ORDO: Soziale Marktwirtschaft: Anspruch und Wirklichkeit seit fünfzig Jahren 9783110505344, 9783828200388


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German Pages 809 [824] Year 1998

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
I. Zur Einführung
Vorbemerkung der ORDO-Schriftleitung zum Wiederabdruck des folgenden Aufsatzes von Walter Euchen
Staatliche Strukturwandlungen und die Krisis des Kapitalismus
Kernfragen der Wirtschaftsordnung
Von der Sozialen Marktwirtschaft zum demokratischen Sozialismus - ein Nachwort zu: Wilhelm Röpke, Kernfragen der Wirtschaftsordnung
II. Wandel der Ordnungspolitik
Ordnungspolitische Kursänderungen
Das Bundesministerium für Wirtschaft und die deutsche Ordnungspolitik der Nachkriegszeit
Finanzpolitik im Konflikt zwischen Effizienz und Distribution
Die Deformation der Marktwirtschaft durch die Wohlfahrtspolitik
Der Stellenwert der Ordnungspolitik bei der deutschen Wiedervereinigung
III. Primat der Geldpolitik für die Wettbewerbsordnung
Geldwertstabilität als ordnungspolitisches Problem
Geldpolitik in Deutschland: Anspruch und Wirklichkeit
IV. Prinzipien und Widersprüche der deutschen Wettbewerbsordnung
Die Wirtschaftspolitik im Spannungsverhältnis von Regulierung und Deregulierung
Ordnungspolitische Kurswechsel in der Wettbewerbspolitik
Die Unabhängigkeit des Bundeskartellamtes
Ansätze für eine 'schlanke' Regulierungsbehörde für Post und Telekommunikation in Deutschland
Die Energiepolitik im ordnungspolitischen Zwiespalt
Verkehrsmarktordnung - die unvollendete Reform
Das Elend der Wohnungspolitik: Ursachen und Auswege
Bildungs- und Forschungspolitik im weltweiten Standortwettbewerb
Agrarpolitik im Dauerkonflikt mit Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft
Die Entwicklung der Umweltpolitik aus ordnungspolitischer Sicht
V. Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in der Wettbewerbsordnung
Arbeitsmarktinstitutionen und Beschäftigung in Deutschland
Aktive Arbeitsmarktpolitik - wirksames Instrument der Beschäftigungspolitik oder politische Beruhigungspille?
Die Praxis des Arbeitsrechts - eine Achillesferse der Sozialen Marktwirtschaft
Die Entwicklung der Sozialpolitik aus ordnungspolitischer Sicht
Sozialordnung und Rechtsprechung
Alterssicherung in Deutschland: Primat des Interventionismus?
Über die Bedeutung von Familie und Familienpolitik in einer Sozialen Marktwirtschaft
VI. Deutsche Ordnungspolitik im internationalen Zusammenhang
Deutsche Wirtschaftsordnung und internationales Handelssystem
Internationales Währungssystem und deutsche Wirtschaftspolitik
Geld- und Währungspolitik in der Europäischen Währungsunion
Theoretische Defizite und normative Überschüsse: Zur Analyse der Budgetkriterien des Vertrages von Maastricht
Die deutsche Politik gegenüber Entwicklungsländern: Einige ordnungspolitische Anmerkungen
VII. Verbände und Wettbewerbsordnung
Wirtschaftsverbände und Soziale Marktwirtschaft
Gewerkschaften und Tarifautonomie in ordnungspolitischer und evolutorischer Sicht
VIII. Gesellschaftliche Wertorientierungen und Wettbewerbsordnung
Die normativen Grundlagen von Ordnungspolitik
Die Kirchen und die Wertgrundlagen der Sozialen Marktwirtschaft
Ordnungspolitik und katholische Kirche
Die Enzyklika „Centesimus annus“ und die Soziale Marktwirtschaft
Sachregister
Personenregister
Anschriften der Autoren
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ORDO: Soziale Marktwirtschaft: Anspruch und Wirklichkeit seit fünfzig Jahren
 9783110505344, 9783828200388

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ORDO Band 48

ORDO Jahrbuch

für die Ordnung

Begründet von Walter Eucken und

von Wirtschaft und

Gesellschaft

Herausgegeben von Hans Otto Lenel Helmut Gröner Walter Hamm

Franz Böhm

Ernst Heuß Erich Hoppmann Ernst-Joachim Mestmäcker Wernhard Möschel Josef Molsberger Peter Oberender Alfred Schüller Viktor Vanberg Christian Watrin Hans Willgerodt

Band 48

Soziale Marktwirtschaft: Anspruch und Wirklichkeit seit fünfzig Jahren

Schriftleitung Professor Dr. Hans Otto Lenel Universität Mainz, Haus Recht und Wirtschaft, D-55112 Mainz Professor Dr. Dr.h.c. Josef Molsberger Wirtschaftswissenschaftliches Seminar der Universität Tübingen, Nauklerstr. 47, D-72074 Tübingen Professor Dr. Helmut Gröner Universität Bayreuth, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, Universitätsstr. 20, D-95447 Bayreuth Professor Dr. Alfred Schüller Forschungsstelle zum Vergleich wirtschaftlicher Lenkungssysteme der Philipps-Universität Marburg, Barfußertor 2, D-35032 Marburg

© Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft m.b.H. Stuttgart • 1997 Gerokstraße 51, D-70184 Stuttgart Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Rechte vorbehalten Satz: Forschungsstelle zum Vergleich wirtschaftlicher Lenkungssysteme, Marburg Druck und Einband: Thomas Müntzer, Bad Langensalza ISBN 3-8282-0038-9 ISSN 0048-2129

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1997) Bd. 48

Vorwort Im Juni 1948 hat Ludwig Erhard der Sozialen Marktwirtschaft den Weg bereitet. Damit wurde in Deutschland die institutionelle Voraussetzung für einen beispiellosen wirtschaftlichen Wiederaufbau, für Wachstum und Wohlstand in einer weltoffenen menschenwürdigen Ordnung geschaffen. Der vor fünfzig Jahren begonnene Weg einer freiheitlichen und sozialen Politik in Deutschland war von Walter Euckens Konzeption der „Wirtschaftsverfassung des Wettbewerbs" inspiriert. Erhard hat sich immer wieder ausdrücklich auf dieses ordoliberale Leitbild berufen und den besonderen sozialen Gehalt einer Ordnungspolitik betont, die im Dienste einer international wettbewerbsfähigen und beschäftigungsfreundlichen Produktionswirtschaft bewußt auch darauf gerichtet ist, die Entstehung sozialer Notlagen zu verhindern. Euckens konstituierende und regulierende Prinzipien der Wettbewerbsordnung haben eine häufig verkannte sozialpolitische Funktion. Der vor fünfzig Jahren eingeschlagene Weg war politisch heftig umstritten und verlief keineswegs problemlos. Schon damals schrieb Walter Eucken im ersten Band dieses Jahrbuchs: Die Wirtschaftspolitik wird den ordnungspolitischen Problemen nicht gerecht. „Sie ist heute teils punktuell-fragmentarisch, teils ist sie ideologisch bestimmt. Teils gibt es einzelne, unzusammenhängende wirtschafts- und rechtspolitische Maßnahmen, teils herrscht Streit um sentimentbeladene Worte, wie Kapitalismus und Sozialismus... Die Ideologien von Machtgruppen und die Doktrinen von Schwärmern beherrschen das Feld. Dazu laufen die Fronten falsch. Zum Beispiel streben Männer, die es mit der Freiheit der Person sehr ernst nehmen, bisweilen Wirtschaftsordnungen an, welche die Freiheit bedrohen. Die Interdependenz der Ordnungen wird nur von Wenigen erkannt." Die politischen Gegner Ludwig Erhards haben sich dem Bestreben, die Soziale Marktwirtschaft umfassend zu einer „Wirtschaftsverfassung des Wettbewerbs" auszubauen, mit wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen machtvoll entgegengestellt. Die Wirklichkeit der Sozialen Marktwirtschaft hat sich seit den sechziger Jahren zunächst allmählich, dann immer weitergehend vom ursprünglichen Anspruch entfernt. Die deutsche Wirtschaftsordnung von heute ist bei einer unerträglichen Arbeitslosigkeit gekennzeichnet von einer tiefen moralischen und ordnungspolitischen Krise des Fiskal- und Sozialstaates. Diese stellt für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft eine Herausforderung dar. Ihr gerecht zu werden, erfordert einen geschärften Blick für folgende Fragen: In welchen Bereichen und in welcher Hinsicht sind in Deutschland in den letzten Jahrzehnten die Weichen falsch gestellt worden? Was muß ordnungspolitisch geschehen, damit die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Sozialen Marktwirtschaft überwunden werden kann? Antworten auf diese Fragen versucht dieser Band des Jahrbuchs ORDO zu geben, der unter dem Titel „Soziale Marktwirtschaft - Anspruch und Wirklichkeit seit fünfzig Jahren" steht. Die Gliederung folgt im Prinzip Walter Euckens Konzept einer Wettbewerbs-

VI • Vorwort Ordnung und seiner Frage nach den ordnenden Potenzen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, die für diese Ordnung und deren Bewährung im internationalen Wettbewerb verantwortlich sind. Eingeleitet wird der Band im I. Kapitel mit zwei Beiträgen aus den Jahren 1932 und 1953. Die Schriftleitung knüpft damit an historische Ausgangspositionen der Sozialen Marktwirtschaft an. Sie lassen keinen Zweifel zu, wie dringlich die Aufgabe der ordnungspolitischen Neuorientierung der Sozialen Marktwirtschaft heute ist. Der erste Aufsatz stammt von Walter Eucken. Darin wird deutlich, was geschehen kann, wenn die Wirtschaftspolitik dem Einfluß der übergeordneten Idee der Wirtschaftsverfassung des Wettbewerbs entzogen und antiliberalen Kräften überlassen wird. Den zweiten Aufsatz verdanken wir Wilhelm Röpke. Die Schriftleiter sind glücklich, diese Studie - in der Bearbeitung und mit einem kommentierenden Nachwort von Hans Willgerodt - hiermit erstmals der Öffentlichkeit zugänglich machen zu können. Der Aufsatz ist ebenfalls von höchster Aktualität: Erstens wird darin eindrucksvoll gezeigt, wie schwierig es in der Nachkriegszeit war, der liberalen Idee der Sozialen Marktwirtschaft zum Durchbruch zu verhelfen. Zweitens wird deutlich, daß die bedrückenden Probleme und die umstrittenen Grundsatzfragen der Wirtschaftsordnung heute im Kern dieselben sind, über die man sich im politischen Prozeß schon Anfang der fünfziger Jahre nicht einigen konnte. In den fünf Beiträgen des II. Kapitels wird gezeigt, wie sich, vor allem unter dem Einfluß eines veränderten Verständnisses des 'Sozialen' und der Sozialpolitik, der Charakter der Wettbewerbsordnung als Kernstück einer funktionsfähigen Sozialen Marktwirtschaft gewandelt hat. Im Mittelpunkt der beiden Aufsätze des III. Kapitels steht die Frage, inwieweit es gelungen ist, dem Primat der Währungspolitik für die Wettbewerbsordnung Geltung zu verschaffen. Die Stärken, aber auch die Schwächen der deutschen Geldpolitik werden mit ihren Konsequenzen, auch für die Geldpolitik der zukünftigen europäischen Zentralbank, aufgezeigt. Das IV. Kapitel über Prinzipien und Widersprüche der Wettbewerbsordnung ist der umfangreichste Teil dieses Bandes. Die zehn Beiträge verdeutlichen an vielen Beispielen die volkswirtschaftlichen Konsequenzen eines fortgeschrittenen wirtschaftspolitischen Punktualismus. Die so entstandenen Formen verbreiteter Wettbewerbsverzerrungen, Ressourcenverschwendungen und Strukturkonservierungen stehen im Widerspruch zu der Konzeption der Wettbewerbsordnung. Die Überwindung des wirtschaftspolitischen Punktualismus - so wird eingehend gezeigt - bildet die Voraussetzung für mehr Wachstum und Beschäftigung. Die sieben Beiträge des V. Kapitels belegen eindrucksvoll, daß das Versagen der ordnenden Potenzen und die dadurch entstandenen Widersprüche in der Ordnungspolitik zu einem beschäftigungsinkonformen Verhalten der Arbeitsmarktverbände wie der staatlichen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik geführt haben. Besonders das praktizierte Arbeits- und Sozialrecht, aber auch die dem Prinzip der Subsidiarität widersprechende interventionistische Politik der sozialen Sicherung erweisen sich als Achillesferse der Sozialen Marktwirtschaft. Aus der Analyse der Ursachen dieser Entwicklung gewinnen die Autoren zugleich die Ansatzpunkte für eine Wiederbelebung der Antriebskräfte einer wirtschaftlich und sozial leistungsfähigen Ordnung.

Vorwort • VII Die deutsche Ordnungspolitik im internationalen Zusammenhang steht im Mittelpunkt des VI. Kapitels. In fünf Beiträgen werden die handels-, währungs- und integrationspolitischen Rahmenbedingungen und deren Wirkungen auf die deutsche Wirtschaftspolitik untersucht. Am wechselvollen Einfluß der Währungspolitik auf die deutsche Geldpolitik wird deutlich, daß der Versuch, durch ein umfassendes Fixkurssystem bestmögliche Integrationswirkungen zu erzielen, mit erheblicher wirtschaftlicher Desintegration verbunden sein kann. Über Erfolg oder Mißerfolg einer Europäischen Währungsunion wird letztlich nicht nur das institutionelle und funktionelle Instrumentarium, sondern auch die politische Bereitschaft zum stabilitätsgerechten Einsatz dieser Möglichkeiten entscheiden. Die konsequente Ausrichtung der gesamten Wirtschaftspolitik am Leitbild der Wirtschaftsverfassung des Wettbewerbs ist die Voraussetzung für eine marktwirtschaftliche und damit effektive Handels- und Entwicklungspolitik. Sie wird unterstützt durch ein nach liberalen Prinzipien gestaltetes internationales Handelssystem. Die beiden Beiträge des VII. Kapitels beziehen sich auf die Verbände als ordnende Potenz der Wettbewerbsordnung. Hier wird deutlich, daß die deutschen Wirtschaftsverbände - im Schulterschluß mit Politik und Bürokratie - erheblich zur Deformation der deutschen Wirtschaftsordnung beigetragen haben. Es werden Möglichkeiten aufgezeigt, wie die vorhandenen positiven Effekte verbandlicher Aktivität zur Förderung der volkswirtschaftlichen Entwicklungspotentiale besser genutzt und ihre negativen systemdeformierenden Wirkungen begrenzt werden können. In den vier Beiträgen des abschließenden VIII. Kapitels wird die eingangs behandelte Frage der normativen Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft noch einmal aufgegriffen. Die Konzeption der Wirtschaftsverfassung des Wettbewerbs erweist sich auch im Sinne des methodologischen Postulats der Werturteilsfreiheit als tragfähig. Sie kann somit als konstitutionelle Grundlage für eine konsensfahige Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung dienen. Dieser gesellschaftliche Konsens könnte auch die Kirchen einbeziehen. Viele ihrer Vertreter geben jedoch immer wieder Anlaß zu zweifeln, ob sie die sozialen Dimensionen einer Politik der Wettbewerbsordnung hinreichend erkennen. Obwohl etwa das Gemeinsame Wort der beiden großen Kirchen solche Zweifel verstärkt hat, besteht Hoffnung. Denn im „Denken in Ordnungen" haben Wissenschaft und Kirchen unbestreitbar eine tragfähige sozialethische Basis, um gemeinsam als ordnende Potenzen zu wirken. Die Schriftleiter danken Herrn Professor Dr. Hans Willgerodt dafür, daß er den Aufsatz von Wilhelm Röpke aus dessen Nachlaß zugänglich gemacht hat. Sie sind ihm darüber hinaus für wertvolle Ratschläge und für seine Mitwirkung am I. Kapitel dankbar verbunden. Frau Dr. Hannelore Hamel und Herrn Dr. Ralf L. Weber danken wir für die gelungene redaktionelle Mitarbeit, die Herstellung der Druckvorlage und die Anfertigung des Sach- und Personenregisters. Die Schriftleitung

ORDO

Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1997) Bd. 48

Soziale Marktwirtschaft: Anspruch und Wirklichkeit seit fünfzig Jahren

Inhalt

I. Zur Einführung Walter Eucken Staatliche Strukturwandlungen und die Krisis des Kapitalismus

5

Wilhelm Röpke Kernfragen der Wirtschaftsordnung

27

Hans Willgerodt Von der Sozialen Marktwirtschaft zum demokratischen Sozialismus - ein Nachwort zu: Wilhelm Röpke, Kernfragen der Wirtschaftsordnung

65

II. Wandel der Ordnungspolitik Hans Otto Lenel Ordnungspolitische Kursänderungen

85

Otto Schlecht Das Bundesministerium für Wirtschaft und die deutsche Ordnungspolitik der Nachkriegszeit

99

Rolf Peffekoven Finanzpolitik im Konflikt zwischen Effizienz und Distribution

119

Ernst Heuß Die Deformation der Marktwirtschaft durch die Wohlfahrtspolitik

137

Gernot Gutmann Der Stellenwert der Ordnungspolitik bei der deutschen Wiedervereinigung

147

X • Inhalt

III. Primat der Geldpolitik für die Wettbewerbsordnung Otmar Issing Geldwertstabilität als ordnungspolitisches Problem

167

H. Jörg Thieme Geldpolitik in Deutschland: Anspruch und Wirklichkeit

179

IV. Prinzipien und Widersprüche der deutschen Wettbewerbsordnung Juergen B. Dönges Die Wirtschaftspolitik im Spannungsverhältnis von Regulierung und Deregulierung

201

Ulrich Fehl und Carsten Schreiter Ordnungspolitische Kurswechsel in der Wettbewerbspolitik

219

Wernhard Möschel Die Unabhängigkeit des Bundeskartellamtes

241

Günter Knieps Ansätze für eine 'schlanke' Regulierungsbehörde für Post und Telekommunikation in Deutschland

253

Helmut Gröner Die Energiepolitik im ordnungspolitischen Zwiespalt

269

Rainer Willeke Verkehrsmarktordnung - die unvollendete Reform

285

Walter Hamm Das Elend der Wohnungspolitik: Ursachen und Auswege

309

Johann Eekhoff, Dominik Enste und Axel Wehmeier Bildungs- und Forschungspolitik im weltweiten Standortwettbewerb

327

Ulrich Koester Agrarpolitik im Dauerkonflikt mit Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft

341

Andreas Knorr Die Entwicklung der Umweltpolitik aus ordnungspolitischer Sicht

363

Inhalt • XI

V. Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in der Wettbewerbsordnung Egon Görgens Arbeitsmarktinstitutionen und Beschäftigung in Deutschland

385

Norbert Berthold und Rainer Fehn Aktive Arbeitsmarktpolitik - wirksames Instrument der Beschäftigungspolitik oder politische Beruhigungspille?

411

Dieter Reuter Die Praxis des Arbeitsrechts - eine Achillesferse der Sozialen Marktwirtschaft

437

Peter Oberender und Stefan Okruch Die Entwicklung der Sozialpolitik aus ordnungspolitischer Sicht

465

Wolfgang Gitter und Gabriele Köhler-Fleischmann Sozialordnung und Rechtsprechung

483

Hans H. Glismann und Ernst-Jürgen Horn Alterssicherung in Deutschland: Primat des Interventionismus?

505

Hans-Günter Krüsselberg Über die Bedeutung von Familie und Familienpolitik in einer Sozialen Marktwirtschaft

529

VI. Deutsche Ordnungspolitik im internationalen Zusammenhang Josef Molsberger und Bernhard Duijm Deutsche Wirtschaftsordnung und internationales Handelssystem

549

Heinz-Dieter Smeets Internationales Währungssystem und deutsche Wirtschaftspolitik

573

Bernhard Herz Geld- und Währungspolitik in der Europäischen Währungsunion

595

Rolf H. Hasse Theoretische Defizite und normative Überschüsse: Zur Analyse der Budgetkriterien des Vertrages von Maastricht

615

Bernhard Duijm Die deutsche Politik gegenüber Entwicklungsländern: Einige ordnungspolitische Anmerkungen

637

XII • Inhalt

VII. Verbände und Wettbewerbsordnung Karl-Hans Hartwig Wirtschaftsverbände und Soziale Marktwirtschaft

655

Werner Diekmann Gewerkschaften und Tarifautonomie in ordnungspolitischer und evolutorischer Sicht

677

VIII. Gesellschaftliche Wertorientierungen und Wettbewerbsordnung Viktor Vanberg Die normativen Grundlagen von Ordnungspolitik

707

Alfred Schüller Die Kirchen und die Wertgrundlagen der Sozialen Marktwirtschaft

727

Manfred Spieker Ordnungspolitik und katholische Kirche

757

Ernst Dürr Die Enzyklika „Centesimus annus" und die Soziale Marktwirtschaft

779

Namensregister

787

Sachregister

797

Anschrift der Autoren

805

Soziale Marktwirtschaft: Anspruch und Wirklichkeit seit fünfzig Jahren

I. Zur Einführung

ORDO

Jahrbuch f ü r die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1997) Bd. 4 8

Vorbemerkung der ORDO-Schriftleitung zum Wiederabdruck des folgenden Aufsatzes von Walter Euchen Der nachstehend wieder abgedruckte Aufsatz von Walter Eucken ist in der Endphase der Weimarer Republik entstanden. Die deutsche Gegenwart unterscheidet sich davon vor allem durch die wirtschaftlichen Reserven, die sie einer langen Wiederaufbauphase in der Zeit Ludwig Erhards und einem davon ausgehenden Wirtschaftswachstum verdankt. Diese Reserven erlauben es einstweilen noch, ähnliche Krisenerscheinungen zu überbrücken, wie sie 1932 in den Vordergrund gerückt waren, nämlich eine auf die Dauer unerträgliche Arbeitslosigkeit und eine Krise des Fiskal- und Sozialstaates. Trotzdem sind die Aussagen Euckens bei allem zeitgebundenen Kolorit für die nicht mehr länger hinwegzudisputierende Ordnungskrise der Bundesrepublik Deutschland im Grundsatz ebenso zutreffend wie für seine Zeit. Der Interventionismus Adenauers ähnelte insofern demjenigen Bismarcks, als er der Staatsraison und der Außenpolitik untergeordnet war; marktwirtschaftliche Grundsätze wurden zwar akzeptiert, wenn dies politisch opportun erschien, standen aber grundsätzlich zur Disposition. Bismarck wie Adenauer blieben aber nicht Herren der Geister, die sie gerufen hatten, und ihre Nachfolger hatten nicht das Format, die staatliche Suprematie allgemeiner Grundsätze über den Partialegoismus wirtschaftlicher Interessenten wiederherzustellen. Der einsame und nicht immer erfolgreiche Widerstand Ludwig Erhards gegen den ungebändigten Interessentenpluralismus ist inzwischen der Praxis gewichen, den Staat zum bloßen Notar von Gruppenverhandlungen zu machen, wobei sich auch die Staats- und Finanzbürokratie mehr als ein Interessent unter anderen versteht. Heute wie einst wird von Ideologen aller Art vom Staat nicht nur der Schutz vor Veränderung und Wettbewerb erwartet; gefordert wird auch der Übergang zu einer totalen (und damit auch totalitären) Regulierung der Wirtschaft und zu einer Trennung von den Zwängen des internationalen Wettbewerbs. Dieser wird als 'Globalisierung' von denselben Intellektuellen zur Gefahr für Sozialstaat, Wohlfahrt und Demokratie stilisiert, die als Weltreisende von ihm unbefangen Gebrauch machen. Ähnlich wie am Ende der Weimarer Republik kommen Kräfte in den Vordergrund, die zu einer Überwindung der marktwirtschaftlichen Ordnung und der in ihr enthaltenen neoliberalen Anteile drängen. Eucken hat hier noch von 'Kapitalismus' gesprochen und damit die marktwirtschaftliche Ordnung gemeint. Später hat er die analytische Unklarheit und den Mißbrauch dieser Bezeichnung bekämpft . Was in dem hier betrachteten historischen Zusammenhang gemeint ist, wird gleichwohl deutlich. Ob der Versailler Vertrag wirklich der Herstellung einer Friedensordnung so stark im Wege stand, daß sie trotz des Locamo*

Walter Eucken, Die Grundlagen der Nationalökonomie, 6. Aufl., Berlin, Göttingen und Heidelberg 1950, S. 60 ff.

4 • ORDO-Schriftleitung

Vertrages nicht möglich war, mag umstritten sein. Gefördert hat er sie jedenfalls nicht. Eucken hätte später sicher nicht mehr den Weg der totalitären Sowjetunion als Entfaltung des Kapitalismus bezeichnet und auch nicht bestritten, daß es sich dort um eine neuartige Wirtschaftsordnung gehandelt hat. Seine späteren Analysen zur Zentralverwaltungswirtschaft zeigen vielmehr, daß er sich insoweit radikal korrigiert hat. In einem anderen Sinne können seine damaligen Sätze aber doch Aktualität beanspruchen: Die wirtschaftliche Entwicklung, die es trotz allem auch in der Sowjetunion gegeben hat, konnte auf die Dauer nicht mehr im internationalen politischen Wettbewerb bestehen. Der Zusammenbruch des preußischen Merkantilismus in der Schlacht von Jena und Auerstädt und der Zusammenbruch des sowjetischen Sozialismus in der Gegenwart sind sich insoweit ähnlich. Darüber sollten aber die Gefahren nicht vergessen werden, die in vielen westlichen Demokratien von einem vielregierenden, dadurch geschwächten und den Interessengruppen ausgelieferten Interventionsstaat ausgehen. Es ist die Aufgabe zu lösen, die Staatsautorität wiederherzustellen und zugleich ihrem Mißbrauch vorzubeugen.

ORDO • Jahrbuch ftir die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1997) Bd. 48

Walter

Euchen

Staatliche Strukturwandlungen und die Krisis des Kapitalismus*' Inhalt I. Entwicklungskräfte und technische Möglichkeiten II. Die staatlich-gesellschaftliche Organisation 1. Wandlungen der inneren Struktur der Staaten.... 2. Wandlungen der Außenpolitik III. Ergebnis - Weltgeschichtliche Perspektiven Exkurs: Ideologien

5 9 9 15 19 23

Die Frage nach der jetzigen Situation des Kapitalismus, die Fragen, wo der Ursprung seiner Schwierigkeiten liegt, ob er noch weitere Entwicklungsmöglichkeiten hat oder nicht, ob die heutige Wirtschaftsordnung einer neuen „planwirtschaftlichen" Ordnung zutreibt, für die Rußland ein Vorbild abgibt - alles dies sind nicht Probleme rein wirtschaftlicher Art. Deshalb können auch rein wirtschaftsgeschichtliche Analysen, wie sie unter dem Einfluß von Marx immer wieder vorgenommen werden, nicht zu richtigen Gesamtlösungen gelangen, müssen einseitig bleiben und Wesentliches unbeachtet lassen. Notwendig ist es vielmehr, diese Probleme im Rahmen der Universalgeschichte zu sehen. Nahe Beziehungen bestehen vor allem zwischen wirtschaftlichen und staatlichpolitischen Hergängen, Wechselbeziehungen, die für die heutige Situation des Kapitalismus geradezu entscheidend geworden sind. Die Untersuchung der Entwicklungskräfte und der technischen Möglichkeiten, über die der Kapitalismus heute noch verfügt, genügt allein nicht, sondern es ist darüber hinaus die Frage aufzuwerfen, ob die staatlichgesellschaftlichen Grundlagen für seine Existenz noch ebenso vorhanden sind wie früher.

I. Entwicklungskräfte und technische Möglichkeiten A. Träger der wirtschaftlichen Entwicklung im Zeitalter des voll entfalteten Kapitalismus waren bekanntlich die Unternehmer; alle technischen und organisatorischen Neuerungen wurden durch sie in die Welt der Wirtschaft überführt, alle neuen Kombinationen von sachlichen und persönlichen Produktionsmitteln von ihnen durchgesetzt. Deshalb ist mit Recht die Frage aufgeworfen worden, ob heute noch wie früher Unter-

*) Zuerst erschienen in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. XXXVI (1932 II), S. 297-321.

6 • Walter Eucken

nehmer vorhanden sind, die Willen und Fähigkeiten besitzen, Führer der Entwicklung zu sein. Für Deutschland wird die Frage von vielen Beobachtern verneint. Der Unternehmertyp, der die große industrielle Expansion seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts durchgeführt habe, sei - so wird versichert - im Aussterben begriffen. Eine Änderung der Wirtschaftsgesinnung habe sich in neuester Zeit vollzogen, das Vordringen des rationalen Denkens unterdrücke mehr und mehr den Wagemut, den Spekulationsgeist, der notwendig sei, um Neuerungen aufzugreifen und durchzufuhren. Anstatt dessen beherrsche den heutigen Unternehmer das Streben nach Sicherheit und Stetigkeit. Gerade in der Großindustrie und unter dem Schutz von Kartellen vollziehe sich eine Verbeamtung der Unternehmerschaft, die den echt kapitalistischen, vorwärtsdrängenden, wirklich unternehmenden Geist nicht mehr kenne, und somit fehle heute der eigentliche Motor der wirtschaftlichen Entwicklung. Die Schilderung ist richtig - für einen gewissen Ausschnitt der deutschen Volkswirtschaft; sie ist falsch - wenn mit ihr das Unternehmertum überhaupt gekennzeichnet sein soll. Richtig ist sie für alle monopolistischen Industriezweige, überall da also, wo durch Vertrustung, durch Bildung festgefügter Kartelle, durch Patente oder Geheimverfahren die Kraft der Konkurrenz gebrochen oder stark geschwächt worden ist. Wo solche monopolistischen Machtstellungen längere Zeit, etwa jahrzehntelang bestehen, ändert das Unternehmertum allmählich seinen Charakter, verschwindet der frühere Typ des beweglichen Unternehmers, und eine Verbeamtung greift Platz. Im deutschen Steinkohlenbergbau z. B., in der eisenschaffenden Industrie, in der Zement- und chemischen Industrie, im Kalibergbau, also in Industrien, die seit langer Zeit Monopolsicherungen genießen, ist ein solcher Wandel der Wirtschaftsgesinnung, der eine Bürokratisierung der Wirtschaftsführung zur Folge hat, deutlich zu beobachten. Daß sich allerdings auch in dieser Gruppe von Unternehmern Persönlichkeiten finden, die imstande sind, Träger starker ökonomischer Entwicklung zu sein, und in großem Stile technische Neuerungen durchzusetzen, zeigt die neuere Geschichte der chemischen Industrie. Insoweit bedarf das skizzierte Bild der Korrektur, im übrigen gibt es das heutige Unternehmertum solcher Industrien, in denen langdauernde Monopole bestehen, zutreffend wieder. Hier, wo die Peitsche der Konkurrenz fehlt, macht sich wirklich die Erstarrung oder Feudalisierung des Unternehmers geltend. Überall aber, wo keine langdauernden, monopolistischen Machtstellungen erworben wurden, in Industriezweigen, in denen gleiche oder ähnliche Waren von vielen Seiten angeboten werden, wo Kartelle gar nicht oder nur in lockerer Form oder nur vorübergehend Bestand haben, vermochte sich in Deutschland dieser Unternehmertyp nicht zu entwickeln. Das gilt für den größten Teil der weiterverarbeitenden Industrie, z. B. der Maschinenindustrie, der Metallverarbeitungs-, der feinmechanischen, Textil-, Bekleidungs- und Nahrungsmittelindustrie. Nur vereinzelt haben hier festgefügte Kartelle ein Leben von Jahrzehnten gehabt; meistens handelt es sich um Konditions-, Kalkulationsoder höchstens Richtpreiskartelle, die eine monopolistische Beherrschung des Marktes auch nicht im entferntesten erreichen. Das fortwährende Auftauchen neuer Waren, wie es etwa für die Mehrzahl der Maschinen- und Textilmärkte kennzeichnend ist, sowie der damit zusammenhängende dauernde Wechsel der Bedürfnisse und der Nachfrage

Staatliche Strukturwandlungen und die Krisis des Kapitalismus • 7

schließen eine Erstarrung des Unternehmertums völlig aus. Haupterfordemis für erfolgreiche Leitung der Unternehmen ist auch heute noch Anpassungsfähigkeit und Beweglichkeit; Schematisierung und Verbeamtung führen zu Mißerfolg oder Untergang, mag es sich dabei um Einzelfirmen oder um Gesellschaften handeln. Der Unternehmergewinn entsteht hier nicht aus der Erwerbung und Sicherung von Monopolstellungen, sondern aus der Einfuhrung von Neuerungen. In diesem Teil der Volkswirtschaft finden wir also einen Unternehmertyp des Wettbewerbs, der nahe Verwandtschaft mit dem des neunzehnten Jahrhunderts aufweist, obwohl sich auch seine interne Verwaltungstätigkeit infolge der zunehmenden Komplizierung der Betriebsfuhrung ausgedehnt hat. Hier herrscht ein ganz anderer Geist, eine andere Wirtschaftsgesinnung als in den monopolgesicherten Industrien. Allerdings findet infolge der ständig wachsenden Ansprüche der Firma dieser Unternehmer wenig Zeit und Kraft, sich nach dem Vorbild seiner Berufsgenossen aus monopolgesicherten Unternehmungen öffentlich zu betätigen, in Verbänden hervorzutreten, bei Regierungsstellen vorstellig zu werden. Daraus mag es sich auch erklären, daß viele Schriftsteller heute nur die „Industriekapitäne" kennen, d. h. die hervorragendsten Führer im Kreise monopolisierter Industrien, und den heutigen Unternehmer der Konkurrenzwirtschaft entweder übersehen oder ausdrücklich als „tot" bezeichnen. Ein Blick in die wirkliche Wirtschaft würde sie lehren, wie viel er in Deutschland wirtschaftlich - nicht politisch bedeutet, und daß der größere Sektor der deutschen Industrie von ihm geleitet wird. Sie würden sehen, daß dieser Unternehmer maßgebend an der deutschen industriellen Entwicklung der Nachkriegszeit beteiligt war, und daß er auch heute der Träger der Entwicklung sein könnte - falls ihm nicht alle Chancen des Erfolges von vornherein zerstört würden. B. Die Überfülle von Erfindungen bietet den Unternehmern der meisten Wirtschaftszweige in der heutigen Zeit genügend Anregung, neue Kombinationen durchzusetzen. Denn noch mehr als im vergangenen Jahrhundert gehen von der Umgestaltung des technischen Wissens stärkste Anstöße für die Entwicklung der Wirtschaft aus. Das Tempo der Erfindungen hat sich erhöht. Zwar ist das heroische Zeitalter der Erfinder vorbei, aber die systematische Kleinarbeit der jetzigen Zeit bringt eine dauernd wachsende Menge von Ergebnissen hervor. Heute wie früher sind viele dieser Erfindungen mehr technisch bewundernswert als wirtschaftlich bedeutungsvoll, viele erweisen sich im Rahmen des vorhandenen Preissystems, also auf Grund der Rentabilitätsrechnung, als unverwendbar und bleiben wirtschaftlich irrelevant. Daß aber rentable und damit wirtschaftlich relevante Erfindungen in besonders großem Stil gerade in den letzten Jahrzehnten und Jahren gemacht worden sind, lehrt die Wirtschaft selbst. Nur in wenigen Zweigen, wie etwa in der Webwarenherstellung, zeigt sich eine gewisse Stabilität der Technik, meist ändert sie sich heute mit ungewöhnlicher Geschwindigkeit, wie im Kohlenbergbau, im Getreidebau, in der Zuckererzeugung und in der Benzinherstellung, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Vor dem Kriege war es in den meisten Industrien üblich, bei der Berechnung der Abschreibungen die äußerste Zeitdauer der technischen Verwendungsmöglichkeit einer Maschine zugrunde zu legen, und nur in einzelnen Fällen wich die Praxis von diesem Grundsatz ab. Heute ist sie im allgemeinen genötigt, anders zu verfahren; gerade weil Maschinen und Anlagen durch verbesserte

8 • Walter Eucken

Neukonstruktionen weit rascher überholt werden als früher und die wirtschaftliche Unverwendbarkeit im Betrieb sehr oft erheblich eher eintritt als die technische, muß von vielen Unternehmern ein wesentlich höherer Abschreibungssatz eingesetzt werden als vor zwei Jahrzehnten. Während so das gesteigerte Tempo der technischen Verbesserungen und Erfindungen fast allen Leitern von Unternehmungen in den meisten Zweigen der Wirtschaft zu schaffen macht, erklären uns zahlreiche Schriftsteller, das Zeitalter der Erfindungen sei im wesentlichen vorbei. Entweder soll diese Behauptung eine Tatsache zum Ausdruck bringen - dann ist sie offensichtlich falsch; oder sie soll eine Prognose darstellen - dann bezieht sie sich auf eine ferne Zukunft und ist für das Verständnis der heutigen Situation des Kapitalismus uninteressant. C. Würden aber die Triebkräfte des Kapitalismus in Zukunft einmal erlahmen, würde sich insbesondere eine Verbürokratisierung und Verrentung des Unternehmertums, begleitet von einem Nachlassen technischer Erfindungen, nachhaltig geltend machen, so wäre aus diesem Grunde durchaus nicht das Ende des Kapitalismus zu erwarten. Es würde lediglich der dynamischen eine statischere Form folgen. Seit Marx und Sombart ist es weithin Übung, in dauernder Ausdehnung, in immer weiter ausgreifender Dynamik das innere Lebensgesetz des Kapitalismus zu erblicken und daraus zu folgern, ein etwaiges Ende der Entwicklung bedeute zugleich das Ende des Kapitalismus selbst. Marx erlebte in der Mitte des vorigen Jahrhunderts den plötzlichen Aufstieg des Kapitalismus in England, seine deutschen Schüler dessen bedeutungsvollste Wachstumsjahre in Deutschland; so wird es verständlich, daß die Legende von dem notwendig dynamischen Wesen des Kapitalismus entstehen konnte. Allerdings wäre es fur die Späteren nicht schwer gewesen, sich von der Unrichtigkeit der Marx sehen These zu überzeugen. Vor allem hätte ein Blick in die Geschichte sie belehren können, daß es auch einen andersgearteten, nicht dynamischen Kapitalismus gibt, wie z. B. in den Niederlanden und in Frankreich, daß die Unternehmerinitiative und damit die eigentlich bewegende Kraft der Entwicklung abnehmen kann wie im England des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts, ohne daß damit das Land im mindesten aufhört, kapitalistisch zu sein. Zudem hatte die moderne nationalökonomische Theorie dargetan, daß der theoretische Beweis Marxens von der notwendigen Dynamik falsch ist. Aus einer etwaigen Schwächung der Entwicklungskräfte ohne weiteres auf einen Abschluß des ganzen kapitalistischen Zeitalters zu schließen, haben wir nicht die geringste Veranlassung. Für Deutschland ist aber die ganze Frage heute nicht akut. Hier sind - wie gezeigt die unternehmerischen Kräfte, die imstande wären, die großen Neuerungen der Gegenwart in der Wirtschaft durchzusetzen, vorhanden und drängen zur Tätigkeit. Wahrscheinlich würde allerdings auch bei freier Entfaltungsmöglichkeit dieser Kräfte das Tempo der deutschen wirtschaftlichen Entwicklung infolge des geringeren Bevölkerungszuwachses und infolge des Kapitalmangels langsamer sein als früher. Aber nicht hierdurch, sondern durch einen ganz anderen Tatsachenkomplex ist die heutige Situation des Kapitalismus in den altkapitalistischen Ländern entscheidend bestimmt. Die alte staatlich-gesellschaftliche Organisation der Völker, in deren Rahmen sich der Kapitalismus entfaltet hatte, verfiel, und an ihre Stelle trat eine neue, andersgeartete Organisation, die das Funktionieren des kapitalistischen Mechanismus aufs äußerste erschwert

Staatliche Strukturwandlungen und die Krisis des Kapitalismus • 9

und seine Entwicklung hemmt oder unmöglich macht. Nur die Erkenntnis dieser historisch-politischen Hergänge ermöglicht es, die heutige Lage des Kapitalismus richtig zu verstehen.

II. Die staatlich-gesellschaftliche Organisation 1. Wandlungen der inneren Struktur der Staaten A. Der alte Staat. Der Staat des werdenden und des reifen Absolutismus, der Staat des Merkantilismus also, war ein Gebilde, das neben dem Volke, neben der Nation ein Eigenleben führte; seine Souveränität wurde von den Bürgern und - nach hartem Kampfe - auch vom Adel anerkannt, aber die völlige Beseitigung der aus dem Mittelalter überkommenen Stände gelang den europäischen Monarchien nicht, sie waren auch in der Zeit höchster Macht weder gewillt noch imstande, das Leben der Gesellschaft überall zu regeln und zu lenken 1 ; im Gegenteil. „Das Ende des Zeitraums ergab einen geradezu künstlich ausbalancierten Zustand von Arbeitsteilung und Trennung zwischen Krieg und Frieden, Heerwesen und Volksleben, Machtpolitik und friedlich-bürgerlicher Zivilisation" {Meinecke). Gewiß griff der Fürst mit seiner Wirtschaftspolitik an vielen Stellen gerade in das Wirtschaftsleben ein, er wurde vielfach Anreger und Träger des ökonomischen Fortschritts. Aber dem merkantilistischen Fürsten lag es durchaus fem, die gesamte wirtschaftliche Betätigung seiner Untertanen, wie sie sich in Land und Stadt auf Grund sehr alter Traditionen und Bindungen abwickelte, lenken zu wollen. Nur so weit griff er ein, baute er Fabriken, besiedelte er Land, erließ er Ein- und Ausfuhrverbote und dergleichen mehr, wie es das Staatsinteresse zu erfordern schien; im übrigen überließ er die Wirtschaft sich selbst, die sich während dieser Zeit im ganzen wenig veränderte. Somit wurde durch die merkantilistische Wirtschaftspolitik die Spaltung zwischen Staat und Gesellschaft bis zum Ende der absolutistischen Epoche keineswegs beseitigt. In dieser Spaltung und in ihrer Überbrückung haben wir vielmehr ein Grundproblem des späteren Staatslebens zu sehen, dessen Lösung sich in zwei Etappen vollzog. Mit der französischen Revolution und der Demokratisierung der Staatenwelt wurde die erste durchmessen; der Idee nach wollte die Demokratie Volk und Staat zu identischen Größen machen, in der Praxis verknüpften die allgemeine Wehrpflicht und das allgemeine Wahlrecht den einzelnen sehr nahe mit dem Staat, der sich zugleich durch die Beseitigung der Stände neue Möglichkeiten eröffnete, um seine Macht zu entfalten. Aber hiervon machte er nur wenig Gebrauch, ja gerade Wirtschaft und Staat traten jetzt schärfer auseinander als in der merkantilistischen Zeit, weil es dem politisch einflußreichen Liberalismus gelang, die freie private Sphäre des einzelnen zu erweitern, und weil aus der Wirtschaft heraus nur vereinzelt machtvolle Gruppen Staatsintervention verlangten. Dieser liberale Staat des neunzehnten Jahrhunderts war, indem er die Sphären von Staat und Wirtschaft eindeutig voneinander trennte und die Wirtschaftsführung den privaten 1 Vgl. dazu: F. Meinecke, Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte, 1929, Kap. 5. - Über den alten preußischen Staat: G. Ritter, Stein 1931,1, Kap. 6.

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Unternehmern fast völlig überließ, der Boden, auf dem der Kapitalismus kräftig heranwachsen konnte - was oft genug geschildert worden ist. B. Entstehung des Wirtschaftsstaates. Im Laufe des letzten halben Jahrhunderts aber gestaltete sich der liberale Staat durch Zusammenwachsen von Staat und Wirtschaft, durch Politisierung der Wirtschaft allmählich zum Wirtschaftsstaat um - hierin haben wir die zweite Etappe des großen historischen Verflechtungsprozesses von Staat und Gesellschaft zu sehen. Diese Wandlung ist in einzelnen Ländern, wie in Frankreich, erst in ihren Anfangen sichtbar, während sie in andern, wie in Deutschland und England, schon weit fortgeschritten ist. In Deutschland war es der Staat, der aus eigenem Impuls heraus die Scheidemauer zwischen den Sphären der Wirtschaft und des Staates zuerst durchbrach. Denn die deutsche Wirtschaftspolitik war, solange sie noch unter Bismarcks Leitung stand, durchaus von der Idee der Staatsräson beherrscht. Mit größter Konsequenz, ja mit einer gewissen dogmatischen Strenge ordnete Bismarck alle wirtschaftspolitischen Fragen dem Leitgedanken seiner Gesamtpolitik unter. Wie seine liberale Handelsvertragspolitik der sechziger Jahre durch seine kleindeutsche Einigungspolitik bestimmt war, so seine Abkehr vom Liberalismus, sein Übergang zum Schutzzoll Ende der siebziger Jahre durch seinen innerpolitischen Kampf um die finanzielle Sicherung des Reiches, aber auch um die Schwächung des Parlaments durch Aufwerfen einer innerhalb einflußreicher Parteien strittigen, großen Frage der Wirtschaft. Auch Bismarcks Sozialpolitik - um noch ein weiteres Beispiel zu geben - war eine Politik der Staatsräson und hat in ihren Motiven und in ihrem Geist mit der Sozialpolitik späterer Jahrzehnte nichts zu tun. Festigung des Reichs durch Interessierung des einzelnen Arbeiters an seinem Bestand war z. B. das Ziel der Sozialversicherungsgesetzgebung, ein Gedanke, der in den Einzelbestimmungen des Gesetzgebungswerkes deutlich zum Ausdruck kam. Bismarcks Interventionismus war also ein Interventionismus der Staatsräson; mit seinem Abgang begann eine neue Epoche. Denn eine gewisse Kontinuität der wirtschaftspolitischen Maßnahmen darf nicht dazu verleiten, den grundsätzlichen Wesensunterschied der bismarckschen und der nachbismarckschen Wirtschaftspolitik zu verkennen. Aus der gesamten deutschen Politik verschwand die zentrale, alle ihre Einzelgebiete - also auch die Wirtschaftspolitik - beherrschende politische Idee, die Kraft und der beherrschende Wille; das Verhältnis von Staat und Wirtschaft kehrte sich allmählich um, und die Wirtschaft begann die Führung in dem Verflechtungsprozeß von beiden zu übernehmen. Die Motive, aus denen heraus die Wirtschaft Interventionen des Staates verlangte und mit wachsendem Erfolge durchsetzte, waren und sind in sich höchst widerspruchsvoll geartet. Weitgehend handelt es sich darum, daß die einzelnen Wirtschaftsgruppen, die Unternehmer und Arbeiter, den Staat zum Eingriff veranlassen, um ihre Position im Rahmen der kapitalistischen Wirtschaft zu stärken; der Staat soll also seine Macht einsetzen, nicht um die kapitalistische Wirtschaft zu beseitigen, sondern um im Gegenteil einzelnen Gruppen oder sogar einzelnen Unternehmen im kapitalistischen Wirtschaftskampf zur Seite zu stehen. Bei den Unternehmern sind es zum Teil Gruppen, die sich von der modernen wirtschaftlichen Entwicklung bedroht fühlen und deshalb Sonderschutz des Staates verlangen, wie Einzelhändler, die unter der Konkurrenz des Warenhauses, Handwerker, die unter dem Angebot von Fabrikware, Landwirte, die unter lei-

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stungsfahiger ausländischer Konkurrenz leiden. Zu ihnen stoßen solche Unternehmer, die selbst Träger der Entwicklung sind, die aber gerade zu deren Beschleunigung staatliches Eingreifen durchzusetzen verstehen, wie es in der Geschichte der deutschen Eisenindustrie häufig der Fall gewesen ist. Oder es handelt sich um große kapitalistische Unternehmen, die im Konkurrenzkampf zu erliegen drohen und deshalb Staatshilfe fordern und oft auch erreichen. Auf breiter Front beanspruchen also weite Kreise des Unternehmertums Schutz und Förderung seitens des Staates; daß nicht alle hierbei den gleichen Erfolg erzielen, daß bisher insbesondere die Großindustrie und die Großlandwirtschaft, in viel geringerem Maße die mittlere und kleinere Industrie und die Bauern sich geltend machen konnten, zeigt der Verlauf der deutschen Handelspolitik sehr deutlich. Im Zusammenwirken von Unternehmertum und Staat wird während der letzten Jahrzehnte die Technik des Interventionismus außerordentlich verfeinert, wofür die Entwicklung der deutschen Roggenpolitik und der Roggenerzeugung ein besonders eindrucksvolles Beispiel darstellt. Vom Schutzzoll und Einfuhrschein geht hier der Weg bis zum Verwendungszwang in verschiedenartigen Ausprägungen, zur Monopolisierung eines konkurrierenden Futtermittels und zur Valorisation, aus der sich eine höchst komplizierte staatliche Preispolitik ergibt. Oder man denke daran, daß aus einfachen Erziehungs- und Erhaltungszöllen teilweise - wie in der Kunstseidenindustrie - Kartellquotenkampfzölle geworden sind, Zölle also, die die heimischen Interessenten im Kampf um die Kartellquote im internationalen Kartell unterstützen; staatliche Wirtschaftspolitik und Vertretung von Unternehmerinteressen verschmelzen hier zu festgefugter Einheit. Wenn die Massen der Arbeiter und Angestellten in ihrem Kampf um bessere Löhne und Arbeitsbedingungen auch ihrerseits Staatshilfe forderten und hauptsächlich seit Kriegsende durchsetzten, so entsprangen diese Bestrebungen teilweise den gleichen Motiven wie bei den Unternehmern: Die Massen verlangten vom Staat Intervention zu ihren Gunsten, weil er ein mächtiger Bundesgenosse im Kampf auf dem Arbeitsmarkte sein kann; in den Augen der Massen verschmelzen Lohnkampf und Kampf um die Macht im Staate zu einer Einheit, indem es sich entscheidet, wie hoch die Einkommen der Arbeiter und Angestellten in der kapitalistischen Wirtschaft werden. Hier aber stoßen wir auf einen zweiten Komplex von Motiven, der dem erstgenannten fernsteht, obwohl der einzelne den Unterschied oft nicht bemerkt. Intervention wird nicht bloß verlangt, um die Position einer Gruppe auf den kapitalistischen Märkten zu verbessern, sie findet ihre radikalen Anhänger vor allem in den Gegnern der kapitalistischen Wirtschaftsordnung überhaupt; der Arbeiter z. B. verlangt Staatseingriffe sowohl in der Hoffnung, seine wirtschaftliche Lage in der Gegenwart zu verbessern, wie auch um eine zukünftige Überwindung der heutigen Wirtschaftsordnung einzuleiten. Denn darin haben wir eine historische Tatsache von großer Bedeutung zu sehen, daß die Massen der Arbeiter und Angestellten, die gerade mit der Entwicklung des Kapitalismus entstanden sind, sich gegen den Kapitalismus wenden und in diesem Kampf den Staat, auf den sie Einfluß gewinnen, benutzen. Die Gründe für die antikapitalistische Haltung der Massen können bekanntlich nicht in einer Verschlechterung ihrer Lebenshaltung durch den Kapitalismus gesucht werden,

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denn ganz im Gegenteil ist ihre Lebenshaltung in den kapitalistischen Ländern stärker verbessert worden als jemals früher in der Geschichte; ebensowenig sind sie in einer fortwährenden Verschärfung der Gegensätze von Reichtum und Armut zu finden, denn eine solche Verschärfung ist während der Existenz des Kapitalismus - wie Pareto unwiderlegt gezeigt hat - nicht erfolgt. Die Wendung der Massen gegen den Kapitalismus ist vielmehr ein Phänomen, das nur aus der seelischen Lage des modernen Menschen und aus der Gesamtheit der geistigen, politischen und wirtschaftlichen Bewegungen der neuesten Zeit in ihrer Wechselwirkung aufeinander verstanden werden kann. Wir haben sie - im Ablaufe unserer Untersuchung - als Tatsache hinzunehmen und haben lediglich danach zu fragen, warum die antikapitalistische Massenbewegung aus dem Staat nicht bloß ein Werkzeug in ihrem Kampf gegen den Kapitalismus zu machen sucht, sondern darüber hinaus den Staat zum Träger einer nichtkapitalistischen Wirtschaftsordnung machen will. Während die ältere antikapitalistische Bewegung nämlich, die auf Marx fußt, das Ziel in einer staatenlosen sozialistischen Gesellschaft sieht, zu deren Durchsetzung der Staat lediglich vorübergehend wichtig ist, will der moderne Antikapitalismus gerade im totalen, die Wirtschaft umfassenden, möglichst autarken Staat den Kapitalismus überwinden. Diese Wandlung ist teilweise durch die außenpolitischen Ereignisse verursacht, die in Deutschland das Bestreben nach einer kräftigen nationalen Staatsbildung auslösen mußten. Teilweise aber liegen die Gründe weiter zurück und sind im Zusammenbruch der überkommenen Lebensordnung, der sich seit dem achtzehnten Jahrhundert vollzieht, zu suchen. Indem die Religion mehr und mehr die Kraft verlor, dem Leben und damit auch dem wirtschaftlichen Handeln des einzelnen Menschen einen Sinnzusammenhang zu gewähren, indem sie aufhörte, das Fundament des Lebens zu sein, und zu einem Lebensgebiet neben andern wurde, veränderte sich langsam aber deutlich sichtbar auch die Haltung des Menschen zum Staat. Weil die Verdrängung der Religion aus dem Zentrum des Lebens ein unerträgliches Vakuum schuf, suchte der Mensch nach einem Religionsersatz, der seinem Leben einen Sinn verleihen sollte. Wie die Geschichte der letzten eineinhalb Jahrhunderte zeigt, vermeinte der Mensch in sehr verschiedener Weise einen solchen zu finden; der Glaube an die Gesellschaft, an die Menschheit, an die Kultur verbreiteten sich und verblaßten wieder. Heute ist es der Glaube an den Staat, und zwar an den totalen, alles beherrschenden Staat, der weitgehend zum Religionsersatz geworden ist; im totalen Staat der Zukunft wird heute von vielen Deutschen ein übermenschliches, alles vermögendes Wesen gesehen, demgegenüber der einzelne keine Rechte besitzt, und mit Leidenschaftlichkeit wird aus dieser Haltung heraus vom heutigen Staate verlangt, daß er die Ordnung gerade der Wirtschaft in die Hand nehme, eine totale Planung der Volkswirtschaft entwerfe und durchführe. Durchaus nicht überall ist der Glaube an den Staat so radikal ausgeprägt, aber in den breitesten Volkskreisen steht der Staat viel mehr im Zentrum des Denkens als früher; damals nahm der Mensch wirtschaftliches Unglück als Schicksal hin, heute ist der Bauer wie der Angestellte und Arbeiter geneigt, den jetzigen Staat dafür verantwortlich zu machen und von ihm Hilfe als selbstverständlichen Anspruch zu fordern. Aus einer eigentümlichen Mischung wirtschaftlicher Interessen, antikapitalistischer Stimmungen, nationalpolitischer Bestrebungen und qua-

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sireligiöser Überzeugungen sind die interventionistischen Strömungen der letzten Jahrzehnte entstanden. Dem Drängen nach Staatseingriff aus der Wirtschaft heraus hat der nachbismarcksche Staat einen immer schwächer werdenden Widerstand entgegengesetzt. Wohl hat er im großen Krieg unter dem Druck der Gefahr vorübergehend wieder die Führung übernommen, die Mobilisierung aller wirtschaftlichen Kräfte organisiert und damit den Verbindungsprozeß mit der Wirtschaft von sich aus betrieben. Aber mit Kriegsende dreht sich das Verhältnis sofort wieder um, das Unternehmertum versteht es teilweise, die nahen Beziehungen, die es im Kriege mit dem Staat gewonnen hat, aufrechtzuerhalten und zu festigen. Hauptsächlich aber gewährt die gleichzeitig erfolgende Demokratisierung den Parteien und den von ihnen organisierten Massen und Interessentengruppen einen stark gesteigerten Einfluß auf die Leitung des Staates und damit auf die Wirtschaftspolitik. Die Umwandlung des liberalen Staates zum Wirtschaftsstaat bedeutet für das staatliche, wie für das wirtschaftliche Leben sehr viel. Daß mit diesem Prozeß die Größe des Staatsapparates außerordentlich wächst, daß sein Etat mächtig anschwillt, daß er mit seinen Subventionen, Zöllen, Einfuhrverboten, Kontingenten, Moratorien usw., mit seiner staatlichen Schlichtung und mit seinen stark gesteigerten Steueransprüchen viel tiefer als früher in die Einkommensgestaltung des einzelnen eingreift, daß sich also eine entschiedene Expansion der Staatstätigkeiten vollzieht, ist oft geschildert worden 2 . Solche Tatsachen dürfen aber nicht eine andere Seite der Sache übersehen lassen; diese Expansion nämlich, die - wie sich zeigte - in der nachbismarckschen Zeit vorwiegend von der Wirtschaft her verlangt und durchgesetzt wurde, bedeutete nicht etwa eine Stärkung, sondern ganz im Gegenteil eine Schwächung des Staates, ja sie birgt sogar die Gefahr der Auflösung des Staates in sich. Die Tatsache, daß der Wirtschaftsstaat im Gegensatz zum liberalen Staat aufs engste mit dem jeweiligen Stand der Konjunktur verknüpft ist, und daß heute jede schwere wirtschaftliche Depression eine Erschütterung des Staates bewirkt, zeigt bereits die Fesselung des Staates durch die Wirtschaft. Viel folgenschwerer ist es jedoch, daß ganz allgemein gerade durch die enge Verflechtung mit der Wirtschaft die Selbständigkeit der Willensbildung des Staates unterhöhlt wird, auf der seine Existenz beruht. Seine Handlungen werden abhängig von dem Willen der wirtschaftlichen Gruppen, denen er mehr und mehr als Werkzeug dient. Gewiß ist es richtig, daß der heutige Staat mit seinem Schlichtungswesen und seinen Arbeitszeitbestimmungen über das Lohneinkommen von Millionen entscheidend mitbestimmt, aber dieser Staat handelt - ganz anders als etwa der bismarcksche - nicht sowohl aus eigenem Willen, als weitgehend unter dem Druck der Interessenten. Die ganze Wirtschaftspolitik der neuesten Zeit spiegelt diesen Zersetzungsprozeß deutlich wieder; sie zerfällt in eine Fülle von Maßnahmen, die einzeln auf die Wünsche verschiedener wirtschaftlicher Machtgruppen zurückfuhrbar, im ganzen keinerlei einheitlichen Gedanken und Willen, sondern gänzliche Systemlosigkeit verraten. Der Wirtschaftsstaat beschränkt sich gerade

2 Neben den einschlägigen nationalökonomischen und finanzwissenschaftlichen Schriften kommt aus der staatsrechtlichen Literatur in Betracht: C. Schmitt, Der Hüter der Verfassung, Beiträge zum öffentlichen Recht der Gegenwart, I., Tübingen 1931. S. 72 ff.

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in der Wirtschaftspolitik meist darauf, die Forderungen der Machtgruppen, von denen er abhängig ist, gegeneinander abzustimmen und durchzuführen; das reine Staatsinteresse zur Geltung zu bringen, ist er nur selten imstande. Die Macht des Staates dient also heute nicht mehr allein dem eigenen Willen, sondern in hohem Maße dem Willen von Interessenten, woran auch das beste Beamtentum nichts Wesentliches zu ändern vermag. Der Staat vor 50 Jahren war zurückhaltend im Einsatz seiner Machtmittel, aber seine Willensbildung war selbständig; der heutige pflegt umgekehrt an vielen Stellen und nachhaltig seine Macht einzusetzen, aber die wirkliche Selbständigkeit seines Willens fehlt. Von der Wirtschaft her gesehen bedeutet das Heranwachsen des Wirtschaftsstaates ebenfalls eine schwere Erschütterung, die, seit Beginn des Jahrhunderts spürbar, heute ebenfalls ihre Existenz bedroht. Auf der einen Seite besteht die Tatsache, daß in einem altkapitalistischen Lande, wie Deutschland, im Laufe der Zeit ein ungemein komplizierter, arbeitsteiliger, kapitalistischer Wirtschaftsapparat aufgebaut wurde, der, aus zahlreichen Unternehmen zusammengesetzt, unübersehbar viele Warenarten erzeugt. Dieser verwickelte Wirtschaftsmechanismus besaß im Preissystem einen empfindlichen und wirkungsvollen Regulator, der seine Bewegungen mit großer Präzision steuerte und alle produktiven Kräfte in Beschäftigungen hereindirigierte - solange die Preise vorwiegend Konkurrenzpreise waren. Die kapitalistische Wirtschaftsordnimg ist also nicht nur im Zeitalter des liberalen Staates voll zur Entwicklung gelangt, sie setzt auch eine durch Staatseingriffe unbehinderte Preisbildung voraus - wenn ihr Steuer nicht seine Funktionsfahigkeit verlieren soll. In Wirklichkeit besteht aber heute auf Grund der dargestellten geschichtlichen Entwicklung nicht mehr der liberale, sondern der interventionistische Wirtschaftsstaat, - die zweite Tatsache, die in diesem Zusammenhang zur grundsätzlichen Beurteilung der Lage des Kapitalismus wesentlich ist. Dieser Wirtschaftsstaat hemmt nun nicht nur - ganz besonders durch die ungemein hohen Steuerlasten jeder Art - die Initiative der Unternehmer, er bindet also nicht nur die Entwicklungskräfte, sondern er macht vor allem den bisherigen Regulator der Volkswirtschaft, das Preissystem, funktionsunfähig. Schon durch das Aufkommen einzelner Monopole und monopolartiger Gebilde war die Wirksamkeit des Preismechanismus behindert, und waren gefahrliche Kapitalfehlleitungen veranlaßt worden. Indem der Staat - besonders durch seine Zoll- und Kartellpolitik - das Aufkommen und die Festigung der Monopole wesentlich erleichterte, die nur durch seine Hilfe ihre jetzige Machtstellung erringen konnten, hat er die regulierende Kraft des Preissystems mittelbar stark geschwächt. Er hat darüber hinaus durch unmittelbare Preisbestimmung auf Arbeits-, Kapital-, Wohnungs-, Lebensmittel- und vielen andern Märkten Preisverschiebungen verhindert und damit bewirkt, daß angebotene und nachgefragte Quantitäten sich nicht ausglichen. Soweit aber noch durch Preisveränderungen Umstellungen diktiert wurden, hat er vielfach versucht, sie durch Subventionen, Vollstreckungsschutz usw. zu bremsen. Der Ablauf der Geschichte hat also zu einer Diskrepanz in den Tatbeständen selber gefuhrt: Der Kapitalismus entfaltete sich in einem staatlich-gesellschaftlichen Raum, der durch einen späteren geschichtlichen Prozeß, nämlich durch die Entstehung des Wirtschaftsstaates, zerstört worden ist. Dadurch ist aus dem freien, durch das Preissy-

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stem sinnvoll geordneten, ein staatlich gebundener Kapitalismus geworden, der einer brauchbaren Steuerung entbehrt. Die bisher im ökonomischen Mechanismus wirksame Tendenz zur Vollbeschäftigung aller Anlagen und Arbeitskräfte, die in jeder Konkurrenzpreisverschiebung liegt, wurde weitgehend ausgeschaltet. Gerade durch die Politisierung der Preisbildung wurde der Produktions- und Verteilungsprozeß von den Zufälligkeiten politischer Machtgruppierungen abhängig, und insofern ist die Wirtschaftsordnung anarchisch geworden. 2. Wandlungen der Außenpolitik A. Das alte System. Wenn die innere, nämlich liberale Struktur der Staaten des neunzehnten Jahrhunderts die unentbehrliche Voraussetzung für das rasche Wachstum des Kapitalismus während dieser Zeit bildete, so hat die Struktur des Staatensystems, die Gestaltung der außenpolitischen Beziehungen den Charakter dieser Entwicklung stark beeinflußt. Der Aufbau dieses Staatensystems des neunzehnten Jahrhunderts war das Ergebnis eines jahrhundertelangen historischen Prozesses, in dessen Verlauf gewisse Grundprinzipien der Außenpolitik durch die diplomatische Praxis zur Geltung gebracht wurden, auf denen die Beziehungen der Staaten untereinander beruhten. Es handelte sich erstens um das Prinzip der Trennung von Frieden und Krieg 3 , das sich im achtzehnten Jahrhundert allgemein durchsetzte und - mit einer bemerkenswerten Unterbrechung - bis 1919 wirksam blieb. Im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert waren Krieg und Frieden noch nicht scharf unterschieden - statt endgültiger Friedensverträge wurden oft nur befristete Waffenstillstände geschlossen, oder im Frieden plötzlich Feindseligkeiten begonnen, im Kriege die diplomatischen Beziehungen aufrechterhalten. Die Festigung der Staaten, vor allem aber die Schaffung stehender Heere und das Verlangen nach Überwindung der fast ununterbrochenen kriegerischen Verwicklungen zwangen die diplomatische Praxis des achtzehnten Jahrhunderts, nach Abschluß eines Krieges einen wirklichen Friedenszustand herzustellen, alle Kriegsreste zu beseitigen und damit den Frieden vom Kriege scharf zu trennen. Schon aus diesem Grunde waren hohe Kriegsentschädigungen, die stets Kriegsreste darstellen, und die zudem mit langfristigen Besetzungen fremden Bodens verbunden sind, im vorrevolutionären achtzehnten Jahrhundert nicht üblich. Mit der Herausbildung des „Friedensprinzips" wurde überhaupt erst die Möglichkeit geschaffen, die europäische Staatenwelt der Neuzeit zu ordnen, aber zugleich entstand die Aufgabe, den Frieden zu sichern und im Staatensystem selbst fest zu begründen. Deshalb rückte das bereits zu Beginn der Neuzeit bekannte Prinzip des Gleichgewichts der Mächte mehr und mehr in den Mittelpunkt der Außenpolitik und wurde im achtzehnten Jahrhundert zu deren leitendem Motiv: „Als beste und stärkste Grundlage für 3

Außer Meineckes obengenanntem Werke siehe hierzu: J. Bernays, Die Diplomatie um 1500, Historische Zeitschrift, München u. Berlin, 138. Bd. (1928), S. 1 ff. - Friedensverträge (vom juristischen Standpunkte) (H. Kraus), Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4. Aufl., Bd. IV, Jena 1927, S. 410 ff.

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gegenseitige Freundschaft und allgemeine und dauernde Eintracht" bezeichnet es der Utrechter Friedensvertrag von 1713. Mit Recht hat die neuere Geschichtsschreibung immer wieder betont, wie oft das Gleichgewichtsprinzip zur Bemäntelung brutaler Rechtsbrüche mißbraucht wurde; aber solche Tatsachen ändern nichts an seiner praktischen Bedeutung. Im Kampf gegen Ludwig XIV. besonders von der englischen Diplomatie im eigenen Interesse nachdrücklich zur Geltung gebracht, wurde es von den andern europäischen Großmächten in ihrem Streben nach Sicherheit und nach Bewahrung ihrer eigenen Machtstellung als Grundlage des Staatensystems anerkannt. Nach der Episode der französischen Revolution und des Kaiserreichs, während deren Verlauf die Friedensverträge wieder den Charakter von Waffenstillständen annahmen, und das Gleichgewichtsprinzip in der Praxis nicht wirksam wurde, kamen die Gedanken der alten Kabinettspolitik erneut nachhaltig zur Geltung, denn der Kampf gegen Napoleon richtete sich gegen die europäische Universalmonarchie und bezweckte ein „System des Gleichgewichts, der Unabhängigkeit und Sicherheit", wie Metternich es nannte. Die Pariser Friedensverträge und die Wiener Kongreßakte, durch die Europa neu geordnet wurde, brachten also folgerichtig beide nahe zusammenhängende Prinzipien der alten Diplomatie wieder zu vollster Wirkung: In das neu geschaffene, ausbalancierte System der europäischen Staaten wurde das geschlagene Frankreich sofort wieder als gleichberechtigte Großmacht eingefugt, indem ihm unter Belassung eines großen Territoriums keinerlei Rüstungsbeschränkungen oder sonstige Einengungen seiner Souveränität auferlegt, ihm nur eine geringe, rasch abgezahlte Kriegsentschädigung abverlangt und der französische Boden nach wenigen Jahren völlig geräumt wurde. So entstand ein Gleichgewichtssystem der europäischen Staaten, das weit über Europas Grenzen hinaus eine umfassende, weltpolitische Bedeutung besonders dadurch gewann, daß England in seiner Machtposition auf den überseeischen Kontinenten und auf dem Weltmeer sowohl durch dieses ausbalancierte Staatensystem gesichert wurde, wie es auch umgekehrt Garant des Systems war. Im Rahmen dieses Systems haben sich die außenpolitischen Beziehungen 100 Jahre hindurch abgewickelt, denn auch Bismarck hat nie daran gedacht, es zu zerstören; er hat es mit seiner Lösung der deutschen Frage umgestaltet, aber keineswegs beseitigt, eher befestigt. Bändigung und Formung der triebhaften Kräfte des Völkerlebens, die stets zu chaotischen Zuständen drängen, war sein Ziel, das er mit den Werkzeugen und Prinzipien der alten Diplomatie erreichte. Auf den Umbau des bestehenden Gleichgewichtssystems war seine Außenpolitik bis 1871, also bis zur Lösung der deutschen Frage, gerichtet, wie auch im Frankfurter Friedensvertrag klar zum Ausdruck kam, der die sofortige Wiederherstellung von Frankreichs Großmachtstellung unter raschester Liquidierung des Krieges bei baldiger Räumung des Landes, schnell erledigter Kriegsentschädigung und Verzicht auf Souveränitätsbeschränkungen brachte, während von Bismarck nach 1871 die Sicherung dieses neuen Gleichgewichtssystems erstrebt und durchgesetzt wurde 4 . 4

Über Bismarck siehe jetzt: Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871-1914, Sammlung der Diplomatischen Akten des Auswärtigen Amts, im Aufitr. des Auswärtigen Amtes hrsg. von J. Lepsius, A. Mendelssohn Bartholdy, F. Thimme, Berlin 1922-1927, 40 Bde. (z. B. Erlaß an Schweinitz vom 25.2.1887, 6. Bd. [1922], S. 177f.) sowie F. Thimme, Die Gesammelten Werke Bismarcks, 1927-

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Es war kein Zufall, daß das Jahrhundert des ununterbrochenen Bestehens dieser internationalen Staatenordnung zugleich das Jahrhundert stärkster Expansion des Kapitalismus bildete. Denn die Stabilität und Sicherheit der außenpolitischen Beziehungen schuf die Vertrauensgrundlage für den internationalen Kapitalverkehr und ermöglichte es, ein Netz von langfristigen Handelsverträgen zu spannen, die plötzliche Störungen des internationalen Warenverkehrs erschwerten und so die Intensivierung der internationalen Arbeitsteilung erleichterten, - wodurch das Wachstum des Kapitalismus gerade in Ländern wie England und Deutschland erheblich gefördert wurde. B. Die neue Lage. Als es nach Beendigung des großen Krieges notwendig wurde, wieder eine Staatenordnung in den Friedensverträgen zu schaffen, zeigte es sich, daß die Diplomatie der maßgebenden Mächte nicht einmal imstande war, das Problem auch nur zu erfassen, noch weniger, Lösungen zu bieten. Der Ursprung dieser für das Geschick der Staaten und der einzelnen in jeder Hinsicht folgenschweren Wandlung ist in der Tatsache zu finden, daß mit der Demokratisierung der Welt die Völker und ihre Leidenschaften, die Interessentengruppen und chaotischen Kräfte der Masse auf die Außenpolitik maßgebenden Einfluß gewannen; die Leitung der auswärtigen Politik geriet in die Hand von Persönlichkeiten, die, mehr Demagogen als Diplomaten, die Gefühle der Massen aufpeitschten und zugleich von ihnen abhängig wurden, so daß schließlich jede ordnende Kraft aus dem Völkerleben verschwand. „Seitdem die Politik auf innere Gärungen der Völker gegründet ist, hat alle Sicherheit ein Ende", hatte Burckhardt schon 1878 erklärt; damals nur teilweise richtig, trifft der Satz für die heutige Lage in vollem Umfang zu 5 . Wie die innere Struktur der Staaten in erster Linie unter dem Druck der Massen umgestaltet wurde, und so der heutige Wirtschaftsstaat entstand, ist auch das überkommene Staatensystem gerade infolge des wachsenden Einflusses der Massen zerstört worden, die kein neues an seine Stelle zu setzen vermochten. Darin nämlich bestehen die entscheidenden Kennzeichen der Pariser Vorortverträge, daß ihnen - im Gegensatz zu den Friedensverträgen der alten Diplomatie, aber ähnlich denjenigen der französischen Revolution und Napoleons - alle ordnenden politischen Prinzipien fehlen. Vollkommen aufgegeben ist zunächst die Idee des Friedens, das Prinzip, Krieg und Frieden scharf zu trennen und mit dem Friedensschluß alle Kriegsreste zu beseitigen; ganz im Gegenteil dienen die heutigen Friedensverträge den Siegern dazu, die günstige militärische Lage am Ausgang des Krieges dauernd aufrechtzuerhalten, statt einer Ordnung der Staaten eine Fesselung des überwundenen Gegners vorzunehmen, wodurch stärkste Spannungen geschaffen, und eine Liquidierung des Krieges während der Geltung der Verträge unmöglich gemacht wird. Aufgegeben ist aber auch das Gleichgewichtsprinzip, und an die Stelle einer ausgewogenen Ordnung europäischer Großmächte trat eine Zerstückelung des Kontinents unter Errichtung der französischen Hegemonie und unter Schaffung zahlreicher neuer Gefahrenherde. Selbst aus der englischen Außenpolitik verschwand die Idee des europäischen Gleichgewichts, obwohl ihre

1930. Aus der großen Literatur über den Wiener Kongreß sei auf das Buch von H. Ritter von Srbik, Metternich, Der Staatsmann und der Mensch, München 1925, 2 Bde., verwiesen. 5 Zur ganzen Frage: Außer zahlreichen Bemerkungen Bismarcks besonders A. de Tocqueville, De la démocratie en Amérique, Paris 1835, T. 2,3.

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praktische Durchsetzung für Aufbau und Erhaltung der britischen Weltstellung entscheidend war und ist. In allen wichtigen Bestimmungen des Versailler Vertrags macht sich das Fehlen der alten ordnenden Prinzipien geltend: in der Zerstörung der deutschen Großmachtstellung durch die territorialen und militärischen Vorschriften; in der Auferlegung der Kriegsentschädigung, die infolge ihrer Größe nicht rasch erledigt werden konnte wie zu Zeiten der Kabinettspolitik, sondern als Kriegsrest über viele Jahre hingezogen, der langfristigen Schwächung des Gegners dient; in der Kriegsschuldthese, die - als Novum in den Friedensverträgen der Neuzeit - ein Produkt der Stimmungen von moralisierenden Massen und Demagogen darstellt und eine völlige Beseitigung der Kriegsstimmung ausschließt. Nicht der Krieg also ist - wie oft und irreführend behauptet wird - für die Zerrüttung der außenpolitischen Beziehungen verantwortlich, sondern die Fehlkonstruktion der Friedensverträge, deren Aufgabe es war, ihn zu beenden und wieder ein neues, ausgeglichenes Staatensystem aufzurichten; nicht aus einer Anwendung der Grundsätze alter Machtpolitik heraus sind die geltenden Verträge entstanden - wie ebenfalls irreführend gesagt wird - sondern durch die Verträge vollzieht sich eine Zerstörung des alten, in der Epoche der französischen Revolution nur vorübergehend beseitigten ausgewogenen Staatensystems, und an seine Stelle tritt ein Haufe untereinander nicht gleichberechtigter Staaten, zwischen denen stärkste Spannungen bestehen. Die Außenpolitik der Kabinette ist von den Zeitgenossen oft und durchaus mit Recht geschmäht worden, die heutige Zeit ist hierzu nicht befugt, da sie selbst hinter den Leistungen der Kabinettspolitik weit zurückbleibt. Durch das Hereinschleppen zahlreicher Kriegsreste in den „Frieden" und durch die Zerstörung der außenpolitischen Stabilität ist nun aber die - wie gezeigt - notwendige politische Grundlage der weltwirtschaftlichen Beziehungen aufs schwerste erschüttert. Auf gänzlich ungesicherter außenpolitischer Basis wieder ein System von langfristigen Handelsverträgen aufzubauen und dem internationalen Warenverkehr eine feste Grundlage zu verleihen, erwies sich als unmöglich, zumal infolge der Änderung der inneren Staatsstruktur, der Umwandlung der liberalen zu Wirtschaftsstaaten die Interessenten auf die Handelspolitik wachsenden Einfluß gewannen und einen verstärkten und unsystematischen Protektionismus erzwangen. Außen- und innenpolitische Verschiebungen haben also hier in gleicher Richtung gewirkt und eine Wendung der Handelspolitik herbeigeführt, die eine wesentliche Erschwerung des internationalen Handels bezweckt und erreicht. Aus diesen beiden Gründen kann sich auch der internationale Kapitalverkehr nicht mehr wie früher entwickeln. Angesichts der Unsicherheit der mit schärfsten außenpolitischen Gegensätzen durchzogenen Welt und angesichts der im Kriege, in den Friedensverträgen und in der Nachkriegszeit deutlich gewordenen Tatsache, daß der moderne Wirtschaftsstaat oft die Sphäre des Privateigentums nicht achtet, wie es der liberale Staat regelmäßig tat, und leicht zu Beschlagnahmung ausländischen Eigentums schreitet, erscheinen Daueranlagen im Ausland sehr risikoreich. Zeitweise ist infolgedessen der internationale Kapitalverkehr überhaupt unterbrochen, oder es werden kurzfristige Kredite bevorzugt, die bei plötzlicher Rückziehung zu schweren währungs- und handelspolitischen Verwicklungen führen und dadurch die Fortführung vorhandener weltwirtschaftlicher Beziehungen nachhaltig behindern können.

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Aber die Friedensverträge haben nicht nur die Voraussetzungen, die für Bestehen und Entfaltung der internationalen Arbeitsteilung notwendig sind, zerstören helfen, sie haben darüber hinaus den Wirtschaftsapparat des Kapitalismus enorm belastet und - wie die Tatsachen beweisen - überbelastet. Die Grenzziehungen, aus denen sich die Verkümmerung weiter Wirtschaftsgebiete ergab, die deutsche Kriegsentschädigung, die trotz der Elastizität des Kapitalismus zu Zerreißungen führte, sind nur die wichtigsten Beispiele von vielen.

III. Ergebnis - Weltgeschichtliche Perspektiven A. Während in der ersten, merkantilistischen, Epoche der Neuzeit der Kapitalismus vom Staate selbst geschaffen wurde, während in der zweiten Epoche die liberale Trennung von staatlicher und wirtschaftlicher Sphäre die weitere Entwicklung des Kapitalismus ermöglichte, und zugleich die Aufrechterhaltung eines stabilen außenpolitischen Systems ein weites Betätigungsfeld eröffnete, entsteht in der dritten Epoche eine Diskrepanz zwischen den politischen Voraussetzungen, die der nunmehr voll entfaltete Kapitalismus notwendig braucht auf der einen Seite und den tatsächlichen innen- und außenpolitischen Verhältnissen anderseits. Nicht unmittelbar aus dem Kapitalismus selbst heraus sind also die Schwierigkeiten entstanden, in denen er sich befindet: in einem Lande wie Deutschland z. B. fehlt es weder an Unternehmerkräften noch an technischen Möglichkeiten, um ihn weiter zu entfalten. Auch Bevölkerungsstagnation und Kapitalmangel können wohl sein Entwicklungstempo bremsen, sie vermögen aber nicht sein Funktionieren zu behindern. Vielmehr hat die staatlich-gesellschaftliche Entwicklung zu seiner Entartung geführt. Letzten Endes waren und sind es die Massen, unter deren wachsendem Druck während der dritten Epoche die überkommene staatliche Struktur maßgebender altkapitalistischer Länder zerstört, der Wirtschaftsstaat geschaffen, sowie ohne Ersatz das alte Staatensystem aufgelöst wird, und unter deren Einfluß Innen- wie Außenpolitik gerät: damit verfallt die staatlich-gesellschaftliche Organisation, in deren Rahmen der Kapitalismus entstanden war, und ohne die er weder seine starken Kräfte entfalten noch überhaupt funktionieren kann. Überall in der Volkswirtschaft macht sich diese Diskrepanz geltend, wie die Betrachtung ihres Gesamtzusammenhangs und auch einzelner Ausschnitte beweist. Insgesamt verwandelt - wie gezeigt wurde - der heranreifende Wirtschaftsstaat allmählich eine exakt geordnete Volkswirtschaft in eine anarchische, die durch die Zerstörung der außenpolitischen Ordnung schwer beeinträchtigt wird. In einer solchen vom Staate her desorganisierten Volkswirtschaft kann höchstens zufallig ein Gleichgewicht auf den Märkten eintreten, in der Regel müssen Disproportionalitäten entstehen, was die Erfahrung nicht nur für den Arbeitsmarkt bestätigt. So vollzieht sich schließlich eine Versumpfung des Kapitalismus. Sie äußert sich in Arbeitslosigkeit, die auch im Aufschwung nicht verschwindet, in Schrumpfung der Produktion bei langfristigem Stilliegen von Anlagen und in Rückbildungen zu älteren, weniger ergiebigen Betriebsformen, die sich u. a. in der Umlenkung von industriellen Arbeitskräften in die landwirtschaftliche Eigenproduktion deutlich zeigen.

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Wie sich auch in einzelnen Ereignissen die geschilderte Diskrepanz geltend macht, beweist der Zusammenbruch der englischen Goldwährung im Jahre 1931. Nicht dadurch ist er herbeigeführt worden, daß der wohlbekannte klassische Mechanismus der Goldwährung von innen her versagte, sondern die staatlich-gesellschaftliche Umgebung, die die Goldwährung braucht, war zerstört worden. Englands Rückkehr zur Goldwährung im Jahre 1925 war angesichts der Höhe seines Preisniveaus im Vergleich zu dem anderer Welthandelsländer nur dann gesichert, wenn die Deflationspolitik fortgesetzt, das englische Preisniveau weiter gedrückt worden wäre. Infolge des gewachsenen politischen Einflusses der Massen war eine solche klassische, in vieler Hinsicht unangenehme, aber bewährte Währungspolitik unmöglich; der Wirtschaftsstaat verhinderte also die Führung einer konsequenten Währungspolitik und brachte das Pfund in Gefahr. Zugleich hatte die außenpolitische Desorganisierung der Welt und das daraus entstehende Mißtrauen zu anomal hohen Anlagen kurzfristiger Kredite in England geführt, bei deren Rückziehung das schwache Pfund zusammenbrach. Innen- und außenpolitische Veränderungen hatten demnach zur Folge, daß in eine Maschine, die in der Vorkriegszeit gut funktioniert hatte, Sand geworfen wurde, worauf sie dann überbeansprucht widerstandslos zusammenbrach. B. Der historische Prozeß, aus dem heraus der heutige Staat und die heutige Wirtschaftsordnung in Mittel- und Westeuropa entstanden sind, ist nur der Teil eines großen weltgeschichtlichen Hergangs, ein Teil der Entwicklung des neuzeitlichen Staats und des neuzeitlichen Kapitalismus überhaupt. Die geschilderten drei Epochen hat die Entwicklung nur in den altkapitalistischen Ländern Europas - und auch hier in verschiedener Weise - durchlaufen. Daneben hat sich eine ungemein starke örtliche Ausdehnung des Kapitalismus vollzogen, die keineswegs schon zum Abschluß gekommen ist, sondern die weite Gebiete - besonders Asiens - noch kaum berührt. Die Welt besteht heute aus altkapitalistischen, vorkapitalistischen und solchen Ländern, in denen sich die Expansion des Kapitalismus gerade vollzieht. Aus diesen Expansionsländem ragen zwei als besonders bedeutungsvoll heraus: die Vereinigten Staaten und Rußland. Beide umfassen riesige Gebiete mit großen Naturschätzen. Aber die Vereinigten Staaten wurden von einer Bevölkerung kolonisiert, die mit kapitalistischer Wirtschaftsgesinnung in das Land kam und sich hier, unbehindert von überkommenem Wirtschaftsdenken und überkommener Wirtschaftsordnung, betätigen konnte. Träger der Entwicklung war also der einzelne Unternehmer, und die Expansion des Kapitalismus vollzog sich hier in liberaler Form. In Rußland aber handelte es sich um ein Agrarland mit alter Geschichte, mit einer Bevölkerung, die hauptsächlich für den eigenen Bedarf, nicht für den Markt produzierte, und die traditionalistisch dachte, wie es Gogol und andere bedeutende russische Schriftsteller dargestellt haben. Die Industriepolitik Peters des Großen hatte keine weittragenden Folgen gehabt. Auch im neunzehnten Jahrhundert blieb die kapitalistische Expansion gering, für deren liberale Form in Rußland - im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten - der Boden fehlte. Erst zu Beginn dieses Jahrhunderts versuchte der Staat entschiedener, vor allem durch die Agrarreform, das Volk wirtschaftlich aufzurütteln. Aber Rußland blieb bis zum Kriege ein im wesentlichen vorkapitalistisches, nur von mehreren kapitalistischen Oasen durchsetztes Land.

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Der Umsturz vom Jahre 1917 und die folgenden Ereignisse, die radikale Beseitigung des bisherigen Staates, die Ausrottung seiner Führerschicht, die antikapitalistische Ideologie der neuen Führer, die Bekämpfung des privaten Unternehmertums haben zu der Auffassung Veranlassung gegeben, daß in Rußland der aufkeimende Kapitalismus vernichtet wäre und eine ganz neuartige Wirtschaftsordnung geschaffen sei. Diese Anschauung ist weit verbreitet, aber falsch. Der Expansionsprozeß des Kapitalismus war in den ersten Revolutionsjahren unterbrochen, aber abgebrochen war er nicht. Die Methoden haben sich geändert, aber die allgemeine Richtung der Entwicklung ist die gleiche geblieben. Zwar erstrebt die neue Führerschicht noch heute mit allen ihren Maßnahmen den Sozialismus. Wirtschaftsgeschichtlich kommt es aber nicht darauf an, was die Wirtschaftspolitik beabsichtigt, sondern was sie tatsächlich bewirkt. Das aber ist heute in Rußland - soweit die russische Politik nicht bloß zerstört, sondern aufbaut gerade die Entfaltung des Kapitalismus. Ein russischer antikapitalistischer Raum besteht in den Meinungen der Menschen, in der Literatur und in Parteiprogrammen, aber nicht in der wirklichen Wirtschaft. Wenn eine radikal antikapitalistisch gesinnte Führerschicht dazu dient, ein im wesentlichen vorkapitalistisches Land in den Kapitalismus hereinzuzwingen, so liegt hierin eine „List der Idee", die in der Geschichte oft genug zutage getreten ist. „Das ist der Irrtum der Menschen, bei großen Erschütterungen und Agitationen, zu viel von persönlichen Absichten zu erwarten oder zu fürchten. Die Bewegung folgt ihrer eigenen großen Strömung, welche selbst die mit sich fortreißt, die sie zu leiten scheinen" (Ranke). Daraus ergibt sich, daß Rußland in seiner heutigen Wirtschaftsordnung gewisse Ähnlichkeiten sowohl mit dem nordamerikanischen Expansionsland wie auch mit altkapitalistischen Ländern Europas in längst vergangenen rnerkantilistischen Zeiten aufweist. Amerika ähnelt es insofern, als in Rußland eine vergleichbare Wirtschaftsgesinnung, eine Expansionsmentalität mit ihrer Verherrlichung der Technik geschaffen worden ist. Ähnlich dem ebenfalls staatskapitalistischen Merkantilismus ist es deshalb, weil in beiden Fällen der Staat versucht, die Wirtschaft aus dem traditionellen Ablauf herauszureißen. Das viel zitierte Wort eines Kameralisten des achtzehnten Jahrhunderts, „daß der Plebs von seiner alten Leier nicht abgeht, bis man ihn bei Nase und Arme zu seinem neuen Vorteile hinschleppe", könnte auch von einem heutigen russischen Wirtschaftspolitiker gesprochen werden. Hier wie dort findet sich die Unabhängigkeit der Regierung vom Volk, die gewaltsame Industrialisierung, das Heranziehen von Fremden, die staatliche Umleitung von Arbeitskräften für die Industrie. Weitere Ähnlichkeiten bestehen ferner in der Handelspolitik. Die Ignorierung der Kostenrechnung im neuen Rußland ist ebenfalls nichts Neues, sondern war ein bekannter Bestandteil der rnerkantilistischen Politik; ohne Rücksicht auf die Kostengestaltung sollen im Lande gewisse Produktionszweige entwickelt werden, wobei natürlich große Kapitalfehlleitungen stattfinden. Insofern bestehen allerdings erhebliche Unterschiede, als die neue russische Politik weit bewußter vorgeht und viel tiefer in die vorkapitalistische Wirtschaft eingreift. Im Unterschied zu ihren rnerkantilistischen Vorläufern kommt sie dadurch zu einer zentralen Planung, die selbst in der russischen, überwiegend vorkapitalistischen Volkswirtschaft schwere Verwüstungen angerichtet hat. Unmerkantilistisch ist auch der Radikalismus, mit dem die Landwirtschaft „industrialisiert", die Investitionen in der

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Industrie betrieben, das industrielle Proletariat vergrößert wird. Die merkantilistische Politik bahnte langsam in Zeiten größter Kulturentwicklung einen neuen Weg für die Wirtschaft, Rußland sucht unter Zerstörung jeder Kultur eine Strecke der wirtschaftlichen Entwicklung nachholend zu durchmessen, die andere Völker schon lange vorher gewandert sind. Die altkapitalistischen Länder sind aber inzwischen in ein völlig anderes Entwicklungsstadium eingetreten; sie befinden sich jetzt nicht in der ersten, sondern in der dritten Epoche des Kapitalismus. Während in Deutschland ein großer kapitalistischer Wirtschaftsapparat nunmehr vorhanden ist, soll er in Rußland erst geschaffen werden; in Deutschland stehen Entwicklungskräfte im Unternehmertum reichlich zur Verfügung - in Rußland fehlt es an solchen. Eine große, hochqualifizierte Arbeiter- und Angestelltenschaft lebt in Deutschland, während in Rußland erst der Versuch gemacht wird, sie heranzubilden. Die Massen üben in Deutschland einen starken Einfluß auf den Staat und seine Wirtschaftspolitik aus, während der russische Staat unabhängig von ihnen ist; der Staat hat in Deutschland durch seinen Interventionismus während der letzten Jahrzehnte die kapitalistische Entwicklung gehemmt, - der Kampf des russischen Staates, den er gegen den Kapitalismus zu fuhren meint, kann nur die Hereinpeitschung einer vorkapitalistischen Volkswirtschaft in den Kapitalismus bewirken. Nicht Deutschland und andere altkapitalistische Länder treiben einem Staatskapitalismus nach russischem Vorbild zu, sondern umgekehrt ist das russische Experiment der Versuch, in die Reihe der kapitalistischen Länder eingereiht zu werden. In einen ungemein komplizierten Wirtschaftsmechanismus, wie er in Deutschland besteht, vom Staate her einzugreifen, muß, wie die Erfahrung lehrt, den Anstoß zu unabsehbaren Störungen geben, und deshalb ist hier die erfolgreiche Durchführung einer zentralen Planwirtschaft ausgeschlossen, während in Rußland die primitive Wirtschaft, vom Staate aufgerüttelt, zwar an sehr vielen Stellen schwersten Schaden leidet, aber immerhin in eine Entwicklung hereingezwungen wird. In den altkapitalistischen Ländern gibt es demnach nur zwei Möglichkeiten der weiteren Entwicklung: Setzt sich unter dem Druck der Massen und dem Beifall planwirtschaftlicher Literaten der Interventionismus fort, so werden die dauernden Fehlleitungen auch fernerhin stattfinden, und bei allgemeiner Verarmung wird eine weitere Versumpfung des Kapitalismus unter Rückbildung zu älteren Betriebsformen erfolgen. Wenn der Staat aber erkennt, wie große Gefahren auch ihm aus der Verflechtung mit der Wirtschaft entstanden sind, wenn er die Kraft findet, sich von dem Einfluß der Massen frei zu machen und sich wieder in irgendeiner Form von der Wirtschaft zu distanzieren, wenn es ferner gelingt, an Stelle des heutigen, durch die Friedensverträge geschaffenen außenpolitischen Chaos ein ausgeglichenes, gesichertes Staatensystem zu setzen, - dann ist auch in den altkapitalistischen Ländern einer kräftigen weiteren Entfaltung des Kapitalismus in neuartiger Gestalt die Bahn geebnet.

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Exkurs: Ideologien Große historische Prozesse sind stets von Ideologien begleitet, die sie als gut und sinnvoll zu erweisen suchen. So ist auch die Umgestaltung des Staatensystems und der inneren Staatsstruktur, deren entscheidende Auswirkungen auf die heutige Situation des Kapitalismus in den altkapitalistischen Ländern wir erkannten, von Ideologien umgeben, die sie rechtfertigen und fördern wollen. Mit diesen Ideologien hat es nun aber eine eigentümliche Bewandtnis. Sie bejahen und befiirworten nämlich Bewegungen, die genau das Gegenteil von dem erreichen, was die Ideologen von ihnen erhoffen. Die Beseitigung der alten Außenpolitik der Kabinette, durch die die politische Ordnung Europas und der Welt zerstört, das Prinzip des Friedens beseitigt, eine völlige Unsicherheit geschaffen worden ist, wurde durch die Demokratisierung der Welt und die damit vollzogene Entfesselung dämonischer Gewalten in den Völkern bewirkt. Diejenigen Ideologen, die nach dem Vorbilde Spinozas die alte Diplomatie und Kabinettspolitik bekämpften, haben genau das Gegenteil erwartet. „Wenn alle Nationen so frei sind wie wir, gibt es keinen Krieg mehr", rief Rollet 1790 unter allgemeiner Zustimmung der Verfassunggebenden Versammlung zu. Sie glaubten an die natürliche Harmonie der Menschen und Völker, an Interessensolidarität und Freundschaft der Nationen, erhofften ewigen Frieden und allgemeine Sicherheit, wenn nur die Völker, in Demokratien organisiert, ihr Geschick selbst leiteten. Die Friedensverträge der Demokratien zur Zeit der französischen Revolution, noch mehr aber des Jahres 1919 haben diese ganze Ideologie als Illusion erwiesen. Auch die Zerstörung des liberalen Staates, die ebenfalls hauptsächlich von den Massen erzwungen wurde und wird, ist von Ideologien begleitet, die sie bejahen und zu befördern suchen, interventionistische Ideologien, die zwar als Zeitsymptome und Reflexe der seelischen, geistigen, politischen und wirtschaftlichen Lage Deutschlands Interesse verdienen - für die im übrigen aber das gleiche gilt. Die Interventionisten wollen entweder Stärkung des Staates oder Ordnung der Volkswirtschaft oder beides; deshalb bekämpfen sie den liberalen Staat und treten für Interventionismus und Wirtschaftsstaat ein, die wiederum genau zum Gegenteil dessen gefuhrt haben und führen, was die Ideologen erstreben: nämlich zur Schwächung des Staates und zur Desorganisation der Volkswirtschaft. Soweit die Planwirtschaftler von der Durchsetzung ihrer Bestrebungen eine Stärkung des Staates erwarten, ignorieren sie die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte. Sie sehen nicht, wie ein Staat, der mit einem so fein gegliederten Gebilde, wie es die moderne Volkswirtschaft ist, verwächst, die Freiheit seiner Bewegung und seiner Willensbildung einbüßt und damit der Gefahr der Auflösung verfällt. Der totale Wirtschaftsstaat würde ein schwacher Staat sein. Viele Interventionisten indessen denken überhaupt nicht an diese politischen Konsequenzen ihrer Bestrebungen; sie verlangen z. B. Eingriffe in den Lohnkampf, als ob der Staat eine unveränderliche Größe wäre, und als ob er und das gesamte politische Leben infolge einer solchen Lohnpolitik nicht tiefgreifende Wandlungen erführen. Wenn die planwirtschaftlichen Ideologen von heute anderseits nicht zu sehen imstande sind, wie der Interventionismus aus einer geordneten Volkswirtschaft ein Chaos macht, wenn sie die Sprache, die die Tatsachen reden, nicht verstehen, und wenn sie meinen, ökonomisch aufzubauen, wo sie lediglich zerstören, so erklärt sich diese Haltung - soweit sie nicht aus der wirtschaftlichen Interessenlage oder aus Affekten allein bestimmt ist - aus zwei Gründen: Erstens bedarf es einer strengen theoretisch-ökonomischen Schulung, um die Ordnung des Wirtschaftsablaufs zu verstehen, die in der freien kapitalistischen Volkswirtschaft bestand, die aber durch die Umgestaltung des Staates zum Wirtschaftsstaat zerstört wurde. Über eine solche Schulung verfügt der Laie nicht, aber auch die meisten Ideologen der Planwirtschaft glauben sie entbehren zu können, und man vermißt sie selbst bei einem so verdienstvollen Wirtschaftshistoriker wie Sombart. Hieraus ergibt sich ein ganzer Katalog von Irrtümern, aus dem einige

24 • Walter Eucken genannt seien: so die Behauptung, es handle sich bei der freien kapitalistischen Volkswirtschaft um eine chaotische, anarchische, planlose Wirtschaft, die der staatlichen Regulierung bedürfe, - während in Wahrheit das Preissystem die Aufgabe erfüllt, die ungemein zahlreichen Wirtschaftspläne der einzelnen Individuen ins Gleichgewicht zu bringen und eine Ordnung von größter Strenge schafft; oder die gerade neuerdings in vielen Schattierungen auflebende Ansicht, die kapitalistischen Volkswirtschaften entbehrten heute des nichtkapitalistischen Raums, in den sie einen Teil ihrer Waren absetzen könnten, und die damit nahe zusammenhängende Anschauung von der Notwendigkeit einer allgemeinen Überproduktion - beides Thesen, auf Grund deren zwar eine Fülle von interventionistischen Forderungen erhoben werden, die aber durch das Saysche Theorem längst widerlegt sind; femer die Meinung, die Konsumenten und die Befriedigung ihrer Bedürfnisse seien im freien Kapitalismus Nebensache, was ebenfalls zu staatlichen Eingriffen Veranlassung geben müsse - während gerade die Konsumenten die produktiven Kräfte mit Hilfe der Preise in die zahlreichen Verwendungen hereinsaugen, was im einzelnen dargestellt zu haben ein großer Verdienst der modernen Theorie ist; weiter die mit diesem Irrtum zusammenhängende schiefe Gegenüberstellung von Erwerbswirtschaft und Bedarfsdeckungswirtschaft, aus der man folgert, der Staat müsse die erstere zugunsten der letzteren beseitigen, - eine Gegenüberstellung, die auf einer Verkennung der Funktion des Erwerbsstrebens in der freien kapitalistischen Volkswirtschaft beruht, logisch widersinnig ist, und durch das Begriffspaar Erwerbswirtschaft - zentral geleitete Wirtschaft (die beide der Bedarfsdeckung dienen) ersetzt werden müßte; weiter die sich neuerdings verbreitende Anschauung, die Kalkulation nach den Kosten sei eine schädliche Marotte des Kapitalismus, die in einer Planwirtschaft beseitigt werden müsse - obwohl man sich über den Sinn der in allen Wirtschaftsordnungen notwendigen Kostenerscheinung leicht in den Werken der modernen Theorie unterrichten kann. Ferner die Meinung, der Außenhandel eines Landes sei ungeordnet und dem Zufall überlassen, wenn er nicht von einer staatlichen Stelle nach einem Plan gelenkt würde - wobei übersehen wird, wie durch die Preismechanismen der miteinander Handel treibenden Länder eine sehr exakte, keineswegs zufällige Regelung des gegenseitigem Austausches erfolgt; endlich der ungemein weit verbreitete Fehler, unerwünschte Folgen des Interventionismus nicht als solche zu erkennen, sondern die Ursachen im freien Spiel der Kräfte zu suchen. Zweitens aber können diese planwirtschaftlichen Ideologen nur deshalb zu ihrer Stellungnahme kommen, weil sie die schlechthin entscheidende Frage ignorieren oder nicht ernsthaft behandeln, ob die Leitung des konkreten Staates mit ihren weitreichenden außen- und innenpolitischen Bindungen überhaupt imstande ist, die überwältigend schwierige Aufgabe der totalen oder teilweisen Zentralplanung in einer modernen arbeitsteiligen Volkswirtschaft durchzuführen. Stillschweigend wird meist ein allmächtiger und allwissender Staat als vorhanden angenommen - also ein Gebilde, das keinerlei Ähnlichkeit mit einem wirklichen Staat besitzt und niemals als ordnende Kraft der Volkswirtschaft tätig sein kann. Verbunden ist hiermit meist die Unkenntnis oder Unterschätzung der unübersehbaren Schwierigkeiten, die einer zentralen Lenkung der geschichtlich gewordenen, höchst verwickelten Volkswirtschaft in den altkapitalistischen Ländern entgegenstehen. Auch in diesem Punkte beweist die planwirtschaftliche Ideologie, daß sie nicht imstande ist, historisch-politische Probleme zu sehen. Es fehlt der Sinn für geschichtliche Tatsachen, es fehlt das strenge ökonomische Denken: Was läßt sich von wirtschaftspolitischen Ideen erwarten, die bei einer Verbindung solcher Mängel entstanden sind?

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1997) Bd. 48

Vorbemerkung der ORDO-Schriftleitung zum Wiederabdruck des folgenden Aufsatzes von Wilhelm Röpke Im Jahre der zweiten Bundestagswahl von 1953 wurde Wilhelm Röpke aufgefordert, zu der damals heftig umstrittenen Frage der sinnvollen Wirtschaftsordnung Stellung zu nehmen. Die Studie sollte als Einleitung zu einem größeren Sammelwerk dienen. Um den Beteiligten einen Eindruck von den Gedanken zu geben, die er beitragen wollte, hat er einen Entwurf angefertigt, der aus unbekannten Gründen nicht verwendet und auch nicht überarbeitet worden ist. An einigen Stellen ist er nur in Stichworten formuliert worden, die aber sachlich völlig eindeutig sind. Zu einer Veröffentlichung nach mehr als vier Jahrzehnten hat sich die Redaktion vor allem aus zwei Gründen entschlossen: Die den Nachgeborenen vielfach als weitgehend problemlos dargestellte Wirtschaftsentwicklung in der Anfangsphase der Bundesrepublik Deutschland ist in Wahrheit eine Zeit zahlloser Schwierigkeiten und heftigen Meinungsstreites gewesen, in der es dem neoliberalen Konzept der 'Sozialen Marktwirtschaft' nur mit Mühen und erheblichen Verwerfungen gelungen ist, sich durchzusetzen. Zum anderen bestehen die meisten Probleme, die Röpke in seinem damaligen Plädoyer aufwirft, unverändert oder in abgewandelter Form fort, und zu den von ihm aufgeworfenen Grundsatzfragen sind heute wie damals Antworten zu finden. Der Text war überwiegend endgültig formuliert; die stichwortartig entworfenen Teile wurden sprachlich ergänzt; geringfügige und meist formale Zusätze und Umstellungen entsprechen der Konzeption des Autors. Die ursprüngliche Einteilung in Abschnittsziffern wurde aufgegeben. Die Überschrift und die Zwischenüberschriften innerhalb der Kapitel wurden von dem Bearbeiter Hans Willgerodt hinzugefugt. Die Zitate entstammen dem Original und wurden überprüft. Es wurde kein Versuch gemacht, den Text zu modernisieren. Vielmehr wird der Entwurf in einem Nachwort von Hans Willgerodt kommentiert.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1997) Bd. 48

Wilhelm

Röpke

Kernfragen der Wirtschaftsordnung Inhalt I. Die Entwicklung und der gegenwärtige Stand der Diskussion 1. Wertgrundlagen der Marktwirtschaft 2. Die Krise des Sozialismus 3. Die marktwirtschaftliche Gegenrevolution 4. Der deutsche Sozialismus auf dem Rückzug II. Das Problem der wirtschaftlichen Ordnung und die Marktwirtschaft 1. Wirtschaftsordnung als Sonderproblem der Gesamtordnung 2. Die doppelte Aufgabe der Wirtschaftsordnung 3. Praktische Anforderungen 4. Die ordnungspolitische Alternative 5. Das Problem der Mischung von Ordnungsprinzipien III. Die Überlegenheit der Marktwirtschaft und das Fiasko der Plan-und Befehlswirtschaft 1. Das Versagen des Kollektivismus als Ordnungsprinzip 2. Das Versagen des Kollektivismus bei der Mobilisierung von Antriebskräften 3. Das Versagen des Kollektivismus vor dem Macht- und Freiheitsproblem 4. Das Versagen des Kollektivismus bei der Sicherung des Geldwertes 5. Das Versagen des Kollektivismus in der internationalen Ordnung IV. Die Voraussetzungen der Marktwirtschaft 1. Geldwertstabilität 2. Wettbewerb 3. Maßvolle Besteuerung 4. Die Untemehmerleistung 5. Dominanz des marktwirtschaftlichen Prinzips V. Unteilbare Freiheit Literatur Zusammenfassung Summary: Basic Problems of the Economic Order

28 28 29 31 34 37 37 40 41 42 45 45 46 47 48 48 50 50 50 50 54 55 59 59 62 63 64

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I. Die Entwicklung und der gegenwärtige Stand der Diskussion 1. Wertgrundlagen der Marktwirtschaft Es ist eine der vornehmsten Aufgaben dieser Gesamtstudie, von dem wirtschaftspolitischen Tagesgespräch mit seinen notwendigerweise wechselnden Themen kurzfristiger Bedeutung und seiner Zersplitterung auf Einzelpunkte gehörigen Abstand zu nehmen und dafür zweierlei zu tun, was in der laufenden Diskussion in einer oft verhängnisvollen Weise zu kurz kommt: 1) die prinzipiellen Gesichtspunkte langfristiger Natur hervorzuheben und 2) die Einzelprobleme als Teile einer zusammenhängenden Gesamtaufgabe darzustellen: der Ordnung einer Gesellschaft freier Menschen in allen ihren sich wechselseitig bedingenden Teilbereichen der Wirtschaft, des Staates, der vitalen Existenzformen und des geistigen Lebens. Sie wendet sich dabei an diejenigen, die, unbeschadet der Schattierungen ihrer politischen Überzeugungen, diese Aufgabe nicht nur - im Gegensatz zu den Anhängern eines wie immer gearteten Totalitarismus - bejahen, sondern in ihr den eigentlichen Sinn des Selbstbehauptungskampfes sehen, den die westliche Welt gegen das kommunistische Imperium des Ostens zu bestehen hat. Die Studie setzt also als gemeinsame Basis das Bekenntnis zu dieser westlichen Welt mit ihren der antik-christlichen Überlieferung entspringenden Wertskalen voraus, was bedeutet, daß die nur in Freiheit mögliche sittliche Persönlichkeit des Einzelmenschen das oberste Ziel sein muß, an dem alles andere als hemmend oder fordernd zu messen ist. Entscheidend ist also letztens, was wir von der Stellung des Menschen im Universum denken, genauer gesagt, ob wir ihn oder die 'Gesellschaft' zum sinngebenden Element machen. Das ist die eigentliche Wasserscheide des gesamten politischen Denkens, die durch letzte religiös-philosophische Überzeugungen bestimmt ist, auch wenn wir uns dessen nicht immer klar bewußt sind. Dieser letzte Ausgangspunkt ist besonders wichtig, wenn wir den Verwirrungen betont christlicher Kreise entgegentreten wollen, die aus christlicher oder humanistischer Überzeugung mit dem Sozialismus sympathisieren und glauben, daß hier ihre Grundüberzeugung vom Vorrecht des Menschen gegenüber jeder ihn einengenden Gewalt die beste Erfüllung fände, aber nicht sehen, daß sie damit eine Ordnung der Gesellschaft und Wirtschaft begünstigen, die ihr eigenes (und unser) Ideal vom Menschen und seiner Freiheit zu zerstören droht. Wenn sich die Studie im wesentlichen mit den handfesten Fragen der wirtschaftlichen Ordnung befaßt, so sollte doch von vornherein kein Zweifel daran gelassen werden, auf welcher Ebene wir den Kampf um eine freie Wirtschaft gegen die sozialistischen Strömungen unserer Zeit zu fuhren gedenken. Wir dürfen uns nicht dem Verdacht aussetzen, als ob wir auch nur einen einzigen Augenblick auf den seltsamen Gedanken verfallen könnten, im Namen von 'Angebot' und 'Nachfrage' und unter dem Banner 'freier Preise', 'freier Konkurrenz' oder 'freien Unternehmertums' den großen weltgeschichtlichen Selbstbehauptungskampf des Abendlandes durchzufechten. Natürlich geht es im letzten um ganz andere und höhere Dinge, nämlich um den freien Menschen schlechthin, um echte Gemeinschaft, um die Entfesselung der Initiative auf allen Gebie-

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ten, um handfeste Gerechtigkeit, um Fülle und Breite eines freien, freudigen und dem Menschen gemäßen Daseins, um menschliche Werte und menschliche Wärme und um den weiten geistigen Horizont, der das alles umschließt. Nur weil die Marktwirtschaft uns als ein schlechthin unentbehrliches Mittel für diese letzten Ziele erscheint, setzen wir uns für sie mit sorgfaltiger Begründung ein - nicht ohne zugleich zu betonen, daß sie ein solches Mittel nur für den besonderen, wenn auch entscheidend wichtigen Bereich der wirtschaftlichen Ordnung sein kann, nicht aber ein Dietrich, der alle Türen öffnen soll, da die Gesellschaft als Ganzes natürlich nicht auf Wettbewerb und dem Gesetz von Angebot und Nachfrage aufgebaut werden kann. Nur in diesem Geiste, auf dieser Ebene und mit diesem Blick auf das Wesentliche sind wir Fürsprecher der freien Marktwirtschaft und dürfen wir es sein. Darin liegt eine nicht minder dringende Mahnung an die anderen, die aus Erziehung, Denkgewohnheiten, sozialer Lage, parteipolitischem Doktrinarismus oder mangelnder Vertrautheit mit den hier zu durchdenkenden wirtschaftlichen Fragen es schwer finden, ihre Abneigung gegen eine freie Wirtschaft zu überwinden und den Weg vernünftiger Abwägung zu betreten. Auch sie müssen sich entschließen, über den Bereich enger Betrachtungen hinaus zu denken und zu erkennen, was heute auf dem Spiele steht: die Gesellschaft freier Menschen. Wir haben nun zum mindesten durch schmerzlichen Anschauungsunterricht gelernt, daß davon die freie Wirtschaft nicht zu trennen ist.

2. Die Krise des Sozialismus Niemand kann mehr vorgeben, daß er nicht wüßte, wohin die sozialistische Verdrängung, Lähmung und schließlich Zerstörung der Marktwirtschaft fuhrt. Alle - außer den Kommunisten und ihren Mitläufern - sind sich ja darüber einig, daß der Kommunismus uns täglich in entsetzlicher Eindringlichkeit vor Augen fuhrt, worin das Gegenteil freier Wirtschaft besteht und was ein kollektivistisches Wirtschaftssystem für die elementarsten Bedingungen einer lebenswerten Existenz und freier Menschlichkeit gerade für die Massen des Volkes bedeutet. Planwirtschaft und Sozialisierung enthüllen sich jedem dort als wesentliche Bestandteile gerade des furchtbarsten und unentrinnbarsten Herrschaftssystems aller Zeiten, eines Herrschaftssystems, das dadurch um so unerträglicher wird, daß die Befriedigung des Machthungers einer kleinen Gruppe sich mit diabolischer Propaganda auf die dort gerade völlig vernichteten Ideale der Freiheit, der Demokratie, des Volkswillens und des Massenglücks beruft. Das, was bisher wesentlicher Gehalt des Programms gewesen ist, das man überall als das sozialistische verstanden hat und als solches von den Sozialisten auch so verstanden worden ist, nämlich Planwirtschaft und Sozialisierung, erweisen sich also dort im Bereiche der totalen Realisierung dieses Programms als die eigentlichen Säulen einer unerhörten Verknechtung des Menschen. Sie entschleiern damit ihr wahres Gesicht und erteilen einen Anschauungsunterricht, der alle Bücher und Theorien übertrifft. Wir sehen nun das Wesen der freien und der unfreien Wirtschaft mit allen Folgen im wahren Lichte. Es ist unbestreitbar, daß sich damit die Perspektiven und Positionen der Diskussion um Sozialismus und Kapitalismus radikal verschoben haben. Ein ganzes Arsenal an

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Vorstellungen und Schlagworten ist damit im Grunde entwertet worden, und kein Sozialist kann im Grunde mehr über sein historisches Programm, über Sozialisierung und Planwirtschaft, so reden, mit der Aggressivität, dem guten Gewissen und dem missionarischen Geist des zur Menschheitserlösung Berufenen, wie er es noch vor einigen Jahrzehnten getan hat. Er ist in die Defensive und in die Verlegenheit des programmatisch sich Mausemden gedrängt; zum mindesten lebt er nicht mehr von der entlarvten Stärke seines Ideals, sondern von den Schwächen und ungelösten Problemen der westlichen Freiheitsordnung. Natürlich steckt sehr vielen Sozialisten des Westens noch immer eine innere Hinneigung zum kommunistischen Programm im Blute. Es fällt manchen außerordentlich schwer, von dem zertrümmerten Idol Abschied zu nehmen. Das zeigt sich unter anderem darin, daß sie diese alte Liebe dort offen und mit geradezu hörbarem Aufatmen bekennen, wo sie es ohne Sorge um eine außenpolitische Kompromittierung tun können und eine gewisse Aufweichung und Vermenschlichung des kommunistischen Systems das Bekenntnis erleichtert. Das ist der Dienst, den diesem - wahrscheinlich sehr verbreiteten - Typus des Sozialisten heute Tito und sein kommunistisches Regime in Jugoslawien leisten, ein Dienst, der sozusagen unter dem Motto steht: 'Hier bin ich Kommunist, hier darf ich's sein'. Wenn je sich die - wahrscheinlich trügerischen Hoffnungen, die manche Kreise auf eine titoistische Wandlung Mao-Tse-Tungs setzen, erfüllen sollten, so würde sich gewiß die Entschlossenheit weitester Kreise des westlichen Sozialismus, alle Schrecken und Bestialitäten des chinesischen Kommunismus um des wirtschaftlich-sozialen Programms willen zu ignorieren oder gar zu beschönigen, in einem erschreckenden Umfange zeigen. Im ganzen aber bleibt es wahr, daß die höchst kompromittierende und in keiner Weise mehr zu verheimlichende oder zu beschönigende Realität des russischen Kommunismus die Diskussion auf eine völlig neue Grundlage gestellt hat, da sie das historische und den eigentlichen Elan dieser Bewegung erklärende Programm des Sozialismus höchst fragwürdig gemacht hat. Daß der revolutionärintegrale Sozialismus der Kommunisten und der 'demokratische' Sozialismus im wesentlichen die gleiche geistige Ahnenreihe aufweisen, ist ein weiterer, wenn auch weniger wichtiger Gegenstand der Verlegenheit. Damit ist einer der wichtigsten Gründe für die „Krise des Kollektivismus" genannt (vgl. Röpke 1947a und 1950b, Kapitel IV; Mosca 1947/1950). Diese Krise bedeutet Apologetik statt Enthusiasmus, Aggressivität und Missionsgeist, um vor allem nachzuweisen, daß, was für den revolutionären, 100%igen Kollektivismus zwar endlich anerkannt werden muß, nicht für den graduellen, evolutionären, (100-n)%igen Kollektivismus gilt. Darauf hat sich ein wesentliches Stück der zeitgenössischen Diskussion zugespitzt. Hinzu kommt nun, daß sich im Westen zweierlei ereignet hat: Die nicht mehr zu verschleiernde Passivbilanz des in Großbritannien, Schweden und - im Extrem - in Norwegen entwickelten Typus des mehr oder weniger kollektivistisch-inflationären Systems der Wirtschaftspolitik und andererseits die ebenso eindrucksvolle Aktivbilanz des marktwirtschaftlich-nichtinflationären Systems, vor allem in Westdeutschland. Beides bedeutet äußerste Verlegenheit für den zeitgenössischen Sozialismus des Westens und eine außerordentliche Chance für die Anhänger des marktwirtschaftlich-nichtinflationären Kurses, eine Chance, die freilich voraussetzt, daß die letzteren die noch ungelösten Probleme um so ernster nehmen und nicht blind sind gegenüber der Gefahr einer bloßen

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stumpfen Bürokratisierung des Wirtschafts- und Soziallebens und einer gleichzeitigen Wucherung von Gruppeninteressen (einschließlich vor allem der Gewerkschaften), die beide sich hinter einer damit immer mehr zur Fassade werdenden 'Marktwirtschaft' zu vollziehen drohen und dem Sozialismus den doppelten Vorteil frohlockender Kritik an zunehmenden Funktionsstörungen der Marktwirtschaft und der Möglichkeit eines 'Ersatzsozialismus' bieten können. Die deroutierende Wirkung der Passivbilanz des experimentellen Sozialismus ('Vollbeschäftigungs'-Sozialismus vom Typus des Laboursozialismus) ist bekannt und kommt vor allem in der schonungslosen Selbstkritik sozialistischer Intellektuellenkreise ('New Fabian Essays' u.a.) drastisch zum Ausdruck. Diese Passivbilanz nimmt dem evolutionären ('demokratischen') Sozialismus das 'Land der Verheißung', das an die Stelle des zertrümmerten russischen Idols getreten war. Die Passivbilanz besteht aus drei Hauptdebetposten: Den völlig desillusionierenden Erfahrungen der Sozialisierungen, der nicht mehr zu verschleiernden und nicht mehr weiter zu ertragenden Inflationswirkung dieses 'linken' Kurses und der dadurch hervorgerufenen Zahlungsbilanzkrise, die durch die Marshall-Hilfe Jahre hindurch hinausgeschoben werden konnte. 3. Die marktwirtschaftliche Gegenrevolution Die Aktivbilanz der 'neuen Marktwirtschaftvor allem der deutschen, hat auf die internationale Diskussion um die Wirtschaftsordnung eine außerordentliche Wirkung ausgeübt, von der man sich innerhalb Deutschlands vielleicht nicht immer genügend Rechenschaft gibt. Um ganz zu erkennen, was die bloße 'Politik des Gegenteils' und mehr noch ihr über alle düsteren Prophezeiungen triumphierender Erfolg für die internationale Position des Sozialismus bedeutet, muß man sich erinnern, daß einer der Hauptgründe für den Vormarsch des Sozialismus seit einem Jahrhundert der Mythos seiner historischen Notwendigkeit gewesen war. Die der geistigen Trägheit des Durchschnittsmenschen entgegenkommende werbende Kraft dieses Mythos mußte sich natürlich vervielfachen, wenn der 'Tag der Erfüllung' herbeigekommen zu sein schien. Es ist schwer, der Anziehungskraft einer Idee zu widerstehen, die nicht nur im Weltplan der Geschichte zum Siege bestimmt ist, sondern diesen Sieg bereits errungen zu haben scheint. Genau das aber war die Situation nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Es hatte sich überall in Europa - und zum nicht geringen Teil auch in den überseeischen Ländern - jene charakteristische, im Dienste von 'Planwirtschaft' und 'Vollbeschäftigung' stehende Mischung von expansionistischer Kreditpolitik und den Preismechanismus lahmlegender Zwangswirtschaft als ein mannigfach abgewandelter Typus durchgesetzt, dem sowohl die von (weitgehend mißverstandenen) Keynesschen Ideen gespeiste 'Neue Ökonomie' wie die Erbschaft des Krieges und der Kriegswirtschaft zum Siege verholfen hatten. Dieses Ergebnis war aber außerdem von dem Mythos gespeist worden, daß der Sieg der Alliierten über die 'faschistischen' Länder, insbesondere über das nationalsozialistische Deutschland, der Sieg einer 'antifaschistischen', d.h. vorwiegend sozialistisch-progressistischen Front gegenüber einer als ultrakonservativ, 'reaktionär' und 'monopolkapitalistisch' mißverstandenen Machtgruppe sei. In diese 'anti-

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faschistische' Front wurde das totalitäre Rußland ebenso blind und krampfhaft eingeschlossen, wie man aufs heftigste gegen den Nachweis reagierte, daß der Nationalsozialismus in einem zum mindesten technischen Sinne zusammen mit Sowjetrußland den geradezu klassischen Fall eines ausgebildeten 'Sozialismus' liefert und auch geistig mehr als einen Ahnherren mit dem 'demokratischen' Sozialismus gemeinsam hatte. Der Haß, den sich Autoren wie Hayek und Röpke damals zuzogen, erklärt sich weitgehend daraus, daß sie die Taktlosigkeit besessen hatten, diesen Beweis zu fuhren und damit den Mythos zu zerstören, der die Nachkriegszeit charakterisiert hat. In Europa triumphierte zunächst ein Linkskurs der Wirtschaftspolitik, der durch eine (im einzelnen viele Kombinationen aufweisende) Verbindung eines Systems planwirtschaftlicher ('nichtkonformer', d.h. die Wirkung des Preismechanismus aufhebender oder störender) Eingriffe mit einer Politik des 'konstanten Inflationsdrucks' ('Vollbeschäftigung', 'BilligGeld-Politik', 'Planung der Kreislaufgrößen und der Zahlungsbilanz') charakterisiert ist. Danach ermißt man, was es bedeutete, daß nach und nach inmitten dieses dominierenden Systems eine Ländergruppe emportauchte, die den Mut hatte, genau den entgegengesetzten Kurs zu steuern. Dieser Kurs geht darauf aus, die Volkswirtschaft möglichst rasch von den planwirtschaftlich-inflationären Vermächtnissen des Krieges zu befreien und eine folgerichtige und möglichst widerspruchsfreie Wirtschaftsordnung wiederherzustellen, die im Rahmen einer 'neutralen' (Inflation wie Deflation in gleicher Weise vermeidenden) Geld- und Kreditpolitik die Steuerung des Wirtschaftsprozesses den freien Kräften des Marktes, der Preismechanik und dem Wettbewerb anvertraut und die dynamischen Energien freier Unternehmerinitiative entbindet. Diese Länder haben mit anderen Worten den Triumph des kollektivistisch-inflationären Kurses und seiner von der modischen 'Neuen Ökonomie' gespeisten Ideologie mehr und mehr in Frage gestellt, indem sie der Politik der „zurückgestauten Inflation" (genaueres bei Röpke 1947b und 1947c) die nichtinflationäre Marktwirtschaft entgegengesetzt haben. Sie sind damit dem Beispiel der Schweiz gefolgt, die im Gegensatz zu Schweden unter den neutralen und vom Krieg verschont gebliebenen Ländern dem Kurs der nichtinflationären Marktwirtschaft treu geblieben war, mit der Folge, daß sie von Krankheitserscheinungen der 'passiven Zahlungsbilanz', der 'weichen Währung' und der volkswirtschaftlichen Gleichgewichtsstörung verschont geblieben ist, die Schweden heimgesucht haben (zur Illustration des berühmten Wortes von Professor D.H. Robertson [1947, 434] über 'balance of payments difficulties' „... that any nation which gives its mind to it can create them for itself in half an hour with the aid of the printing press and a strong trade union movement"). Der Kern dieser Länder, die sich an das übriggebliebene Muster der Schweiz anlehnten, begann mit Belgien, dem es durch Rückkehr zur nichtinflationären Marktwirtschaft in wenigen Jahren gelang, seine Volkswirtschaft im Inneren und nach außen ins Gleichgewicht zu bringen und das Problem der Zahlungsbilanz praktisch zu lösen. Er erweiterte sich 1947 durch Italien, wo sich - unter starkem Einfluß der in italienischen Übersetzungen verbreiteten Schriften Röpkes, die den Ideen des damaligen Gouverneurs der Banca d'Italia, Professor Einaud entsprachen - zum ersten Male das Ideengut des 'Neoliberalismus' mit seinem offensiven und konstruktiven Alternativprogramm gegenüber dem triumphierenden Kollektivismus praktisch geltend machte. Der entscheidende Durchbruch erfolgte indessen erst, als Westdeutschland 1948 unter Füh-

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rung Erhards und mit Unterstützung Vockes nicht nur die Liquidation des bankrotten kollektivistisch-inflationären Systems energisch und mit geradezu dramatischem Erfolg vollzog, sondern darüber hinaus den Wiederaufbau der Marktwirtschaft im Zeichen eines den Ideen des 'Neoliberalismus' entsprechenden konstruktiven und den berechtigten Teil der sozialistischen Kritik wirksam entwaffnenden Programms in Angriff nahm. Dafür setzte sich der von Müller-Armack geprägte Ausdruck „Soziale Marktwirtschaft" durch. Die Grundzüge dieses Programms mit seinen (zum Teil noch ungelösten) Problemen sind in Röpke s Gutachten für die deutsche Bundesregierung dargestellt, eingeleitet durch ein Vorwort des Bundeskanzlers Adenauer (Röpke 1950a). Ein französischer Autor, André Piettre (1952), hat das Gutachten als „le code de l'économie néoliberale appliquée à l'Allemagne occidentale" bezeichnet. Daß es das kriegsverheerte, besiegte, durch ein Jahrzehnt 'zurückgestauter Inflation' ausgelaugte, verstümmelte und mit Flüchtlingen vollgestopfte Westdeutschland war, das nicht nur den Mut hatte, dem Triumph der kollektivistisch-inflationären Politik in Europa mit Konsequenz und einem vorwärtsstrebenden nicht restaurativen Programm entgegenzutreten, sondern außerdem noch die Taktlosigkeit besaß, damit einen schließlich nicht mehr hinwegzudisputierenden Erfolg geradezu dramatischer Art zu erzielen und dies zu einer Zeit, da der Mißerfolg des 'linken' Kurses im übrigen Europa immer offensichtlicher und ernster wurde - das war eine unerhörte Herausforderung und mehr als alles andere geeignet, den bereits zum Dogma gewordenen Mythos vom geschichtsnotwendigen und schließlich sich vor unseren Augen vollziehenden Triumph des Sozialismus zu erschüttern. Der Grad dieser Erschütterung ist an dem geradezu verzweifelten Charakter der es bald so, bald anders probierenden Versuche abzulesen, die Beweiskraft des 'Deutschen Experiments' zu erschüttern. Alles verbündete sich - die den kollektivistisch-inflationären Ideen tendenziös huldigende Economic Commission for Europe in ihren Jahresberichten, die Sozialisten aller Länder, die Gewerkschaften, die Korrespondenten führender amerikanischer Zeitungen, die 'Progressisten' innerhalb der alliierten Verwaltung in Deutschland, ja sogar bis vor kurzem ein so ernstes Blatt wie der Economist -, um bald die Tatsachen des deutschen Erfolges der Marktwirtschaft zu verdrehen oder anzuzweifeln, bald ein düsteres Ende zu prophezeien, bald das deutsche Wirtschaftsregime für die Arbeitslosigkeit oder andere Sorgen und Probleme verantwortlich zu machen, die noch weniger mit der gewählten Ordnung zu tun haben. Es gab eine regelrechte 'ökonomische Greuelpropaganda' gegen die marktwirtschaftlich-nichtinflationäre Kerngruppe Europas, und je mehr der deutsche Erfolg die Aufmerksamkeit auf sich zog, um so mehr wurde dieses Störungsfeuer auf diesen unbequemsten Fall gerichtet 1 . Das entscheidend Wichtige ist es nun, daß 1952 der Erfolg der deutschen Wirtschaftspolitik, bereits für sich genommen, so handgreiflich wurde und sich zugleich so beweiskräftig vom nicht mehr zu verschleiernden Mißerfolg der Länder des 'linken' Stils der Wirtschaftspolitik abhob, daß die Taktik der systematischen Herabsetzung aufgegeben werden mußte. Der Economist und andere führende Organe des Auslandes entdecken geradezu das deutsche 'Experiment' als Vorbild, und die die deutsche Politik 1

Zur tendenziösen Kommentierung der westdeutschen Wirtschaftspolitik durch die Economic Commission for Europe cf. vor allem die erbarmungslose Kritik durch J.Herbert Furth (1952, 652 f f ) .

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leitenden Prinzipien werden zu allgemein akzeptierten Einsichten. Dänemark, Österreich, die Niederlande und, wenn auch zögernd, Großbritannien treten mit Erfolg und unter deutlichem Einfluß des deutschen Exempels in die Kerngruppe ein, und wenn Frankreich nach wie vor die Hauptsorge Europas bleibt, so nicht wegen mangelnder Einsicht, sondern wegen der Verwirrungen der Innenpolitik, die jeden klaren Kurs nahezu unmöglich machen, solange die Verfassung von 1944 in Kraft bleibt. Natürlich fuhrt die geschlagene kollektivistisch-inflationäre Gruppe verbissene Nachhutgefechte, das verbissenste in Norwegen. Aber selbst die sozialistisch-keynesistische Economic Commission for Europe muß in ihrem „Economic Survey of Europe since the War" (Februar 1953) eine schlechtgelaunte und noch einmal die alten Schlagworte aufwärmende Betrachtung über Westdeutschland mit der Zusammenfassung schließen: „Until 1952, western German policy was extraordinarily successful in terms of production. Western German business-men showed a confidence in the future possibilities of expansion which contrasted sharply with the attitude demonstrated in several other countries. As a result, they have been able partly to rebuild eastern German industry in the west, so that the industrial capacity of the country is now probably in better shape than ever before, in spite of the failure to use the investment resources to the best advantage" (S. 75).

4. Der deutsche Sozialismus auf dem Rückzug Dieser Reaktion des Auslandes entspricht die innerdeutsche vielleicht noch in stärkerem Maße, weil es hier unmittelbar vor den Tatsachen noch schwerer als draußen ist, der Evidenz und ihrem Eindruck auf die weiten Schichten der Bevölkerung auszuweichen. Der Stand der innerdeutschen Auseinandersetzung, der die Anwälte der Marktwirtschaft Rechnung tragen müssen, ist vor allem durch zwei Arten der Reaktion gekennzeichnet. Einerseits nehmen die nicht aufgegebenen Bemühungen, die Beweiskraft der Tatsachen zu entkräften, mit den immer evidenteren Leistungen der Marktwirtschaft einen so verzweifelt, ja unwürdig demagogischen Charakter an, daß sie einer uneleganten Kapitulation gleichkommen 2 . Andererseits aber zeigt sich im sozialistischen Lager (Dortmunder Programm und noch deutlicher auf der jüngsten wirtschaftspolitischen Tagung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands Ende Februar 1953) die immer deutlichere Tendenz, Frontalangriffe gegen die Marktwirtschaft als zu verlustreich und aussichtslos einzustellen und ihrem Erfolg dadurch den Tribut zu entrichten, daß in mehr oder weniger ernst zu nehmenden Varianten eine marktwirtschaftlich-sozialistische Kompromißform entwickelt wird, die es erlaubt, der 'neoliberalen' Marktwirtschaft eine 'linke' Marktwirtschaft entgegenzustellen. Es findet hier also eine Umgruppierung der Kräfte statt, die die Fronten der Auseinandersetzung verschiebt und die Vertreter der 'neoliberalen' Marktwirtschaft veranlassen muß, ihre eigene Position neu zu definieren. Diese veränderte Lage erfordert sorgsame Erwägung. Zeichnet sich jetzt etwa zunehmend die Möglichkeit ab, den Streit um Marktwirtschaft, d.h. um die durch den Preismechanismus und den Wettbewerb gesteuerte Wirtschaftsordnung, als siegreich beendet zu be2 Erich Welter (1952; 1953) hat sich mit den verschiedenen Spielarten dieser sozialistischen Verlegenheitstheorien ausgezeichnet auseinandergesetzt.

