ist es, dass die Rote Armee bei der Befreiung Berlins im Frühling 1945 diesen Reichstag als symbolisches Zentrum des Deutschen Reichs verstand und mit der inszenierten Installation der roten Fahne ein weiteres Schlagbild entstehen ließ. Noch heute kann man bei einer Führung durch das Reichstagsgebäude im hinteren Bereich die Graffitis sehen, mit denen sowjetische Soldaten sich bei der Befreiung Berlins im Reichstag verewigten.
Parlamentarismus, Präsidentialismus und Semipräsidentialismus Neben dem echten parlamentarischen Regierungssystem gibt es auch einen anderen Typ eines repräsentativen Verfassungsstaats mit starkem Parlament, in dem es ebenfalls eine zweite Legitimitätssäule gibt, nämlich das präsidentielle System, wie es etwa in den USA existiert. Dort ist der über Wahlmänner vom Volk gewählte Präsident Chef einer Regierung, die er selbst einsetzt. Das ebenfalls vom Volk gewählte Parlament ist aber durch den hohen Verflechtungsgrad der Gewalten und die starken Kontrollmöglichkeiten sehr stark. War das politische System des Kaiserreichs gewissermaßen eine undemokratische und monarchistische Variante des präsidentiellen Systems, kam es am Ende des Ersten Weltkriegs zum ersten Mal zu einer Durchsetzung des parlamentarischen Prinzips in Deutschlands: Es kommt zur Parlamentarisierung der Regierung, weniger auf Grund eines erfolgreichen Prozesses der Kompetenzausweitung des Parlaments als vielmehr angesichts der kommenden militärischen Niederlage. So konnte man vorauseilend der Forderung des US-amerikanischen Präsidenten Wilson „to make the world safe for Democracy“ entgegenkommen und außerdem die Verantwortung der Niederlage auch dem ungeliebten Parlament zuschreiben.12 Parlament und Kaiser beschließen die lange geforderte Verfassungsreform, die den Reichskanzler von der Parlamentsmehrheit abhängig macht. Damit ist Deutschland © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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im Parlamentarismus westlicher Prägung angekommen – und verlässt diesen Weg zwei Wochen später bereits wieder. Die Revolution in Deutschland mündet nach dem Krieg in der Weimarer Reichsverfassung, mit der Deutschland ein zwischen dem präsidentiellen und dem parlamentarischen System liegendes „semi-präsidentiell“ genanntes System annimmt. Die Schwäche des Systems wurde später darin gesehen, dass es die inkonsistente und vor allem instabile Stellung der Regierung zwischen Parlament und Staatsoberhaupt aus der Kaiserzeit wiederholt und durch die neue, dem eigentlichen Parlamentarismus entlehnte Abhängigkeit der Regierung vom Parlament bei gleichzeitigen, an „Notfälle“ gebundenen Sonderkompetenzen des Präsidenten gegenüber dem Parlament sogar noch zuspitzt. Als der westliche Teil Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg sich institutionell endlich im Westen angekommen weiß, ist man auch bedacht darauf, aus den beobachteten Fehlern der Weimarer Republik zu lernen und sie möglichst zu vermeiden. Deswegen ist es zu einem Dogma konservativer Autoren der Parlamentarismustheorie geworden, dass ein System entweder rein parlamentarisch oder – wie in den USA – rein präsidentiell zu sein habe und alle „hybriden“ Mischungen wie eben der Weimarer Semipräsidentialismus von Übel seien.13 Heute ist man sich in dieser Hinsicht nicht mehr sicher, da erstens etwa ein rein parlamentarisches System wie Italien stets erheblichen Stabilitätsproblemen ausgesetzt war und zweitens die französische V. Republik sogar in den die vermeintliche Unlogik des Semipräsidentialismus deutlich machenden Zeiten der Cohabitation mit Erfolg funktioniert und außerdem genau dieses französische System und nicht etwa das englische für die meisten postkommunistischen Staaten Osteuropas zum Vorbild wurde. Andere Autoren wie Herfried Münkler bestreiten generell, dass die Weimarer Republik durch die problematischen Dispositionen des politischen Systems gewissermaßen von Anfang an auf ein falsches Gleis gesetzt und somit zum „Scheitern“ verurteilt war. Vielmehr sei die Weimarer Republik von handelnden Akteuren zerstört worden.14 Nichtsdestotrotz entsprach die Abkehr vom an den deutschen Konstitutionalismus erinnernden Semipräsidentialismus der Sehnsucht der verbliebenen deutschen Demokraten nach und den Vorstellungen der Westalliierten von einem „normalen“ westlichen parlamentarischen System.
Architektonische und symbolische Ruine: Die offene Frage der Nutzung des Gebäudes nach dem Krieg – Kalter Krieg und die Teilung Seit 1933 hatte das Reichstagsgebäude nichts mehr mit der Weiterentwicklung des deutschen Parlamentarismus zu tun, nicht einmal mit den Akklamationsinszenierungen in der Krolloper unter den Nationalsozialisten und schon gar nicht © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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mit der nach 1945 einsetzenden Parlamentarisierung und Verwestlichung des politischen Systems in Westdeutschland. Für die so frei gewordene Symbolfläche beginnt eine deutungs- und funktionsoffene Zeit, in der sogar Abrisspläne für die Ruine entstehen. Am 9. September 1948 findet vor dem Reichstag eine Kundgebung anlässlich der Berlinblockade statt. Ernst Reuter fordert: „Ihr Völker der Welt, [...] schaut auf diese Stadt“ – und damit gewinnt der Platz vor dem Reichstag eine neue symbolische Bedeutung für den beginnenden Kalten Krieg. Spätestens jetzt symbolisiert der Reichstag nicht mehr das parlamentarische Prinzip innerhalb eines politischen Systems, das in Konkurrenz zu anderen Ordnungen steht, die eher die Exekutive oder den Kaiser mit Machtbefugnissen ausstatten, sondern er steht insgesamt für die Einheit der Nation und einen Staat westlicher Prägung im Gegensatz zum sozialistischen Staatsverständnis. Dass der Reichstag ein Parlamentsgebäude war, wurde dabei in den Hintergrund gedrängt. Die Geschichte der Schlagbilder zeigt deutlich, dass der Reichstag im kollektiven Bewusstsein von der Grundsteinlegung über die Inschrift bis zur Rede Ernst Reuters aus dem parlamentarischern Zusammenhang im engeren Sinne herausgetreten und zu einem allgemeinen Symbol der Nation und der Forderung nach Einheit geworden ist. In der einsetzenden Debatte über die künftige Nutzung des Gebäudes sprachen sich der CDU-Politiker und spätere Bundesminister für gesamtdeutsche und Berliner Fragen Jacob Kaiser wie auch Willy Brandt bereits sehr früh für einen Wiederaufbau des Reichstags aus, bald darauf folgte Theodor Heuss. Klar war dabei, dass der Reichstag nicht als Parlament wieder benutzt werden konnte. An die parlamentarische Tradition wurde inzwischen andernorts in den Ländern, in Bonn und symbolisch in Frankfurt angeknüpft. Der Reichstag wurde zum Symbol nationaler Einheit umkonnotiert. Der Gesamtdeutsche Block/Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten (GB/BHE), eine nationalistische Fraktion, die Mitglied der Regierungskoalition der zweiten Wahlperiode aus CDU/CSU, FDP, DP und eben GB/BHE war, stellte den Antrag, einen Spendenaufruf für den Wiederaufbau des Reichstagsgebäudes zu formulieren. Dies sei ein Symbol der Ernsthaftigkeit der Vereinigungsbemühungen deutscher Politik. In dieser Zeit und in der Folge steht der Reichstag nicht mehr für die Idee des Parlamentarismus. 1971, nach einem Viermächteabkommen der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, in dem die Gebäudenutzung thematisiert wird, beginnt jedoch eine Zeit, in der parallel sowohl an parlamentarische Traditionen des Gebäudes angeknüpft wird, als auch die Symbolik der deutschen Einheit verstärkt wird. So tagten ab dieser Zeit regelmäßig die Fraktionen des Bundestags, Ausschüsse und Fraktionen von Landtagen und Kommunalparlamenten sowie Gremien internationaler Organisationen im Reichstag. Zeitgleich, am 21. März 1971 wird © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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die Ausstellung „Fragen an die deutsche Geschichte“ im Reichstag eröffnet und dieser damit zu einem Ort nationaler Geschichtsschreibung gemacht. Am 20. Juli 1974 wird der 30. Jahrestag des Attentats auf Adolf Hitler feierlich begangen. Damit beginnt eine Reihe von Feier- und Gedenkveranstaltungen im Reichstag, von denen einige im Zusammenhang der Entwicklung des Parlamentarismus stehen – wie die Feier zum 100. Geburtstag des langjährigen Reichstagspräsidenten in der Weimarer Republik, Paul Löbe, im Jahre 1979 –, während andere die jüngere politische Geschichte Deutschlands insgesamt betreffen (etwa der 100. Jahrestag der Einführung der Sozialversicherung). Ebenfalls im Anschluss an das Viermächteabkommen wird die Idee der Reichstagsverhüllung entwickelt, deren Verwirklichung gewissermaßen einen symbolischen Übergang ausmacht: Die Zeit der inszenierten Symbolisierungen, die den Reichstag in außerparlamentarische Zusammenhänge wie den Kalten Krieg oder die nationale Einheit stellen, ist vorbei und der Reichstag als Tagungsort des Deutschen Bundestags ist wieder zum Parlamentsgebäude geworden. Hier jedoch zeigt sich, dass die symbolische Aufladung des Gebäudes kaum weniger komplex und entsprechend schwierig zu verstehen ist, da die Entwicklung des deutschen Parlamentarismus eine heterogene und keineswegs zielgerichtete, vielmehr an vielen Stellen richtungsoffene Entwicklung war. Das Spektrum der Entwicklung und der anderen, nicht verwirklichten, aber dennoch in der Form von unterlegenen Positionen realen Möglichkeiten, lässt sich am Gebäude besonders gut ablesen.
Die Sitzordnung im Bundestag: „englische Realität“, „französische Symbolisierung“? Heute kann man im Bundestag sehen, welches Parlamentsverständnis sich in der Bundesrepublik ausgeprägt hat. Diese Prägung ist in Bonn entstanden, während der Berliner Reichstag zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem Umzug des Parlaments nach Berlin nicht mehr für den deutschen Parlamentarismus stand. Woran kann man dieses Verständnis nun sehen und worin besteht es eigentlich? Im Verhältnis sowohl zu den deutschen Parlamenten vor dem Deutschen Bundestag als auch zu anderen Parlamenten – etwa dem britischen und dem französischen – fällt die Nüchternheit des Stils auf, die den Innenraum prägt. Paradoxerweise kann man das neue Parlamentsverständnis aber nicht an der Sitzordnung ablesen, denn in ihr zeigt sich eher eine symbolische Kontinuität deutscher Parlamentskultur. Die Sitzordnung entspricht nämlich nicht der Funktion, die der Deutsche Bundestag heute ausfüllt, sondern sie ist eine Übernahme aus den Zeiten vor dem parlamentarischen System, also dem Kaiserreich und der Weimarer Republik, in denen diese Sitzordnung sehr wohl stimmig war. Die © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Stimmigkeit einer Sitzordnung hängt mit der Frage zusammen, welche Funktion die Mehrheit in einem Parlament hat. Im französischen Verständnis, das in diesem Punkt das Leitbild für den deutschen Parlamentarismus wurde, ist das Parlament ein Akteur, in dem Gruppen- und Einzelinteressen keine Rolle spielen sollen, sondern der eine für alle, die wohlwollend mitdiskutieren, teilbare Position in politischen Fragen bezieht und die Regierung mit der Ausführung dieser Position beauftragt. Daraufhin kontrolliert das Parlament als Ganzes die Ausführung der Regierung. Die französische Sitzordnung im Parlament, der hémicycle, ist Ausdruck dieses Verständnisses: Das Parlament sitzt halbkreisförmig zusammen und ihm gegenüber steht der jeweilige Redner. Es wird so als ein ungeteilter Akteur sichtbar. In der französischen Entwicklung entspricht diese Symbolisierung heute wieder dann der Realität, wenn in einer Cohabitation Parlamentsmehrheit und Präsident aus verschiedenen politischen Lagern kommen. Im englischen Verständnis stützt die Mehrheit des Parlaments die aus ihr hervorgegangene Regierung, d.h. sie verschafft den von der Regierung ausgehenden Initiativen eine Parlamentsmehrheit, während es die Aufgabe der Minderheit, der Opposition, ist, das Regierungslager zu kontrollieren und es zu öffentlichen Begründungen ihrer Politik im Parlament zu zwingen. Entsprechend ist die Sitzordnung: Zwei Gruppen sitzen sich gegenüber, und der Redner spricht nicht von einem dem Plenum gegenüber gestellten Platz, sondern aus seinen Reihen heraus. Es ist nun ein Charakteristikum des deutschen Parlamentarismus in der Bundesrepublik geworden, dass er seine ideelle Legitimation „französisch“ gewinnt, während er eigentlich „englisch“ funktioniert. Das führt immer wieder zu Missverständnissen über die Funktion des Parlaments. Auch die Sitzordnung des Bundestages ist eigentlich „falsch“, da tatsächlich nicht das Parlament als Ganzes die Regierung kontrolliert, was aber durch den französischen Halbkreis oder den Bonner Dreiviertelkreis suggeriert wurde und wird. Im Kaiserreich war diese Sitzordnung für ein System, in dem die Regierung dem Parlament gegenübersteht angemessen, und auch in Weimar war sie, ähnlich wie heute in Frankreich, noch stimmig; im Parlament der Bundesrepublik ist sie es nicht mehr. In den 1950er Jahren gab es auch Vorstöße, die Sitzordnung im Bundestag der „englischen“ Realität im Parlament anzupassen (Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier hatte sich dafür ausgesprochen), die aber nicht verwirklicht wurden.
Die Kuppel: Endlich angekommen in der Normalität? Transparenz oder Symbol für Transparenz? Die Verhüllung: Das Übergangsritual in die Epoche der „Normalität“? Vom 24. Juni bis zum 6. Juli 1995 bot der Reichstag in Berlin einen Anblick, den sich etwa fünf Millionen Zuschauer nicht entgehen lassen wollten: Das bulgarisch© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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französische Künstlerpaar Christo und Jeanne-Claude hatten ihn verhüllt und somit das erste für diese Funktion in Deutschland gebaute nationale Parlamentsgebäude in ein Kunstwerk verwandelt. Die Pläne für diese Aktion gingen bis ins Jahr 1971 zurück, als eine Debatte über die künftige Zweckbestimmung des ungenutzten Gebäudes geführt wurde und der in Berlin lebende US-amerikanische Gallerist und Journalist Michael S. Cullen sich mit der Verhüllungsidee an das Künstlerpaar wandte. In den folgenden Jahrzehnten wurde im Bundestag darüber debattiert, ob eine Verhüllung der symbolischen Bedeutung des Reichstags eher zu- oder abträglich ist. Die Bundestagspräsidenten, die seit 1976 von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gestellt wurden, waren mehrheitlich der Meinung, der Reichstag als „Symbol für die fortbestehende Einheit der Nation“ dürfe nicht verhüllt werden. In der SPD wurde eine Verhüllung als „positive Provokation“ gewertet. Mit Rita Süssmuth wurde 1988 eine Befürworterin der Aktion Bundestagspräsidentin, und mit dem Mauerfall und der deutschen Vereinigung änderte sich plötzlich die Möglichkeit, den Reichstag zu nutzen. Als der Bundestag 1991 beschloss, dass Bundesregierung und Parlament nach Berlin umziehen werden, fanden die Verhüllungspläne die nötige Mehrheit. Man erkannte die Chance der Zäsur durch eine Verhüllung: Nach ihr würde der Reichstag wieder offen für neue Symbolisierungen sein, und zum ersten Mal in der bewegten Geschichte des Reichstags könnten sie demokratisch und parlamentarisch sein. CDU-MdB Friedbert Pflüger formulierte es so: „Wir könnten den Reichstag verpacken und nach einiger Zeit der Debatte im In- und Ausland den Bundestag wieder auspacken.“15 Mit dem Umzug des bundesdeutschen Parlaments nach Berlin ist zwar der lange Weg in den westlichen Parlamentarismus vollendet, dabei dürfen allerdings einige Schwierigkeiten dieser Beschreibung einer vermeintlichen Normalisierung des deutschen Systems nicht übersehen werden: Das Gebäude des Reichstags steht in der deutschen Tradition nicht für den Parlamentarismus, sondern für den Konstitutionalismus mit seinem schwachen Parlament und für den Semipräsidentialismus mit seinen inneren Widersprüchen. Keineswegs also kann die Rede davon sein, dass das deutsche Parlament an seinen eigentlichen Platz zurückgekehrt sei. Vielmehr ist mit dem Einzug des Bundestages in den Reichstag die Aufforderung verbunden, dem Reichstag die in der Erinnerung dieses Gebäudes fremde parlamentarische Regierungsweise neu einzuschreiben. Die zweite Schwierigkeit ist gravierender und pointiert dadurch zu beschreiben, dass der Westen, in dem Deutschland angekommen ist, nicht mehr derselbe ist wie der, der während der bruchhaften Geschichte des deutschen Parlamentarismus vor der Bundesrepublik stets als mögliches Modell zur Nachahmung bereitstand. Was ist damit gemeint? Der Parlamentarismus hat während des 20. Jahrhunderts einige Wandlungen © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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durchgemacht, die nicht nur extern durch Revolutionen oder Systemwechsel induziert sind, sondern die auch in stabilen Systemen wie Großbritannien oder den USA und sogar relativ unabhängig davon, ob es sich um präsidentielle, semipräsidentielle oder parlamentarische Systeme handelt, zu beobachten sind. Es sind die jeweiligen großen gesellschaftlichen Verschiebungen und Veränderungen, die manchmal im Einzelnen unmerklich den Parlamentarismus entscheidend prägen, und man kann davon ausgehen, dass dieser evolutionäre Anpassungsprozess von Parlamenten an ihre sich verändernden gesellschaftliche Umgebungen auch für die Zukunft ein andauernder und offener Prozess ist. Exemplarisch sei dieser Zusammenhang an drei Punkten erläutert.
Massengesellschaft Die aufkommende Massengesellschaft der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat die Möglichkeiten von Beteiligung und Repräsentation so verändert, dass die Parlamente nicht mehr zu den Beschreibungen passten, die in bürgerlich-liberalen Ideen des frühen 19. Jahrhundert formuliert wurden. Carl Schmitt hat eben diese Abweichung dem in Weimar gegenwärtigen Parlamentarismus vorgeworfen. Die Anpassungsleistung des parlamentarischen Systems bestand in der Stärkung und Institutionalisierung von Parteien und deren Weiterentwicklung von Weltanschauungs- zu Volksparteien. Aus dem „alt-liberalen“ Individualparlamentarismus wurde der „Gruppenparlamentarismus“,16 in dessen Folge sich auch der Charakter der Plenumsdiskussion verschob: Im klassischen Modell werden Entscheidungen in und auf Grund der öffentlichen Diskussion getroffen (Kreationstheorie), während im Gruppenparlamentarismus zumeist zuvor in den Ministerien, Fraktionen, Arbeitskreisen und Ausschüssen getroffene Entscheidungen im Plenum der Öffentlichkeit als mögliches Ergebnis einer Diskussion präsentiert werden (Legitimationstheorie). Bei einem Besuch des Reichstags in Berlin kann man dies sehen: Während sich die Abgeordneten der revolutionäre Assemblée Nationale in Frankreich in Pariser Clubs trafen und die Abgeordneten des Paulskirchenparlaments in Frankfurter Lokalen, stehen den Fraktionen heute extra für sie reservierte Räume im Parlamentsgebäude zur Verfügung. Erhöhte Komplexität Der zweite Punkt betrifft die Komplexitätssteigerung der Politik. Obwohl Politik zu allen Zeiten ein schwieriges Geschäft war und deswegen die Vorstellung, im 20. Jahrhundert sei hier ein signifikanter Anstieg der Komplexität zu beobachten, als pathetische Selbstüberschätzung der Moderne abgetan werden mag, so ist doch allein zahlenmäßig zu sehen, dass Parlamente heute in mehr gesellschaftlichen Bereichen politische Entscheidungen treffen. Sie produzieren darüber hinaus in den einzelnen Bereichen wesentlich mehr Entscheidungen, und schließlich erfordern © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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viele Gesetze heute wesentlich mehr Vorbereitung und Kommunikation mit sich beteiligenden Gruppen. Der Bundestag hat im Zeitraum von 1949 bis 1994 insgesamt 7486 eingebrachte Gesetzentwürfe bearbeitet und 4896 Gesetze verabschiedet.17 Mit vergleichbaren Zahlen wäre jedes Parlament des 19. Jahrhunderts weit überfordert gewesen, zumal wenn es sich gemäß der Unterscheidung von Max Weber um ein redendes Parlament im Unterschied zu einem arbeitenden handelte. Auf die steigenden Anforderungen hat der Parlamentarismus auf zweierlei Weise reagiert: Zum einen lässt sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Umkehr der vorherigen Entwicklung eine Stärkung der Position der Exekutiven in den politischen Systemen beobachten, prominent im „parlementarisme rationalisé“ der französischen Republik seit 1958, aber auch im deutschen und englischen Fall durch die starke Stellung der Kabinette. Zum anderen gibt es die lange Geschichte der Professionalisierung des Parlamentarismus, die bereits Max Weber ausführlich in seiner Rede18 Politik als Beruf beschrieb und die sich wiederum in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch erheblich verstärkte. Deutlich wird diese Tendenz wiederum anhand von Zahlen: Zwischen 1949 und 1994 stieg die Zahl der Abgeordneten im Bundestag von 410 auf 672. Die Zahl der im Bundeshaus in Bonn insgesamt tätigen Menschen – Abgeordnete, Fraktionsangestellte, Abgeordnetenmitarbeiter und Bedienstete der Bundestagsverwaltung – stieg im gleichen Zeitraum von ca. 896 auf 5214. Entsprechend ist der Raumbedarf moderner Parlamente erheblich viel größer als der eines Parlaments im 19. Jahrhundert. In Frankreich und Deutschland wurden in den 1960er und 70er Jahren Gebäude hinzugebaut oder angekauft, in denen die nicht-sichtbare parlamentarische Arbeit stattfindet. Denn dies ist die Konsequenz aus der Professionalisierung: Weber hatte dem Parlament angesichts der durch Professionalisierung und Bürokratisierung intransparent gewordenen staatlichen Verwaltung die Aufgabe zugedacht, stellvertretend für die Bevölkerung die Verwaltung zu beobachten und sie somit – mittelbar – transparent zu machen. Hier setzt allerdings eine Dialektik von Professionalisierung und Kontrolle ein: Um die ihm gestellte Aufgabe gut zu erfüllen, muss das Parlament selbst professionell werden und wird dadurch selbst intransparent. So schwankte das Verhältnis zwischen öffentlichen und nicht öffentlichen Sitzungen des Parlaments (gemeint sind natürlich nicht nur die öffentlichen Plenumssitzungen, sondern die der Ausschüsse, Fraktionen etc.) von 1949 bis 1994 zwischen 1:4,7 und 1:23,5.19 In der Vorstellung der meisten Beobachter wird verständlicherweise der sichtbare Teil des Parlaments mit diesem nahezu gleichgesetzt, so dass man ja auch vom Reichstag als dem Parlamentsgebäude spricht, wobei man eben vernachlässigt, dass der Berliner Reichstag von zahlreichen Gebäuden umgeben ist, in denen der Bundestag ebenfalls arbeitet. Wenn man die gläserne Kuppel des Reichstags besteigt, © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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von wo, wie Wolfgang Thierse immer wieder sagt, man den Abgeordneten bei der Arbeit auf den Kopf schauen kann, darf man also nicht vergessen, dass es sich bei der gläsernen Architektur um ein Symbol von Transparenz handelt, keineswegs aber um ein Mittel der Transparenz, denn angesichts der weit verzweigten und kaum überschaubaren Tätigkeiten wäre eine Beobachtung des Plenums in Form der Präsenzöffentlichkeit auch ein sehr hilfloses Mittel. Ein Rundgang zu den übrigen Gebäuden des Parlaments vermittelt bildlich die Größe dieser Institution, zugleich sieht man (in die meisten Gebäude kann man nicht ohne Weiteres hineingehen), dass man so Vieles (was in diesen Gebäuden passiert) nicht sehen kann.
Mediengesellschaft Das eben Dargestellte führt direkt zum letzten Beispiel einer gesellschaftlichen Veränderung, die eine Anpassung des Parlamentarismus erfordert hat und noch erfordert, nämlich die Veränderung der Kommunikationsverhältnisse vor allem durch die Massenmedien. Insbesondere durch die Präsenz der Fernsehkameras hat man sich mehr Transparenz versprochen. Gleichzeitig und aus der Perspektive der Parlamente hat man das Fernsehen aber immer auch als ein Mittel der Selbstdarstellung zu nutzen versucht. Viele Parlamente wie auch der Bundestag in den späten 50er Jahren haben gegenüber den Bildmedien eine zeitlang Rückzugsgefechte geführt und sie abgewehrt, weil sie einerseits eine Störung der Arbeitsabläufe befürchteten und andererseits – und dies war wohl das stärkere Motiv – um das Ansehen des Parlaments in der Öffentlichkeit fürchteten. Gleichzeitig war man sich aber klar darüber, dass es in der aufkommenden Fernsehgesellschaft nötig war, in diesem Medium präsent zu sein. Als die Fernsehlandschaften der westlichen Staaten (mit Ausnahme der USA) noch weitgehend staatlich oder „öffentlich-rechtlich“ organisiert waren, konnten die Parlamente versuchen, die Inszenierung ihres Images im Medium aktiv zu beeinflussen. Spätestens mit der Liberalisierung und Teilprivatisierung des Fernsehens, die in vielen Staaten in den 70er und 80er Jahren einsetzte, änderte sich die Lage: Das Medienangebot, das die Bürgerinnen und Bürger nutzen konnten, erweiterte sich erheblich, und das hieß auch, dass für eine Kommunikationsinstitution wie ein Parlament eine Konstellation entstand, in der es mit vielen anderen Kommunikationsanbietern konkurrieren muss. Immer mehr politische Magazine, politische Talkshows und Interviewsendungen wurden zu Bühnen, auf denen die Politiker ebenfalls Werbung für ihre Politik machen konnten, ein fortgesetzter Rückzug oder ein Beharren auf Kontrolle gegenüber dem Fernsehen schien also immer weniger angebracht. In Deutschland kam man dem Fernsehen vergleichsweise weit entgegen, indem man den akkreditierten Fernsehsendern auf der Zuschauertribüne des Plenarsaals einen weitgehend freien Bewegungsraum und eine eigene Regie überlässt. In © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Frankreich, Großbritannien und den USA hat das Parlament sich die Kontrolle über die Bilder gesichert, die es den Sendern übermittelt. Die letzte Entwicklung einer Anpassung an die Mediengesellschaft ist die Installation von Parlamentssendern, die beginnend mit den USA 1979 inzwischen in vielen Ländern existieren. Auch hier darf man nicht „einfach“ Transparenz erhoffen, sondern muss stets die Inszenierung und die jeweilige Deutung des Parlamentarismus, die mitgeliefert wird, im Auge behalten. Wenn man sich generell die Selbstinszenierung des Bundestages ansieht, dann kann man zugespitzt unterscheiden, dass sich der Bundestag in den 50er und 60er Jahren noch als Ort präsentierte, in dem über die Schicksalsfragen der Nation verhandelt wird, der in großen, ernsthaften Debatten die entscheidenden Weichen in einer Zeit großer Veränderungen legt. Heute zeigt sich das Parlament eher als nüchtern und kontinuierlich arbeitender Akteur, der beständig auch die kleinsten Fragen bearbeitet, um in hochkomplexen Zeiten die anfallenden Fragen abzuarbeiten. Um diesen Eindruck zu gewinnen, sehe man sich nur einmal auf Phoenix eine Spätsitzung des Plenums etwa über Verkehrsfragen an.
Transparenz? Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass die Art und Weise, in der nach dem Zweiten Weltkrieg Parlamente gebaut wurden, sich dadurch von der Zeit davor unterscheidet, dass die Transparenz Einzug in die architektonische Formensprache gefunden habe. Wie ist aber der Gehalt dieser Transparenz? In Deutschland ist Transparenz fast ausschließlich auf das Plenum der Parlamente bezogen. Im Grundgesetz heißt es in Artikel 42, Absatz 1: „Der Bundestag verhandelt öffentlich“, was auch in der Geschäftsordnung des Bundestages bestätigt wird (§ 19). Allerdings ist dieser Grundsatz so ausgelegt worden, dass „Bundestag“ hier nur Plenum bedeutet, so dass die Geschäftsordnung in § 69 (1) ausführt: „Die Beratungen der Ausschüsse sind grundsätzlich nicht öffentlich“ – es sei denn, die Öffentlichkeit wird beschlossen.20 Für die anderen Gremien im Parlament – die Arbeitskreise und die Fraktionssitzungen – gilt umso mehr das Prinzip der Nicht-Öffentlichkeit.21 Die drei Entwicklungen, die oben beschreiben wurden, haben zu einer wesentlichen Bedeutungsveränderung der Plenumsdebatte geführt, so dass festzuhalten ist, dass von Transparenz der Entscheidungsprozesse in dem Sinne, dass wir diese mitverfolgen könnten, nicht die Rede sein kann. Die Frage, die sich daran anschließt, ist, wie groß das Legitimitätsproblem ist, dass sich aus dieser Tatsache ergibt. Zwar sind vor allem diejenigen parlamentarischen Arenen öffentlich, die – wie die Plenumsdebatten22 – zeitlich der eigentlichen Entscheidungsfindung (in Ministerien außerhalb des Parlaments bzw. in den Fraktionen und Arbeitskreisen innerhalb des Parlaments) nachfolgen und deren institutionelle Funktion ohnehin © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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im Werben um die Akzeptanz von Entscheidungen besteht. Dennoch nehmen diese nachträglichen Plenumsdebatten die sprachliche Form echter Debatten an. Die Funktion dieser „Als-ob-Debatten“ besteht dann darin, uns zu zeigen, dass die zuvor getroffenen Entscheidungen auch das Ergebnis öffentlicher Debatten hätten sein können. Zugleich wissen diejenigen, die Entscheidungen treffen, dass sie sie anschließend in der öffentlichen Als-ob-Debatte begründen müssen. Nicht für alle geplanten Entscheidungen lassen sich aber Gründe, die in Debatten akzeptabel sind, finden, und genau diese werden durch das Verfahren des heutigen Parlamentarismus mit seinen nachträglichen, öffentlichen Als-ob-Debatten verhindert.