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trachten und eine Konzeption ('Dritter Weg'?) der Wirtschaftspolitik zu gewinnen, die an die Stelle des prinzipiellen Streites nur noch eine Auseinandersetzung um Randfragen setzt ('Ordnung' des Wettbewerbs, 'Steuerung' der Kapitalbeschaffung und Kapitalverwendung, Beschäftigungspolitik u.a.)? Ist es also überhaupt noch notwendig, die Grundsätze der Marktwirtschaft gegenüber einer wesentlich kollektivistisch-inflationären Wirtschaftskonzeption überzeugend darzulegen, oder heißt das in der gegenwärtigen Phase der Diskussion 'einen toten Esel verprügeln'? Handelt es sich mithin nur noch um mehr oder weniger verschleierte Rückzugsgefechte, während die Marktwirtschaft als solche endlich als gemeinsame Plattform, die einen großen Teil der früheren Gegner einschließt, vorausgesetzt werden könnte? Oder aber verdecken umgekehrt die zunehmenden Konzessionserklärungen ein bloßes taktisches Manöver, das wesentlich sozialistische Positionen gegen den politisch gefahrlich gewordenen Verdacht schützen soll, daß eine Abkehr von der nun bewährten Marktwirtschaft beabsichtigt sei? Geht es um zwar ehrlich gemeinte Einsichten, die aber einen der Marktwirtschaft auf die Dauer um so gefährlicheren Kernbestand sozialistischer Absichten bestehen lassen? Diese Fragen deuten die Richtung an, in der eine Besinnung für die weitere Diskussion notwendig ist. Eine wohlabgewogene Antwort dürfte folgende Punkte hervorheben müssen: a) Im Falle vieler früherer Gegner der Marktwirtschaft bedeutet das Abschwören der Absicht, die marktwirtschaftliche Ordnung durch eine kollektivistische (zwangswirtschaftliche) zu ersetzen, und die endliche Anerkennung der unentbehrlichen und als heilsam erwiesenen Steuerungsfunktion freier Preise und Märkte gewiß eine ehrliche Bekehrung, wenn es auch menschlich begreiflich ist, daß die Kapitulation nach außen hin in der Regel nicht offen eingestanden, sondern der Anschein erweckt wird, als ob es sich nicht um eine neue Einsicht handelt. Das ist ein Fortschritt, dessen Bedeutung kaum überschätzt werden kann, und selbst wenn es sich nur um Lippenbekenntnisse handeln sollte, sind sie doch Verbeugungen vor einem allgemeinen und klugerweise in die politische Taktik eingesetzten Fortschritt der Einsicht. b) Selbst wenn diese Bekehrung ehrlich und mit einem Minimum von Einschränkungen belastet ist, zwingt sie zu dem Schluß, daß es allen Regeln menschlicher Erfahrung und Einsicht widersprechen würde, die Fortfuhrung und Verbesserung einer Wirtschaftsordnung gerade denjenigen anzuvertrauen, die die letzten gewesen sind, ihre Funktionen und ihre Überlegenheit zu begreifen, nachdem sie sie noch bis vor kurzem erbittert bekämpft haben, während die ihnen politisch am nächsten Stehenden in dieser Bekämpfung halsstarrig fortfahren. Die Anerkennung der Marktwirtschaft durch ihre Gegner von gestern liefert vielmehr den stärksten Grund, das Mandat derjenigen, die diese endlich als richtig erkannte Marschrichtung von Anfang an bestimmt, damit ihre überlegene Einsicht bewiesen und in dieser Marschleitung unersetzliche Erfahrungen gesammelt haben, nur um so eindeutiger und kräftiger zu bestätigen. c) Abgesehen davon, daß von einer wirklichen Bekehrung, auch nur zu den unerläßlichen Prinzipien der Marktwirtschaft, nur von einem Teile der Worthalter des Sozialismus und auch nur in unterschiedlichen Graden gesprochen werden kann, muß sehr kritisch geprüft werden, welches die wahre Tragweite einer Anerkennung der 'Marktwirtschaft' ist. Es ist vortrefflich, wenn heute mehr und mehr vorausgesetzt werden kann,

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daß jeder Rückfall in 'Zwangswirtschaft', 'Zentralverwaltungswirtschaft' und 'bürokratische Lenkung' von einer erfreulich breit gewordenen Schicht aus wirtschaftlichen und politisch-moralischen Gründen abgelehnt wird. Um so sorgfältiger aber ist zu untersuchen, welche die wahre Tragweite der Formen und Maßnahmen ist, die in gleichem Atem vorgeschlagen zu werden pflegen. Um so überzeugender sollte es daher auch wirken, wenn nachgewiesen werden kann, daß diese 'neuen' Formen der Marktwirtschaft eben zur Hintertür das Verabscheute wieder hereinlassen, daß sie die Marktwirtschaft in gefährlichster Weise stören und ihre Leistungen herabsetzen und daß die Unbekümmertheit, mit der sie empfohlen werden, beweist, wie wenig das Problem der wirtschaftlichen Ordnung im allgemeinen und die Wirkungsweise der Marktwirtschaft im besonderen noch immer verstanden werden. Zusammenfassend ist also folgendes zu sagen: Die Diskussion hat in ihrer Entwicklung einen Punkt erreicht, an dem die Vertreter der Marktwirtschaft zwar mit Genugtuung die überzeugende Wirkung ihrer Leistungen auf bisherige Gegner bis zu einem erfreulichen Grade feststellen können. Aber das bedeutet, selbst unter den günstigsten Umständen, vielfach nur ein Ausweichen auf neue Reformideen, die auf ihre Vereinbarkeit mit der Marktwirtschaft sehr kritisch zu prüfen sind. Statt Frontalangriffen geht man zu gefahrlichen Umgehungsmanövem über, vor allem in der Form, daß der entscheidend wichtige Sektor der volkswirtschaftlichen Kapitalbeschaffung und Kapitalverwendung nicht nur in seiner gegenwärtigen halbkollektivistischen Form belassen, sondern sogar noch entschiedener einem kollektivistischen Regime unterstellt werden soll. Im Durchschnitt besagt das Bekenntnis zur Marktwirtschaft keineswegs, daß das Problem der wirtschaftlichen Ordnung in seinem zusammenhängenden und keine inneren Widersprüche zulassenden Charakter wirklich verstanden worden ist. Es bleibt nicht zuletzt die hartnäckige Verkennung der Funktionen der Unternehmer und ihrer Voraussetzungen. Es bleibt der Hang, gegenüber jedem Problem in die behördliche Regelung zu flüchten und hinter der Fassade der Marktwirtschaft die beunruhigende Entwicklung zur weiteren bürokratischen Erstarrung bewußt oder unbewußt voranzutreiben. Es bleibt die Neigung, dem Staate im Namen des extremen Wohlfahrtsstaates und der staatlichen Investitionspolitik immer neue Gelegenheiten zu Ausgaben zu verschaffen und den entsprechenden Steuerdruck eigentums- und untemehmungsfeindlich zur Nivellierung nach unten zu benutzen (Fiskalsozialismus). Es bleiben die Gewohnheit des feindseligen und wirtschaftlich unüberlegten Mißtrauens gegenüber dem Beteiligungs- und Unternehmungskapital (Kampf gegen die Aktie und den freien Kapitalmarkt), das soziale Ressentiment, die Blindheit gegenüber der monopolistischen Übermacht der Gewerkschaften und verwandter 'Sozialmacht' und die von alledem inspirierte Sozialpolitik alten Stils, aber modemer Übersteigerung. Es bleiben die Abneigung, mit der Ordnung des Außenhandels durch Devisenbefreiung und ihren innerwirtschaftlichen Voraussetzungen wirklich Emst zu machen, und dafür die Vorliebe, die Sackgasse, in die der kollektivistisch-inflationäre Kurs die internationale Wirtschaft gebracht hat, statt durch internationale Marktwirtschaft auf dem Wege der internationalen Planwirtschaft zu überwinden. Es bleibt ein 'Jakobinismus', der in Dezentralisierung, Individualisierung und Pluralismus fortschrittsfeindliche Tendenzen erblickt und das Heil in Kollektivierung, Zentralisierung und Massenorganisation sucht. Es bleibt schließlich eine verhängnisvol-

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le soziologische Blindheit, die bestenfalls bereit ist, in beinahe widerwilliger Anerkennung eines nicht mehr zu widerlegenden Erfahrungsbeweises die Marktwirtschaft innerhalb enger Schranken der Preis- und Wettbewerbsfreiheit als ein bloß technisches Hilfsmittel in ein im übrigen durchaus mechanistisch begriffenes Gesamtsystem der Gesellschaft und Wirtschaft einzubauen. Dies geschieht, ohne die Zuordnungsverhältnisse zu erkennen, die die Marktwirtschaft als eine auf Freiheit, Koordination und Spontaneität beruhende wirtschaftliche Ordnung mit den anderen Bereichen des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens verbinden. Dabei wird vor allem übersehen, daß die Marktwirtschaft nicht auf einer, sondern auf zwei Säulen ruht: nämlich nicht nur auf der Freiheit der Preise und des Wettbewerbs, die die neuen Rekruten der Marktwirtschaft widerwillig und geizend zugestehen möchten, sondern auch auf dem Eigentum, dessen wirtschaftliche, moralische und soziologische Funktionen selten in das Blickfeld 'linker' Ideologie treten. Die Einsicht ist durchaus noch zu erkämpfen, daß die Marktwirtschaft eine Form der wirtschaftlichen Ordnung ist, welche nicht anders als eine 'bürgerliche' bezeichnet werden kann, so sehr sich auch eine durch ein Jahrhundert marxistischer Propaganda verbildete Massenvorstellung (vor allem der intellektuellen Massen) gegen eine solche Kennzeichnung sträuben mag. Wenn wir sagen, daß die Marktwirtschaft nur als Stück einer bürgerlichen Gesamtordnung gedeihen kann, so heißt das, daß ihr natürlicher Platz in einer Welt der persönlichen Freiheit zu suchen ist. Sie ist eine Welt individuellen Strebens, der Verantwortung, der im Eigentum verankerten Unabhängigkeit, des Wägens und Wagens, des Rechnens und Sparens, der rechten Einbettung in enge Gemeinschaft, Familie, Generationengesinnung und Natur, der Selbstbestimmung über das Lebensschicksal, der rechten Spannung zwischen Individuum und Gemeinschaft, der moralischen Bindung, des Respektes vor der Unantastbarkeit des Geldwertes, des Mutes, es mit dem Leben und seinen Unsicherheiten auf eigene Faust aufzunehmen, der natürlichen Ordnung und Rangordnung der Werte. Wer darüber die Nase rümpft und dahinter 'Restauration' und 'Reaktion' wittert, ist ernsthaft zu fragen, für welche Wertordnung er denn gegenüber dem Kommunismus zu kämpfen gedenkt, ohne bei ihm selber Anleihen zu machen.

II. Das Problem der wirtschaftlichen Ordnung und die Marktwirtschaft 1. Wirtschaftsordnung als Sonderproblem der Gesamtordnung Eines der schwersten Gebrechen unserer Zeit besteht darin, daß das Problem der wirtschaftlichen Ordnung als ein in jeder Volkswirtschaft zu lösendes ebensowenig verstanden wird wie die besondere Art, in der die Marktwirtschaft es löst. Die Menschen unserer Zeit werden mit Wissen aller Art vollgestopft, aber etwas Wesentliches lernen sie nicht: die Wirkungsweise und den Sinn des eigenen Gesellschafts- und Wirtschaftssystems zu verstehen, dessen Glieder sie sind und von dessen Funktionen ihr Lebensschicksal abhängt. Keine Kultur aber hat jemals lange bestehen können, wenn ihre inneren Gesetze und der Sinn ihrer Einrichtungen nicht mehr begriffen werden. Der

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Unverstand, mit dem sogar der durchschnittlich Gebildete unserer Epoche den verwikkelten Zusammenhängen der modernen Wirtschaft und ihren inneren Gesetzen gegenübersteht, ist wahrhaft erschreckend (vgl. Eucken 1952, 194). Was wissen die Massen der Wähler, ja was wissen die Verantwortlichen selber von den Funktionen freier Preise und Märkte, vom sozialökonomischen Sinn des Gewinns, von der Aufgabe des Zinssatzes? Wieviele wundern sich noch immer, daß die zwangsweise Festsetzung eines Preises unter dem Gleichgewichtspreis 'Mangel', 'Engpässe' und 'schwarze Märkte' hervorruft, und wieviele sind nicht noch immer bereit (etwa in bezug auf die Wohnungswirtschaft oder den Kapitalmarkt), diese mißlichen Wirkungen der freien Marktwirtschaft zur Last zu legen, nachdem man sie mit roher und unverständiger Hand verbogen hat? Wieviele denken über die mannigfachen und mit herrlichsten Vorsätzen gepflasterten Wege nach, die zur Aushöhlung des Geldwertes führen, Wege, von denen einer die Tafel 'ungehemmte Lohnbewegungen', ein anderer die Tafel 'billiges Geld', ein anderer die Tafel 'unzeitgemäße Investitionsprogramme', noch ein anderer die Tafel 'demagogische Sozialpolitik' trägt? Auf derselben Linie liegt es, wenn noch immer nicht genügend erkannt wird, daß alle bald hier, bald dort hervorbrechenden Krankheitserscheinungen der nationalen und internationalen Wirtschaft ihren tiefen und gemeinsamen Sitz im ungelösten Problem der wirtschaftlichen Gesamtordnung, genauer gesagt, im fehlerhaften Ordnungsprinzip haben. Alle Heilungsversuche müssen enttäuschen, solange eine elementare Fehlerhaftigkeit der wirtschaftlichen Gesamtordnung nicht erkannt und korrigiert wird. „Die Tatsache, daß sich im 20. Jahrhundert die Güterversorgung in Ländern mit zentraler Leitung des Wirtschaftsprozesses verschlechterte (und zwar auch außerhalb der Kriege) ist nicht zufällig. Nicht einzelne Fehler sind verantwortlich; das System ist fehlerhaft" (Eucken 1952, 119). Ein auffallendes neues Beispiel sind die konfusen Ideen der Gewerkschaften in der Propagierung der 'Mitbestimmung' (vgl. Böhm 1951). Es ist zunächst klarzumachen, daß das Problem der wirtschaftlichen Ordnung ein, wenn auch überragend wichtiges, Sonderproblem ist, das von anderen Problemen der gesellschaftlichen Ordnung trotz des Gesamtzusammenhanges aller dieser Probleme sauber zu unterscheiden ist, so daß ihre Lösung auch durchaus verschiedene Mittel erfordern kann. Wenn Marktwirtschaft die beste Lösung des Problems der wirtschaftlichen Ordnung ist, so soll sie selbstverständlich nur eine Antwort auf diese spezifische Frage sein. Marktwirtschaft in einer völlig atomisierten, proletarisierten und vermassten Gesellschaft ist etwas anderes als Marktwirtschaft in einer Gesellschaft mit Eigentumsstreuung, standfesten Existenzen, gesunder Sozialstruktur und Fülle echter und den Menschen Halt gebender Gemeinschaften (Familie, Gemeinde, Nachbarschaft, Beruf, religiös-geistige Gemeinschaften), mit Gegengewichten gegen das Feld der Markt- und Preismechanik, mit Individuen, die verwurzelt sind und deren Existenz nicht von den natürlichen Lebensankern losgerissen ist, in einer Gesellschaft mit Gleichgewicht der Machtgruppen und breitem Stand mittlerer und selbständiger Existenzen, mit gesundem Verhältnis zwischen Stadt und Land, Industrie und Landwirtschaft (vgl. Röpke 1950b, vor allem Kapitel V, VI und VII). Dabei ist entscheidend wichtig, ob die eine oder die andere Kombination vorliegt: Im ersten Falle ist die Marktwirtschaft mit einer ungesunden und labilen, im zweiten Falle mit einer stabilen, gesunden und menschlich gemäßen Gesellschaftsstruktur verbunden.

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Aber von der Marktwirtschaft ist nicht zu erwarten, daß sie von sich aus zugleich jene anderen gesunden Ordnungen des Lebens und der Gesellschaft hervorbringt. Sie setzt sie, wenn sie auf die Dauer möglich und befriedigend sein soll, vielmehr voraus, wie umgekehrt jene anderen gesunden Ordnungen die Marktwirtschaft als Korrelat voraussetzen. Daher muß es das Ziel sein, die Politik der Marktwirtschaft mit einer Politik zu verknüpfen, die jene Ordnungen schafft und erhält; aber so sehr diese beiden Arten der Politik parallel laufen und einander entsprechen müssen, kann man von Preismechanik, Wettbewerb und freien Märkten nicht erwarten, daß sie zugleich die rechten geistiggesellschaftlichen Ordnungen schaffen. Hier ist vielmehr das Feld der Gesellschaftsund Sozialpolitik im weitesten Sinne zu erschließen, die freilich so beschaffen sein muß, daß sie dem Sinn der Marktwirtschaft nicht widerspricht (vgl. Röpke 1952c). An der Vermischung der Probleme leidet vor allem auch die Diskussion mit den Sozialisten, die das Problem der wirtschaftlichen Ordnung nicht streng genug von den anderen Zielen trennen, mit denen sich historisch der Begriff des Sozialismus verbindet. Im ganzen hat er drei Hauptbedeutungen (vgl. Röpke 1950b, 103 ff.): a) Sozialismus kann als Wohlfahrtsstaat begriffen werden, der das Problem der Einkommensverteilung durch ständigen Einsatz der staatlichen Finanzpolitik lösen will (Fiskalsozialismus), wobei eine Tendenz zur Sozialisierung der Konsumtion besteht. b) Der Sozialismus kann die Sozialisierung des Eigentums anstreben. Insbesondere soll das Problem des industriellen Eigentums und der damit zusammenhängenden Stellung des Arbeiters gelöst werden (eigentlich marxistische Spielart des Sozialismus). Wie lange sich ein undoktrinärer, dem Marxismus fernstehender Sozialismus dieser Ideologie fernhalten konnte, beweist der Ausspruch von Ramsay Macdonald, der noch 1924 den Sozialisten als „the best defender of private property" bezeichnen konnte, da er das Privateigentum als „a good so great" betrachtete, „that everybody ought to have some" (nach Orton 1945, 110). c) Der Sozialismus kann als Sozialisierung durch Planwirtschaft verstanden werden. Der geistige Ahnherr dieses Konzeptes ist nicht Marx, sondern Saint-Simon. Es soll damit das Problem der wirtschaftlichen Ordnung gelöst werden. Hier wird also nicht gefragt, wem die Produktionsmittel gehören, sondern wie sie im volkswirtschaftlichen Prozeß koordiniert werden sollen. Die sozialistische Antwort (Planwirtschaft, Zentralverwaltungswirtschaft, Kommandowirtschaft) bedeutet, daß die Volkswirtschaft wie eine einzige Riesenfabrik organisiert und geleitet werden soll, mit 'Blaupause', Befehlshierarchie und rein technischer Ingenieurmentalität, die bereits Saint-Simon eigen war und auch darin zum Ausdruck kommt, daß in der Reihe der Vertreter der Planwirtschaft Ingenieure und mathematisch-naturwissenschaftlich Gebildete einen hohen Prozentsatz stellen (Rathenau]) (vgl. auch Röpke 1951b, 90 f.). Höchst bezeichnend ist es, daß Ragnor Frisch, der mathematische Nationalökonom der Universität Oslo und eigentliche spiritus rector des extrem kollektivistischen Wirtschaftssystems Norwegens, sein Ziel in der Feststellung zusammenfaßt, daß die Norweger lernen müßten, ihr Land als das „Großunternehmen Norwegen" zu betrachten (vgl. Keilhau 1951, 200). Daraus folgt die „Nationalisierung des Menschen" (Röpke 1950b, Kapitel X) und die Vorliebe für „Nationalbudget" mitsamt ihren außerordentlichen Bedenken und Gefahren.

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Bei den drei Hauptbedeutungen des Sozialismus ist zu beachten, daß vor allem b) und c) ineinander übergehen können. Nur bis zu einem gewissen Punkt ist es möglich, b) ohne c) oder c) ohne b) zu realisieren. Gewiß ist die Nationalisierung dieser oder jener Industrie mit der Marktwirtschaft vereinbar, und umgekehrt kann es Planwirtschaft ohne formale Sozialisierung geben, wie das Beispiel des Nationalsozialismus lehrt. Aber bei fortgesetzter Nationalisierung und vor allem bei ständig drohender Nationalisierung (Fall b) wird schließlich die marktwirtschaftliche Ordnung gelähmt, weil diese Sozialisierung als Prinzip aufgestellt wird, mit dem das persönliche Eigentum erschüttert werden soll (wie heute noch immer in England bei fast gleichstarker sozialisierungsbesessener Opposition). Bei Planwirtschaft (Fall c) verhindert eine formale Belassung des Privateigentums an den Produktionsmitteln nicht, daß es ausgehöhlt und daß seine wichtigste Funktion, die marktorientierte Dispositionsfreiheit, zerstört wird.

2. Die doppelte Aufgabe der Wirtschaftsordnung Wenn man also das Problem der wirtschaftlichen Ordnung diskutiert, ist klarzustellen, daß es sich um eines unter verschiedenen Problemen handelt, die, trotz ihres Zusammenhanges, auf verschiedenen Ebenen zu erörtern sind. Ein weiterer Schritt der Klärung muß darin bestehen, das Problem der wirtschaftlichen Ordnung genauer zu kennzeichnen (vgl. Eucken 1952, 2 f f ; Röpke 1950b, 88 ff.). Es ist eine doppelte Aufgabe zu lösen: Zum einen müssen die wirtschaftlichen Pläne und Handlungen koordiniert werden (Ordnung des Wirtschaftsprozesses im engeren Sinne), zum anderen muß für Leistungsantriebe gesorgt sein. Die wirtschaftliche Gesamtordnung ist also ein System von Ordnungs- und Antriebskräften. Die Aufgabe der Koordination besteht darin, eine optimale Verwendung der knappen Produktionskräfte zu fördern, so daß die 'richtigen' Dinge in den 'richtigen' Proportionen, am rechten Orte, zur rechten Zeit und mit den wirtschaftlich 'richtigen' Mitteln erzeugt werden. Dabei sind von besonderer Bedeutung: a) Die ständige Vermeidung von 'Engpässen' oder 'Überschüssen', wie sie jeder kollektivistischen Störung des marktwirtschaftlichen Preismechanismus eigentümlich sind und in der freien Marktwirtschaft dauerhaft und in gleicher Stärke nicht vorkommen können. b) Das wirtschaftlich richtige Verhältnis zwischen laufender Konsumtion und Investitionen (der Produktion von Kapitalgütern), also die Koordination von Gegenwart und Zukunft in der Volkswirtschaft (zeitliche Steuerung des Wirtschaftsprozesses), und die richtige Auswahl der Investitionsobjekte. Die Aufgabe der Leistungsantriebe ist es, dafür zu sorgen, daß die vom Preissystem übernommene Koordination auf einem quantitativ und qualitativ maximalen Niveau erfolgen kann. Das setzt voraus, daß der Wirtschaftsprozeß in allen Stadien mit den stärksten Antriebskräften ausgestattet wird, deren Natur den jeweiligen Funktionen entspricht (so im Falle der Unternehmer: prompte und ausreichende Reaktion auf veränderte Angebots- und Nachfragebedingungen und Risikobereitschaft). Mit anderen Worten: Die Wirtschaftsordnung muß so beschaffen sein, daß jeder an seinem Platze und gemäß

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seinen Funktionen sein Bestes gibt (einschließlich der für die Investitionen notwendigen Konsumeinschränkung). Beide Aufgaben der wirtschaftlichen Ordnung - Koordination und Förderung der Antriebskräfte - sind auseinanderzuhalten. Dies ist auch wichtig für die Entscheidung der Frage, ob nicht der Wettbewerb auch in einer kollektivistischen Ordnung fruchtbar zu machen ist, etwa durch eine Art von synthetischem Wettbewerbssystem. Diese Frage ist je nach der zu lösenden Aufgabe verschieden zu beurteilen: Für die Lösung der Antriebsprobleme in der Zentralverwaltungswirtschaft ist der Wettbewerb verwendbar, nicht aber zur Lösung des Koordinationsproblems 3 . Die Aufgabe der Koordination ist eine intellektuelle, die Aufgabe der Antriebe eine moralische Frage. Beide Aufgaben müssen, wenn sie metaökonomischen Postulaten genügen sollen, zugleich so gelöst werden, daß ein Maximum an wirtschaftlicher Ergiebigkeit und Störungsfreiheit ohne Verletzung elementarer Gebote der Gerechtigkeit und ohne erstickende Übermacht erreicht und mit Wahrung und Förderung der wesentlichen Grundlagen unseres abendländischen Staats- und Gesellschaftslebens verbunden wird: der bürgerlichen Freiheit mit allen ihren Attributen, des Rechts- und Verfassungsstaates, der echten Demokratie mit freier öffentlicher Meinung, gegliedertem Parteileben, regionaler Gliederung, Respekt vor Minderheiten und arbeitsfähigem Parlament, der Begrenzung des Staates auf die wesentlichen Aufgaben des Gemeinschaftslebens, der Unantastbarkeit der Person und der natürlichen Gemeinschaften der Familie, der Kirche, des Berufs, der menschlich angemessenen Existenz und der internationalen Harmonie. Nur diejenige wirtschaftliche Ordnung kann also befriedigen, die sich in die höhere und allgemein als wünschenswert vorauszusetzende Gesamtordnung einfügt, sie fordert und erhält und mit ihrer Struktur übereinstimmt.

3. Praktische Anforderungen Eine wirtschaftliche Ordnung muß aber noch eine weitere sehr wichtige Voraussetzung erfüllen: Sie muß praktikabel sein. Das soll heißen: Es genügt nicht, eine wirtschaftliche Ordnung theoretisch und mit kombinatorischem Scharfsinn auf dem Papier zu entwerfen, sondern sie muß zugleich so beschaffen sein, daß das theoretische Schema in der rauhen und bunten Wirklichkeit ausführbar ist, das heißt robust genug ist, um allen Bedingungen der Wirklichkeit zu genügen. Hier liegt die Gefahr eines bloßen Intellektualismus, der in der Aufgabe versagt, die theoretischen Modelle in die Wirklichkeit zu übersetzen, die nicht nur eine wirtschaftliche, sondern zugleich eine politische, psychologische und moralische ist. Immer muß die Frage gestellt werden: In welchem soziologischen Gesamtrahmen soll denn dieser oder jener ausgeklügelte Mechanismus (z.B. der des „Marktsozialismus" von Lerner oder 0. Lange) überhaupt funktionieren? „Wie sieht eigentlich der Staat, wie sieht die Verwaltung aus, die ihn exekutieren soll? Wo sind die administrativen Spezialbegabungen, von denen, wie jeder mit Verwaltun3

So auch Eucken (Mai 1948, 94): „Competition can be used to improve efficiency, but as a mechanism of direction for an important section of the economy it cannot be applied without the abdication of the central authority."

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gen und Ministerien nur halbwegs Vertraute weiß, schließlich alles abhängt? Wie steht es mit allen anderen zahlreichen Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, wenn diese Blaupausen in die Wirklichkeit übertragen werden sollen? Man kann nicht oft genug den Vorwurf wiederholen, daß in der souveränen Vernachlässigung dieser Fragen eine der Hauptsünden der sozialistischen Theoretiker zu erblicken ist" {Röpke 1951c, 293). Immer ist der 'human bottle-neck' zu berücksichtigen, aber gerade das wird allzu oft übersehen. Dazu hat schon Lichtenberg im 18. Jahrhundert bemerkt: „Schade daß der Philosoph von seinen Republiken und der Reformator von seinen Reformationen keine Modelle machen kann, denn es gehört schon eine große Stärke im philosophischen Kalkül dazu vorherzusagen, daß sie nicht gehen werden. Hingegen nur Zudringlichkeit mit Enthusiasmus verbunden, um den unwürdigen Teil des Publikums, durch Aktien auf Reichtümer der Südsee, um ihren väterlichen Acker zu bringen."4 Im selben Sinne äußert sich Lionel Robbins (1947, 76 ff.), wenn er vom Kollektivismus sagt: „There would be a strong tendency to adapt the people to the plan rather than the plan to the people". 4. Die ordnungspolitische Alternative Nachdem die Natur der ordnungspolitischen Aufgabe klargestellt ist, besteht die nächste Etappe der Diskussion darin, sich mit den Möglichkeiten ihrer Lösung auseinanderzusetzen. Die unausweichliche und allgemein anerkannte Antwort lautet: In einer arbeitsteiligen Gesellschaft, in der die autarke Einzelwirtschaft mit Personalunion von Konsument und Produzent unwesentlich geworden ist, sind nur zwei Prinzipien anwendbar: entweder die Koordination des Wirtschaftsprozesses durch die Selbststeuerung des Marktes, freier Preise und des Wettbewerbs oder die Subordination durch den Plan der politischen Instanz und die zwangsweise Durchsetzung dieses Planes; entweder Marktwirtschaft (Verkehrswirtschaft) oder Plan- und Befehlswirtschaft (Kollektivismus, Zentralverwaltungswirtschaft, System nichtkonformer Eingriffe); entweder spontane oder organisierte Ordnung. Dabei sind im einzelnen folgende Punkte hervorzuheben: a) Die beiden Prinzipien der wirtschaftlichen Ordnung (als eines Systems von Ordnungs- und Antriebskräften) lassen sich als das ökonomische Prinzip einerseits und das politische Prinzip andererseits begreifen. Das soll heißen: Während in der Marktwirtschaft sich der Wirtschaftsprozeß in der Sphäre des Privatrechts, der privaten Entscheidungen, der Preise, des Wettbewerbs und der ihr zugeordneten privaten Belohnungen und Sanktionen (Gewinn und Verlust) abspielt, bedeutet die Plan- und Befehlswirtschaft eine durchgängige Politisierung des Wirtschaftsprozesses; statt Privatrecht herrscht dort das Öffentliche Recht, statt des Preises der Befehl, statt des Marktes die Behörde usw. (vgl. Röpke 1948, 144). In der Marktwirtschaft ist die letzte Instanz der Gerichtsvollzieher, in der Zentralplanwirtschaft der Scharfrichter. In der Marktwirtschaft sind Verfügungsgewalt über Güter (dominium) und eine beschränkte staatliche Hoheitsgewalt (imperium) weitgehend voneinander getrennt, im kollektivistischen System sind sie 4

Von Wilhelm Röpke verwendet als Motto des 9. Kapitels seines Buches „Die Lehre von der Wirtschaft" (1951b), des 8. Kapitels in der ersten Auflage von 1937. Vgl. auch Lichtenberg (1968, 183).

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dagegen zu einem „Caesaro-Ökonomismus" verschmolzen, so daß alles Wirtschaften zugleich eine Staatsaktion ist (vgl. Röpke 1951c, 278 ff.). Diese Erkenntnis, daß die kollektivistische Ordnung Politisierung des Wirtschaftslebens bedeutet, ist von höchster Bedeutung. Daraus folgt nämlich: Da die planende und befehlende politische Instanz die 'Nationalregierung' ist, bedeutet die Politisierung der Wirtschaft zugleich eine Nationalisierung des Wirtschaftslebens (vgl. Röpke 1950b, Kapitel X). b) Es ist eine hartnäckige, aber völlig unhaltbare und allen Erkenntnissen der Volkswirtschaftslehre zuwiderlaufende Vorstellung, als ob Marktwirtschaft gleichbedeutend sei mit 'Willkür', 'Unordnung', 'Dschungel der Konkurrenz' und 'Anarchie' und daß Kollektivismus mit 'Ordnung', 'Gleichgewicht' und 'vernünftiger Steuerung' gleichzusetzen sei. In Wahrheit verhält es sich genau umgekehrt: Der grundlegende Unterschied zwischen beiden Wirtschaftsordnungen ist kaum besser als durch die Feststellung zu kennzeichnen, daß hervorstechendes Merkmal der Marktwirtschaft die Bestimmtheit und Präzision ist, mit der sie arbeitet, und daß die objektiv zwingende Kraft der Direktiven ins Auge fällt, die sie in Form von Preisen an Produzenten und Konsumenten erteilt, während es die kollektivistische Amtswirtschaft ist, der diese Bestimmtheit, Objektivität und eindeutig zwingende Natur der Direktiven abgehen. „There is no arguing with a stock-exchange quotation", wie es in New York heißt, und das gilt für alle freien Wettbewerbspreise, die 'wahr' sind, weil sie den Grad der 'Knappheit' einer Ware in einem bestimmten Augenblick unter Berücksichtigung der die Angebote und Nachfragen bestimmenden Daten des Wirtschaftslebens in objektiver und inappellabler Weise messen. Alle freien Wettbewerbspreise sind das fortgesetzte Resultat eines ungeheuer verwickelten Rechenexempels, das nur der 'Markt' und sonst niemand lösen kann. Sie sind eindeutig und zwingend, weil sie der Subjektivität nur den geringsten Spielraum lassen. Sie sind 'wahr' und 'richtig', weil sie in jedem Augenblick den Daten des Wirtschaftsprozesses entsprechen, nur sie, die freien Preise, nicht aber die 'offiziellen' Höchst-(oder: Mindestpreise, die eine Lüge sind und durch ihre Unwahrheit das Wirtschaftsleben verzerren. Soweit die Marktwirtschaft nicht durch grob-monopolistische Einflüsse entstellt ist, ist sie es, die der Willkür keinen Raum läßt und eindeutige Entscheidungen erzwingt, weil sie mit den 'Knappheitsmessem' der freien Preise operiert. Diese Preise sind die Orientierungspunkte, die den Entscheidungen, Kostenrechnungen und Gewinnerwartungen der einzelnen eine vernünftige Grundlage geben. Einen schlagenden Beweis hierfür liefert unter anderem das Verhalten des nichtmarktwirtschaftlichen Systems: Die kollektivistische Kommandowirtschaft ist froh, wenn sie sich dieser Richtungsweiser der freien Preise bedienen kann, und sucht mit ihnen so lange wie möglich zu arbeiten. Als das nationalsozialistische Deutschland 1936 zur totalen Planwirtschaft überging, wurde als Grundlage das gesamte Preissystem der voraufgehenden Marktwirtschaft übernommen und durch den Preisstopp mit einer wahren Verzweiflung festgehalten, solange es nur irgend ging. Es war der einzige Kompaß, den man hatte. Aber je mehr die Zeit fortschritt, desto mehr mußte dieser Kompaß falsch werden und die ganze Planwirtschaft auf den Strand setzen. Die Regierung mußte erkennen, daß sie außerstande war, die 'wahren' Preise für die Millionen von Gütern und Leistungen zu finden, die der fortgesetzt sich verändernden Lage entsprachen. So breitete sich notwendigerweise mehr und mehr der Bereich der bloßen subjektiven Ent-

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Scheidungen, der Willkür und damit der Unordnung der Wirtschaft mit seinen 'Engpässen' und 'Flaschenhälsen' aus. Je weniger die Planwirtschaft mit den aus der Marktwirtschaft übernommenen Preisen arbeiten konnte, desto mehr wurde sie zur 'fumbling economy'. Während also die Marktwirtschaft im Preismechanismus mit einer Vorrichtung ausgestattet ist, die der Ordnung des Wirtschaftslebens in den 'Knappheitsmessem' klare, eindeutige und subjektiver Willkür entzogene Orientierungspunkte liefert, die sich den Datenänderungen anpassen, beraubt sich die kollektivistische Wirtschaft dieses Apparates, paradoxerweise im Namen der Ordnung, Klarheit und Rationalität. Sie segelt auf dem Ozean des modernen Wirtschaftslebens ohne Kompaß und Sextant und kann bestenfalls nur verzweifelt den von der Marktwirtschaft übernommenen Kurs fortsetzen - bis sie auf Grund sitzt. Welches ist die Wertgröße, die die Behörde in diesem Augenblick irgendeiner Ware geben soll, d.h. der 'richtige' Preis, der der augenblicklichen Konstellation aller Umstände entspricht? Welche Güter sollen aus- oder eingeführt werden und in welchen Mengen? Wieviel soll investiert werden und wo? Welches sind hier und überall die richtigen Entscheidungen, die eine funktionierende Ordnung des Wirtschaftslebens im Interesse der bestmöglichen Versorgung, ohne schwere Störungen, gewährleisten? Die planende Behörde weiß es einfach nicht. Alles, was sie sagen kann, sind leere Redensarten von 'sozial gerechtfertigten' Preisen, von 'Gemeinwohl', von 'Versorgung der Konsumenten', deren völlige Unbestimmtheit nur die Hilflosigkeit der Planer verbirgt. Sie müssen einfach raten oder, schlimmer noch, Entscheidungen treffen, die willkürlich und von irgendeiner subjektiven Vorstellung der Planer gefärbt sind. Diese Entscheidungen sind also immer durch irgendeine politische Ideologie bestimmt. Während die Marktwirtschaft die wirtschaftliche Ordnung in den durch die wirtschaftlichen Kräfte (Nachfrage, Konsumentenwünsche, Stand der Produktionstechnik usw.) bestimmten Preisen und den Entscheidungen der einzelnen verankert, ist die kollektivistische Wirtschaft nichts anderes als in tägliche Verwaltungspraxis umgesetzte Ideologie. Nur in Zeiten einer Lebensgefahr der Nation, also insbesondere während eines Krieges, der allen Bürgern ein eindeutiges und gemeinsames Produktionsziel setzt, kann der Begriff des 'Gemeinwohls' in einer für die planwirtschaftliche Lenkung ausreichenden Weise definiert werden. Sonst aber nicht. Nun besteht eine aus verschiedenen Gründen zu erklärende Tendenz aller staatlichen Zentralpläne (vgl. Eucken 1952, 87 ff.), den Spielraum willkürlicher Entscheidungen vor allem zur Forcierung von langfristigen Investitionen auszunutzen. Das ist einer der Gründe, warum Kollektivismus immer mit konstantem Inflationsdrack verbunden ist. Das bedeutet auch: Der Kollektivismus hat eine unwiderstehliche Tendenz, die laufende Versorgung nicht nur durch mangelhafte Ordnung im ganzen, sondern vor allem auch durch Vorliebe zu spektakulären Investitionen zu beeinträchtigen, deren Konsequenzen der Konsument durch 'Austerity'-Regime zu tragen hat. Es bedeutet eine besondere Ironie, daß der Kollektivismus an die Massen im Namen der 'Bedarfsdeckungswirtschaft' appelliert, obwohl er doch zur Riesenmaschine der Zwangskapitalbildung wird.

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S. Das Problem der Mischung von Ordnungsprinzipien Der Feststellung, daß in der differenzierten Industriegesellschaft von heute nur die beiden genannten Möglichkeiten der Ordnungs- und Antriebskräfte bestehen, wird oft die Behauptung entgegengehalten, daß dies doch 'doktrinär' sei, da in Wahrheit Mischungen und Kompromisse möglich seien. Dies ist ein Mißverständnis! Natürlich sind Mischungen beider Prinzipien innerhalb der Volkswirtschaft möglich (und bis zu einem gewissen Grade sogar wünschenswert). Gemeint ist jedoch: Die Ordnungsaufgabe kann in jedem Falle, auf jedem Markte, nur durch den Preis oder durch die Behörde gelöst werden, und in der Volkswirtschaft im ganzen muß das eine oder das andere dominieren. Zwischen Preis und Behörde gibt es nichts, es sei denn Chaos. Das heißt: Wenn es nicht der Preis ist, der den Wirtschaftsprozeß koordiniert und stimuliert, muß Koordination und Stimulation durch Plan und Befehl der Behörde erfolgen. Hier gibt es keinen „Dritten Weg". Das nicht zu sehen ist der Fehler aller Spielarten des „Ersatzsozialismus" (vgl. Röpke 1950b, 92 f. und 130 f.). Das schließt, wie gesagt, nicht aus, daß innerhalb einer dominierend kollektivistischen Wirtschaft freie Märkte oder innerhalb einer Marktwirtschaft kollektivistische Bereiche (in Deutschland: Devisenzwangswirtschaft, Wohnungszwangswirtschaft, bis vor kurzem Eisenbewirtschaftung, Kapitalmarktlenkung u.a.) bestehen. Aber wenn das marktwirtschaftliche Prinzip innerhalb einer Volkswirtschaft dominieren und damit die Gesamtordnung besorgen soll, ist zweierlei zu beachten: Die Marktwirtschaft ist erstaunlich elastisch und anpassungsfähig, aber der Umfang des kollektivistischen Sektors darf einen kritischen Punkt nicht übersteigen, und es gibt neuralgische Bereiche, deren kollektivistische Ordnung auf die Dauer nicht mit der Marktwirtschaft vereinbar ist, so daß die Gesamtordnung stockt: Dazu gehören der Devisenmarkt und vor allem der Kapitalmarkt. Mit Entschiedenheit ist festzustellen, daß die grundsätzliche Mischungsmöglichkeit also eine doppelte Grenze hat, und zwar einerseits im Umfang und andererseits in der Art der in die Marktwirtschaft hineingesprengten kollektivistischen Teilbereiche. Das ist vor allem auch gegenüber den neuesten sozialdemokratischen Ideen der 'Sozialisierung' des Sektors der Kapitalbeschaffung und Investitionssteuerung zu beachten. Hier wird die Marktwirtschaft in einem ihrer vitalsten Teile getroffen.

III. Die Überlegenheit der Marktwirtschaft und das Fiasko der Plan- und Befehlswirtschaft Erfahrung und Überlegung beweisen, daß die kollektivistische Ordnung in fünf entscheidenden Punkten im Vergleich zur Marktwirtschaft versagt, und zwar so zwingend und so katastrophal, daß in einem modernen Industriestaat außerhalb der Kriegswirtschaft die Entscheidung zugunsten der Marktwirtschaft fallen muß. Damit ist die dritte und wichtigste Etappe der Diskussion um die Wirtschaftsordnung erreicht. Während in den beiden voraufgehenden Etappen (Bestimmung der Aufgabe und Liste der Lösungsmöglichkeiten) Verständigung zwischen den verschiedenen wirtschaftspolitischen Lagern auf dem wertneutralen Boden wissenschaftlich schlüssiger Überlegungen voraus-

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gesetzt werden kann, handelt es sich hier in der dritten Diskussionsetappe zwar nicht um eine Frage bloßen politischen Meinens, aber doch um eine solche des abwägenden Urteils und der darauf basierenden wirtschaftspolitischen Entscheidung. Nur ist die Sprache der evidenten Tatsachen und unausweichlichen Schlüsse so imperativ, daß selbst hier ehrlicher- und vernünftigerweise kein Ausweichen mehr möglich ist (vgl. Röpke 1950b, 114 ff.).

1. Das Versagen des Kollektivismus als Ordnungsprinzip Erstens ist festzustellen: Der Kollektivismus versagt als wirtschaftliche Ordnung, das heißt als System von Ordnungs- und Antriebskräften, und ruft Unordnung und Lähmung der Wirtschaft hervor, weil durch Aufhebung des Preismechanismus und des auf dem Selbstinteresse beruhenden Marktwettbewerbs mit seinen Freiheiten und Verantwortlichkeiten die in jeder Beziehung überlegenen Ordnungs- und Antriebskräfte der Marktwirtschaft außer Wirksamkeit gesetzt und durch die als unbrauchbar erwiesenen Prinzipien des Planes und Befehls ersetzt werden. Was die Ordnungsaufgabe im engeren Sinne betrifft, also die der Koordination und 'Wirtschaftsrechnung', so ist heute wahrscheinlich, wenigstens in Deutschland, jedes Wort überflüssig. Daß es schlechterdings unmöglich ist, die ungeheuer verwickelte Wirtschaft eines modernen Industriestaates durch umfassenden Plan zu ordnen und zu steuern, wird wohl jetzt von keinem halbwegs Ehrlichen und Unterrichteten mehr geleugnet. Aber es ist wichtig einzusehen, daß auch in allen Teilbereichen eine kollektivistische Regelung Störungsherde schafft, von denen gefahrliche Infektionen der Gesamtwirtschaft ausgehen können, indirekte Störungen, die immer wieder fälschlicherweise dem gesunden marktwirtschaftlichen Bereich statt dem Störungsherd zur Last gelegt werden. Das gilt vor allem wiederum für die kritisierten Fehlinvestitionen in Deutschland: Die unzureichende Kapitaldurchblutung der Grundstoffindustrien ist ihrer zwangswirtschaftlichen Abschnürung anzulasten, zu Fehlinvestitionen auf dem Baumarkt ist es als Folge der Wohnungszwangswirtschaft gekommen (vgl. Röpke 1951 d). Ebenso stehen die Störungen des internationalen Zahlungsverkehrs und das mangelnde Gleichgewicht des Außenhandels in engstem Zusammenhang mit der kollektivistischen Regelung des Devisenmarktes durch Devisenzwangswirtschaft. Wo immer 'Engpässe' auftreten, sind sie die unvermeidliche Folge einer kollektivistischen Teilregelung, während es zum Wesen der Marktwirtschaft gehört, daß ihr diese Stauungen fremd sind. Damit sie vermieden werden, bedarf es zweier Dinge: eines genauen Meßinstrumentes, das mit höchstempfindlicher Nadel sofort ausschlägt, sooft im Interesse des Gleichgewichts ein Plus oder Minus an Nachfrage oder Angebot gefordert ist, ferner eines Mechanismus, der auf diesen Indikator prompt und genau reagiert. Die Marktwirtschaft ist durch beides ausgezeichnet, während der Kollektivismus versagt, sowohl als Indikator wie als Reaktionsmechanismus. Das ist nur ein anderer Ausdruck dafür, daß er sowohl als System der Ordnungskräfte wie als System der Antriebskräfte untauglich ist: Er kann weder die Indikatorfunktion der Preise durch Statistik, Enqueten und Planung ersetzen noch ihre Direktionsfunktion durch Befehl und Strafen.

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2. Das Versagen des Kollektivismus bei der Mobilisierung von Antriebskräften Damit wird bereits die andere Aufgabe der wirtschaftlichen Ordnung berührt, nämlich diejenige der Antriebskräfte. Hier ist es entscheidend, daß die Marktwirtschaft die höchst positive Funktion der aus dem persönlichen Interesse fließenden Antriebe nicht unterdrückt, sondern benutzt, um sie, durch Wettbewerb und Gesetz gebändigt, in den Dienst der höchsten Gesamtleistung zu stellen, während der Kollektivismus - auch in Teilbereichen - diese wesentliche Seite der menschlichen Natur moralistisch bekämpft. Das erfordert, wie noch zu zeigen ist, etwas höchst Unmoralisches und Kulturfeindliches, nämlich die Anwendung von Gewalt und Propaganda im Sinne ständiger Verdrehung der Wahrheit. Gleichzeitig wird die eigentliche Sprungfeder des Wirtschaftslebens gelähmt. Wie sich der bedeutendste Schüler des italienischen Philosophen Benedetto Croce, Carlo Antoni (Rom), (1951, 289) ausdrückt: „Der individuelle Nutzen ist dem obersten kollektiven Zweck untergeordnet. Der Einzelne hört auf, ein ökonomisches Individuum zu sein; gleich einem Soldaten, unterzieht er sich einer militärischen Disziplin. Ja, die Disziplin in einem sozialistischen Staat wird noch strenger sein müssen als in einem Heer, denn es wird sich darum handeln, die ökonomische Hingabe des Einzelnen nicht im Ausnahmezustand des Soldaten zu verlangen, sondern im normalen, alltäglichen Gemeinschaftsleben und in der wirtschaftlichen Tätigkeit selbst ... Das ökonomische Interesse wird, wenn man es noch so sehr vertreibt und verbannt, wiederkehren, da es ein unzerstörbares vitales Element ist... Auf die Dauer ist es unmöglich, die Wirtschaft eines Landes auf der Grundlage der Verneinung des ökonomischen Interesses aufrechtzuerhalten. Zwangsläufig wird der Druck, der auf dieses nicht unterdrückbare Moment des menschlichen Geistes ausgeübt wird, den Methoden der Gewalt anvertraut werden müssen." Statt den Wildbach des persönlichen Interesses über die Turbinen der Wirtschaft zu leiten, vergeudet der Kollektivismus diese ungeheuere Energie und reibt sich im Kampfe gegen die Grundnatur des Menschen auf. Hier liegt eine der Hauptursachen der wirtschaftlichen Unfruchtbarkeit des Kollektivismus und für seine moralisch-kulturellen Verheerungen. Wenn immer eine Regierung Zuflucht zum kollektivistischen Ordnungsprinzip nimmt, tritt sie in einen Kampf gegen eine schlechthin vitale Seite der menschlichen Natur ein, einen Kampf, der, außer in Kriegszeiten, den Wirtschaftsprozeß in Polizeizwang, Bürokratismus, Spitzelwesen und Unlust erstickt und die Regierung zwingt, alle ihre Macht zur Durchsetzung ihrer Preis-, Produktions- oder Verbrauchsbefehle aufzubieten, um schließlich doch in der Regel am passiven Widerstand zu scheitern, wenn sie nicht den Weg des Totalitarismus zu Ende gehen will. In Wahrheit kann auch das Antriebsproblem nur auf dem Wege natürlicher Spontaneität gelöst werden, das heißt geräuschlos und im Einklang mit der durchschnittlichen menschlichen Natur, während jede wirtschaftliche Ordnung versagen muß, die voraussetzt, daß die Menschen auch nur entfernt Helden oder Heilige sind, und nur Narren und Fanatiker weigern sich hartnäckig, sich dieser Weisheit der Jahrtausende zu unterwerfen.

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3. Das Versagen des Kollektivismus vor dem Macht- und Freiheitsproblem Weil der Kollektivismus sich nur mit ständiger Gewaltanwendung durchsetzen kann, versagt er im Gegensatz zur Marktwirtschaft als Freiheitsordnung und erweist sich im Gegenteil als unvermeidlicher Weg zur Unfreiheit, zur Zerstörung des Rechtsstaates und zur Erstickung alles Individuellen, Spontanen, Persönlichen. Dieser Punkt ist von so entscheidender Wichtigkeit, daß er im letzten Kapitel gesondert zu behandeln ist. Schon an dieser Stelle ist festzuhalten: Der Kollektivismus versagt im Vergleich zur Marktwirtschaft notwendigerweise und so katastrophal in der Lösung des überaus wichtigen Problems der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Übermacht, daß er es unerträglich verschlimmert (vgl. Röpke 1950b, 121 f.). Hierzu zählt auch das völlige Versagen des Kollektivismus als einer Sozialisierung, die das Ziel hat, das Problem konzentrierten Eigentums und der Stellung des lohnabhängigen Arbeiters zu lösen. Wenn umgekehrt die Aufgabe gestellt würde, in wirksamster Weise äußerste und unentrinnbare Machtkonzentration zu schaffen, so wäre der Kollektivismus (als Sozialisierung wie als Plan- und Befehlswirtschaft) das sicherste Mittel (vgl. Röpke 1950b, 104 ff.).

4. Das Versagen des Kollektivismus bei der Sicherung des Geldwertes Als vierter Punkt ist festzuhalten: Der Kollektivismus untergräbt das wirtschaftliche und soziale Gleichgewicht der Gesellschaft dadurch, daß er, wie die Erfahrungen ausnahmslos beweisen und sorgfältige Überlegung als unvermeidlich erweist, mit konstantem Inflationsdruck verbunden ist. Dabei gibt es eine doppelte Verbindung: Einerseits gilt, daß in unserer Zeit die Tendenz besteht, wenn immer Inflation auftritt, sie durch Kombination mit kollektivistischen Eingriffen in eine zurückgestaute zu verwandeln. Andererseits besteht auch die umgekehrte (und hier interessierende) Verknüpfung, nämlich daß unter den möglichen Ursachen der Inflation heute die wichtigste und bösartigste die kollektivistische Aufsprengung der Marktwirtschaft ist. Dafür, daß Kollektivismus so gut wie unvermeidlich zu konstantem Inflationsdruck fuhrt, sprechen 6 Hauptgründe: a) Die kollektivistische Wirtschaft braucht den konstanten Inflationsdruck, um den lähmenden Einfluß der Zwangswirtschaft auszugleichen (vgl. Eucken 1952, 117; von Hayek 1951, 193 ff.). 'Überliquidität' wird zur Voraussetzung zentraler Planung. b) Kollektivistische Wirtschaftsordnung bedeutet im Gegensatz zur Marktwirtschaft eine Lenkung des Geld- und Kreditstroms durch die planende Regierung. Das heißt: Auch das Geld wird der Regierung unterworfen, aber die Lenker verfugen nicht über währungspolitische Navigationsinstrumente, und in dieser Unsicherheit des Kurses folgen sie in der Regel dem inflationären Kurs, weil man ihn wegen a) ohnehin braucht, weil dies die Linie des geringsten Widerstandes ist und weil er ohnehin dem latenten Inflationismus unserer postkeynesianischen Zeit entspricht. c) Die Planer sind aus psychologischer Notwendigkeit Optimisten, die immer geneigt sind, mehr Wechsel auf die Volkswirtschaft durch Überdimensionierung von Gesamtverbrauch plus Gesamtinvestition auszustellen, als sie zu laufenden Preisen einlösen

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können. Dies trifft um so mehr zu, als sich die Planer schlimmstenfalls auf die 'Zurückstauung' verlassen können, indem sie Preissteigerungen verbieten und die Marktmechanik lahmlegen. Dabei wird der inflationäre Überdruck nicht durch freiwilliges Sparen ausgeglichen, da eine inflationäre Planwirtschaft, im Verein mit dem ihr eigenen fiskalischen Überdruck und den psychologischen Wirkungen des Wohlfahrtsstaates, ein dem Sparen besonders ungünstiges Klima schafft. Das ist der Fall Großbritanniens seit 1945. d) Andererseits gehört es trotz unzureichenden Sparvolumens zum Wesen einer kollektivistischen Wirtschaft, das Investitionsvolumen übermäßig zu steigern. Daraus folgt eine Tendenz zum fiskalischen und besonders monetären Zwangssparen. Zum Beispiel war die Verwässerung des französischen Franken weitgehend eine Folge des MonnetPlanes; noch krasser ist der Fall Norwegens. e) Im übrigen ist die Politik der 'Vollbeschäftigung' sowohl mit einem Inflationsdruck wie mit kollektivistischen Eingriffen und Kontrollen verbunden, die das marktwirtschaftliche System aushöhlen, ohne das Beschäftigungsproblem wirklich zu lösen. Vielmehr wird es wie die Inflation nur künstlich zurückgestaut und tritt sofort wieder hervor, wenn die Kontrollen zusammen mit der Inflation beseitigt werden (vgl. von Hayek 1951). f) Außerdem fuhrt die Tendenz des Kollektivismus zum fiskalischen Überdruck von einem gewissen kritischen Punkte ab zur Verstärkung der inflationären Tendenzen (vgl. Clark 1945). Alle diese Tendenzen werden durch eine monopolistische Gewerkschaftspolitik verschärft, die die Löhne zu dem Punkt hinauftreibt, an dem zwischen Arbeitslosigkeit und Inflation gewählt werden muß. Bestehen einmal die genannten kollektivistischen Tendenzen, dann pflegt die Entscheidung zugunsten der Inflation zu fallen. Es entsteht dabei die Gefahr eines Wettlaufes zwischen einer expansiven Lohnpolitik, die die Beschäftigung herabsetzt, und einer Geld- und Kreditpolitik, die im Banne der 'Vollbeschäftigung' diese Wirkung durch Inflation fortgesetzt kompensieren möchte (PreisLohn-Spirale). Führende amerikanische Nationalökonomen (vgl. Wright 1951) stimmen darin überein, daß es von einer gewissen Grenze an unmöglich ist, Lohnsteigerungen, Vollbeschäftigung und Geldwertstabilität miteinander zu vereinbaren, und daß dieser Punkt gerade dann erreicht wird, wenn in einem Lande eine monopolistische Gewerkschaftsorganisation gleich der amerikanischen seit dem Wagner-Act (1935) vorhanden ist und die staatliche Vollbeschäftigungspolitik die volle Ausnutzung dieses Monopols erlaubt 5 . Besonders gefahrlich ist dabei eine mechanische Bindung von Löhnen an den Preisindex der Lebenshaltungskosten (Indexlöhne), die als eingebauter Beschleunigungsmechanismus des Inflationsprozesses wirkt (vgl. Röpke 1951a und 1952d).

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Diesen Zirkel hat Schumpeter in seinem letzten Aufsatz „The March into Socialism" (1950, 446 ff., insbesondere 453) zur Begründung seiner pessimistischen Theorie des „perennial inflationary pressure" benutzt.

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5. Das Versagen des Kollektivismus in der internationalen Ordnung Als fünfter Punkt ist anzuführen: Der Kollektivismus ist mit internationaler Ordnung und Zusammenarbeit unvereinbar, weil sich seine diskriminierenden Kontrollen immer auf nach außen abgeschlossene Räume beschränken müssen, die mit den Nationalstaaten übereinstimmen, während eine supranationale Planwirtschaft ohne den dafür nötigen Superstaat oder eine imperialistisch beherrschende Zentralmacht utopisch ist (vgl. Röpke 1951c und 1945, 302 ff.). Fassen wir zusammen: Um der überwirtschaftlichen Werte und Ordnungen willen (Freiheit, Rechtsstaat, Machtdämpfung, internationale Ordnung und Zusammenarbeit) würden sich auch schwere Opfer an Wirtschaftlichkeit lohnen. Aber bemerkenswerterweise steht es so, daß dieselbe Wirtschaftsform, die allein diese überwirtschaftlichen Werte und Ordnungen sichert, nämlich die Marktwirtschaft, zugleich auch die wirtschaftlich ergiebigste und funktionsfähigste und allein imstande ist, das unschätzbare Gut der Geldwertstabilität zu wahren. IV. Die Voraussetzungen der Marktwirtschaft 1. Geldwertstabilität Freilich müssen mehrere Voraussetzungen erfüllt sein, wenn die Marktwirtschaft auch befriedigend und ohne ernste Störungen und Abstriche von der Liste ihrer Anforderungen funktionieren soll. Die meisten dieser Voraussetzugen sind bereits in den bisherigen Ausführungen mindestens implicite genannt worden. Die erste und auch dem Range nach oberste ist die Stabilität der Währung (vgl. Euchen 1952, 255 ff.). Für die heutige Lage, in der die Gefahr der Deflation die entferntere ist, gilt vor allem: Die Marktwirtschaft muß zugleich eine nichtinflationäre sein. Man kann die Verteidiger der Marktwirtschaft nicht verstehen, wenn man nicht beachtet, daß ihr entschiedenes Nein zum Kollektivismus ein ebenso entschiedenes Nein zum Inflationismus einschließt. Die eine Gefahr ist so groß wie die andere, und die eine umfaßt, wie gezeigt, die andere. Daraus ergibt sich die äußerste Vorsicht, die gegenüber dem latenten Inflationismus der Keynes-Schule am Platze ist. Insbesondere ist die Unabhängigkeit der Zentralbank gegenüber allen (insbesondere politischen) Inflationsinteressenten zu sichern. 2. Wettbewerb Während über diese erste Voraussetzung allgemeine Übereinstimmung herrscht, scheinen sich die Anhänger der Marktwirtschaft über eine zweite keineswegs einig zu sein, und doch ist sie kaum weniger wichtig als die erste: Damit die Preise ihre ordnende und antreibende Funktion versehen können und damit ferner die Marktwirtschaft ihre Aufgabe als eine Machtstellungen auflösende Ordnung erfüllen kann, muß die vorherrschende Marktform die des Wettbewerbs sein. Daß diese Voraussetzung zu erfüllen eine überaus schwere und nicht ohne Kompromisse und Verdünnungen des Postulats zu be-

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wältigende Aufgabe ist, sollte nicht hindern, alles an ihre befriedigende und gewiß nicht ohne Opfer an liebgewordenen Vorstellungen und bequemen Positionen mögliche Lösung zu setzen. Im Gegenteil: Je größer die Aufgabe und je größer die Wahrscheinlichkeit ist, daß sie sich in der Praxis ohnehin nicht ohne einen erheblichen Diskont vom Ideal durchführen läßt, um so entschiedener muß das Ideal selber festgehalten werden. Wenn etwa in Deutschland heute in der Hitze der Auseinandersetzungen um das Kartellgesetz, das eine die freie Marktwirtschaft emst nehmende Regierung verficht, ein Teil der Unternehmer und vor allem ihrer Vertreter mit offensiver Heftigkeit sich gegen die für Wettbewerb und offene Märkte Eintretenden wendet und ihnen Unverstand, Böswilligkeit oder gar unwillentliche Förderung des Kollektivismus vorwirft, so kann die wahre Lage nicht ärger verkannt werden. In Wahrheit nämlich ist eine der größten Schwächen des marktwirtschaftlichen Lagers darin zu suchen, daß allzuoft Theorie und Praxis auseinanderklaffen, und zwar insofern, als das Bekenntnis zur Marktwirtschaft und ihren Wohltaten viele nicht hindert, für sich selbst Ausnahmen, Sonderrechte, Privilegien, Interventionen und Freiheitsbeschränkungen der anderen zu beanspruchen. Solche Verhaltensweisen in allen ihren mannigfachen Formen (rechtlich zuzulassende oder staatlich verordnete Markteinschränkungen oder Wettbewerbsbehinderungen, Subventionen, Zölle und Kontingente, Investitionsverbote, Lizenzsysteme und vieles andere mehr) beeinträchtigen die Offenheit der Märkte und den freien Leistungswettbewerb, damit aber wesentliche Voraussetzungen der Marktwirtschaft. Diese Kreise haben nicht begriffen, was die Lage erfordert. Sie wollen 'den Fünfer und den Wecken' und 'alte Marktwirtschaft' in einem Augenblick, da auch im besten Falle nur die 'neue Marktwirtschaft', die es mit ihrem Programm der Ordnung in Freiheit und der Verteidigung des durch Leistung erworbenen Verdienstes emst und ehrlich meint, Aussicht auf dauernde Verwirklichung hat. Wenn wir nicht mit der Marktwirtschaft gleichzeitig die Freiheit des Wettbewerbs und die Offenheit der Märkte fordern, wäre uns die Aufgabe, die Marktwirtschaft in unserer Zeit zu verteidigen, unmöglich, und das Programm, das wir allein mit Aussicht auf Erfolg den verschiedenen Varianten und Kombinationen des Kollektivismus entgegensetzen können, das 'neoliberale' Programm der 'Sozialen Marktwirtschaft', würde vollständig in der Luft hängen, ja als unehrlich entlarvt werden, wenn wir gerade diese neue Erkenntnis von der Bedingtheit der funktionierenden und gerechten Marktwirtschaft durch den Wettbewerb und eine ihm dienende Gesetzgebung und Rechtsprechung preisgeben würden - so als ob nichts passiert wäre. Man muß sich sehr deutlich in Erinnerung zurückrufen, was alles daran hängt: a) Wenn oben vom 'Wildbach des persönlichen Interesses' gesprochen wurde, den über die Turbinen der Produktion zu leiten der ungeheure Vorzug der Marktwirtschaft ist, zumal gegenüber dem diese Kraft und sich selbst im Kampfe gegen sie aufreibenden Kollektivismus, so ist es selbstverständlich, daß dieser Wildbach 'verbaut' werden muß. Die Haupteinrichtung aber, über die wir zur 'Verbauung des Wildbaches' verfugen, ist der Wettbewerb, der durch ein juristisches und institutionelles Rahmenwerk sorgsam geschützt werden muß und dadurch der Wirtschaftspolitik einer marktwirtschaftlichen Ordnung eine ihrer Hauptaufgaben stellt. b) Mit gutem Recht rühmen wir die Marktwirtschaft gegenüber der nur mit Ironie so zu nennenden 'Bedarfsdeckungswirtschaft' des Kollektivismus (etwas, was er gerade

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unter keinen Umständen sein kann) als die im Dienste der 'richtigen', das heißt der echten Verbrauchswünsche stehende Wirtschaftsordnung. Dabei wird selbstverständlich vorausgesetzt, daß es im letzten der Konsument ist, der durch seine Nachfrage über das Was und Wieviel der Produktion bestimmt. Insofern ist die Marktwirtschaft als das fortgesetzte Konsumentenplebiszit anzusehen, in dem jedes Geldstück einen Stimmzettel darstellt. Diese 'Souveränität des Konsumenten' aber setzt einen den Gesetzen des freien Wettbewerbs gehorchenden Preismechanismus voraus, während jede monopolistische Beschränkung sie verletzt. Jedes Monopol, jede Beeinträchtigung des Wettbewerbs, jeder geschlossene Markt, jede wirtschaftliche Übermacht begründet an sich einen Tatbestand, der vom Kollektivisten als Argument gegen die Marktwirtschaft benutzt werden kann, wenn auch nicht für den Kollektivismus, der im Grunde nur ein staatlich organisiertes Super- und Pan-Monopol bedeutet. c) Nur eine als dominierend vorauszusetzende Wettbewerbsordnung berechtigt uns, die Marktwirtschaft als eine auf Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung und daher elementar gerechte Wirtschaftsordnung zu kennzeichnen. Ihre Voraussetzung ist, „daß der Weg zur Rentabilität nur über eine äquivalente wirtschaftliche Leistung fuhrt, während gleichzeitig dafür gesorgt sein muß, daß eine Fehlleistung ihre unerbittliche Sühne in Verlusten und schließlich durch den Konkurs im Ausscheiden aus der Reihe der für die Produktion Verantwortlichen findet. Einkommenserschieichungen (ohne entsprechende Leistung) und ungesühnte Fehlleistungen (durch Abwälzung des Verlustes auf andere Schultern) müssen in gleicher Weise verhindert werden" {Röpke 1951b, 285). Hierzu bedient sich die Marktwirtschaft einer doppelten Anordnung: des Kupplungsprinzips, das heißt der Verbindung von Verantwortlichkeit und Risiko, und des Wettbewerbs. Die Einschränkung des Wettbewerbs bedeutet also eine Gefährdung des Leistungsprinzips, mit dem die Marktwirtschaft steht und fallt, sowohl als eine höchstergiebige wie als eine gerechte und daher 'soziale' Wirtschaftsordnung. d) Nur unter dieser Voraussetzung lassen sich Unternehmerfunktionen und Unternehmergewinne überzeugend rechtfertigen. e) Wenn wir die Marktwirtschaft dem Kollektivismus als eine subjektiver Willkür entzogene und Machtklumpen auflösende Wirtschaftsordnung entgegengestellt haben, so war dabei wiederum eine durch freien Wettbewerb, offene Märkte und wirtschaftlichen Machtausgleich gekennzeichnete Marktwirtschaft vorausgesetzt. In dem Maße, in dem diese Voraussetzung entfallt, gilt das Gesagte eben nicht. Ein großer Teil des Streites um Wettbewerbseinschränkungen, Marktschließungen und Marktbeherrschung geht darauf zurück, daß in der Tat keineswegs ausgemacht ist, welchen Gebrauch ein Kartell oder ein marktbeherrschendes Unternehmen von dem Entscheidungsspielraum macht, den es besitzt, ob zum satten Ausruhen oder zur stürmischen Entfaltung, ob für eine die monopolistischen Möglichkeiten ausnutzende Preispolitik oder nicht. Das Wichtige aber ist, daß es diesen Spielraum besitzt, das heißt mehr Macht, als eine wohlfunktionierende und gerechte Marktwirtschaft voraussetzen darf. Selbst gesetzt den extrem unwahrscheinlichen Fall, daß der Monopolist sich genau wie ein dem freien Wettbewerb Unterstehender verhalten wollte (was seinen Widerstand gegen den Wettbewerb sinnlos machen würde), würde ihm die Möglichkeit dazu fehlen, da nur der freie Markt selbst den Wettbewerbspreis und die ihm korrespondierenden Quanten (Angebot und

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Nachfrage, Produktionstechnik) bestimmen kann. Das alles heißt nicht, daß die schweren Einzelprobleme, die sich in der Wettbewerbspolitik stellen, geleugnet werden. Aber die soeben aufgestellten Grundsätze sollten die gemeinsame Plattform sein, auf der Einzelfragen erörtert werden, was bedeutet, daß wie im Falle der äußeren Ausnahmestellungen des Wettbewerbs (Zölle, Kontingente usw.) auch im Falle der inneren - beide sind einander wesensverwandt - immer die Beweislast beim Anwalt der Ausnahme liegt und nicht umgekehrt. Dabei ist besonderes Gewicht darauf zu legen, daß es sich um eine sehr umfassende Gruppe von möglichen Beeinträchtigungen der Wettbewerbsordnung handelt. In gewisser Weise ist es unglücklich, daß sich die deutsche Diskussion auf das Kartellproblem und auf die rechtspolitischen Sonderfragen konzentriert hat, die damit aufgeworfen werden. Weder handelt es sich allein um Kartelle noch gar um das grundsätzliche Kartellverbot als einzige Maßnahme. Kartelle bilden nur einen Ausschnitt aus dem weiteren Problem der Wettbewerbspolitik, und ein grundsätzliches Kartellverbot (mit seinen nicht zu leugnenden Gefahren und Schwierigkeiten, die am amerikanischen Beispiel zu studieren sind) ist nur einer unter den mannigfachen Wegen der Lösung. In den Vordergrund sollte hier der Satz gestellt werden, daß der schonendste, sicherste und liberalste Weg der Monopolkontrolle noch immer (mit Ausnahme der in ihrer Produktions- und Marktstruktur über den nationalen Rahmen hinausgewachsenen Zweige) in einer den internationalen Wettbewerb wirksam machenden auswärtigen Handels- und Devisenpolitik zu erblicken ist. Freier Handel ist das beste Kartellgesetz. Es ist aber auch hinzuzufügen, daß diese Politik der nationalen Durchlüftung von außen her zwar notwendig ist, aber nicht ausreicht. Diese gemeinsame Plattform sollte dem heutigen höchst beunruhigenden Zustand in Deutschland ein Ende machen, daß innerhalb des marktwirtschaftlichen Lagers durch das Kartellproblem ein Bruderkrieg entbrannt ist, der die Abwehrfront nach außen in gefährlichster Weise schwächt, die Reihen im Innern verwirrt und einzelne Kartellvertreter zu einer höchst deplacierten Schärfe gegen ihre Gegner im Lager der Marktwirtschaft verleitet, als ob es sich um bösartige oder törichte Sadisten handele, die sich kaum noch von vollblütigen Kollektivisten unterscheiden. Wo hier der gute Wille und die bessere Einsicht zu finden sind, sollte nicht zweifelhaft sein. Unter den Problemen, die auf dieser gemeinsamen Diskussionsbasis sine ira et studio zu erörtern sind, sollen nur die folgenden hervorgehoben werden: a) Schwerlich ist zu leugnen: Wenn eine Ordnung des Wettbewerbs und des Marktverkehrs notwendig ist, kann diese Aufgabe zum legitimen Feld nicht nur staatlicher Regelung, sondern auch privater Vereinbarungen gerechnet werden, sofern man Vorsicht in der Abgrenzung walten läßt. Dazu könnten etwa Konditionenkartelle gezählt werden, und auch der entschiedene Anwalt des freien Wettbewerbs darf der Frage nicht ausweichen, ob nicht die ärztliche Deontologie auch weiteren und strenger kommerziellen Gebieten zum Muster dienen kann. b) Gegenüber einem gewissen Perfektionismus der Theorie ist zu betonen, daß chemisch reiner Wettbewerb ein völlig unpraktisches Ideal ist. In dieser Beziehung hat die Verfeinerung der modernen Monopoltheorie einige Verwirrung angerichtet. Es kommt vielmehr darauf an, den Begriff des „praktisch wirksamen Wettbewerbs" (J.M. Clark) zu entwickeln, der einem Mindestmaß an menschlichem Sicherheitsbedürfnis Rechnung

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trägt. „... the problem remains of defining reasonable Standards of competition, and distinguishing harmless degrees of protection that represent the requirements of reasonable security from those that represent aggressive monopolistic exploitation" (Clark 1950, 70). Nicht das Sicherheitsstreben ist so sehr zu furchten als vielmehr der Drang nach Übermacht und ihr Genuß. Dabei ist zu beachten, daß im allgemeinen und auf längere Fristen gesehen eine natürliche Gravitation zum Wettbewerb trotz aller technischen Wandlungen fortbesteht und sich durchzusetzen pflegt, sofern der Staat nicht Hilfestellung leistet. Zu allererst ist es daher wichtig, solche Hilfe zu vermeiden. Andererseits ist zu beachten, daß Sicherheit des einen allzu oft geringere Sicherheit des anderen einschließt und auch darin ihre (enge) Grenze findet, daß sie die aus Gründen höchster Rangordnung wichtige Fluidität der Unternehmungen (Paretos „Zirkulation der Eliten", Aufstieg und Neugründung) erschwert. Mit Konzessionen auf diesem Gebiet sollte also höchst vorsichtig vorgegangen werden; ein Beispiel ist der 'Große Befähigungsnachweis' im Handwerk. c) Das ganze Problem des Wettbewerbs auf den Gütermärkten erhält in unserer Zeit eine völlig falsche Perspektive, wenn es isoliert betrachtet und dabei übersehen wird, daß es weit ärgere Monopol- und Machtprobleme in der Wirtschaft gibt. Diese Probleme sind sowohl wegen ihres Umfanges als auch wegen ihrer Bedeutung ärgerlich und vor allem auch deswegen gefahrlich, weil dabei mit gutem Gewissen Monopol- und Machtstellungen ausgebeutet und von einem großen Teil der öffentlichen Meinung irrigerweise noch immer mit Wohlwollen als 'demokratisch' und 'sozial' betrachtet werden. Drei Hauptfalle solcher Monopol- und Machtstellungen sind zu beachten, die um so gefahrlicher sind, als darüber hartnäckige Illusionen bestehen: die Monopole der öffentlichen Hand, die Monopole und Machtpositionen der 'sozialen' Unternehmungen und Einrichtungen und vor allem die Monopol- und Machtpositionen der Gewerkschaften auf dem Arbeitsmarkt. Es handelt sich um ein ungeheuer wichtiges Sonderproblem, dessen Behandlung den Rahmen dieser Übersicht völlig sprengen würde.

3. Maßvolle Besteuerung Wenn die Wettbewerbsordnung verlangt, daß die Unternehmer voll den Risiken des Wettbewerbs ausgesetzt werden, so ist es nicht nur billig, sondern auch für ihre Risikofreudigkeit notwendig, daß das Fiskalsystem die Risiken des Wettbewerbs nicht zu einem Spiel macht, bei dem der Unternehmer den vollen Verlust im Falle des Fehlschlags zu tragen hat, vom Gewinn aber den größten Teil an den Staat abtreten muß, so daß von vornherein die Verlustchancen ungleich größer sind als die Gewinnchancen und aus der früher viel kritisierten 'Sozialisierung der Verluste' (durch Subventionen) eine 'Sozialisierung der Gewinne' wird. Der Widerstand gegen freien Wettbewerb ist daher insoweit nicht nur begreiflich, sondern der freie Wettbewerb kann auch seine Wirksamkeit nicht entfalten, wenn das Steuersystem der Wettbewerbsordnung widerspricht, indem es den Unternehmergewinn einer konfiskatorischen Besteuerung unterwirft und damit die Besteuerung gegen die Risikobereitschaft einsetzt. Damit ist eine weitere wichtige Voraussetzung der Marktwirtschaft genannt: ein

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Steuerdruck, der nach seinem Gesamtumfang und nach seiner Verteilung einen bestimmten kritischen Punkt nicht überschreitet. Dieser kritische Punkt ist in Deutschland wie in den meisten anderen Ländern längst erreicht und überschritten. An sich besteht natürlich kein grundsätzlicher Gegensatz zwischen der Marktwirtschaft und dem Mechanismus der Staatswirtschaft, der wesentlich auf dem Steuerzwang beruht. Dieses Prinzip - zwangsweise Erhebung von Abgaben auf der einen Seite und Ausgaben fiir bestimmte Zwecke auf der anderen Seite - kann sogar recht weit getrieben werden, ohne daß der Rahmen der Marktwirtschaft gesprengt wird. Aber es gibt einen Punkt, bei dem das bis dahin trotz des Zwangsprinzips mit der Marktwirtschaft vereinbare Fiskalsystem plötzlich zu einem giftigen Fremdkörper wird. Bei einem Anteil des Staates von 30-40% des Volkseinkommens wird die Marktwirtschaft als ein System von Ordnungs- und Antriebskräften zersetzt und schließlich gelähmt, um so mehr, je größer der Anteil progressiver Personal- und Geschäftssteuem ist. Die Marktwirtschaft mit all den Reaktionen, die wir voraussetzen, arbeitet dann nicht mehr, wie die Theorie annimmt und die wirtschaftliche Ordnung verlangt. Der gesamte Prozeß wird verzerrt durch Entscheidungen der Individuen und Unternehmer, die mehr mit dem Auge auf das Finanzamt als mit dem Blick auf den Markt getroffen werden, und zugleich ergibt sich auf allen Stufen eine Abstumpfung der Leistungsantriebe. „Es ist eine Utopie, zu glauben, der Unternehmer richte sein wirtschaftliches Handeln in einer mit Steuern in dieser Höhe überlasteten Volkswirtschaft noch getreulich nach den vor 150 Jahren entdeckten Spielregeln des individuellen Erwerbsstrebens, ohne nach rechts oder links zu blicken, wo ihm die Gewinn- und Einkommensbesteuerung den Erlös seines Schaffens teils vorzuenthalten, teils zugunsten Dritter wieder abzunehmen bemüht sind" (Schmölders 1950, 145). 4. Die Unternehmerleistung Damit kommen wir zu einer außerordentlich wichtigen weiteren Voraussetzung der Marktwirtschaft: einer durch keine finanz-, sozial- und wirtschaftspolitische Ressentimentgesetzgebung gestörten und auch nicht durch eine feindselige und vorurteilsbelastete öffentliche Meinung psychisch erschwerten Unternehmerfiinktion. Auch in Deutschland wäre dringend zu wünschen, daß zur repräsentativen Meinung würde, was vor nicht langer Zeit ein führendes gewerkschaftliches Organ der Schweiz geschrieben hat: „Auch der Unternehmer ist ein Mensch - auch er bringt sein Können und seine Kräfte weit besser zur Geltung, wenn er unter eigener Verantwortung, eigener Chance und eigenem Risiko arbeiten und disponieren kann und nicht durch tausend Vorschriften, Weisungen und Verfügungen gehemmt wird" (Schweizerische Metall- und Uhrenarbeiterzeitung v. 17.1.1951). Aber man darf annehmen, daß weite Kreise der Unternehmer selber unter dem Druck der Verhältnisse, in jahrzehntelanger Gewöhnung an ein kollektivistisches System und unter einer auch den Unternehmer schließlich drückenden Atmosphäre der verständnislosen Kritik unsicher, mutlos und desorientiert geworden sind. Sie geben den Eindruck, daß sie ihre eigenen Funktionen und ihren Platz, an dem sie in unserer Gesellschaft und in unserer wirtschaftlichen Ordnung stehen, nicht mehr klar erkennen und damit immer mehr in eine schließlich aussichtslose Defensive gedrängt werden. Das

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liegt vielleicht daran, daß sehr viele Unternehmer Wesen und Wirkungsweise der Wirtschaftsordnung, der sie dienen, noch immer nur unvollkommen verstehen. Luden Romier (1933) hat die tiefe Bemerkung gemacht, daß die „Krise des Kapitalismus" letztens darin wurzelt, daß der Sinn der wirtschaftlichen Ordnung unserer Kultur nicht mehr verstanden wird, keine Gesellschaft aber bestehen kann ohne eine sie tragende Philosophie. Das ist schon im allgemeinen richtig, gilt aber natürlich potenziert von den eigentlichen Exponenten dieser wirtschaftlichen Ordnung, nämlich den Unternehmern. ,.Kein Mensch kann auf die Dauer davon leben, daß er aus Soll und Haben einen Saldo herauswirtschaftet. Er muß verdorren und verkümmern, wenn er nicht an etwas Höheres glaubt, das dahinter steht und seinem Leben einen wahren und über es selbst hinausweisenden Sinn gibt. Hat der durchschnittliche Unternehmer noch einen solchen Glauben, der ihm mehr als das gute Gewissen, der ihm den Elan einer im Innersten verankerten Überzeugung von seiner sozialen Funktion und damit die Kraft gibt, den stürmischen kollektivistischen Tendenzen unserer Zeit zu widerstehen? Ist er nicht innerlich unsicher geworden, ohne daß er es immer sich selbst, geschweige denn anderen eingesteht?" CRöpke 1947d). Die landläufige Blindheit in den westlichen Massen der Bevölkerung gegenüber den sozialökonomischen Funktionen des Unternehmers ist durchaus in Parallele zu setzen zu den Illusionen, die sich heute 'unentwickelte Länder' über das eigentliche Geheimnis der westlichen Prosperität machen. Gegenüber dem Aberglauben, daß es nur auf Kapital, Energie, große Pläne und technische Ablichtung ankomme, ist aufs Stärkste zu betonen, daß die eigentliche Quelle und Voraussetzung der westlichen Prosperität und damit auch des amerikanischen Wachstumsvorsprungs die fortgesetzte Aktivierung und Koordinierung der wirtschaftlichen Kräfte ist, die von jener spezifischen und durchaus dünn gesäten, weil vieles kombinierenden Begabung abhängt, die wir die unternehmerische nennen. Alle - im Westen wie in den 'unentwickelten Ländern' - müssen lernen, „daß das letzte Geheimnis der 'reichen' Länder nicht in 'Kapital', Maschinenmodellen, technisch-organisatorischen Rezepten und Naturreserven zu suchen ist, sondern in einem, philosophisch wie immer zu beurteilenden, Geiste des Ordnens, Vorsorgens, Kombinierens, Unternehmens, menschlichen Führens und freien Gestaltens, kurzum einem Geiste, den man weder aus dem Boden stampfen noch importieren kann" (Röpke 1953, 77). Dazu ist auch eine sehr treffende Tagebuchnotiz Forrestais (1951) anzuführen; er spricht dort über „that imponderable element which provides the synthesis for all of them, namely management, which is the ability to handle people, to select leaders and to exercise judgement" (Forrestal war amerikanischer Secretary of Defense). Der Unternehmer ist also der eigentliche Exponent und Träger der Marktwirtschaft und damit der Gegenpol des kollektivistischen Wirtschaftsbürokraten. Er ist „der Knotenpunkt dieses so ungeheuer komplizierten Prozesses der Marktwirtschaft: Er empfangt die Impulse, die von den Konsumenten an ihn gelangen, und setzt sie in eine entsprechende Art und Menge der Produktion um; andererseits tritt er auf den Märkten der Produktionsfaktoren als Käufer ihrer Einheiten - der Arbeitskraft, der Bodenleistungen und der Kapitalnutzung - auf und, indem alle Unternehmer um den Erwerb dieser Einheiten als Wettbewerber auftreten, ergibt sich eine Preisbildung der Produktionsfaktoren, die im Idealfalle genau ihrem Knappheitsverhältnis entspricht, und eine Verwendung der-

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selben, die in demselben Idealfalle mit den Verbrauchswünschen der Konsumenten harmoniert. Gleichzeitig aber ist es der Unternehmer, der, weit entfernt davon, sich rein passiv zu verhalten, dem Wirtschaftsleben mächtige Impulse gibt, indem er immer wieder neue Wege der Organisation und Technik der Produktion sucht, neue Gütergattungen schafft und so auch dem Konsum neue Wege weist" (Röpke 1947d, 664). Zusammenfassend läßt sich sagen: Die Funktion des Unternehmers besteht darin, „in einer echten Wettbewerbswirtschaft (d.h. ohne monopolistische oder interventionistische Beihilfe) die den Unternehmern zufallende Quote an den Produktionskräften der Volkswirtschaft zum Besten der Gesamtheit (d.h. zur besten und billigsten Versorgung der Konsumenten) zu verwalten" {Röpke 1947d, 672). Diese Funktion ist im einzelnen folgendermaßen aufzugliedern: a) Abstimmungsfunktion'. Jede Unternehmung, die erfolgreich sein will, wird die Abstimmung der Produktion auf dem Markt, d.h. auf das fortgesetzte Konsumentenplebiszit, als oberste Aufgabe ansehen. Damit ist eine Funktion genannt, die schlechthin unentbehrlich ist und den eigentlichen Kernprozeß der Marktwirtschaft ausmacht. Für diesen Zweck ist der Untemehmergewinn oder Unternehmerverlust der beste Ordnungsund Antriebsmechanismus, indem Gehorsam gegenüber dem Markt belohnt und Ungehorsam (oder mangelnde Erfassung der Befehle des Marktes) prompt und wirksam bestraft werden. Da aber die Impulse und Reaktionen des Marktes ein Feld äußerster Unsicherheiten und Unberechenbarkeiten sind, so wird der Unternehmer zu einem Kapitän, dessen Hauptaufgabe die Navigation auf dem Meere des Marktes mit seinen Strömungen, Stürmen und Untiefen ist. Diese Navigationsfunktion bleibt trotz aller 'nautischen Hilfsmittel' (Marktforschung, Statistik u.a.) eine solche, die die Urteilskraft, Erfahrung, den Charakter, den sicheren Instinkt des geschulten Kapitäns erfordert, ein fortgesetztes Urteilen und Entscheiden nach abgewogenen Wahrscheinlichkeiten. Daraus folgt der unschätzbare Wert des Unternehmers und einer wirtschaftlichen Ordnung wie der Marktwirtschaft, die so beschaffen ist, daß sie ständig für die beste Auslese der wirtschaftlichen Navigatoren sorgt und den wirksamsten Antrieb für die Höchstleistung des Unternehmers und für die höchste Sorgsamkeit gewährleistet, mit der er seine Entscheidungen trifft. Wenn wir den Markt abschaffen und durch Behördenwirtschaft ersetzen, ja schon wenn wir den Markt durch allzu gehäufte Eingriffe kollektivistischer Art zu einem stagnierenden Tümpel machen, brauchen wir den Unternehmer nicht. Der Unternehmer, der befreit sein möchte von den Launen und Risiken des Marktes und sich in den sicheren Hafen der Planwirtschaft flüchten möchte, macht sich damit selber überflüssig. Auf diesem Tümpel kann jeder erste Beste herumpaddeln. Diese Planwirtschaft ist das Gegenbild einer Wirtschaft, die die Produktion nach der Konsumtion richtet, und beschränkt die Konsumtion auf das Belieben der Produzenten. Übrigens macht das gebrauchte Bild auch klar, wie wirtschaftlich undurchdacht das 'Mitbestimmungsrecht' ist, da es ja der Markt und nicht der Unternehmer ist, der 'bestimmt', und ein Anspruch auf Beteiligung an den Entscheidungen, die die Bestimmung durch den Markt fordert, dem Anspruch der Mannschaft gleichkommen würde, dem Kapitän in seiner Navigation dreinzureden. b) Pionierfunktion: Sie ergibt sich daraus, daß der Unternehmer den Markt nicht als gegeben hinnimmt, sondern ihn seinerseits beeinflußt, ja ihn vielleicht sogar erst schafft

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und erschließt. Dieses Beeinflussen, Erschließen und Schaffen des Marktes wird dem Unternehmer freilich nur insoweit gelingen, als eine wirkliche innere Konvergenz besteht zwischen dem, was der Unternehmer sich vorstellt, und dem, was die einstweilen noch unbestimmten und zu formenden Wünsche des Marktes sind. In derselben Richtung eines aktiven Wagens wirkt der Unternehmer, indem er unter dem Ansporn des Gewinnes und dem vielleicht noch stärkeren des drohenden Verlustes eine ständige Verbesserung und Neuformung der Produktions- und Absatzmethoden anstrebt und dadurch nicht nur (wie nach Funktion a) für die Produktion der richtigen Dinge in den richtigen Proportionen, sondern auch für die Produktion mit den billigsten und besten Methoden sorgt. c) Führungsfunktion: Während Funktion a) ausschließlich, die Funktion b) überwiegend nach außen gerichtet ist, wirkt diese Funktion nach innen, auf das Unternehmen und seine Organisation selbst mit seinen Aufgaben der menschlichen Führung. Das Prädikat des wirklich großen Unternehmers wird erst durch die überragende Erfüllung aller dieser drei Funktionen erworben. „Nichts hat sich an der Tatsache geändert, daß der Unternehmer, der in die Zusammenhänge der auf echtem Wettbewerb beruhenden Marktwirtschaft eingebettet ist, im Grunde nichts anderes als ein treuhänderischer Verwalter der ihm anvertrauten Produktionskräfte und damit ein Sozialfunktionär ist und daß ein solcher Unternehmer, der sowohl die Stützen des Monopols wie diejenigen der staatlichen Subvention stolz und im Bewußtsein seiner eigentlichen gesellschaftlichen Funktion verschmäht, nicht nur vor jedem Angriff gesichert ist, sondern auch das Recht hat, seinerseits zum Angriff überzugehen und zu verlangen, daß auch die anderen sich gefalligst an die Spielregeln halten. Von diesem unangreifbaren Standpunkt aus können wir mit durchschlagenden Argumenten sehr vieles als ein schweres und gefährliches Mißverständnis zurückweisen, was in der Agitation eines vulgären Antikapitalismus immer wieder vorgetragen wird. Wir können geltend machen, daß die vielgeschmähte Rentabilität der - übrigens auch in einer kollektivistischen Wirtschaft - unentbehrliche Manometer des Erfolges ist, mit dem die Unternehmer als Sozialfunktionäre ihre Aufgabe versehen, und für sie selbst eine Entschädigung, die im Vergleich zu ihren Leistungen und zu den entsprechenden Verwaltungskosten einer kollektivistischen Wirtschaft außerordentlich billig ist. Solchen Unternehmern gegenüber ist auch das Schlagwort von den 'x Familien', in deren unverantwortlichen Händen angeblich die Wirtschaftsmacht liegt, durchaus fehl am Platze. Der Unterschied zwischen der Marktwirtschaft und der kollektivistischen Wirtschaft besteht darin, daß sich eben dort die wirtschaftlichen Entscheidungen auf 'x Familien' verteilen und von der obersten Instanz des Marktes abhängig sind, im kollektivistischen Staat aber auf eine einzige Familie - gesetzt, der Diktator habe überhaupt eine solche - konzentrieren und von keiner Instanz mehr abhängig sind. Sind wir so in der Lage, den Unternehmer gegen unbillige Angriffe aller Art zu schützen, so müssen wir doch immer wieder daran erinnern, daß das nur unter einer entscheidenden Voraussetzung möglich ist, nämlich dann, wenn der Unternehmer nicht an sich selber irre wird und sich in einen mutlosen Defaitisten verwandelt, der seine Funktion nicht mehr begreift und sich unter das schützende Dach des Monopols oder des Staates rettet, ohne zu bedenken, daß er damit den Ast absägt, auf dem er sitzt" (.Röpke 1947d, 672 f.).

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5. Dominanz des marktwirtschaftlichen Prinzips In der Liste der wichtigsten Voraussetzungen der Marktwirtschaft ist als letzte zu wiederholen: Das Prinzip der Marktwirtschaft muß wirklich dominieren, was bedeutet, daß es eine Gesamtordnung verwirklicht, in der nicht gegensätzliche Ordnungsprinzipien lähmend oder störend wirken. Die enge Grenze der Möglichkeit, gegensätzlich geordnete Teilbereiche der Volkswirtschaft miteinander zu kombinieren, darf nicht mißachtet werden. Die Kraft der Marktwirtschaft, sich trotz allem durchzusetzen und sich Fremdkörper zu assimilieren, ist zwar, wie nicht zuletzt Deutschland seit 1948 beweist, außerordentlich groß. Sie ist „die verdauungskräftigste, vitalste Wirtschaftsordnung, die sich denken läßt. Sofern nur ein Minimum an Kernbedingungen erfüllt ist, ist es erstaunlich, wie lange sie mit Giften, Fremdkörpern, Zentnerlasten fertig wird - schlecht und recht" {Röpke 1952a, 7). Das ist ein weiteres großes Aktivum der Marktwirtschaft, daß sie ein wahres 'Strapaziersystem' ist. Aber es rächt sich, wenn die Voraussetzung der Homogenität der Wirtschaftsordnung mißachtet wird, und es kommt zu Funktionsstörungen und Fehlem der Ordnung, die von Unwissenden leicht der Marktwirtschaft statt dem störenden Fremdelement zur Last gelegt werden. Es kann schließlich zu einer katastrophalen Überlastung kommen. Vor allem ist es eine gefahrliche Illusion zu glauben, daß die „Sozialisierung des Kapitalsektors", die von Anwälten einer 'linken Marktwirtschaft' als Fortschritt hingestellt wird, ohne schwere und auf die Dauer überhaupt nicht fortzuschleppende Störungen mit der Marktwirtschaft kombiniert werden kann. Gerade der Umfang, den bereits bisher diese „Sozialisierung des Kapitalsektors" angenommen hat, ist „eine der Hauptursachen der schweren Wirtschaftsstörungen dieser Zeit" (Röpke 1952b) geworden. Sie hat zu einer fehlerhaften Steuerung der Investitionen geführt, und „man kann sagen, daß diese fehlerhafte Steuerung im Kapitalsektor sich bei gründlicher Prüfung als das eigentliche Hauptübel der Wirtschaftsentwicklung nach dem Kriege erweist. ... Es wäre doktrinär, sich länger der Einsicht zu verschließen, daß die Sozialisierung der Kapitalverwendung zu den Dingen gehört, die mit immer ernsterer Sorge beurteilt werden müssen, und daß der marktwirtschaftlichen Investitionslenkung durch freie Preise, Zinswahrheit, wettbewerbsbestimmte Rentabilität und wohlorganisierte Kapitalmärkte wieder der Platz gebührt, der ihr zu Unrecht und mit unerfüllt gebliebenen Versprechungen von der planwirtschaftlichen streitig gemacht worden ist." Daran ist gerade in der heutigen deutschen Diskussion mit äußerstem Nachdruck zu erinnern. V. Unteilbare Freiheit Unter den in Kapitel III erörterten fünf Hauptpunkten des kollektivistischen Versagens - die man, weil sie die genaue Umkehrung wesentlicher sozialistischer Ideale durch die Praxis erweisen, die fünf Paradoxien des Sozialismus nennen kann - ragt der dritte, nämlich sein Versagen als Freiheitsordnung, so sehr hervor, daß er herausgehoben zu werden verdient. Der Kern der Theorie, wonach das allmähliche Vordringen sozialistisch-kollektivistischer Konzepte gleichzeitig ein Vordringen auf dem „Weg zur

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Knechtschaft" (so Hayeks gleichnamiges Buch [1944]) ist, kann heute nicht nur als allgemein bekannt, sondern auch als kaum noch bestritten vorausgesetzt werden. Außerhalb der Kommunisten und besonders vernagelter Sozialisten steht heute wohl nur noch zur Debatte, ob die unbestreitbare und unbestrittene Lehre des 'totalitären' Sozialismus (Nationalsozialismus, Bolschewismus) auch für den 'demokratischen', 'graduellen' und 'evolutionären' Sozialismus gelte. Daß der 'integrale' Kollektivismus nach dem Worte Proudhons „le bagne industriel" ist, hat man endlich erkannt, aber leider sträuben sich noch immer allzuviele gegen die Einsicht, daß der 'graduelle' Kollektivismus genau so weit den politischen Folgen des integralen entgegentreibt, wie er ihm in der wirtschaftlichen Struktur entgegenkommt. Sein Programm liegt haarscharf auf dieser Linie des kollektivistischen Totalitarismus und bleibt auf dieser Linie nur um soviel zurück, wie 50% hinter 100% zurückliegen. „Wenn das Wirtschaftsprogramm des demokratischen Sozialismus darin besteht, vom Kommunismus einen mehr oder weniger hohen Diskont abzuziehen, so dürfen wir fragen, ob nicht die 50%igen gegenüber den 100%igen auf die Dauer doppelt im Nachteil sind, indem sie zwar auf der einen Seite die Massen an die Richtung eines solchen Programms gewöhnen, den Kommunisten aber den Vorsprung seiner radikalen Verwirklichung lassen" (Röpke 1950b, 100). Es wäre jedoch ein Fehler, die Lehre von der „unteilbaren Freiheit" allzu wörtlich zu nehmen und sich unter der „Knechtschaft" Konzentrationslager, Geheimpolizei und Hinrichtungen vorzustellen. Da diese dramatischen Formen der Freiheitszerstörung unter dem graduellen Sozialismus des Westens nicht sichtbar geworden sind, hält man das Ganze für einen falschen Alarm. Das aber ist gerade das Gefahrliche, weil man in falscher Sicherheit nur um so unaufhaltsamer auf der Bahn zunehmender Freiheitszerstörung abwärts gleitet. Man beachtet nicht, daß es sich im Westen um einen subtileren Vorgang der langsamen Auslaugung der Freiheit, des Rechtsstaates, der parlamentarischen Regierung, der Persönlichkeitssphäre handelt, und zwar durch bürokratische Willkür, 'Exekutivstaat', Verordnungsrecht (statt Gesetznormen), heimtückische Existenzvernichtung, Vermassung und Entpersönlichung. Im Westen haben wir es im Gegensatz zum Osten mit einem schleichenden, heimtückischen Vorgang zu tun, der langsam und mit trügerischen Beruhigungen und Revisionen fortschreitet. Im Gegensatz zum revolutionären Sozialismus des Ostens mit seiner galoppierenden Sozialisierung gewöhnt uns die schleichende Sozialisierung des Westens an langsam steigende fortgesetzte Dosen. Jede neue Dosis ist nicht stark genug, um den Widerstand zu aktivieren; sie schläfert ihn solange ein, bis es zu spät ist. In diese Beschreibung ist auch die zunehmende Entwicklung zum Massenwohlfahrtsstaat und zur Erstickimg lebendiger Sozialpolitik und Sozialfürsorge durch die staatlich organisierte Massenzwangsfürsorge einzubeziehen. Auch hier handelt es sich um eine Schraube, die in immer neuen Umdrehungen angezogen wird. Diese Gefahr hat sogar während der jüngsten Präsidentenwahlen in den Vereinigten Staaten mit Recht eine Rolle gespielt. Ein besonders erschütterndes Beispiel ist Großbritannien, worüber der Dekan der Rechtsfakultät des Londoner University College, G. W. Keeton, in seinem Buche „The Passing of Parliament" (1952) schreibt: „Was der Sozialist erreicht hat, nicht was er erreichen wollte, ist das genaue Gegenteil ihrer hochfliegenden Absichten. Das Ergebnis ist ein starrer Mechanismus, abseits von der öffentlichen Meinung und gleichzeitig gegen sie, ein Mechanismus, den - mit erhebli-

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chen Verlusten - Ressortbeamte bedienen, die höher als früher kapitalistische Generaldirektoren bezahlt werden, vor diesen aber voraus haben, daß ihre Verluste und Unkosten vom allgütigen Staat getragen werden" (157). „Wir leben heute in Großbritannien am Rande der Diktatur. Die letzten Schritte dazu wären schnell und leicht und könnten vollkommen legal zurückgelegt werden" (33) 6 . Das Recht wird aufgelöst, und alle Garantien, die der liberale Staat der letzten Jahrhunderte zum Schutze des einzelnen gegenüber der Staatsallmacht geschaffen hat, verlieren mehr und mehr an Wirkung. Willkür, wachsende Staatsmacht, Zweideutigkeit des Rechts, Verschwommenheit und Unsicherheit treten an die Stelle. Es gibt immer weniger Normen und Prinzipien, an die sich der Bürger halten kann und auf die die Gerichte sich stützen können, wenn er sie zu seinem Schutze gegenüber dem allmächtigen Staate aufruft. Daß diese Entwicklung im Gange, daß sie zu furchten ist und daß diese Gefahr von der Plan- und Befehlswirtschaft droht, wird im Grunde auch von allen denjenigen Sozialisten anerkannt, die sich große Mühe geben, ihrem Programm eine neue Form zu geben, die diese Gefahr vermeiden soll, da sie 'freiheitlich' und 'unbürokratisch' sei. Alle diese Bemühungen müssen jedoch an der unumstößlichen Tatsache scheitern, daß es in jedem einzelnen Falle nur die Wahl zwischen dem freien Preis und der Behörde gibt. Dazwischen existiert nichts Drittes, es sei denn die Anarchie. Daran zerschellen alle Spielarten eines freiheitlich durchlüfteten 'Ersatzsozialismus', der die unbequeme Alternative durch halsbrecherische Konstruktionen eines 'Marktsozialismus' vermeiden zu können glaubt. Wenn nämlich die Preise echte freie Preise wären, so müßte die Behörde vor dem Markt kapitulieren, sind sie es nicht, so können sie den Wirtschaftsprozeß nicht steuern und ordnen. Projekte von der Art der Tennessee Valley Authority haben nichts am marktwirtschaftlichen Charakter Amerikas geändert. Ebensowenig wird das gesamtwirtschaftliche Ordnungsproblem durch Kooperativismus (genossenschaftliche Zusammenarbeit [vgl. Röpke 1949, 90f.]) oder durch Korporativismus (Eucketi 1952, 145 f f ; Röpke 1949, 96 f.) gelöst. In der Tat: Wer den freien Preis und den freien Markt nicht will, muß den Polizisten wollen, das Verbots- und Genehmigungswesen, den Amtsbefehl, die Flut der Formulare, den Angeber und Spitzel, die Propaganda, das Millionenheer anmaßender Beamter, den Instanzenweg, die Vorherrschaft der Verwaltung, die zunehmende Undurchsichtigkeit des Verfassungslebens, die wachsende Erschütterung des Rechtsstaates, die bürokratische Lähmung der Initiative, die allgemeine Unsicherheit, die Willkür, die Amtsmacht. Wer den Wettbewerb unbequem findet, muß sich abfinden mit Organisation, Subordination, dem Schwinden der Verantwortung im immer dichteren Nebel des Unpersönlichen, der Unterwerfung des Menschen unter den Kollektivapparat.

6

S. 157: „What the Socialist has got, as distinct from what he aimed at, is the exact opposite of these noble aspirations. He has got a regid mechanism, remote from and indifferent to public opinon, operated at a handsome loss by departmentally apointed officials with salaries as large as those ever paid to capitalist direcotors, with the added advantage that their losses and official expenses can be underwritten by a beneficient state." S. 33: „Today, in Great Britain we live on the edge of dictatorship. Transition would be easy, swift, and it could be accomplished with complete legality."

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Kernfragen der Wirtschaftsordnung • 6 3

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Zusammenfassung Dieser im Jahre 1953 verfaßte Text erörtert Grundsatzfragen der Wirtschaftsordnung vor dem Hintergrund der damals die Diskussion beherrschenden wirtschaftspolitischen Probleme, nämlich der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus und mit einer Politik des demokratischen Sozialismus, die durch eine Mischung von Inflationsdruck, umfassendem Wohlfahrtsstaat, hohem Steuer- und Abgabendruck und bürokratischen Kontrollen gekennzeichnet war. Die vor allem in Westdeutschland entgegen dem Zeitgeist zum Durchbruch gekommene und sehr erfolgreiche marktwirtschaftliche Gegenbewegung wird als Niederlage des sozialistischen Konzepts gedeutet, die beispielgebend gewirkt und zu marktwirtschaftlichen Zugeständnissen im sozialistischen Konzept geführt habe. Das Problem der Wirtschaftsordnung wird als Sonderproblem der gesellschaftlichpolitischen Gesamtordnung aufgefaßt, wobei eine wettbewerbliche Marktwirtschaft sowohl bei ihren Wertgrundlagen wie bei der Lösung des Problems der wirtschaftlichen Ordnungs- und Antriebskräfte überlegen sei. Demgegenüber versage das Prinzip der zentralen staatlichen Lenkung sowohl als Ordnungsprinzip wie bei der Mobilisierung von Antriebskräften, der Lösung des Macht- und Freiheitsproblems, bei der Wahrung des Geldwertes und der Frage der internationalen Ordnung. Für eine funktionsfähige Marktwirtschaft seien stabiler Geldwert, Wettbewerb, maßvolle Besteuerung und vor allem eine geachtete und den Wettbewerb nicht scheuende Unternehmerleistung erforderlich, bei der eine Abstimmungs-, Pionier- und Führungsfunktion unterschieden wird. Die These, konkrete Marktwirtschaften seien immer 'gemischte Ordnungen', wird als Mißverständnis bezeichnet. Es wird weder die Notwendigkeit einer staatlichen Finanzwirtschaft noch die Möglichkeit bestritten, einzelne Sektoren der Wirtschaft der staatlichen Lenkung zu unterwerfen. Auf allen Märkten müsse aber immer zwischen der Lenkung über marktwirtschaftliche Preise oder durch staatliche Anordnung gewählt werden. Im ganzen müsse das marktwirtschaftliche Koordinierungsprinzip dominieren. Außerdem gebe es Bereiche, die nicht ohne Schaden für die Funktionsfahigkeit des Gesamtsystems der staatlichen Lenkung überantwortet werden dürften. Dazu zählt der Autor Bildung und Verwendung des Kapitals und den Devisenmarkt.

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Den Abschluß bildet eine Betrachtung darüber, daß der in kleinen und noch keinen massiven Protest hervorrufenden Schritten vordringende evolutionäre Sozialismus zu einer allgemeinen Lähmung, einer Aushöhlung des Rechtsstaates und einer Unterwerfung des Menschen unter den Kollektivapparat fuhren muß, und zwar auch dann, wenn der totalitäre Sozialismus der Nationalsozialisten und Bolschewisten hinreichend diskreditiert ist. Summary Basic Problems of the Economic Order The author who died in 1966, presented this paper in 1953 as a first draft and did not correct and publish it afterwards. The problems of the economic order are discussed in their fundamentals taking into account the then current discussion on democratic socialism with its corollaries: inflationary pressure, an extensive welfare state, high taxes and bureaucratic controls, all this against the background of totalitarian socialism in Soviet Russia which seemed already then to be sufficiently discredited. A neoliberal counterrevolution against the socialist trend of the time with its most important example West Germany led to some more or less persuasive corrections of the socialist concept, mainly in Germany. The problem of the economic order is presented as part of the social and political system in general. The market economy of a certain type is seen as a solution to the problem of coordination and of incentives in the economy, taking into account the basic values of a free society. On the other hand the centrally administered economy is seen as unable not only to solve these problems but also to limit power and guarantee personal freedom, stable money, and a functioning international economic order. According to the author a functioning and humane market economy requires stable money, competition and open markets, moderate taxation, and entrepreneurs who abstain from subsidies and other protectionist behaviour, but coordinate their activities according to market signals, as pioneers in finding new markets, products and procedures and as responsible leaders in their companies. The author dismisses the thesis that all economic systems are mixed economies as a misunderstanding: In each market the problem wether supply and demand are coordinated by markets and free prices or government directive has to be solved. This does not exclude ordinary public finance and certain sectors under public control. But the problem of coordination for the economy as a whole requires the dominance of the market, and certain sectors should not be under state control, for instance formation and utilization of capital and the market for foreign exchange. The author finally criticises the prevailing evolutionary or 'creeping' socialism as going from one limited and irreversible step of state intervention to another, undermining personal freedom, private initiative and the rule of law.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1997) Bd. 48

Hans

Willgerodt

Von der Sozialen Marktwirtschaft zum demokratischen Sozialismus - ein Nachwort zu: Wilhelm Röpke, Kernfragen der Wirtschaftsordnung Inhalt I. Die Krise aller Formen des Sozialismus II. Gegenkräfte III. Neue Formen des demokratischen Sozialismus IV. Die Ordnungsalternative V. Verleumdungen und falsche Zurechnungen VI. Wirtschaftsordnung und deutsche Wiedervereinigung Literatur Zusammenfassung Summary: From Social Market Economy to Democratic Socialism - a Postscript

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Wilhelm Röpke hat den vorstehend abgedruckten Text vor 45 Jahren entworfen. Was bleibt nach einer so langen Zeit von seinen grundsätzlichen Aussagen? Femer: Was hat sich seitdem in der Wirklichkeit und ihrer Deutung verändert?

I. Die Krise aller Formen des Sozialismus Auf die von Röpke festgestellte Niederlage des totalitären Sozialismus als geistigpolitische Bewegung ist nunmehr der praktische Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums gefolgt. Er wurde von neoliberalen Autoren mit eingehender Begründung vorausgesagt, unter anderem von Franz Böhtn , einem der beiden Begründer dieses Jahrbuches, und von Wilhelm Röpke2. Nur der Zeitpunkt stehe nicht fest. Für Röpke war der offenkundige Mißerfolg des Kommunismus bei der Indoktrination der Jugend, wie er im ungarischen Aufstand zum Ausdruck kam, ein entscheidendes Symptom. Demgegenüber findet sich bei Böhm schon im Jahre 1950 eine frappierend aktuell gewordene pra-

1 Franz Böhm, 1950, XXVI f. 2 Wilhelm Röpke, 1958, 30: „So ist es denn eine kaum noch zu erschütternde Gewißheit geworden: Der Kommunismus wird schließlich, welches Unheil er, nicht zuletzt durch unsere eigene Schwäche, auch inzwischen noch über die Welt bringen mag, den Weg aller gottlosen Vermessenheiten gehen und mehr und mehr vor der Empörung der um Freiheit und Menschenwürde Kämpfenden und das Gift dieser Lehre Erbrechenden zittern müssen."

6 6 • Hans Willgerodt

xisnahe Begründung für den unvermeidlichen wirtschaftlichen Zusammenbruch dieses Systems. Etwas anderes gilt für den verdünnten, evolutionären und sich 'demokratisch' nennenden Sozialismus, und es ist wohl kein Zufall, daß sich die geschlagenen Restbestände der Kommunisten unter mehr oder weniger tatsächlichen oder auch nur kosmetischen Wandlungen dieser Richtung anschließen, während es die legitimen Vertreter des bisherigen demokratischen Sozialismus an eindeutigen Abgrenzungen gegenüber den Altkommunisten und ihrem nicht sehr wesentlich veränderten geistigen Gepäck fehlen lassen.3 Die von Röpke geschilderte Argumentationskrise, in die auch der demokratische Sozialismus durch den spektakulären Erfolg der Wirtschaftspolitik Ludwig Erhards geraten war, ist zwar nicht überwunden. Die Bezeichnung 'Soziale Marktwirtschaft' wird jetzt sogar von den als Bastion des Sozialismus auftretenden deutschen Gewerkschaften für ein von ihnen gebilligtes System verwendet, nachdem sie jahrzehntelang dieses Konzept abgelehnt hatten. Dieses erfolgreiche Kontrastmodell zum Sozialismus hat aber seine werbende Kraft zu einem erheblichen Teil eingebüßt, weil die praktische Politik in Deutschland es im Grande schon vor Jahren in einem allmählichen Prozeß preisgegeben hat, und zwar in allen deutschen Parteien, die ihm oft nur noch Lippendienste leisten. Bei ihnen geht es meist nur noch darum, in welchem Grade sie den Grundsätzen der Sozialen Marktwirtschaft in unklaren Übergängen aus Gründen angeblicher politischer Opportunität abschwören. Im Zuge dieser Entwicklung ist die marktwirtschaftliche Komponente zugunsten einer Sozialisierung der Einkommensverwendung immer mehr in den Hintergrund gedrängt worden. Dies kommt auch terminologisch darin zum Ausdruck, daß zunächst noch vom 'sozialen Rechtsstaat' gesprochen wurde, der anzustreben sei und den das Grundgesetz vorschreibe, inzwischen aber nur noch vom 'Sozialstaat' die Rede ist, den man ausbauen und verteidigen müsse. Nicht mehr Produktion und Leistung stehen im Vordergrund, von denen aber auch jeder Sozialaufwand abhängt, sondern das Verteilungsproblem und die staatliche oder staatlich organisierte Daseinsvorsorge. Dies hat nicht nur in Deutschland zu einer ökonomischen und moralischen Krise dieses Versorgungsstaates geführt. Er ist an den Grenzen seiner Finanzierbarkeit und dem Ausweichen der Bürger vor dem ständig steigenden Steuer- und Abgabendruck gescheitelt. Wie es schon Goetz Briefs (1966, 57) formuliert hat: "...der Fiskalstaat wird zum grimmigen Schatten des Wohlfahrtsstaates". Aber dieser Wohlfahrtsstaat hat inzwischen seine Möglichkeiten erschöpft. Der von Röpke kritisierte und damit verbundene „Fiskalsozialismus" ist unhaltbar geworden. Der unvermeidliche Rückzug in eine Ordnung, die den Marktkräften und Marktergebnissen wieder größeren Spielraum einräumt, wird in vielen europäischen Ländern mehr oder weniger entschlossen eingeleitet. Dabei scheinen kleinere Staaten wie die Niederlande oder Schweden auch unter Regierungsparteien, die sich 'sozialistisch' nennen, energischer fortzuschreiten. Unter den größeren europäischen Ländern hat nur Großbritannien unter Margaret Thatcher mehr oder weniger radikale Reformen ausgeführt, nicht ohne dafür auch aus Deutschland heftig kritisiert zu werden, einem Land,

3

Zu den fließenden Übergängen zwischen dem totalitären und dem demokratischen Sozialismus vgl. auch Willgerodt, 1985, 235 ff.

Von der Sozialen Marktwirtschaft zum demokratischen Sozialismus - ein Nachwort • 67

das einst mit Ludwig Erhard Schrittmacher marktwirtschaftlicher Gesundung gewesen war. Heute gelten auch in Deutschland solche Rückwendungen zu freiheitlichen und die Selbstverantwortung wiederbelebenden Verfahren häufig als 'Kapitalismus pur'. Dabei unterläßt man nicht, die Neo- oder Ordoliberalen zu verdächtigen und absichtsvoll mißzuverstehen. Man hat bisweilen die Stirn, sogar gegenüber diesen Urhebern der Sozialen Marktwirtschaft den Anspruch zu erheben, diese Ordnung besser, das heißt sozialistischer, zu verstehen und sie gegen freiheitliche und marktwirtschaftliche Änderungen verteidigen zu wollen. Die Umwege, die der von Röpke geschilderte, aber nun in eine Krise geratene Sozialismus 'durch die Hintertür' gewählt hat oder noch wählt, sind teilweise verändert und taktisch modifiziert. An der Stärke sozialistischer Tendenzen, insbesondere bei Intellektuellen und Meinungsbildnem, ist aber nicht zu zweifeln, zum Teil noch immer aus den von Röpke genannten Gründen, nämlich dem Unverständnis für die Struktur und Funktionsweise einer freiheitlichen, bürgerlich verankerten Geseilschafts- und Wirtschaftsordnung, die nur in einer Marktwirtschaft möglich ist. Die aus dem kommunistischen Gefängnis entlassenen Ostdeutschen sehen sich heute einer nicht mehr voll funktionsfähigen westdeutschen Marktwirtschaft ausgeliefert, bei der der von Röpke genannte kritische Anteil der öffentlichen Abgaben von 30-40 % längst und seit vielen Jahren weit überschritten ist. In ihr nimmt man einen früher unbekannten Grad an Arbeitslosigkeit insoweit als Datum hin, wie die dafür hauptsächlich, wenn auch nicht ausschließlich, verantwortliche Tarifkartellautonomie angeblich aus verfassungsrechtichen Gründen nicht dem Gemeinwohl und dem Ziel der Beschäftigung untergeordnet werden kann oder soll. Mobilisierende Alternativen werden von einer sich selbst im Wege stehenden Gesetzgebung, Staats- und Verbandsbürokratie und Rechtsprechung unter dem Einfluß organisierter Interessen blockiert. Bei überhöhten Lohnkosten und administrativ-sozialpolitisch gebremster Produktivität entsteht eine offene, aber auch eine zurückgestaute Arbeitslosigkeit: Arbeitswillige werden durch günstige Sozialleistungen, Zugangssperren und öffentlich finanzierte Nebenarbeitsmärkte von eigentlichen, am Markt wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen ferngehalten, die eben deswegen gar nicht erst entstehen. Das geschieht nicht zuletzt, um einen die Tariftreue gefährdenden Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt zu verhindern. Man glaubt noch immer, daß sich erträgliche Lohnsätze nur dann bilden können, wenn möglichst viele Arbeitswillige und ihre Leistungsbereitschaft vom Markt verdrängt werden. Damit wird eine bestenfalls einzelwirtschaftliche Betrachtungsweise auf die Gesamtwirtschaft übertragen und die Illusion hervorgerufen, daß man durch Minderarbeit zu höherem Wohlstand gelangen könnte. Der seit vielen Jahren geführte politische Kampf gegen den Fleiß macht sich in den Arbeitszeitverkürzungen, teils gegen den Willen der Beteiligten, dem Kampf gegen Überstunden, in teilweise erzwungenen Frühpensionierungen und in Marktsperren wie bei dem Entsendegesetz fiir Bauarbeiter bemerkbar. Die Verteilung einer angeblich konstanten Arbeitsmenge gilt als Lösung des Beschäftigungsproblems. Daß damit die Arbeitslosigkeit weiter steigen muß, indem durch überhöhte Lohnkosten immer mehr Arbeitsplätze unrentabel werden oder nicht entstehen, stößt auf Unverständnis.

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Inzwischen ist eine umfangreiche und detaillierte Kritik an der Verzerrung der deutschen Marktwirtschaft geübt worden, und zwar auch innerhalb der deutschen Bundesregierung. Dies ist nicht ganz ohne Eindruck auf die Politik geblieben. Von einer wirklichen Umkehr auf dem Wege in den umfassenden Interventions-, Bevormundungs-, Subventions- und Versorgungsstaat kann jedoch noch keine Rede sein. Symptomatisch ist die Minderschätzung des Kontrollaufwandes, den neue Gesetze hervorrufen, etwa das Entsendegesetz, bei dem künftig jede Baustelle überwacht werden muß. Was ein Überstundenverbot an Kontrollen erfordern würde, läßt die dieses vorschlagenden Gewerkschaften ebenso ungerührt wie diejenigen, die gegen die Schwarzarbeit kämpfen, ohne ihre eigentlichen Ursachen angreifen zu wollen, die nicht zuletzt im überhöhten Abgabendruck liegen. Auf diesem Wege wird die Gefahr von Denunziationen und anderen Vergiftungen der Gesellschaft gefördert, oder es macht sich der Staat lächerlich, wenn er vor dem Problem kapituliert. Der Kritik an solchen Entwicklungen begegnet man mit der gefälligen These, daß man keine Marktwirtschaft an sich wolle, sondern eine 'Soziale Marktwirtschaft', wie sie Erhard und Müller-Armack einst begründet hätten. Die Tatsache, daß die Gründer der westdeutschen Marktwirtschaft die Notwendigkeit einer Sozialpolitik betont, aber nicht ihre Dominanz gegenüber Eigenvorsorge und Selbsthilfe befürwortet haben, wird propagandistisch dazu benutzt, die Rangfolge umzukehren. Alle Versuche, auch nur die weiter ungehemmte Expansion dieses ständig höhere Aufwendungen, Kontrollen und Abgaben erfordernden Sozialstaates einzudämmen, werden von Alarmrufen und Streiks begleitet, um einen vermeintlichen Abbau des Sozialstaates zu verhindern. Die gegenüber Arbeitslosen privilegierten Streikenden streiken, ohne es zu wollen, im Grunde dafür, daß sie mit noch höheren Abgaben belastet und in ihrer Einkommensverwendung weiter bevormundet werden, außerdem dafür, daß viele Arbeitsplätze noch unsicherer werden als bisher. Die groteske Komödie, die vom Gesetzgeber bei dem Versuch aufgeführt worden ist, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu reformieren, ist nur eines unter vielen Beispielen dafür, daß wirklich durchgreifende Reformen in Wahrheit noch nicht gewollt sind. Hierzu müssen sich offenbar die Krise und das Krisenbewußtsein erst noch weiter verschärfen. Ähnliches gilt für viele von der Politik veranstaltete oder zugelassene Wettbewerbsbeschränkungen und nicht konforme Eingriffe in den Marktprozeß, etwa in der Landwirtschaft, bei der ständig neue Tatbestände für Subventionen ausfindig gemacht werden. Noch immer sind es mehrere der von Röpke genannten Komponenten des schleichenden Sozialismus, von denen der krisenhafte Zustand der Wirtschaft herbeigeführt worden ist. Hierzu gehören die politische Dominanz von kurzfristigen Gruppeninteressen einschließlich deijenigen der Tarifpartner, ein kaum noch mit Problemen der deutschen Vereinigung zu begründender Abgabendruck, bei dem eine wirkliche Reform noch aussteht, eine Politisierung und Bürokratisierung wichtiger Märkte und Preise, von den Agrarpreisen über die Wohnungsmieten bis zu den wichtigsten Preisen einer Marktwirtschaft, nämlich den Lohnsätzen, eine der Art nach an die ehemalige DDR erinnernde staatliche Kapitalvergeudung, die es in der Anfangszeit der Sozialen Marktwirtschaft nicht gegeben hat, vor allem nicht in der jetzt vorherrschenden Form,

Von der Sozialen Marktwirtschaft zum demokratischen Sozialismus - ein Nachwort • 6 9

daß dabei Beträge in Konsum verwandelt werden, die eigentlich für Investitionen hätten verwendet werden sollen. Das Problem der staatlichen Kapitalverwendung ist nach wie vor aktuell, nicht nur bei Subventionen für zahlreiche Wirtschaftszweige und Verwendungen, sondern auch in Form der zentralisierten staatlichen Forschungsforderung. Sie geht einher mit einer Aushöhlung der dem Wettbewerb unterliegenden dezentralisierten Universitätsforschung. Dies wird von einer starken Tendenz begleitet, die Forschung gegenüber der Lehre zurückzudrängen, wenn nicht davon vollständig zu trennen und die Hochschulen zu weisungsgebundenen Einrichtungen und die Wissenschaftler zu politisch abhängigen Angestellten zu machen. Was sich hier wie auf dem Arbeitsmarkt als Kontrollstaat bemerkbar macht, kommt in anderer Form dadurch zum Ausdruck, daß künftig Leitungspositionen in der Staatsverwaltung nur auf Zeit besetzt werden sollen, um den politisch gefugigen Parteibuchbeamten an die Stelle von Staatsdienern zu setzen, die ihren Sachverstand jeder Regierung loyal zur Verfügung stellen, aber ihn unabhängig von politischen Pressionen und Einflüssen der in den Parteien wirkenden Interessengruppierungen einbringen können. Ob sich die Unabhängigkeit der Richter unter solchen Umständen auf die Dauer halten läßt, ist fraglich, zumal sich die Politisierung der höchsten Gerichte schon weitgehend durchgesetzt hat.

II. Gegenkräfte Aber es wirken starke Gegenkräfte, die dazu gefuhrt haben, daß einige der von Röpke erwähnten kollektivistischen Elemente kaum noch vorkommen. Schon aus fiskalischen Gründen kann zum Beispiel an Verstaatlichungen von Wirtschaftsunternehmungen nicht mehr gedacht werden. Vielmehr ist die sogenannte 'öffentliche Wirtschaft' unter zunehmenden Rechtfertigungsdruck geraten. Vor allem die Treuhandanstalt hat eine Privatisierungsleistung erbracht, die bei allen Unvollkommenheiten im einzelnen in der Gesamtbewertung hoch eingestuft werden muß (vgl. Fischer, 1993). Zäher Widerstand der Bürokratie und politischer Instanzen gegen weitere Privatisierungen wird die allgemeine Tendenz zur Entstaatlichung vieler Bereiche kaum aufhalten 4 . Auf Abruf gibt es außerdem noch immer die nicht weisungsgebundene Deutsche Bundesbank, die wie ein Fels aus der Zeit Ludwig Erhards und Vockes in die Gegenwart hineinragt. Die von Röpke beobachtete Tendenz zum konstanten Inflationsdruck und zur monetären Vollbeschäftigungspolitik ist nicht nur in Deutschland in den Hintergrund gerückt, zumal sie sich als auf die Dauer wirkungslos erwiesen hat. Allerdings findet sie heute wieder in Frankreich und bei den deutschen demokratischen Sozialisten Anhänger, die darauf hoffen, ihr Konzept der künftigen Europäischen Zentralbank auferlegen zu können. Damit wäre die deutsche Trutzburg der relativ größeren Geldwertstabilität 4

Grotesk ist freilich die Tatsache, daß der Staat jährliche Verluste von mehr als 200 Millionen DM bei den von ihm zunächst entschädigungslos enteigneten Forsten in Kauf nimmt, anstatt sie den Eigentümern zurückzugeben (vgl. Willgerodt 1996, 117).

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geschleift; bei vielen ausländischen Akteuren ist dies auch das eigentliche Ziel ihres Strebens nach der europäischen Währungsunion. Ob es den zu inflatorischen Aufweichungen ratenden demokratischen Sozialisten aller Parteien gelingen wird, hiermit Erfolg zu haben oder ob die künftige Europäische Zentralbank von derartigen Pressionen freigehalten werden kann, ist trotz der scheinbar entgegenstehenden Bestimmungen des Maastrichter Vertrages unsicher. Immerhin wird in Europa kaum noch von sogenannten Zahlungsbilanzkrisen gesprochen und auch nicht mehr davon, daß man sie durch Einschränkungen der Freiheit des internationalen Zahlungsverkehrs - also Devisenzwangswirtschaft - bekämpfen müsse. Die von Ludwird Erhard erkämpfte uneingeschränkte Konvertierbarkeit der deutschen Währung wird noch nicht in Frage gestellt, selbst wenn es Äußerungen von höchster Stelle gibt 5 , die freie Kapitalbewegung in das Ausland insoweit als anrüchig hinzustellen, wie damit Arbeitsplätze in das Ausland verlagert werden könnten. Aus der Wissenschaft kommende Vorschläge, den freien Devisenverkehr mit einer Sondersteuer zu belegen und damit angeblich schädliche Spekulationen zu unterdrücken, haben bisher keinen Anklang gefunden, zumal sie schon aus administrativen Gründen nicht zu handhaben wären (Tobin 1978). Die Europäische Union hat sich jedenfalls für den freien internationalen Kapitalverkehr entschieden und innergemeinschaftliche Kapitalverkehrsbeschränkungen weitgehend ausgeschlossen 6 . Die Kräfte, die zu einer Kontrolle der Kapitalbewegung und Kapitalverwendung zurückkehren wollen und dies mit Plänen staatlicher Industriepolitik und gigantischen Verkehrsprojekten verbinden, sind jedoch ebenso stark wie der Einfluß deijenigen, die glauben, den Zins als beliebig verwendbares und staatlich manipulierbares Instrument benutzen zu können 7 . Auch laienhafte Vorschläge zur Renationalisierung der Kapitalmärkte kommen immer wieder zum Vorschein, oft mit besonders abstoßenden moralisierenden Begründungen, etwa in der Form, reiche Länder sollten im Interesse des nationalen Gemeinwohls in erster Linie im eigenen Land investieren, anstatt durch Kapitalexport die Entwicklung ärmerer Länder zu fördern. Wenn dabei noch scheinbar fürsorglich behauptet wird, man wolle die ärmeren Länder vor der Gefahr der Überschuldung bewahren, so wird dabei das Problem der rationalen Kapitalverwendung und der dazu nötigen ordnungspolitischen und rechts5

Bundespräsident Herzog (1996, 1143) hat bei weltweit operierenden Firmen einen Mangel an nationalen Loyalitäten behauptet und kritisiert, daß Unternehmen „ihren Produktions- und Steuerstandort ins Ausland verlagern". Nach einer Kritik an „Gewinnmaximierung und Kapitalvermehrung" und der Verengung des Blickwinkels „allein auf betriebswirtschaftliche Bilanzwerte" hat er allerdings hinzugefügt, die „Neuausrichtung unserer Unternehmungen an globalen Finanzmärkten" sei richtig. Der Widerspruch wird von ihm nicht aufgelöst. 6 Artikel 73 b des Vertrages über die Schaffung der Europäischen Union vom 7.2.1992 (MaastrichtVertrag). In den Artikeln 73 c-h wird die Möglichkeit von Einschränkungen geregelt, die aber bisher nicht in den Vordergrund gerückt worden sind. Zur Gefahr solcher Eingriffe: Willgerodt (1989) und Schüller (\996). 1 Es werden immer wieder Forderungen nach einer international konzertierten Senkung der Zinssätze erhoben, obwohl es sich dabei allenfalls um Senkungen der Notenbankzinsen handeln kann. Entsprechen sie nicht der Knappheit des Leihkapitals, sondern werden wesentlich niedriger und ohne Restriktionen des Notenbankkredits festgelegt, dann kommt es wegen der Inflationseffekte eher zu Steigerungen der Zinssätze für langfristiges Kapital, und zwar dann auch der realen Zinsen, wenn Risikozuschläge erhöht werden.

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staatlichen Bedingungen in den Empfängerlagern mit der Frage verwechselt, ob man ihnen den Zugang zu den Kapitalmärkten der Welt auch dann verwehren soll, wenn sie solide Schuldner sind. Die Warnung Röpkes vor verfehlten Eingriffen in den Kapitalmarkt hat also nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Im ganzen sind jedoch die Finanzund Kapitalmärkte heute marktwirtschaftlicher geordnet als vor 40 Jahren. Auch gehört große Phantasie dazu, sich vorzustellen, es werde den Deutschen künftig wieder zugemutet, Devisenzuteilungen für ihre Ferienreisen in das Ausland zu beantragen und dabei mit herabgesetzten Beträgen zufrieden zu sein. Eine Europäische Währungsunion, die sich mit derartigen Methoden bei den Deutschen einfuhren würde, hätte bei ihnen jeden Kredit verloren. Es gibt also von Erhard geschaffene Tatsachen, an denen der deutsche und auch der europäische demokratische Sozialismus bei allem Lenkungseifer schon aus wahltaktischen Gründen kaum vorbeigehen kann. Politisch bisher kaum möglich ist auch die unmittelbare Beschränkung des internationalen Güterverkehrs, wenn man einmal von skandalösen und juristisch verfestigten Ausnahmen wie den Bananenimporten aus dem Dollarraum und ähnlichen Vorgängen absieht. Solche Beispiele zeigen allerdings, daß es offenbar keine juristische Schamgrenze für solche Maßnahmen gibt und man jedenfalls auf die Rechtsprechung nicht zählen kann, wenn Freiheitsbeschränkungen im internationalen Güterverkehr interessenpolitisch gewollt sind. Immerhin sind aber Handelsschranken innerhalb der Europäischen Union weitgehend unzulässig geworden, und man hat auf der jüngsten Tagung der Welthandelskonferenz in Singapur weitere Liberalisierungen unter drängender Mitwirkung der freihändlerischer gewordenen aufstrebenden Entwicklungsländer beschlossen. Nachdem es zum Standardrepertoir aller Sozialisten - insbesondere auch der christlichen - gehört hatte, den freien Welthandel als System unmenschlicher Ausbeutung ärmerer Länder auszugeben, und die Regierungen der meisten dieser Gebiete ihre Erfahrungen mit sozialistischen Rezepten gemacht haben, ist die marktwirtschaftlichfreihändlerische Wende ärmerer Länder gegen den wohlfahrtsstaatlichen Altersprotektionismus reicherer Länder ein zusätzlicher Grund für die Verlegenheit, in die die demokratischen Sozialisten aller Parteien nun geraten sind. Die eindrucksvollen Erfolge, die viele Entwicklungsländer damit erzielt haben, daß sie erhebliche oder gar umfassende Anleihen bei dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft gemacht haben, werden mit derselben Taktik verschwiegen oder geleugnet, wie sie früher gegenüber den westdeutschen Reformen angewandt worden ist. Im ganzen besteht also für die Neo- und Ordoliberalen kein Grund zur Resignation. Die von Röpke kritisierte Kombination von Inflationsdruck, falschen Preisen und Kontrollen ist im allgemeinen weniger aktuell geworden. Jedenfalls übersteigt es vorläufig das Vorstellungsvermögen, die demokratischen Sozialisten könnten zur Preisfixierung und Rationierung bei Gütern des täglichen Bedarfs zurückkehren. Solche Tendenzen sind in andere Bereiche abgewandert, insbesondere solche, bei denen planmäßig marktwirtschaftliche Elemente vom Staat zurückgedrängt worden sind, weil man sie für 'unsozial' gehalten hat. Dies gilt vor allem für das zwangswirtschaftlich regulierte Gesundheitswesen, bei dem es kaum gelingen will, die eherne Logik zu durchbrechen, wonach Güter im Übermaß und ohne Kostenbewußtsein nachgefragt werden, die man 'umsonst', das heißt zu dem sehr teueren Nulltarif, dem Einzelnen anbietet, der dafür

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mit überhöhten Kollektivabgaben aufkommen muß. Ähnliches zeigt sich in der Schulund Hochschulbildung, wenn die Bindung an Eignungs- und Leistungskriterien gelokkert wird. Zusätzlich zu der nie ganz in die Freiheit entlassenen Wohnungswirtschaft werden alle diese Bereiche immer mehr einem Rationierungs-, Lenkungs-, Zuteilungsund Kontrollsystem unterworfen, das mit den Marktkräften in einem unablässigen Kampfliegt.

III. Neue Formen des demokratischen Sozialismus Unzufrieden mit den von ihnen herbeigeführten Wirtschaftsergebnissen, vor allem der hohen Arbeitslosigkeit, haben die demokratischen Sozialisten ein neues Betätigungsfeld entdeckt. Sie halten den internationalen Standortwettbewerb für katastrophal und streben nach internationaler Zusammenarbeit, um Mindestlöhne, standardisierte Sozialleistungen, Mindeststeuern auf Kapital und Unternehmungen und Mindestanforderungen an den Umweltschutz verbindlich zu fixieren (z.B. Lafontaine 1996a; 1996b). Im Grunde handelt es sich um das schon vor Jahrzehnten widerlegte Lohn- und Sozialdumping-Argument, mit dem schon früher reiche Länder, die den internationalen Wettbewerb der ärmeren unbequem gefunden haben, neue Anbieter von sich fernhalten wollten (vgl. Röpke 1945,191 ff.; 1979, 245 ff.). Eine erste Frucht ist das deutsche Entsendegesetz für Bauarbeiter und der Versuch, die europäische Sozialpolitik zu vereinheitlichen, mit kostentreibender Wirkung in den EU-Ländern, die noch ein geringeres Sozialleistungsniveau aufweisen, als es die Harmonisierer für richtig halten. Mindestens die Entwicklungsländer haben bei dem Versuch, ihnen durch internationale Absprache sozial- und lohnpolitische Mindeststandards aufzuerlegen, erkannt, daß es sich nicht um ihnen angesonnene Menschenfreundlichkeit handelt, sondern darum, sie weniger konkurrenzfähig zu machen und damit die nicht ausreichend umstellungswilligen alten Industrieländer scheinbar zu entlasten. Deswegen haben die Entwicklungsländer solche internationalen Staatskartelle bisher abgelehnt. Die sozialistischen Bestrebungen haben andere Formen angenommen, als sie 1953 bestanden haben. Ähnliches gilt für den Stand der Diskussion und die früher möglichen Ausweichmanöver gegenüber der unabweisbaren Wahrheit, daß der totalitäre Sozialismus weder wirtschaftliche Effizienz noch Menschenwürde gewährleisten kann und daß der demokratische Sozialismus immer in der Gefahr steht, sich darin nur dem Grade, aber nicht dem Prinzip nach zu unterscheiden. Das von Röpke genannte Beispiel des angeblich freiheitlicheren und Marktwirtschaft zulassenden Jugoslawien dürfte nun wohl endgültig seine Alibifunktion für alle diejenigen eingebüßt haben, die einen freiheitlichen Sozialismus oder Halbkommunismus für möglich gehalten haben. Es könnte zwar dem von Tito errichteten kommunistischen System mit marktwirtschaftlichen Beimischungen zugute gehalten werden, daß es ihm gelungen zu sein schien, wenigstens die Nationalitätenkonflikte zu unterdrücken, die nun zu einer Katastrophe geführt haben. Wer so argumentiert, vergißt das Maß an Unterdrückung und wirtschaftlicher Ausbeutung, das hiermit verbunden gewesen ist und das der Revolte gegen ein verhaßtes Wirtschaftssystem noch die Abneigung gegen die Nation hinzugefügt hat, die der

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Hauptnutznießer der ökonomischen Ausbeutung gewesen ist. Auch das chinesische Beispiel bietet den ideologischen Sozialisten immer weniger Hoffnungen, da hier marktwirtschaftliche Reformen mit politischer Unterdrückung kombiniert sind und es nur eine Frage der Zeit ist, wie lange das politische Herrschaftssystem mit einem dazu nicht passenden freiheitlicher gewordenen Wirtschaftssystem noch vereinbar sein wird. Das gilt um so mehr, als das Regime nun das an freiheitliche Politik gewöhnte Hongkong übernommen hat und damit einen liberalen Infektionsherd, der nicht so leicht zu beherrschen sein wird, wie sich die Machthaber das vorstellen. Die Restbestände des echten Kommunismus (Nordkorea, Kuba) sind so abschreckend, daß sie höchstens geeignet sind, das sozialistische Konzept weiter zu diskreditieren.

IV. Die Ordnungsalternative Auch bei vielen, die den totalitären Sozialismus eindeutig ablehnen, ist das Streben nach in irgendeiner Form kollektiver Lösungen ungebrochen. Man möchte immer mehr Bereiche der marktwirtschaftlichen Steuerung, also der Koordination durch Verträge zwischen gleichberechtigten Partnern, entziehen und sie der Regelung durch Kollektive mit und ohne Zwangsmitgliedschaft überantworten, um genossenschaftlich oder anderweitig zusammenfassen und politisch gestalten zu können, möglichst ohne die freiheitsfeindlichen Begleiterscheinungen, die damit verbunden sein können. Die von Röpke betonte Alternative zwischen Markt und staatlichem Plan wird in Frage gestellt und durch eine Suche nach allen möglichen Zwischenlösungen und sogenannten Dritten Wegen abzulösen versucht 8 . Die Warnungen vor einem Alternativradikalismus auf diesem Gebiet haben eine lange Tradition und bieten Stoff für mancherlei bohrenden wissenschaftlichen Scharfsinn von abnehmendem Ertrag. Zunächst ist hier zwischen Tatsachen und der wirtschaftspolitischen Zweckmäßigkeit von Ordnungsmöglichkeiten zu unterscheiden. Selbstverständlich gibt es die genannten Kollektive, etwa Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände oder Krankenkassen und Kassenärztliche Vereinigungen, die für ihre Mitglieder oder auch darüber hinaus Verhandlungen über ökonomische Größen führen, etwa Preise und Entlohnungen. Auch große und monopolistische Unternehmen treten als solche Kollektive auf. Nicht selten verhalten sie sich dem Bürger gegenüber auf Grund von Ermächtigungen hoheitlich, ohne daß sie den Widerspruchsmöglichkeiten des Verwaltungsrechtes unterworfen wären wie die regulären Behörden. Ein abschreckendes Musterbeispiel sind hier die Stromversorger. Ob bei allen diesen nicht eigentlich staatlichen Kollektivregelungen sinnvolle Ergebnisse zustande kommen, ist im einzelnen zu prüfen und oft zweifelhaft. Damit wird aber die von Röpke betonte Alternative nicht aufgehoben. Auch die Abstimmung durch Kollektiwerhandlungen setzt immer das Einverständnis beider Vertragspartner voraus und ist insoweit, wenn auch nur insoweit, noch marktwirtschaftlich 8

Zu den Versuchen, den Dualismus zwischen Markt und Staatsplan aufzulösen vgl. jetzt die verdienstvolle Studie von Clapham (1995); genaueres Zusehen führt dazu, daß es letztlich nicht gelungen ist, diesen Dualismus aufzuheben, während unbestritten bleibt, daß es die verschiedenartigsten Mischungsverhältnisse und Nebenbedingungen geben kann.

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zu nennen. Wenn solchen Verbänden oder Unternehmen aber Anordnungsbefugnisse übertragen werden oder die Verhandlungsergebnisse mit Hilfe der Staatsgewalt auch Nichtmitgliedern der Verbände auferlegt werden, verwandelt sich die Kollektiwerhandlung in einen staatlichen Hoheitsakt. Das gleiche gilt, wenn der Austritt aus einem Kollektiv nicht möglich ist und der Staat dessen Entscheidungen allgemein verbindlich macht. Es wird hier eine Art von mediatisierter Staatsgewalt ausgeübt, die an Interessengruppen abgetreten sein kann, womit der Markt insoweit aufgehoben ist, wie die Befugnis solcher Kollektive reicht. Tertium non datur. Natürlich können einer Transaktion die verschiedenartigsten Prozesse der Willensbildung innerhalb der entscheidungsbefugten Wirtschaftseinheiten oder staatlichen Stellen vorausgehen. Dies gilt unabhängig davon, ob die Transaktion über den Markt oder durch staatliche Anordnung bestimmt wird. Wahlverfahren und Mehrheitsentscheidungen sind jedenfalls kein neuartiges wirtschaftliches Lenkungsverfahren, das an die Stelle von Markt oder Staatsplan treten könnte. Sie legen allenfalls fest, wer zu einer Handlung legitimiert ist, entscheiden über ein Verhandlungsergebnis oder darüber, wie ein Kollektiv in einem konkreten Fall unter Nichtbeachtung von Minderheitsansichten handeln soll. Selbstverständlich hat es im übrigen, wie Röpke betont, immer auch in Marktwirtschaften Bereiche hierarchischer Lenkung gegeben, nicht nur innerhalb der Staatsverwaltung, sondern auch innerhalb der Unternehmungen. Außerdem hat es immer Kooperation verschiedener Firmen bei Gemeinschaftsprojekten gegeben, obwohl dies meist auf der Grundlage von Marktverträgen, sei es mit dem Auftraggeber, sei es mit einem Generalunternehmer, geschehen ist. Es wäre aber die Frucht unklaren Denkens, in Kooperationen solcher Art ein neues einzel- oder gesamtwirtschaftliches Lenkungssystem entdecken zu wollen. Es handelt sich dabei vielmehr immer um die Alternative, ob über einen Vorgang einvernehmlich über expliziten oder impliziten Vertrag entschieden wird, also über den Markt, oder durch Anordnung, wie sie innerhalb von Unternehmungen auf Grund des freiwillig abgeschlossenen Arbeitsvertrages hingenommen wird oder wie sie von der Staatsgewalt auch gegen Widerstreben durchgesetzt wird. Kein einziges der genannten vermeintlich die Wahl zwischen Markt und Staatsplan aufhebenden Verfahren kann dazu dienen, den gesamtwirtschaftlichen Prozeß zu steuern. Auch Demokratie ist kein einzel- oder gesamtwirtschaftliches Lenkungsprinzip. Das Parlament kann entweder die für eine Marktwirtschaft notwendigen Rahmengesetze erlassen oder einen staatlichen Volkswirtschaftsplan genehmigen. Natürlich kann es auch den Markt verzerrende und korrigierende Gesetze aller Art erlassen, aber damit wird weder der Markt aufgehoben, noch gelingt es dem Staat damit, den Wirtschaftsprozeß wirklich zu beherrschen. Das Parlament ist unfähig, die Wirtschaft im einzelnen zu lenken oder selber einen staatlichen Zentralplan zu entwerfen und zu kontrollieren. Weshalb das so ist, hat von Hayek schon 1944 in seinem Buch „Der Weg zur Knechtschaft" (90 ff.) erklärt. Daß eine Fülle verschiedenartiger Marktwirtschaften einerseits und verschiedenartiger staatlicher Zentralpläne zur Lenkung der Gesamtwirtschaft andererseits möglich ist, ändert nichts daran, daß die gesamtwirtschaftliche Steuerung nur entweder über den Markt oder über den Zentralplan vor sich gehen kann.

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Der Versuch, die volkswirtschaftlichen Makrogrößen vollständig über eine Globalsteuerung zu beherrschen, die Mikrodezisionen aber dem Markt zu überlassen, kann als gescheitert angesehen werden. Gewiß kann und teilweise soll die Wirtschaftspolitik einen erheblichen Einfluß auf die wirtschaftlichen Entscheidungen und die daraus hervorgehenden Aggregate ausüben. Das Rätsel jedoch, wie man volkswirtschaftliche Aggregate im Wege einer Globalsteuerung ohne Manipulierung der Entscheidungsfreiheit der Teile, also der Einzelentscheidungen, verändern kann, aus denen sie sich zusammensetzen, hat sich schon aus logischen Gründen als nicht lösbar erwiesen. Auch die theoretische Möglichkeit, Einzelentscheidungen durch scheinbar marktkonforme Interventionen und Rahmenbegrenzungen so zu steuern, daß die einzelnen Wirtschaftseinheiten darauf genau nach einem staatlichen Zentralplan reagieren wie die Paw/owschen Hunde mit ihren bedingten Reflexen, ist eine Utopie (vgl. Willgerodt 1966,201 ff.). Allerdings haben seit Jahren die Bestrebungen zugenommen, immer mehr Märkte durch eine Kombination von staatlichen Regulierungen und unternehmerischen Zentralplanungen in mehr oder weniger hierarchisch gesteuerte Bereiche zu verwandeln. In Feldherrenmanier spricht man von 'strategischen Allianzen', die man mit anderen Großfirmen abschließen müsse, zur Rationalisierung und Eroberung des Weltmarktes, wobei eine 'strategische Handelspolitik' helfen soll, um unter staatlichem Schutz im Gebiet der Hochtechnologie vorzudringen (kritisch hierzu Dönges 1995). Ein neues wirtschaftliches Lenkungsverfahren ist damit weder mikro- noch makroökonomisch erfunden. Entweder handelt es sich um bloße freiwillige Zusammenarbeit zwischen Unternehmungen mit und ohne staatliche Hilfestellung zu einem bestimmten vom Markt zu bestätigenden oder zu verwerfenden Zweck, die es immer gegeben hat, oder aber der Staat organisiert Marktaufteilung, Protektionismus und Wettbewerbsbeschränkung. Auch die Zusammenfassung von Unternehmungen unterschiedlicher Produktionsrichtung zum Zwecke des (oft nicht gelingenden) internen Risiko- und Verlustausgleichs entzieht zwar dem Markt einen Teil seiner Sanktionswirkung und erweitert die hierarchisch gelenkten Teilbereiche der Wirtschaft, bedeutet aber nicht, daß damit ein neues Lenkungsverfahren für den Wirtschaftsprozeß im Ganzen gefunden wäre. Noch immer wird freilich ein großer Teil der Diskussion von der These beherrscht, konkrete Volkswirtschaften seien stets gemischte Systeme. Es sei unredlich, den (inzwischen stark verblaßten) Erfolg der westdeutschen Wirtschaft ihrem marktwirtschaftlichen Teil zuzuschreiben. Natürlich hat auch die öffentliche Hand mindestens teilweise zu diesem Erfolg beigetragen, nicht zuletzt deswegen, weil sie im Rahmen einer marktwirtschaftlichen Ordnung auf die Lösung deijenigen Probleme beschränkt bleiben kann, bei denen sie über komparative Vorteile gegenüber der Privatwirtschaft verfugt. Auch stehen ihr in einer Marktwirtschaft Wirtschaftlichkeitsmaßstäbe zur Verfügung, die es in einer zentralgeleiteten Wirtschaft ohne Marktpreise nicht gibt. Daraus folgt aber, daß es auf die marktwirtschaftliche Komponente ankommt. In dem Umfang, in dem die Staatsverwaltung sich hemmend, verzerrend, subventionierend und bürokratisierend in alle Bereiche der Wirtschaft und des täglichen Lebens eindrängt, verzerrt sie zugleich die Maßstäbe für ihr eigenes wirtschaftliches Handeln. Die von dem heute vorherrschenden Prinzip der Allzuständigkeit des Staates und der Politik geschaffene Krise hat nicht nur die Marktwirtschaft deformiert, sondern auch die Effizienz der Staatsver-

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waltung selbst in teilweise katastrophaler Weise herabgesetzt, bis hin zu der dieser Lage nicht mehr Herr werdenden Rechtsprechung, Steuerverwaltung und Jurisprudenz. Die politische Praxis sucht Abhilfe nicht in einer Deregulierung, sondern in einem Abbau des Rechtsstaates, weiteren Kontrollen und Zentralisierungen (vgl. im einzelnen Willgerodt 1979). Auf der anderen Seite bedarf die Marktwirtschaft eines rechtsstaatlichen Rahmens und der zugehörigen staatlichen Organisation, um funktionsfähig zu sein. Das bestreiten nur einige ultraliberale Anarchisten, deren Modellvorstellungen keinen Wirklichkeitsgehalt haben, außerdem jene Kriminellen, die in den zerfallenen Zentralverwaltungswirtschaften des Ostens eine auf Erpressung, Korruption, Diebstahl und Betrug aufgebaute und an südeuropäische Vorbilder erinnernde Pseudo-Marktwirtschaft errichtet haben. Sie bringen damit das marktwirtschaftliche System ebenso in Mißkredit wie es in anderen Ländern die kommerzielle und publizistische Propagierung von Pornographie, Drogen und Gewalt getan haben.

V. Verleumdungen und falsche Zurechnungen Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus ist die Marktwirtschaft als einzige noch in Betracht kommende Möglichkeit einer mindestens funktionsfähigen gesamtwirtschaftlichen Ordnimg übrig geblieben. Hat also die Marktwirtschaft ihre Gegner verloren? Für ihren Niedergang genügt es schon, wenn sie ihre Anhänger verliert, weil man ihre Grundsätze nicht mehr versteht oder sogar vehement ablehnt. In Deutschland wie in anderen Ländern ist dieser Prozeß weit fortgeschritten und wird durch die anhaltende Arbeitslosigkeit, die sich in aufeinander folgenden Zyklen verstärkt, weiter vorwärts getrieben. Der Vorschlag, den ein deutscher Sozialist vor Jahren gemacht hat, nämlich die Belastbarkeit des Systems zu testen, ist inzwischen im Übermaß befolgt worden, begleitet von gelungenen Versuchen, fur das Ergebnis nicht die Beiaster, sondern das marktwirtschaftliche System als das Opfer dieses Tuns verantwortlich zu machen. Zunächst sind die Verleumdungen der Marktwirtschaft seit der Anfangszeit der Bundesrepublik Deutschland ohne Unterbrechung fortgesetzt worden. Sie haben sich sogar verstärkt, seitdem eine neue Generation von Ökonomen, Juristen und Wirtschaftshistorikem herangewachsen ist, die nicht mehr aus eigener Erfahrung über die Wirtschaftsentwicklung in der Zeit Ludwig Erhards berichten kann, vor dem offenkundigen Elend der zusammengebrochenen Zentralverwaltungswirtschaften in aller Welt die Augen verschließt und nicht weiß, aus welchem Massenelend heraus sich die westdeutsche Wirtschaft mit Hilfe marktwirtschaftlicher Reformen entwickelt hat. Das trotz aller Krisenerscheinungen noch immer sehr ansehnliche Wohlstandsniveau der breiten Massen in Deutschland wird als unbeachtliche Selbstverständlichkeit angesehen, über deren Verursachung man sich keine Gedanken zu machen braucht. Um so begieriger werden viele noch so abwegige Behauptungen und Berechnungen nachgesprochen, mit denen viele deijenigen seinerzeit aufgewartet haben, die bei der ordnungspolitischen Grundentscheidimg nach 1948 unterlegen sind. So wird denn mit Hilfe falscher oder falsch

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ausgelegter Statistiken nachzuweisen versucht, daß Westdeutschland trotz des damals fiir jedermann sichtbaren Trümmerhaufens der deutschen Städte und öffentlichen Einrichtungen mit einer geradezu vorzüglichen Kapitalausstattung aus dem Kriege hervorgegangen sei (zur Kritik Willgerödt 1994, 65 f.). In der Zeit bis zur Währungsreform von 1948 sei weiteres hinzugefügt worden. Die von Ludwig Erhard verantwortete Wirtschaftsreform sei nahezu bedeutungslos gegenüber den autonomen Wachstumskräften gewesen, die sich aus nicht weiter erklärten Gründen vor und nach Einführung der Marktwirtschaft als die eigentliche Ursache herausgestellt hätten (Quellennachweise bei Willgerödt 1991). Man fragt sich, warum nicht solche Merkwürdigkeiten eines bei voller Zwangs- und Zentralverwaltungswirtschaft autonomen Wachstums auch für die ehemalige DDR behauptet werden, die ebenso mit 'guten' Investitionsstatistiken aufwarten konnte und doch im Jahre 1989 wirtschaftlich ruiniert war. Die These von der relativen Bedeutungslosigkeit marktwirtschaftlicher Reformen ist zwar bei einigen Neuhistorikern zur Lehrbuchreife gelangt, und die daran geübte Einzelkritik wird beiseite geschoben, aber diese Position steht in einem so schreienden Gegensatz zu den nicht zu unterdrückenden Tatsachen, daß man glauben könnte, diese Ansichten würden von keinem Redlichen mehr vertreten, vor allem, wenn man auch die noch lebenden Zeitzeugen mit beachten würde. Viele Sozialisten, einschließlich der christlichen unter ihnen, halten aber unbeirrt daran fest, der Weg Ludwig Erhards sei verfehlt gewesen. Dies wird dadurch erleichtert, daß es in der westdeutschen Marktwirtschaft einen großen Bereich zwangs- und staatswirtschaftlicher Regulierungen gegeben hat und noch gibt, so daß auf den ersten Blick die Zurechnung von Erfolg und Mißerfolg schwierig ist, wenn man nicht bereit ist, wirtschaftstheoretische Überlegungen anzustellen und zu prüfen, durch welche Veränderungen sich die zentralgeleitete Wirtschaft von einer, wenn auch unvollkommenen, späteren Marktwirtschaft unterscheidet. Noch im Jahre 1960 hat der Vizepräsident der Deutschen Bundesbank Heinrich Tröger entschieden bestritten, daß der wirtschaftliche Wiederaufstieg Westdeutschlands eine Folge der Marktwirtschaft und des Liberalismus gewesen sei. Nicht nur diese Tatsache ist bedeutungsvoll, sondern auch ihre Begründung: Es gebe ja in Westdeutschland kaum Marktwirtschaft, da weite Bereiche der Wirtschaft wie Landwirtschaft, Wohnungswirtschaft, Verkehr und große Industriegruppen ganz oder teilweise dem freien Spiel der Marktkräfte entzogen seien. Die Zeit des bürgerlichen Liberalismus sei vorbei. Damit das Wirtschaftswunder zu erklären sei illusionär. Heute müsse man andere Wege finden, ohne dabei Angst vor dem 'Einwurf des Dirigismus' zu haben. Nachdem nun seit mehr als zwei Jahrzehnten von einer solchen 'Angst' nicht mehr im geringsten die Rede sein kann, ist wohl die peinliche Frage nach dem Ergebnis erlaubt, das in Arbeitslosigkeit, Krise des Sozialstaates und der öffentlichen Finanzen, Wachstumsschwäche und Fehlinvestitionen besteht. Man tut einem großen Teil der veröffentlichten Meinung, der Abgeordneten, der staatlichen Verwaltung und Angehörigen der Rechtspflege und Rechtswissenschaft wahrscheinlich kein Unrecht, wenn man ihm oft Fremdheit gegenüber der Marktwirt-

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schaft unterstellt 9 . Staat und Politik sind es meist, vielleicht auch das für umfassend erklärte 'Demokratieprinzip' 10 , das die Selbstbestimmung ersetzt, von denen alles erwartet wird, und es gibt nur selten einen Politiker, der offen erklärt, für eine bestimmte Sorge seien weder der Staat noch die Politik zuständig, sondern der Einzelne und die nicht politischen Gemeinschaften. Wohlfeile und in Allgemeinheiten stecken bleibende Appelle an Selbstverantwortung und Bürgersinn verschleiern nur den Sachverhalt der von der Politik geforderten und betriebenen Entmündigung durch staatlich organisierte Betreuung, die aus Abgaben der Betreuten finanziert wird.

VI. Wirtschaftsordnung und deutsche Wiedervereinigung In einem Artikel aus dem Jahre 1958 hat sich Franz Böhm mit dem Vorschlag des SPD-Abgeordneten Wehner auseinandergesetzt, im Interesse der deutschen Wiedervereinigung auf eine Angleichung der Wirtschaftsordnung in den beiden Teilen Deutschlands zu verzichten, wenn die Aufrechterhaltung der sogenannten 'sozialen Errungenschaften' in der DDR von der Sowjetunion zur Bedingung der Vereinigung gemacht werde. Es könne doch im selben Staatsgebiet zwei verschiedene Wirtschaftsordnungen geben, zumal sie sich, was die Mischung von Markt- und Staatswirtschaft angehe, nur dem Mischungsverhältnis nach unterschieden. Angeblich wird ein solches Experiment nun zwischen Hongkong und Festlandchina gemacht werden. Dieser Fall unterscheidet sich freilich vom innerdeutschen Beispiel dadurch, daß in China keine eindeutig dominierende Zentralverwaltungswirtschaft mehr besteht, bei der DDR aber damals eine solche Lockerung nicht zu erwarten war. Böhm wies nach, daß zwar die Beibehaltung staatlichen Eigentums an Unternehmungen hätte zugestanden werden können, nicht aber eine ostdeutsche Zentralverwaltungswirtschaft, weil sich dieses System gegenüber Westdeutschland weiterhin durch einen eisernen Vorhang hätte abschließen müssen, um funktionsfähig zu bleiben. Das aber sei innerhalb desselben Staates politisch unmöglich. Da die Sowjetunion und die Ostzonenregierung dies wüßten, könne die Wiedervereini9

Typisch sind die Ausführungen des in 15. Auflage erschienenen Lehrbuchs des Staatsrechts von E. Stein (1995, 375 ff.) zur Wirtschaftsordnung, die zahllosen deutschen Juristen als wissenschaftlich begründete Sachaussage nahegebracht worden sind. Danach können Wirtschaftkrisen durch Umverteilung des Vermögens und durch mehr Geld für die Notleidenden überwunden werden. Kapitalvermehrung und weiteres hemmungsloses Wachstum seien schädlich. Freiheit, Gleichheit, die Prinzipien der Demokratie und des Sozialstaates seien in der gegenwärtigen deutschen Wirtschaftsordnung völlig unzureichend verwirklicht. Da die Umverteilung des Kapitals wegen der Entschädigungspflicht schwierig sei, komme einer realen Parität in der Mitbestimmung um so größere Bedeutung zu. Solche Thesen bedürfen offenkundig nach Ansicht dieses Juristen keiner genaueren sozialwissenschaftlichen, geschweige denn einer wirtschaftswissenschaftlichen Begründung. 10 So wird im Namen des 'Demokratieprinzips' behauptet, eine durch Gesetz des demokratisch gewählten Gesetzgebers festgelegte Unabhängigkeit der Notenbank sei unzulässig. Demnach wäre nur 'politisches', also potentiell inflationistisches Geld erlaubt. Man fragt sich, weshalb dann nicht auch das Metermaß und die Gewichtsmaße politisiert und demokratisiert werden, sondern dazu berufenen Fachbehörden zur Betreuung überlassen sind. Zur Politisierung oder Entpolitisierung von Bereichen ist allenfalls der demokratisch bestimmte Gesetzgeber ermächtigt, der dabei die volkswirtschaftliche Natur der Sache kennen sollte. Auf die Gefahr einer umfassenden Dominanz des politischen gegenüber dem ökonomischen Sachverstand hat der SPD-Abgeordnete Uwe Jens (1997) hingewiesen.

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gung erst dann zustande kommen, wenn die „UdSSR die Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit zuließe". Wahrscheinlich sei dies erst als Folge einer Entspannung zwischen den Weltmächten zu erwarten. Genau so ist es gekommen. Die Wiedervereinigung hat Westdeutschland unvorbereitet getroffen. In ihrem Vollzug hat sich die ordnungspolitische Erosion, also das schon vorher anhaltende Abrücken von marktwirtschaftlichen Grundsätzen, weiter verstärkt. Gewiß war es unvermeidlich, daß die Vereinigung die westdeutschen öffentlichen Haushalte auf eine schwere Belastungsprobe stellen mußte, nachdem einmal der Zustand der DDR-Wirtschaft bekannt geworden und durch eine Politik der künstlichen Kostensteigerung aus angeblich 'sozialen' Gründen noch verschärft worden war. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Anstatt den Wiederaufbau im Osten zu einer gemeinsamen deutschen Aufgabe zu erklären, zu deren Lösung ein jeder in Ost und West nach besten Kräften beizutragen hat, ging es vielfach um die wahltaktische Befriedigung der parteipolitischen Klientel in dem Sinne, daß die westdeutsche Wirtschaft von möglichen Wettbewerbsimpulsen aus Ostdeutschland so gut wie vollständig freigestellt wurde und dies durch gigantische Abstandszahlungen an die ostdeutsche Bevölkerung abgesichert wurde. Die Gelegenheit, sich selbst am Markt zu helfen und zu bewähren, wurde der ostdeutschen Wirtschaft weitgehend verweigert. Sie wurde zu großen Teilen an nicht einheimische Neuerwerber, oft Konkurrenten, verkauft, zumal der Rückerwerb durch enteignete Alteigentümer stark behindert wurde und wird. Den Ostdeutschen wurde der Eindruck vermittelt, westdeutscher Wohlstand komme nun sozusagen mit der harten DM durch den Einzelhandel frei Haus. Daß die Vereinigung mit gewaltigen persönlichen Umstellungen ähnlich denen verbunden sein würde, die sich in Westdeutschland bei dem Systemwechsel von 1948 vollzogen haben, wurde erst später erkannt. Dem Optimismus, mit dem vor allem auch die Vertriebenen in Westdeutschland der Umstellung nach der Währungs- und Wirtschaftsreform von 1948 entgegensahen, stand in der ehemaligen DDR nach einem schnell verflogenen Jubel ein von den Massenmedien gepflegter Pessimismus gegenüber, der die Ostdeutschen entmutigen und die Westdeutschen abschrecken sollte. Die auch in Westdeutschland bemerkbare Aufbruchstimmung wurde nur zögernd ermutigt. Es wurde vielmehr der westdeutschen Bevölkerung nach Möglichkeit zunächst kein Opfer für die Wiedervereinigung zugemutet, sondern die Früchte einer in Ostdeutschland erzeugten und aus dem Westen finanzierten Konsumkonjunktur wurden von den Westdeutschen in Form von Einkommenssteigerungen geerntet. Im Hintergrund dieser Politik stand die Vorstellung, man könne insbesondere bei der jüngeren westdeutschen Generation nicht mehr mit jenem Minimum an Patriotismus rechnen, das für jede normal gebliebene Nation selbstverständlich ist. Maßgebende Meinungsbildner und Politiker hatten dies in Westdeutschland jahrelang als unzeitgemäßen Nationalismus verdächtigt. Der Hypertrophie des Nationalstaates (vgl. Röpke 1966) folgt nun die antipatriotische Unterernährung, die von einer blaß bleibenden, bürokratisch organisierten Europa-Euphorie und einer fragwürdigen multikulturellen Idealisierung kompensiert werden soll. Daß man glaubte, in diesem selbstgeschaffenen Klima die Aufgabe des ostdeutschen Wiederaufbaus weniger durch Mehrleistung bewälti-

80 • Hans Willgerodt gen zu sollen und stärker durch Staatsverschuldung, ist teilweise verständlich. Aber das ist nur eine Zwischenlösung gewesen. Die von Röpke gestellten Kernfragen der Wirtschaftsordnung sind nur um so dringlicher geworden, weil schon allein die Zinslast bei den öffentlichen Haushalten eine unbekümmerte Fortsetzung des Fiskalsozialismus nicht mehr zulassen und der Konflikt mit den reformunwilligen Expansionisten sozialpolitischer Umlagen nunmehr in voller Schärfe ausgebrochen ist. Auch in der Europapolitik lassen sich die bisher üblichen Formelkompromisse und versteckten Dissense nicht mehr aufrecht erhalten. Die europäischen Errungenschaften der Nachkriegszeit bestehen nahezu vollständig in den liberalen Freiheiten für Handel, Dienstleistungen, Kapitalverkehr und Bewegung der Menschen über die innereuropäischen Grenzen hinweg, nicht in den unendlichen Regulierungen, die von den EUBehörden ausgehen und zum großen Teile gerade nicht dafür notwendig oder dafür bestimmt sind, jene Freiheiten rechtlich abzusichern. Auch die Wiedervereinigung Europas mit den mittel- und osteuropäischen Ländern wird von den Kernfragen der Wirtschaftsordnung beherrscht werden, die Röpke behandelt hat.

Literatur Böhm, Franz (1950), Die Idee des Ordo im Denken Walter Euckens, ORDO, Bd. III, S. XVLXIV; auch in: Franz Böhm (1980), Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, BadenBaden, S. 11-51. Böhm, Franz (1958), Zweierlei Wirtschaftsordnung im wiedervereinigten Deutschland, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6.9.1958. Briefs, Goetz (1966), Staat und Wirtschaft im Zeitalter der Interessenverbände, in: Goetz Briefs (Hrsg.), Laissez-faire-Pluralismus. Demokratie und Wirtschaft des gegenwärtigen Zeitalters, Berlin, S. 7-317. Clapham, Ronald (1995), Die Öffnung des Dualismus, in: Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie, 14. Bd., S. 47-66. Dönges, Juergen B. (1995), Nach der Uruguay-Runde: Alte und neue Bedrohungen für den freien Handel, Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 44. Jg., S. 209-230. Fischer, Wolfram (1993), mit Herbert Hax und Hans Karl Schneider (Hrsg.), Treuhandanstalt. Das Unmögliche wagen, Berlin. Hayek, Friedrich A., von (1944), The Road to Serfdom, Chicago, London; deutsch: (o.J., übersetzt von Eva Röpke) Der Weg zur Knechtschaft, Erlenbach-Zürich. Herzog, Roman (1996), Wettbewerb bedeutet Wandel, Rede des Bundespräsidenten aus Anlaß der Jahrestagung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände am 12. Dezember 1996 in Bonn, Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 106 vom 27.12.1996, S. 1142-1144. Jens, Uwe (1997), Ein Hoch auf die Vernunft der Ökonomie. Das Schlagwort von der Dominanz des Politischen birgt viele Risiken, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7.1.1997. Lafontaine, Oskar (1996a), Standortwettbewerb kann nicht die Lösung sein, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.6.1996. Lafontaine, Oskar (1996b), Wir können nicht billiger sein als China oder Indien, Frankfurter Rundschau vom 23.10.1996. Röpke, Wilhelm (1945), Internationale Ordnung, Erlenbach-Zürich. Röpke, Wilhelm (1958), Jenseits von Angebot und Nachfrage, 1. Aufl., Erlenbach-Zürich. Röpke, Wilhelm (1966), Nation und Weltwirtschaft, ORDO, Bd. XVII, S. 37-56. Röpke, Willhelm (1979), Internationale Ordnung - heute, 3. Aufl., Bern und Stuttgart.

Von der Sozialen Marktwirtschaft zum demokratischen Sozialismus - ein Nachwort • 81

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Summary From Social Market Economy to Democratic Socialism - a Postscript In an epilogue to Wilhelm Röpke's article on ,3asic Problems of the Economic Order" the author examines what is still valid of his statements after more than forty years and what has to be adapted to political changes since then. While totalitarian socialism has suffered from a comprehensive breakdown democratic socialism of all parties is a

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dominating feature of many European countries including Germany. Fiscal socialism and a comprehensive welfare state led to a financial crisis and heavy unemployment, while other aspects of the control state as criticised by Röpke are not so acute any more, for instance exchange control and employment policy by deficit spending or barriers to international trade. There are still tendencies to avoid the alternative between market and state planning, and the misinterpretations of the neoliberal concept by socialists and ignorant intellectuals did not change very much. Whether Germany and other countries will be ready to reform their deteriorated social and economic system remains to be seen.

II. Wandel der Ordnungspolitik

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1997) Bd. 48

Hans Otto Lenel

Ordnungspolitische Kursänderungen Inhalt I. Die Ausgangslage und die Wende zur Marktwirtschaft II. Die 'soziale' Marktwirtschaft III. Die 'aufgeklärte' Marktwirtschaft IV. Kursänderungen seit 1982 Literatur Zusammenfassung Summary: Changes in Economic Policy

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I. Die Ausgangslage und die Wende zur Marktwirtschaft Das Problem, wie die überwiegend zentral gelenkte, auf die Ziele der Kriegsführung ausgerichtete deutsche Wirtschaftsordnung in eine funktionsfähige, der Versorgung mit Konsumgütern dienende Ordnung verwandelt werden könnte, hat deutsche Nationalökonomen mindestens seit Ende 1941 beschäftigt. Damals war noch nicht zu übersehen, wie erbärmlich die wirtschaftliche Situation Deutschlands nach Kriegsende sein würde. Aber Walter Eucken hat bereits 1942 in seinem Referat „Wettbewerb als Grundprinzip der Wirtschaftsverfassung" die für den Wandel zu lösenden Aufgaben grundsätzlich klar formuliert: Wiederherstellung und Erneuerung des Produktionsapparats, Priorität für die Konsumgüterproduktion, nicht mehr für Aufrüstung und Kriegsführung. Für die daraus entstehende Vielfalt der Nachfrage hielt er die Verfahren von zentralen Verwaltungsstellen für ungeeignet. Die Lenkung des Wirtschaftsprozesses sollte den Preisen und ihren Relationen überlassen werden, die jedoch aufgrund des Preisstopps von 1936 die unterschiedlichen Knappheiten der Güter nicht mehr zum Ausdruck bringen. Erst wenn der Geldüberhang beseitigt und eine neue Währungsordnung eingeführt sei, könnten die Bindungen fallen. Um eine funktionsfähige Wirtschaftsordnung zu erreichen, sei auch die private wirtschaftliche Macht abzubauen oder, wo das nicht möglich ist, zu kontrollieren. Ende März 1943 traf sich erstmals eine Gruppe von Gelehrten, Arbeitsgemeinschaft Erwin von Beckerath genannt, um über den nötigen Wandel weiter zu arbeiten. Eine gemeinsame Veröffentlichung unterblieb, wohl nicht nur wegen der Verhaftung von Teilnehmern an dieser Arbeitsgemeinschaft und wegen der hoffnungslosen Situation, sondern auch wegen der bestehenden Meinungsverschiedenheiten. Das Ausmaß des Zusammenbruchs im Frühjahr 1945 ließ sich zwar immer noch nicht klar erkennen.

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Euchen, der in dieser Arbeitsgemeinschaft am konsequentesten für eine marktwirtschaftliche Lösung eintrat, ging jedoch von der später nicht bestätigten „Annahme aus, daß am Kriegsende das zentralverwaltungwirtschaftliche Lenkungssystem ... noch funktioniert" (Blumenberg-Lampe 1986, 182). Er wollte mit einem „vorbereitende(n) Stadium" beginnen. In diesem Stadium sollten „die Massenproduktion bestimmter" lebenswichtiger Konsumgüter eingeleitet, der Staatshaushalt ausgeglichen, der Kaufkraftüberhang beseitigt, die Wechselkurse berichtigt und die Zinssätze erhöht werden. „Gewisse Revisionen der Preis- und Lohnrelationen" hielt Eucken in diesem Stadium für zweckmäßig (Blumenberg-Lampe 1986, 182 f). Erst später, im „Stadium des eigentlichen Übergangs", sollten Preisstopp und Rationierung, Zuteilungen und Investitionskontrollen wegfallen und die Zinssätze frei beweglich werden. Dann könne der „eigentliche Wiederaufbau" beginnen. Adolf Lampe und Theodor Wessels vertrauten für die Zeit des Übergangs nach Kriegsende dem Wissen und der Tätigkeit von Behörden mehr als den Unternehmen und den Marktergebnissen. Wessels ging insoweit am weitesten. Lampe meinte, es bleibe zunächst „keine andere Wahl übrig als die, durch zentrale Ordnungsmaßnahmen künstlich eine Reproportionierung des Angebots und der Nachfrage, der Produktionselemente und der Wirtschaftszweige zueinander anzubahnen ..." (Blumenberg-Lampe 1986, 94). Im Frühjahr 1945 war die Situation in Deutschland weit schlimmer, als man sich auch noch 1943 vorstellen konnte, und das Geschehen bis zur Währungsreform entsprach keineswegs dem, was Eucken für das „vorbereitende Stadium" vorgesehen hatte. Im Mai 1945 war nicht nur ein totaler politischer, sondern auch ein totaler wirtschaftlicher Zusammenbruch zu verzeichnen. Die räumliche Arbeitsteilung war fast ganz zusammengebrochen. Die verbliebenen restlichen Elemente des zentralverwaltungswirtschaftlichen Systems waren mit dem nun gewährten Freiheitsgrad nicht zu vereinbaren. Unter den gegebenen Umständen strebten die Unternehmer im allgemeinen nicht danach, die gegebene Güterknappheit möglichst zu überwinden, die sie auch mangels einer funktionsfähigen Preisbildung gar nicht hinreichend erkennen konnten. Sie versuchten vielmehr, sich für eine erwartete künftige Veränderung des Wirtschaftssystems möglichst zu rüsten, was zum Horten von Rohstoffen und Erzeugnissen, vor allem auch halbfertigen Erzeugnissen, anregte. An die Einleitung einer Massenproduktion von Konsumgütern war nicht zu denken. Die Wirtschaftspolitiker konnten zufrieden sein, wenn es gelang, die völlig unzureichenden Rationen auf Lebensmittelkarten und mit anderen Formen der Bewirtschaftung zuzuteilen. Schwarz- und Tauschhandel blühten. Wer es konnte, ging - mit oder ohne Tauschobjekte - zum 'Hamstern'. Da es als allgemeines Tauschmittel brauchbares Geld wegen des Geldüberhangs nicht gab, war auch in einem kleineren Raum - Stadt oder Kreis - eine befriedigende Arbeitsteilung kaum zu verwirklichen. Carlo Mötteli (1961, 62) hat es aus der Sicht eines Schweizers so ausgedrückt: Der „Hochschuldozent trat als Holzfäller, der Staatsanwalt als Kohlendieb, der Arzt als Tauschhändler und der Feinmechaniker als Kumpel auf." Eine brauchbare Wirtschaftsrechnung war nicht möglich. „Der Einzelne" handelte „richtig, aber die Ordnung" war „verfehlt" (Eucken 1951, 136).

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Für die Einleitung einer Massenproduktion von Konsumgütern fehlten auch die Produktionskapazitäten. Das wird zwar von einigen Autoren mehr oder weniger weitgehend bestritten, oder die Bedeutung dieses Mangels wird gemindert. So schreibt Schmieding (1991, 202), das Problem vor dem 21. Juli 1948 (Tag der Währungsreform) sei die „Unterauslastung der zwar vielfach beschädigten, aber doch vorhandenen Substanz" gewesen. „Im ersten Halbjahr 1944 hatte die deutsche Industrieproduktion Rekordhöhen erreicht. Im ersten Halbjahr 1948 produzierten die Unternehmen nur knapp 30 vH dessen, was dieselben Unternehmen mit in etwa demselben Bestand an Kapital, Technologie und Arbeitskräften vier Jahre vorher hergestellt hatten." Ich fuge ein: Damals hatten sie allerdings überwiegend Kriegsmaterial produziert. Schmieding (1991, 202) fährt fort: Es „reichten relativ geringe Reparaturinvestitionen aus, um erhebliche Teile des Sachkapitalbestands und der ebenfalls modernen Infrastruktur rasch wieder funktionsfähig zu machen." Von Schmieding weiß ich, daß er sich bei diesen Ausfuhrungen auf die Arbeiten von Krengel (1956, 1958) und auf The United States Strategie Bombing Survey von Ende Oktober 1945 stützte. Schmiedings Ausfuhrungen und Krengels Folgerungen aus den von ihm zusammengestellten Statistiken widersprechen dem, was ich selbst vor, in und nach dem Jahre 1945 gesehen und erfahren habe. Gewiß gab es Fabriken, welche von starken Bombenangriffen verschont geblieben waren und in welchen der Reparaturrückstand und Ersatzbedarf aus den Kriegsjahren wie auch aus den Jahren davor relativ gering war. Aber die Regel war das nicht. Für die Mehrzahl der Produktionsstätten war eher MüllerArmacks (1946a, 42) Äußerung zutreffend, es sei vermessen, das „Fragment unserer gegenwärtigen Wirtschaft für befähigt zu halten, die fast übermenschliche Aufgabe der deutschen Wirtschaft ... zu lösen." In eine ähnliche Richtung geht die Feststellung, die Wilhelm Röpke kurz vor der Währungsreform getroffen hat: „Deutschland ist in einem Maße vernichtet und in ein Chaos verwandelt, das niemand sich vorstellen kann, der es nicht mit eigenen Augen gesehen hat" (nach Mötteli 1961,67). Gegen die von den Schmiedingschen abweichenden, aber auch auf den Produktionszahlen von 1944 basierenden Thesen zur Minderung der Bedeutung der Wende zur Marktwirtschaft wie die von Abelshauser (1982; über die Problematik seiner Beweisfuhrung siehe Ritsehl 1985) sprechen auch pessimistische Prognosen vor dieser Wende wie die in dem offiziellen sogenannten Harmssen-Bericht, daß „ohne Wiederherstellung des Status quo im Osten nur Tod oder Auswanderung von 20 Millionen Deutschen die Ernährungslage wirksam erleichtem" könnten (zitiert nach Mötteli 1961, 60.) Von Harmssen dürften auch die Zahlen stammen, von denen Ludwig Erhard in einem Vortrag in Antwerpen 1954 berichtet hat: Jeder Deutsche könnte nur alle fünf Jahre einen Teller, alle zwölf Jahre ein Paar Schuhe, alle fünfzig Jahre einen Anzug bekommen. Nur jeder fünfte Säugling könnte in eigenen Windeln liegen, und nur jeder dritte Deutsche habe die Chance, in einem eigenen Sarg beerdigt zu werden (Mötteli 1961, 75). Krengel (1956, 97) hat das Brutto- und Nettosachanlagevermögen der deutschen Industrie aus deren Investitionen seit 1924 errechnet. Die Investitionen von 1940 bis zur ersten Hälfte 1948 mußten geschätzt werden, da nur „dürftige Informationen" vorlagen. Noch problematischer als dieser Zwang zur Schätzung dürfte sein, daß zusätzlich noch für alle Jahre bis 1945 eine Schätzung des Anteils der deutschen Investitionen nötig war,

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der auf das Gebiet der Bundesrepublik entfiel. Krengel schätzte, daß der Anteil Westdeutschlands an den Investitionen 1939 noch 63 Prozent betrug und bis 1945 nur um drei Prozentpunkte abfiel. Von den hohen Investitionen, die er für die letzten Kriegsjahre schätzte, dürfte sich jedoch ein großer Teil aus der Verlagerung von kriegswichtigen Betrieben ergeben haben. Diese Verlagerungen fanden im wesentlichen nicht in das besonders durch Luftangriffe gefährdete Westdeutschland statt, denen man ja gerade durch die Verlagerung entgehen wollte. Deshalb war ein sehr erheblicher Teil jener Investitionen für Westdeutschland nach Kriegsende irrelevant, weil er im Gebiet der späteren DDR oder in Gebieten stattfand, die an Polen fielen. Krengels Prozentsatz dürfte deshalb viel zu hoch sein. Die Aufteilung der Investitionen durch The Strategie Bombing Survey (1945) zeigt das große Gewicht der Rüstungsinvestitionen, von denen dann ein großer Teil entweder durch spätere Luftangriffe zerstört oder nach Kriegsende demontiert wurde oder für eine Friedensproduktion nicht brauchbar war. Das schätzte Krengel zu gering. Ein großer Teil der Kriegsschäden fiel erst in den letzten Monaten des Krieges an. Bis zur Währungsreform war es zwar manchen Unternehmen gelungen, ihre Kriegsschäden - häufig nur notdürftig - zu flicken, aber im Ganzen boten Fabriken wie auch ganze Städte oder Teile davon Mitte 1948 noch ein deprimierendes Bild. Es ist unter diesen Umständen nicht verwunderlich, daß es zu dem von Euchen vorgesehenen vorbereitenden Stadium nicht kommen konnte. Vermutlich hat Eucken seinen Vorschlag wegen der Erfahrungen nach 1945 selbst nicht mehr aufrecht erhalten. In seinen „Grundsätzen" (1952, 119) schreibt er, es gehe „darum, den Produktionsprozeß in Gang zu bringen und auf die Befriedigung der Bedürfnisse auszurichten. Gerade daran aber scheitert das Lenkungssystem der Zentralverwaltungswirtschaft. Deutlich trat das beim deutschen Experiment zwischen 1945 und 1948 hervor. Es war der Luxus des Experimentierens, den sich das verarmte Nachkriegsdeutschland nicht leisten konnte; seine Armut erforderte Freiheit." Man mußte mit der Währungsreform und - unmittelbar danach - mit der Beendigung des Preisstopps und der Aufhebung der Bewirtschaftung (wenn auch mit wichtigen Ausnahmen) einen Sprung ins kalte Wasser wagen. Die Währungsreform war ein Werk der Alliierten, die allerdings von Deutschen beraten wurden. Der im Dezember 1947 geschaffene Wissenschaftliche Beirat bei der Verwaltung für Wirtschaft des vereinigten Wirtschaftsgebietes der amerikanischen und britischen Besatzungszone, der überwiegend aus Professoren der Volkswirtschaftslehre bestand, hatte schon in seinem ersten Gutachten vom 18. April 1948 (25 ff.) daraufhingewiesen, daß eine Währungsreform „nur sinnvoll" sei, „wenn eine grundsätzliche Änderung der bisherigen Wirtschaftslenkung mit ihr verbunden wird". Alle wirtschafts- und sozialpolitischen Entscheidungen müßten koordiniert werden. Die „Funktion des Preises, den volkswirtschaftlichen Prozeß zu steuern", sollte „in möglichst weitem Umfang zur Geltung kommen". In „Einzelgebieten" könnten Sonderregelungen erforderlich sein, zum Beispiel Rationierung bei Getreide, Fleisch und Fett, um eine „von der Einkommensverteilung insoweit unabhängige gleichmäßige Versorgung der Bevölkerung" sicherzustellen. Der Preisstopp sei aufzuheben, da das „bestehende Preissystem den jetzigen Knappheitsrelationen nicht entspricht". Eine Monopolkontrolle sei „unabdingbar". Nur eine Minderheit plädierte für eine weniger konsequente Hinwendung zur Marktwirtschaft.

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Die in diesen Ausführungen niedergelegte Konzeption allein genügte freilich nicht. Die Politiker mußten sie verstehen und aufgreifen, auch wenn sie nicht der Meinung der Mehrheit entsprach. Dann mußten sie sie der Mehrheit verständlich machen und auch gegen Widerstand durchsetzen. Überzeugungskraft, Mut und Standfestigkeit waren erforderlich. Wir hatten das Glück, mit Ludwig Erhard einen Mann zu haben, der alle diese Voraussetzungen erfüllte. Es gelang ihm, für die Konzeption eine Mehrheit bei dem zuständigen Gremium, dem Wirtschaftsrat für die amerikanische und britische Besatzungszone, zu gewinnen. Franz Josef Strauß hat in seinem Frankfurter Vortrag 1988 geschildert, wie Erhard ihn damals von einem Saulus zu einem Paulus gemacht habe. Aber auch jetzt blieben die von der Richtigkeit der Konzeption Überzeugten eine Minderheit. An Kassandra-Rufen hat es nicht gefehlt, unter anderem von dem in Basel lehrenden Edgar Salin. Als Ende 1948 und während der Korea-Krise Preissteigerungen und Arbeitslosigkeit zu verzeichnen waren, verstärkte sich der Druck der von der marktwirtschaftlichen Lösung nicht Überzeugten, es nicht länger mit ihr zu versuchen. Am 12. November 1948 wurde zum Generalstreik aufgerufen. Doch Erhard blieb standfest. Ich bestreite nicht, daß die wirtschaftlichen Erfolge in Westdeutschland nicht allein der entschiedenen Wende zur Marktwirtschaft zu verdanken waren. Grundsätzlich zu Recht, wenn auch bisweilen etwas übertrieben, wird der Beitrag der A/ars/ia/Zplan-Hilfe hervorgehoben. Zweifellos hat sie den Wiederaufbau erheblich erleichtert, indem sie Dollars für den nötigen Erwerb von Rohstoffen und Lebensmitteln bereitstellte. Mit dem Hinweis darauf, daß die Zuteilung für Westdeutschland relativ nicht groß war, ist ihre Bedeutung nicht zu widerlegen. Wie es ohne die A/are/»a//plan-Gelder gegangen wäre, läßt sich nur vermuten. Der Wiederaufbau hätte länger gedauert. Aber ich sehe nur einen Grund, aus dem er ohne diese Hilfe hätte scheitern können: die menschliche Ungeduld. Ob die gewerkschaftliche Lohnpolitik während längerer Zeit zurückhaltend geblieben wäre, ist zweifelhaft. Nicht zweifelhaft scheint mir, daß diese Zurückhaltung den deutschen Wiederaufbau erheblich erleichtert hat. Hätten wir Gewerkschaftsführer von der Art der Mehrzahl der heutigen gehabt, wäre diese Zurückhaltung sehr viel weniger wahrscheinlich gewesen. Aber ob solche Führer sich bei der damals vorherrschenden menschlichen Haltung durchgesetzt hätten, scheint mir wiederum zweifelhaft zu sein. Diese menschliche Haltung hat zu den wirtschaftlichen Erfolgen ab Juni 1948 erheblich beigetragen. Wohl die Mehrzahl der damals im arbeitsfähigen Alter stehenden Deutschen wußte, daß nur bei harter Arbeit eine Chance bestand, die Not zu überwinden und den Lebensstandard allmählich zu heben. Kaum einer glaubte oder versprach gar, daß bald ein Lebensstandard wie etwa der damalige der Schweiz zu erreichen sei. Mit dem Anspruchsdenken von heute, das entstand, nachdem Wohlstand erreicht war und Politiker immer wieder weitgehende sozialpolitische Versprechungen machten, hätten wir auf das sogenannte Wirtschaftswunder lange warten müssen - wenn es überhaupt eingetreten wäre. Es darf nicht außer acht gelassen werden, daß rechtliche Grundlagen für die wichtige Wettbewerbspolitik erst 1957 geschaffen werden konnten. Das lag vor allem am Widerstand des Bundesverbands der deutschen Industrie. Nicht zuletzt durch das Wirken von Franz Böhm wurde dieser Widerstand schließlich gebrochen. Aber auch dann und

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nach mehreren Novellen (die wichtigste von 1973) blieben im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen unbefriedigende Kompromißlösungen (s. Fehl und Schreiter in diesem Band). Für wichtige Bereiche, wie vor allem die Landwirtschaft, aber auch für den Verkehr und die Energiewirtschaft konnten marktwirtschaftliche Lösungen nicht oder nur teilweise durchgesetzt werden. Dies alles kann aus Raumgründen hier nicht zureichend erörtert werden.

II. Die 'soziale' Marktwirtschaft Das Wort 'soziale', das Alfred Müller-Armack (1946b) dem Wort 'Marktwirtschaft' beigefugt hat, erwies sich als ein Einfallstor für sozialpolitische Maßnahmen, welche die Funktionsfähigkeit der Marktwirtschaft gefährdeten. Ludwig Erhard hat jenes Wort zwar übernommen, war aber von Anfang an übertriebenen sozialpolitischen Maßnahmen gegenüber äußerst zurückhaltend. Zunächst dürfte jenes Wort zwar für die Akzeptanz der Wende zur Marktwirtschaft ab Juni 1948 nützlich gewesen sein. Starbattys Urteil (1982, 16 f.) über seinen Lehrer Müller-Armack war wohl positiv gemeint: Dieser habe „zur Theorie der sozialen Marktwirtschaft eine dynamisch angelegte übergreifende Sozialidee" beigesteuert. Sein Konzept sei „umfassender, offener, dynamischer" als das von Eucken. Ob das zuerst zitierte Wort „umfassender" zutreffend ist, halte ich für zumindest zweifelhaft. Das zweite und dritte Wort halte ich für richtig, beurteile aber beide mit Skepsis. Müller-Armack (1956, 245) meinte, „auf der Grundlage einer marktwirtschaftlichen Gesamtordnung" könne ein „vielgestaltiges und vollständiges System sozialen Schutzes" errichtet werden (Hervorhebung von mir). Er betonte, die soziale Marktwirtschaft sei „von Anfang an ... eine ausgearbeitete und durchdachte Theorie der gesellschaftlichen Gesamtordnung" gewesen (1976, 11). Ihr Ziel sei eine „neuartige Synthese" (1956, 244). Der Autor hat aber - soweit ich sehen kann - nirgends dargestellt, wie dieses System des sozialen Schutzes in einer Weise aufgebaut werden soll und kann, daß es in ein marktwirtschaftliches System paßt. In den ersten Jahren nach 1945 ist Müller-Armack - bewußt oder unbewußt - vielmehr einer klaren Stellungnahme ausgewichen. So schrieb er (1946b, 133): „In einer marktwirtschaftlichen Sozialpolitik bleiben weiterhin selbstverständlich einfügbar alle sozialpolitische Rechtsgestaltung und das soziale Versicherungswesen, sofern nicht, was nur in wenigen Punkten zutreffen dürfte, ein Widerspruch mit der Marktwirtschaft vorliegt." Jene Punkte wurden von ihm auch nicht beispielsweise vorgetragen. An anderer Stelle meinte er, „bei der Einkommensumleitung für soziale Ausgaben" könne „leicht die Schwelle überschritten werden, an der die Störung des Marktes beginnt. Wann überhöhte Steuersätze dies tun, ist nicht vorweg zu entscheiden" (1956, 246). Noch sehr viel später schrieb Lampert (1988, 47), man habe in der Bundesrepublik „persönliche und wirtschaftliche Freiheit und die damit verbundene Leistungsfähigkeit von vornherein mit den sozialstaatlichen Zielen der sozialen Gerechtigkeit und sozialen Sicherheit durch eine sozial und sozialpolitisch ausgerichtete Wirtschaftsordnung gleichsam auf einen Nenner gebracht". Mir scheint, daß schon der Versuch, dies zu erreichen, wegen der Zweifel über den Inhalt der Ziele 'soziale Gerechtigkeit' und 'soziale Sicherheit',

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aber auch wegen der möglichen Gefahrdungen von Freiheit und Leistungsfähigkeit durch das Verfolgen solcher Zielsetzungen äußerst schwierig, wenn nicht hoffnungslos wäre. Dieser Versuch ist jedoch gar nicht emstlich unternommen worden. Für die sozialpolitischen Maßnahmen war vielmehr leider punktuelles Denken ohne Berücksichtigung des Gesamtzusammenhangs typisch. Mit Recht hat Wolfgang Stützel (1984, 7) geschrieben, es habe schon 1948 für die Organisation der sozialen Umverteilung an einer „tragfahigen und robusten Gesamtentscheidung" gefehlt. Es fehlte auch an dem Bemühen der Politiker, der Bevölkerung die Grenzen der Sozialpolitik klarzumachen. Eine Reihe von sozialpolitischen Maßnahmen, wie die dynamische Rente von 1957, das Krankenhausfinanzierungsgesetz und jüngst die Finanzierung der Pflegeversicherung im Umlageverfahren, waren eindeutige Fehlentscheidungen. Bei der Einführung der dynamischen Rente und des damit verbundenen Übergangs zum Umlageverfahren wurden die Folgen dieses Verfahrens bei einer Veränderung der Alterspyramide nicht berücksichtigt; sie sind inzwischen schon eingetreten und in Zukunft in noch stärkerem Maße zu erwarten. Die Bedeutung der Selbstvorsorge - zumal bei wachsendem Wohlstand - wurde vernachlässigt. Wilfried Schreiber, der geistige Vater der dynamischen Rente, wollte mit ihr für jedermann, auch für die Wohlhabenden sorgen, denn „nicht nur die sozial Schwachen werden alt und stehen dann vor der Frage, wovon sie leben sollten, sondern jedermann" (zitiert nach Herder-Dorneich 1987, 5). Eine ähnliche Vernachlässigung der Selbstvorsorge zeigt sich in der Äußerung des derzeitig zuständigen Ministers Blüm, die Beschränkung der Altersversorgung durch die Sozialversicherung auf eine Grundrente sei eine .Abkehr von der Eigenverantwortung" (nach Trend, Nr. 35 vom Juni 1988, 15). Der wohl wichtigste Mangel des Krankenhausfinanzierungsgesetzes war die Trennung der Entscheidungsbefugnis und der Finanzierenden für Krankenhausinvestitionen einerseits, für den laufenden Krankenhausbetrieb andererseits sowie die uneingeschränkte Erstattung der faktischen Kosten dieses Betriebs. Die Einführung einer Pflegeversicherung ohne Beachtung der ungünstigen Erfahrungen mit dem hier erneut verwandten Umlageverfahren war ein besonders eindrückliches Beispiel für sozialpolitische Entscheidungen ohne hinreichende Überlegungen, vielleicht auch für die Tendenz, nicht hinreichend unterrichteten Wählern kurzfristig Erfolge vorzuzeigen, deren Preis erst in Zukunft zu bezahlen sein wird. Ein großer Teil der heutigen Situation der deutschen öffentlichen Haushalte dürfte auf Fehlentscheidungen zurückzuführen sein, die eine überlegte Sozialpolitik hätte vermeiden können. Sozialpolitische Maßnahmen sind erforderlich. Aber sie müssen hinreichend durchdacht sein. Dabei sind insbesondere die Folgen für die Funktionsfahigkeit des marktwirtschaftlichen Systems zu bedenken.

III. Die 'aufgeklärte' Marktwirtschaft Das hier beigesetzte Wort 'aufgeklärte' stammt von Karl Schiller. Er wollte das, was er den Freiburger Imperativ nannte (die Konzeption Euchens), mit Keynes' Botschaft kombinieren und dem Wettbewerb nur eine mikroökonomische Aufgabe zuweisen. Die-

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ser soll die einzelwirtschaftlichen Beziehungen so regeln, daß die Produktion den Konsumentenwünschen entspricht und möglichst geringe Kosten mit sich bringt. Schiller (1966, 21) wollte so viel Wettbewerb wie möglich, aber andererseits auch so viel Planung wie nötig. Mit solchen Grundsätzen überläßt man es aber - bewußt oder unbewußt - arbiträren Entscheidungen der staatlichen Instanzen, ob sich die Mikroentscheidungen durchsetzen können, wie es den Grundsätzen der Marktwirtschaft entspricht, oder nicht. Um 'gewisse gesamtwirtschaftliche Ziele (magisches Dreieck usw.)' zu erreichen, wollte Schiller mit Hilfe der Rahmenplanung die makroökonomischen Kreislaufgrößen planvoll beeinflussen. Das war die sogenannte Globalsteuerung. Aber dieser Teil der neuen wirtschaftspolitischen Konzeption war entweder für das damit gesetzte Ziel, nämlich die Lösung des Gegensatzes zwischen Rahmenplanung und Marktwirtschaft, nicht geeignet oder nicht neu. Sollte Rahmenplanung nicht mehr bedeuten als die Anwendung des marktkonformen geld- und konjunkturpolitischen Instrumentariums und sollte die Setzung des Rahmens im Sinne von Walter Euchen gemeint sein, ist das Ziel nicht neu. Ehrgeizige Ziele der Planenden, wie etwa bestimmte Wachstumsraten, könnten dann aber nicht verfolgt werden. Wollte man mehr, wie nach der Schillerschen faktischen Wirtschaftspolitik zu vermuten ist, dann ist nicht eine Versöhnung der Marktwirtschaft mit der Rahmenplanung, sondern ein sehr problematisches Zurückdrängen der Marktwirtschaft zu erwarten. In der Marktwirtschaft ergeben sich nämlich die Makrogrößen grundsätzlich aus den Mikroentscheidungen. Will man beispielsweise, wie Schiller, 'Wachstum nach Maß', kann die Entscheidungsbefugnis der einzelnen Wirtschaftssubjekte nur noch begrenzt akzeptiert werden. Damit aber entfernt man sich von der Marktwirtschaft. Die Auffassung, man könne in einer Marktwirtschaft staatlich gesetzte numerische Ziele erreichen, halte ich nicht für das Ergebnis einer Aufklärung, sondern für unrichtig. Schillers Politik, mit der die Wirtschaft - überspitzt formuliert wie eine Maschine behandelt wurde, an deren verschiedene Schrauben man eben jeweils 'nach Maß' drehen kann und soll, verträgt sich auch schlecht mit Euckens Forderung nach Konstanz der Wirtschaftspolitik. Die Wirtschaftspolitik der sogenannten sozialliberalen Koalition entsprach, insbesondere auch nach Schillers Rücktritt, nicht den Grundsätzen der Marktwirtschaft. Euckens Forderung nach einer konstanten Wirtschaftspolitik ist immer wieder mißverstanden worden. Sie beinhaltet nicht, wie Reinhard Blum (1986, 85) gemeint hat, ein „konservatives Vorurteil gegen Veränderungen". Es geht vielmehr darum, daß den einzelnen Wirtschaftssubjekten ihre Planimg durch Hin und Her bei den wirtschaftspolitischen Maßnahmen nicht zu sehr erschwert wird. Die bisherigen Erfahrungen lehren, daß das sogenannte 'fine tuning', das eine der Ursachen des Hin und Her war, wegen der nicht vorhersehbaren 'time lags' und wegen der Ungewißheit über die jeweils nötige Dosierung nicht funktioniert. Der Mangel an Kontinuität der Politik läßt sich also gar nicht mit Erfolgen rechtfertigen. Ein Beispiel ist der Streit um einen weiteren Eventualhaushalt zur Zeit von Karl Schiller. Es kam dann die Zeit der sogenannten Reformen und der Forderung Willy Brandts, man solle mehr Demokratie wagen. Die Staatsquote stieg in erschreckendem Maße, bis auf fünfzig Prozent des Sozialprodukts, inbesondere durch Aufblähung der Zahl von Beamten und Angestellten des Staates und durch oft mangelhaft überlegte Sozialausga-

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ben. Die Staatsverschuldung nahm stark zu. Wirre Ideen über die Investitionslenkung wurden verkündet. Nach einigen Jahren war das auch Karl Schiller zu viel. Man darf sich nicht wundern, daß die Wachstunisraten sanken, nachdem die Kontinuität der Wirtschaftspolitik gefährdet war, von manchen einflußreichen Leuten die Unternehmer verteufelt wurden und diese Leute immer wieder häufig unklare Eingriffe in die Untemehmenspolitik ankündigten. Man darf freilich andererseits nicht außer acht lassen, daß höhere Wachstumsraten leichter zu erreichen sind, wenn man nicht allzuweit über dem Nullpunkt beginnt, und daß die beiden enormen Mineralölpreiserhöhungen von 1973 und 1979 schwierige Anpassungsaufgaben stellten. Aber es scheint mir sicher zu sein, daß diese Anpassungsaufgaben rascher und besser zu lösen gewesen wären, wenn sich nicht Kündigungsschutz und Sozialpläne in den Weg gestellt hätten und die Gewerkschaften mit ihrer Lohnpolitik zurückhaltender gewesen wären. An dieser Lohnpolitik waren auch die Politiker mit ihrem Versprechen schuld, die Vollbeschäftigung zu sichern, was ihnen freilich nicht gelang. Die Erkenntnisse der Ordnungstheorie und die Gebote der Ordnungspolitik hat die Mehrzahl der damals politisch Verantwortlichen entweder nicht verstanden oder vergessen. Es kann nicht darum gehen, die Belastbarkeit einer Wirtschaftsordnung zu prüfen, wie damals gefordert wurde, ohne ihre Funktionsbedingungen sorgfaltig zu beachten. Die sogenannte konzertierte Aktion, ein weiteres Merkmal der Schillerschen Konzeption, sollte die Globalsteuerung ermöglichen oder erleichtern, indem sich die ausgewählten Beteiligten, insbesondere auch die Vertreter der Arbeitsmarktparteien, bei dieser Aktion in Gesprächen auf die jeweils für nötig gehaltenen wirtschaftspolitischen Maßnahmen einigten und sie unterstützten. Die Aktion scheiterte, nachdem die Gewerkschaftsvertreter nicht mehr teilnehmen wollten. Dieser Teil der Konzeption Schillers ist aber ohnehin problematisch. Mit dem Schlagwort 'Demokratisierung' wird diese Problematik lediglich verdeckt. Der Ordoliberale will einen starken, von Interessenteneinflüssen möglichst unabhängigen Staat, damit dieser die ihm zukommenden Aufgaben erfüllen und durchsetzen kann. Er will jedoch diese Aufgaben begrenzen, weil er die Belastbarkeit des Staates für gering hält und weil zu viele Kompetenzen des Staates auch die Freiheit gefährden. Die Anhänger der Politik vom Ende der sechziger bis in die siebziger Jahre überschätzten die Leistungsfähigkeit des politischen Prozesses und unterschätzten die Leistungsfähigkeit von Marktprozessen. Die Interessen der Minderheiten, die bei der konzertierten Aktion nicht vertreten waren, waren in Gefahr, geopfert zu werden. Auch durch solche Konzeptionen und die geschilderte Politik beeinflußt, hat der Durchschnittsbürger bis zu den siebziger Jahren sein Verhalten gegenüber der Zeit bald nach der Währungsreform erheblich geändert: An die Stelle von Leistungsbereitschaft und Sparsamkeit war bei vielen Anspruchsdenken und übermäßige Freude am Konsum getreten. Man wollte weniger arbeiten und wünschte mehr Freizeit. Für die hohen Beiträge zur Sozialversicherung wollte man auch etwas haben: zum Beispiel eine Kur neben dem Urlaub und/oder eine frühere Pensionierung. Muß man sich wundem, daß das nicht zum Erfolg führte?

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IV. Kursänderungen seit 1982 Als Helmut Kohl 1982 Bundeskanzler wurde, bestand zunächst Hoffnung auf eine energische Umkehr zur Marktwirtschaft. Aber es ist wohl nicht zu unvorsichtig zu schreiben, daß eine systematische, auf einer klaren Konzeption aufgebaute Umkehr nicht stattgefunden hat und daß mehr über die Wende gesprochen als für sie getan wurde. Ein Beispiel dafür ist die Behandlung der Subventionen. Nicht nur belasten sie den Staatshaushalt und erschweren den Abbau seines Defizits. Sie behindern auch nötige Anpassungen der Wirtschaftsstruktur. Das ist unter unabhängigen Sachverständigen inzwischen wohl unbestritten. Aber politische Folgerungen aus dieser Erkenntnis sind bisher nur sehr zögernd gezogen worden. Die Furcht, Wählerstimmen zu verlieren, hat wohl ein zu großes Gewicht. Auf anderen Gebieten ist seit 1982 mehr erreicht worden. Die Erhöhung der Geldwertstabilität gegenüber den siebziger Jahren ist beachtlich. Allerdings kann man sich fragen, ob sie nicht mehr ein Verdienst der Bundesbank und der Erkenntnis der Bedeutung der Geldwertstabilität in zumindest der Mehrheit der Industriestaaten war. Man vertraut auch nicht mehr auf das Drehen an immer anderen Schrauben der 'Maschine' Wirtschaft. Zögernd ist auch mit Deregulierung und Privatisierung begonnen worden. Man erreichte bis 1986, daß die Staatsverschuldung wesentlich langsamer wuchs als zuvor. Seitdem hat sich die Haushaltsdisziplin wieder verschlechtert, und seit der Wiedervereinigung stieg die Staatsverschuldung in erschreckendem Maße. Abgesehen von der Erleichterung durch die Möglichkeit, befristete Arbeitsverträge abzuschließen, hat keine wesentliche Änderung der verfehlten Sozialpolitik stattgefunden. So konnte man sich zum Beispiel für die angebrachte starke Selbstbeteiligung in der Krankenversicherung nicht entschließen. Mit der schon erwähnten Pflegeversicherung im Umlageverfahren ist man erneut einen falschen Weg gegangen. Die Versuche einer Steuerreform waren im ganzen halbherzig. Es fehlten den verantwortlichen Politikern von Anfang an der Mut und die Standfestigkeit, die Ludwig Erhard zumindest in seinen ersten Jahren auszeichneten. Es darf freilich nicht verkannt werden, daß eine Wende in den achtziger Jahren auch vor der Wiedervereinigung schwieriger zu bewerkstelligen war als 1948. Die aus der Zeit der sozial-liberalen Regierung stammende Staatsverschuldung war eine die Handlungsfähigkeit der Regierung beschränkende Last. Dagegen wurde mit der Währungsreform die Staatsverschuldung beseitigt. Auch die Überbesetzung des öffentlichen Sektors mit Personal war eine auf die Politik der sozial-liberalen Koalition zurückzuführende Belastung für die neue Regierung. Dieses Personal war nämlich zum großen Teil unkündbar. Der Aufwand dafür schränkt die Handlungsfähigkeit der Regierung ein. Aktionen der Verbände waren in der zweiten Hälfte des Jahres 1948 sehr viel weniger in Rechnung zu stellen als in den achtziger Jahren. Im Gegensatz zu diesen Jahren war bei der Währungsreform und bald danach wohl die Mehrzahl der Bürger gewohnt, nur geringe Ansprüche an den Staat zu stellen. Sie wußte, daß größere Ansprüche gar nicht zu erfüllen waren. Maßnahmen der Wirtschaftspolitik wurden damals auch eher akzeptiert. Viel schlechter konnte es nämlich nicht werden. Es bestand aber andererseits die Hoffnung auf Besserung.

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Mit der Wiedervereinigung änderte sich das Bild von neuem. Als solche war sie eine große politische Leistung. Ein erheblicher Teil der im Zusammenhang mit ihr getroffenen wirtschaftspolitisch relevanten Entscheidungen war es keineswegs. Nach kurzer Zeit 'blühende Landschaften' in Ostdeutschland konnte nur versprechen, wer entweder die wirtschaftliche Situation dieses Teils Deutschlands oder die Schwierigkeiten nicht kannte, sie entsprechend zu ändern. Das Erste ließ einen Mangel bei der Beschaffung der nötigen Informationen vermuten, das Zweite einen Mangel der Unterrichtung der Entscheidenden über die Problematik der nötigen Änderungen. Negativ zu bewerten scheinen mir insbesondere die vollständige Übernahme des aus den Angeln geratenen sozialpolitischen Systems Westdeutschlands und die verfehlte Lohnpolitik für Ostdeutschland zu sein, die unter den gegebenen Umständen nicht den Arbeitsmarktparteien hätte überlassen werden dürfen. Durch die begründete Hoffnung auf eine großzügige Unterstützung der Arbeitslosen und durch die zunächst weitgehende Besetzung der Arbeitgeberseite mit Damen und Herren, die kein Eigentümerinteresse zu vertreten hatten, entstand ein Lohnniveau, welches bei der gegebenen Produktivität einen großen Teil der ostdeutschen Betriebe konkurrenzunfähig machte (siehe Schüller 1994, 224). Ähnliches gilt für die durch verfehlte Versprechungen präjudizielle Unterstützung des Konsums statt der Investitionen, für die Überwälzung der Lasten auf die Zukunft durch ihre Finanzierung mit Krediten und vielleicht auch für die Politik der Treuhandanstalt. Sie bedarf noch einer gründlichen Untersuchung. In einem von mir untersuchten Fall gewann ich den Eindruck, daß diese Anstalt allzu rasch Milliardensubventionen zugesagt hat. Das Verfahren der Privatisierung durch die Treuhandanstalt war jedenfalls problematisch (siehe Schüller 1994, 227 f.). Die rasche Einführung einer Währungsunion mit Ostdeutschland war ökonomisch verfehlt, politisch aber vielleicht nicht zu vermeiden. Langfristig ausgerichtete ordnungspolitische Überlegungen traten ab 1989 noch mehr und zu sehr gegenüber kurzfristig ausgerichtetem punktuellen Denken in den Hintergrund. Die Entwicklung ab 1989 brachte keine weitere Annäherung an ein konsequentes marktwirtschaftliches System; vielmehr entfernte sie uns wieder davon. Die Politiker dachten zuviel an die jeweils nächste Wahl und an die Verwirklichimg dessen, was ihnen die Meinungsforscher als die Wünsche der Wähler vortrugen. Die wichtige Aufgabe kam zu kurz, diese Wünsche nicht als Datum hinzunehmen, sondern die Wähler von dem mit Hilfe sachverständiger Berater als richtig Erkannten zu überzeugen und es durchzusetzen. Ludwig Erhards Wirken hätte als ein guter Wegweiser dienen können, auf das man aber viel zu wenig achtete. Literatur Abelshauser, Werner (1982), West German economic recovery 1945-1951: A reassessment, The Three Banks Review, S. 34-53. Blum, Reinhard (1986), Die Verwissenschaftlichung von Politik als Akzeptanzproblem für den technischen Fortschritt, in: Gottfried Bombach, Bernhard Gahlen und Alfred E. Ott (Hrsg.), Technologischer Wandel - Analyse und Fakten, Tübingen, S. 283-296. Blumenberg-Lampe, Christine (1986), Der Weg in die Soziale Marktwirtschaft: Referate, Protokolle, Gutachten der Arbeitsgemeinschaft Erwin von Beckerath ¡943-1947, Stuttgart.

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Wissenschaftlicher Beirat bei der Verwaltung für Wirtschaft des vereinigten Wirtschaftsgebietes (1948), Erstes Gutachten 1948, in: Wissenschaftlicher Beirat bei der Verwaltung für Wirtschaft des vereinigten Wirtschaftsgebietes, Gutachten 1948 bis 1950, Göttingen, S. 2530. Zusammenfassung Seit 1945 sind in Westdeutschland vier Kursänderungen der Wirtschaftspolitik zu verzeichnen. Die erste fand 1948 mit der Währungsreform, einer - allerdings beschränkten - Freigabe der Preise und der Aufhebung eines großen Teils der Bewirtschaftungsmaßnahmen statt. Zu Unrecht werden die Erfolge dieser Änderungen bestritten oder herabgemindert. Eine verfehlte Sozialpolitik gefährdete diese Erfolge zunächst in geringem, dann aber steigendem Maße. Die zweite Kursänderung erfolgte mit der 'aufgeklärten' Marktwirtschaft seit Ende der sechziger Jahre: Die sogenannte Globalsteuerung, das Streben nach staatlicherseits entworfenen quantifizierten Zielen und die konzertierte Aktion widersprachen den Grundsätzen einer marktwirtschaftlichen Ordnung, nach der die Zielsetzungen der einzelnen Wirtschaftssubjekte Vorrang haben. Ab 1982 versuchte die neue Regierung eine Änderung dieses Kurses. Der 'Rückweg' zur Marktwirtschaft wurde aber zu vorsichtig und zu wenig systematisch eingeschlagen, so daß er nur einen beschränkten Erfolg hatte. Nach der Wiedervereinigung mit Ostdeutschland wich die Regierung immer mehr von ihrem Kurs ab, weil sie zu wenig an die Erfordernisse einer langfristig ausgerichteten Ordnungspolitik und zuviel an kurzfristige (häufig nicht dauerhafte) Erfolge mit dem Blick auf die nächsten Wahlen dachte. Darauf dürfte ein großer Teil der heutigen Schwierigkeiten, insbesondere das hohe Defizit der öffentlichen Haushalte, die hohe Staatsverschuldung und die Mißerfolge bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, zurückzuführen sein.

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Summary Changes in Economic Policy Since 1945 German economic policy has undergone four fundamental changes. The first was the currency reform of 1948. It was accompanied by the abolition of most price controls and of the rationing of most economic goods. This transition towards a market economy was very successful. A misguided social policy increasingly put these achievements at risk. The second change took place with the advent of the "enlightened" market economy at the end of the 1960s: This was an economic policy whereby the government planed certain quantitative macroeconomic objectives regarding employment, inflation, economic growth etc. It was underpinned by "concerted action" which aimed at managing the labour market by government co-ordinated joint actions involving the state, the trade unions and the employer's associations. This policy was incompatible with the basic principles of a market economy which favoured the economic objectives of individuals. Since 1982 the new government has tried to change the course of economic policy again. This "return" to a market economy met with little success as it was carried out too tentatively and not very methodically. After German Unification in 1990 the government departed from its original path, as it was more concerned with short-term goals, which would boost its chances in the imminent elections, than with long-term improvements of the economic system. A high proportion of the present economic problems - especially the large and growing public deficit and the government's inability to curb unemployment - can be attributed to these failures.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1997) Bd. 48

Otto Schlecht

Das Bundesministerium für Wirtschaft und die deutsche Ordnungspolitik der Nachkriegszeit Inhalt I. Einleitung II. Konzeption und Start der Sozialen Marktwirtschaft III. Ordnungspolitischer Ausbau der Sozialen Marktwirtschaft und erste Hemmnisse IV. Änderung des ordnungspolitischen Leitbildes und Soziale Marktwirtschaft als Alibi V. Rückbesinnung auf die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft: Impuls aus dem Bundesministerium für Wirtschaft VI. Neue Herausforderungen für das Bundeswirtschaftsministerium VII. Würdigung fast fünfzigjähriger Arbeit des Bundeswirtschaftsministeriums.... Literatur Zusammenfassung Summary: The Federal Ministry of Economics and Ordnungspolitik in Postwar-Germany

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I. Einleitung „Wir mußten an die Arbeit gehen in dem Bewußtsein, leere Hände zu haben und vermutlich auf Monate hinaus weiter mit leeren Händen arbeiten zu müssen. Wir konnten nur die Möglichkeit sehen, einige Grundlagen für eine kommende Sanierung vorzubereiten. An eine Sanierung selbst konnten wir überhaupt noch gar nicht denken. Wir konnten überhaupt nicht einmal daran denken, die wirtschaftlichen Verhältnisse für unsere Bevölkerung auch nur im geringsten zu verbessern" (zitiert bei Schiller 1967, 44). Diese Beschreibung von Johannes Semler im Januar 1948, damals Direktor der Verwaltung der Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebietes, umreißt den schwierigen Neubeginn der Wirtschaftspolitik im Nachkriegsdeutschland. Insbesondere der Person Ludwig Erhards und seiner ordnungspolitischen Beharrlichkeit als erstem Bundeswirtschaftsminister ist es zu verdanken, daß das Bundesministerium für Wirtschaft (BMWi) zum Hort konsequenter ordnungspolitischer Ausrichtung wurde. Die Ordnungspolitik konnte durch Ludwig Erhard in der Öffentlichkeit im allgemeinen und im BMWi im besonderen Faszination und Überzeugungskraft erreichen und letztlich durch ihn auch in die politische Realität umgesetzt werden. Einem Autor, der selbst vier Jahrzehnte in der

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zu analysierenden Institution mit viel Freude und Engagement tätig war, ist es sicherlich nicht zu verübeln, wenn er in seinen Beitrag persönliche Erfahrungen und Erkenntnisse einfließen läßt. Objektivität zu wahren ist insofern eine hohe Maxime für den Autor.

II. Konzeption und Start der Sozialen Marktwirtschaft Anders als dies oft dargestellt wird, beginnt Erhards erfolgreiche Arbeit für die Soziale Marktwirtschaft nicht erst mit Beginn seiner Amtszeit als Wirtschaftsminister oder mit dem 20. Juni 1948, dem Tag der Währungsreform. Sein historisches Verdienst war es, eigene Beiträge aus seiner fast zwanzigjährigen wissenschaftlichen Arbeit mit weiteren Erkenntnisssen zur Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft integriert und diese Konzeption in die konkrete Ordnimg Westdeutschlands implementiert zu haben. Dabei ließ er sich von seinen akademischen Lehrern, insbesondere den Professoren Wilhelm Rieger, Franz Oppenheimer und Wilhelm Vershofen leiten, deren Erkenntnisse Eingang in seine Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft fanden, ergänzt um die Beiträge der übrigen 'Väter' der Sozialen Marktwirtschaft: Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow, Fritz Neumark und Friedrich A. Lutz. Zudem fanden in Erhards Forschungsergebnisse und die politische Gestaltung der Sozialen Marktwirtschaft auch Theorien und Konzepte Eingang, die in anderen 'Schulen' erarbeitet worden waren. Als wichtigste geistige Quelle der marktwirtschaftlichen Ordnung gilt die 'Freiburger Schule' um Walter Eucken. Sie gehört zu den nationalökonomischen Kreisen, die sich bereits während der Zeit des Nationalsozialismus im Untergrund der Nachkriegsordnung zuwandten. Eucken und seine Mitstreiter Franz Böhm, Leonhard Miksch, Hans Großmann-Doerth setzten mit ihrer Betonung des Wettbewerbsgedankens einen neuen Akzent für das Verhältnis von Wirtschaft und Staat. Das bleibende Verdienst von Walter Eucken ist seine Ausformung einer Wettbewerbsordnung mit den konstituierenden und regulierenden Prinzipien. Ebenso fundamental waren Euckens Erkenntnisse über die „Interdependenz der Ordnungen". Als weiterer Mitstreiter für die Soziale Marktwirtschaft ist Alfred Müller-Armack zu nennen, der gemeinhin als Erfinder des Begriffes Soziale Marktwirtschaft gilt und als Leiter der wirtschaftspolitischen Grundsatzabteilung des BMWi ab 1952 und als Staatssekretär für Europapolitik ab 1958 zum engsten wirtschaftspolitischen Mitstreiter Erhards wurde. Müller-Armack hat die ordoliberale Theorie um Gedanken der philosophischen Anthropologie und der christlichen Soziallehre erweitert. Ihm sind zudem die Idee von der Marktwirtschaft als Instrument und die Zielsetzung der staatlichen Einflußnahme auf die Marktergebnisse zu verdanken. Die marktwirtschaftliche Ordnung bedeutet für ihn keine Vollautomatik: Müller-Armack spricht vom Halbautomaten, der sinnvoller Bedienung bedarf. Dazu bedarf es eines starken Staates, um ordnungspolitische Vorgaben durchzusetzen. Insofern liegt der Sinn der Sozialen Marktwirtschaft darin, „das Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden" {Müller-Armack 1956, 390). Die Grundprinzipien umreißen das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft:

Das Bundesministerium für Wirtschaft und die Ordnungspolitik • 101 „Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft ist primär wertverpflichtet, und zwar der Freiheit des Individuums", so Egon Tuchtfeldt (1981, 84). Freiheit als Grundlage einer pluralistischen Gesellschaft ermöglicht es dem einzelnen, sich selbst nach individuellen Wünschen und Vorstellungen zu verwirklichen. Freiheit, wie Erhard (1952, 352) formuliert, als „etwas Ganzes und Unteilbares" erfordert die Beschränkung jedweder Macht, gilt aber nicht grenzenlos: In der Freiheit und den Rechten der Mitmenschen sowie in der Gemeinwohlverpflichtung findet die individuelle Freiheit ihre Grenzen, von Nell-Breuning (1987, 59) spricht von „verantwortlicher Selbstbestimmung". Der Wettbewerb als - nach Franz Böhm (1963, 46) - „das großartigste und genialste Entmachtungsinstrument der Geschichte" sorgt dafür, daß die Verbraucher im Mittelpunkt der Sozialen Marktwirtschaft stehen. Der wettbewerbliche Marktprozeß bewältigt Lenkungsprobleme, sorgt für Konsumfreiheit, erzwingt Innovationen und technischen Fortschritt, sorgt für effiziente Produktion, verteilt Einkommen und Gewinn ausschließlich nach Leistungen und verhindert Machtballung. Darüber hinaus wirkt Wettbewerb dem Mißbrauch des privaten Eigentums an Produktionsmitteln entgegen und garantiert die Freiheitsrechte der Bürger. Obwohl ein Großteil der Menschen ihr Einkommen im wettbewerblichen Marktprozeß erhält, „ist nicht zu leugnen, daß auch eine noch so gute Wirtschaftspolitik in der modernen Industriewirtschaft durch sozialpolitische Maßnahmen ergänzt werden muß" (Erhard 1956, 462). Diese von Sozialpolitiken! aller Couleur gern zitierte Aussage von Ludwig Erhard ist aber nur die halbe Wahrheit. Erhard betont nämlich, daß um so weniger sozialpolitische Hilfen notwendig sind, je erfolgreicher die Wirtschaftspolitik ist. Und: Sozialpolitische Leistungen sind zwar integraler Bestandteil der Sozialen Marktwirtschaft, aber als subsidiäre Elemente. Die dauerhafte Sicherung der Funktionsfähigkeit der marktwirtschaftlichen Ordnung bedarf einer bewußten staatlichen Gestaltung, bei der nach Müller-Armack (1974, 221) eine „Synthese zwischen Einsichten in die Unabdingbarkeiten des Marktgeschehens und der Bemühung, dieses marktwirtschaftliche Organisationsgebilde mit sozialen und gesellschaftlichen Fortschritten" zu verbinden, erreicht werden soll. So gehört es zu den wichtigen Aufgaben des Staates, mittels einer Wettbewerbspolitik intensiven Wettbewerb zu erhalten. „'Wohlstand für alle' und 'Wohlstand durch Wettbewerb' gehören untrennbar zusammen; das erste Postulat kennzeichnet das Ziel, das zweite den Weg, der zu diesem Ziel führt" (Erhard 1957, 9). Um die Soziale Marktwirtschaft als erfolgreiche Wettbewerbsordnung einrichten und erhalten zu können, gehören die konstituierenden und regulierenden Prinzipien Walter Euckens (1952, 241ff.) zu den von staatlicher Seite zu setzenden Rahmenbedingungen: Privateigentum, Haftungsregelungen, konvertibles und stabiles Geld, freie Preisbildung auf offenen Märkten, Vertrags- und Niederlassungsfreiheit, Konstanz und Verläßlichkeit der Politik sowie ergänzend öffentliche Infrastrukturen, mittelfristige Wachstums-, Regional- und Mittelstandspolitik, eine marktkonforme und subsidiäre Sozialpolitik und ein marktwirtschaftliches Regelwerk zum Schutz der Umwelt gehören zur staatlichen Verantwortung. Die aufgeführten Prinzipien umreißen das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft. Damit die Soziale Marktwirtschaft als „Leitbild auf wissenschaftlicher Basis" (Helmstädter•) zum Fundament der Bundesrepublik werden konnte, bedurfte es zweierlei: Er-

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stens gelang es Erhard, die CDU auf dem Kurs der Sozialen Marktwirtschaft zu bringen; so stammt der wirtschaftspolitische Teil der Düsseldorfer Leitsätze zur Bundestagswahl 1949 aus der Feder von Ludwig Erhard. Schließlich erlangten die marktwirtschaftlich orientierten Parteien bei der Bundestagswahl 1949 die Mehrheit; Erhard wurde Wirtschaftsminister. Zweitens ist das Grundgesetz von 1949 zwar, wie das Bundesverfassungsgericht 1954 (BVerfGE 4,7) klarstellte, wirtschaftspolitisch neutral und daher auch mit anderen Wirtschaftsordnungen vereinbar. Aber Grundrechte, Vertrags- und Koalitionsfreiheit, freie Berufs- und Arbeitsplatzwahl, Privateigentum, rechts- und sozialstaatliche Regeln und föderaler Aufbau fundierten die Soziale Marktwirtschaft. Die Soziale Marktwirtschaft wurde erst im Mai 1990 im Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik und der DDR (BGBl II, 537) ausdrücklich als gemeinsame Ordnung rechtlich verankert. Der konkrete Startschuß zur Realisierung der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland läßt sich mit dem Tag der Währungs- und Wirtschaftsreform am 20. Juni 1948 festsetzen. Ab diesem Tag hob Ludwig Erhard, wie Karl Schiller formulierte, „im Handstreichverfahren" gleichzeitig mit der Einführung der deutschen Währung mit dem Leitsätzegesetz den größten Teil der Preis- und Bewirtschaftungsvorschriften auf und schlug damit die Schneise für den Weg zur Marktwirtschaft. Die Menschen ergriffen ihre Chancen, die die neue Ordnung ohne umfassende Plan- und Zuteilungswirtschaft ihnen bot. Ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft mußte bereits „in jungen Jahren" wichtige Bewährungsproben bestehen. Dabei trugen Erhards ordnungspolitische Beharrlichkeit und seine wirtschaftspolitische Kompromißfahigkeit zur Sicherung der marktwirtschaftlichen Ordnung bei: Die mit der Währungsreform geschöpfte Kaufkraft war höher als das geschaffene Sozialprodukt. Damit einhergehende Preissteigerungen sorgten für Unruhen in der Bevölkerung und führten schließlich am 12. November 1948 zu einem vierundzwanzig stündigen Generalstreik. Dem Aufruf der Gewerkschaften folgten in der Bizone fast zehn Millionen Arbeitnehmer. Der Protest richtete sich nicht nur gegen die Preissteigerungen, sondern gegen die Wirtschaftspolitik Erhards. Verschiedene Maßnahmen, darunter das 'Jedermann-Programm' - die Serienproduktion lebensnotwendiger Güter und der Verkauf zu niedrigen Preisen -, sorgten für die Stabilisierung der Preisentwicklung ab Ende 1948. Die 'Korea-Krise' führte dann 1951 zu Preissteigerungen und Defiziten in der Handelsbilanz. Die Alliierten forderten direkte staatliche Bewirtschaftungs- und Lenkungsmaßnahmen, Preis- und Devisenkontrollen und fanden bei deutschen Politikern Unterstützung. Erhard konnte sich jedoch dieser „planwirtschaftlichen Versuchung" mit geringfügigen Zugeständnissen widersetzen. Er ging - gerade wegen seines unbeirrbaren Festhaltens an marktwirtschaftlichen Prinzipien - gestärkt aus diesen ersten Bewährungsproben hervor - und mit ihm die Soziale Marktwirtschaft sowie seit dessen Bestehen auch das Bundesministerium für Wirtschaft. Dazu trug die Symbiose zwischen Minister und Ministerium wesentlich bei: Die 'alten Hasen' aus dem Reichswirtschaftsministerium konvertierten zu Erhardianem. Die jüngeren Mitarbeiter verstanden sich ohnehin als 'Ordensleute', die für ihren Meister durchs Feuer gingen.

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III. Ordnungspolitischer Ausbau der Sozialen Marktwirtschaft und erste Hemmnisse Mit dem Festhalten an marktwirtschaftlichen Prinzipien in der praktischen Wirtschaftspolitik waren gute Fundamente für die Soziale Marktwirtschaft gelegt, und mit den Jahren schritt auch der weitere Ausbau voran. Die Geldwertstabilität wurde in der Bundesrepublik mit der Bank deutscher Länder sowie deren Nachfolger, der Deutschen Bundesbank, institutionell verankert. Dabei konnten sich Erhard und das Wirtschaftsministerium insbesondere gegen Adenauer durchsetzen, der der Unabhängigkeit der Bundesbank aus politischen Gründen skeptisch gegenüberstand. Eine stufenweise durchgeführte Steuerreform ab 1948 schwächte die Steuerbelastung des Einkommens ab und schuf Steuerbefreiungen bei bestimmten Arten der Kapitalbildung. Investitionshilfe- und Kapitalmarktforderungsgesetz aus dem Jahre 1952 aktivierten Investitionen und regten das private Sparen an. Die Förderung der privaten Vermögensbildung unter Einschluß von Wohneigentum wurde unter anderem durch entsprechende Gesetze sowie die Privatisierung von Preussag 1959 und die Teilprivatisierungen von VW und Veba 1961 und 1965 erreicht. Im Bereich der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik wurden mit der Gründung der Dachorganisationen der Arbeitgeber sowie der Gründung des Deutschen Gewerkschaftsbundes 1949 die Weichen für die im Grundgesetz verankerte Tarifautonomie gelegt. Die zurückhaltende Tarifpolitik war eine entscheidende Voraussetzung für den raschen Wiederaufstieg der Bundesrepublik. Auch die Selbstbeschränkung des Staates im Rahmen des Subsidiaritätsprinzips war Voraussetzung dafür. Mit den entsprechenden Gesetzen wie dem Tarifvertragsgesetz von 1949 oder dem Betriebsverfassungsgesetz von 1952 steckte der Staat zwar den Rahmen ab, überließ die konkrete Ausfüllung aber den Tarifp artnern. Mit mehreren Wohnungsbaugesetzen ab 1950 konnten kurzfristig notwendiger Wohnraum geschaffen und die Wohnungsnot gelindert werden. Im Jahre 1954 wurde mit dem Kindergeldgesetz die Zahlung von Kindergeld begonnen. 1961 wurde das Sozialhilfegesetz verabschiedet: Die 'Hilfe zum Lebensunterhalt' und die 'Hilfe in besonderen Lebenslagen' garantieren seither eine subsidiäre und nachgelagerte Absicherung der menschenwürdigen Existenz in der Sozialen Marktwirtschaft. Die außenwirtschaftliche Eingliederung in die Weltwirtschaft gelang Erhard mit der schrittweisen Liberalisierung des Außenhandels und der stabilitätsorientierten Wechselkurspolitik. Für Wirtschaftsminister Erhard (1953, 390) bedeutete der freie Außenhandel „ein Zeugnis unserer Bereitschaft und Fähigkeit zu harmonischer Zusammenarbeit mit der ganzen Welt und zu arbeitsteiliger Verschmelzung der Märkte". Und: „Nur auf der Grundlage einer gesunden Währungspolitik bedeutet die Liberalisierung einen echten Fortschritt in Richtung auf die Konvertierbarkeit". Die Eingliederung in die internationale Arbeitsteilung erfolgte in mehreren Schritten, deren Endpunkt die von Erhard verkündete Einführung der freien Konvertierbarkeit der Deutschen Mark im Dezember 1958 war. Damit war das internationale Ansehen der DM endgültig gefestigt. Mit der generellen Konvertierbarkeit war die Liberalisierung des deutschen Außenhandels vollständig. Andererseits waren mit der stärkeren außenwirtschaftlichen Verflechtung der

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Bundesrepublik Deutschland aber auch Auswirkungen auf den Wechselkurs der Deutschen Mark verbunden, die - in der Frage, ob und in welcher Höhe aufgewertet werden sollte - auch zu teilweise heftigen innenpolitischen Diskussionen führten. Die Abwertung der DM Ende September 1949 war Folge der Abwertung europäischer Währungen gegenüber dem Dollar. Eine gegenüber anderen Währungen schwächere Abwertung der DM sollte die Preisveränderung in der Bundesrepublik gering halten. Als im Jahre 1959 eine Hochkonjunktur mit hohem Zufluß an ausländischer Liquidität und drohender Preissteigerung einsetzte, plädierte Erhard für eine Aufwertung der DM, die erst nach intensiver Diskussion - und unter indirektem Einfluß der Amerikaner - erfolgte. Dabei wurde die Deutsche Mark im März 1961 erstmals aufgewertet: gegenüber dem Dollar um fünf und gegenüber den übrigen Währungen um 4,76 Prozent. Während Wirtschaftsminister Schiller und Finanzminister Strauß als 'Plisch und Plum' in den ersten Jahren der Großen Koalition wirtschafts- und finanzpolitisch harmonierten, spaltete im Bundestagswahlkampf 1969 die Debatte um die Währungspolitik die Große Koalition: Unterstützt vom wirtschaftswissenschaftlichen Sachverstand, plädierte Schiller für eine Aufwertung der DM, Finanzminister Strauß sprach sich dagegen aus und setzte sich bei Bundeskanzler Kiesinger durch. Nach der Bundestagswahl kam es im Oktober dennoch zu einer Aufwertung der Deutschen Mark um 9,3 Prozent. Trotz dieses im Einklang oder doch im weitgehenden Einklang mit Erhard und dem Bundeswirtschaftsministerium durchgeführten konkreten Ausbaus der Sozialen Marktwirtschaft blieb Erhard aber nicht der Kampf um die ordnungspolitische Gestaltung der deutschen Wirtschaftspolitik erspart, wie die Beispiele des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, die Reform der Renten sowie die Ausgestaltung der Europäischen Gemeinschaft zeigen. 1. Zum Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen: Die Sicherung der Wettbewerbsfreiheit ist in einer Sozialen Marktwirtschaft staatliche Aufgabe. Unmittelbar nach dem Krieg übernahmen die Alliierten unterschiedlich intensiv die 'Dekartellisierungspolitik'. Bereits im Oktober 1949 lag aus dem Ministerium Erhards ein erster KartellGesetzentwurf vor. Er sah ein absolutes Kartellverbot sowie durchgreifende Maßnahmen gegen wirtschaftliche Machtkonzentrationen mit harten Sanktionen vor. Eine Abmilderung wurde auf Wunsch der Bundesländer vorgenommen, bevor der Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht wurde. Gegen Erhards Vorstellungen des Verbotsprinzips wuchsen Widerstände aus der deutschen Wirtschaft, der CDU/CSUBundestagsfraktion - und auch Adenauer war nicht für den Erhard-Entwurf zu gewinnen, so daß es in der ersten Legislaturperiode nicht zu einem entsprechenden Gesetz kommen konnte. Bis das „Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen" schließlich im Juli 1957 verabschiedet wurde, legte Erhard noch zwei weitere Gesetzesentwürfe vor. Immerhin blieb das grundsätzliche Kartellverbot erhalten, es wurde jedoch, wie wir im Ministerium witzelten, 'durchhöcherlt'. Denn Hermann Höcherl legte 1955 als Gegenentwurf zu Erhards Ansatz eine kartellfreundliche Konzeption vor, die ihrerseits durch einen streng ordoliberalen Entwurf von Franz Böhm paralysiert wurde (Günther 1980, 31 ff.). Mit den Ausnahmebereichen vom Kartellverbot hatten Erhard und sein Ministerium im Regierungsgefüge zwar eine Niederlage hinnehmen müssen. Dennoch war damit

Das Bundesministerium für Wirtschaft und die Ordnungspolitik • 105 keineswegs die ordnungspolitische Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft bedroht. Denn mit dem GWB wurde von der idealtypischen ordoliberalen Vorstellung der vollständigen Konkurrenz zugunsten realistischerer Annahmen abgewichen. Selbst Böhm (1957,13249 ff.) führte vor dem Bundestag aus: „ D a s ziel völliger Machtverhütung und völliger Inkraftsetzung von Wettbewerb kann kein Kartellgesetz der Welt erreichen. Das Ziel kann vernünftigerweise nur sein, das erreichbare Minimum von wirtschaftlicher Macht zu sichern". Erst 1967 wurde im BMWi das 'Neue Leitbild' eines funktionsfähigen und dynamischen Wettbewerbs konzipiert und damit auch der Grundstein gelegt für eine Ergänzung des Kartellgesetzes um wirksamere Mittel zur Kontrolle der Entstehimg und mißbräuchlichen Ausnutzung wirtschaftlicher Macht. Dies schlug sich in der Zweiten Kartellgesetznovelle von 1973 nieder - vorbereitet unter dem Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller. Das insgesamt bewährte GWB mit seinen fünf, übrigens im Bundestag jeweils einstimmig verabschiedeten Novellen, konnte sich zum 'Grundgesetz der Wirtschaft' entwickeln. Die langandauernde Debatte um ein Kartellgesetz hat einerseits der Sozialen Marktwirtschaft gute Dienste erwiesen, konnte Erhard doch in grundsätzlicher Weise für seine freiheitlich-wettbewerbliche Position und für den engen Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher und politischer Freiheit öffentlich werben. Andererseits zeigten die Widerstände insbesondere des Bundesverbandes der deutschen Industrie bereits deutliche Konturen der Macht der Interessenverbände, die über einen besonders engen Kontakt zum Bundeskanzler die ordnungspolitischen Intentionen des Bundeswirtschaftsministers deutlich einschränkten. 2. Zur Rentenreform: Das Rentenreformgesetz des Jahres 1957 führte die dynamische und lohnbezogene Rente ein. Die Finanzierung ging vom Anwartschaftsdeckungsverfahren zum Umlageverfahren über. Die Rente war fortan nicht mehr Zuschuß zum Lebensunterhalt, sondern wurde zum Lohnersatz. Diese Reform war mitentscheidend für die absolute Mehrheit, die die CDU/CSU in der Wahl zum Deutschen Bundestag am 15. September 1957 errang. Ludwig Erhard hatte in der jahrelangen Diskussion um eine marktwirtschaftlich orientierte Sozialversicherung für einen größeren individuellen Freiraum und für mehr ergänzende Selbstvorsorge gekämpft. Er stellte seine Bedenken gegen die dynamische Rente erst zurück, als sie in das Drei-Säulen-Konzept eingepaßt wurde, nach dem sich die gesamte Altersabsicherung aus gesetzlicher, betrieblicher und persönlicher Vorsorge zusammensetzen sollte. Als sozialpolitischer Referent mußte ich damals seine Vorstellungen im Bundesministerium für Arbeit (BMA) einbringen - was freilich nur teilweise gelang. 3. Zur Ausgestaltung der Europäischen Gemeinschaft: Im März 1957 wurden die Römischen Verträge zur Gründung von EWG und Euratom unterzeichnet. Gerade auf dem Gebiet der Europapolitik traten in der Regierungskoalition Differenzen über die Frage auf, wie die Einheit Europas erreicht werden sollte. Die Differenzen lassen sich an den Personen Adenauers und Erhards festmachen. Während Konrad Adenauer für seine Ziele bereit war, auch ordnungspolitische Positionen zu räumen, warnte Erhard stets auch vor falschen ordnungspolitischen Wegen der europäischen Einigung. Die Meinungsverschiedenheiten der fünfziger Jahre gingen in die Diskussion ein als Streit zwischen 'Institutionalisten' und 'Funktionalisten'. Erstere, zu denen Adenauer zu rechnen ist, versuchten, durch die Schaffung von Institutionen und die Übertragung von nationa-

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len Kompetenzen auf supranationale Organe die Integration voranzubringen. Demgegenüber zweifelten die 'Funktionalisten' um das Wirtschaftsministerium und Erhard (1955, 442) daran, daß „aus der Schaffung neuer (branchenmäßiger) Teilintegrationen mit gleichzeitig supranationalen Verwaltungszuständigkeiten Europa wirklich erstehen wird - und zwar sowohl in wirtschaftlicher wie in politischer Sicht". Erhard vertrat die Auffassung, daß eine europäische Integration über das Zusammenwachsen der Märkte erfolgen müsse, betonte die Notwendigkeit supranationaler Ordnungspolitik, die den Rahmen für die internationale Arbeitsteilung absteckt, und sah bei der Liberalisierung der Wirtschaftsordnung die enge räumliche Begrenzung auf Europa nur als Zwischenetappe an. Zwar setzten sich die 'Institutionalisten' bei der Fortentwicklung bis hin zur Europäischen Union durch. Aber der deutschen Seite um Erhard gelang es, die Prinzipien des freien Waren-, Kapital-, Dienstleistungs- und Personenverkehrs, der Wettbewerbs- und Niederlassungsfreiheit in den Römischen Verträgen 1957 zu verankern. Außerdem wurde die spätere Öffnung der Europäischen Gemeinschaft für andere europäische Länder mit freiheitlicher Staats- und Wirtschaftsordnung postuliert. Die EWG startete marktwirtschaftlich. Erhard erhielt die Federführung für die Überführung der deutschen Volkswirtschaft in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, das BMWi einen Europa-Staatssekretär und eine Europa-Abteilung. Am Ende des 20. Jahrhunderts besteht die historisch einmalige Chance, daß sich die These Adenauers von der politisch-institutionellen Klein-EG und die Antithese Erhards von der großen Freihandelszone aller europäischen Staaten in der Synthese einer vergrößerten mit mehrheitlich konföderalen, um föderale Elemente erweiterten, Europäischen Union auflöst und ein wettbewerblich gestalteter Binnenmarkt das ordnungspolitische Fundament bildet. Trotz der ordnungspolitischen Blüte, die Erhard und dem Bundeswirtschaftsministerium in den ersten beiden Jahrzehnten bescheinigt wird, entstanden bereits früh Hemmnisse, die die Ordnungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland einer Beschränkung unterwarfen.

IV. Änderung des ordnungspolitischen Leitbildes und Soziale Marktwirtschaft als Alibi Kennzeichen der Situation in Westdeutschland in den ersten fünfzehn Jahren ihres Bestehens waren neben der gezeigten ordnungspolitischen Priorität die hohe politische Stabilität, die Konzentration der Energien auf den Wiederaufbau und das Verlangen nach Normalisierung. Das wirtschaftliche Wachstum war in den fünfziger Jahren nicht expressis verbis Zielgröße der Wirtschaftspolitik. Vielmehr, so der Wissenschaftliche Beirat beim BMWi (1956, 34f.), wird „ein stetiges Wachstum der Volkswirtschaft am besten sichergestellt, wenn es der Wirtschaftspolitik gelingt, die Kaufkraft der Währungseinheit ... tunlichst stabil, die Beschäftigung der Produktionskräfte möglichst hoch und die Zahlungsbilanz auf der Grundlage eines freien internationalen Leistungsaustausches ausgeglichen zu halten. Maßnahmen, die dieser dreifachen Zielsetzung dienen, sollen hier unter dem Worte 'Konjunkturpolitik' verstanden werden". Damit kam der Ordnungspolitik Priorität vor systematischer Konjunktursteuerung zu, lediglich eine

Das Bundesministerium für Wirtschaft und die Ordnungspolitik • 107 'Konjunkturpolitik der leichten Hand', wie wir sie im BMWi nannten, wurde 'gefahren': Geldpolitische Mittel und außenwirtschaftliche Maßnahmen wie Zollsenkungen und Abbau von Kontingenten standen als Maßnahmen zur Verfügung. Die erste Hälfte der sechziger Jahre war eine Zeit des Übergangs. Die Phase des Wiederaufbaus war weitgehend abgeschlossen, außenwirtschaftliche Einflüsse und damit auch konjunkturelle Schwankungen nahmen zu. Erste 'keynesianische' Gedanken machten sich im BMWi breit. Bereits Ende der fünfziger Jahre versuchte Ludwig Erhard, einen wissenschaftlichen Sachverständigenrat zu gründen. Er sollte den wirtschaftlichen Akteuren, vor allem den Tarifvertragsparteien, das Einhalten gesamtwirtschaftlicher Erfordernisse erleichtem. Erst während seiner Kanzlerschaft wurde unter Minister Kurt Schmücker sowohl das Gesetz über den Sachverständigenrat vorbereitet und 1963 verabschiedet als auch das Stabilitätsgesetz entworfen. Als Leiter des wirtschaftspolitischen Grundsatzreferates versuchte ich (mit meinem Hilfsreferenten Hans Tietmeyer) Erhards Idee und verunglückter Wortschöpfung von der 'Formierten Gesellschaft' mit der Ausarbeitung eines 'wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Dialogs' einen konkreten Inhalt zu geben. Kurzum: Als Karl Schiller das Ministerium übernahm, fand er für seine Wirtschaftspolitik kein unvorbereitetes Haus vor. 1966/67 erlebte die Bundesrepublik Deutschland die erste Wirtschaftskrise: Private und öffentliche Investitionen gingen zurück, Lagerbestände wuchsen und Kapazitäten wurden stillgelegt. Das Bruttosozialprodukt (BSP) wuchs 1966 zwar noch um 2,8 Prozent, gegenüber früheren Jahren bedeutete dies jedoch eine deutliche Abschwächung; 1967 ging das BSP erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik zurück: um 0,2 Prozent. Die Arbeitslosigkeit stieg von gut 100.000 im Juli 1966 rasch auf deutlich über 600.000 Arbeitslose Anfang 1967. Auf wirtschaftspolitischem Gebiet kam es durch die Bildung der Großen Koalition 1966 zu einer Neuorientierung der staatlichen Aufgabe: Dem Staat wurden nun Möglichkeiten der makroökomomischen Steuerung zugebilligt. Damit befand sich die Konjunkturpolitik auf dem Vormarsch. Eng verbunden war dies mit der Verringerung der realen Wachstumsraten sowie stärkeren konjunkturellen Schwankungen. Auch wurden mit der Integration in die Weltwirtschaft die außenwirtschaftlichen Einflüsse und Anfälligkeiten größer. Mit der keynesianischen Lehre stand die wissenschaftliche Lösung für das Problem zur Verfügung: Die Instrumente der Geld- und Kreditpolitik, verstanden als 'Konjunkturpolitik der leichten Hand', wurden um die Finanzpolitik als Instrument des 'policy mix' ergänzt. Dabei wurden die Koexistenz einzelwirtschaftlicher Verantwortung im Rahmen einer Wettbewerbspolitik und die Globalsteuerung auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene als „Synthese von Freiburger Imperativ und Keynesianischer Botschaft" (Karl Schiller) verstanden. Am 14. Juni 1967 trat das „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft" (Stabilitätsgesetz) in Kraft. Als notwendige Ergänzung der 'Globalsteuerung' wurde die 'Konzertierte Aktion' institutionalisiert. Sie sollte alle beim Wirtschaftsprozeß Verantwortlichen am „Tisch der gesellschaftlichen Vernunft" (Karl Schiller) in ein gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht einbinden. Wer im Ministerium für Konjunktur- und Wachstumspolitik, Währungs-, Außenwirtschafts- und Wettbewerbspolitik zuständig war und zum engeren Mitarbeiterzirkel gehörte, war ebenso fasziniert wie gestreßt von Schillers ministeriellen

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'Oberseminaren', in denen wirtschaftspolitische Entscheidungen inhaltlich, taktisch und strategisch sowie medienwirksam vorbereitet wurden. Schiller übernahm von Erhard die Formulierung, daß das BMWi über seine originären Kompetenzen hinaus ein Ordnungs- und Überzeugungsministerium sei, und spielte in den ersten Jahren gekonnt auf diesem Klavier. In der ersten Rezession in Westdeutschland 1967 bestanden die antizyklische Finanzpolitik und die kooperative Wirtschaftspolitik ihre Feuertaufe: Die Vollbeschäftigung konnte ohne Verletzung des Stabilitätsziels und unter Rückführung der vorübergehend bewußt hingenommenen Haushaltsdefizite rasch wiederhergestellt werden. Kurze Zeit später trat aber bereits eine Ernüchterung ein: Im 'Superboom' von 1968/69 - mit einer Wachstumsrate des BSP von sieben Prozent 1968 und gut acht Prozent 1969 konnte trotz aller restriktiven Maßnahmen die Inflation nicht zurückgedrängt werden. Die Aufwertung der DM wurde zu lange verzögert; die importierte Inflation kam deshalb hinzu. Schließlich wurde die 'Konzertierte Aktion' immer seltener und dann nicht mehr einberufen. Flankiert wurde die Änderung des ordnungspolitischen Leitbildes durch den Regierungswechsel zur sozialliberalen Koalition 1969. Entscheidend dafür war letztlich die Ostpolitik. Aber gerade die Aufwertungsdiskussion, von Schiller im Wahlkampf brillant und allgemeinverständlich aufbereitet, hat dazu beigetragen, die wirtschaftspolitische Kompetenz der SPD zu stärken und die Vierzig-Prozent-Hürde zu überwinden. Grundlage dieses Erfolges war die programmatische Erneuerung der SPD durch das Godesberger Programm vom November 1959 mit der veränderten Einstellung unter anderem zur Marktwirtschaft. Heinrich Deist und Karl Schiller waren die Pioniere auf wirtschaftsordnungspolitischem Gebiet, und Herbert Wehner erkannte früh, daß seine Partei nur so regierungsfähig werden kann. Insgesamt läßt sich rückblickend feststellen (Schlecht 1990, 89 f f ) : Im Zeichen der 'aufgeklärten Marktwirtschaft' Karl Schillers wurde allzu stark dem sich ausbreitenden Glauben an die 'Machbarkeit' makroökonomischer Steuerung vertraut, die monetäre Stabilität und marktwirtschaftliche Rahmenbedingungen wurden vernachlässigt. In der ersten Reformeuphorie der sozialliberalen Koalition wurde die finanzpolitische Globalsteuerung zur Ausweitung der Staatstätigkeit mißbraucht. Darin liegt ein wesentlicher Grund für den Rücktritt Karl Schillers als 'Superminister' 1972. Mit Ludwig Erhard und Karl Schiller beeinflußten - in einer Abwandlung eines Ausspruches von Franz Böhm - ein 'Marktwirtschaftler von rechts' und ein 'Marktwirtschaftler von links' - zwei Ökonomen die deutsche Nachkriegsordnung maßgeblich. Nach Hans-Peter Schwarz (1997) haben ,£rhard und Schiller überzeugt, indem sie inmitten des politischen Geschäfts, wo zahllose NichtÖkonomen pragmatisch herumwursteln, in anspruchsvoller Begrifflichkeit und mit Freude am theoretischen Räsonnement dem ökonomischen Sachverstand zur Geltung verhelfen wollten". In den siebziger Jahren führte die Ausdehnung des Sozial- und Wohlfahrtsstaates zur Ablösung der Priorität von der Wirtschafts- zur Sozialordnung, wirtschaftliche Notwendigkeiten und finanzielle Solidität waren nicht mehr im Einklang. Die ständige Ausweitung der kollektiven Verantwortlichkeit durch und über den Staat mit Hilfe zunehmender Bürokratisierung und Reglementierung beeinträchtigte Anpassung, Effizienz und Dynamik der marktwirtschaftlichen Ordnung. Indem dem Staat die Verantwortung

Das Bundesministerium für Wirtschaft und die Ordnungspolitik • 109 für das Beschäftigungsziel zugeschoben wurde und er dies leichtfertig geschehen ließ, wurden das defensive Besitzstands- und Sicherheitsdenken gefördert und die Flexibilität der Wirtschaft verringert. Aufgrund der allgemeinen Anspruchsinflation erhielten Verteilungsfragen Vorrang vor der Beschäftigung mit der Entstehung des Sozialprodukts. Mit der Politik der 'inneren Reformen' Brandts wurden zusätzliche öffentliche Güter und soziale Transfers bereitgestellt, der Personalbestand im Öffentlichen Dienst wurde um fast eine Million erhöht; die Staatsquote stieg deutlich an. Übersteigerte Lohnforderungen der ÖTV, die Ölpreiskrisen 1973 und 1979 sowie das mangelhafte arbeitsmarktpolitische Verhalten der Tarifparteien auf die durch die Ölpreisschocks bedingten Einkommensverschiebungen verstärkten Inflation und Wachstumsschwäche. Das BrettonWoods-System fester Wechselkurse und der Nachfragesog aus dem Ausland taten ein übriges, die Inflation von knapp zwei Prozent 1969 auf sieben Prozent 1974 anwachsen zu lassen. Mehr noch: Es kam zur sogenannten Stagflation. Hohe Inflation und wirtschaftliche Rezession traten gleichzeitig auf. Helmut Schmidts Diktum von 1973: „Das deutsche Volk kann fünf Prozent Preisanstieg eher vertragen als fünf Prozent Arbeitslosigkeit" erwies sich aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht als nicht haltbar. Auch kam es nach den Jahren praktischer Vollbeschäftigung zum Anstieg der Arbeitslosigkeit. Während der kurzen Wirtschaftskrise 1966/67 stieg die Arbeitslosigkeit auf über eine halbe Million, 1975 auf mehr als eine Million und seit 1983 auf etwa zwei Millionen Arbeitslose. Auch aufgrund internationaler Forderungen an Westdeutschland, als Konjunkturlokomotive zu fungieren, wurde die Finanzpolitik Ende der siebziger Jahre trotz steigender Haushaltsdefizite zusätzlich expansiv ausgerichtet. Folgen waren eine Schuldenquote 1980 von erstmals über dreißig Prozent und Budgetdefizite 1980/82 von etwa vier Prozent Anteil am BSP. Das Jahrzehnt der siebziger Jahre ging ein in die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland als die Zeit währungspolitischer Turbulenzen, steigender Staats-, Steuerund Sozialleistungsquoten, höchster Inflationsraten und des Phänomens der Stagflation. Das Elend der Globalsteuerung der siebziger Jahre führe ich im wesentlichen auf drei Ursachen zurück: Erstens gelangen eine angemessene Dimensionierung und ein zeitgerechtes Timing der staatlichen Konjunktursteuerung nicht. Zweitens wurde das Deficitspending nur in Richtung Verschuldung, nicht jedoch in Richtung Abbau der Schulden verstanden, die Angebotsseite wurde vernachlässigt. Und schließlich wurde die Globalsteuerung durch den Versuch überlagert, damit auch innenpolitische Reformen zu ermöglichen. Egon Tuchtfeldt (1997) bilanzierte die erste Nach-Erhard-Ära sehr deutlich: „Das Experiment 'Sozialstaat1 trat an die Stelle. Bald wurde die Frage gestellt: 'Wieviel Streß verträgt die Wirtschaft?' Der 'Mythos der Machbarkeit' und der 'gesellschaftspolitische Reformfetischismus' ließen die Bürokratie zum Moloch anwachsen, der den 'mündigen' zum 'administrierten' Bürger degradierte. Zweckoptimismus als Verschleierungsstrategie, quantitative Vermehrung bei gleichzeitiger qualitativer Verschlechterung der rechtlichen Rahmenbedingungen, unsoziale Wirkungen sozial gemeinter Maßnahmen und vieles mehr führten zu Effizienzverlusten und dem heute allenthalben spürbaren finanz- und sozialpolitischen 'Overkill'." Dieses Urteil ist im Kern berechtigt, aber zu hart. Marktwirtschaftliche Ordnungspolitik geriet ins Hintertreffen, gleichwohl gelang es dem BMWi mit seinen liberalen und marktwirtschaftlichen Ministern Hans Fri-

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derichs und Otto Graf Lambsdorff, die Ordnung der Sozialen Marktwirtschaft im Kern gesund und rehabilitationsfähig zu erhalten.

V. Rückbesinnung auf die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft: Impuls aus dem Bundesministerium für Wirtschaft An den Fragen von Haushaltskonsolidierung und Reduzierung des Staatsanteils kam es schließlich 1982 zum Auseinanderfallen der Regierungskoalition. Das Bundesministerium für Wirtschaft und sein Chef, Otto Graf Lambsdorff, hatten auf das Ende der sozialliberalen Koalition nicht unmaßgeblichen Einfluß. Im Ministerium wurde nämlich das Memorandum verfaßt, das schließlich als 'Wendepapier' in die Annalen eingehen sollte (Lambsdorff 1987, 64 ff.) und das „auch von Ludwig Erhard hätte geschrieben werden können" (Kaltefleiter 1997, 74). Vom Regierungswechsel ging eine Schwerpunktverlagerung des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft hin zum Primat der Ordnungspolitik aus. Zielsetzung war es, durch marktwirtschaftliche Rahmenbedingungen Strukturwandel, Wachstum und Beschäftigung zu fördern. Auf wirtschaftswissenschaftlichem Gebiet wurde die ordnungspolitische Neuorientierung durch die Konzepte des Monetarismus und der angebotsorientierten Politik flankiert. Damit wurde gleichzeitig Abschied genommen von Keynes\ es kam zur Rückbesinnung auf individuelle Kreativität, Unternehmertätigkeit und Leistungsbereitschaft; Wachstum und Schaffung von Beschäftigung erhielten Priorität gegenüber Umverteilung. Haushaltskonsolidierung, Senkung der Staatsquote, Steuerreform in drei Stufen mit Senkung der Steuerquote auf den niedrigsten Stand seit zwanzig Jahren, Deregulierung, Entbürokratisierung und insbesondere die Privatisierung schufen Vertrauen und eine neue Dynamik in den achtziger Jahren. Insgesamt wurde der finanzpolitische Spielraum zurückgewonnen - was sich für die Deutsche Einheit als großer Vorteil zeigen sollte. Mit der Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion am 1. Juli 1990 wurden in der DDR die Voraussetzungen zur Errichtung der Sozialen Marktwirtschaft sowie zur Vollendung der Deutschen Einheit geschaffen. Massive West-OstFinanztransfers gaben in den neuen Bundesländern unerläßliche Wachstumsimpulse. Die Einheit gelang zwar ohne drastische Verwerfungen. Jedoch wurden „viele ordnungspolitisch in die richtige Richtung gehende Entwicklungen, z.B. im Bereich der öffentlichen Finanzen, unterbrochen" {Molitor 1993, 26). Daß der Ost-WestAngleichungsprozeß sich als schwieriger gestalten und länger andauern würde als ursprünglich auch im Bundesministerium für Wirtschaft angenommen, hängt mit unterschiedlichen Ursachen zusammen: - Vierzig Jahre sozialistisch-zentralwirtschaftliche Politik hatten private Strukturen planmäßig vernichtet; - ostdeutsche Produkte wurden mit einem Schlag dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt oder verloren ihre Märkte; - von Politikern und Tarifpartnern wurden - im Gegensatz zu den bekannten Erhardschen Maßhalteappellen - Hoffnungen verstärkt, innerhalb kürzester Zeit sei Westniveau erreichbar;

Das Bundesministerium für Wirtschaft und die Ordnungspolitik - I I I - die überhöhten und überschnellen Lohnanpassungen erschwerten die Transformation; - das in Jahrzehnten in Westdeutschland entstandene Geflecht an Gesetzen, Verordnungen und Regulierungen wurde auf die jungen Bundesländer übertragen; - der politisch festgelegte Umtauschkurs, das Prinzip 'Rückgabe vor Entschädigung' und unvorstellbare Umweltzerstörungen erwiesen sich als Investitionshemmnisse. Vielleicht hätten manche Fehlentscheidungen vermieden werden können bei anderer Ressortzuständigkeit. Das BMWi unter Minister Helmut Haussmann hatte es nicht vermocht, die Federführung für den Aufbau Ost zu erkämpfen. Hinter Bundeskanzleramt und Finanzministerium spielte es nur die zweite Geige. Trotz sichtbarer Verbesserungen nach gut sieben Jahren Deutscher Einheit konnte noch kein selbsttragender und nachhaltiger Wachstumsprozeß in Ostdeutschland etabliert werden. Deshalb werden noch auf absehbare Zeit hohe Transferzahlungen notwendig sein. Es gilt für Ostdeutschland wie für Deutschland insgesamt: Unerläßlich ist eine Revitalisierung der Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft als Voraussetzung für die erfolgreiche Gestaltung der Zukunft. Das BMWi erhält damit eine neue Chance für ordnungspolitische Kompetenz und sollte sich damit verbundener Herausforderungen annehmen.

VI. Neue Herausforderungen für das Bundeswirtschaftsministerium Vor einem halben Jahrhundert hat Walter Eucken (1948, 77) die ordnungspolitischen und wirtschaftsethischen Schlüsselfragen gestellt: „Welche Ordnungsformen gewähren Freiheit? ... Ist eine Wirtschaftsordnung möglich, in der die Menschen nicht nur Mittel zum Zweck, nicht also nur Teilchen des Apparates sind?" Ludwig Erhard und seine Mitstreiter bauten eine solche Ordnimg in Westdeutschland auf. Am Vorabend des neuen Jahrhunderts lauten die Schlüsselfragen: Wie können die Freiheitsrechte der Menschen gestärkt werden? Wie läßt sich das bewährte Modell Soziale Marktwirtschaft mit Wohlstand und Arbeit für alle ins nächste Jahrtausend führen? Der hunderste Geburtstag von Ludwig Erhard im Februar 1997 sollte Deutschland Anlaß sein, die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft einer Revitalisierung zu unterziehen. Denn einerseits zeugen über vier Millionen Arbeitslose von einer gravierenden Standortschwäche, und andererseits werden die Herausforderungen für den Standort Deutschland nicht leichter werden: Globalisierung, qualifizierte Niedriglohnländer vor der eigenen Haustür, neue Kommunikations- und Informationstechnologien und die Entwicklung zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft werden die Unternehmen stärker als je zuvor weltweiter Konkurrenz aussetzen. Strukturelle Fehlentwicklungen wie die Verkrustung auf dem Arbeitsmarkt oder ein überfordertes Sozialsystem werden in der globalen Welt in brutaler Weise offensichtlich. Wir sollten unserem Bundespräsidenten ausgesprochen dankbar sein, daß er in klarer Sprache und ohne zurückhaltende Floskeln eine Standortbestimmung vorgenommen hat: „Was ist los mit unserem Land? Im Klartext: Der Verlust wirtschaftlicher Dynamik, die Erstarrung der Gesellschaft, eine unglaubliche mentale Depression - das sind die Stichworte der Krise. Sie bilden einen allgegenwärtigen Dreiklang, aber einen Dreiklang in Moll.... Uns fehlt der Schwung zur Erneuerung, die Bereitschaft, Risiken einzugehen, eingefahrene Wege zu verlassen,

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Neues zu wagen. Ich behaupte: Wir haben kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem" (Herzog 1997, 353). Gerade dem Bundesministerium für Wirtschaft und dem zuständigen Minister kommt dabei die Aufgabe zu, der Flucht aus der ökonomischen Realität beherzt und mutig entgegenzutreten. Es gilt, Erhards Botschaft vom Nutzen der Marktwirtschaft ftir das Gemeinwohl Geltung zu verschaffen. Es geht darum, Freiheit wieder als Chance für den einzelnen zu verstehen und der EigenVerantwortung in allen Bereichen Vorrang vor der kollektiven Sicherung und Bevormundung staatlicher Stellen zu geben. Und schließlich gilt es, auf allen Märkten Flexibilität, Liberalisierung und Wettbewerb Priorität vor Erstarrung einzuräumen. Mit dieser Rückbesinnung auf die Wurzeln des Erhardschen Verständnisses von Sozialer Marktwirtschaft gelingt es, Soziale Marktwirtschaft auch im nächsten Jahrhundert als Ordnung zu etablieren, die 'Wohlstand für alle' ermöglicht. Die ordnungspolitische Botschaft reicht aber über das notwendige Maßnahmenbündel für die Reformen zur Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft hinaus. Wir brauchen eine neue Aufbruchstimmung für ein zweites 'Wirtschaftswunder'. Dafür müssen Reformmaßnahmen in ein stimmiges Zukunftskonzept eingepaßt werden. Es muß mit Überzeugungs- und Führungskraft den Bürgern vermittelt werden. Das Vertrauen und die Zuversicht der Bürger müssen gewonnen werden. Einige der Wirtschaftsminister waren Kommunikatoren, die die unerläßliche Zuversicht verbreiten und für das ökonomisch Notwendige werben konnten. Daran ist in der heutigen Lage anzuknüpfen. Ein weiteres: So sehr es eine Interdependenz zwischen Wirtschaft und Staatsordnung gibt, zwischen Marktwirtschaft und rechtsstaatlicher Demokratie, so sehr verzeichnen wir auch eine Kluft zwischen ökonomischer Vernunft und politischer Ratio. Helmut Kohl bringt dies auf die lässige Formel „Ich will nicht den Ludwig-Erhard-Vreis, sondern die nächsten Wahlen gewinnen." Ludwig Erhard und seine Wirtschaftsminister-Kollegen haben gezeigt, daß man mit einer Politik der ökonomischen Vernunft, also mit mutiger marktwirtschaftlicher Ordnungspolitik, auch zu Wahlerfolgen beitragen kann.

VII. Würdigung fast fünfzigjähriger Arbeit des Bundeswirtschaftsministeriums Dem Bundeswirtschaftsministerium wurden im Laufe eines halben Jahrhunderts zahlreiche Titel verliehen. Fielen die Würdigungen in den ersten Jahrzehnten fast überschwenglich positiv aus, so sind die Stimmen inzwischen kritischer geworden. Karl Schiller sprach noch stolz vom BMWi als einem 'unbequemen Ressort', Hermann J. Abs titulierte das Amt als „Offizialverteidiger der Wirtschaft" und damit als „Offizialverteidiger der Freiheit, der Selbstverantwortung und der Eigeninitiative des Individuums im gesellschaftspolitischen Bereich" (Abs 1967, 25). Die Abteilung Wirtschaftspolitik, die Grundsatzabteilung des Ministeriums, wurde als „Kader- und Ideenschmiede" (Wirtschaftswoche, 20. März 1997) tituliert, und mich hat man häufig als „ordnungspolitisches Gewissen der Bundesregierung" bezeichnet. Der Grundsatzabteilung kam beispielsweise bei der Verfassung des sogenannten 'Wendepapieres', das unter meiner Anleitung 1982 vom damaligen Abteilungsleiter, Hans Tietmeyer, für Otto Graf

Das Bundesministerium für Wirtschaft und die Ordnungspolitik • 113 Lambsdorff und den Bundeskanzler Helmut Schmidt verfaßt wurde, koalitionspolitische Bedeutung zu. Mittlerweile überschatten Fragezeichen die Bedeutung des BMWi. Es wird von einem 'schwachen Ressort', von einer 'Hochburg der Bürokraten' und von „Machtverlust" gesprochen. Und als Krönung alldessen hat einer der Nachfolger von Erhard, der fünf Monate amtierende 'Superminister' Helmut Schmidt, gar die Abschaffung des Wirtschaftsministeriums verlangt. Es sei, so Schmidt (1994), fast ohne jede Bedeutung und oft nur noch mit der Vorbereitung von Sonntagsreden für den jeweiligen Minister befaßt. Dies ist sicherlich eine allzu subjektiv-destruktive Folgerung aus einem objektiv zu beklagenden Kompetenzverlust des Ministeriums. Jedoch muß, wenn von Macht oder Ohnmacht des BMWi gesprochen wird, berücksichtigt werden, daß solche Beurteilungen sich eigentlich stets auf die politisch Handelnden, also auf die politische Führung des Ministeriums, beziehen. Insofern muß die Beurteilung des Ministeriums eingefaßt sein in die Hintergründe enger partei- und koalitionspolitischer Zusammenhänge. Hier darf nicht unerwähnt bleiben, daß der Komeptenzverlust des Wirtschaftsministeriums frühzeitig einsetzte. Selbst „charismatische Persönlichkeiten" (Fides KrauseBremer) wie Erhard und Schiller konnten dies nicht verhindern: Das BMWi verlor durch die Gründung des Entwicklungshilfeministeriums Zuständigkeiten, unter Schiller wanderten Kompetenzen im Bereich der Europa-Politik an das Außenministerium. Weitere Kompetenzen gingen an das neue Bildungsministerium im Bereich der beruflichen Bildung und bei Teilen der Energiepolitik, wie Fragen der Reaktorsicherheit, durch die Gründung des Bundesumweltministeriums verloren. Der Ausbau zur Europäischen Union zog Zuständigkeiten ins Auswärtige Amt und nach Brüssel. Hatte noch im Sommer 1952 der Wirtschaftsminister das Aufgabengebiet 'Geld und Kredit' aus den Händen des Finanzministers erhalten, konnten Hans Friderichs und seine Partei trotz Widerstands nicht verhindern, daß Helmut Schmidt diese Abteilung 1972 ins Finanzministerium mitnahm. Darüber hinaus erschwert das schwindende Verständnis für ordnungspolitische Zusammenhänge die Einflußchancen des Wirtschaftsministeriums. Nichtsdestotrotz lautet meine These, die ich durch die eigene praktische Arbeit immer wieder bestätigt fand: Wichtiger als auf Partei- und Koalitionspapieren stehende Kompetenzen ist das Potential an Einfluß auf die Gestaltung der Politik, über das das Bundesministerium für Wirtschaft verfügt. Noch immer steht das Denken in Zusammenhängen im BMWi im Vordergrund; und noch immer hat im Ministerium das Konzept Gültigkeit, wie es Karl Schiller (1968, 11) definierte: „Man sollte dem Markte geben, was des Marktes ist, und dem Staate, was des Staates ist". Rainer Nahrendorf stellt dazu im Handelsblatt vom 6. Januar 1993 fest: „Es waren eigentlich nie so sehr die Kompetenzen des Wirtschaftsministeriums, sondern es war die Kompetenz des jeweiligen Ressortchefs, insbesondere Ludwig Erhards, Karl Schillers und Otto Graf Lambsdorffs, die das Ranking dieses Ministeriums unter den Ressorts in der öffentlichen Meinung ausmachten." Da Ordnungspolitik „ein unbequemer, aber erfolgversprechender Weg" (Eekhoff und Pimpertz 1997, 23ff.) ist, muß es also Zielsetzung des BMWi sein, den Leitgedanken der Ordnungspolitik zu stärken, ihm im politischen Tagesgeschäft Geltung zu verschaffen, Überzeugungsarbeit zu leisten und Glaubwürdigkeit zu erzielen. Dies bedeutet je-

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doch nicht marktwirtschaftlichen Dogmatismus; in der praktischen Politik ist manches Mal auch die Realisierung der zweitbesten Lösung notwendig. „Zum Wesen einer „guten" wirtschaftspolitischen Konzeption gehört die Rationalität im Sinne der inneren Widerspruchslosigkeit. Zum Wesen der praktischen Politik und Wirtschaftspolitik gehört der Kompromiß.... Die Tatsache des Kompromißcharakters aller Wirtschaftspolitik widerspricht nicht der Möglichkeit und Zweckmäßigkeit ihrer Orientierung an einer gesamtwirtschaftlichen Konzeption; sie beeinträchtigt nur die Möglichkeiten einer vollen Realisierung aller Ziele" (Pütz 1957, 47f.). Daß durchaus auch staatliche Eingriffe in der marktwirtschaftlichen Ordnung notwendig sind, wußte auch Ludwig Erhard. Er war sich bewußt, daß es in demokratischen und föderalen Entscheidungsprozessen manchmal nicht vermieden werden kann, ordnungspolitisch „zu sündigen". Besorgten Marktwirtschaftlern entgegnete Erhard (1961, 678): „Der Mensch, der um das Rechte weiß, der kann auch sündigen." Deshalb fand ich mich auch ganz gut charakterisiert, als mich eine Zeitung anläßlich meiner Pensionierung als Staatssekretär als „Inkarnation der beweglichen Grundsatztreue" beschrieb. In seiner praktischen Arbeit hat sich das BMWi immer wirtschaftswissenschaftlicher Erkenntnisse bedient: „Um die praktische Wirtschaftspolitik durch die Erkenntnisse der Wirtschaftswissenschaft zu befruchten" (Erhard 1950), wurde Ende 1947 der Wissenschaftliche Beirat gegründet. Die Erweiterung der wirtschaftswissenschaftlichen Beratung erfolgte um den im Jahre 1963 installierten Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Der wissenschaftlichen Politikberatung kommt eine nicht zu vernachlässigende Aufgabe zu. Sie kann nämlich im Spannungsfeld zwischen übergeordneten wirtschaftswissenschaftlichen Aussagen einerseits und konkreten praktikablen und politisch umsetzbaren Zielsetzungen andererseits vermitteln, indem sie dazu beiträgt, auf die öffentliche Meinung so einzuwirken, daß das Richtige auch politisch möglich wird. Mit der Querschnittszuständigkeit für den Bericht der Bundesregierung zur Zukunftssicherung des Standortes Deutschland 1993 und des darauf aufbauenden Aktionsprogramms für mehr Wachstum und Beschäftigung hatte das Bundesministerium für Wirtschaft wieder ordnungspolitisches Profil gewonnen. Bei der zügigen Umsetzung konnte es sich freilich nicht immer durchsetzen. Auf wissenschaftlicher Grundlage wird es dem Bundesministerium für Wirtschaft auch in Zukunft obliegen, in eigener ordnungspolitischer Standfestigkeit praktische Wirtschaftspolitik zu gestalten. Gerade aus den geringen Kompetenzen in der operativen Politik in Regierungskoalitionen lassen sich für das Bundeswirtschaftsministerium und den zuständigen Minister Chancen ableiten, ein Sprachrohr für ordnungspolitische Klartexte zu sein. Damit wird das Ministerium auch künftig an die Tradition von Ludwig Erhard anknüpfen können. Dieser formulierte die Ansprüche an Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsminister so: „Zu einer guten Wirtschaftspolitik gehört... vor allem der Mut zum Widerstand und auch zur Unpopularität. Der für die Wirtschaftspolitik verantwortliche Minister ist darum auch nicht der Sachwalter der Unternehmer, ja, ihm obliegt nicht nur die Ordnung der Wirtschaft als solche, sondern er wird sie als das Instrument begreifen müssen, um dem Wohle jedes Staatsbürgers zu dienen" (Erhard 1962, 765).

Das Bundesministerium für Wirtschaft und die Ordnungspolitik • 115 Literatur Abs, Hermann J. (1967), Ansprache, in: Pressestelle des Bundesministeriums für Wirtschaft (Hrsg.), 50 Jahre Deutsches Wirtschaftsministerium, Bonn, S. 18-30. Böhm, Franz (1957), Rede vor dem Deutschen Bundestag, Verhandlungen des Deutschen Bundestages: Stenographische Berichte, Bd. 38, S. 13249 f f . Böhm, Franz (1963), Die Bedrohung der Freiheit durch private ökonomische Macht in der heutigen Gesellschaft, in: Universitas, Jg. 18, Heft 1, S. 42-48. Düren, Albrecht (1972), Ludwig Erhards Verhältnis zu organisierten wirtschaftlichen Interessen, in: Gerhard Schröder, Alfred Müller-Armack, Karl Hohmann, Johannes Groß und Rüdiger Altmann (Hrsg.), Ludwig Erhard. Beiträge zu seiner politischen Biographie. Festschrift zum fünfundsiebzigsten Geburtstag, Frankfurt a.M, Berlin und Wien, S. 42-66. Eekhoff, Johann und Jochen Pimpertz (1997), Ordnungspolitik: Ein unbequemer, aber erfolgversprechender Weg, in: Ludwig-Erhard-Stiftung (Hrsg.), Soziale Marktwirtschaft als historische Weichenstellung. Ludwig Erhard: 1897-1997. Bewertungen und Ausblicke. Eine Festschrift zum hundertsten Geburtstag von Ludwig Erhard, Düsseldorf, S. 23-50. Erhard, Ludwig (1950), Vorwort, in: Bundeswirtschaftsministerium (Hrsg.), Der Wissenschaftliche Beirat bei der Verwaltung für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebietes. 1. Band: Gutachten 1948 bis Mai 1950, Göttingen, S. 4-5. Erhard, Ludwig (1952), Zehn Thesen zur Verteidigung der Kartellverbotsgesetzgebung, in: Karl Hohmann (Hrsg.), Ludwig Erhard: Gedanken aus fünf Jahrzehnten, Düsseldorf, Wien und New York, 1988, S. 347-355. Erhard, Ludwig (1953), Zu Fragen der Europäischen Zahlungsunion, in: Karl Hohmann (Hrsg.), Ludwig Erhard: Gedanken aus fünf Jahrzehnten, Düsseldorf, Wien und New York, 1988, S. 387-392. Erhard, Ludwig (1955), Wer ist ein guter Europäer? In: Karl Hohmann (Hrsg.), Ludwig Erhard: Gedanken aus fünf Jahrzehnten, Düsseldorf, Wien und New York, 1988, S. 442-445. Erhard, Ludwig (1956), Selbstverantwortliche Vorsorge für die sozialen Lebensrisiken, in: Karl Hohmann (Hrsg.), Ludwig Erhard: Gedanken aus fünf Jahrzehnten, Düsseldorf, Wien und New York, 1988, S. 461-465. Erhard, Ludwig (1957), Wohlstandfür alle, Düsseldorf, Wien. Erhard, Ludwig (1959), Zehn Jahre Wirtschaftspolitik des Bundes, Wirtschafts-Digest, Nr. 10, 10. Oktober 1959. Erhard, Ludwig (1961), Freiheit und Verantwortung, in: Karl Hohmann (Hrsg.), Ludwig Erhard: Gedanken aus fünf Jahrzehnten, Düsseldorf, Wien und New York, 1988, S. 676-683. Erhard, Ludwig (1962), Unternehmer und Politik, in: Karl Hohmann (Hrsg.), Ludwig Erhard: Gedanken aus fünf Jahrzehnten, Düsseldorf, Wien und New York, 1988, S. 761-766. Eucken, Walter (1948), Das ordnungspolitische Problem, ORDO - Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. I, S. 56-90. Eucken, Walter (1952), Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Bern und Tübingen. Günther, Eberhard (1980), Erinnerungen an Franz Böhm, in: Konrad-Adenauer-Stiftung (Hrsg.), Franz Böhm: Beiträge zu Leben und Wirken, Melle, S. 23-26. Herzog, Roman (1997), Aufbruch ins 21. Jahrhundert, Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 33, S. 353-358. Kaltefleiter, Wemer (1997), Bundeskanzler Ludwig Erhard 100 Jahre, Zeitschrift für Politik, 44. Jg., 1/97, S. 72-85. Lambsdorff, Otto Graf (1987), Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, abgedruckt unter dem Titel „Das Wendepapier", in: Otto Graf Lambsdorff, Frische Luft für Bonn, Stuttgart, S. 64-89. Molitor, Bernhard (1993), Ist Marktwirtschaft noch gefragt? Eine ordnungspolitische Bilanz der Jahre 1982 bis 1992, Tübingen. Müller-Armack, Alfred (1956), Soziale Marktwirtschaft, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Band 9, Tübingen. Müller-Armack, Alfred (1974), Genealogie der Sozialen Marktwirtschaft, Bern und Stuttgart. Nell-Breuning, Oswald von (1987), Unsere Verantwortung, Freiburg, Basel und Wien.