Hinweise zu didaktischen Ressourcen über den Bundestag Die paradoxe Entwicklung des deutschen Parlamentarismus hat zwar dazu geführt, dass dieser Parlamentarismus mit dem Reichstagsgebäude wieder einen spektakulären Ort gefunden hat. Inzwischen wird die Bedeutung solcher Orte jedoch dadurch konterkariert, dass moderne Parlamente eben Parlamente in den Medien sind und für die Öffentlichkeit dort ihren virtuellen Ort haben. Eine gute Weise, Verständnis dafür zu erhalten, wie Parlamentarismus an diesem Ort inszeniert wird, ist der Vergleich von Darstellungsweisen verschiedener Fernsehsender. Die großen Donnerstagsdebatten werden auf Phoenix, ARD oder ZDF, n-tv und N24 übertragen. Es fällt schnell auf, dass die Öffentlich-Rechtlichen (Phönix, ARD, ZDF) bestrebt sind, Nüchternheit zu transportieren: Die Kamera bleibt meistens beim Akteur, also beim Redenden oder beim reagierenden Plenum, es gibt selten und langsame Schwenks; der Ton ist ein den Redenden nicht zu sehr hervorhebender Raumklang. Bei den Privaten geht es reißerischer zu: Die Kamera ist näher auf den Redenden gezoomt, auch die Mikrofone sind weniger im Raum als beim Redenden, und es gibt mehr Schwenks auch „unabhängig“ vom Debattengeschehen. Ein zweiter Unterschied ist der Zeitpunkt, wann die Übertragung abgebrochen wird. Die Privaten unterbrechen die Übertragung der Debatte zumeist schon nach der ersten Runde der Hauptredner und zeigen Interviews mit Abgeordneten aus der Vorhalle des Plenarsaals. Phoenix bleibt am längsten bei den Debatten. Eine interessante Übung ist auch, sich bei der Übertragung der Hauptreden zu überlegen, welche zwei oder drei Sätze so prägnant formuliert sind, dass sie später in den Zusammenfassungen der Nachrichtensendungen auftauchen. Ein zweiter, sehr gut nutzbarer virtueller Ort des Bundestages ist das Internet. Auf der Seite www.bundestag.de kann man etwa in einem Archiv Videomitschnitte aller Debatten der letzten Jahre (seit dem 19. April 1999) ansehen. Auf der Seite: www.bundestag.de/bau_kunst/virtuelle_rundgaenge/index.html kann man schon einmal im Computer die wichtigsten Gebäude sehen, und auf www.bundestag.de/ © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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bau_kunst/berlin/kunst/b_reich3.html wird die Geschichte des Reichstagsgebäudes erläutert. Informationen zur Vorbereitung eines Besuchs erhält man sehr ausführlich auf www.bundestag.de/interakt/besuch/besInfo.html, ebenso wie Hinweise auf die Möglichkeit, Abgeordnete zu treffen oder etwa am Planspiel „Parlamentarische Demokratie spielerisch erfahren“ teilzunehmen. Für Jüngere gibt es hier wie auch auf der Seite des Bundesrats www.bundesrat. de ein Spiel, das Wissen über das Gesetzgebungsverfahren vermitteln soll, ebenso wie der Comic „Bat & Badger“. Bei einem Besuch des Reichstags gewinnt man viel Einsicht, wenn man zumindest die zugänglichen Ausschuss-, Fraktions- und Bibliotheksgebäude nördlich des Reichstags besucht. Außerdem gibt es im Deutschen Dom am Gendarmenmarkt die noch mehr auf die Entwicklung des Parlamentarismus zugespitzte Nachfolgeaustellung der „Fragen an die deutsche Geschichte“ mit dem Titel „Wege, Irrwege, Umwege – Die Entwicklung der parlamentarischen Demokratie in Deutschland“. Der Bundestag ist Mitglied der 1889 gegründeten International Parliamentary Union, auf deren Internetseite www.ipu.org man Links zu allen nationalen Parlamenten der 140 Mitgliedsstaaten findet und viele Vergleiche zwischen Parlamenten anstellen kann. Leider sind die Such- und Steuerungsoptionen sehr kompliziert und erfordern einige Einarbeitung (Vergleiche sind in der „parline“ database möglich). Trotzdem lohnt sich der Aufenthalt auf der Seite, man kann etwa ermitteln, in welchen Ländern der Anteil weiblicher Abgeordneter größer ist als in Deutschland. Mit Bezug auf die Geschichte des deutschen Parlamentarismus lässt sich auch an aktuelle Diskussionen anknüpfen, die in der Politikwissenschaft geführt werden. Oswald Spengler hatte wie auch andere Konservative den Parlamentarismus kritisiert, indem er meinte, dieser sei an kulturelle Besonderheiten Englands gebunden und könne nicht in einen kulturell so andersartigen Raum wie Deutschland übertragen werden. Diese Skepsis hat sich zwar als unbegründet und falsch erwiesen, dennoch bleibt allgemein die Frage, die Robert D. Putnam23 am Beispiel Italiens in Making Democracy Work behandelt hat, nämlich ob es kulturelle Voraussetzungen für Demokratie und Parlamentarismus geben kann, die in einem solchen System selbst nicht erzeugt werden können. Angesichts des gegenwärtigen Versuchs des Exports parlamentarischer und demokratischer Strukturen etwa nach Afghanistan oder in den Irak bleibt die Frage ungebrochen aktuell. Noch eine Wendung weiter geht der italienische Philosoph Giorgio Agamben, indem er befürchtet, das westliche Demokratiemodell werde genau in dem Moment, in dem ein weiterer Export ansteht, im Innern unglaubwürdig und brüchig, da immer mehr Möglichkeiten entwickelt würden, am „normalen“ parlamentarischen Verfahren vorbei und als angebliche Ausnahmen Entscheidungen von Seiten der © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Exekutive zu erlassen. Beispiele findet er im Ermächtigungsgesetz von 1933 bis hin zu Guantanamo Bay und dem Patriot Act. Diese beiden Beispiele mögen verdeutlichen, dass es gerade die Erinnerung an die Bruchhaftigkeit der Geschichte des deutschen Parlamentarismus ist, aus der wir für die gegenwärtigen politischen Diskussionen Anhaltspunkte gewinnen können, da in einem solchen Verständnis viel mehr als in Erzählungen, die eine Zielgerichtetheit unterstellen, das Bewusstsein nicht verwirklichter Möglichkeiten und des Kampfes um Deutungsmacht wach gehalten wird.
Literatur Beyme, Klaus von: Die parlamentarische Demokratie. Entstehung und Funktionsweise 17891999. Opladen/Wiesbaden 31999. Ders.: Parlament, Demokratie und Öffentlichkeit. Die Visualisierung demokratischer Grundprinzipien im Parlamentsbau. In: I. S. Flagge/Wolfgang Jean (Hrsg.): Architektur und Demokratie. Bauen für die Politik von der amerikanischen Revolution bis zur Gegenwart. Stuttgart 1992. Cullen, Michael S.: Der Reichstag. Parlament, Denkmal, Symbol. Berlin 21999. Diers, Michael: Schlagbilder. Zur politischen Ikonographie der Gegenwart. Frankfurt/M. 1996. Durner, Wolfgang: Antiparlamentarismus in Deutschland. Würzburg 1997. Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Frankfurt/M. 5 1996. Kelsen, Hans: Vom Wesen und Wert der Demokratie. Aalen 1981. Kluxen, Kurt: Geschichte und Problematik des Parlamentarismus. Frankfurt/M. 1983. Meier, Christian: Die parlamentarische Demokratie. München 2001. Münkler, Herfried: Die politischen Ideen der Weimarer Republik. In: I. Fetscher/H. Münkler (Hrsg.): Pipers Handbuch der politischen Ideen. München/Zürich 1987. Putnam, Robert D. Making Democracy Work. Civic Traditions in Modern Italy. Princeton 1993. Schindler, Peter: Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages: 1949-1999. Baden-Baden 1999. Schütt-Wetschky, Eberhard: Grundtypen parlamentarischer Demokratie: Klassisch-altliberaler und Gruppentyp. Freiburg 1984. Steffani, Winfried: Amerikanischer Kongreß und deutscher Bundestag. Ein Vergleich. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 65 (B 43) 1965. Weber, Max: Gesammelte politische Schriften. Tübingen 51988. Weber, Max: Politik als Beruf. Stuttgart 1992.
Anmerkungen 1 Eine Darstellung der Entwicklung des Parlamentarismus findet sich bei K. Beyme: Die parlamentarische Demokratie. Opladen/Wiesbaden 31999. Speziell für England und © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Deutschland: immer noch sehr weitführend: K. Kluxen: Geschichte und Problematik des Parlamentarismus. Frankfurt/M. 1983; vgl. auch Ch. Meier: Die parlamentarische Demokratie. München 2001. G. F. W. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Frankfurt/M. 51996, 451, §280, Zusatz. Zur vergleichenden Parlamentsarchitekturgeschichte aus politikwissenschaftlicher Sicht vgl. K. Beyme: Parlament, Demokratie und Öffentlichkeit. Stuttgart 1992. Beyme (siehe S. 35) unterscheidet „vier Phasen parlamentarischer Bautätigkeit (...): 1. Der Umbau alter Palastgebäude zu einem Parlament (Frankreich, Italien). 2. Der Neubau eines Parlaments in Zeiten der Vorherrschaft der Legislative (USA, Großbritannien, Schweiz). 3. Der Neubau eines Parlaments in vorparlamentarischen Regimen (Spanien, Deutsches Reich, ÖsterreichUngarn, Indien). 4. Der Neubau eines Parlaments in gefestigten Demokratien (Norwegen, Schweden, Bundesrepublik Deutschland, Niederlande, Australien).” Mit dem Umzug in den umgebauten Reichstag käme dann eine fünfte Phase hinzu, in der Parlamentsgebäude aus vorparlamentarischen Zeiten umgebaut werden. Sehr eindrücklich und mit großer Enttäuschung hat das Verhältnis von Bismarck und Reichstag beschrieben M. Weber: Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland. In: Ders.: Gesammelte politische Schriften. Tübingen 51988, 306-443, insbesondere 311-320). M. S. Cullen: Der Reichstag. Berlin 21999, 93. Die abfälligen Bemerkungen Wilhelms II. über den Reichstag machen deutlich, dass er den Reichstag nicht als eine Institution der Kontrolle anderer Gewalten akzeptierte; er sprach vom „Reichsaffenhaus“ und bezeichnete die Kuppel auf dem Gebäude als den „Gipfel der Geschmacklosigkeit“. H. Kelsen: Vom Wesen und Wert der Demokratie. Aalen 1981, 31. Ebd.: 32. Vgl. M. Diers: Schlagbilder. Zur politischen Ikonographie der Gegenwart. Frankfurt/M. 1996. Es handelt sich um das zweite Fenster auf der rechten Seite neben dem Haupteingang und den kleinen Balkon davor. Inzwischen erinnert eine Plakette an das historische Ereignis. Generell zur Ideengeschichte des Antiparlamentarismus, vgl. W. Durner: Antiparlamentarismus in Deutschland. Würzburg 1997. Vgl. K. Kluxen: A.a.O. 198. Vgl. W. Steffani: Amerikanischer Kongreß und deutscher Bundestag. H. Münkler: Die politischen Ideen der Weimarer Republik. München, Zürich 1987, 283. Zur Chronik der Debatte und der Verhüllung siehe: P. Schindler: Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages: 1949-1999. Baden-Baden 1999, 3386-3395. Vgl. dazu E. Schütt-Wetschky: Grundtypen parlamentarischer Demokratie. Freiburg 1984. P. Schindler: A.a.O. 2389. M. Weber: Politik als Beruf. Stuttgart 1992. P. Schindler: A.a.O. 4393f. In Bayern und in der Folge auch in anderen Bundesländern besteht seit 1948 auch Aus© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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schussöffentlichkeit, was oft als Beleg gegen die These angeführt wird, dass Parlamente nicht ordentlich arbeiten könnten, wenn die Ausschüsse öffentlich tagten. Als Gegenargument wird dann zumeist angeführt, dass Landtage, da sie keine nationalen Parlamente sind, bestimmte wichtige Politikfelder (hier vor allem Außen- und Sicherheitspolitik) nicht behandeln. Dagegen kann man wiederum einwenden, dass neuerdings die Ausschüsse der französischen Nationalversammlung sogar im Parlamentskanal im Fernsehen übertragen werden. 21 Die GRÜNEN haben ihre Fraktionssitzungen zwischen 1983 und 1990 grundsätzlich öffentlich abgehalten. Da sie aber die einzige Fraktion waren, die dies getan hat, handelten sie sich das Image ein, eine besonders streitsüchtige Fraktion zu sein. 22 Die wenigsten Plenumsdebatten werden ergebnisoffen geführt. In fast allen Fällen haben sich die Fraktionen zuvor auf ein Abstimmungsverhalten geeinigt, so dass sich die Parlamentarier während einer öffentlichen Debatte nicht mehr von guten Argumenten überzeugen lassen. Ausnahmen waren z.B. die Debatten um den Hauptstadtumzug und die Stammzellenforschung. 23 R. D. Putnam: Making Democracy Work. Civic Traditions in Modern Italy. Princeton 1993.
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„Nach meiner Auffassung ist die Universalgeschichte die Geschichte dessen, was der Mensch in dieser Welt vollbracht hat, im Grunde die Geschichte der großen Männer, welche darin gearbeitet haben. Sie waren die Führer der Menschheit, sie waren die Bildner, die Vorbilder und im vollsten Sinne die Schöpfer alles dessen, was die große Masse der Menschen vollbrachte oder erreichte. Alle Dinge, die wir in der Welt fertig dastehen sehen, sind eigentlich das äußerliche wesentliche Ergebnis, die praktische Verwirklichung und Verkörperung von Gedanken, die in den Hirnen der uns in die Welt gesandten großen Männer legten: Die Seele der ganzen Weltgeschichte, so kann man es mit Recht auffassen, würde die Geschichte dieser Menschen sein.“ Thomas Carlyle Die Walhalla ist ein beliebtes Ausflugsziel. Ist das Wetter schön, so hat man von den Stufen dieser Imitation eines dorischen Tempels mit den Köpfen großer Deutscher bzw. derjenigen, welche dafür ausgegeben wurden, einen herrlichen Blick in das Donautal, der bei günstigen Konstellationen bis zu den Rauchwolken des Atomkraftwerks bei Landshut reicht.
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Im Folgenden geht es jedoch nicht um die Beschreibung einer touristischen Attraktion, sondern um die Beantwortung der Frage, was die Walhalla als Lernort für junge Menschen leisten kann. Wie kann eine Exkursion zu diesem Bauwerk im Rahmen eines außerschulischen Bildungsprojekts oder einer Schulveranstaltung sinnvoll eingesetzt werden? Zunächst sei an die Funktion dieses Bauwerks erinnert. König Ludwig I. von Bayern wollte ein Bauwerk errichten, in dem die größten Persönlichkeiten „Teutscher Zunge“ einen Ehrenplatz erhalten sollten. Hinter dieser Vorgabe steht der deutsche Nationenbegriff, welcher sich an Kultur und Geschichte orientiert, wozu eben die Sprache gehört. So hielt Ludwig „alle die deutsch reden“ für Deutsche. Entsprechend konnte nach seinem Willen nur eine Person Walhallagenosse werden, die deutsch gesprochen hatte – unabhängig von Staatszugehörigkeit oder Wohnort. Der Fortbestand eines Volkes hänge, so Ludwig, davon ab, ob es seine Sprache behalten kann, und nicht von den politischen Gegebenheiten.1
Persönlichkeiten in der Geschichte Die erste Frage ist natürlich: Welchen Stellenwert hat die Persönlichkeit in der Geschichte und rechtfertigt diese eine intensivere Beschäftigung mit großen oder für groß gehaltenen Menschen? Folgt man Carlyle, so besteht überhaupt kein Zweifel daran, dass die ganze Weltgeschichte das Ergebnis des Wirkens großer Männer ist, welche der Masse ein Vorbild sind. Selbstverständlich werden wir diesen offensichtlichen Chauvi berichtigen und zu den Männern die Frauen hinzufügen und im Folgenden beide zusammenfassend mit Persönlichkeiten umschreiben. Diese zeitgemäße geschlechtsübergreifende Vereinigung ändert aber nichts an der grundsätzlichen Fragestellung, nämlich: welchen Nutzen für die Bildung hat die Beschäftigung mit großen Persönlichkeiten in der Walhalla, von denen die meisten den Jugendlichen – und keineswegs nur ihnen – nicht einmal bekannt sind, oder falls sie sie doch kennen, so nur dem Namen nach, ohne dass sie über die Personen Konkretes aussagen könnten und mit dieser Unwissenheit sowohl schulisch als auch außerschulisch gut durch das Leben kamen. Es soll hier nicht tiefer auf die grundsätzlichen Ansatzfragen in der Geschichtswissenschaft eingegangen werden, schon allein deshalb nicht, weil das kollektive Gedächtnis vom fachwissenschaftlichen stark abweichen kann und der Exkursionsleiter bzw. die Leiterin den Facettenreichtum des Geschichtsbildes für die jungen Menschen einfangen und problematisieren sollte. Auch wenn man unter dem materialistischen Ansatz oder unter institutionellen und sozialen Perspektiven © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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die Bedeutung der Persönlichkeiten gegenüber anderen Gestaltungskräften der Geschichte relativiert und Carlyles Aussage nur begrenzt anerkennt, zeigen die Heldenverehrungen aller Völker, dass Persönlichkeiten für das Selbstverständnis sozialer Gruppen von großer Bedeutung sind und sich die Orientierung an Personen auch gut missbrauchen lässt für die Rechtfertigung und Sicherung eines Regimes. Nicht zuletzt wird diese personenbezogene Geschichtsbetrachtung bis heute sichtbar, wenn die Statuen der Größen nach politischen Umwälzungen stürzen und die Namen von Straßen, Plätzen ja ganzer Städte geändert werden. Die damnatio memoriae war nicht die Erfindung der Römer, und sie endete nicht mit dem Untergang ihres Imperiums. Das „Hosianna“ und das „Kreuziget ihn“ zieht sich mit unterschiedlicher Intensität durch die ganze Geschichte – von Uminterpretation der Leistung und Bedeutung einer Persönlichkeit bis hin zum Umschlag aus kultischer Überhöhung zu wütender Verdammung. Diese Personalisierung greift auch wunderbar in den Wahlkämpfen der modernen Demokratie, in denen der „mündige Staatsbürger“ durch große und retuschierte Brustbilder mit kleinen und inhaltsleeren Schlagworten zu einer Identifikation mit den Figuren und zur Ablenkung von seinen existenziellen Interessen verleitet werden soll. Diese Bereitschaft zur Orientierung an menschlichen Vorbildern ist nicht verwunderlich, ergibt sie sich doch aus anthropologischen Vorgaben. Wie bei jedem sozialen Wesen werden auch bei den Menschen wesentliche Fortschritte im Sozialisationsprozess zur Entwicklung der Lebensfähigkeit in der Gesellschaft und zur Überlebensfähigkeit des sozialen Verbandes durch die Orientierung am Beispiel und damit an den Vorbildern gewonnen. Ein Grundprinzip der menschlichen Erziehung ist die Vorbildfunktion von Eltern, Lehrern/Lehrerinnen, anderen Personen und der älteren Generation ganz allgemein. Umgekehrt liegt die ganze Misere der heutigen Jugendprobleme meiner Ansicht nach wohl auch darin, dass vom Strukturwandel überforderte Erwachsene – selbst orientierungslos geworden – keine Vorbilder mehr sind, sondern sich in ein weit hergeholtes pädagogisches Pathos oder in eine verantwortungslose und weltfremde Mündigkeitserklärung der Jugend flüchten. Die Orientierung an Persönlichkeiten aus der Vergangenheit ist also durchaus ein vertretbares Lernziel und vielleicht heute, wo wir sie, aus welchen Gründen auch immer, nicht wahrzunehmen in der Lage sind, von ganz besonderer Wichtigkeit. Bei aller Betonung der Bedeutung von Geschichtskenntnissen, die sich häufig aber nur in einer eher unreflektierten Aufzählung von angeblich wichtigen Daten beschränkt, muss in der Bildung die Geschichte zur Bewältigung der Zukunftsaufgaben dienen, wenn sie eine Berechtigung haben will. So können die Jugendlichen in der Walhalla lernen, wie die Perspektive der jeweiligen Zeit mit ihren wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen und geistigen Grundlagen entscheidend ist für die Auswahl von Größe, getreu Einsteins © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Satz, dass die Theorie die messbaren Größen bestimmt. Auch bietet die Walhalla Anlass, darüber nachzudenken, welchen Beitrag das Nationalverständnis, welches der Walhalla nach dem Willen ihres Erbauers zukommt, für die Bewältigung der großen Aufgaben unserer Zeit leisten kann, insbesondere, da ja die nationalistische Entartung des nationalen Gedankens im 20. Jahrhundert den Deutschen erhebliche Probleme mit dem eigenen nationalen Erbe bereitet. Auch kann man bei den Jugendlichen die Entwicklung eines Bewusstseins für Größe im Sinn einer Vorbildfunktion entwickeln, indem man sie darüber reflektieren lässt, welchen heute lebenden Menschen man nach 20 Jahren in der Walhalla einen Ehrenplatz einräumen sollte. Bezogen auf den Donaustaufer Ruhmestempel könnten sich somit folgende Fragestellungen ergeben. 1. Unter welchen Aspekten erfolgte die Auswahl der Persönlichkeiten, was haben diese Aspekte mit ihrer jeweiligen Zeit zu tun und wie haben sich die Auswahlkriterien deshalb im Laufe der über 160 Jahre verändert? 2. Inwiefern kann die Erinnerung an die Persönlichkeiten etwas beitragen zur Bewältigung heutiger Aufgaben, von der individuellen bis hin zur globalen Dimension? 3. Welche heute lebende und den Schülern/Schülerinnen bekannte Persönlichkeit könnte man 20 Jahre nach ihrem Tod für eine Aufnahme in die Walhalla vorschlagen? Welche von der nationalen Identität abweichenden Faktoren könnten bestimmend sein, um einen neuen Tempel für Persönlichkeiten zu bauen? Fragestellungen, welche sich mit Baugeschichte und Architektur beschäftigen und die Walhalla als Lernort unter kultur- und kunstgeschichtlichen Aspekten interessant machen, sollen hier aus Platzgründen ausgespart werden.
Aspekte für die Auswahl von Persönlichkeiten Wie oben schon beschrieben, wurde die Walhalla nach dem Willen König Ludwigs I. als eine Würdigungsstätte von großen Persönlichkeiten eingerichtet, welche die Gemeinsamkeit hatten, deutsch zu sprechen und Bedeutendes geleistet zu haben. Der Zeitbezug der Schwerpunktsetzung wird sichtbar, wenn man sich Herkunft und Profession der ausgewählten Persönlichkeiten betrachtet. Von 1821 an, dem Zeitpunkt der ersten Planung, bis zur Eröffnung 1842 hat man sich Gedanken gemacht, wer bei der Einrichtung einen Ehrenplatz erhalten sollte. Von den 97 Persönlichkeiten, welche man für würdig erachtete, kamen 57 aus dem Bereich Politik und Militär, 20 aus Wissenschaft und Kunst und 20 waren als Natur- und Geisteswissenschaftler oder als Erfinder hervorgetreten. Das heißt, knapp 59 % waren Herrscher oder Militärs, jeweils 20,6 % waren Wissenschaftler © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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und Künstler. Unter den 57 Größen aus Politik und Militär waren 21 Monarchen, vom Kaiser bis zu deutschen Fürsten. Nach 1842 änderten sich die Relationen. Jetzt kamen knapp 27 % aus dem Bereich Politik und Militär, gut 30 % aus der Wissenschaft und 42 % waren Künstler. Aber diese Gesamtperiode ist einzuteilen. Nach 1842 bis zum Ende des Kaiserreiches wurden fünf Büsten von Politikern und Militärs aufgestellt, ebenfalls fünf Büsten ehrten Personen aus dem Bereich der Kultur. Unter den Militärs waren der Erzherzog Karl und der Generalfeldmarschall Radetzky. Gerade der Letztere dürfte unter heutigen Aspekten wegen seines Vorgehens gegen die nationalliberalen Freiheitsbewegungen eher umstritten sein, auch wenn sich der ihm gewidmete Marsch großer Beliebtheit erfreut. In der Weimarer Zeit erfolgten neue Aufstellungen. Für die Musik Schubert, für die nationale Bewegung Jahn und Görres. Gerade bei Jahn könnten heute gewisse Bedenken auftauchen, wegen seiner eher aggressiven nationalen Haltung. Nach 1945 war man dieser Tradition abgeneigt, da man nach Zusammenhängen der älteren deutschen Geschichte mit dem 3. Reich suchte und damit gewisse Verantwortlichkeiten feststellen zu können glaubte. Im amtlichen Führer wird jedoch betont, dass sich die Aggressivität gegen Napoleon richtete und Jahn später als Demagoge von den Fürsten verfolgt wurde und Mitglied der Nationalversammlung war. Seit 1945 spielte die Politik eine geringere Rolle für die Aufstellung. Sieben Walhallagenossen kommen aus der Kultur, vier sind Vertreter der Musik, drei der Dichtung. Geehrt werden dazu vier Persönlichkeiten aus der Naturwissenschaft und eine aus der Pädagogik. Aus der Politik sind die Büsten von zwei Persönlichkeiten aufgestellt, neben Konrad Adenauer Sophie Scholl, als eine Symbolfigur aus dem Widerstand. Man sieht also, wie sich die Aspekte für eine Berücksichtigung der Personen geändert haben und kann die damit verbundene Fragestellung nach dem jeweiligen zeitgenössischen Hintergrund in doppelter Hinsicht problematisieren, indem man die Fragen der Gegenwart verbindet mit dem jeweiligen Geschichtsbild und den damit zusammenhängenden Einschätzungen der Personen. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, kann hier allgemein darauf verwiesen werden, dass in den Aufstellungen im 19. Jahrhundert der Einfluss des monarchischen Prinzips deutlich zu erkennen ist, während der politische Bereich nach 1945 wenig Berücksichtigung fand und mit Adenauer und Scholl auch relativ spät zu Geltung kam. Bei Adenauer ist dies allerdings aus der 20jährigen Sperrfrist verständlich, bei Sophie erfolgte die Aufstellung erst 60 Jahre nach ihrem Tod. Hier hat man einen guten Anknüpfungspunkt, mit den Jugendlichen die Problematik der Aufarbeitung des deutschen Widerstandes zu besprechen und zu ethischen und © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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moralischen, aber auch zu rational-politischen Bewertungsfragen zu gelangen, welche über die ritualisierte Gedächtnistags- und Gedenktafelvergangenheitsbewältigung hinausführt. Damit kommen wir zum zweiten Aspekt, nämlich, inwiefern Erinnerungen an vergangene Persönlichkeiten uns Vorbild für eigenes Handeln liefern können.
Beitrag der Erinnerung an Persönlichkeiten zur Bewältigung gegenwärtiger Aufgaben Es wäre sicherlich eine völlige Entwertung des Andenkens an die Persönlichkeiten des Widerstandes, wenn man Sophie Scholl nur deshalb aufgestellt hätte, weil sie eine Frau war und es endlich Zeit wird, dieses Geschlecht in der Walhalla zu berücksichtigen. Es sollte vielmehr dargestellt werden, was uns gerade die „Weiße Rose“ vermitteln kann. Der deutsche Widerstand wird ja meistens mit dem Attentat von Graf Stauffenberg verbunden, das natürlich spektakulärer war. Gerade für junge Leute kann aber der Widerstand der „Weißen Rose“ interessanter sein und zwar keineswegs nur, weil die Mitglieder jung waren. Vielmehr wird hier ein großes Ausmaß an Eigenverantwortlichkeit deutlich, da sich der Widerstand gegen Verbrecher und Landesverräter richtete und nicht – wie so manch anderer Widerstand – gegen den Untergang der eigenen Welt, welche bis 1933 mit ihrem antidemokratischen Geist durchaus als Steigbügelhalter für die Nazis und auch danach als wertvolle Unterstützer der Nazis fungiert hatte. Das Interessante an den Mitgliedern der „Weißen Rose“ ist, dass sie entscheidende Phasen ihrer Sozialisation während des 3. Reiches erfahren haben und trotzdem zu einem Widerstand gelangten. Dies mag Anlass sein, junge Menschen zu einer kritischen Betrachtung der eigenen Zeit zu veranlassen und nach Möglichkeiten suchen zu lassen, Kritik und Protest einzubringen, ohne sich in weltfremden Ideologien zu verlieren. Anderes könnte die Beschäftigung mit Einstein zum Ziel haben. Ausgehend von der grotesken Tatsache, dass seine Relativitätstheorie in Deutschland als jüdisch und damit falsch abgelehnt wurde, könnte man die politische Dimension der Naturwissenschaft hinterfragen, damit diese nicht zu einem angeblich wertfreien Instrument von Interessen wird. Diese Gefahr ist heute vor dem Hintergrund gewisser bildungsreformerischen Bestrebungen durchaus gegeben. Gerade angesichts der scheinbar unendlichen Möglichkeiten, welche die Forschung auf naturwissenschaftlichem Gebiet der Menschheit heute bietet, kann nicht früh genug damit begonnen werden, den jungen Leuten die soziale Verantwortung naturwissenschaftlicher Berufe deutlich zu machen. Hinterher ist man bekanntlich immer gescheiter, so dass es sicherlich an ver© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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gangenen Persönlichkeiten leichter ist ist, richtig und falsch falsch, gut und schlecht schlecht, fort fortschrittlich und rückschrittlich zu unterscheiden. Etwas schwieriger ist freilich die Subsumtion der aus der Geschichte gewonnenen Maßstäbe unter die eigene Zeit. Hier kann die Orientierung der Jugend an lebenden Persönlichkeiten durchaus ein Ansatz sein.
Suche nach Persönlichkeiten der eigenen Wahl Die dritte hier skizzierte Fragestellung, nämlich die Berücksichtigung heute lebender Persönlichkeiten oder die Einbeziehung neuer Faktoren für die Bestimmung von Persönlichkeiten, deren Andenken erhalten werden sollte, kann für die Aufgabe verwendet werden, eine umfassendere Zeitdimension und damit eine Vorstellung von Nachhaltigkeit zu vermitteln. Ein solcher Aspekt erscheint angesichts der von Kurzlebigkeit bestimmten Zeit, in denen die Schlagzeilen täglich wechseln und das öffentliche Leben von Wahlperioden, Olympiaden und Fußballweltmeisterschaften bestimmt wird oder sich unter dem Euphemismus „Reform“ von Profilneurotikern Lösungen kreiert werden, deren Reformbedürftigkeit schon bei ihrer Entstehung einzusehen ist. Die großen Probleme der Gegenwart sind zeitlich wesentlich umfangreicher dimensioniert, als dass sie mit dem derzeitigen geistigen und institutionellen Werkzeug bewältigt werden könnten. Man denke etwa an die Probleme der Umwelt und der Globalisierung. Die Berichterstattung konzentriert sich hier auf © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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spektakuläre Terrorakte, auf spekulative Studien und auf Konferenzen, bei denen das Augenmerk mehr auf Demonstranten und Polizei und weniger auf Ergebnisse gelenkt wird, wohl auch deswegen, weil es keine gibt. Die Menschen, die im Alltag – meist schlecht bezahlt – das Überleben der Menschen und die Erhaltung unserer Umwelt möglich machen, werden, wenn überhaupt, nur am Rande erfasst. Da die Leistung eines Walhallagenossen nicht so sehr unter dem Aspekt betrachtet werden kann, was er für Deutschland geleistet hat, sondern einfach unter dem, dass er Großes geleistet hat und deutscher Zunge ist, kann man sich ruhig etwa umsehen unter Entwicklungshelfern, Pädagogen, Medizinern und Forschern, die nicht gerade im Fokus der Nobelpreiskomitees geraten sind, und stellvertretend für diese Gruppen eine Person vorschlagen, wie man es mit Sophie Scholl im Zusammenhang mit dem deutschen Widerstand auch getan hat. Angesichts der Probleme einer vermassenden Welt kann die Leistung eines Einzelnen nur dann Beachtung und Wirksamkeit entfalten, wenn sie in einem Kollektiv Gleichgesinnter erreicht wird. So kann man die jungen Menschen durch die Frage nach Walhalla würdigen Persönlichkeiten zu langfristigem Denken und zum Bewusstsein für tiefgreifende Probleme anregen, was ja für sie unter Berücksichtigung ihres zukünftigen Lebens von größerer existenzieller Bedeutung sein dürfte als für die ältere Generation. Gleichzeitig wird der Persönlichkeit ein Platz in der Massengesellschaft eingeräumt und dem jungen Menschen deutlich gemacht, dass bei aller Abhängigkeit von der Gemeinschaft dem Einzelnen eben doch eine Bedeutung zukommt, ohne welche die Gemeinschaft sich nicht entfalten kann. Somit könnte die Bildung auf interessante Weise einen Beitrag dazu leisten, die jungen Leute zur Bewältigung von Zukunftsaufgaben anzuregen und die Bedeutung des Vorbilds einzusetzen, womit die Intention der Erbauers der Walhalla durch einen Bezug zur Zukunftsbewältigung aktualisiert würde, ohne dass dabei die Persönlichkeit jene herausragende Bedeutung hat wie bei Carlyle, sondern in ihren sozialen Kontext eingebunden ist.
Anmerkung 1 Vgl. Hans Groß: Festschrift anläßlich der 150-Jahrfeier der Eröffnung der Walhalla am 18. Oktober 1842 (hrsg. vom Heimat- und Fremdenverkehrsverein Donaustauf e.V.). Donaustauf 1992, 8.
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Die symbolische Hauptstadt West-Berlin als Erinnerungsort der alten Bundesrepublik
Am 1. Mai 1950 wandte sich der damalige Regierende Bürgermeister West-Berlins1 Ernst Reuter vor dem Reichstag an die Bürgerinnen und Bürger. In seiner Rede wies er Berlin jene symbolische Bedeutung zu, die es von da an – in im Lauf der Jahre mehr oder weniger ausgeprägter Form – für die Bundesrepublik haben sollte. „Auf diesem Platze [...] haben wir uns am 18. März 1948 zum ersten Male [...] versammelt. Und damals haben wir das Wort geprägt: Soll Berlin Prag werden? Und Sie alle haben geantwortet: Nein, Niemals! Und wir haben unser Gelöbnis gehalten [...]: Berlin ist und bleibt eine freie Stadt. [...] Eines Tages werden wir [...] unser gemeinsames Ziel erreichen! Wir werden dann auch Berlin als die Hauptstadt einer deutschen freien Republik haben.“2
Reuter spricht von Berlin als „freie[r] Stadt“, und meint deren westliche unter britischer, amerikanischer und französischer Verwaltung stehende Sektoren. Mit dem Wunsch, Berlin derart bestimmt als „Hauptstadt einer deutschen freien Republik“ einzusetzen, wies er der Stadt eine Vorreiterrolle für die künftige politische Entwicklung beider deutscher Staaten zu. Damit verlieh er Berlin eine gesamtnationale Symbolik. Die Idee von West-Berlin als symbolischem und realem Vorposten der Freiheit nach westlichem Muster hat sich der Stadt tief eingeprägt. Als ab 1946 klar wurde, dass die im sowjetischen Sektor gelegene Humboldt-Universität Studenten unter ideologischen Vorzeichen selektierte und die marxistischen Überzeugungen die Lehre beeinflussten, kam es zu Studentenprotesten, die 1948 mit Unterstützung der Stadtverordnetenversammlung in die Gründung einer neuen Universität im Westteil der Stadt mündeten. Ihr programmatischer Name lautete „Freie Universität“.3 Ähnliches geschah in Bezug auf den Rundfunk. In Abgrenzung zu den ideologisch ausgerichteten Radiosendern im Ostteil Berlins gründete man 1954 den Sender Freies Berlin, SFB. Beide Beispiele zeigen, wie sich demokratische Freiheit aus einer Abwehr- und Abgrenzungshaltung gegen den Stalinismus, der mit der DDR seinen westlichen Vorposten schuf, definierte. Das untergegangene „Dritte Reich“ trat kaum in den Blick, wo es in der frühen Bundesrepublik darum ging, eine demokratische Identität auszubilden.4 © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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West-Berlin als Freiheitssymbol des Westens verschränkte sich dabei aufs Engste mit kapitalistischen Prinzipien. Berlin galt als „Schaufenster des Westens“, bzw. als „Schaufenster des freien Westens“, in dem die westliche Marktwirtschaft demonstrativ ihren Wohlstand und damit suggestiv ihre Überlegenheit zur Schau stellte. Das Ideal der Freiheit fand im Kommerz – in der Freiheit des Konsums – einen Weg, sich öffentlich zu machen. Die florierende Wirtschaft wurde gleichsam zum Garanten der inneren Moral des Staates, in dem sie sich entfaltete. Die Insel West-Berlin hat seit dem 9. November 1989 aufgehört zu existieren, beide Stadthälften haben wieder Anschluss aneinander gefunden, seit dem 3. Oktober 1990 ist diese Synthese politisches Programm. Mit der deutschen Wiedervereinigung hat Berlin jedoch ebenso die Schärfe seiner geografischen Konturen verloren wie seine Symbolkraft. Durch den Untergang der DDR als Feind- und Gegenbild des Westens hat sich auch die Notwendigkeit, sich von ihr abzugrenzen, erübrigt. Jene Orte, an denen die Symbolik Berlins ablesbar wurde, haben sich in Erinnerungsorte mit historischer Qualität verwandelt, die im Begriff stehen, ins kollektive Gedächtnis einzugehen. Manche von ihnen werden allerdings wohl ganz dem Vergessen anheim fallen. Das alte West-Berlin als Symbol des freien Westens wurde westdeutschen Schüler/-innen bis 1989 immer wieder als Ziel von Klassen- und Gruppenreisen angeboten, um ihnen die deutsche Geschichte nahezubringen und ihr demokratisches Bewusstsein zu wecken. Das Gefühl von Freiheit stellte sich dabei vor allem angesichts der hinter Mauer und Stacheldraht liegenden Osthälfte ein. An der Westseite der Mauer boten zahlreiche Aussichtsplattformen den Blick über den Eisernen Vorhang und hinein nach Ost-Berlin. Dass der anderen Seite diese Perspektive verwehrt war, mag ein Gefühl der Überlegenheit ausgelöst haben.5 Der obligatorische Besuch im grauen Ostteil führte zwar zu den traditionellen Sehenswürdigkeiten der Stadt wie zu der Museumsinsel und zu der Prachtstraße „Unter den Linden“, das Abenteuer der Grenzüberquerung oder die offensichtlich weniger gute Versorgungslage mussten Jugendlichen aus Bayern oder Nordrhein-Westfalen jedoch das Gefühl vermitteln, im besseren Teil Deutschlands zu leben. Mit der Wende und dem Zusammenwachsen von Berlin hat sich auch das Profil der Stadt als Ziel von Jugendbildungsreisen verändert. Die Mauer ist verschwunden und mit dem Umzug der Bundesregierung sind neue Orte entstanden, an denen Politik erfahrbar wird. Das Kanzleramt, die Ministerialbauten am Spreebogen oder der Blick von Norman Fosters Reichstagskuppel ins parlamentarische Forum machen die Strukturen und Arbeitsweisen der deutschen Demokratie lebendig. Die sich derzeit neu konstituierenden Gedenkorte zur Geschichte der deutschen Teilung wie das ehemalige Untersuchungsgefängnis des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin-Hohenschönhausen oder die Sammlung Industrielle Gestaltung zur Geschichte der Produkt- und Alltagskultur der DDR im Prenzlauer Berg setzen © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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sich die Aufgabe, politische und alltagsgeschichtliche Aspekte der DDR zu dokumentieren. Dennoch kann es sinnvoll sein, darüber hinaus Orte aufzusuchen, die ehemals Westberliner Identität stifteten. Sie können die Auseinandersetzung mit der neuen politischen Infrastruktur ergänzen und Jugendlichen die Problematik der im Fluss begriffenen deutsch-deutschen Geschichte vermitteln. Im Wesentlichen lassen sich drei Lernziele verfolgen: Erstens und zweitens die Vermittlung von Ereignisgeschichte und Definitionskriterien der in Deutschland existierenden Demokratie, drittens die Annäherung an das Thema Erinnerung und Identität. Mit Blick auf West-Berlin kann gezeigt werden, wie ehemals lebendiges Gedenken derzeit in historisches Gedächtnis überführt wird, denn der Umbau Berlins zur funktionstüchtigen Hauptstadt hat viele Erinnerungsorte zerstört und neue geschaffen. Wie Erinnerung gemacht wird, welchen gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Bedingungen sie unterliegt, wird hier augenfällig. Im Folgenden möchte ich den Blick auf verschiedene Orte lenken, in denen die symbolische Bedeutung West-Berlins greifbar wird. Der Überblick ist so angelegt, dass auf seiner Basis ein Rundgang mit einer Gruppe möglich ist. Der erste Teil bildet eine Annäherung an Berlin als „freie Stadt“, der zweite Teil richtet den Blick auf das „Schaufenster des Westens“. Geografisch führt Teil eins entlang des ehemaligen Mauerstreifens im extremen Wandlungsprozessen unterworfenen Bereich Mitte/Tiergarten, Teil zwei sucht mit Kurfürstendamm und Kreuzberg Orte im Herzen des alten Westens auf, die sich seit der Wende lediglich im Rahmen der üblichen Stadtentwicklung verändert haben.
Freies Berlin Das Areal zwischen Reichstagsgebäude und dem Gelände des Prinz-Albrecht-Palais an der heutigen Niederkirchnerstraße birgt zahlreiche Orte, in denen die deutsche Geschichte der vergangenen sechzig Jahre sichtbar wird. Sie sollen im Folgenden auf ihre Bedeutung, die sie für West-Berlin besaßen, befragt werden. Südlich des Reichstagsgebäudes am Eingang des Tiergartens an der Ebert-/Ecke Scheidemannstraße steht ein Zaungitter, an dem 14 schlichte weiße Metallplatten in Kreuzform angebracht sind. Es sind Kreuze, die bis 1971 an verschiedenen Orten entlang des Mauerverlaufs daran erinnerten, dass hier Menschen beim Überwinden der Grenzanlagen zu Tode kamen. 1971 zog eine Bürgerinitiative 14 dieser Kreuze hinter dem Reichstagsgebäude am Spreeufer zusammen und richtete damit eine provisorische Gedenkstätte ein. Wegen Bauarbeiten, die in diesem Bereich nach 1990 durchgeführt wurden, verlagerte man die Kreuze an ihren jetzigen Standort. Das früheste Mal erinnert an Günter Litfin. Das letzte trägt den Namen Chris Gueffroy, der am 5.Februar 1989 zwischen Treptow und Neukölln die Mauer zu © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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überwinden versuchte. Das Gedenken an die Opfer der Mauer nach dem Muster des christlichen Totenkultes gehörte fest zur Erinnerungskultur West-Berlins.6 Die Kreuze am Reichstag sind Grabzeichen nachempfunden, gelten dabei aber dem politisch motivierten Totengedenken. Durch ihren Standort hatten die Kreuze – obwohl sie nicht am authentischen Ort der Fluchtversuche standen – zumindest authentischen Charakter, denn bis 1989 befanden sie sich unmittelbar hinter dem Reichstagsgebäude, wo die Mauer auf die Spree stieß. Der Betrachter nahm die Kreuze in Zusammenhang mit der Mauer und den Grenzanlagen wahr und interpretierte sie in unmittelbarem Bezug darauf. Er verstand sie als ehrendes Andenken an die Toten und zugleich als Anklage an die DDR als für diesen Tod verantwortlich. Mit der grundlegenden Umgestaltung des Spreeufers ist der authentische Rahmen verschwunden. Das Erinnerungsmal wurde aus seinem gewohnten Kontext gelöst und an einen anderen Standort transportiert. Der Abbruch der Mauer, die Öffnung für den Verkehr, der Ausbau des Reichstags zum deutschen Bundestag und die Errichtung von Paul-Löbe- und Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, die eine Brücke dort miteinander verbindet, wo früher die innerdeutsche Grenze verlief, haben den ehemals unbelebten Raum in eine lebendige Stadtlandschaft verwandelt. Die Kreuze haben das Umfeld verloren, aus dem sie sich einst erklärten. Von einem authentischen Denkmal, das das „Gedächtnis der Orte“ bewahrt, hat es sich im Sinne eines „Gedächtnis der Monumente“7 gewandelt. Dieser Transfer spiegelt sich im Gedenkort Mauerkreuze wieder, denn der alte Standort der provisorischen Mauerkreuze am Spreeufer wurde 2003 planmäßig neu gestaltet. Sechs weiße Kreuze an einem Zaungitter imitieren das ehemalige Provisorium und sind denselben Mauertoten gewidmet, derer auch an der Scheidemannstraße gedacht wird. Sieben weitere sind – nur vom Wasser aus sichtbar – an der Mauer der Uferbefestigung angebracht. Diese weißen Kreuze sind jedoch neu, die Originale wurden nicht an ihren authentischen Standort zurücktransportiert.8 Aus dem ehemaligen Provisorium ist damit ein artifizieller Gedenkort geworden, der keinerlei politische Identität stiftende Funktion mehr erfüllt, sondern nur noch Pietät gegenüber den Toten ausdrückt und zum Gedenken an ein abgeschlossenes Kapitel deutscher Geschichte animiert.9 Mahnen und Klage gegen den Unrechtsstaat auf der anderen Seite der Mauer aussprechen wollte auch das zweite im Bereich des Brandenburger Tores gelegene Denkmal: Die Skulptur „Der Rufer“ von Gerhard Marcks (1889-1981) – 1967 für Radio Bremen als Sinnbild der Meinungsfreiheit geschaffen – wurde auf Initiative einer privaten Stiftung und des Axel Springer-Verlags 1989 nachgegossen und auf dem Mittelstreifen der Ost-West-Verbindung, die seit dem 24. Juli 1953 „Straße des 17. Juni“ heißt, aufgestellt. Straße und Skulptur bilden zusammen einen Erinnerungsort, an dem West-Berlin als Vorposten von Meinungsfreiheit © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Das Brandenburger Tor von Westen, Mai 1989
und Frieden inszeniert wurde. Die Figur erhielt durch ihre Platzierung gegenüber dem – damals geschlossenen – Brandenburger Tor und durch ihre Inschrift einen politischen Sinn. Auf Initiative der Sponsoren wurde auf dem Sockel ein Zitat Francesco Petrarcas angebracht: „Ich gehe und rufe durch die Welt: Friede Friede Friede“. Es ist zu verstehen als Mahnruf des Westens an den Osten, dem sich die Figur zuwendet. Der Standort der Skulptur an der Straße des 17. Juni verstärkte die Aussage, denn der Straßenname bewahrt die Erinnerung an den niedergeschlagenen Arbeiteraufstand gegen das DDR-Regime vom 17. Juni 1953. Heute hat die Figur an ihrem Standort ihre Symbolkraft eingebüßt, denn mit der Öffnung des Tores ist der Adressat, an den der „Rufer“ sich richtete, verschwunden. Geblieben ist der allgemeine Appell „Friede Friede“ ohne die spezifisch politische Konnotierung, die dem Westen die Rolle des Friedensbringers zuwies und dem Osten die Rolle des Hörers gab, den der Friedensruf wecken oder läutern sollte. Ähnlich verhält es sich mit dem Straßennamen, denn bis 1990 war der 17. Juni der Nationalfeiertag der BRD. Der Straßenname verband sich mit einem alljährlich zelebrierten politischen Gedenkritual und war damit Teil einer lebendigen Erinnerungskultur. Sie wurde mit einer gesamtdeutschen Gedenkfeier der wenig später aufgelösten DDR-Volkskammer und des Bundestages am 17. Juni 1990 zum letzten Mal begangen und damit feierlich beendet. Indem sich die DDR© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Volkskammer zu dem bundesdeutschen Feiertag bekannte, anerkannte sie auch deren Rechtssystem als Grundlage eines gesamtdeutschen Staates. Die Aufstellung des „Rufers“ im Jahr 1989 erscheint als spätes Relikt einer politischen, sich von der DDR abgrenzenden Denkmalskultur, die seit den 1980er Jahren durch eine andere überlagert wurde, die sich mit Blick auf den Nationalsozialismus konstituierte. Die folgenden drei Erinnerungsorte am Rande West-Berlins sind Beispiele für diese neue Tendenz. Zwei dieser Orte wurden erst nach 1990 geschaffen. Dass dieser Vorgang neueren Datums ist und erst mit dem Untergang der DDR voll zum Tragen kam, macht der Blick auf das Denkmal für die Abgeordneten der Weimarer Republik an der Südwestecke des Reichstages klar. 96 schichtartig hintereinander gestaffelte Schieferplatten tragen die Namen jener Reichstagsabgeordneten, die ab 1933 in Konzentrationslager verbracht worden waren und dort den Tod fanden. Das Denkmal korrespondiert mit dem Reichstagsgebäude als Gehäuse des ersten deutschen demokratischen Parlaments in den 1920er Jahren und dessen Zerstörung durch die Nationalsozialisten.10 Das Denkmal spiegelt aber auch die Veränderung der symbolischen Bedeutung des Reichstags zwischen 1970 und 1990. Es wurde 1992 errichtet, und das heißt zu einem Zeitpunkt, da seine Zukunft als demokratisches Parlament entschieden war.11 Mit dem praktischen Zweck seiner Nutzung als Parlamentsgebäude trat seine Bedeutung als Symbol und Erinnerungsort der Demokratie zwangsläufig in den Hintergrund. Bis 1994 war der Reichstag noch frei zugänglich gewesen. Eine Attraktion für Schulklassen aus Westdeutschland bildete die Ausstellung „Fragen an die deutsche Geschichte“, in der sich das Selbstverständnis der Bundesrepublik als Demokratie auf der Basis der Revolution von 1848/49 ausdrückte. Daneben barg das in den 1960er Jahren nach Plänen von Paul Baumgarten sanierte Gebäude auch ein symbolisches Programm. Dort standen leere Stühle für die Abgeordneten eines gesamtdeutschen Parlaments bereit und die verglaste Fensterfront, die den Durchblick durch den Gebäudekomplex und auf den unfreien Ostteil der Stadt freigab, erinnerte daran, dass den Ostdeutschen der Weg in dieses Parlament versperrt blieb. Der Umbau des Gebäudes zum Deutschen Bundestag nach 1991 zerstörte diesen Erinnerungsort und kompensierte dies durch künstlerische Installationen, die an die Zerstörung der ersten deutschen Demokratie im Reichstag erinnern. Die DDR als Folie, vor der sich die Demokratie abheben wollte, ist verschwunden, als neue Projektionsfläche für die demokratische Identitätsbildung ist der Nationalsozialismus getreten. Christian Bultanskis „Archiv der deutschen Abgeordneten“ verzeichnet die Namen aller für den Reichstag, bzw. Bundestag gewählten Abgeordneten auf rostigen Archivschachteln. Katharina Sieverdings Gedenkinstallation versammelt ein Fotogemälde und verschiedene Gedenkbücher, in denen die biographischen Daten der im „Dritten Reich“ verfolgten Abgeordneten verzeichnet sind. Beide © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Installationen sind Teil eines umfassenden Programms von Kunst am Bau im Reichstagsgebäude, das nach politischer Identität und Verantwortung fragt. Unweit gelegen ist das am 10. Mai 2005 eröffnete Denkmal für die ermordeten Juden Europas, das gleichfalls der Opfer des Nationalsozialismus gedenkt. Es sei ergänzend hier genannt, da sich in ihm die Veränderungen des Erinnerungsortes Berlin ablesen lassen. Nach einem Entwurf von Peter Eisenmann erstrecken sich 2.700 Betonstelen über eine Fläche von 19.000 qm. Die Finanzierung übernahm eine von der Bundesregierung getragene Stiftung. Das Denkmal kann als Ergebnis des Bemühens um einen angemessenen und verantwortungsvollen Umgang der zweiten Nachkriegsgeneration mit dem Nationalsozialismus und seinen Verbrechen gelten. Im Zentrum der Denkmalsidee stehen die Pietät gegenüber den Toten und die Erinnerung an die Verbrechen, deren Opfer sie wurden. Verglichen mit allen bisher vorgestellten Erinnerungsorten bezeichnet dieses Denkmal etwas Neues. Während alle genannten Orte mehr oder weniger authentischen Charakter tragen und das „Gedächtnis der Orte“ visualisieren, bewahrt das Holocaust-Denkmal eine allgemeine, vom spezifischen Ort losgelöste Erinnerung. Es ist als Versuch des Architekten, das Totengedenken vom Individuum zu abstrahieren,12 ein Beispiel für ein „Gedächtnis der Monumente“.13 Seine Ausdehnung, die architektonisch und künstlerisch ausgefeilte Anlage und die nur durch stadtplanerische Koordinaten bestimmte, inhaltlich jedoch nicht begründete Standortwahl machen das Denkmal zu einem Erinnerungsort, der sich von den Orten des Geschehens abgekoppelt hat. Gedächtnis hat sich hier von jeglicher Authentizität gelöst und verselbständigt. Diese Abstraktion lässt Raum für viele Deutungen. Das Stelenfeld weckt ebenso die konkrete dingliche Assoziation eines Gräberfeldes, wie es dem Besucher das Gefühl von Überwältigung, Verlorensein und Unsicherheit oder Desorientierung vermittelt. Den Möglichkeiten der Rezeption und individuellen Deutung sind keine Grenzen gesetzt. Unmittelbar nach der Eröffnung des Denkmals zeigte sich, dass diese Freiheit unvorhergesehene Formen annahm. Viele Berliner animierten die von der Sonne erwärmten Betonquader des Stelenfeldes zum abendlichen Picknick, jüngere Besucher fühlten sich von den Stelen zu wagemutigen Sprüngen und riskanten Kletterpartien herausgefordert. Der Ort der Besinnung wurde vielfach als Ort des Vergnügens rezipiert, und es ist zu fragen, ob die Abstraktion vom Erinnerten die Ursache dafür ist. Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas ist der jüngste und künstlerisch ausgefeilteste Erinnerungsort. Es bezeugt die Identitätsbildung der neuen BRD, die sich der Verantwortlichkeit für den Nationalsozialismus und der Schuld stellt, ohne sich unmittelbar selbst schuldig bekennen zu müssen. Freiheit wird nicht mehr als Freiheit vom Kommunismus definiert. Das Denkmal steht insofern innerhalb einer Entwicklungsreihe von Erinnerungs© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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orten, die sich auf das „Dritte Reich“ beziehen. Den Beginn dieser Entwicklung markiert der letzte hier erwähnte Ort der neuen Mitte, die Topographie des Terrors auf dem Gelände des ehemaligen Prinz-Albrecht-Palais an der Niederkirchnerstraße. Es ist bezeichnend für die Bedeutung dieses unmittelbar im Schatten der ehemaligen Mauer gelegenen Terrains, dass der Blick auf die Mauer, die an dieser Stelle nach 1990 als Original erhalten blieb, für die hier geleistete Gedenkstättenarbeit keine wesentliche Rolle spielt. Daran zeigt sich die Veränderung West-Berlins als eines Symbols von Freiheit, das sich immer weniger in Abgrenzung zur DDR definierte und zunehmend durch die Distanzierung vom Nationalsozialismus. Das Prinz-Albrecht-Palais, in dem seit 1934 der Sicherheitsdienst der SS residierte und das Dienstsitz Heinrich Himmlers als Chef der Geheimen Staatspolizei war, ist unmittelbar mit den Verbrechen des „Dritten Reichs“ konnotiert. Hier wurden die organisatorischen Voraussetzungen der Deportationen geschaffen und die Tätigkeit der Einsatzgruppen koordiniert. Im Krieg wurde das Gebäude zum Teil zerstört, danach die Reste gesprengt und abgeräumt, nach Zwischennutzungen durch eine Baustoff-Verwertungsfirma und ein Autodrom erkannte der Senat Mitte der 80er Jahre die historische Brisanz und Bedeutung des Geländes. Zur 750-Jahr-Feier beschloss er die Dokumentierung der Geschichte des Geländes und beauftragte dazu ein unabhängiges Team von Historikern unter Leitung von Reinhard Rürup. 1987 öffnete die Dokumentation Topographie des Terrors als provisorische Ausstellung auf dem Gelände und etablierte sich schnell als Ort historischer Bildungsarbeit. Der öffentliche Umgang mit dem authentischen Erinnerungsort blieb jedoch schwierig. Nach dem Beschluss, die provisorischen Ausstellungsräume durch einen Neubau zu ersetzen, begann 1995 der Neubau der Ausstellungshalle auf dem Gelände nach Plänen des Schweizer Architekten Peter Zumthor. Technische Probleme, die die Baukosten in unvorhergesehene Höhen trieben, führten zum Baustopp und schließlich 2005 zum Abriss der bereits fertiggestellten Treppentürme. In einem erneuten Ausschreibungsverfahren wurde schließlich 2006 der Entwurf der Architektin Ursula Wilms (Berlin) und des Landschaftsarchitekten Heinz W. Hallmann (Aachen) ausgewählt und der Neubau im November 2007 begonnen. Dieser durch Verzögerungen von Entscheidungen geprägte Umgang mit der Topographie wirft kein günstiges Licht auf die deutsche Haltung gegenüber authentischen Orten der Erinnerung an den Nationalsozialismus. Es scheint an Bewusstsein zu mangeln, dass die Topographie in der internationalen Gedenkstättenlandschaft eine prominente Stelle einnimmt. Sie markiert in besonderer Weise den Beginn eines bewussten und verantwortungsvollen Umgangs mit dem Nationalsozialismus in Deutschland und eines neuen Verständnisses demokratischer Freiheit, wie sie Richard von Weizsäcker in seiner Ansprache zum 8. Mai 1986 erstmals öffentlich definiert hatte. Er verstand Freiheit als Befreiung vom Faschismus. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Den Themenkomplex West-Berlin als symbolischer Erinnerungsort des Freien Westens abschließend können konkrete Fragen mit Blick auf die genannten Beispiele erörtert werden. Zum ersten stellt sich die Frage nach der Qualität von Erinnerungsorten: Bei fast allen genannten Beispielen ist das Grabmal als Modell von Erinnerungsorten erkennbar. Die Idee wird allerdings gestalterisch unterschiedlich umgesetzt: provisorisch im ersten Beispiel der Mauerkreuze, künstlerisch im Fall des daraus entwickelten neuen Denkmals an der Spree und architektonisch ausgefeilt beim Holocaust-Mahnmal. Das Gedenken findet immer perfektere und großräumigere Formen, die Erinnerung zunehmend institutionalisieren. Mit Aleida Assmann kann man hier den Gegensatz von historischen, bzw. authentischen und symbolischen, bzw. künstlichen Erinnerungsorten eröffnen. Zum zweiten provozieren alle Beispiele die Frage nach der Motivation für Erinnerung. Warum wird erinnert? Und, dies weiterdenkend, woran sollte erinnert werden? Als Befund muss zunächst auf die gesellschaftliche Relevanz aller Beispiele verwiesen werden. Bei der Errichtung der Denkmale spielen öffentliche Stellen, wie auch Bürgerinnen und Bürger eine bedeutende Rolle. Die Erinnerungsorte stehen im Dienste gesellschaftlicher Identitätsbildungsprozesse. Im Zentrum steht der Begriff der Freiheit, verstanden als Individualrecht zur Meinungsäußerung, als freie Wohnortwahl, als Versammlungsfreiheit. Dieser Begriff erschließt sich durch Abgrenzung und Konfrontation: in den 50er und 60er Jahren als Abgrenzung von der staatlich nicht anerkannten DDR, in einer zweiten, in den 1980er Jahren parallel einsetzenden Phase durch Abgrenzung bzw. Distanzierung vom „Dritten Reich“, was gleichzeitig die historische Aufarbeitung dieser Zeit bedeutete. Wie wichtig die Erinnerung an den Nationalsozialismus für das heutige Deutschland ist, welches Denkmal besonders wichtig für unser Lebensgefühl und unsere politischen Einstellungen ist, diese Frage könnte eine Schlussdiskussion zu diesem Exkursionsteil einleiten.