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Das Bundesministerium fur Wirtschaft und die Ordnungspolitik

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gen Stärkung der Ordnungspolitik, damit die globalen Herausforderungen am Standort Deutschland gemeistert werden können. Summary The Federal Ministry of Economics and Ordnungspolitik in Postwar-Germany This article deals with the importance and the influence of the Federal Ministry of Economics on Ordnungspolitik in postwar-Germany. The author analyses reasons, conditions and correlations of various influences of the Federal Ministry of Economics on practical policy. Three different periods of intensity of Ordnungspolitik can be distinguished: In the 1950s and the 1960s the economic and social order was established, in the 1970s macroeconomic interventions, the expansion of social system and the priority of distributions became characteristics of West German's economic policy. The Federal Ministry of Economics and its ministers could not obtain the adequate consideration of Ordnungspolitik within the government. Finally, in the early 1980s, the Federal Ministry of Economics gave one of the impulses for the change of government. The political turn-around induces a recourse to the concept of Social Market Economy. On the basis of this concept Germany organized the economic unification. Nevertheless, mistakes were made and the needs of successful Ordnungspolitik were not obeyed in all cases. Now, on the eve of a new century, we need a sustainable strengthening of the German Ordnungspolitik to be able to cope with the global challenges of the future.

ORDO

Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1997) Bd. 48

Rolf Peffekoven

Finanzpolitik im Konflikt zwischen Effizienz und Distribution Inhalt I. Zur Lage der öffentlichen Finanzen II. Zu den Ursachen der Entwicklung III. Politik der Ausgabenkürzungen kommt nicht voran IV. Steigende Verschuldung - steigende Steuerlast V. Zu den Regelungen der Finanzverfassung VI. Finanzpolitik vor dringenden Reformen Literatur Zusammenfassung Summary: Fiscal Policy in the Conflict between Efficiency and Distribution

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I. Zur Lage der öffentlichen Finanzen Die Finanzpolitik ist in einen Teufelskreis geraten: Auf der einen Seite haben die staatlichen Aktivitäten - gemessen an der Staatsquote, also der Relation von Staatsausgaben zu Bruttoinlandsprodukt - stark zugenommen. Die Staatsquote ist im Jahre 1996 auf über 50 v.H. gestiegen. Auf der anderen Seite mußten zur Finanzierung des hohen Staatsanteils die Einnahmen entsprechend angehoben werden. Die Verschuldung ist auf ein Rekordniveau von über 2.000 Mrd. DM angewachsen, was einer Schuldenstandsquote (Schuldenstand in Relation zum Bruttoinlandsprodukt) von etwa 61 v.H. entspricht; die Nettoneuverschuldung liegt - in Relation zum Bruttoinlandsprodukt (Defizitquote) - seit Jahren deutlich über 3,0 v.H. Die Belastung mit Steuern und Abgaben gemessen an der Abgabenquote, also der Relation von Abgaben zu Bruttoinlandsprodukt - hat mit rund 44 v.H. den höchsten Wert der Nachkriegszeit erreicht. Die hohe Verschuldung bringt für die öffentlichen Haushalte starke Zinsbelastungen, was eine neue Runde von Steuererhöhungen und Kreditaufnahmen einläuten muß, wenn es nicht gelingt, die öffentlichen Ausgaben drastisch zurückzufuhren. Die zunehmende Staatstätigkeit hat zur Folge, daß die Spielräume für private Aktivitäten immer enger, vor allem aber die Anreize für mehr Leistung und mehr Investitionen abgeschwächt werden, obwohl angesichts von über 4 Millionen Arbeitslosen genau das Gegenteil geboten wäre: Um eine wirkliche Entspannung der Situation am Arbeitsmarkt zu erreichen, muß die Investitions- und Wachstumsschwäche unserer Volkswirtschaft überwunden werden. Nach weithin akzeptierter Auffassung verlangt dies eine deutliche Rückführung der öffentlichen Ausgaben, um damit die Kreditfinanzierung einzudäm-

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men und die Abgabenbelastung zu senken. Der Staat muß Bedingungen schaffen, unter denen sich private Aktivitäten zur Schaffung von Arbeitsplätzen entfalten können. Das ist im Prinzip auch die Strategie, die die Bundesregierung mit dem vom Bundesfinanzminister vorgelegten Plan 'Finanzpolitik 2000' einschlagen will. Bis zum Jahre 2000 soll die Staatsquote auf einen Wert von 46,9 v.H. zurückgeführt werden, also auf den Wert, der im Jahre 1989 - mithin unmittelbar vor der Vereinigung - gegolten hat. Die damit frei werdenden Mittel sollen (etwa je zur Hälfte) dafür genutzt werden, die Defizitquote und die Abgabenquote zu senken. So richtig dieser Ansatz ist, es fehlen bisher überzeugende Schritte, die vermuten lassen, daß die genannten Ziele bis zum Jahre 2000 tatsächlich erreicht werden können. Selbst da, wo die Finanzpolitik durchaus konsequente Orientierungslinien zeigt, dominieren bei der Umsetzung Improvisationen und Notlösungen.

II. Zu den Ursachen der Entwicklung Als Ursache für die dramatische Entwicklung der Finanzpolitik und die Schwierigkeiten bei der Lösung der Probleme werden immer wieder die mit der Vereinigung entstandenen und weitgehend unabweisbaren Belastungen der öffentlichen Haushalte genannt. Das wird man - zumal für die Jahre unmittelbar nach 1990 - auch nicht bestreiten können. Bedenklich ist aber, daß es auch sieben Jahre nach der Vereinigung nicht gelungen ist und voraussichtlich auch in absehbarer Zukunft nicht gelingen wird, die öffentlichen Haushalte zu konsolidieren. Im Kern sind all diese Schwierigkeiten darauf zurückzufuhren, daß seit Jahren bei der Gestaltung der Finanzpolitik mit Priorität distributionspolitische Zielsetzungen verfolgt werden, während effizienzorientierte Entscheidungen zu kurz gekommen sind. Konflikte zwischen diesen Zielen hat es in der Vergangenheit immer wieder gegeben. Zimmermann (1989, 303 ff.) hat im einzelnen dargestellt, daß es in der Finanzpolitik der Bundesrepublik Deutschland seit 1949 zum einen längere Phasen einer wechselnden Betonung der Ziele, zum anderen aber auch Perioden gegeben hat, in denen die beiden Ziele „zwar gleichzeitig, aber nur unzureichend koordiniert angestrebt wurden" (Zimmermann 1989, 303). Es kann zum Beispiel belegt werden, daß in der Zeit von 1949 bis 1955 eindeutig Effizienz- (speziell: Wachstums-)ziele verfolgt worden sind, was schon in den damals verabschiedeten Gesetzen zum Ausdruck kommt: 'Investitionshilfegesetz' (1952) und 'Gesetz zur Förderung des Kapitalmarkts' (1952). Im Zeitraum von 1955 bis 1965 gewinnen dann verteilungspolitische Zielsetzungen an Bedeutung. In diese Zeit fallen die Einfuhrung des Kindergeldes (1955), die Rentenreform (1957) und das Bundessozialhilfegesetz (1961) (Ehrlicher 1974, 240 f.). In der Phase von 1966 bis 1975 dominieren verteilungspolitische Zielsetzungen. Die Staatsquote steigt von 37,1 v.H. auf 49,4 v.H. Hinter dieser Budgetausweitung stehen „wohl in besonderem Maße verteilungspolitische Ziele" (Zimmermann 1989, 305). Im Zeitraum von 1976 bis 1982 wurden beide Ziele gleichzeitig verfolgt, während nach der politischen Wende ab 1983 zunächst bis 1989 eine wachstumsorientierte Finanzpolitik betrieben wurde. Kennzeichnend dafür sind wiederum die konkreten Maßnahmen: Rückführung der Staatsausgaben

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und der Staatsquote sowie Anregung der privaten Investitionstätigkeit und Leistungsbereitschaft, vor allem aber die dreistufige Reform der Einkommensteuer 1986/88/90 und die Änderung in der Steuerstruktur von den direkten hin zu den indirekten Steuern. Die Phase nach der politischen Einigung im Jahre 1990 ist wiederum durch eine gleichzeitige Verfolgung beider Ziele gekennzeichnet. Das war auch durchaus geboten, denn es waren ja nicht nur der Aufbau einer leistungsfähigen Infrastruktur, sondern vor allem auch die Integration der neuen Bundesländer in das westdeutsche Sozialsystem erforderlich. Daß man dabei dem verteilungspolitischen Ziel Vorrang gab, ist wohl vor allem politökonomisch zu erklären. Distributionspolitische Erfolge werden in der Regel sofort sichtbar und sind konkreten Maßnahmen meist eindeutig zurechenbar. Effizienzsteigernde Maßnahmen (vor allem wachstumspolitische Instrumente) zeigen - etwa bei der Investitionsförderung - erst sehr langfristig Wirkungen, und die Ziel-Mittel-Beziehungen sind nur schwer offenzulegen. Bei der Vereinigung ging es aber vor allem um schnelle und nachweisbare Erfolge staatlicher Politik. Staatliche Tätigkeiten bedürfen in einem marktwirtschaftlichen System einer besonderen Begründung. Denn die Marktwirtschaft ist ein System dezentraler Planung: Private Wirtschaftssubjekte (Unternehmen und Haushalte) stellen Wirtschaftspläne auf, die auf dem Markt über Preise koordiniert werden. Staatliche Tätigkeiten werden mit Marktversagen gerechtfertigt: Immer dann, wenn der Markt bestimmte, politisch gewünschte Ergebnisse nicht verwirklichen kann, gilt staatliche Aktivität als gerechtfertigt. Nach einem Vorschlag von Musgrave (1959) werden die Staatsaufgaben in Allokations-, Distributions- und Stabilisierungsaufgaben eingeteilt. Zwar können anhand dieses Konzepts Arten staatlicher Tätigkeiten begründet werden, aber es bleiben mehrere wichtige Fragen offen: der Umfang dieser Aktivitäten, die konkreten Maßnahmen zur Erfüllung der Aufgaben und vor allem auch die Finanzierungsform. Man kann es sich an einem aktuell wieder diskutierten Beispiel klarmachen. Natürlich gibt es gute Argumente, warum das Angebot an Ausbildungsleistungen der Hochschulen vom Staat gesichert werden muß. Keineswegs ökonomisch geklärt ist, in welchem Umfang dies geschehen soll. Ungeklärt ist auch, ob der Staat - wie heute hierzulande - das Angebot überwiegend selbst erstellen oder auch verstärkt privates Angebot - wie seit langem andernorts üblich - in einem staatlich kontrollierten Rahmen zulassen soll. Offen bleibt auch die Frage der Finanzierung. Sollen dazu Mittel aus dem allgemeinen Steueraufkommen oder (zumindest teilweise) auch Beiträge der Studierenden herangezogen werden? Um diese Fragen beantworten zu können, braucht man ein Referenzsystem. Man wird sich schnell darauf einigen können, daß in unserem System der Sozialen Marktwirtschaft bei den Entscheidungen eine ökonomisch effiziente Lösung anzustreben ist, bei der aber den politisch fixierten Verteilungszielen Genüge getan wird, zumindest jedoch unerwünschte Umverteilungseffekte nicht auftreten. Läßt man die Finanzpolitik der letzten Jahre Revue passieren, so kann man feststellen, daß den verteilungspolitischen Zielen (zum Teil sogar in einer durchaus fragwürdigen Interpretation) zunehmend mehr Gewicht beigemessen wird als den Effizienzzielen (allokationspolitischen Zielen). Das gilt sowohl bei der Festlegung öffentlicher Aktivitäten als auch bei den Entscheidungen über die Finanzierungsart und nicht zuletzt auch

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bei den Regelungen der Finanzverfassung, die sich inzwischen unter vielen Aspekten als Hindernis für eine effizienzorientierte Finanzpolitik erweisen.

III. Politik der Ausgabenkürzungen kommt nicht voran Weitgehend unbestritten ist, daß die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte nur über eine Politik der Ausgabenkürzungen und der strukturellen Änderungen bei den Ausgaben erreicht werden kann. Soll das eingangs beschriebene Ziel verwirklicht werden, die Staatsquote bis zum Jahre 2000 auf einen Wert von 46,9 v.H. zu senken, dann dürfen die öffentlichen Ausgaben nur noch mit jährlichen Raten steigen, die 2,5 Prozentpunkte unter der jeweiligen Zuwachsrate des nominalen Bruttoinlandsprodukts liegen. Das erscheint auf den ersten Blick keine allzu schwierige Aufgabe zu sein, weil eben die öffentlichen Ausgaben in der Summe durchaus noch steigen dürften (für das Jahr 1996 zum Beispiel um immerhin 2,5 v.H.), nur die Dynamik der Entwicklung muß begrenzt werden. In ein völlig anderes Licht gerät diese Aufgabe allerdings, wenn man weiß, daß angesichts der rechtlichen und gesetzlichen Bindungen viele Ausgaben mit Raten wachsen werden, die weit über deijenigen liegen, die zur Erreichung der gewünschten Staatsquote noch vertretbar ist. Insofern steht die Finanzpolitik vor der Entscheidung, entweder gestaltbare Ausgaben entsprechend stärker zu kürzen oder in Leistungsgesetze einzugreifen, d.h. bestehende rechtliche und gesetzliche Bindungen aufzuheben. Um eine sachgerechte Lösung zu finden, wäre eine grundsätzliche Diskussion um die Aufgabenverteilung zwischen Staat und Privaten erforderlich. Die dahinter stehende Frage, wo die Grenzen staatlicher Tätigkeit liegen, ist in Deutschland bisher nicht konsequent angegangen worden. Folglich konnte auch keine überzeugende Kürzungsstrategie erarbeitet werden; nicht einmal Prioritäten staatlicher Tätigkeit waren eindeutig festzulegen. Beides wäre spätestens anläßlich der deutschen Vereinigung dringend notwendig gewesen. Die Bundesregierung hat versucht, beide Ansätze für Ausgabenkürzungen zu verfolgen: Im Entwurf des Bundeshaushalts 1997 sind im Vergleich zum Voijahr die Ausgaben für Investitionen um rund 9 v.H. und die für Forschungs- und Innovationsförderung um rund 4 v.H. reduziert worden. Solche Kürzungen - wie sie auch mit den immer wieder eingesetzten Haushaltssperren einhergehen - sind unter allokations- und wachstumspolitischem Aspekt besonders problematisch, angesichts der Beschäftigungslage sogar kontraproduktiv. Aber sie haben politisch offenbar den 'Vorteil', daß die mit ihnen verbundenen Probleme erst langfristig erkennbar werden. Der Konflikt zwischen Verteilung und Effizienz ist im Kern ein Konflikt zwischen Kurzfristdenken und Langzeitorientierung (Sachverständigenrat 1995, Ziff. 302). Die Bürger neigen dazu, zunächst nur die direkten Wirkungen von Ausgabenkürzungen - Verringerung des heute nutzbaren Leistungsangebots - zu sehen. Die für die Zukunft angelegten Probleme (geringeres Produktionspotential) sind dagegen meist zu vage und unbestimmt, als daß sie in die Beurteilung finanzpolitischer Maßnahmen einbezogen würden.

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Geht man bei den Ausgabenkürzungen den zweiten Weg, dann muß in Besitzstände der einzelnen Wirtschaftssubjekte eingegriffen werden, was erfahrungsgemäß erhebliche politische Widerstände nach sich zieht, denn solche Einschnitte sind unmittelbar fühlbar, zumal sie meist direkt die Konsummöglichkeiten beschneiden oder Leistungsangebote reduzieren und damit Verteilungspositionen in Frage stellen. Um Verteilungsstreitigkeiten zu umgehen, wird diese Strategie der Ausgabenkürzung dann meist von vornherein vermieden. Dabei lehrt die Vergangenheit, daß nachhaltige Konsolidierungserfolge immer nur dann erreicht worden sind, wenn über sogenannte Haushaltssicherungsgesetze auch in Leistungsgesetze eingegriffen worden ist. Bei solchen Kürzungen geht es auch nicht - wie immer wieder behauptet wird - um die Aushöhlung oder gar den Abbau des Systems der sozialen Sicherung, sondern lediglich um die Frage, wie die Zuwächse in den nächsten Jahren begrenzt werden können. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Wenn die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte und ein Abbau der hohen Steuer- und Abgabenlast erreicht werden sollen, wird man um massive Einschränkungen der öffentlichen Ausgaben nicht umhin kommen, und dabei muß auch in Leistimgsgesetze eingegriffen werden. Das gilt insbesondere für die Subventionen. Sie können allokationspolitisch nur in seltenen Fällen gerechtfertigt werden, so zum Beispiel dann, wenn bei privaten Aktivitäten positive externe Effekte vorliegen. Das dürfte vor allem im Bereich der Grundlagenforschung gegeben sein. Diese Fälle haben aber kaum einen nennenswerten Anteil am Gesamtvolumen der Subventionen. In der Regel dienen diese Finanzhilfen dazu, einzelnen Branchen die Anpassungslasten bei strukturellen Veränderungen zu erleichtern oder gar den Erhalt zu sichern. Sie schalten dabei die Anreiz- und Lenkungsfunktion des Marktes aus, behindern den dringend erforderlichen Strukturwandel und führen damit zu Wachstumsverlusten. Besonders problematisch sind die Subventionen dann, wenn über sie verteilungspolitische Ziele verfolgt werden. Dabei wird versucht, die Preise bestimmter Güter (teils zugunsten der Nachfrager, teils zugunsten der Anbieter) zu beeinflussen. Wegen der weithin unbekannten Preiswirkungen und der nur mit erheblichem bürokratischem Aufwand abgrenzbaren Nutzerkreise sind solche Subventionen (Objektförderung) ausgesprochen zielungenau. Wenn man die verteilungspolitische Zielsetzung akzeptiert, sollte man von der Objektförderung zur Subjektforderung übergehen, also Subventionen durch Transferzahlungen an Haushalte ersetzen. Der Ruf nach Subventionsabbau ist zum 'ceterum censeo' der Wissenschaft geworden und von den Finanzpolitikern auch weitgehend akzeptiert: Geschehen ist indes kaum etwas, nicht einmal die Grundforderung, daß Subventionen - so sie denn überhaupt vertretbar sind - zeitlich begrenzt und degressiv gestaltet sein müßten, wird - wie zuletzt die Diskussion um die Subventionierung des Steinkohlenbergbaus gezeigt hat eingehalten. Eine Ausnahme stellen übrigens die Subventionen für die neuen Bundesländer dar; sie sind von Anfang an befristet vergeben und in relativ kurzen Zeitabschnitten überprüft, gekürzt und auf Problemfelder konzentriert worden. Was unter den ungleich schwierigeren Verhältnissen in den neuen Bundesländern möglich war, sollte auch für die alten Länder gelten. Eine Politik der Ausgabenkürzungen wird auch die Transferzahlungen nicht ausnehmen können. Gerade in diesem Bereich zeigt die Entwicklung eine enorme Dynamik.

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Das Sozialbudget, das neben den staatlichen Leistungen auch die Leistungen der Arbeitgeber an ihre Beschäftigten umfaßt, beläuft sich auf mehr als 1 Billion DM, rund ein Drittel in Relation zum Bruttoinlandsprodukt. Dieser Anteil machte 1960 etwas mehr als 20 v.H. aus. Es muß schon überraschen, daß trotz steigenden Wohlstands auch in breiten Kreisen der Bevölkerung der Umfang des Sozialbudgets immer stärker gewachsen ist. Das Verhältnis zwischen Eigenvorsorge und staatlicher Versorgung hat sich immer stärker zugunsten der letzteren verschoben. Der deutsche Sozialstaat gehört zu den großzügigsten der Welt; er hat allerdings auch seinen Preis: Die Beiträge zur Sozialversicherung sind von 22,4 v.H. im Jahre 1960 auf 40,9 v.H. im Jahre 1996 gestiegen. Dazu kommt noch die hohe Steuerlast, die ja vor allem auf die hohen Sozialausgaben zurückzuführen ist (Sachverständigenrat 1996, Ziff. 376). Es gibt berechtigte Zweifel, ob das derzeitige System noch finanzierbar und ob es überhaupt noch wünschenswert ist. Zum ersten: Die Finanzierbarkeit stößt an Grenzen, wenn das Wachstum der Volkswirtschaft zurückgeht, hohe Arbeitslosigkeit herrscht und das Verhältnis von Leistungsempfängern zu Beitrags- und Steuerzahlern auch aus demographischen Gründen ungünstiger wird. Zum zweiten: Hohe Sozialleistungen können Fehlanreize auslösen und die Leistungsbereitschaft in der Gesellschaft beeinträchtigen (Sachverständigenrat 1996, Ziff. 377). Die zentralen Ordnungsprinzipien des Sozialstaates - das Solidaritätsprinzip (Vorrang der kollektiven Versorgung) und das Subsidiaritätsprinzip (Vorrang der Eigenvorsorge) - müssen in ein Verhältnis gebracht werden, das unter den veränderten Rahmenbedingungen, die für die deutsche Wirtschaft gelten, noch tragbar ist.

IV. Steigende Verschuldung - steigende Steuerlast In dem Augenblick, in dem man dem Staat Aufgaben zuweist, aus denen Ausgabenverpflichtungen entstehen, muß auch die Frage der Finanzierung geklärt werden. Zwar gibt es durchaus Argumente dafür, einen Teil der Ausgaben mit Kredit zu finanzieren. Das gilt zum Beispiel für Investitionsausgaben (investitionsorientierte Verschuldung); und auch in Zeiten einer Rezession sollte die damit einhergehende (konjunkturell bedingte) Verschuldung nach den Regeln einer antizyklischen Finanzpolitik akzeptiert werden. Allerdings ist dabei in der Vergangenheit oft eine asymmetrische Politik betrieben worden: In der Rezession werden konjunkturell bedingte Defizite akzeptiert, verbessert sich die Konjunkturlage, dann werden die damit einhergehenden Steuermehreinnahmen als dauernde Einnahmen betrachtet und nicht - wie geboten - zur Kredittilgung, sondern für zusätzliche Ausgaben verwendet. In diesem Fall werden zunächst konjunkturell bedingte Defizite zu strukturellen. Nur diese - über die investitionsorientierte und die konjunkturell bedingte Verschuldung hinausgehende - Kreditaufnahme (strukturelle Verschuldung) kennzeichnet den Konsolidierungsbedarf in einem Haushalt. Während seit dem Jahre 1975 eine kontinuierliche Steigerung der Staatsverschuldung festzustellen ist, die ihre Ursache auch in strukturellen Defiziten hat, konnten letztere im Verlauf der achtziger Jahre abgebaut werden. Im Jahre 1989 lag die strukturelle Neuverschuldung nach Berechnungen des Sachverständigenrates (1995, Tab. D2) sogar

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praktisch bei Null, der Prozeß der quantitativen Konsolidierung war damit zunächst erfolgreich abgeschlossen. Beginnend mit den Kreditaufnahmen im Zuge der deutschen Vereinigung hat sich allerdings erneut ein Konsolidierungsbedarf aufgebaut, der nur über eine konsequente Politik der Ausgabenkürzungen abgebaut werden kann. Die Zunahme der Staatsverschuldung seit den siebziger Jahren wirft die Frage nach den Ursachen - insbesondere für strukturelle Defizite in den öffentlichen Haushalten auf. Einen Beitrag zur Erklärung dieser Entwicklung liefern politökonomische Ansätze, die die Ausweitimg der Staatsverschuldung auf Anreize zur Kreditfinanzierung im politischen Prozeß zurückfuhren. Demnach bietet die Staatsverschuldung den politischen Entscheidungsträgem die Möglichkeit, Ausgaben in der Gegenwart zu tätigen, ohne gleichzeitig für eine Finanzierung durch Steuern sorgen zu müssen (Buchanan und Wagner 1977, 96 ff.). Dies bedeutet kurzfristig eine Vergrößerung des Ausgabenspielraums. Der Verteilungskonflikt zwischen einzelnen Interessengruppen, die für sich jeweils zusätzliche Staatsausgaben oder Steuervergünstigungen fordern, wird dadurch tendenziell entschärft. Die Politiker können Ansprüchen an das Budget nachgeben, ohne gleichzeitig andere Ansprüche durch Ausgabenkürzungen beschneiden oder Steuern erhöhen zu müssen. Die Kreditaufnahme erleichtert folglich politische Kompromisse bei der Gestaltung des Haushalts, allerdings zu Lasten unbeteiligter Dritter, nämlich der nicht wahlberechtigten - kommenden Generation. Die Möglichkeit „to spend and to avoid taxing" (Buchanan und Wagner 1977, 183) macht somit die Staatsverschuldung fiir Politiker attraktiv, die auf ihre Wiederwahl bedacht sind und deshalb kurzfristig Stimmen maximieren müssen. Auch die ökonomische Theorie hat - soweit sie keynesianischen Gedanken folgt - ihren Teil zur Ausweitung der Kreditaufnahme beigetragen, denn Vorbehalte in der Bevölkerung gegenüber der Staatsverschuldung wurden in dem Maße abgebaut, in dem die Politik diese als Instrument der Beschäftigungspolitik rechtfertigen konnte. Aber selbst wenn man von diesem Zusammenhang absieht, zeigt sich, daß die Politik die Rückführung der Staatsverschuldung als Ziel zwar propagiert, die Konsolidierung der Staatsfinanzen politisch aber nur schwer durchsetzbar ist. Dies liegt daran, daß die Konsolidierung aus der Sicht der politischen Akteure den Charakter eines öffentlichen Gutes aufweist (Folkers 1986, 383 f f ) . Die positiven gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen der Konsolidierung (ein Rückgang der Zinsen, steigende Investitionen, mehr Wachstum und Beschäftigimg) kommen allen unabhängig davon zugute, ob sie einen Beitrag zur Konsolidierung geleistet haben. Es gilt das Nicht-Ausschluß-Prinzip. Folglich werden Parteien und Verbände kaum bereit sein, freiwillig Zugeständnisse zu Lasten der eigenen Klientel zu machen, und statt dessen versuchen, eine Reduzierung der Nettokreditaufnahme durch Beiträge anderer gesellschaftlicher Gruppen zu erreichen. Somit besteht ein starker Anreiz zum 'Trittbrettfahrer-Verhalten'. Dies erklärt, warum durchgreifende Konsolidierungserfolge selbst dann ausbleiben, wenn alle Beteiligten grundsätzlich von der Notwendigkeit überzeugt sind, die Kreditaufnahme zu reduzieren. Die - unzureichenden - Konsolidierungsbemühungen nach der deutschen Einheit bieten hierfür reichlich Anschauungsmaterial. Zwar hat die Vereinigung Deutschlands zweifellos einen großen Finanzierungsbedarf hervorgerufen und erklärt einen Teil des Anstiegs der Schuldenstandsquote. Sie ist jedoch lediglich Anlaß, nicht Ursache für die

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hohe Nettokreditaufnahme in den vergangenen Jahren. Den politisch Verantwortlichen war schon früh bekannt, daß dauerhaft hohe Transferzahlungen an die neuen Länder unabwendbar waren. Wollte man diese nicht durch Steuererhöhungen oder zusätzliche Kreditaufnahme finanzieren, wären Ausgabenkürzungen unvermeidbar gewesen. Da diese aber politisch nicht durchsetzbar waren, wurden die Verschuldung ausgeweitet und Steuern und Sozialabgaben erhöht - mit negativen Rückwirkungen auf Wachstum und Beschäftigimg und daraus resultierend wieder auf die öffentlichen Haushalte. Im Ergebnis ist also nicht in erster Linie die deutsche Einheit, sondern die unzulängliche Reaktion der Finanzpolitik auf dieses Ereignis die Ursache für die seitdem stark angestiegene Verschuldung. Diese Reaktion wiederum ist weniger auf fehlenden Willen oder mangelnde Einsicht der Politiker zurückzuführen als auf politische Zwänge, mit denen sie sich konfrontiert sahen. Diese Zusammenhänge sind ein Argument für effektive Verschuldungsgrenzen, die der Politik ein bequemes Ausweichen in die Kreditaufnahme erschweren. Dies gilt um so mehr, als sich die Kreditbegrenzungen des Art. 115 GG für den Bund und ähnlicher Regelungen in den Verfassungen der Länder zusehends als wirkungslos erweisen. Die Tendenz zu wachsender Staatsverschuldung ist nicht nur in Deutschland, sondern in fast allen westlichen Staaten zu beobachten, allerdings gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern. Auch diese differenzierte Verschuldungsentwicklung läßt sich zum Teil politökonomisch erklären. Neuere Studien weisen auf verschiedene Faktoren in den westlichen Demokratien hin, die das Entstehen von Defiziten und den Anstieg der Verschuldung begünstigen (Roubini und Sachs 1989, 903 ff.). Dazu gehören zum Beispiel ein uneingeschränktes Verhältniswahlrecht, Koalitionsregierungen mit vielen Parteien, häufige Regierungswechsel und eine starke politische Polarisierung (zu Einzelheiten: Sturm 1997, 41 ff.). Ausgabenkürzungen sind auch erforderlich, um die hohe Abgabenlast, insbesondere die Steuerlast, zurückfuhren zu können. Denn eines muß berücksichtigt werden: Steuersenkungen verlangen angesichts des ohnehin zu hohen Defizits in den öffentlichen Haushalten Ausgabenkürzungen. Insofern sind auch die Bürger nicht konsequent, wenn sie laufend Steuersenkungen verlangen, sich aber gleichzeitig jeder Ausgabenkürzung widersetzen. Sämtliche Steuern belasten die privaten Wirtschaftssubjekte in zweifacher Hinsicht: Auf der einen Seite stellen sie Einkommensentzug zugunsten der Staatskasse dar (Einkommenseffekt) und schmälern somit die Dispositionsmöglichkeiten der Privaten. Wer die für ein marktwirtschaftliches System erforderlichen Aktionsspielräume privater Wirtschaftssubjekte erweitern will, muß schon von daher für eine Senkung der Steuerund Abgabenbelastung plädieren. Daneben rufen Steuern und Abgaben aber auch Verhaltensänderungen hervor (Substitutionseffekt). Der Besteuerte versucht, der Besteuerung auszuweichen, indem er die besteuerten Vorgänge oder Tatbestände - so gut es geht - vermeidet. Diese Substitutionseffekte führen zu einer zusätzlichen Belastung (Zusatz- oder Mehrbelastung, excess bürden), sind also allokationspolitisch bedenklich. Solche Zusatzlasten sind mit jeder Steuer - außer einer Kopfsteuer - verbunden, und es ist Ziel einer effizienten Steuerpolitik, die Mehrbelastung zu minimieren. Steuerlich bedingte Wettbewerbsverzerrungen zwischen einzelnen Konsumgütern, zwischen Ei-

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gen- und Fremdkapital, zwischen Arbeit und Freizeit, zwischen Konsum und Sparen, zwischen Inländern und Ausländern sind soweit irgend möglich zu vermeiden. Auf diesem Weg hat die Steuerpolitik der früheren Jahre auch durchaus Erfolge aufzuweisen: - Mit der Reform der Umsatzsteuer, dem Übergang von der Bruttoallphasenumsatzsteuer zu einer Nettoallphasenumsatzsteuer (Mehrwertsteuer) im Jahre 1967 ist zum Beispiel ein weitgehend wettbewerbsneutrales System der allgemeinen Umsatzsteuer geschaffen worden. Dieses System gilt auch heute noch, wobei man darüber spekulieren kann, ob dies Einsichten der deutschen Steuerpolitiker in die Erfordernisse einer wettbewerbsneutralen Konsumbesteuerung sind oder nicht eher der Tatsache zugute zu halten ist, daß bei der Umsatzsteuer inzwischen die nationale Steuerhoheit fühlbar eingeschränkt ist. Es gelten innerhalb der Europäischen Union ein einheitliches System und eine vereinheitlichte Bemessungsgrundlage, die nationale Änderungen im Alleingang unmöglich machen. Auch bei den Steuersätzen haben sich die EU-Mitgliedsländer auf eine Begrenzung der Zahl der Sätze geeinigt: den Normalsatz und höchstens zwei ermäßigte Sätze, wobei dafür auch Mindestsätze gelten. Gäbe es diese Bindung nicht, dann wäre nicht ausgeschlossen, daß es inzwischen in Deutschland zu einer weitergehenden Spaltung der Sätze zur Verfolgung ökologischer Ziele gekommen wäre. - Auch die Reform der Körperschaftsteuer im Jahre 1977 war unter der Zielsetzung einer wettbewerbsneutralen Besteuerung eine gelungene Reform, die den Thesaurierungssatz der Körperschaftsteuer dem Spitzensteuersatz der Einkommensteuer anpaßte und damit dafür sorgte, daß hinsichtlich der Gewinnverwendung und der Wahl der Rechtsform steuerliche Neutralität gesichert wurde. Um so mehr ist zu bedauern, daß bei späteren Steueränderungen in den neunziger Jahren der Thesaurierungssatz wieder unterhalb des Spitzensteuersatzes der Einkommenssteuer angesetzt wurde. So wie die Diskussion um die Reform der Einkommensteuer derzeit (August 1997) läuft, ist zu befürchten, daß es bei dieser Differenzierung bleibt oder sie sogar - wenn sich die Vorstellungen der Opposition durchsetzen sollten - noch größer wird. Andere Reformprojekte sind seit Jahren nicht vorangekommen. So ist unbestritten, daß die Gewerbesteuer nicht nur eine schlechte Gemeindesteuer ist, sondern auch zu vielfältigen Wettbewerbsverzerrungen fuhrt. Sie diskriminiert zwischen Gewerbe und anderen Produktionstätigkeiten, zwischen großen und kleinen Gewerbebetrieben, zwischen Fremd- und Eigenfinanzierung, zwischen Inländern und Ausländem. Eigentlich müßte das Urteil über diese Steuer längst gefällt sein, und die Wissenschaft hat auch wettbewerbsneutrale Alternativen vorgeschlagen. Zu nennen ist dabei insbesondere das bereits 1982 vom Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium der Finanzen und 1983 vom Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung vorgeschlagene Konzept einer Wertschöpfungsteuer. Geschehen ist nichts. Lediglich die seit langem geplante Abschaffung der besonders problematischen Komponente Gewerbekapitalsteuer scheint nunmehr gelungen zu sein. Um Effizienzfragen geht es im Kern auch bei der jetzt anstehenden Reform der Einkommensteuer. Wie die Steuertheorie lehrt, nehmen die Effizienzverluste mit steigenden Steuersätzen überproportional zu. Von daher ist die Forderung nach niedrigeren

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Steuersätzen und breiterer Bemessungsgrundlage allokationspolitisch gut zu begründen. Seit Jahren liegen auch Vorschläge zu einer solchen Reform vor. Zu erwähnen sind Beiträge des Sachverständigenrates schon aus den Jahren um 1980 (zusammengefaßt in Sachverständigenrat 1996, Ziff. 296 ff.) und der Bareis-Kommission aus dem Jahre 1995 (Bundesministerium der Finanzen 1995). Das von der Koalition im Januar 1997 vorgelegte Reformkonzept geht erfreulicherweise immerhin in die richtige Richtung, wenngleich im Detail oft nicht weit genug, weil es die über Jahre geschaffenen Steuerprivilegien nicht entschieden genug abbauen will - also wiederum verteilungspolitischen Zielen (hier vor allem: Sicherung von Besitzständen) Vorrang vor Effizienzargumenten gibt. In der aktuellen Diskussion spiegeln sich nun erneut die Konflikte zwischen Effizienz- und Verteilungsargumenten wider. Die Koalition verfolgt einen allokations- und wachstumspolitisch motivierten Ansatz, der angesichts des wichtigsten Ziels der Reform, nämlich Rahmenbedingungen für mehr Investitionen zu schaffen, auch sachgerecht ist. Dem stellt die Opposition eine im wesentlichen verteilungspolitisch orientierte Strategie entgegen, bei der die Besitzstände der Bezieher niedriger und mittlerer Einkommen, die über die Jahre entstanden sind, möglichst gehalten werden sollen; zur Disposition stehen dagegen Steuerprivilegien der 'Millionäre'. Da es um die Schaffung von Arbeitsplätzen geht, wird die verteilungspolitische Zielsetzung mit einem beschäftigungspolitischen Mäntelchen verhüllt: Steuerentlastungen seien nur bei Beziehern niedriger Einkommen geboten, weil dadurch die 'Massenkaufkraft' gestärkt werde und somit Arbeitsplätze geschaffen würden. Die Erklärung für die heute festzustellende Erosion der Bemessungsgrundlage liegt nun in der Tat darin, daß man bei der Gestaltung der Einkommensteuer über Jahre hinweg nicht das gesamtwirtschaftliche Ziel der Effizienz (Vermeidung von Zusatzbelastungen), sondern insbesondere verteilungspolitische, aber auch andere wirtschaftspolitische (zum Beispiel umweltpolitische, wohnungs- und städtebaupolitische, energiepolitische) Ziele verfolgt und dabei gegen Grundprinzipien der Einkommensteuer verstoßen hat, nämlich das Gesamteinkommen ohne Berücksichtigung der Einkommensverwendung zu belasten. Dabei zeigt sich sogar eine gewisse Kumulationswirkung: Vergünstigungen an einer Stelle im Einkommensteuergesetz fuhren zu Vergünstigungen an anderen Stellen, was dann später einen Abbau solcher Privilegien besonders erschwert. Eines der besten Beispiele ist die Besteuerung der Alterseinkünfte. In der Masse der Fälle handelt es sich bei den Einkünften im Alter - steuertechnisch - um Leibrenten, vor allem um Zahlungen aus der Gesetzlichen Rentenversicherung. Eine Besteuerung des in den Rentenzahlungen enthaltenen Ertragsanteils ist gemäß § 22 EStG in pauschalierter Form vorgesehen. Strittig ist die steuerliche Behandlung des Kapitalrückflusses. Dafür maßgebend müßte das sogenannte Korrespondenzprinzip sein: Sind die Beiträge zur Rentenversicherung aus versteuertem Einkommen gezahlt worden, dann ist - wie heute praktiziert - der Kapitalrückfluß steuerfrei zu stellen (vorgelagertes Korrespondenzprinzip); sind dagegen die Beiträge aus steuerfreiem Einkommen geleistet worden, dann müssen die Kapitalrückflüsse besteuert werden (nachgelagertes Korrespondenzprinzip). So einfach dieser Grundsatz ist, in der Praxis ergeben sich deshalb Probleme, weil nicht eindeutig zu

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entscheiden ist, welcher der beiden Fälle vorliegt. Soweit die Arbeitgeberanteile zur Diskussion stehen, sind Beitragszahlungen aus unversteuertem Einkommen geleistet worden. Die Arbeitnehmerbeiträge können zwar als Sonderausgaben geltend gemacht werden und wären insoweit auch steuerfrei, aber dabei gibt es Höchstgrenzen, auf die zudem andere Vorsorgeaufwendungen angerechnet werden. Dennoch: Für die Masse der Fälle - vor allem Bezieher niedriger Einkommen - kann davon ausgegangen werden, daß die Beiträge weitgehend aus steuerfreiem Einkommen bezahlt worden sind, der steuerfreie Kapitalrückfluß ist deshalb nicht vertretbar und stellt eine - übrigens massive Steuervergünstigung der Bezieher von Leibrenten dar. Das hat nun zwei Folgen: Statt die Steuerprivilegien der Rentner abzubauen, ist man den Weg gegangen, nun auch Beziehern anderer Alterseinkünfte entsprechende Vergünstigungen einzuräumen. Da Bezieher von Versorgungsbezügen (Beamtenpensionen) selbst keine Beiträge für ihre Altersversorgung gezahlt haben, war es steuersystematisch richtig, die Pensionen - als Weiterzahlung des Lohnes - voll zu versteuern. Die Einräumung eines Versorgungsfreibetrags von 40 v.H. der Bezüge, höchstens 6.000 DM pro Jahr (§ 19 Abs. 2 EStG), ist sachlich in keiner Weise gerechtfertigt und wohl nur als Folge der steuerlichen Vergünstigung bei den Rentenzahlungen zu interpretieren. Da man nun im Alter auch noch andere Bezüge als Pensionen und Renten - zum Beispiel Arbeits-, Zins- oder Mieteinkünfte - beziehen kann, war die logische Folge, für diese einen Altersentlastungsbetrag von 40 v.H. der genannten Einkünfte, höchstens jedoch 3.720 DM, einzuführen. Nach dem Reformmodell sollen nunmehr die Renteneinkünfte zu 50 v.H. (statt 27 v.H. als Ertragsanteil bei Eintritt des Rentenfalls im Alter von 65 Jahren) in die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer einbezogen werden. Das ist immer noch eine vorteilhafte Lösung; Steuerprivilegien bleiben für die Masse der Rentner ungeschmälert und für Bezieher sehr hoher Renten teilweise erhalten, so daß es von daher wohl zu erklären ist, daß - ein weiterer systematischer Fehler - der Versorgungsfreibetrag und der Altersentlastungsbetrag nicht gestrichen, sondern nur halbiert werden sollen. So schafft eine Steuervergünstigung weitere Privilegien an anderen Stellen des Einkommensteuerrechts. Ob die Einkommensteuerreform ein Erfolg wird und insbesondere einen Beitrag zur Lösung der Beschäftigungsprobleme leistet, wird im wesentlichen davon abhängen, ob es gelingt, den Effizienzargumenten zum Durchbruch zu verhelfen, also die Steuersätze - insbesondere die hohen - zu senken und die Bemessungsgrundlage auszuweiten. Wer verteilungspolitische oder andere wirtschaftspolitische Ziele verfolgen will, sollte dafür Maßnahmen außerhalb der Einkommensteuer - in erster Linie Transferzahlungen - einsetzen.

V. Zu den Regelungen der Finanzverfassung Die Gestaltung der Finanzbeziehungen in einem föderativen Staat steht ebenso im Widerstreit zwischen allokativen und distributiven Zielsetzungen. Die Begründung für den dezentralen Aufbau unseres Staates ist primär ein allokationspolitisches Argument. Die öffentlichen Leistungen sollen effizient bereitgestellt und möglichst gut an die Prä-

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ferenzen der Bürger angepaßt werden. Dabei wird unterstellt, daß die Ermittlung der Präferenzen auf nachgeordneten Ebenen (vor allem bei den Kommunen) eher gelingt. Zudem bestehen dort auch bessere Möglichkeiten, auf politische Entscheidungen Einfluß zu nehmen und öffentliche Aktivitäten zu kontrollieren. Bei Verstößen gegen die Präferenzen einzelner Bürger können diese in andere Regionen abwandern, wo ihnen das gewünschte Angebot bereitgestellt wird. In vielen Fällen mag auch die Erstellung öffentlicher Leistungen 'vor Ort' kostengünstiger sein. Die bessere Berücksichtigung der Präferenzen auf den unteren Ebenen im Staatsaufbau ist aber nur dann ein tragendes Argument, wenn die nachgeordneten Körperschaften bei Ausgaben- und Einnahmenentscheidungen eine weitgehende Autonomie haben (Prinzip der Autonomie). Außerdem muß aus allokationspolitischen Gründen das Zusammenfallen von Nutznießern und Kostenträgern öffentlicher Leistungen gesichert sein (Prinzip der fiskalischen Äquivalenz). Ferner muß die Ausgabenverantwortung der Aufgabenkompetenz folgen (Prinzip der Konnexität). Diese Prinzipien sind in der geltenden Finanzverfassung keineswegs verwirklicht - mehr noch: Sie sind im Laufe der Zeit immer weiter eingeschränkt worden. Alle Vorschläge - etwa den Ländern eine (begrenzte) Steuerautonomie einzuräumen - sind mit distributionspolitischen Argumenten zurückgewiesen worden. Man scheut den steuerpolitischen Wettbewerb zwischen den Ländern. Ähnlich bei den Gemeinden: Wenn nun endlich die Gewerbekapitalsteuer abgeschafft wird, dann muß den Gemeinden dafür ein Ausgleich geboten werden. Es ist sicher richtig, daß im Zusammenhang mit der beabsichtigten Beteiligung der Gemeinden am Umsatzsteueraufkommen über die Höhe der Beteiligung und die Verteilung des Gemeindeanteils auf die einzelnen Gemeinden diskutiert wird. Daß aber die allokationspolitisch viel wichtigere Frage des kommunalen Hebesatzrechts, das bei einer Umsatzsteuerbeteiligung technisch nicht zu verwirklichen ist, überhaupt keine Rolle spielt, verstärkt den Verdacht, daß die Gemeinden letztendlich an einer Finanzautonomie gar nicht interessiert sind {Peffekoven 1997, 234 ff.). Es lebt sich eben angenehmer im 'SteuerkartelP der Gemeinden als im rauhen Wind steuerlichen Wettbewerbs. Die Folge ist, daß sich ein Wettbewerb zwischen den Ländern ausschließlich und bei den Gemeinden zunehmend nur auf der Ausgabenseite abspielen kann, was tendenziell zu einer Ausweitung der Staatsquote beitragen dürfte. Wenn nun in einem nationalen Stabilitätspakt - wie geplant - die Möglichkeiten der Länder und Gemeinden zur Kreditaufnahme eingeschränkt werden, dann verlieren die Länder jegliche Autonomie bei der Einnahmenbeschaffung. Wenn man daraus nicht die Konsequenz zieht und den Ländern ein (wenn auch begrenztes) Besteuerungsrecht einräumt, dann werden sie letzten Endes in einen Verteilungskampf geradezu gedrängt: als Ländergesamtheit in den Streit mit dem Bund um die vertikale Verteilung des Umsatzsteueraufkommens und als einzelnes Land in den Streit mit anderen Ländern um den horizontalen Länderfinanzausgleich. Auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat sich - etwa bei den Entscheidungen über die Berücksichtigung von Sonderbedarfen im Länderfinanzausgleich und bei der Festlegung der Bundesergänzungszuweisungen - wohl eher an distributionspolitischen denn an allokationspolitischen Zielsetzungen orientiert. Ein Beispiel ist, daß die Berücksichtigung der Seehafenlasten bei der Ermittlung der Finanzkraft ausdrücklich anerkannt wird. Obwohl allokationspolitische Argumente eindeutig gegen

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diese Regelung sprechen (Peffekoven 1988, 403 ff.), hat sie das Verfassungsgericht dennoch für verfassungskonform erklärt, weil sie „traditioneller Bestandteil des Finanzausgleichs" sei (Bundesverfassungsgericht 1992, 238). Hier geht Besitzstand vor Effizienz. Auch bei den Entscheidungen zur Haushaltsnotlage werden Fragen der ökonomischen Effizienz - etwa wenn es um die Art der Zuweisungen geht - nicht diskutiert (Peffekoven 1992, 354). Die distributionspolitischen Zielsetzungen für die Gestaltung der innerstaatlichen Finanzbeziehungen sind seit der Finanzreform des Jahres 1969 entweder nicht praktikabel definiert und deshalb unbrauchbar oder im Sinne einer Nivellierung festgelegt, was allokationspolitisch bedenklich ist. Das erste gilt für den vertikalen Ausgleich, ,4m Rahmen der laufenden Einnahmen haben der Bund und die Länder gleichmäßig Anspruch auf Deckung ihrer notwendigen Ausgaben" (Art. 106 Abs. 3 Satz 4 GG). Dieses Ziel wird durch die Verteilung des Umsatzsteueraufkommens angestrebt. Da jedoch die Begriffe „laufende Einnahmen" und „notwendige Ausgaben" nicht eindeutig zu definieren sind, kann der Verteilungsstreit nicht objektiviert oder gar zu einer bloßen Rechenoperation gemacht werden. Letzten Endes ist die Verteilung des Umsatzsteueraufkommens das Ergebnis eines politischen Kompromisses, bei dem übrigens in der Vergangenheit meist der Bund den Kürzeren gezogen hat, wie nicht zuletzt die Verhandlungen um das Föderale Konsolidierungsprogramm im Jahre 1993 gezeigt haben (Peffekoven 1994, 303 ff.). Umverteilungen lassen sich am einfachsten umgehen und der Verteilungsstreit zwischen Bund und Ländern zu Lasten Dritter (der Bürger) lösen, wenn die Umsatzsteuer erhöht wird oder neue Steuern (z.B. Solidaritätszuschlag) eingeführt werden. Beim horizontalen Einnahmenausgleich, genauer beim Finanzausgleich unter den Ländern, soll die „unterschiedliche Finanzkraft der Länder angemessen ausgeglichen" werden (Art. 107 Abs. 2 GG). Auch hierbei handelt es sich um eine Leerformel. Nicht zu bestreiten ist, daß ein gewisser Ausgleich der Unterschiede in der Finanzausstattung geboten ist, um eine in etwa gleiche Versorgung der Bevölkerung mit öffentlichen Leistungen in allen Teilgebieten des Staates zu erreichen. Zudem trägt ein solcher Ausgleich zur Stabilität einer Föderation bei. Aber auch hierbei wird seit der Finanzreform von 1969 ein immer höheres Ausgleichsmaß angestrebt. Im Zusammenwirken von Länderfinanzausgleich und Fehlbetrags-Bundesergänzungszuweisungen wird allen Bundesländern inzwischen eine Garantie von 99,5 v.H. der durchschnittlichen Finanzkraft aller Länder gegeben. Das ist nach übereinstimmender Meinung der Wissenschaft ein viel zu hohes Ausgleichsniveau, so daß negative Anreizeffekte zu erwarten sind. Warum sollte eigentlich ein finanzschwaches Land die eigenen Steuerquellen pflegen und entwickeln, wenn es auch ohne den damit verbundenen Aufwand 99,5 v.H. der durchschnittlichen Finanzkraft erreicht? Und warum sollte ein finanzstarkes Land gegenüber den eigenen Bürgern die Steueransprüche mit der gebotenen Strenge durchsetzen, wenn das dadurch erzielte Steuermehraufkommen zu einem großen Teil in den Länderfinanzausgleich gezahlt werden muß? Insoweit ist es schon verständlich, daß sich die 'reichen' Bundesländer gegen diesen Ausgleich wehren. Allerdings müssen sie sich dabei den Hinweis gefallen lassen, daß auch sie - zuletzt 1993 - diesen Regeln ausdrücklich zugestimmt haben.

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Es fehlt keineswegs an Vorschlägen, wie die allokationspolitisch gebotenen Reformen des deutschen Finanzausgleichs aussehen könnten. Zu nennen sind etwa: Abschaffung (zumindest aber deutliche Rückführung) der Mischfinanzierung, stärkere Gesetzgebungskompetenzen und eine begrenzte Steuerautonomie für die Länder, Sicherung der finanzpolitischen Autonomie der Gemeinden, Neugliederung des Bundesgebietes. Ein Ansatzpunkt für eine überzeugende Reform hatte sich ergeben, als die neuen Bundesländer zum 1. Januar 1995 in die Finanzverfassung einbezogen wurden. Diese Chance ist vertan worden, obwohl zunächst in der Politik durchaus sachgerechte Vorschläge gemacht worden sind. Zu nennen ist insbesondere der 'Gemeinsame Beschluß der Ministerpräsidenten vom 5. Juli 1990'. Diese Vorstellungen der Länder sind zwar in die Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat eingebracht worden. Zur Änderung der Finanzverfassung hat die Kommission dann aber keine Vorschläge erarbeitet. Sie erkennt zwar an, daß „die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern einer grundlegenden Prüfung zu unterziehen" (.Deutscher Bundestag 1993, 114) seien, hat aber Fragen der Finanzverfassung dennoch nicht behandelt. Ähnliches gilt für die Finanzbeziehungen zwischen den Ländern: Es ist im Rahmen des Föderalen Konsolidierungsprogrammes nur zu geringfügigen Korrekturen am bestehenden System gekommen, obwohl im Vorfeld der Reform durchaus unterschiedliche Vorstellungen sowohl des Bundes als auch der einzelnen Länder bestanden (zu einem Überblick: Peffekoven 1994,282 ff.). Bei den abschließenden Verhandlungen dominierte dann aber doch die Vorstellung, daß beim Finanzausgleich tunlichst alles beim alten bleiben müsse, also die Besitzstände abgesichert werden müßten. Diese Linie wird seitdem gehalten. Sofern - wie bei der Vereinigung - zusätzliche Belastungen für die Länder drohen, werden regelmäßig Ausgleichsforderungen an den Bund gerichtet. Dabei merken die Länder offenbar nicht einmal mehr, daß sie damit die Stellung des Bundes im horizontalen Finanzausgleichssystem stärken und letzten Endes selbst Hand an die Wurzeln des Föderalismus legen.

VI. Finanzpolitik vor dringenden Reformen Um den Teufelskreis von steigenden Defiziten, steigender Zinsbelastung, steigender Steuer- und Abgabenbelastung und hohem Staatsanteil, in den die Finampolitik in den letzten Jahren geraten ist, zu durchbrechen, sind umfassende Reformen notwendig geworden. Im Zentrum steht dabei die Reform der Einkommen- und Körperschaftsteuer. Sie muß generell eine Entlastung für den privaten Sektor bringen, um damit Möglichkeiten und Anreize für private Aktivitäten zu schaffen. Darüber hinaus müssen die Verzerrungen beseitigt werden, die sich gerade im System der Einkommensbesteuerung über die Zeit eingeschlichen haben. Das wird nur möglich sein über eine Strategie, mit der die heute hohen Tarifsätze der Einkommensteuer abgesenkt werden und gleichzeitig die Bemessungsgrundlage verbreitert wird. Im Einzelfall bedeutet das Eingriffe in Besitzstände, nämlich den Verlust vieler Steuervergünstigungen. Insoweit läuft eine solche Reform Gefahr, im verteilungspolitischen Streit der Interessengruppen steckenzubleiben.

Finanzpolitik im Konflikt zwischen Effizienz und Distribution • 1 3 3

Gelingt sie jedoch, dann wird damit ein Beitrag nicht nur zu einer effizienteren, sondern auch zu einer gerechteren und einfacheren Besteuerung geleistet. Dann wird es zu mehr Investitionen, mehr Konsum und damit zu mehr Beschäftigung kommen. Der Abbau der Arbeitslosigkeit ist aber zweifellos die beste Verteilungspolitik. Der immer wieder angeführte Zielkonflikt zwischen Effizienz und Verteilung besteht in diesem Zusammenhang gar nicht. Einem heute Arbeitslosen kann man jedenfalls am besten damit helfen, daß er wieder einen Arbeitsplatz findet - allemal besser als durch eine Senkung der Steuern für niedrige Einkommen (wovon er nichts hat) oder der bescheidenen Anhebung des Kindergeldes (was ihm nichts oder nicht viel nutzt). Da die Einkommensteuer und die Körperschaftsteuer Gemeinschaftsteuem sind, an deren Aufkommen Bund und Länder (und im Falle der Lohnsteuer und der veranlagten Einkommensteuer auch die Gemeinden) beteiligt sind, ist es von der Sache her durchaus geboten, daß bei Änderungen dieser Steuern die Bundesländer über den Bundesrat ein Mitspracherecht (Zustimmungsbedürftigkeit) haben. Auch die derzeitigen politischen Schwierigkeiten, die zu einer Blockadesituation bei der Verabschiedung der Steuerreform geführt haben, können kein Argument sein, dieses Mitwirkungsrecht in Frage zu stellen. Wer darin ein Hindernis für schnelle und sachgerechte Reformen sieht, müßte eigentlich einen anderen Weg gehen: Es wäre zu prüfen, ob die Entscheidungen früherer Jahre, in Deutschland dem Verbundsystem bei der Besteuerung stärkere Bedeutung zu geben, richtig waren und für die heutigen Verhältnisse noch angebracht sind. Das Grundgesetz von 1949 kannte ein separierendes Trennsystem: Der Ertrag bestimmter Steuern stand jeweils ungeteilt entweder dem Bund oder den Ländern oder den Gemeinden zu. In zwei Schritten hat man sodann Elemente eines Verbundsystems in die Steuerverteilung aufgenommen. Mit der Finanzreform von 1955 wurden die Einkommenund Körperschaftsteuer (kleiner Steuerverbund) und mit der Finanzreform von 1969 zusätzlich noch die Umsatzsteuer (großer Steuerverbund) zu einer Gemeinschaftsteuer. Heute werden rund 80 v.H. des gesamten Steueraufkommens über die Verbundsteuern erzielt. Damit ist in das System der gesamtstaatlichen Finanzpolitik eine Asymmetrie gebracht worden: Bei Entscheidungen über Ausgaben sind die Bundesländer weitgehend selbständig (Art. 109 GG), während sie auf der Einnahmenseite keinerlei Autonomie besitzen. Das muß zu Spannungen im System der zwischenstaatlichen Finanzbeziehungen führen. Wollen die Bundesländer wirtschaftspolitische Ziele über die Gestaltung der Finanzpolitik verfolgen, dann sind sie auf die Ausgabenpolitik (konkret: auf Ausgabensteigerungen) angewiesen. Hier liegt sicher auch eine Erklärung für die hohe Staatsquote in Deutschland. Wer diese zurückführen will, müßte schon deshalb eine Reform der Finanzverfassung angehen.

134 • Rolf Peffekoven

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Zusammenfassung Die Finanzpolitik steht vor großen Herausforderungen: Es gilt, den Umfang der Staatstätigkeit zurückzufuhren. Damit sollen zusätzliche Spielräume für private wirtschaftliche Aktivitäten geschaffen werden. Zudem sind Ausgabenkürzungen notwendig geworden, um die hohe Staatsverschuldung und die damit verbundenen Zinszahlungen sowie die starke Belastung mit Steuern und Abgaben senken zu können. Das soll Investitionsbereitschaft und Leistungsanreize bei den privaten Wirtschaftssubjekten fördern eine unabdingbare Voraussetzung für mehr Beschäftigung in Deutschland. In diese schwierige Lage ist die Finanzpolitik nicht zuletzt deshalb geraten, weil sie in den vergangenen Jahren im Konflikt zwischen den Zielen Effizienz und Distribution meist den verteilungspolitischen Anforderungen Vorrang gegeben hat. Die Folge ist eine immer stärkere Beeinträchtigung der gesamtwirtschaftlichen Effizienz mit negativen Folgen für Investitionen, Wachstum und Beschäftigung. Auf der Ausgabenseite des öffentlichen Haushalts kommen die erforderlichen Kürzungen nicht voran, weil eine gesamtwirtschaftliche Strategie fehlt und die über die Jahre geschaffenen Besitzstände nicht angetastet werden sollen. Ohne Eingriffe in Leistimgsgesetze wird eine Rückführung der Ausgaben jedoch nicht gelingen. Auf der Einnahmenseite sind erhebliche Verzerrungen entstanden, weil das Steuersystem mit der Verfolgung nichtfiskalischer Zielsetzungen überfrachtet worden ist. Die dringend gebotene Reform der Einkommen- und Körperschaftsteuer endet bisher in einem Verteilungsstreit. Auch die Verschuldung hat jedes ökonomisch vertretbare Ausmaß überschritten; die verfassungsrechtlichen Grenzen für die Kreditaufnahme erweisen sich zusehends als unzulänglich. Auch bei der Gestaltung der Finanzverfassung ist in den vergangenen Jahren immer wieder gegen Effizienzanforderungen verstoßen worden; statt dessen wurden distributionspolitische Ziele verfolgt. Auf der Länderebene hat das zu einer weitgehenden Nivellierung der Finanzkraft geführt, was allokationspolitisch nicht zu rechtfertigen ist. Es fehlt ein Steuerwettbewerb zwischen den Ländern und damit auch der Anreiz, selbst für ergiebige Steuerquellen zu sorgen. Insgesamt steht in der Finanzpolitik eine Rückbesinnung auf allokationspolitische Ziele an: bei der Gestaltung der Ausgaben und Einnahmen, aber auch bei den Regelungen der Finanzverfassung.

136 • Rolf Peffekoven

Summary Fiscal Policy in the Conflict between Efficiency and Distribution Fiscal policy faces enormous challenges: Consolidation of the extent of governmental activities, thereby creating additional scope for private business. Cuts in spending have become indispensable to reduce the public debt and the ensuing high interest, tax and social security contribution burdens. This will increase investment propensity and encourage performance of the private sector - a mandatory prerequisite for more employment in Germany. Fiscal policy has been manoeuvred into this most difficult situation to a large extent by the fact that in the past in the conflict between efficiency and distribution, priority has mostly been given to distribution requirements. As a result there is an ever growing deterioration of the overall economic performance with negative consequences for investment, growth and employment. On the spending side required cuts have not been pushed forward because of the lack of an overall economic strategy and because vested rights are not to be called into question. However, there will be no significant consolidation of spending without interfering with long established social schemes. On the revenue side there have been major distortions, since the tax system has been strained by following up non-fiscal targets. An absolutely indispensable reform of income and corporation tax has so far ended in a dispute over distribution. Public debt has exceeded any economically acceptable level: constitutional restrictions on borrowings have not taken root and seem more and more inadequate. Obviously, abuses against efficiency were made in the past when structuring the fiscal constitution; instead policy considerations have been targeted at distribution, which is unacceptable under allocation policy rules. On the level of the federal states this has resulted largely in a levelment of financial strength. There is a lack of tax competition between the federal states and thus no encouragement to look for and exploit fruitful tax resources. All in all a throwback to allocation policy targets in fiscal policy will be necessary: when structuring public revenues and expenditures and also when structural changes in the fiscal constitution are under consideration.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1997) Bd. 48

Ernst Heuß

Die Deformation der Marktwirtschaft durch die Wohlfahrtspolitik Die Väter des Ordoliberalismus haben die geistigen Fundamente einer funktionsfähigen Marktwirtschaft zu einer Zeit geschaffen, als man nach dem 1. Weltkrieg vom Ende des Kapitalismus gesprochen hat, und zwar nicht nur von links, sondern auch von rechts. Selbstredend haben Autoren wie W. Eucken, W. Röpke, A. Rüstow, F. Böhm u.a. in ihrem Konzept das Element „sozial" im Blickwinkel gehabt. Aber gerade deswegen sind sie sich auch bewußt gewesen, daß Sozialpolitik keineswegs mit Wohlfahrtspolitik gleichgesetzt werden darf, gegen die sie sich in aller Deutlichkeit gewendet haben. Es sei jedoch in diesem Rahmen davon abgesehen, im einzelnen darauf einzugehen, zumal dies von H.P. Becker (1965) in einer ausführlichen Weise geschehen ist, darunter auch dessen Kritik am Wohlfahrtsstaat (273 ff.). In diesem Zusammenhang ist auch der von Müller-Armack geprägte Terminus „Soziale Marktwirtschaft" zu sehen. Am prägnantesten und straffsten ist dies von ihm selbst im Artikel „Soziale Marktwirtschaft" (MüllerArmack 1956) geschehen. Die Entwicklung der deutschen Sozialpolitik seit der Initiierung durch Bismarck läßt sich recht eindrücklich anhand der Sozialleistungen bzw. der Sozialleistungsquote erfassen. Es sind zwei Momente, die hinter dem Anstieg der Sozialleistungsquote stehen. Das eine ist sehr naheliegend und tritt dann ein, wenn die Volkswirtschaft schwere Rückschläge wie bei der großen Wirtschaftsdepression von 1930-32 oder bei dem totalen Zusammenbruch der deutschen Volkswirtschaft nach der Kapitulation 1945 erfährt. Hier ist evident, daß in derartigen Notlagen der Anteil der Sozialleistungen ansteigt, abgesehen davon, daß schon allein der Rückgang des Volkseinkommens in dieser Richtung wirkt. Hingegen ist es nicht selbstverständlich, daß im umgekehrten Falle, wenn wie bei dem stürmischen Aufschwung in den 50er und 60er Jahren die Sozialleistungen sogar stärker als das Volkseinkommen zunehmen. Statt dessen wäre es näherliegend gewesen, daß in dem Maße, wie es breiten Schichten besser geht, zumindest die Sozialleistungsquote zurückgeht,1 was nicht heißen muß, daß die Sozialleistungen auch absolut abnehmen müssen. Es gibt gewisse Ausdrücke, die per se die Etikette 'gut' aufweisen, und es kann daher in diesen Fällen kein 'des Guten zu viel' geben. Der deutschen Sozialpolitik nach dem 2. Weltkrieg lag eine solche Vorstellung offensichtlich zugrunde. Die Möglichkeit, daß auch Dinge in ihr Gegenteil umkippen können, war außerhalb ihrer Vorstellungskraft. Defekte, die bereits in Bismarcks Konstruktion der Sozialversicherung angelegt gewesen sind, waren bei dem damaligen recht bescheidenen Zuschnitt so geringfügig, daß sie 1 Diese Meinung dürfte auch Ludwig Erhard in den 50er Jahren geteilt haben; hingegen wohl weniger seine Mitarbeiter, zumindest ein Teil davon.

138 • EmstHeuß kaum zu bemerken waren. Erst als sich die Sozialversicherung in der Euphorie der 50er und 60er Jahre und später mächtig ausweitete, nahm sie Züge des Grotesken an, die sich zum Teil gegen die Arbeitnehmer selbst richteten (Ausbeutung der Arbeitnehmer durch die Arbeitnehmer). Zur Verdeutlichung dieser Beziehungen seien einige Punkte bei der gesetzlichen Kranken- und der Rentenversicherung herausgegriffen. Diese beiden nehmen von der Aufwandsseite den größten Umfang ein. Tabelle 1: Die Sozialleistungsquote von 1871 bis 1995

1871-74 1885-89 1900-04 1925-29 1930-32 1933 1936 1938 1950 1960 1970 1980 1990 1991 1992 1994 1995

(A) Nettosozialprodukt zu Faktorkosten (in Mio. Mark) 12.684 17.310 29.550 69.288 56.051 45.726 69.963 87.648 76.900 240.100 530.400 1.148.600 1.892.200 2.226.800 2.370.100 2.501.300 2.620.000

(B)

(B:A)

Transferzahlungen (in Mio. Mark)

Sozialleistungsquote

136 280 800 6.630 8.271 8.565 7.541 7.265 16.750 68.940 180.144 478.712 716.400 894.110 1.006.150 1.060.840 1.179.300

1,1 % 1,6% 2,7 % 9,6 % 14,8 % 18,7% 10,8 % 8,3 % 21,8 % 28,7 % 34,1 % 41,7% 37,9 % 40,2 % 42,5 % 42,4 % 45,0 %

»

Im Gegensatz zu der gebräuchlichen Methode, die Sozialleistungsquote auf das Bruttosozialprodukt zu beziehen, wird hier auf das Sozialprodukt zu Faktorkosten abgestellt, und zwar deswegen, weil die sog. Sozialleistungsquote die Umverteilung innerhalb des Volkseinkommens wiedergeben soll. Quellen: Lampert (1996, 230, 284), Hoffmann (1965, 509), Institut der deutschen Wirtschaft, versch. Jahrgänge. Es ist bekannt, daß mit Abschließen eines Versicherungsvertrages sich unter Umständen das Verhalten des Versicherungsnehmers verändern kann (moral hazard), wobei der krasseste Fall wohl deijenige sein dürfte, wenn der Betreffende sein eigenes Haus in Brand steckt, um die Versicherungssumme einzustecken. Hingegen ist man sich weniger bewußt, daß sich mit dem Abschließen eines Versicherungsvertrages das Marktverhalten der betreffenden Personen verändern kann und sogar unter Umständen den Markt funktionsunfähig macht. Als instruktives Beispiel hierfür kann die obligatorische Haftpflichtversicherung für das Auto angeführt werden. Hier gibt es auf dem Markt für Autoreparaturen zwei verschiedene Marktsegmente mit unterschiedlichen Preisen. Das eine betrifft die Fälle, in welchen der Autofahrer den Unfallschaden am eigenen Wagen aus eigener Tasche zahlen muß. Dementsprechend ist der Betreffende bemüht, den preiswer-

Die Deformation der Marktwirtschaft durch die Wohlfahrtspolitik • 139

testen Anbieter herauszufinden, was unter Umständen dazu fuhrt, mehrere Reparaturwerkstätten aufzusuchen. Dieser Einstellung des Nachfragers ist sich der Anbieter selbstverständlich bewußt, und er wird daher einen Preis setzen, bei dem er nicht Gefahr läuft, den potentiellen Kunden als Nachfrager zu verlieren. Anders verhält sich der Anbieter, wenn der Schaden am Wagen nicht vom Eigentümer, sondern von der Haftpflichtversicherung des Schadensverursachers übernommen wird. In diesem Falle werden von den Reparationsfirmen in der Regel wesentlich höhere Preise verlangt, und zwar nicht selten in der Größenordnung von 30-50 Prozent. In diesem Falle besteht nämlich nicht die Gefahr, daß der Kunde aus Preisgründen abspringt, und zwar einfach deswegen, weil der Kunde den Preis gar nicht kennt bzw. ihm von der Haftpflichtversicherung als Zahler nicht zur Kenntnis gebracht wird.2 Faktisch handelt es sich hier um einen Markt mit der Preiselastizität der Nachfrage von Null, eine Konstellation, bei der die Preisbildung jeder Willkür ausgesetzt ist und daher von derartigen Preisen keine Lenkungsfunktion ausgehen kann. Es bedarf keiner weiteren Erklärungen, daß damit genau auch der deutsche Gesundheitsmarkt wiedergegeben ist, dessen Struktur zum großen Teil für die Kostenexplosion verantwortlich ist. Daraufhin sind in den 70er Jahren öffentliche Maßnahmen zur Kostendämpfimg (1977 Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz und 1982 das Kostendämpfimgs-Ergänzungsgesetz) erfolgt, ohne daß dadurch der Trend steigender Kosten gebrochen worden ist. Das, was einsetzte, war das typische Katze-Maus-Spiel. Zuerst erließ man Preisvorschriften, worauf die Gegenseite mit dem Axionsparameter Menge in Form zusätzlicher Leistungen antwortete. Dies wieder löste die Reaktion mit einer Kontingentierung aus, worauf wiederum eine erhöhte Überweisung in Krankenhäuser erfolgte, also in die aufwendigste medizinische Behandlungsweise. Ein Bild davon gibt P. Oberender (1994, 68) in der sog. Fieberkurve (s. Abbildung 1): Aufgrund dieser Erfahrungen gibt es nur zwei Wege, die man einschlagen kann. Für den einen hat sich Großbritannien nach dem 2. Weltkrieg entschieden, als es den Gesundheitssektor verstaatlicht hat. Das Ergebnis ist die chronische Mangelwirtschaft, bei der Wartelisten zum Dauerzustand werden. Den anderen Weg stellt die marktwirtschaftliche Lösung dar. Sie verlangt die für die marktwirtschaftliche Funktionsweise notwendigen Bedingungen, und das heißt, die Nachfrage nach medizinischen Leistungen wieder preisempfindlich zu machen. In diesem Falle kommt man nicht um die Einführung eines Selbstbehaltes von Seiten des Patienten herum, und zwar muß er so groß sein, daß er für den Betreffenden spürbar ist. Erst dann, nachdem bei der Nachfrage wieder eine gewisse Preisempfindlichkeit eingekehrt ist, wird sich auch das Verhalten auf der Anbieterseite im eigenen Interesse ändern. Durch die Einführung des Selbstbehaltes braucht jedoch das soziale Element nicht verloren zu gehen. So kann der Prozentsatz des Selbstbehaltes nach der Einkommenshöhe gestaffelt werden, indem die unteren Einkommensklassen mit einem niedrigeren Prozentsatz als die mittleren und höheren belastet werden. Auf diese Weise wird in allen Einkommensklassen eine ähnliche 2

Dieses Sachverhaltes sind sich selbstredend die Haftpflichtversicherer bewußt und haben daher eine Art Nachfragekartell mit der Festsetzung wesentlich tieferer Preise abgeschlossen. Dies hat freilich das Bundeskartellamt auf den Plan gerufen, ohne aber bei dem Verbot des betreffenden Kartells auf das Pathologische dieser Marktkonstellation einzugehen.

140 • Ernst Heuß

Preisempfindlichkeit auf der Nachfrageseite geschaffen, die auf der Angebotsseite wie auf anderen Märkten entsprechend registriert wird. Daraus ergeben sich Kosteneinsparungen, die unter Umständen erlauben, die Prämienhöhe zu reduzieren, so daß die Belastung der Mitglieder insgesamt die gleiche bliebe. Damit wäre erreicht, daß mit einer der teuersten Dienstleistungen, nämlich der medizinischen im Hinblick auf das Human(lange akademische Ausbildung) und Sachkapital (sog. Apparatemedizin), nicht mehr so umgegangen werden kann, als ob es ein freies Gut wäre. Abbildung 1: Fieberkurve der Gesetzlichen Krankenversicherung

Christlichliberale Koalition

Große Koalition Union/SPD

Sozial-liberale Koalition

Christlich-liberale Koalition

Gesetzlich begründete Leistungsausweitung

KVKG: Kiankenversicherungs-Kostendämpiungsgesetz KVEG: Kostendämpfungs-Ergänzungsgesetz

KH-KDG: Krankenhaus-Kostendämpfungsgesetz GRG: Gesundheitsreformgesetz GSG: Gesundheitsstrukturgesetz

Freilich bleiben davon Probleme wie die zunehmende Überalterung und die damit verbundene höhere Krankheitsanfälligkeit wie auch der höhere Mehraufwand, welcher der medizinische Fortschritt auslöst, unberührt. Aber gerade diese Umstände machen um so dringlicher Maßnahmen notwendig, die mit diesen aufwendigen Leistungen sparsam umgehen. Die Renten- und Hinterbliebenen-Versicherung ist die aufwendigste von allen Sozialversicherungsleistungen. So beansprucht sie heute ca. 1/5 des Arbeitseinkommens. Hingegen hat bei Einführung der Rentenversicherung das damals recht bescheidene Arbeitseinkommen nur eine Rente ermöglicht, die zwar eine gewisse Basis gegeben, aber für die Sicherstellung des Existenzminimums keineswegs ausgereicht hat. Daran hat auch die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts mit ihren Kriegen und Katastrophen prinzi-

Die Deformation der Marktwirtschaft durch die Wohlfahrtspolitik • 141

piell nichts geändert. Erst nach dem 2. Weltkrieg schafften die 50er und 60er Jahre eine Situation, die das Arbeitseinkommen deutlich über das existentielle Niveau hinaushob. Dies löste eine allgemeine Euphorie aus, bei der man glaubte, aus dem Vollen schöpfen zu können. Ein Kind davon ist die dynamische Rente (1957) mit dem später eingeführten Umlageverfahren. Allerdings hatte man Ende der 60er Jahre noch nicht im Blickwinkel, daß die Nettoreproduktionsrate von ehemals 1,1 bereits absank und sich in den folgenden Jahrzehnten auf zwei Drittel einspielte. Als Antwort darauf gibt es zwei Möglichkeiten. Die eine besteht darin, zum Kapitaldeckungsverfahren zurückzukehren, womit wieder der persönliche Bezug zwischen Prämienzahlung und Rente hergestellt wird. Die andere liegt in der Logik des Umlageverfahrens begründet. Wenn nämlich der stillschweigend unterstellte sogenannte 'Generationenvertrag' nicht mehr eingehalten wird, so ist für diejenigen, die sich diesem 'entziehen' und unter Umständen als Doppelverdiener zwei Renten beziehen, die Rente tiefer anzusetzen. Hier zeigt sich, daß ein solcher 'Generationenvertrag' kein Vertrag im juristischen Sinne ist und es daher für die davon Betroffenen schwer einsehbar ist, warum bei diesem Modus eine niedrigere Rente für sie angesetzt wird. Eine solche Reduktion ist darauf zurückzuführen, daß sie gleichsam ihre Rente mit denjenigen zu teilen haben, die Kinder aufziehen und für deren Kosten aufkommen - 7.000 DM im Jahr rechnet man für ein Kind, und für die akademische Ausbildung zum Diplom bzw. Magister beläuft sich die Summe im Durchschnitt auf 96.000 DM, ohne daß sich hieraus ein Einkommen ergibt, aus dem Prämien in die Rentenversicherung gezahlt werden können. Bekanntlich handelt es sich hier um den klassischen Fall der Haushälterin, die durch Heirat das Volkseinkommen mindert. Alles dies sind Konsequenzen aus dem Umlageverfahren, in das man leichtfertig hineingeschlittert ist; man scheut sich bisher, daraus die entsprechenden unpopulären Konsequenzen zu ziehen. Selbstredend lassen sich derartige Defekte nicht durch Kindergeld, Steuerermäßigung, Anrechnung von drei Jahren pro Kind als Berufstätigkeit usw. beseitigen. So bildet das durch das Umlageverfahren ausgelöste Auseinanderfallen von Rente und Kinderzahl den Preis dafür, daß die Altersvorsorge in die Hände des Kollektivs gelegt und damit der persönlichen Verantwortung faktisch entzogen wird. Es besteht daher kein Grund, sich über diejenigen erhaben zu fühlen, welche in ihren Kindern die Altersvorsorge für sich gesehen haben, wie es vor der industriellen Revolution allgemein der Fall gewesen und auch heute noch in weniger entwickelten Ländern anzutreffen ist. Nicht zuletzt gibt es auch einen Paragraphen 1601 BGB (Unterhaltspflicht unter Verwandten in gerader Linie). Wie aus Tabelle 2 zu ersehen ist, steigen seit 1957 die Beitragssätze kontinuierlich an, was bedeutet, daß der Arbeitnehmer einen immer größeren Anteil des Arbeitseinkommens auf Anweisung von 'oben' für die zukünftige Rente zu reservieren hat. Hierin drückt sich aber nicht wie bei einem privaten Rentenversicherungsvertrag eine Präferenz für eine höhere Rente aus, für welche dementsprechend auch eine höhere Prämie zu zahlen ist. Um einen anderen Sachverhalt handelt es sich bei der Beitragsbemessungsgrenze. Hier ist erstaunlich, daß sie überproportional (Spalte A:B) steigt. Wenn sie 1957 mit 53% über dem Durchschnittseinkommen des Arbeitnehmers lag, so dürfte das Durchschnittseinkommen damals näher beim Niveau der Sozialhilfe bzw. beim Existenzmi-

142 • EmstHeuß nimum gelegen haben als in den späteren Dezennien, nachdem das Realeinkommen pro Kopf auf ein Vielfaches gestiegen war. Unter diesem Aspekt ist nicht einsichtig, warum die Beitragsbemessungsgrenze weiter überproportional zum Durchschnittseinkommen ansteigt und daher nicht mehr weit davon entfernt ist, das Doppelte des Durchschnittseinkommens auszumachen.3 Hier wird deutlich, daß die Institution der Beitragsbemessungsgrenze zu einem Instrument der Erzielung höherer Einkünfte mißbraucht wird, so daß dadurch immer mehr diejenige Einkommenskategorie zur Finanzierung herangezogen wird, die sonst aus eigenen Kräften ihre Altersvorsorge in die Hand nehmen könnte. Aber auch diese Möglichkeit kennt Grenzen der Ausschöpfung, die sich dann einstellen, wenn sich durch eine weitere Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze kaum noch zusätzliche Personen gewinnen lassen, deren Einkommen bis dahin noch außerhalb der Beitragsbemessungsgrenze lag. So ist man bereits auf der Suche nach neuen Finanzierungsquellen, und zwar mittels der sog. Verbreiterung der Beitragsbemessungsgrundlage, indem auch Einkünfte aus Kapitalvermögen miteinbezogen werden sollen. Zunächst ist dies von G. Neubauer (1997, 116) für die Krankenversicherung vorgeschlagen worden, aber es dürfte lediglich eine Frage der Zeit sein, bis auch die anderen Sozialversicherungszweige diesen Gedanken aufgreifen. Tabelle 2: Die Prämienzahlungen an die Rentenversicherung Beitragssatz in % 1957 1960 1970 1980 1990 1992 1994 1996

14 14 17 18 18,7 17,7 19,2 19,2

(A) Beitragsbemessungsgrenze 600 850 1.800 4.200 6.300 6.800 7.600 8.000

(B) Durchschnittliches Arbeitseinkommen 420 508 1.112 2.457 3.495 3.902 4.095 4.259

A:B

1,43 1,67 1,62 1,71 1,80 1,74 1,86 1,88

Quellen: Lampert (1996, 230, 284), Institut der deutschen Wirtschaft, versch. Jahrgänge.

Die Heraufsetzung der Beitragsbemessungsgrenze ist in der Sozialversicherung ganz allgemein eine beliebte Methode zwecks Erzielung zusätzlicher Einnahmen. Im Falle der Rentenversicherung erhält diese Maßnahme jedoch ein zusätzliches Gewicht. Bei der Krankenversicherung, Unfallversicherung usw. fallen Prämienzahlungen und Leistung der betreffenden Versicherung zeitlich zusammen, während bei der Rentenversicherung eine Generation oder noch mehr verstreicht, bis der Gegenwert in Form von Rentenauszahlungen erfolgt. Selbstredend gibt es auch andere Formen der Vorsorge für das Alter, indem für das Sparen - im Falle der obligatorischen Rentenversicherung sind es nahezu 20 Prozent des laufenden Einkommens - andere Formen der Kapitalbildung benutzt werden, u.a. der Erwerb eines eigenen Hauses oder die Sachkapitalbildung 3

Dem widerspricht auch nicht die hohe Anzahl von Personen, die eine Sozialhilfe erhalten. Dafür sind sehr verschiedene, nicht zuletzt recht persönliche Faktoren verantwortlich, die mit der Höhe des Arbeitseinkommens direkt nichts zu tun haben.

Die Deformation der Marktwirtschaft durch die Wohlfahitspolitik • 143

zwecks Aufbau eines eigenen Betriebes. Gerade für initiative und unternehmungsfreudige Menschen ist es mißlich, wenn beträchtliche Sparmittel durch die Rentenversicherung gebunden werden und daher für eigene Investitionen nicht zur Verfügung stehen. Auf jeden Fall wird dadurch in die persönlichen Präferenzen des Einzelnen eingegriffen. So hatten es zum Beispiel in den 50er Jahren die Vorarlberger Arbeitnehmer im Rheintal vorgezogen, auf der anderen Seiten des Rheines zu arbeiten, weil sie dort einen höheren Barlohn erhielten. Der Hinweis der Vorarlberger Unternehmer, daß sie dafür in Österreich höhere Sozialleistungen erhielten, war für die Arbeitnehmer kein Argument, weil sie sonst nicht ihr eigenes Haus bauen konnten. Unabhängig davon trägt eine solche Reglementierung, wie sie mit der Sozialversicherung verbunden ist, nicht zur Dynamisierung einer Volkswirtschaft bei. Betrachtet man die Entwicklung von 1950 bis 1996, so hat sich das durchschnittliche Bruttoeinkommen des unselbständig Erwerbenden zu konstanten Preisen auf das 4,8fache erhöht. Von diesem Einkommen erhält er jedoch nur einen Teil. Standen ihm 1950 noch reichlich drei Viertel seines Arbeitseinkommens zur freien Verfügung, so war es 1996 nur noch gut die Hälfte. Blickt man in die deutschsprachige sozialpolitische Literatur, so wird eine solche Entwicklung als Ausbau des Sozialstaates betrachtet. Es ist daher auch nicht verwunderlich, wenn die Meinung vorherrscht, daß in Zukunft weiter in diese Richtung zu gehen sei. Die naheliegende Frage, ob der einzelne Arbeitnehmer bei einer so drastischen Erhöhung seines Realeinkommens seit Kriegsende nunmehr in der Lage sei, gewisse Funktionen selbst zu übernehmen, die bisher Institutionen ausüben, liegt außerhalb der üblichen sozialpolitischen Vorstellungen. Die Struktur der deutschen Sozialpolitik trägt in mancher Hinsicht noch ganz ausgesprochen die Züge Bismarcks. Dies gilt insbesondere für die Prämienzahlung, in die sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer teilen. Es mag zu Bismarcks Zeiten tatsächlich die Vorstellung vorgeherrscht haben, daß Steuerträger und Steuerzahler identische Personen seien. Aber selbst heute gewinnt man den Eindruck, daß sich daran in zahlreichen Kreisen nichts geändert hat. So spricht selbst das Bundesverfassungsgericht von der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers (z.B. BVerfGE 11, 105). Wenn aber der Arbeitgeber zwar die Hälfte der Prämien zahlt, aber sie nicht trägt, wäre es im Interesse beider Seiten, sich dieses Tatbestandes bewußt zu werden. Es ist daher schon vor einigen Jahrzehnten der Vorschlag gemacht worden, die Löhne bzw. Gehälter im Umfange der Arbeitgeberbeiträge zu erhöhen, wobei dann aber die Prämienzahlung in vollem Umfange als Abzug vom Lohn auf dem Lohnzettel erscheint. Dies wäre ein Akt der Ehrlichkeit, der dem Arbeitnehmer deutlich macht, wie teuer ihn die Sozialpolitik zu stehen kommt. Das Analoge gilt für die Arbeitgeber, die über die sogenannten Nebenkosten stöhnen, ohne sich aber klar zu machen, daß sonst die ausgezahlten Nominallöhne um diese Beträge höher gewesen wären. 4 Hingegen ist das Ministerium für Arbeit und Sozialordnung

4

Hingegen kann nichts dilettantischer sein als der Vorschlag des Ministers für Gesundheit, zukünftige Prämienerhöhungen nicht mehr vom Arbeitgeber, sondern vom Arbeitnehmer zahlen zu lassen. Gerade ein solches Vorgehen muß den Arbeitnehmer in seiner Vorstellung bestärken, daß sich der Arbeitgeber von seinen Verpflichtungen drücken wolle, was nur dann zuträfe, wenn der Arbeitgeber die Prämie nicht nur zahlen, sondern auch tragen würde

144 • Ernst Heuß von derartigen Gedankengängen weit entfernt, und es wird daher auf der alten Schiene weiterfahren, wie es die Pflegeversicherung zeigt. Tabelle 3: Durchschnittliches Einkommen aus Lohn und Gehalt Bruttoeinkommen pro Monat 1950 1960 1970 1980 1990 1992 1994 1996 *

279 594 1.351 3.010 4.310 4.480 4.820 5.140

Nettoeinkommen pro Monat 213 431 890 1.770 2.430 2.450 2.580 2.700

Nettoeinkommen in Prozenten des Bruttoeinkommens 76,0 72,5 65,9 58,8 56,1 54,7 54,2 52,5

Nettoeinkommen = Bruttoeinkommen abzüglich der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge sowie der Lohnsteuer. Quellen: Institut der deutschen Wirtschaft, versch. Jahrgänge.

Die Tatsache, daß letzten Endes der Arbeitnehmer allein die Last der Sozialpolitik trägt, macht deutlich, daß die allgemeine Interdependenz der Märkte unter sich auch in vertikaler Hinsicht der Marktwirtschaft eine Flexibilität verleiht, die sie gewissermaßen 'idiotensicher' macht. So ist das, was die deutsche Sozialpolitik praktiziert, nichts anderes als eine Sozialisierung der Einkommen, und zwar innerhalb der Arbeitnehmerschaft. Allerdings hat man bei der Pflegeversicherung diese Grenze überschritten. So hat nicht nur der Arbeitnehmer, sondern jeder, ganz gleich, über welches Einkommen und Vermögen er verfügt, dieser beizutreten. Ebenso werden unabhängig von der Höhe der eingezahlten Prämien die Leistungen in drei Kategorien eingeteilt, die für alle in gleicher Weise festgelegt sind. Dies kann man auch als Sozialisierung der Leistungen bezeichnen. Faktisch laufen alle diese Maßnahmen auf eine weitere Einschränkung der Verfügungsgewalt über das selbst verdiente Einkommen hinaus. In Anbetracht des ungebrochenen Aktivitätendranges in der Sozialpolitik ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis der frei verfugbare Teil des Arbeitseinkommens unter die Hälfte fällt, so daß man schließlich nicht mehr weit davon entfernt ist, daß dem 'mündigen Bürger' gerade noch ein Taschengeld eingeräumt wird. Damit ist man in der Nähe der Situation, die Wilhelm Röpke (1958/1966, 238 f.) bereits vor vierzig Jahren skizziert hat: ,,Die Gefahren des Wohlfahrtsstaates sind nämlich um so ernster zu nehmen, als in seiner Natur nichts liegt, was ihm selber eine Grenze setzen würde. Er hat vielmehr die entgegengesetzte und überaus kräftige Tendenz zur immer weiteren Ausdehnung. Um so notwendiger ist es, daß ihm von außen Schranken gesetzt werden und daß die Kritik wach und scharf bleibt. Diese fortgesetzte Ausdehnung des Wohlfahrtsstaates, der immer weitere Lebensunsicherheiten und Bevölkerungskreise zu erfassen und seine Leistungen, noch mehr aber seine Lasten immer höher zu schrauben neigt, ist deshalb so verhängnisvoll, weil jede Erweiterung leicht

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und verführerisch, jede Zurücknahme eines hinterher als unbedacht erkannten Schrittes aber schwer und schließlich politisch unmöglich wird." Den Ausfuhrungen Röpkes ist nichts weiter hinzuzufügen. Nicht besser hätte die deutsche Sozialpolitik in den letzten drei Jahrzehnten beschrieben werden können. Man sollte daher mit dem Terminus 'Soziale Marktwirtschaft' sehr zurückhaltend sein. Sie ist inzwischen zu einer Worthülse geworden, in die jeder das hineinlegt, was er darunter verstehen will. Auf jeden Fall sollte man sich nicht auf die geistigen Väter des Ordoliberalismus berufen, es sei denn als argumentum e contrario gegenüber der heutigen Praxis. Von jeher werden bei der Beschreibung der sozialen Verhältnisse die Kategorien von arm und reich benutzt. Dies gilt im Prinzip auch für Marx, der sie auf die zwei Klassen Arbeiter und Kapitalist bezieht. Im großen und ganzen hat sich an dieser Vorstellung nichts geändert, so daß man auch heute noch glaubt, sich zur Aufgabe machen zu müssen, die Position der Arbeitnehmer gegenüber den Arbeitgebern zu verbessern, indem der Arbeitgeber gewisse Fürsorgefunktionen zu erfüllen hat. Dieses Bild hat schon zu Beginn der industriellen Revolution nicht mehr ganz gestimmt, und je weiter seitdem die Zeit fortschreitet, desto grotesker wird es, in diesen Kategorien noch zu denken. In einer Zeit, in welcher Marktprozesse nicht mehr Gleichgewichtslagen, sondern evolutionäre Vorgänge darstellen, die sich im Kommen und Gehen von Industrien niederschlagen, wird deutlich, daß wir in einer Welt der Überraschungen und damit in einer der Ungewißheit leben, wie es zwangsläufig der Fall ist, wenn die Zukunft offen ist. Das Unternehmerische besteht nun darin, Entscheide im Hinblick auf eine unbekannte Zukunft zu treffen, was Gewinne wie auch Verluste bedeuten kann. Hierin liegt der Unterschied zum Arbeitnehmer. Dieser schließt einen Arbeitsvertrag ab, in welchem er sich zu bestimmten Arbeitsleistungen verpflichtet, wofür er einen bestimmten Lohn bzw. ein Gehalt erhält, unabhängig davon, ob der Arbeitgeber diese Leistung marktmäßig verwerten kann oder nicht. In diesem Rahmen erhält auch die Sozialpolitik ein anderes Gesicht, wenn der Arbeitgeber gewisse Risiken des Arbeitnehmers zu übernehmen hat, die in die private Sphäre des Arbeitnehmers fallen wie Krankheit, Altersvorsorge usw. und daher mit der eigentlichen Arbeitstätigkeit nichts zu tun haben. Offenbar ist man sich nicht mehr bewußt, daß Bismarck bei Einführung der Kranken- und Altersversicherung noch das Bild vom Gutsherren im Kopfe hatte, in dessen Fürsorgepflicht derartige Aufgaben gegenüber seinen Hintersassen fielen; oder wie man im 18. Jahrhundert ganz allgemein vom Landesvater und dessen Landeskindern gesprochen hat, deren Obhut in den Händen des Königs lag. In unserer Zeit jedoch, in der man ständig vom mündigen Bürger spricht, sollte sich dieser eine solche Fürsorge verbitten, da diese in seine Kompetenz fällt und er derartige Versicherungen in die eigene Hand nimmt. Darunter ist u.a. die Selbstverwaltung zu verstehen, wofür je nachdem eine besondere gesetzliche Grundlage notwendig ist. Dies ist der Standpunkt der liberalen Parteien (Eugen Richter) gegenüber Bismarck im Reichstag gewesen. Offenbar ist ein solches Empfinden faktisch abhanden gekommen.

146 • EmstHeuß Literatur Becker, Helmut Paul (1965), Die soziale Frage im Neoliberalismus, Heidelberg. Hoffmann, Walther (1965), Das Wachstum der deutschen Volkswirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin. Institut der deutschen Wirtschaft (Hrsg.), Zahlen zur wirtschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland, Köln, laufende Jahrgänge. Lampert, Heinz (1996), Lehrbuch der Sozialpolitik, 4. Aufl., Heidelberg. Müller-Armack, Alfred (1956), Soziale Marktwirtschaft, Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, 9. Bd., S. 390 - 392. Neubauer, Günter (1997), Gesundheitsreform 2000 - Ziele, Konzeption, Instrumente, in: Richard Hauser (Hrsg.), Reform des Sozialstaats I: Arbeitsmarkt, soziale Sicherung und soziale Dienstleistungen, Berlin, S. 103-120. Oberender, Peter (1994), Wachstumsmarkt Gesundheit, Frankfurt. Röpke, Wilhelm (1958), Jenseits von Angebot und Nachfrage, zitiert nach der 4. Auflage, Erlenbach-Zürich und Stuttgart 1966. Zusammenfassung Die Väter des Ordoliberalismus haben in aller Deutlichkeit die Gefahren gesehen, wenn eine an sich berechtigte Sozialpolitik in eine Wohlfahrtspolitik ausartet. Diese Pervertierung hat in der Nachkriegszeit stattgefunden: Trotz der Vervielfachung des realen Pro-Kopf-Einkommens stieg die Sozialquote von 21% 1950 auf 45% 1995. An Hand der Kranken- und Rentenversicherung werden die Gründe für die Kostenexplosion offengelegt und ebenso Vorschläge gemacht, wie man dieser Fehlentwicklung entgegentreten kann. In Anbetracht der vorherrschenden Meinungen ist jedoch ein solcher Wechsel nicht zu erwarten. So wird der sogenannte mündige Bürger immer mehr entmündigt, indem ihm nur noch ein Bruchteil seines verdienten Einkommens persönlich zur Verfügung gestellt wird. Eine solche Entwicklung hat Wilhelm Röpke bereits vor 40 Jahren vorausgesehen.

Summary The Deformation of the Market Economy through Welfare Policies The fathers of Ordo liberalism were clearly aware of the dangers if a justified social policy was to degenerate into a welfare policy. This deformation occurred in the postwar period when inspite of the multiple increase in per capita income the share in social expenditure of the national income rose from 21 per cent in 1950 to 45 per cent in 1995. On the basis of health insurance and pension schemes the reasons for this explosion in costs are presented and proposals are made how to counter this negative development. In view of the prevailing opinion, however, such a change cannot be expected. Thus the man in the street loses more and more control over his financial affairs because only a fraction of his earned income is at his disposal. Such a development was already foreseen by Wilhelm Röpke 40 years ago.

ORDO

Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1997) Bd. 48

Gernot Gutmann

Der Stellenwert der Ordnungspolitik bei der deutschen Wiedervereinigung Inhalt I. Ordnungskonformität von Transformationspolitik als wissenschaftliches Problem 1. Die Fragestellung 2. Die faktisch bestehende Ordnung als Prüfstein? 3. Ordnungskonformität der Transformationspolitik gemäß dem Leitbild einer Sozialen Marktwirtschaft 4. Konstituierende Prinzipien der Transformationspolitik II. Ordnungsinkonforme Aktivitäten bei der Eigentumstransformation 1. Privatisierung durch eine staatliche Monopolagentur 2. Privatisierungsverfahren III. Industriepolitik als Bereich ordnungsinkonformer Transformationspolitik Literatur Zusammenfassung Summary: German Reunification and the Role of 'Ordnungspolitik'

I.

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Ordnungskonformität von Transformationspolitik als wissenschaftliches Problem

1. Die Fragestellung 1. Mit dem Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR vom 18. Mai 1990, also dem Staatsvertrag (BGBl II, 537), und mit dem Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR über die Herstellung der Einheit Deutschlands vom 31. August 1990, also dem Einigungsvertrag (BGBl II, 889), wurde der Grundstein dafür gelegt, daß in der einstigen DDR eine fundamentale Transformation der bis dahin bestehenden zentralverwaltungswirtschaftlichen in eine marktwirtschaftliche Ordnung einsetzte. Die Zentralverwaltungswirtschaft sowjetischen Typs wurde ersetzt durch eine Wirtschaftsordnung, wie sie sich seit 1948 in Westdeutschland entwickelt hatte und die als Soziale Marktwirtschaft bezeichnet wird, wenngleich die westdeutsche Ordnung nur partiell identisch war mit dem, was die wissenschaftlichen Architekten dieses Ordnungstyps unter der Stileinheit oder dem wirtschaftspolitischen Leitbild einer Sozialen Marktwirtschaft verstanden

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hatten. Es wäre eine interessante Frage eigener Art, inwieweit die vor 1990 in der alten Bundesrepublik betriebene Politik in den Bereichen der Agrarmärkte, der Arbeitsmärkte, der Verkehrsmärkte, der Energiemärkte, des Bildungswesens, der Technologieförderung, der regionalen und brachenmäßigen Gestaltung der Wirtschaftsstruktur, der Privatisierung öffentlichen Eigentums und der sozialen Sicherung - um nur einige der wichtigsten Poltikfelder zu nennen - zu einer Wirtschaftsordnung geführt hatte, die diesem Leitbild entsprach und ob diese Art von tatsächlich entstandener Sozialer Marktwirtschaft „...unter den nach vier Jahrzehnten erheblich veränderten nationalen und internationalen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen überhaupt noch ein geeignetes Leitbild der praktischen Wirtschaftspolitik" (Apolte et al. 1994, 110) für die Ordnungstransformation sein konnte. Dabei vollzog sich der Systemwandel in Ostdeutschland mit einem Tempo, wie es für keine der ost- und südosteuropäischen Länder beobachtbar war. 2. Fragt man entsprechend dem Titel dieses Beitrags nach dem Stellenwert, welcher der Ordnungspolitik bei der ökonomischen Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten zukam, so mag dies zunächst verwundem. Man könnte lapidar zur Antwort geben, daß dieser offensichtlich ganz außerordentlich groß war, denn die Umgestaltung der früheren Zentralverwaltungswirtschaft in eine Marktwirtschaft durch politisches Handeln war ja nichts anderes, als Ordnungspolitik in großem Stil. Die Umwandlung eines Systems zentraler Planung und Lenkung des Wirtschaftsprozesses in ein solches mit dezentraler Planung und Marktverkehr, die Privatisierung des früheren sogenannten „Volkseigentums", die Errichtung einer völlig neuen geldpolitischen Infrastruktur, die totale Umgestaltung des Systems der öffentlichen Einnahmen und Ausgaben, die Öffnung des Außenwirtschaftsverkehrs, die radikale Veränderung der früheren Unternehmens- oder Betriebsverfassung - all das war doch nichts anderes als Ordnungspolitik. Unbeschadet dieser Tatsache bleibt aber dennoch die Frage offen, ob die beim Systemwandel konkret verfolgten Ziele in den verschiedenen Feldern der Wirtschaftspolitik und die angewandten Instrumente im einzelnen - also die faktischen politischen Aktivitäten - an klaren und in sich konsistenten Vorstellungen über die Bauprinzipien und die Funktionsweise einer als Soziale Marktwirtschaft zu apostrophierenden Gesamtordnung orientiert und konsequent auf deren Entstehung in Ostdeutschland ausgerichtet waren, ob also der Politik der Systemtransformation im einzelnen das Attribut der Ordnungskonformität zugesprochen werden kann oder nicht. Eine solche Frage hat deshalb Bedeutung, weil in den Turbulenzen eines politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systemwandels immer damit zu rechnen ist, daß kurzfristige politische oder verbandsmäßige Interessen leicht solche vermeintliche Problemlösungen präferieren, die schnell vorzeigbare Ergebnisse versprechen, wobei die Kosten, die das verursacht, erst langfristig zu Tage treten. „Sichtbare administrative Eingriffe, die Einrichtung von Gremien und von Institutionen, Protektionismus usw. werden zu Lasten marktmäßiger oder zumindest marktkonformer Problemlösungen favorisiert werden. Das jedenfalls legt ein an der Gewinnung von Wählerstimmen orientierter Kalkül nahe. Der politische Handlungsdruck und das verstärkte Auftreten von Konstellationen mit asymmetrischer Information eröffnen weiten Spielraum für Rent seeking und geben den politischen Ri-

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valen und Verhandlungspartnern der Regierung strategische Optionen, die sonst in diesem Maße nicht bestünden" (Holzheu 1990, 364). Beim Versuch, eine Antwort auf die gestellte Frage zu finden, stößt man freilich auf eine ganze Reihe nicht unerheblicher Schwierigkeiten. Einige davon seien im folgenden kurz erläutert.

2. Die faktisch bestehende Ordnung als Prüfstein? Zunächst ist daraufhinzuweisen, daß der Begriff Wirtschaftsordnung in zweifachem Sinn verstanden werden kann. Entweder man meint damit etwas tatsächlich Bestehendes, also im Kontext unserer Fragestellung die in Westdeutschland zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung tatsächlich vorgefundene Wirtschaftsordnung, oder aber man meint ein bestimmtes Leitbild einer Ordnung, das unter Wertgesichtspunkten als erstrebenswert erachtet wird. Legt man der Prüfung der Ordnungskonformintät der Transformationspolitik die zum Zeitpunkt der Vereinigung beider deutscher Staaten in Westdeutschland tatsächlich bestehende Wirtschaftsordnung zugrunde, dann läßt sich ziemlich leicht feststellen, daß die Politik zur ökonomischen Vereinigung weitestgehend ordnungskonform war. Dies ergibt sich einmal aus dem Umstand, daß wesentliche Teile einer bestehenden Wirtschaftsordnung durch die Verfassung und durch andere gesetzliche Regelungen begründet und aufrechterhalten werden, und zum anderen aus der Tatsache, daß bei der Vereinigung der beiden deutschen Staaten die westdeutsche Rechtsordnung grundsätzlich auf das Gebiet der einstigen DDR übertragen wurde. So legt Art. 3 des Einigungsvertrages fest: „Mit dem Wirksamwerden des Beitritts tritt das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland...in den Ländern Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sowie in dem Teil des Landes Berlin, in dem es bisher nicht galt, mit den sich aus Art. 4 ergebenden Änderungen in Kraft, soweit in diesem Vertrag nichts anderes bestimmt ist." Und Art. 8 des Einigungsvertrags legt fest: „Mit dem Wirksamwerden des Beitritts tritt in dem in Artikel 3 genannten Gebiet Bundesrecht in Kraft, soweit es nicht in seinem Geltungsbereich auf bestimmte Länder oder Landesteile in der Bundesrepublik beschränkt ist und soweit durch diesen Vertrag, insbesondere dessen Anlage I, nichts anderes bestimmt wird." Die Analyse der Konformität oder Inkonformität der Transformationspolitik müßte sich dann vor allem auf jene (marginalen) Umstände beschränken, für die in der erwähnten Anlage I zum Einigungsvertrag - bezogen auf den Geschäftsbereich mehrerer Bundesministerien - Änderungen bestehender Rechtsregeln, Ausnahmen von diesen und zeitlich begrenzte Maßgaben festgelegt wurden. Man müßte sich also beispielsweise mit der nicht sehr aufregenden Frage befassen, ob es ordnungskonform war, im Kapitel V der Anlage I (Sachgebiet C: Gewerberecht, Recht der Technik, Gewerbe- und Filmförderung, Abschnitt III) zu regeln, daß die Spielverordnung in Ostdeutschland mit der Maßgabe in Kraft trat, daß Geldspielgeräte, die nach der Spielverordnung bestimmten Anforderungen genügen müssen, in der einstigen DDR bis zum 31. Dezember 1991 auch dann betrieben werden konnten, wenn sie diesen Anforderungen nicht entsprachen und wenn sie bereits vor

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dem Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Beitritts aufgestellt worden waren. Eine Analyse der Ordnungskonformität der deutschen Transformationspolitik auf solcher Ebene wäre kaum von wissenschaftlichem oder politischem Interesse.

3. Ordnungskonformität der Transformationspolitik gemäß dem Leitbild einer Sozialen Marktwirtschaft 1. Geht man jedoch nicht von der Ordnung aus, wie sie in Westdeutschland 1990 tatsächlich bestand, sondern von einem Leitbild der Ordnung einer Sozialen Marktwirtschaft, dann müßte dieses Leitbild hinlänglich präzise beschreibbar sein. Infolge des Umstandes, daß an der Ausformung der Ordnungsidee einer Sozialen Marktwirtschaft eine größere Zahl von Wissenschaftlern mit keineswegs immer gleichen Auffassungen beteiligt waren und wegen der grundsätzlichen Offenheit dieses Leitbildes für neue Entwicklungen, Ideen und Probleme ist es jedoch wohl unvermeidlich, daß es schon in der Wirtschaftswissenschaft keine allseits akzeptierte und präzise Definition von Sozialer Marktwirtschaft gibt, sondern verschiedenartige Interpretationen. Es kann daher auch nicht erstaunen, daß in der politischen Wirklichkeit Gruppierungen und Parteien häufig davon überzeugt sind oder aber vorgeben, im Namen der Sozialen Marktwirtschaft zu handeln, selbst wenn sie nicht selten gegenläufige Ziele verfolgen. Welches detailliert zu beschreibende Leitbild kann und soll also der Konformitätsprüfung des transformationspolitischen Handelns zugrunde gelegt werden? Hierüber wird ein Konsens nur schwerlich erreichbar sein. Vermutlich ist es vergleichsweise einfacher, die von Müller-Armack (1956, 243) gebrauchte generelle Formulierung zu akzeptieren, daß es in einer Sozialen Marktwirtschaft darum gehe,"...das Prinzip der Freiheit auf dem Markt mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden" - jedenfalls solange man nicht versucht, diese Formel zu konkretisieren - und auch hinzunehmen, daß die Instrumente, mit deren Hilfe dieses Ziel erreicht werden soll, einmal die Herstellung eines wettbewerblichen Marktes (.MüllerArmack 1946a) und zum anderen eine auch als Gesellschaftspolitik zu verstehende Sozialpolitik (Müller-Armack 1946, 129-134) seien. Und in der Tat spielt der Gedanke eines wettbewerblichen Marktgeschehens in fast allen von Wissenschaftlern vorgetragenen Spielarten des Leitbildes der Sozialen Marktwirtschaft eine wichtige Rolle. Dies gilt unbeschadet der Tatsache, daß es in der Wirtschaftswissenschaft durchaus unterschiedliche Verständnisse von Wettbewerb gab und gibt. Es erscheint daher sinnvoll, beim Suchen nach einer Antwort auf die Frage, welchen Stellenwert die Ordnungspolitik bei der deutschen Vereinigung hatte, der Frage der Wettbewerbskonformität des transformationspolitischen Geschehens besondere Aufmerksamkeit zu widmen. 2. Nun erschöpft sich jedoch Soziale Marktwirtschaft nicht darin, daß die Marktprozesse wettbewerblich ablaufen, daß also für die Bereiche der Güterproduktion und des Tauschverkehrs eine Wettbewerbsordnung besteht. Die Wettbewerbskonformität transformationspolitischer Maßnahmen ist zwar eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung für deren Ordnungskonformität im Rahmen einer Sozialen Marktwirtschaft. Das Prinzip der wettbewerblichen Freiheit auf dem Markt soll ja - so Müller-

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Armack - mit den Prinzipen einer mit der Marktwirtschaft verträglichen Sozialpolitik verbunden werden, denn seiner Ansicht nach würde „...keine Wirtschaftsordnung heute zu Recht bestehen, wenn sie nur an die Sicherung der Freiheit dächte. Bloße Freiheit könnte zum leeren Begriff werden, wenn sie sich nicht mit der sozialen Gerechtigkeit als verpflichtende Aufgabe verbände. So muß die soziale Gerechtigkeit mit und neben der Freiheit zum integrierenden Bestandteil unserer...Wirtschaftsordnung erhoben werden" (Müller-Armack 1948, 90). Diese Forderung gilt für ihn, wenngleich man erfahrungswissenschaftlich wohl kaum wird feststellen können, was soziale Gerechtigkeit ist. Hier sind wissenschaftliche Sachurteile schwerlich möglich, allenfalls Werturteile. Freilich gilt auch umgekehrt: Sozialverträglichkeit wirtschafts- oder sozialpolitischer Maßnahmen allein begründet noch nicht deren Ordnungskonformität. Ihre Wettbewerbskonformität muß zwingend hinzukommen. So herum betrachtet lassen sich Wettbewerbs inkonforme Interventionen sowohl der Wirtschaftspolitik im engeren Sinne als auch der im weiten Sinne verstandenen Sozialpolitik - von der Erhard (1965/66, 80) verlangte, sie müsse auf das Ganze der Gesellschaft gerichtet sein - als mit der Ordnung einer Sozialen Marktwirtschaft nicht verträglich und demnach als inkonform kennzeichnen. Eine den Prozeß des Wettbewerbs fördernde Transformationspolitik und damit die Herbeiführung einer Wettbewerbsordnung in den neuen Bundesländern war und ist demnach eine entscheidende Aufgabe. Ob der Wettbewerb durch die konkreten Maßnahmen gefördert oder behindert wurde, ist zentraler Prüfstein für die Ordnungskonformität der bei der Wiedervereinigung Deutschlands betriebenen Politik. 4. Konstituierende Prinzipien der Transformationspolitik 1. Die Transformation eines Wirtschaftssystems ordnungskonform durchzuführen und dadurch eine Wettbewerbsordnung zu etablieren ist jedoch ein sehr komplexes Unterfangen. Es sind dabei nicht nur die unmittelbar auf das Marktgeschehen gerichteten Eingriffe der Politik - also etwa kartellrechtliche Regelungen - relevant, sondern es bedarf, wie Walter Eucken (1952, 254-291) gezeigt hat, der Beachtung einer Reihe von die Wettbewerbsordnung konstituierenden Prinzipien der Wirtschaftspolitik. Dazu gehören neben der Etablierung eines Systems dezentraler Planung des wirtschaftlichen Geschehens mit Marktpreisbildung unter Konkurrenzbedingungen auch die Einführung von Privateigentum an den sachlichen Produktionsmitteln, die Gewährleistung von Geldwertstabilität, die Öffnung der Märkte für potentielle Wettbewerber und die Ausformung der Rechtsinstitute der Vertragsfreiheit und der Haftung für getroffene ökonomische Entscheidungen. Auch sei eine gewisse Konstanz des wirtschaftspolitischen Handelns vonnöten, um Planungssicherheit für weit in die Zukunft reichende Investitionsentscheidungen zu bewirken. Dabei gibt es nach Auffassung Euckens zwischen diesen Prinzipien eine Interdependenz. „Ihre gemeinsame Anwendung in der konkreten historischen Situation konstituiert eine gewisse gewollte Wirtschaftsordnung, indem sie Bedingungen herstellen, welche diese Ordnung zur Entfaltung bringen...Die Zusammengehörigkeit der Prinzipien geht so weit, daß einzelne von ihnen bei isolierter Anwendung ihren Zweck völlig verfehlen" (Eucken 1952, 289ff.). Ordnungskonformität

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einer Politik der Systemtransformation verlangt daher die gleichzeitige Beachtung der genannten interdependenten Prinzipien. 2. Nun hat sich jedoch bei den in Ost- und Südosteuropa ablaufenden Wandlungsprozessen gezeigt, daß es erhebliche Transformationsdilemmata geben kann, die dann dazu fuhren, daß die Politik mitunter gar nicht in der Lage ist, diese Gleichzeitigkeit zu beachten, und von daher gesehen teilweise wettbewerbsinkonform sein muß. Dies läßt sich dann aber nicht als Politikversagen und als mangelnde Orientierung der Politiker an ordnungspolitischen Grundsätzen interpretieren. So würden sich - geht man von den konstituierenden Prinzipen aus - die Schaffung eines Systems freier Marktpreisbildung und die Privatisierung des früheren „Volkseigentums" gegenseitig bedingen, denn einerseits würden Privateigentum und unternehmerisches Handeln dann wettbewerbswidrige Fehlallokationen der Ressourcen verursachen, wenn man weiterhin staatlich festgesetzte Preise beibehielte, und andererseits müßte eine Kombination von freier Marktpreisbildung in Verbindung mit staatlichem Eigentum letztlich eine bürokratisch bestimmte Allokation der Produktionsfaktoren hervorrufen, wenn nämlich die Entscheidungsträger in den Unternehmungen nicht in vollem Umfang auf die Marktsignale reagieren können, sei es weil sie als bisherige Betriebsleiter in einer Zentralverwaltungswirtschaft dazu gar nicht fähig sind oder deshalb, weil die zuständigen politischen Instanzen als Eigentümer andere, zum Beispiel kurzfristige wahltaktische Ziele verfolgen anstatt Rentabilität und Produktivität des Faktoreinsatzes. 3. Praktisch ist die Privatisierung einer gesamten Volkswirtschaft aus verschiedenen Gründen nur in einem längerfristigen Zeitraum möglich; dies nicht zuletzt auch deshalb, weil es erhebliche verfassungsrechtliche und politische Probleme zu lösen gilt. Das beweist derzeit vor allem die Debatte darüber, ob es erlaubt ist, daß der Staat Vermögensgegenstände einbehalten kann, die deren früheren Eigentümern aufgrund von Besatzungsbestimmungen zwischen 1945 und 1949 entzogen worden waren, die jedoch inzwischen vom Rechtsnachfolger der Besatzimgsmacht Sowjetunion, also von Russland, rehabilitiert worden sind. Es entstand also bei der Wiedervereinigung die Frage, ob man mit der Freigabe der Preisbildung auf den Märkten solange warten sollte und konnte, bis der Prozeß der Privatisierung abgeschlossen sein würde. Dies hat man freilich grundsätzlich nicht getan, sondern Marktpreisbildung eingeführt. Allerdings hat man in Westdeutschland bestehende Regulierungen der Preisbildung auf bestimmten Märkten auch auf Ostdeutschland übertragen, wie bei Leistungen von Ingenieuren, Architekten und Kfz-Haftpflichtversicherungen (Einigungsvertrag, Anlage I, Kapitel V, Abschnitt 3). Diese fast zwangsweise Nichtbeachtung der Interdependenz zweier konstituierender Prinzipen der Transformationspolitik - nämlich einerseits kurzfristige Etablierung von Märkten und meist freie Marktpreisbildung und andererseits Beibehaltung öffentlichen Eigentums an Produktionsmitteln auf Monate und teilweise auf Jahre - wird vermutlich nicht wenige negative Folgen für den Prozeß des Wettbewerbs gehabt haben. 4. Bleibt man sich der vorstehend skizzierten Probleme bewußt, dann zeigt sich schnell, daß es außerordentlich schwierig sein kann, konkrete wirtschaftspolitische Handlungen im Rahmen der Transformationspolitik als ordnungskonform oder -inkonform einzustufen. Alle wirtschaftspolitischen Aktivitäten, die bei und seit dem Beginn

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der Wiedervereinigung Deutschlands im Jahre 1990 zum Zweck der Neugestaltung der ostdeutschen Wirtschaft entfaltet wurden, auf ihre Konformität mit Sozialer Marktwirtschaft zu überprüfen, kann freilich nicht Aufgabe eines kurzen Beitrags sein. Es sollen daher im folgenden nur wenige Beispiele für inkonforme Politikhandlungen aufgezeigt werden, bei denen der Stellenwert ordnungspolitischer Grundsätze nicht sehr groß oder kaum erkennbar war.

II. Ordnungsinkonforme Aktivitäten bei der Eigentumstransformation 1. Privatisierung durch eine staatliche Monopolagentur 1. Ein wesentlicher Unterschied zwischen der ab 1948 in Westdeutschland erfolgten Transformation der zentralverwaltungswirtschaftlichen Kriegswirtschaft des Dritten Reiches zur marktwirtschaftlichen Ordnung der früheren westlichen Bundesrepublik Deutschland und der Transformation der in der früheren DDR bestehenden Zentralverwaltungswirtschaft sowjetischen Typs in die Ordnung der Sozialen Marktwirtschaft bestand in den unterschiedlichen Eigentumsordnungen der beiden genannten Typen einer Zentralverwaltungswirtschaft. In der kriegswirtschaftlichen Ordnung vor 1945 gab es zwar zentrale Planung und Lenkung des Wirtschaftsprozesses durch das „Amt für zentrale Planung" und dessen organisatorischen Unterbau, Preisüberwachung und staatliche Preisfestsetzungen durch einen Preiskommissar und eine Ordnung des Geldwesens, die dadurch gekennzeichnet war, daß das Direktorium der Reichsbank dem „Führer und Reichskanzler" unmittelbar unterstand und durch Gesetz einer unabhängigen Position beraubt worden war, aber es gab keine formale Aufhebung des Privateigentums. Dieses war zwar durch die genannten zentralverwaltungswirtschaftlichen Ordnungselemente hinsichtlich seiner ökonomischen Funktionen stark beschränkt, weil ja die Planautonomie der Unternehmer eingeschränkt war, aber es bestand rechtlich gesehen fort. Beim Übergang zur marktwirtschaftlichen Ordnung in Westdeutschland ab 1948 brauchte daher keine tiefgreifende Änderung der Eigentumsordnung herbeigeführt zu werden. Hingegen wurden in der ehemaligen DDR die frühere Eigentumsordnung in mehreren charakteristischen Phasen zunächst durch Vermögenseinziehung und Enteignung fundamental transformiert. Bereits vor Gründung der DDR im Oktober 1949 wurden durch Sequesterbefehl der Sowjetischen Militäradministration vom 30. Oktober 1945 mehr als 10.000 Unternehmen beschlagnahmt und in den drei Listen A, B und C erfaßt. Liste A enthielt 9.281 gewerbliche Unternehmen, davon 3.443 im Eigentum von „NaziAktivisten", „Kriegsverbrechern" oder der NSDAP; sie wurden ausnahmslos verstaatlicht, später in sogenanntes Volkseigentum überfuhrt. Die in Liste B erfaßten Betriebe wurden den als weniger belastet geltenden Eigentümern (vorerst) zurückgegeben. Die in Liste C aufgeführten zumeist großen und wirtschaftlich bedeutenden Unternehmen wurden zum Zweck der Sicherung von sowjetischen Reparationsansprüchen in „Sowjetische Aktiengesellschaften" (SAG) überfuhrt und dann später der DDR als „Volkseigene

154 • Gemot Gutmann Betriebe" übergeben (mit Ausnahme der Wismuth-Aue AG). In den Jahren bis 1955 wurden vermittels des Wirtschaftsstrafrechts und anderer Maßnahmen viele weitere Industrieunternehmen mittelständischer Art enteignet. Zur Kollektivierung der Eigentumsordnung trug auch die - zum Teil mit erheblichem Zwang bewirkte - Bildung sozialistischer Produktionsgenossenschaften vor allem im Handwerk und in der Landwirtschaft bei. In der Verfassung der DDR vom 6. April 1968 (in ihrer Fassung vom 7. Oktober 1974, Art. 9, Abs. 1) wurde festgelegt, daß die Volkswirtschaft der DDR auf dem sozialistischen Eigentum an den Produktionsmitteln - bestehend aus gesamtgesellschaftlichem Volkseigentum, genossenschaftlichem Gemeineigentum und Eigentum gesellschaftlicher Organisationen der Bürger - beruhte. Privateigentum an den Produktionsmitteln war zur relativen Bedeutungslosigkeit geschrumpft. 2. Für die Politik der Ordnungstransformation in Ostdeutschland war es daher eine unerläßliche und umfangreiche Aufgabe, die in der früheren DDR vorherrschende Eigentumsstruktur radikal zu verändern, also das „Volkseigentum" - das ja nichts anderes darstellte als staatliches Eigentum an Produktionsmitteln - zu privatisieren. Obwohl diese Eigentumsumwandlung ein ordnungspolitischer Vorgang par excellence war, ist gerade für dieses Politikfeld zu konstatieren, daß das dabei erfolgte Handeln im einzelnen vielfach nicht genügend an ordnungspolitischen Prinzipien ausgerichtet war. Die Pragmatik des Handelns führte vielmehr häufig dazu, diesen entgegen zu agieren. 3. Schon die grundsätzliche Entscheidung über den oder die Akteure, welche mit der Privatisierung beauftragt werden sollten, war ordnungspolitisch fragwürdig. Es wäre nämlich durchaus möglich gewesen, das nach der Vereinigung zunächst in Staatseigentum des Bundes oder der Länder übergegangene „Volkseigentum" auf miteinander in Wettbewerb tretende private Agenturen, etwa in der Rechtsform der Aktiengesellschaft, in einem Los-Verfahren zu übertragen und diesen dann den Verkauf der Vermögensgegenstände in Teilen oder in der Form ganzer Betriebe zu überlassen. Ein Verkauf oder eine kostenlose Abgabe der Aktien an die ostdeutsche Bevölkerung hätte für den Fall, daß Privatisierungserlöse angefallen wären, dazu geführt, daß diese Erlöse nach Abzug der Kosten an die Aktieninhaber geflossen wären (Leipold 1992). Ein solches Verfahren wäre unter Gesichtspunkten des Wettbewerbs deshalb vorteilhafter gewesen als die Privatisierung durch eine staatliche Treuhandanstalt, weil die privaten Agenturen ihre Objekte unter Wettbewerb am Markt für Betriebe und Betriebsteile in der Absicht öffentlich ausgeschrieben hätten, sie dann jeweils jenem Investor zuzuschlagen, der den höchsten Preis zu zahlen bereit war, dessen Kalkulation also die besten Verwertungschancen für das Objekt erwarten ließ. Denn der Preis, den ein Erwerber sich unter solchen Bedingungen zu zahlen bereit gefunden hätte, wäre durch seine Einschätzung des Zukunftserfolgswerts bestimmt und dieser selbst von der Sanierungskonzeption abhängig gewesen. Allein der ökonomische Kalkül der miteinander in Wettbewerb stehenden potentiellen Investoren hätte somit über die Eigentumsgewinnung und über die Allokation der vorhandenen Vermögenswerte entschieden und die Umstrukturierung der Wirtschaft vorangetrieben. 4. Jedoch ist man in Deutschland einen anderen Weg der Privatisierung gegangen. Man hat den Verkauf des in Staatseigentum befindlichen Produktiwermögens einer monopolistisch anbietenden Staatsagentur übertragen, nämlich der Treuhandanstalt,

Ordnungspolitik und Wiedervereinigung • 155

deren Tätigkeit man spezifischen gesetzlichen Regelungen unterwarf, die ihr ein wettbewerbsförderliches Handeln erheblich erschwerten. Zu diesen Regelungen gehörten unter anderem das Treuhandgesetz1 und dessen Durchführungsverordnungen 2 sowie die Satzung der Treuhandanstalt 3 und deren Geschäftsordnung ebenso wie der Einigungsvertrag sowie das Gesetz über die Vermögenszuordnung.4 Aus diesen rechtlichen Vorschriften ergaben sich aber für die Treuhandanstalt außer der Pflicht zur Privatisierung noch eine Reihe anderer Aufgaben, deren Erfüllung im konkreten Fall zu Konflikten führen mußte (siehe Kloepfer 1993, 41; Westermann 1993). Zu diesen zusätzlichen Aufgaben zählten unter anderem die Sanierung und die Stillegung von Betrieben, die Herbeiführung „wettbewerblicher" Strukturen sowie die Sicherung und die Schaffung von Arbeitsplätzen. Dabei waren diese Aufgaben in den Gesetzen und Verordnungen mitunter äußerst vage formuliert und daher verschieden auslegbar. Da Landesregierungen und Kommunalbehörden aus politischen Gründen vielfach vehement an der Erhaltung von auch unrentablen und längerfristig nicht zu rettenden Arbeitsplätzen mehr interessiert waren, als an der schnellen Entstehung einer zukünftig wettbewerblichen Struktur der Wirtschaft, machten sie häufig dort, wo es ihnen rechtlich möglich war, ihren Einfluß diesbezüglich geltend, nicht zuletzt im Verwaltungsrat der Treuhandanstalt. So konnte es geschehen, daß es zwar die Treuhandanstalt ökonomisch für sinnvoll hielt, Betriebe, die sie für nicht privatisierbar hielt, zu schließen, sich aber dennoch unter dem Druck der Politik - nicht zuletzt auch dem von Verbänden und der Öffentlichkeit - dazu genötigt sah, sie bestehen zu lassen. Dadurch wurde die unerläßliche Umstrukturierung und Modernisierung der ostdeutschen Wirtschaft und das Entstehen längerfristig wettbewerbsfähiger neuer Industrie- oder Dienstleistungsunternehmen verzögert, es wurden zukünftig zu erwartende ökonomische und soziale Vorteile zugunsten kurzfristiger politischer Zwecke geopfert. Es hat also die grundsätzliche Organisierung des Privatisierungsprozesses einem zentralen Erfordernis für die Transformationspolitik entgegengewirkt, das der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in seinem Jahresgutachten 1990/91 (Ziffer 513) wie folgt formulierte: „Der Erfolg des Prozesses wirtschaftlicher Erneuerung im östlichen Teil Deutschlands hängt wesentlich davon ab, daß sich leistungsfähige Unternehmen entwickeln, die mit wettbewerbsfähigen Produkten die Grundlage für Wachstum und gesicherte Beschäftigung schaffen."

2. Privatisierungsverfahren 1. Weitere negative Wirkungen für den Wettbewerb entstanden aus den von der Treuhandanstalt angewandten Verfahren der Privatisierung. Nach Auffassung des Sach-

1

Gesetz zur Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens (Treuhandgesetz) vom 17. Juni 1990, GBl der DDR,Teil I, 300, geändert durch Gesetz vom 22. März 1991, BGBl I, 766. 2 GBl der DDR, Teil I, 1076, 1260, 1333, 1465 und 1466. 3 Satzung der Treuhandanstalt vom 18. Juli 1990, GBl der DDR, Teil I, 809. 4 Gesetz über die Feststellung der Zuordnung von ehemals volkseigenem Vermögen (Vermögenszuordnungsgesetz - VZOG) vom 3. August 1992, BGBl I, 1464.

1 5 6 • Gemot Gutmann

verständigenrates (1990, Ziffer 520) wäre es eine der wichtigsten Aufgaben der Treuhandanstalt gewesen, Markttransparenz für die potentiellen Käufer von ostdeutschen Betrieben herzustellen: „Es muß öffentlich bekannt werden, welche Unternehmen zum Verkauf stehen und in welcher Weise Kaufangebote abgegeben werden können. Kaufinteressenten muß die Möglichkeit gegeben werden, sich über die Kaufobjekte zu informieren. Die Schaffung von Markttransparenz und die Werbung um Kaufangebote sind deswegen so wichtig, weil der Markt nur dann Entscheidungsinstanz über den Fortbestand eines Unternehmens sein kann, wenn seine Funktionsfähigkeit nicht durch Informationsdefizite beeinträchtigt wird." Dieser Anforderung hätten die Verfahren der öffentlichen Ausschreibung und der öffentlichen Auktion wohl am besten entsprochen. Aber von dem erstgenannten standardisierten Bietverfahren hat die Treuhandanstalt nur sehr selten Gebrauch gemacht, so bei der Massenprivatisierung von über 30.000 Einzelhandelsgeschäften zu Beginn des Jahres 1991, von dem zweiten Verfahren hingegen gar nicht (Schmidt 1993, 219) und zwar mit der Begründung, daß für sie der Kaufpreis des Objekts nur eines unter mehreren Kriterien dafür sein könne, wer den Zuschlag erhält. Hier zeigt sich deutlich, daß es zum Nachteil des Wettbewerbs einen Zusammenhang gab zwischen der Festsetzung miteinander konfligierender Aufgaben für die Treuhandanstalt und der Wahl des Verfahrens bei der Privatisierung. Die meist angewandten Arten des freihändigen Verkaufs an einen Investor ohne ein formelles Verfahren, bei dem nur eine ausgewählte Anzahl potentieller Käufer aus einer Branche angesprochen wurden und teilnehmen konnten, sowie die beschränkte Ausschreibung waren zweifellos wettbewerbsinkonform (und zwar nicht nur in bezug auf den Markt für Betriebe und Betriebsteile, sondern auch für andere Märkte), mußten sie doch die Gefahr heraufbeschwören, daß deregulierungsreife und wettbewerbsarme Marktstrukturen in Westdeutschland auf Ostdeutschland übergriffen. Dies traf beispielsweise auf die Märkte für elektrischen Strom und für Gas zu. Zu den politischen Akteuren, die das bewirkten, gehörte freilich nicht nur die Treuhandanstalt, sondern unter anderem auch das Bundeswirtschaftsministerium. Denn am 22. August 1990 wurde der Vertrag zur mehrheitlichen Übernahme der ostdeutschen Stromwirtschaft durch westdeutsche Elektrizitätskonzerne mit tatkräftiger Unterstützung des Bundeswirtschaftsministeriums unterzeichnet. Bei Strom und Gas wurde damit die früher in der DDR bestehende organisatorische Trennung von Energieerzeugung und Energieverteilung aufgegeben „...und damit für Ostdeutschland die Chance für eine Wettbewerbslösung vergeben, die auch im Hinblick auf den europäischen Binnenmarkt für Westdeutschland eine Pionierfunktion hätte ausüben können" (Härtel et al. 1991,65). 2. Zur angewandten „Technik" der Privatisierung durch die Treuhandanstalt gehörte auch - was vermutlich unvermeidlich war - die Tatsache, daß in ihrer Zentrale ebenso wie in den Treuhandbetrieben westdeutsche Führungskräfte mit entsprechenden Managementkenntnissen und -fahigkeiten in großer Zahl eingesetzt wurden. Man wird davon ausgehen dürfen, daß viele dieser Personen einem Interessenkonflikt ausgesetzt waren. Sie konnten zweifellos nicht immer nur die Bedürfnisse der ostdeutschen Betriebe, für die sie zuständig waren, vor Augen haben und die Interessen der westdeutschen Firmen, aus denen sie kamen, übergehen. Man darf daher vermuten, daß es in der Vorbereitung und Durchführung von Sanierungs-, Privatisierungs- und Stillegungsfällen häufiger zu

Ordnungspolitik und Wiedervereinigung • 157

wettbewerblich negativen Konsequenzen kam, weil zum Wettbewerbsvorteil westlicher Unternehmungen gehandelt wurde, wenngleich das im einzelnen schwer nachweisbar ist. So wird in der Literatur dargelegt, daß im Privatisierungsfall Jenaer Glashütte zwei Vorstandsmitglieder des westdeutschen Konkurrenten Schott Glaswerke im Jenaer Unternehmen Mitglied des Aufsichtsrats waren, was möglicherweise dazu führte, daß ausländische Bewerber bei der Privatisierung chancenlos waren. Auch wird darauf hingewiesen, daß leitende Mitarbeiter der Rheinbraun AG sowohl Aufsichtsratsmandate in der Lausitzer Braunkohlebergbau AG innehatten und auch in deren Untemehmensfuhrung aktiv waren (Härtel et al. 1995, 179f.), was sie dazu befähigt haben könnte, zum Vorteil des westdeutschen Konkurrenten der LAUBAG zu agieren. Einem Pressehinweis zufolge wurde ferner in einem Bericht an den sächsischen Wirtschaftsminister der Verdacht gäußert, daß der Niedergang der ostdeutschen Harmona Akkordeon GmbH nicht auf die allgemeine Marktentwicklung oder auf Unzulänglichkeiten der Unternehmensleitung zurückzufuhren gewesen sei, sondern darauf, daß ehemalige Führungskräfte des westdeutschen Konkurrenten Hohner eine Strategie verfolgten, durch welche die Harmona GmbH ihren Geschäftsbetrieb einstellen musste. Dies sind freilich nur wenige Beispiele dafür, daß Verdacht auf wettbewerbsbehindemdes oder -zerstörendes Handeln geäußert wurde. Ob dieser Verdacht jeweils zu Recht besteht, kann hier nicht geprüft werden, sondern muß dahingestellt bleiben.