Schaufenster des Westens Berlin als Symbol des freien Westens besitzt nicht nur eine politische Komponente, sondern auch eine ökonomische. Die Stadt, die bis zur Wende als „Schaufenster des Westens“ galt, steht auch für die enge Verbindung des demokratischen Freiheitsgedankens mit marktwirtschaftlichen Prinzipien. Freiheit verstand sich allzu häufig hauptsächlich als Freiheit des Warenkonsums. Dahinter verbirgt sich die Auffassung, dass ökonomischer Erfolg ein Resultat und somit zugleich ein Gradmesser für politische Freiheit sei. In dem Schlagwort vom Schaufenster des Westens realisierte sich dieser Transfer von Ideen in Waren. Zwei Erinnerungsorte, die im Folgenden vorgestellt werden sollen, veranschaulichen diesen Vorgang. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Das Luftbrückendenkmal am Platz der Luftbrücke vor dem Zentralflughafen Tempelhof
Der erste Erinnerungsort findet sich im Bezirk Tempelhof mit dem Flughafen. In der vor dem Haupteingang gelegenen Grünanlage steht seit 1951 das Denkmal für die Berliner Luftbrücke. Der nach dem Entwurf von Eduard Ludwig aus Beton gegossene Bogen versinnbildlicht einen Brückenbogen und seine drei Spitzen die drei Luftkorridore, die zwischen Juni 1948 und Mai 1949 die einzige Verbindung zwischen West-Berlin und den Westsektoren waren. Die Inschrift nennt die 31 amerikanischen und 39 britischen Flieger sowie vier deutsche Helfer, die bei ihrer Arbeit den Tod fanden: „Sie gaben ihr Leben für die Freiheit Berlins im Dienste der Luftbrücke.“ Das Denkmal und der Flughafen haben eine Schlüsselbedeutung für das symbolische Verständnis West-Berlins. Zum einen ist die Berliner Luftbrücke ein Gründungsmythos West-Berlins als Brückenkopf des Westens und zum anderen wird mit ihr greifbar, wie eng sich ideelle und materielle Komponenten in der Definition des westlichen Freiheitsbegriffs verbinden. Als die SBZ im Juni 1948 die Bahn- und Straßenverbindungen der Westzonen zu den Westsektoren kappte, bedeutete das zunächst ein materielles Problem. Die Ressourcen der von ihrem Umland abgeschnittenen Stadt reichten nur kurze Zeit zur Versorgung der Bevölkerung aus. Diese Nahrungsmittelblockade war ein Instrument innerhalb eines ideologischen Kampfes, der darauf abzielte, West-Berlin in die sowjetisch © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Eine Douglas C 54 Skymaster am Rand des FlughafensTempelhof
besetzte Zone einzugliedern. So war es den West-Berlinern beispielsweise gestattet, sich aus dem Ostteil zu versorgen um so quasi mit den Lebensmitteln auch die politische Anschauung des Ostens zu akzeptieren.14 Die ökonomische Situation war ein Vehikel, politische Ideologien durchzusetzen. In diesem Rahmen ist auch der Erinnerungsort Luftbrückendenkmal zu bewerten. Die nach dem Beginn der Blockade aufgenommene Versorgung der Millionenstadt durch alliierte Flugzeuge sicherte mit West-Berlin auch die politischen Ideale der Alliierten. Freiheit definiert sich in der Luftbrücke in dem Maße, wie die Versorgung mit Lebensmitteln, Gebrauchs- und Wirtschaftsgütern und Rohstoffen gewährleistet wurde. Die technische und logistische Überlegenheit der Westalliierten war aufs Engste mit dem politischen Ideal der demokratischen Freiheit verquickt.15 Dass die Luftbrücke eine Variante des militärischen Kampfes der Ideologien darstellte, zeigt auch der nähere Blick auf ihre Logistik. Am Rande des Rollfeldes des Flughafens Tempelhof steht zur Erinnerung an die logistische Großtat eine C 54 – einer der gängigen Flugzeugtypen, der während der Blockade eingesetzt wurde. Bekannt wurden die Transportmaschinen unter dem Namen „Rosinenbomber“, in dem der militärische Aspekt der Luftbrücke metaphorisch aufscheint. In der Tat waren die meisten der Luftbrückenflugzeuge während der Kriegsjahre für Angriffe auf deutsche Städte genutzt worden.16 Drei Jahre nach © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Kriegsende setzten die Amerikaner sie ein, um die abgeschnittene Millionenstadt mit Lebensmitteln zu versorgen. Darin liegt eine Begründung für das Gelingen des Unternehmens. Letztlich funktionierte die Luftbrücke so gut, da alle Beteiligten von den während der Kriegszeit erworbenen Kenntnissen hinsichtlich Logistik, fliegerischem Können und Verwaltung von Mangelwirtschaft profitierten und diese Erfahrungen im zivilen Bereich anwandten. Die Luftbrücke war auch darin ein mit nicht-militärischen Mitteln ausgeführter Schlag des Westens gegen den Kommunismus. Hinzu kam die Solidarität der Berliner, die die fast ein Jahr währenden Einschränkungen in Kauf nahmen – auch sie zehrten dabei von ihren während des Krieges gesammelten Alltagserfahrungen mit Versorgungsengpässen. Diese Solidarität machte aus den alten Feinden neue Freunde und begründete den Mythos der Luftbrücke als erste Aktion, die Deutsche und Alliierte im Kampf um die demokratische Freiheit gemeinsam ausfochten. Das Bewusstsein darüber herrschte bereits bei den Zeitgenossen, wie es etwa die Rede des damaligen amerikanischen Militärgouverneurs General Lucius Clay festhielt, die er kurz nach Beendigung der Blockade vor dem Berliner Stadtparlament hielt: „Es gibt zwei Gruppen von Helden der Luftbrücke. Erstens die Piloten, die bei jedem Wetter die Flugzeuge nach Berlin brachten, und zweitens die Bevölkerung von Berlin, die, nachdem sie die Freiheit gewählt hatte, auch die notwendigen Opfer auf sich nahm.“17 Der Einsatz von im Krieg gewonnenen Erfahrungen zur Verteidigung von individuellen und politischen Freiheitsrechten durch die Sicherung materieller Ressourcen kennzeichnet die Luftbrücke als auch heute noch gültigen Gründungsmythos des Bundesrepublik, der fest an Berlin gebunden war. Die Solidarität der Berliner mit ihren Versorgern nahm die nach 1950 auch durch politische Vertragswerke manifestierte Westbindung Westdeutschlands vorweg. Berlin blieb von da an ein Schaufenster westlicher Leistungs- und Produktionskraft. Die Metapher vom Schaufenster war jedoch nicht nur eine bildhafte Formel, sondern sie realisiert sich an einem konkreten Ort, der schon immer ein zentrales Ziel jugendlicher Berlin-Touristen war, dem Kaufhaus des Westens am Wittenbergplatz, kurz KaDeWe. Ulrich Enzensberger beschreibt das KaDeWe als Symbol West-Berlins, in das er Mitte der 60er Jahre als Student kam: „Friedlich schaukelte der Doppelstockbus zwischen [...] den tristen Blöcken des Wiederaufbauprogramms dem Höhepunkt des Berliner Kapitalismus, dem Kaufhaus des Westens, entgegen.“18 Für Enzensberger, der die Studentenbewegung von 1968 aktiv mittrug und ein Gründungsmitglied der Kommune 1 war, ist das Kaufhaus Symbol des westlichen Kapitalismus, der sich in Berlin als Freiheit des Warenkonsums konkretisiert. Der Ruf als Konsumtempel eilt dem Kaufhaus nicht zu Unrecht voraus. Bereits die Abkürzung verweist auf die Gründungsgeschichte dieses mittlerweile legendären Warenhauses, das in den 20er Jahren die aus den USA übernommene © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Haupteingang des KaDeWe in der Tauentzienstraße
Mode der Abkürzung übernahm und zu seinem Markenzeichen machte. Mit seiner Gründung im Jahr 1907 setzte das KaDeWe bewusst Maßstäbe für die wirtschaftliche Entwicklung des westlichen Stadtteils, der in dieser Zeit sein Gesicht als Einkaufsmeile gewann. Das Warenhaus sollte die Entwicklung des gerade emporwachsenden mondänen Viertels im „neuen Westen“ entlang von Kurfürstendamm und Tauentzienstraße zum neuen Geschäfts- und Einkaufsviertel beschleunigen. Das Konzept ging auf. In den 1920er Jahren besaß der Kurfürstendamm als Shoppingmeile bereits jene Eleganz, die ihn zur modernen Ergänzung der Leipziger Straße und des Boulevards Unter den Linden im alten Zentrum machte. Das amerikanische Vorbild spielte auch bei der Profilbildung des Unternehmens eine bedeutende Rolle und zeigte sich zum Beispiel in den Marketingstrategien des KaDeWe, das als eines der ersten Warenhäuser Werbeanzeigen schaltete, seine Fassade mit Lichtwerbung und Außenreklamen versah und großzügige Schaufenster einrichtete. Insbesondere die Schaufensterwerbung war ein zentrales Marketinginstrument für die Imagebildung des Hauses, das in diesem Bereich künstlerische und gestalterische Maßstäbe setzte.19 Das Kaufhaus, das den Krieg nahezu unbeschädigt überstand, knüpfte nach 1945 an diese Tradition an, die es bis heute bewahrt. Die Schaufenstergestaltung und die Dekorationen trugen zum Ruf des Hauses, das nicht nur aufgrund seines Warenangebots Touristen © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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anzieht,20 bei. Der bereits in den 1920er Jahren formulierte Anspruch, Luxus für eine breite Öffentlichkeit anzubieten, gilt nach wie vor. Als am 9. November 1989 die Mauer fiel und zahlreiche DDR-Bürger nach West-Berlin strömten, war einer ihrer wichtigsten Anlaufpunkte der Kurfürstendamm und das KaDeWe, wo das Überangebot eines internationalen „Warenkorbes“ sich ebenso sinnbildhaft wie greifbar konkretisierte. Ein Gegenbild dieses Symbols, das die gängigen Vorstellungen über West-Berlin geprägt hat, soll hier nur kurz erwähnt werden. Nach wie vor gilt Kreuzberg, das inzwischen verwaltungstechnisch mit dem Ostberliner Bezirk Friedrichshain verbunden ist, als Quartier, das in besonders hohem Maße für Kreativität und Freiheit steht, und aus dem fundamentale Kritik am Kapitalismus geäußert wurde. Sie offenbarte sich in der Hausbesetzerszene, die in den 1980er Jahren für kommunalpolitischen Zündstoff sorgte. Ausgelöst durch aggressive Flächensanierungen im Bezirk, die Mitte der 1970er Jahre große Teile der ursprünglichen Altbausubstanz zerstörten und durch Betonarchitektur ersetzten, formierte sich Ende der 1970er Jahre die Bürgerinitiative SO 36. Sie besetzte 1979 demonstrativ zwei leerstehende Wohnungen und erhob die Forderung nach Wiedervermietung der Räume, die anschließend in Eigeninitiative saniert wurden. Das Beispiel machte Schule und führte zu weiteren Aktionen dieser Art (Waldemarstraße 33, Leuschnerdamm 9, Fraenkelufer 48). Sie verliefen zum Teil erfolgreich und erwirkten die Vermietung der Räume. Mitunter kam es jedoch zum Konflikt zwischen Hausbesetzern und Eigentümer und zu Räumungsaktionen durch die Polizei, die in Gewalt eskalierten, wie im Fall der Besetzung des Hauses Fraenkelufer 48 im März 1980. Diese Konflikte mit den Hausbesetzern gehören heute der Vergangenheit an. Der Bezirk ist mittlerweile in den meisten Teilen saniert, von dem einstigen revolutionären Pathos ist nur noch ein Nachhall geblieben. Dennoch steht das Gebiet zwischen Kottbusser Damm und Oberbaumbrücke nach wie vor für alternative soziale Lebensformen jenseits des bürgerlichen Kleinfamilienmodells, die die Hausbesetzer erprobten, und birgt ein hohes Potential künstlerischer Kreativität. Tatsächlich ist die Infrastruktur des Viertels mit zahlreichen Fabriketagen für Kunstschaffende verschiedener Sparten nach wie vor ein attraktives Lebens- und Arbeitsfeld, sowohl im weiter östlich gelegenen ehemaligen SO 3621 als auch in dem eher bürgerlichen Viertel rund um den Mehringdamm. Der hohe Anteil vor allem türkischer Einwohner macht den Bezirk zu einer multikulturellen Zone und damit aber auch zu einem Austragungsort kulturell begründeter Konflikte, deren Lösung ein gutes Maß von Toleranz im Alltag erfordert. Inwieweit das in Zukunft gelingen wird, kann ein Maßstab dafür sein, inwieweit sich demokratische Ideen von Freiheit und Gleichberechtigung im sozialen Miteinander umsetzen lassen. Abschließend und mit dem Ziel, ein Fazit zu ziehen, möchte ich einen letzten © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Berliner Erinnerungsort in den Blick rücken, der sich in seiner jetzigen Gestalt weder eindeutig dem Osten noch dem Westen zuweisen lässt und an dem sich die Veränderungen des Erinnerungsortes Berlin benennen lassen. Die Rede ist vom Potsdamer Platz. An den Veränderungen, die dieser Ort in den vergangenen zehn Jahren vollzogen hat, werden zwei Tendenzen des Erinnerungsortes Berlin deutlich: Zum einen verschwindet seine Bedeutung als Symbol der politisch-ideell definierten demokratischen Freiheit, während im Gegenzug eine zunehmende Profilierung Berlins als Wirtschaftsstandort zu bemerken ist. Zum zweiten ist der Verlust authentischer Erinnerungsorte und die Favorisierung künstlich geschaffener Memorialorte im Sinne Aleida Assmanns zu beobachten. Der Potsdamer Platz war bis zu Beginn der 1990er Jahre sowohl geografisch als auch gedanklich ein zentraler Ort, der die Erinnerung an das Ende des Krieges, die Folgen der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft und die deutsche Teilung wach hielt. Die nur durch den Verlauf der Mauer unterbrochene Brachfläche im Herzen der Stadt wurde als Wunde empfunden, und rief durch ihre desolate Öde und Stille die Erinnerung an das große Problem der deutschen Geschichte ins Bewusstsein. Dass im Bereich des damaligen Todesstreifens auch die Reste von Hitlers Führerbunker unzugänglich im Boden lagen, war ein unsichtbarer, aber präsenter Wink auf den Nationalsozialismus als Ursache des Krieges und die Spaltung Deutschlands in zwei Staaten, deren Ränder sich am Potsdamer Platz für jeden sichtbar berührten. Die Wende beendete diesen Zustand. Die aus der Wiedervereinigung erwachsenden stadtplanerischen Bemühungen richteten sich umgehend auf den Potsdamer Platz, der vom Berliner Senat an wenige Großinvestoren veräußert wurde. Damit war das Schicksal des Platzes als künftiger Ort von Konsum und Unternehmerkapitalismus besiegelt. Als erstes fertiggestellt wurde 1999 das Areal der Daimler/Chrysler-Gruppe. Hier befinden sich nicht nur die Daimler Financial Services, sondern auch eine Shopping-Mall sowie ein Musicaltheater und eine Spielbank. Der gegenüberliegende, 2000 fertiggestellte Sony-Komplex verzichtet auf eine Einkaufsmeile und bietet dafür ein Vergnügungsareal mit Kino sowie zahlreiche Wohnungen. Das A&T-Areal, der Verwaltungsturm der Deutschen Bahn und das Beisheim-Center, auf der Nordseite des Platzes gelegen, sind die jüngsten Gebäude. Die Umgestaltung des Platzes zu einer Renommieradresse der europäischen Wirtschaft versteht sich als Rückkehr zur verlorenen Bedeutung, die der Platz vor dem Mauerbau als Verkehrszentrum Berlins besaß. Es bedeutet andererseits aber auch die Beseitigung der letzten Spuren der Symbolik des Platzes als Erinnerungsort der problematischen deutschen Geschichte zwischen „Drittem Reich“ und Nachkriegszeit. Die ungeheure Aggressivität, mit der die Wiederbebauung des Areals erfolgte und die das Gelände zwischenzeitlich zur größten Baustelle Europas machte, © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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und die rasant schnelle Beseitigung der Leere muss als Versuch erscheinen, auch die mit ihr verbundenen Erinnerungen zu überbauen und vergessen zu machen. Die Restauration des Potsdamer Platzes zum „verkehrsreichsten Platz Europas“ bedeutete implizit auch eine Rückkehr zum Zustand vor dem Mauerbau. Die dazwischenliegende Zeitschneise sollte ungeschehen gemacht werden. Diese Ausblendung provozierte jedoch viele Fragen, denn es zeigt sich, dass bei Berlinern wie bei Touristen gleichermaßen der Wunsch vorhanden ist, die vergangenen fünfzig Jahre zu erinnern. Das Bedürfnis, den Mauerverlauf und die Dimension der Grenzanlagen am authentischen Ort zu erleben, wird im Bereich der „neuen Mitte“ jedoch zurzeit nicht befriedigt. Eine aktuelle Debatte im Berliner Senat und in der Bundesregierung reflektiert deshalb derzeit die Notwendigkeit, die allzu schnell beseitigte und zu Straßengranulat zerkleinerte Mauer im Rahmen eines die Stadt übergreifenden Gedenkstättenkonzeptes zumindest im kollektiven Gedächtnis am Leben zu halten.22
Checkpoint Charlie Berlin Friedrichstraße, Juni 2008 © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Das Dilemma zwischen dem Bedürfnis, die toten Orte der Erinnerung in lebendige Stadträume zu verwandeln, und dem, sie in ihrer authentischen Gestalt als Zeugen von die eigene Identität bildender Geschichte zu bewahren, verdichtet sich am Potsdamer Platz. Dort richtete die Senatsverwaltung im Juli 2005 eine provisorische Ausstellung ein. Sie besteht aus sieben Teilen der Berliner Mauer am originalen Ort entlang des alten Mauerverlaufs und ergänzenden Informationstafeln. In der Niederkirchnerstraße sind etwa 200 Meter Originalmauer auf dem Gelände der Topographie des Terrors erhalten geblieben und geben einen authentischen Eindruck von der vormaligen Grenzsituation. Ein Erinnern am historischen Ort ist ebenfalls die unweit gelegene Freiluftausstellung an der Friedrich-/Ecke Zimmerstraße zur Geschichte des ehemaligen Grenzübergangs Checkpoint Charly. Die Galerieausstellung auf Stellwänden unter freiem Himmel ist ein junges Provisorium. Dennoch schließt sie gerade durch ihre provisorische Form eine Informationslücke zu diesem einzigartigen und vielbesuchten Erinnerungsort. Wie die Mauer in den nächsten Jahren dokumentiert werden soll, das ist der aktuelle Gegenstand stadtplanerischer Aktivitäten in Berlin.
Anmerkungen 1 Gezeigt wird in diesem Aufsatz bewusst eine westdeutsche Perspektive. Zu Berlin als Erinnerungsort ostdeutscher Geschichte und Identität vgl. den Beitrag im 2006 erschienenen Band 1 der „Ortstermine“ (158-172) von Tobias Nahlik: Berlin, Hauptstadt der DDR. 2 Ernst Reuter: Schriften, Reden. Bd. 4. Berlin 1975, 200 ff. 3 Alle Parteien – mit Ausnahme der SED – unterstützten die Gründung. Realisiert werden konnte das Projekt letztlich nur durch finanzielle, materielle und ideelle Hilfen der USA. Der Universitätsbetrieb wurde Mitte November 1948 aufgenommen, die feierliche Eröffnung fand am 4. Dezember 1948 statt. Die Gründung der Hochschule fiel damit in die Zeit der Berlin-Blockade und setzte in dieser Krisenzeit ein Zeichen für das Bekenntnis der Berliner zu demokratischen Werten. Vgl. Präsidenten der FUB (Hrsg.): 40 Jahre Freie Universität. Die Geschichte 1948-1988. Einblicke, Ausblicke. Berlin 1988. 4 Zum Umgang mit dem Nationalsozialismus in der frühen Bundesrepublik vgl. Norbert Frei: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen. München 2005. 5 Dagegen nahmen die Bewohner Ost-Berlins, die sich frei im Berliner Umland bewegen konnten, die West-Berliner als eingemauerte Bewohner einer Insel wahr. 6 Dem ersten Maueropfer Peter Fechter wurde bereits kurz nach seinem Tod am historischen Ort seines gescheiterten Fluchtversuchs vom August 1962 an der Zimmerstraße ein Holzkreuz errichtet. Das Kreuz musste in den 1990er Jahren weichen und ist inzwischen durch eine einfache Metallstele ersetzt. Noch immer ist die Zahl der Maueropfer nicht endgültig ermittelt. Schätzungen belaufen sich auf rund 200 Todes- und Verdachtsfälle für das Gebiet Berlin (Studie der Birthler-Behörde, August 2005). © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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7 Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1989, 326. Assmann unterscheidet in authentische Erinnerungsorte und symbolische, vom Ort des erinnerten Ereignisses ferne Erinnerungsorte. 8 Stand August 2005. Ob die Gedenkstelle in Zukunft verändert werden soll, ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht klar. Ebenso fehlt vor Ort eine Erklärung der doppelten Gedenkanlage. Die Hinweistafel am Spreeufer verweist nicht auf die Mauerkreuze an der Ebertstraße. 9 Vgl. A. Assmann: A.a.O. 37. Assmann bestimmt das ehrende Totengedenken als erste Form der Erinnerungskultur, zu dem sich der Totenkult der Fama als Andenken an Ruhm und Heldentum gesellt. 10 Anhand des Denkmals kann die komplexe Symbolik des Reichstagsgebäudes angesprochen werden. Zu Details zum Reichstag vgl. in diesem Band auch den Beitrag von Alexander Weiß: Der Reichstag in Berlin. Zwischen nationalem und parlamentarischem Andenken. 11 Mit dem Beschluss der Bundesregierung vom 20.06.1991, Berlin zum Sitz des Bundestages zu machen, war die neue Nutzung des Gebäudes besiegelt. 12 Peter Eisenmann hat mit Blick auf die Massenmorde des Holocaust eine Veränderung in der Formsprache der Erinnerung gefordert: „Die Markierungen, die früher Symbole eines individuellen Todes waren, müssen nun geändert werden und dies hat erhebliche Auswirkungen auf die Idee der Erinnerung und des Monuments.“ Peter Eisenmann: Denkmal für die ermordeten Juden Europas. www.holocaust-mahnmal.de/stelenfeld/architektur 13 A. Assmann: A.a.O. 326. 14 Die perfekte Blockade? Über Mythos und Legenden. In: Uwe Förster/Stephanie v. Hochberg/ Ulrich Kubisch/Dietrich Kuhlgatz (Hrsg.): Auftrag Luftbrücke. Der Himmel über Berlin 1948-1949. Berlin 1998, 363. 15 Die Luftbrücke wurde bereits während ihrer Durchführung als technischer Erfolg gefeiert. Regelmäßig berichteten die auf eingeflogenem Papier gedruckten Berliner Zeitungen von den Transportleistungen der alliierten Flieger. Vgl. den Dokumentationsband Luftbrücke Berlin. Berlin. Ein dokumentarisches Bildbuch. Berlin 1949. 16 Zum Beispiel der gängige Typ der Avro Lancaster, mit der die Royal Air Force während des Kriegs ihre Bomberstaffeln ausrüstete. Zu diesem technischen Aspekt vgl. U. Förster/St. v. Hochberg/U. Kubisch/D. Kuhlgatz (Hrsg.): A.a.O. 198-233. 17 Rede General Lucius D. Clays in der Festsitzung des Berliner Stadtparlaments 1949. In: Ebd. 79. 18 Ulrich Enzensberger: Die Jahre der Kommune 1. Köln 2004, 63. 19 KaDeWe. Kaufhaus des Westens 1907-1932. Berlin 1932, 15, 48. 20 Eine besondere Attraktion sind in jedem Jahr die Weihnachtsdekorationen des Hauses, das dazu mitunter namhafte Künstler heranzieht. 21 SO 36 bezeichnet den alten Postzustellbezirk Südost 36, der mit der Reform der Postleitzahlen 1993 endgültig verschwand. Bis dahin hatte der Bezirk noch die Postleitzahl 1000 Berlin 36 getragen. 22 Vgl. die Erklärung des ehemaligen Berliner Kultursenators Thomas Flierl vom 18.04.2005 (www.senwisskult.berlin.de/1_aktuell/inhalt/1_presse/1_kultur/2005/pdf/Mauergedenken.pdf ), die den Stand der Planungen zusammenfasst und einen Überblick über die Entwicklung seit 1989 gibt.
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Deutsche Juden oder jüdische Deutsche? Zur Bedeutung ausgewählter Lernorte für historisch-politische Bewusstseinsprozesse am Beispiel Berlin*
Waren Heinrich Heine, Albert Einstein, Max Reinhardt, Walther Rathenau, Leo Baeck, Kurt Tucholsky und Stephan Heym, sind Michel Friedmann, Hugo-Egon Balder und Peter Zadek nun deutsche Juden oder jüdische Deutsche bzw. deutsche Staatsbürger „mosaischen“ bzw. „israelitischen“ oder jüdischen Glaubens oder jüdischer Herkunft? Bis heute tut sich die große Mehrheit der nicht-jüdischen Deutschen schwer schon allein mit dieser Fragestellung. Verbreitet herrscht Unsicherheit vor, und der Sprachjargon der NS-Zeit wirkt vielfach nach. Wie also verhält man sich „den Juden“ gegenüber sprachlich und politisch korrekt? Der ehemalige Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, kannte die Sprachverwirrung und Unkenntnis seiner Landsleute zur Genüge. Unterstellt wurde ihm und anderen öfters, doch eigentlich als Juden zum israelischen Volk zu gehören. Doch für den deutschen Staatsbürger Ignatz Bubis war es keine Frage, dass er Deutscher jüdischen Glaubens ist wie andere deutsche Bürger christlichen oder anderen Glaubens sind. Unsicherheit gepaart mit bei sich selbst vermuteten Wissenslücken, das bewegt nicht-jüdische Deutsche seit Jahren, sich dem Judentum im Allgemeinen und den Deutschen jüdischer Herkunft im Besonderen zuzuwenden. Studienfahrten zu Orten jüdischer Geschichte in Deutschland und Europa sowie Seminare der politischen Bildung zeugen davon. Gerade ältere Menschen scheinen über jenen Teil ihrer eigenen Nationalgeschichte mehr wissen zu wollen, der durch ihre ehemaligen Landsleute jüdischer Herkunft geprägt worden ist. Und dieses Interesse geht deutlich über den Tiefpunkt jüdischer Geschichte hinaus: die Shoah, der durch die Deutschen verübte Massenmord, Genozid am europäischen Judentum. Die enorme Anzahl von in- wie ausländischen Besuchern im 2001 eröffneten Jüdischen Museum in Berlin, das sich ausdrücklich der gesamten 2000 Jahre alten Geschichte der Juden in Deutschland widmet, spricht da für sich. Aber lassen wir uns davon und von der starken Nachfrage nach Seminaren wie z.B. „Judentum in Deutschland am Beispiel der Berliner Jüdischen Gemeinde“ in Berlin1 nicht täuschen: Politisch interessiert war und ist nur eine Minderheit der Bevölkerung; nur ein Teil davon besucht Veranstaltungen der politischen Bildung und favorisiert das Thema Juden/Judentum. Schließlich ist der Antisemitismus nicht zuletzt in Deutschland nach wie vor fest verankert. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Dennoch ist Berlin, Hauptstadt und Regierungssitz, Schauplatz deutscher Geschichte, an sich schon ein historisch-politischer Lernort; und die Stadt ist dies gerade bezüglich der Geschichte der Juden in Deutschland sowie der Gegenwart und Zukunft der Jüdischen Gemeinde im Land der Täter. Im Folgenden werden deshalb sowohl historische Lern- bzw. Erinnerungsorte in Berlin vorgestellt, die die Geschichte der Deutschen jüdischer Herkunft und den Völkermord an ihnen thematisieren, als auch solche Orte, die darüber hinaus in Gegenwart und Zukunft weisen.
Lernorte im Überblick Die deutsche Hauptstadt bietet hinsichtlich der Geschichte und Gegenwart der Entwicklung und des Beziehungsdramas zwischen christlicher Mehrheitsgesellschaft und jüdischer Minderheit eine große Vielfalt an historisch-politischen Lern- und Erinnerungsorten sowie an Begegnungsorten. Die Blütezeit des deutschen Judentums, beginnend im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts, ist untrennbar mit Berlin verbunden. Lebten Mitte des 18. Jahrhunderts nur etwa 2.000 Juden in Berlin, so war deren Zahl 1933 auf 160.000 (= ca. 4% der Stadtbevölkerung) angewachsen. Damals existierten allein 94 Synagogen und Bethäuser. Von den etwa 500.000 deutschen Juden lebte allein ein Drittel in der Hauptstadt.2 So nimmt es nicht Wunder, dass es seit Jahren Broschüren und Bücher über „Jüdische Stätten in Berlin“ gibt.3 Hermann Simon nennt 8 Synagogen, 5 Friedhöfe, 17 religiöse, kulturelle oder pädagogische Institutionen, 6 Museen, 14 Gedenkstätten sowie 12 Straßen und Plätze.4 Nicht alle, aber die meisten dieser Orte stellen historisch-politische Lernorte in dem Sinne dar, dass sie exemplarisch Segmente gesellschaftlich-kulturell-religiöser, wirtschaftlich-sozialer und politischherrschaftlicher Wirkungszusammenhänge aufzeigen können.5 Zwar sind viele dieser Stätten des Judentums in Berlin tatsächliche Orte der Erinnerung, nicht aber Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität der Deutschen insgesamt, also nicht unbestritten relevant für eine gemeinsame nationale Identität. Dass ein Ortstermin an solchen Lernorten, eingebettet in ein überzeugendes und schlüssiges didaktisch-methodisches Konzept, Anstöße für historisch-politisches Lernen bieten und bewusstseinsverändernde Prozesse bewirken kann, wird hier behauptet. Rückmeldungen von Teilnehmern und Teilnehmerinnen bestätigen das ebenso wie Ergebnisse einer Studie über die Wirkungen politischer Erwachsenenbildung.6 Einige der wichtigsten für Vergangenheit und Gegenwart des Judentums bedeutsamen Stätten in Berlin sind: © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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y die Neue Synagoge/Centrum Judaicum in der Oranienburger Straße und mit ihr diverse Orte in angrenzenden Straßen einschließlich der des ehemaligen Scheunenviertels, Berlin-Mitte; y die Synagoge in der Rykestraße (die größte in Deutschland), Prenzlauer Berg; y der (älteste) Friedhof in der Großen Hamburger Straße, Mitte; y der Friedhof in der Herbert-Baum-Straße (der größte jüdische in Europa), Weißensee; y der Friedhof in der Schönhauser Allee, Prenzlauer Berg; y das Leo-Baeck-Haus in der Tucholsky-Straße, Mitte; y die Jüdische Knabenschule/das Jüdische Gymnasium in der Großen Hamburger Straße, Mitte; y das Haus der Wannsee-Konferenz, Am Großen Wannsee, Zehlendorf; y das Jüdische Museum in der Lindenstraße, Kreuzberg; y der Block der Frauen in der Rosenstraße, Mitte; y das Denkmal für die ermordeten Juden Europas mit dem Ort der Information neben dem Brandenburger Tor in der Ebertstraße/Cora-Berliner-Straße, Tiergarten; y die Orte des Erinnerns im Bayerischen Viertel, Schöneberg; y das Deportationsmahnmal S-Bahnhof Grunewald, Am Bahnhof Grunewald. Der zuerst erwähnte Bereich rund um die Neue Synagoge in der Oranienburger Straße kann für sich als ein Ort des Erinnerns und zugleich als einer der Orte im heutigen Berlin definiert werden, an dem jüdisches Leben und Alltag zum Teil wieder erlebbar sind. Einige wenige der dort vorfindbaren Orte sind bereits in der o.a. Auflistung enthalten. Im Folgenden soll jedoch zusätzlich noch auf andere im Viertel vorfindbare Orte eingegangen werden. Die ausgewählten Beispiele stehen vor allem für das Potential, das diese Orte hinsichtlich ihres faktischen oder möglichen Gegenwartsbezuges und damit für aktuell-politisches Lernen auf der Grundlage historischen Lernens enthalten. Dabei wurden zudem weniger bekannte, weniger prominente Orte berücksichtigt.
Das Viertel um die Neue Synagoge In dem Stadtgebiet rund um die Neue Synagoge/Centrum Judaicum einschließlich des ehemaligen Scheunenviertels reiht sich Lernort an Lernort. Zu beachten ist, dass der häufig gebrauchte Begriff „Scheunenviertel“ für die Gegend nordwestlich des Alexanderplatzes geographisch nicht mit der gesamten Spandauer Vorstadt gleichzusetzen ist, sondern historisch-geographisch korrekt nach heutigen Straßennamen Folgendes bezeichnet: in etwa das Gebiet von der Rosa-LuxemburgStraße im Osten bis zur Rosenthaler Straße im Westen sowie von der Torstraße im Norden bis zur Neuen Schönhauser Straße/Münzstraße im Süden.7 Darüber © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Skulptur „Jüdische Opfer des Faschismus“ des Bildhauers Will Lammert am Ort des ehemaligen jüdischen Friedhofs an der Oranienburger Straße und des jüdischen Altenheims, von dem aus die Gestapo etwa 55.000 jüdische Bürger/-innen Berlins in die Konzentrationslager Auschwitz und Theresienstadt transportiert hat.
hinaus befinden sich westlich der Rosenthaler Straße und südlich der Torstraße bis zur Friedrichstraße im Westen, begrenzt von der Spree, eine Vielzahl historischer und aktueller Adressen. Direkt in diesem Viertel lässt sich eine Seminarveranstaltung zu unserem Thema in diversen Variationen realisieren. Am historischen und aktuell relevanten Ort, zudem noch mit Unterkunft und Seminarräumen im Bildungshaus, also dem „klassischen“ Lernort, ist das möglich. In der Sophienstraße, einer Seitenstraße der Rosenthaler Straße, nahe den Hackeschen Höfen, steht ein solches (CVJM-) Bildungshaus.
Der Friedhof in der Großen Hamburger Straße Beginnen wir mit dem ältesten jüdischen Friedhof in der Stadt, dem in der Großen Hamburger Straße. Heute eine unscheinbare, begrünte Fläche mit einem Gedenkstein, einer Informationstafel, einigen alten Grabstein-Resten an den umgebenden Häusermauern und einem rekonstruierten Grabstein von Moses Mendelssohn, dessen Grab man hier vermutet. Die 1671 gegründete Jüdische Gemeinde Berlins weihte im Jahr darauf diesen Friedhof ein.8 Während des Nutzungszeitraumes bis 1827 sollen hier ca. 12.000 Gräber angelegt worden sein, darunter viele von berühmten Mitgliedern der Gründergeneration der Gemeinde und vor allem die Ruhestätte des Philosophen Moses Mendelssohn (1729-1786). © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Der seit 1990 einzig frei aufgestellte Grabstein ist bereits der vierte und gilt diesem „weisen Rabbi aus Dessau“, so die hebräische Inschrift mit Verweis auf den Geburtsort. Im Jahre 1943 zerstörte die Gestapo den Friedhof und ließ einen Graben ausheben; viele Bombentote wurden 1945 gegen Kriegsende hier verscharrt. Mendelssohn wurde bereits früh verehrt und sein Grab häufig aufgesucht; dies dauert bis heute an, wie man nicht nur an den nach jüdischem Brauch auf den Grabstein gelegten, vielen kleinen Steinen sehen kann. Der als Sohn eines Dessauer Toraschreibers mit vierzehn Jahren 1743 nach Berlin gekommene Autodidakt Moses Mendelssohn gilt als der Vater der Haskala, der jüdischen Aufklärung, eingebettet in die deutsche bzw. europäische Aufklärung. Sein Freund Gotthold Ephraim Lessing setzte ihm mit der Titelfigur in „Nathan der Weise“ ein Denkmal. In seinem 1783 erschienenen Hauptwerk „Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum“ diskutiert Mendelssohn das Verhältnis zwischen Staat und Religion und tritt für Denk-, Glaubens- und Gewissensfreiheit ebenso ein wie für religiöse Toleranz; Themen also, die unvermindert aktuell sind. Die Bedeutung Mendelssohns und der „Berliner Haskala“ für das deutsche und das weltweite Judentum waren immens. „Aus der Haskala gingen wesentliche Entwicklungen des modernen Judentums, das Reformjudentum, die NeoOrthodoxie und die Erneuerung der Hebräischen Sprache und Literatur hervor. Aber auch radikale Assimilation an die christliche Umwelt bis hin zur Aufgabe der jüdischen Religionszugehörigkeit durch Taufe gehörten zu den (ungewollten) Folgen der Haskala.“ 9
Empfehlungen Man könnte z.B. von „Nathan der Weise“ ausgehen. Eventuell haben Seminarteilnehmer/-teilnehmerinnen das Drama früher gelesen und/oder im Theater oder im Fernsehen gesehen. Zur Gedankenstütze können Textauszüge dienen, um an der Person Mendelssohn die jüdische Aufklärung als Teil der Aufklärung insgesamt und als integralen Bestandteil der deutschen Geschichte in Erinnerung zu rufen. Zudem kann, ausgehend vom historischen Ort Friedhof das Verhältnis, die Koexistenz zwischen Juden und Christen am Beispiel evangelischer Sophienkirche und Jüdischer Gemeinde im 18. Jahrhundert und später erforscht werden. Abgesehen von den enormen Möglichkeiten, die „Nathan der Weise“ hinsichtlich solcher Themenaspekte wie (religiöse) Toleranz, Rationalität und Bekämpfung von Vorurteilen bis in die Gegenwart bietet, kann mit dem Stück auch die Geschichte des christlichen Antijudaismus in Deutschland und die Entwicklungsgeschichte des Reformjudentums aufgegriffen werden. Sollte das Stück während der Bildungsveranstaltung auf einer der Berliner Bühnen aufgeführt werden, wäre ein Theaterbesuch eine folgerichtige Ergänzung. Oder die Teilnehmer/-innen bereiten sich anhand von schriftlichen Materialien © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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auf den Ort Friedhof vor, um diesen anschließend unter diversen Fragestellungen eigenständig in Gruppen zu erkunden. Im Bildungshaus wären die Rechercheergebnisse auszutauschen und von einem fachkompetenten Referenten/Begleiter bzw. einer fachkompetenten Referentin/Begleiterin in den größeren historischen Rahmen der Geschichte der Juden in Berlin bzw. in Deutschland einzuordnen. Alternative: Man beginnt mit einem Referat z.B. durch ein Mitglied der Jüdischen Gemeinde, das danach über den Friedhof führt (oder umgekehrt). Ergänzend wäre ein Besuch im Jüdischen Museum in der Lindenstraße denkbar, wo unter fachhistorischer Anleitung das Thema „Moses Mendelssohn und die Aufklärung“ hervorragend in einer eigenen Abteilung vertieft werden könnte (hier finden sich z.B. Dokumente, Gegenstände, Porträts von Weggenossen Mendelssohns u.a.m.).10 Ein anderer Ansatz historischen-politischen Lernens: In Kombination mit den Friedhöfen in der Schönhauser Allee (Prenzlauer Berg) und in der Herbert-Baum-Straße (Weißensee), die sich beide außerhalb des Viertels um die Oranienburger Straße befinden, könnte man am Beispiel der Biographien von dort bestatteten Persönlichkeiten Phasen und Aspekte deutsch-jüdischer Geschichte in ihren verschiedenen Dimensionen bearbeiten. Dies kann wiederum mit einem Besuch des Jüdischen Museums und dem Aufsuchen anderer, historischer Orte verbunden werden. Beispiel Wirtschafts- und Finanzgeschichte: Auf dem Friedhof in der Schönhauser Allee (dieser löste von 1827 an den in der Großen Hamburger Straße ab) liegt Gerson von Bleichröder (Bankier und Finanzberater Bismarcks und Wilhelm II., 1822-1893)11 und auf dem Friedhof in der Herbert-Baum-Straße liegt Hermann Tietz (Unternehmer und Gründer des Kaufhaus-Konzerns Hertie, 1837-1907) begraben. Was also liegt näher, in diesem Kontext in eines der Hertie-Kaufhäuser in der Stadt zu gehen, um vor Ort z.B. Beschäftigte und Kunden nach den Hintergründen der Namensgebung zu befragen. Gleiches gilt für das „Kaufhaus des Westens“ (KaDeWe), von dem jüdischen Berliner Adolf Jandorf gegründet, aber 1926 von der Tietz-Gruppe übernommen, die damit zum größten Kaufhaus-Konzern Europas aufstieg. Vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn der NS-Herrschaft ist der rasante Aufstieg Deutschlands zur führenden europäischen Industrienation nicht denkbar ohne die Prosperität Berlins und den Anteil vieler jüdischer Berliner daran. Der enorme Beitrag dieser und anderer jüdischen Bürgerinnen und Bürger zur Entwicklung ihres Vaterlandes ist evident. Die jüdischen Friedhöfe sind wahre „Fundgruben“, so dass man Seminargruppen mit Lageplänen der wichtigsten Grabstätten und Informationsmaterial darüber ausstatten und auf individuelle Erkundungstouren schicken kann.12 Schließlich können die Friedhöfe als historische Lernorte Anlaß sein, jüdische Bestattungsriten zu thematisieren, um Seminarteilnehmer/-innen allgemein mit © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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jüdischen Bräuchen und Riten vertraut zu machen, um Wissen über die jüdische Religion zu transportieren bzw. Wissenslücken zu schließen. Die Kontaktaufnahme mit der Jüdischen Gemeinde und die Teilnahme an einem Shabbat-Gottesdienst in einer der Berliner Synagogen sind empfehlenswert. Die Grabsteine stellen außerdem konkretes „Lernmaterial“ dar, denn anhand ihrer Gestaltung, ihrer Beschriftung und Ausgestaltung mit Symbolen und Motiven können z.B. Ursprung sowie Entwicklungsgeschichte der Familiennamen erforscht werden. Daran kann über deutsches Namensrecht, Diskriminierung und Assimilation der deutschen Juden, die Unterschiede zu christlichen Bestattungsplätzen und anderes mehr eine Menge gelernt werden. Interessant sind zudem Vergleiche der hebräischen und deutschen Grabbeschriftungen; in diesem Fall wäre eine des Hebräisch kundige Begleitperson unabdingbar. Kurzum: Den Friedhöfen wohnt eine große kultur- und religionsgeschichtliche, aber auch eine sozialhistorische und politische Aussagekraft inne.
Die neue Synagoge Eines der Wahrzeichen Berlins ist die goldene Kuppel der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße. Sie leuchtet als Symbol des jüdischen Berlin und erscheint folglich sowohl auf der Homepage der Jüdischen Gemeinde (www.jg-berlin.org)13 als auch auf den Seiten von Organisationen wie Hagalil (www.hagalil.com), die über jüdisches Leben in der Stadt informieren oder entsprechende Touren anbieten. Das im maurischen Stil errichtete Gotteshaus wurde 1866 in Anwesenheit des preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck eingeweiht. Insgesamt 3.000 Gläubige fanden in der damals größten und schönsten Synagoge Deutschlands Platz. Sie wurde rasch zu einer neuen Sehenswürdigkeit in der Stadt. Deutschsprachige, liberale Gottesdienste mit Orgelspiel ließen die Synagoge zu einem Zentrum des Reformjudentums werden, provozierten deshalb jedoch Kritik und Widerstand seitens der orthodoxen Mitglieder der Jüdischen Gemeinde. Und zugleich war die Faszination des Gebäudes Wasser auf die Mühlen der Antisemiten. Hierzu trugen sicher Neuerungen wie die Öffnung des Gotteshauses für öffentliche Konzerte (oft für wohltätige Zwecke) bei. Direkt neben der Synagoge befand sich das Jüdische Museum. In der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 gelang es dem Leiter des zuständigen Polizeireviers, Wilhelm Krützfeld, ein Niederbrennen der Synagoge zu verhindern. Er alarmierte mit Verweis auf die noch gültige Denkmalschutzordnung die Feuerwehr, die den Dachbrand löschte. Ab 1940 missbrauchte die Wehrmacht das Gotteshaus als Lagerhalle, wie vielfach im Deutschen Reich und in den besetzten Ländern Synagogen „zweckentfremdet“ und damit entweiht wurden. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Im November 1943 wurde die Synagoge durch einen Luftangriff getroffen und brannte vollständig aus. In der DDR-Zeit sprengte man 1958 einen Teil der Ruine und ließ sie verfallen. Außenpolitische Gründe14 führten dann erst 1988 zur Gründung der „Stiftung Neue Synagoge Berlin – Zentrum Judaicum“, um die Ruine für den teilweisen Wiederaufbau des Hauses zu nutzen. Der Wiederaufbau wurde auf den an der Oranienburger Straße liegenden Synagogenteil mit der Hauptkuppel beschränkt und konnte 1995 mit der Einweihung beendet werden. Der hintere Hauptteil der Synagoge wurde nicht wieder errichtet; durch die verglaste Rückseite des Vordergebäudes blickt man auf die Fläche, auf der früher die Haupthalle stand. Der Bau wird heute als Ausstellungsraum genutzt; Gottesdienste finden hier nicht mehr statt.
„Neue Synagoge“ in der Oranienburger Straße, Berlin-Mitte © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Empfehlungen Der historische Ort Neue Synagoge birgt ebenfalls eine Fülle von Möglichkeiten für historisch-politische Lernprozesse. Er kann sogar als quasi „idealer Lernort“ bezeichnet werden, denn in den restaurierten unteren Räumen befindet sich eine Dauerausstellung, die die wechselhafte Geschichte des Gebäudes und der Berliner Juden schildert und dokumentiert. Seminarteilnehmer/-innen können also entsprechend vorbereitet individuell die Ausstellung erkunden, oder man organisiert eine Führung durch die Räumlichkeiten. Da Vortragsräume in der Synagoge vorhanden sind, kann in Absprache mit der Verwaltung bzw. mit der Jüdischen Gemeinde (Sitz: Fasanenstraße) ein ergänzendes Auswertungsgespräch oder eine Informationsrunde über die aktuelle Situation der Gemeinde vereinbart werden.15 Zwar kann das heutige Gemeindeleben im engeren und das jüdische Leben im weiteren Sinne aufgrund der Shoah längst nicht mit dem der Blütezeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts verglichen werden (die Berliner Gemeinde war ab dem 19. Jahrhundert stets die größte in Deutschland), aber die inzwischen mehr als 12.000 Mitglieder der Gemeinde und die außerhalb von ihr lebenden Juden zeigen, dass sich das Judentum in Berlin – wie generell in Deutschland – nicht nur zahlenmäßig positiv entwickelt. Dafür ist vor allem die Einwanderung russischsprachiger Juden aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion ursächlich. Deutschland, in erster Linie das dynamische Berlin, sei heute (wieder) ein guter Ort für jüdisches Leben, so der Vorsitzende der „Weltunion für das progressive Judentum“, Steven Baumann.16 Am historischen Lernort können weiterhin Mut und Zivilcourage während der NS-Terrorherrschaft thematisiert werden: Dies kann zum einen ausschließlich auf das Verhalten des Polizeibeamten Krützfeld am 9./10. November 1938 und die Folgen fokussiert werden, könnte zum anderen noch erweitert werden um die in dem Viertel vorhandenen Lernorte Block der Frauen in der Rosenstraße und Blindenwerkstatt Otto Weidt in der Rosenthaler Straße (s.u.). Wilhelm Krützfeld hatte zwar erhebliche Nachteile zu tragen, zum Beispiel wurde er zur Strafe versetzt und hatte zusätzliche Dienste zu verrichten, aber „mehr“ passierte ihm nicht.17 Erst im Jahre 1995 wurde der 1953 Verstorbene auf Initiative des Ost-Berliner Schriftstellers Heinz Knobloch mit einer eigenen Gedenktafel an der Synagogenfassade geehrt. Im Kontext mit der Erzählung von anderen, nicht-jüdischen Berlinerinnen und Berlinern, die durch Courage und Widerstand Schlimmeres verhinderten und jüdische Menschen vor dem sicheren Tod bewahrten, kann auch der öffentliche Umgang mit diesen Helden des Alltags in der Nachkriegszeit, in der Zeit des kollektiven Beschweigens und der Verdrängung in Ost- wie West-Deutschland diskutiert werden als Teil unserer separaten und dennoch gemeinsamen Nachkriegsgeschichte. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Welche Ansätze historischen Lernens bietet die Neue Synagoge ansonsten? An Beispiel der Neuen Synagoge können das Reformjudentum und damit zugleich die anderen Strömungen im deutschen Judentum gestern und heute erörtert werden. Eine andere Idee im Zusammenhang mit Flucht/erzwungener Auswanderung in der NS-Zeit: Warum nicht mit der Sichtung eines TV-Filmes wie „Die Liebenden vom Alexanderplatz“18 starten, der mit der alten Inge Meysel in der Hauptrolle das Thema an den Schauplätzen New York und Berlin und hier unter anderem im Monbijou-Park an der Oranienburger Straße abhandelt? In Verbindung mit dem Aufsuchen eines anderen historischen Ortes im Viertel um die Neue Synagoge, des Leo-Baeck-Hauses in der Tucholskystraße (früher: Artilleriestraße) kann die Phase der Assimilation und Emanzipation der deutschen Juden in den Zusammenhang von Reformjudentum und Entwicklung einer Wissenschaft des Judentums gestellt werden. In der gleichen Straße stand im Hinterhof die Synagoge der Adass-JisroelGemeinde, eingeweiht mit dem Gemeindezentrum 1904. Die 1869 ins Leben gerufene „Gesetzestreue jüdische Religionsgesellschaft Adass Jisroel“ verstand sich als Gegenentwurf der Minderheit in der Jüdischen Gemeinde zu Berlin zur liberalen, dem Reformjudentum anhängenden Mehrheit. Sie trat 1876 aus der Berliner Gemeinde aus und wurde 1885 als selbständige Gemeinde zugelassen. Für die aktuelle Lage der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und ihre Strömungen bietet Adass Jisroel wesentliche Lern- und Diskussionsansätze: Die Gemeinde konnte nämlich Ende 1989 nach langwierigen Verhandlungen noch mit der damaligen DDR-Regierung wiederbegründet werden. Sie erhielt 1994 mit ihren 250 Mitgliedern gegen den Willen der Jüdischen Gemeinde erneut ihre rechtliche Selbständigkeit als unabhängige orthodoxe Gemeinde. Gespräche mit Vertretern sowohl der Einheitsgemeinde als auch von Adass Jisroel sind geeignet, sich aus zwei Perspektiven über die Strömungen im deutschen Judentum zu informieren und mehr über die Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Auseinandersetzungen zu erfahren. Seit dem 11. September 2001 sind die genannten und andere historische Orte noch mehr als bereits zuvor polizeilich gesichert. Besonders evident ist das vor der Neuen Synagoge, wo 2005 die Oranienburger Straße so umgebaut wurde, dass Absperrmaßnahmen neben Polizeibeamten und Video-Kameras mehr Sicherheit gewährleisten sollen. In das Gebäude gelangt man jetzt nur durch Sicherheitsschleusen. Anschläge auf jüdische Einrichtungen gab es in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder, deshalb können die spezifischen, weit vor dem 11. September üblichen Sicherungsmaßnahmen vor jüdischen Einrichtungen nicht allein in Berlin zusätzlich Lern- und Diskussionsstoff mit Blick auf die Täter und ihre antisemitischen Beweggründe liefern. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Die Knabenschule und andere Bildungsund Sozialeinrichtungen In der Großen Hamburger Straße, in unmittelbarer Nachbarschaft des alten Friedhofes, finden wir heute das jüdische Gymnasium. Dieses hat eine lange Vorgeschichte, die bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts zurückreicht. Die 1778 gegründete „Jüdische Freischule“ „[...] war die erste Schule in Deutschland, die religiöse und säkulare Inhalte gleichermaßen unterrichtete. Die etwa 70 bis 80 jüdischen und auch christlichen Schüler stammten zumeist aus armen Elternhäusern. Viele der jüdischen Schüler wirkten nach ihrer Ausbildung als Lehrer in den ostpreußischen Provinzen. Dort verbreiteten sie häufig die Ideen der Berliner Haskala und setzten sich für die Emanzipation der Juden ein“.19 In der Großen Hamburger Straße befindet sich die Schule seit 1863, das heutige Gebäude wurde 1906 eröffnet. Die Knabenschule der Juedischen Gemeinde, so noch die heutige Inschrift über dem Portal, musste 1942 geschlossen werden, diente danach als jüdisches Altersheim, bis die Nazis die Bewohner deportierten. In der früheren DDR wurde das Gebäude nach langem Leerstand später als Berufsschule genutzt. Die Jüdische Gemeinde konnte das Haus ab 1992 wieder als Grundschule nutzen; ein Jahr darauf konnte die Gemeinde dann eine jüdische Realschule und ein Gymnasium (Jüdische Oberschule) als private Ganztagsschule eröffnen.
Empfehlungen Es liegt nahe, ausgehend von diesen und anderen, für das jüdische Erziehungswesen stehenden historischen Lernorten in der Nachbarschaft, die fundamentale Bedeutung von Erziehung und Bildung in der Buchreligion Judentum gestern und heute zu diskutieren. Um die Ecke in der Auguststraße befand sich ab 1930 die jüdische Mädchenschule (gegründet bereits 1835 zunächst im Gemeindezentrum in der Heidereutergasse). In der Tucholskystraße waren die „Hochschule für die Wissenschaft des Judentums“ und das als Reaktion darauf 1873 gegründete „RabbinerSeminar für das orthodoxe Judenthum zu Berlin“ untergebracht. Für erwachsene, noch mehr für jüngere Seminarteilnehmer/-innen kann es aber wichtiger sein, mit Schülern des heutigen Gymnasiums zusammenzutreffen, um sich z.B. über den Schulalltag und die Lebenssituation junger Juden in Deutschland zu informieren. Die jeweilige Familiengeschichte (fehlende Großeltern und sonstige Verwandte aufgrund der Shoah, Displaced-persons-Status, Ein- und Auswanderung u.a.m.), Fragen nach der (nationalen) Identität (deutscher Pass, Doppel-Pass), Berufswünsche, Erfahrungen mit Antisemitismus und andere Aspekte können Gesprächsthemen sein.20 © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Stolpersteine vor dem Eingangstor zu den Hackeschen Höfen an der Rosenthaler Straße
Im Sommer 2000 legten wieder Schüler ihr Abitur an dem Gymnasium ab, die ersten nach dem Ende der Shoah. Ab der 9. Klasse ist die dritte Fremdsprache Hebräisch; zudem sind jüdische Religion und jüdische Geschichte Pflichtfächer, neben den an allen anderen Gymnasien üblichen Unterrichtsfächern. Die Schule ist auch für nicht-jüdische Schülerinnen und Schüler offen. So stammt fast jeder/ jede zweite der 270 Schüler/-innen aus einer nicht-jüdischen Familie, was hinsichtlich der aktuellen Politik, insbesondere des Nahostkonfliktes manchmal zu Spannungen in der Schülerschaft führt. Dennoch scheint der Schulalltag hinter den stark gesicherten Mauern fast idyllisch zu sein. Ein Besuch mit der Seminargruppe vor Ort und Gespräche in der Schule dürften diesen Eindruck einer Journalistin bestätigen.21 Das rote Haus der ehemaligen jüdischen Mädchenschule in der Auguststraße, in der nach der zwangsweisen Schließung 1942 ein Lazarett und in der DDR-Zeit die „Bertolt-Brecht-Oberschule“ untergebracht war, steht heute leer. Interessant sind hier die Aspekte NS-Zeit, der Umgang mit dem Gebäude in der DDR-Zeit und die Gründungsgeschichte der Nachfolgeschule „Neve Hanna“ in Israel. Da eine Renovierung und eine eventuelle, erneute schulische Nutzung angedacht sind, könnte eine Seminargruppe beispielsweise den aktuellen Stand der Dinge auf der Grundlage der Schulgeschichte im Internet und/oder durch Nachfragen bei der Jüdischen Gemeinde recherchieren. Im März 2006 wurde das Schulgebäude kurzzeitig im Rahmen der 4. Berlin Biennale für ein Kunstprojekt geöffnet.22 Andere historische Orte im Viertel bieten die Möglichkeit, Ursprünge und geschichtliche Entwicklung des jüdischen Sozial- und Wohlfahrtswesens bis in die Gegenwart zu thematisieren. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, hier lediglich einige Beispiele: das frühere Gemeindehaus in der Auguststraße 17 mit diversen Sozialeinrichtungen (u.a. „Ar© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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beiterfürsorgeamt“, Schwesternheim, Obdachlosenheim), das ehemalige Jüdische Krankenhaus (zuvor in der Oranienburger Straße) und Gemeindehaus im Gebäudekomplex Auguststraße 14-16 (mit Einrichtungen wie z.B.: Tagesheim für Säuglinge, Kindergarten, Kinderheim „Ahawah“ (=hebräisch für Liebe), Mädchenwohnheim, Kleiderkammer) und das ehemalige Altersheim in der Großen Hamburger Straße (1942 Missbrauch durch die Gestapo als Sammellager für 55.000 Menschen, die zum Bahnhof Grunewald gebracht und von dort deportiert wurden; Abriss nach Kriegsende; Gedenkstein und -tafel).23 Interessant und spannend wäre, im Seminar der Frage nachzugehen, inwiefern Ideen und Entwicklungsprozesse des jüdischen Wohlfahrtswesens in Deutschland die Entwicklung der sozialstaatlichen Idee in Deutschland beeinflusst haben. Für die Entwicklung des Sozial- wie des Bildungssystems in Israel gilt dies allemal.
Shoah-Gedenkstätten Im Viertel um die Neue Synagoge haben alle bisher genannten Orte ihre eigene, miteinander verbundene Geschichte unter anderem für die Jahre der systematischen, rassistischen Ausgrenzung, Vertreibung, Verfolgung, Deportation und Ermordung der Berliner jüdischer Herkunft von 1933 bis 1945. Es gibt jedoch weitere Gebäude und Orte in diesem Stadtgebiet, die ausschließlich an diese Zeit erinnern und wo verschiedene Aspekte der NS-Rassen- und Vernichtungspolitik sowie des jüdischen Überlebenskampfes und Widerstandes bearbeitet werden können. Vor dem Eingangstor zu den Hackeschen Höfen an der Rosenthaler Straße kann man unter Umständen „ins Stolpern“ geraten: Dort sind in den Gehweg kleine „Stolpersteine“ aus Messing eingelassen, auf denen die Namen deportierter und ermordeter Anwohner erinnert werden. Wenige Meter weiter findet man in einem Hinterhof die Blindenwerkstatt Otto Weidt bzw. die Besen- und Bürstenfabrik Otto Weidt. Der Kleinunternehmer Weidt (1883-1948) beschäftigte dort zwischen 1940 und 1945 jüdische Zwangsarbeiter; die meisten waren blind oder taubstumm. Er nutzte den Status seines „kriegswichtigen“ Betriebes, um insgesamt 56 Menschen durch Arbeit, Lebensmittel und Ausweise zu helfen und sie zu verstecken. 27 von ihnen bewahrte er vor der Deportation und Ermordung. Auch durch die Anmietung weiterer Lagerräume in anderen Straßen versuchte er, Verfolgte zu retten.
Empfehlungen Unter Einbeziehung von Mitarbeitern des inzwischen zum Museum gestalteten Hauses und/oder des benachbarten Anne-Frank-Zentrums können zum einen der Themenkomplex Zivilcourage/Mitmenschlichkeit/Widerstand am Beispiel der © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Persönlichkeit Otto Weidts bearbeitet und Schlussfolgerungen für die Gegenwart gezogen werden. Das Haus mit der ehemaligen Werkstatt, jetzt eine Dependance des Jüdischen Museums, bietet hierzu Führungen, Gesprächspartner (auch Zeitzeugen), öffentliche Veranstaltungen und Broschüren an.24 Eine der Geretteten ist Inge Deutschkron, die ihr Überleben in der Werkstatt in ihren Erinnerungen „Ich trug den gelben Stern“ beschreibt. Sie tritt immer wieder in öffentlichen Diskussionsrunden auf und kann als Zeitzeugin angefragt werden. Zum anderen kann die Geschichte des Umgangs mit dem Gebäude nach der deutschen Einheit erzählt werden, die zugleich ein Beispiel für bürgerschaftliches Engagement von Studenten und Studentinnen ist. Inge Deutschkron initiierte 1994 das Anbringen einer Tafel zur Erinnerung an Otto Weidt; anschließend waren es Studenten und Studentinnen der Fachhochschule für Technik und Wirtschaft Berlin, die 1998/99 nach Entdeckung der fast unveränderten Räume die heutige Dauerausstellung „Blindes Vertrauen“ für den authentischen Ort konzipierten.25 Eine weitere Gedenkstätte, die an die Zeit der Verfolgung und Deportation erinnert, ist der Block der Frauen in der Rosenstraße. Die Geschichte des so genannten „Frauenprotestes in der Rosenstraße“ wurde durch Margarethe von Trottas Spielfilm „Rosenstraße“ aus dem Jahr 2003 wieder verstärkt ins öffentliche Bewusstsein gehoben. Welche Ereignisse waren es, die diesen Aspekt nicht nur der Shoah-Geschichte, sondern generell der NS-Zeit so bedeutsam machen? Nach den Nürnberger Rassegesetzen lebten Eheleute, von denen eine Person jüdischer und die andere nichtjüdischer („arischer“) Herkunft war, in „Mischehen“.26 Unter den Ende 1942 noch ca. 27.000 in Berlin lebenden Menschen jüdischer Herkunft, die Zwangsarbeit leisten mussten, waren etwa 8.000 bis zu 9.000 Menschen aus diesen „Mischehen“. Da die Nazis Anfang 1943 die restlichen jüdischen Berliner deportieren wollten, wurden im Februar 1943 auch die Menschen aus „Mischehen“ in den Fabriken verhaftet und u.a. im ehemaligen Wohlfahrtsamt der Jüdischen Gemeinde in der Rosenstraße in ein Sammellager gepfercht. In knapp einer Woche wurden etwa 7.000 davon in die Todeslager deportiert. In dem Gebäude in der Rosenstraße hielt man ca. 2.000 Personen der „FabrikAktion“ fest. Spontan und unorganisiert versammelten sich daraufhin vom 28. Februar bis zum 11. März 1943 Ehefrauen, Mütter und Verwandte der Gefangenen und forderten teilweise stumm, teilweise lautstark die Freilassung ihrer Angehörigen. Und tatsächlich wurden die Inhaftierten (die meisten Männer, aber auch einige Frauen und Jugendliche) ab dem 1. März sukzessive freigelassen. Gegenwärtig wird von etwa 600 Demonstranten gleichzeitig und von insgesamt 1.000 ausgegangen, die während dieser Tage beteiligt waren. Viele der Freigelassenen © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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konnten sich retten. „Dieser Erfolg gegen die Deportation und geplante Vernichtung allein durch zivilen Ungehorsam war in seiner Dimension einzigartig für die NS-Zeit in Deutschland.“27 Über die Ursachen der Freilassung, über die Gründe der Entscheidung von Goebbels höchstpersönlich, gehen die Meinungen unter Historikern inzwischen auseinander.28 Das Gebäude in der Rosenstraße wurde 1945 bei einem Bombenangriff schwer beschädigt; heute steht an ungefähr gleicher Stelle das neu erbaute Plaza-Hotel, in dessen öffentlich zugänglichem Foyer eine Ausstellung zu besichtigen ist, die die Ereignisse in Text und Bild rekapituliert. Und schließlich erinnert das Denkmal der 1988 vom Ost-Berliner Magistrat beauftragten Ingeborg Hunzinger, die Skulpturengruppe Block der Frauen aus rotem Sandstein, seit 1993 an das damalige Geschehen.
Empfehlungen Obwohl das historische Gebäude nicht mehr existiert, soll auch hier von einem authentischen historischen Lernort die Rede sein, zumal seine Symbolkraft enorm ist. Der Spielfilm „Die Rosenstraße“ bietet die Chance, den Ort und die Ereignisse des Jahres 1943 wieder lebendig werden zu lassen. Warum nicht erneut das Medium Film und den Bekanntheitsgrad prominenter Hauptdarstellerinnen wie Katja Riemann und Maria Schrader nutzen, um Seminarteilnehmer/-innen mit dem Geschehen vertraut zu machen, dies (film-)kritisch zu diskutieren und anschließend den Ort nach Möglichkeit mit einem Zeitzeugen/einer Zeitzeugin bzw. einer Fachautorin aufzusuchen? Erneut liegen Themen wie Zivilcourage und Widerstand, aber auch NS-Rassenpolitik und Ausgrenzung/Diskriminierung oder deutsche Vergangenheitspolitik nach 1945 auf der Hand. Andere Erinnerungsorte bzw. Mahnmale im Viertel um die Neue Synagoge sind das 1996 errichtete Mahnmal Der verlassene Raum am Koppenplatz zur Erinnerung an die Flüchtlinge und die über 55.000 deportierten und ermordeten jüdischen Berliner/-innen sowie die Installation The Missing House von1990 in der Großen Hamburger Straße. Diese Orte können dazu anregen, sich mit der Deportationsgeschichte an konkreten Einzelschicksalen zu befassen. Arbeitsgruppen können diese z.B. genauer recherchieren.
Gegenwart und Zukunft des Viertels Zweifellos zählt das Stadtviertel um die Neue Synagoge zu den städtischen Räumen Berlins, die eine besondere Anziehungskraft auf Touristen ausüben. Dies ist der speziellen Dynamik und Vitalität, der Bevölkerungsmischung, dem Innovationspotential und nicht zuletzt der Historie des Viertels zuzuschreiben. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Die Institutionen der neu erblühenden Jüdischen Gemeinde und die jüdische Bevölkerung haben hieran einen gewichtigen Anteil. Im Hackeschen Hoftheater in den Hackeschen Höfen wird immer wieder Klezmer-Musik live dargeboten; hinzu kommt gestisch-mimisches Theater. Seit 1997 gibt es in der Oranienburger Straße das Jüdische Straßenfest, seit 1995 die Jüdischen Kulturtage und das Jüdische Filmfestival. Das von der orthodoxen Gemeinde Adass Jisroel betriebene Lebensmittelgeschäft Kolbo in der Auguststraße bietet koschere Waren an. Außerdem existieren mit dem Beth Cafe in der Tucholskystraße und dem Cafe Rimon in der Oranienburger Straße zwei Restaurants, die koscheres Essen anbieten. In solchen Lokalitäten kann man in ungezwungener Atmosphäre über Judentum im allgemeinen, Judentum in Berlin und in Deutschland gestern und heute sowie über die jüdischen Deutschen, aber auch über den Nahostkonflikt untereinander oder mit anderen Gästen ins Gespräch kommen. Wegen der vielen ausländischen Touristen, zu denen z.B. auch Israelis gehören, können die Gespräche ergiebig und spannend sein. Somit bietet dieses Stadtviertel als historischer Ort eine Reihe von aktuellen „Orten der Begegnung“, die die historisch-politischen Lernprozesse in die Gegenwart verlängern können, versehen mit neuen Erkenntnissen und womöglich auch neuen Fragen. Das Viertel wird, so ist zu hoffen, weiterhin nicht nur im touristischen Sinne prosperieren, sondern auch im Blick auf die Wohnbevölkerung und die Fortentwicklung jüdischen Lebens an alt-neuem Ort.
Orte des Erinnerns im Bayerischen Viertel Im Stadtteil Schöneberg, im Gebiet rund um den Bayerischen Platz, lebten Anfang des 20. Jahrhunderts zunehmend Menschen, die sich dieses Viertel mit seinen besseren Wohnungen leisten konnten. Viele Bewohner/-innen kamen aus dem Kreis der oberen Mittelschicht. Da der Anteil der jüdischen Berliner/-innen in dieser Schicht der Kaufleute, Beamten und Akademiker besonders hoch war, bezeichnete man das Bayerische Viertel auch als Jüdische Schweiz. Die systematische Diskriminierung, Ausgrenzung, Entrechtung, Vertreibung, Deportation und Ermordung der jüdischen Bewohner/-innen des Viertels während der NS-Zeit führte 1993 zu einer ungewöhnlichen Installation, zu dem 80-teiligen „Denkmal“ Orte des Erinnerns im Bayerischen Viertel. Da dieser ShoahErinnerungsort weniger bekannt ist, aufgrund seiner Entwicklungsgeschichte und der damit einhergehenden historisch-politischen Lernprozesse bei Projektinitiatoren, in politischen Gremien und nicht zuletzt unter den heutigen Bewohnern/ Bewohnerinnen ein herausragendes Beispiel darstellt, wird er hier abschließend skizziert und gewürdigt. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Anfang 1933 wohnten im damaligen Bezirk Schöneberg 16.000 (oder 7,4 % der Bevölkerung) Menschen jüdischen Glaubens bzw. jüdischer Herkunft. Und davon lebten sehr viele im Bayerischen Viertel.29 Die Integration der jüdischen Deutschen in die primär christliche Mehrheitsgesellschaft, der Prozess der Assimilation und Säkularisierung war gerade in der oberen Mittelschicht besonders weit gediehen. Dennoch existierten im Viertel viele jüdische Einrichtungen, darunter vier Synagogen, das Kabarett Kaftan/jiddisches Theater, eine höhere Privatschule für Knaben und Mädchen u.a.m. Im Bayerischen Viertel gehörten jüdische Nachbarn, ob berühmt oder nicht, gehörten jüdische Freunde und Klassenkameraden so selbstverständlich zum Alltag wie die o.a. Einrichtungen oder jüdische Geschäfte bzw. Rechtsanwalts- oder Arztpraxen. Unter den Nachbarn waren Prominente wie z.B. Albert Einstein, Erich Fromm, die Comedian Harmonists, Karl Kautsky, Eduard Bernstein, Egon Erwin Kisch, Else Lasker-Schüler, Billy Wilder, Walter Benjamin und Carl Zuckmayer. Und dennoch gab es gegen die Entrechtung, Austreibung und Deportation seitens der nicht-jüdischen Nachbarn kein nennenswertes Aufbegehren, kaum „Widerstand“. Etwa 10.000 Menschen gelang über die Jahre die Flucht, die Auswanderung. Der Deportation in die Todeslager ab 1941 fielen 6.069 Bewohner zum Opfer30 und damit Menschen aus fast jedem zweiten Haus.
Was macht das Herausragende dieses Erinnerungsortes aus? Schon 1982 begannen erste Vorarbeiten zu dem Projekt, wobei hier insbesondere das große Engagement der Leiterin des Kunstamtes Schöneberg, Katharina Kaiser, zu nennen ist. Letztlich waren „Kultur und Politik des Beschweigens“ in der Nachkriegszeit die tieferen Ursachen für das Suchen nach den Geschichten der vertriebenen und ermordeten ehemaligen Nachbarn. „Die nächste Generation wusste schon nicht mehr, dass dieses Gebiet einmal ‚Jüdische Schweiz‘ genannt wurde, und die dritte Generation hört man leichtfertig, meistens jedoch aus Unwissenheit, von Deutschen und Juden sprechen, nicht von christlichen und jüdischen Deutschen.“31 Mitte der 80er Jahre konnten aus den noch vorhandenen Akten der peinlich genauen NS-Finanzbürokratie die über 6.000 Namen der Deportierten geborgen werden. Der Diskussionsprozess um ein Denkmal mündete schließlich in die Idee der Künstler Renata Stih und Frieder Schnock: An Straßenmasten sind 80 Schilder in diversen Straßen des Viertels angebracht, auf denen prägnante Zitate aus antijüdischen NS-Verordnungen bzw. Gesetzen stehen; auf der Schilderrückseite befinden sich zur Textillustration Piktogramme. Ein Beispiel: Zum Piktogramm „Brotlaib“ steht der Text „Lebensmittel dürfen Juden in Berlin nur nachmittags von 4-5 Uhr einkaufen, Verordnung vom 4.7.1940“. Dieses Schild ist in der © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Nähe einer heutigen Bäckerei angebracht, wie fast alle Schilder mit ihrem direkten Umfeld korrespondieren. Mit den1993 angebrachten ersten 17 Schildern wurden bestürzte Reaktionen und Anrufe von Anwohnern (Verdacht neonazistischer Umtriebe) hervorgerufen. Damit war bewusst ein öffentlicher Diskussionsprozess initiiert worden, der Wochen später zur offiziellen Installation aller 80 Schilder führte. Mit diesem „Nachdenk-Mal“ schufen die Künstlerin und der Künstler mit Absicht einen Gegenentwurf, einen Gegenpol zu anderen, eher traditionellen Mahnmalen und ihrer ritualisierten Aneignung. Zudem ist der direkte Gegenwartsbezug offensichtlich. Der öffentliche Diskussionsprozess unter den Bewohnern quasi als Bestandteil des „Denk-Mals“ bewirkte nicht nur eine hohe Akzeptanz der Installation, sondern auch die Bereitschaft und Offenheit vieler jungen und älteren Anwohner/-innen zur weiteren Auseinandersetzung mit Geschichte und Schicksal der ehemaligen jüdischen Nachbarn. Dies ging ein in die Ausstellung „Formen des Erinnerns: Jüdische und nichtjüdische Stimmen zur Vertreibung und Ermordung der jüdischen Nachbarn aus dem Bayerischen Viertel“ im Juli 1995 im „Haus am Kleistpark“.32 Der weitere öffentliche Diskussionsprozess und umfangreiche Recherchearbeiten bezüglich der Einzelschicksale von Überlebenden bewirkten dann eine weitere Ausstellung (als Open-Air-Präsentation 1999 auf dem Bayerischen Platz) unter dem Titel „Flucht und Vertreibung aus dem Bayerischen Viertel“. Inzwischen gibt es einer Dauerausstellung und eine Dokumentationsstelle beim Museum Schöneberg, wo Fotos, persönliche und andere Dokumente, verschriftete und vertonte Aussagen Überlebender bzw. von deren Angehörigen (darunter Briefe, Interviews, Berichte) archiviert und der Öffentlichkeit zugänglich sind.