III. Industriepolitik als Bereich ordnungsinkonformer Transformationspolitik 1. Ein in engem Zusammenhang mit der Privatisierung häufig diskutiertes Thema war die Politik zur „Erhaltung industrieller Kerne". Dabei handelte es sich „...um eine aktive Industriepolitik, bei der im Hinblick auf die Ziele der kurz- und langfristigen Erhaltung alter Industriestandorte und der damit verbundenen Arbeitsplätze einzelne Unternehmen oder Regionen, denen von staatlicher Seite langfristig eine Wettbewerbsfähigkeit attestiert wird, gezielt ausgewählt und von staatlicher Seite unterstützt werden" (Maennig et al. 1996, 421). Diese Politik entstand aus einem Konflikt zwischen der Treuhandanstalt und ostdeutschen Landesregierungen über die Frage, ob bestimmte Betriebe, die der Staat als sanierungsfähig ansah, die sich aber als nicht privatisierbar erwiesen, in staatlicher Regie erhalten bleiben oder stillgelegt werden sollten. Gemäß einer Vereinbarung des Landes Sachsen mit der Treuhandanstalt räumte die letztere der Landesregierung ein Mitspracherecht bei der Auswahl von zu sanierenden Betrieben unter der Voraussetzung ein, daß diese Betriebe gleichzeitig in die Förderprogramme des Landes aufgenommen wurden. 2. Von Anfang an war nicht eindeutig klar, was unter einem 'industriellen Kern' genau verstanden werden sollte. Daß es unter wissenschaftlichem Aspekt - sowohl regional wie auch sektoral betrachtet - ganz außerordentlich schwierig sein dürfte, solche 'Kerne' eindeutig von ihrer ökonomischen Umwelt abzugrenzen, ist plausibel (Baumann und Gröner 1994, 321 ff.). Es kann daher nicht wunder nehmen, daß allenfalls

158 • Gemot Gutmann

Tabelle: Industriepolitische Konzepte in Ostdeutschland ATLAS-Projekt in Sachsen Konzeptorientierung Förderung Dominierende Sektoren Ziele

Kriterien zur Aufnahme in das Projekt

Förderungsmaßnahmen

Entscheidungskompetenz Ordnungspol. Bedenken

betriebszentriert

Arbeitskreis Industriepolitik in SachsenAnhalt betriebszentriert

178 Unternehmen (Stand Mai 1993) Maschinenbau, Textilindustrie

30 Unternehmen (Stand Ende 1993) Chemische Industrie, Maschinenbau, Bergbau

- Bessere Zusammenarbeit Land/THA - Beschleunigung von Privatisierung und Umstrukturierung - Sanierung u. Modernisierung von THABetrieben - Sicherung von Arbeitsplätzen - Sicherung von Humankapital

-

- Zukünfitge regionale Bedeutung als industrielle Basis - beschäftigungspolitische Bedeutung - Innovationspotential - Zulieferer- u. Abnehmerbeziehungen - Anbindung an regionale Wirtschaftsnetze - noch nicht privatisierte Unternehmen - Finanzielle Beteiligung des Freistaates (bis zu 15%) mit Mitteln aus der GA - Lohnsubventionen

-

-

ANKER-Projekt in MecklenburgVorpommern betriebszentriert

31 Unternehmen (Stand Juni 1994) Schiffbau, Maschinenbau, Holzverarbeitende Industrie Bessere Zusammen- - Privatisierungsarbeit Land/THA chancen erhöhen Beschleunigung von - Erhaltung und SchafPrivatisierung fung von ArbeitsplätSicherung u. Schafzen fung von Arbeitsplät- - Ausbau der Infrazen struktur Behebung von Wettbewerbsschwächen Begleitung von Ausgründungen Förderung von Neuansiedlungen Nichtprivatisierte - Bestätigung der Sanierungsfähigkeit THA-Unternehmen von der THA

- Investitionshilfen, Zuschüsse aus der GA - Bürgschaften - Lohnsubventionen

zunehmend dezentral

- Bevorzugung bei öffentl. Aufträgen - Investitionszuschuß aus der GA - Landesbürgschaft - F&E-Unterstützung - Finanzierung betriebswirtschaftlicher Gutachten - Lohnsubventionen rein zentral

stark

sehr stark

mäßig

zentral

Ordnungspolitik und Wiedervereinigung • 159

Tabelle: Industriepolitische Konzepte in Ostdeutschland (Fortsetzung) B9-Projekt in Ost-Berlin Konzeptorientierung Förderung Dominierende Sektoren Ziele

Kriterien zur Aufnahme in das Projekt

Förderungsmaßnahmen

ZEUS-Projekt in Brandenburg

betriebszentriert

standortorientiert

9 Unternehmen

6 Standorte

Thüringer Modell standortorientiert

25 industrielle Zentren (Stand Ende 1993) keine Angaben Industrie-Mix Elektro-, Glas- u. Keramik-, Textilindustrie, Maschinenbau - Expansion des tertiä- - Ganzheitliche Um- Sicherung und Mostrukturierung ren Sektors dernisierung der in- Wirtschaftliche Dreh- - Erhöhung der Ledustriellen Basis scheibenfunktion in bensqualität - Ausgliederung und Europa - Standortattraktivität Neuansiedlung von erhöhen Unternehmen - Erhaltung von Arbeitsplätzen - Erlangung internatio- - Schaffung integrierter naler WettbewerbsBranchenstandorte - Ausbau der Infrafähigkeit struktur - Erhaltung von Ar- Erhaltung von Arbeitsplätzen beitsplätzen - Infrastrukturentwicklung - Modernisierung der Infrastruktur - Nichtprivatisierte - Strukturell bedeutsa- - Strukturell bedeutsaTHA-Untemehmen me Regionen me Regionen - Gute Infrastruktur - Standorte müssen zur - Umfangreiche ArSicherung der indubeitsplätze striellen Basis beitragen - Beschäftigungspolitische Bedeutung - Ökologische Kriterien - Bevorzugt privatisierte Betriebe - Invesititonszuschüsse - Erarbeitung von lang- - Investitionszuschüsse fristigen Konzepten (Stand 1993: 114 aus der GA und EntwicklungsMill. DM aus der - Bürgschaften strategien sowie fiGA, 40 Mill. DM - Lohnsubventionen nanzielle Unterstütdurch Thüringer Aufzung bei deren Reabaubank, 87 Mill. lisierung DM durch andere Banken) - Lohnsubventionen - Lohnsubventionen

dezentral vorwiegend zentral Entscheidungs- zentral kompetenz gering mäßig Ordnungspol. mäßig bis stark Bedenken Quelle: Maennig, Stamer und Gauler 1996, 409 f. sowie die dort angegebene Literatur.

160 • Gernot Gutmann

vage Umschreibungen dessen vorzufinden waren, was ein 'industrieller Kern' ist. So formulierte Birgit Breuel (1993, 60): „Industrieller Kern ist eine Metapher für den Versuch, die zukunftsträchtigen Potentiale in den Unternehmen herauszufinden, ihnen eine faire Entwicklungschance zu geben und letztlich aus diesem Kern heraus wieder Wachstum und Regeneration zu ermöglichen." 3. Die politischen Maßnahmen zur Erhaltung solcher „industrieller Kerne" bestanden zum einen aus betriebszentrierten Konzepten - das galt für Sachsen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Ost-Berlin - und zum anderen aus standortorientierten Vorstellungen wie in Brandenburg und Thüringen (Maennig et al. 1996, 413). Im Rahmen des sächsischen /17Z,4S-Projekts (.Ausgesuchte Treuhanduntemehmen vom Land angemeldet zur Sanierung") wurden bis Mai 1993 „... 178 Unternehmen mit ca. 52.000 Mitarbeitern, vorwiegend aus dem Maschinenbau und der Textilindustrie, als regional bedeutsam eingestuft und für die Aufnahme in das ATLAS-?ro)tY\. vorgeschlagen. Davon wurden 48 vollständig privatisiert, 66 nach Verhandlungen mit der damaligen Treuhandanstalt als sanierungsfähig eingestuft, 26 liquidiert sowie 38 noch nicht abschließend überprüft" (Maennig et al. 1996, 411). Die in Sachsen-Anhalt, MecklenburgVorpommern und Ost-Berlin verfolgte Politik zur Erhaltung „industrieller Kerne" orientierte sich stark am sächsischen Beispiel. - Bei dem in Brandenburg verfolgten ZEUSProjekt („Zukunftsorientierte Entwicklung und Umstrukturierung der Standorte") ging es nicht nur um die ökonomische Perspektive der Betriebe, sondern um die Schaffung einer „ganzheitlichen Standortattraktivität" mit dem Ziel, die „Lebensqualität" in allen Bereichen des Landes zu verbessern, um die Identifikation der Bevölkerung mit der Region zu fördern. 1993 gehörten rund 40 Treuhandbetriebe zu den als entwicklungsfähig angesehenen ZECS-Industrieregionen des Landes Brandenburg (Maennig et. al 1996, 413). In Thüringen wurde 1993 das Konzept „Entwicklung industrieller Zentren" (Thüringer Modell) entwickelt. Es lehnte sich hinsichtlich der Ausgliederung und Sanierung von Treuhanduntemehmen an das Z£WS-Projekt von Brandenburg an. Im Laufe des Jahres 1993 wurden insgesamt 25 größere Industriegebiete - vorwiegend des Maschinenbaus sowie der Elektro-, Glas-, Keramik- und Textilindustrie - als industrielle Basis des Landes benannt. (Die voranstehende Tabelle gibt nochmals einen Überblick über die industriepolitischen Konzepte in den ostdeutschen Bundesländern.) 4. Unter dem Aspekt des Wettbewerbs sind die meisten dieser industriepolitischen Aktivitäten äußerst fragwürdig. Insoweit Treuhandbetriebe, die in die genannten Konzepte einbezogen wurden, als zwar sanierungsfähig angesehen wurden, aber keine Kaufinteressenten fanden, ist zu vermuten, daß potentielle Investoren von der künftigen Wettbewerbsfähigkeit nicht überzeugt waren. Es ist daher zu fragen, weshalb politische Instanzen wie die verschiedenen Landesregierungen über die künftigen Markt- und Wettbewerbsbedingungen bessere Informationen besitzen sollten als private Investoren. Man wird eher davon ausgehen müssen, daß die notwendige Umstrukturierung der ostdeutschen Wirtschaft durch eine solche Politik mehr behindert als gefördert wurde. Das im kurzfristigen Interesse von Politikern und Verbänden liegende Ziel einer Beschäftigungsstabilisierung wird insofern längerfristig konterkariert. Eine solche Politik ist daher wettbewerbsinkonform und damit auch nicht ordnungskonform zum Leitbild einer Sozialen Marktwirtschaft. Dies gilt es festzustellen, auch wenn man Verständnis für die

Ordnungspolitik und Wiedervereinigung • 161

Probleme hat, die der Politik aus der Turbulenz und Hektik des Geschehens zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung erwuchsen und die wenig Zeit dafür ließen, Entscheidungen wohlüberlegt zu treffen.

Literatur Apolte, Thomas, Dieter Cassel und E. Ulrich Cichy (1994), Die Vereinigung: Verpaßte ordnungspolitische Chancen, in: Gemot Gutmann und Ulrich Wagner (Hrsg.), Ökonomische Erfolge und Mißerfolge der deutschen Vereinigung - eine Zwischenbilanz, Stuttgart, Jena, New York, S. 105-128. Baumann, Silke und Helmut Gröner (1994), Die Kontroverse um die Erhaltung industrieller Kerne in den neuen Bundesländern, in: Gemot Gutmann und Ulrich Wagner (Hrsg.), Ökonomische Erfolge und Mißerfolge der deutschen Vereinigung - eine Zwischenbilanz, Stuttgart, Jena, New York, S. 315-338. Breuel, Birgit (1993), Überlebensfähigen Unternehmen die Regeneration ermöglichen, Wirtschaftsdienst, Heft II, S. 59-61. Dönges, Jürgen (1993), Konservierende Industriepolitik: Unwirksam, kontraproduktiv, teuer, Wirtschaftsdienst, Heft II, S. 67-70. Erhard, Ludwig (1965/66), Das gesellschaftliche Leitbild der formierten Gesellschaft, wieder abgedruckt in: Ludwig-Erhard-Stiftung e.V. (Hrsg.) (1981), Grundtexte der Sozialen Marktwirtschaft, Stuttgart, New York, S. 79-82. Eucken, Walter (1952), Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 3. Aufl., Tübingen, Zürich 1960. Gutmann, Gemot (1994), Erhaltung industrieller Kerne in Ostdeutschland und das Problem der Ordnungskonformität von Wirtschaftspolitik, in: Rolf H. Hasse, Josef Molsberger und Christian Watrin (Hrsg.), Ordnung in Freiheit: Festgabe für Hans Willgerodt zum 70. Geburtstag, Stuttgart, Jena, New York, S. 28-39. Härtel, H.H., R. Krüger, J. Seeler und W. Weinhold (1991), Wettbewerbspolitisch bedeutsame Prozesse in den neuen Bundesländern, HWWA-Report Nr. 88, Hamburg. Härtel, H.H., R. Krüger, J. Seeler und W. Weinhold (1994), Die Entwicklung des Wettbewerbs in den neuen Bundesländern, Veröffentlichungen des HWWA-Instituts für Wirtschaftsforschung Hamburg, Bd. 14, Baden-Baden. Holzheu, Franz (1990), Ordnungspolitische Weichenstellungen im Sog von Integrationsprozessen, in: Finanzarchiv N. F., Band 48, S. 363-369. Kloepfer, Michael (unter Mitwirkung von Jobst-Friedrich Unger) (1993), Öffentlich-rechtliche Vorgaben für die Treuhandanstalt, in: Wolfram Fischer, Herbert Hax und Hans K. Schneider (Hrsg.), Treuhandanstalt: Das Unmögliche wagen, Berlin, S. 41-84. Leipold, Helmut (1992), Das Eigentumsproblem in der Transformationspolitik, in: Helmut Leipold (Hrsg.), Privatisierungskonzepte im Systemvergleich, Arbeitsberichte zum Systemvergleich, herausgegeben von der Forschungsstelle zum Vergleich wirtschaftlicher Lenkungssysteme, Nr. 16, Marburg, S. 1-26. Maennig, Wolfgang, Manfred Stamer und Alexander Gauler (1996), Der Erhalt industrieller Kerne in Ostdeutschland: Konzepte und Kritik, in: List-Forum für Wirtschafts- und Finanzpolitik, Bd. 22, Heft 4, Baden-Baden, S. 401-425. Müller-Armack, Alfred (1946a), Das Grundproblem unserer Wirtschaftspolitik: Rückkehr zur Marktwirtschaft, wieder abgedruckt in: Alfred Müller-Armack, Genealogie der Sozialen Marktwirtschaft: Frühschriften und weiterfuhrende Konzepte, Bern und Stuttgart 1974, S. 25-39. Müller-Armack, Alfred (1946b), Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, Hamburg, wieder abgedruckt in: Alfred Müller-Armack, Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik, 2. Aufl., Bern und Stuttgart 1976, S. 19-170. Müller-Armack, Alfred (1948), Vorschläge zur Verwirklichung der Sozialen Marktwirtschaft, Hamburg-Altona, wieder abgedruckt in: Alfred Müller-Armack, Genealogie der Sozialen Marktwirtschaft, Bern und Stuttgart 1974, S. 90-107.

162 • Gernot Gutmann Müller-Armack, Alfred (1956), Artikel: Soziale Marktwirtschaft, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 9, Stuttgart, Tübingen, Göttingen 1956, wieder abgedruckt in: Alfred Müller-Armack, Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik, 2. Aufl, Bern und Stuttgart 1976, S. 243-249. Nolte, D. (1993), Länderinitiativen zum Erhalt industrieller Kerne in Ostdeutschland, WSIMitteilungen 46/3, S. 188-190. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (1990), Auf dem Wege zur wirtschaftlichen Einheit Deutschlands, Jahresgutachten 1990/91, Stuttgart. Schmidt, Klaus-Dieter (unter Mitwirkung von Uwe Siegmund) (1993), Strategien der Privatisierung, in: Wolfram Fischer, Herbert Hax und Hans K. Schneider (Hrsg.), Treuhandanstalt: Das Unmögliche wagen, Berlin, S. 211-240. Späth, Lothar (1993), Eine Chance für zukunftsweisende Neuansätze, Wirtschaftsdienst, Heft 2, S. 64-67. Westermann, Harm Peter (1993), Der rechtliche Rahmen und seine Veränderung, in: Wolfram Fischer, Herbert Hax und Hans K. Schneider (Hrsg.), Treuhandanstalt: Das Unmögliche wagen, Berlin, S. 85-110.

Zusammenfassung Mit dem Staatsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der D D R über die Herstellung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 18. Mai 1990 wurde in der ehemaligen D D R ein Prozeß der Transformation der Wirtschaftsordnung eingeleitet, der die bisherige Zentralverwaltungswirtschaft in eine Soziale Marktwirtschaft umwandeln sollte. M a n kann heute die Frage stellen, ob die Wirtschaftspolitik, die diesem Transformationsprozeß zugrunde lag und die ihn begleitete, an klaren und in sich konsistenten Vorstellungen über die zu erreichende Gesamtordnung ausgerichtet, also konsequent ordnungskonform war. Will man diese Frage beantworten, dann stößt man jedoch auf Probleme. Zunächst ist zu entscheiden, ob man dieser Konformitätsprüfung die in Westdeutschland 1990 tatsächlich bestehende Wirtschaftsordnung oder ob man ihr ein Leitbild von Sozialer Marktwirtschaft zugrunde legen will. Im letzteren Falle sieht man sich mit der Tatsache konfrontiert, daß es kein allseits akzeptiertes und präzise beschreibbares Leitbild dieses Ordnungstyps gibt. Orientiert man sich bei der Analyse der Transformationspolitik zudem an den Anforderungen, welche die von Walter Euchen aufgestellten konstituierenden Prinzipien der Wirtschaftspolitik für das Entstehen einer marktwirtschaftlichen Wettbewerbsordnung stellen, dann erkennt man schnell, daß es Transformationsdilemmata geben mußte, die es erschweren, die Ordnungskonformität der Politik zu beurteilen. D a es unbestritten sein dürfte, daß in allen Vorstellungen über eine Soziale Marktwirtschaft der Wettbewerb an den Märkten eine wichtige Rolle spielt, wird die Ordnungskonformität der Transformationspolitik an deren Wettbewerbskonformität gemessen. An einigen Beispielen aus dem Bereich der Politik zur Transformation der ostdeutschen Eigentumsordnung (Privatisierung) und der Politik zur Erhaltung 'industrieller Kerne' wird dargelegt, daß die zur Systemtransformation betriebene Politik keineswegs in wünschenswertem U m f a n g wettbewerbskonform und damit ordnungskonform gewesen ist.

Ordnungspolitik und Wiedervereinigung • 163 Summary German Reunification and the Role of 'Ordnungspolitik' The treaty of the 18th of May 1990 between the Federal Republic of Germany and the German Democratic Republic about the establishment of an economic, currency and social union marked the beginning of the process of transformation of the economy of the former GDR from a centrally planned to a social market economy. Today one can ask the question whether the economic policy which guided the transformation process was geared to a clear and consistent conception of a desired economic system. In answering this question, however, one comes up against a number of problems. Initially, one has to decide whether the test of consistency is to be made with reference to the actual economic system of Western Germany in 1990 or with the concept of a social market economy. In the latter case, the problem arises that there is no such thing as a generally accepted and sufficiently detailed blueprint of what constitutes a social market economy. If the analysis of the policy of transformation is based upon the requirements which, according to Walter Eucken's formative principles, are necessary for the establishment of a competitive economic order, it becomes obvious that this process led to certain dilemmas, and it is thus difficult to pass judgement on the adequacy of economic policies. As competition in markets undoubtedly plays an important role in any concept of social market economy, the transformation policy is judged by its conformity to the competitive order. Using examples from the transformation of the East-German property order (privatisation) and the policy for the preservation of industrial core industries, it is demonstrated that the transformation policy did not sufficiently conform to the competitive order and therefore not to the system as a whole.

III. Primat der Geldpolitik für die Wettbewerbsordnung

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1997) Bd. 48

Otmar Issing

Geldwertstabilität als ordnungspolitisches Problem Inhalt I. Geldwertstabilität als konstituierendes Prinzip der Wirtschaftsordnung II. Inflation - Zerstörung der Ordnung III. Zur Diskussion um die Null-Inflation IV. Die Suche nach der Geldverfassung V. Unabhängigkeit der Notenbank und klare Zielvorgabe Literatur Zusammenfassung Summary: Monetary Stability as a Problem of Order Policy

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I. Geldwertstabilität als konstituierendes Prinzip der Wirtschaftsordnung Der vollständige Kollaps des Systems sozialistischer Planung hat den Beweis für die - auch in Zeiten, in denen diese Botschaft vielerorts nicht gern gehört und nicht selten attackiert wurde - unerschütterliche Überzeugung liberaler Ökonomen geliefert: Eine Wirtschaft läßt sich nicht auf Dauej- gegen die Gesetze des Marktes und gegen die Interessen der Bürger organisieren. Die anfänglichen und in verschiedenen Ländern anhaltenden Schwierigkeiten, das Problem der 'Transformation' erfolgreich zu bewältigen, machen andererseits deutlich, daß der Verzicht auf zentrale Planung allein nicht genügt. ,,Free markets do not in themselves mean efficient markets. Efficient markets imply a well-specified legal system, a well-specified and impartial third party of government to enforce them, and a set of attitudes toward contracting and trading that encourages people to engage in them at low cost" {North 1986, 236). Diese Erkenntnis stand bekanntermaßen bereits Pate bei der großen Reform in Deutschland im Jahre 1948; sie geht zurück auf das Werk des Ordoliberalismus. Der Name ORDO gilt als Programm, Walter Eucken als dessen prominentester Vertreter. In seinem Werk „Grundsätze der Wirtschaftspolitik" analysiert er die vielfältigen und vielschichtigen Wechselbeziehungen in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft. Die These von der Interdependenz von Wirtschaftsordnung und Staatsordnung bildet den krönenden Schlußstein eines umfassenden Systems. Die Wettbewerbsordnung bedarf konstituierender Prinzipien, die einander bedingen und sich zu einer Wirtschaftsverfassung ergänzen. Unter diesen nimmt die Geldwertstabilität einen herausgehobenen Rang ein: „Alle Bemühungen, eine Wettbewerbsord-

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nung zu verwirklichen, sind umsonst, solange eine gewisse Stabilität des Geldwertes nicht gesichert ist. Die Währungspolitik besitzt daher für die Wettbewerbsordnung ein Primat" (Eucken 1955, 256). Primat der Währungspolitik, also Vorrang der Geldwertstabilität soll nicht heißen, die Wirtschaft gewissermaßen der Währung „zu opfern" - ein Vorwurf, der manchem Kritiker stabilitätsorientierter Geldpolitik schon fast zur Gewohnheit geworden ist. Sicherung der Geldwertstabilität sieht gerade umgekehrt das Geld in seiner der Wirtschaftsrechnung und der Lenkung des Wirtschaftsprozesses dienenden Rolle, ganz im Sinne des ORDO-Gedankens.

II. Inflation - Zerstörung der Ordnung Mit dem Verlust der Geldwertstabilität gehen auch die Vorteile der Geldwirtschaft verloren; der Grad dieses Verlustes richtet sich weitgehend nach dem Ausmaß der Inflation. Im Extremfall der Hyperinflation fällt eine Volkswirtschaft auf den Primitivzustand naturaltauschähnlicher Verhältnisse zurück - es sei denn, eine stabile fremde Währung übernimmt ersatzweise die Funktionen des wertlos gewordenen heimischen Geldes. Die Literatur zur Inflation und zu deren Wirkungen füllt ganze Bibliotheken; an dieser Stelle seien nur einige Stichworte genannt. Die Interdependenz der Beziehungen zeigt sich im übrigen auch hier: Die Folgen fiir die verzerrenden Wirkungen der Inflation hängen z. B. ganz entscheidend von der Ausgestaltung des Steuersystems eines Landes ab, es gelten die Phänomene der kalten Progression, der Scheingewinnbesteuerung etc. Der Verlust an Rechenhaftigkeit ganz generell liegt in der Schwierigkeit, zwischen Änderungen der nominellen und der relativen Preise exakt zu unterscheiden. Mit der verringerten Informationseffizienz des Preissystems, nicht zuletzt in der intertemporalen Perspektive, wächst die Gefahr der Fehlallokation. Verbunden mit diesen Vorgängen sind Wirkungen auf die Verteilung von Einkommen und Vermögen. Nur auf der Basis stabilen Geldes, genauer: der Erwartung anhaltender Geldwertstabilität, ist es einer breiten Schicht der Bevölkerung möglich, durch Sparen und Bildung von Nominalvermögen private Vorsorge für das Alter zu treffen. Geldwertstabilität korrespondiert also mit der Sicherheit der Eigentumsrechte. Stabiles Geld und Rechtsstaatlichkeit bilden Grundpfeiler einer freiheitlichen Ordnung. Der ordnungspolitische Charakter der Geldwertstabilität offenbart sich wiederum besonders deutlich in der Situation des Gegenteils. Inflation zerstört die Grundlage privater Vorsorge, treibt die Bevölkerung zwangsläufig in die Arme kollektiver Sicherungssysteme. Neben exorbitanter Besteuerung bildet die Inflation das andere, gegebenenfalls komplementäre Mittel, um die Abhängigkeit der Bürger vom allmächtigen Staat vollkommen zu machen. Bezeichnenderweise wird Lenin das Diktum zugeschrieben, der sicherste Weg, eine bürgerliche Gesellschaft zu zerstören, liege in der Zerrüttung der Währung. In der nüchternen Sprache der Ökonomen geht das Gespür für die Zusammenhänge zwischen Geldwertstabilität, Rechtsstaatlichkeit und dem Sicherheitsgefühl der Menschen leicht verloren. Ein Schriftsteller wie Stefan Zweig vermag den Kontrast zwischen

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Ordnung und Chaos, Sicherheit und völliger Verunsicherung plastisch zu schildern (Zweig 1955). Das erste Kapitel trägt den programmatischen Titel: „Die Welt der Sicherheit" und beginnt mit dem Satz: „Wenn ich versuche, für die Zeit vor dem Ersten Weltkriege, in der ich aufgewachsen bin, eine handliche Formel zu finden, so hoffe ich am prägnantesten zu sein, wenn ich sage: es war das goldene Zeitalter der Sicherheit" (Zweig 1955, S. 15). Der Staat war der oberste Garant der Beständigkeit, niedrige Steuern und stabiles Geld gaben den Rahmen für eine persönliche langfristige Lebensplanung, die gewiß zunächst nur einer kleinen Schicht alle Vorzüge bot, die aber zunehmend auch zum Ideal immer weiterer Kreise wurde. Diese Welt ging mit dem Weltkrieg unter. Die Inflation, grausamer Ausdruck des Nachkriegschaos, vollendete das Werk der Zerstörung. Hatte der Krieg selbst immerhin noch Stunden des Erfolges beschert, empfand sich die Nation durch die Inflation „einzig als beschmutzt, betrogen und erniedrigt". Daher das bittere Urteil: „Nichts hat das deutsche Volk - dies muß immer wieder ins Gedächtnis gerufen werden - so erbittert, so haßwütig, so hitlerreif gemacht wie die Inflation" (Zweig 1955, S. 359).

III. Zur Diskussion um die Null-Inflation Nun gibt es aber wohl ohnehin niemanden, den man noch von den zerstörerischen Wirkungen der Hyperinflation überzeugen müßte. Die Währungsgeschichte hat schließlich nicht nur in Deutschland hinreichend eindrucksvolle Belege dafür geliefert. Die Gefahr einer Wiederholung solcher Vorgänge ist - jedenfalls in den westlichen Industriestaaten - nirgendwo in Sicht. Ganz im Gegenteil verzeichnet die Mitte der neunziger Jahre die niedrigsten Preissteigerungsraten seit mehr als dreißig Jahren. Auf der Konsumentenstufe lag sie für die G7-Länder zusammen Ende 1996 bei 2,2 Prozent und für Deutschland bei 1,5 Prozent. Geldwertstabilität ist in einer ganzen Reihe von Ländern faktisch erreicht; dies gilt nicht zuletzt dann, wenn man mögliche Fehler bei der Berechnung der Preisentwicklung berücksichtigt. Es kann daher nicht überraschen, wenn bereits vom 'Ende', vom 'Tod' der Inflation gesprochen wird. Gefahren und negative Wirkungen der Inflation sind daher zur Zeit kein Thema der Wissenschaft; aktuell ist vielmehr die Frage, ob es sich überhaupt lohnt, bereits als niedrig angesehene Preissteigerungsraten noch weiter zu senken, oder ob die gesamtwirtschaftlichen Kosten der Bekämpfung der 'Restinflation' nicht längst den Nutzen überschreiten. Dabei ist zunächst zu fragen, inwieweit es sich bei dieser statistisch ausgewiesenen 'Restinflation' überhaupt um Inflation im eigentlichen Sinne handelt. Die Messung von Geldentwertung wirft hier einige Probleme auf. Die üblicherweise verwendeten Konsumentenpreisindizes basieren auf einem repräsentativen Warenkorb, der für mehrere Jahre beibehalten wird. Mit der Zeit spiegelt ein solcher Warenkorb das Käuferverhalten jedoch immer weniger wider, da die Reaktion der Konsumenten auf Preisänderungen und neu eingeführte Produkte sowie Qualitätsänderungen von bereits enthaltenen Gütern nicht ausreichend berücksichtigt werden. So gehen Produkte, deren Preise sich erhöht haben und die deshalb von den Konsumenten teilweise durch preiswertere ersetzt wor-

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den sind, weiter mit dem gleichen Gewicht, jedoch höheren Preisen in die Berechnung ein. Ähnlich sieht es mit dem Wechsel zu preisgünstigeren Bezugsquellen aus. Auch hier wird der Reaktion der Verbraucher nicht Rechnung getragen, sondern weiterhin die ursprünglich veranschlagte Menge für die teurere Bezugsquelle bei der Indexberechnung berücksichtigt. Hinzu kommen nichterfaßte oder unterschätzte Qualitätsverbesserungen der einbezogenen Produkte, die - sofern sie mit Preiserhöhungen einhergehen den Index nach oben treiben, ohne an sich inflatorisch zu sein, bzw. - ohne entsprechende Preisänderung - nicht dämpfend auf den Index wirken. Diese nur bedingt zu umgehenden Meßfehler fuhren dazu, daß die mit solchen Indizes gemessene Inflation über der tatsächlichen liegt. Eine gewisse 'Restinflation' muß also der angestrebten Preisstabilität durchaus nicht widersprechen. Selbst unter Berücksichtigung der 'Fehler' bei der Berechnung der Preisentwicklung verbleibt jedoch in den meisten Fällen eine tatsächliche 'Restinflation'. An der Frage, ob und inwieweit diese weiter gesenkt werden soll, wo also die optimale Inflationsrate liegt, scheiden sich die Geister. Die Protagonisten einer positiven Preissteigerungsrate führen dabei häufig das Argument der Existenz von Nominallohnstarrheiten an. So haben z.B. Akerlof, Dickens und Perry (1996) bei ihren eigenen Erhebungen solche Lohnrigiditäten in den USA feststellen können; andere von ihnen aufgeführte Untersuchungen gelangten zu einem ähnlichen Ergebnis. In ihrer Modellierung der Effekte nominaler Lohnrigiditäten auf die wirtschaftliche Entwicklung verhindern diese im Falle der Preisstabilität Reallohnkürzungen. Hierdurch geraten Finnen möglicherweise gerade in wirtschaftlich kritischen Phasen unter verstärkten Kostendruck. Mit der Zunahme solcher Ineffizienzen kommt es schließlich zu Entlassungen und sinkender Beschäftigung. Bei dem Vergleich konstanter Inflationsraten von drei und null Prozent gelangen Akerlof, Dickens und Perry dabei in einem Simulationsmodell für die USA bzw. in einem empirischen Zeitreihenmodell zu Unterschieden in der „sustainable rate of unemployment" zwischen einem Prozentpunkt und 2,5 Prozentpunkten. Höhere Arbeitslosigkeit stellt ihrer Auffassung nach den Preis für niedrigere Inflation dar. Damit wird ein alter Gedanke wieder aufgegriffen, der der Inflation die Funktion eines „Schmiermittels" für die wirtschaftliche Entwicklung beimißt (Tobin 1972). Mit Hilfe der Geldentwertung sollen die angeblich negativen Wirkungen nominaler Rigiditäten gemildert, im Falle des Arbeitsmarktes also Entlassungen vermieden werden (Fischer 1996). Bei der Beurteilung von empirischen Untersuchungen wie der von Akerlof, Dickens und Perry darf jedoch nicht vergessen werden, daß sie darin Daten aus einem Umfeld auswerten, in dem es Null-Inflation nicht gegeben hat. Insofern kann daraus nicht ohne weiteres der Rückschluß eines Fortbestehens der erwähnten Starrheiten bei andauernder Preisstabilität gezogen werden. Eine Abnahme dieser Rigiditäten und der mit ihnen verbundenen Kosten im Zuge anhaltender Geldwertstabilität ist dagegen aufgrund der damit einhergehenden Erwartungsänderungen eher anzunehmen. Aus den Erfahrungen in Deutschland wird zudem deutlich, daß die Tarifpartner bei Lohnverhandlungen nicht grundsätzlich einer Geldillusion unterliegen, sondern auf veränderte Inflationserwartungen auch bei den Lohnabschlüssen entsprechend reagieren. Darüber hinaus bieten Produktivitätsfortschritte den Unternehmen bei unveränderten Nominallöhnen Raum für etwaige Reallohnanpassungen.

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Als weiteres Argument gegen absolute Preisniveaustabilität wird darauf verwiesen, daß es für eine Zentralbank im Falle einer erwarteten Inflationsrate von Null Prozent nicht möglich sei, zur Stimulierung der Wirtschaft in einer rezessiven Phase einen negativen kurzfristigen Realzins zu erreichen (Summers 1991). Auch diese These vermag jedoch generell nur wenig zu überzeugen. Zum einen bedarf eine expansive Geldpolitik nicht notwendigerweise negativer realer Zinsen. Meist können hinreichend stimulierende Effekte schon durch niedrige positive Realzinsen erreicht werden. Ferner kann die Geldpolitik auch bei Realzinsen von Null fast beliebige expansive Wirkungen über Offenmarktoperationen und Devisenankäufe mit entsprechenden Effekten bei Wechselkurs und Liquidität erzielen. Zum anderen stellt sich grundsätzlich die Frage, inwieweit eine Notenbank überhaupt konjunkturpolitische Aufgaben übernehmen soll. So ist die Gefahr, mit einer zu expansiven Geldpolitik die Grundlage für einen neuen Inflationsschub zu legen, nicht zu unterschätzen. Die dann auftretenden Kosten bei der Rückführung erhöhter Inflationsraten sprechen eher gegen den Einsatz der Geldpolitik zur Stimulierung der Wirtschaft in konjunkturellen Schwächephasen, zumal der realwirtschaftliche Erfolg eines antizyklischen Eingreifens der Notenbank - wenn er überhaupt eintritt - nur kurzfristiger Natur ist. Grundsätzlich ist davor zu warnen, die Notenbank für eine Aufgabe verantwortlich zu machen, mit der sie in die politische Auseinandersetzung hineingezogen wird und mit der sie ohnehin überfordert ist. Vorzuziehen ist deshalb eine dauerhaft an dem Ziel der Preisstabilität ausgerichtete, mittelfristig orientierte Politik. Für diese aber ist die Zugriffsmöglichkeit auf negative Realzinsen in aller Regel nicht notwendig. Schließlich deuten Simulationsuntersuchungen darauf hin, daß im Falle von externen Nachfrageschocks, in denen ein Gegenhalten der Geldpolitik vertretbar ist, die mit der fehlenden Möglichkeit negativer Realzinsen einhergehenden WohlfahrtsVerluste klein sind (Fuhrer und Madigan 1994). Insgesamt sind also die Argumente, nach denen positive Inflationsraten dazu beitragen sollen, unerwünschte Restriktionen aufgrund nominaler Rigiditäten zu umgehen, indem sie sowohl nominale Lohnrigiditäten abfangen als auch einen gewissen geldpolitischen Handlungsspielraum aufrechterhalten, wenig überzeugend. Zudem hat auch geringe Inflation ihren Preis, und die Studien über die Kosten, die selbst niedrige Inflation nachsichziehen, zeigen, daß dieser alles andere als vernachlässigbar ist. Die Umgehung von Inflationswirkungen, insbesondere die Absicherung finanzieller Transaktionen, ist ebenso mit realen Kosten verbunden wie die Fehldispositionen und Fehlinvestitionen, die aus verzerrten Preissignalen resultieren. Außerdem zu bedenken sind die verzerrenden Wirkungen im Zusammenspiel mit dem Steuersystem, die kalte Progression und Scheingewinnbesteuerung mitsichbringen. Hinzu kommt, daß die größere Volatilität, die meist mit zunehmenden Inflationsraten einhergeht, wegen des dadurch gestiegenen Risikos langfristiger nominaler Kontrakte zu steigenden Risikoprämien und einem höheren langfristigen Zinsniveau führen kann. Gleichzeitig hebt bei einem auf dem Nominalwertprinzip aufbauenden Steuersystem auch niedrige Inflation über die Kapitalertragssteuer die reale Steuerbelastung in diesem Bereich an. Damit vergrößert sie die Differenz zwischen der realen Rendite vor und nach Steuern, so daß sowohl die Bedingungen für Ersparnisbildung als auch für Investitionen weniger attrak-

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tiv werden. Geringe Preissteigerungsraten hemmen also auch über ihre Wirkung auf die Realzinsen das wirtschaftliche Wachstum. In diesem Zusammenhang kommt Feldstein (1996,) in einer Studie für die USA selbst bei niedrigen Inflationsraten zu ganz erheblichen gesamtwirtschaftlichen Kosten. Seine Berechnungen stellen die zusätzlichen Belastungen, die durch eben dieses Zusammenspiel von Inflation und Kapitalertragssteuem entstehen, in den Vordergrund. Jedwede Inflation verschärft dabei die durch diese Steuern hervorgerufenen Verzerrungen in der intertemporalen Ressourcenallokation über eine weitere Verminderung der Rendite auf Ersparnisse, so daß selbst eine verhältnismäßig niedrige Inflation noch große zusätzliche Netto-Wohlfahrtsverluste zur Folge hat. Für die USA veranschlagt Feldstein die Kosten, die allein durch eine Inflationsrate in Höhe von nur zwei Prozent versus Null-Inflation verursacht werden, jährlich auf ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts. In einer an Feldstein angelehnten Studie gelangen Tödter und Ziebarth {1991) für Deutschland zu ähnlichen Resultaten, mit noch deutlich höheren Kosten. Die Debatte um die 'Null-Inflation' steht erst am Beginn. Mögen die empirischen Ergebnisse über die Kosten selbst niedriger Inflationsraten im einzelnen auch umstritten sein, so muß man sich doch mit den damit verbundenen Argumenten emsthaft auseinandersetzen. Mit dem einfachen Hinweis auf (historische) Nominallohnrigiditäten und den potentiellen 'Bedarf an negativen Realzinsen ist es jedenfalls nicht getan. Die Studien von Feldstein und anderen haben deutlich gemacht: Es gilt, die transitorischen Verluste, die durch den Übergang zur Null-Inflation entstehen, zu vergleichen mit den langfristig anhaltenden Gewinnen, die im Falle vollständiger Geldwertstabilität aus einer effizienteren Ressourcenallokation entstehen. Vor diesem Hintergrund wird vor allem deutlich, wie belastend bereits geringe Preissteigerungsraten sein können und welche gesellschaftlichen Kosten häufig als mehr oder weniger irrelevant niedrig bezeichnete Inflationsraten von drei bis vier Prozent mit sich bringen. Wer diese heute gar für nützlich hält, riskiert, sich morgen bei deutlich höheren Preissteigerungsraten wiederzufinden. Denn auch eine geringe Inflation kann von der Notenbank möglicherweise nicht im Zaum gehalten werden, weil in einem solchen Umfeld die Inflationserwartungen nicht genügend stabilisiert werden. Dann aber sieht sich die Wirtschaft mit dem Problem konfrontiert, daß allein die Verhinderung eines weiteren Anstiegs in zweistellige Raten mit erheblichen Kosten verbunden ist. Bei dieser rein instrumentellen Betrachtung der Inflation geht jedoch der Bezug zum gesamten Wirtschafts- und Gesellschaftssystem leicht verloren. In diesem Zusammenhang sind Inflation und Glaubwürdigkeit nicht nur gleichsam buchhalterisch unter Kostengesichtspunkten zu sehen, sondern vor allem unter dem ordnungspolitischen Aspekt, daß eine glaubwürdige Politik der Preisstabilität das Vertrauen in ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem mitbegründet.

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IV. Die Suche nach der Geldverfassung Die Geldwertstabilität als ordnungspolitisches Problem begreifen heißt, nach einer entsprechenden institutionellen Vorkehrung zu verlangen. Diese sollte den Extremfall der Hyperinflation ausschließen und die dauerhafte Bewahrung der Geldwertstabilität nicht nur ermöglichen, sondern, so weit es eben geht, sichern. Es kann nicht überraschen, daß Euckens Überlegungen sich genau auf dieser Linie bewegen. Die Systemgerechtigkeit, nach der Währungsverfassung und Wirtschaftsverfassung auf demselben Prinzip aufzubauen sind, aber auch die negativen Erfahrungen mit Notenbankleitungen, denen freies Ermessen eingeräumt war, verlangen nach einem möglichst automatisch wirkenden Währungssystem {Eucken 1955, 255 ff.). Nachdem Eucken ursprünglich für die Rückkehr zum Goldstandard plädiert hatte, sprach er sich später für einen Waren-Reserve-Standard aus. Nach vernichtenden Kritiken {Friedman 1953) hat dieser zeitweise durchaus populäre Plan kaum mehr Anhänger gefunden. Ähnlich nüchtern fallt die Bilanz fiir alle Vorschläge aus, der Notenbank - möglichst auf der Verfassungsebene - eine ein für allemal fixierte Geldmengenregel vorzugeben. Alles in allem führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei: Jahrzehntelange wissenschaftliche Bemühungen, ein möglichst perfekt funktionierendes - und mit der begründeten Aussicht auf insgesamt befriedigende gesamtwirtschaftliche Ergebnisse verbundenes - Geldsystem zu entwickeln, haben (jedenfalls bisher) nicht zu einer überzeugenden Lösung geführt. Resignation bleibt diesem Befund gegenüber keine akzeptable Alternative. Es bleibt die große Aufgabe, Vorkehrungen zur Sicherung auf der konstitutionellen Ebene zu treffen. Dafür existieren praktikable Vorschläge.

V. Unabhängigkeit der Notenbank und klare Zielvorgabe Bei der Ausgestaltung der rechtlichen Rahmenbedingungen für eine Notenbank empfiehlt es sich, an die Erfahrung mit alternativen institutionellen Arrangements anzuknüpfen. Den Weg weist dabei der empirische Befund, nach dem eine eindeutige Beziehung zwischen Unabhängigkeit der Notenbank und Geldwertstabilität besteht. Nicht von ungefähr ist daher auch weltweit eine Tendenz zu registrieren, nach der Notenbanken von der Abhängigkeit von ihren Regierungen befreit und mehr oder weniger in den Status der Unabhängigkeit entlassen werden (vgl. Issing 1993). Unabhängigkeit der Notenbank kann freilich nicht Freiheit in der Wahl des Zieles einschließen, sondern nur Autonomie in der Verfolgung der vom Gesetzgeber vorgegebenen Aufgabe bedeuten. In diesem Sinne ist auch die Vorschrift in § 12 Bundesbankgesetz zu verstehen, nach der die Deutsche Bundesbank bei der Ausübung der Befugnisse, die ihr nach diesem Gesetz zustehen, von Weisungen der Bundesregierung unabhängig ist. Die geldpolitische Aufgabe der Bundesbank ist im Bundesbankgesetz unmißverständlich festgelegt. Nach § 3 besteht diese darin, „den Geldumlauf und die Kreditversorgung der Wirtschaft [zu regeln] mit dem Ziel, die Währung zu sichern". Zwar ist die Bundesbank nach § 12 auch dazu angehalten, „die allgemeine Wirtschafts-

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politik der Bundesregierung zu unterstützen", doch ist diese Verpflichtung ausdrücklich an die Bedingung „unter Wahrung ihrer Aufgabe" geknüpft. Im Konfliktfall hat also die stabilitätspolitische Verpflichtung Vorrang. In Anlehnung an das 'deutsche Modell' sieht der Vertrag von Maastricht auch für das Europäische System der Zentralbanken (ESZB) eine Regelung vor, die zum einen im ersten Absatz des Artikels 105 des EG-Vertrages über die Ziele und Aufgaben des ESZB als deren vordringliches Ziel die Gewährleistung der Preisstabilität bestimmt. Zum anderen legt sie in Artikel 107 die Unabhängigkeit der Beschlußorgane der ESZB von „Weisungen von Organen oder Einrichtungen der Gemeinschaft, Regierungen der Mitgliedsstaaten oder anderen Stellen" fest. Um dabei die personelle Unabhängigkeit der Beschlußorgane sicherzustellen, erstreckt sich nach Artikel 14 des ergänzenden Protokolls die Amtszeit der Präsidenten der teilnehmenden Notenbanken auf mindestens fünf Jahre und die der Direktoriumsmitglieder nach Artikel 11 dieses Protokolls auf acht Jahre, für letztere ohne die Möglichkeit der Wiederernennung. Gleichzeitig kann ein Mitglied des Direktoriums nur auf Antrag des Rates der Europäischen Zentralbank oder des EZB-Direktoriums durch den Europäischen Gerichtshof seines Amtes enthoben werden, wenn es „die Voraussetzungen für die Ausübung seines Amtes nicht mehr erfüllt oder eine schwere Verfehlung begangen hat". Auch die Präsidenten der Nationalbanken können nur aus diesen Gründen entlassen werden und haben die Möglichkeit, gegen eine entsprechende Entscheidung den Europäischen Gerichtshof anzurufen. Obwohl eindeutig die Priorität der Preisstabilität in der Geldpolitik und auch die Weisungsunabhängigkeit der Beschlußorgane formal festgelegt sind, können die bestehenden Bestimmungen unter personellen Gesichtspunkten diese Unabhängigkeit nicht endgültig garantieren. Insbesondere die eher kurze Amtsperiode der Präsidenten der teilnehmenden Notenbanken von mindestens fünf Jahren mit der Option einer erneuten Berufung bietet theoretisch die Möglichkeit der Einflußnahme von Seiten nationaler Regierungen {Neumann 1991). Darüber hinaus kann eine solche Regelung auch nicht als justitiabel im Sinne einer persönlichen Haftung der Verantwortlichen für die Gewährleistung der Preisstabilität angesehen werden. Vertreter des Public Choice verlangen deshalb ein sanktionsbewehrtes Arrangement, in dem Bestrafung im Falle der Zielverfehlung droht und möglicherweise auch Prämien bei Erfolg winken. Diese Überlegungen gehen ganz generell davon aus, daß es bisher nicht gelungen ist, das gewünschte Ergebnis der Politik, nämlich Geldwertstabilität, durch die Konstruktion von automatisch wirkenden Regelmechanismen zu garantieren. Infolgedessen soll dieses Ziel also über ein auf die Nutzenmaximierung des Individuums setzendes Anreizsystem angestrebt werden. Als erster und soweit bekannt bisher einziger Staat hat Neuseeland diesen Weg gewählt. Dort wurde die Notenbank grundsätzlich auf das Ziel der Preisstabilität verpflichtet. Die genauen Modalitäten werden in einem Abkommen zwischen dem Finanzminister und dem Notenbankgouverneur festgelegt; erfüllt dieser die vereinbarte Aufgabe nicht, kann er auf Vorschlag des Ministers vorzeitig entlassen werden (Fischer 1995, 34-38). Hat die Wissenschaft in Form des Public Choice also doch wenigstens für die Geldpolitik den Stein der Weisen gefunden, d. h. ein System, das unabhängig von den handelnden Personen das gesellschaftlich gewünschte Ergebnis, nämlich in allen Situatio-

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nen stabiles Geld, liefert? So einfach, wie dies von den Vertretern dieser Lehre gelegentlich dargestellt wird, liegt leider auch dieser Casus nicht. Personenbezogene Sanktionen sind nach allgemeinem Verständnis wohl nur dann sinnvoll, wenn individuelles Fehlverhalten vorliegt, in diesem Falle also geldpolitisch verursachte Inflation. Preissteigerungen, hervorgerufen etwa durch Erhöhungen indirekter Steuern, Verschlechterungen der Terms of trade oder stabilitätswidrige Tarifabschlüsse, sind daher als exogen bedingte Vorgänge auszunehmen. Mit dem Einbau entsprechender Ausnahme-Klauseln, wie sie im übrigen in den meisten Ländern, deren Zentralbanken ein 'inflation target' verfolgen, vorgesehen sind, verliert das Arrangement jedoch seinen eindeutigen Charakter. Das Ausmaß einer etwaigen Zielverfehlung wird zwangsläufig Gegenstand kontroverser Diskussionen; die Zurechnung zu den Entscheidungen einzelner Personen wird vor allem dann problematisch, wenn man die beträchtlichen Wirkungsverzögerungen der Geldpolitik bedenkt. Dies bedeutet im übrigen keineswegs, alle Überlegungen des Public Choice zur Ausgestaltung von Notenbankverfassungen zu verwerfen. Ernennungsmodus und Amtsdauer, Wiederberufung oder einmaliges, aber längerfristiges Mandat sind zweifellos wichtige Elemente, die bei der Entscheidung für den Notenbankstatus bedacht sein wollen. Die Absicht jedoch, quasi narrensichere Vorkehrungen durch den richtigen institutionellen Rahmen schaffen zu wollen, erzeugt Erwartungen, die letztlich nicht erfüllbar sind. Enttäuschungen könnten nicht ausbleiben und müßten dem berechtigten Anliegen schaden. Karl Popper hat die Grenzen für diesen Versuch klar gesehen. So verwirft er zwar auf der einen Seite den reinen Personalismus, hält aber auch den reinen Institutionalismus für undurchführbar: „Es ist nicht nur so, daß die Konstruktion von Institutionen wichtige persönliche Entscheidungen nötig macht: das Funktionieren auch der besten Institutionen ... hängt stets in beträchtlichem Ausmaß von den Personen ab, die im Rahmen dieser Institutionen arbeiten. Institutionen sind wie Festungen; sie müssen wohlgeplant u n d wohlbemannt sein." (Popper 1957, 177). Der Königsweg eines perfekten Regelsystems für die Geldpolitik bleibt nach allen Erkenntnissen wenigstens bisher verschlossen. Der Status der Unabhängigkeit ist bis jetzt die beste Vorkehrung gegen den Mißbrauch der Geldschöpfung für politische Zwecke. Unabhängigkeit der Notenbank stellt solange eine notwendige Bedingung dar, wie es nicht gelingt, eine bessere Geldverfassung zu finden. Hinreichend für die Sicherung der Geldwertstabilität ist die Unabhängigkeit freilich keineswegs. Gegen eine Front von gesellschaftlichen Ansprüchen, die unbelehrbar die produktiven Möglichkeiten überschreiten, bleibt auf Dauer auch eine unabhängige Notenbank machtlos. Der Versuch, den Geldwert zu wahren, muß unter diesen Umständen in unerträgliche gesamtwirtschaftliche und gesellschaftliche Spannungen fuhren. Der Hinweis auf die Interdependenz der Ordnungen mag an dieser Stelle überraschen, trifft aber wohl den Kern der Fragilität eines in seinen Teilen unausgewogenen Gesellschaftssystems. Jede Notenbank wäre mit der Aufgabe überfordert, Stabilität zu wahren, wenn die übrigen Bereiche ihren Beitrag verweigern. Eine unabhängige Notenbank kann jedoch, vor allem vor dem Hintergrund einer Vergangenheit, die ihr ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit verleiht, auch unter schwierigen Bedingungen versuchen,

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für eine gewisse Zeitspanne den Rahmen für die Rückkehr zum Konsens in Stabilität zu gewährleisten. Literatur Akerlof, George A., William T. Dickens und George L. Perry (1996), The Macroeconomics of Low Inflation, Brookings Papers on Economic Activity, Bd. 1, S. 1-76. Eucken, Walter (1955), Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 2. Aufl., Tübingen. Feldstein, Martin (1996), The Costs and Benefits of Going from Low Inflation to Price Stability, NBER Working Paper Nr. 5469, Cambridge Mass. Fischer, Andreas (1995), New Zealand's Experience with Inflation Targets, in: Leonardo Leiderman, Lars E. O. Svensson (Hrsg.), Inflation Targets, London, S. 32-52. Fischer, Stanley (1996), Why are Central Banks Persuing Long-Run Price Stability?, in: Achieving Price Stability, A Symposium Sponsored By The Federal Reserve Bank of Kansas City, S. 7-34. Friedman, Milton (1953), Commodity Reserve Currency, in: Milton Friedman (Hrsg.), Essays in Positive Economics, Chicago, S. 205-250. Fuhrer, Jeff und Brian Madigan (1994), Monetary Policy When Interest Rates are Bounded at Zero, Federal Reserve Bank of Boston Working Paper Series, Nr. 94-1. Issing, Otmar (1993), Unabhängigkeit der Notenbank und Geldwertstabilität, Akademie der Wissenschaften und Literatur, Mainz. Neumann, Manfred J.M. (1991), Precommitment By Central Bank Independence, Open Economies Review, Bd. 2, S. 95-112. North, Douglas (1986), The New Institutional Economics, Journal of Institutional and Theoretical Economics, Bd. 142, S. 230-237. Popper, Karl R. (1957), Der Zauber Piatons: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band I, Bern 1957, S. 177. Summers, Lawrence (1991), How Should Long-Term Monetary Policy Be Determined?, Journal of Money, Credit, and Banking, Bd. 23, S. 625-631. Tobin, James (1972), Inflation and Unemployment, The American Economic Review, Bd. 62, S. 1-18.

Tödter, Karl-Heinz und Gerhard Ziebarth (1997), Price Stability vs. Low Inflation in Germany, Diskussionspapier fur die NBER-Konferenz The Costs and Benefits of Achieving Price Stability bei der Federal Reserve Bank of New York vom 20. bis 21. Februar 1997. Zweig, Stefan (1955), Die Welt von Gestern, Frankfurt. Zusammenfassung Der Zusammenbruch des Systems sozialistischer Planung zeigt, daß sich eine Wirtschaft auf Dauer nicht gegen die Gesetze des Marktes und die Interessen der Bürger organisieren läßt. Gleichzeitig bedarf sie einer Ordnung, die die Rahmenbedingungen des Wettbewerbs festlegt und die Wechselbeziehungen zwischen Wirtschaft, Staat und Gesellschaft regelt. Zu den grundlegenden Prinzipien einer solchen Ordnung gehört die Geldwertstabilität. Mit Inflation wächst die Gefahr der Fehlallokation und unerwünschter Effekte auf die Einkommens- und Vermögensverteilung mit all ihren politischen Folgen. Über die von Hyperinflationen ausgehenden Gefahrdungen herrscht - als Folge einschlägiger historischer Erfahrungen - inzwischen Einigkeit. Inwiefern auch noch die Bekämpfung niedriger Inflationsraten von gesamtwirtschaftlichem Nutzen ist, bleibt dagegen eine umstrittene Frage. Die Verfechter positiver Preissteigerungsraten betonen ne-

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ben den 'Meßfehlern' der gängigen Preisindizes vor allem den Nutzen mäßiger Inflation als 'Schmiermittel' im Wirtschaftsprozeß. Ihre Argumente vermögen jedoch nicht zu überzeugen. Vielmehr läßt sich zeigen, daß selbst niedrige Inflationsraten mit ganz erheblichen Kosten verbunden sind. Nicht zuletzt wegen Nichtneutralitäten im Steuersystem kommt es selbst bei mäßiger Geldentwertung zu einer Verstärkung der Ineffizienzen in der Ressourcenallokation. Preisstabilität muß somit sowohl unter Effizienzgesichtspunkten als auch unter ordnungspolitischen Aspekten Ziel einer verantwortungsbewußten und glaubwürdigen Geldpolitik sein. Um dies zu gewährleisten, gilt es, institutionelle Vorkehrungen zu treffen, die soweit wie möglich die Verfolgung des Ziels der Preisstabilität durch die Geldpolitik garantieren. Der Königsweg eines perfekten Regelsystems für die Geldpolitik ist zwar bisher nicht gefunden worden. Doch hat sich die Unabhängigkeit der Notenbank als durchaus wirkungsvolle Vorkehrung gegen den Mißbrauch der Geldschöpfung für politische Zecke erwiesen. Letztlich müssen allerdings alle Bereiche der Wirtschaftspolitik - neben der Geldpolitik also insbesondere die Finanz- und die Lohnpolitik - stabilitätskonform agieren, um die Früchte wertbeständigen Geldes dauerhaft ernten zu können. Summary Monetary Stability as a Problem of Order Policy The collapse of the eastern bloc with its system of central planning shows that, in the long run, no economy can be run in defiance of the laws of the market and against the interests of the population. At the same time, every economy requires a structured order which establishes the underlying conditions of competition and regulates the interrelationships between the economy, the state and society at large. One of the fundamental principles of such an order is monetary stability. Inflation increases the risk of misallocations and undesirable effects on the distribution of income and wealth, with all the attendant political repercussions. As a result of the lessons of past experience, there is now agreement on the acute dangers emanating from hyperinflation. Opinions still vary, however, on the macroeconomic usefulness of combating low rates of inflation. The advocates of positive rates of price increases emphasise above all the benefits of moderate inflation as a 'lubricant' in the economic process, as well as pointing to the 'measuring errors' of conventional price indices. Their arguments are unconvincing, however. Instead, it can be shown that even low rates of inflation entail quite considerable costs. Not least owing to the non-neutralities in the tax system, inefficiencies in the allocation of resources increase even in the case of moderate monetary erosion. Price stability must therefore be the aim of any responsible and credible monetary policy both from the point of view of efficiency and considering aspects of the economic system. To ensure price stability, institutional arrangements must be put in place which as far as possible guarantee the pursuit of the objective of price stability by the monetary policy makers. Although the magic formula for a perfect regulatory system for monetary policy has not yet been discovered, the independence of the central bank has proved to be quite an ef-

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fective defence against the abuse of money creation for political ends. Ultimately, however, all economic policy makers - thus, besides monetary policy makers, fiscal policy makers and wage policy makers, in particular - must act in conformity with the requirement of monetary stability so as to be able to harvest the fruits of stable money in the long run.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1997) Bd. 48

H. Jörg Thieme

Geldpolitik in Deutschland: Anspruch und Wirklichkeit Inhalt I. Phasen der deutschen Geldpolitik 1. Konstituierung eines unabhängigen Zentralbanksystems 2. Die siebziger Jahre: Außenwirtschaftliche Schocks und Verteilungskämpfe 3. Die achtziger Jahre: Aufbau von Reputation 4. Die neunziger Jahre: Im Spannungsfeld zwischen Deutscher Einheit und Europäischer Union II. Monetäre Zielverfehlungen: Ursachen und Konsequenzen 1. Strategiebewährung - Strategiebewahrung 2. Zwischenziel- und Indikatorwahl 3. Instrumentenwahl 4. Unabhängigkeit der Zentralbank 5. Anreize zur stabilitätskonformen Geldpolitik Literatur Zusammenfassung Summary: Monetary Policy in Germany: Objectives und Economic Reality

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Es sind verschiedene Anlässe, die es nahelegen und interessant erscheinen lassen, die Geldpolitik der Deutschen Bundesbank einer kritischen Analyse zu unterziehen: 1998 jährt sich zum fünfzigsten Male die Geburtsstunde der heutigen Notenbank, die wahrscheinlich in Kürze ihre gesamten geldpolitischen Befugnisse auf die Europäische Zentralbank übertragen wird. Damit geht eine Ära deutscher Geldpolitik zu Ende, die aus verschiedenen Gründen aufschlußreich ist: - Im internationalen Vergleich hat die Deutsche Bundesbank - dies sei vorweg gesagt in den fünfzig Jahren recht erfolgreich Geldwertminderungen größeren Ausmaßes verhindert, was angesichts der deutschen Erfahrungen mit zwei Hyperinflationen in diesem Jahrhundert bemerkenswert ist. - Die Deutsche Bundesbank hat unter sich zügig und drastisch ändernden Umweltbedingungen ein hohes Maß an geldpolitischer Flexibilität bewiesen, ohne ihren bereits 1957 - allerdings recht vage - formulierten Gesetzesauftrag („Sicherung der Währung"; § 3 Bundesbankgesetz) dauerhaft zu gefährden. - Der Bundesbank ist es dadurch nicht nur gelungen, im internationalen Institutionenwettbewerb eine bemerkenswerte Reputation als Garant stabilitätskonformer gesamtwirtschaftlicher Entwicklung zu erhalten; sie hat mit ihrer Politik der relativen 'DMStärke' zugleich ein zentrales Identifikationssymbol für die Menschen in einem nicht

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souveränen, lange Zeit besetzten Land geschaffen, dessen Integrationskraft - wie die gegenwärtigen emotionalen Widerstände gegen die Einfuhrung des Euro zeigen nicht gering zu veranschlagen ist. Gleichwohl: Die Deutsche Bundesbank hat ihren Stabilitätsauftrag nicht immer erfüllt und die selbstgesetzten strategischen Ziele häufig verfehlt. Sie hat drei Inflationszyklen zugelassen (Abb. 1), durch die die Kaufkraft der D-Mark seit ihrem Bestehen auf nunmehr ca. 25% reduziert wurde. Sie hat ihre Stabilitätsbemühungen und ihre geldpolitische Strategie so erfolgreich 'exportiert', daß einige, insbesondere europäische Länder ihre Notenbankverfassungen und geldpolitischen Rahmenbedingungen in den vergangenen 10 Jahren radikal verändert haben mit der Konsequenz bemerkenswerter Erfolge bei der Inflationsbekämpfung. In der Öffentlichkeit kaum registriert, hat der - von der Bundesbank selbst initiierte - institutionelle Wettbewerb bewirkt, daß sie ihre 'Musterschüler-Funktion' verloren hat. Worin lagen Stärken und Schwächen der deutschen Geldpolitik, und welche Konsequenzen resultieren daraus für eine optimale Geldpolitik der zukünftigen Europäischen Zentralbank? Bestanden institutionelle Mängel, die eine zielorientierte Geldpolitik verhindert haben? Oder waren es die Eigeninteressen der geldpolitischen Akteure, die Abweichungen von der optimalen geldpolitischen Strategie begründeten? Diese Fragen sollen für einzelne Phasen deutscher Geldpolitik beantwortet werden, woraus sich allgemeine Konsequenzen für eine stabilitätsorientierte Geldpolitik in Europa ableiten lassen.

I. Phasen der deutschen Geldpolitik 1. Konstituierung eines unabhängigen Zentralbanksystems Während der Vorbereitungen zur Währungsreform im Jahre 1948 gründeten die Alliierten in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands ein zweistufiges Zentralbanksystem nach dem Vorbild des amerikanischen Federal Reserve System. Den zunächst rechtlich selbständigen Landeszentralbanken wurde zum 1. März 1948 als zentrales Organ die Bank Deutscher Länder übergeordnet. Oberstes Ziel der Alliierten war es, eine Abhängigkeit des Zentralbanksystems von politischen Instanzen zu vermeiden. Abschreckendes Beispiel war die vollständige politische Abhängigkeit der Reichsbank, die durch Geldproduktion den Zweiten Weltkrieg finanzieren mußte und dadurch jene Hyperinflation verursachte, die den Zusammenbruch des deutschen Währungssystems begründete. Deshalb wurde die Bank Deutscher Länder unabhängig von deutschen politischen Instanzen (Wandel 1980, 49), 1951 auch gegenüber den Alliierten. Der Bund war durch das Grundgesetz (Artikel 88) verpflichtet, das für die Bank Deutscher Länder geltende Besatzungsrecht durch deutsches Recht zu ersetzen. Dies geschah am 26. Juli 1957 mit dem Bundesbankgesetz, das die Bank Deutscher Länder durch die Deutsche Bundesbank ablöste und ein einstufiges Notenbanksystem etablierte; die Landeszentralbanken verloren damit ihre rechtliche Selbständigkeit {Möller 1976, 453).

Geldpolitik in Deutschland: Anspruch und Wirklichkeit • 181 Abbildung 1: Inflationszyklen (Veränderungsraten gegenüber dem Voijahresquartal) v.H.

8

6 4

2 0

-2

Quelle: Deutsche Bundesbank, Saisonbereinigte Wirtschaftszahlen, verschiedene Jahrgänge; eigene Berechnungen. Die Geldpolitik orientierte sich zunächst - wegen der Mitgliedschaft der Bundesrepublik in der Europäischen Zahlungsunion und im Internationalen Währungsfonds - an außenwirtschaftlichen Größen wie der Entwicklung der Zahlungsbilanz und dem Wechselkurs gegenüber dem US-Dollar. Der Zentralbankrat setzte Refinanzierungs- und Mindestreserveinstrumente zur Liquiditäts- und Zinssteuerung ein (Schlesinger 1976). Ende 1958 waren die meisten Kapitalverkehrskontrollen beseitigt, und die D-Mark wurde konvertibel. Die Deutsche Bundesbank hatte wegen des Wechselkursziels gegenüber dem US-Dollar keinen binnenwirtschaftlichen Handlungsspielraum mehr. Nach erheblichen Interventionen zugunsten des unter Abwertungsdruck geratenen US-Dollars in den sechziger Jahren ging die Kontrolle über die Geldmenge verloren, und die Inflationsraten stiegen. Diese Entwicklung konnte auch durch verschiedene Aufwertungen der D-Mark im Bretton-Woods-System nicht verhindert werden (Emminger 1978; Issing 1995). Bis Anfang der siebziger Jahre versuchte die Deutsche Bundesbank, ihre geldpolitische Zielsetzung durch die Steuerung der freien Liquiditätsreserven der Banken zu erreichen. Die freien Liquiditätsreserven umfaßten neben den Überschußguthaben der inländischen Banken bei der Notenbank alle liquiden Aktiva, die jederzeit in Zentralbankgeld umgewandelt werden können (sogenanntes potentielles Zentralbankgeld). Die Grundidee dabei war, daß die Banken zur Erhaltung ihrer Zahlungsfähigkeit einen Restbestand an Liquidität als 'eiserne Reserve' halten. Die Deutsche Bundesbank wollte durch Veränderung der Liquiditätsreserven das Kreditvergabeverhalten der Banken und damit indirekt die Geldbestände beeinflussen. Problematisch bei der Steuerung der Li-

1 8 2 • H. Jörg Thieme

quiditätsreserven war, daß eine Abnahme der Liquiditätsreserven nicht unbedingt einen Anstieg des Geldvolumens (z.B. der Bargeldbestände oder der Sichteinlagen) bewirkte. Auch Devisenabflüsse hätten die Liquiditätsabnahme verursacht haben können. Ein direkter Zusammenhang zwischen Liquiditätsentwicklung und Wachstum des Geldvolumens existierte nicht (Siebke und Willms 1974). Mit dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems im März 1973 begann die Bundesbank, ihre bisherige Politik zu überdenken. Hierzu trugen nicht nur die aktuellen Ereignisse auf den Devisenmärkten bei, sondern auch und insbesondere die neueren Erkenntnisse der geldtheoretischen Diskussion, die in den sechziger Jahren zwischen Keynesianem und Monetaristen intensiv geführt wurde (Thieme 1972 und 1982). Ende 1972 störten heftige Spekulationswellen auf den Devisenmärkten die außenwirtschaftliche Absicherung der deutschen Geldpolitik. Die Flucht aus dem US-Dollar in die DMark, die schon damals wichtigste Ausweichwährung war, reduzierte die Dollarkurse und zwang die Deutsche Bundesbank zu umfangreichen Stützungskäufen. Im Rahmen dieser unfreiwilligen Zentralbankgeldschöpfung stiegen die Geldbestände und Quasigeldbestände im Zeitraum von Ende Dezember 1972 bis Ende März 1973 (saisonbereinigt und annualisiert) um 28% {Deutsche Bundesbank 1974). Erst die Freigabe der Wechselkurse und der Übergang zum Gruppenfloating gegenüber dem US-Dollar ('Währungsschlange') ermöglichte der Deutschen Bundesbank wieder eine stabilitätsorientierte Geldpolitik. Dennoch wurde im Bereich der Preisniveaustabilität kein befriedigender Erfolg erzielt. Denn obwohl die Liquiditätsreserven sich auf sehr niedrigem Niveau bewegten, hielten sich die Banken - entgegen der Erwartung der Notenbank - im Kreditgeschäft nicht zurück. Die Deutsche Bundesbank erkannte 1973, daß die Banken ihre freien Liquiditätsreserven wegen der mittlerweile gut entwickelten nationalen und internationalen Geldmärkte als ungenutztes Expansionspotential betrachteten. Da die Liquiditätsreserven als Steuerungsgröße ungeeignet waren, entschied sich die Bundesbank für eine Geldmengensteuerung: Seit 1973 steuerte sie die Zentralbankgeldmenge direkt. Im April 1973 kaufte sie erstmals Wechsel mit fester Rückkaufvereinbarung am offenen Markt. Die Bundesbank setzte diese sogenannten Offenmarktgeschäfte als Instrument der Feinsteuerung ein. Das erste Geldmengenziel gab die Deutsche Bundesbank 1974 für das Jahr 1975 bekannt: ein Jahresverlaufsziel von 8%. Seit der Umstellung auf die direkte Geldmengensteuerung können insbesondere drei Phasen unterschieden werden, in denen die Bundesbank die von ihr selbst gesetzten Ziele nicht erreicht hat: die erste Phase von 1975 bis 1978, in der die gesteckten Ziele teilweise erheblich überschritten wurden, eine zweite Phase Mitte der achtziger Jahre (von 1986 bis 1988) und die dritte Phase seit 1992.

2. Die siebziger Jahre: Außenwirtschaftliche Schocks und Verteilungskämpfe Durch den Ausbruch der Ölkrise im Oktober 1973 entstand ein starker Preisauftrieb, der die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands belastete. Die Bundesbank versuchte, durch monetäre Alimentierung die realwirtschaftlichen Effekte abzumildern. Die Zen-

Geldpolitik in Deutschland: Anspruch und Wirklichkeit • 183 tralbankgeldmenge wuchs 1973 um 7,8%. Im darauffolgenden Jahr hat die Bundesbank durch einen expansiven geldpolitischen Kurs die Gesamtkonjunktur gestützt und die Beschäftigung gefordert. Die Zentralbankgeldmenge stieg im Jahresverlauf 1974 um 6,2%. Das erstmals für 1975 aufgestellte monetäre Wachstumsziel wurde deutlich verfehlt; obwohl die Bundesbank im Jahresverlauf fast durchweg bei der angestrebten Rate von 8% lag, führte eine starke Geldmengenexpansion im Dezember dazu, daß die Geldmenge schließlich um 10% stieg. Um diese häufig am Jahresende zu beobachtenden Effekte auszugleichen, stellte die Bundesbank in den folgenden Jahren (bis 1978) Durchschnittsziele auf. Dennoch wurde auch 1976 das anvisierte Ziel von 8% überschritten. Für die erneute Zielverfehlung machte die Deutsche Bundesbank außenwirtschaftliche Einflüsse verantwortlich (Deutsche Bundesbank 1977). Aufgrund starker spekulativer Devisenzuflüsse war sie im Rahmen des Europäischen Wechselkursverbunds gezwungen, insbesondere Französische Franc gegen D-Mark aufzukaufen. Nachdem aber Frankreich schon Mitte März aus dem Verbund ausschied, hätte die Bundesbank einen restriktiveren Kurs verfolgen können - spätestens jedoch nach dem Realignment im Oktober 1976, das eine Aufwertung der D-Mark um 2% zur Folge hatte. Obwohl die Bundesbank erkannte, daß eine übermäßige Geldmengenexpansion der Glaubwürdigkeit der Geldpolitik schadet (Deutsche Bundesbank 1976), wurde das Ziel auch 1977 nicht erreicht. Diese wiederholte Zielüberschreitung wurde mit der starken Aufwertung der D-Mark begründet, der durch eine expansive Geldpolitik entgegengewirkt werden sollte, um die Inlandskomponenten der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage zu stützen. Auch 1978 war der geldpolitische Handlungsspielraum durch außenwirtschaftliche Vorgänge erheblich eingeengt, wie die Interventionen der Deutschen Bundesbank auf den Devisenmärkten zeigen (s. Tab. 1). Abermals führten Währungsturbulenzen im Europäischen Wechselkursverbund zu einer rapiden Höherbewertung der D-Mark. 1978 nahm die Bundesbank Devisen im Gegenwert von 24,1 Mrd. DM aus dem Markt - allein 7,9 Mrd. aufgrund von Interventionsverpflichtungen im Rahmen der europäischen Währungskooperation. Erst die erneute Aufwertung der D-Mark um 4% erweiterte den handlungspolitischen Spielraum der Deutschen Bundesbank. Die Bundesbank intervenierte jedoch nicht nur aufgrund von Interventionsverpflichtungen, sondern auch, um die in ihren Augen weit über das Preis- und Kostengefälle gegenüber dem Ausland hinausgehende Aufwertung der D-Mark auszugleichen. Darüber hinaus induzierten die Arbeitskämpfe in der Metall- und Druckindustrie erhebliche binnenwirtschaftliche Spannungen, denen die Bundesbank mit ihrer Geldpolitik entgegenwirken wollte. Das Geldmengenziel von 8% im Jahresdurchschnitt wurde 1978 erheblich überschritten. Die Zentralbankgeldmenge wuchs mit fast 12% - nur 1972 war sie mit 12,5% noch stärker gestiegen. Die Bundesbank begründete die Zielverfehlungen mit außen- und binnenwirtschaftlichen, aber auch mit spezifischen monetären Sonderfaktoren: Vermutete die Bundesbank noch Mitte 1978, daß das starke Geldmengenwachstum durch Strukturänderungen beim Bargeldbedarf bedingt sei, so zeigte sich am Jahresende ein gleichmäßiger Anstieg aller Geldmengenkomponenten (Deutsche Bundesbank 1979).

184 • H. JörgThieme

Tabelle 1: Devisenmarktoperationen der Deutschen Bundesbank und prozentuale Zielabweichung vom Geldmengenziel Jahr

Operationen am Devisenmarkt 1 [Mrd. DM]

DM-Dollar-Markt [Mrd. DM]

EWS und Schuldenregulierung2 [Mrd. DM]

Zielabweichung in Prozent(ab 1979 vom Zielband)

1975 1976 1977 1978 1979

-2,4 19,5 12,4 32,0 15,5

-0,6 2,5 10,9 24,1 7,3

-1,8 17,0 1,5 7,9 8,2

25,0 12,5 12,5 37,5 0

1980 1981 1982 1983 1984

-28,8 -7,8 -3,0 -22,5 -21,7

-18,3 -21,5 -6,6 -14,7 -23,1

-10,5 13,7 3,6 -7,8 1,4

0 0 0 0 0

1985 1986 1987 1988 1989

-16,7 -5,9 28,2 -27,4 -28,6

-16,5 2,5 10,0 -21,3 -28,6

-0,2 -8,4 18,2 -6,1 0

0 45,5 33,3 16,6 0

1990 1991 1992 1993 1994

-3,2 -5,6 60,6 -4,8 2,6

-1,6 -5,6 1,2 0 2,6

-1,6 0 59,4 -4,8 0

0 0 63,6 7,7 0

1995 1996

3,0 0

3,0 0

0 0

-10,0 24,1

1 Einschließlich Operationen anderer Notenbanken, soweit sie die Auslandsposition der Bundesbank (Veränderung bewertet zu Transaktionskursen) berühren; monatliche Angaben unter Berücksichtigung von Valutierungsfristen. 2 DM-Rückzahlungen von EWS-Partnern an die Bundesbank. Quelle: Deutsche Bundesbank, Geschäftsberichte,

laufende Jahrgänge; Bender 1995.

Insgesamt war diese erste Phase der Zielverfehlung geprägt durch den geldpolitischen Versuch, außenwirtschaftliche und verteilungskampfinduzierte Schocks zu absorbieren. Die Deutsche Bundesbank war bestrebt, die Folgen des Zusammenbruchs des Bretton-Woods-Systems und der Ölkrise im Jahr 1973 für die deutsche Wirtschaft - insbesondere ftir den Arbeitsmarkt - abzumildern, und nahm dafür in Kauf, daß die anvisierten Geldmengenziele mitunter erheblich überschritten wurden. Sie finanzierte damit den zeitverzögerten Anstieg der Inflationsrate. Nachdem die Bundesbank in den vier vorangegangenen Jahren ihre Punktziele von 8% kein einziges Mal erreicht hatte, ging sie 1979 und in den Folgejahren auf Zielkorridore mit einer Bandbreite von 2 bzw. 3 Prozentpunkten über. Nach den schlechten Erfahrungen mit den Durchschnittszielen stellte die Bundesbank wieder auf Verlaufsziele

Geldpolitik in Deutschland: Anspruch und Wirklichkeit • 185 um und verglich den Durchschnittswert des vierten Quartals mit der jeweiligen Voijahresperiode. Von 1979 bis Mitte der achtziger Jahre war das Hauptanliegen der Bundesbank, Glaubwürdigkeit zu erlangen. Inwieweit allerdings Bandbreitenziele die Glaubwürdigkeit erhöhen, ist fraglich. Die Wahrscheinlichkeit, daß die Notenbank ihr Ziel erreicht, steigt zwar, prinzipiell jedoch auch die Unsicherheit der Wirtschaftssubjekte. Dieses Problem erkannte die Bundesbank und präzisierte das angestrebte Ziel im Verlauf des Jahres. Um Glaubwürdigkeit zu gewinnen, straffte sie 1979 ihren geldpolitischen Kurs und erreichte eine Wachstumsrate von 6%, die an der unteren Grenze des anvisierten Zielkorridors von 6% bis 9% lag. Dennoch konnte sich die Bundesbank dem Sog der wieder beschleunigten Weltinflation nicht entziehen und erhielt die Quittung ihrer expansiven Geldpolitik der Voijahre.

3. Die achtziger Jahre: Aufbau von Reputation Auch 1980 behielt die Bundesbank ihren restriktiven Kurs bei und begründete ihn wiederum mit außenwirtschaftlichen Einflüssen (Abwertungstendenz der D-Mark). 1981 wuchs die Zentralbankgeldmenge nur um 4% und lag damit wieder am unteren Ende der Bandbreite von 4% bis 7%. Ab dem vierten Quartal 1981 lockerte die Deutsche Bundesbank angesichts der rezessiven Binnenkonjunktur ihren geldpolitischen Kurs. Das Wachstum der Zentralbankgeldmenge lag 1982 deutlich oberhalb des Zielkorridors. Erneut wurden Sonderfaktoren wie ein erhöhter Bargeldbedarf (Auslandsspekulation, Zunahme der Schattenwirtschaft) als Ursachen genannt. Von 1975 bis 1984 hat die Bundesbank bei der Festlegung des Geldmengenziels - neben dem erwarteten realen Wachstum - eine 'unvermeidliche Preissteigerungsrate' berücksichtigt, weil sie davon ausging, daß eine vorhandene Inflation nur schrittweise abgebaut werden kann. Sie reduzierte diesen 'Sockel' von 6% über 4% auf 2,25% und ging seit 1984 von einem 'normativen' Preisanstieg (u.a. wegen statistischer Erfassungsprobleme) in Höhe von 2% aus. Bis 1985 war die Geldpolitik stabilitätsorientiert, und die Inflationsrate wurde deutlich reduziert. 1985/86 wurde dieser Stabilitätspfad aufgegeben; schon 1986 lag das Wachstum der Zentralbankgeldmenge mit 8,2% deutlich über dem Zielkorridor (3,5% - 5,5%), was sich bis 1989 fortsetzte. Wiederum waren es außenwirtschaftliche Gründe, die die Bundesbank zur Erklärung der Geldmengenexpansion heranzog: die DM-Aufwertung und die daraus resultierende Konjunkturdämpfung, der als Folge der restriktiven US-Geldpolitik ausgelöste Börsencrash am 19. Oktober 1987 ('Schwarzer Montag') und der neuerliche Druck auf den Dollarkurs sowie die im Rahmen des Louvre-Akkord (22. Februar 1987) eingegangenen Interventionsverpflichtungen am Dollarmarkt. Erst 1989 gelang es der deutschen Geldpolitik, die Geldmenge mit etwa 5% zielorientiert wachsen zu lassen.

186 • H. Jörg Thieme

4. Die neunziger Jahre: Im Spannungsfeld zwischen Deutscher Einheit und Europäischer Union Auch die neunziger Jahre zeichnen sich durch deutliche Abweichungen des faktischen vom geplanten Geldmengenwachstums aus (s. Tab. 2), wobei die Bundesbank seit 1988 nicht mehr die Zentralbankgeldmenge, sondern M3 als Zielgröße verwendet. Die Zielüberschreitungen 1992 und 1993 begründete die Bundesbank mit ihren Interventionsverpflichtungen im Europäischen Währungssystems (EWS) (Deutsche Bundesbank 1993 und 1994a). Für das übermäßige M3-Wachstum 1994 wurden Sonderfaktoren verantwortlich gemacht: Die Änderung der Zinsbesteuerung zum 1. Januar 1994 hätte zu Tabelle 2: Zielabweichungen der Geldpolitik

Jahr

' 2

3

Ziel: Wachstum der Zentralbankgeldmenge bzw. Geldmenge M31 im Jahres- Konkretisierung im Verlauf durchim Verlauf des 2 des Jähes schnitt Jahres

1975 1976 1977 1978 1979

-

. 8 8 8

6-9

-

1980 1981 1982 1983 1984

5-8 4-7 4-7 4-7 4-6

1985 1986 1987 1988 1989

3-5 3,5-5,5 3-6 3-6 etwa 5

1990 1991 1992 1993 1994

4-6 3-53 3,5-5,5 4,5-6,5 4-6

1995 1996

4-6 4-7

8 -

-

Tatsächliche Entwicklung im Verlauf des Jahres

im Jahresdurchschnitt

10 -

Untergrenze

6

Untergrenze untere Hälfte obere Hälfte obere Hälfte

5 4 6 7 5 5 8 8 7 5 6 5 9 7 6 2 8

_ 9 9 11 -

Ziel ereicht

nein nein nein nein ja ja ja ja ja ja ja nein nein nein ja ja ja nein nein ja nein nein

Ab 1988: Geldmenge M3. Jeweils vom vierten Quartal des Vorjahres bis zum vierten Quartal des laufenden Jahres; Ausnahme 1975: Dezember 1974 bis Dezember 1975. Gemäß der Adjustierung des Geldmengenziels im Juli 1991.

Quelle: Deutsche Bundesbank, Geschäftsberichte, laufende Jahrgänge.

Geldpolitik in Deutschland: Anspruch und Wirklichkeit • 187 massiven Kapitalrückflüssen aus dem Ausland und damit zu einer Aufblähung der Geldmenge M3 geführt. Darüber hinaus hätte die Änderung der Wohnungsbauförderung schon im Vorfeld zu einer Ausweitung der Kreditvergabe und dadurch ebenfalls zu einer Ausweitung von M3 beigetragen (Deutsche Bundesbank 1994b). Die Zielunterschreitung 1995 wurde mit der hohen Geldkapitalbildung der Privaten begründet, die zu Lasten der in M3 erfaßten Termingelder gegangen sei. Auch die seit Anfang August 1994 zugelassenen, von der Vermögenssteuer bevorzugten Geldmarktfonds hätten (vorwiegend in der ersten Jahreshälfte) dazu beigetragen (Deutsche Bundesbank 1996, 69ff.). Für 1996 erweiterte sie den Zielkorridor um einen Prozentpunkt auf 4% bis 7% wegen erhöhter Unsicherheit und Volatilität der Geldmenge M3 durch stärkere Substitutionsbeziehungen zwischen geldnahen Aktiva und Geldkapital (Finanzinnovationen). Die Überschreitung des Geldmengenziels trotz erweitertem Korridor im Jahr 1996 wurde mit dem übermäßigen Wachstum der in M3 enthaltenen Spareinlagen in Form von Sondersparformen bei gleichzeitig geringer Geldkapitalbildung und einer starken Kreditvergabe der Geschäftsbanken begründet (Deutsche Bundesbank 1997). Sind die von der Bundesbank herangezogenen Argumente überzeugend? Tatsächlich war es der Bundesbank 1992 nicht möglich, die Interventionen im Rahmen des EWS zu sterilisieren. Die Devisenkäufe führten eindeutig zu einem übermäßigen Geldmengenwachstum. Da die Bundesbank keine Wechselkurshoheit hat, sondern Erfüllungsgehilfe der Bundesregierung ist, kann sie für die Zielverfehlungen nicht verantwortlich gemacht werden. Schon für 1993 ist die Begründung der Bundesbank allerdings zweifelhaft: 1993 haben keine Devisenmarktinterventionen stattgefunden, die eine Erreichung des Geldmengenziels gefährdet hätten. Vielmehr leitete die Bundesbank eine Politik der schrittweisen Zinssenkung ab Herbst 1992 ein. Diese Lockerung der Geldpolitik ist verantwortlich für die Zielverfehlungen, die nach 1992 nicht mehr durch EWSInterventionen erklärbar sind. Außerdem hat die Erweiterung der Bandbreiten am 2. August 1993 (± 15%) den geldpolitischen Spielraum der Bundesbank vollständig wiederhergestellt. Auch die immer wieder von der Bundesbank genannten Sonderfaktoren können das zeitweilig zweistellige Geldmengenwachstum nicht erklären (Mayer und Fels 1994). Andere Gründe müssen für die offenkundigen Abweichungen vom Pfad des potentialorientierten Geldmengenwachstums verantwortlich sein: - Die Deutsche Einheit verursachte innerhalb des EWS einen asymmetrischen Schock. War für Deutschland eine restriktive Geldpolitik rational, so drängten die an die DMark als Ankerwährung gebundenen Länder massiv auf Zinssenkungen in Deutschland. Die Transmission der hohen Zinsen in die Partnerländer verursachte dort unerwünschte rezessive Konjunktureffekte. Gleichzeitig widersetzten sich die Partnerländer (vor allem Frankreich) einer Aufwertung der D-Mark durch ein Realignment. Der Wechselkurs wurde, wie schon so oft, zum Politikum. Die Bundesbank geriet offensichtlich in Konflikt zwischen ihrem binnenwirtschaftlichen Ziel und der geforderten währungspolitischen Kooperation. Die Geldmengensteuerung war praktisch ausgesetzt, weil aus Rücksichtnahme auf die EWS-Partner eine Zinssteuerung betrieben wurde (Bender 1995).

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- Mögliche Erklärung für eine sehr expansive Geldpolitik in den Jahren 1993 und 1994 ist auch der politische Druck (Rezession, hohe Arbeitslosigkeit, Wahljahr) aus dem Inland auf den Zentralbankrat, die Zinssätze weiter zu senken ( p = ,p* = ?

Währungssystem und deutsche Wirtschaftspolitik • 575 Damit ist aber noch nichts über das Niveau des inflationären Gleichschritts gesagt. Es hängt ab von der Symmetrie oder Asymmetrie des Systems und von der Politik der beteiligten Länder innerhalb des jeweiligen Systems. Die zuvor geschilderte Situation läßt sich in dem bekannten Mundell-Fleming-Modell als Entwicklung bei vollkommener Kapitalimmobilität interpretieren. Internationale Anpassungsprozesse vollziehen sich ausschließlich über den Güterverkehr. Mit zunehmender internationaler Kapitalmobilität steigt aber auch der Koordinierungszwang in der kurzen Frist, bis bei vollkommener Integration der Kapitalmärkte und festen Wechselkursen die Zinsen und damit die Wirtschaftspolitik der beteiligten Länder zu keinem Zeitpunkt voneinander abweichen können. Auch hier ergibt sich dann das zuvor schon erläuterte Niveauproblem. Abhängig von der Lösung dieses Niveauproblems kann es ferner zu erheblichen Inkompatibilitäten zwischen den außenwirtschaftlichen Vorgaben und den nationalen wirtschaftspolitischen Zielen kommen. Übersicht 1 zeigt darüber hinaus, daß sich die beteiligten Länder abhängig vom Währungssystem, der Ungleichgewichtssituation in der Zahlungsbilanz und den eigenen wirtschaftspolitischen Präferenzen verschiedenen (Kombinationen von) Anpassungskanälen gegenübersehen, die wiederum unterschiedliche Wirkungen auf die heimische Volkswirtschaft ausüben. Übersicht 1: Zahlungsbilanz- (Devisenbilanz-) ausgleich Zahlungsbilanz- (Devisenbilanz-) ausgleich

Feste Wechselkurse

Automatische (Temporäre) Wirtschaftspolitische Anpassung, Finanzierung Anpassungsmaßnahmen ausgelöst durch Devisenzu- oder Devisenabflüsse: - Geldmengen-PreisNationale WechselkursMechanismus Wirtschaftspolitik anpassung - Geldmengen-ZinsMechanismus

* * Geld- und Direkte Fiskalpolitik administrative Eingriffe in das Marktgeschehen: - Handelspolitische Maßnahmen - Devisenbewirtschaftung - Kapitalverkehrskontrollen

Flexible Wechselkurse

Wechselkursmechanismus

Automatischer Ausgleich bei möglichen Ungleichgewichten in den Teilbilanzen

5 7 6 • Heinz-Dieter Smeets

II. Der außenwirtschaftliche Druck auf die deutsche Wirtschaft 1. Die Ausgangslage Mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland gingen die Zuständigkeiten in der Devisenbewirtschaftung und in der Außenhandelssteuerung weitgehend auf deutsche Behörden über. Noch im Oktober 1949 trat die Bundesrepublik der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (Organization of European Economic Co-operation: OEEC; heute: Organization of Economic Co-operation and Development: OECD) bei, die am 16. April 1948 gegründet wurde. Das Ziel der OEEC bestand darin, mit Hilfe des Marshall-P\ans die nach dem Zweiten Weltkrieg zerrütteten Volkswirtschaften Westeuropas wieder aufzubauen. Dies wollte man insbesondere durch eine Liberalisierung des innereuropäischen Waren- und Dienstleistungsverkehrs und durch die Wiederherstellung der Konvertibilität erreichen. Der Beitritt zur OEEC und die Beteiligungen am European Recovery Program (ERP) verpflichteten die Bundesrepublik folglich, Beschränkungen des Zahlungs- und Handelsverkehrs abzubauen. Damit waren die Weichen gestellt, um die Außenwirtschaft in die marktwirtschaftliche Ordnung einzugliedern und die wirtschaftlichen Vorteile eines freien internationalen Handels zu nutzen (Möller 1952, 203 ff.). Gegenüber dem 'Rest der Welt' und insbesondere gegenüber dem Dollar-Raum wies Europa als Ganzes aber immer noch ein erhebliches Zahlungsbilanzdefizit auf. So summierten sich die Leistungsbilanzdefizite der europäischen Länder gegenüber den USA in der Zeit von 1947 bis 1950 auf 12,658 Mrd. Dollar. Die zunehmende Produktion in Europa ab 1948 sowie die Abwertung zahlreicher Währungen im Herbst 1949 führten jedoch zu einer wirtschaftlichen Stärkung, die auch positiv auf den innereuropäischen Handel wirkte. So entfielen 1950 53% der Importe und 61% der Exporte auf den Intra-OEEC-Handel (Blancpain 1962, 110). Um diese positive Entwicklung nicht durch Beschränkungen des Zahlungsverkehrs zu begrenzen und zu gefährden, wurde 1950 die Europäische Zahlungsunion (EZU) als Unterorganisation der OEEC gegründet. Diesen Weg wählte man deshalb, weil man den Übergang zur Konvertibilität für unmöglich hielt - insbesondere aufgrund des hohen Defizits gegenüber dem Dollar-Raum. Aus heutiger Sicht war dabei allerdings entscheidend, daß man von einem System fester Wechselkurse ausging und auch kaum bereit war, Ungleichgewichte durch eine entsprechende Geld- und Fiskalpolitik zu bekämpfen. Somit blieb - zumindest gegenüber dem Dollar-Raum - nur der Ausgleich über eine administrative Regelung der Zahlungsbeziehungen. Innerhalb Europas wollte man hingegen einen Zahlungsraum schaffen, der durch einen weitgehend freien Handels- und Zahlungsverkehr gekennzeichnet sein sollte CBlancpain 1962, 165 ff.).

2. Die Europäische Zahlungsunion Die EZU handelte als Clearing-Stelle, welche Überschüsse und Defizite der Mitgliedsländer untereinander verrechnete. Am Ende jeden Monats hatte jedes teilnehmende Land seine Zahlungsbilanzposition gegenüber jedem anderen Mitgliedsland der EZU

Währungssystem und deutsche Wirtschaftspolitik • 577 zu melden. Hier wurde wiederum der Ausgleich vorgenommen, so daß jedes Mitgliedsland entweder einen Gesamtüberschuß oder ein Gesamtdefizit gegenüber der EZU aufwies. Damit die bilateralen Zahlungspositionen der Zentralstelle gemeldet werden konnten, mußten zugleich die Devisenkontrollen aufrechterhalten werden. Der entscheidende Vorteil dieses regionalen Verrechnungssystems lag darin, daß es zu einer bedeutenden Einsparung an konvertiblen internationalen Zahlungsmitteln gegenüber den Mitgliedsländern kam, die dann zur Begleichung von Defiziten gegenüber Drittländern - insbesondere dem Dollarraum - eingesetzt werden konnten. Innerhalb der EZU hatten die bilateralen Salden ihre Bedeutung verloren, solange sich die Zahlungsbilanz gegenüber der EZU im Gleichgewicht befand (Möller 1952,228 ff.). Eine Zahlungsunion funktioniert aber nur dann reibungslos, wenn sich längerfristig keine strukturell bedingten Überschuß- oder Defizitpositionen herausbilden. Wenn die Defizitländer keinem Anpassungszwang unterliegen, lassen sich solche Ungleichgewichtspositionen nur so lange aufrechterhalten, wie andere Mitgliedsländer zur Kreditgewährung bereit sind. Begrenzt man die Kreditaufnahme hingegen, droht ein Auseinanderbrechen der Zahlungsunion, weil die Handelsliberalisierung rückgängig gemacht wird. Es kommt zu einem Rückfall in den Bilateralismus. Aus diesem Grunde sah die EZU eine Obergrenze für die Verschuldung jedes Mitgliedslandes vor - die sogenannte Quote. Die Quote war in Rechnungseinheiten festgelegt, die wiederum durch einen Feingoldgehalt definiert war (0,889g), der dem Goldgehalt des US-Dollars entsprach. Der Wert der Rechnungseinheit konnte nur durch einstimmigen Beschluß des Rates der OEEC-Länder geändert werden. Unabhängig davon konnte jedoch - unter Beachtung der Bestimmungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) - jedes Mitgliedsland seine Parität ändern. In Höhe der Quote konnte sich ein Land maximal gegenüber der EZU verschulden. Darüber hinaus wurde die Inanspruchnahme der Kredite aber mit - zunehmend strengeren - Auflagen in Form einer anteiligen Zahlung in Gold oder konvertiblen Devisen belegt (Yeager 1966, 363 ff.). Dieses Prinzip verdeutlicht Übersicht 2. Übersicht 2: Kreditbeziehungen in der EZU (Juli 1950 - Juni 1954)

1. Tranche (20% der Quote) 2. Tranche (20% der Quote) 3. Tranche (20% der Quote) 4. Tranche (20% der Quote) 5. Tranche (20% der Quote) Gesamte Quote = 100%

Schuldner Kredite Gold 20 16 4 12 8 8 12 4 16 40 60

Gläubiger Kredite Gold 20 10 10 10 10 10 10 10 10 60 40

Quelle: Blancpain 1962, 131. Die Gesamtrelation von sechzig zu vierzig zwischen Krediten und Gold wurde für die Zeit von Juli 1954 bis Juli 1955 auf fünfzig zu fünfzig und danach auf fünfundzwanzig zu fünfundsiebzig verändert. Bei einer die Quote übersteigenden Verschuldung war der gesamte überschießende Betrag in Gold oder Dollar zu begleichen.,,Die Kredite im

5 7 8 • Heinz-Dieter Smeets

Rahmen der EZU hatten also den Zweck, den innereuropäischen Handels- und Zahlungsverkehr zu erleichtern, während die Goldzahlungen die doppelte Funktion zu übernehmen hatten, die Schuldnerländer zur Beseitigung der Defizite zu veranlassen und den Gläubigerländern einen genügenden Anreiz zu einer aktiven Beteiligung an der EZU zu bieten" {Blancpain 1962, 118). Vor diesem Hintergrund hatte die Bundesrepublik bereits vier Monate nach der Gründung der EZU die erste Währungskrise zu bestehen (Yeager 1966, 366). Im Oktober 1950 war die Kreditquote von 320 Mio. Rechnungseinheiten bereits zu einem großen Teil ausgenutzt. Die Gefahr der Zahlungsunfähigkeit gegenüber dem Ausland drohte. Neben nationalen Anpassungsmaßnahmen wurde zur kurzfristigen Zahlungssicherung ein zusätzlicher Überbrückungskredit von der EZU oder aber die Aufgabe der gerade begonnenen Handelsliberalisierung diskutiert. Im November 1950 erklärte sich die EZU bereit, der Bundesrepublik einen Sonderkredit in Höhe von 120 Mio. Dollar bereitzustellen. Im Gegenzug legte die Bundesrepublik ein Sanierungsprogramm vor, das durch folgende Maßnahmen gekennzeichnet war (Emminger 1986, 52 ff.): - Restriktive Kreditmaßnahmen. Hierzu gehörten insbesondere die Anhebung des Diskont- (von 4% auf 6%) und Lombardsatzes (von 5% auf 7%), die Einfuhrung eines zinslosen Bardepots für Importeure in Höhe von fünfzig Prozent des Importwertes und die zwangsweise Rückführung der kurzfristigen Bankkredite um eine Mrd. DM. - Steuerliche Maßnahmen zur Eindämmung der Verbrauchernachfrage in Form einer Umsatzsteuererhöhung und Beseitigung von Steuervergünstigungen. - Exportförderung durch steuerliche und kreditpolitische Maßnahmen. - Einfuhrung realistischer Zinssätze zur Förderung der Kapitalbildung. Neben diesen nationalen Anpassungsmaßnahmen verzichtete man allerdings - im Einvernehmen mit der EZU - auf eine Abwertung der DM. Die EZU sprach gleichwohl die Empfehlung an die anderen Mitgliedsländer aus, deutsche Exportwaren bei den immer noch vorhandenen Kontingentierungen bevorzugt zu berücksichtigen. All diese Maßnahmen konnten allerdings kurzfristig kaum Wirkung entfalten, so daß schon Ende Februar 1951 auch der Sonderkredit der EZU weitgehend verbraucht war. Aus diesem Grunde kam es doch noch zur Aussetzung der Einfuhrliberalisierung. Bereits im August 1951 konnte die deutsche Zahlungsbilanzkrise jedoch offiziell von der OEEC und der EZU als überwunden erklärt werden, nachdem man bereits im Mai mit der Rückzahlung des Sonderkredits begonnen hatte. Im Januar 1952 begann man damit, die Einfuhrliberalisierung schrittweise wieder in Kraft zu setzen. Die weiteren Liberalisierungsschritte sind der Übersicht 3 zu entnehmen: Das Währungssystem der EZU sowie die damit verbundenen Anpassungswirkungen haben die deutsche Wirtschaftspolitik somit in der ersten Phase wie folgt beeinflußt: - Es kam zu einer weitgehenden Handelsliberalisierung auf Unionsebene. - Die Verrechnung bilateraler Salden auf Unionsebene hat den Bedarf an konvertiblen Devisen gemindert. Es bedurfte nur noch des 'Spitzenausgleichs'. - Als Schuldnerland erfuhr die Bundesrepublik eine temporäre (Teil-)Kreditierung. Durch die gleichzeitige Verpflichtung, einen Teil der Schulden in Gold oder konvertiblen Devisen zu decken, wurden aber auch Anpassungsmaßnahmen erzwungen.

Währungssystem und deutsche Wirtschaftspolitik • 579

Von den in Übersicht 1 zusammengefaßten Möglichkeiten hat sich die Bundesrepublik für eine restriktive und marktorientierte Geld- und Fiskalpolitik entschieden. Übersicht 3: Liberalisierungsgrad des Handelsverkehrs zwischen den OEECLändern (in Prozent) August 1951

April 1952

April 1953

April 1954

April 1955

April 1956

April 1957

April 1958

April 1959

BelgienLuxemburg Deutschland Frankreich

75

75

90

87

88

96

96

96

96

z.a 76

77 z.a

90 z.a

90 52

90 75

91 78

92 82

93 z.a.

91 90

Großbritannien Italien Niederlande

90 76 61

46 77 75

59 100 82

80 100 93

84 100 93

85 99 96

94 99 96

94 99 96

95 98 96

Österreich Schweiz Türkei





75 63

75 63

35 91 z.a

65 92 z.a.

82 92

89 93

90 91

90 91

-

-

~

~

90 91 1

z.a.: zeitweise aufgehoben

Quelle der Zahlenangaben: Blancpain 1962, 226.

Das umfassende Sanierungsprogramm des Jahres 1951 führte aber nicht nur zur Überwindung der aktuellen Währungskrise, sondern bildete zugleich auch die Quelle für eine lange dauernde Überschußposition. Bereits im Zeitraum von 1951 bis 1952 wies die Nettoposition der Bundesrepublik einen positiven Saldo auf, der doppelt so hoch war wie das Defizit im entsprechenden Voijahreszeitraum. Und als die EZU Ende 1958 aufgelöst wurde, entfielen rund siebzig Prozent der gesamten kumulativen Netto-Überschußpositionen auf die Bundesrepublik. Mit dieser Entwicklung kamen aber neue Probleme auf die Bundesrepublik zu, die ihren Höhepunkt im Zerfall des Währungssystems von Bretton Woods finden sollten. 3. Das System von Bretton Woods Das Abkommen über die Errichtung des Internationalen Währungsfonds (IWF) trat im Dezember 1945 in Kraft und war Teil eines umfassenden Versuchs zur Wiederherstellung geordneter Wirtschaftsbeziehungen in der Welt. Obgleich die Bundesrepublik bereits im September 1952 Mitglied des IWF wurde, vollzog sich die monetäre Reintegration in die Weltwirtschaft - wie vorher gezeigt - jedoch in der Hauptsache im Rahmen der OEEC und der EZU. Erst als am 27. Dezember 1958 die europäischen Staaten zur Konvertibilität übergingen und die EZU folgerichtig aufgelöst wurde, konnte das Währungssystem auch hier im Sinne des Bretton Woods-Abkommens arbeiten (Bordo 1993, 46 ff.). Im Gegensatz zu vielen anderen ehemaligen Mitgliedern der EZU, die - gemäß Artikel VIII der IWF-Statuten - 'lediglich' zur Konvertibilität für laufende Transaktionen übergingen, befreite man in der Bundesrepublik Deutschland bereits zu diesem Zeitpunkt auch den Kapitalverkehr von allen administrativen Fesseln.

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Das Abkommen über den IWF und das darauf basierende Währungssystem von Bretton Woods bildete eine Synthese aus Gold- und Devisenstandard. Die Paritäten der einzelnen Währungen wurden entweder direkt in Goldeinheiten oder indirekt über eine Parität zum Dollar festgelegt. Davon zu trennen ist die Goldeinlösepflicht, für die sich -bis 1971 - nur die USA entschieden. Diese Goldkonvertibilität des Dollars bestand allerdings nur gegenüber anderen Notenbanken, nicht jedoch gegenüber privaten Banken und Nichtbanken. Hinzu kam, daß die Goldeinlösepflicht nicht automatisch vorgenommen wurde, sondern nur auf Initiative der Dollarbesitzer - also der Überschußländer. Gleichwohl bedeutete die Goldeinlöseverpflichtung einen entsprechenden Anreiz für die USA, eine stabilitätsorientierte Geldpolitik zu betreiben, um auf diese Art und Weise einen drohenden Goldabfluß zu vermeiden. Alle anderen Länder, die sich nicht für die Goldeinlösepflicht entschieden hatten, mußten „durch geeignete Maßnahmen im Rahmen dieses Abkommens" dafür sorgen, daß die Wechselkurse ihrer Währungen innerhalb der vorgegebenen Bandbreiten blieben. In Situationen eines 'fundamentalen Ungleichgewichts' konnte die Parität angepaßt werden. Soweit diese Anpassung einen Wert von zehn Prozent nicht überstieg, bedurfte es nur der Konsultation, nicht jedoch der Zustimmung des IWF (Aschinger 1973). Da alle anderen Länder ihre Wechselkurse gegenüber dem US-Dollar fixierten, kam ihm die Leitwährungsfunktion zu. Dies bedeutete aber nicht zugleich und automatisch auch geldpolitische Autonomie. Hierzu bedarf es vielmehr einer stabilitätsorientierten Politik und/oder einer bestimmten Größe, wobei es in einem Festkurssystem insbesondere auf die Reservenbestände und das Sterilisationspotential ankommt. Diese Bedingungen haben die USA, wie Übersicht 4 zeigt, in den Anfangsjahren des Bretton Woods-Systems zweifellos erfüllt (Argy 1981, 31 ff.). Übersicht 4: Ökonomische 'Machtverhältnisse' im System von Bretton Woods Jahr

Währungsreserven der USA in Prozent aller Währungsin Mrd. DM reserven der Industrieländer 67% 102,06 39% 80,92 20% 52,90

1950 1960 1970 Quelle der Zahlenangaben: Bofinger 1991, 309.

Maximales Sterilisationspotential der Deutschen Bundesbank (in Mrd. DM) 16,34 28,74 61,53

Der geldpolitische Spielraum eines Nicht-Leitwährungslandes im Verhältnis zum Leitwährungsland oder zu einem anderen Nicht-Leitwährungsland wird unter diesen Voraussetzungen durch die interventionsbedingten Geldzu- oder -abflüsse und die damit automatisch einhergehenden Anpassungsprozesse begrenzt. Obgleich die USA bis etwa Mitte der sechziger Jahre eine stabilitätsorientierte Geldpolitik betrieben und damit eigentlich das gesamte System durch ein entsprechendes Stabilitätsniveau hätte gekennzeichnet sein müssen, sah sich die Bundesrepublik bereits in den fünfziger Jahren einer erheblichen Abwertung des realen Wechselkurses gegenüber. Durch diese Unterbewertung der DM insbesondere gegenüber dem französischen Franc und dem britischen Pfund kam es zu immer größeren Devisenzuflüssen. Diese zeitweise Abkopplung vom Leitwährungsland USA war deshalb möglich, weil Frank-

Währungssystem und deutsche Wirtschaftspolitik • 581 reich und Großbritannien sowohl innerhalb der EZU als auch gegenüber den USA (wieder verstärkt) auf handelsbeschränkende Maßnahmen zum Zahlungsbilanzausgleich zurückgriffen (Yeager 1966, 367; Berg 1976, 99f.), wie die Übersichten 3 und 5 zeigen. Übersicht 5: Liberalisierungsgrad ausgewählter EZU-Länder für Importe aus den USA und Kanada (in Prozent) 1.1.1956 30.6.1956 Benelux-Staaten 86 86 90 68 Deutschland 11 11 Frankreich Großbritannien 56 56 24 39 Italien 9 9 Osterreich 98 Schweiz 99 0 0 Türkei Quelle der Zahlenangaben: Blancpain 1962, 230.

30.6.1957 86 91 0 59 71 40 99 0

30.6.1958 86 94 0 62 68 40 99 0

Hinzu kam, daß die amerikanische Leistungsbilanz zwar bis 1970 durchweg einen Überschuß aufwies, die Devisenbilanz aber bereits seit den frühen fünfziger Jahren Defizite, weil die Überschüsse in der Leistungsbilanz nicht ausreichten, um den Kapitalabfluß zu decken (Gilbert 1980, 115 ff.). Dieser Abfluß an Gold- und Devisenreserven schlug sich jedoch in den Nicht-Leitwährungsländem als entsprechender Zustrom und damit als latentes Inflationspotential nieder (Lutz 1972, 15). Während diese Entwicklung zunächst das Vertrauen in den Dollar nicht schwächte, kam es angesichts zunehmender amerikanischer Devisenbilanzdefizite 1961 zu einem ersten 'Run' auf das Gold, der mit der Bildung eines Goldpools durch die Notenbanken abgewehrt wurde. Als jedoch Ende der sechziger Jahre das amerikanische Devisenbilanzdefizit ständig zunahm, ohne daß man in den USA reagierte, schwand auch das Vertrauen in den Dollar immer mehr (Meyer 1972, 288f; Berg 1976, 103). Die Deutsche Bundesbank versuchte hingegen, die zunehmende Erhöhung der internationalen Komponente der Geldbasis in Form der Währungsreserven (vgl. Übersicht 6) durch eine entsprechend kontraktive Geldpolitik im Inneren zu sterilisieren, um auf diese Weise den Inflationsgefahren durch eine Ausweitung der Geldmenge zu begegnen. Diese restriktive Geldpolitik wurde jedoch durch zinsinduzierte Kapitalzuflüsse schnell wieder konterkariert, so daß die Bundesbank im November 1960 den Versuch einer eigenständigen an nationalen Zielen (Preisniveaustabilität) orientierten Geldpolitik aufgab und sich wieder an das niedrigere amerikanische Zinsniveau anpaßte. Damit wurde zugleich deutlich, daß man die drohende Anpassungsinflation mit geldpolitischen Mitteln nicht würde verhindern können (Steuer 1969, 47 ff.). Es blieb also nur noch eine Möglichkeit, um das Ziel der Preisniveaustabilität in der Bundesrepublik zu sichern, nämlich eine Aufwertung der DM. Hierzu kam es am 9. März 1961, nachdem es zuvor lange und heftige Kontroversen zwischen der Bundesregierung - insbesondere in Person des Bundeskanzlers Adenauer - und der Bundesbank um diesen Schritt gegeben hatte. Die DM wurde um fünf Prozent gegenüber dem Dollar aufgewertet (Yeager 1966, 418 ff.). Da alle anderen Paritäten gegenüber dem Dollar fixiert waren, bedeutete dies zugleich eine

5 8 2 • Heinz-Dieter Smeets

Aufwertung der DM gegenüber allen anderen Währungen (= effektiver Wechselkurs) um fünf Prozent, so daß der zunächst niedrig erscheinende Aufwertungssatz ein höheres Gewicht erlangte. Der nahezu unveränderte reale Wechselkurs des US-Dollars bis zu diesem Zeitpunkt war dabei ein häufig vorgebrachtes Argument gegen die Aufwertung. Betrachtet man die Wirkungen dieser ersten Aufwertung der DM nach dem Krieg, so waren die Erfolge mit Blick auf die Preisniveaustabilität wohl eher begrenzt, denn in den Folgejahren stieg die Inflationsrate auf etwa drei Prozent an. Berücksichtigt man die Time-lag-Problematik der Geldpolitik, so kann man dies aber wohl weniger der generellen Unwirksamkeit einer solchen Maßnahme zuschreiben, als vielmehr der zu spät und vom Ausmaß her nur halbherzig vorgenommenen Aufwertung. Viel wichtiger als der Zeitpunkt und das Ausmaß der Aufwertung war aber möglicherweise die Tatsache, daß man den Wechselkurs als Anpassungsinstrument akzeptierte und nicht länger als sakrosankt betrachtete. Übersicht 6: Währungsreserven der Deutschen Bundesbank (in Mrd. DM)"' I Mrd. DM )

*) Die senkrechten Trennlinien repräsentieren wichtige währungspolitische Daten, auf die im Text verwiesen wird. Die Ursprungsdaten entstammen der Deutschen Bundesbank.

Die Zeit ab 1965 war hingegen durch eine Abkehr der USA von der bis dahin realisierten Stabilitätspolitik gekennzeichnet {Berg 1976, 100 ff.; De Grauwe 1989, 43). Um einem damit einhergehenden massiven Abfluß von Gold zu begegnen, kam es im März 1967 zunächst zu einer bilateralen Vereinbarung zwischen den USA und der Bundesrepublik Deutschland, in der ein Verzicht auf die Goldeinlösung von Dollarreserven ver-

Währungssystem und deutsche Wirtschaftspolitik • 583 einbart wurde (Solomon 1982, 111). Diesem Schritt folgte am 15. August 1971 die 'offizielle' Rücknahme der Goldeinlöseverpflichtung durch die USA. Damit war zugleich aber auch jegliche Inflationsbegrenzung im Leitwährungsland weggefallen (Bernholz 1974, 84). Emeut stand die Bundesrepublik vor dem Problem der (importierten) Anpassungsinflation, die dem heimischen Ziel der Preisniveaustabilität entgegenstand. Bereits in seinem Gutachten des Jahres 1966 sprach sich der Sachverständigenrat (1966) für häufigere und automatische Wechselkursanpassungen aus. Doch wiederum führten politische Widerstände dazu, daß die Paritätsänderung nicht rechtzeitig vorgenommen wurde. Gleichwohl versuchte die Bundesbank - trotz der negativen Erfahrungen aus dem Jahre 1960 - erneut eine eigenständige, vom Leitwährungsland abgekoppelte Geldpolitik zu betreiben. Doch auch in diesem Fall stellten sich die Anstrengungen schon bald als vergeblich heraus (Scheide 1988, 66 f.). Begonnen hatte dieses letzte Kapitel des Systems von Bretton Woods mit der Abwertung des britischen Pfunds im November 1967. Bis dahin hatte man geglaubt, Abwertungen kämen für die beiden großen Reservewährungen - US-Dollar und britisches Pfund - auf keinen Fall in Frage. Nun allerdings reagierten die Finanzmärkte mit Mißtrauen auch gegenüber dem US-Dollar (Bordo 1983, 52 ff.). Es kam zu den Währungskrisen der Jahre 1968/69, die für die Bundesrepublik in einer Aufwertung der DM endeten, nachdem der Wechselkurs im Oktober 1969 frei schwankte (Hellmann 1976, 22 f.). Gleichwohl kam es zu immer größeren Devisenzuflüssen und einer damit - verzögert einhergehenden Anpassungsinflation, da sich der zunehmende Anstieg der Geldbasis immer weniger sterilisieren ließ. Um weitere Devisenzuflüsse zu unterbinden, hob die Bundesregierung am 5. Mai 1971 die Interventionspflicht der Deutschen Bundesbank auf. Am 18. Dezember 1971 einigte man sich dann im Rahmen des 'Smithsonian Agreement' auf neue Leitkurse. Zugleich wurden die Bandbreiten gegenüber dem Dollar von ± 1 Prozent auf ± 2,25 Prozent ausgeweitet (Argy 1981, 61 ff.). Letztlich kehrte man aber zu dem System grundsätzlich fester Wechselkurse zurück, das durch die Aufgabe der Goldkonvertibilität durch die USA am 15. August 1971 lediglich von einem GoldDevisen-Standard zu einem reinen Devisen-Standard wurde (Bernholz 1974, 40 ff.). Die nächste Krise ließ jedoch nicht lange auf sich warten. Bereits 1972 führte man in der Bundesrepublik weitreichende Beschränkungen des Kapitalverkehrs zur Abwehr erneuter Devisenzuflüsse ein (Werner 1976, 74 ff.). Gleichwohl kam es zu einem fortlaufenden Anstieg der Geldmenge. Im Januar 1973 wurde dann der Wechselkurs des Schweizer Frankens freigegeben. Als im Februar die deutschen Kapitalverkehrskontrollen noch verschärft wurden, floß das Kapital zunehmend nach Japan, so daß auch der Yen am 10. Februar freigegeben wurde. Am 12. Februar versuchten die fünf größten Industrieländer durch ein erneutes Realignment, in dessen Rahmen der US-Dollar weiter abgewertet wurde, die Lage zu bereinigen. Doch bereits am 2. März 1973 spitzte sich die Situation erneut krisenhaft zu, so daß man sich am 19. März 1973 allgemein zur Aufgabe der festen Wechselkurse entschloß (Solomon 1982,228 ff.). Die starke Aufblähung der deutschen Geldmenge in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren führte dann auch folgerichtig dazu, daß die Inflationsrate in der Bundesrepublik in den Folgejahren kräftig anstieg. Häufig wird dieser Effekt jedoch nicht den Devisenzuflüssen - bedingt durch die zu späte Freigabe des Wechselkurses - ange-

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lastet, sondern fälschlicherweise umgekehrt der Freigabe des Wechselkurses selbst sowie dem Ölpreisschock vom Herbst 1973. Übersicht 7 zeigt jedoch den engen Zusammenhang zwischen der Geldmengenentwicklung und der Inflationsrate unter Berücksichtigung des entsprechenden Time-lags - und zwar nicht nur für die hier angesprochene Phase. Betrachtet man die Wirkungen des Systems von Bretton Woods, so läßt sich zusammenfassend sagen, daß die während dieser Phase zu beobachtende Überschußposition der Bundesrepublik zu einem ständig wiederkehrenden Druck auf die heimische Wirtschaftspolitik in Form der (importierten) Anpassungsinflation gefuhrt hat. Grundsätzlich hätte das System ein erfolgreiches Abkoppeln von der Inflation des Auslands zugelassen. Die dazu notwendigen Wechselkursanpassungen wurden jedoch aus politischen Gründen stets zu spät und gewöhnlich in zu geringem Ausmaß vorgenommen. Aus diesem Grunde hat man zumindest auf einen Teil der möglichen wirtschaftspolitischen Autonomie 'freiwillig' verzichtet. Übersicht 7: Wachstumsrate der Geldmenge und Inflationsrate (in Prozent)*1 Iin

Prozent}

*) Bei der Wachstumsrate der Geldmenge handelt es sich um gleitende 12-Monats-Durchschnitte der Veränderungsrate der Geldmenge M2 gegenüber dem jeweiligen Voijahresmonat. Durch dieses Vorgehen sollen dauerhafte Veränderungen in der Geldpolitik hervorgehoben werden. Die Funktion der Veränderungsrate des Konsumentenpreisindex wurde für die Zeit bis 1973 um 12 Monate, für die Zeit danach um 30 Monate nach links verschoben, um die verzögerte Wirkung der Geldpolitik auf die Inflationsrate (Time-lag-Problematik) zu berücksichtigen. Auf den Strukturbruch beim Transmissionsprozeß kann an dieser Stelle allerdings nicht eingegangen werden. Die Ursprungsdaten entstammen der Deutschen Bundesbank.

Währungssystem und deutsche Wirtschaftspolitik • 585

III. Erhöhte Eigenständigkeit für die deutsche Wirtschaftspolitik 1. Flexible Wechselkurse Der Übergang zum (Block-)Floating im März 1973 war zunächst von vielen nur als eine Übergangslösung angesehen worden, da zu diesem Zeitpunkt im Reform-Ausschuß des IWF die Diskussion über das künftige Wechselkurssystem in vollem Gang war (Williamson 1977, 53 ff.; Aschinger 1978, 71 ff.). Es dauerte immerhin bis zum Januar 1976, bis das neue System offiziell legalisiert wurde (Emminger 1986, 293). Für die Deutsche Bundesbank begann damit die Möglichkeit, ihre Geldpolitik stärker an nationalen wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten zu orientieren. Durch den Wegfall von Interventions Verpflichtungen gegenüber wichtigen Währungen wie dem US-Dollar gewann sie zunehmend Einfluß auf die Geldbasis. Dies war auch der Grund für den Übergang zu einer potentialorientierten Geldpolitik mit der Ankündigung von Geldmengenzielen ab 1975. Im Rahmen eines Systems flexibler Wechselkurse ergibt sich damit für ein Land die Möglichkeit, sich weitgehend von der Inflationsrate des Auslands abzukoppeln. Dies bedeutet aber nicht zugleich auch, daß man auf diese Art und Weise die Binnenwirtschaft komplett von außenwirtschaftlichen Einflüssen isolieren kann. Eng damit zusammen hing die Vorstellung, flexible Wechselkurse würden automatisch die als störend empfundenen Situationen der Über- oder Unterbewertung von Währungen verhindern. Diese Erwartung muß man wohl auch vor dem Hintergrund sich wandelnder Rahmenbedingungen sehen. Geht man nämlich davon aus, daß die Über- oder Unterbewertung einer Währung gewöhnlich an der Kaufkraftparität gemessen wird, so sind es insbesondere die Waren- und Dienstleistungsströme, die diesen Referenzmaßstab beeinflussen. Geht man von einer geringen internationalen Kapitalmobilität aus, wie sie - zumindest in weiten Teilen - während der sechziger Jahre noch bestand, so fiihren flexible Wechselkurse idealtypischerweise zum Ausgleich der Leistungsbilanz und zur längerfristigen Gültigkeit der Kaufkraftparität. Mit zunehmender Bedeutung der internationalen Kapitalbewegungen fuhren flexible Wechselkurse aber 'nur' noch zum Ausgleich der Devisenbilanz, der mit verschiedenen Ungleichgewichten in den Teilbilanzen einhergehen kann. Die von internationalen Kapitalbewegungen ausgehenden kurz- und längerfristigen Wirkungen auf die heimische Volkswirtschaft waren wiederum der Anlaß, 'ungeordneten Marktverhältnissen' mit freiwilligen Devisenmarktinterventionen zu begegnen (Molsberger 1978, 156 ff.). Entgegen einigen Erwartungen hatte dies zugleich wieder zur Folge, daß ein solches 'schmutziges' Floating Währungsreserven keineswegs entbehrlich machte. In der Praxis des Floating führte die stark vorangeschrittene Integration der Weltwirtschaft insgesamt und der Finanzmärkte im besonderen zu einem starken Anwachsen der nominalen und realen Wechselkursschwankungen. Dabei unterscheidet man zwischen kurzfristigen (volatility) sowie längerfristigen Schwankungen (misalignment) und verbindet damit zugleich Kosten, denen es - nach Möglichkeit - durch Devisenmarktinterventionen zu begegnen gilt (IWF 1974, 112). Soweit ein kurzfristiges Überschießen der Wechselkurse nach oben oder unten zustandekommt, könnte man eine solche Entwicklung mit Hesse (1983, 132) aber auch als 'Aufpasserfunktion' internationaler Kapital-

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ströme bei flexiblen Wechselkursen interpretieren. Gegenwärtige Fehler in der Politik wirken sich nämlich schneller und deutlicher negativ auf die Wirtschaft aus als früher - der internationale Kapitalmarkt und der Wechselkurs reagieren sofort. Es kommt folglich zu einer - frühzeitigen - Disziplinierung der heimischen Volkswirtschaft über die Erwartungen der Wirtschaftssubjekte. Wählt man - wie es übliche Praxis ist - die Kaufkraftparität als Maßstab für die längerfristige 'richtige' Entwicklung des Wechselkurses, dann lassen sich mit Blick auf den Dollar-Kurs die folgenden Phasen unterscheiden (vgl. Übersicht 8): - In der ersten Phase vom Frühjahr 1973 bis etwa Ende 1976 schwankte der Kurs zwar, die Abweichungen von der Kaufkraftparität waren jedoch von der Höhe und der zeitlichen Dauer her begrenzt. - Die zweite Phase dauerte ungefähr von Mitte 1977 bis Mitte 1980. Während dieser Zeit sank der Dollar-Kurs deutlich und anhaltend unter die Kaufkraftparität (vgl. hierzu etwa Solomon 1982, 344 ff.). - In der dritten Phase, die etwa Mitte 1980 begann und im Frühjahr 1985 endete, schoß der Dollar weit über die Kaufkraftparität hinaus und erreichte seinen 'oberen Wendepunkt' im März 1985 bei 3,45 DM (vgl. hierzu etwa Ciaassen 1980, 51 ff.; De Grauwe 1989, 107 ff.; Morris 1986). - Daran schloß sich die vierte Phase an, in der es in der Zeit vom Frühjahr 1985 bis Mai 1987 zum Fall des Dollars zurück auf das Niveau der Kaufkraftparität kam (vgl. hierzu etwa Rose 1988,202 ff.). - Von 1987 bis 1993 kam es dann zu vergleichsweise regelmäßigen Schwankungen um die Kaufkraftparität, so daß diese Phase gewisse Parallelen zur Anfangsphase des Floating aufweist. - Während der Jahre 1993 und 1994 kam es erneut zu einem deutlichen und längerfristigen Fall des Dollars unter die Kaufkraftparität, der seinen Höhepunkt im April 1995 mit einem historischen Tiefstand des Dollars von 1,3620 DM fand. - Seit März 1995 hat sich der Dollar fortlaufend von seiner Schwäche erholt und mittlerweile wieder das Niveau der Kaufkraftparität erreicht. Während dieser gesamten Zeit kam es immer wieder zu Interventionen der Deutschen Bundesbank, bei denen sie nach folgenden 'Grundsätzen' (Deutsche Bundesbank 1975,63) gehandelt hat: „Für die Deutsche Bundesbank hat sich seit Beginn des Floatens die Frage gestellt, inwieweit durch gezielte Devisenoperationen die Kursausschläge am Devisenmarkt gegenüber dem US-Dollar (und damit indirekt gegenüber einer Reihe anderer Währungen) geglättet werden sollen und können. Grundsätzlich läßt sich die Bundesbank bei ihrer Interventionspolitik von der Überlegung leiten, daß nur interveniert werden sollte, um 'geordnete Marktverhältnisse' (orderly market conditions) aufrechtzuerhalten, daß aber grundlegenden Markttendenzen nicht entgegengewirkt werden soll (und kann). Dabei wurde allerdings nicht nur interveniert, um geordnete Marktbedingungen von Tag zu Tag aufrechtzuerhalten und hektische Ausschläge des Kurses zu vermeiden. Vielmehr wurde versucht, auch über längere Zeiträume hinweg zu starke Ausschläge des DMKurses gegenüber dem US-Dollar etwas zu glätten."

Währungssystem und deutsche Wirtschaftspolitik • 587 Übersicht 8: Aktueller Wechselkurs und Kaufkraftparität*' des US-S zur DM 3.50

3.25 -

3.00 -

2./S 2.50 -

2.25 -

2.00 -

1.75 -

1.50 -

1.25

-f 1—t 1973

r r 1976

i

r i 1979

r

i 1 1982

1—r r 1985

t

i -t—i 1988

! 1 1991

1

i—i 1991

1

1 1997

*) Der Kaufkraftparitätenkurs des US-Dollar wurde auf der Basis des Monats Mai 1973 ermittelt. Die Ursprungsdaten entstammen der Deutschen Bundesbank und der OECD (Main Economic Indicators).

Im Gegensatz zum Festkurssystem von Bretton Woods kam es daher während dieser Zeit - wie Übersicht 8 belegt - zu einem mehr oder weniger schnellen Ausgleich von Devisenzu- und -abflüssen. Hierin sieht Emminger (1986, 314) einen Beleg dafür, daß die Deutsche Bundesbank nicht gegen den längerfristigen Markttrend interveniert hat. Betrachtet man diese Interventionstätigkeit vor dem Hintergrund der in der Literatur diskutierten drei Gruppen wirtschaftspolitischer Reaktionen (Smeets 1989, 29 ff.) auf kurz- und langfristige Wechselkursschwankungen in Form von - Zielzonen fiir die Wechselkursentwicklung, - administrativen Beschränkungen oder Besteuerung internationaler Kapitalbewegungen oder - institutioneller Koordination der Wirtschaftspolitik, so hat sich die Deutsche Bundesbank lediglich an der ersten Alternative orientiert und beteiligt. Die beiden wichtigsten und bekanntesten Beispiele in diesem Zusammenhang sind das Plaza Agreement und der Louvre Accord (Frenkel und Goldstein 1988, 285 ff.). Im September 1985 trafen sich die Finanzminister der G-5 Staaten in New York und kamen überein, durch gemeinsame Devisenmarktinterventionen den Wert des Dollars zu drücken und ihn damit der Kaufkraftparität wieder näherzubringen. Als der Dollar jedoch unentwegt (weiter-)fiel, erblickte man schon bald Handlungsbedarf in umgekehrter Richtung. Im Februar 1987 vereinbarte man daher im Rahmen eines Treffens der

5 8 8 • Heinz-Dieter Smeets

G-5 in Paris, den Dollar innerhalb bestimmter Bandbreiten zu stabilisieren. Die genauen Vereinbarungen wurden allerdings nicht veröffentlicht. Im Ergebnis führte dies zunächst zu den umfangreichsten Interventionen zugunsten des Dollars seit dem Zusammenbruch des Bretton Woods-Systems, wie auch Übersicht 6 belegt. Doch bereits im Herbst 1987 kam es zum Bruch dieses mehr oder weniger formalen Agreements und der Dollar fiel zunächst weiter (Plumper 1996, 216 ff.). Gleichwohl muß man sehen, daß auch freiwillige Devisenan- und -Verkäufe - soweit deren Geldbasiswirkungen nicht sterilisiert werden (können) - ebenso auf die Geldmenge und damit letztlich auf die Inflationsrate wirken wie obligatorische Interventionen im System von Bretton Woods. Ein Wechselkursziel, wie es wohl teilweise auch von der Bundesbank verfolgt worden ist, läßt sich somit in der Regel nicht mit einem Geldmengenziel vereinbaren. Es gilt, in diesem Zusammenhang abschließend zu bedenken, daß die letztliche Wirkung auf die Geldbasis abhängt von den gesamten Devisenzu- oder -abflüssen, also insbesondere denjenigen Devisenbewegungen aufgrund von Dollarinterventionen und den Interventionen im europäischen Währungsverbund. Mit dem Übergang zum Floating bestand die grundsätzliche Möglichkeit für die Deutsche Bundesbank, Interventionen insbesondere gegenüber dem Dollar auszuschließen und somit die Geldbasisentwicklung - mit Ausnahme der Rückwirkungen aus dem europäischen Währungsverbund - weitgehend autonom am nationalen Ziel der Preisniveaustabilität auszurichten. Starke Abweichungen von der Kaufkraftparität ließen die Deutsche Bundesbank jedoch zumindest zeitweise Wechselkursziele gegenüber dem Dollar verfolgen, was wiederum freiwillige Beeinträchtigungen bei der Geldbasisentwicklung mit sich brachte. Insgesamt hat die Freigabe der Wechselkurse jedoch zu einer wesentlich größeren Anpassungsflexibilität geführt (Halm 1975, 134 ff.). Ansonsten hätten Schocks wie die beiden Ölpreiskrisen und die starke Divergenz zwischen dem Policy-mix in den USA und Deutschland während der ersten Hälfte der achtziger Jahre kaum bewältigt werden können. Wäre nämlich der Wechselkurs weiterhin fixiert worden, hätte die Anpassung über nationale Preise und/oder Mengen vollzogen werden müssen, was sicherlich zur Sprengung des Systems geführt hätte. Die adäquate Politik zur Vermeidung stark schwankender Wechselkurse - wenn man dieses Ziel denn erreichen will - muß daher wohl eher in der Beseitigung der Ursachen, also insbesondere in einer diskretionären Wirtschaftspolitik gesehen werden und nicht in einer sich ständig fortsetzenden Interventionsspirale in Form staatlicher Eingriffe in das Marktgeschehen (.Molsberger 1978, 169; Schüller 1978, 174; Ciaassen 1990, 51 ff.).

2. Der europäische Währungsverbund Bereits im April 1972 hatten die Mitgliedsländer der EG im Gegensatz zu den sonstigen Entwicklungen ihre Bandbreiten untereinander auf ± 2,25 Prozent vermindert. Es kam zur sogenannten 'Schlange im Tunnel', die dadurch entstand, daß die Bandbreiten der EG-Währungen nur halb so groß waren wie diejenigen gegenüber dem US-Dollar. Hiermit waren zugleich auch „die ersten Schritte auf dem Weg zu einer eigenständigen Währungspersönlichkeit" der Gemeinschaft nach außen getan (Wegner 1991, 116). Mit

Währungssystem und deutsche Wirtschaftspolitik • 589 dem allgemeinen Übergang zum Floating wurde dann aus der europäischen 'Schlange im Tunnel' eine Schlange ohne Tunnel {Hellmann 1976, 39 ff.). Sowohl die Schlange als auch das hierauf ab 1979 aufbauende Europäische Währungssystem (EWS) krankten allerdings daran, daß ungeachtet der Erfahrungen mit dem Bretton Woods-System die beteiligten Länder versuchten, eine eigenständige an nationalen Zielen orientierte Wirtschaftspolitik zu betreiben. Möglicherweise wurden sie hierzu durch die formale Symmetrie beider Währungssysteme ermuntert. In der Praxis entwickelten sich jedoch 'Schlange' und EWS weitgehend zu asymmetrisch wirkenden DM-Blöcken, in denen der Bundesrepublik die Rolle des n-ten Landes zufiel. In welchem Umfang symmetrische (kooperative) Elemente in diese Währungssysteme einflössen, indem sich die Deutsche Bundesbank bei ihrer Geldpolitik von einer 'europäischen Verantwortung' leiten ließ, kann an dieser Stelle nicht weiter untersucht werden. Die Rolle der Ankerwährung fiel der DM jedoch nicht aufgrund vertraglicher Vereinbarungen zu, sondern vielmehr aufgrund des Vertrauens der Märkte in die Stabilitätspolitik der Deutschen Bundesbank. Überschußländern ist es unter solchen Bedingungen leichter möglich, die expansiven Liquiditätswirkungen obligatorischer Devisenmarktinterventionen zu sterilisieren, da sie im Gegensatz zu den Defizitländern nicht der Devisenrestriktion unterliegen. Defizitländer würden hingegen durch den fortlaufenden Abfluß an Währungsreserven über kurz oder lang gezwungen, ihre Politik an diejenige des Ankerwährungslandes anzupassen - oder den Wechselkurs zu ändern. Im EWS kam hinzu, daß ein erheblicher Teil der Interventionen in Form intra-marginaler Interventionen erfolgte, die überwiegend zu einseitigen kontraktiven Anpassungsverpflichtungen der Schwachwährungsländer führten (.Bofinger 1988, 324 ff.). In der Rolle des n-ten Landes hatte es die Deutsche Bundesbank nun in der Hand, eine an nationalen Zielen orientierte Geldpolitik zu betreiben, an die sich bei festen Wechselkursen alle anderen Mitgliedsländer hätten anpassen müssen. Da man sich diesem Zwang aber - wie zuvor ausgeführt - lange Zeit nicht unterwerfen wollte, blieb - neben Konvertibilitätsbeschränkungen in Form von Kapitalverkehrskontrollen - nur der Wechselkurs als Anpassungsinstrument. Dabei lassen sich jedoch deutliche Unterschiede zwischen der 'Schlange' und dem EWS aufzeigen. Die 'Schlange' selbst war durch eine größere Inflexibilität des Wechselkurses im Verhältnis zum EWS gekennzeichnet. Länder, die dem Anpassungsdruck nicht mehr standhalten konnten, verließen das Währungssystem 'Schlange'. So gab Großbritannien lediglich ein siebenwöchiges Gastspiel in der 'Schlange', Italien trat 1973 aus und Frankreich ließ sich 1974 vorübergehend 'beurlauben', trat 1975 wieder ein, um dann 1976 endgültig auszuscheiden (Hasse 1986, 178 f.). Dieser Hang zum Ausstieg aus der Schlange mag durch die gerade zuvor gemachten weltwirtschaftlichen Erfahrungen und dem damit verbundenen Übergang zum Floating zu erklären sein. Das EWS hingegen wurde mit Blick auf den Wechselkurs ein sehr flexibles System. Darin mag auch der Grund dafür zu suchen sein, daß der von Kritikern in der Anfangsphase prognostizierte schnelle Zusammenbruch formal - bis heute - nicht zustandegekommen ist. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß es während der ersten Jahre des EWS zu sieben Realignments kam, die zudem ein beträchtliches Ausmaß aufwiesen. Die durchschnittliche nominale Aufwertungsrate der DM gegenüber allen Mitgliedsländern betrug in der Zeit von März 1979 bis einschließ-

5 9 0 • Heinz-Dieter Smeets

lieh März 1983 insgesamt 23 Prozent. Nachfolgend sank dann sowohl die Zahl als auch das Ausmaß der Realignments. Die durchschnittliche nominale Aufwertungsrate der DM verminderte sich in der Zeit von April 1983 bis einschließlich Januar 1987 auf insgesamt 7,7 Prozent. In der Zeit von Februar 1987 bis einschließlich August 1992 wurde kein Realignment mehr durchgeführt (Smeets 1993, 102 f.). Man muß in diesem Zusammenhang sicherlich auch darauf hinweisen, daß die Wechselkursanpassungen nicht nur im Interesse, sondern wohl - zumindest teilweise auch auf Druck der Deutschen Bundesbank zustande kamen. Die asymmetrische Wirkung und damit die Unabhängigkeitsposition der Deutschen Bundesbank hing in starkem Maße von den Sterilisationsmöglichkeiten interventionsbedingter Liquiditätszuflüsse ab. In diesem Zusammenhang haben selbst die Kapitalverkehrskontrollen anderer Mitgliedsländer zugunsten der Bundesrepublik gewirkt. Gelder, die dort administrativ bedingt nicht abflössen, konnten somit auch nicht in die Bundesrepublik hineinfließen, wodurch der Sterilisationsspielraum erhöht wurde. Die umgekehrte Wirkung läßt sich hingegen idealtypisch an der EWS-Krise 1992/93 veranschaulichen (Smeets und Möller 1994). Vor dem Hintergrund des gemeinsamen Bankenbinnenmarktes waren zu diesem Zeitpunkt Kapitalverkehrskontrollen weitgehend ausgeschlossen, so daß eine nahezu vollkommene Kapitalmobilität herrschte. Ursache der Septemberkrise 1992 war primär ein Änderungsbedarf der realen Wechselkurse als Folge divergierender Inflationsentwicklungen in den Ländern Portugal, Spanien, Italien und Großbritannien gegenüber der Bundesrepublik Deutschland, die zu einer eklatanten Verschlechterung der internationalen (Preis-)Wettbewerbsfahigkeit dieser Länder führten. Insofern war das von den Finanzmärkten herbeigeführte Realignment kein Ausdruck eines Marktversagens, sondern die zu Recht erzwungene Durchführung eines längst überfalligen Realignments - also vielmehr Ausdruck eines Politikversagens. Nicht mit auseinanderdriftenden Preisniveauentwicklungen läßt sich jedoch die Spekulation gegen den französischen Franc erklären, die schließlich im August 1993 zur faktischen Aufgabe fester Wechselkurse im EWS führte. In der Zeitpunktbetrachtung lag die Inflationsrate Frankreichs sogar unterhalb der deutschen Inflationsrate. Doch auch die kumulierte Preisniveauentwicklung - die der längerfristigen Interpretation der Kaufkraftparität eher entspricht - stimmte im Herbst 1992 etwa mit derjenigen Deutschlands überein. Dabei übersieht man allerdings, daß das EWS als Ganzes von einem asymmetrischen realen Schock in Form der deutschen Wiedervereinigung getroffen wurde, der den gleichgewichtigen realen Wechselkurs der DM gegenüber den anderen Mitgliedsländern sinken ließ. In dieser Situation standen grundsätzlich drei Anpassungsmöglichkeiten zur Verfügung: Die Bundesrepublik alimentiert die zusätzliche Nachfrage monetär, so daß über ein höheres Preisniveau im Inland die reale Aufwertung zustandekommt; das Ausland betreibt eine restriktive Geldpolitik, um sein Preisniveau zu senken; oder der nominale Wechselkurs der DM wird entsprechend angepaßt, also aufgewertet. Das von der Bundesrepublik reklamierte Realignment stieß jedoch bei den Partnernotenbanken auf Ablehnung. Mit dem Verzicht auf eine Anpassung der nominalen Wechselkurse bürdeten sich die Partnerländer allerdings den Anpassungsdruck selber auf, weil von deutscher Seite eine weitere expansive Geldpolitik nicht erwartet werden

Währungssystem und deutsche Wirtschaftspolitik - 5 9 1 durfte. Der nominale Wechselkurs hätte in der Folgezeit von den anderen Mitgliedsländern nur mittels einer restriktiveren Geldpolitik als in Deutschland stabil gehalten werden können. Damit war auch das Sinken des französischen Preisniveaus unter das deutsche Preisniveau keineswegs verwunderlich, sondern vielmehr Ausdruck der oben erläuterten Anpassungserfordemisse an die neue reale Situation. Die Stabilität des FrancKurses hing vor diesem Hintergrund entscheidend vom Vertrauen der Finanzmärkte in eine weiterhin - ja sogar zunehmend - restriktive Geldpolitik in Frankreich ab. Vor dem Hintergrund steigender Arbeitslosigkeit in Frankreich und unverändert hoher Zinsen in Deutschland schwand dann allerdings das Vertrauen in eine weiterhin auf Stabilität ausgerichtete Geldpolitik in Frankreich. Somit existierte nach wie vor eine Vertrauensasymmetrie zu Lasten des französischen Franc, die durch die Entscheidung der Franzosen, die Unabhängigkeit ihrer Notenbank zunächst aufzuschieben, nicht gerade geringer geworden war. Die damit verbundenen Abwertungserwartungen für den Franc führten zu massiven Geldzuflüssen in die Bundesrepublik, so daß die bereits im Vorjahr stattgefundenen Devisenzuflüsse nochmals übertreffen wurden. Die damit drohende Anpassungsinflation in der Bundesrepublik führte dann im August 1993 zur faktischen Aufgabe des Festkurssystems, indem die Bandbreiten - bei formal unveränderten Leitkursen auf ± 15 Prozent ausgeweitet wurden. Ähnlich wie im Bretton Woods-System kam es folglich auch hier zum Scheitern eines Festkurssystems, aber nicht weil die Nicht-Leitwährungsländer den inflationären Impulsen des Leitwährungslandes nicht mehr zu folgen bereit waren, sondern weil das Ankerwährungsland Deutschland nicht willens war, die notwendige Anpassungsinflation vorzunehmen. Die Grenze der Sterilisationsmöglichkeit durch die Deutsche Bundesbank führte dazu, daß von deutscher Seite die 'Notbremse' in Form größerer Wechselkursflexibilität gezogen wurde. Literatur Argy, Victor (1981), The Postwar International Money Crisis, Boston and Sydney. Aschinger, Franz E. (1973), Das Währungssystem des Westens, 2. Aufl., Frankfurt. Aschinger, Franz E. (1978), Das neue Währungssystem, Frankfurt. Berg, Hartmut (1976), Internationale Wirtschaftspolitik, Göttingen. Bernholz, Peter (1974), Währungskrisen und Währungsordnung, Hamburg. Blancpain, Jean-Pierre (1962), Vom Bilateralismus zur Konvertibilität, Zürich. Bofinger, Peter (1988), Das Europäische Währungssystem und die geldpolitische Koordination in Europa, Kredit und Kapital, 21. Jg., S. 317-345. Bofinger, Peter (1991), Festkurssysteme und geldpolitische Koordination, Baden-Baden. Ciaassen, Emil-Maria (1990), Exchange Rate Management and International Coordination, in: Emil Maria Ciaassen (Hrsg.), International and European Monetary Systems, Oxford, S. 4159. De Grauwe, Paul (1989), International Money: Post-War Trends and Theories, Oxford. De Grauwe, Paul (1992), TheEconomics of Monetary Integration, Oxford. Deutsche Bundesbank (1975), Geschäftsbericht 1974, Frankfurt. Dürr, Ernst (1978), Entwicklungslinien in der internationalen Währungsordnung, in: Helmut Gröner und Alfred Schüller (Hrsg.), Internationale Wirtschaftsordnung, Stuttgart und New York, S. 143-151. Emminger, Otmar (1986), D-Mark, Dollar, Währungskrisen, Stuttgart.

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Summary International Monetary System and German Economic Policy The Federal Republic of Germany was confronted with different exchange rate regimes during the last 50 years. The influence of these regimes on German economic policy is the main subject of the analysis. Starting with a bilateral trading system in the post-war period, the integration of Germany into the world economy was primarily achieved through the OEEC and the European Payments Union (EPU). The EPU pro-

5 9 4 • Heinz-Dieter Smeets

moted the liberalisation of trade within the union and the settlement of bilateral balance of payments positions, which led to an expansion of international trade. Moreover, it facilitated the short-term financing of balance of payments deficits and exerted pressure to adjust on deficit countries. Facing an imminent liquidity crisis in 1950, the Federal Republic experienced these pressures of adjustment. However, this crisis was mainly overcome by market oriented policies. The Bretton Woods-System, which gained in importance for the Federal Republic after convertibility was widely achieved in 1959, exposed Germany to continuously recurrent adjustment pressures in the form of imported inflation. Because of political resistance, however, in most cases desirable realignments took place too late and were too small in magnitude during this phase. Only the move to floating exchange rates in March 1973 freed Germany from the obligation to intervene in important foreign exchange markets. This led to an increased independence of German economic policy, which enabled the Deutsche Bundesbank to adopt a new monetary strategy in 1975 being characterised by preannounced money stock targets. Nonetheless, voluntary interventions by central banks were undertaken when substantial deviations from the purchasing power parity were observed. In contrast to this development, the member countries of the European Community tied their exchange rates together by accepting principally fixed exchange rates with bands of ± 2.25% in April 1972. The 'Snake' and later the EMS evolved into an asymmetric system in which the DM became the anchor currency. This anchor position eased - with the exception of the crises 1992/1993 - the conduct of economic policies oriented at national objectives.

O R D O • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1997) Bd. 48

Bernhard Herz

Geld- und Währungspolitik in der Europäischen Währungsunion Inhalt I. Zur Ausgangslage II. Vor- und Nachteile einer Europäischen Währungsunion III. Die Auswahl der Teilnehmerländer IV. Geldpolitik in der Europäischen Währungsunion 1. Die Europäische Zentralbank 2. Die Einführung der gemeinsamen Europäischen Währung V. Das Europäische Währungssystem II VI. Das Primat der Währungspolitik Literatur Zusammenfassung Summary: Monetary Policy in the European Monatary Union

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I. Zur Ausgangslage Zentrales Ziel der Wirtschaftspolitik in einer Wettbewerbsordnung ist es, „den Preismechanismus funktionsfähig zu machen" (Eucken 1990, 256). Die Sicherung des Geldwertes ist dafür eine wesentliche Voraussetzung. Entsprechend besitzt die Währungspolitik für die Wettbewerbsordnung ein Primat (Eucken 1990). Dieses konstituierende Prinzip einer Wettbewerbsordnung wurde in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg vergleichsweise gut realisiert. Zusammen mit der Schweiz weist Deutschland die niedrigste durchschnittliche Inflationsrate unter den Industrieländern auf. Wesentliche Voraussetzungen für die stabilitätsorientierte Geldpolitik der Deutschen Bundesbank waren die institutionelle Unabhängigkeit der Notenbank und das wirtschaftspolitische Umfeld mit einem ausgeprägten Stabilitätskonsens in der Bevölkerung. Das Modell Bundesbank war so erfolgreich, daß seit Ende der siebziger Jahre eine wachsende Zahl europäischer Länder die Politik der Deutschen Bundesbank kopiert. Diese Länder nutzen ihre geldpolitische Autonomie dazu, auf eine eigenständige Geldpolitik zu verzichten. Sie übernehmen die Politik der Deutschen Bundesbank, indem sie den Wechselkurs mit der D-Mark stabilisieren. So entwickelte sich in Europa ein Währungsraum mit einer gemeinsamen Geldpolitik unter Leitung der Deutschen Bundesbank. Die faktisch einheitliche Geldpolitik in dieser D-Mark-Zone ist das Ergebnis eines dezentralen Harmonisierungsprozesses (Herz 1994).

5 9 6 • Bernhard Herz

Wenn die Länder der D-Mark-Zone in die Europäische Währungsunion (EWU) eintreten, vollziehen sie ordnungspolitisch einen fundamentalen Systemwechsel. Die nationalen Geldpolitiken werden unwiderruflich entnationalisiert, allerdings nicht im Hayekschen Sinne einer Privatisierung der Geldproduktion (Hayek 1977; Gerding und Starbatty 1980), sondern in Form einer Supranationaliserung und Vergemeinschaftung der Geldpolitik. Der Währungswettbewerb entfällt, wenn die nationalen Geldpolitiken durch eine zentrale einheitliche Geldpolitik ersetzt werden. Angesichts der großen stabilitätspolitischen Erfolge in der Vergangenheit stellt sich aus deutscher Sicht die Frage nach den Chancen und Risiken einer Europäischen Währungsunion besonders drängend. Ist in der Währungsunion das Primat der Währungspolitik noch gewährleistet? Kann die Geldwertstabilität als Voraussetzung für eine Wettbewerbsordnung in der Europäischen Währungsunion gesichert werden? Im weiteren Verlauf sollen die Folgen der Europäischen Währungsunion für die Geld- und Währungspolitik und damit die Geldwertstabilität untersucht werden.1 Dazu werden zunächst mögliche Vor- und Nachteile einer gemeinsamen Währung gegenübergestellt. Dabei ist von besonderem Interesse, wie die Kosten und Nutzen einer Währungsunion wirtschaftspolitisch beeinflußt werden können (Kapitel II). Da die Vor- und Nachteile einer Währungsunion wesentlich davon abhängen, welche Länder teilnehmen, wird in Kapitel III untersucht, inwieweit das im Maastrichter Vertrag vorgesehene Verfahren eine stabilitätsorientierte Auswahl der Teilnehmerländer erwarten läßt. Anschließend wird auf Basis der im Maastrichter Vertrag festgelegten Notenbankverfassung und der Vorarbeiten des Europäischen Währungsinstituts versucht abzuschätzen, ob die institutionellen Voraussetzungen für eine stabilitätsorientierte Geldpolitik in der Europäischen Währungsunion gegeben sind (Kapitel IV). Schließlich soll in Kapitel V untersucht werden, inwieweit die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) durch Interventionsverpflichtungen im Rahmen des Europäischen Währungssystems II (EWS II) unterminiert werden kann.

II. Vor- und Nachteile einer Europäischen Währungsunion Zu den sicheren Vorteilen einer gemeinsamen Währung gehört offensichtlich, daß mit den nationalen Währungen auch die Umtauschkosten sowie die Kosten der Wechselkursunsicherheit im gemeinsamen Währungsraum entfallen und die Preisstruktur transparenter wird. Es besteht zudem die Chance, daß es mit der zunehmenden Integration der Güter- und vor allem der Kapitalmärkte zu Effizienzgewinnen mit möglicherweise langfristigen positiven Wachstumseffekten kommt (Baldwin 1991). Zu den unweigerlichen Nachteilen einer Währungsunion gehört, daß die Teilnehmer mit ihrer nationalen Währung ein wichtiges wirtschaftspolitisches Instrument verlieren:

1

2

Zu den früheren Bestrebungen einer Europäischen Währungsunion im Gefolge des Den Haager Gipfels vom Dezember 1969 sowie zur Diskussion im Vorfeld des Maastrichter Vertrags: Hasse (1989), Mir* (1993). Zu weiteren Aspekten der Europäischen Währungsunion, insbesondere zur Stabilitätsorientierung der Fiskalpolitiken, vgl. den Beitrag von R. Hasse in diesem Band.

Geld-und Währungspolitik in der Europäischen Währungsunion • 5 9 7

Sie haben keine Möglichkeit mehr zu einer autonomen Geld- und Wechselkurspolitik. Aus Sicht stabilitätsorientierter Länder besteht zusätzlich das Risiko, daß die neue gemeinsame Währung weniger stabil ist als die bestehende nationale Währung. Dabei kann schon ein geringer Anstieg der Inflationsrate zu Wachstumseinbußen mit langfristig erheblichen Einkommensverlusten fuhren (Feldstein 1996; Barro 1997). Kosten und Nutzen einer Währungsunion sind wesentlich wirtschaftspolitisch bestimmt. Sie hängen insbesondere ab von - der währungspolitischen Ausgangsposition vor dem Eintritt in die Währungsunion, - den Strukturmerkmalen der beteiligten Länder, - den Wirtschaftspolitiken nach Eintritt in die Währungsunion. Der Nutzen einer Währungsunion in Form entfallender Kosten der Wechselkursrisiken ist offensichtlich vor allem dann groß, wenn die Währungsunion mit einem System flexibler Wechselkurse verglichen wird. Dagegen sind diese Vorteile relativ gering, wenn die Währungsunion aus einem Währungsraum mit relativ stabilen 'BinnenWechselkursen' hervorgehen soll wie der derzeitigen D-Mark-Zone in Europa. Umgekehrt sind die Kosten des Verzichts auf das Wechselkursinstrument relativ groß, wenn die wirtschaftliche Entwicklung der Teilnehmerländer sehr unterschiedlich verläuft. Sie dürften dagegen relativ klein sein für die Länder der D-Mark-Zone, die teilweise schon seit Jahren auf eine eigenständige Geldpolitik und eine aktive Wechselkurspolitik verzichten. Das Kosten-Nutzen-Kalkül einer Währungsunion hängt auch wesentlich von der Struktur der beteiligten Länder ab und fällt für jedes Land anders aus. Die traditionelle Theorie des optimalen Währungsraums zeigt etwa die Nachteile, wenn Länder auf eigenständige Geldpolitiken verzichten und den gemeinsamen Wechselkurs vollständig fixieren. Dadurch können höhere Anpassungskosten bei asymmetrischen realen Schocks und bei Strukturunterschieden zwischen den beteiligten Ländern auftreten, etwa bei Unterschieden der Lohnflexiblität, der Außenhandelsverflechtung oder der nationalen Inflationspräferenzen (De Grauwe 1996). Entsprechend werden kleine, sehr offene Volkswirtschaften mit einer schwachen Währung mehr von einer Währungsunion profitieren als große, relativ geschlossene Länder mit einer stabilen Währung. Für das bisherige Leitwährungsland Deutschland bedeutet der Eintritt in die Europäische Währungsunion, daß es seine geldpolitische Autonomie verliert, während die anderen Länder der D-Mark-Zone an wirtschaftspolitischem Einfluß gewinnen. Aufgrund dieser länderspezifischen Kosten und Nutzen kann es nicht überraschen, daß Zustimmung und Ablehnung der Europäischen Währungsunion in den einzelnen EU-Ländern ganz unterschiedlich ausfallen. Da die Frage nach den Vor- und Nachteilen der Europäischen Währungsunion nicht allgemein, sondern nur für eine genau spezifizierte Gruppe von Ländern beantwortet werden kann, wurde versucht, etwa anhand der Theorie des optimalen Währungsraums geeignete Teilnehmer für eine Europäische Währungsunion zu identifizieren.3 Generell kommen diese Untersuchungen zu dem Ergebnis, daß mit den Ländern der D-MarkZone ein Kern von Volkswirtschaften existiert, für welche die Kosten des Verzichts auf 3 Etwa Menkhoff und Seil (1992), Eichengreen (1992), Gros (1996), Bayoumi und Eichengreen (1997).

598 • Bernhard Herz das Wechselkursinstrument vernachlässigbar sind, vor allem auf Grund der ähnlichen Wirtschaftsstruktur und dem ähnlichen Konjunkturverlauf. Bei allen Gemeinsamkeiten wird in den Studien aber auch deutlich, daß für die einzelnen Indikatoren sehr unterschiedliche Ländergruppen als geeignet für die Europäische Währungsunion ausgewählt werden (Gros 1996). Die empirischen Untersuchungen heben notwendigerweise eher auf statische Merkmale ab, etwa auf den Grad der Offenheit, die Inflationsentwicklung und die Industriestruktur. Die möglichen längerfristigen Wirkungen der Europäischen Währungsunion lassen sich dagegen kaum empirisch abschätzen. Aus ordnungspolitischer Sicht könnte sich vor allem negativ auswirken, daß der Grad des innereuropäischen Währungswettbewerbs abnimmt, wenn die nationalen Währungen durch eine gemeinsame europäische Währung ersetzt werden. Letztlich konnte trotz einer Vielzahl von Studien die Frage, ob für die einzelnen EULänder die wirtschaftlichen Nutzen der Europäischen Währungsunion die wirtschaftlichen Kosten überwiegen, nicht eindeutig beantwortet werden. 4 Auch die Tatsache, daß einige Länder der Europäischen Währungsunion (noch) nicht beitreten wollen, ist ein Indiz dafür, daß die Teilnahme an der EWU nicht notwendigerweise von Vorteil ist. So stellt sich gerade für Deutschland weiterhin die Frage, warum die derzeitige Situation der D-Mark-Zone durch die Europäische Währungsunion ersetzt werden soll: 'Why fix it, if it aint't broke'. Diese Unsicherheit über die Kosten und Nutzen der gemeinsamen Währung haben einige wichtige wirtschaftspolitische Konsequenzen für den weiteren Weg in die Europäische Währungsunion: - Die Frage einer Teilnahme an der Europäischen Währungsunion ist letztlich eine politische Entscheidung, vor allem wenn mit der Teilnahme auch politische Ziele wie die weitere politische Integration Europas erreicht werden sollen {Kohl 1996). Das bedeutet nicht, daß die politische Entscheidung unabhängig von ökonomischen Überlegungen getroffen werden kann. Die ökonomische Analyse gibt Anhaltspunkte für den wirtschaftlichen Preis der politischen Entscheidung für eine Europäische Währungsunion. - Da die Kosten-Nutzen-Situation für jedes Land anders ist, sollten die einzelnen Länder ihre Entscheidung über das Ob und Wann einer Teilnahme an der Währungsunion selbst treffen. Auf Elemente des Gruppenzwangs (vgl. Kapitel III) und starre Zeitpläne, wie sie im formalen Auswahlverfahren des Maastrichter Vertrags vorgesehen sind, sollte verzichtet werden. - Der Nettonutzen der Europäischen Währungsunion wird wesentlich durch die Wirtschaftspolitik beeinflußt. Entsprechend wichtig ist es, schon im Vorfeld der Währungsunion den noch vorhandenen Gestaltungsspielraum zu nutzen, etwa bei der Auswahl der Teilnehmerländer. Für die Zeit nach Beginn der Währungsunion sollten die Voraussetzungen für eine stabilitätsorientierte Geldpolitik gestärkt (vgl. Kapitel IV) und die Anpassungsfähigkeit der Volkswirtschaften verbessert werden, insbesondere durch eine stärkere Öffnung und Flexibilisierung der Arbeitsmärkte. 4 Etwa Hasse (1989), Europäische Kommission (1990; 1991); Bayoumi und Eichengreen (1997); Fran-

kel und Rose (1997).

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III. Die Auswahl der Teilnehmerländer Kosten und Nutzen der gemeinsamen Währung hängen für ein Land wesentlich davon ab, welche anderen Länder an der Währungsunion teilnehmen werden. Mit der Zusammensetzung der EWU-Länder variieren die Kosten des Verzichts auf eine eigenständige Geldpolitik und die Vorteile des Wegfalls von Umtausch- und Kurssicherungskosten. Auch die Ausrichtung der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank wird trotz aller institutionellen Absicherungen nicht unabhängig vom Kreis der teilnehmenden Länder sein (vgl. Kapitel IV). In der wichtigen Frage der Auswahl der Teilnehmer wurde im Maastrichter Vertrag (EGV) eine abgestufte Integrationsstrategie gewählt. Nicht alle EU-Länder können oder müssen von Anfang an an der Währungsunion teilnehmen. Um die Erfolgschancen für die Europäische Währungsunion zu verbessern, sollen nur solche Länder an der EWU teilnehmen, welche „die notwendigen Voraussetzungen für die Einführung einer einheitlichen Währung erfüllen" (Art. 109j EGV). Großbritannien und Dänemark haben sich ein explizites Wahlrecht bezüglich der Teilnahme an der Währungsunion einräumen lassen.5 Die Teilnehmerländer werden in einem mehrstufigen Verfahren ausgewählt. Grundlage der Auswahlentscheidung bildet die wirtschaftliche Entwicklung der einzelnen Länder, insbesondere das erreichte Maß an monetärer Stabilität und wirtschaftlicher Konvergenz. Prüfstein dafür ist vor allem die Einhaltung der vier Konvergenzkriterien: hoher Grad an Preisstabilität, auf Dauer tragbare öffentliche Finanzen, stabile Wechselkurse im Europäischen Währungssystem und niedrige langfristige Zinsen (Art. 109j EGV). Das Kriterium stabiler Preise gilt als erreicht, wenn die Inflationsrate nicht mehr als 1,5 Prozentpunkte über der Inflationsrate der maximal drei Länder mit dem höchsten Grad an Preisstabilität liegt. Der langfristige Zinssatz soll nicht mehr als zwei Prozentpunkte über dem Zinsniveau dieser Länder liegen. Die öffentlichen Finanzen eines Landes gelten laut Maastrichter Vertrag auf jeden Fall dann als auf Dauer tragbar, wenn das laufende Haushaltsdefizit nicht mehr als drei Prozent und die öffentliche Verschuldung nicht mehr als sechzig Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen. Das Wechselkurskriterium verlangt die Teilnahme am Wechselkursmechanismus des Europäischen Währungssystems (EWS) innerhalb der normalen Bandbreiten ohne Abwertung in den zwei Jahren vor der Auswahlentscheidung. Der Einfluß dieser ökonomischen Prüfkriterien wird allerdings auf verschiedene Weise relativiert. So sind die Konvergenzkriterien im Maastrichter Vertrag teilweise vage formuliert. Dies gilt vor allem für den Prüfstein tragbarer öffentlicher Finanzen.6 Werden die Drei-Prozent-Defizitquote oder die Sechzig-Prozent-Schuldenquote überschritten, kann der Ministerrat in einer Ermessensentscheidung die öffentlichen Finanzen eines Landes dennoch als auf Dauer tragbar erklären, etwa wenn die Schuldenquote 5

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Im Frühjahr 1997 erklärte die schwedischen Regierung, daß sie nicht von Beginn an an der Europäischen Währungsunion teilnehmen wolle (Steuer 1997). Die (Nicht)Reaktion der übrigen EU-Regierungen auf diese Ankündigung scheint darauf hinzudeuten, daß Schweden faktisch ebenfalls ein Optout eingeräumt wird. Zu den noch offenen Fragen der statistischen Abgrenzungen und der Festlegung der Referenzwerte für das Inflations- und das Zinskriterium: Europäisches Währungsinstitut (1995, 51 ff.).

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eines Landes „hinreichend rückläufig ist und sich rasch genug dem Referenzwert nähert" und die Defizitquote „erheblich und laufend zurückgegangen ist" oder „der Referenzwert nur ausnahmsweise und vorübergehend überschritten wird" (Art. 104c Abs. 2 EGV). Die Bindewirkung des Haushaltskriteriums wird auch durch Versuche einzelner Staaten aufgeweicht, das Defizit- und/oder Schuldenkriterium weniger im Rahmen einer finanzpolitischen Konsolidierung, sondern eher im Sinne einer kreativen Buchführung durch buchhalterische Tricks zu erfüllen. Im Falle des Wechselkurskriteriums ist vor allem strittig, ob die ursprünglichen engen Bandbreiten des Europäischen Währungssystems von ± 2,25% oder die aktuell gültigen Bandbreiten von ± 1 5 % als normal gelten und ob die formale Mitgliedschaft im Wechselkursmechanismus des EWS notwendig ist. Die Konvergenzkriterien werden ebenfalls dadurch relativiert, daß sich in der öffentlichen Diskussion - auch in Deutschland - eine Hierarchie der Kriterien herausgebildet hat, obwohl laut Maastrichter Vertrag alle Prüfsteine gleichrangig sind. Eine zentrale Rolle nehmen das Inflations- und das Zinskriterium als Maßstab für die monetäre Konvergenz der EU-Länder ein. Das Kriterium der Defizitquote hat durch den von Bundesfinanzminister Waigel initiierten Stabilitäts- und Wachstumspakt (vgl. auch den Beitrag von R. Hasse) und das Beharren vor allem der deutschen Regierung auf einer engen Interpretation der Konvergenzkriterien eine gewisse Aufwertung erfahren. Dagegen scheint dem Prüfstein Schuldenquote nur ein relativ geringer Stellenwert zuzukommen, wohl nicht zuletzt deshalb, weil die meisten Länder dieses Kriterium im Sinne der Sechzig-Prozent-Quote auf absehbare Zeit nicht erreichen werden. Auch eine strikte Anwendung des Wechselkurskriteriums scheint derzeit wenig wahrscheinlich.7 Es sind vor allem die Notenbanken, insbesondere auch die Deutsche Bundesbank, welche die Bedeutung des Wechselkurskriteriums herunterspielen. Vermutlich fürchten sie eine Einschränkung ihrer geldpolitischen Autonomie, wenn bei unbeschränkter Kapitalmobilität die Wechselkurse stärker stabilisiert werden sollen.8 Die Selektionswirkung der Konvergenzkriterien wird zusätzlich dadurch aufgeweicht, daß in den Konvergenzberichten noch andere Indikatoren wie „die Entwicklung der ECU, die Ergebnisse bei der Integration der Märkte, der Stand und die Entwicklung der Leistungsbilanzen, die Entwicklung bei den Lohnstückkosten und andere Preisindizes" berücksichtigt werden sollen (Art. 109j Abs. 1 EGV). Schließlich gehen die Konvergenzberichte nur mittelbar in die Auswahlentscheidung ein. Sie bilden lediglich die Grundlage, auf welcher der Rat beurteilt, ob die einzelnen Mitgliedstaaten die Voraussetzungen für die Einfuhrung einer einheitlichen Währung erfüllen (Art. 109j, Abs. 2 und 3). Die Konvergenzkriterien sind somit keine Beitrittsbedingungen und haben rechtlich keinen bindenden Charakter (Streinz 1995, Tz. 871). Letztlich ist die Auswahl der EWU-Gründerstaaten eine politische Entscheidung: Die 7

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So hält es das Europäische Währungsinstitut bezüglich der Wechselkurse nicht für angebracht, vorab festzulegen, was unter den im Maastrichter Vertrag vorgesehenen normalen Bandbreiten und dem Konzept der Abwesenheit von starken Spannungen im Europäischen Währungssystem genau zu verstehen ist (Europäisches Währungsinstitut 1995, 42). Vgl. auch Röpke (1958) zur Diskussion des Verhältnisses zwischen Offenheit von Märkten, Autonomie der Geldpolitik und Wechselkursstabilität.

Geld-und Währungspolitik in der Europäischen Währungsunion • 601

Staats- und Regierungschefs stimmen mit qualifizierter Mehrheit darüber ab, welche Länder die Voraussetzungen für die Einfuhrung der gemeinsamen Währung erfüllen. Notwendig für die qualifizierte Mehrheit sind 62 von 87 Stimmen, so daß die Sperrminorität 26 Stimmen beträgt.9 Wie werden Länder, welche die Konvergenzkriterien in der engen Interpretation nicht erfüllen, ihre Stimmen und damit ihre Verhandlungsmacht in der Auswahlentscheidung einsetzen? Zwei Möglichkeiten sind grundsätzlich denkbar. Entweder versuchen sie, eine weite Interpretation der Konvergenzkriterien durchzusetzen, um ebenfalls an der Währungsunion teilnehmen zu können. Oder sie lassen sich ihre Einwilligung zu einer kleinen Währungsunion, an der sie nicht selbst teilnehmen, abkaufen, etwa durch Einrichtung neuer Regionalfonds oder Zugeständnissen in anderen Politikfeldern der EU. Diese Option steht auch den Ländern zu Verfügung, die nicht an der Europäischen Währungsunion teilnehmen wollen.10 Inwieweit können stabilitätsorientiertere Länder eine weite Interpretation der Konvergenzkriterien verhindern? Derzeit ist davon auszugehen, daß die ganz überwiegende Zahl der Mitgliedstaaten zum Jahresbeginn 1998 zumindest einen Referenzwert der Konvergenzkriterien nicht erreichen wird. Damit ist keine Sperrminorität absehbar, die etwa auf eine strikte Interpretation der Konvergenzkriterien im Sinne der Drei-ProzentDefizitquote und der Sechzig-Prozent-Schuldenquote drängen würde. Das Erfordernis, die Teilnehmerländer mit qualifizierter Mehrheit auszuwählen, wirkt damit aus Sicht stabilitätsorientierter Länder nutzenmindemd. Um die erforderliche Stimmenzahl zu erreichen, müssen sie entweder eine größere Währungsunion als die gewünschte akzeptieren oder mit Hilfe von Seitenzahlungen die notwendigen Stimmen für eine kleine Währungsunion kaufen (Krumm und Herz 1997)." Die Vertreter einer engen Interpretation der Konvergenzkriterien befinden sich damit in einer schwierigen Situation. Einerseits drängen sie auf eine enge Auslegung der Konvergenzkriterien, nicht zuletzt um den Anpassungsdruck auf die EU-Länder aufrechtzuerhalten und die Konvergenz innerhalb der EU zu erhöhen. Andererseits erwecken sie damit in der Öffentlichkeit die Erwartung, daß es auch tatsächlich zu einer strikten Anwendung der Referenzwerte kommt. Für die Marktteilnehmer besteht aufgrund der asymmetrischen Information über die Präferenzen der nationalen Regierungen ein Signal extraction-Problem. Wie ist es zu interpretieren, wenn Regierungen auf eine strikte Anwendung der Konvergenzkriterien drängen und es dann aber zu einer Auswahl von Ländern kommt, die dieser engen Auslegung nicht entspricht? Bedeutet dies, daß die 9

Art. 148 EGV. Deutschland, Frankreich, Italien und Großbritannien verfugen über je zehn Stimmen, Spanien über acht, Belgien, Griechenland, Niederlande und Portugal über je fünf, Österreich und Schweden über je vier, Dänemark, Finnland und Irland über je drei und Luxemburg über zwei Stimmen. 10 Formal haben sich die Mitgliedstaaten in dem Protokoll über den Übergang zur dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion verpflichtet, den Eintritt in die Währungsunion auch dann nicht zu behindern, wenn sie selbst nicht an der Währungsunion teilnehmen. Angesichts der EG-politischen Praxis des Entscheidens über Verhandlungspakete ist die faktische Bindungswirkung des Protokolls allerdings zweifelhaft. Großbritannien, Dänemark und Schweden, die nicht von Beginn an der EWU teilnehmen wollen, verfugen zusammen über 17 Stimmen. Die Sperrminorität könnte sich so von 26 auf neun Stimmen verringern. 11 Vgl. auch den Vorschlag eines Opt-outs für Deutschland: De Grauwe (1995).

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Regierangen tatsächlich weniger starke Präferenzen fiir eine stabilitätsorientierte Politik in der Europäischen Währungsunion haben? Ist damit zu rechnen, daß auch andere Aspekte des Maastrichter Vertrags weniger strikt interpretiert werden, etwa die institutionelle Unabhängigkeit der Notenbank? Wenn es zu einer Länderauswahl kommt - sei diese Entscheidung ökonomisch auch begründbar die sich nicht streng an den Referenzwerten orientiert, sind daher Reputationsprobleme für die Europäische Zentralbank und negative Reaktionen der Kapitalanleger nicht auszuschließen.

IV. Geldpolitik in der Europäischen Währungsunion 1. Die Europäische Zentralbank Inflation gilt nach gängiger ökonomischer Theorie als monetäres Phänomen. Langfristig kommt es ohne dauerhafte Erhöhung des Geldangebots nicht zu Inflation. Danach wird Geldwertstabilität in der Europäischen Währangsunion erreicht, wenn die Europäische Zentralbank (EZB) die Wachstumsrate der Euro-Geldmenge auf die langfristige Wachstumsrate des realen Sozialprodukts in der Währungsunion begrenzt. Ob die Europäische Zentralbank eine stabilitätsorientierte Geldpolitik verfolgen wird, wird maßgeblich davon abhängen, wie unabhängig sie in ihrer Politik und wie stabilitätsorientiert ihr politisches Umfeld sein werden. Die Unabhängigkeit einer Notenbank wird bestimmt von den formal-rechtlichen Rahmenbedingungen sowie von einer Vielzahl anderer, weniger strukturierter Einflußfaktoren, etwa dem Führungspersonal der Notenbank oder den internen Regelungen und Strukturen der Notenbank. Je stringenter der Rechtsrahmen einer Notenbank geregelt ist, desto weniger weichen formale und faktische Unabhängigkeit voneinander ab (Cukierman 1992; Alesina und Summers 1993). Die Verfassung der Europäischen Zentralbank orientiert sich weitgehend am Modell der Deutschen Bundesbank und ist damit im internationalen Vergleich relativ präzise geregelt. Trotz der derzeitigen Unsicherheit über den Einfluß der anderen Faktoren dürfte somit eine Untersuchung der formalen Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank wichtige Anhaltspunkte für ihre faktische Unabhängigkeit liefern. Die Unabhängigkeit einer Notenbank läßt sich nach den Ebenen: funktionelle, personelle, instrumenteile und finanzielle Unabhängigkeit unterscheiden (Willms 1995, 249). Funktionelle Unabhängigkeit bedeutet eine klare Zielvorgabe für die Notenbank und eine eindeutige Zuweisung aller geldpolitischen Kompetenzen allein an die Notenbank. Beides ist im Maastrichter Vertrag vergleichsweise gut geregelt. „Das vorrangige Ziel des Europäischen Systems der Zentralbanken ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten" (Art. 105 Abs. 1 EGV). Die Europäische Zentralbank soll die allgemeine Wirtschaftspolitik der Gemeinschaft nur in dem Maße unterstützen, wie dies ohne Beeinträchtigung des Ziels Preisstabilität möglich ist. Auch die geldpolitischen Kompetenzen in der Währungsunion sind eindeutig verteilt. Für die Geldpolitik in der Währungsunion sind allein das Europäische System der Zentralbanken (ESZB), also die Europäische Zentralbank und die ihr angeschlossenen nationalen Notenbanken, verantwortlich. Sie dürfen keine Weisungen von anderen Institutionen entgegennehmen (Art. 107 EGV). Dagegen hat

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die Europäische Zentralbank das Recht, zu Fragen, die in ihren Zuständigkeitsbereich fallen, Stellungnahmen gegenüber der Gemeinschaft und den nationalen Behörden abzugeben (Art. 105 Abs. 4 EGV). Zielkonflikte könnten sich für die EZB ergeben, wenn ihr weitere Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufsicht über Finanzinstitute übertragen werden, wie das Art. 105 Abs. 6 EGV vorsieht. Sowohl die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank als auch ihre Verpflichtung auf das Ziel Geldwertstabilität sind rechtlich vergleichsweise gut abgesichert. Sie können nur im Rahmen einer Novellierung des Maastrichter Vertrags, der alle EU-Staaten zustimmen müssen, geändert werden. Die funktionelle Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank könnte noch gestärkt werden, indem die EZB verpflichtet wird, das Ziel Geldwertstabilität mit der Vorgabe einer angestrebten Inflationsrate zu konkretisieren und überprüfbar zu machen.12 Ähnlich könnte die Vorgabe eines Geldmengenziels wirken.13 Der Aspekt der personellen Unabhängigkeit bezieht sich auf die Auswahl der Notenbankleitung und die Länge der Amtszeiten. Die 6 Mitglieder des Direktoriums der Europäischen Zentralbank werden vom Europäischen Rat der EWU-Länder ('Ins') nach Anhörung des Europäischen Parlaments und des EZB-Rates „aus dem Kreis der in Währungs- oder Bankfragen anerkannten und erfahrenen Persönlichkeiten einvernehmlich ausgewählt" (Art. 11 Protokoll über die Satzung des Europäischen System der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank, EGV). Die achtjährige Amtszeit ohne Wiederwahlmöglichkeit stärkt die personelle Unabhängigkeit der Direktoriumsmitglieder. Mitglieder des Direktoriums können nur entlassen werden, wenn sie die Voraussetzungen für ihr Amt nicht mehr erfüllen oder schwere Verfehlungen begehen, und zwar durch den Europäischen Gerichtshof auf Antrag der Europäischen Zentralbank (EZBRat oder Direktorium). Mitglieder des Direktoriums dürfen keiner anderen Beschäftigung nachgehen, es sei denn, der EZB-Rat stimmt einer Ausnahme zu. Schließlich bietet auch die Festlegung der Gehälter und anderer Beschäftigungsbedingungen im Falle der Direktoriumsmitglieder kaum einen Ansatz für politische Einflußnahme. Die Arbeitsverträge des Direktoriums werden vom EZB-Rat auf Vorschlag eines Ausschusses festgelegt, der aus jeweils drei vom Ministerrat und vom EZB-Rat bestellten Mitgliedern besteht (Protokoll über die Satzung des Europäischen System der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank, EGV). Weniger stringent sind die Regelungen für die übrigen Mitglieder des EZB-Rates, die Präsidenten der beteiligten nationalen Notenbanken. Sie werden von nationalen Instanzen ausgewählt, und der Maastrichter Vertrag schreibt nur eine Amtszeit von mindestens fünf Jahren vor, mit der Möglichkeit der Wiederwahl. Auch die Präsidenten können aufgrund fehlender Voraussetzungen für das Amt oder schwerer Verfehlungen im Rahmen national geregelter Verfahren entlassen werden. Gegen eine solche Entscheidung kann der Europäische Gerichtshof angerufen werden. Aufgrund der schwächeren rechtlichen Regelungen sind Versuche der nationalen Einflußnahme vor allem über die Präsidenten der nationalen Notenbanken möglich. Die personelle Unabhängigkeit der Mitglieder des EZB-Rates könnte durch anreizkom-

12 Zur Eignung von Inflationszielen für die Geldpolitik: Bernanke und Mishkin (1997). 13 Zur Wahl der geldpolitischen Strategie der Europäischen Zentralbank, insbesondere zur Wahl eines Inflations- und/oder eines Geldmengenziels: King (1996); Issing (1996); Hagen und Neumann (1996).

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patible Arbeitsverträge gestärkt werden, etwa über die Koppelung der Gehälter an die Erreichung des Ziels Geldwertstabilität (Vaubel 1990). Eine Notenbank ist instrumenteil unabhängig, wenn sie technisch das Geldangebot kontrollieren und damit das Ziel Geldwertstabilität erreichen kann. Das bedeutet, daß sie über die notwendigen geldpolitischen Instrumente verfugen muß, die direkte Finanzierung von staatlichen Haushaltsdefiziten ausgeschlossen ist und allein die Notenbank darüber entscheidet, ob sie an Festkurssystemen teilnimmt und zu welchen Bedingungen. Nach den bisherigen Vorarbeiten des Europäischen Währungsinstituts zeichnet sich ab, daß die Europäische Zentralbank über die für eine stabilitätsorientierte Geldpolitik notwendigen Instrumente verfügen wird (Europäisches Währungsinstitut 1997; Menkhoff 1996). Es ist vorgesehen, Zentralbankgeld im wesentlichen über Wertpapierpensionsgeschäfte bereitzustellen. Zur Deckung kurzfristiger Liquiditätsengpässe steht eine Spitzenfinanzierungsfazilität bereit, vergleichbar dem Lombardkredit der Deutschen Bundesbank. Die aus bundesdeutscher Sicht wichtigste Veränderung wird der Wegfall der Diskontgeschäfte sein. Dies ist aus ordnungspolitischen Gründen zu begrüßen, da die Begünstigung des Handelswechsels und die subventionierte Bereitstellung eines Teils der Geldbasis entfallen. Mit dem Wegfall des Diskontsatzes wird die Zinsuntergrenze auf dem Geldmarkt durch den Zinssatz für Einlagen bei der Europäischen Zentralbank gebildet. Ordnungspolitisch wünschenswert wäre auch der Verzicht der Europäischen Zentralbank auf das Instrument Mindestreserve, um die Diskriminierung mindestreservepflichtiger Finanzaktiva zu vermeiden. Ob die Mindestreserve eingeführt wird und wenn ja, wie sie ausgestaltet sein wird, ist derzeit noch offen (Europäisches Währungsinstitut 1997, 18f). Staatliche Haushaltsdefizite sollten in der Europäischen Währungsunion keine direkten Probleme für die Geldpolitik verursachen, da der Europäischen Zentralbank die unmittelbare Finanzierung von Haushaltsdefiziten verboten ist (Art. 21 Protokoll über die Satzung des Europäischen System der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank, EGV). Nicht auszuschließen ist aber, daß die Europäische Zentralbank auf wirtschaftliche Schwierigkeiten von EWU-Ländern mit einer expansiven Geldpolitik reagiert, vor allem wenn die Stabilität des finanziellen Sektors gefährdet ist. Die größten Probleme für die instrumenteile Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank sind von währungspolitischen Vereinbarungen der EWU-Länder zu erwarten. Die Europäische Zentralbank hat zwar im Falle von Wechselkursvereinbarungen entweder ein Vorschlags- oder ein Anhörungsrecht, letztlich liegt die währungspolitische Kompetenz aber beim Ministerrat der 'Ins'. Er entscheidet über die Einführung von Festkurssystemen mit anderen Währungen einstimmig sowie über die Höhe, Änderung oder Aufgabe von Leitkursen mit qualifizierter Mehrheit (Art. 109 Abs. 1 EGV). Der Rat kann im Falle von Währungen, mit denen kein formales Festkurssystem besteht, allgemeine Orientierungen für die Wechselkurspolitik vorgeben (Art. 109 Abs. 2 EGV) und „Vereinbarungen im Zusammenhang mit Währungsfragen oder Devisenregelungen" treffen (Art. 109 Abs. 3 EGV). Formal stehen alle währungspolitischen Rechte des Ministerrats unter dem Vorbehalt, daß das Ziel Preisniveaustabilität nicht beeinträchtigt wird. Dennoch kann nicht ausgeschlossen werden, daß in zukünftigen Festkurssystemen Leitkurse auf einem nicht angemessenen Niveau festgelegt oder die Leitkurse nicht an

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veränderte wirtschaftliche Gegebenheiten angepaßt werden. Die Europäische Zentralbank wäre zu Interventionen zu Gunsten von Schwachwährungen und damit zu einer zu expansiven Geldpolitik gezwungen (vgl. auch Kapitel V). Eine Notenbank ist finanziell unabhängig, wenn sie über eigene Einnahmen verfügt und einen eigenen Haushalt hat. Zur finanziellen Unabhängigkeit gehören ebenfalls eindeutige Regeln für die Gewinnausschüttung an die Teilnehmerstaaten. Das Statut der Europäischen Zentralbank erfüllt diese Bedingungen (Willms 1995,250ff). 14 Läßt die enge Orientierung der Verfassung der Europäischen Zentralbank am Bundesbankgesetz erwarten, daß die EZB eine ähnliche Politik verfolgen wird wie die Deutsche Bundesbank? Nicht notwendigerweise. Die Europäische Zentralbank wird - wie andere Notenbanken auch - ihre Politik nicht unabhängig von ihrem wirtschaftlichen und politischen Umfeld verfolgen. Es ist zu erwarten, daß die Europäische Zentralbank in einem weniger stabilitätsorientierten Umfeld agieren wird als die Deutsche Bundesbank (Starbatty 1997). So ist aufgrund der bisherigen Entwicklung in der EU nicht auszuschließen, daß in einigen Ländern eine weniger hohe Präferenz für das Ziel Geldwertstabilität besteht als in Deutschland. Auch in den deutsch-französischen Auseinandersetzungen um den Stabilitäts- und Wachstumspakt sind wieder unterschiedliche Auffassungen über die Rolle der Geldpolitik deutlich geworden. Vom öffentlichen Schuldenstand, der in der EWU höher sein wird als derzeit in Deutschland, könnte ebenfalls Druck auf die Europäische Geldpolitik ausgehen. Schließlich könnten auf Grund der schlechteren Schockanpassung in der Währungsunion die Anforderungen an die Geldpolitik zunehmen (Bayoumi und Eichengreen 1993). Vor diesem Hintergrund sind für die Europäische Zentralbank verbindlichere rechtliche Absicherungen notwendig, damit sie eine vergleichbar stabilitätsorientierte Politik verfolgen kann wie die Deutsche Bundesbank. Erleichternd könnte für die Europäische Zentralbank allerdings die Machtverschiebung wirken, die mit der Vergemeinschaftung der Geldpolitik einhergeht. Derzeit sehen sich Fiskalpolitiker und andere wirtschaftspolitische Akteure eines Landes einer nationalen Notenbank gegenüber. In der Europäischen Währungsunion werden sie mit einer supranationalen Notenbank konfrontiert. Aufgrund der größeren Heterogenität dieser Gruppen dürfte der politische Druck auf die Geldpolitik in der Europäischen Währungsunion weniger groß sein als in den bisherigen EU-Ländern. So ist etwa in Deutschland davon auszugehen, daß etwa im Falle der Fiskalpolitik in erster Linie der Bund Druck auf die Notenbank ausüben kann, weniger die einzelnen Bundesländer. Vor diesem Hintergrund sind auch die Bestrebungen um einen Stabilitätsrat sehr kritisch zu sehen. Mit einem Stabilitätsrat könnte ein supranationales Gegengewicht zur Europäischen Zentralbank entstehen, in dem die nationalen fiskalpolitischen Interessen leichter gebündelt werden könnten.

14 Zu den Umverteilungseffekten der Gewinnverteilungsregeln der Europäischen Zentralbank: Sinn und Feist (1997).

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2. Die Einführung der gemeinsamen Europäischen Währung Formal soll die Europäische Währungsunion am 1. Januar 1999 mit dem Eintritt in die dritte Stufe beginnen: Die Wechselkurse zwischen den beteiligten Währungen werden unwiderruflich fixiert, die Umrechnungskurse zwischen diesen Währungen und dem Euro offiziell festgelegt, und die Europäische Zentralbank übernimmt die geldpolitische Verantwortung von den nationalen Notenbanken. Ab diesem Zeitpunkt gibt es in den Ländern der Europäischen Währungsunion nur noch eine einheitliche Geldpolitik. Die Deutsche Bundesbank verliert wie die anderen nationalen Notenbanken ihre Unabhängigkeit und wird in praxi eine Filiale der Europäischen Zentralbank. Faktisch verläuft der Systemwechsel von einem gemeinsamen Währungsgebiet (currency area), der DMark-Zone mit sehr ähnlichen monetären Bedingungen und einer gemeinsamen Geldpolitik unter Leitung der Deutschen Bundesbank, zu einer Währungsunion (currency union) mit einer von der Europäischen Zentralbank bestimmten Geldpolitik aber fließend und hat schon in der zweite Stufe der Währungsunion eingesetzt. Spätestens seit dem Frühjahr 1996 ist im Zusammenhang mit der wachsenden Wahrscheinlichkeit eines termingerechten Beginns der Europäischen Währungsunion zu beobachten, daß sich die langfristigen Zinssätze potentieller Teilnehmerländer im Vorgriff auf die notwendige Zinskonvergenz in der Währungsunion angleichen (convergence trading). Dieser Prozeß wird zunehmend durch die politische Debatte über den Kreis der Teilnehmerländer bestimmt. Aufgrund der vorwärts gerichteten Erwartungen und Dispositionen der Marktteilnehmer wird de facto die Währungsunion teilweise schon vorgezogen. Diese Entwicklung wird noch durch die Geldpolitik verstärkt. Der politische Druck auf die Notenbanken wächst, im Vorfeld der Europäischen Währungsunion für stabile Wechselkurse zu sorgen und ihre Geldpolitiken stärker zu koordinieren. Spätestens nach der endgültigen Auswahl der Teilnehmerländer im Mai 1998 ist zu erwarten, daß die Notenbanken der 'Ins' ihre Geldpolitiken im Vorgriff auf die Währungsunion weitgehend koordinieren und europäisieren. Die Deutsche Bundesbank verliert damit ihre Rolle als Leitwährungsnotenbank, und die Währungsbeziehungen in Europa werden symmetrischer. Die Europäische Währungsunion würde faktisch schon im Frühjahr 1998 beginnen, mehr als ein halbes Jahr vor dem vertraglich festgelegten Beginn zum Jahreswechsel 1999. Mit der endgültigen Fixierung der Wechselkurse und der Übernahme der geldpolitischen Verantwortung durch die Europäische Zentralbank beginnt die Europäische Währungsunion auch offiziell. Ab diesem Zeitpunkt werden in Deutschland Finanzprodukte in Euro verfugbar sein. Während einer dreijährigen Übergangsphase werden noch die nationalen Banknoten und Münzen verwendet werden. Faktisch gibt es aber von diesem Zeitpunkt an nur noch eine gemeinsame europäische Währung, für welche die nationalen Währungen vollkommene Substitute sind. Die nationalen Währungen sind letztlich nur noch verschiedene Denominationen des Euro. Spätestens drei Jahre nach der Fixierung der Wechselkurse, also zum Jahresbeginn 2002, soll das nationale Bargeld in einer maximal sechsmonatigen Übergangsphase endgültig durch Euro-Banknoten und -Münzen ersetzt werden. Spätestens zur Jahresmitte 2002 gäbe es danach im Gebiet der Europäischen Währungsunion nur noch den Euro.

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Für die dreijährige Übergangsphase werden nur wenige staatliche Vorgaben gemacht. Der Übergang soll im wesentlichen marktbestimmt erfolgen. Die Europäische Zentralbank wird ihre geldpolitischen Operationen von Beginn an in Euro abwickeln. Dazu soll ihr das transeuropäische Zahlungsverkehrsnetz TARGET zur Verfugung stehen, in dem inländische und grenzüberschreitende Zahlungen brutto und in Echtzeit verarbeitet werden können (Europäisches Währungsinstitut 1997, 34fi). Darüber hinaus soll niemand in der dreijährigen Übergangsphase zur Verwendung des Euro gezwungen werden, gleichzeitig aber auch niemand an der Verwendung der europäischen Währung gehindert werden. Die Marktteilnehmer sollen bestimmen, wie schnell sich welche EuroFinanzprodukte durchsetzen. Aufrund dieser Vorgehensweise wird es zur parallelen Verwendung nationaler Währungen und des Euro kommen. 15 Damit sind erhebliche organisatorische Anstrengungen notwendig, um sicherzustellen, daß die nationalen Zahlungsverkehrssysteme Transaktionen sowohl in Euro als auch der nationalen Währung verarbeiten können. Wie schnell werden sich Euro-Produkte verbreiten? Es ist damit zu rechnen, daß vor allem Großunternehmen schon früh ihr Finanz- und Rechnungswesen auf Euro umstellen werden. Auch die französische Regierung will ihre Transaktionen frühzeitig auf die neue Währung umstellen. Beschleunigend wird sich auswirken, daß die Regierungen laut Beschluß des Ministerrats ab 1999 neue Staatspapiere in Euro emittieren sollen. Verzögernd wird dagegen wirken, daß das Euro-Bargeld erst ab dem Jahresbeginn 2002 zur Verfugung stehen soll und damit viele Wirtschaftssubjekte auch in der dreijährigen Übergangsphase weiterhin in ihrer nationalen Währung denken werden. Insgesamt zeichnet sich ab, daß es zu einem fließenden Übergang zur Europäischen Währungsunion kommen wird. Auf den Finanzmärkten ist schon eine weitgehende Angleichung der Zinssätze der potentiellen EWU-Länder zu beobachten, und spätestens mit der Auswahl der Teilnehmerländer ist eine „Europäisierung" der Geldpolitik dieser Länder zu erwarten. Der Prozeß der Einführung von Euro-Finanzprodukten ab 1999 soll ebenfalls weitgehend den Marktteilnehmern überlassen werden.

V. Das Europäische Währungssystem II Der Maastrichter Vertrag sieht für die Europäische Währungsunion eine variable Geometrie vor. Ein Jahr vor der geplanten Auswahl der Teilnehmerländer im Mai 1998 zeichnet sich ab, daß zumindest vier bis sechs Länder nicht zu den EWU-Gründerstaaten gehören könnten - teilweise als unfreiwillige 'Pre-ins', welche die Konvergenzkriterien nicht erfüllen (Griechenland, Italien?), teilweise als freiwillige 'Outs', die an der Europäischen Währungsunion (noch) nicht teilnehmen wollen (Dänemark, Großbritannien, Schweden, Irland?). Mit einem Festkurssystem zwischen Euro und den Out-Währungen

15 Dieses sogenannte Dualitätsproblem sollte im ursprünglichen Bundesbank-Vorschlag des 'delayed big bangs' dadurch vermieden werden, daß erst zum Ende der Übergangsphase alle Transaktionen auf die Euro-Währung umgestellt werden, während die Europäische Kommission in ihrem Grünbuch vorschlug, möglichst viele Transaktionen schon zu Beginn der Übergangsphase auf die gemeinsame Währung umzustellen.

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sollen die Geldpolitiken der Europäischen Zentralbank und der anderen EU-Notenbanken indirekt koordiniert werden - eine monetäre Spaltung zwischen Ins und Outs soll verhindert werden. Aus Sicht der EWU-Länder könnte das EWS II den Vorteil haben, daß sich die Outs nicht über eine Abwertung ihrer Währung Wettbewerbsvorteile verschaffen können. Die Outs könnten faktisch in die Währungsunion eingebunden werden, ohne daran formal teilzunehmen. Für die Outs könnte eine Mitgliedschaft im EWS II den Übergang zur EWU erleichtern, wenn die Stabilisierung des Euro-Wechselkurses im Rahmen eines offiziellen Wechselkurssystems glaubwürdiger ist als eine einseitige Stabilisierung des Wechselkurses außerhalb eines Festkurssystems (Europäischer Rat 1997, 22ff). Grundsätzlich kann der Wechselkurs zwischen Euro und Out-Währungen auf zwei Arten stabilisiert werden. Die Outs können auf eine eigenständige Geld- und Wechselkurspolitik verzichten und ihre monetäre Politik ausschließlich auf die Stabilisierung des Euro-Wechselkurses ausrichten. Eine solche Wechselkursanbindung ist allerdings auch ohne formale Mitgliedschaft in einem Festkurssystem möglich, wie die österreichische Politik des D-Mark-Pegs gezeigt hat.16 Alternativ könnte sich die Europäische Zentralbank in ihrer Politik am Wechselkurs orientieren. Wenn die Out-Länder expansivere Geldpolitiken verfolgen, treten dann aber Konflikte mit dem Ziel Geldwertstabilität in der Europäischen Währungsunion auf. Die Verfassung der Europäischen Zentralbank mit der Verpflichtung auf das Ziel Geldwertstabilität bietet keinen Spielraum für eine wechselkursorientierte Geldpolitik gegenüber Schwachwährungsländern. Insgesamt sprechen die vorgebrachten ökonomischen Gründe nicht zwingend für die Einrichtung eines formalen Festkurssystems, so daß die Forderung nach einem EWS II vor allem (europa)politisch begründet zu sein scheint {Duijm 1997). Ob das Europäische Währungssystem II zu einer Gefährdung der Geldwertstabilität in der Europäischen Währungsunion führen kann, hängt wesentlich von den genauen Spielregeln des Festkurssystems ab. Diese sollen in der zweiten Jahreshälfte 1998 in einem Abkommen zwischen der Europäischen Zentralbank mit den Notenbanken der Outs endgültig festgelegt werden. Auf dem Amsterdamer Gipfel im Juni 1997 haben sich die Staats- und Regierungschefs aber schon auf die Grundstruktur des EWS II geeinigt {Europäischer Rat 1997, 23ff). Das neue Europäische Währungssystem II soll im wesentlichen ähnlich ausgestaltet werden wie das bisherige EWS I. Es ist insbesondere vorgesehen, daß im Normalfall die Wechselkurse innerhalb weiter Bandbreiten von ± 15% schwanken können. Die Wechselkurse sollen im Rahmen symmetrischer Interventionen der betroffenen Notenbanken stabilisiert werden. Wie im EWS I sind kurzfristige Beistandskredite für die Schwachwährungsländer vorgesehen. Die Effekte der Interventionen auf die Starkwährungsländer sollen im Rahmen eines Saldenausgleichsmechanismus neutralisiert werden. Auf diese Weise soll sichergestellt werden, daß wie im EWS I letztlich die Schwachwährungsländer die gesamten Interventionen und damit die Anpassungslasten bei Wechselkursschwankungen tragen (Duijm und Herz 1996).

16 Vgl. den Vorschlag von Gros (1996), daß die Outs ihre Geldpolitik im Sinne einer Currency boardLösung ausschließlich an der Politik der Europäischen Zentralbank orientieren.

Geld- und Währungspolitik in der Europäischen Währungsunion • 6 0 9

Die im EWS II gegenüber dem bisherigen Europäischen Währungssystem vorgesehenen Neuerungen stärken die stabilitätsorientierten Elemente des Festkurssystems. So soll die Europäische Zentralbank Interventionen am Devisenmarkt aussetzen können, wenn das Ziel Geldwertstabilität gefährdet ist. Zusätzlich können nicht nur die Regierungen, sondern auch die betroffenen Notenbanken eine Überprüfung der Leitkurse beantragen. Dies könnte helfen, daß nicht mehr marktgerechte Leitkurse schneller angepaßt werden. Zu späte Anpassungen der Leitkurse waren im EWS I immer wieder Auslöser für Währungskrisen. Das Recht, Leitkurse festzulegen, behalten sich aber weiterhin die EU-Regierungen vor. Insgesamt wird mit dem vorgesehenen EWS II im wesentlichen das bisherige Europäische Währungssystem fortgeführt. Auch das EWS II wird faktisch ein asymmetrisches Festkurssystem sein. Die Regelmechanismen des EWS I führten dazu, daß das Land mit der stabilsten Währung in die Rolle des Leitwährungslandes hineinwuchs. Im Prinzip gilt dieser Zusammenhang auch für das EWS II. Die wenigen institutionellen Änderungen sollten die Tendenz zu einem stabilitätsorientierten Festkurssystem unterstützen. Diese Entwicklung könnte allerdings durch die veränderten Größenverhältnisse im EWS II überspielt werden. Im EWS I war Deutschland zwar die größte Volkswirtschaft; der deutsche Anteil im EWS-Raum betrug, bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt und das Handelsvolumen, aber immer weniger als die Hälfte. Im EWS II wird die EWU sehr viel stärker dominieren. Dies könnte dazu fuhren, daß es für ein Out-Land bei festen Wechselkursen zwar formal möglich ist, eine stabilitätsorientiertere Politik zu verfolgen als die EWU. Die damit verbundenen Interventionen könnten aber so umfangreich werden, daß sie nicht mehr inflationsneutral sterilisiert werden können. Stabilitätsorientierte Länder könnten aufgrund dieses Größeneffektes gezwungen werden, sich der Politik der EWU anzupassen.17 Der für die formalen Interventionsregeln des EWS charakteristische Wettbewerb der Währungen mit der Stärkung des Hartwährungslandes wäre damit faktisch außer Kraft gesetzt.

VI. Das Primat der Währungspolitik Eucken (1990) forderte das Primat der Währungspolitik als Voraussetzung für eine funktionierende Wettbewerbsordnung. Noch ist offen, ob diese Bedingung auch in der Europäischen Währungsunion erfüllt sein wird. Noch immer ist eine Vielzahl von Entscheidungen auf dem Weg zum gemeinsamen europäischen Geld zu treffen, etwa die Auswahl der Teilnehmerländer oder die Festlegung der geldpolitischen Strategie der Europäischen Zentralbank. Offen ist auch, wie sich das politische Umfeld in der Europäischen Währungsunion entwickeln wird. Damit ist noch immer ungewiß, welche Art von Währungsunion die EWU sein wird. Die vorbereitenden Arbeiten für die Europäische Zentralbank haben sich weitgehend am Modell der Deutschen Bundesbank orientiert. Nicht zuletzt auf Druck der Kritiker des Maastrichter Vertrags sind in diesem Bereich Lösungen gefunden worden, die eine geeignete Grundlage für eine stabilitäts-

17 Alternativ wäre offensichtlich auch eine Aufwertung der heimischen Währung möglich.

610 • Bernhard Herz orientierte Geldpolitik bilden können. Aber auch die Europäische Zentralbank wird ihre Politik nicht losgelöst vom wirtschaftlichen Umfeld betreiben. In diesem Bereich besteht aber noch immer ein erheblicher Anpassungsbedarf, etwa bei der Fiskal- und Lohnpolitik. Im dabei entstehenden Konflikt zwischen einer termingerechten Einhaltung des Zeitplans und der Sicherstellung der Voraussetzungen für eine Politik der Geldwertstabilität kommt der Stabilitätsorientierung eindeutig der Vorrang zu. „Die Geschichte wird die Regierungen und Notenbanken nicht daran messen, ob sie für den Prozeß der europäischen Währungsintegration drei oder mehr Jahre gebraucht haben. Entscheidend werden allein der Erfolg und die Dauerhaftigkeit der angestrebten Währungsunion und die Stabilität der gemeinsamen Währung sein" {Tietmeyer 1995).

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Summary Monetary Policy in the European Monatary Union The current Deutschmark zone can be characterised as a currency area with very similar monetary conditions and a common monetary policy led by the Deutsche Bundesbank. The introduction of the single European currency shall lead to a currency union with a monetary policy led by the European Central Bank. Such a currency union is benefical, if it reduces the costs of financial transactions. These costs are mainly policy determined and depend to a large extent on the integration of financial markets and the

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focus of monetary policy. Monetary policy in the European Monetary Union will be subject to the autonomy of the European Central Bank and the stability preferences in EMU countries. The legal framework and the policy concepts of the European Central Bank mirror the model Deutsche Bundesbank. Therefore the institutional preconditions for a low inflation monetary policy are relatively good. However, the European Central Bank needs stricter safeguards as she will pursue her policy in an environment with probably weaker stability preferences as in the case of the Deutsche Bundesbank. A European Monetary System II has been proposed between euro and the remaining EU currency, with a structure very similar to the current EMS I. The designated innovations should reduce the dangers, that the European Central Bank can not pursue its goal of price level stability in the fixed exchange rate system.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1997) Bd. 48

Rolf H. Hasse

Theoretische Defizite und normative Überschüsse: Zur Analyse der Budgetkriterien des Vertrages von Maastricht Inhalt I. Das Problem II. Dimensionen der Budgetkriterien III. Ansätze zur ökonomischen und politökonomischen Analyse des Verschuldungskriteriums IV. Eine positive, mikroökonomische Analyse des Verschuldungskriteriums 1. Die Fristenstruktur der Staatsschulden 2. Die Gläubiger-(Halter-)Struktur 3. Die Währungsstruktur 4. Die volkswirtschaftlichen Sparquoten V. Empirische Ergebnisse zur Verschuldungsstruktur 1. Die Strukturkoeffizienten 2. Länderanalysen: vermutete Instabilitäten bekräftigt, neue endeckt 3. Rückschlüsse auf die materielle Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank 4. Divergenz zwischen öffentlicher Verschuldung und Sparen VI. Eine Zwischenbilanz Literatur Zusammenfassung Summary: An Analysis of the Maastricht Treaties Budget Criteria

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I. Das Problem Die öffentliche Diskussion um den Beginn der Europäischen Währungsunion (EWU) am 1. Januar 1999 nimmt teilweise absurde, extrem normative Dimensionen an. Dies gilt für die Politik, aber auch für den Bereich, der mit der Autorität der Wissenschaft argumentiert. Im Bereich der Politik scheint ein bemerkenswerter Wandel eingetreten zu sein. Bei den beiden frühen Anläufen, eine EWU zu schaffen - 1971/72 sowie 1978/79 und danach bestand kein politischer Wille zur konkreten Gestaltung und Fortsetzung des geplanten Integrationsprozesses. Seit dem Vertrag von Maastricht (7. Februar 1992) und noch stärker so kurz vor den Entscheidungen, wer am 1. Januar 1999 zum Kreis der Teilnehmerstaaten ('Pre-Ins') gehören wird, scheint vor allem der politische Wille zu

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bestehen, die Vertiefung der Integration möglicherweise sogar gegen die eigenen, politischen Bedingungen (Konvergenzkriterien) realisieren zu wollen. Dieser politische Wille kann an der Dramatisierung der Argumentation abgelesen werden, die eingesetzt wird, wenn Politiker versuchen, die mögliche Nichterfüllung ihrer eigenen Vorgaben zu relativieren bzw. zu miniaturisieren. Die beiden häufigsten oder drastischsten Formulierungen lauten: - „Der gesamte europäische Integrationsprozeß würde gefährdet bei einem nicht termingerechten Beginn der EWU." - „Die EWU ist eine Sache von Krieg und Frieden." Ohne auf die inhaltlichen Konsequenzen dieser Aussagen einzugehen, ist die Schlußfolgerung erlaubt, daß damit selbst das tolerierbare Maß an Normativität gesprengt wird, das politische Argumentation prägt. Mehr Sachlichkeit ist geboten, denn die EWU ist ein Integrationsschritt, der viel tiefgreifender ist und auch viel dauerhafter angelegt sein muß als alle bisherigen. Die Aufgabe, mehr Sachlichkeit in die Diskussion zu tragen, ist eine originäre Aufgabe der Wissenschaft, auch wenn sie mit diesem Ansatz in der überhitzten Debatte kaum Beifall erwarten kann. Dennoch sollte die Leitlinie von Max Weber beherzigt werden: „Lieber unbequeme Wahrheiten als bequeme Halbwahrheiten vortragen". Erstaunlicherweise gibt es in der wissenschaftlichen Diskussion Defizite, die normativ, aber subtiler und schwerer erkennbar sind als die grobe Normativität vieler politischer Argumente. Diese theoretischen Defizite und normativen Interpretationen kennzeichnen die Auseinandersetzung mit den Budgetkriterien - vor allem mit dem Schuldenkriterium.

II. Dimensionen der Budgetkriterien Der äußere Rahmen, in dem die beiden Budgetkriterien des Vertrages von Maastricht eingebettet worden sind, wird von zwei Asymmetrien gekennzeichnet: 1. von der Asymmetrie im Vertrag zwischen der Lösung der Geld- und Währungspolitik (währungspolitische Konvergenz) sowie der Wirtschafts- und insbesondere der Budgetpolitik (wirtschaftspolitische Konvergenz); dies ist die interne Asymmetrie des Vertrages; 2. von der Asymmetrie in der Umsetzimg des Paradigmawechsels zugunsten der Geldwertstabilität in der Geld- und Währungspolitik sowie in der Budgetpolitik; dies ist die externe Asymmetrie. Die Problematik der internen Asymmetrie offenbart sich in den unterschiedlichen Lösungen für die währungs- und die wirtschaftspolitische Konvergenz. Die Geld- und Währungspolitik sind zentralisiert worden. Damit ist die währungspolitische Konvergenz inhaltlich und institutionell eindeutig geregelt worden. Ferner ist mit der Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank (EZB) eine wichtige ordnungspolitische Grundsatzentscheidung getroffen worden. Die personelle Unabhängigkeit wird aufgrund der Regelungen für die Laufdauer der Verträge als suboptimal eingeschätzt, sie ist insoweit

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aber gegeben. Die finanzielle Unabhängigkeit wird durch das Verbot von Zentralbankkrediten an staatliche Institutionen (Artikel 104, 104a) direkt und indirekt durch die 'no bail-out Regel' gestärkt. Die sich abzeichnende funktionelle Unabhängigkeit ist beachtlich (vgl. EMI 1997). Auch die problematische außenwirtschaftliche Absicherung einer stabilitätsorientierten Geldpolitik ist durch die Entschließungen für ein EWS II entscheidend verbessert worden.1 Ferner gibt es Möglichkeiten, der EZB bei Wechselkursänderungen ein größeres Mitwirkungsrecht einzuräumen, ohne den Vertrag von Maastricht ändern zu müssen.2 Problematisch sind eher die französischen Bestrebungen, auf Gemeinschaftsebene eine eigenständige, wirtschaftspolitische Institution - einen Eurorat - zu schaffen (vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 237 vom 6. Okt. 1997). Die wirtschaftspolitische Konvergenz und dabei insbesondere die Budgetpolitik sind prinzipiell dezentral geregelt worden. Darin spiegelt sich nicht nur das Subsidiaritätsprinzip wider, sondern vielmehr die Grenze der politisch realisierbaren Koordinierung. Der Rahmen wurde durch die Konvergenzkriterien, die Konvergenzverfahren des Artikel 103, durch die budgetpolitischen Restriktionen nach Artikel 104c und durch das „Protokoll über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit" gestaltet. Deren Unzulänglichkeiten wurden schließlich auch politisch anerkannt. Der Vorschlag eines Stabilitätspakts durch das Bundesministerium der Finanzen am 10. November 1995, der zu dem Stabilitäts- und Wachstumspakt und seinen ergänzenden Entscheidungen auf der Gemeinschaftsebene 3 führte, belegen die Notwendigkeit, die wirtschaftspolitische Konvergenz zu stärken. Es bestehen immer noch Zweifel, ob die jetzigen Regeln Konflikten standhalten werden. Die externe Asymmetrie kennzeichnet die Konfliktlinien und -potentiale heute und in der künftigen EWU, und zwar in den Mitgliedsstaaten und auf der Gemeinschaftsebene. Die Budgetpolitik der einzelnen Länder wurde von dem Paradigmawechsel zugunsten der Geldwertstabilität ausgenommen, und in ihrem Gefolge koppelte sich vor allem die Sozialpolitik von der Wirtschaftspolitik ab. Der Grundsatz des ausgeglichenen Haus1

Entschließung des Europäischen Rates über die Einfuhrung eines Wechselkursmechanismus in der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion, in: Schlußfolgerungen der Präsidentschaft, Europäischer Rat in Amsterdam, 16./17. Juni 1997, Anlage II. 2 Dies ließe sich durch eine Willenserklärung der Kommission zu Artikel. 109 Absatz 1 Satz 2 erreichen. Für Wechselkursänderungen gilt, daß der Rat mit qualifizierter Mehrheit entscheidet. Die Grundlage der Entscheidung ist: eine Empfehlung der EZB oder eine Empfehlung der Kommission; bei einer Empfehlung durch die Kommission muß der Rat vor einer Entscheidung die EZB anhören. Die EZB hat bereits eine besondere Stellung. Störend wirkt das Initiativrecht der Kommission als politische Instanz. Dies kann nicht ohne weiteres ausgeklammert werden, da der ganze Vertrag auf der Grundlage des Initiativrechts sowie des Initiativmonopols der Kommission aufbaut. Aber es wäre möglich und sachlich geboten, wenn die Kommission verlautbart, daß sie von dem Initiativrecht in Art. 109 Abs. 1 in der Regel keinen Gebrauch machen wird. Vgl. zu diesem Vorschlag: Hasse (1996). 3 Der Stabilitäts- und Wachstumspakt besteht aus drei Elementen: a. Entschließung des Europäischen Rates über den Stabilitäts- und Wachstumspakt vom 16./17. Juni 1997 in Amsterdam. b. Verordnung des Rates über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit, Amsterdam, 16. Juni 1997. c. Verordnung des Rates über die verstärkte Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken, Amsterdam, 16. Juni 1997.

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halts wurde durch die Zielsetzung des stabilisierenden, antizyklischen Haushalts abgelöst und dieser durch eine Budgetpolitik auf den Grundüberlegungen der 'public choice'-Theorie. Strukturelle Defizite sind das systemimmanente Problem von Budgetpolitiken, die im Vertrag von Maastricht als Quellen negativer externer Effekte definiert worden sind, ohne daß es bisher gelang, diese externe Asymmetrie zufriedenstellend aufzuheben.

III. Ansätze zur ökonomischen und politökonomischen Analyse des Verschuldungskriteriums Die Konvergenzkriterien sind als Ersatz für institutionelle, verbindlichere Koordinierungsverfahren zu verstehen. Sie entsprechen dem Grundsatz des EG-Vertrages (Art. 103), die Wirtschaftspolitik als „eine Angelegenheit von gemeinsamem Interesse zu betrachten". Die Ergebnisse der dezentralen Wirtschaftspolitiken sind als eine freiwillige ex post-Koordination zu verstehen. Die vier bzw. fünf Konvergenzkriterien setzen sich aus drei Kriterien zusammen, die sich auf makroökonomische Indikatoren stützen, die 'marktbestimmt' sind (Preisniveau, langfristiger Zinssatz, Wechselkurs) und ein hohes Maß an Interdependenz aufweisen (vgl. Bünning 1997, 147 ff.). In ihrer Fixierung spiegelt sich der Paradigmawechsel zugunsten der Preisstabilität wider, der im Vertrag sehr nachdrücklich kodifiziert worden ist. Die Budgetkriterien stellen eine eigene Kategorie von wirtschaftspolitischen Orientierungsgrößen dar. Die Marktorientierung ist bestenfalls indirekt eingebunden, es sind in erster Linie Politik-Indikatoren. Im Sinne der externen Asymmetrie handelt es sich um den Versuch, mit quantitativen Vorgaben den Paradigmawechsel auf die Budgetpolitik zu übertragen. Die Konsequenz dieser Gestaltung von leicht meßbarer wirtschaftspolitischer Konvergenz ist, daß deutliche Abweichungen immer gleichzeitig - Glaubwürdigkeitsverluste für die Politik ihren eigenen Zielvorstellungen gegenüber bedeuten und - einer Verweigerung der Politik gleichgesetzt werden können, den Paradigmawechsel in die Budgetpolitik zu übertragen. Die Diskussionen konzentrieren sich auf zwei Aspekte: 1. auf den politischen Glaubwürdigkeitsverlust bei Nichtrealisierung und Nichtbeachtung der Vorgaben und 2. auf die Erklärungen, warum die Abweichungen von den Budgetkriterien unproblematisch seien. Im Zusammenhang mit dem Defizitkriterium hat sich ein Paket an Erklärungsmustem herausgebildet, um diese Abweichungen ökonomisch zu interpretieren. Dabei kann man unterscheiden zwischen Ansätzen, die keinen Zusammenhang zwischen beiden Fiskalkriterien berücksichtigen (Unterscheidung zwischen konjunkturellem und strukturellem Defizit, die sogenannte 'golden rule'), und Ansätzen, die einen Zusammenhang zwischen dem Defizit- und dem Schuldenkriterium beachten (Tragbarkeitsansätze des Primärsaldos, Vorschläge zur Operationalisierung der Konsolidierung der Staatsschul-

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denquote) (Hasse 1997, Anhang 3). Merkwürdig an diesen Diskussionen und Interpretationsmustern ist, daß - sie ausschließlich makroökonomisch geführt werden, - kaum auf die Bedingungen eingegangen wird, die in empirischen Untersuchungen als Voraussetzungen für erfolgreiche Konsolidierungen öffentlicher Haushalte ermittelt worden sind (McDermott und Wescott 1996; Alesina und Perotti 1996), und - die Kriterien auch von denjenigen verwendet werden, die sie zwar ökonomisch nicht akzeptieren, die sie aber dennoch als Mittel für andere, ablehnende Vorschläge instrumentalisieren. Sie agieren mit den Kriterien normativ. Eine Folge dieser Form der Auseinandersetzung ist es, daß der eigentliche Ursprung und das eigentliche wirtschafts- und integrationspolitische Problem nicht mehr (ausreichend) analysiert werden. Diese direkten und indirekten Normativitäten sollen am Beispiel des Verschuldungskriteriums verdeutlicht werden. Das Verschuldungskriterium ist für diesen Nachweis besonders geeignet: - Einmal wird es als Indikator am intensivsten belächelt und mißachtet, weil diese Kennziffer am deutlichsten vom Referenzmaß abweicht und dessen Entstehung als Regel im Vertrag durchaus als kurios beurteilt werden kann. - Zum anderen ist festzustellen, daß trotz der erheblichen Einwände gegen die Verwendbarkeit dieses Kriteriums dieselben Personen die Verschuldungsquote normativ instrumentalisieren, wenn es gilt, Punkte zugunsten einer Ablehnung der EWU und eines Beginns am 1. Januar 1999 zu sammeln. - Schließlich ist zu konstatieren, daß das Verschuldungskriterium am wenigsten analysiert worden ist. Selbst das gute Argument, ein hoher Verschuldungsstand könne die Geldpolitik negativ beeinflussen, weil dadurch politische Widerstände gegen eine restriktive Geldpolitik mit höheren Zinssätzen provoziert werden (Steuer 1997, 3 ff.), hat nicht dazu gefuhrt, die Bedingungen dieser politökonomischen These eingehender zu klären. Auch diese Auslassung einer Analyse kann als eine implizit normative Positionsbestimmung bewertet werden, mindestens bei all denen, die das Argument zwar verwenden, es aber nicht weiter auf seine Tragfähigkeit überprüfen. Diese implizite Normativität ist ein Problem der ökonomischen Theorie und der wirtschaftspolitischen Diskussion, das zu wenig beachtet wird; die Ausnahme ist F.A. Lutz (1953) gewesen. Im folgenden soll eine Teilanalyse vorgenommen werden, um die Tragfähigkeit dieses politökonomischen Argumentes und anderer ökonomischer Thesen zu testen. Dieser Ansatz ist - im Gegensatz zur dominierenden makroökonomischen Betrachtungsweise mikroökonomisch.

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IV. Eine positive, mikroökonomische Analyse des Verschuldungskriteriums Drei Typen von Störungen der Geldpolitik und des Zieles der Preisstabilität werden von nichtkompatiblen, nationalen Budgetpolitiken erwartet: - Negative externe Effekte auf den Zinssatz im gemeinschaftlichen Finanzraum als Folge der größeren Zinsrobustheit der staatlichen Kreditnachfrage. Dies gilt für die Nettoneuverschuldung ebenso wie für die Revolvierung der bestehenden Schulden. Insofern gilt es immer, den Strom- und den Bestandseffekt gleichzeitig zu betrachten. - Mit der Zwangssolidarität als Folge höherer Zinsen durch die staatliche Kreditnachfrage in der EWU sind verbunden - 'crowding out-Effekte' gegenüber privaten Kreditnachfragern und damit eine negative Beeinflussung des Produktionspotentials (Mackenzie, Orsmond und Gerson 1997) sowie - mögliche Wechselkurseffekte, die alle Mitglieder der EWU gemeinsam träfen. - Schließlich wird dieses politökonomische Argument auch im Sinne einer Gefährdung der materiellen Unabhängigkeit der EZB interpretiert. Bei der folgenden Analyse der Verschuldungsquote wird untersucht, inwieweit ihre Struktur die 'Produktion' der behaupteten negativen Effekte fordert oder mildert. Dabei werden mehrere Strukturkennziffem unterschieden, die in der Betriebswirtschaftslehre der Finanzierung Standard, in der Analyse der staatlichen Verschuldung und damit auch im Vertrag von Maastricht aber ausgeblendet worden sind. In Artikel 109j Absatz 1, letzter Satz, werden zwar mehrere ergänzende Indikatoren aufgezählt, die bei der Beurteilung der Konvergenzkriterien zusätzlich berücksichtigt werden sollen. Die Struktur der Verschuldung fehlt hier ebenso wie im 'Protokoll über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit' und in dem Paket von Verordnungen und Entschließungen zum Stabilitäts- und Wachstumspakt. Diese mikroökonomischen Strukturkennziffern werden um einen makroökonomischen Indikator ergänzt, um dann in einer empirischen Analyse Aussagen zur Stabilität/Instabilität der nationalen Staatsschuldenquoten zu formulieren.

1. Die Fristenstruktur der Staatsschulden Die Fristenstruktur der Staatsschulden weist folgende Merkmale auf: - Sie bestimmt den Revolvierungsbedarf des Schuldenstandes. Zusammen mit der Neuverschuldung signalisiert sie die Präsenz des Staates auf den Finanzmärkten. - Sie beeinflußt die Zinsabhängigkeit des öffentlichen Budgets und bestimmt den staatlichen Einfluß auf die Marktzinssätze. - Sie ist auch ein Indikator dafür, inwieweit die Politik Druck auf die EZB ausüben könnte, um eine restriktive Geldpolitik zu verhindern oder zu verzögern. - Sie ist häufig ebenso ein Indikator für die institutionelle Infrastruktur der Finanzmärkte in einem Land. Fehlt ein Kapitalmarkt für langfristige Anleihen, ist die Fristenstruktur kurzfristiger, wie etwa in Italien.

Analyse der Budgetkriterien des Vertrages von Maastricht • 6 2 1

Man kann folgende Orientierungen aus der Fristenstruktur ableiten: - Sind die Schulden langfristig finanziert, können sie als konsolidiert beurteilt werden. - Sind die Schulden kurzfristig finanziert, ist der Revolvierungsbedarf groß; im Sinne einer Kennziffer für diese Analyse ist es ein Instabilitätselement. Den Indikator 'P für die Fristenstruktur kann man wie folgt definieren: Anteil langfristig finanzierter Staatsschulden Anteil kurzfristig finanzierter Staatsschulden Je größer ' P ist, desto konsolidierter sind die Staatsschulden.

2. Die Gläubiger-(Halter-)Struktur Grundsätzlich kann man zwischen Inländern und Ausländern als Gläubiger unterscheiden. Sofern es die Statistiken zuließen, müßten die ausländischen Gläubiger weiter untergliedert werden in 'EWU-Inländer' und 'EWU-Ausländer', um das Potential an negativen externen Effekten korrekt zu ermitteln. Negative externe Effekte sind bei Schuldenkrisen am gravierendsten, wenn der Anteil an ausländischen Gläubigern groß ist. Sie können nicht nur die Schuldentitel veräußern, sondern von ihnen ist auch eher zu erwarten, daß sie in einem solchen Fall das Währungsgebiet verlassen. Daraus ergibt sich, daß - ein großer Anteil inländischer Gläubiger stabilisierend wirkt und - ein großer Anteil ausländischer Gläubiger ein Instabilitätspotential darstellt. Den Gläubiger-(Halter-)Indikator 'h' kann man wie folgt definieren: (2) h = Anteil der von Inländern gehaltenen öffentlichen Schulden Anteil der von Ausländern gehaltenen öffentlichen Schulden Je größer 'h', desto solider kann die öffentliche Verschuldung eingeschätzt werden.

3. Die Währungsstruktur Grundsätzlich kann man wie bei der Gläubigerstruktur unterscheiden zwischen - staatlichen Verbindlichkeiten in inländischer Währung und - staatlichen Verbindlichkeiten in ausländischen Währungen. Hierbei könnte/müßte weiter differenziert werden zwischen 'EWU-Währung' und 'Nicht-EWU-Wäh,4 rung . Negative externe Effekte im Falle von Krisen, die sich auch außerhalb der EWU entwickeln können 5 , sind am ehesten zu erwarten, wenn der Anteil der Verbindlichkeiten in ausländischen Währungen groß ist. 4

Diese Unterscheidung gilt vor dem Beginn der EWU. Nach dem Start einer 'Kem-EWU' wäre zu unterscheiden zwischen den Währungen der 'EWU-Outs' und den klassischen Drittlandswährungen, um die unterschiedlichen Währungssysteme zu berücksichtigen. 5 Zum Beispiel veranlaßte die Bankenkrise in Japan japanische Banken zur Repatriierung ihrer Guthaben aus den USA. Die Verkäufe und Transfers beeinflußten die Zinssätze und den Wechselkurs.

6 2 2 • Rolf H.Hasse

Ein großer Anteil in Inlandswährung signalisiert Stabilisierung, ein großer Anteil in ausländischen Währungen ist ein Instabilitätspotential. Der Indikator für die Währungsstruktur 'w' kann folgendermaßen formuliert werden: Anteil der öffentlichen Verbindlichkeiten in Inlandswährung w = Anteil der öffentlichen Verbindlichkeiten in Auslandswährung Je größer 'w', desto störungsunempfindlicher ist die Schuldenstruktur gegenüber Schuldenkrisen.

4. Die volkswirtschaftlichen Sparquoten Wenn man negative externe Effekte als Folge staatlicher Kreditnachfrage untersucht, muß man zwingend beachten, daß eine hohe Kreditaufnahme allein nicht ausreicht, um diese Effekte zu erwarten oder gar per se zu unterstellen. Dennoch verharren die beiden Budgetkriterien, das 'Protokoll über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit' und alle Dokumente des Stabilitäts- und Wachstumspaktes auf diesem Niveau. Noch erstaunlicher ist, daß die privaten und offiziellen Analysen den Aspekt der Sparquote und der Relation zwischen Sparaufkommen und staatlicher Verschuldung unbeachtet lassen. Die elementaren Bedingungen von Angebot und Nachfrage sowie der Zinsbildung werden dadurch ausgeklammert. Die präsentierten Beurteilungen verharren deshalb auf einem Zwischenniveau zur Analyse. Man kann gesamtwirtschaftlich unterscheiden zwischen Sp (4a) der Sparquote der privaten Haushalte (sp = — ) und (4b) der gesamtwirtschaftlichen Sparquote (sg =

Sg ), BIP

wobei Sp das gesamte Sparvolumen und Yv das verfügbare Einkommen der privaten Haushalte ist; Sg ist das gesamtwirtschaftliche Sparvolumen aller Wirtschaftssubjekte in einer Volkswirtschaft. Die Bedeutung des Sparens für die Prüfung externer Effekte staatlicher Kreditaufnahme läßt sich wie folgt umreißen: Eine hohe Sparquote mindert die Wahrscheinlichkeit, daß negative externe Effekte und Effekte eines 'crowding-out' durch staatliche Kreditaufnahme entstehen und umgekehrt. Dynamisiert man die Betrachtung, indem man die Entwicklung des Sparverhaltens bzw. der Sparquoten einbezieht, dann gilt: Konflikte bzw. negative externe Effekte sind zu erwarten, - wenn bei stabilem Sparvolumen die staatliche Kreditnachfrage wächst oder - wenn die staatliche Kreditnachfrage unverändert auf hohem Niveau verharrt oder ansteigt und das Sparvolumen stagniert oder zurückgeht und die Sparquoten sinken.

Analyse der Budgetkriterien des Vertrages von Maastricht • 6 2 3

V. Empirische Ergebnisse zur Verschuldungsstruktur 1. Die Strukturkoeffizienten Die Struktur der Verschuldung wird normalerweise nicht veröffentlicht. Die Statistik, mit der in dieser Untersuchung gearbeitet wird, ist aufgrund meiner direkten Anfrage in der EG-Kommission zusammengestellt worden. Andere internationale und nationale Währungsinstitutionen waren weniger kooperativ oder nicht in der Lage, derartige Zahlen zur Verfügung zu stellen. Die Tabelle 1 erfaßt die öffentliche Verschuldung der 15 EU-Staaten für die Jahre 1991-1993. Dieser zeitliche Bezug beschränkt keineswegs prinzipielle Schlußfolgerungen. Die Fristenstruktur und die Gläubigerstruktur sind unmittelbar verwendbar, da sie sich nur langsam verändern. Probleme entstehen bei der Unterteilung in 'inländische' und 'ausländische' Schulden. Hier ist aufgrund der statistischen Erfaßbarkeit unterschieden worden, ob die Kredite auf dem inländischen oder einem ausländischen Markt aufgenommen worden sind. Diese Klassifizierung eignet sich, um die Bonität eines staatlichen Schuldners zu testen, da in dem Zeitraum von 1991 bis 1993 entweder die Konvertibilität der Währungen existierte oder die Vorbereitungen in den Ländern erfolgten (Spanien, Portugal, Irland, Griechenland), die Kapitalverkehrskontrollen abzuschaffen. Ein zuverlässiger Indikator für die Währungsstruktur können diese Informationen leider nicht sein, da sowohl im Ausland in nationaler Währung ein Kredit aufgenommen als auch im Inland eine Emission in einer nichtnationalen Währungseinheit aufgelegt worden sein konnte. Letzteres war etwa in Italien in der Phase vor 1990 in großem Maße in ECU der Fall (Hasse 1990, 94 ff.). Daraus folgt, daß die Analyse auf die Fristenstruktur, die Gläubigerstruktur und die Entwicklung der Sparquoten beschränkt werden muß. In Tabelle 2 werden die Fristen- und Halterstrukturen der EU-Länder, gegliedert nach ihrem Schuldenstand 1991, zusammengefaßt. Das erste Ergebnis ist, daß beide Strukturindikatoren einzeln und im direkten Vergleich keine eindeutige Verbindung zur Höhe der staatlichen Schulden aufweisen. Daraus ist bereits auf dieser Basis grob abzuleiten, daß der relative Schuldenstand allein kein ausreichender Indikator für Stabilität/ Instabilität sein muß. Eine hohe Schuldenquote kann deutlich konsolidierter finanziert sein als eine niedrige Schuldenquote (Belgien gegenüber Großbritannien bei der Fristenstruktur bzw. Belgien oder Italien gegenüber Deutschland und Frankreich bei der Halterstruktur). Deshalb sind andere Zuordnungen zu suchen. Die Fristenstruktur ist ein Indikator, der auch ohne die Existenz einer Vertrauenskrise des Schuldners große Bedeutung hat, weil sie den Druck zur Revolvierung der Schulden auf den Finanzmärkten signalisiert. Wenn man die Länder dementsprechend ordnet, gewinnt man wertvolle Informationen über Ländergruppierungen (Tabelle 3). Es gibt zwei große Gruppen, die extreme Unterschiede in ihren Fristenstrukturen aufweisen. Beachtenswert ist, daß Frankreich zwar eine Schuldenquote hat, die mit dem Referenzmaß von Maastricht übereinstimmt (vgl. Tabelle 6), gleichzeitig aber eine sehr ungünstige Fristenstruktur aufweist. Bei Italien

6 2 4 • Rolf H. Hasse

Tabelle 1: Strukturkennziffern der öffentlichen Schulden in den EU-Mitgliedsstaaten

B DK D GR E F IRL I L NL A P FIN S UK -

Term structure Structure of holders Domestic and foreign debt Short- Medium- Total Domestic Non Total Domestic Foreign Total term and longsectors residents debt* debt ** term 74 26 100 78 22 100 83 17 100 12 88 100 57 43 100 86 14 100 5 95 100 72 28 100 100 0 100 35 65 100 77 23 100 77 23 100 37 63 100 82 18 100 97 3 100 62 100 69 31 100 100 0 38 100 90 100 51 49 100 64 10 36 100 62 100 97 3 4 38 100 96 100 100 7 93 100 100 97 3 100 85 15 100 100 0 100 98 100 100 100 2 32 68 100 87 13 100 94 6 100 42 8 92 100 58 100 79 21 100 65 85 100 30 70 100 35. 100 15 64 97 100 86 15 100 3 100 36

Not available

* Debt raised on domestic markets

** Debt raised on foreign and international markets

Tabelle 2: Strukturindikatoren zur öffentlichen Verschuldung der EU-Länder, 1991-93

Belgien Italien Griechenland Niederlande Schweden Irland Österreich Portugal Dänemark Spanien Finnland Deutschland Frankreich Großbritannien Luxemburg

Fristenstruktur - 'f (langfristig zu kurzfristig) 2,85 1,63 1,86 32,33 23,33 9,00 49,00 2,13 7,33 1,70 11,50 19,00 1,63 1,78 13,28

Halterstruktur- 'h' (Inländer zu Ausländer) 3,55 32,33 3,35 5,67 1,86 1,04 -

6,69 1,33 4,56 0,72 2,57 2,23 5,73 -

Quelle: Estimates by Commission services on period 1991-1993; eigene Berechnungen.

Analyse der Budgetkriterien des Vertrages von Maastricht • 6 2 5

fallen zwei negative Komponenten zusammen: hohe Verschuldungsquote und eine Fristenstruktur, bei der das Budget auf zinspolitische Änderungen kräftig reagiert. Noch aussagekräftiger wird Tabelle 3, wenn man in die Analyse der beiden Ländergruppen auch die Entwicklung der Sparquoten einbezieht. Klammert man in beiden Ländergruppen Belgien, Spanien und Finnland aus, so erhält man ein eindeutiges Profil: In den Ländern mit einer geringeren langfristigen Finanzierung der öffentlichen Schulden sind die £parquoten seit 1980 kräftiger zurückgegangen. Inwieweit aus diesen Gründen die Finanzierung eventuell kurzfristiger geworden ist, kann mit Hilfe der vorliegenden Zahlen nicht abgesichert genug beurteilt werden. 2. Länderanalysen: vermutete Instabilitäten bekräftigt, neue endeckt Die Diskussion um die Erfüllung der Konvergenzkriterien konzentrierte sich auf die Grenzkandidaten Belgien, Italien und Spanien. Der gravierendste Unterschied zwischen diesen Ländern bestand darin, daß Belgien trotz der hohen Schuldenquote selten emsthaft als Teilnehmer der ersten Gruppe der EWU-Staaten in Frage gestellt wurde. Aus der Gegenüberstellung der verschiedenen Strukturkoeffizienten können weitere Argumente für diese Zuordnung gefunden werden (vgl. Tabelle 4). Belgien hat die zwar höchste Schuldenquote, aber die geringste Zunahme dieses Kriteriums seit 1991 von allen drei betrachteten Ländern. Die Fristenstruktur belegt, daß Belgien die konsolidierteste Finanzierung hat; die Halterstruktur weist zwar im Vergleich die kleinste Relation zugunsten inländischer Gläubiger auf, sie ist aber mit 3,55 dennoch sehr hoch. Ferner muß beachtet werden, daß zum Beispiel die italienische Kennziffer administrativ verzerrt ist. Viele Italiener hatten in den achtziger Jahren als Folge der Kapitalverkehrskontrollen keine andere Wahl bei der Anlage ihrer Sparguthaben, und Ausländer mieden italienische Staatspapiere. Die italienische Regierung bot durch Staatsanleihen in ECU ihren Staatsbürgern eine Teilkompensation für das Verbot, die Ersparnisse in anderen Währungen anzulegen (Hasse 1990, 89 f., 96). Weitaus aufschlußreicher ist, daß Belgien höhere Sparquoten hat. Die private Sparquote ist zwar gesunken, die volkswirtschaftliche Sparquote dagegen stark gestiegen, so daß die relative Inanspruchnahme der Kapitalbildung durch den belgischen Staat seit 1991 gesunken ist. Die Wahrscheinlichkeit, daß negative externe Effekte auftreten werden, ist dadurch deutlich gesenkt worden. Umgekehrt ist Italien einzuschätzen. Die Verschuldungsquote ist bei einem bereits hohen Stand nach der Festlegung des Verschuldungskriteriums im Vertrag von Maastricht im Jahre 1991 sehr stark gestiegen. Erschwerend tritt hinzu, daß die Fristenstruktur auf einen hohen Revolvierungsbedarf hindeutet. Eindeutig bedrohlich im Sinne potentieller negativer externer Effekte ist die Entwicklung der italienischen Sparquoten. Sie sind beide gesunken, der Rückgang der privaten Sparquote ist dramatisch. Daraus kann abgeleitet werden, daß ohne weitere, langfristig ausgerichtete Konsolidierungsmaßnahmen von Seiten der italienischen Schuldenquote negative externe Effekte zu erwarten sind. Denn alle drei Indikatoren signalisieren Risiken.

626 • Rolf H.Hasse Tabelle 3: Gliederung der EU-Länder gemäß dem Indikator für die Fristenstruktur T und den Veränderungen der Sparquoten von 1980 bis 1997 und von 1980 bis 1995 Veränderung der Sparquoten Fristenstruktur sp sg 'f 1980- 1997 1980 - 1995 Gruppe 1 Italien Frankreich Spanien Großbritannien Griechenland Portugal Belgien Gruppe 2 Dänemark Irland Finnland Schweden Luxemburg Deutschland Niederlande Österreich 1 2

1993 - 1997 1980 - 1994

3 4

1,63 1,63 1,70 1,78 1,86 2,13 2,85 7,33 9,00 11,50 23,33 13,28 19,00 32,33 49,00 1980 - 1992 geschätzt

+ + -

5,0 11,1 2,1 3,6 2,1 1 18,3 2,3

+ +

3,9 4,2 0,7 4,2 2 13,4 2 5,9 5,1

k.A. 2,5 1,5 0,1 k.A. - 1,5 - 1,2 5 + 0,9

+ + + + + -

2,9 4,3 2 6,2 4,3 2 20,0 3 0,9 3,7 0,5 2

-

5

ohne das Zwangssparen fiii die Alterssicherung k.A.: keine Angaben

Tabelle 4: Vergleich der Länder Belgien, Italien und Spanien mit Hilfe von Strukturkoeffizienten zur öffentlichen Verschuldung und zur Entwicklung der Sparquoten Schuldenquote Schuldenquote Fristenstruktur Halterstruktur Sparquote Sparquote Veränderung der Sparquote Veränderung der Sparquote

Belgien 129,4 130,6 2,85 3,55 16,5 22,6

Italien 101,4 123,4 1,63 32,33 12,6 20,5

sp', 1980-1997

- 2,3

-11,1

Spanien 45,8 67,8 1,70 4,55 12,9 21,5 + 2,1

sg1, 1980-1997

+ 5,1

- 4,2

+ 0,7

1991 1996 'f 'h' sp, 1997 sg, 1995

Frankreich 35,8 56,4 1,63 2,23 12,6 19,7

Deutschland 41,5 60,8 19,0 2,57 11,3 21,4

- 5,0

- 1,5

- 3,9

+ 0,9

' geschätzt

Quelle: Estimates by Commission services on period 1991-1993; Europäisches Währungsinstitut 1997; Institut der deutschen Wirtschaft 1996; OECD 1996; eigene Berechnungen.

Analyse der Budgetkriterien des Vertrages von Maastricht • 6 2 7

Spanien bietet ein differenziertes Bild, in dem den negativen auch positive Einflußfaktoren gegenüberstehen. Die Verschuldungsquote ist von 1991 bis 1996 stark gestiegen. Ihre Höhe ist aber noch in der Nähe der Referenzgröße von 60%, auch wenn sie permanent steigt und dadurch die Orientierungsmarkierung dauerhaft verletzt. Ebenfalls ist die Fristenstruktur unbefriedigend. Eindeutig konsolidierend wirkt, daß sich beide Sparquoten verbessert haben und dadurch die Gefahr externer negativer Effekte abgebaut worden ist. Das Fazit dieses Vergleichs von drei Ländern lautet also: Italien ist der eigentliche Problemfall. Negative externe Effekte sind primär von den Entwicklungen in Italien zu erwarten, wenn keine zusätzlichen, auf Dauer angelegten Konsolidierungsanstrengungen unternommen werden. Unabhängig von dem Vergleich der obigen drei Länder verdient auch die französische Position eine gesonderte Beurteilung. Frankreich hat massive Schwierigkeiten, das Defizitkriterium zu erfüllen, wie die Kommission noch in ihrem Bericht Mitte Oktober 1997 feststellte. Obwohl die Verschuldungsquote knapp unter der 60%-Marke liegt, sollten aber folgende, nahezu nur negative Entwicklungen beachtet werden: - Die Verschuldungsquote ist von 35,8% (1991) auf 56,4% (1996) angestiegen. - Die Fristenstruktur ist wie die italienische sehr ungünstig. - Die Halterstruktur weist einen erheblichen Anteil ausländischer Gläubiger auf. - Die Entwicklung der Sparquoten ist stark negativ: sp ist von 17,6% (1980) auf für 1997 erwartete 12,6% gesunken; sg ist von 23,6% (1980) auf 19,7% (1995) gefallen. Alle diese Kennziffern signalisieren, daß auf französischer Seite bei mangelnder Konsolidierung die Störpotentiale wachsen werden und von dort die Gefahr negativer externer Effekte zunehmen wird. Die deutschen Strukturkoeffizienten sind demgegenüber konsolidierter oder haben andere Ursachen (Verschuldungsquote und Wiedervereinigung). Eindeutig positiver ist die Entwicklung der Sparquoten. Diese Position und Bewertung kann sich ändern, wenn die beabsichtigten Zins-SwapAktivitäten in Deutschland bei der Verschuldung des Bundes zu einer Veränderung der Fristenstruktur fuhren. Die ökonomische Logik dieser fiskalpolitischen Maßnahme ist, daß die Einsparungen mit einer größeren Zinsempfindlichkeit erkauft werden. Die Konsolidierung nimmt ab und das Störpotential zu. Dies kann auch negative Rückwirkungen im Verhalten gegenüber der Europäischen Zentralbank provozieren. 3.

Rückschlüsse auf die materielle Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank

Die Bundesbank ist das Referenzmodell für die Europäische Zentralbank (EZB). Diese wird aber auf andere Verhaltensweisen der öffentlichen Schuldner stoßen. In der Bundesrepublik ist - ohne den Effekt der Wiedervereinigung - die Schuldenquote moderat gewesen. Wichtiger noch ist, daß die öffentlichen Schulden in ihrer Fristenstruktur immer konsolidiert gewesen sind; die langfristige Verschuldung überwog eindeutig. Die Fristengestaltung ist auch beibehalten worden, als die Kosten der Wiedervereinigung

628 • Rolf H.Hasse

Tabelle 5: Fristenstruktur, Schuldenquote, Veränderung der Schuldenquote und die absolute Höhe der öffentlichen Schulden im Vergleich

Italien Frankreich Spanien

(1) Fristenstruktur 'f 1,63 1,63 1,70

(2) Rangfolge der Fristenstruktur 1 15 14 13

(3)

(4)

Veränderung der Schuldenquote, 1991 - 1996 Prozentpunkte 22,0 20,6 22,0

Rangfolge der Veränderung der Schuldenquote 13 11 12

Großbritannien Griechenland Portugal

1,78 1,86 2,13

12 11 10

20,5 18,3 0,0

10 8 3

Belgien Dänemark Irland

2,85 7,33 9,00

9 8 7

1,2 5,6 -20,3

4 6

Finnland Luxemburg Deutschland

11,50 13,28 19,00

6 5 4

38,3 3,6 19,3

15 5 9

Schweden Niederlande Österreich

23,33 32,33 49,00

3 2 1

25,1 - 0,1 13,0

14 2 7

Italien Frankreich Spanien

(5) Höhe der Schuldenquote 1996 123,4 56,4 67,8

(6) Rangfolge der Schuldenquote 1996 14 3 6

(7) Höhe der Schulden absolut in U.S.Dollar 3 1995 1.396,9 608,4 365,4

Großbritannien Griechenland Portugal

56,2 110,6 71,1

2 13 8

581,0 136,1 90,8

12 8 5

Belgien Dänemark Irland

130,6 70,2 74,7

15 7 10

283,2 80,7 50,4

10 4 2

Finnland Luxemburg Deutschland

61,3 7,8 60,8

5 1 4

52,2 0,7 964,2

3 1 14

Schweden Niederlande Österreich

78,1 78,7 71,7

11 12 9

129,0 236,3 116,7

7 9 6

1

(8) Rangfolge der Schulden absolut 1995 15 13 11

3 ' Entsprechend dem Grad der Konsolidierung In Kaufkraftparitäten, Umrechnung auf der Entsprechend der absoluten Veränderung der Grundlage der Spalte 5 und der Zahlen für das Schuldenquote, Rang 1 = der geringste Zuwachs/ BIP, in: Institut der deutschen Wirtschaft 1996, höchste Abbau Tabelle 78 Quelle: Europäisches Währungsinstitut 1997; Institut der deutschen Wirtschaft 1996; OECD 1996.

2

Analyse der Budgetkriterien des Vertrages von Maastricht • 6 2 9

durch eine massive Ausdehnung der Staatsverschuldung finanziert wurde. Dadurch ist der Revolvierungsbedarf und der davon ausgehende Druck auf die Finanzmärkte und die Zinsentwicklung gering gewesen und geblieben. Die Bundesbank wurde in der Gestaltung der Geld- und insbesondere der Zinspolitik wenig bis gar nicht beeinträchtigt. Ihre funktionelle Autonomie ist materiell gegeben. Die EZB wird auf viel differenziertere Verhaltensweisen, Usancen und Fristenstrukturen stoßen, die ihre Gestaltungsfreiheit beeinträchtigen können. Die Fristenstrukturen sind anders und damit der Revolvierungsbedarf des Schuldenstandes. Der direkte und indirekte Druck gegen Zinssatzerhöhungen wird größer sein. Inwieweit die Änderung des institutionellen Rahmens der Geldpolitik in den EU-Ländern durch die EWU zu einer Veränderung der Fristenstruktur der öffentlichen Schulden führen wird, kann nur vermutet werden. Unsicher bleibt auf jedem Fall der Zeitraum, in dem diese Anpassung erfolgen wird. Weil die funktionelle Unabhängigkeit der EZB durch den politischen Einfluß auf den Finanzmarkt negativ beeinflußt werden kann, könnte folgende Vorkehrung gefordert werden: Die EZB vereinbart mit den Regierungen der Länder, die mit einer ungünstigen Relation zwischen lang- und kurzfristigen Schulden in die EWU eintreten, daß sie bei der Neuverschuldung und bei der Revolvierung ihres Schuldenbestandes eine gezielte Veränderung der Fristenstruktur (Verlängerung = ein höheres ' f ) anstreben. Diese Vereinbarungen wären als Ergänzung zum Stabilitäts- und Wachstumspakt zu verstehen, der die Durchsetzung des Paradigmas zugunsten der Geldwertstabilität im Sektor der Budgetpolitik auf politischer Ebene anstrebt. Wenn man die Länder nach der Fristenstruktur ihrer Schulden gliedert und dies mit der Schuldenhöhe und dem Wachstum der Schuldenquote seit 1991 verbindet (vgl. Tabelle 5), erhält man eine nahezu identische Hierarchie wie bei der Analyse der Fristenstruktur und der Veränderung der Sparquoten. Es existieren - mit kleinen Abweichungen - zwei Ländergruppen, von denen unterschiedliche Effekte auf die Finanzmärkte und Einflüsse auf die EZB ausgeübt werden können. Die zweite, untere Ländergruppe umfaßt den gesamten D-Mark-Block (Deutschland, Österreich, Niederlande, Luxemburg), zu dem auch Dänemark und - wenn auch nur bedingt - Belgien zu zählen sind. Ein weiteres Kennzeichen dieser Ländergruppe ist, daß sie Zentralbanken hatten und haben, die über ein hohes Maß an Unabhängigkeit verfugten oder aufgrund ihrer Koppelung an die D-Mark keine autonome Geldpolitik verfolgen konnten. Die Gegenpositionen stellen Italien, Frankreich und Großbritannien dar, große Länder, die aus politischen Erwägungen ein ausgeprägtes Interesse an weisungsgebundenen Zentralbanken hatten bzw. noch heute artikulieren. Hier ist eine denkbare Ursache für die Fristenstruktur der öffentlichen Schulden zu finden. Ebenso aufschlußreich ist die Gruppenbildung, wenn man statt der Schuldenquote das absolute Volumen der öffentlichen Verbindlichkeiten betrachtet (vgl. Tabelle 5, Spalten 7 und 8). Damit wird die Mengenbelastung der Finanzmärkte genauer berücksichtigt. Graphisch geben die Rangordnungen Aufschluß darüber, von welchen Ländern Probleme ausgehen können. Die Diagonale in Abbildung 1 erfaßt die Länder mit identischer Rangordnung bei den Kriterien Fristenstruktur und absolutes Schuldenvolumen. Je weiter eine Position vom Koordinatenursprung entfernt ist, desto problematischer ist sie. Länder, die rechts von der Diagonalen liegen, sind um so unproblematischer, je

6 3 0 • Rolf H.Hasse

mehr sie sich der 'S'-Achse nähern, da das höhere Schuldenvolumen durch eine günstigere Fristenstruktur ein positives Gegengewicht erhält. Länder, die links von der Diagonalen liegen, haben ein geringeres Schuldenvolumen, aber eine ungünstigere Fristenstruktur. Je weiter sie sich jedoch der ' f •-Achse und dem Koordinatenursprung annähern, desto geringer wird ihr Störpotential auf den Finanzmarkt, den Zinssatz und die Zinspolitik der EZB. Das Fazit ist: Vor allem von den Ländern Italien, Frankreich, Großbritannien, Spanien und Griechenland sind größere Störimpulse zu befürchten. Für sie sollte gelten, daß ihre Regierungen die oben vorgeschlagenen Vereinbarungen mit der EZB schließen, durch die sie sich verpflichten, bei der Revolvierung ihres Schuldenbestands und bei der Neuverschuldung die Fristenstruktur ihrer ausstehenden Verbindlichkeiten zu verbessern. Belgien weist bei diesen Kennziffern erneut das relativ geringste Störpotential auf. Dennoch muß beachtet werden, daß mit der EWU der D-Mark-Block aufgelöst wird und Belgien mit Ländern eine Koalition bilden kann, die aufgrund ihrer Strukturen ein Interesse daran haben können, daß die EZB Zinssatzsteigerungen unterläßt oder verzögert beschließt (Italien, Frankreich, Spanien). Diese drei Länder werden als 'Pre-Ins' 1999 in der EWU erwartet. Ihre Schulden erreichten 1995 einen Anteil von 50,9% an den Schulden aller 15 EU-Staaten. Wenn man Griechenland und Großbritannien hinzuzählt, die nicht sofort an der EWU teilnehmen werden, erreicht der Anteil 66,2%. Abbildung 1: Die Rangordnung der EU-Staaten bei der Fristenstruktur (f) und der Höhe der absoluten Schulden (S)

Schulden (S)

Die bisherige Argumentation, daß die Strukturen der öffentlichen Verbindlichkeiten zu Verhaltensweisen fuhren könnten, die die funktionelle Unabhängigkeit der EZB beeinträchtigen könnten, wird durch andere Kennziffern erhärtet und erweitert. Gerade in den Ländern mit den ungünstigsten Fristenstrukturen, einem starken Anwachsen der Schuldenquote und mit hohen Schuldenvolumina (Italien, Frankreich, Großbritannien, Portugal) sind die Sparquoten am nachhaltigsten gesunken. Widerstand gegen Zinssatz-

Analyse der Budgetkriterien des Vertrages von Maastricht • 6 3 1

Steigerungen durch die EZB und negative externe Effekte werden parallel und kumulierend auftreten, wenn keine zusätzlichen Konsolidierungsmaßnahmen eingeleitet werden.

4. Divergenz zwischen öffentlicher Verschuldung und Sparen Die Schuldenquote aller EU-Staaten ist trotz der Vorgaben im Vertrag von Maastricht von 56,1% (1991) auf 73,5% (1996) angestiegen. Aber auch außerhalb der EU sind die Schuldenquoten von 1990 bis 1996 steil gestiegen: USA von 37,0% auf 64,1%, Japan von 51,2% auf 88,8%; Kanada von 44,3% auf 99,4% (Institut der deutschen Wirtschaft 1996, Tabelle 52). Parallel dazu kann man feststellen, daß die Sparquoten international teilweise drastisch zurückgehen, in der Regel die Sparrate der privaten Haushalte stärker als die gesamtwirtschaftliche Sparquote (vgl. Tabelle 6). Auch die Tatsache, daß die Sparquoten in nationalen Definitionen nicht direkt vergleichbar sind, schmälert nicht die Möglichkeit, sie für einen Vergleich der Entwicklung seit 1980 zu verwenden, da ihre Änderungen wichtiger als ihre Vergleichbarkeit untereinander sind.

Tabelle 6: Die Entwicklung der Schuldenquote und der Sparraten der EU-Mitgliedsstaaten sowie der USA und Japans Schuldenquote

Sparquote der privaten Haushalte 1980 1990 19971 18,8 17,0 16,5 23,7 18,5 12,6 k.A. k.A. 12,7

Gesamtwirtschaftliche Sparquote 1980 1990 1995 17,5 21,1 22,6 24,7 19,5 20,5 29,1 13,8 15,7 2

Belgien Italien Griechenland

1991 129,4 101,4 92,3

1996 130,6 123,4 110,6

Niederlande Schweden Irland

78,8 53,0 95,0

78,7 78,1 74,7

1,8 4 6,7 12,6

5,8 4 -0,6 11,2

0,6 4 6,6 10,1

20,9 17,8 15,2

26,0 17,7 20,0

24,6 13,5 2 19,5 2

Österreich Portugal Dänemark

58,7 71,1 64,6

71,7 71,1 70,2

10,5 25,5 k.A.

13,7 15,3 k.A.

11,4 7,2 k.A.

25,8 27,5 14,9

25,3 2 21,6 17,8

Spanien Finnland Deutschland

45,8 23,0 41,5

10,8 5,4 12,8

10,5 0,4 13,8

12,9 3,9 11,3

20,8 26,0 20,5

Frankreich Großbritannien Luxemburg

35,8 35,7 4,2

67,8 61,3 60,8 56,4 56,2 7,8

26,3 25,9 17,8 21,7 23,0 24,1

17,6 13,4 k.A.

12,5 8,1 k.A.

12,6 9,8 k.A.

23,6 17,7 44,2

21,5 14,3 62,5

19,7 13,5 2 60,2 3

EU - gesamt

56,1

73,5

21,6

20,8

18,7 3

USA Japan

37,0 51,2

64,1 88,8

19,8 31,1

15,6 33,6

16,2 30,8

' Geschätzt

2

1994

3

1992

4

-

8,4 17,9

-

5,2 12,1

Ohne das Zwangsparen für die Altersversicherung

-

5,2 12,2 5

21,5 19,8 21,4

Nationale Definitionen mit Ausnahme der USA

Quelle: Schuldenquote: Europäisches Währungsinstitut 1997, 32; für die USA und Japan: Institut der deutschen Wirtschaft 1996, Tabelle 52; Sparraten: OECD 1996, Tabellen 26-27.

6 3 2 • Rolf H.Hasse

Das Ergebnis ist besorgniserregend. Es unterlegt eindrucksvoll, in welchem Ausmaß die externe Asymmetrie und damit die Abkoppelung zwischen den Paradigmen in der Geldpolitik und in der Budgetpolitik gewachsen ist. Die divergierenden Entwicklungen zwischen wachsender staatlicher Verschuldung und sinkenden Sparquoten signalisieren, daß sich national und international Spannungen entwickeln. Das Potential für negative externe Effekte in der Zinspolitik ist stark angewachsen. Angebot und Nachfrage auf den Finanzmärkten driften auseinander. Diese Entwicklung gefährdet die Kreditnachfrage privater Investoren und den Marktausgleich bei niedrigen Zinsen und Geldwertstabilität. Besonders besorgniserregend sind hierbei zwei Feststellungen: 1. In den EU-Ländern mit den größten Schuldenbeständen sind die Sparquoten am kräftigsten rückläufig, so daß ihr Anpassungsbedarf in der Budgetpolitik von zwei Seiten vergrößert wird: einmal von dem Schuldenbestand und zweitens von den nachlassenden privaten und gesamtwirtschaftlichen Sparvolumina. 2. Die EU-Länder haben durch die beiden Budgetkriterien eine Konsolidierung ihrer öffentlichen Verschuldung verabredet. Deren Ausmaß und die Verfahren stellten sich als unzureichend heraus. Auf der Gipfelkonferenz in Amsterdam wurde ein Stabilitäts- und Wachstumspakt beschlossen, der, wenn er wie geplant umgesetzt wird, die Anpassungsanstrengungen in der Budgetsanierung steigern und eine Umorientierung der Budgetpolitiken bewirken könnte. Zweifel an dieser Bereitschaft hierzu sind gegeben (Hasse und Wolter 1997). Beide Ansätze zielen auf dasselbe Ziel, auch wenn es so nirgends formuliert und artikuliert wird: die Aufhebung der externen Asymmetrie, die Einbettung auch der Budgetpolitik in das Paradigma der Preisstabilität. Ein weiterer Aspekt verdient Aufmerksamkeit. Die EU-Staaten verhalten sich so, als ob ihre Konvergenzanstrengungen riesig wären. Das mag so empfunden werden von den Vertretern, die die Budgetpolitik in diese Sackgasse geführt haben und die Anpassungen als Aufgabe ihrer Präferenzen und Privilegien ansehen. Dennoch sind die bisherigen Bemühungen aus mehreren Gründen noch unzureichend. Einmal sind das Niveau und die Struktur der öffentlichen Schulden weiterhin stabilitätsgefahrdend (vgl. oben). Zweitens werden die Kosten der Altersversorgung in den EU-Ländern steigen. Da ein zunehmender Anteil über die öffentlichen Haushalte finanziert werden soll, entstehen hier Belastungen, für die Vorsorge in der Gestaltung der Budgets getroffen werden muß. Auch hier ist festzustellen, daß gerade Länder mit hohem Schuldenstand mit den höchsten erwarteten Kosten konfrontiert sein werden (Italien, Deutschland, Griechenland, Frankreich) (EMI 1996, 29 f. und die Quellen dort). Drittens müssen die Konvergenzbemühungen im internationalen Rahmen betrachtet werden. Auf diesen Aspekt hat eine Gruppe internationaler Ökonomen hingewiesen (Brussel's Initiative 1996). Die Rückführung der Budgetdefizite außerhalb der EU macht große Fortschritte. Wenn diese - wie in den USA und in Kanada - anhalten sollten, erwächst vielen EU-Ländern eine zusätzliche Konkurrenz um die knappen Sparvolumina. Nicht die Verfügbarkeit wird größer durch die Rückführung der öffentlichen Kreditaufnahme außerhalb Europas. Vielmehr verändern sich für die Kapitalanleger die Alternativen - vor allem durch das Wachstum priva-

Analyse der Budgetkriterien des Vertrages von Maastricht • 6 3 3

ter Investitionen außerhalb der EU. Europa kann sich weiter ins Abseits bewegen, wenn es das Niveau der Budgetanpassung nicht steigert und langfristig beibehält.

VI. Eine Zwischenbilanz Ausgangspunkt der Analyse war die Unzufriedenheit über die zunehmende direkte und indirekte Normativität in den Argumenten zugunsten oder zuungunsten der Budgetkriterien und des Beginns der EWU am 1. Januar 1999. Angestrebt wird, die ökonomischen Sachverhalte wieder stärker in den Mittelpunkt der Prüfungen zu stellen. Dies sollte auf zwei Wegen erfolgen: Einmal sollten die Faktoren möglicher negativer externer Effekte als Folge mangelnder nationaler Budgetdisziplin genauer benannt werden. Zum anderen sollte das politökonomische Argument, daß ein hoher Schuldenstand die materielle Unabhängigkeit der EZB gefährden könnte, konkretisiert werden. Mit beiden Ansätzen wird die bisher eindimensionale Betrachtung der Höhe der öffentlichen Verschuldung aufgelöst. Femer wird geprüft, wo die Widerstände liegen, die die Anwendung des internationalen Paradigmas zugunsten der Preisstabilität in den Budgetpolitiken der EU-Staaten bisher verhindert haben (externe Asymmetrie). Gleichzeitig wird begründet, warum diese Anpassung in den Budgetpolitiken erforderlich ist. Mit Hilfe von zwei Strukturindikatoren für den Schuldenbestand - die Fristen- und die Gläubigerstruktur - wird die (In-)Stabilität der nationalen öffentlichen Verschuldung untersucht. Ein Vergleich der Länder Italien, Spanien und Belgien sowie die Analyse der Position Frankreichs fuhren zu Ergebnissen, die weitaus präziser sind als die bisherigen offiziellen und privaten Untersuchungen. Belgiens Verschuldung ist konsolidierter als es die Schuldenquote signalisiert. Italien ist auf absehbare Zeit ein großes Problem, da alle Indikatoren negativ kumulierend wirken. Aber auch Frankreichs Verschuldung ist als emsthafter und bedrohlicher einzuschätzen, als es die Schuldenquote wiedergibt. Die Einbeziehung der nationalen Sparquoten und des absoluten Schuldenstands bringt neue Erkenntnisse. Die Sparquoten sinken weltweit, am stärksten in den EU-Ländern mit hohem relativen und absoluten Schuldenstand. Auch hier bildet Belgien eine Ausnahme. Wenn man die Kriterien Fristenstruktur, Entwicklung der Sparquoten und absoluter Schuldenstand kombiniert, erhält man eine Ländergruppierung, die anzeigt, welche Länder in einer EWU negative externe Effekte auslösen und welche Länder aufgrund ihrer Verschuldungsprobleme die funktionelle Unabhängigkeit der EZB gefährden können (Italien, Frankreich, Spanien, Griechenland, Großbritannien und Belgien). Aufgrund dieser Störpotentiale wird vorgeschlagen, daß diese Länder mit der EZB - zusätzlich zum Stabilitäts- und Wachstumspakt - eine Vereinbarung schließen, in der sie sich verpflichten, sowohl bei der Neuverschuldung als auch bei der Revolvierung des Schuldenbestandes die Fristenstruktur zu verbessern. Die öffentlichen Verbindlichkeiten sollen stärker langfristig finanziert werden. Die Entwicklung der Sparquoten zeigt, wie dringend die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte und Schulden ist. Die Notwendigkeit wird verschärft durch zwei weitere Faktoren: durch die zukünftigen Belastungen der Haushalte als Folge der Veränderungen zwischen Erwerbsbevölkerung und inaktiver Bevölkerung sowie durch die rela-

634 • Rolf H. Hasse tiv größeren Sanierungsanstrengungen in den Budgets außerhalb der EU. Nach den Herausforderungen auf den internationalen Gütermärkten entstehen für die EU-Länder neue auf dem Gebiet der Haushaltssanierung und der Kapitalbindung. Um beiden Herausforderungen gewachsen zu sein, wird die Aufhebung der externen Asymmetrie eine zentrale Aufgabe der Regierungen in den EU-Mitgliedsstaaten sein. Preisstabilität für die Geld- und Währungspolitik und komplementär dazu Sanierung und dauerhafte Konsolidierung der öffentlichen Budgets sind die Ziele und Bedingungen für eine Stabilitätsgemeinschaft.

Literatur Alesina, Alberto und Roberto Perotti (1996), Fiscal Adjustments in OECD Countries: Composition and Macroeconomic Effects, IMF Working Paper, 96/70. Brussel's Initiative (1996), Trust-Credibility-Sustainability, Occasional Paper, Brüssel, Dezember. Bünning, Lars (1997), Die Konvergenzkriterien des Maastricht-Vertrages unter besonderer Berücksichtigung ihrer Konsistenz, Frankfurt a.M. et al. EMI (1996), European Monetary Institute, Progress towards Convergence, Frankfurt/M. EMI (1997), European Monetary Institute, The Single Monetary Policy in Stage Three. General documentation on ESCB monetary policy instruments and procedures, Frankfurt/M. Europäisches Währungsinstitut (1997), Jahresbericht 1996, Frankfurt a.M. Hasse, Rolf H. (1990), The European Central Bank. Perspectives for a Further Development of the European Monetary System, Gütersloh. Hasse, Rolf H. (1996), Gestaltungsprobleme zwischen „Ins" und „Outs" in der EWU, Diskussionsbeiträge der Universität der Bundeswehr Hamburg, Nr. 69, Hamburg. Hasse, Rolf H. (1997), Europäische Währungsunion und Politische Union. Wieviel Politische Union braucht eine Währungsunion?, Gütersloh (in Vorbereitung). Hasse, Rolf H. und Achim Wolter (1997), Gemeinsame Beschäftigungspolitik: Überfällig oder überflüssig? Wirtschaftsdienst, 77 Jg., S. 386-389. Institut der deutschen Wirtschaft (1996), Internationale Wirtschaftszahlen, Köln. Lutz, Friedrich A. (1953), Politische Überzeugungen und nationalökonomische Theorie, Antrittsrede an der Universität Zürich, gehalten am 12. Dezember 1953, Ergänzter Separatabdruck aus der Neuen Zürcher Zeitung vom 16. Dezember 1953, Nr. 3094. Mackenzie, G.A. und David W.H. Orsmond und Philip R. Gerson (1997), The Composition of Fiscal Adjusment and Growth: Lessons from Fiscal Reform in Eight Economies, IMF Occasional Paper, Nr. 149, Washington, D.C. McDermott, C. John und Robert F. Wescott (1996), An Empirical Analysis of Fiscal Adjustment, IMF Working Paper, 96/59. OECD (1996), Wirtschaftsausblick 60, Paris. Steuer, Werner (1997), Öffentliche Verschuldung in einer Europäischen Union, Arbeitspapier Nr. 48 des Schwerpunktes Finanzwissenschaft/Betriebswirtschaftliche Steuerlehre, Universität Trier. Zusammenfassung Die Stabilitätsrisiken der Budgetkriterien sind zu wenig wissenschaftlich fundiert worden. Die Folge ist, daß die Diskussion zu normativ geführt wird. Dies trifft besonders für die Verschuldungsquote zu.

Analyse der Budgetkriterien des Vertrages von Maastricht • 6 3 5

Mit Hilfe von Strukturkennziffern (Fristen- und Gläubigerstruktur) wird untersucht, welche negativen externen Effekte von der öffentlichen Verschuldung ausgehen können. Wenn man diese Indikatoren verbindet mit dem Schuldenvolumen und der Entwicklung der Sparquoten kann man erstaunliche Informationen ableiten über die Stabilitätsrisiken, die Zinssensitivität der nationalen Budgets und die Wahrscheinlichkeiten, daß negative externe Effekte auftreten können sowie von welchen Ländern sie ausgelöst werden, diese Daten erlauben auch eine politökonomische Analyse, inwieweit ungünstige Schuldenstrukturen einzelner Länder eine stabilitätsorientierte Geldpolitik der EZB gefährden können. Die Studie enthält auch einen Vorschlag, wie das Risiko für die EZB beschränkt werden kann. Summary An Analysis of the Maastricht Treaties Budget Criteria There exists an astonishing scarcity of analysis about the risks for price stability caused by missing the budget criteria. Thus, discussions about this topic are often lead in normative terms. This is true mainly for the debt criteria. By means of indicators for the structure of the public debts (term structure, structure of holders) it is analysed how negative external effects can be caused by public borrowing. When combining these structural indicators with the volume of public debts and the development of the savings' rates one can derive highly interesting informations about the probability that external negative effects may emerge and which countries may cause them. Moreover, the figures allow an analysis of the political economy of how unfavourable debt structures may influence the monetary policy of the ECB and its independence. The analysis is added with a proposal how to restrain these risks.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1997) Bd. 48

Bernhard Duijm

Die deutsche Politik gegenüber Entwicklungsländern: Einige ordnungspolitische Anmerkungen Inhalt I. Vorbemerkungen II. Ordnungspolitische Aspekte der deutschen Entwicklungspolitik 1. Die Bedeutung der Wirtschaftsordnung eines Entwicklungslandes für die deutsche Entwicklungspolitik 2. Die Umsetzung marktwirtschaftlicher Prinzipien in der bilateralen deutschen Entwicklungspolitik 3. Deutsche Entwicklungspolitik - ein Beitrag zu einer weltweiten sozialen Marktwirtschaft? III. Die Bundesrepublik als Vorreiter einer ordnungsorientierten Entwicklungspolitik? Literatur Zusammenfassung Summary: The German Development Policy: Some Remarks from a marketoriented Viewpoint

637 640 640 642 646 648 649 651 652

I. Vorbemerkungen Die deutsche Politik gegenüber Entwicklungsländern, im folgenden als Entwicklungspolitik bezeichnet, läßt sich - verglichen mit anderen Politikfeldern wie der Geld-, Wettbewerbs- oder Stabilisierungspolitik - nur äußerst vage abgrenzen. Hierfür lassen sich mehrere Gründe anführen: (1) Trotz wiederholter Forderungen verschiedener politischer Kreise1 gibt es in Deutschland kein Gesetz zur Entwicklungspolitik, in dem Ziele, Grundsätze und Instrumente zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern geregelt sind. Gesetzliche Regelungen finden sich nur zu wenigen Teilbereichen der Entwicklungspolitik, etwa im Entwicklungshelfer-Gesetz. 2 (2) Die deutsche Entwicklungspolitik ist nicht einem einzigen Träger zuzuordnen, selbst dann nicht, wenn man Entwicklungspolitik zunächst einmal auf Entwicklungs/»/1

Siehe Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Deutscher Bundestag (1995, S. 2); Gesetzentwurf der SPD, o.V. (1997a). Entwicklungshelfer-Gesetz vom 18.6.1969 (Bundesgesetzblatt I, 549), geändert durch Artikel 2 des Gesetzes vom 27.6.1987 (Bundesgesetzblatt I, 1542)

6 3 8 • Bernhard Duijm

fe beschränkt. Entwicklungshilfe, das heißt insbesondere finanzielle Zusammenarbeit in Form zinsgünstiger Darlehen oder Zuschüsse und technische Zusammenarbeit in Form von Zuschüssen, wird im Rahmen der staatlichen Politik auf Bundesebene von mehreren Ministerien gewährt. Neben dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), das derzeit rund 70% der Mittel verwaltet, sind dies vor allem das Auswärtige Amt, das Wirtschafts- und das Wissenschaftsministerium (Ashoff 1995, 235). Weitere Träger der deutschen Entwicklungspolitik sind unter anderem die von der Bundesregierung finanziell unterstützten Nicht-Regierungsorganisationen, die mit der Durchführung der staatlichen Entwicklungshilfe beauftragten parastaatlichen Organisationen Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) und Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) sowie die Bundesländer. Bei einer rückschauenden Betrachtung der deutschen Entwicklungspolitik sind die sich wandelnden Zuständigkeiten der einzelnen Bundesministerien zu berücksichtigen. Das erst 1961 gegründete BMZ hatte zunächst nur eine reine Koordinationsfunktion. 1964 übernahm es vom Auswärtigen Amt die Zuständigkeit für die technische Zusammenarbeit, 1972 vom Wirtschaftsministerium die für die finanzielle Zusammenarbeit. Trotz weiterer Kompetenzaneignungen ist das BMZ bei der Durchführung seiner Politik weiterhin in vielen Bereichen von anderen Bundesministerien abhängig (Stockmann 1990, 38 ff.). (3) Eine Beschränkung von Entwicklungspolitik auf Entwicklungshilfe würde wesentliche Aspekte der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung eines Landes unbeachtet lassen. Die Entwicklungsmöglichkeiten werden nachhaltig von nationalen Maßnahmen und Regelungen eines Entwicklungslandes, aber auch von solchen der Industrieländer beeinflußt, die etwa seine Exportchancen berühren. Damit gehören zur Entwicklungspolitik eines Industrielandes wesentliche Bereiche seiner gesamten Wirtschaftspolitik, etwa die Außenhandels-, Agrar-, Struktur- und Wettbewerbspolitik (Dams 1995, 298 f f ) . Zahlreiche Maßnahmen und Regelungen der Industrieländer sind für viele Entwicklungsländer quantitativ von weit größerer Bedeutung als die empfangene Entwicklungshilfe. Mit dieser umfassenderen Begriffsabgrenzung kann die Entwicklungspolitik in zahlreiche Zielkonflikte geraten. Die Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung in der Dritten Welt kann etwa mit beschäftigungs-, Zahlungsbilanz- oder industriepolitischen Zielen in Deutschland kollidieren. Diese Konflikte kommen zu denen hinzu, die schon bei einer engen Begriffsabgrenzung im Sinne der Entwicklungshilfe bestehen können, etwa gegenüber den Zielen der allgemeinen Außenpolitik, wie der regierungsinterne Streit um die deutsche UNIDO-Mitgliedschaft im Herbst 1996 zeigte (o.V. 1996b). (4) Die deutsche Entwicklungspolitik ist auf verschiedenen Ebenen angesiedelt: national, supranational und international. Dies gilt für die deutsche Entwicklungshilfe, die nicht nur in Form bilateraler Zusammenarbeit, sondern vor allem über Finanzbeiträge an internationale Organisationen auch multilateral und im Falle der EG-Entwicklungshilfe supranational betrieben wird. Besonders groß ist die Bedeutung inter- und supranationaler Organisationen für die Entwicklungspolitik dann, wenn Deutschland wirtschaftspolitische Kompetenzen abgegeben oder internationale Vereinbarungen zu beachten hat. Dies betrifft in Deutschland zum Beispiel weite Bereiche der Agrar- und Handelspolitik, für die wesentliche Kompetenzen bei der EG liegen. Die konkrete Ausgestaltung der

Die deutsche Politik gegenüber Entwicklungsländern • 639 Gemeinschaftspolitik wird allerdings von der deutschen Regierung mitbestimmt. Deutsche Entwicklungspolitik umfaßt somit nicht nur einzelstaatliche Aktionen, die sich auf die wirtschaftliche Situation in Entwicklungsländern auswirken (können), sondern auch die deutsche Einflußnahme auf supra- und internationale Politik, soweit diese fiir Entwicklungsländer relevant ist. (5) Die Entwicklungspolitik, insbesondere die Entwicklungshilfe, besitzt eine nur unzureichende theoretische Fundierung. Dies hängt damit zusammen, daß unter 'Entwicklung' sehr verschiedene Phänomene verstanden werden können und dementsprechend wirtschaftliche, soziale und politische Aspekte unterschiedlich stark in den gewählten Entwicklungsbegriff einfließen. Die Verlagerung der Hauptansatzpunkte der Entwicklungspolitik in den letzten Jahrzehnten spiegelt sich im Konzeptionswandel auf internationaler Ebene wider: in den 60er Jahren Betonung der wirtschaftlichen Infrastruktur, in den 70er Jahren Grundbedürfnisstrategie, in den 80er Jahren Strukturanpassung und in den 90er Jahren Armutsbekämpfung. Diesem Konzeptionswandel schloß sich auch die deutsche Entwicklungspolitik grundsätzlich an (Ashoff 1995, 237). Eine weite Definition von Entwicklungspolitik und der Wandel ihrer Konzeptionen erschweren ihre Quantifizierung und Analyse. Viele Untersuchungen beschränken sich auf die Entwicklungshilfe, wobei hier wiederum die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit im Vordergrund steht (etwa Dicke und Stehn 1987). Dieser Teilbereich der deutschen Entwicklungspolitik ist unmittelbar von der Bundesregierung gestaltbar und gegenüber den einzelnen Empfängerländern weit einfacher und stärker zu differenzieren als etwa die Außenhandelspolitik. Anhand der bilateralen Hilfe läßt sich am besten prüfen, inwieweit sich die von der Regierung regelmäßig bekanntgegebenen Ziele, Strategien und Bedingungen der Entwicklungszusammenarbeit in der Praxis niederschlagen. Allerdings treten bei einer empirischen Überprüfung nicht unerhebliche Schwierigkeiten dadurch auf, daß die Laufzeit zahlreicher Entwicklungsprojekte in den Zeitraum verschiedener Entwicklungskonzeptionen fällt. Schwierigkeiten bereitet auch die Bewertung der Entwicklungshilfe. Makroökonomische Analysen sind problematisch: So ist bei einer armutsorientierten Entwickungszusammenarbeit nicht primär interessant, ob Länder mit einem niedrigen Pro-Kopf-Einkommen besonders viel Entwicklungshilfezahlungen erhalten, sondern ob die Ärmsten - in welchen Ländern auch immer - in deren Genuß kommen. Statt makroökonomischer Analysen sind Bewertungen einzelner Projekte und Programme nötig, die in Deutschland von den Durchfiihrungsinstitutionen GTZ und KfW getätigt werden (und angesichts der Vertraulichkeit der Daten wohl auch nur von diesen gemacht werden können).3 Es ist dabei aber zu vermuten, daß die Selbsteinschätzung zu positiveren Ergebnissen als bei einer Bewertung durch Dritte führt. Der größte Mangel bei einer solchen Vorgehensweise besteht jedoch in ihrer Beschränkung auf einen Teilbereich der Entwicklungspolitik, ohne daß hierbei die Kohärenz aller wirtschaftspolitischen Maßnahmen mit Auswirkungen auf Entwicklungsländer untersucht werden kann.