Empfehlungen Am besten ist, einen Rundgang durchs Viertel mit der Hauptinitiatorin, Katharina Kaiser, zu vereinbaren. Das oben Skizzierte und noch viel mehr können so über den Alltag im Viertel in den 20er, 30er und 40er Jahren und über den politischen Entstehungs- und Fortsetzungsprozess dieses Projektes authentisch an Seminarteilnehmer/-innen vermittelt werden, Kontakte mit Anwohnern/Anwohnerinnen inbegriffen. Oder man bereitet die Seminarteilnehmer/-innen im Tagungshaus vor, um sie anschließend in Arbeitsgruppen zur eigenen Recherche vor Ort zu schicken (evtl. mit Fotoapparat usw. versehen): Eigenes Aktenstudium, Interviews mit Anwohnern/ Anwohnerinnen und/oder ehrenamtlichen Projektmitarbeitern/-arbeiterinnen über ihr Engagement oder das Aufsuchen historischer Orte bieten sich an. Und schließlich kann auch hier die Vertreibungs- und Auswanderungsgeschichte ehemaliger Bewohner/-innen des Viertels ebenso wie ihr Überlebenskampf in © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Berlin thematisiert werden. Dabei ist die Unterstützung und Solidarität von nichtjüdischen Berlinern/-innen zu erwähnen, die halfen, dass einige Tausend jüdische Berliner/-innen den Nazi-Terror in ihrer Heimatstadt in Verstecken (wozu z.B. Friedhöfe zählten) überlebten.33 Die Orte des Erinnerns im Bayerischen Viertel, das Denkmal wie das Gesamtprojekt, sind besonders gut geeignet, die Verbindung zwischen historisch-politischem und aktuell-politischem Lernen herzustellen.
Fazit Deutsche Juden oder jüdische Deutsche? Keine Frage: Walther Rathenau, der kürzlich verstorbene Paul Spiegel und viele andere waren deutsche Bürger und Patrioten, die Bedeutendes zur Entwicklung ihres Vaterlandes geleistet haben. Die hier vorgestellten historisch-politischen Lernorte in Berlin können Einblicke in Leben und Denken von prominenten und kaum bekannten Vertretern/ Vertreterinnen des deutschen Judentums vermitteln. Und sie können beispielhaft Ausschnitte gesellschaftlich-kulturell-religiöser, wirtschaftlich-sozialer und politisch-herrschaftlicher Wirkungszusammenhänge aufzeigen, die bis in die Gegenwart reichen. Viele der lediglich nur kurz erwähnten Lernorte hätten wegen ihres Potentials für historisch-politische Lern- und Bewusstseinsprozesse ebenfalls eine ausführlichere Darstellung verdient; andere Orte wurden erst gar nicht genannt. Aber hier sollte es nur um einige ausgewählte Beispiele gehen. Gleiches gilt für die Empfehlungen zum methodisch-didaktischen Umgang mit den historischen Orten. Schließlich: Die enormen Beiträge von Bürgern und Bürgerinnen jüdischer Herkunft bzw. von jüdischen Gemeinden zur Entwicklung Deutschlands können auch in anderen Städten und Regionen an historischen Orten erkundet werden.
Anmerkungen * Das Manuskript wurde im Juni 2006 abgeschlossen. 1 Die Frankfurter Sozialschule, Politische Bildung im Bistum Limburg, Wiesbaden-Naurod, hatte dieses Seminar im April 2004 mit 23 Teilnehmern realisiert; im Mai 2002 nahmen 20 Personen an einem ähnlichen Kurs teil. Aufgrund der Nachfrage hätte jährlich ein solches Seminar wiederholt werden können. 2 Bill Rebiger: Das Jüdische Berlin. Kultur, Religion und Alltag gestern und heute. Berlin 4 2006, 18 ff. 3 Zum Beispiel: Bill Rebiger: Das Jüdische Berlin. Berlin 42006; Bill Rebiger: Jüdische Stätten in Berlin. Berlin 2000; Berlin Tourismus Marketing GmbH in Zusammenarbeit mit der Stiftung „Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum“ und der Jüdischen Gemeinde zu © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Berlin (Hrsg.) Bill Rebiger: Jüdische Wege in Berlin. Berlin 2000. Hermann Simon: Jüdische Stätten in Berlin. Berlin 2001. H. Simon: A.a.O. Siehe dazu im Einzelnen: Siegfried Grillmeyer: „Ortstermine“ Rahmenbedingungen eines Konzeptes. In: S. Grillmeyer und P. Wirtz (Hrsg.): Ortstermine. Politisches Lernen am historischen Ort. Bd. 1. Schwalbach/Ts. 2006. Rainer Ratmann: Zu den Wirkungen außerschulischer politischer Bildung. In: Praxis Politische Bildung. Heft 4/06, 251-259. So B. Rebiger: Das Jüdische Berlin. 4Berlin 2006, 186. Diese und andere Angaben aus B. Rebiger: Ebd. 116 ff. Ebd. 39. Vgl. hierzu Stiftung Jüdisches Museum Berlin (Hrsg.): Geschichten einer Ausstellung. Zwei Jahrtausende deutsch-jüdische Geschichte. Berlin 2001, 64 ff. Der eng mit Bismarck befreundete Bleichröder war nicht nur dessen Privatbankier, sondern auch sein Vertrauter in Politik und Diplomatie. Er galt als reichster Mann Deutschlands, war Kriegsfinanzier und wurde für seine Verdienste auf Vorschlag Bismarcks 1872 als erster nicht-getaufter Jude Preußens in den Adelsstand erhoben (J. Rebiger: A.a.O. 45). Der amerikanische Historiker Fritz Stern hat sein zentrales Werk als Doppelbiographie beiden Männern gewidmet: Fritz Stern: Gold und Eisen. Bismarck und sein Bankier Bleichröder. Neuausgabe. Reinbeck 1999. Lagepläne der Friedhöfe in der Schönhauser Allee und in der Herbert-Baum-Straße finden sich z.B. in: H. Simon: Jüdische Stätten in Berlin. Berlin 2001; oder: J. Rebiger: A.a.O. 121, 129. Schon in der damaligen DDR erschien: Alfred Etzold u.a.: Jüdische Friedhöfe in Berlin. Berlin 1987. In der DDR wurde allerdings sehr wenig über die Juden in Berlin und Deutschland publiziert. Stand 2007. Die Honecker-Regierung strebte einen Staatsbesuch in den USA an, um internationale Reputation und die im Außenhandel wichtige Meistbegünstigungsklausel zu erhalten. Das war der Grund für das plötzliche Interesse der DDR an jüdischen Friedhöfen und Synagogen. Der damals bevorstehende 50. Jahrestag des Novemberpogroms 1938 wurde zu einer groß angelegten Propagandakampagne genutzt und mit Blick auf die jüdische Lobby in den USA außenpolitisch instrumentalisiert. Dies war bereits Anfang der 90er Jahre möglich, also kurz nach der deutschen Einheit und mitten in der Wiederaufbauphase. Nach Thomas Klatt: Gleiche Rechte auch für Frauen. Liberal in religiösen Fragen: Das Reformjudentum gewinnt in Deutschland an Einfluss. In: Publik-Forum Nr. 8/2006, 55. Siehe J. Rebiger: A.a.O. 77. Der 90-Minuten-Film aus dem Jahr 2001 steht mit seiner Story beispielhaft für viele Emigrantenschicksale. Vor allem wegen der oft als„Mutter der Nation“ titulierten Inge Meysel mit ihrem eigenen Diskriminierungserleben in der NS-Zeit ist dies ein anrührender und „lehrhafter“ Film. J. Rebiger: A.a.O. 96. Solche Gesprächsrunden fanden während der erwähnten FSS-Seminare 2002 und 2004 statt und zählten nach Teilnehmeraussagen zu den Höhepunkten. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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21 Jeannette Goddar: Als Soldatin im Kampf sah sie den Tod, jetzt macht sie Abitur. In: Das Parlament: Themenheft „Jüdisches Leben in Deutschland“, 28.7./4.8.2003, 3. Im übrigen lohnt ein Blick auf die Homepage der Schule (Stand 2007) unter www.josberlin.de. 22 Dazu und zu weiteren historischen Details siehe Thomas Lackmann: Tropfsteinhöhle des Vergessenes. In: Der Tagesspiegel vom 21.03.2006 23 Siehe hierzu im Einzelnen J. Rebiger: A.a.O. 105 ff. 24 Zum Beispiel das Begleitheft zur Ausstellung: Blindes Vertrauen. Versteckt am Hackeschen Markt 1941-1943. Berlin 1998; oder das Heft einer Sonderausstellung 2001/2002: Zwischen den Zeilen. Postkarten aus Theresienstadt. Berlin 2001. 25 Siehe zur Projektgenese die in Endnote 24 erwähnte Broschüre: Blindes Vertrauen und www.blindes-vertrauen.de 26 Siehe dazu z.B. Jana Leichsenring: Der Protest in der Rosenstraße 1943 – Zeitzeugen und Historiker zwischen Akten und Erinnerung. In: www.hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ tagungsberichte. 27 J. Rebiger: A.a.O. 152 f. 28 Vergleiche hierzu z.B. den ausführlichen Bericht von Leichsenring über eine Tagung vom 29. bis 30.04.2004 mit den für das Thema maßgeblichen Forschern (siehe Anm. 26). 29 Zu diesen Zahlen siehe Birgit Menzel/Walter Süß: Das Bayerische Viertel – die „jüdische Schweiz“: Etappen eines Vernichtungsprozesses. In: Kunstamt Schöneberg, Schöneberg Museum in Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz (Hrsg.): Orte des Erinnerns. Bd. 2: Jüdisches Alltagsleben im Bayerischen Viertel. Eine Dokumentation. Berlin 21999, 8 ff. 30 Ebd. 216 ff.; versehen mit einer Einleitung von Katharina Kaiser werden in der genannten Publikation alle diese Menschen mit ihrem Namen, Geburtsdatum, Ort und Datum des Todes (Mordes), differenziert nach Straßen im Viertel aufgelistet. 31 Ebd. 5: Katharina Kaiser gemeinsam mit dem Schöneberger Bezirksbürgermeister Uwe Saager in der Einleitung. 32 Es gibt einen gleichnamigen Ausstellungskatalog und ein Begleitbuch zur Ausstellung (Berlin 1995). 33 Ein Beispiel dafür ist der frühere ZDF-Quizmaster Hans Rosenthal: Zwei Leben in Deutschland. Bergisch-Gladbach 1982.
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Erinnerungsort zu Krieg und Frieden Eine Ausstellung zur Schlacht von Höchstädt und Blindheim 1704
2004 wurde eines historischen Ereignisses gedacht, dem ein weltgeschichtlicher Rang zukommt: der „Schlacht von Höchstädt“ am 13. August 1704. Am Ort des Geschehens wurde eine große Ausstellung präsentiert.1 Den Jahrestag selbst beging man sowohl als internationalen Tag des Friedens mit Gottesdiensten wie als Inszenierung von Geschichte in historischen Kostümen und Uniformen.2 Geblieben von dem Jubiläumsjahr ist eine Dauerausstellung im Schloss Höchstädt und ein Denkmalweg von rund 23 Kilometern Länge3 auf dem weiträumigen historischen Schlachtfeld, einem Areal, das heute wie vor 300 Jahren im Wesentlichen ackerbaulich genutzt wird. Das Ereignis spielt im englischen Geschichtsbewusstsein als „The Battle of Blenheim“4 eine herausragende Rolle – ein entscheidender Wendepunkt auf dem Weg Englands zur maritimen Weltmacht und zum Schiedsrichter eines immer wieder auszutarierenden kontinentaleuropäischen Gleichgewichts der Kräfte. „Balance of Power“ wurde in dieser Zeit zum strategischen Ziel britischer Außenpolitik und zum Prinzip europäischer Friedenssicherung. Winston Churchill hielt die Schlacht schlicht für „unsterblich [...], weil sie die politische Achse der Welt veränderte“.5 Wenn sich an einem Erinnerungsort ein kollektives historisches Gedächtnis fixiert und historisches Bewusstsein bildet,6 dann ist das Schlachtenareal in der schwäbischen Donauebene eher ein englischer als ein deutscher Erinnerungsort. Ein Lernort zur historisch-politischen Bildung ist Höchstädt auf jeden Fall. Die Ausstellung im Schloss Höchstädt vermittelt historische Einsichten, regt zu Vergleichen mit der Gegenwart und damit zu politischen Wertungen an. Thematische Schwerpunkte sind: Das europäische Mächtesystem zwischen Hegemonie und Gleichgewicht, Krieg als Mittel der Politik, die Schlacht von Höchstädt/Blindheim im historischen Kontext, Auswirkungen des Krieges auf die Menschen, Friedenskongresse und Friedenssicherung. Nachfolgend wird ein kurzer historischer Abriss gegeben, der das Ereignis einordnet; dann folgt ein Gang durch die Ausstellung mit Hinweisen auf die wichtigsten Exponate als Bedeutungsträger im Sinne einer historisch-politischen Bildungsabsicht. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Höchstädt 1704 und der globale Krieg Historische Einführung Der Krieg, um den es ging, hatte globale Dimensionen.7 Die Ursache war typisch für eine Zeit, in der Länder und Herrschaftsrechte vererbt wurden. 1700 verstarb der letzte spanische Habsburger, Karl II.: der Herrscher eines Weltreiches – und ein armseliger Mensch. Krank, impotent, von Inzucht gezeichnet hatte er doch eine lange Regierungszeit. Es war den europäischen Mächten also längst klar, dass er ohne Erben sterben und das spanische Reich, in dem die Sonne nicht unterging, zur Disposition stehen werde. Zwar hatte Spanien den Zenit seiner Macht überschritten; doch herrschte sein König über die iberische Halbinsel (Portugal ausgenommen), über die größten Teile Mittel- und Südamerikas und die Inseln der Karibik, über die Philippinen, die wirtschaftlich hoch entwickelten Spanischen Niederlande (im Wesentlichen das spätere Belgien), über Mailand, ganz Süditalien, Sizilien und Sardinien. Die südamerikanischen Silberminen bedeuteten nach wie vor eine schier unermessliche Ressource. Das diplomatische Krisenmanagement scheiterte kläglich, obwohl doch alle Zeit der Welt zur Problemlösung vorhanden war. Frankreich und Österreich, oder genauer gesagt: die beiden führenden Dynastien Europas, Bourbonen und Habsburger mit ihren Exponenten, dem Sonnenkönig Ludwig XIV. und Kaiser Leopold I., erhoben Erbansprüche, beide etwa gleich gut begründet. Der Kaiser wollte das ungeteilte Erbe für Erzherzog Karl, seinen jüngeren Sohn, und lehnte französisch-niederländische Teilungspläne ab. Als der französische Herrscher nach dem Tode Karls II. vollendete Tatsachen schaffen wollte, das gesamte Erbe für seinen Enkel Philipp von Anjou beanspruchte und daran ging, es militärisch zu sichern, war der Krieg nach den Regeln der Epoche unvermeidlich. An dieser Stelle ist ein Blick auf Bayern zu werfen. Denn sein Landesherr, der Kurfürst Max II. Emanuel, suchte eine Rolle in diesem Konflikt der Großmächte zu spielen. Da seine Frau, Maria Antonia, ihren Stammbaum ebenfalls auf den letzten zeugungsfähigen spanischen König, Philipp IV., zurückführen konnte, kam der Sohn des Kurfürstenpaares ins Spiel, Joseph Ferdinand. Dieses Kind wurde ursprünglich von Karl II. testamentarisch als Nachfolger vorgesehen. Ein Krieg der Großmächte hätte sich durch diesen Kompromisskandidaten vielleicht vermeiden lassen. Max Emanuel stand in Diensten Spaniens; seit 1691/92 war er Statthalter in den Spanischen Niederlanden und residierte seither mehr in Brüssel als in München. Seinen Sohn schickte er zur Erziehung nach Paris, um dadurch das Wohlwollen des Sonnenkönigs zu gewinnen. Die Hoffnung auf eine wittelsbachische Erbfolge wurde allerdings zunichte, als der Prinz am 6. Februar 1699 im Alter von sechs Jahren verstarb. Hartnäckig hielten sich die Gerüchte, dass Gift im Spiel gewesen sein könnte.8 © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Schloss Höchstädt an der Donau, um 1590, Vierflügelanlage im Renaissance-Stil: Ort der Ausstellung
Als der Krieg begann, trat Max Emanuel bald an die Seite Frankreichs. Spanien war für die Wittelsbacher zwar verloren; aber der Kurfürst hoffte auf eine Teilung des Erbes und auf die Königskrone in den Spanischen Niederlanden. Das Streben nach Ruhm und Ansehen, weltweit und für alle Zeiten, war ein wesentliches Handlungsmotiv barocker Feldherrn und Fürsten. Ruhm und Unsterblichkeit erreicht man durch kriegerische Taten. Das gilt für Ludwig XIV. wie später für den aufgeklärten Friedrich II. von Preußen. Aber mit dem persönlichen Ehrgeiz verband sich bei diesen Regenten – so unterschiedlich sie auch sonst gewesen sein mögen – eine rational kalkulierte Strategie zur Optimierung der Macht ihres Staates. Ruhmsucht und Staatsräson waren zwei Seiten einer Medaille. Der bayerische Kurfürst hingegen hat die Ruhmbegierde verabsolutiert: Sie wurde bei diesem „Spieler par excellence“ 9 zum alles entscheidenden Antriebsmoment. Um seines Ruhmes willen war er bereit, sein Stammland Bayern als Einsatz ins politische Spiel und Kriegstheater hineinzuwerfen. Es lieferte ihm lediglich menschliche und materielle Ressourcen für seine „representatio majestatis“, für die Selbstverwirklichung als Feldherr10 und die Befriedigung seines Ehrgeizes. Dieser Mann, der Hoffnung auf die Kaiserkrone hegte, bis 1678 ein habsburgischer Thronfolger geboren wurde, der das spanische Erbe für seine Dynastie sichern wollte, sah sich im Laufe des © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Krieges als König von Mailand oder Neapel. Bayern war in dieser Kalkulation lediglich Kompensationsmasse für österreichische Ansprüche. Gegen Frankreich und Bayern bildete sich eine „Große Allianz“: Habsburg, die Seemächte England und die Niederlande, schließlich auch die meisten Reichsfürsten, Dänemark und Savoyen, geeint in dem Ziel, die Hegemonie Frankreichs zu verhindern. Der Krieg wurde von den Österreichern in Oberitalien gegen die dorthin eingerückten Franzosen eröffnet. Diese wiederum eroberten Breisach und Landau in der Pfalz und sicherten den Übergang über den Schwarzwald; am 12. Mai 1703 vereinigten Marschall Villard und der bayerische Kurfürst ihre Truppen bei Tuttlingen an der oberen Donau. Max Emanuel hatte vorher die freie Reichsstadt Ulm per Handstreich eingenommen. So war die Donaulinie als Verbindung zwischen Frankreich und Bayern gewonnen. Im Dezember 1703 eroberte der Kurfürst auch Augsburg. Für die Habsburger war die militärische Lage nunmehr höchst prekär: Die österreichischen Kernlande wurden von Italien aus von den Franzosen bedroht. Im Westen marschierte die franko-bayerische Armee auf; in Ungarn war die habsburgische Position durch einem Aufstand erschüttert. In dieser Situation kam der kaiserliche Gesandte in London, Graf Wratislaw, mit dem Oberbefehlshaber der vereinigten englisch-holländischen Truppen, John Churchill Herzog von Marlborough, überein, einen Teil der alliierten Streitkräfte an die Donau zu führen, um Kaiser und Reich aus ihrer bedrängten Lage zu befreien. Am 20. Mai 1704 brach Marlborough vom Niederrhein nach Süden auf. Seine Armee erreichte schließlich eine Stärke von 40.000 Mann. Nach sechs Wochen konnte er sich nördlich von Ulm mit den Kaiserlichen unter Markgraf Ludwig von Baden vereinigen. Der Brennpunkt des ganzen Krieges hatte sich damit an die obere Donau verlagert. Zu einer ersten Schlacht kam es am 2. Juli am Schellenberg bei Donauwörth. Die Alliierten erstürmten in einem blutigen Kampf die Verschanzungen der Bayern und Franzosen. Damit war der Weg über die Donau frei für einen Vorstoß nach Bayern. Max Emanuel zog sich in das befestigte Augsburg zurück, um auf französische Hilfe zu warten, während Marlborough einen breiten Landstreifen bis vor die Tore Münchens verwüsten, brandschatzen und plündern ließ. Die zweite Schlacht war jene am 13. August 1704 bei Höchstädt bzw. Blindheim. Es war eine Entscheidungsschlacht – und deshalb eigentlich untypisch für die Kriegführung in dieser Epoche (wenn man von den Kriegen gegen die Türken absieht). Als hohe Feldherrnkunst galt vielmehr, die eigenen Ressourcen zu schonen und den Gegner auszumanövrieren, ihn von seinem Nachschub und seinen Verbindungslinien abzuschneiden, in ein Winterquartier zu drängen, das Not und Hunger bedeutete, oder ihm eine Festung wegzunehmen, um den strategischen Spielraum einzuengen. Marschall Saxe (Rêveries de Guerre, 1732) meinte später, er könne sich vorstellen, „dass ein geschickter General sein ganzes Leben lang Krieg © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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führen könnte, ohne sich in eine Schlacht hineinzwingen zu lassen“.11 Die beiden Feldherrn Prinz Eugen und Marlborough setzten dagegen alles auf eine Karte (im Übrigen gegen den Willen des eigentlichen kaiserlichen Oberbefehlshabers, des Markgrafen Friedrich von Baden, der am Tag der Schlacht dabei war, Ingolstadt zu belagern, und als Störfaktor nicht in Erscheinung treten konnte). Die Schlacht war eine der größten im Europa des 18. Jahrhunderts.12 108.000 Soldaten waren im Einsatz, etwa 26.000 kamen insgesamt auf beiden Seiten ums Leben oder wurden schwer verwundet. Verlierer mit einer etwas größeren Zahl an Opfern waren Bayern und Frankreich unter dem Kurfürst Max Emanuel und den französischen Marschällen Marsin und Tallard. Auf der anderen Seite führte Herzog Marlborough die alliierten Streitkräfte der Engländer, Niederländer, Dänen und Hannoveraner, Prinz Eugen die kaiserlichen und die Reichstruppen, letztere mit starken preußischen Kontingenten. Der Aufmarsch der Alliierten begann um 7:00 Uhr; er war um 12:30 Uhr abgeschlossen. Die Kampfhandlungen bis 15:00 Uhr brachten keine Entscheidung; es schien, dass die Auseinandersetzung unentschieden enden würde. Im Frontabschnitt des Prinzen Eugen gelangen der preußischen Infanterie der Durchbruch und die Einnahme von Lutzingen. Die Franzosen mussten zurückweichen. Den durchschlagenden Erfolg brachte jedoch der Angriff, den Marlborough mit seiner gesamten Front nach 16:30 Uhr gegen die Truppen Tallards durchführte. In Blindheim musste erstmals seit Jahrzehnten eine französische Armee kapitulieren. Nach seiner Niederlage wurde gegen den wittelsbachischen Kurfürsten die Reichsacht erklärt, so dass er in Frankreich Schutz suchen musste. Die Oberpfalz wurde sofort vom Kaiser besetzt. In den nächsten Monaten rückten die Österreicher in die südlich der Donau gelegenen Landesteile Bayerns ein. Marlborough eroberte die Spanischen Niederlande, u.a. Löwen, Mechelen, Brüssel, Gent, Brügge. Der Habsburger Karl, der bereits im Vorjahr zum König von Spanien ausgerufen worden war, konnte nun dort Fuß fassen und Unterstützung gewinnen. In Italien brach in den folgenden Jahren die militärische Macht der Franzosen gänzlich zusammen. Lediglich am Oberrhein hielt Villars die französischen Stellungen, um fortgesetzt das südwestliche Deutschland zu brandschatzen und zu bedrohen. 1708 schien es so, als wäre die französische Vorherrschaft nachhaltig gebrochen. Die Sieger von Höchstädt (Marlborough und Prinz Eugen) verhinderten am 11. Juli 1708 in der Schlacht bei Oudenaarde die Rückeroberung der südlichen Niederlande durch Frankreich. Ludwig XIV. schloss nicht mehr aus, über die Herausgabe des Elsass mit Straßburg, der Freigrafschaft Burgund und der lothringischen Bistümer an das Reich zu verhandeln. Die Wende zugunsten Frankreichs, die schließlich in einem Kompromissfrieden mündete, kam, als am 17. April 1711 Kaiser Joseph I. starb. Sein Bruder, der Prätendent für Spaniens Thron, wurde als Karl VI. sein Nachfolger. England © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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wollte diesen enormen Machtzuwachs der Habsburger, der sich aus der Vereinigung des Reiches mit Spanien ergeben hätte, nicht akzeptieren und strebte einen Separatfrieden mit Frankreich an. Zwar zogen sich die Verhandlungen lange hin, aber am 11. April 1713 konnte der Friedensvertrag in Utrecht abgeschlossen und feierlich verkündet werden. Das spanische Kernland und die Kolonien verblieben den Bourbonen, doch sollten die Kronen Spaniens und Frankreichs nie in Personalunion vereint werden. Die spanischen Nebenländer wurden verteilt. Die Republik der Niederlande bekam die Barriere-Festungen, die den Süden des Landes schützten, zurück und günstige Handelsbedingungen im spanischen Imperium. Savoyen erhielt Sizilien und die Anerkennung der Königswürde auf der Insel (später erfolgte ein Tausch mit Sardinien). Preußen sicherte sich Geldern, zusätzlich erkannten die Bourbonen in einem Separatartikel die Königswürde der Hohenzollern in Preußen an. Großbritannien war der eigentliche Sieger dieses Krieges. Unter seiner Herrschaft blieben die im Krieg eingenommenen wichtigen Stützpunkte Gibraltar und Menorca, die die Kontrolle des Seeverkehrs im Mittelmeer ermöglichten. Die Engländer sicherten sich das Monopol für den lukrativen Sklavenhandel mit den spanischen Kolonien in Amerika. Damit stieg England zur größten Sklavenhandelsnation im 18. Jahrhundert auf. Frankreich trat an die Briten wichtige Gebiete in Übersee ab, darunter Neufundland, Neuschottland sowie die HudsonBay-Länder – damit wurde die Voraussetzung für eine dominierende Stellung in Nordamerika geschaffen. Und nicht zuletzt wurde das Prinzip der balance of power zum völkerrechtlichen Grundsatz erhoben – und England faktisch zum „Schiedsrichter“ im Konkurrenzkampf der kontinentalen Mächte. Nicht beteiligt war in Utrecht der Kaiser, der über das Verhalten seiner vormaligen Verbündeten enttäuscht und empört war. Den Krieg allein fortzusetzen erwies sich bald als aussichtslos. So kam es im November 1713 zu Friedensverhandlungen im Schloss Rastatt. Mit Prinz Eugen von Savoyen und Marschall Villars saßen sich zwei Männer gegenüber, die jahrelang gegeneinander Krieg geführt hatten. In dem am 6. März 1714 geschlossenen Vertrag verbesserte der Kaiser im Vergleich zu Utrecht seine Position. Habsburg musste auf Spanien verzichten, erhielt dafür den größten Teil der Nebenländer: die Spanischen Niederlande, Neapel und Sardinien, in Oberitalien Mailand und Mantua. Frankreich musste seine Festungen am rechten Rheinufer schleifen, ausgenommen Landau in der Pfalz. Mit dem Reich wurde bald darauf der Kriegszustand beendet (Friedensvertrag von Baden in der Schweiz). Die Gebiete und Städte, die schwer unter dem Krieg gelitten hatten, bekamen keine Entschädigung. Dagegen setzte Frankreich durch, dass der Kurfürst von Bayern seine Länder und Würden uneingeschränkt zurückerhielt. Max Emanuel erreichte also eine Wiederherstellung des Vorkriegszustandes. Im Vergleich zu seinen ehrgeizigen Plänen war das beschämend wenig; am Schaden © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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gemessen, den er seinem Land und dem benachbarten Schwaben zugefügt hatte, war das ein unverdienter Lohn. Der Kurfürst hat das wohl nicht so gesehen. Er starb 1726 – verbittert über das Scheitern aller großen Pläne.
Führungslinie durch die Ausstellung Nachfolgend werden anhand von Exponaten Inhalte und Problemstellungen skizziert. Wurden Exponate aus der temporären Ausstellung von 2004 übernommen, so wird in eckiger Klammer die Katalognummer13 angegeben.
Raum 229: Aufstieg des Fürstenhauses Pfalz-Neuburg Die Exponate nehmen Bezug auf das 1505 neu geschaffene Fürstentum PfalzNeuburg und seine dynastischen Verbindungen im Deutschen Reich und in Europa. Ö In den Räumen 201 bis 203 lassen sich machtpolitische und dynastische Konstellationen verdeutlichen, die zum Spanischen Erbfolgekrieg führten. Porträts veranschaulichen Selbstverständnis und Anspruch der fürstlichen Akteure.
Raum 202/201: Ein Weltreich zu vererben – Bayerns zerstörte Hoffnungen/Frankreich erbt Staatsporträt König Karls II. von Spanien (1661-1700), [Katalog 1.02]: Das Bild zeigt beschönigend den jungen körperlich und geistig schwachen letzten spanischen Habsburger im Spiegelsaal des Escorial, gekleidet in spanische Hoftracht. Der Löwe von Léon, auf dem der Konsoltisch ruht, legt die Tatze auf eine Weltkugel zum Zeichen des spanischen Herrschaftsanspruchs. Darauf nimmt eine Weltkugel vor dem Bild Bezug, auf der die spanischen Besitzungen verzeichnet sind. Porträt des bayerischen Kurprinzen Joseph Ferdinand (1692-1699): Das Porträt zeigt das Kind – Kompromisskandidat für die spanische Thronfolge – mit den Insignien seiner künftigen Bestimmung: Rüstung, Feldherrnstab, Hermelinmantel, Krone und Helm. Max Emanuel nach der Schlacht von Harsan [9.03]: Die Kopie eines Gemäldes von Joseph Vivien (Original um 1710, 1944 verbrannt) zeigt den „Blauen Kurfürsten“ als siegreichen Feldherrn in den „Türkenkriegen“, im Hintergrund das Schlachtfeld, darüber die allegorischen Figuren Fama und Victoria. Die Schlacht von Harsan lag 20 Jahre zurück. Es ist sicher kein Zufall, dass das Bild in einer Zeit entstand, als alle großen Pläne des Wittelsbachers fehlgeschlagen waren und er im französischen Exil leben musste. König Karl III. von Spanien (1685-1740), [3.03]: Das Porträt zeigt den habsburgischen Kandidaten; es entstand bald nach seiner Ausrufung zum spanischen © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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König, die im September 1703 in Wien erfolgte. 1704 ging er nach Spanien, um die Ansprüche seines Hauses durchzusetzen. Die Rüstung verweist darauf, dass sein Vorhaben Krieg bedeutet. – Im Nebenraum findet sich das Porträt seines französischen Konkurrenten, der ebenfalls im jugendlichen Alter war. Philipp von Anjou (1683-1746), als König von Spanien Philipp V. [3.28]: Ludwig XIV. gab dieses Staatsporträt (hier eine Kopie) bei Hyacinthe Rigaud in Auftrag, als sein Enkel am 4.12.1700 nach Madrid aufbrach. Daneben befindet sich das berühmteste aller Staatsporträts des Sonnenkönigs (Kopie, Original 1701 von Hyacinthe Rigaud14), ein Symbol absolutistischen Herrschaftsanspruchs. Wenig bekannt ist, dass das Bildnis für Madrid bestimmt war als sichtbares Zeichen für die Unterstützung des jungen Bourbonen auf dem spanischen Thron. Der für Frankreich ungünstige Kriegsverlauf führte dazu, dass das Gemälde in Paris blieb. In dem Raum findet man einige Exponate zur französischen Expansion unter dem Sonnenkönig.
Raum 203: Der Riss durch Europa: Kurbayern und Frankreich Stelen mit Wappen und stilisierten Kronen kennzeichnen die Mitglieder der unterschiedlichen Koalitionen, kurze Texte die jeweilige Interessenslage. Ö In den Räumen 204 bis 207 werden das Kriegswesen der Epoche und seine Funktion im politischen System dargestellt: Waffen und Krieg galten als letztes politisches Argument („ultima ratio regnum“, Aufschrift auf den Kanonen Ludwig XIV.). Die Kriegsmacht wurde im ausgehenden 17. Jahrhundert enorm gesteigert, vor allem in Frankreich. Als Kriegsursachen lassen sich somit nicht nur der dynastische Ehrgeiz, die persönliche Ruhmbegierde und die Einstellung zum Krieg als normales Mittel der Politik in einem konkurrierenden Mächtesystem benennen, sondern auch die erwartete „Rendite“, die ein hoher Mitteleinsatz abwerfen musste.
Raum 204: „Ultima ratio regnum“: Armee und Staat Exponate zu Themen wie Finanzierung, Uniform, Drill, Disziplin, Offiziere, Rekrutierung, Magazine und Beute, Waffen Raum 205: „Ultima ratio regnum“: Die tägliche Routine des Soldaten „Die Übungen des Mars“: Bilder zum Kriegswesen der Zeit um 1700, [5.44]: 24 Kupferstiche (jedes Blatt 18,9 x 22,9 cm) von Joseph Friedrich Leopold (Augsburg, 1700), sie kopieren die französische Serie „Les exercices de Mars von N. Guérard, szenenhafte Darstellung, Abbildungen einzelner französischer Soldatentypen. Raum 206: „Ultima ratio regnum“: Strategie und Bewaffnung um 1700 Darstellung von Waffengattungen, Festungsbau © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Raum 207: „Arte et Marte“: Die Feldschlacht Idealbild des Kampfes war nicht wildes Ungestüm, sondern Einsatz der militärischen Mittel mit „Kunst und Gewalt“. So werden in dem Raum u.a. Lineartaktik und Salvenfeuer erklärt. Sehr anschaulich sind lebensgroße Figurinen (Konzeption von Marcus Junkelmann) mit Uniform und Bewaffnung [5.34, 5.35, 5.36]: Füsilier vom französischen Linienregiment Navarre. Der Füsilier war Infanterist, benannt nach seiner Steinschlossflinte (fusil). Das Regiment gehörte zur Armee Marschall Tallards und musste in Blindheim gegenüber den Engländern die Waffen strecken. Grenadier vom kurbayerischen Leibregiment. Diese vornehmste Einheit der bayerischen Infanterie war an beiden Schlachten im Juli/August 1704, auf dem Schellenberg und bei Höchstädt-Blindheim, beteiligt. Englischer Kavallerist vom Cadogan’s Regiment of Horse. Das Eliteregiment Herzog Marlboroughs hatte wesentlichen Anteil am entscheidenden Kavalleriedurchbruch der Engländer bei Blindheim. Ö In den Räumen 208 bis 212 (erster Teil) werden die politischen und militärischen Entwicklungen bis zur Schlacht vom 13. August 1704 dargestellt, schließlich der Verlauf der Schlacht selbst. Die Legitimation des Krieges lässt sich nochmals aus Sicht des Kurfürsten thematisieren (Medaille). Betroffen war in starkem Maße die Zivilbevölkerung; der Krieg wird für sie zur Bedrohung der physischen und materiellen Existenz. Opfer sind schließlich auch die Soldaten. Noch nach 300 Jahren findet man Überreste auf dem früheren Schlachtfeld. Eine Versorgung der Verwundeten gab es nicht. Tausende haben als Krüppel die Schlacht überlebt. Die Frage der Spätfolgen wird heute in Bezug auf die physischen, aber auch auf die psychischen Verletzungen, die Traumata, diskutiert. Krieg kann Menschen auf vielfältige Weise zerstören. Eindrücklich der Kupferstich von Fleming „Der Vollkommene Teutsche Soldat“, der Grausamkeit und Sinnlosigkeit des Krieges anprangert. Die Schrecken des Krieges lenken wiederum den Blick auf die Kriegsursachen, die von dem Aufklärer Blainville artikuliert werden.
Raum 208: Kriegsschauplatz Bayern 1702 bis 1704 – Die Engländer an der Donau Im September 1702 überfiel Kurfürst Max Emanuel in einem Handstreich die Reichsstadt Ulm. In der Folge konnten seine französischen Verbündeten die Donaulinie zum Aufmarsch gegen Österreich nutzen. Auswahl von Exponaten: Modell eines Floßes für Militärtransport [6.10]. Die Schlacht auf Schellenberg am 2. Juli 1704, Gemälde von August Querefurt, nach 1733 [7.02]: Der Sieg der Engländer und Holländer gegen die bayerische Besatzung des befestigten Schellenbergs bei Donauwörth öffnete den Donauübergang und ermöglichte, den Krieg ins bayerische Stammland des Kurfürsten hineinzutragen. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Medaille für die Einnahme von Ulm und Augsburg durch Max Emanuel, Silber, geprägt in Augsburg 1704 [6.08]: Der Kurfürst präsentiert sich als Sieger und Triumphator. Er hält ein mit Lorbeer umwundenes Schwert und einen Schild mit der Inschrift „In hoc signo vinco +“ und dem Monogramm der Mutter Gottes als Patronin des bayerischen Sieges.15
Raum 209/210: Zwischen Höchstädt und Blindheim, 13. August 1704 Die Protagonisten der Großen Allianz im Feldherrnhabit: Porträt des Prinzen Eugen von Savoyen (1663-1736) von Johann Kupetsky, Wien, um 1714/16 [9.18]: Kupetsky hat den österreichischen Feldherrn und Staatsmann wiederholt porträtiert. Das Bildnis entstand in wirklichen Porträtsitzungen („ad vivum“), was eher selten der Fall ist. Der Prinz trat 1683 in kaiserliche Dienste, zeichnete sich als hervorragender Offizier in den „Türkenkriegen“ aus und war seit 1703 als „Hofkriegsratspräsident“ der oberste militärische Berater des Kaisers. Am Tag der Schlacht hatte Marlborough den Oberbefehl. Beide Feldherren arbeiteten kongenial und effektiv zusammen, während es zwischen dem Kurfürsten und den französischen Marschällen Misstrauen und Rangstreitigkeiten gab. John Churchill, Herzog von Marlborough (1650-1722), als Feldherr, Porträt, Umkreis Adrian van der Werff, wohl nach 1705 [7.01]. „Militärisch gehört der in großen militärischen Zusammenhängen denkende, die Operationen auf dem Papier vorausplanende, mit den Problemen der Organisation und der Versorgung vertraute Feldherr einer ganz anderen Kategorie an als der auf die rasche Gewinnung von Ruhm begierige, selbst die Truppen mitreißende, seiner spontanen Kraft vertrauende Kurfürst.“16 Eine Animation anhand eines dreidimensionalen Modells (im Nebenraum) vermittelt am anschaulichsten den Schlachtverlauf [7.46]. Im Hauptraum finden sich dazu Gemälde, Karten und Dokumente (Raum 210). Raum 211: Schlacht-Feld Eine wissenschaftliche Untersuchung im Sinne einer Schlachtfeldarchäologie hat es in der schwäbischen Donauebene nicht gegeben. Relikte wurden von Privatleuten gefunden (z.B. beim Pflügen, bei Bauarbeiten oder bei der Kiesgewinnung im alten Donaubett) und aufbewahrt. In einer großen Vitrine werden eindrucksvoll Fundsituationen nachgestellt; zu sehen sind z.B Schädel, Knochen, Uniformteile, Trümmer von Waffen aller Art, von Sporen und Pferdegeschirr, Kanonenkugeln [7.58-69]. Darüber ist auf einem Transparent ein Zitat aus der Reisebeschreibung von Sir Blainville17 zu lesen, der im Sommer 1705 das Schlachtfeld besuchte: „Obgleich zu dieser Zeit das Getreide in dieser Ebene sehr hoch stand, konnten wir dennoch gar viele erschreckliche Spuren des Trauerspiels, das hier aufgeführt worden, ganz © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Hans Friedrich von Fleming, Der Vollkommene Teutsche Soldat, Leipzig 1726, Kupferstich
deutlich erkennen. Stücke von halb vergrabenen Körpern, Füße, Arme, Hirnschädel, ganze Gerippe von Menschen und Pferden, mit Flintenkolben, Degentrümmern und Lumpen vermischt […], stellten dem Auge und der Einbildungskraft den gräulichsten und fürchterlichsten Anblick dar. Eine so schreckliche Aussicht brachte mich darauf, der unverantwortlichsten Torheit der Menschen nachzudenken, welche mit einer viehischen Wut erfüllet, der sie den Namen Tapferkeit beilegen, einander auf das grausamste niedermetzeln, ohne eine persönliche Feindschaft und Rachbegierde gegeneinander zu hegen, und bloß, wie sie sagen, zur Ehre, um ein Aufsehen in den Zeitungen zu machen. Elende Opfer für den unmenschlichen Ehrgeiz der Fürsten.“ [7.47] Hans Friedrich von Fleming, Der Vollkommene Teutsche Soldat, Leipzig 1726, Kupferstich, Ausschnitt auf Transparent vergrößert. – Auf dem Schlachtfeld sind Überreste des Kampfes zu sehen: tote, zum Teil verstümmelte Soldaten, abgeschlagene Köpfe und Gliedmaßen, tote Pferde, Waffen. Offizier und gemeiner Soldat liegen nebeneinander, Freund und Feind sind nicht zu unterscheiden, im © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Tod sind alle gleich. Wofür sind diese Menschen gestorben? Das Bild und die Szene beherrschend, sieht man die allegorische Figur des Todes, er ist der Herr des Schlachtfeldes. Eine Schaufel geschultert steht er vor einer Grube, dem Massengrab. Der Tod schaut den Betrachter frontal, fast herausfordernd an und weist mit der rechten Hand auf das mit Toten übersäte Schlachtfeld, als ob er sagen wollte: „Schaut hin, was sich Menschen gegenseitig antun.“ Der abgestorbene Baum könnte als Baum der Erkenntnis im Paradies gedeutet werden. Darauf weist die Schlange hin, die sich um den Stamm windet. Die Äste sind abgehackt, wie die Gliedmaßen der Gefallenen. Erkenntnis, Vernunft, die Schöpfung Gottes sind zu Schanden geworden. Die Schlange, der Teufel, das Böse, hat sein Ziel erreicht und stiehlt sich unauffällig davon.18
Raum 212: Kriegsauswirkungen auf die Bevölkerung in Schwaben und Bayern Hörstationen [8.26-30]: Bombardierung Augsburgs durch die Franzosen, 13.12.1703, Erpressungen durch Soldaten, Fouragieren, Übergriffe auf die Zivilbevölkerung. Für die Bevölkerung endet der Krieg nicht mit dem Waffengang. So rückte in Bayern nach der Niederlage des Kurfürsten kaiserliches Militär ein; die Besatzungsmacht presste das Land aus und zwangsrekrutierte junge Burschen. Im historischen Bewusstsein blieb vor allem die Sendlinger Bauernschlacht oder Mordweihnacht vom 25. Dezember 1705, als 3000 Männer gegen die Residenzstadt München vorrückten („Lieber bayerisch sterben als österreichisch verderben“) und von kaiserlichem Militär „aufgerieben“ wurden. Ein Zeugnis dafür ist die Votivtafel von Egern [8.40, in der Dauerausstellung ist eine Kopie zu sehen]. Das Bild zeigt keinen Kampf, sondern ein Massaker; die Bauern haben längst ihre primitiven Waffen weggeworfen; Flüchtlinge werden verfolgt und getötet, sogar in der Sendlinger Kirche. Für die verantwortlichen Offiziere war das Vorgehen „pro terrore“ (zur Abschreckung) gerechtfertigt. Ö Die letzten beiden Abteilungen (Raum 212 und 215) dokumentieren die Wende des Krieges durch den Tod Kaiser Josef I. (1711) und den Rückzug der Engländer aus der Allianz, der – vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte – wesentlich durch eine tief greifende Änderung in der öffentlichen Meinung bestimmt war. Hier bieten sich wieder Parallelen zur Gegenwart an: Welche verfassungsmäßigen Voraussetzungen sind notwendig, damit eine öffentliche Meinung politisch wirksam werden kann? Kann eine öffentliche Kontrolle Krieg verhindern? – Das Ergebnis der Friedensverhandlungen wirft die Frage auf, weshalb dafür mehr als 10 Jahre lang Krieg geführt werden musste. Die Friedensverträge sind ein Baustein bei der Ausformung eines Systems rechtlicher Normen im zwischenstaatlichen Verkehr und Verhalten, des Völkerrechts, das im 17. und 18. Jahrhundert ausgebildet wurde. Der Spanische Erbfolgekrieg löste unter den aufgeklärten Geistern einen Diskurs aus, wie der Friede dauerhaft gesichert werden kann.19 © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Raum 212: Wende und Ende des Krieges Trauergerüst für Kaiser Joseph I. in der Augustiner-Hofkirche zu Wien [10.01, großformatige Abb., gekippt mitten im Raum]: Sein Nachfolger Karl, der letzte männliche Habsburger, hätte das spanische Weltreich, Österreich-Ungarn und die Kaiserwürde in seiner Hand vereint. Rückseite: Queen Anne im House of Lords [10.39]: Die Abbildung verweist auf die Parlamentsabhängigkeit der englischen Regierung. Marlborough und die Whigs hatten auf einen Siegfrieden gesetzt; die seit 1710 amtierende Tory-Regierung wollte einen raschen Frieden, erst recht seit dem Tode des Kaisers. Hörstationen, z.B.: Daniel Defoe plädiert für eine Politik des europäischen Gleichgewichts [10.42]. Gedicht von Alexander Pope, der die Tory-Politik unterstützte [10.44]. Raum 215: Friedensschlüsse von Utrecht, Rastatt und Baden Eine Inszenierung – drei Tische mit Stühlen für die jeweils Beteiligten – veranschaulicht das Ergebnis der Friedensverhandlungen und der Kompensationsgeschäfte. – Vordergründig ein Schachern der Mächte um Territorien und Ressourcen, haben die Friedensschlüsse doch eine grundsätzlichere Bedeutung: Es geht um die Überwindung von Krieg durch Politik und Vereinbarung internationalen Rechts. Im Gang vor Raum 215: Der Traum vom ewigen Frieden Zur Diskussion gestellt werden drei auf Stelen angebrachte Zitate: William Penn (1644-1718): „Wenn [die Fürsten Europas] so jährlich oder alle zwei oder drei Jahre […] zusammenkämen, […] dann könnten vor diese souveräne Versammlung alle zwischen Regierungen schwebenden Streitfälle gebracht werden.“ [12.01] Abbé Charles-Irénée Castel de Saint-Pierre (1658-1743), Sekretär des französischen Gesandten beim Utrechter Friedenskongress: „Es besteht von diesem Tag an zwischen den unterzeichneten Herrschern […] ein dauerndes ewiges Bündnis zum Zweck der Erhaltung eines ununterbrochenen Friedens in Europa.“ [12.02] Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) über den ewigen Frieden: „Noch nie zuvor hat ein größerer, schönerer und mit mehr Nutzen verbundener Plan den menschlichen Geist beschäftigt.“ [12.03] Immanuel Kant (1724-1804): „ Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein.“ „Das Völkerrecht soll auf einen Föderalismus freier Staaten gegründet sein.“ [12.04]
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Literatur Johannes Erichsen und Katharina Heinemann (Hrsg.): Brennpunkt Europas 1704: Die Schlacht von Höchstädt – The Battle of Blenheim. Aufsatzteil und Katalog zur Ausstellung. Ostfildern 2004. Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung und Bayerischen Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen (Hrsg.): Brennpunkt Europas 1704: Die Schlacht von Höchstädt – The Battle of Blenheim. Wege durch die Ausstellung. Didaktisches Begleitheft. Donauwörth 2004. Jahrbuch des Historischen Vereins Dillingen an der Donau, 105. Jahrgang 2004: Die Schlacht bei Höchstädt. Dillingen an der Donau 2005. Marcus Junkelmann: Das gräulichste Spectaculum der Welt. Die Schlacht von Höchstädt, eine europäische Entscheidung? (Hefte zur Bayerischen Geschichte und Kultur 30, hrsg. vom Haus der Bayerischen Geschichte). Augsburg 2004. Siegfried Münchenbach und Alexander Ohgke (hrsg. im Auftrag der Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung): Ein Lesebuch zur Schlacht von Höchstädt/Blindheim. Siebzehn und vier – kein Spiel, no joke (Akademiebericht Nr. 396). Dillingen 2004.
Anmerkungen 1 Aufsätze und Katalog zur Ausstellung: J. Erichsen und K. Heinemann (Hrsg.): Brennpunkt Europas 1704. Ostfildern 2004. 2 Vgl. 1704/2004. Die Schlacht bei Höchstädt/Blindheim – The Battle of Blenheim. Das Gedenkjahr 2004 in Bildern. Höchstädt a.d. Donau 2005. 3 1704/2004. Die Schlacht von Höchstädt/Blindheim – The Battle of Blenheim. Denkmalweg. Auf den Spuren der Schlacht von 1704. Faltblatt, erhältlich bei der Verwaltungsgemeinschaft Höchstädt a.d. Donau. Im Heimatmuseum Höchstädt sind Dioramen mit fast 9000 Zinnfiguren zu sehen. 4 Blenheim ist der englische Name für den Ort Blindheim. In der englischen Geschichtsschreibung hat sich diese Bezeichnung durchgesetzt, weil in dem kleinen Ort die französische Armee Marschall Tallards vor Herzog Marlborough kapitulierte. Das Schloss, das die englische Regierung für den siegreichen Feldherrn erbauen ließ, nannte dieser Blenheim-Palace. Hier wuchs Winston Churchill auf, ein direkter Nachkomme des Siegers von Höchstädt und Blindheim. Dieser hat sich ausführlich mit der Schlacht und ihren historischen Folgen beschäftigt. Vgl. z.B.: Winston S. Churchill: Geschichte, Bd. 3: Das Zeitalter der Revolutionen. Stuttgart 1957, 45-64. 5 Winston Churchill, 1934, zit. nach: Karl Baumann: Briefe zur Schlacht von Höchstädt 1704. In: Jahrbuch des Historischen Vereins Dillingen 1978, 21. 6 Vgl. Etienne François/Hagen Schulze: Deutsche Erinnerungsorte. München 2001. Vorbild war das von 1986 bis 1992 in Paris erschienene siebenbändige Werk des französischen Publizisten und Historikers Pierre Nora „Les lieux de mémoire“.
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7 Zum Folgenden vgl. J. Erichsen und K. Heinemann (Hrsg.): Brennpunkt Europa 1704. Ostfildern 2004. 8 Vgl. Ludwig Hüttl/Max Emanuel: Der Blaue Kurfürst: München 1976, 257-266. Nach der erstmaligen Auswertung der Aufzeichnungen des kurfürstlichen Leibarztes Dr. Vachieri hält Hüttl die Mordthese eher für unbegründet. 9 Eine ausgezeichnete Charakteristik des Fürsten findet sich ebd. 535-560. 10 Zu Max Emanuel als Feldherrn in den „Türkenkriegen“ vgl. ebd. 149-170. 11 Zit. nach Michael Howard: Der Krieg in der europäischen Geschichte. München 1981, 97. 12 Vgl. Markus Junkelmann: Der blutige 13. August 1704. In: Jahrbuch des Historischen Vereins Dillingen an der Donau: Die Schlacht bei Höchstädt. Dillingen an der Donau 2005, 73-201. 13 Katalog vgl. Anm. 1. Für die Dauerausstellung gibt es keinen Katalog. Ein didaktisches Begleitheft ist 2007 erschienen. 14 Original: Musée du Louvre, Paris. 15 Der Kurfürst hatte Ulm am Tag der Geburt Mariens (8. September 1702) eingenommen; Maria als „Patrona Bavariae“ erschien auch auf bayerischen Kriegsfahnen. Die Inschrift spielt deutlich auf die Vision Kaiser Konstantins vor der Schlacht an der Milvischen Brücke an (312), nach der ihm die Verheißung zuteil wurde, dass er im Zeichen des Kreuzes über Maxentius siegen und folglich in Rom herrschen werde. 16 H. Glaser, zit. nach J. Erichsen im Katalog zur Ausstellung (vgl. Anm. 1), 191. 17 Des Herrn von Blainville Reisebeschreibung durch Holland, Oberdeutschland und die Schweiz besonders aber durch Italien, Bd. 1. Lemgo 1764, 161 f. Blainville stammte ursprünglich aus Frankreich, lebte aber in England. 18 Vgl. Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung und Bayerischen Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen (Hrsg.): Brennpunkt Europas 1704. Donauwörth 2004, 11, 51. 19 Vgl. Theo Stammen: Krieg – Ein Mittel der Politik? Reflexionen zu einem nicht nur historischen Thema. In: Jahrbuch des Historischen Vereins Dillingen an der Donau: Die Schlacht bei Höchstädt. Dillingen an der Donau 2005, 51-73.
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Florian Setzen
Straßburg Hauptstadt des Elsass und Symbol der europäischen Einigung
1 Straßburg als Lernort Vorweg gesagt: Straßburg ist eine französische Stadt. Die Aufnahme Straßburgs in den Kreis der „deutschen“ Lernorte rechtfertigt aber ihre Geschichte sowie die Symbolkraft der Stadt für die deutsch-französische Freundschaft und die europäische Integration. Als historisch-politischer Lernort drängt sich diese Stadt geradezu auf: Zum einen wegen seiner wechselhaften Geschichte, hin- und hergerissen zwischen der Geschichte Frankreichs und Deutschlands, zum andern wegen seiner aktuellen Symbolkraft für die Verständigung der europäischen Völker und seiner niedergelassenen europäischen Einrichtungen. In Straßburg lassen sich sowohl die „Deutschfranzösische Erbfeindschaft“ und die Weltkriege als auch die deutsch-französische Aussöhnung und die Bedeutung für die europäische Einigung nachvollziehen. Wie dies im Rahmen außerschulischer Bildungsaktivitäten gelingen kann, soll dieser Beitrag aufzeigen. Zunächst zum Ort selbst: Straßburg gilt heutzutage als eine der Touristenhochburgen Ostfrankreichs. Sehenswürdigkeiten sind das gotische Münster mit seiner astronomischen Uhr, die pittoreske Altstadt mit Fachwerkhäusern im alten Gerberviertel und romantischen Wasserarmen der Ill rund um die Stadt, auf denen Ausflugsboote die Stadt umrunden können. Erfahrungsgemäß kommen diese Sehenswürdigkeiten bei Jugendlichen als Kulisse gut an, als Ziel einer Exkursion sind sie aber längst nicht ausreichend. Schnell werden Klagen laut, dass die Innenstadt außer Souvenirläden und Restaurants kaum Einkaufsmöglichkeiten für Jugendliche bereithielte, dass man lange brauche, um den McDonald’s zu finden, und dass die Hauptattraktion die Straßenverkäufer aus Schwarzafrika seien, die mit Jugendlichen gerne um den Preis von Regenschirmen oder Feuerzeugen feilschen. Wenn man vermeiden möchte, dass Jugendliche sich in Straßburg langweilen, obwohl die Stadt „doch so reich an Kultur und Sehenswürdigkeiten“ ist, wenn man außerdem noch einen Hauch deutsch-französischer bzw. europäischer Geschichte und aktuelle Politik vermitteln möchte, die die Jugendlichen vor Ort selbst erfahren, ohne die Lust daran zu verlieren, dann können folgende Tipps hilfreich sein. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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1. Zunächst sollte man sich klarwerden, warum man mit den Jugendlichen überhaupt nach Straßburg fährt bzw. fahren muss: Ist Straßburg eine Notlösung für die Pflichtexkursion, da Berlin oder Paris etc. schon als Ziele dran waren? Oder ist Straßburg ein bewusst gewählter Ort als Seminarort eines außerschulischen Seminars der politischen Bildung? Fährt man nach Straßburg, weil die Jugendlichen selbst dies wollen? 2. Wenn feststeht, warum Straßburg als Ziel gewählt wurde, sollte man sorgfältig die Lernziele ausarbeiten, die man mit der Aktion in Straßburg erreichen möchte: Soll europäisches Bewusstsein geschaffen werden? Soll erreicht werden, dass die Jugendlichen die Funktionsweise der EU und/oder des Europarats besser verstehen? Soll die aktuelle Identität der Elsässer/-innen erkundet werden? 3. Die Lernziele sollten mit den Wünschen und Anregungen der Jugendlichen abgeglichen werden. Das Gesamtprogramm sollte sowohl den Lernzielen als auch den Erwartungen und Wünschen der Jugendlichen dienen. 4. Danach kann man sich an die konkrete Planung des Programms machen. Dieses ist umso fruchtbarer, je besser es gelingt, die Lernziele mit den Erwartungen und Wünschen der Jugendlichen in Einklang zu bringen. Die Erfahrung aus etlichen Seminaren der außerschulischen politischen Jugendbildung in Straßburg hat gezeigt, dass dies mit einer guten Vorbereitung, die Lust macht auf Straßburg, einem abwechslungsreichen Programm vor Ort mit Vor-Ort-Besuchen und Methodenmix sowie einer sich anschließenden Reflexion und Evaluation sehr gut gelingen kann. Neben vielen Methoden vom Quiz bis zum Planspiel, die im Rahmen der Arbeit am Heinrich Pesch Haus ▪ Katholische Akademie Rhein-Neckar, Ludwigshafen, entstanden sind und sich vorzüglich für die Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung von Veranstaltungen in Straßburg eignen, soll hier eine Methode beispielhaft erläutert werden, die an den sprachlichen Besonderheiten Straßburgs in Vergangenheit und Gegenwart ansetzt.
2 Straßburg und die Sprache – drei Seminarbausteine Die Sprachengeschichte Straßburgs eignet sich hervorragend als Aufhänger, um geschichtliche Zusammenhänge und kulturelle oder politische Entwicklungen in Deutschland und Frankreich aufzeigen zu können. Als römische Stadtgründung mit dem Namen Argentoratum unter der Herrschaftszeit des römischen Kaisers Augustus galt in Straßburg ursprünglich als offizielle Amtssprache das Lateinische, die Einheimischen sprachen keltische Dialekte. Straßburg war zunächst ein militärischer Außenposten Roms in der Provinz Germania Superior und wurde im 4. Jahrhundert Bischofssitz. Doch während des © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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4. und 5. Jahrhunderts, als das Römische Reich immer größere Auflösungserscheinungen an den Tag legte und germanische Einwandernde (Alemannen, Franken) verstärkt die Möglichkeiten nutzten, sich auch linksrheinisch, im heutigen Elsass, anzusiedeln, begannen germanische Sprachen einzusickern und sich zu verbreiten. Eine Sprachgrenze bildete sich entlang des Gebirgszugs der Vogesen: Westlich davon entwickelten sich eigene romanische (Französisch) Sprachen, östlich davon germanische (Deutsch). Dies blieb so bis zum Höhepunkt der Macht von Karl dem Großen, dessen Reich als Frankenkönig das heutige Frankreich und Deutschland umfasste. Sein Reich wurde unter seinen drei Enkeln aufgeteilt, die ab dem Jahr 840 um die Vorherrschaft und die Aufteilung des Reiches stritten. Karl der Kahle (Herrscher über den Westen des einstigen Reiches) und Ludwig (Herrscher des Ostteils) verbündeten sich gegen ihren älteren Bruder, Lothar, der als Erstgeborener Konkurrent der beiden war. Lothar erlitt 841 gegen die Brüder bei Fontenoy eine militärische Niederlage, und am 14. Februar 842 bekräftigten die Sieger und deren Gefolgsleute in den sogenannten „Straßburger Eiden“ ihr Bündnis. Das Bemerkenswerte an den Eiden ist, dass die Schwurformeln bis heute überliefert werden konnten und zwar zweisprachig, auf Altfranzösisch und Althochdeutsch (genauer gesagt: auf einem rheinfränkischen Dialekt), mutmaßlich, damit auch die Gefolgsleute der beiden Könige den Wortlaut des Eides verstehen konnten. Interessant ist, dass also bereits 842 Straßburg im Mittelpunkt zwischen der französischen und deutschen Kultur stand – eine Tatsache, die sich die vorliegende Methodenbeschreibung zunutze macht. Anhand der Sprachentwicklung in und um Straßburg soll nämlich die wechselhafte Geschichte und die spezielle Ausformung von Kultur und Identität der elsässischen Metropole aufgezeigt werden. Die ersten beiden Teile der Methode stellen eine gute Vorbereitung dar für eine Exkursion im Rahmen der politischen Bildung nach Straßburg. Der dritte Teil kann als Methode zum „Lernen am historischen Ort“ verstanden werden, da er in Straßburg durchgeführt wird. Die Methode gliedert sich in folgende Teile: Teil 1: Die Straßburger Eide. Teil 2: Über 2000 Jahre Sprache in Straßburg. Teil 3: Sprache heute in Straßburg.
2.1 Die Straßburger Eide Die Gesamtgruppe der Teilnehmenden wird in Kleingruppen zu 3 bis 6 Personen aufgeteilt. Jede Kleingruppe erhält die erste der nachfolgenden Fragen und hat 10 Minuten Zeit, um sie zu beantworten. Nach der ersten Runde stellt eine Gruppe ihre Antwort vor, und diese Antwort wird kurz mit den anderen Gruppen diskutiert. Dann folgt auf die gleiche Weise eine zweite Runde mit der zweiten Frage (erneut ca. 10 Minuten für die Bearbeitung der Frage, anschließend Vorstellen und Diskussion). So geht es weiter, bis alle Fragen behandelt sind. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Teil der volkssprachlichen Eidesformel aus der Pariser Handschrift von Nithart (gest. 844), einem illegitimen Enkel Karls des Großen
y Wie wichtig ist Ihnen Sprache? (Antwort begründen!) y Wie wichtig sind Dialekte für Sie? (Antwort begründen!) y Finden Sie (ausgehend von dem, was Sie vielleicht zufällig schon über Straßburg wissen), dass Straßburg in Bezug auf Sprache und Dialekte etwas Besonderes ist? (Antwort begründen!) y Eine sprachliche Besonderheit Straßburgs ist, dass im Jahr 842 die sogenannten „Straßburger Eide“ abgeleistet wurden. Hier erhalten alle das Arbeitsblatt „Die Straßburger Eide 842“ (siehe unten). Um welche Sprachen handelt es sich hier? Haben Sie eine Ahnung, von wem die beiden Eide damals abgeleistet wurden und warum? © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Nach der Diskussion der letzten Frage gibt die Seminarleitung die tatsächlichen historischen Details bekannt, nämlich von wem die Eide geleistet wurden (Karl dem Kahlen und seinem Bruder Ludwig dem Deutschen), was der Grund für den Schwur war (das Bündnis gegen Lothar) und warum zwei Sprachen benutzt wurden (damit auch das Gefolge des Bruders den jeweiligen Eid verstehen konnte; denn die Vogesen waren die damalige Sprachgrenze zwischen romanischen und germanischen Dialekten).
2.2 Über 2000 Jahre Sprache in Straßburg Die Kleingruppen aus dem 1. Teil der Methode bleiben bestehen und erhalten einen Fragebogen „Über 2000 Jahre Sprache in Straßburg“ (für den Fragebogen müssen natürlich die Antworten aus dem Lösungsbogen, der weiter unten zu finden ist, gelöscht werden). Dieser Fragebogen soll in 15 bis 20 Minuten (abhängig von der Zielgruppe) ausgefüllt werden. Nach der vorgegebenen Zeit erhalten die Kleingruppen den Lösungsbogen und sollen die Lösungen mit ihren Ergebnissen vergleichen und diskutieren. Zusätzlich soll sich jede Kleingruppe Gedanken darüber machen, inwieweit die Sprachgeschichte in Straßburg Einfluss auf die Identität der Bevölkerung heute haben könnte; dabei stehen folgende Fragen zur Hilfestellung zur Verfügung: y Wie wird eine Bürgerin/ein Bürger Straßburgs auf jemanden reagieren, der sie/ ihn auf Hochdeutsch anspricht? y Wie würden Sie selbst reagieren, wenn Sie selbst Elsässer/Elsässerin wären? y Feiert eine Bürgerin/ein Bürger Straßburgs eher den französischen Nationalfeiertag oder eher den deutschen? Vergleich und Diskussion können noch einmal 15 bis 20 Min. dauern. Anschließend stellt jede Gruppe etwaige Abweichungen ihrer Ergebnisse von den Lösungen vor und gibt an, wie die Sprachgeschichte ihrer Meinung nach die Identität der Straßburger beeinflusst hat. Die Antworten werden nicht diskutiert oder kommentiert, aber die Seminarleitung weist darauf hin, dass die Ergebnisse gesichert werden und bis zur Rückkehr von der Exkursion aus Straßburg aufbewahrt werden, um sie dann für die Reflexionsphase und die Evaluation erneut zu gebrauchen. 2.3 Sprache heute in Straßburg Der dritte Teil der Methode kann auf der Fahrt nach Straßburg (im Reisebus über Mikrofon) oder bereits in einer Seminareinheit kurz vor Beginn der Exkursion beginnen. Die Seminarleitung erklärt, dass die Kleingruppen, die bereits in Teil 1 und Teil 2 zusammengearbeitet haben, bestehen bleiben und auch vor Ort in Straßburg ein Aufgabenblatt erhalten und bearbeiten sollen. Sie weist darauf hin, dass diese © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Gruppen sich aber selbst organisieren können: sie müssen nicht die gesamte Zeit in Straßburg gemeinsam verbringen, vor allem dann nicht, wenn noch andere offizielle und inoffizielle Programmpunkte wie z.B. Besuch bei Europäischem Parlament und Europarat, Stadtführung (evtl. per Boot) und Freizeit auf dem Programm stehen. Die Leitung bittet aber die Kleingruppenmitglieder, zu jeder Zeit mit „offenen Augen und Ohren“ durch Straßburg zu gehen und daran zu denken, dass die Fragen auf dem Aufgabenblatt „Sprache heute in Straßburg“ beantwortet werden müssen. Dann teilt die Seminarleitung das Aufgabenblatt aus (siehe Anhang). Die Ergebnisse der Recherchen werden nach der Rückkehr im Rahmen einer Reflexionseinheit vorgestellt und ausgewertet. Es empfiehlt sich, die Ergebnisse nicht Kleingruppe für Kleingruppe präsentieren zu lassen, sondern Aufgabe für Aufgabe. Dies hat den Vorteil, dass die Ergebnisse der Kleingruppen sofort verglichen werden können und dass nicht eine Kleingruppe bereits sehr früh mit dem Vorstellen ihrer Ergebnisse „fertig“ ist.