3

Daneben gibt es wie bei allen Ausgaben des Bundes eine stichprobenartige Kontrolle durch den Bundesrechnungshof.

640 ' Bernhard Duijm

Um einerseits die Entwicklungspolitik problemadäquat abzugrenzen, andererseits die damit verbundene Vielfalt an Erscheinungsformen einheitlich bewerten zu können, soll im folgenden die Konzeption der sozialen Marktwirtschaft als Maßstab zur Analyse der gesamten deutschen Entwicklungspolitik herangezogen werden. Hierbei sollen Antworten auf folgende drei Fragenkomplexe gesucht werden: (1) Welche Rolle spielt das Wirtschaftssystem eines Entwicklungslandes für die deutsche Entwicklungspolitik gegenüber diesem Land? (2) Erfolgt die Gewährung deutscher Entwicklungshilfe entsprechend den Regeln der sozialen Marktwirtschaft? (3) Welche nationalen Maßnahmen ergreift die Bundesregierung und welchen Einfluß nimmt sie auf die EG und internationale Organisationen, um eine globale soziale Marktwirtschaft zu schaffen?

II. Ordnungspolitische Aspekte der deutschen Entwicklungspolitik 1. Die Bedeutung der Wirtschaftsordnung eines Entwicklungslandes für die deutsche Entwicklungspolitik Die soziale Marktwirtschaft als Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland wird seit Ende der 50er Jahren von allen großen Parteien akzeptiert. Soweit damit gleichzeitig die Überzeugung verbunden ist, daß diese Wirtschaftsordnung allgemein die optimale darstellt, wäre es naheliegend, sie auch für Entwicklungsländer zu fordern und den Umfang der Entwicklungszusammenarbeit davon abhängig zu machen, inwieweit sie in diesen Ländern grundsätzlich verwirklicht ist. Diese Forderung wäre dann unter ökonomischen Aspekten schon deshalb zu stellen, weil der Einsatz von Entwicklungshilfemitteln unter martkwirtschaftlichen Rahmenbedingungen effizienter ist als ohne diese und somit die entwicklungspolitisch begründete Belastung der deutschen Steuerzahler bei gleicher Zielerreichung geringer ist. Darüber hinaus dürfte der Aufbau eines marktwirtschaftlichen Systems in einem Entwicklungsland den privaten Kapitalimport erhöhen und so tendenziell den Bedarf an staatlicher finanzieller Entwicklungshilfe längerfristig reduzieren. Ein marktwirtschaftliches System in einem Entwicklungsland trägt ferner dazu bei, Wettbewerbsverzerrungen in seinem Außenhandel zu vermeiden. Soweit der Wettbewerb dann funktioniert, entfallt eine Grundlage für Importbeschränkungen der Industrieländer, nämlich für solche zur Kompensation von staatlichen Wettbewerbsverzerrungen, etwa in Form von Antisubventionszöllen. Obwohl der erste deutsche Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Walter Scheel, kurz nach seiner Amtseinführung die soziale Marktwirtschaft indirekt auch den Entwicklungsländern als Wirtschaftsordnung nahelegte,4 spielte die realisierte Wirtschaftsordnung eines Landes für die Gewährung deutscher Entwicklungshilfe lange Zeit 4 Nach Nuscheier (1977, S. 328) sah Scheel die Entwicklungshilfe „... als Modellexport des marktwirtschaftlichen Ordnungsprinzips...". Scheel selbst verwendete den Terminus soziale Marktwirtschaft in der Rede, auf die Nuscheier Bezug nimmt, nicht.

Die deutsche Politik gegenüber Entwicklungsländern • 641

aus mehreren Gründen keine wesentliche Rolle. Bis in die zweite Hälfte der sechziger Jahre war die Zahlung von bundesdeutscher Entwicklungshilfe nicht zuletzt Gegenleistung für die Nicht-Anerkennung der DDR und somit außenpolitisches Instrument (Naini 1985, 511 f.). In den siebziger Jahren war es eine vom Souveränitätsgedanken der Entwicklungsländer hervorgerufene ordnungspolitische Enthaltsamkeit, die die Entwicklungshilfe vom Wirtschaftssystem der Empfängerländer unabhängig machte. „Die Bundesregierung versucht nicht, den Partnerländern ... wirtschaftspolitische Vorstellungen aufzudrängen" (BMZ 1971, 11). Hierfür waren nicht parteipolitische Überlegungen ausschlaggebend - die SPD stellte seit 1966 den Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit -, sondern eine auch in der Entwicklungstheorie und theoretischen Entwicklungspolitik verbreitete Diskussion, ob, wann und in welchem Maße die (soziale) Marktwirtschaft die für den Entwicklungsprozeß geeignete Wirtschaftsordnung ist.5 Immerhin beschloß die sozialliberale Bundesregierung am 9. Juli 1980 neue Leitlinien, nach denen die Länder, die sich durch wirtschaftliche Reformen um den Abbau von Entwicklungshemmnissen intensiv bemühen, verstärkt unterstützt werden (Bundesregierung 1983, 30 f.). Die Wahl der Wirtschaftsordnung wurde aber weiterhin als Angelegenheit eines jeden Entwicklungslandes betrachtet. Dies änderte sich auch nach dem Regierungswechsel im Jahre 1982 - seither stellt die CSU den verantwortlichen Minister - nur allmählich. Zwar wurde von Minister Warnke die Überlegenheit dezentraler Steuerungsmechanismen für die wirtschaftliche Entwicklung der Länder der Dritten Welt anerkannt, die Übertragbarkeit der deutschen Wirtschaftsordnung jedoch verneint. Statt dessen setzte er sich dafür ein, in diesen Ländern „marktwirtschaftliche Elemente" einzuführen, die „... vereinbar sind mit allen denkbaren Wirtschaftsordnungen" (Warnke 1986, 89 f.). Mit dieser Auffassung wird nicht nur die Interdependenz verschiedener, eine Marktwirtschaft konstituierender Prinzipien verneint, die Eucken (1990, 289 ff.) immer betonte.6 Es wird auch der empirisch nachweisbare Tatbestand übersehen, daß gemischte Wirtschaftssysteme mit einer herausgehobenen Stellung des Staates häufig noch größere wirtschaftliche Probleme haben als Zentralverwaltungswirtschaften (ElShagi 1983, 102 f.). Ein deutlicher Stellungswandel der Ordnungpolitik innerhalb der deutschen Entwicklungshilfe war mit der Veröffentlichung von fünf Kriterien für die Gewährung von Entwicklungszusammenarbeit im Oktober 1991 zu erkennen. Eines dieser Kriterien hat die 'marktwirtschaftliche Orientierung und sozialorientierte Wirtschaftsordnung' zum Gegenstand, die mittels verschiedener Indikatoren wie Preisfindung durch den Markt und Wettbewerb in allen wichtigen Wirtschaftsbereichen ermittelt werden sollen. Darüber hinaus wird mit einem rechtlichen Kriterium auch die Interdependenz von rechtlicher und wirtschaftlicher Ordnung berücksichtigt. Zwar ist die Erfüllung der Kriterien nicht notwendige Voraussetzung für die Gewährung von Entwicklungszusammenarbeit,

5

6

Vgl. für eine Diskussion der verschiedenen Positionen zum Beispiel El-Shagi (1983), Clapham (1973). Für empirische Untersuchungen über den Zusammenhang zwischen Wirtschaftsordnung und Wachstum in Entwicklungsländern siehe Dams (1995, 316 f.). Dies schließt freilich nicht aus, daß in einem Prozeß der Transformation der Wirtschaftsordnungen nicht alle marktwirtschaftlichen Prinzipien gleichzeitig verwirklicht werden können (El-Shagi 1995).

6 4 2 • Bernhard Duijm

deren Umfang will die Bundesregierung aber gleichwohl von der Einhaltung der Kriterien mitbeeinflussen lassen (Bundesregierung 1995, 98 f.). Die stärkere Hinwendung zur sozialen Marktwirtschaft in der deutschen Entwicklungspolitik ist nicht nur Ergebnis veränderter Einstellungen deutscher Politiker.7 Das Versagen zentralplanwirtschaftlicher Volkswirtschaften hat bereits in der zweiten Hälfte der 80er Jahre in zahlreichen Entwicklungsländern vor allem Lateinamerikas und Afrikas Interesse am deutschen Wirtschaftssystem geweckt (Zeppernick, o.J.). Mit dem im Jahreswirtschaftsbericht 1988 bekundeten Angebot einer wirtschaftlichen Beratung, die ordnungspolitische Fragen zum Inhalt hat, kam die Bundesregierung dem Interesse dieser Länder schon 1988 entgegen.

2. Die Umsetzung marktwirtschaftlicher Prinzipien in der bilateralen deutschen Entwicklungspolitik Leistungen der Entwicklungshilfe stellen Eingriffe in die Wirtschaftsprozesse und -struktur dar. Dies gilt vor allem für die Projekthilfe, also für die Finanzierung bestimmter Investitionen; dies gilt auch für die Programmhilfe, also die Förderung eines bestimmten Sektors, einer bestimmten Bevölkerungsgruppe etc. durch ein Maßnahmenbündel. Hierbei kann es sich um eine Korrektur von Marktergebnissen handeln, die aus marktwirtschaftlicher Sicht notwendig ist, weil die Voraussetzungen für ein zufriedenstellendes Funktionieren des Marktmechanismus (noch) nicht gegeben sind. Es sind aber auch interventionistische, wettbewerbsreduzierende Verzerrungen von Marktergebnissen möglich, indem aus übergeordneten entwicklungspolitischen Zielen das Güterangebot oder die Gütemachfrage staatlich manipuliert oder der Preismechanismus eingeschränkt wird. Der deutschen Entwicklungspolitik wurde bis in die 80er Jahre ein ausgeprägter Hang zum Interventionismus zugeschrieben, sowohl hinsichtlich ihrer Konzeption, etwa in den Grundlinien der Bundesregierung {BMZ 1980) aus dem Jahre 1980, als auch in bezug auf die Vorstellungen der Mitarbeiter deutscher Entwicklungsinstitutionen (ElShagi 1982; 1986; Lachmann 1988). Dies kann Resultat einer Anpassung der Entwicklungspolitik an die damalige dirigistische Wirtschaftspolitik vieler Entwicklungsländer sein oder das Ergebnis des Versuchs, soziale Ziele mittels nichtmarktlicher Entwicklungshilfemaßnahmen durchzusetzen. Letzteres ist im Agrarbereich, einem traditionellen Schwerpunkt der deutschen Entwicklungshilfe, zu erkennen, wenn im Rahmen eines armutsorientierten Ansatzes ineffiziente kleinbäuerliche Betriebe gefördert werden. „Ordnungspolitisch sinnvoller wäre es jedoch, statt einer die bestehenden Strukturen zementierenden Gießkannenförderung Anpassungsprozesse in Richtung optimaler Betriebsgrößen zu fördern" (Lachmann 1988, 123). Trotzdem tendiert auch die derzeitige Bundesregierung offensichtlich zu einer noch stärkeren Förderung kleinbäuerlicher Betriebe und marginaler Standorte (BMZ 1996b, 219). Freilich ist die Bestimmung optima7

Veränderte ordnungspolitische Vorstellungen mit einer stärkeren Hinwendung zu einer marktwirtschaftlichen Struktur in Entwicklungsländern wurden 1992 im Bundestag fraktionenübergreifend erkennbar (siehe Deutscher Bundestag 1992, 2 f.)

Die deutsche Politik gegenüber Entwicklungsländern • 643 ler Betriebsgrößen so lange schwierig, wie in Entwicklungsländern sozial motivierte Preisfestsetzungen für Agrargüter bestehen und nicht sozial Bedürftige über Transfers oder Berechtigungsscheine für verbilligten Lebensmittelbezug bei freigegebenen Preisen unterstützt werden. Eine derartige Sozialpolitik, bei der Preise ihre Lenkungs- und Steuerungsfunktion behalten, wäre etwa im Rahmen einer armutsorientierten ProgrammhWie durchsetzbar, womit aber nicht die grundsätzliche Überlegenheit dieser Form von Hilfe gegenüber der Projekthilfe unterstellt werden kann (Lachmann 1988, 120 f.). Da Programmhilfe, auch wenn sie eher als Projekthilfe Marktverzerrungen vermeidet, nicht in jedem Fall vorzuziehen ist, kann die weiterhin gegebene Schwerpunktsetzung der deutschen Entwicklungshilfe auf die Projekthilfe aus ordnungspolitischer Sicht nicht angegriffen werden. Dies gilt um so mehr, als erfolgreiche Projekte positive Demonstrationseffekte aufweisen können. Entwicklungshilfe, die der Bereitstellung öffentlicher Güter wie der Schaffung einer sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur (Bildungseinrichtungen, Gesundheitswesen, Verkehrswesen etc.) dient, ruft a priori keine Preisverzerrungen und Marktstörungen hervor. Ihr Anteil an der gesamten deutschen Entwicklungshilfe ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen (BMZ 1996b, 220 f.). Bei geeigneter Ausgestaltung fuhren auch Maßnahmen zur Kompensation oder Beseitigung von Marktversagen zu keiner Beeinträchtigung des Marktmechanismus. Mit stark ausgeprägten Marktunvollkommenheiten ist in Entwicklungsländern insbesondere in folgenden Bereichen zu rechnen: Kreditmarkt allgemein, Kapitalbereitstellung für Existenzgründer, Beteiligungskapital, Exportmärkte und berufliche Qualifizierung. In diesen und anderen Bereichen unterstützt das BMZ direkt oder über Förderung von nichtstaatlichen Organisationen die Überwindung solcher Marktunvollkommenheiten. Dies geschieht in den letzten Jahren verstärkt dadurch, daß privaten Unternehmen direkt geholfen wird. So soll etwa den Anbietern aus Entwicklungsländern durch eine Handels* und Messeförderung der Zugang zu den Absatzmärkten in den Industrieländern erleichtert werden. 8 Das hierfür aus projektorientierten Vorgängennodellen weiterentwickelte PROTRADE-Programm ist branchenorientiert angelegt. Mit einer längerfristigen Vorbereitung einer geplanten Messebeteiligung versucht man zu erreichen, daß Design, Qualität etc. den Anforderungen der potentiellen Absatzmärkte entspricht. Zwar dürften von einer solchen Förderung primär an sich schon wettbewerbsfähige Anbieter aus weiterentwickelten Ländern profitieren; grundsätzlich steht das Programm aber allen Anbietern offen (Lachmann 1989, 22 f.). PROTRADE ist in vielen Fällen Bestandteil des integrierten Beratungsdienstes, der eine umfassende Beratung und Förderung privater Unternehmen zum Ziel hat. Ein weiteres Beispiel der Unterstützung privater Unternehmen bei der Überwindung von Marktunvollkommenheiten ist das in den letzten Jahren ausgeweitetete CEFEProgramm 9 (Bundesregierung 1995, 98). Hierbei fördert das BMZ im Rahmen der technischen Zusammenarbeit die unternehmerischen Fähigkeiten von Existenzgründern und

8 9

Allein für die Beteiligung der ärmeren Länder der Dritten Welt an der EXPO 2000 werden von der Bundesregierung 200 Mio. DM zur Verfügung gestellt (o. V. 1997b). CEFE steht fiir Competency Based Economies Through Formation of Entrepreneurs.

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Kleinunternehmem, indem Schulungen angeboten werden und (potentiellen) Unternehmern, denen bei üblichem Bankenverhalten trotz Rentabilität ihres Vorhabens keine Kredite gewährt würden, Zugang zum Kreditmarkt ermöglicht wird. Entwicklungshilfe läßt sich nicht nur hinsichtlich ihrer Gestaltung in Entwicklungsländern, sondern auch in bezug auf die Verwendungsmöglichkeiten der empfangenen Hilfsmittel nach marktwirtschaftlichen Kriterien beurteilen. Hierbei spielt vor allem die Bindung der Finanzmittel an Lieferungen aus dem Geberland eine entscheidende Rolle. Eine solche Lieferbindung verhindert, daß ein Land die empfangenen Mittel - auch wenn sie projekt- oder programmgebunden sind - optimal einsetzen kann, indem es nicht immer dem günstigen Anbieter den Auftrag erteilen kann. Während die deutsche Entwicklungshilfe bis Anfang der sechziger Jahre aus Zahlungsbilanzgründen im allgemeinen liefergebunden war, sank die Lieferbindungsquote anschließend deutlich ab und wies in den siebziger Jahren im Vergleich zu anderen wichtigen Geberländem sehr niedrige Werte auf (Naini 1985, 565). Seit Beginn der achtziger Jahre wird als Folge der Arbeitsmarktsituation in Deutschland den Beschäftigungseffekten der Entwicklungshilfe größere Beachtung geschenkt. Dies zeigte sich unter anderem darin, daß die Bundesregierung im Jahre 1983 unter Beibehaltung der prinzipiellen Lieferungebundenheit für bestimmte sensible Branchen eine grundsätzliche Lieferbindung einführte (Naini 1985, 564 f.) und die entwicklungspolitischen Leitlinien der Bundesregierung aus dem Jahre 1986 nicht mehr grundsätzlich internationale Ausschreibungen vorsahen (Lachmann 1988, 123, Endnote 9). Dieser Politikwechsel bewirkte, daß der Lieferanteil deutscher Unternehmen an der international verwendeten deutschen Entwicklungshilfe von rund 70% im Jahre 1983 auf über 88% gegen Ende des Jahrzehnts anstieg (Deutsche Bundesbank 1990, 34) und dieses Niveau weiterhin besteht (BMZ 1996b, 70). Dieser verstärkte Mittelrückfluß wurde dadurch erreicht, daß versteche Lieferbindungen zunahmen 10 . Zu ihnen gehören unter anderem vorweggenommene Ausschreibungen, bei denen Kapitalhilfe erst gewährt wird, wenn das Empfängerland einem Anbieter aus dem Geberland den Lieferauftrag erteilt hat, und Mischkredite, bei denen Kapitalhilfe und staatlich gesicherte Exportkredite, die nur Unternehmen des Geberlandes zustehen, kombiniert werden (Ochel 1982, 209).11 Das BMZ nimmt hierbei in Kauf, daß bei solchen Lieferbindungen die Preise deutscher Anbieter für Leistungen überhöht sind (Lachmann 1988, 133, Endnote 10). Aus arbeitsmarktpolitischen, industriepolitischen oder regionalpolitischen Gründen „achtet die Bundesregierung in allen entwicklungspolitisch geeigneten Fällen darauf, daß Anbieter aus Deutschland entsprechend berücksichtigt werden, ohne die Prinzipien des internationalen Wettbewerbs zu vernachlässigen" (BMZ 1996a, 10). Letzteres erfordert

10 Versteckte Bindungen wurden „... nach dem binnenmarktbedingten Wegfall nationaler Lieferbindungen..." (Brüne 1995, S. 34) noch wichtiger, um Entwicklungshilfeaufträge für heimische Produzenten zu sichern. 11 Neben der Lieferbindungswirkung hatten Mischkredite bis 1992 den aus Sicht des Geberlandes positiven Nebeneffekt, daß sie vollständig auf die offizielle Entwicklungshilfe nach der Abgrenzung des Entwicklungshilfeausschusses der OECD angerechnet wurden. Sie erleichterten somit die Annäherung an das immer wieder betonte, theoretisch aber nicht begründbare Ziel, entsprechend dem Beschluß der Vereinten Nationen 0,7% des Bruttosozialprodukts für Entwicklungshilfe bereitzustellen.

Die deutsche Politik gegenüber Entwicklungsländern • 645 aber, daß Lieferbindungen nur der Beseitigung von Marktverzerrungen, etwa offenen und versteckten Lieferbindungen anderer Geberländer, beziehungsweise von extremen Marktunvollkommenheiten dienen. Beispiele für solche Marktunvollkommenheiten sind die Entscheidungen der Empfängerländer, ihre Lieferländer nicht nach ökonomischen, sondern nach politischen Kriterien auszuwählen. Während eine stärkere Beschäftigungsorientierung und damit eine höhere Bindung der Entwicklungshilfe bei anderen Geberstaaten zu beobachten ist, erscheint es unwahrscheinlich, daß Entwicklungsländer gerade in Zeiten, in denen auch sie sich verstärkt marktwirtschaftlichen Prinzipien zuwenden, diese Prinzipien bei der Verwendung der Entwicklungshilfemittel zunehmend nicht beachten. Der deutliche Anstieg der Lieferbindung in den letzten Jahren12 deutet eher darauf hin, daß die Beschäftigungswirkung sich von einem erfreulichen Nebeneffekt zu einem Nebenz/e/ der deutschen Entwicklungshilfe verändert hat (Boeckh 1995, S, 15). Wenngleich das BMZ dies vehement bestreitet (o.V. 1994, 176), so wird diese These doch durch einige weitere Fakten gestützt, etwa durch die Beschaffungsrichtlinie der GTZ, nach der seit 1994 Geländewagen grundsätzlich aus deutscher statt wie bislang aus japanischer oder britischer Produktion zu kaufen sind, obwohl erstere teuerer und in Entwicklungsländern in der Regel schwieriger zu warten sind (Dönch 1997, 168 f.), und durch die Möglichkeit, daß seit einiger Zeit auch die deutsche Wirtschaft Vorschläge für gemischt finanzierte Vorhaben einreichen kann (Boeckh 1995, 15). Und in einer neuen Finanzierungsform, der Verbundfinanzierung, bei der Mittel aus der finanziellen Zusammenarbeit mit Hermes-Bürgschaften kombiniert werden, die auch für lieferungebundene Leistungen eingesetzt werden können, liegt der Zinssatz für liefergebundene Kredite deutlich unter dem für lieferungebundene (BMZ 1996b, 178). Neben dem Verteuerungseffekt der Lieferbindung besteht bei einer beschäftigungsorientierten Entwicklungshilfe oder sektoral unterschiedlichen Bindungen die Gefahr, daß Entwicklungshilfemittel nicht mehr primär nach dem Nutzen in Entwicklungsländern, sondern nach dem Nutzen des Geberlandes Deutschland gewährt werden. Die Auswirkungen erhöhter Lieferbindungen auf die deutsche Volkswirtschaft sind aus mindestens drei Gründen unwesentlich: Erstens hat die deutsche Entwicklungshilfe für die einheimische Exportwirtschaft nur eine relativ geringe quantitative Bedeutung. Zweitens fuhrt die hohe Wettbewerbsfähigkeit deutscher Anbieter, die vom BMZ wiederholt hervorgehoben wurde, auch ohne Lieferbindung zu einem erheblichen Mittelrückfluß (o.V. 1994, 176). Drittens gibt es einerseits Effekte, die dem vollständigen Rückfluß gebundener Mittel entgegenstehen, andererseits Effekte, die einen indirekten Zufluß ungebundener Mittel bewirken. 13 Dagegen können die wertmindernden Effekte für ein Land, dessen Deviseneinnahmen zu einem nicht unerheblichen Teil aus Entwicklungshilfe stammen, durchaus ins Gewicht fallen. Darüber hinaus darf der Demonstrationseffekt nicht übersehen werden: Einerseits werden die Entwicklungsländer angehalten und wirtschaftspolitisch beraten, ein marktwirtschaftliches System aufzubauen, andererseits wird ihnen gezeigt, wie der Marktmechanismus in Fällen - vermeintlich - ne12 Für 1992 ermittelte der Bericht des Entwicklungshilfeausschusses der OECD für Deutschland eine Quote von 55,2%, wovon 30%-Punkte der technischen Zusammenarbeit zuzuordnen sind (o.V. 1994). 13 Zu diesen Effekten gehören der Switching-, der Shifting- und der Drittländerexporteffekt (siehe hierzu Ochei 1982, 211 f.).

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gativer Auswirkungen ausgeschaltet wird. Angesichts des politischen Widerstandes, auf den die Entwicklungshilfe trotz ihrer grundsätzlichen Befürwortung aus verschiedenen Gründen stößt, wäre ihr Umfang ohne Lieferbindung vielleicht noch geringer, so daß unter den gegebenen Bedingungen die praktizierte Politik als Second-best-Lösung angesehen werden muß, soweit die Quantität der Entwicklungshilfe als Bewertungsmaßstab angelegt wird.

3. Deutsche Entwicklungspolitik - ein Beitrag zu einer weltweiten sozialen Marktwirtschaft? Entwicklungspolitik wird in Deutschland schon seit über drei Jahrzehnten als Bestandteil einer auf bestimmte Länder bezogenen Gesamtpolitik verstanden. Immer wieder wird von der Bundesregierung betont, daß der Erfolg dieser Politik von der Kohärenz der anderen Politikbereiche, insbesondere der Agrar- und Handelspolitik abhängt. Schon 1962 hat Minister Scheel (1962, 729) vor den für Entwicklungsländer negativen Auswirkungen gewarnt, wenn Industrieländer ihre Agrarüberschüsse mit hohem Subventionsaufwand exportieren und Importe aus Entwicklungsländern behindern. In der Praxis blieb die Beachtung der Kohärenz vielfach nur Rhetorik. Tatsächlich vorhandene Konflikte etwa zwischen der Agrar- und Entwicklungspolitik wurden lange Zeit auf nationaler wie auf EG-Ebene weitgehend ignoriert (Wissenschaftlicher Beirat 1982, 6 ff.). Hierfür trägt auch die deutsche Politik Verantwortung. Während sich die Bundesregierung schon frühzeitig für - begrenzte - Präferenzzölle für Entwicklungsländer im Bereich von verarbeiteten Produkten einsetzte (Nuscheier 1977, 341) und damit die traditionell freihändlerische Position Deutschlands unterstrich, ist ihre Rolle im Agrarbereich weit weniger eindeutig. Zwar gibt es eine Reihe von Beispielen für den Einsatz der Bundesregierung, Marktverzerrungen durch subventionierte EG-Agrarexporte oder Marktzugangsbeschränkungen für Agrarprodukte aus Entwicklungsländern auf dem EGMarkt zu verhindern oder wenigstens einzudämmen.14 Andererseits gehört sie derzeit zu denjenigen EG-Staaten, die die Liberalisierung der Agrarimporte der Gemeinschaft aus Südafrika am stärksten bremsen und für zahlreiche Produkte Ausnahmen vom liberalisierten Marktzugang fordern (Wernicke 1997, 18). Die Importpolitik der EG kann von einem einzelnen Mitgliedstaat und damit auch von der Bundesregierung nur /«//bestimmt werden. Dagegen bestehen auf Seiten der Exportpolitik weiterhin große nationale Gestaltungsspielräume, etwa in bezug auf den Einsatz exportfordernder Instrumente, zu denen in Deutschland vor allem die HermesBürgschaften und -Garantien gehören. Diese haben auch dann, wenn sie nicht mit zinsvergünstigten Krediten kombiniert und somit nicht zur offiziellen Entwicklungshilfe gerechnet werden, durchaus entwicklungspolitische Bedeutung, indem sie etwa den Entwicklungsländern den Import deutscher Waren erleichtem. Ihre entwicklungspoliti14 Vgl. etwa den Abbau der Subventionierung der EG-Rindfleischexporte nach Westafrika seit 1993 (Bundesregierung 1995, 47) und den Widerstand der Bundesregierung gegen ein freiwilliges Selbstbeschränkungsabkommen Thailands für Tapioka-Exporte in die EG Anfang der 80er Jahre (Wissenschaftlicher Beirat 1982, 36).

Die deutsche Politik gegenüber Entwicklungsländern • 647 sehe Relevanz kommt darin zum Ausdruck, daß etwa 1994 über 75% der neu gedeckten Ausfuhrbürgschaften und -garantien deutsche Exporte in Entwicklungsländer betreffen, obgleich deren Anteil am Gesamtexport unter 17% liegt (BMZ 1996b, 278; Bundesregierung 1995, 152). Die mit staatlichen Exportkreditversicherungen regelmäßig verbundene Subventionierung des Kapitalgüterimports der Entwicklungsländer kann eine - gemessen an den Faktorausstattungen - zu kapitalintensive Produktion begünstigen. Darüber hinaus wird der Handel der Entwicklungsländer untereinander mit angepaßter Technologie erschwert, soweit sie nicht über ein solches Handelsförderinstrument verfugen. Kritik an den Hermes-Bürgschaften wird vor allem dahingehend geübt, daß bei ihrer Gewährung entwicklungspolitische Interessen zu wenig berücksichtigt würden und zur Steigerung deutscher Exporte auch unökonomische Projekte mit negativen Folgen für die Importländer gefördert würden (Hoering 1993). Obwohl Umweltschutzaspekte in der Formulierung der deutschen Entwicklungshilfe Berücksichtigung finden, werden sie bei Hermes-Bürgschaften offensichtlich weniger konsequent beachtet. So gewährt die Bundesregierung trotz internationaler Proteste Bürgschaften für den Drei-SchluchtenDamm in China und lehnt die Anwendung einheitlicher Umweltstandards innerhalb der OECD bei der Vergabe von Exportkreditbürgschaften ab ( H o f f m a n n 1996, 18). Die vor kurzem eingeführte Risikostaffelung bei den Prämien für Hermes-Deckungen, die das Versicherungsprinzip gestärkt hat, kann jetzt immerhin dazu beitragen, daß Exporteure von sehr riskanten Ausfuhrgeschäften absehen, soweit das Risiko auf eine mangelnde Rentabilität des Investitionsprojekts zurückzufuhren ist. Neben den staatlichen Eingriffen in Form von Importbeschränkungen und Exportsubventionierungen der Industrieländer sind auch private Wettbewerbsbeschränkungen von marktmächtigen Unternehmen und Kartellen Ursache dafür, daß auf internationalen Märkten der Marktmechanismus nicht immer unverzerrt funktioniert. Zur Sicherung der Funktionsfahigkeit des Wettbewerbs wird in den letzten Jahren vermehrt die Forderung nach Schaffung einer internationalen Wettbewerbsordnung, vorzugsweise im Rahmen der Welthandelsorganisation, erhoben. Die Forderung nach einer internationalen Wettbewerbspolitik wird von der Bundesregierung (o.V. 1996a, 14), aber auch von den meisten Parteien unterstützt.15 In diesem Zusammenhang ist die Absicht der Bundesregierung konsequent, im Rahmen der anstehenden Kartellrechtsnovelle die Ausnahme vom Kartellverbot für Ausfuhrkartelle abzuschaffen. 16 Sie würde damit eine Pionierrolle übernehmen, sind doch in den meisten nationalen Kartellgesetzen Exportkartelle vom Kartellverbot ausgenommen, unabhängig davon, welchen Wettbewerbsparameter sie binden. Für Entwicklungsländer wäre die Schaffung einer internationalen Wettbewerbsordnung tendenziell von besonderem Nutzen, da sich Wettbewerbsbeschränkungen von Anbietern aus Industrieländern aus verschiedenen Gründen wohl vielfach gegen Wirtschaftssubjekte in Entwicklungsländern richten. Entwicklungsländer sind weniger gut in 15 Vgl. etwa eine solche Forderung von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Volmer und Fues 1994, 83). 16 Im Zeitraum 1958 bis Ende 1994 stellten Ausfuhrkartelle mit 129 Fällen die häufigste beim Bundeskartellamt erfaßte Kartellart dar; ihre zahlenmäßige Bedeutung hat zwar abgenommen, aber Ende 1994 existierten immerhin noch 44; siehe zu den Zahlen Behrens (1996, 20).

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der Lage, ihr Wettbewerbsrecht - soweit überhaupt vorhanden - gegenüber Unternehmen aus dem Ausland durchzusetzen, als große Industriestaaten, die über ein entsprechendes wirtschaftspolitisches Instrumentarium auch zur exterritorialen Anwendung ihres Rechts verfugen oder in internationalen Handelsvereinbarungen gemeinsame Wettbewerbsregeln festgelegt haben. 17 Darüber hinaus dürften die Voraussetzungen etwa für eine erfolgreiche Exportkartellbildung bei Entwicklungshilfeleistungen groß sein, wenn durch Lieferbindungen oder die Erwartung von Beschäftigungswirkungen im Geberland die Zahl der möglichen Lieferfirmen reduziert wird.18 Daher können nicht nur die Unterstützung der nicht zuletzt von Entwicklungshilfeorganisationen geforderten internationalen Wettbewerbspolitik, sondern auch die beabsichtigte Aufhebung der Kartellverbotsausnahme für Exportkartelle durchaus als eine die Entwicklungsländer begünstigende Maßnahme der Bundesregierung zur Schaffung einer globalen Marktwirtschaft angesehen werden.

III. Die Bundesrepublik als Vorreiter einer ordnungsorientierten Entwicklungspolitik? Die vorstehenden Ausführungen konnten kein vollständiges Bild über Konzeption und Realität der deutschen Entwicklungspolitik geben, da deren Erscheinungsformen äußerst vielfaltig sind. Unzweifelhaft ist jedoch, daß die Bundesregierung weder bei der Formulierung ihrer entwicklungspolitischen Konzeptionen noch bei deren Umsetzung sich ausschließlich von den Grundsätzen der sozialen Marktwirtschaft leiten läßt, was nicht zuletzt darauf zurückzufuhren ist, daß Ordnungspolitik als Entwicklungspolitik lange Zeit weitgehend unbeachtet blieb. In dieser Hinsicht haben sich in den letzten Jahren deutliche Änderungen ergeben.19 Zum einen hat die Bereitschaft von Entwicklungsländern, in ihren Volkswirtschaften ein marktorientiertes Wirtschaftssystem auf- und auszubauen, unter anderem aufgrund des ökonomischen Versagens von Zentralplanwirtschaften zugenommen. Zum anderen setzten auch die Geber der Entwicklungshilfe, auch multilaterale Entwicklungsorganisationen, verstärkt auf eine marktorientierte Anpassung der Empfangerländer. In einem solchen Umfeld könnte es den Trägern der deutschen Entwicklungspolitik daher jetzt leichter fallen, die wirtschaftspolitische Grundkonzeption der sozialen 17 So hat die EG nicht nur für den innergemeinschaftlichen Handel ein einheitliches Wettbewerbsrecht, sondern konnte auch etwa im EWR-Abkommen, in den Europa-Abkommen mit den mittel- und osteuropäischen Staaten und im Zollunionsvertrag mit der Türkei Wettbewerbsvorschriften vereinbaren. 18 Vgl. o.V. (1995) für die Bildung von Exportkartellen japanischer Unternehmen für den Bau und die Ausstattung von Schulen und Krankenhäusern im Rahmen der japanischen Entwicklungshilfe. Das japanische Kartellamt hat in diesem Fall zum ersten Mal große Unternehmen mit hohen Geldbußen dafür belegt, daß sie durch Absprachen die Effizienz der japanischen Entwicklungshilfe zu ihren Gunsten verringert haben. 19 So setzt sich die Weltbank in ihrem Weltentwicklungsbericht 1991 für eine marktfreundliche Entwicklungsstrategie ein (Weltbank 1991), fordert jedoch in ihrem neuesten Weltentwicklungsbericht aus dem Jahr 1997 wieder stärkeres staatliches Engagement (o.V. 1997d, 9). Herder-Dorneich (1995) betont, daß zwischen Staat und Markt angesiedelte Teilordnungen denkbar und für Entwicklungsländer angemessen seien.

Die deutsche Politik gegenüber Entwicklungsländern • 649 Marktwirtschaft und die bei ihrer Anwendung gemachten Erfahrungen in der Politik gegenüber Entwicklungsländern umzusetzen. Hierbei kann es sich nicht um eine Kopie der deutschen Wirtschaftspolitik handeln, schon deshalb nicht, weil in einigen ihrer Bereiche die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft verletzt sind. In der Tat spricht sich die Bundesregierung für den Einsatz marktwirtschaftlicher Instrumente selbst in solchen Bereichen aus, in denen sie in Deutschland nur rudimentär eingesetzt werden, etwa in der Umweltpolitik (Bundesregierung 1995, 60). Sie anerkennt daneben die Bedeutung marktwirtschaftlicher Rahmenbedingungen statt interventionistischer Eingriffe für den Erfolg einer armutsorientierten Entwicklungspolitik (Bundesregierung 1990, 35). Diese Rahmenbedingungen sind die Voraussetzungen dafür, daß eine ergänzende staatliche Sozialpolitik erfolgreich sein kann (Wissenschaftlicher Beirat 1992, 37) und damit eine soziale Marktwirtschaft entstehen kann. Dem konzeptionellen Bedeutungsgewinn der sozialen Marktwirtschaft entgegen steht oftmals die praktizierte Politik. Die angestrebte Verringerung des Anteils der multi- und supranationalen Mittel an der deutschen Entwicklungshilfe dürfte wohl nicht nur Ausdruck von Unzufriedenheit mit der Effizienz der Politik der betreffenden Institutionen sein. Da ein entsprechender Beschluß vom Haushaltsausschuß und nicht vom Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit des Bundestages getroffen wurde (o.V. 1997c), liegt die Vermutung nahe, daß mit einer relativen Stärkung der bilateralen Entwicklungshilfe die wirtschaftlichen Rückwirkungen auf die deutsche Volkswirtschaft intensiviert werden sollen. Unter Einschränkung marktwirtschaftlicher Prinzipien soll also die Entwicklungshilfe stärker binnenwirtschaftlichen Zielen wie der kurzfristigen sektoralen Beschäftigungsforderung dienen. Widersprüche mit entwicklungspolitischen Zielen treten außerdem bei der Durchfuhrung anderer Bereiche der deutschen Wirtschaftspolitik auf, wenn diese nicht marktwirtschaftlich ausgerichtet ist. Die soziale Marktwirtschaft als Orientierung für die Ausgestaltung aller, insbesondere außenwirtschaftlich wirkender Politiken könnte zu einer kohärenten, integrierten Entwicklungspolitik beitragen. Dies setzt allerdings die Bereitschaft voraus, den mit dieser Wirtschaftsordnung verbundenen Anpasssungszwang gesamtwirtschaftlich zu akzeptieren. Von Entwicklungsländern kann man eine solche Bereitschaft nur dann erwarten, wenn auch die Industrieländer, allen voran Deutschland, die soziale Marktwirtschaft konsequent umsetzen.

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Zusammenfassung Obwohl in Deutschland die soziale Marktwirtschaft allgemein akzeptiert ist, wenngleich über ihre konkrete Ausgestaltung nicht unerhebliche Meinungsunterschiede bestehen, werden deren grundlegende Prinzipien in der Entwicklungspolitik nicht immer beachtet. Dies betrifft sowohl die Entwicklungshilfe als auch die Ausgestaltung sonstiger Politikbereiche mit Auswirkungen auf Entwicklungsländer. Seit einigen Jahren wird von deutscher und internationaler Seite Entwicklungshilfe verstärkt an ordnungspolitische Auflagen in den Empfängerländern geknüpft. Es wird der Schaffung und Stärkung von marktwirtschaftlichen Bedingungen und der Überwindung von Marktunvollkommenheiten mehr Beachtung geschenkt. Auf der anderen Seite werden bei der Durchfuhrung der Entwicklungshilfepolitik und bei der Gestaltung anderer Poli-

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tikbereiche marktwirtschaftliche Prinzipien immer wieder verletzt, wenn mehr und mehr versteckte Lieferbindungen bei der Entwicklungshilfe angewandt werden und etwa die Agrarpolitik der EG die Interessen der Dritten Welt nicht berücksichtigt. Das Zusammenspiel marktwirtschaftlicher Regeln und interventionistischer Maßnahmen führt dazu, daß sich die einzelnen Politikbereiche teilweise konterkarieren. Die konsequente Ausrichtung der gesamten Wirtschaftspolitik an den Grundsätzen der Konzeption der sozialen Marktwirtschaft würde es erleichtern, eine konsistente Entwicklungspolitik zu schaffen. Summary The German Development Policy: Some Remarks from a market-oriented Viewpoint In Germany the social market economy is generally accepted as the best economic system. Nevertheless, neither the German official development assistence policy nor the development policy in a broader sense always respect the principles of this economic system. Sometimes the German development aid disturbs the market mechanisms. Granting tied aid is also not consistent with the principles of a market economy. The same applies to other policies concerning the interests of developing countries, e.g. the agricultural policy. In the last few years German (and international) development institutions have laid more emphasis on strengthening the market mechanisms in the countries of the Third World. The granted aid is more and more aimed at creating markets and overcoming market imperfections. Some efforts are made so suppliers in developing countries may enter the markets of industrial countries more easily. Market-oriented rules and interventionist measures are implemented at the same time. As a result the development assistence policy, e.g. the promotion of exports in developing countries, is counteracted by other policies of industrial countries, e.g. a protectionist import policy. Pursuing all policies according to the concept of a social market economy would be the easiest way to ensure a consistent development policy.

VII. Verbände und Wettbewerbsordnung

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1997) Bd. 48

Karl-Hans Hartwig

Wirtschaftsverbände und Soziale Marktwirtschaft Inhalt I. Verbändegefuge in der Sozialen Marktwirtschaft II. Wirtschaftsverbände und Wirtschaftssystem III. Systemdeformierende Effekte von Wirtschaftsverbänden IV. Verbände als Systemstabilisatoren V. Verbändekontrolle durch Selbstbindung Literatur Zusammenfassung Summary: Business Interest Groups and Social Market Economy

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I. Verbändegefuge in der Sozialen Marktwirtschaft Wirtschaftsverbände in Form von freiwilligen Zusammenschlüssen und öffentlichrechtlichen Zwangszusammenschlüssen von selbständig Tätigen, Unternehmen und Vereinigungen der gewerblichen Wirtschaft besitzen in Deutschland eine lange Tradition.1 Sie lassen sich auf die Stände des Mittelalters zurückfuhren und kamen als bewußt gegründete Interessenorganisationen erstmalig im 19. Jahrhundert auf, als in Anlehnung an das französische Kammersystem und die kaufmännischen Kooperationen Preußens öffentlich-rechtliche Kammern entstanden und auf lokaler und nationaler Ebene staatsunabhängige freie Vereinigungen von Händlern, Industriellen, Fabrikanten und Landwirten ins Leben gerufen wurden (Ulimann 1988, 22 ff.; Eschenburg 1989, 24 f.). Im weiteren erwuchs daraus ab den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts ein horizontal wie vertikal ausdifferenziertes System von Interessenverbänden, das in der Weimarer Republik zur vollen Entfaltung kam, bevor die Verbände als freiwillige Zusammenschlüsse im Nationalsozialismus in kurzer Zeit zerschlagen bzw. als Organisationen, die an den Prinzipien der Ausschließlichkeit und der Zwangsmitgliedschaft sowie am Führergefolgschaftsprinzip auszurichten waren, 'gleichgeschaltet' wurden.2 Der Zusammenbruch im Jahre 1945 bedeutete notwendigerweise einen Neuaufbau des Verbandssystems, der zunächst unter strenger Kontrolle der Alliierten erfolgte und 1 Vgl. zum Verbandsbegriff in seiner Vielfalt und seinen Unschärfen u.a. Breitling (1960, 47 ff.), Blümle und Schwarz (1985, 6), Vieler (1986, 7f.) und Berry (1989). 2 Ulimann (1988, 173) ermittelt aus der amtlichen Statistik für das Jahr 1930 insgesamt 1476 Unternehmerverbände auf Reichsebene sowie 1559 auf Bezirksebene und 598 auf Landesebene. Den höchsten Organisationsgrad unter den Wirtschaftsverbänden wies der 'Reichsverband der Deutschen Industrie' auf, dem etwa 70 bis 80% der betroffenen Unternehmen angehörten.

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teils an Traditionen der Weimarer Republik anknüpfte, teils den neuen Bedingungen angepaßte, veränderte Strukturen erforderte. Wie alle Verbände, bedurften die Wirtschaftsverbände der Genehmigung durch die Militärregierung, die allen Versuchen, überörtliche und fachübergreifende Verbände zu gründen, äußerst restriktiv begegnete und überzonale Zusammenschlüsse in den ersten Jahren vollständig untersagte. Damit wollte man einen nach Ansicht der Alliierten stark mit Kriegsverantwortung belasteten Personenkreis in seinen Aktivitäten beschränken und jene enorme Machtzusammenballung unterbinden, die in der Weimarer Republik durch Kartelle und Verbände entstanden war (Berghahn 1985, 84 ff.). Weitgehend ausgenommen von dieser Politik blieben die Kammern und Innungen, die fachübergreifend schon im Laufe des Jahres 1945 ihre Arbeit in den Westzonen wieder aufnahmen. Um wichtige Mittlerfunktionen zwischen den Besatzungsbehörden und den einzelnen Unternehmen wahrzunehmen, wurden die Industrie- und Handelskammern in der britischen und französischen Zone auf Basis der vor 1933 geltenden Kammergesetze reaktiviert, in der amerikanischen Zone als privatwirtschaftliche Vereinigungen mit freiwilliger Mitgliedschaft. Dieses Prinzip der Freiwilligkeit wendete die konsequent auf Gewerbefreiheit bedachte amerikanische Militärregierung auch bei den Handwerkskammern und -innungen an, die im November 1948 aufgrund einer Direktive der amerikanischen Militärregierung alle öffentlichen Funktionen verloren. Anknüpfend an die Reichsnährstandsorganisation konnten die Landwirtschaftskammern ihre Tätigkeit nahezu übergangslos fortfuhren. Als öffentlich-rechtliche Körperschaften, die im Nationalsozialismus staatsdirigistisch organisiert waren, erwiesen sie sich für die Bewirtschaftung nach Kriegsende zunächst als unentbehrlich. Unter alliierter Kontrolle gelang ihnen - aufgeteilt nach Zonen und Ländern - Ende 1945 eine rasche Konsolidierung, wobei in Bayern und Baden-Württemberg die mit staatlicher Hilfe gegründeten Landesbauernverbände die Funktion der Kammern übernahmen. Der 'Bayerische Bauernverband' erlangte sogar den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts (Heinze 1992, 55). Es fehlte nicht an Versuchen, neben öffentlich-rechtlichen Verbänden fachübergreifende überzonale Vereinigungen auf freiwilliger Basis ins Leben zu rufen. 3 Konkret erreichte dies die traditionell straff organisierte und auch nach dem Krieg wieder relativ leicht organisierbare Eisen- und Stahlindustrie, die zudem davon profitierte, daß in der britischen Besatzungszone bereits frühzeitig zonale Verbände genehmigt wurden. Im Februar 1948 entstand mit der Bizone die 'Arbeitsgemeinschaft Eisen und Metall', der ein breites Spektrum von Vereinigungen angehörte. 1948 nahm auch der 'Deutsche Bauernverband' als Dachverband der Landesbauernverbände mit ihren Kreis- und Ortsvereinigungen seine Arbeit auf. Gleichermaßen hatten die mehij ährigen Bemühungen des Handwerks Erfolg, mit der 'Zentralarbeitsgemeinschaft des Handwerks im vereinigten Wirtschaftsgebiet' eine gemeinsame Organisationsbasis ins Leben zu rufen.

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Dazu gehörten etwa die von den Alliierten untersagte Gründung der 'Vereinigung der industriellen Verbände' durch die Vertreter von 23 westdeutschen Wirtschaftsverbänden im August 1946 oder die Gründung eines 'Allgemeinen Deutschen Bauernverbandes' noch im Jahre 1945. Vgl. Ulimann (1988, 247), Mann (1994, 34).

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Mit Gründung der Bundesrepublik und der Gewährleistung der Koalitionsfreiheit im Grundgesetz fielen 1949 dann alle noch bestehenden Beschränkungen für die Neu- und Wiedergründung von Wirtschaftsverbänden fort. Es entfaltete sich recht schnell ein komplexes System von vielfach miteinander verflochtenen Interessenverbänden mit regionalen und überregionalen Fach-, Dach- und Spitzenverbänden und Berufsorganisationen, das sich im Laufe der Zeit noch ausdehnte, mit der zunehmenden europäischen Integration eine internationale Dimension erhielt und nach der deutschen Wiedervereinigung rasch auf die neuen Bundesländer übertragen wurde. Eine herausragende Stellung in diesem System nehmen der 'Bundesverband der Deutschen Industrie' (BDI) mit etwa 500 Einzelverbänden und einem Organisationsgrad der Industrieunternehmen von 95%, die 'Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände' (BDA) als Spitzenorganisation der Arbeitgeber, die 1000 Arbeitgeberverbände und 80% der unternehmerischen Wirtschaft repräsentiert, und der 'Deutsche Industrie- und Handelstag' (DIHT) ein, dem als Dachorganisation der Industrie- und Handelskammern 83 Kammern mit 3 Mio. gewerblichen Unternehmen angehören (Hartmann 1985, 81 f f ) . Das ausgedehnte und vielseitig verflochtene Interessenverbandssystem der deutschen Wirtschaft bewirkt, daß die meisten Unternehmen neben ihrer Zwangsmitgliedschaft in der jeweiligen Kammer in aller Regel gleichzeitig Mitglied in einem Fachverband unter dem Dach eines Spitzenverbandes und im jeweils zuständigen Arbeitgeberverband unter dem Dach der Bundesvereinigung sind. Dabei werden unternehmerische Interessen zwar satzungsgemäß von allen Verbänden vertreten, auch von den Kammern und dem DIHT, die nach Gesetz und Satzung das Interesse der jeweils ihrem Bezirk angehörenden Gewerbebetriebe bzw. die Gesamtinteressen der gewerblichen Wirtschaft wahrzunehmen haben. Die Art der Interessenwahrnehmung unterscheidet sich jedoch. Während die Spitzenverbände ihre Aktivitäten vornehmlich darauf richten, den Interessen ihrer Mitglieder nach außen - auf der politischen Ebene - Geltung zu verschaffen, erfolgt in den Branchenverbänden, vor allem aber in den Verbänden der Landes- und Kreisebene und in den mittelstandsorientierten Vereinigungen, die Interessenvertretung in hohem Maße nach innen, d.h. durch die unmittelbare mitgliederbezogene Produktion von Dienstleistungen (.Predöhl und Weippert 1965, 61 f f ; Mann 1995, 80; Krickhahn 1995, 288 f.).

II. Wirtschaftsverbände und Wirtschaftssystem In ihrer Funktion als Vertretungsorgane von Mitgliederinteressen erzeugen Verbände neben direkten mitgliederbezogenen Nutzen und Kosten auch gesamtwirtschaftliche und gesellschaftliche Effekte. Sofern es sich bei den mitgliederbezogenen Wirkungen um die unmittelbare Bereitstellung von Dienstleistungen im Sinne der Innenwahrnehmung von Mitgliederinteressen handelt und die individuellen Nutzen aus den Dienstleistungen den Produktionsaufwand übersteigen, entstehen sowohl aus einzel- als auch aus gesamtwirtschaftlicher Sicht positive Wohlfahrtseffekte. Das gilt auch für jene außenorientierten Aktivitäten von Wirtschaftsverbänden, die dazu beitragen, die statische und dynamische Effizienz des Wirtschaftssystems - d.h. seine Fähigkeit, Knappheit dauerhaft und wirksam zu bewältigen - zu sichern und zu verbessern. In der Bundesrepublik

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Deutschland ist dies das System der Sozialen Marktwirtschaft, die auf einer bewußten ordnungspolitischen Entscheidung beruht und deren Grundprinzipien darin bestehen, „auf der Basis der Wettbewerbswirtschaft die freie Initiative mit einem gerade durch die marktwirtschaftliche Leistung gesicherten sozialen Fortschritt zu verbinden" (MüllerArmack 1956, 390). Die marktlich-wettbewerbliche Ausrichtung der Sozialen Marktwirtschaft impliziert Eingriffe in den Markt- und Wettbewerbsmechanismus nur bei spürbarem Marktversagen, und dann auch nur unter der Bedingung, daß staatliche Maßnahmen nicht zu schlechteren Lösungen fuhren als die mit Effizienzproblemen behafteten Märkte. Wie die Theorie der Wirtschaftspolitik und die bisherigen Erfahrungen zeigen, ist dies nur in relativ wenigen begrenzten Kernbereichen gegeben (u.a. Grossekettler 1993; Hartwig 1997) Da die soziale Komponente der Sozialen Marktwirtschaft gleichzeitig in enger Verbindung mit einem freien Leistungswettbewerb steht (Erhard 1957, 9 und 1988, 462), fuhren somit prinzipiell alle Aktivitäten von Wirtschaftsverbänden zu systemdeformierenden negativen gesellschaftlichen Wohlfahrtseffekten, die darauf gerichtet sind, den Wettbewerb zugunsten ihrer Mitglieder zu beeinträchtigen, sei es durch direkte Wettbewerbsverstöße oder sei es durch die Erlangung wettbewerblicher Ausnahmepositionen auf dem Wege der politischen Interessenwahrnehmung. Vor allem die mit ihrer politischen Interessenwahrnehmung verbundenen Wettbewerbsbeeinträchtigungen gelten vielfach als so gravierend, daß Wirtschaftsverbände seit langem Gegenstand massiver Kritik und Ziel von Regulierungsempfehlungen sind. Bereits frühzeitig wies Adam Smith (1776, 385 f.) auf die wettbewerbsbeschränkenden Praktiken von „Interessentengruppen" hin, die mit ihrer „lauten Aufdringlichkeit" bis zur Einschüchterung die Legislative zu gemeinwohlschädlichen Entscheidungen veranlassen. Ahnlich argumentierten fast zeitgleich James Madison und Rousseau, allerdings mit unterschiedlichen Implikationen. Während Madison (1787, 78) ein Verbot von Interessengruppen in einer freien Gesellschaft weder als möglich noch als erforderlich ansah, forderte Rousseau (1762, 15) einen von Gruppen freien Staat, weil sonst die idealistische Interessenharmonie zwischen Regierenden und Regierten durch „Sondergruppen" mit „Sonderinteressen" gefährdet sei. Die Darstellung verbändekritischer Positionen ließe sich erheblich erweitern.4 Im deutschen Sprachraum etwa wies Karl Büchner (1903, 139) Anfang dieses Jahrhunderts auf den schädlichen Einfluß wirtschaftlicher Partikularinteressen von Branchenverbänden hin, der daraufgerichtet sei, „daß der Staat sie aus der Tasche der Konsumenten mit Almosen fülle, daß er wenigstens die Augen zudrücke, wenn sie sich durch Kartelle und Preisverabredungen sich diese selber nehmen". Vor allem die Erfahrungen der Weimarer Republik, in der es den mächtigen Wirtschaftsverbänden gelungen war, ihre im Ersten Weltkrieg erlangte „staatspolitische Bedeutung" (Eschenburg 1989, 32) zum Erreichen wettbewerblicher Ausnahmen und zur Sicherung ihrer wirtschaftlichen Macht zu nutzen, veranlaßten Alexander Rüstow (1945) in einer anläßlich der Tagung des Vereins für Socialpolitik 1932 gehaltenen Rede vom „Versagen des Wirtschaftsliberalismus als regierungsgeschichtliches Problem" zu sprechen, das er in der staatlichen Verleihung

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Vgl. u.a. Vieler (1986, 6 ff.), Mayntz (1992), Daxhammer (1995, 37 ff.), Schütt-Wetschky (1997, 22 ff.).

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„des Rechts auf Zusammenrottung" begründet sah. Dieses Recht mache letztlich die politischen Parteien, so sein Vorwurf, mehr und mehr zu parlamentarischen Agenturen monopolistischer wirtschaftlicher Interessengruppen, wogegen nur die Abschaffung des Koalitionsrechts helfe. Walter Euchen (1955) ging in seinen für die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft einflußreichen staatspolitischen Grundsätzen nicht so weit, ein generelles Verbot von Wirtschaftsverbänden zu empfehlen. Seine Analysen zum Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Macht, „Gruppenegoismus" und politischer Einflußnahme von „Interessentengruppen" zeigten ihm jedoch deutlich jene Gefahren, die durch Verbände für die Wettbewerbsordnung und damit für das Gesamtinteresse an einer dauerhaften und wirksamen Knappheitsminderung entstehen können. Begründet in den einzelwirtschaftlichen Interessen der organisierten Unternehmen, sieht er in diesen eine Tendenz zur Ausschaltung der Konkurrenz und zur wirtschaftlichen Macht, die sie - nicht selten unter dem Deckmantel des Allgemeinwohls - mit Hilfe staatlicher Privilegien abzusichern versuchen. Da sich mit jeder Festigung von Machtgruppen für Eucken (1955, 334) die „neufeudale Autoritätsminderung des Staates verstärkt", fordert er einen Staat, der stark ist gegenüber dem Druck und den Wünschen von Interessengruppen und der seine Politik darauf richtet, „wirtschaftliche Machtgruppen aufzulösen oder ihre Funktionen zu begrenzen". Starke Impulse erhielt die Verbändekritik in der Bundesrepublik zunächst in den 50er Jahren. Dabei ging es sowohl um die von Theodor Eschenburg (1956) gestellte generelle Frage nach der „ H e r r s c h a f t der Verbände?", als auch um das Problem, daß Gruppeninteressen sachgerechte politische Entscheidungen zugunsten von punktuellen Interventionen verzerren, die die Funktionsfahigkeit der marktwirtschaftlichen Ordnung verschlechtern (u.a. Kaiser 1956; Tuchtfeld 1956). Der Bundesgerichtshof ging nach Angaben von Wimmer (1977, 405) sogar so weit, Interessenverbände in einer unveröffentlichten Entscheidung vom 18.12.1958 als „ebenso gefahrlich wie kommunistische Aktionen oder neofaschistische Bestrebungen" zu bezeichnen. In den 70er Jahren schlug sich die Kritik an den Wirtschaftsverbänden in der Forderung nach einem Verbändegesetz nieder, das auf Basis der Koalitionsfreiheit zwar vor allem die innerverbandliche Demokratie stärken, aber auch eine Kontrolle des Verbändeeinflusses ermöglichen sollte (von Alemann und Heinze 1982).5 Der von einer vom FDP-Bundesvorstand eingesetzten Kommission erarbeitete Gesetzesentwurf scheiterte bereits innerhalb der Partei, wie überhaupt ein breiter Konsens zwischen den Parteien gegen ein Verbändegesetz bestand CRonge 1992, 39 ff.). Die kritische Einstellung gegenüber der politischen Interessenvertretung von Verbänden blieb gleichwohl erhalten, wofür insbesondere die Wirtschaftswissenschaften mit der Neuen Politischen Ökonomie bzw. Public-Choice Theorie eine systematische Fundierung lieferten. Durch die Übertragung des ökonomischen Denkansatzes6 auf die 5

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Die Kommission der Europäischen Gemeinschaft kündigte 1992 in ihrem Arbeitsprogramm Überlegungen zu einem Wohlverhaltenskodex für die in Brüssel vertretenen Verbände an (vgl. Triesch und Ockenfels 1995, 165 ff.). Vgl. zum ökonomischen Denkansatz u.a. Becker (1982, 2 ff.), Mc Kenzie und Tullock (1984) sowie bereits Robbins (1962, 16): „Ökonomie ist die Wissenschaft, die menschliches Verhalten als Beziehung zwischen Zielen und knappen Mitteln mit alternativen Nutzungsmöglichkeiten untersucht."

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Analyse politischer Institutionen gelang ihnen die Rückführung politischer Entscheidungsprozesse auf die individuellen Nutzenvorstellungen und Rationalkalküle der politischen Entscheidungs- und Einflußträger mit dem Ergebnis, daß es den Wirtschaftsverbänden gelingt, ihre auf Wettbewerbsbeeinträchtigungen gerichteten Partikularinteressen dauerhaft zu Lasten der gesamtheitlichen Interessen zu realisieren - wobei noch nicht einmal immer eine Identität von Verbandsinteressen und Mitgliederinteressen gegeben ist. Verbandliche Aktivitäten sind danach im wesentlichen darauf gerichtet, Gruppenmitgliedem Renten in Form von übermarktlichen Erträgen zu sichern, die im Gegensatz zu Renten aus unternehmerischer Tätigkeit nicht täglich immer wieder neu unter Wettbewerbsbedingungen auf den Güter- und Faktormärkten durchgesetzt werden müssen, sondern auf Begünstigungen beruhen, die mit wettbewerblichen Ausnahmen verbunden sind. Solche Begünstigungen kommen weniger durch die meist illegalen Wettbewerbsverstöße zustande, als vielmehr dadurch, daß Wirtschaftsverbände mit den politischen Entscheidungsträgem und deren Ausführungsorganen auf politischen Märkten verbandliche Leistungen in Form von Unterstützung, Informationen und Konfliktverzicht gegen budgetwirksame und nicht-budgetwirksame Eigentumsrechte an Rentenpositionen tauschen ([Stigler 1971; Dernau und Munger 1986, 90; Wellesen 1994, 67 ff.). Als Resultat entstehen Preise und Ressourcenentlohnungen, die über den wettbewerblichen Marktaustauschrelationen liegen. Die Verluste aus diesem Umverteilungsprozeß streuen zunächst über die große Zahl jener sanktionsunfähigen Dritten, die - bewußt oder als Folge gezielter verbandlicher Manipulation - unter Informationsmängeln leiden, die Belastungen im einzelnen kaum oder erst mit erheblicher Zeitverzögerung wahrnehmen und sich verbandlich nicht organisieren lassen, weil Kollektivgutprobleme dies verhindern bzw. die bei einer Rentenabwehr anfallenden individuellen Belastungen in keiner Relation zum Ertrag stehen (Becker 1983, 392; Hartwig 1994, 763). Einbußen können aber auch für Verbandsmitglieder entstehen, da der verbandsinterne Willensbildungsprozeß häufig von einflußreichen und schwer kontrollierbaren Gruppierungen - Großunternehmen, Funktionären, Verbandsmanagern - mit anders gelagerten Interessen bestimmt wird (Eschenburg 1975, 100 ff.). Mit der Zeit wird aus dem Null-Summen- jedoch ein Negativ-Summen-Spiel, weil Markt- und Wettbewerbsbeschränkungen neben kurzfristigen Umverteilungswirkungen und Fehlallokation langfristig Strukturinflexibilität und Innovationsschwäche bewirken, bei der Rentensuche Ressourcen verschwendet werden und die mit der Überwachung und Regulierung wettbewerblicher Ausnahmebereiche betraute Bürokratie aus Eigeninteresse und mit Erfolg eine systematische Ausdehnimg ihrer Aufgaben betreibt. Da die Anreizstruktur dieses Spiels selbst diejenigen zur Rentensuche veranlaßt, denen die negativen Wirkungen bewußt sind, entsteht jenes typische n-Personen Gefangenendilemma, in dem individuell rationales Verhalten ein für alle Beteiligten nachteiliges Ergebnis herbeiführt. Der permanente Prozeß des Suchens und Sicherns von Renten deformiert das Wirtschaftssystem immer mehr, so daß die Anpassungs- und Entwicklungsfähigkeit der Volkswirtschaft langfristig sinkt (Olson 1982; Miller 1989, 517 ff.).7

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Vgl. Krueger (1974), Tullock, Tollison und Rowley (1988). Bhagwati (1982) verwendet in ähnlichem Zusammenhang den Begriff des „directly unproductive profit seeking", worunter er Aktivitäten ver-

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Durch eine Übertragung von politischen Entscheidungskompetenzen an supranationale Organe läßt sich diese Logik zwar auf nationaler Ebene durchbrechen, weil Wettbewerbsbeeinträchtigungen zu Lasten von Mitgliedsstaaten nicht im Interesse ihrer nationalen Verbände liegen und daher keinen Konsens finden. Faktisch wird sie jedoch lediglich auf die höhere Ebene supranationaler politischer Märkte mit international agierenden Interessengruppen verlagert (Apolte 1997,61 ff.).

III. Systemdeformierende Effekte von Wirtschaftsverbänden Vor diesem Hintergrund scheint es relativ leicht, das Verhältnis der Wirtschaftsverbände zur Sozialen Marktwirtschaft zu bestimmen. Es ist durch den zumeist erfolgreichen Versuch gekennzeichnet, durch politische Einflußnahme jene Grundprinzipien der Konzeption zu verwirklichen, die den genuinen individuellen Interessen der Unternehmen nach freier wirtschaftlicher Entfaltung dienen, und gleichzeitig zum Schutz vor allem besonders einflußreicher Gruppenmitglieder die Entfaltungsmöglichkeiten anderer zu beschränken und die Wettbewerbsordnung systematisch außer Kraft zu setzen. Für diese Vermutung gibt es in der Tat eine Vielzahl von Belegen, die sich sowohl auf die Einstellungen und Verhaltensweisen von Wirtschaftsverbänden beziehen als auch auf ihre politischen Einflußmöglichkeiten. So bekennen sich die Wirtschaftsverbände fast ausnahmslos in „nahezu ritueller Wiederholung" (Mann 1995) in ihren offiziellen Verlautbarungen zu den Grundprinzipen der Sozialen Marktwirtschaft, wozu sie vor allem das Recht auf Privateigentum und freie wirtschaftliche Entfaltung, die Langfristorientierung und Konstanz der Wirtschaftspolitik und das Subsidiaritätsprinzip rechnen. Der Wettbewerb als Basiselement einer funktionsfähigen marktwirtschaftlichen Ordnung bleibt weitgehend ausgeblendet. Eine vom Wirtschaftspolitischen Ausschuß des Vereins für Socialpolitik initiierte empirische Untersuchung aus den 60er Jahren dokumentiert denn auch ebenso wie eine Vielzahl von verbandlichen Äußerungen in den davorliegenden Jahren und in der Folgezeit in vielen Verbänden eine deutliche Abneigung gegen den Wettbewerb bzw. eine Präferenz für Wettbewerb vor allem dann, wenn er konkurrierende Untemehmensformen im Inland, ausländische Konkurrenten und die Zuliefermärkte betrifft (Predöhl und Weippert 1965, 79 ff.). Diese Einstellung manifestiert sich in Bestrebungen, bestehende Wettbewerbsbeschränkungen zu erhalten und wettbewerbsbeeinträchtigende Begünstigungen zu erlangen. Bereits unmittelbar nach dem Krieg versuchten die neugegründeten bzw. revitalisierten Branchenverbände die von den amerikanischen Besatzungsbehörden vorgesehene Dekartellierung und Unterbindung wettbewerbsbeschränkender Marktabsprachen zu verhindern oder gar zu unterlaufen (Berghahn 1985, 84 ff.).8 Frühzeitig begannen die Bauernverbände und die Landesund Hauptinnungsverbände des Handwerks für ihre Mitglieder eine wettbewerbliche

steht, die der Erlangung pekuniärer Erträge dienen, ohne daß im Gegenzug Güter produziert werden, die in konventionelle Nutzenfunktionen eingehen. 8 Im Juni 1949 wurden der 'Verband der Großhändler für Dental-, Medizin-, Laboratoriums- und Kiankheitsbedarf sowie die 'Arbeitsgemeinschaft Bremer Baumwollhändler' vom Bipartite Control Office sogar wegen Verstoßes gegen das Kartellverbot aufgelöst (vgl. Berghahn 1985, 102 f.).

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Ausnahmestellung anzustreben. Ging es dabei dem 'Deutschen Bauernverband' darum, die Einkommen der heimischen Landwirte mit Mindestpreisen, Abnahmegarantien und Subventionen dauerhaft abzusichern, bestand die Zielsetzung des 'Zentralverbandes des Deutschen Handwerks' darin, mittels einer einheitlichen Handwerksordnung für die Bundesrepublik die in der amerikanischen Zone eingeführte Gewerbefreiheit wieder zu beseitigen (Ulimann 1988, 247 ff.; Heinze 1992). Wenig Übereinstimmung mit den wettbewerbspolitischen Vorstellungen der amerikanischen Besatzungsmacht und der Begründer und Vertreter der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft herrschte ebenfalls bei der 'Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie'. Während die Amerikaner sich vom Schuman-?\sn zur Schaffung eines westeuropäischen gemeinsamen Montanmarktes einen Markt ohne Wettbewerbsverfälschungen versprachen, argumentierte die Wirtschaftsvereinigung, „daß dogmatische Auffassungen über Wert und Unwert von z.B. Kartellen oder Kartellelementen am wenigsten geeignet sind, den Aufbau einer Union zu fördern. Gleichgültig welche Regelungen in Betracht zu ziehen sein werden, um gewisse Abstimmungen auf dem Gebiet der Produktion, des Absatzes oder der Preise - um die wichtigsten Kartellelemente zu nennen - wird man früher oder später nicht herumkommen" (Bundesarchiv 1950). Offensichtlich wurde diese Einschätzung auch unverzüglich in die Tat umgesetzt und mit Vertretern französischer und luxemburgischer Stahlverbände die Aufteilung des Schweizer Stahlmarktes und die Neugründung eines europäischen Stahlkartells diskutiert (Diebold 1959, 51). Unter dem starken Einfluß der Schwerindustrie begann dann auch der Kampf des BDI gegen den im Oktober 1949 von Erhard vorgelegten Entwurf für das Wettbewerbsgesetz, der ein radikales Verbot von Kartellen und Preisabsprachen vorsah (u.a. Kartte und Holtschneider 1981; Berghahn 1985, 15 ff.). Erhard blieb damit zwar hinter dem Josten-Vorschlag zurück, der zusätzlich die Einführung eines Aufgliederungsgebots marktbeherrschender Unternehmen vorsah. Dem BDI ging, wie auch dem DIHT, das Kartellverbot jedoch zu weit. Er war allenfalls bereit, dem Staat das Recht zuzubilligen, Mißbrauch zu verbieten und zu ahnden; daher versuchte er in einer siebenjährigen Kampagne gegen einen „zügellosen Wettbewerb" seine Vorstellungen von einer „gesunden Synthese zwischen Freiheit und Bindung" in Form von Kartellen, „die sich seit Jahrzehnten in Deutschland bewährt haben", durchzusetzen.9 Der Streit mit dem Wirtschaftsminister, dem es darum ging, die freie gesellschaftliche Ordnung „als Ganzheit" und das „Lebensrecht von 50 Millionen Verbrauchern" gegen Sonderinteressen der gewerblichen Wirtschaft zu verteidigen (Mestmäcker 1996, 56 f.), ging so weit, daß offensichtlich die Hochkommission unter dem Druck der USA drohte, ein alliiertes Kartellgesetz nach amerikanischem Vorbild zu erlassen. Als sich herausstellte, daß das Verbotsprinzip nicht zu umgehen war, verlagerten die Verbände ihre Aktivitäten darauf, die Verabschiedung des Gesetzes zu verzögern und das Karellverbot durch zahlreiche Abänderungen aufzuweichen. Das Bestreben von Wirtschaftsverbänden, für ihre Mitglieder Begünstigungen zu erreichen, Privilegien zu verteidigen und wettbewerbliche Risiken zu sozialisieren, blieb nicht auf die Phase des Wiederaufbaus beschränkt. Es fand seine Fortsetzung und besitzt 9

Zitiert nach Berghahn (1985, 15 ff.).

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bis in die Gegenwart Aktualität. Wie eine Fülle von Beispielen aus der Energie- und Verkehrswirtschaft, dem Handel, der öffentlich-rechtlichen Kreditwirtschaft, der Landwirtschaft, dem Gesundheitswesen oder der Industriepolitik zeigt, versuchen vor allem Branchenverbände, aber auch Spitzenverbände der Wirtschaft, in weitgehend allen Bereichen der Volkswirtschaft auf nationaler und europäischer Ebene Rentenpositionen zu erlangen und zu verteidigen. Die dabei genutzten Einflußkanäle und -instrumente betreffen alle Ebenen und alle Phasen des politischen Entscheidungsprozesses. Hauptadressat ist die Exekutive, die im wesentlichen die Gesetzesvorbereitung und -initiative übernimmt und im Wege von Ausfuhrungsverordnungen eine Vielzahl von wichtigen Unternehmens- und branchenrelevanten Entscheidungen trifft. 10 Die Verbände richten ihre Eingaben daher überwiegend an die Ministerien und die Regierung. Die politische Administration, mit der eine institutionalisierte Zusammenarbeit bereits in den Beiräten und Kommissionen besteht, wird von ihnen als wichtigster Ansprechpartner im Gesetzgebungsverfahren betrachtet (Weber 1977; von Beyme 1980, 182; Hartmann 1985, 106 ff.).Gemäß § 24 ermöglicht ihnen die gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien hier eine Interessenwahmehmung schon in der Vorbereitungsphase. Von großer Bedeutung sind auch direkte Verbindungen zu den zuständigen Fachministern und zum Bundeskanzleramt sowie zum Kanzler selber. Konrad Adenauer, der Erhards wirtschaftspolitischen Prinzipien mit tiefer Skepsis gegenübergestanden haben soll und für den der Wettbewerb wenig sinnvoll und die Volkswirtschaft ein „verhältnismäßig primitives Ding" war (Koerfer 1996, 207 ff.,), etablierte jene als 'Kanzlerdemokratie' bezeichneten Kontakte mit den Wirtschaftsverbänden und anschließenden Entscheidungen ohne Einschaltung des zuständigen Fachministers. Mittlerweile bieten neben diesen direkten Gesprächen mit dem Kanzler die 'Bungalow-Gespräche' in erweiterter Runde unter Beteiligung der für die Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik zuständigen Bundesminister und des Bundesbankpräsidenten sowie die 'offiziellen Kanzleminden' den Verbänden neben einem Informationsaustausch auch eine Plattform für die politische Interessenwahrnehmung. Bundestag und Bundesrat ziehen zwar weniger Verbandsaktivitäten auf sich. Als Einflußadressaten erfüllen sie jedoch eine wichtige Funktion für jene Verbände, die ihre Partikularinteressen auf der Ebene der Exekutive nur ungenügend durchsetzen können. Zudem rücken die fraktionsinternen Arbeitskreise und Arbeitsgruppen, in denen die Politikinhalte und Verfahren festgelegt werden, die Ausschüsse als die eigentlichen Arbeitseinheiten des Parlaments und die nach § 70 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages möglichen öffentlichen Anhörungen den Bundestag auch in das Blickfeld der anderen Verbände. Der Bundesrat erreicht als Einflußadressat zunehmende Bedeutung, seit sich seine Rolle im Gesetzgebungsprozeß verstärkt hat und sobald die parlamentarische Opposition über die Mehrheit verfugt (Mann 1995, 179 ff.). Länderregierungen und -bürokratien können daher von den Verbänden direkt und indirekt - zur Einflußnahme auf die Bundespolitik - genutzt werden. Ein solches Potential für eine indirekte Einflußnahme bilden auch die Parteien und die Öffentlichkeit. Die Öffentlich-

10 Zwischen 1949 und 1983 wurden fast 80% der im Bundestag verabschiedeten Gesetze von der Regierung eingebracht (vgl. Vllmann 1988, 268).

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keit dient als „unverzichtbarer Interaktionsadressat" (von Alemann 1989) der allgemeinen Akzeptanzverstärkung, vor allem aber dem Druck auf die politischen Entscheidungsträger im vorparlamentarischen Raum. Der immer stärker werdende Einfluß der Europäischen Union, von der mittlerweile mehr als 60% der Wirtschafts- und Sozialgesetze entschieden und etwa 120 Richtlinien und Verordnungen pro Jahr verabschiedet werden, bewirkt schon seit längerem eine entsprechende Präsenz der Wirtschaftsverbände. Kommission, Ministerrat, EuropaParlament sowie der Wirtschafts- und Sozialausschuß und die beratenden Ausschüsse für Verbraucher- und Agrarfragen und für Handel und Vertrieb als institutionalisierte Vertretung organisierter Interessen sind die Einflußadressaten der Wirtschaftsverbände. Ebenso wie im nationalen Rahmen konzentrieren sich die Verbandsaktivitäten auf die Exekutive, wobei im allgemeinen dreistufig vorgegangen wird: als unmittelbarer nationaler Verband, in Koalition mit anderen nationalen Verbänden und als Mitglied einer europäischen Dachorganisation (Strauch 1993, 209 ff.). 1992 waren gut 500 solcher EU-Verbände in Brüssel vertreten. Die politische Einflußnahme erfolgt auf unterschiedlichen Wegen. Eine zentrale Rolle für die Wirtschaftsverbände spielen nach eigenem Bekunden personalisierte Dauerbeziehungen zu den politisch-administrativen Weichenstellern. Das können Abgeordnete, Minister und Staatssekretäre ebenso sein wie wissenschaftliche Mitarbeiter von Bundestagsfraktionen oder Referenten in den Ministerien (von Beyme 1980, 165; Mann 1995, 174 f.; Krickhahn 1995, 234 ff.). Von Bedeutung ist auch eine ausgedehnte sachund fachbezogene Kooperation mit der Bürokratie. Die Verbindung selbst beruht auf der Vermittlung von Informationen, der Kontaktpflege und einer möglichst engen personellen Verflechtung. Bei den Informationen der Verbände handelt es sich zumeist um teilweise von eigenen wissenschaftlichen Diensten erarbeitete Sachinformationen. Gezielte Fehlinformationen sind eher selten, da damit ein hohes Glaubwürdigkeitsrisiko verbunden ist. Zumeist wird jedoch versucht, den Eindruck einer weitgehenden Identität von Gruppeninteresse und Allgemeininteresse zu vermitteln, auch wenn diese nachweislich nicht vorhanden ist.11 Engere personelle Netzwerke sind ebenso in den Ministerien bis zum Fachminister zu finden, deren Verbandszugehörigkeit und Etablierung sowie Ernennung und Absetzung einige Verbände - Bauernverband 1959 und 1963, BDI und DIHT 1957, Einzelhandelsverband Ende der 80er Jahre - massiv zu betreiben versuchten (Eschenburg 1989, 109 f.; Triesch und Ockenfels 1995, 33). Personelle Netzwerke bestehen ebenfalls mit Parteien, Parlament und in vielen Bundestagsausschüssen, von denen einige - so etwa der Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit einer Verbandsdichte von knapp 80% - als regelrechte Verbandsinseln gelten (Weber 1977).12 Daneben kommen finanzielle Zuwendungen an Parteien und Einzelpersonen,

11 Besonders dafür geeignet scheinen Verweise auf eine qualitativ hochwertige und sichere Versorgung zu sein, mit denen die Verbände der Landwirtschaft, der Energiewirtschaft und des Handwerks ihre wettbewerbliche Ausnahmestellung begründen. 12 Benzner (1989) ermittelt für den Zeitraum von 1949 bis 1984 einen auf dem beruflichen Wechsel zwischen Interessengruppen und bundesstaatlichen Ministerialorganisationen sowie auf formaler Verbandsmitgliedschaft beruhenden „Verflechtungsgrad" der Ministerialbediensteten von 3,1% für die Spitzenverbände und von 84,1% für Unternehmen. Zur relativ geringen wirtschaftlichen Ver-

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die Zusage von Wählerstimmen oder die Androhimg ihres Entzuges und andere Formen der Unterstützung und Drohung zum Einsatz, wie eine Fülle von Beispielen belegt: die Parteispendenprozesse, die 1963 ausgesprochene Drohung eines CDU-Bundestagsabgeordneten und gleichzeitigen Bauernverbandspräsidenten, im Falle einer Entlassung des Ernährungsministers durch Erhard mit allen 50 CDU-Landwirten gegen dessen Wahl zum Kanzler zu stimmen, das Angebot der Wirtschaftsverbände, der Bundesregierung im Jahre 1960 eine Anleihe zu äußerst günstigen Konditionen zu gewähren, wenn die vom Wirtschaftsminister angestrebte Aufwertung der DM unterbliebe, und ihre Drohung, der CDU im Falle der Verabschiedung des Kartellgesetzes Wahlgelder zu entziehen, die Aktion der kassenärztlichen Vereinigung gegen die CDU und ihren Bundesarbeitsminster im Vorfeld der beabsichtigten Krankenkassenreform 1958/59 und ihre spätere Unterstützung der CDU/CSU durch eine Anzeigenkampagne im Wahlkampf 1972 (von Beyme 1980, 112 f.; Eschenburg 1989, 109 f.; Mann 1995, 252; Triesch und Ockenfels 1995). Um ihre Einflußmöglichkeiten zu verstärken, bilden die Wirtschaftsverbände dauerhafte oder zeitlich begrenzte Kooperationen. Traditionell ist dies der Fall bei den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft, von denen der BDI und die BDA zeitweilig sogar von einem gemeinsamen Präsidenten geführt wurden. Anfang der 50er Jahre koordinierte der 'Deutsche Bauernverband' seine Aktivitäten mit dem BDI, dem 'Zentralverband des Deutschen Handwerks', dem 'Gemeinschaftsausschuß der Deutschen Wirtschaft' und verschiedenen Mittelstandsverbänden. Seit die Agrarmarktordnungspolitik auch bei den meisten Wirtschaftsverbänden auf immer stärkeren Widerstand stößt, strebt er Kooperationen mit Verbänden jener Branchen an, deren Rentenpositionen in besonderem Maße bedroht sind.13 Mit vielen ihrer Aktionen waren die Wirtschaftsverbände erfolgreich, sowohl wenn es darum ging, wettbewerbsbeeinträchtigende Begünstigungen für ihre Mitglieder zu erlangen, als auch bei der Verteidigung von Privilegien: Mit den Marktordnungsgesetzen von 1950/51 und dem Landwirtschaftsgesetz von 1955 gelang es dem Bauernverband, die Landwirtschaft vom Wettbewerb auszunehmen und seinen Entwurf für ein dauerhaftes und immer weiter expandierendes Subventionsprogramm fast ohne Abänderungen im Parlament durchzusetzen. Die Handwerksordnung, die im Herbst 1953 mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und SPD gegen den Widerstand der Alliierten Hohen Kommission die Gewerbefreiheit beseitigte, kam unter maßgeblicher Beteiligung des 'Zentralverbands des Deutschen Handwerks' zustande. Die Beratung des Erhardschen Kartellgesetzentwurfes wurde aus Sorge vor rückläufigen Spenden des BDI und dessen Mitgliedern auf Drängen des Bundeskanzlers vor den Wahlen 1953 auf die folbandsdichte im Deutschen Bundestag vgl. Müller (1992) sowie Frey und Kirchgässner (1994, 214), die von den Abgeordneten des X. Deutschen Bundestages knapp 14% als Vertreter von Wirtschaftsverbänden identifizieren. 13 Vgl. die gemeinsame Erklärung des 'Deutschen Bauernverbandes', des 'Gesamtverbandes der Deutschen Steinkohleindustrie' und der 'Industriegewerkschaft Bergbau und Energie' mit dem Titel „Bauern und Bergleute beziehen Position", in der vor „kurzsichtigen Entscheidungen" der Politik gewarnt wird, die mit ihrer Fehleinschätzung, Nahrungsmittel und Energie könnten dauerhaft zu niedrigen Preisen importiert werden, die Sicherheit der Versorgung in den wichtigsten Bereichen der Wirtschaft gefährde (Heinze 1992, 78 f.).

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gende Legislaturperiode vertagt und der Entwurf durch das 1957 verabschiedete Gesetz stark verwässert.14 Auf Druck der kassenärztlichen Vereinigung kam es nach Gesprächen mit dem Bundeskanzler unter Umgehung des Fachministers 1961 zur Einstellung aller Verhandlungen über eine Krankenkassenreform. 1994 verschob der Bundeskanzler gegen den Willen des Wirtschaftsministers und des Generalsekretärs der CDU die von ihm bereits angekündigte Verlängerung der Ladenöffnungszeiten, nachdem der Präsident des Einzelhandels das Thema mit dem Hinweis auf 500.000 Ladengeschäfte mit über 2 Mio. Beschäftigten für „wahlentscheidend" erklärt hatte (Triesch und Ockenfels 1995, 109). Weniger spektakulär, in ihren Auswirkungen jedoch nicht weniger problematisch sind die Erfolge der Wirtschaftsverbände bei der Verteidigung einmal erlangter Rentenpositionen. Besonders begünstigt von wettbewerblichen Ausnahmen sind Wirtschaftsverbände, die über die klassischen Potentialfaktoren verfügen, mit denen sich politischer Druck erzeugen läßt: hoher Organisationsgrad, viele Mitglieder mit weitgehend homogenen Interessen, Finanzkraft, Marktmacht, Wählerpotential. Wie die Erfahrungen zeigen, ist ein hoher Organisationsgrad offensichtlich selbst bei großen Gruppen und einem ausgeprägten Anteil an bereitgestellten Kollektivgütem erreichbar, wenn den Mitgliedern ein Zusammengehörigkeitsgefühl vermittelt wird und branchenspezifische irreversible Investitionen mit strukturellem Anpassungsdruck zusammentreffen (Hagedorn und Schmitt 1985, 262 f f ) . Ersteres scheint z.B. lange Zeit für den BDI und die BDA gegolten zu haben {Mann 1995, 116), letzteres gilt für die Landwirtschaft und das Handwerk, deren Spitzenverbände über noch immer gut 700.000 Mitglieder und einen Organisationsgrad von 85 bzw. 90% verfügen. Hier bewirkt der hohe Anteil an Humankapital und physischem Kapital - zudem noch häufig in Familienbetrieben inkorporiert -, das bei einer alternativen Verwendung weitgehend abgeschrieben werden müßte, unter den Betroffenen generell relativ intensive und homogene Präferenzen für Schutzmaßnahmen vor ökonomischem Wandel. Tritt dieser Wandel dann ein, führen die Präferenzen zu massiven Bestrebungen, die gefährdeten ökonomischen Renten durch politische Renten abzusichern. Wie die Erfahrungen ebenfalls zeigen, ist solchen Versuchen selbst bei geringem eigenen Wählerpotential oder einer ausgeprägten Parteiidentifikation der Mitglieder Erfolg beschieden, wenn gleichzeitig eine Abschirmung, Neutralisierung oder gar Solidarisierung oppositioneller Präferenzen gelingt. Der 'Deutsche Bauernverband', aber auch andere Verbände haben es geschickt verstanden, traditionell in der Gesellschaft verankerte Vorstellungen über ihre Branche zu pflegen und an gesellschaftliche Werte und die Solidarität anderer Gruppen zu appellieren. Mit Verweisen auf die Notwendigkeit einer sicheren Versorgung mit Nahrungsmitteln, auf die mittelständische

14 Franz Böhm, der gegen den Kompromiß zwischen Wirtschaftsministerium und BDI im März 1955 im Bundestag einen scharfen Verbotsentwurf vorlegte, bemerkte dazu: „Wenn diese Vorschläge Gesetz werden, dann können Unternehmer jedes beliebigen Produktionszweiges den Geschäftsführer ihres Verbandes auf Schadensersatz verklagen, wenn er es bei der Kartellbehörde nicht erreicht, daß ihr Kartell erlaubt wird... Alle Änderungen nämlich, die in den letzten Jahren verlangt und angekündigt wurden, zielen in ein und dieselbe Richtung, nämlich in die Richtung: Weg von der Konzeption des Bundeswirtschaftsministers! Weg vom Wettbewerb! Hin zum Kartell" (zitiert nach Ritter 1972, 52 und Mestmäcker 1996, 53).

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Struktur der Landwirtschaft, auf ihre herausgehobene Stellung im europäischen Integrationsprozeß und auf ihre Bedeutung als Repräsentant selbständiger Berufe, als Hort sozialer Stabilität, als Landschaftspfleger und -erhalter sowie als Opfer des Strukturwandels, das lediglich die Aufhebung der sektoralen Einkommensdisparität verlangt, also nur 'Gerechtigkeit' fordert, konnte der Bauernverband lange Zeit eine breite Unterstützung auch außerhalb der Landwirtschaft gewinnen und den Einfluß divergierender Interessen auf die Politik neutralisieren, ohne auf einen Parteienwechsel als Sanktionsmittel zurückgreifen zu müssen (Heinze 1992, 63 ff.). Ebenfalls begünstigt von den Erfolgen der Wirtschaftsverbände sind Großunternehmen. Sie verfügen verbandsintern aufgrund ihrer finanziellen Beiträge, ihrer personellen Möglichkeiten und ihrer besseren direkten Kontakte zu den politischen Entscheidungsträgern über den größten Einfluß und weisen die engste personelle Verflechtung mit Politik und Verwaltung auf. Großunternehmen dominieren die Willensbildungsorgane der Verbände von der Bundesebene bis hinab zu den Kreisverbänden, sie erhalten einen größeren Teil der Subventionen an Industrie und Landwirtschaft - nahezu sämtliche staatlichen Forschungs- und Entwicklungsausgaben flössen zeitweilig an die fünfzehn größten Unternehmen -, und sie beeinflussen mit ihrer größeren Bereitschaft zu Lohnzugeständnissen in wesentlichem Maße die TarifVerhandlungen der Unternehmensseite (von Alemann 1989, 77; Hartmann 1985, 198).

IV. Verbände als Systemstabilisatoren Die Belege für die erfolgreiche Rentensuche und -absicherung der Wirtschaftsverbände dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß über das Ausmaß der damit verbundenen Störungen des marktlichen Allokationsmechanismus und der daraus resultierenden Wohlfahrtseinbußen kaum konkrete Vorstellungen existieren. Zwar legt die ausgesprochen starke und im Zeitablauf zunehmende Präsenz der Wirtschaftsverbände mit ihren etwa 150.000 hauptamtlich Beschäftigten auf der nationalen und europäischen parlamentarischen Ebene einen hohen Umfang an rentensuchenden und -absichernden Aktivitäten nahe. Ebenso sind für einzelne durch Wettbewerbsbeeinträchtigungen gekennzeichnete Branchen und Sektoren - Landwirtschaft, Energiewirtschaft, Straßengüterfemverkehr - die Höhe der staatlichen Aufwendungen sowie regulierungsbedingte Preisund Qualitätsverzerrungen bekannt oder könnte ein erheblicher Teil der Personal-, Sach-, Spenden- und sonstigen Ausgaben der Wirtschaftsverbände als Aufwendungen für die Rentensuche und damit als Ressourcenverschwendung interpretiert werden. Auf diese Weise kämen vielleicht im Ergebnis jene rentenbedingten Produktionsverluste von etwa 20% des Bruttosozialprodukts und jene negativen Produktivitäts- und Wachstumseffekte sowie jene Zunahme der Staatsquote zustande, die empirische Untersuchungen im Zusammenhang mit Verbandsaktivitäten für andere Länder feststellen (u.a. Choi 1983, 57 ff.; Posner 1974; Krueger 1974; Mueller und Murell 1986; Magee, Brock und Young 1989). Ein Großteil der Erfahrungen und Belege beruht jedoch auf Einzelbeobachtungen, besitzt also keine systematische empirische Evidenz, sondern allenfalls den

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Status von Musterbeispielen. 15 Das gilt zwar nicht für die empirischen Untersuchungen. Sie weisen jedoch methodische Schwächen auf. So könnte z. B. die Zunahme der Staatsquote nicht das Ergebnis, sondern umgekehrt die Ursache des gleichzeitig zu beobachtenden Anwachsens der Verbandaktivitäten sein, ein Zusammenhang, für den sich ebenfalls empirische Bestätigung finden läßt. Auch setzt die Annahme, Rentensuche sei immer gleichzusetzen mit Verschwendung, voraus, daß alle für die Rentensuche eingesetzten Ressourcen anderweitig produktiver genutzt werden könnten (Congelton 1988, 183). Schließlich legen umfangreiche Erfahrungen nahe, daß der Einfluß von Wirtschaftsverbänden auf Regierung und Legislative in vielen Fällen eher begrenzt ist und häufig weit überschätzt wird (von Alemann 1989).16 Seit Bestehen der Bundesrepublik mußten Wirtschaftsverbände nicht nur Kompromisse bei der Verfolgung ihrer Partikularinteressen eingehen. Sehr häufig konnten sie mit ihren Vorstellungen und Wünschen noch nicht einmal ansatzweise durchdringen. Im Gegensatz zum 'Zentralverband des Deutschen Handwerks' scheiterte die 'Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels' 1957 damit, durch Einführung eines Sachkundenachweises eine dem Handwerk vergleichbare Berufsordnung durchzusetzen. Kein Erfolg war dem Versuch des Bauernverbandes beschieden, sowohl 1953 die Ernennung als auch 1957 die Wiederernennung des von ihm wegen mangelnder Verbandsorientierung bekämpften Ernährungsministers Heinrich Lübke zu vereiteln. Ebenso erging es den Bestrebungen des BDI, 1960/61 im Interesse der exportorientierten Industrie die von Erhard vorgesehene Aufwertung der DM zu verhindern. Was er allenfalls erreichte, war eine Verschiebung. Selbst der Kampf gegen das Kartellgesetz brachte - wie andere Aktionen ebenfalls - aus Verbandssicht nur einen Teilerfolg {Mann 1995, 216 ff.). Häufig gelingt es Verbänden nicht, früher von ihnen durchgesetzte Wettbewerbsbeschränkungen auf Dauer zu sichern. Das mußte die 'Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels' 1973 mit der Aufhebung der von ihr zäh verteidigten Preisbindung der zweiten Hand erfahren. Seit einiger Zeit trifft dies auch auf die Verbände des Verkehrsgewerbes und den 'Gesamtverband des deutschen Steinkohlenbergbaus' zu. Die Gründe für den offensichtlich doch immer wieder zu beobachtenden begrenzten Einfluß von Wirtschaftsverbänden auf die politischen Entscheidungen sind vielgestaltig: Erstens verfügen nicht alle Verbände über genügend Ressourcen, um jederzeit den politischen Druck zu produzieren, der zur Durchsetzung ihrer Interessen erforderlich ist. Der Handel weist z. B. mit knapp 50% einen vergleichsweise geringen Organisationsgrad auf, die industriellen Arbeitgeber- und Branchenverbände verfügen mit etwa 50.000 angeschlossenen Unternehmen über ein geringes direktes Wählerpotential, ohne auf eine starke Solidarisierung in der breiten Öffentlichkeit zurückgreifen zu können. Zweitens vertreten viele Verbände - in besonderem Maße die Spitzenverbände - heterogene Mitgliederinteressen, weshalb Großunternehmen trotz des hohen Aufwandes häufig eine eigene Einflußnahme versuchen und eigene Lobbyisten einsetzen.17 Drittens bestehen 15 Zur Methodologie von Musterbeispielen vgl. Schneider (1993, 163). 16 Vgl. u. a. Moe (1980, 200 ff.), Mutiger (1988, 296), Pittmann (1988, 174 ff.). 17 Mann (1995) berichtet in seiner umfassenden Studie über den BDI u.a. von verbandsinternen Konflikten zwischen der exportorientierten Industrie und der Ernährungsindustrie über die Agrarpolitik im Jahre 1988, zwischen BDI-Präsidium und der deutschen Verbundwirtschaft und dem 'Wirtschaftsver-

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neben solchen einflußdämpfenden verbandsintemen Interessendivergenzen auch zwischen Verbänden divergierende Interessen. Sie äußern sich im Gruppenwettbewerb um das knappe politische Gut: Begünstigungen, in dem nicht alle Partikularinteressen zum Zuge kommen können, und in einem Gegeneinander von rentensuchenden und rentenabwehrenden Gruppen. 18 Viertens machen Renten begehrlich und sensibel: Begehrlichkeit verstärkt den Kampf um Rentenpositionen, Sensibilität den Kampf um ihre Abwehr. Dabei scheint sich immer mehr herauszustellen, daß Ignoranz in der großen Gruppe der unorganisierten Wähler weniger stark verbreitet ist, als vielfach angenommen, so daß Politiker und Parteien daher in beachtlichem Maße auch auf unorganisierte Interessen Rücksicht nehmen müssen (Dernau und Munger 1986; Wellesen 1994). Fünftens schließlich sind Datenänderungen eingetreten, die eine politische Einflußnahme der Verbände erschweren und Verhaltensanpassungen erfordern. So verengen zunehmende Defizite in den öffentlichen Haushalten, positive Deregulierungserfahrungen im Ausland oder wettbewerbsfordemde Richtlinien der Europäischen Gemeinschaft die Spielräume fiir die Rentensuche. Kommen dazu wirtschaftliche Schwierigkeiten und entsteht bei den Mitgliedern der Eindruck, daß ihre Interessen immer weniger durch ihre Verbände repräsentiert werden, wächst die Sensibilität gegenüber rentensuchenden Aktivitäten und bewirken Austritte eine Schwächung des verbandlichen Druckpotentials, sofern es nicht gelingt, mitgliederbindende Aktivitäten zu entwickeln. All dies ist bereits seit längerem zu beobachten. Es manifestiert sich u.a. darin, daß - Verbandsfunktionäre und -manager immer stärker bestrebt sind, alle Mitgliederinteressen - auch die der kleineren Unternehmen - zu berücksichtigen und aus der Vielfalt der unterschiedlichen und häufig konfligierenden Vorstellungen ein als Kompromiß von allen vertretenes durchschnittliches Verbandsinteresse ohne Extremforderungen zu artikulieren, - Verbände und Verbandsmitglieder immer massiver gegen wettbewerbsbeschränkende Begünstigungen auftreten, - Verbände ihre Aktivitäten immer weniger darauf verlagern, neue Wettbewerbsbeschränkungen zu initiieren, als vielmehr darauf, ihnen nicht genehme politische Entscheidungen zu verhindern, - Mitglieder die Leistungen ihrer Verbände nicht mehr - wie etwa die transaktionskosten- und konfliktsparenden Tarifabschlüsse und den Flächentarifvertrag19 - als öfband der Erdöl- und Erdgasgewinnung' über die 5. Kartellgesetznovelle im September 1989 und zwischen BDI-Präsidium und dem 'Verband der Elektronik- und Elektroindustrie' über das Außenwirtschaftsgesetz im Jahre 1991. Bei der jüngsten Diskussion um das Ladenschlußgesetz opponierten im Einzelhandel Verbände gegen Innungen, Branchenverbände gegen Zentralverbände, Einzelmitglieder gegen Verbände, und die Gesundheitsreformdiskussion führte 1993 zu einer Spaltung des 'Verbandes der Pharmazeutischen Industrie'. 18 Der DIHT gilt z.B. von Beginn an als scharfer Gegner der Agrarmarktordnungspolitik, weil er dadurch die Interessen der exportorientierten Industrie gefährdet sieht. Mit seinen Forderungen nach einer Liberalisierung des Ladenschlusses und nach einer Aulhebung der Baunutzungsverordnung, die solche Betriebsformen benachteiligt, die sich außerhalb der gewachsenen innerstädtischen Standorte ansiedeln wollen, handelte er im Widerspruch zu den Einzelhandelsverbänden. BDA und BDI vertraten grundsätzlich eine gegenteilige Einschätzung zur Erhaltung industrieller Kerne in Ostdeutschland. 19 Das Festhalten am Flächentarifvertrag hat auch zu starker Verstimmung zwischen der BDA und dem BDI sowie der ASU geführt (vgl. Daniels 1996).

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fentliche Güter, sondern als individuelles Ärgernis wahrnehmen und ihren Verband verlassen - und der Anteil der von den Verbänden produzierten selektiven Anreize in Form von privaten Gütern, die ausschließlich ihren Mitgliedern zugute kommen, immer größer wird. Relativieren die Mißerfolge verbandlicher Einflußnahmeversuche den Eindruck von einer allumfassenden Macht der Wirtschaftsverbände, so deuten die beschriebenen Verhaltensreaktionen neben ihrem generellen Eintreten für die Grundprinzipien der Sozialen Marktwirtschaft darauf hin, daß die Verbände durchaus systemstabilisierende Wirkungen entfalten können. Letztere entstehen zwar unintendiert, weil die Verbände sich dabei nicht von einem alles überlagernden Gemeinwohl, sondern von den Eigeninteressen ihrer Führung und ihrer Mitglieder leiten lassen; dies zeigt wie die jüngste Forderung des traditionell wettbewerblich ausgerichteten 'Verbandes Deutscher Maschinenund Anlagenbau' ( V D M A 1996, 8 f.) nach einem Subventionsbegrenzungsgesetz, die nicht zuletzt darin begründet ist, daß finanzielle Hilfen nicht nur notwendige Anpassungsprozesse verhindern, sondern sogar den brancheninternen Wettbewerb zwischen den Mitgliedern verzerren. Die Nutzbarmachung des Eigeninteresses für das Gesamtinteresse ist jedoch gerade das Kennzeichen funktionsfähiger Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen. Das betrifft auch jene positiven Wohlfahrtswirkungen, die Verbänden allgemein zugeschrieben werden (Vgl. u.a. Mock 1991, 18 f f ; Hartwig 1994, 760 f.; Daxhammer 1995, 78 ff.): Sie vermitteln politischen Entscheidungsträgern und öffentlichen Verwaltungen Informationen über Unternehmens- und branchenbezogene Sachverhalte, über eine verstreute Menge an individuellen Bedürfnissen und über die Wirkungszusammenhänge politischer Maßnahmen sowie über die Einschätzungen der davon Betroffenen; sie informieren ihre Mitglieder, aber auch Dritte über politische Vorhaben, Unterlassungen und deren Folgen; sie bemühen sich, Konflikte im Vorfeld politischer Entscheidungen untereinander auszutragen und beizulegen; sie organisieren und überwachen die Durchführung solcher Entscheidungen oder substituieren staatliche Regulierung durch Selbstregulierung; sie fangen Widerstände organisationsintem auf und verdeutlichen den Mitgliedern die Grenzen ihrer Wünsche. Hierdurch reduzieren Wirtschaftsverbände für die Gesellschaft Transaktions-, Kontroll- und Konfliktkosten. Gleichzeitig tragen sie zur Steigerung der technologischen Qualität von politischen Entscheidungen bei. Die damit verbundenen Wirkungen auf die Effizienz und dynamische Stabilität des Wirtschafts- und Gesellschaftssystem entfalten sich mit der Ausdifferenzierung und Vielfältigkeit der Verbändestruktur und der in ihrem Rahmen repräsentierten Partikularinteressen. Durch die substitutive Korrektur und komplementäre Ergänzung einzelner Verbandsforderungen können abrupte Veränderungen des Ordnungsrahmen verhindert und Unsicherheiten über zukünftige Entwicklungen abgebaut, die im Rahmen üblicher Mehrheitswahlen unberücksichtigten individuellen Präferenzen eher zum Ausdruck gebracht und politische Fehlentscheidungen korrigiert sowie wirtschaftspolitische Verbesserungen initiiert werden (Becker 1983; von Alemann 1989, 189; Vieler 1986, 163 ff.).

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V. Verbändekontrolle durch Selbstbindung Die Wirtschaftsverbände sind in der Sozialen Marktwirtschaft der Bundesrepublik Deutschland - um eine Formulierung des Verbändekritikers Theodor Eschenburg (1989) zu verwenden - „unleidlich aber unentbehrlich": Unleidlich, weil sie mit ihrer Rentensuche die Funktionsfähigkeit des Markt- und Wettbewerbsmechanismus beeinträchtigen, unentbehrlich, weil sie mit ihrem Verhalten unintendierte systemstabilisierende Leistungen erbringen und das Recht jedes Individuums verkörpern, in einer freien Gesellschaft seine Interessen allein oder gemeinsam mit anderen zu vertreten. Aus ökonomischer Sicht impliziert dies die Existenz eines gesellschaftlichen Optimums, das dann erreicht ist, wenn die Grenznutzen verbandlicher Aktivitäten mit ihren Grenzkosten übereinstimmen. Faktisch muß die Bestimmung eines solchen Optimums jedoch an Identifikations- und Bewertungsproblemen scheitern. Ein rationaler Umgang mit Verbänden kann daher nur mit ordnungspolitischen Maßnahmen erfolgen, die darauf gerichtet sind, ihre positiven Effekte zu verstärken und ihre negativen Einflüsse zu mindern. Die Liste an ordnungskonformen Vorschlägen dazu ist lang. Sie reicht von einer Publizitätspflicht bis zu Anreizen für eine verbandliche Selbstbindung (u.a. Vieler 1986, 168 ff.; Daxhammer 1995, 209 ff.). Da die Erfahrungen zeigen, daß die größte „verbandliche Regierungsfähigkeit" dort anzutreffen ist, wo ein hoher Grad an staatlicher Regulierung besteht (Hilbert 1988; Vobruba 1992, 102), scheint der wirksamste Weg für eine effiziente Verbändekontrolle jedoch vor allem in einer Selbstbindung der Politik zu bestehen. Nur wenn der Staat durch entsprechende ordnungspolitische Begrenzungen auf seine eigentlichen Aufgaben beschränkt wird, kann er sich vor der Versuchung schützen, staatliche Zuständigkeiten systemzerstörenden Sonderinteressen dienstbar zu machen.

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eher Aktivitäten zu nutzen und ihre negativen systemdeformierenden Wirkungen zu begrenzen, ist vor allem eine Selbstbindung der Politik erforderlich. Nur die Beschränkung des Staates auf seine eigentlichen Aufgaben nimmt den Verbänden die Möglichkeit, sich stimmenmaximierender Politiker und budgetmaximierender Bürokratien zur Verfolgung ihrer Partikularinteressen zu bedienen. Summary Business Interest Groups and Social Market Economy Due to the constitutional right of coalition after World War II a wide and complex system of business interest groups quickly developed in Germany. Providing services directly for their members and influencing political decision making and the behaviour of bureaucracies they support individual interests of member firms. All business interest groups officially acknowledge the principles of the German Social Market Economy, as long as entrepreneurial freedom is guaranteed. But competition, one of the basic elements of the German economic system, is normally not only widely ignored in their announcements. Moreover, as experiences amply demonstrate, business interest groups concentrate most of their efforts on rent-seeking, influencing political agents and bureaucrats to restrain competition in favour of group members. So far there is much evidence that special interest groups in connection with politics and bureaucracy contributed on a large scale to the deformation of the German economic system. But, although these negative impacts are consistent with the results of the theory of pressure-groups and the theory of rent-seeking, their extent cannot be weighted. Moreover, pursuing particular interests, pressure-groups often unintentionally produce benefits and therefore act as economic stabilizers. To profit from the benefits of group behaviour and to restrain its negative impact, a system of rules has to be established which, first of all, restricts the state to its essential functions. Imposing hard constraints on governmental activities will impede pressure-groups from using budget-maximizing bureaucrats and vote-maximizing politicians for their purposes.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1997) Bd. 48

Werner Diekmann

Gewerkschaften und Tarifautonomie in ordnungspolitischer und evolutorischer Sicht Inhalt I. Einleitung II. Das Verhältnis der Gewerkschaften zur Marktwirtschaftsordnung 1. Ordnungspolitische Phasen gewerkschaftlicher Programmatik 2. Organisationspolitische Probleme und gewerkschaftliche Reaktionen 3. Zur Bedeutung von Gewerkschaften im Rahmen von Verbandstarifverträgen III. Gewerkschaften und Tarifautonomie in evolutorischer Perspektive 1. Tarifautonomie: Eine Spielregeln schaffende Institution 2. Bestimmungsgründe fur die Dauerhaftigkeit der Institution 3. Institutioneller Wandel 4. Die ordnungspolitische Aufgabe: Sicherung der Evolutionsfähigkeit des Marktsystems Literatur Zusammenfassung Summary: Trade Unions and Autonomous Collective Bargaining in Institutional and Evolutionary Perspective

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I. Einleitung Eingriffe in die individuelle Arbeitsvertragsfreiheit werden ökonomisch vor allem mit vier Argumenten begründet: (1) Der Einzelarbeitsvertrag sei für den Arbeitnehmer nachteilig, weil sich der Arbeitgeber, der über Kapital und Boden verfüge, in der stärkeren Position befinde. (2) Im Unterschied zum Arbeitgeber unterliege der Arbeitnehmer dem Zwang, seine Arbeit anzubieten, um seine materielle Lebensgrundlage zu sichern. (3) Eine monopsonistische Marktform führe zur Ausbeutung des Arbeitnehmers. (4) Im Gegensatz zu Gütermärkten sei von einer anomalen Reaktion des Arbeitsangebots auszugehen, denn wenn die Lohnsätze sinken, steige das Arbeitsangebot. Diese anomale Reaktion wird damit begründet, daß die Arbeitnehmer bei sinkenden Löhnen ihr Arbeitsangebot ausweiten müssen, um ihre Subsistenz zu sichern. Das letzte Argument rekurriert gewöhnlich auf die Vergangenheit, auf die schlechte soziale Situation der Arbeiter zu Beginn der Industrialisierung, insbesondere auf Löhne hart am Rande des Existenzminimums, ein gesundheitsschädliches Quantum an Wochenarbeitszeiten, Frauen-

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und Kinderarbeit.1 Eine anomal verlaufende Arbeitsangebotskurve würde einen Fall originären Marktversagens bedeuten. Unabhängig davon, ob und inwieweit die vier Argumente faktisch zutreffen,2 scheinen sie jedoch theoretisch hinreichend plausibel, um Notwendigkeit und Existenz von Gewerkschaften als Arbeitnehmerschutzorganisationen zu legitimieren. Der erste gewerkschaftliche Zusammenschluß nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte am 24.8.1946 mit dem Freien Gewerkschaftsbund Hessen in der Amerikanischen Besatzungszone. Während die westlichen Besatzungsmächte für autonome Einzelgewerkschaften eintraten, sind in der Sowjetischen Besatzungszone schnell zentralistische Strukturen durchgesetzt worden. Im Oktober 1949 wurde der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) als Dachorganisation von damals 16 autonomen Branchengewerkschaften der Bundesrepublik Deutschland gegründet. Gleichzeitig wurden das Konzept der Einheitsgewerkschaft 3 und das Industrieverbandsprinzip4 verwirklicht. Mit dem Tarifvertragsgesetz (TVG) 5 wurde den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen überantwortet. Das Recht auf positive und negative Koalitionsfreiheit, das sich aus Art. 9 III Grundgesetz (GG) herleitet, legitimiert zugleich die Tarifautonomie.6 Für die Entwicklung der Marktwirtschaftsordnung entscheidend ist, ob durch gewerkschaftliches Handeln Evolutionshemmnisse aufgebaut werden. Diese Frage steht im Zentrum des Aufsatzes und wird in Kapitel III abgehandelt. Statt aber die älteren und neueren ökonomischen Theorien gewerkschaftlichen Verhaltens7 in die Analyse einzubringen, wird, ausgehend von einigen Überlegungen von North, ein institutioneller Ansatz gewählt, mit dessen Hilfe sich die ordnungspolitische Problematik kollektiver Interessenvertretung speziell in der Bundesrepublik Deutschland analysieren läßt. Dabei 1

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Hier wird nicht erörtert, ob diese historische Sicht, die das materielle Elend der Arbeiterschaft in der frühen Industrialisierung konstatiert und es auf einen unregulierten Arbeitsmarkt zurückführt, zutrifft oder eher eine recht einseitige Interpretation der Geschichte darstellt. Zweifel an dieser historischen Sicht tauchen bereits auf, wenn man danach fragt, wie sich die damalige Landflucht erklären läßt. Für von Hayek (1955) ist diese historische Sicht ein Mythos, der sich nicht mit den Tatsachen deckt. Jedes Argument kann relativiert werden. So etwa ignoriert das erste Argument, daß Arbeitnehmer heute nicht selten über beträchtliches Vermögen verfügen. Das zweite Argument übersieht, daß Kapital und Boden nicht ohne Arbeitskräfte verwertet werden können. Das dritte Argument trifft nicht zu, wenn eine Vielzahl von Unternehmen existiert, die um Arbeitskräfte konkurrieren, und das vierte ignoriert neben heute oft vorhandenem Finanz- und Realvermögen der Arbeitnehmer ihre heutige soziale Sicherung. Statt Richtungsgewerkschaften, in denen politische und ideologische Überzeugungen die Mitgliedschaft begründeten, sollten nun Gewerkschaften offen sein fiir christliche, sozialistische und liberale Strömungen. Die Gründung des Christlichen Gewerkschaftsbundes Deutschlands (CGB) im Jahre 1959 ist eine Reaktion christlicher Gewerkschafter auf sozialistische Ziele von DGB-Gewerkschaften und damit auf deren Verstöße gegen die Idee der Einheitsgewerkschaft. Die Mitgliedschaft eines Arbeitnehmers in einer Gewerkschaft richtet sich nicht - wie nach dem Berufsverbandsprinzip - nach dem Beruf des Arbeitnehmers, sondern nach der Branchenzugehörigkeit des Betriebs, in dem er beschäftigt ist. Zu den Entstehungsbedingungen des Tarifvertragsgesetzes vgl. im einzelnen Nautz (1985). Von einzelnen juristischen Interpretationen, etwa der, Art. 9 III GG legitimiere lediglich einen „Kembereich" (Isensee 1986, 172 ff.) der Tarifautonomie, sei hier abgesehen. Ein Überblick über ältere und neuere Erklärungsansätze findet sich bei Schnabel (1989, 91 ff., 114 ff.); siehe auch Genosko (1992).

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zeigt sich, daß eine realistische Darstellung und Analyse nicht möglich ist, wenn man sich allein auf gewerkschaftliches Handeln beschränkt; die Evolutionsprobleme resultieren vielmehr aus einem institutionellen Netzwerk, in das kollektive Interessenvertretungen auf betrieblicher und überbetrieblicher Ebene, Staat und Rechtsordnung verflochten sind.

II. Das Verhältnis der Gewerkschaften zur Marktwirtschaftsordnung 1. Ordnungspolitische Phasen gewerkschaftlicher Programmatik Im folgenden werden drei Phasen in der Programmatik der deutschen Gewerkschaften der Nachkriegszeit unterschieden.8 Damit wird - anstelle einer detaillierten Synopse - die Entwicklung idealtypisch beschrieben. Dies ist nicht ganz unproblematisch, weil erstens alte Forderungen oft auch noch in neueren gewerkschaftlichen Strategien durchschimmern, die jedoch, weil Akzentverschiebungen unübersehbar sind, einer anderen programmatischen Phase zugerechnet werden. Aus dem gleichen Grund lassen sich zweitens die Phasen zeitlich nicht immer trennen. Drittens existieren zum Teil erhebliche programmatische Unterschiede zwischen den Einzelgewerkschaften des DGB und dementsprechend große Differenzen hinsichtlich der Marktkonformität ihrer Strategien und Ziele (Dichmann 1990). Diese Unterschiede resultieren aus den weltanschaulichen Ausrichtungen der Einzelgewerkschaften. 9 Grundlage für unsere Diskussion sind insbesondere die vier Grundsatzprogramme des DGB: das Münchener Grundsatzprogramm von 1949, die Düsseldorfer Grundsatzprogramme von 1963 und 1981 und das Dresdener Grundsatzprogramm von 1996. a. Die erste Phase: Direkte Investitionslenkung und Überfährung von ,,Schlüsselindustrien" in Gemeineigentum Der DGB als Dachverband der Einzelgewerkschaften wurde im Oktober 1949 gegründet - zu einer Zeit, in der Ludwig Erhards Konzept der Sozialen Marktwirtschaft 8

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Ausgeklammert werden alle Gewerkschaften außerhalb des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), also z.B. die Gewerkschaften des Christlichen Gewerkschaftsbundes Deutschlands (CGB). Ausgeklammert wird auch die Gewerkschaftsentwicklung in der ehemaligen DDR, weil der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) sich bereits in seiner Satzung explizit als Transmissionsriemen zwischen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) und den Arbeitnehmern bekannt hatte und die Einzelgewerkschaften des FDGB weisungsgebundene Abteilungen waren (Wilke und Müller 1990, 5 ff., 13; Genosko 1991, 101 f.), Gewerkschaften mithin als Instrument totalitärer politischer Machtausübung fungierten. Abgesehen wird ferner von einer Erörterung des Verhältnisses westdeutscher Gewerkschaften zum sozialistischen Regime der DDR und dem FDGB. Angemerkt sei lediglich, daß westdeutsche Gewerkschaften aus dem Zusammenbruch des Sozialismus zum Teil konträre Folgerungen hinsichtlich eigener organisationspolitischer Ziele gezogen haben. Während z.B. die Industriegewerkschaft Chemie-Papier-Keramik (IGC) schon seit langem auf kritische Sozialpartnerschaft setzt, ist der Klassenkampfgedanke noch immer virulent in ideologisch auf den Marxismus und Sozialismus ausgerichteten Gewerkschaften wie der Industriegewerkschaft Medien-Druck und Papier-Publizistik und Kunst (IG Medien) und der Industriegewerkschaft Metall (IGM).

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noch umstritten war. Erstens bestanden Probleme des Übergangs von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft, die sich insbesondere in Arbeitslosigkeit und Preissteigerungen äußerten. Zweitens waren nicht nur Gewerkschaften der Meinung, eine Rückkehr zur Marktwirtschaft sei nicht möglich. 10 Drittens bestand in den ersten Nachkriegsjahren in breiten Kreisen der Bevölkerung eine stark interventionistische Einstellung. So verwundert kaum, daß das Münchener Grundsatzprogramm klassenkämpferischen Charakter hat und sich für eine zwar nicht staatlich gelenkte, aber durch Gewerkschaften maßgeblich beeinflußte „wirtschaftsdemokratische" Planwirtschaft stark macht, „...damit nicht private Selbstsucht über die Notwendigkeiten der Gesamtwirtschaft triumphiert" {DGB 1949,318). Die wichtigsten Aspekte des ersten Grundsatzprogramms machen deutlich, daß die Unvereinbarkeit von Markt und Plan ignoriert wird: - „Schlüsselindustrien"11 sollen in Gemeineigentum übergeführt werden. Damit sollen das Problem der wirtschaftlichen und politischen Macht gelöst und die Wirtschaftslenkung seitens der Eigentumsverfassung abgesichert werden. - Ein „volkswirtschaftlicher Rahmenplan" ist aufzustellen, und Gewerkschaften sollen „... an allen Planungs- und Lenkungsorganen maßgeblich beteiligt..." sein. Die Geldund Finanzpolitik sind „...in die staatliche Konjunktur- und Investitionsplanung einzuordnen ..." {DGB 1949, 320). - Gefordert wird die „Mitbestimmung der organisierten [!] Arbeitnehmer in allen ... Fragen der Wirtschaftsführung und Wirtschaftsgestaltung" {DGB 1949, 318). - „Soziale Gerechtigkeit [soll] durch angemessene Beteiligung aller Werktätigen am volkswirtschaftlichen Gesamtertrag ..." {DGB 1949, 318) gewährleistet werden. Charakteristisch für den Neuanfang der Gewerkschaften des DGB nach dem Zweiten Weltkrieg ist femer, daß Wirtschaftspolitik als „Kampfplatz" {DGB 1949, 318) verstanden wird und daß sich die Gewerkschaften als Interessenvertreter aller Arbeitnehmer sehen. Dieser Alleinvertretungsanspruch und die als „Wirtschaftsdemokratie" bezeichnete planmäßige Steuerung der Wirtschaft durch Gewerkschaften unter Assistenz des Staates zeigen, daß die Gesellschaft als kollektives Subjekt gesehen wird, dessen Interessen die Gewerkschaften kennen und zu vertreten haben. Die Analogie zur kommunistischen Partei, die der marxistischen Gesellschaftstheorie zufolge die 'wahren' Interessen der Gesellschaftsmitglieder kennt und durchsetzt, ist offensichtlich. b. Die zweite Phase: Indirekte Investitionslenkung, „ vorausschauende " Strukturpolitik und Expansion der Mitbestimmungsforderungen Die zweite Phase reicht von den sechziger Jahren bis zum weltweiten Niedergang des Sozialismus Ende der achtziger Jahre. In dieser Phase rücken Gewerkschaften von einer 10 Diese Auffassung vertrat etwa der Göttinger Nationalökonom Wilhelm Kromphardt (1947). Der Zeitgeist spiegelt sich auch im Ahlener Wirtschaftsprogramm der CDU fiir Nordrhein-Westfalen vom 3.2.1947 (in: Politische Akademie Eichholz der Konrad-Adenauer-Stiftung 1969,193 ff.). 11 Darunter hat der DGB (1949, 318) verstanden: Bergbau, Eisen- und Stahlindustrie, Großchemie, Energiewirtschaft, Verkehrseinrichtungen, Kreditinstitute.

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ideologischen Entgegensetzung von Markt und Plan ab, ohne jedoch eine klare ordnungspolitische Position einzunehmen. Ausgehend davon, daß die Entscheidung für die Marktwirtschaft nicht reversibel ist, wird eine ideologische Mäßigung erkennbar. Ein weiterer Grund hierfür ist die Hinwendung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zur Marktwirtschaft im Godesberger Programm von 1959. Statt einer Polarisierung von Plan und Markt werden in den Grundsatzprogrammen des DGB von 1963 {DGB 1963, 6) und 1981 {DGB 1981, 221) Planung und Wettbewerb für notwendig gehalten. Eine kompromißlose Forderung nach Überführung wichtiger Industrien in Gemeineigentum taucht in diesen Grundsatzprogrammen nicht mehr auf. Stattdessen ist im Grundsatzprogramm von 1963 wenig präzise die Rede davon, Gemeineigentum habe „... eine entscheidende Bedeutung ... als Lenkungs- und Steuerungsmittel der Wirtschaft" {DGB 1963, 8). Diese Haltung des DGB besitzt den organisationspolitischen Vorteil, daß sich unterschiedliche gewerkschaftliche Strömungen unter dem Dach des DGB integrieren lassen: Der DGB paßt sich an die Soziale Marktwirtschaft an, ohne sie ordnungspolitisch letztlich zu akzeptieren. Von den sechziger bis in die achtziger Jahre bleibt die ordnungspolitische Position inkonsistent. Aus dem Grundsatzprogramm von 1981, das in wesentlichen Passagen nicht vom Grundsatzprogramm 1963 abweicht, ist keine größere Akzeptanz der marktwirtschaftlichen Ordnung ablesbar; Indizen sprechen sogar dafür, daß sich die Diskrepanz zur Marktwirtschaftsordnung vergrößert hat.12 Das Hauptmerkmal dieser Phase ist ein opportunistisches Arrangement ohne eine klare ordnungspolitische Akzeptanz. Die unklare ordnungspolitische Position hinsichtlich der grundsätzlichen Frage 'Markt oder Plan' erstaunt insofern, als Gewerkschaften in dieser Phase längst zu einem nicht nur wirtschaftlichen, sondern auch politischen Machtfaktor geworden waren und nicht davon ausgehen konnten, in anderen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen größeren Einfluß zu besitzen. Vor dem Hintergrund, daß Gewerkschaften im anderen Teil Deutschlands keinerlei wirtschaftliche oder gesellschaftliche Macht besaßen, sondern lediglich Appendix der kommunistischen Machthaber waren, kann die ordnungspolitische Haltung des DGB wohl nur damit erklärt werden, daß die sozialistische Ideologie verhinderte, daß der rasch zunehmende allgemeine Wohlstand in der Bundesrepublik Deutschland der Wirtschaftsordnung zugeschrieben wurde. Weiterhin zeichnet sich diese Phase durch eine Ausweitung des Forderungsspektrums aus, das - zum Beispiel - von der Fünf-Tage-Woche und dem Acht-StundenArbeitstag {DGB 1965) über den Bildungsurlaub {DGB 1971, 32) bis zur Schul- und Hochschulpolitik {DGB 1981, 234 ff.) reicht. Gefordert wird eine gewerkschaftliche Mitentscheidung in fast allen politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kultu-

12 So etwa heißt es in der Präambel: „Das Grundgesetz trifft keine Entscheidung fiir eine bestimmte Wirtschaftsordnung. Das Sozialstaatsgebot fordert aber eine an den Interessen der Arbeitnehmer orientierte Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch muß dem Wohl der Allgemeinheit dienen. Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwekke der Vergesellschaftung in Gemeineigentum überfuhrt werden" (DGB 1981, 212). Während im Grundsatzprogramm von 1963 die Möglichkeit zur Vergesellschaftung von Produktionsmitteln lediglich als Mittel zur Kontrolle wirtschaftlicher Macht figuriert, findet sich diese Möglichkeit im Grundsatzprogramm von 1981 in der Präambel und damit auf einem prominenteren Platz.

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rellen Fragen. Zentral aber bleibt die Forderung nach „Demokratisierung" der Wirtschaft. Im Unterschied zur ersten Phase wird allerdings keine direkte Investitionskontrolle angestrebt. Nun werden Modelle der indirekten Lenkung über eine Kooperation zwischen Unternehmen, Gewerkschaften und Staat gefordert. Ein „volkswirtschaftlicher Rahmenplan" habe die „...Koordinierung aller wirtschaftspolitischen Maßnahmen..." (DGB 1981, 221) sicherzustellen und „... Regional- und Branchenprojektionen zu einheitlichen Landesentwicklungsplänen und einem Bundesentwicklungsplan" (DGB 1981, 222) zusammenzufassen. Eine „differenzierte Investitionslenkung" soll durch sektorale und regionale Strukturpolitik durchgesetzt werden. Die gewerkschaftlichen Argumentationen suggerieren die Möglichkeit zu „vorausschauender" Strukturpolitik und lassen ordnungspolitisch gemäßigte wie radikale Strategien zu. Die Ersetzung der Forderung nach direkter Investitionslenkung durch eine „aktive", „vorausschauende" Strukturpolitik eröffnet den Gewerkschaften ein breiteres Spektrum des Agierens zwischen Markt und Plan. Allerdings: Eine „aktive", „vorausschauende" Strukturpolitik braucht sich in nichts von einer überbetrieblichen Investitionslenkung zu unterscheiden. Daß der Wettbewerb durch eine überbetriebliche Investitionslenkung stark eingeschränkt wird ist zwar unmittelbar ersichtlich. Doch auch eine „vorausschauende" Strukturpolitik mindert ihn, wenn Güterpreise zum Beispiel durch Subventionen beeinflußt werden, die ihrerseits die Investitionsneigung beeinflussen. Ob Investitionen so oder direkt staatlich gelenkt werden, das Ziel ist immer die Etablierung einer Produktionsstruktur, die sich von der wettbewerblichen unterscheidet und sich an den Interessen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen orientiert. c. Die dritte Phase: Gewerkschaften unter Veränderungsdruck Die dritte Phase gewerkschaftlicher Programmatik wird durch den Veränderungsdruck geprägt, dem die Gewerkschaften unterliegen, weil erstens durch den Zusammenbruch des Sozialismus ein Teil ihrer ideologischen Grundlage fragwürdig geworden ist, zweitens aus der Differenzierung der Arbeitnehmerinteressen sowie dem Strukturwandel organisationspolitische Probleme resultieren und drittens die Globalisierung des Wirtschaftens Anpassungen erfordert.13 So sollen Tarifautonomie und Flächentarifvertrag zwar weiterhin die Grundlage gewerkschaftlicher Arbeit darstellen, Tarifverträge müßten jedoch „... die differenzierten Bedürfnisse der Beschäftigten berücksichtigen sowie die unterschiedlichen Bedingungen der einzelnen Branchen und Unternehmen ..." (DGB 1996, 14). Eine grundsätzliche Veränderung der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung rückt in den Hintergrund, von sozialpolitischen Utopien und gewerkschaftlicher Allzuständigkeit wird Abschied genommen. Eindeutig sozialistische Forderungen sind nicht mehr auszumachen; im Unterschied zum ersten Grundsatzprogramm fehlt beispielsweise die Forderung nach Überführung von „Schlüsselindustrien" in Gemeineigentum, und Wirtschaftspolitik wird nicht mehr als „Kampfplatz" verstanden. Ordnungspolitisch höchst problematisch bleiben jedoch alle Ziele, die der gewerkschaftlichen Forderung nach „Demokratisierung" der Wirtschaft zugeordnet werden 13 Auf die beiden letzten Probleme verweist der DGB (1995a, 82, 97; 1996, 5) selbst.

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können. Dazu zählt insbesondere das Bestreben, über neue Mitbestimmungsrechte in die Produkt-, Forschungs-, Entwicklungs- und Standortpolitik der Unternehmen einzugreifen, und die Forderung nach einer gewerkschaftlich gelenkten Regionalpolitik (DGB 1995a, 84). Gefordert wird eine gesamtwirtschaftliche Mitbestimmung durch „... Einrichtung von Beiräten der gesellschaftlichen Gruppen bei Entwicklungs- und regionalen Beschäftigungsgesellschaften bis hin zu einem institutionalisierten System überbetrieblicher Mitbestimmung und Beratung für industrie- und regionalpolitische Dialoge" (.DGB 1995a, 93; DGB 1996, 15). Gewerkschaftliche Regionalpolitik soll Unternehmens- und betriebspolitische Entscheidungen in ein industrie-, arbeitsmarkt- und strukturpolitisches Konzept einpassen. Die regionalpolitischen Vorstellungen kommen den alten gewerkschaftlichen Ideologien wohl noch am nächsten und treffen auf ernstzunehmende Einwände: - Die Eingriffe in private Investitions-, Produktions-, Standort- und Beschäftigungsentscheidungen zielen auf ein übergreifendes korporatistisches Konzept der Planung der Wirtschaft. Mit der damit bezweckten Ersetzung des Wettbewerbs durch Regulierungen sind erhebliche volkswirtschaftliche Wohlfahrtseinbußen in Kauf zu nehmen. - Wer mit solcher Konzeption Machtkonzentrationen auf der Arbeitgeberseite in Schranken verweisen will, befindet sich auf falscher Fährte. Denn dagegen helfen keine überbetrieblichen Konzepte der Wirtschaftslenkung, sondern nur Wettbewerb und vor allem die Kontrolle des externen Unternehmenswachstums (Fusionskontrolle). - Wirtschaftsräte lösen nicht Probleme wirtschaftlicher Macht, sondern fuhren zur Machtkonzentration bei Funktionären. Funktionärsmacht unterliegt jedoch keiner Kontrolle, auch nicht der des Wettbewerbs. Eine Wirtschaftsrätedemokratie fuhrt mit großer Wahrscheinlichkeit viel eher dazu, daß Strukturen konserviert werden als daß die Zukunft innovativ angegangen wird.

2. Organisationspolitische Probleme und gewerkschaftliche Reaktionen Die größten Herausforderungen für gewerkschaftliches Handeln stellen die Globalisierung des Wirtschaftens, der Strukturwandel und die Differenzierung der Arbeitnehmerinteressen dar. a. Zunehmende Wettbewerbsintensität durch Globalisierung Die weltweite Zunahme der Waren- und Dienstleistungsexporte und der erheblich gestiegene grenzüberschreitende Einsatz insbesondere des Faktors Kapital kennzeichnen die Globalisierung. Eine ihrer wichtigsten Konsequenzen ist eine zunehmend weltweite Allokation auf den Güter- und Faktormärkten und - daraus resultierend - eine stärkere Geltung des Gesetzes von der Unterschiedslosigkeit des Preises. Der Wettbewerb verschärft sich, die Märkte werden bestreitbarer, die Nachfrage preiselastischer und die Preisbildungsspielräume verengen sich für die Unternehmen. Letzteres bedeutet zugleich, daß sich Lohnsteigerungen bei handelbaren Gütern schwerer überwälzen lassen.

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Eine weitere Folge ist die Beschränkung der nationalen Gestaltbarkeit institutioneller Rahmenbedingungen. Dieses wirtschaftliche Umfeld setzt gewerkschaftlicher Interessenvertretung viel engere Grenzen als in der Vergangenheit. Denn Globalisierung bedeutet internationale Konkurrenz der relativ immobilen Faktoren um die mobilen. Der relativ immobile Faktor Arbeit muß sich um die mobilen Faktoren Kapital und technisches Wissen bemühen, wenn er seine Einkommenschancen durch entsprechende Kombination mit Sachkapital und der damit einhergehenden Arbeitsproduktivität erhalten will. Hieraus folgt, daß fortgeschrittene Länder Bedingungen herstellen müssen, die für mobiles Kapital und mobiles technisches Wissen attraktiv sind. Statt sich dieser Entwicklung zu stellen, versuchen Gewerkschaften den Wettbewerb auszuschließen. Das prominenteste Beispiel ist die gewerkschaftliche Forderung nach Regulierung der Arbeitsbedingungen und -beziehungen im Baugewerbe, um der „... Gefahr des Lohn- und Sozialdumpings ..." auszuweichen, die aus „... der Liberalisierung des Welthandels, der zunehmenden Kapitalmobilität und der Globalisierung der Konzerne ..." (Baumann, Laux und Schnepf 1997, 135) resultiert. Der von der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) angestrebte Schutz vor Außenseiterkonkurrenz kann jedoch nicht allein durch eine Allgemeinverbindlicherklärung des Tarifvertrags gewährleistet werden. Denn dieser schreibt nicht die Arbeitsbedingungen jener (im Baugewerbe zahlreichen) Arbeitnehmer auf einem bestimmten Niveau fest, die von ausländischen Arbeitgebern nach Deutschland entsandt werden. Immerhin ist Gewerkschaften und Politik aber auf EU-Ebene das Kunststück gelungen, dieses Regulierungsproblem mit der EU-Entsenderichtlinie vordergründig (vordergründig, weil sich Schwarzarbeit schwer in den Griff bekommen läßt) zu meistern. Am 24. September 1996 ist die Entsenderichtlinie über Mindestvorschriften hinsichtlich der Löhne und Arbeitsbedingungen für zeitweilig entsandte Arbeitnehmer aus EU-Staaten von den EUArbeits- und Sozialministern verabschiedet worden. Aus Sicht der IG BAU war dies zwar insofern noch kein Durchbruch, als die Entsenderichtlinie nur Anwendung findet, wenn die am jeweiligen Standort herrschenden Arbeitsbedingungen zwingend sind, was in Deutschland eine Allgemeinverbindlicherklärung des Tarifvertrags seitens des Bundesarbeitsministers voraussetzt. Der deutsche Korporatismus löste allerdings auch dieses Problem: Der Tarifvertrag zur Regelung eines Mindestlohnes im Baugewerbe vom 2. Oktober 1996 wurde mit Wirkung vom 1. Januar 1997 für allgemeinverbindlich erklärt; seitdem müssen alle in- und ausländischen Arbeitgeber von im Inland beschäftigten Arbeitnehmern einen bestimmten Mindeststundenlohn14 zahlen. Die Politik hat diese Wettbewerbsbeschränkung mit den Worten gefeiert, nach langwierigen Verhandlungen sei es gelungen „... nun auch europaweit ein deutliches Zeichen gegen Lohndumping und seine verheerenden Folgen für die Arbeitnehmer zu setzen".15

14 Es handelt sich bei diesem Mindeststundenlohn um 17 DM in den alten und 15,64 DM in den neuen Bundesländern (Bundesministerium fiir Arbeit und Sozialordnung 1996). Dieser Mindestlohn (!) ist damit höher als der Facharbeiterecklohn beispielsweise in der Metallindustrie. Die Allgemeinverbindlichkeit ist für den Zeitraum vom 1.1.1997 bis zum 31.8.1997 erklärt worden. 15 So der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium fiir Arbeit und Sozialordnung, Horst Günter (Handelsblatt vom 25.9.1996, 3).