3 Hinweise Straßburg ist eine französische Großstadt und hat auch die Probleme einer französischen Großstadt: soziale Unterschiede zwischen Bewohner/-innen verschiedener Stadtviertel, hoher Anteil an Familien mit Migrationshintergrund (vor allem Familien aus Nordafrika, aus dem Maghreb), immer wieder aufkommende Randale Jugendlicher und junger Erwachsener in manchen Vororten Straßburgs. „Den – einheitlichen – Straßburger“ gibt es also nicht. Wenn diese Erkenntnis nicht aus den Ergebnissen der Teilnehmenden deutlich wird, sollte dies von der Seminarleitung eingebracht werden. Dieses Merkmal Straßburgs kann dann auch gut als Ausgangspunkt dafür dienen, die Problematik von Migration und Integration aufzugreifen. Insgesamt sind die drei Teile der Methode so konzipiert, dass sie durchaus auch für sich allein durchgeführt werden können oder dass sie – je nach Lehrzweck – auch gekürzt werden können.
4 Tipps, Links und Literatur Es ist von Vorteil, wenn die Seminarleitung für Rückfragen in Bezug auf die Geschichte Straßburgs und die Identität der Elsässer gewappnet ist. Folgende Informationen, die größtenteils kurz, gut und übersichtlich sind, können zur Lektüre empfohlen werden: y Zu den Straßburger Eiden: www.stefanjacob.de/Geschichte/Unterseiten/Quellen. php?Multi=61 (Stefan Jacob ist ein deutscher Historiker). © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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y Zur elsässischen Identität (aus Sicht eines Elsässers): www.elsass-lothringen.de
(dort auch: Karte der historischen Sprachgrenze im Elsass). y Zur Geschichte Straßburgs:
Frank-Rutger Hausmann: Tollkühne Jagd auf dem Münsterturm. Aus der Hakenkreuzbinde wurde die Trikolore: Die Straßburger Kathedrale im Krieg der Symbole. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 14, 18.01.2005, S. 42 (zur Geschichte Straßburgs vor, während und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg). François-Georges Dreyfus: Straßburg und der Rhein zwischen Frankreich und Deutschland. In: Horst Möller und Jacques Morizet (hrsg. im Auftrag des Deutsch-französischen Kulturrats): Franzosen und Deutsche. Orte der gemeinsamen Geschichte. München 1996. Kerstin Witte-Petit: Im Blickpunkt: 2000 Jahre Straßburg. 2000 Jahre lang ein Spielball der europäischen Mächte. In: Die Rheinpfalz (Tageszeitung aus Ludwigshafen am Rhein) Nr. 106, 06.05.1988. y Wer sich die Mühe machen will, die Identität des Elsass noch tiefer zu ergründen, dem sei folgender historischer Roman empfohlen, der sozusagen als Familiensaga das Schicksal einer elsässischen Familie nachzeichnet: Henri de Turenne/François Ducher: Die Elsässer. Bern/München/Wien 1997. (Die Originalausgabe erschien unter dem Titel „Les Alsaciens ou les deux Mathilde“ 1996 in Paris.) y In der Praxis bewährte Materialien zur Vermittlung von Geschichte, Zielen, Aufgaben und Funktionsweisen europäischer Institutionen der EU und des Europarats sowie zur Schaffung eines europäischen Bewusstseins sind auch in der Didaktischen Dokumentation „didado“ der Arbeitsgemeinschaft katholischsozialer Bildungswerke in der Bundesrepublik Deutschland (AKSB), Bonn, enthalten (www.aksb.de).
Arbeitsblätter Die Straßburger Eide 842 Eid N° 1 „Pro Deo amur et pro christian poblo et nostro commun salvament, d’ist di en avant, in quant Deus savir et podir me dunat, si salvarai eo cist meon fradre Karlo, et in aiudha et in cadhuna cosa, si cum om per dreit son fradra salvar dist, in o quid il mi altresi fazet, et ab Ludher nul plaid numquam prindrai, qui meon vol cist meon fradre Karle in damno sit.“ [Übersetzung ins heutige Französische: „Pour l’amour de Dieu et pour le salut commun du peuple chrétien et le notre, à partir de ce jour, pour autant que Dieu m’en donne le savoir et le pouvoir, je soutiendrai mon frère Charles, ici présent de mon aide matérielle et en toute chose, comme on droit justement soutenir son © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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frère, à condition qu’il m’en fasse autant et je ne prendrai aucun arrangement avec Lothaire qui, à mon escient, soit au détriment de mon frère Charles.“] [Übersetzung ins Lateinische: „Pro die amore secundum die voluntatem et commune salvamentum ad nostram communem salutem et pacem atque honorem de iste die in antea in quantum dominus posse dederit quantum deus mihi scire et posse donaverit et consilio et auxilio sic adiuvet isti frati meo Karolo et consilio et auxilio fidelis adiutor ero sicut homo per drictum debet esse domino suo […]“] Eid N°2 „In godes minna ind in thes christanes folches ind unser bedhero gehaltnissi, fon thesemo dage frammordes so fram so mir got geuuizci indi mahd furgibit, so haldih thesan minan bruodher, soso man mit rehtu sinan bruodher scal, in thiu thaz er mig so sama duo, indi mit Ludheren in nohheiniu thing ne gegango, the minan uuillon imo ce scadhen uuerdhen.“ [Übersetzung ins heutige Deutsche: „In Gottes Liebe und in des christlichen Volkes und unser beider Erlösung, von diesem Tage an fernerhin, sofern mir Gott Weisheit und Macht [dazu] gibt, so halte ich diesen meinen Bruder, so wie man mit Recht seinen Bruder soll, in dem dass [= damit] er mir dasselbe tue, und mit Lothar in keinen Dingen nicht gehe, die meinen Willen ihm zu Schaden werden [= und ich werde niemals ein Abkommen mit Lothar treffen, das willentlich meinem Bruder [Ludwig] zum Schaden sei.]“] Lösungsblatt: Über 2000 Jahre Sprache in Straßburg Welche Sprache/n sprach man zum jeweils angegebenen Jahr als „Amtssprache“ (Antwort a) und als „Volkssprache“ (Antwort b) in Straßburg? Zu welchem Reich/ zu welchem Staat gehörte Straßburg im jeweiligen Jahr (Antwort c)? Im Jahr 100 v. Chr.: a) Keltischer Dialekt b) Keltischer Dialekt c) Von keltischen Fürsten/Königen kontrolliertes Gebiet Im Jahr 150 n. Chr.: a) Latein b) Keltischer Dialekt (Einheimische), Latein (Soldaten) c) Römisches Reich Im Jahr 800 n. Chr.: a) Latein, Germanischer Dialekt (Rheinfränkisch) b) Germanische Dialekte c) Frankenreich Karls des Großen Im Jahr 1200 n. Chr.: a) Mittelalterliches Deutsch, z.T. Latein b) Germanische Dialekte (bilden das Elsässische heraus) c) Stauferreich Im Jahr 1600 n. Chr.: a) Deutsch b) Germanischer Dialekt (Elsässisch) c) Freie Reichsstadt im „Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation“ Im Jahr 1700 n. Chr.: a) Deutsch, Französisch b) Elsässisch © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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c) Frankreich Im Jahr 1800 n. Chr.: a) Französisch, Deutsch (wird verdrängt) b) Elsässisch, zunehmend: Französisch c) Frankreich Im Jahr 1900 n. Chr.: a) Deutsch b) Elsässisch, z.T. Französisch c) Deutsches Kaiserreich Im Jahr 1920 n. Chr.: a) Französisch b) Französisch, Elsässisch (im Privatbereich) c) Frankreich Im Jahr 1942 n. Chr.: a) Deutsch (Amtssprache der Besatzungsmacht) b) Elsässisch (im familiären Bereich, da verboten), Französisch (im familiären Bereich, da verboten), Deutsch c) Frankreich, vom „Deutschen Reich“ besetzt Im Jahr 1950 n. Chr.: a) Französisch b) Französisch, Elsässisch (im familiären Bereich) c) Frankreich Heute: a) Französisch b) Französisch, Elsässisch (z.T. sogar auf zweisprachigen Straßennamen-Schildern in Straßburger Innenstadt; Anzahl der Sprecher/innen aber abnehmend) c) Frankreich Aufgabenblatt „Sprache heute in Straßburg“ Die Fragen/Aufgaben müssen nicht in der unten stehenden Reihenfolge bearbeitet werden, sondern so, wie es die Gruppe für richtig hält: 1 Hören Sie sich um: wo wird Französisch, wo Elsässisch und wo Deutsch geredet und geschrieben? 2 Von wem werden die genannten drei Sprachen benutzt, in welcher Situation und mit welcher Absicht? 3 Versuchen Sie einzuschätzen, wie viel Prozent der Bevölkerung eher Französisch, wie viel eher Elsässisch oder eher Deutsch sprechen? 4 Wie viele Amtssprachen bzw. Arbeitssprachen hat der in Straßburg ansässige Europarat? 5 Wie viele Amtssprachen bzw. Arbeitssprachen hat das zur Europäischen Union gehörende und in Straßburg ansässige Europäische Parlament? 6 Wie viele und welche Sprachen sollten zukünftig in Europa als Amts-, Arbeitsund Volkssprachen gesprochen werden? Wenn Sie noch Zeit haben, dann befragen Sie auch Einheimische aus Straßburg, die Ihnen sympathisch sind – auch über die Frage, welchen Nationalfeiertag sie feiern, wie sie auf Hochdeutsch in bestimmten Situationen reagieren, wie sie überhaupt ihre Identität beschreiben würden etc. etc. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Lösungsblatt „Sprache heute in Straßburg“ y Lösung zu Frage 3 Nur noch ca. 5 % der Einwohner Straßburgs sprechen Elsässisch. Im gesamten Elsass sprachen 1999 nur noch ca. 1/3 der Elsässer Elsässisch und nur 18 % gaben Elsässisch an ihre Kinder weiter (Ergebnisse der Volkszählung 1999, zit. in „Die Rheinpfalz“ Nr. 91, S. 16_GREN, 19.04.2002). y Lösung zu Frage 4 Stand Januar 2008: Zwei Amtssprachen (Englisch und Französisch), fünf Arbeitssprachen (Englisch, Französisch, Deutsch, Spanisch, Russisch). y Lösung zu Frage 5 Stand Januar 2008: 23 Amtssprachen (Deutsch, Französisch, Englisch, Dänisch, Schwedisch, Finnisch, Estnisch, Lettisch, Litauisch, Polnisch, Tschechisch, Slowakisch, Niederländisch, Slowenisch, Ungarisch, Italienisch, Griechisch, Maltesisch, Spanisch, Portugiesisch, Irisch (Gälisch), Rumänisch, Bulgarisch), drei Arbeitssprachen (Englisch, Französisch, Deutsch) für die interne EUVerwaltung.
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Autorinnen und Autoren Zeno Ackermann Jg. 1968; Dr. phil.; Historiker und Literaturwissenschaftler; Mitglied von Erinnerungsarbeit DIDANAT an der Akademie Caritas-Pirckheimer-Haus Nürnberg; Arbeit in der historisch-politischen Erwachsenen- und Jugendbildung, derzeit Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Englische Philologie der Freien Universität Berlin; Mitarbeit im DFG-Forschungsprojekt „Shylock und der (neue) deutsche Geist (zur Rezeption von Shakespeares „Der Kaufmann von Venedig“ im Kontext deutscher Erinnerungsdiskurse nach 1945). Thomas Barth Jg. 1966; Dr. phil.; Studium der Geschichte, Germanistik und Politikwissenschaft in Regensburg und Leicester (GB); wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Michaela Behling-Morhart Jg. 1975; M.A.; Studium der Literaturwissenschaften, Geschichte und Linguistik; während des Studiums freie Mitarbeit bei der Dachauer SZ, Ausbildung als Gedenkstättenbegleiterin beim Dachauer Forum, 1999 bis 2005 pädagogische Mitarbeiterin des Jugendgästehauses, freie Autorin. Bettina Blessing Jg. 1959; Dr. phil.; Studium der Geschichte und Volkskunde; Stipendiatin der DFG und am Institut für Europäische Geschichte in Mainz, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Geschlechterdifferenzen“ am Klinikum der Universität Regensburg und seit 2007 am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung. Jack Diewald Jg. 1965; von 1996 bis 2000 Tätigkeit an einer Freien Waldorfschule, unterrichtet seit 2000 die Fächer Englisch und Sozialkunde an der Staatlichen Fach- und Berufsoberschule Deggendorf. Andrea Göppner Jg. 1973; Studium der Geschichte, Germanistik, Romanistik in Erlangen, Rom und Regensburg; arbeitet als Lektorin in einem Münchner Sachbuch-Verlag. Siegfried Grillmeyer Jg. 1969; Dr. phil.; Studium Deutsch, Geschichte, Sozialkunde und Religion für das © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Lehramt an Gymnasien; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für neuere und neueste Geschichte in Regensburg, Stipendiat am Institut für Europäische Geschichte in Mainz; von 2000 bis 2006 Leiter der CPH Jugendakademie in Nürnberg; seit 2008 Leiter des Caritas-Pirckheimer-Hauses in Nürnberg und Akademiedirektor. Jens Hoppe Jg. 1970; Dr. phil.; Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Volkskunde/ Europäische Ethnologie in Regensburg und Münster; 1997/98 Mitarbeiter am Forschungsprojekt Jüdische Geschichte im Fürstbistum Minden in der Frühen Neuzeit; seit 2001 Historiker bei der Conference on Jewish Material Claims Against Germany Inc. in Frankfurt/M., gegenwärtig Forschung zum Kulturgutraub des Einsatzstabes Reichsleiter Rosenberg. Susanne Kiewitz Jg. 1970; Dr. phil; Studium der Germanistik, Geschichte, Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft an der Freien Universität und der TU Berlin sowie an der Universität Regensburg; Arbeit in der historisch-politischen Jugendbildung (u.a. CPH Nürnberg, DIDANAT), 2005 bis 2007 Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit am Museum für Kommunikation Berlin; seit 2007 Referentin für Öffentlichkeitsarbeit in Berlin bei der Max-Planck-Gesellschaft. Daniel Menning Jg. 1982; Studium der Geschichte und Anglistik an der Universität Duisburg-Essen; seit 2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Neuere Geschichte (19. Jh.) an der Universität Trier. Siegfried Münchenbach Jg. 1949; Studium der Geschichte, Germanistik und politischen Wissenschaften an der Universität Erlangen; Ausbildung zum Gymnasiallehrer; derzeit Dozent für Geschichte und Sozialkunde an der Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung in Dillingen an der Donau, der zentralen staatlichen Einrichtung für Lehrerfortbildung in Bayern. Mechthild Notthoff Jg. 1980; Studium der Geschichte und Musikwissenschaft an den Universitäten Duisburg-Essen und Dortmund; seit 2007 Referendarin an der Gesamtschule VelbertMitte. Stefanie Paufler Jg. 1978; Studium der Neueren Geschichte, Germanistik und Sozialwissenschaften © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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an der Universität Duisburg-Essen; seit 2007 wissenschaftliche Volontärin am Kulturund Stadthistorischen Museum Duisburg. Rainer Ratmann Jg. 1954; M.A., Studium der Politikwissenschaft, Publizistik und Soziologie; 1980 bis 1993 Jugendbildungsreferent für politische Bildung der Überregionalen Frankfurter Sozialschule, Abt. Limburg; 1993 bis 2006 Referent für politische Erwachsenenbildung der Frankfurter Sozialschule, politische Bildung im Bistum Limburg, Wiesbaden; seit 2006 Referent im Dezernat Bildung und Kultur des Bischöflichen Ordinariates Limburg und in der St. Hildegard Schulgesellschaft Limburg. Bernhard Schoßig Jg. 1943; Dr. phil., Studium der Soziologie, Volkswirtschaft, Psychologie sowie der Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Zweitstudium der Pädagogik mit der Promotion zum Dr. phil.; von 1971 bis 2004 hauptberuflich in der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung tätig, zuletzt (1997 bis 2004) als erster pädagogischer Leiter des neu errichteten Jugendgästehauses Dachau, seitdem Lehrbeauftragter an der Universität München und der Volkshochschule München sowie Projektleiter des Dachauer Symposiums zur Zeitgeschichte. Michael Seelig Jg. 1979; Studium der Neueren Geschichte, Mittelalterlichen Geschichte und Philosophie an der Universität Duisburg-Essen; seit 2007 Doktorand an der PhilippsUniversität Marburg (Fachbereich 06: Geschichte und Kulturwissenschaft). Florian Setzen Jg. 1971; Studium der Neueren und Neuesten Geschichte, des Öffentlichen Rechts und der Völkerkunde an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau sowie Modern History and European Law am Trinity College Dublin (Abschluss: Magister Artium); anschl. Studium von Europäischer Politik und Verwaltung am Europakolleg Brügge/Belgien (Abschluss: Master of European Studies); von 1998 bis 1999 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Europäische Politik; von 1999 bis 2007 Bildungsreferent für die Bereiche Jugend und Europa an der Katholischen Akademie Rhein-Neckar (Heinrich Pesch Haus), seit 2007 Direktor des Europa Zentrums Baden-Württemberg in Stuttgart. Alexander Weiß Jg. 1972; Dr. disc. Pol.; Studium der Politischen Wissenschaft, Philosophie und Neueren deutschen Literatur in Hamburg, Paris und an der Purdue University, Indiana;
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Promotion in Göttingen, Paris und Dresden; arbeitet zur Zeit als Lehrbeauftragter für politische Theorie an der Technischen Universität Dresden. Matthias Weiß Jg. 1969; Studium der Geschichte, Germanistik, Soziologie in Regensburg, an der Vanderbilt University (USA) und in Bochum; derzeit Promotion in Zeitgeschichte; Referent für NS-Geschichte im CPH (DIDANAT) in Nürnberg. Peter Wirtz Jg. 1957; Studium der Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte; 1985 bis 1996 Jugendbildungsreferent mit dem Schwerpunkt europäische Jugendarbeit beim Jugendwerk für internationale Zusammenarbeit, Aachen; seit 1996 Referent für politische Bildung der Arbeitsgemeinschaft katholisch-sozialer Bildungswerke in der Bundesrepublik Deutschland (AKSB), Bonn. Claus Zernetschky Jg. 1946; Dr.; Studium der Geschichte, Germanistik, Politik; Promotion in Geschichte; Tätigkeit: Gymnasiallehrer für Deutsch, Geschichte und Sozialkunde, Fachbetreuer Deutsch, Geschichtslehrer in der Erwachsenenbildung (Abendgymnasium).
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Bildnachweis Jack Diewald: Bürger und Staat im Konflikt. Ein exemplarischer Fall: Wackersdorf alle Fotos: Uwe Peña, Köln Andrea Göppner und Matthias Weiß: Verdrängungsorte. Die italienische Eisdiele und der unbedachte Beginn der Einwanderung in die Bundesrepublik Foto Eisdiele: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn; Foto Gastarbeiter in Deutschland: ullstein bild Peter Wirtz: Der Dom zu Aachen – Symbol politischer Machtansprüche alle Fotos: Peter Wirtz Zeno Ackermann: Nürnberg. Vom Zentralort deutscher Erinnerung zum zentralen deutschen Erinnerungsort alle Fotos: Congress- und Tourismuszentrale Nürnberg, Verkehrsverein Nürnberg e.V. Michaela Behling-Morhart und Bernhard Schoßig: Lernort Dachau. Zeitgeschichtliche Studienprogramme für Jugendliche alle Fotos: Michaela Behling-Morhart Bettina Blessing: Der Immerwährende Reichstag. Regensburg – Ort der Manifestation des Heiligen Römischen Reiches Reichstagssitzung: Kupferstich von unbekanntem Künstler 1663; Museen der Stadt Regensburg – Historisches Museum, Referenz-Nr. G 1931/5 Das Rathaus zu Regenspurg: Kupferstich von Andreas Geyer 1729; Museen der Stadt Regensburg – Historisches Museum; Referenz-Nr. G 1981/115 Thomas Barth: Brauchen Hauptstädte Schlösser? Die Residenz in München und ihr Beitrag zum bayerischen Selbstverständnis alle Fotos: Matthias Weiß Jens Hoppe: Der jüdische Friedhof. Ein schwieriger Lernort alle Fotos: Peter Wirtz Daniel Menning, Mechthild Notthoff, Stefanie Paufler und Michael Seelig: Ist Adel verschwunden? Luftbild Neuhardenberg: Stiftung Schloss Neuhardenberg/Thomas Reinke; Foto Kirche von Friedersdorf: Désirée Karpe Alexander Weiß: Der Reichstag in Berlin. Zwischen nationalem und parlamentarischem Andenken Foto: Johannes Wirtz
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Claus Zernetschky: Die Walhalla als Lernort. alle Fotos: Siegfried Grillmeyer Susanne Kiewitz: Die symbolische Hauptstadt. West-Berlin als Erinnerungsort der alten Bundesrepublik Foto Brandenburger Tor: Susanne Kiewitz, Fotos Platz der Luftbrücke, Douglas C 54 Flughafen Tempelhof, KaDeWe, Checkpoint Charlie 2008: Henrik Jeep Rainer Ratmann: Deutsche Juden oder jüdische Deutsche? Zur Bedeutung ausgewählter Lernorte für historischpolitische Bewusstseinsprozesse am Beispiel Berlin Fotos Skulptur „Jüdische Opfer des Faschismus“, Stolpersteine: Tobias Nahlik, Foto Neue Synagoge: Henrik Jeep Siegfried Münchenbach: Erinnerungsort zu Krieg und Frieden. Eine Ausstellung zur Schlacht von Höchstädt und Blindheim 1704 Foto von Schloss Höchstädt: Stadt Höchstädt Der Vollkommene Teutsche Soldat: Kupferstich von Hans Friedrich von Fleming, Leipzig 1726; Fotothek der Bayerischen Schlösserverwaltung, Museumsabteilung, München Florian Setzen: Straßburg. Hauptstadt des Elsass und Symbol der europäischen Einigung Genaue Nachbildung der Eidesformel aus der Pariser Handschrift von Nithart in Robert Koenig: Deutsche Litteraturgeschichte. Bielefeld und Leipzig 181886, 18 Orte, auf die sich Beiträge der Ortstermine Band 1 und Band 2 beziehen Kartenskizze: Franziska Kirnich
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Inhalt von „Ortstermine“ Band 1 (Band 1 erschien im Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts. 2006)
Siegfried Grillmeyer Vorwort zur Reihe ............................................................................................5 Siegfried Grillmeyer und Peter Wirtz Vorwort zum Buch ...........................................................................................7 Siegfried Grillmeyer „Ortstermine“. Rahmenbedingungen eines Konzeptes ..........................................9 Peter Wirtz Ikonologie der Architektur und politische Bildung .........................................23 Axel Hof „Tempel der Gewissheit“. Über Wert und Sinn didaktischer Konzepte politischen Lernens an historischen Gedenkstätten ..............................................35 Thomas Brehm Zur Rolle von Museen in der politischen Bildung. Anstöße zum Nachdenken am Beispiel des Germanischen Nationalmuseums und des Nürnberger Stadtmuseums Fembohaus..................................................59 Bernd Buchner „Den schönen Schein brechen“. Überlegungen zum geplanten NS-Dokumentationszentrum Königsplatz in München ......................................73 Markus Köster Mythos der Nation. Das Hermannsdenkmal ....................................................96 Josef Matzerath Dresdner Häuser – Dresdner Parlamente. Parlamentariertypen, Fassaden und Sitzordnungen ..........................................113 Martin Kaiser Das Rheinland als Brückenlandschaft. Historisches Lernen an Orten kulturellen Austauschs ........................................127 Harald Stockert „...ein unausgesetztes Gehen und Kommen.“ Migration als Erinnerungsort in der deutschen Geschichte? Ein Plädoyer am Beispiel der Stadt Mannheim ................................................140 © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Tobias Nahlik Berlin, Hauptstadt der DDR. Chancen und Grenzen der Begegnung mit Spuren des ostdeutschen Staates ........158 Ingmar Reither / Gudrun Dietzfelbinger Das Berliner Olympiastadion als Lernort. Ein eintägiges Seminar am Schauplatz des WM-Endspiels 2006 .......................173 Paul Ciupke Industriekultur im Ruhrgebiet. Aufsuchende Bildungsarbeit zur Geschichte der Region, der Arbeit und zu den Problemen des Strukturwandels.....................................185 Autorin und Autoren....................................................................................195 Bildnachweis ................................................................................................198
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Orte, auf die sich Beiträge der Ortstermine 1 (=1) und 2 (=2) beziehen
Aachen • Peter Wirtz: Der Dom zu Aachen (2) Berlin • Susanne Kiewitz: Die symbolische Hauptstadt. West-Berlin ...(2) • Tobias Nahlik: Berlin, Hauptstadt der DDR (1) • Rainer Ratmann: Deutsche Juden oder jüdische Deutsche? (2) • Ingmar Reither/Gudrun Dietzfelbinger: Das Berliner Olympiastadion ... (1) • Alexander Weiß: Der Reichstag in Berlin (2) Bonn • Andrea Göppner und Matthias Weiß: Verdrängungsorte. (2) Dachau • Michaela Behling-Morhart und Bernhard Schoßig: Lernort Dachau (2) Detmold • Markus Köster: Mythos der Nation. Das Hermannsdenkmal (1) Dresden • Josef Matzerath: Dresdner Häuser – Dresdner Parlamente (1) Essen • Paul Ciupke: Industriekultur im Ruhrgebiet (1) Frankfurt/Main • Siegfried Grillmeyer: „Ortstermine“ (1) Höchstädt • Siegfried Münchenbach: Erinnerungsort zu Krieg und Frieden (2) Koblenz • Martin Kaiser: Das Rheinland als Brückenlandschaft (1) Mannheim • Harald Stockert: „...ein unausgesetztes Gehen und Kommen“ (1) München • Thomas Barth: Brauchen Hauptstädte Schlösser? (2) • Bernd Buchner: „Den schönen Schein brechen“ (1) Neuhardenberg und Friedersdorf • Daniel Menning, Mechthild Notthoff, Stefanie Paufler und Michael Seelig: Ist Adel verschwunden? (2) Nürnberg • Zeno Ackermann: Nürnberg. (2) • Thomas Brehm: Zur Rolle von Museen in der politischen Bildung (1) © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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Regensburg • Bettina Blessing: Der Immerwährende Reichstag (2) • Claus Zernetschky: Die Walhalla als Lernort (2) Rülzheim • Jens Hoppe: Der jüdische Friedhof (2) Straßburg • Florian Setzen: Straßburg. Hauptstadt des Elsass und Symbol der europäischen Einigung (2) Wackersdorf • Jack Diewald: Bürger und Staat im Konflikt (2)
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Nachwort des Herausgebers der Reihe Historisch-politische Bildung in guter Tradition
Seit dem achten Band trägt die vorliegende Reihe den Titel „Veröffentlichungen der Akademie C.-Pirckheimer-Haus“. Diese Namenserweiterung nimmt Rücksicht auf die mittlerweile vollzogene Verschmelzung der bisherigen Jugendakademie mit der Akademie der Erzdiözese Bamberg in Nürnberg. An der programmatischen Ausrichtung der Reihe hat sich allerdings nichts verändert: Die „Veröffentlichungen der Akademie C.-Pirckheimer-Haus“ dokumentieren und begleiten aktuelle Entwicklungen in der außerschulischen bzw. außeruniversitären Jugend- und Erwachsenenbildung. Die Reihe verfolgt zum einen das Ziel, Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen Schulen, Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen auszuloten. Zum anderen gilt es, den Transfer zwischen Theorie und Praxis am Beispiel verschiedener Themenbereiche und Aufgabenfelder aufzuzeigen. Die Gesamtreihe wie auch ihre einzelnen Bände verbinden daher auf sinnvolle Weise theoretische Diskussionen, konkrete Erfahrungsberichte, Seminarkonzepte und praktische Handreichungen miteinander. Ein thematischer Schwerpunkt der Reihe ist die politische Bildung. Die Überschneidungen mit den angrenzenden Feldern der historischen und kulturellen Bildung sowie der Vermittlung von sozialer Kompetenz bzw. von Schlüsselqualifikationen werden berücksichtigt, die Wechselwirkungen für die Thematik fruchtbar gemacht. Ein besonderes Augenmerk gilt zudem den Ansätzen der interkulturellen und religiösen Bildung. In der Ausrichtung der Buchreihe spiegeln sich somit die Arbeitsfelder der namensgebenden Institution wider: Die Akademie C.-Pirckheimer-Haus in Nürnberg veranstaltet ein- bis mehrtägige Seminare im Bereich der gesellschaftspolitischen Bildung, organisiert Studienreisen und multilaterale Begegnungsmaßnahmen, stellt außerdem in einem breit gefächerten Spektrum Angebote in Trimesterprogrammen zusammen und bietet Besinnungstage und Exerzitien an. Im Rahmen ihres Bildungsauftrages arbeitet die Akademie CPH mit zahlreichen anderen Bildungsträgern auf regionaler und bundesweiter Ebene zusammen. Sie ist dabei eingebettet in ein tragfähiges Netzwerk: In der Arbeitsgemeinschaft katholisch-sozialer Bildungswerke in der Bundesrepublik Deutschland (AKSB) finden bundesweit knapp 70 Bildungsinstitutionen zusammen, um gemeinsam Bildungsveranstaltungen zu entwickeln, zu evaluieren und immer wieder auf den Prüfstand der fachwissenschaftlichen Diskussion zu heben. Dieser Austausch zur politischen Bildungsarbeit über regionale Grenzen hinweg hat sich stets als © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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fruchtbringend auch für die tägliche Arbeit im Caritas-Pirckheimer-Haus Nürnberg erwiesen. Daher ist es eine besondere Freude, dass sich diese gute Tradition der Zusammenarbeit im vorliegenden Band widerspiegelt. Die auf zwei Bände angelegte Publikation „Ortstermine“ entstand im Rahmen von langjährigen Projekten bzw. Schwerpunkten der AKSB, wie bereits im ersten Band näher beschrieben wurde. Im Rahmen der Veröffentlichungsreihe wird durch die Aufnahme dieser Publikation eine Lücke in verschiedener Hinsicht geschlossen: Zum einen hat sich der Themenbereich historisch-politisches Lernen als besonderer Zweig des politischen Lernens nunmehr stärker profiliert und etabliert, was bereits in Band 1 (Lernen für die Zukunft) und Band 4 (Geschichte zwischen den Zeilen) dokumentiert wurde. Zum anderen war die fachwissenschaftliche wie auch didaktischmethodische Erschließung spezifischer Orte, die sich im Rahmen von Seminaren in der außerschulischen und außeruniversitären Bildungsarbeit heranziehen lassen, um politische Strukturen und Prozesse erklären zu können, weitgehend ein Desiderat. Auch wenn es sich um eine gute alte Tradition im Rahmen der AKSB handelt, an verschiedenen Orten dieser Republik Seminare unter Heranziehung exemplarischer historischer Orte zum politischen Lernen zu konzipieren, vorzutragen und gemeinsam zu evaluieren, hat dies bisher noch keinen publizistischen Niederschlag gefunden. So kann man nur hoffen, dass dieser nunmehr zweite Band der „Ortstermine“ von einer breiten Fachöffentlichkeit, nicht nur von den politischen Jugend- und Erwachsenenbildnern zur Kenntnis genommen wird. Kritik und Anregungen zu diesem Band sowie zur Gesamtreihe sind uns stets willkommen und können direkt an die Akademie CPH gerichtet werden.
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