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Seltsamerweise findet in der Politik meist zwar der Freihandel Unterstützung, nicht jedoch die Freizügigkeit von Arbeitskräften. Die Politik versucht es stattdessen mit einem neuen Protektionismus. Arbeitnehmer aus EU-Ländem, die sich zu niedrigeren Löhnen anbieten wollen, dürfen dies nicht. Eine optimale internationale Arbeitsteilung und die wohlfahrtsfördernden Effekte des Freihandels werden dadurch zunichte gemacht. Wenn jedoch Länder wie Deutschland im Globalisierungsprozeß ihren Wohlstand behaupten wollen, müssen ordnungspolitisch akzeptable Lösungen gefunden werden. Dies setzt auch die gewerkschaftliche Akzeptanz einer erheblich größeren Lohndifferenzierung und die institutionelle Öffnung des Arbeitsmarkts für Wettbewerb voraus (Kapitel III. 4.). Zu den untauglichen Problemlösungen zählt hingegen das von der IG Metall vorgeschlagene ,3ündnis für Arbeit". 16 Denn sich als Global Player verstehende Unternehmen entziehen sich durch Abwanderung gewerkschaftlichen Strategien, die zu überhöhten Arbeits- und Sozialkosten fuhren. Ein staatlicherseits unterstützter Wettbewerbsschutz ändert hieran nichts, sondern verzögert nochmals notwendige Anpassungen, denen ein stark exportorientiertes Land wie Deutschland nicht ausweichen kann. b. Strukturwandel und Individualisierung der

Arbeitnehmerinteressen

Der Veränderungsdruck, dem Gewerkschaften unterliegen, entsteht des weiteren aus dem raschen Strukturwandel und der Individualisierung der Arbeitnehmerinteressen. Gewerkschaftsvertreter selbst haben erkannt, daß nach dem Ende der Massenproduktion „im internationalen Wettbewerb ... Qualität, Eingehen auf spezielle Kundenwünsche und Flexibilität Trumpf' (Lang und Unterhinninghofen 1992, 180) sind. Sie tun sich jedoch schwer, daran angepaßte Formen der Arbeitsorganisation zu akzeptieren. Große organisationspolitische Probleme resultieren aus dem Trend zur Dienstleistungsgesellschaft, der die Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten als überholt erscheinen läßt. Die Tarifparteien in der Chemischen Industrie haben hierauf zwar zuerst reagiert und 1987 einen Entgelttarifvertrag für Arbeiter und Angestellte abgeschlossen. Insgesamt gesehen haben Gewerkschaften jedoch mit der Anpassung an den Strukturwandel und den differenzierter gewordenen Arbeitnehmerinteressen Schwierigkeiten; sie verstehen sich noch immer als „Industriegewerkschaften" - worin ein Grund für die rückläufige Mitgliederentwicklung (Niedenhoff und Pege 1997, Tabelle 214 ff.) liegt. Während der gewerkschaftliche Organisationsgrad im schrumpfenden industriellen Sektor relativ stabil bleibt, nimmt er im wachsenden Dienstleistungssektor ab; immerhin ist noch jeder zweite Arbeiter Gewerkschaftsmitglied, hingegen nur jeder

16 Zur Kritik siehe Dichmann (1995b). Pohl (1996,4) weist zu Recht für die neuen Bundesländer darauf hin, daß der IG-Metall-Vorschlag kontraproduktiv ist, weil er den Lohnkostenüberhang zementiert, ein wirkliches Bündnis fiir Arbeit aber auf eine Senkung der Lohnkosten zielen müßte. Wohin es führt, wenn der Staat zum ausführenden Organ kollektiver Interessen wird, zeigt sich besonders deutlich in Hessen: Dort versucht die IG BAU den Unternehmen eine „Tariftreueerklärung" abzuringen, um den Verdrängungswettbewerb einheimischer durch ausländische Arbeitskräfte einzudämmen, und das Land Hessen schließt seit 1993 Unternehmen, die das geltende Tarifrecht nicht anwenden, von der Vergabe von Aufträgen oder finanziellen Zuwendungen des Landes aus (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19.4.1997, 16).

686 • Werner Dichmann fünfte Angestellte (Schnabel 1995, 55). Wie diese Entwicklung zeigt, bricht die Mitgliederbasis weg, wenn Gewerkschaften sich nicht an den Strukturwandel anpassen und neue Formen der Arbeitsorganisation akzeptieren, die der (internationale) Wettbewerb und die individuellen Interessen der Arbeitnehmer erfordern.

3. Zur Bedeutung von Gewerkschaften im Rahmen von Verbandstarifverträgen Den mit Abstand bedeutendsten wirtschaftlichen Einfluß besitzen deutsche Gewerkschaften noch immer im Rahmen der Tarifautonomie in ihrer Eigenschaft als Tarifträgerverbände. In Deutschland existiert zwar das Gesetz über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen vom 11. Januar 1952, es räumt jedoch der Festlegung von Löhnen und Arbeitsbedingungen durch Tarifverträge Vorrang ein und ist bislang noch nicht angewendet worden (Lorenz und Clasen 1997, 6). Die große wirtschaftliche Bedeutung der Verbandstarifverträge - und damit zugleich auch des gewerkschaftlichen Einflusses auf Löhne und Arbeitsbedingungen - geht aus einer Untersuchung des Instituts für Mittelstandsforschung (1997, 93 ff.) hervor. Das Institut hat in einer Sonderauswertung des Tarifregisters des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung ermittelt, in welchem Umfang Firmentarifverträge (bei Firmentarifverträgen sind einzelne Arbeitgeber und Gewerkschaften die Vertragsparteien) angewendet und welche Tarifbestandteile abweichend vom FlächentarifVertrag vereinbart werden. Nach dieser Untersuchung kommt betriebsspezifischen Regelungen durch Abschluß von Firmentarifverträgen weder in quantitativer noch in qualitativer Hinsicht größere Bedeutung zu; das Institut spricht von einer „... überragenden Bedeutung des Flächentarifvertrags".

III. Gewerkschaften und Tarifautonomie in evolutorischer Perspektive 1.

Tarifautonomie: Eine Spielregeln schaffende Institution

Institutionen sind, folgt man North (1990, 2 ff.), die Spielregeln einer Gesellschaft, denen sich die Menschen freiwillig unterwerfen. Sie sind handlungsbegrenzende Regeln, die die mit menschlichen Interaktionen entstehenden Unsicherheiten reduzieren, indem sie die Menge der Wahlmöglichkeiten der Individuen begrenzen. Diese Begrenzung der Handlungsmöglichkeiten bestimmt insofern den 'Pfad' des ökonomischen Wandels, als das potentielle Reaktionsspektrum auf neuentdeckte Möglichkeiten eingeschränkt wird. Indem die Tarifautonomie die Löhne und Arbeitsbedingungen weitgehend bestimmt, schafft sie die Spielregeln auf dem Arbeitsmarkt. Warum unterwerfen sich Wirtschaftssubjekte den Spielregeln der Tarifautonomie? Mögliche Gründe können auf Arbeitgeberseite das Bestreben sein, Transaktionskosten einzusparen, die bei einzelvertraglicher Aushandlung von Arbeitsverträgen anfielen, den Verteilungsstreit von den Betrieben

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fernzuhalten, für die Laufzeit des Tarifvertrags durch die damit verbundene Friedenspflicht Kalkulationssicherheit zu erreichen und aufgrund der Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband nicht allein der geballten Macht einer Gewerkschaft gegenüberzustehen und Zugang zum Streikfonds des Arbeitgeberverbandes zu erhalten. Auf Arbeitnehmerseite kommen - neben der Inanspruchnahme von gewerkschaftlichen Dienstleistungen wie der Rechtsberatung - für einen Gewerkschaftseintritt vor allem zwei Erwägungen in Betracht: zum einen, sich vor einer (angeblichen) Ausbeutung des Arbeitgebers zu sichern, zum andern und vor allem aber, in den Genuß jener Quasi-Renten17 zu kommen, die aus von der Gewerkschaft durchgesetzten Wettbewerbsbeschränkungen auf dem Arbeitsmarkt resultieren. Mit Ausnahme des Transaktionskostenarguments laufen alle Argumente darauf hinaus, daß die Institution Tarifautonomie Unsicherheit reduziert, weil sich nach Abschluß von Tarifverträgen die Menge der Handlungsmöglichkeiten reduziert. Dadurch, daß die Tarifparteien den einzelbetrieblichen Handlungsspielraum im Bereich der Löhne und Arbeitsbedingungen abstecken, stabilisieren sie - vorausgesetzt, die Tarifparteien stellen die Einhaltung ihrer vertraglichen Abmachungen seitens ihrer Mitglieder sicher - die Handlungserwartungen der Beteiligten. Die Institution Tarifautonomie schafft insofern 'Vertrauen', als die Beteiligten voneinander erwarten können, daß sie den tariflich geschaffenen Regeln folgen. Da die Institution den Handlungsbereich ihrer Mitglieder einengt, begrenzt sie zugleich die Möglichkeit, auf erwartete oder unerwartete Veränderungen der Umwelt zu reagieren. Bei veränderter Umwelt verhindert die Institution während der Zeit ihrer Beachtung, daß Mitglieder Handlungsmöglichkeiten wahrnehmen, die diese als 'besser' erkannt haben, die aber nicht innerhalb des abgesteckten Handlungsspielraums liegen. Insofern präformiert die Tarifautonomie den wirtschaftlichen Wandel. Kehrseite der zunächst Vertrauen schaffenden tariflichen Normen kann folglich eine suboptimale Reaktion auf erkannte wirtschaftliche Chancen oder Umweltänderungen sein. Sind solche suboptimalen Reaktionen von Dauer, so zerstören sie möglicherweise die Institution. Dies ist der Fall, wenn sich ihre Mitglieder nicht mehr an die von der Institution gesetzten Spielregeln halten können, weil dies ihr (wirtschaftliches) Überleben gefährdete. Zwei Reaktionsmöglichkeiten stehen dann zur Verfugung: Verstöße gegen die von der Institution gesetzten Spielregeln trotz weiterer Mitgliedschaft oder Austritt aus der Institution. Im ersten Fall büßt die Institution an handlungsnormierender Kraft ein. Im zweiten Fall zerbricht sie vor aller Augen. Damit stellt sich einerseits die Frage nach den Bestimmungsfaktoren für die bislang (noch) zu konstatierende Dauerhaftigkeit der Institution und andererseits nach den Gründen institutionellen Wandels.

17 Im folgenden werden nicht-ökonomische und ökonomische Quasi-Renten unterschieden. Letztere werden trotz vorhandenen Wettbewerbs realisiert; sie stören nicht die Evolution des Wirtschaftssystems, sondern stellen im Gegenteil Anreize für (Humankapital-) Investitionen dar. Hingegen werden als nicht-ökonomische Quasi-Renten jene Renten (hier verstanden als Lohnbestandteile) bezeichnet, die durch Regulierungen seitens des Staates, kollektiver Interessenvertretungen oder durch die Rechtsprechung vor wettbewerblicher Erosion (zeitweise) geschützt werden.

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2. Bestimmungsgründe für die Dauerhaftigkeit der Institution a. Transaktionskostenersparnisse

als Bestimmungsgrund?

North (1988) erklärt die Dauerhaftigkeit von Institutionen, denen sich die Wirtschaftssubjekte freiwillig unterwerfen, mit der Höhe der Transaktionskosten: Die Wirtschaftssubjekte unterwerfen sich einer Institution, wenn dadurch die Transaktionskosten niedriger sind. Überträgt man diesen Ansatz auf die Tarifautonomie, so stellt sie sich als ein ökonomisch effizienter Verhandlungsmechanismus zur Lohnfindung und Festsetzung der Arbeitsbedingungen dar, wenn sie gegenüber alternativen Lohnverhandlungssystemen geringere Kosten verursacht. Ist dies so und wird dieser Vorteil nicht durch Nachteile, die sich aus Inflexibilitäten ergeben, überkompensiert, dann könnte dies die Stabilität der Institution erklären. Tarifverträge werden dieser Hypothese zufolge abgeschlossen, weil sie durch Standardisierung von Arbeitsverträgen die Häufigkeit von Vertragsabschlüssen reduzieren. Durch ihre Transaktionskostenersparnisse könnte die Tarifautonomie gesamtwirtschaftlich effizient und, wenn dies zuträfe, eine jener Institu18 tionen sein, die sich spontan herausgebildet haben. Eine solche positive Sicht könnte vor allem für die 50er und 60er Jahre zutreffend sein (Dichmann 1992a, 30 ff., 34 ff.), für die dem tariflichen Handlungssystem keine beschäftigungsschädlichen Wirkungen nachgewiesen werden können. Das Transaktionskostenargument vermag die Stabilität der Institution allerdings nur dann vollständig zu erklären, wenn - der tarifliche Verhandlungsmechanismus nicht durch Staat und/oder Rechtsprechung gegenüber individualvertraglichen Abmachungen privilegiert wird, - individuelle Arbeitsverträge nicht durch kollektive (gewerkschaftliche) Drohpotentiale verhindert werden und - einzelvertragliche Abmachungen der Wirtschaftssubjekte nicht durch Ideologien erschwert oder verhindert werden. Wie die Überlegungen der nächsten drei Abschnitte zeigen, ist keine dieser Voraussetzungen erfüllt. Das freilich bedeutet nicht, daß Transaktionskostenerspamisse aufgrund kollektiver Verhandlungen für die Stabilität der Institution Tarifautonomie und der dahinterstehenden Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände keine Rolle spielen. Denn wir wissen nicht, welches Gewicht Transaktionskostenerspamisse für die Stabilität der Institution haben. Dieses Wissen kann einzig der Wettbewerb generieren (dazu Kapitel IV.4.b.). b. Privilegierung durch Staat und Rechtsprechung Privilegierungen kollektiver Interessen durch Staat und/oder Rechtsprechung können ein wesentlicher Bestimmungsgrund für deren Entstehen, Wachstum und Dauerhaftigkeit sein. Olson (1985a, insb. 42 ff.) hat dargelegt, daß relativ große Gruppen auf größe18 Diese Analogie zu von Hayeks Idee der spontanen Ordnung klingt zum Beispiel bei Fels (1988, 213, 221) an.

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re Schwierigkeiten stoßen, ihre Interessen zu verwirklichen als kleine, falls nicht Zwang oder äußere Anreize eingesetzt werden. Große Gewerkschaften müßten Zwangscharakter haben, wenn sie ihre Hauptfunktion - die Bereitstellung des Kollektivgutes Tarifabschlüsse - erfüllen und überleben wollen. Wie Olson (1985a, 133 ff.) bemerkt, deckt sich diese theoretische Folgerung mit der Historie; charakteristischerweise begannen die Gewerkschaften zu expandieren, als sie die Macht eingeräumt bekamen, Arbeiter zum Eintritt in ihre Organisation zu zwingen. In dem Maße, in dem z.B. in Großbritannien der Obrigkeitsstaat seinen Einfluß auf den Arbeitsmarkt verlor, stiegen Produktivität und Reallöhne bei zugleich noch relativer Bedeutungslosigkeit der Gewerkschaften. Die Wende bahnte sich jedoch mit dem Trade Union Act von 1871 und dem Conspiration and Protection of Property Act von 1875 an; damit wurde den Gewerkschaften eine Sonderstellung eingeräumt, die individuelle Vertragsfreiheit wurde eingeschränkt. Nun expandierten die Gewerkschaften, die gesamtwirtschaftlichen Wachstumsraten aber wurden im internationalen Vergleich unterdurchschnittlich. Ab 1890 stagnierte die Reallohnentwicklung; die Wirtschaft wurde allmählich von der sogenannten 'Englischen Krankheit' befallen. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte relativiert diese Erkenntnisse nicht. Die heutigen rechtlichen Verhältnisse lassen zwar keine Closed-Shop-Praktiken zu, doch stattdessen wird subtiler reguliert. Nicht zufallig hat die Tarifautonomie in Deutschland bislang eine doppelte Sogwirkung (Diekmann 1992a, 27 f f , 116 ff.) entfaltet, obgleich die Organisation in Branchenverbänden wahrgenommen wird und der Organisationsgrad auf Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite nicht ungewöhnlich hoch ist: Zum einen erstreckt sich die Wirkung der Tarifverträge oft auch auf nicht tarifgebundene Arbeitsvertragsparteien, zum anderen besteht eine starke Tendenz zur brancheninternen sowie in abgeschwächter Form auch zur branchenübergreifenden Vereinheitlichung der Tarifvertragsinhalte. Ermöglicht wird diese Vereinheitlichungstendenz durch die Erschwerung von Außenseiterkonkurrenz über Rechtsinstrumente und überbetriebliche Drohpotentiale. Außenseiterkonkurrenz wird zum einen durch zwei Rechtsinstrumente, das Günstigkeitsprinzip und die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen, erschwert. Im Falle des Günstigkeitsprinzips wurde Außenseiterkonkurrenz bisher durch eine einseitige Interpretation der Rechtsprechung und Rechtswissenschaft erschwert: Nur für den (tarifgebundenen) Arbeitnehmer günstigere als die tariflichen Regelungen seien zulässig; das läuft darauf hinaus, daß vom tariflichen Niveau abweichende Regelungen auch dann für 'ungünstiger' erklärt werden, wenn sie Arbeitslosigkeit verhindern oder Voraussetzung für einen Markteintritt Arbeitsloser sind. Wegen der innerbetrieblichen Normierungswirkung der Tarifverträge werden auch Nicht-Gewerkschaftsmitglieder von den Auswirkungen dieser Interpretation erfaßt. Im Falle der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen wird der Staat zum verlängerten Arm der Tarifparteien, denn Tarifverträge werden nur auf Antrag - und dann fast immer (Dichmann 1992a, 189 ff.) - vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung für allgemeinverbindlich erklärt. Dadurch werden die Nonnen des Tarifvertrages innerhalb seines Geltungsbereichs auch für nichtorganisierte Arbeitgeber und Arbeitnehmer verbindlich.

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c. Gewerkschaftliche

Drohpotentiale

Die Durchsetzung der TarifVertragsinhalte und damit die Vereinheitlichung der materiellen Arbeitsbedingungen kann zweitens durch überbetriebliche Drohpotentiale erzwungen werden, sei es, daß sich Unternehmen durch die Gefahr, bestreikt zu werden, genötigt sehen, dem Arbeitgeberverband beizutreten,19 sei es, daß eine Gewerkschaft über - auch rechtswidrige - Streiks den Abschluß von Haustarifen durchsetzt. Gewerkschaften sind mitunter mächtig genug, die Tarifbedingungen durch rechtswidrige Streiks durchzusetzen. Wie massiv gewerkschaftliche Drohpotentiale auch gegen demokratisch gewählte Regierungen eingesetzt werden, hat zuletzt der 'Kohle-Kompromiß' des Jahres 1997 gezeigt. Anlaß der Entfaltung gewerkschaftlicher Macht war die Absicht der Bundesregierung, die Subventionen für die deutsche Steinkohle von 8,05 Mrd. DM in 1997 auf 3,8 Mrd. DM im Jahr 2005 zurückzufahren. Obgleich sich der Bundeskanzler nicht erpressen lassen wollte, kam es zu einem 'Kompromiß': Der Bund hat bis zum Jahr 2005 insgesamt 1,65 Mrd. DM mehr als geplant an Finanzierungshilfen für die Erzeugung von Strom aus deutscher Steinkohle, die Verhüttung von Stahl mit Kokskohle sowie künftige Stillegungen zu zahlen. Die Geschichte der Interessenverbände ist die Geschichte ihrer Machtbildung und ihrer Inkorporierung in den Staat. d. Ideologien Ideologien bestimmen wirtschaftliche Prozesse oft nachhaltig und werden von kollektiven Interessen deshalb als strategisches Instrument zur Erreichung organisationspolitischer Ziele eingesetzt. Gelingt kollektiven Interessen die Etablierung von Ideologien als gesellschaftlich weithin anerkannte Werturteile, so ist die mentale Basis der Rent-Seeking-Society geschaffen. Denn Kern der Ideologien sind konkrete Gerechtigkeitsvorstellungen, die die Forderung nach Einschränkung der individuellen Vertragsfreiheit zwecks Herbeiführung ganz bestimmter, rentensichernder Zustände implizieren. Eine herausragende Rolle spielt dabei die angebliche Besonderheit des Gutes Arbeit, die sich aus ethischen Erwägungen ergeben soll, letztlich aber auf einen Mißbrauch der Ethik (Dichmann 1992a, 205 ff.) hinausläuft. Diese Besonderheit dient - neben der Behauptung, der Arbeitnehmer könne faktisch aus der individuellen Vertragsfreiheit wenig Nutzen ziehen - der Rechtfertigimg, den Arbeitsmarkt als wettbewerblichen Ausnahmebereich zu behandeln (im einzelnen Dichmann 1989, 32 ff.). Die Rechtswissenschaft hat in Deutschland an die Argumentation von der Besonderheit des Gutes Arbeit angeknüpft (im einzelnen Dichmann 1992a, 184 ff.). Typisch hierfür ist ein irrationales Vertrauen auf ein allgemeinwohlforderndes Handeln der Tarifparteien. Wegen dieser Wertsetzungen billigen noch immer viele Rechtswissenschaftler den Tarifparteien staatliche Hilfe zur Verhinderung von Außenseiterkonkurrenz zu. Solange die Rechtswissenschaft ignoriert, daß das Recht auf negative Koalitionsfreiheit faktisch 19 Im Streikfall wird verbandlich organisierten Unternehmen ein Teil der durch den Streik entstandenen Verluste aus dem Streikfonds des Arbeitgeberverbandes erstattet.

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nur einlösbar ist, wenn Tarifparteien, die ein Anspruchsniveau determinieren, Außenseiterkonkurrenz ausgesetzt sind, läuft ihr Engagement für den angeblichen Schutz des 'Schwächeren' im Ergebnis auf den Schutz des angestrebten Anspruchsniveaus hinaus. Je mehr aber das Recht auf positive Koalitionsfreiheit mißbraucht wird, desto lauter wird die Forderung nach einem Recht auf Arbeit und einer entsprechenden Interpretation des Rechts der Berufsfreiheit. e. Fazit: Für den deutschen Arbeitsmarkt ist Olsons Diagnose lediglich insoweit zu erweitem, wie komplexe Übereinkommen nicht zuletzt auch zwischen Interessengruppen zustande kommen, dort nämlich, wo ihnen der Gesetzgeber normsetzende Kompetenzen zugesteht, also insbesondere in den Bereichen der Lohnpolitik, der Arbeitszeitpolitik sowie bei allen Regulierungsmöglichkeiten mit normsetzendem Charakter oberhalb der ge20

setzlichen Mindeststandards. Die Dauerhaftigkeit gewerkschaftlicher Interessenvertretung wird gestützt durch staatliche Subventionen und durch die Schaffung wettbewerbsbeschränkender (Rechts-) Regelungen. Beispiel für die erste Strategie sind die Subventionen der deutschen Steinkohle, Beispiele für die zweite Strategie Entsenderichtlinien und die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen. Der Staat in der Bundesrepublik Deutschland hat den Tarifparteien seit seinem Bestehen die (rechtlichen) Kompetenzen zur autonomen Gestaltung der Arbeitsbeziehungen übertragen, ohne daß dafür gesorgt worden ist, daß die Akteure für die Folgen ihres Handelns haften müssen. Bei lohnpolitisch induzierter Arbeitslosigkeit konnte es deshalb den Tarifparteien gelingen, dem Staat bzw. der Allgemeinheit der Steuerzahler die Folgen der sozialen Sicherung der Arbeitslosigkeit und die Kosten der Reintegration von Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt anzulasten. Für kollektive Interessenvertretungen sind dies ideale Entwicklungsbedingungen. Deren Ergebnisse sind geringe gesamtwirtschaftliche Wachstumsraten, eine Verschärfung der Insider-Outsider-Probleme auf dem Arbeitsmarkt und dauerhafte Arbeitslosigkeit (im einzelnen Diekmann 1992a, 162 ff., 172 ff.). Für eine arbeitsteilige Wirtschaft, in der „konstitutionelle Unwissenheit" 21 herrscht, sind Normen und Institutionen zwar erforderlich, weil sie prohibitiv hohe Transaktionskosten verhindern und dadurch Tauschakte ermöglichen. In einem mit kollektiven Interessen durchsetzten Wirtschaftssystem kann jedoch nicht erwartet werden, daß sich die Wirtschaftssubjekte für Spielregeln (Normen und Institutionen) deshalb entscheiden, weil sie die Transaktionskosten senken. Setzen sich - wie in Deutschland - kollektive Interessen durch, so wird ein Keil zwischen einzelwirtschaftliches Rationalverhalten 20 Als Beispiele seien hier nur die über den gesetzlichen Kündigungsschutz hinausgehenden tariflichen Rationalisierungsschutzabkommen genannt. 21 Der Ausdruck geht auf von Hayek zurück. In seinem erstmals 1967 veröffentlichten Aufsatz formuliert er: „Es scheint mir, als ob viele der Verhaltensweisen, die der Mensch entwickelt hat, insbesondere alle Regeln gerechten Verhaltens, solche Anpassungen an unsere konstitutionelle Unwissenheit wären" (von Hayek 1969, 171).

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und gesamtwirtschaftliche Effizienz getrieben. Dadurch wird die Evolution des Wirtschaftssystems massiv gestört - und vermutlich ist damit ein ordnungspolitisches Hauptproblem marktwirtschaftlicher Demokratien umschrieben.

3. Institutioneller Wandel a. Risikoallokation als Evolutionshemmnis und institutioneller

Sprengsatz

Unter evolutorischem Aspekt interessiert zunächst, ob das deutsche Lohnfindungssystem unter der Annahme ökonomisch rationalen Verhaltens der Akteure langfristig zu einer Risikoallokation fuhrt, die zum Evolutionshemmnis des Marktsystems wird und damit letztlich auch die Institution Tarifautonomie untergräbt. Die Risikoallokation hängt entscheidend davon ab, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein solches System Arbeitslosigkeit erzeugt. Der Median-Wähler-Ansatz 22 , der die für die deutschen Verhältnisse plausibelste Erklärung für die Inflexibilität der Reallöhne liefert, zeigt, daß Gewerkschaften die individuellen Präferenzen organisierter Individuen nur soweit berücksichtigen, wie sie mit dem kollektiven Interesse übereinstimmen, das vom MedianWähler bestimmt wird. Kollektive tendieren folglich zur Ausgrenzung der Interessen eines Teils ihrer Mitglieder. Unter bestimmten institutionellen Bedingungen bestehen für die Gewerkschaftsführung Anreize, die Tariflöhne über dem vollbeschäftigungskonformen Lohnsatz festzusetzen. Dabei wird realistischerweise unterstellt, die Gewerkschaftsführung sei an einer Wiederwahl interessiert, und die Median-Wähler-Mitglieder seien nicht vollkommen risikoavers und präferierten deswegen eine nicht mit Vollbeschäftigung vereinbare Lohn- und Tarifpolitik. Die Median-Wähler-Mitglieder verschaffen sich insofern Einkommensvorteile zu Lasten anderer Gewerkschaftsmitglieder und Arbeitsloser und verschlechtern auf diese Weise die Risikoallokation. Entfaltet die Tarifpolitik, wie in Deutschland, eine große Sogwirkung auf nichtorganisierte Arbeitnehmer, so werden auch sie getroffen. Die Verschlechterung der Risikoallokation wird durch die mangelnde Rückkopplung nichtbeschäftigungskonformer Tarifabschlüsse auf die Tarifparteien verstärkt. Diese mangelnde Rückkopplung ist die Folge einer über Steuern oder Abgaben finanzierten staatlichen Vollbeschäftigungsgarantie und/oder einer von der Gesamtheit der Beitragsund Steuerzahler getragenen sozialen Absicherung der Arbeitslosigkeit auf relativ hohem Niveau. Dies erschwert eine Internalisierung der Handlungsfolgen der Tarifparteien und erleichtert ihnen somit das Durchbrechen des für die Evolution eines Marktsystems elementaren Prinzips Haftung. Der erwähnte Effekt wird verstärkt, wenn - wie in Deutschland - betriebliche Drohpotentiale existieren, die eine Aneignung von Gewinnteilen überdurchschnittlich rentabler Unternehmen erleichtern und dadurch (Dichmann 1992a, 102 ff.) relativ wettbewerbsschwache Arbeitgeber benachteiligen, Innovationen dämpfen und den marktwirtschaftlichen Allokationsmechanismus durch Beschränkung

22 Eine knappe Darstellung dieses Modells und der Einschränkungen, denen es unterliegt, findet sich bei Hirsch, Addison und Genosko (1990, 26 ff.).

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der Wachstumsraten besonders wettbewerbsfähiger Unternehmen nachhaltig stören, was zugleich die gesamtwirtschaftliche Wachstumsrate und die Beschäftigung drückt. Daß ökonomisch rationales Handeln der Funktionäre der Tarifverbände in eklatantem Gegensatz zur beschäftigungspolitischen Ratio stehen kann, ist in der Nachkriegsgeschichte wohl niemals deutlicher geworden als in den Tarifverträgen, die in den neuen Bundesländern geschlossen worden sind. Die unter dem Aspekt der Produktivität und der voraussichtlichen Produktivitätsentwicklung der ostdeutschen Wirtschaft exorbitanten Lohnerhöhungen mußten das durch den Strukturbruch der ostdeutschen Wirtschaft ohnehin dramatische Beschäftigungsproblem nochmals verschärfen. Das beschäftigungspolitische Versagen der Tarifautonomie erklärt sich als Folge einer unheilvollen Allianz der Tarifparteien, die mit diesen Tarifverträgen ihre wenig beschäftigungskonforme Lohnpolitik auf die Spitze getrieben haben. In die durch die westdeutschen Tarifparteien bestimmten Verhandlungen ging das organisationspolitische Interesse der westdeutschen Gewerkschaften ein, durch die Hochlohnstrategie im Osten einen Druck auf die Tariflöhne in den alten Bundesländern zu unterbinden, sowie das Kalkül westdeutscher Arbeitgeber, Konkurrenz aus dem Osten möglichst lange auszuschalten (Sinn und Sinn 1992, 175 ff.; Dichmann 1991, 311 f f ) . Nachdem das Strohfeuer der Vereinigungskonjunktur niedergebrannt war, blieben Massenarbeitslosigkeit und hohe Aufwendungen für die soziale Absicherung der Arbeitslosigkeit und die Reintegration Arbeitswilliger in den Arbeitsmarkt zurück. Führt die Risikoallokation zu Massenarbeitslosigkeit, so untergräbt sie nicht nur die für die Existenz von Institutionen eminent wichtige Funktion der Reduzierung von bei menschlichen Interaktionen entstehenden Unsicherheiten, sondern produziert diese sogar selbst. Dadurch entfällt die Vorteilhaftigkeit der Institution, und sie wird zum Evolutionshemmnis. b. Bildung evolutionsstörender sozialer Normen Wenn eine wettbewerbliche Erosion von Quasi-Renten durch das Handeln von kollektiven Interessenvertretungen, Staat und Rechtsprechung eingeschränkt wird, dann werden die produzierten Güter und Dienstleistungen insofern zu Kollektivgütern, als bei ihrer Erstellung das free rider-Problem auftritt: Jeder Arbeitnehmer besitzt Anreize zur Verringerung seiner Arbeitsleistung. Auf der Grundlage stabilisierter Quasi-Renten bilden und verfestigen sich soziale Normen, die die Vorstellung eines 'fairen' oder 'gerechten' Lohns 23 oberhalb des Gleichgewichtslohns fördern. Es können sich Ansprüche auf Löhne, Arbeitsbedingungen usw. bilden, die sich aber aufgrund der Tätigkeit von kollektiven Interessen, Staat und Rechtsprechung durchsetzen lassen. Wie jede Norm, erzeugen auch die hier charakterisierten Normen Erwartungen: die Erwartung des Arbeitnehmers, daß Arbeitsplatzrisiken bei Leistungsverminderung rela-

23 Nach Akerlof (1980) kann eine solche Vorstellung als soziale Norm innerhalb von Arbeitnehmergruppen entstehen. Sie könne dazu führen, daß der Arbeitgeber keine Neueinstellungen unterhalb des „gerechten" Lohns vornehmen kann, wenn er die Kooperationsbereitschaft der bereits beschäftigten Arbeitnehmer nicht verlieren will.

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tiv gering bleiben, und die Erwartung des Arbeitgebers, daß bei Antasten der 'gerechten' Löhne und Arbeitsbedingungen die vorhandene Kooperationsbereitschaft der Arbeitnehmer zurückgeht. Diese gegenseitigen Erwartungen reduzieren auch die Unsicherheit - allerdings auf eine produktivitätsschädigende Weise. Als 'fair' wird der Status quo und seine Verbesserung empfunden, als 'unfair' der Einsatz des Weisungsrechts des Arbeitgebers zur Beseitigung innerbetrieblicher Ineffizienzen. Hierdurch entsteht in demokratischen Gesellschaften und in Marktwirtschaften ein kurzfristig kaum eliminierbares Evolutionshemmnis. Solchen Gesellschaften wird die 'unsichtbare Hand' genommen, die durch individuelles Nutzenkalkül das Handeln der Wirtschaftssubjekte so lenkt, daß Ressourcen gespart werden, der technische Fortschritt vorangetrieben und der allgemeine Wohlstand fortlaufend vermehrt wird. Die Ressourcen werden dann nicht der ertragreichsten produktiven Verwendung zugeführt. c. Zunehmender Wettbewerbsdruck Neben der erwähnten Risikoallokation und der Bildung evolutionsstörender sozialer Normen fuhrt eine erhöhte Wettbewerbsintensität zu institutionellem Wandel. Mit Hilfe der Tarifautonomie gelingt es wegen des internationalen Wettbewerbs immer weniger, Normen durchzusetzen. Tarifgebundene Unternehmen können sich oft nicht mehr innerhalb des durch die Tarife abgesteckten Handlungsspielraums bewegen, wenn sie im (internationalen) Wettbewerb überleben wollen. Das zersetzt - auf Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite - das Vertrauen in die Regelungskraft der Institution. Die institutionell erzeugte Erwartungssicherheit schwindet unter den neuen Bedingungen. Die Folgen sind: - Verbandsaustritte oder unterbleibende Eintritte;24 - Normverstöße tarifgebundener Unternehmen zwecks Existenzsicherung;25 - eine größere Akzeptanz der Beschäftigten gegenüber betriebsindividuellen Arrangements von Löhnen und Arbeitsbedingungen. Verstärkt wird dieser Erosionsprozeß dadurch, daß der Staat neuerdings weniger zur Stabilisierung der Tariflöhne beiträgt.26 24 In Ostdeutschland koppeln sich vor allem kleine und mittlere Unternehmen vom Flächentarifvertrag ab. Diese Entwicklung tangiert Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände unmittelbar. Massive Gewerkschaftsaustritte in den neuen Bundesländern (iwd vom 10.4.1997, 8) signalisieren, daß die gewerkschaftliche Strategie einer möglichst schnellen Angleichung der Tariflöhne in den neuen an die in den alten Bundesländern ungeachtet der Beschäftigungskonsequenzen für Arbeitnehmer immer unattraktiver wird. Eine vergleichbare Entwicklung vollzieht sich auf Arbeitgeberseite. Auch bei den Arbeitgebern sinkt der Organisationsgrad. 25 Für die neuen Bundesländer ist die relativ hohe, die Lohnkomponente betreffende Dunkelziffer charakteristisch. 26 In diesem Zusammenhang sind vor allem von Bedeutung: (1) die Erhöhung der Schwellenwerte im Kündigungsschutzgesetz von 5 auf 10 Beschäftigte mit dem seit dem 1.10.1996 geltenden Arbeitsrechtlichen Beschäftigungsförderungsgesetz, (2) die seit dem 1.4.1997 vorgenommene Anrechnung von bei Beendigung von Arbeitsverhältnissen anfallenden Abfindungen auf das Arbeitslosengeld, (3) die durch anhaltend hohe Arbeitslosigkeit und das staatliche Bestreben, die Maastricht-Kriterien auch hinsichtlich der Verschuldung einzuhalten, eingeschränkten Möglichkeiten zur Absicherung der Ar-

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Fraglich ist, ob sich der Erosionsprozeß mit den bisher von Gewerkschaften favorisierten Instrumenten aufhalten läßt. Die IG Metall hat zum Beispiel die seit 1994 gültige ostdeutsche Härtefallregelung 1997 auch für westdeutsche Unternehmen ins Auge gefaßt {Handelsblatt vom 14./15.2.1997). Auffällig ist auch, daß die seit je besonders militante Industriegewerkschaft Medien - Druck und Papier, Publizistik und Kunst (IG Medien) eine Öffnungsklausel akzeptiert hat, die bei Betrieben mit bis zu 35 Beschäftigten Lohnabschläge um bis zu drei Prozent ohne gewerkschaftliches Vetorecht zuläßt (Handelsblatt vom 7.2.1997, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7.2.1997). Solche nachträglichen Legalisierungen des ohnehin bereits Faktischen können als Versuche der Tarifparteien gedeutet werden, die Dunkelziffer zu drücken und die kollektive Regelungskompetenz der Tarifautonomie zurückzuerobern. Vor dem Hintergrund der schwindenden Erwartungssicherheit hinsichtlich der Entlohnung wird im übrigen plausibel, weshalb Gewerkschaften zunehmend an beschäftigungssichemden Tarifverträgen interessiert sind. Die Erwartungssicherheit, die hinsichtlich der Lohnkomponente wegen kurzfristig erforderlicher betrieblicher Flexibilisierungen unter die tariflich vereinbarten Normen beeinträchtigt wird, versuchen Gewerkschaften über Vereinbarungen zur Beschäftigungssicherung wieder zu erhöhen.27 Weil aber solche Vereinbarungen in die originäre Entscheidungskompetenz des Arbeitgebers eingreifen und deshalb verfassungsrechtlich bedenklich sind, bedarf es tariflicher Öffnungsklauseln, damit entsprechende Vereinbarungen auf betrieblicher Ebene via Betriebsvereinbarungen getroffen werden können. Damit solche beschäftigungssichemden Vereinbarungen zustande kommen, sind Gewerkschaften zu Zugeständnissen hinsichtlich der in ihrer Kompetenz liegenden Fragen der Entlohnung und der Arbeitszeiten gezwungen. 28 Je mehr zum Beispiel die Arbeitsplatzsicherheit durch Schutz vor betriebsbedingten Kündigungen erhöht wird, um so mehr betriebliche Flexibilität - und folglich: um so weniger Erwartungssicherheit - erfordert der Wettbewerb an anderer Stelle, zum Beispiel bei den Löhnen und Arbeitszeiten.

beitslosigkeit auf bisherigem Niveau, zu einer expansiven 'aktiven' Arbeitsmarktpolitik sowie zur Subventionierung von durch Strukturwandel und internationalen Wettbewerb besonders hart getroffenen Branchen. 27 Der erste Verbandstarifvertrag zur Beschäftigungssicherung wurde am 5.3.1994 in der niedersächsischen Metall- und Elektroindustrie geschlossen und in den anderen westdeutschen Tarifgebieten übernommen. Seit 1996 sind in vielen Branchen tarifvertragliche Vereinbarungen zur Beschäftigungssicherung getroffen worden. 28 Beispielsweise gestand die Gewerkschaft Textil-Bekleidung (GTB) seit 1996 eine betriebliche Öffnungsklausel zu, nach der die vereinbarte Lohnerhöhung von 1,5 Prozent bis zu einem Jahr ausgesetzt werden konnte, wenn im gleichen Zeitraum auf betriebsbedingte Kündigungen verzichtet wurde (Handelsblatt vom 22.1.1997). In der Druckindustrie existiert seit 6.2.1997 ein Manteltarifvertrag, der die Samstagsarbeit wieder einfuhrt und eine Öffnungsklausel für Kleinbetriebe enthält; sie läßt eine Senkung des 13. Monatsgehalts auf 60 Prozent zu und ist seitens der Tarifkommission der IG Medien charakteristischerweise als „Preis für die Erhaltung des Flächentarifs" (Frankfurter Allgemein Zeitung vom 12.2.1997, Handelsblatt vom 7.2.1997) bezeichnet worden.

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4. Die ordnungspolitische Aufgabe: Sicherung der Evolutionsfahigkeit des Marktsystems Ordnungspolitische Aufgabe ist die Sicherung der Funktions- und Evolutionsfähigkeit des Marktsystems. Bevor ein darauf abgestellter Reformvorschlag unterbreitet wird, sei kurz auf einige untaugliche Vorschläge eingegangen. a. Zu einigen untauglichen

Lösungsversuchen

Es liegt nahe, die Tarifnormen innerhalb des bisherigen Lohnfindungssystems flexibler an wechselnde betriebliche Umwelterfordernisse anzupassen, indem man eine ex ante- oder eine ex post-Differenzierung der Tarifautonomie zuläßt. Eine ex post-Differenzierung läßt sich durch (gesetzliche oder tarifliche) Öffnungs- oder Härteklauseln nach Abschluß eines Flächentarifvertrags erzielen. So hat der Sachverständigenrat (1996/97, Ziffer 325) für betriebliche Öffhungsklauseln plädiert, wenn Unternehmensleitung, Betriebsrat und die Mehrheit der Belegschaft zustimmen. Wenn jedoch die Unternehmen hierbei nachweisen müssen, daß die Zahlung der Tariflöhne in den Konkurs fuhren kann, würde sie dies gegenüber Banken, Kunden und Lieferanten diskreditieren. Eine reservierte Einstellung gegenüber einer ex post-Differenzierung legen auch die Erfahrungen mit Härteklauseln in Ostdeutschland nahe. Zum Beispiel war die Härteklausel in der sächsischen Metall- und Elektroindustrie so konstruiert, daß sie nur angewendet werden konnte, wenn nicht nur die Betriebsparteien, sondern auch beide Tarifparteien einen 'Härtefair, insbesondere zur Abwendung einer drohenden Insolvenz, konstatierten. Trotz der dramatischen Ertragssituation ostdeutscher Unternehmen hat die Gewerkschaft nur in wenigen Fällen (Sachverständigenrat 1993/94, Ziffer 124) ihre Zustimmung zu einer nachträglichen Korrektur der Abschlüsse gegeben. Eine ex ante-Differenzierung läßt sich über Tarifkorridore für alle Unternehmen oder solche mit bestimmten Merkmalen (zum Beispiel für neugegründete) erzielen. Ein Korridor ergibt sich beispielsweise, wenn in Anlehnung an Weitzmans Vorschlag (Weitzman 1987) der Lohn in eine fixe tarifliche Komponente und einen ertragsabhängigen Lohnbestandteil aufgespalten wird. Doch aus einer Reihe von Gründen (zusammenfassend Dichmann 1992a, 242 ff.), vor allem wenn Betriebsräte (Betriebsgewerkschaften) an einer machtbedingten Erhöhung der Entlohnungsparameter interessiert sind, funktionieren solche Modelle nicht so, wie erhofft, was die Empirie bestätigt: Finnentarife liegen nicht signifikant unter Verbandstarifen {Meyer 1992), wobei bemerkenswert ist, daß die übertarifliche Entlohnung vor allem in Großbetrieben (Schnabel 1994) überdurchschnittlich ausfällt. Viel spricht dafür, daß die Problematik komplexer ist, als mancher Dezentralisierungsvorschlag wahrhaben will. Dieser Einwand trifft auch auf den Vorschlag (Brandt 1996, 158) einer Dezentralisierung des Lohnverhandlungssystems durch Verlagerung lohnpolitischer Entscheidungen von der regionalen auf die lokale oder betriebliche Ebene bei grundsätzlicher Beibehaltung der Tarifautonomie zu. Vorschnell wäre es aber, wenn man unterstellte, ein geringerer Zentralisierungsgrad sei in jedem Fall einzel- und/oder gesamtwirtschaftlich vor-

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teilhaft. Gesamtwirtschaftlich wünschenswert ist zwar eine Lohnpolitik, die sich unter Berücksichtigung der herrschenden Beschäftigungssituation am gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsfortschritt orientiert, flexible Reaktionen auf gesamtwirtschaftliche Schocks zuläßt und Lohndifferenzierung ermöglicht. Es müssen jedoch auch andere Vor- und Nachteile unterschiedlicher Zentralisierungsgrade berücksichtigt werden. Eine zentrale Lohnbildung kann vorteilhaft sein, wenn dadurch Transaktionskosten eingespart, die Streikhäufigkeit - wie bislang in Deutschland29 - reduziert und der Verteilungsstreit aus den Betrieben herausgehalten werden kann. b. Ein institutioneller Rahmen für einen Wettbewerb der Verhandlungssysteme Die Evolutionsfahigkeit des Marktsystems hängt entscheidend davon ab, daß eine wettbewerbliche Erosion von Quasi-Renten nicht durch Interessengruppen, Staat und Rechtsprechung verhindert oder verzögert wird. Dies läuft darauf hinaus, daß die von der Arbeitsmarktordnung erzeugten Transaktionskosten des Beschäftigungswechsels30 von den Arbeitsvertragsparteien durch institutionelle Innovationen gesenkt werden können M Die Voraussetzungen für einen Wettbewerb der Verhandlungssysteme müssen durch dafür geeignete Rahmenbedingungen geschaffen werden; an die Stelle der Entscheidung für einen konkreten Verhandlungstyp rückt dann die Sicherung des Wettbewerbs zwischen verschiedenen Verhandlungstypen. Ein Wettbewerb der Verhandlungssysteme setzt zunächst voraus, daß der Staat nicht zugunsten eines bestimmten Verhandlungsmechanismus eingreift und das Recht auf negative Koalitionsfreiheit respektiert. Rechtliche Konstruktionen wie das Günstigkeitsprinzip32, müssen aus der Rechtsordnung entfernt werden. Solche Konstruktionen erschweren Außenseiterkonkurrenz. 29 Im internationalen Vergleich fällt in Deutschland relativ wenig Arbeitszeit durch Streiks aus (Institut der deutschen Wirtschaft 1996, Tabelle 150). Im Gegensatz zu Systemen relativ zentraler Lohnfindung haben Arbeitnehmer bei Firmentarifen Anreize, Streiks als Mittel der Informationsbeschaffung einzusetzen, wenn sie - wegen der asymmetrischen Informationsverteilung zwischen Management und Belegschaften - davon ausgehen, daß das Management die Kooperationsrente niedriger angibt, als sie tatsächlich ist. Dies spricht für eine niedrigere Streikhäufigkeit in relativ zentralen Lohnfindungssystemen. 30 Zu den in jeder Arbeitsmarktordnung vorhandenen Transaktionskosten des Beschäftigungswechsels zählen Informations-, Such-, Verhandlungs- und Einarbeitungskosten. Darüber hinaus existieren jedoch auch Transaktionskosten des Beschäftigungswechsels, die von der spezifischen Ausgestaltung der Arbeitsmarktordnung abhängen. Solche Kosten (zum Beispiel Kosten durch Sozialpläne, gesetzliche oder tarifliche Kündigungsschutzregelungen) erhöhen den Fixkostengrad der Arbeit und erschweren eine wettbewerbliche Erosion nicht-ökonomischer Quasi-Renten. Zu dieser Problematik Dichmann (1992a, 217 ff.). 31 Das bei spezifischen Humankapitalinvestitionen auftretende Opportunismusproblem läßt sich dabei durchaus auf der Basis der individuellen Vertragsfreiheit lösen. Zu Beispielen für solche Arrangements Diekmann (1992a, 220 ff.). 32 Nach § 4 III TVG sind vom Tarifvertrag abweichende einzelvertragliche Regelungen nur zulässig, wenn sie Änderungen zugunsten des Arbeitnehmers enthalten, d.h. die zwingenden Tarifnormen lassen für den Arbeitnehmer nur „günstigere" Arbeitsbedingungen zu. Doch was im Einzelfall „günstiger" ist, bestimmt nicht der betroffene Arbeitnehmer, sondern der Gesetzgeber. Dies kann dazu führen, daß Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz verlieren, weil ihnen die Rechtsordnung die Möglichkeit nimmt, ihn durch Lohnzurückhaltung zu erhalten.

6 9 8 • Werner Dichmann

Welche Regelungen günstiger sind, hat allein im Ermessen der von ihnen betroffenen Individuen zu stehen. Die Tarifbindung bei Verbandsaustritt (§ 3 III TVG) ist aufzuheben. Eine Aufhebung dieser 'Nachwirkung' ist erforderlich, damit die negative Koalitionsfreiheit als das Recht, von Verbandsnormen nicht betroffen zu sein, sofort nach Verbandsaustritt eingelöst und in der Folge Außenseiterkonkurrenz schneller wirksam wird. Außerdem ist § 77 III BetrVG 33 , der den Tarifvorrang zum Schutz der Tarifautonomie vorsieht, abzuschaffen. Die Eliminierung des Tarifvorrangs setzt allerdings auch die Eliminierung von kollektiven Drohpotentialen auf betrieblicher Ebene voraus. Denn nur unter dieser Voraussetzung kann der Betriebsrat die Initiativrechte, die ihm in Fragen der Entlohnung und der Arbeitsbedingungen nach Abschaffung von § 77 III BetrVG zuwachsen, nicht für fragwürdige Kompensationsgeschäfte 34 mißbrauchen. Hierdurch kann eine erhebliche Intensivierung von Verteilungskonflikten auf betrieblicher Ebene vermieden werden. Die Eliminierung betrieblicher Drohpotentiale stellt zugleich die Voraussetzung dafür dar, daß der Intention des Betriebsverfassungsgesetzes, zu einer Partnerschaft zwischen den Arbeitsvertragsparteien beizutragen, nicht entgegengewirkt wird. Ein Wettbewerb der Verhandlungssysteme wird unmöglich, wenn einem Partner Drohpotentiale zur Verfügung stehen, die ihn unabhängig von der komparativen Überlegenheit (zum Beispiel hinsichtlich von Transaktionskostenersparnissen) in die Lage versetzen, konkurrierende Systeme zu verdrängen. Das Streikrecht muß einzelvertraglich abdingbar sein. Dadurch wird es einer Bewertung der Arbeitsvertragsparteien zugänglich: Der Arbeitsuchende kann auf sein Streikrecht verzichten und dadurch in den Genuß eines höheren Eintrittslohns und arbeitgeberfinanzierter Humankapitalinvestitionen kommen oder aber das Streikrecht nicht veräußern und zunächst Lohnabschläge hinnehmen. Ein ähnliches Kalkül wird auch der Arbeitgeber anstellen. Für einen hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad dürfte allerdings die Unabdingbarkeit des Streikrechts von ausschlaggebender Bedeutung sein. Doch da a priori nicht entscheidbar ist, ob einzel- oder kollektivvertragliche Lösungen die effizienteren sind, muß eine an ökonomischer Effizienz orientierte Rechtsordnung entsprechende Individualverträge ermöglichen. Ob die Tarifautonomie ein effizienterer Verhandlungsmechanismus ist als der Individualvertrag, kann sich erst nach Abdingbarkeit kollektiver Drohpotentiale und der Garantie der Rechtsordnung herausstellen, daß das Recht auf negative Koalitionsfreiheit faktisch nicht dadurch entwertet wird, daß das Streikrecht zum Ausschluß jener Arbeitnehmer eingesetzt wird, die zu keiner individuellen Arbeitsniederlegung bereit sind. Von selbst versteht sich schließlich, daß Verhandlungen voneinander unabhängige Vertragsparteien erfordern, da sonst die Gefahr besteht, daß Verhandlungsergebnisse nicht den Vorteilskalkülen beider Vertragsparteien entsprechen. Deshalb verbieten sich

33 Für den Fall, daß der Tarifvertrag keine ergänzenden Betriebsvereinbarungen zuläßt, können nach § 77 III BetrVG Arbeitsentgelte und Arbeitsbedingungen nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung werden. 34 Zu solchen Kompensationsgeschäften Eich (1988).

Gewerkschaften und Tarifautonomie • 6 9 9

Modelle der Unternehmensorganisation, die die Gegnerfreiheit 35 durch Vertretung einer Vertragspartei in einem Entscheidungs- oder Kontrollorgan der anderen aufheben. c. Verfassungswidrigkeit

wettbewerbsausschließender

Regelungen

Die Sicherung der Evolutionsfähigkeit des Marktsystems erfordert schließlich, daß alle (Rechts-) Regelungen als nichtig zu gelten haben, über die sich überhöhte Löhne schaffen oder verteidigen lassen. Entsprechende Regelungen sollten als verfassungswidrig erklärt werden (Diekmann 1992b, 294): (1) Einschränkung oder Beseitigung der Konkurrenz zwischen Ressourcen mit gleichen Eigenschaften, 36 (2) Einschränkung oder Verhinderung der Substitution von Ressourcen durch qualitativ andere, (3) Einschränkung oder Verhinderung von Änderungen der Nachfrage oder - was auf dasselbe hinausläuft - Sicherung der Nachfrage nach jenem Output, der sich daraus ergibt, daß aus Gründen der Rentenstabilisierung Produktionsverfahren und Produkte beibehalten oder verändert werden. 37

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35 Ein Beispiel für fehlende Gegnerfreiheit ist der Arbeitsdirektor in der Montanindustrie: Nach der in dieser Branche geltenden Mitbestimmungsregelung ist der Arbeitsdirektor Vertreter der Arbeitnehmerschaft, der als Vorstandsmitglied gleichzeitig Unternehmensinteressen wahrzunehmen hat. 36 Zu dieser und der zweiten Kategorie von Regelungen gehören z.B. Allgemeinverbindlicherklärungen, Entsenderichtlinien, (tarifliche) Rationalisierungsschutzrechte für bestimmte Arbeitnehmergruppen. 37 Ein Beispiel für diese dritte Kategorie von Regelungen ist der sogenannte Jahrhundertvertrag in der Steinkohle.

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Zusammenfassung Der Weg vom ersten Grundsatzprogramm des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) aus dem Jahre 1949 bis zu seinem vierten Grundsatzprogramm des Jahres 1996 ist lang: Er reicht von einer klaren Absage an eine dezentral organisierte Marktwirtschaftsordnung und klassenkämpferischen Parolen bis zu einem pragmatischen, aber ambivalenten Arrangement. Auch in neuerer Zeit bleiben ordnungspolitisch gefahrliche Vorstellungen vor allem zur Industrie-, Struktur- und Regionalpolitik Teile des Programms. Die Forderungen nach 'Demokratisierung' der Wirtschaft durch umfassende Mitbestimmungsrechte von Arbeitnehmern und Gewerkschaften über unternehmerische Entscheidungen sind mit einer Marktwirtschaftsordnung unvereinbar. Der neue Pragmatismus scheint eher aus inneren Schwierigkeiten zu resultieren. Diese entstehen vor allem aus den Arbeitnehmerinteressen und aus dem Umstand, daß gewerkschaftlichen Strategien, die auf einen Ausschluß des Wettbewerbs auf dem Arbeitsmarkt zielen, wegen zunehmender Wettbewerbsintensität immer engere Grenzen gesetzt sind. Den größten wirtschaftlichen Einfluß nehmen Gewerkschaften nach wie vor in ihrer Funktion als Tarifträgerverbände wahr. Im Zentrum des Aufsatzes steht deshalb die Frage, ob gewerkschaftliches Handeln im Rahmen der Tarifautonomie Evolutionsstö-

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rungen des Marktsystems induziert. Gewerkschaften und Tarifautonomie werden als Spielregeln schaffende Institutionen aufgefaßt. Die Bestimmungsgründe für die Dauerhaftigkeit dieser Institutionen sowie fur ihren Wandel werden herausgearbeitet, bevor abschließend beantwortet wird, welche institutionellen Innovationen für die Evolutionsfähigkeit des Marktsystems erforderlich sind. Die ordnungspolitische Aufgabe besteht in der Sicherung der Evolutionsfähigkeit des Marktsystems. Ein institutioneller Rahmen muß geschaffen werden, der einen Wettbewerb der Lohnverhandlungssysteme und den Akteuren die Wahl des Systems ermöglicht, das ihnen am vorteilhaftesten erscheint. Erst dann kann sich herausstellen, ob die Tarifautonomie durch Einsparung von Transaktionskosten tatsächlich auch eine gesamtwirtschaftlich effiziente Institution sein kann. Ein solcher Wettbewerb erfordert, daß (1) der Staat auf Eingriffe zugunsten eines bestimmten Verhandlungsmechanismus verzichtet und die negative Koalitionsfreiheit auch faktisch garantiert, (2) die Rechtsprechung sich neutral verhält und freiwillige Regelungen der Vertragsparteien akzeptiert, (3) gewerkschaftliche Drohpotentiale vor Abschluß von Arbeitsverträgen einzelvertraglich abdingbar sind und (4) Drohpotentiale auf betrieblicher Ebene eliminiert werden und in Entscheidungs- bzw. Kontrollorganen der Unternehmen Gegnerfreiheit herrscht. Darüber hinaus sind alle (Rechts-) Regelungen als nichtig zu erklären, durch die sich Rentenpositionen schaffen oder verteidigen lassen.

Summary Trade Unions and Autonomous Collective Bargaining in Institutional and Evolutionary Perspective German trade unions and their peak organization (the Deutscher Gewerkschafts bund) have come a long way since their First Programmatic Platform of 1949 with its explicit denunciation of decentralized market economy and its class conflict vocabulary. Nevertheless, despite its pragmatic outlook, the DGB's Fourth Platform (Viertes Grundsatzprogramm) of 1996 still contains notions of industrial, structural and regional policy, which in terms of regulation policy are dangerous contraband cargo. Its call for the 'democratization of industry' in the shape of comprehensive co-decision rights for labour and its union representatives at the very heart of genuinely entrepreneurial decisionmaking does not square with market economy. The unions' new pragmatism apparently is due to difficulties at their organizational basis, especially to a disturbing trend towards individual articulation of work force interests and the subsequent decrease of organized labour membership - and to the fact that, in the light of globalization and its urge for competition, traditional union strategies devised to secure the labour market against competition find it increasingly difficult to prevail. Union influence on economy continues to be strongest, when it comes to collective bargaining. The present paper, therefore, concentrates on the question of whether union activities within the framework of collective bargaining may result detrimental to the evolution of the market system. Focussing on the situation in Germany, the institutional

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configuration of collective interest groups, state interference and legal framework constraints is analysed in an attempt at coming reality as close as possible. Labour organizations and collective bargaining are seen as 'institutions' generating rules of the game. The criteria, which enable these institutions to persist, as well as the conditions for their change are thrown into relief, followed by a discussion of the institutional innovations that are necessary, if the market system is to regain its evolutionary capacity. Regulation policy ought to make sure that the market system maintains its capacity for evolution. With regard to wage settlement systems this would imply creation of an institutional configuration allowing for different wage settlement systems to compete with each other and thus enabling actors to choose that system, which unto them seems most advantageous. Only then we can tell, whether the right to collective bargaining indeed may be looked at as a macroeconomically efficient institution. Competition of this sort requires that (1) the State desists from intervening in favour of certain negotiation mechanisms at the expense of others and in fact guarantees negative freedom of association, that (2) the judiciary remains neutral and accepts agreements freely negotiated by contracting parties, that (3) the threatening potential of unions may be ruled out by individual contract prior to the conclusion of employment contracts, and that (4) threatening potentials may be eliminated at company level and decision-making and controlling bodies in companies are not subject to co-decision bargaining. Furthermore, all (legal) regulations prone to allow for the creation or safeguarding of quasi rents should be declared void.

VIII. Gesellschaftliche Wertorientierungen und Wettbewerbsordnung

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1997) Bd. 48

Viktor Vanberg

Die normativen Grundlagen von Ordnungspolitik Inhalt I. Einleitung II. Ordnungspolitik als angewandte Ordnungsökonomik: Das Werturteilsproblem III. Ordo als „funktionsfähige und menschenwürdige Ordnung" IV. Prozeduraler Liberalismus und das Kriterium der freiwilligen Zustimmung... V. Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft VI. Leistungswettbewerb und Konsumentensouveränität VII. Konsumentensouveränität und konsensfähige konstitutionelle Interessen VIII. Schluß Literatur Zusammenfassung Summary: The normative Foundation of Ordnungspolitik

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I. Einleitung Es ist wohl unstrittig, daß das von Walter Eucken und Franz Böhm begründete ordnungstheoretische und ordnungspolitische Forschungsprogramm auf gewissen Wertannahmen darüber beruht, was als eine wünschenswerte Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung gelten kann. Sie betonen mit aller Deutlichkeit, daß es ihnen nicht allein darum geht, existierende Ordnungen zu untersuchen und ihre Funktionseigenschaften zu erklären, sondern darum, die Charakteristika einer wünschenswerten Ordnung der Wirtschaft aufzuzeigen,1 und daß sie eine wesentliche Aufgabe ordnungstheoretischer Analyse darin sehen, Orientierungshilfe in der Frage zu geben, wie „eine funktionsfähige und menschenwürdige Ordnung der Wirtschaft" (Eucken 1989, 240) beschaffen sein sollte. Nicht so unstrittig ist, wie man das dabei herangezogene normative Kriterium präzise fassen kann und wie der Wertbezug des Forschungsprogramms methodologisch zu beurteilen ist. Diese Frage hat häufig Anlaß zur Kontroverse und Kritik gegeben. So stellt etwa Gebhard Kirchgässner (1988, 53f.) fest: „Zumindest für den, der Ökonomik als wertfreie Wissenschaft im Sinne von Weber begreift, [stellt sich] die Frage, woher die Werturteile kommen und wie sie 'begründet' werden, die in ordnungspolitischen Argumentationen so selbstverständlich verwendet werden. Gibt es hier ein überlegenes Wis1

Siehe dazu insbesondere Eucken (1940, im folgenden zitiert nach der 9. Aufl., 1989, 238ff.; 1952, im folgenden zitiert nach der 6. Aufl., 1990, 372ff.), Böhm, Eucken und Großmann-Doerth (1937).

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sen, welches dem Ordnungstheoretiker zur Verfugung steht und welches ihn befähigt zu entscheiden, was für die Menschen gut ist und was für sie schlecht ist?" Anliegen des vorliegenden Beitrages ist es, die Frage der normativen Grundlagen des Freiburger Forschungsprogramms einmal genauer zu untersuchen, und zwar vor allem anhand der Schriften von Walter Euchen und Franz Böhm. Das Argument, das ich hier entwickeln möchte, besagt, daß dieses Forschungsprogramm seiner immanenten Logik nach auf eine angewandte Ordnungsökonomik hinausläuft, die Bürger von politischen Gemeinwesen, die vor der Frage der Ordnungswahl stehen, darüber berät, welche Regelungen für sie wünschenswert sind. Genauer gesagt: Ich werde zu zeigen suchen, daß dieses Forschungsprogramm letztlich auf die Ordnungsinteressen oder konstitutionellen Interessen der Bürger der jeweils in Betracht gezogenen Jurisdiktionen abstellt.2 Eine solche Interpretation erlaubt es, Schwierigkeiten zu vermeiden, die die Frage des Wertbezugs ordnungspolitischer Analyse aufgeworfen hat, und sie erleichtert es, eine Brücke zu schlagen zwischen dem Freiburger Forschungsprogramm und dem der constitutional political economics oder Konstitutionenökonomik, die durch die Arbeiten von James M. Buchanan angeregt worden ist.

II. Ordnungspolitik als angewandte Ordnungsökonomik: Das Werturteilsproblem In einem Beitrag über „Walter Euckens Ordnungsökonomik - heute" schlägt Erich Hoppmann (1995, 43) vor, die „übliche Zweistufigkeit von Ordnungstheorie und Ordnungspolitik" aufzugeben und stattdessen zusammenfassend von Ordnungsökonomik zu sprechen.3 Ich möchte dieser Anregung hier folgen, da sich, wie mir scheint, in der Tat gewisse Unklarheiten - insbesondere was die Rolle von Werturteilen in ordnungspolitischer Analyse anbelangt - vermeiden lassen, wenn man die herkömmliche Einteilung durch die Unterscheidung von theoretischer und angewandter Ordnungsökonomik ersetzt. Im Sinne dieser Unterscheidung kann man sagen, daß sich der theoretische Zweig der Ordnungsökonomik (die Ordnungstheorie) mit der Analyse und Erklärung der Funktionseigenschaften alternativer Rechts- oder Regelordnungen befaßt, während sich der angewandte Zweig (die Ordnungspolitik) mit der Frage befaßt, wie die Erkenntnisse der theoretischen Ordnungsökonomik zur Lösung praktischer Ordnungsprobleme beitragen können. Wenn sie auch nicht von theoretischer und angewandter Ordnungsökonomik sprachen, so hatten Eucken und Böhm doch ein dieser Unterscheidung entsprechendes Verständnis davon, wie sich die „Frage nach der Erkenntnis der Wirklichkeit" und die „Frage nach ihrer Gestaltung" (Eucken 1990, 341) als zwei Aufgaben der Sozialwissenschaften zueinander verhalten. Sie verstanden die „gestaltende Funkion" (Eucken 1990, 340) der Ordnungsökonomik als die einer sozialtechnologischen Anwendung ordnungstheoretischen Wissens, im Prinzip nicht unähnlich der technologischen Anwendung 2

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Mit dem Begriff der Jurisdiktion sind hier politische Gemeinwesen gemeint, die über Regelsetzungsund Ordnungswahl-Kompetenz verfugen. Auch Streit (1995, 1997) verwendet diese Bezeichnung.

Die normativen Grundlagen von Ordnungspolitik • 709 naturwissenschaftlichen Wissens, so wie es etwa Ingenieure bei der Konstruktion von Brücken oder anderen Bauwerken zur Lösung praktischer Probleme umsetzen. Ein solches Verständnis darf man wohl hinter einer Bemerkung Euchens (1990, 341) vermuten, Probleme sozialer Ordnungsgestaltung „durch 'Propheten' oder 'Demagogen' lösen zu lassen," sei „ebenso klug, wie den Bau von Brücken oder Maschinen 'Propheten' oder 'Demagogen' zu übertragen". Versteht man Ordnungspolitik als angewandte Ordnungsökonomik, als sozialtechnologische Anwendung ordnungsökonomischen Wissens zur Lösung sozialer Ordnungsprobleme, dann läßt sich das Werturteilsproblem im Sinne der Frage präzisieren, ob die Ordnungsökonomik ihre „gestaltende Funktion" (Euchen 1990, 340) wahrnehmen und einen Beitrag zum .Aufbau einer funktionsfähigen und menschenwürdigen Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft" (Eucken 1990, 369) leisten kann, ohne mit Max Webers Prinzip der Werturteilsfreiheit in Konflikt zu geraten.4 Wenn dieses Prinzip bedeuten würde, daß nur „die Frage nach der Erkenntnis der Wirklichkeit, nicht die Frage nach ihrer Gestaltung, ... Sache der Wissenschaft" sei (Eucken 1990, 341), so müßte man in der Tat einen Konflikt mit dem Anliegen einer angewandten Ordnungsökonomik vermuten. Aber besteht ein solcher Konflikt auch dann, wenn man das Prinzip der Werturteilsfreiheit in dem Sinne versteht, daß wertende Urteile darüber, was sein soll, von sozialwissenschaftlichen Urteilen über Sachverhalte strikt zu trennen sind und daß die Aufgabe der Sozialwissenschaften darin liegt, Aussagen der zweiten Art aufzustellen und zu überprüfen, nicht darin, Werturteile abzugeben?5 Für die Beantwortung dieser Frage ist es hilfreich, die in der Philosophie gebräuchliche Unterscheidung zwischen kategorischen Imperativen und hypothetischen Imperativen heranzuziehen. Im vorliegenden Kontext läßt sie sich übersetzen in die Unterscheidung zwischen unbedingten und bedingten Werturteilen. Kategorische Imperative oder unbedingte Werturteile sind Sollensaussagen, für die kategorische oder unbedingte Geltung beansprucht wird. Im Kontrast dazu sind hypothetische Imperative oder bedingte Werturteile Sollensaussagen, für die nur hypothetische oder bedingte Geltung beansprucht wird. Bedingte Werturteile in diesem Sinne sind Aussagen der Form: „Wenn man X will, sollte man Y tun." Es sind Urteile, die besagen, daß Y wünschenswert ist (getan werden sollte), wenn man unterstellt, daß X wünschenswert ist (sein sollte). Angewandte Wissenschaften stellen charakteristischerweise hypothetische Imperative oder bedingte Werturteile auf. Solche hypothetischen Imperative stellen technologische Umformungen von theoretischen Erkenntnissen über Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge dar, die einem Adressaten sagen, daß Y ein geeignetes Mittel ist, um X zu er4

Willgerodt und Peacock (1989, 5) meinen, daß Eucken und Böhm das Webersche Postulat der Werturteilsfreiheit eindeutig nicht akzeptiert hätten, und sie stellen über die Ordo-Liberalen fest: „Explicitly or implicitly they took value judgements as a starting point and a Standard." 5 Für eine ausfuhrliche Erörterung der Werturteilsfrage und der verschiedenen Interpretationen, die damit verbunden sind, siehe Albert (1965). - Eucken (1990, 340) stimmt ausdrücklich dem Urteil Max Webers zu, daß die „stete Vermischung wissenschaftlicher Erörterung der Tatsachen und wertender Räsonements ... eine der schädlichsten Eigenarten" in sozialwissenschaftlichen Arbeiten sei. Er meint jedoch sich von der „positivistischen Grundkonzeption" Max Webers absetzen zu müssen, die diesen nicht habe sehen lassen, „wie die 'Erörterung der Tatsachen' die Wissenschaft selbst zur zweiten, großen, neuen Aufgabe weiterfuhrt, die niemand sonst übernimmt".

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reichen. Technologische Ratschläge dieser Art sind augenscheinlich nur für einen Adressaten von Belang, der X in der Tat für wünschenswert hält. Denn ein technologischer Ratschlag dafür, wie man etwas erreichen kann, was man gar nicht erreichen will, ist offensichtlich von geringem Interesse. Und ob man X für wünschenswert hält, ist offensichtlich eine Werturteilsfrage (wobei dies wiederum Gegenstand eines bedingten oder unbedingten Werturteils sein mag). Ob aber nun ein Adressat das im „Wenn-Teil" eines hypothetischen Imperativs unterstellte Werturteil teilt oder nicht, dies ändert nichts daran, daß das bedingte Werturteil, Y sei wünschenswert, wenn man X will, eine überprüfbare Tatsachenbehauptung ist, die zutreffend oder falsch sein kann. Wenn für angewandte Wissenschaft generell gilt, daß sie auf der Grundlage von bedingten Werturteilen - und ohne Rekurs auf unbedingte Werturteile - betrieben werden kann, so können wir entsprechend auch für eine angewandte Ordnungsökonomik folgern, daß sie ihrem Anliegen, einen Beitrag zur praktischen Ordnungsgestaltung zu leisten, gerecht werden kann, ohne Werturteile im Sinne von unbedingten Werturteilen oder kategorischen Imperativen fällen zu müssen.

III. Ordo als „funktionsfähige und menschenwürdige Ordnung" Im Sinne des Freiburger Forschungsprogramms hat Ordnungsökonomik eindeutig den Auftrag, zur Lösung des Problems beizutragen, eine „funktionsfähige und menschenwürdige Ordnung der Wirtschaft, der Gesellschaft, des Rechtes und des Staates" (Euchen 1989, 239) zu verwirklichen. Kann dieser Auftrag im oben erläuterten Sinne als sozialtechnologisches Projekt allein auf der Grundlage hypothetischer Imperative oder bedingter Werturteile realisiert werden? Was die Empfehlung der marktlichen Wettbewerbsordnung anbelangt, so wird diese offenkundig als Zweckmäßigkeitsempfehlung verstanden, also als ein hypothetischer Imperativ, der besagt, daß die marktliche Wettbewerbsordnung ein geeignetes Mittel ist, eine menschenwürdige und wirtschaftlich leistungsfähige Ordnung zu realisieren.6 So heißt es im programmatischen Vorwort „Die Aufgabe des Jahrbuchs" im ersten Band von ORDO (1948, XI): „Wir fordern nicht die Wettbewerbsordnung, weil wir uns von vornherein dogmatisch auf dieses Mittel festgelegt haben. Unsere Forderung beschränkt sich auf die Schaffung einer Wirtschaftsund Sozialordnung, in der wirtschaftliche Leistung und menschenwürdige Daseinsbedingungen gleichermaßen gewährleistet sind. Weil der Wettbewerb diesem Ziel dienstbar gemacht werden kann, das ohne ihn sogar unerreichbar bleibt, deshalb fordern wir ihn. Er ist Mittel, aber nicht letzter Zweck." Hypothetische Imperative kann man in zweierlei Hinsicht einer kritischen Überprüfung unterwerfen, nämlich erstens hinsichtlich ihrer faktischen Geltung und zweitens hinsichtlich ihrer normativen Relevanz. Man kann einerseits die Tatsachenbehauptung

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Böhm (1950, XVf.) stellt zu den Funktionseigenschaften der Wettbewerbsordnung fest: „Sie ist die einzige Ordnung, die das spontane Planen des Individuums voll zum Zuge kommen läßt. ... Und die Wettbewerbsordnung ist zugleich die einzige Ordnung, der es gelingt, ... die Millionen spontaner und freier Wirtschaftspläne ... auf die Wünsche des Bedarfs ... abzustimmen. ... Jeder tut ohne Befehl und Rechtszwang das wirtschaftlich Vernünftige, jedem bekommt es schlecht, wenn er es nicht tut."

Die normativen Grundlagen von Ordnungspolitik - 7 1 1 anzweifeln, daß Y ein taugliches Mittel sei, um X herbeizufuhren. Und man kann andererseits bezweifeln, daß X für den Adressaten überhaupt wünschenswert ist, was den betreffenden hypothetischen Imperativ obsolet werden ließe. Nun könnte gegen einen ordnungsökonomischen hypothetischen Imperativ, der besagt, „wenn man eine funktionsfähige und menschenwürdige Ordnung wünscht, dann sollte man die Wettbewerbsordnung wählen", der Einwand erhoben werden, daß weder seine faktische Geltung noch seine normative Relevanz beurteilt werden können, solange nicht inhaltlich spezifiziert werde, woran man denn eine „funktionsfähige und menschenwürdige Ordnung" erkennen kann. Lasse sich doch ohne eine entsprechende Spezifizierung weder sagen, ob eine marktliche Wettbewerbsordnung ein taugliches Mittel zur Herbeiführung einer solchen Ordnung sei, noch könne man etwas darüber sagen, ob die Adressaten der ordnungsökonomischen Empfehlung eine solche Ordnung überhaupt wünschen. Will man einem solchen Einwand begegnen, so wird man den Gehalt der Formulierung von der „menschenwürdigen und funktionsfähigen Ordnung" konkretisieren müssen.7 Und es liegt nahe, zu diesem Zweck beim Begriff des Ordo anzusetzen, der dem von Eucken und Böhm begründeten Jahrbuch seinen Namen gegeben hat, und der in ihrem Forschungsprogramm als normativer Referenzbegriff eine zentrale Rolle spielt {Böhm 1950, XVf.). Wenn man von „Wirtschaftsordnung" spreche, so stellt Eucken (1989, 238) fest, dann meine man damit einerseits faktisch vorfindbare Ordnungsformen, doch habe der Begriff der Ordnung auch „noch einen anderen Sinn: als Ordnung, die dem Wesen des Menschen und der Sache entspricht" (Eucken 1989, 239). Für diese normative Vorstellung einer wünschenswerten Ordnung verwendet er den Begriff 'Ordo'? und er bemerkt zum Verhältnis der beiden Konzepte: ,3eide Begriffe der Ordnung sind unentbehrlich. Ordnung als individueller, wechselnder Tatbestand der Geschichte und Ordnung als Ordo. ... Der Mensch will wissen, wie die konkreten Ordnungen sind, und er sucht eine bessere Ordnung. ... Wir trennen diese Begriffe, indem wir die konkreten 'Wirtschaftsordnungen' von dem Streben nach 'Ordnung der Wirtschaft' unterscheiden. ... [D]ie gedankliche Arbeit an der 'Ordnung der Wirtschaft' setzt die wissenschaftliche Durchleuchtung der konkreten 'Wirtschaftsordnungen' und ihrer Formen voraus" (Eucken 1989, 239). Versucht man die mit dem Begriff des Ordo verbundenen Vorstellungen von einer wünschenswerten Wirtschafts- und Sozialordnung näher zu bestimmen, so bieten sich zwei mögliche Auslegungen der Vorstellung von einer ''menschenwürdigen Ordnung' an. Mit 'menschenwürdig' kann einerseits ein vordefiniertes inhaltliches Kriterium gemeint sein, das eine solche Ordnung kennzeichnet, und anhand dessen ein Beobachter existierende Ordnungen beurteilen kann, ohne auf die subjektiven Wertungen der Per-

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Eucken (1989, 240) bemerkt zur Erläuterung dessen, was er unter einer „funktionsfähigen und menschenwürdigen Ordnung der Wirtschaft" versteht: „Funktionsfähig und menschenwürdig heißt: In ihr soll die Knappheit an Gütern ... so weitgehend wie möglich und andauernd überwunden werden. Und zugleich soll in dieser Ordnung ein selbstverantwortliches Leben möglich sein. Diese Aufgabe ... erfordert die Schaffung einer brauchbaren 'Wirtschaftsverfassung', die zureichende Ordnungsgrundsätze verwirklicht." 8 Zur Erläuterung des ideengeschichtlichen Hintergrundes des Ordo-Gedankens siehe Eucken (1989, 239 und 1990, 372f.).

712 • Viktor Vanberg sonen rekurrieren zu müssen, die unter der betreffenden Ordnung leben. Andererseits kann mit dem menschenwürdig" eine Ordnung gemeint sein, die für die in ihr lebenden Menschen, nach deren eigener Einschätzung, wünschenswert ist. Welche der beiden Vorstellungen von einer 'menschenwürdigen Ordnung' entspricht nun am ehesten der Logik des Freiburger ordnungsökonomischen Ansatzes? In einem Artikel über den deutschen Neo-Liberalismus argumentiert Norman Barry (1989, 111 f.), daß sich in der liberalen Denktradition zwei unterscheidbare Vorstellungen davon finden, worin das für eine liberale Sichtweise konstitutive normative Kriterium zu sehen ist, zwei Vorstellungen, die er als 'end-state'-Liberalismus und 'procedural rales'-Liberalismus kontrastiert. Prozedurale oder Regel-Liberale im Sinne der Unterscheidung Barrys bewerten soziale Handlungsergebnisse nicht per se, sondern indirekt, nach der Art und Weise, auf die sie zustande gekommen sind. Als wünschenswert gelten ihnen Ergebnisse, die aus freiwilliger Vereinbarung und freiwilligem Austausch zwischen den betroffenen Personen hervorgehen. 'End-state'-Liberale gehen demgegenüber von bestimmten inhaltlichen Kriterien aus, nach denen sie die Wünschbarkeit konkreter realisierter Ordnungsformen beurteilen, unabhängig davon, wie diese zustande gekommen sind. Im vorliegenden Zusammenhang von speziellem Interesse ist der Umstand, daß Barry (1989, 112) auf den vertragstheoretischen Liberalismus von James Buchanan als die konsequenteste Version eines 'procedural liberalism' verweist, während er, im Kontrast dazu, den Ordo-Liberalismus dem Lager des 'end-state liberalism' zuordnet. Hätte Barry mit seiner Einordnung recht, würden sich also die Freiburger Ordnungsökonomik und die Konstitutionenökonomik Buchanans in der Tat in der angegebenen Weise paradigmatisch unterscheiden, dann wäre ein Brückenschlag zwischen ihnen wohl schwerlich möglich. Wie ich im folgenden zeigen möchte, erweist sich allerdings bei näherer Prüfung, daß Barrys 'end-state'-Liberalismus keine konsistente eigenständige Variante darstellt, sondern eher als verkürzte Version eines (verallgemeinerten) prozeduralen Liberalismus anzusehen ist.

IV. Prozeduraler Liberalismus und das Kriterium der freiwilligen Zustimmung Der scheinbare Konflikt zwischen 'end-state'- und 'procedural'-Liberalismus wird meines Erachtens hinfallig, wenn man präziser faßt, was mit 'freiwilliger Zustimmung' gemeint sein kann. Wenn Barry das normative Kriterium umschreibt, durch das er den prozeduralen Liberalismus definiert sieht, dann spricht er sowohl von „free exchange between individuals" (1989, 111) wie auch von „free consent of individuals" (Barry 1989, 112), zwei Formulierungen, die sich recht unterschiedlich deuten lassen. Sieht man das entscheidende normative Kriterium eines prozeduralen Liberalismus darin, daß wünschenswert ist, was aus freiwilligem Tausch hervorgeht, so mag man geneigt sein, darunter allein marktlichen Tausch zu verstehen und nur den Markt als im liberalen Sinne wünschenswertes Regime anzusehen, da der Markt die institutionelle Arena für freiwilligen Tausch darstellt. Sieht man hingegen die liberale Grundnorm darin, daß wünschenswert ist, was auf freiwilliger Zustimmung der betroffenen Akteure beruht,

Die normativen Grundlagen von Ordnungspolitik • 713 dann muß man die legitimierende Kraft freiwilliger Vereinbarung über marktliche Austauschtransaktionen hinaus jeglichem sozialen Arrangement zubilligen, das auf einem „free consent of individuals" beruht. Im Zentrum des Buchananschen vertragstheoretischen Liberalismus steht die These, daß ein in sich konsistenter Liberalismus genau dies tun muß, daß er die legitimierende Funktion freiwilliger Zustimmung nicht willkürlich auf eine bestimmte Ebene sozialer Transaktionen (die Ebene marktlichen Austauschs) beschränken darf, sondern sie auch für die konstitutionelle Ebene gelten lassen muß, also für die Entscheidungsebene, auf der Personen als Gruppe die Spielregeln vereinbaren, nach denen sie ihren sozialen Umgang miteinander regeln wollen (eingehender Vanberg 1994c, Kap. 13). Ein 'procedural'-Liberalismus, der die Wünschbarkeit freiwilliger Vereinbarung im Markt betont, kann damit allein nicht zu einer Legitimierung des Marktes selbst, als institutioneller Ordnung, kommen, und einem solchen, beschränkten prozeduralen Liberalismus kann man einen 'end-state'-Liberalismus gegenüberstellen, der die Wünschbarkeit des marktlichen Ordnungsrahmens selbst betont. Ein prozeduraler Liberalismus jedoch, der das Kriterium freiwilliger Zustimmung konsequent zum Bewertungsmaßstab auf allen Entscheidungsebenen macht, kann für den marktlichen Ordnungsrahmen, den der 'end-state'-Liberalismus glaubt direkt legitimieren zu müssen, eine indirekte prozedurale Legitimation suchen, nämlich darin, daß ein solcher Ordnungsrahmen die freiwillige Zustimmung der betroffenen Personen finden kann. Ein solcher, die Ebene konstitutioneller Wahl einschließender, prozeduraler Liberalismus wendet ein und dasselbe normative Kriterium, nämlich freiwillige Zustimmung, konsequent auf allen Entscheidungsebenen an. Kann man nun im Lichte der vorangehenden Argumentation auch für das ordoliberale Paradigma zeigen, daß es in das Lager des prozeduralen Liberalismus gehört, daß es ebenfalls auf freiwillige Zustimmung als letztendliches normatives Kriterium rekurriert? Gegen eine solche Interpretation scheinen die Anklänge an naturrechtliche Denkmuster zu sprechen, die von einigen Autoren als Beleg dafür angeführt werden, daß das Ordo-Konzept auf ein nicht-prozedurales Bewertungskriterium rekurriert, für das von der Zustimmung der Betroffenen völlig unabhängige Geltung beansprucht wird. So meint etwa Voigt (1996, 160), daß Eucken die Idee des Ordo letzten Endes metaphysisch legitimiert und daß der zentrale Unterschied zwischen den ordnungsökonomischen Konzeptionen von Eucken und Buchanan darin zu sehen sei, daß Eucken Regeln nichtindividualistisch, „naturrechtlich legitimieren wollte", während es Buchanan um eine „Legitimation durch die betroffenen Individuen selbst" gehe (Voigt 1996, 167). „Die Wirtschaftspolitik aber soll die freie natürliche gottgewollte Ordnung verwirklichen." Auf diese Aussage Euckens (1990, 176) bezieht Voigt sich bei seinem Urteil, und in der Tat kann man nicht nur bei dieser, sondern auch bei manchen anderen Formulierungen Euckens den Eindruck gewinnen, daß hier naturrechtliche Kriterien den Maßstab dafür abgeben sollen, was als wünschenswerte Ordnung zu gelten habe, und daß ordoliberale Wirtschaftspolitik sich an diesen Kriterien zu orientieren habe, nicht am Urteil der betroffenen Personen (Eucken 1990, S. 372 ff). Die relevante Frage ist jedoch, wie man solche Äußerungen im Kontext des gesamten Forschungsprogramms interpretiert und gewichtet, ob man meint, daß sie konstitutiv für dieses Programm sind, oder ob

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man darin ein Element sieht, das innerhalb des Forschungsprogramms keine tragende Funktion hat und auf das verzichtet werden kann, ohne daß dadurch das Gesamtargument beeinträchtigt würde. Nach meiner Auffassung ist letzteres der Fall, und ich werde im folgenden zu zeigen suchen, daß der Freiburger ordnungsökonomische Ansatz im Sinne eines strikt prozeduralen Liberalismus verstanden werden kann, der in keiner Weise auf naturrechtliche Argumentationsmuster angewiesen ist. Dazu sind einige terminologische Vorklärungen hilfreich. Wenn wir uns eine Situation vorstellen, in der Personen unter möglichen Alternativen die Regelordnung auszuwählen haben, unter der sie in Zukunft leben werden, so ist anzunehmen, daß sie diese Entscheidungen im Lichte ihrer Erwartungen bezüglich der Funktionseigenschaften der zur Wahl stehenden Alternativen und aufgrund ihrer jeweiligen Präferenzen bezüglich der erwarteten Ordnungseigenschaften treffen werden. 9 In diesem Sinne können wir davon sprechen, daß Menschen konstitutionelle Interessen haben, also Interessen bezüglich der Art von Regelordnung, unter der sie leben möchten. Mögliche Ordnungswahlen oder Reformen einer Regelordnung, also etwa einer Wirtschaftsverfassung, können entsprechend daraufhin geprüft werden, ob und inwieweit sie den konstitutionellen Interessen der davon betroffenen Personen entsprechen.10 Dabei mag es unter den denkbaren Regelwahlen oder -reformen solche geben, an denen keiner der Betroffenen ein konstitutionelles Interesse hat, weil sie für niemanden eine Besserstellung bedeuten. Es mag solche geben, die den konstitutionellen Interessen einiger entsprechen, die aber den konstitutionellen Interessen anderer zuwiderlaufen. Und es mag schließlich solche geben, die im gemeinsamen konstitutionellen Interesse aller Beteiligten liegen. Entsprechend können wir zwischen konsensfahigen und nicht konsensfahigen konstitutionellen Interessen unterscheiden, und wir können folgern, daß eine freiwillige Vereinbarung von Regelordnungen oder Ordnungsreformen nur dort zu erwarten ist, wo es um konsensföhige konstitutionelle Interessen geht.11 Interessen an Regelwahlen, die für einige vorteilhaft, für andere aber nachteilig sind, sind nicht konsensfahig und können nicht auf die freiwillige Zustimmung der negativ Betroffenen rechnen. Ein analytisches Instrument, mit dem sich der Gedanke der konsensfahigen konstitutionellen Interessen gut veranschaulichen läßt, ist das spieltheoretische Konzept des Gefangenendilemmas in seiner auf eine größere Zahl von 'Spielern' übertragenen Form als Mehrpersonen-Gefangenendilemma. Dieses Konzept spielt eine zentrale Rolle in der Constitutional Economics Buchanans, in der es als das paradigmatische Beispiel dafür dient, wie eine Gruppe von Personen durch geeignete gemeinsame Regelbindung Vorteile für alle Beteiligten realisieren kann. Als Walter Eucken und Franz Böhm die Grundlagen für das Freiburger Forschungsprogramm legten, standen ihnen die analyti9

Siehe dazu Vanberg und Buchanan, Interests and Theories in Constitutional Choice, in: Vanberg (1994c, Kap. 10). 10 Regelwahlen werden immer für eine bestimmte Jurisdiktion oder eine abgrenzbare Gruppe von Personen getroffen, die der Geltung der betreffenden Regel-Ordnung unterliegen. Im Sinne einer solchen Abgrenzung ist es zu verstehen, wenn im Text von 'betroffenen Personen' gesprochen wird. 11 Das Konzept der konsensfahigen konstitutionellen Interessen kann als eine Operationalisierung dessen betrachtet werden, was mit Begriffen wie Gemeinwohl und Allgemeininteresse belegt worden ist.

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sehen Konzepte der Spieltheorie natürlich nicht zur Verfügung, und sie haben auch nicht von konstitutionellen Interessen gesprochen. Doch lassen sich ihre Argumente zur marktlichen Wettbewerbsordnung als einer wünschenswerten Ordnung mit Hilfe dieser analytischen Konzepte sowohl angemessen interpretieren als auch präziser fassen. Dies möchte ich im folgenden an ihren Ausfuhrungen zu den beiden Eigenschaften deutlich machen, die in ihrer Vorstellung von dieser Ordnung eine zentrale Rolle spielen, nämlich zum einen, daß es sich um eine privilegienfreie Ordnung von Rechts gleichen handelt, und zum anderen, daß marktlicher Wettbewerb 'Leistungswettbewerb' ist.

V. Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft Ein Thema, das Franz Böhm wiederholt, insbesondere in einem seiner meistbeachteten Aufsätze, „Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft" {Böhm 1980, 105-168) 12 , behandelt hat, ist der Gedanke, daß die marktliche Wettbewerbsordnung als integraler Bestandteil einer Privatrechtsordnung verstanden werden muß, als ein Regelsystem, das „dem Kooperieren und Koexistieren von gleichberechtigten Trägern autonomer Individualpläne" (Böhm 1980, 108) dient. Die Privatrechtsordnung steht, als eine privilegienfreie Ordnung von Rechtsgleichen, im Kontrast zu einer Privilegienordnung, wie sie etwa für die Feudalgesellschaft mit ihren stände- und privilegienrechtlichen Regelungen charakteristisch war. Von besonderem Interesse im vorliegenden Kontext ist der von Böhm betonte Umstand, daß die „Option für das marktwirtschaftliche System und die privilegienlose Zivilrechtsgesellschaft" (1980, 164) als eine verfassungspolitische Grundentscheidung zugunsten einer Gesellschaft zu werten ist, in der Jeder die gleichen Rechte und den gleichen Status, nämlich den Status einer Person des Privatrechts" (1980, 107) innehat. Das für die marktliche Wettbewerbsordnung konstitutive Prinzip der Privilegienfreiheit und Rechtsgleichheit wird in diesem Sinne von Böhm nicht einfach als ein faktisches Attribut verstanden, das jede existierende Marktwirtschaft per se auszeichnet. Es ist ein Verfassungsideal (Böhm 1980, 109), und zwar ein Ideal, das weder naturrechtlicher noch sonstiger 'externer' Legitimation bedarf, sondern von dem man mit gutem Grund annehmen kann, daß es den konsensfahigen konstitutionellen Interessen aller Jurisdiktionsmitglieder entspricht. Dieses Ideal einer Ordnung von gleichberechtigten und gleich freien Menschen 13 gibt einen Maßstab ab, an dem real vorfindbare marktwirtschaftliche Ordnungen gemessen werden können und dem sie nur in mehr oder minder unvollkommenem Maße entsprechen werden. Dies nicht nur, weil in ihnen Privilegien-Relikte feudaler Ordnung überdauert haben, an deren Verteidigung die von ihnen Begünstigten interessiert sind (Böhm 1980, 240), sondern auch - und dies ist eines der zentralen The-

12 Dieser Aufsatz erschien zuerst in ORDO, Bd. 17, 1966, 75-151. 13 Böhm (1960, 174) bemerkt zu diesem Ideal: „Dieses Unterworfensein von Individuen, die zu selbstbestimmtem Planen ermächtigt sind, unter ein für alle gleiches, nur die Prozedur regelndes Gesetz ist aber identisch mit dem, was politisch, sozial und rechtsstaatlich als Freiheit bezeichnet wird. Es ist das eine Freiheit, die ihre Grenze findet in der gleichen Freiheit aller übrigen Mitglieder der Gesellschaft."

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men der ordnungspolitischen Argumentation bei Böhm und Euchen -, weil es immer wieder neue Bestrebungen von einzelnen und Interessengruppen gibt, in den Genuß von sie begünstigenden Privilegien zu kommen. 14 Unter dem Stichwort der 'Refeudalisierung' haben die Begründer des Freiburger Forschungsprogramms dieses Problem der Privilegiensuche analysiert und dabei mit großer Scharfsicht die Problematik behandelt, die in der modernen politischen Ökonomie unter dem Begriff des Rent-Seeking thematisiert wird. Wenn man die Argumente, die von Eucken und Böhm zum Problem der „Refeudalisierung der Gesellschaft" {Böhm 1980, 258) und der „neufeudalen Abhängigkeiten" (Eucken 1990, 334) vorgebracht werden, unter diesem Gesichtspunkt untersucht,15 so wird ersichtlich, daß sie dieses Problem als das erkannt haben, was wir heute als Gefangenendilemma bezeichnen würden. Ihr Argument läuft auf die Diagnose hinaus, daß das Streben nach Privilegien für jede einzelne Interessengruppe die dominante Strategie ist, daß daraus aber in der Aggregatwirkung eine von Privilegien durchsetzte Ordnung resultiert, die für alle weniger wünschenswert ist, als es eine genuin privilegienfreie Wettbewerbsordnung wäre. Zwar läßt sich durch das Schnüren von Privilegienpaketen die Zahl der Jurisdiktionsmitglieder erhöhen, die sich von den jeweils sie treffenden Vergünstigungen einen Vorteil erhoffen. Doch je mehr das Gesamtbündel von Privilegien anwächst, um so gewichtiger werden die Nachteile, die aus den Privilegien der anderen erwachsen. Der Nettovorteil aus dem eigenen Privileg und den negativen Konsequenzen der Privilegien der anderen schmilzt mehr und mehr dahin. Doch selbst die Erkenntnis, daß ihr Verhalten im Aggregat zu einer von Privilegien durchsetzten Ordnung führt, die für alle - auch für die Nutznießer der Privilegien - weniger wünschenswert ist, als es eine privilegienfreie Ordnung wäre, vermag die einzelnen Gruppen nicht von ihrer Privilegiensuche abzuhalten. Denn durch ihre eigene Zurückhaltung in diesem Rent-SeekingSpiel können sie den Nachteilen einer privilegiendurchsetzten Ordnung nicht entkommen, solange nicht die Gewähr besteht, daß auch von Seiten der anderen Zurückhaltung geübt wird. Das Interesse an einer privilegienfreien Ordnung ist konsensfahig, doch das Dilemma der Privilegiensuche - oder Rent-Seeking-Dilemma - verhindert, daß dieses konsensfähige konstitutionelle Interesse realisiert wird, und generiert statt dessen eine letztendlich für alle nachteilige Privilegienordnung, die die Betroffenen nie wählen würden, wenn sie für sich selbst zwischen dieser und einer privilegienfreien Ordnung zu wählen hätten. Doch dies ist nicht die Alternative, vor der sie im normalen politischen Prozeß stehen. Ihre Wahl ist dort zwischen aktiver Beteiligung am politischen Bemühen um Privilegienzuteilung oder Zurückhaltung bei der Privilegiensuche. Und so sehr sie es auch vorziehen würden, in einer gänzlich privilegienfreien Ordnung zu leben, ihre eigene Zurückhaltung entscheidet nicht darüber, ob eine solche Ordnung realisiert wird. Über den Prozeß, in dem das Zusammenspiel von privilegiensuchenden Sonderinteressen und staatlichen Interventionen zugunsten solcher Interessen „die Gefahr eines 14 Über den Konflikt zwischen solchen Bestrebungen und der Gleichheitsnorm der Privatrechtsordnung sagt Böhm (1980, 262): „Das Grundprinzip jeder Privatrechtsordnung ist die Koordination aller Rechtsbeteiligten, ein Prinzip also, das allen quasifeudalen Besitzständen auf das entschiedenste widerspricht." 15 Siehe dazu etwa Böhm (1980, 240f., 251,254), Eucken (1990, 328f.).

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kalten Rückfalls in ständestaatliche Strukturen" (Böhm 1973,43) heraufbeschwört, stellt Böhm (1973, 41) fest: „Es zeigt sich nämlich, daß sich, je mehr die Interventionen zunehmen, je mehr sie das Verhalten breiter Kreise von Wirtschaftsbeteiligten bestimmen ... , das Verhältnis zwischen Regierung und Regierten verschiebt. Durch Interventionen werden private Besitzstände geschaffen. Man denke insbesondere an spezifisch protektionistische Interventionen, wie etwa Zölle, Einfuhrverbote, Prämien, Subventionen. Die Einführung solcher Maßnahmen ist leicht ... Die Wiederaufhebung dagegen stößt bei den Begünstigten auf einen leidenschaftlichen Widerstand. Sie kommen sich vor und stellen sich an, als ob sie enteignet würden. Kurz, der politische Effekt von Interventionen ist, daß auf die Wirtschaftenden ein starker Anreiz ausgeübt wird, sich zum Behuf der Erlangung von Interventionen politisch zu organisieren." Und Eucken (1990, 329) hatte das von Böhm beschriebene Phänomen in gleicher Weise erkannt: „Der Beobachter dieser Entwicklung des Staates im 20. Jahrhundert wird immer wieder an Schilderungen des mittelalterlichen Feudalsystems erinnert." In den durch das Dilemma der Privilegiensuche angetriebenen circulus vitiosus dürfe sich der Staat, so stellt Eucken (1990, 335) fest, nicht hineinziehen lassen, und er schließt daran die bekannten warnenden Worte an: „Wer das erste Privileg gewährt, muß wissen, daß er die Macht stärkt und die Grundlage gibt, von der aus das zweite Privileg erstritten wird und daß das zweite Privileg die Grundlage für die Erkämpfung eines dritten wird." 16 In diesen Kontext ist auch die oft mißverstandene Formel vom 'starken Staat' einzuordnen. Bei dieser Formel geht es offensichtlich nicht um ein Plädoyer für einen autoritären oder mit weitreichenden Kompetenzen ausgestatteten Staat. Es geht vielmehr um den Gedanken einer Staatsverfassung, die geeignet ist, die Privilegiensuche von Interessengruppen abzuwehren. Und was diese Frage anbelangt, so wird ausdrücklich vermerkt, daß gerade in der Beschränkung seiner Kompetenzen eine Stärke des Staates liegen kann.17 Wenn man dieser Formel etwas vorhalten kann, so ist es eher, daß noch nicht sehr viel ausgesagt ist, wenn man feststellt, daß es eines starken Staates bedarf, um die Privilegiensuche von Sonderinteressen abzuwehren, und wenn man einen starken Staat dadurch definiert, daß er in der Lage ist, solche Privilegiensuche abzuwehren. Was offenkundig näher zu bestimmen wäre, sind die verfassungsmäßigen Charakteristika eines Staates, der seiner Rolle „als Hüter der Wettbewerbsordnung" {Eucken 1990, 327) gerecht wird und in dem die Chancen erfolgreicher Privilegiensuche

16 Bei Böhm (1980, 160) lesen wir zu dieser Frage, „daß der Zusammenschluß von Wirtschaftsbeteiligten übereinstimmender Interessenlage (Arbeiter, Arbeitnehmer, Landwirtschaft, Industrie, Bankgewerbe, Handwerk, gewerblicher Mittelstand, Einzelbranchen usw.) zwar in Wahrnehmung berechtigter und naheliegender Interessen erfolgt, daß aber jede dieser Interessen durch unneutrale politische Interventionen in den Marktpreismechanismus gefördert werden kann, wenn auch notwendig zum Nachteil anderer Interessen und fast immer zum Nachteil der Ordnungs- und Lenkkraft des System, d.h. der geltenden Verfassungsordnung." 17 Im Hinblick auf das Problem der 'Refeudalisierung der Gesellschaft' durch staatliche Privilegienvergabe stellt etwa Böhm (1980, 258) fest: „Was sich ereignen wird, ist... nämlich der schwache Staat, der sich in alles mischt, der schwache Staat, der zum Spielball rivalisierender organisierter Interessen wird." - Eucken (1990, 327) bemerkt dazu: „Doch der weitaus wichtigste Wesenszug staatlicher Entwicklung im 20. Jahrhundert ist die Zunahme im Umfange staatlicher Tätigkeit und die gleichzeitige Abnahme der staatlichen Autorität." - Siehe dazu auch Eucken (1932, 307).

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wirksam eingeschränkt sind. Daß sich hier das Problem einer zweckmäßigen Gestaltung der Staatsverfassung stellt, sozusagen einer Ordnungspolitik für den politischen Bereich, wurde von Eucken und Böhm klar gesehen,18 doch fand diese Frage im Rahmen des Freiburger Forschungsprogramms vergleichsweise geringere Beachtung.

VI. Leistungswettbewerb und Konsumentensouveränität Das Argument der Freiburger Ordnungsökonomen für die marktliche Wettbewerbsordnung läßt sich in zwei Schritte zerlegen. Im ersten Schritt, der im vorangehenden Abschnitt behandelt wurde, geht es um den Kontrast zwischen einer privilegienfreien Ordnung von Rechtsgleichen einerseits und einer Privilegienordnung andererseits, wobei der ersteren der Vorzug gegeben wird. Im zweiten Schritt geht es um die Wahl einer Ordnung aus der Menge möglicher privilegienfreier Ordnungen, wobei im Hinblick auf diese Wahl eine Ordnung empfohlen wird, die 'Leistungswettbewerb' sicherstellt. Wie ich zu zeigen suche, läßt sich die vorgetragene Argumentation bei beiden Teilschritten durchaus so interpretieren, daß letztlich in der Sache auf das Kriterium der konsensfähigen konstitutionellen Interessen abgestellt wird, auch wenn dies nicht in dieser Terminologie geschieht. Was die Empfehlung einer privilegienfreien Ordnung anbelangt, so läßt sie sich wohl unschwer im Sinne dieses Kriteriums interpretieren. Im vorliegenden Abschnitt soll gezeigt werden, daß dies auch für das Argument zugunsten des 'Leistungswettbewerbs' zutrifft, daß also auch hier letztlich an die konsensfähigen konstitutionellen Interessen appelliert wird, wenn der Ordnung marktlichen Leistungswettbewerbs der Vorzug vor denkbaren Alternativen gegeben wird. Ebenso wie beim Konzept einer privilegienfreien Ordnung geht es auch beim Konzept des Leistungswettbewerbs nicht einfach um ein Attribut, das allen existierenden marktlichen Ordnungen als de facto-Eigenschaft zugesprochen wird, sondern um einen normativen Maßstab, an dem faktische Ordnungen zu messen sind und an dem ordnungspolitische Bemühungen sich orientieren können. Das Ideal einer privilegienfreien Ordnung des Leistungswettbewerbs besagt, daß die marktliche Wettbewerbsordnung so gestaltet sein sollte, daß allein „die Leistungen für die Konsumenten" (Eucken 1990, 43) ausschlaggebend für den Unternehmenserfolg sind und daß anderen - nicht in diesem Sinne leistungsbezogenen - Wettbewerbsstrategien so weit wie möglich der Erfolg versagt bleiben soll. Der Erfolg von Ordnungspolitik bemißt sich daran, wie weitgehend dies gelingt {Böhm 1937, 124f.). Das Konzept des Leistungswettbewerbs trägt dem Umstand Rechnung, daß Wettbewerb auf sehr unterschiedliche Art und Weise ausgetragen werden kann und daß die Funktionseigenschaften einer Wettbewerbsordnung davon abhängen werden, wie sie durch Regelbeschränkungen den wettbewerblichen Prozeß kanalisiert. Wettbewerb um knappe Ressourcen und Güter wird es unvermeidlich in allen Wirtschaftsordnungen geben, doch werden sich die Formen, in denen er ausgetragen wird, je nach den Spielre18 Eucken-, „Die Ordnung des Staates ist ebenso eine Aufgabe wie die Ordnung der Wirtschaft. ... Denn es ist auch die ordnungspolitische Frage zu stellen: Wie kann ein leistungsfähiger Rechtsstaat aufgebaut werden?" Eucken (1990, 331, auch 338).

Die normativen Grundlagen von Ordnungspolitik • 719 geln unterscheiden. Soll sichergestellt werden, daß der wettbewerbliche Prozeß in für die betroffenen Personen wünschenswerter Weise abläuft, so muß er unter geeignete Spielregeln gestellt werden (Vanberg 1994a; 1995), und das Konzept des Leistungswettbewerbs fungiert im Freiburger Forschungsprogramm als Name für eine in diesem Sinne wünschenswerte Wettbewerbsordnung, eine Ordnung, von der man annehmen kann, daß sie im konsensfähigen konstitutionellen Interesse aller Jurisdiktionsmitglieder liegt. In der Betonung der Notwendigkeit der Kanalisierung des Wettbewerbsprozesses durch Spielregeln eines Leistungswettbewerbs sehen Eucketi und Böhm den entscheidenden Unterschied zwischen ihrer Vorstellung und einem laissez-faire-Liberalismus, der verkennt, daß Wettbewerb nicht per se, unabhängig von den Formen, in denen er ausgetragen wird, zu wünschenswerten Ergebnissen führt, sondern nur dann, wenn er durch geeignete Spielregeln in eine wünschenswerte Richtung gelenkt wird.19 Wo eine Kanalisierung durch solche Regeln nicht erfolgt, könne man, so stellt Böhm (1937, 70) fest, wenig darüber sagen, ob Wettbewerb sich in wünschenswerter Weise auswirken wird oder nicht: „Es ist unmöglich, über die Richtung, die eine derart verfaßte Gesamtwirtschaft nehmen wird, irgendetwas auch nur annähernd zutreffendes auszusagen. Das Ergebnis eines solchen, auf jeden ordnenden, organisierenden Einfluß verzichtenden laissez faire, Iaissez aller ist eine völlig unbekannte Größe."20 Die hier gewählte Interpretation des Konzepts des Leistungswettbewerbs scheint mir dessen fruchtbarste Lesart zu sein, doch muß dazu angemerkt werden, daß es um dieses Konzept in der Freiburger Tradition durchaus einige Unklarheit gegeben hat. Dies insbesondere wegen seiner Verknüpfung mit dem Konzept der 'vollständigen Konkurrenz' als wettbewerbspolitischem Leitbild. Ohne hier im einzelnen auf die häufig erörterte Problematik des Konzepts der vollständigen Konkurrenz eingehen zu können, sei doch vermerkt, daß Leistungswettbewerb und vollständige Konkurrenz zwei systematisch verschiedene und letztlich inkompatible wettbewerbspolitische Leitbilder darstellen und daß von beiden nur das Konzept des Leistungswettbewerbs zur systematischen Logik des Freiburger Forschungsprogramms paßt. Das Kriterium des Leistungswettbewerbs ist verfahrensorientiert. Es lenkt die Aufmerksamkeit auf die Frage, wie die Grenzziehung zwischen zulässigen und nicht zulässigen Wettbewerbsstrategien gezogen werden sollte. Es kann bei ihm sinnvollerweise nur darum gehen, die Spielregeln des Wettbewerbs so zu wählen, daß Leistungswettbewerb entsteht, daß also bessere Leistung für die Konsumenten möglichst der einzige Weg ist, auf dem Untemehmenserfolg erzielt werden kann. Durch welche Spielregeln und durch welche konkrete Wettbewerbsordnung dies am besten erreicht werden kann oder welche von zwei alternativen Regelungen dies besser zu gewährleisten vermag, ist eine rational zu erörternde, theoretisch wie empi-

19 So stellt Eucken (1938, 81) mit Bezug auf Leistungswettbewerb als „unentbehrliche Ordnungsprinzip" fest: „Laissez-faire und Wettbewerb sind nicht im mindesten identisch." — Siehe dazu auch Eucken (1990, 43). 20 Der hier von Böhm angesprochene Gedanke, daß nur für einen durch Regeln kanalisierten, 'bedingten' Wettbewerb Voraussagen über die Qualität seiner Ergebnismuster gemacht werden können, nicht jedoch für einen regellosen, 'unbedingten' Wettbewerb, wird ausfuhrlich erörtert in Vanberg (1994b).

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risch zu untersuchende Frage. Im Kontrast dazu ist das Konzept der vollständigen Konkurrenz in dem Sinne ergebnisorientiert, daß es eine bestimmte Marktform, ein bestimmtes strukturelles Ergebnismuster zum wettbewerbspolitischen Leitbild erklärt und damit ein Beurteilungskriterium heranzieht, das von der ordnungspolitischen Frage der Wettbewerbs-Spielregeln völlig absieht.

VII. Konsumentensouveränität und konsensfähige konstitutionelle Interessen Versteht man das Konzept des Leistungswettbewerbs im oben erläuterten Sinne, dann wird mit diesem Leitbild dieselbe Vorstellung eines durch Konsumentenwünsche gesteuerten wirtschaftlichen Prozesses ausgedrückt, auf die Adam Smith mit der Formel vom „einfachen System der natürlichen Freiheit" abgestellt hat und für die William H. Hütt den Begriff der Konsumentensouveränität geprägt hat.21 Auch das Konzept der Konsumentensouveränität, das ebenso häufig mißdeutet worden ist wie das des Leistungswettbewerbs, läuft auf die Vorstellung eines wirtschaftlichen Steuerungssystems hinaus, das Konsumentenentscheidungen zu den letztlichen „Reglern" des wirtschaftlichen Prozesses macht. Ebenso wie beim Konzept des Leistungswettbewerbs geht es dabei nicht um eine einfache Beschreibung faktischer Marktprozesse, sondern um ein Steuerungsirfea/, an dem existierende Wettbewerbsordnungen gemessen werden können.22 Und ebenso wie die Freiburger es als die wesentliche Aufgabe von Ordnungspolitik ansehen, die faktische Wirtschaftsverfassung dem Ideal des Leistungswettbewerbs näher zu bringen, so sieht auch Hütt in der Realisierung des Ideals der Konsumentensouveränität eine Aufgabe institutionengestaltender Politik.23 Die Ideale des Leistungswettbewerbs und der Konsumentensouveränität sind beide gleichermaßen verfahrensorientiert. Es geht bei ihnen darum, nach Verfahren oder Spielregeln zu suchen, die die größtmögliche Gewähr dafür bieten, daß die Konsumentenwünsche die entscheidende Regelgröße im Wirtschaftsprozeß sind. Oder anders gesagt, es geht darum, den Regelrahmen so zu gestalten, daß eine größtmögliche Reagibilität gegenüber den Konsumentenwünschen erreicht wird, daß Produzentenentschei21 Hütt (1943, 215): „When I think of economic freedom, I think of a productive system commanded by 'consumers' sovereignty'. This is a notion which ... indicates that ultimate power to determine the use of resources which are 'scarce' ... shall be vested in the people. It implies that the goodness or success of productive effort can be judged only in the light of consumers' preferences." 22 Je nach den faktischen institutionellen Bedingungen kann Konsumentensouveränität, wie Hütt (1936/ 1990, 261) feststellt, in unterschiedlichem Ausmaß realisiert sein: „According to the nature of the economic institutions tolerated or created by the State, so we may regard consumers' sovereignty as receiving complete or incomplete expression; and it is under competitive institutions that we find its full and untrammelled realization." 23 Das Konzept der Konsumentensouveränität, so stellt Hütt (1943, 215) fest, „does not imply State passivity. The arrangements required to make the ideal of consumers' sovereignty realisable exclude any idea of an acquiescent State. Hence economic freedom as I understand it does not mean laissezfaire in the popular sense. It simply means the end of 'pressure-group planning'; and the beginning of 'institutional planning'; and when I talk of 'institutional planning' I am thinking of the fashioning of a framework within which free cooperation is possible."

Die normativen Grundlagen von Ordnungspolitik • 721 düngen möglichst wirksam in den Dienst von Konsumentenpräferenzen gestellt werden. Dieses Steuerungsideal ist von Eucken4 und Böhm (1981, 135; 1937, 109f., 127) nicht minder deutlich betont worden wie von Adam Smith (1776/1981, 660f.). Nun könnte freilich jemand fragen, warum es denn wünschenswert sein sollte, die Wirtschaftsverfassung mit dem Ziel zu gestalten, die Reagibilität gegenüber den Konsumenteninteressen statt gegenüber den Produzenteninteressen zu fördern. Denn Menschen sind ja in der Regel sowohl als Konsumenten wie auch als Produzenten in den wirtschaftlichen Nexus eingebunden und finden sich daher auf beiden Seiten dieses Interessenkonflikts.25 Angesichts dieses Umstandes mag nicht jeder die Feststellung von Adam Smith (1776/ 1981, 660) als abschließende Antwort betrachten, daß die Produktion dem Konsum dienen solle, sei zu offensichtlich, um noch eines weiteren Arguments zu bedürfen. 26 Versteht man im oben erläuterten Sinne die ordnungspolitischen Empfehlungen der Freiburger Ordo-Liberalen als Antworten auf die Frage, welche Spielregeln im konsensfähigen konstitutionellen Interesse aller Jurisdiktionsmitglieder liegen, dann läuft die Empfehlung einer an den Konsumentenwünschen orientierten Ordnung des Leistungswettbewerbs oder der Konsumentensouveränität auf das Argument hinaus, daß eine solche Ordnung für alle Jurisdiktionsmitglieder wünschenswerter ist als eine Wirtschaftsverfassung, die auf ihre Interessen als Produzenten abstellen würde. Dieses Argument ist, wie mir scheint, in der Logik des Freiburger Forschungsprogramms in der Tat angelegt, auch wenn es in den Beiträgen von Eucken und Böhm so nicht explizit zu finden ist. In ausführlicherer Formulierung würde es besagen, daß protektionistische Produzenteninteressen im Widerspruch zu den Konsumenteninteressen an Leistungswettbewerb nicht konsensfahig sind. Protektionistische Interessen sind Privilegieninteressen. Sie zielen auf eine Sonderbehandlung bestimmter Personen oder Gruppen, nicht auf für alle gleichermaßen geltende Regelungen. Protektionsprivilegien werden von bestimmten und fur bestimmte Produzentengruppen angestrebt. Würden sie allen Produzenten gleichermaßen gewährt, wären sie für keinen mehr wünschenswert. Die Interessen von 24 Eucken (1990, 163): „Bei Konkurrenz bestimmen die Konsumenten über Art und Umfang der Produktion, wobei die Unternehmer letztlich ... in ihrem Auftrag handeln." - Siehe auch Eucken (1932, 320), wo es über die Steuerungsiunktion der Konsumentenentscheidungen in der Wettbewerbswirtschaft heißt, daß „die Konsumenten die produktiven Kräfte mit Hilfe der Preise in die zahlreichen Verwendungen hereinsaugen". 25 Hütt (1936/1990, 257f.): „In regarding the individual as a consumer, we do not see him in his full relationship to society. He is usually also a producer. But as a producer he is the servant of the community. ... As a 'consumer', each directs. As a 'producer', each obeys." 26 Mit Bezug auf WH. Hütt meint Buchanan (1991, 121) zu dieser Frage: „The appeal to consumers' sovereignty (carefully qualified and interpreted) is perhaps persuasive to economists, but there is no easy response to someone who asks: Why consumers?" - Über seine eigene Antwort sagt Buchanan (1991, 121 f.): „If we reject both the utilitarian and the natural rights positions, what are we left with? To me, the answer here has always seemed obvious. Contractarianism is the one generalized philosophical position consistent with the classical liberal defense of freedom of exchange. Indeed, contractarianism can be interpreted as little more than an extension of the paradigm of free exchange to the broader setting. ... By shifting 'voluntary exchange' upward to the constitutional level of choices among rules, the consensual or general agreement test may be applied." - Die von Buchanan nahegelegte Interpretation des Prinzips der Konsumentensouveränität als eines konstitutionellen Prinzips, dessen Attraktivität auf der Ebene der Regelwahl zu beurteilen ist, wird auch hier im folgenden zugrunde gelegt.

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Konsumenten an Leistungswettbewerb sind demgegenüber, auch wenn sie sich auf unterschiedliche Marktbereiche konzentrieren sollten, kompatibel und konsensfahig. Hier gilt umgekehrt, daß diesem Interesse um so mehr gedient ist, je umfassender das Prinzip des Leistungswettbewerbs zur Anwendung kommt. Es sind die wünschenswerten Funktionseigenschaften, die eine am Ideal des Leistungswettbewerbs oder der Konsumentensouveränität orientierte Wettbewerbsordnung für alle Jurisdiktionsmitglieder hat, die eine solche Ordnung aus der Sicht der Freiburger Ordnungsökonomik empfehlenswert machen. Oder anders gesagt, die Vorzugswürdigkeit einer solchen Ordnung gegenüber möglichen Alternativen wird in ihrem 'sozialen Nutzen' gesehen, darin - daß sie im Allgemeininteresse liegt (Böhm 1973, 40). Dabei wird, wie bereits erwähnt, klar erkannt, daß die Frage, ob eine solche Wettbewerbsordnung - in der hier verwandten Terminologie - im konsensfahigen konstitutionellen Interesse der Jurisdiktionsmitglieder ist, von der Frage unterschieden werden muß, ob die einzelnen einen Anreiz haben mögen, die Spielregeln einer solchen Ordnung zu übertreten oder für sich Sonderregelungen zu erwirken. Die Wünschbarkeit der Wettbewerbsordnung liegt in den wechselseitigen Vorteilen, die möglich werden, wenn sich alle an die Spielregeln dieser Ordnung halten. Aber das, was auf der konstitutionellen Ebene als Vorzug einer wettbewerblichen Ordnung erkannt wird, kann auf der subkonstitutionellen Ebene durchaus als lästiger Zwang empfunden werden, so daß für jeden einzelnen der Anreiz besteht, sich wettbewerblichen Zwängen dadurch zu entziehen, daß er die Spielregeln übertritt oder protektionistische Privilegierung sucht.27 Sich selbst dem Wettbewerb auszusetzen ist zwar ein Preis, den man zu zahlen bereit ist, wenn dies die unumgängliche Vorbedingung dafür ist, daß die anderen dies auch tun. Es ist aber ein Preis, den man gerne vermeidet, wenn man auch ohne ihn die Vorteile einer ansonsten wettbewerblichen Umwelt genießen kann. Angesichts einer solchen Anreizkonstellation bedarf es einer wirksamen Durchsetzung der Spielregeln des Leistungswettbewerbs, wenn die Vorteile, die eine gemeinsame Bindung an diese Regeln ermöglicht, nicht vertan werden sollen.28 27 Böhm (1980, 158f.) hat dieses Problem der Bedrohung einer marktwirtschaftlichen Wettbewerbsordnung prägnant umschrieben: „Empirisch freilich liegen die Dinge so, daß bei jeder Ordnung, die auf die organisierende Kraft von Spielregeln angewiesen ist, für jeden Teilnehmer und für jede partikuläre Gruppe von Teilnehmern die Möglichkeit besteht, durch Spielregelverletzung Vorteile zu erlangen. Natürlich auf Kosten anderer Teilnehmer oder Teilnehmergruppen. Auch in der Marktwirtschaft besteht die Möglichkeit, das Mogeln zu einer Einnahmequelle zu machen. ... Ungleich viel wirksamer ist jedoch der Versuch von Teilnehmergruppen, sich an die Tatsache zu erinnern, daß ihre Mitglieder ja auch Wähler und Mitträger der Volkssouveränität sind, und diese Qualitäten ihrer Beitragszahler im Raum des Staats und der Politik zur Geltung zu bringen. Hier setzt man sich erst gar nicht dem Odium aus, selbst zu mogeln, sondern erhebt mit dem besten Gewissen der Welt die Forderung an den Gesetzgeber oder an die Regierung, das Mogeln zum Gesetzgebungs- oder Regierungsprogramm zu erheben. Wer sich als Souverän betätigt, lebt gleichsam auf einer Alm, wo es keine Sünde gibt, wo man Schutzzölle, Steuerprivilegien, direkte Subventionen, Preisstützungen, Starthilfen für Monopolisierungen und sogenannte 'Marktordnungen' fordern und mit solchem Tun seine soziale und politische Reputation sogar noch wirksam vermehren kann. ... Der Staat ist es in eigener Person, der veranlaßt werden soll, sich zugunsten einer Gruppe und auf Kosten anderer Gruppen von Staatsbürgern über die Spielregeln der geltenden Ordnung hinwegzusetzen." 28 Auf diese Notwendigkeit weist Euchen (1938, 81) hin, wenn er feststellt, daß die Durchsetzung des Leistungswettbewerbs „eine der vielen Aufgaben staatlicher Wirtschaftsverfassungspolitik darstellt."

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VIII. Schluß In diesem Beitrag ging es mir vor allem darum, zwei Gedanken zu entwickeln: erstens das Argument, daß das Freiburger Forschungsprogramm als Programm einer angewandten Ordnungsökonomik verstanden werden kann, die ohne jeden Anspruch auf einen Sonderstatus als 'normative Wissenschaft' ganz im Sinne des methodologischen Postulats der Werturteilsfreiheit betrieben werden kann. Zweitens wird dem Gedanken nachgegangen, daß es in diesem Forschungsprogramm letztlich um die Frage geht, wie eine Wirtschaftsordnung beschaffen ist, von der man begründet annehmen kann, daß sie im konsensfahigen konstitutionellen Interesse aller Jurisdiktionsmitglieder liegt. Im Sinne der hier vertretenen Interpretation besagt die Kemthese des Freiburger Ansatzes, daß die marktliche Wettbewerbsordnung eine im konsensfähigen konstitutionellen Interesse aller Jurisdiktionsmitglieder liegende Wirtschaftsverfassung ist. Sofern in der Argumentation zugunsten einer solchen Ordnung auf naturrechtliche oder andere scheinbar 'externe' normative Kriterien Bezug genommen wird, sind derartige Bezüge nicht von systematischer Bedeutung und können zugunsten des Kriteriums der konsensfahigen konstitutionellen Interessen übergangen werden, ohne daß dies das Hauptargument beeinträchtigen würde. Die relevanten ordnungsökonomischen Überlegungen lassen sich ohne Abstrich auf ein Argument gründen, daß den Gedanken einer 'menschenwürdigen Ordnung' im Sinne dieses Kriteriums interpretiert. Was die Freiburger Ordnungsökonomen deutlich aufgezeigt haben, sind die Schwierigkeiten, die der Realisierung einer solchen Ordnung entgegenstehen, ungeachtet ihrer Wünschbarkeit für die betroffenen Personen. Die marktliche Wettbewerbsordnung ist, so betonen sie, keine sich als Naturgeschenk selbst etablierende und durchsetzende Ordnung, sondern eine pflegebedürftige kulturelle Errungenschaft (Böhm 1950, XXXV). Dabei haben Eucken und Böhm klar erkannt, daß es sich bei diesen Schwierigkeiten nämlich den Anreizen, durch Regelübertretung und/oder Privilegiensuche Sondervorteile zu realisieren - um, wie wir es heute ausdrücken würden, Gefangenen-Dilemmata handelt. Sie haben ebenfalls klar erkannt, daß die Realisierung der konsensfähigen konstitutionellen Interessen - sie sprechen von Allgemeininteresse oder von volkswirtschaftlichem Gesamtinteresse - keine Frage individueller Moral, sondern eine Frage 29

adäquater Rahmenbedingungen ist. Ordnungspolitik hat in ihrer Sicht die Aufgabe, durch die Gestaltung und Pflege einer geeigneten Rahmenordnung die genannten Gefangenen-Dilemmata zu beseitigen. Wie Eucken (1990, 365) es formuliert: „Den spontanen Kräften der Menschen zur Entfaltung zu verhelfen und zugleich dafür zu sorgen, daß sie sich nicht gegen das Gesamtinteresse richten, ist das Ziel, auf das sich die Politik der Wettbewerbsordnung richtet."30 29 Eucken (1990, 368): „ ... daß das Problem der Spannung zwischen Einzelinteresse und Gesamtinteresse durch sittliche Erziehung erleichtert, aber nicht gelöst werden kann. ... Von den Menschen darf nicht gefordert werden, was allein die Wirtschaftsordnung leisten kann: ein harmonisches Verhältnis zwischen Einzelinteresse und Gesamtinteresse herzustellen." 30 Im Hinblick auf die Frage, „wie Einzelinteressen und Gesamtinteresse in Harmonie miteinander gebracht werden können", stellt Eucken (1990, 367) fest: „Es ist eine ordnungspolitische Aufgabe, dieses Problem zu lösen." - Siehe auch (1990, 350-360, 370-373).

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Die letztliche Überprüfungsinstanz für die Hypothesen, die der Ordnungsökonom darüber aufstellt, welche Regelungen im konsensfahigen konstitutionellen Interesse der Jurisdiktionsmitglieder liegen, sind offenkundig die tatsächlichen konstitutionellen Interessen der betroffenen Personen. Dies bedeutet freilich nicht, daß jegliche denkbare Äußerungsform dieser Interessen als relevanter Maßstab gelten kann. Obschon diese Frage im Rahmen des Freiburger Forschungsprogramms nicht explizit erörtert worden ist, bereitet es meines Erachtens keine Schwierigkeit, auch im Rahmen dieses Programms von der Antwort auszugehen, die dazu in der Constitutional Economics Buchanans gegeben wird. Danach liegt der entscheidende Test dafür, ob Regelordnungen im konsensfähigen konstitutionellen Interesse der Mitglieder der in Frage stehenden Jurisdiktionen sind, letztlich in deren freiwilliger Zustimmung. Wenn sie sich auch nicht in solchen Kategorien geäußert haben, dürften vermutlich weder Eucken noch Böhm Schwierigkeiten gehabt haben, das Kriterium der freiwilligen Zustimmung aller als letztendlichen normativen Maßstab gelten zu lassen. Wie dieses am angemessensten praktisch angewandt oder operationalisiert werden kann, ist eine der besonders klärungsbedürftigen Fragen einer angewandten Ordnungsökonomik. Ein zentrales Problem ist in diesem Zusammenhang, wie der politische Regelwahlprozeß geordnet werden kann, um die Chancen zu erhöhen, daß in ihm die konsensfahigen konstitutionellen Interessen der Jurisdiktionsmitglieder zur Geltung gebracht werden. Daß die gängigen Verfahren demokratischer Politik in dieser Hinsicht mit Mängeln behaftet sind, ist von den Vertretern der Freiburger Schule ebenso gesehen worden wie von der neueren Public Choice-Theorie.31 Allgemein gesagt geht es hier darum, durch geeignete Verfahren ein Steuerungssystem zu schaffen, das die Politiker, also die 'Produzenten von Politik', gegenüber den konsensfähigen Interessen der Bürger ähnlich reagibel macht, wie die marktliche Wettbewerbsordnung die Produzenten gegenüber den Konsumenten reagibel machen soll. So wie man das Konzept der Konsumentensouveränität als Leitbild für die ordnungspolitische Gestaltung der marktlichen Wettbewerbsordnung interpretieren kann, so könnte man das Leitbild der ordnungspolitischen Gestaltung des politischen Wettbewerbs mit dem Begriff der Bürgersouveränität umschreiben. Wie eine solche Ordnungspolitik für den öffentlichen Bereich aussehen könnte, ist eine der zentralen Fragen, denen sich eine das Freiburger Forschungsprogramm weiterfuhrende Ordnungsökonomik zu widmen hat.

31 Im Hinblick auf den Politiker, der an die „nächsten Wahlen" denkt, heißt es etwa bei Böhm (1980, 163): „Er wird daher geneigt sein, die Entscheidung so zu treffen, daß die für das Regierungslager wichtigeren Kreise zufrieden sind und sich das Mißvergnügen auf Kreise beschränkt, die für die Wahlen nicht so wichtig sind. Wie will man aber diesen Erfolg erzielen, wenn man sich nach sogenannten Ordnungsprinzipien richtet? Nach Ordnungsprinzipien, von denen dispensiert zu werden jede Interessengruppe im ganzen Staatsgebiet hofft?"

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Zusammenfassung Die Frage der normativen Grundlagen des ordnungspolitischen Ansatzes der Freiburger Schule ist häufig Gegenstand kritischer Erörterung gewesen. In diesem Beitrag werden zwei Gedanken entwickelt: erstens das Argument, daß das Freiburger Forschungsprogramm als Programm einer angewandten Ordnungsökonomik verstanden werden kann, die ohne jeden Anspruch auf einen Sonderstatus als 'Normative Wissenschaft' ganz im Sinne des methodologischen Postulats der Werturteilsfreiheit betrieben werden kann. Zweitens wird dem Gedanken nachgegangen, daß es in diesem Forschungsprogramm letzlich um die Frage geht, wie eine Wirtschaftsverfassung beschaffen ist, von der man begründet annehmen kann, daß sie im gemeinsamen Ordnungsinteresse oder konsensfahigen konstitutionellen Interesse aller Mitglieder der in Frage stehenden Jurisdiktion liegt.

Summary The normative Foundation of

Ordnungspolitik

The issue of the normative foundation of the Ordnungspolitik concept of the Freiburg School has been a subject of critical debate. The present article seeks to support two arguments. First, that the Freiburg research program aims at an applied constitutional economics and that, as such, it can be successfully pursued without any need to overstep the boundaries set by Max Weber's principle. And, second, that this research program is ultimately concerned with the issue of what kind of economic constitution can be supposed to be in the common interest of a jurisdiction's constituency.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1997) Bd. 48

Alfred Schüller

Die Kirchen und die Wertgrundlagen der Sozialen Marktwirtschaft Inhalt I. Kirchen und Wissenschaft als'ordnende Potenzen'? II. Konkurrierende Wertgrundlagen der Sozialen Marktwirtschaft 1. Soziale Marktwirtschaft vom Typ I: Das Individualprinzip als Wertgrundlage 2. Soziale Marktwirtschaft vom Typ II: Das Kollektivprinzip als Wertgrundlage III. Das Gemeinsame Wort der Kirchen - ein Wegweiser aus der Krise? 1. Ordnungstyp II - Orientierungsgrundlage der Kirchen 2. Die ordnungspolitischen Empfehlungen des Gemeinsamen Wortes Literatur Zusammenfassung Summary: The Church and the Fundamental Values of the Social Market Economy

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I. Kirchen und Wissenschaft als 'ordnende Potenzen'? „Im Suchen nach einer Ordnung, die eine freie und gerechte Gesellschaft ermöglicht, begegnen sich die Kirchen mit der Wissenschaft. Können sie hier gemeinsam als ordnende Potenz wirken?" Diese Frage, die Walter Eucken in seinem wirtschaftspolitischen Hauptwerk 'Grundsätze der Wirtschaftspolitik' (1952/1990, 347) stellt, ist angesichts ungelöster Ordnungsprobleme - im Bereich der Arbeitsmärkte und diverser Gütermärkte, der Systeme der sozialen Sicherung und der Staatsfinanzen - von hoher Aktualität. Wirtschaft und Politik haben bislang auf die großen Herausforderungen der Gegenwart keine befriedigende Antwort gefunden. 1 Die Wissenschaft hat nachdrücklich auf notwendige Reformen aufmerksam gemacht, wie in diesem Jahrbuch seit dem Erscheinen des ersten Bandes im Jahre 1948 nachzulesen ist. Von einem gemeinsamen Wirken von Wissenschaft und Kirchen konnte nur vereinzelt die Rede sein, wie auch von kirchlicher Seite beklagt wird {Lehmann 1996, 7). Immerhin ist zu erinnern an bemerkenswerte 1 Ausdruck hierfür ist die unzureichende Fähigkeit, die Krise des Beschäftigungssystems und der Systeme der sozialen Sicherung zu bewältigen, die laufenden öffentlichen Haushalte und die Staatsschulden endlich zurückzuschrauben und solide zu finanzieren sowie auf das Phänomen der alternden Gesellschaft und die damit verbundenen Lasten mit zukunftsweisenden Lösungen zu reagieren.

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Gedanken, die sich katholische Sozialethiker 1976 über die Grenzen und die Krise des Sozialstaats und die deutschen Bischöfe 1980 zur wachsenden Staatsverschuldung gemacht haben (siehe hierzu Rauscher 1985, 307 ff.). Zu erinnern ist auch an die Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) von 1991 zu Fragen der Zukunftsfähigkeit wirtschaftlichen Handelns und unserer wirtschaftlichen Ordnung. Im Jahre 1994 haben der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz einen in der Öffentlichkeit viel beachteten 'Konsultationsprozeß' für ein Gemeinsames Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland eingeleitet. Im Februar 1997 wurde das Ergebnis einer lebhaften Diskussion unter dem Titel „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit" (hier zitiert als Gemeinsames Wort) veröffentlicht. Darin wird dazu aufgerufen, die Wertgrundlagen der Sozialen Marktwirtschaft zu erneuem. Können die Kirchen, so fragt Anton Rauscher (1997), vom christlichen Verständnis des Menschen und der Gesellschaft her einen Beitrag leisten, um die wirtschaftliche, soziale und moralische Krise zu überwinden? Die von den Kirchen gewünschte kritische Auseinandersetzung mit dem Gemeinsamen Wort setzt zunächst eine Verständigung über die konkurrierenden Wertorientierungen der Sozialen Marktwirtschaft voraus. Die Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft hängt nämlich davon ab, welche Wertvorstellung sich durchsetzen wird. Weil es in diesem Konflikt um Ordnungen geht, die entscheidend sind für die materiellen Grundlagen der geistigen, sittlichen und religiösen Daseinsbedingungen der Menschen, verdient ein Gemeinsames Wort der Kirchen ganz besondere Beachtung.

II. Konkurrierende Wertgrundlagen der Sozialen Marktwirtschaft Jede Wirtschaftsordnung beruht auf bestimmten Wertgrundlagen, auf Annahmen, was als eine wünschenswerte Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung gelten kann (siehe Vanberg in diesem Band). Walter Euchen (1950, 240) sah ein wesentliches Anliegen seiner ordnungstheoretischen Bemühungen in der Frage „einer funktionsfähigen und menschenwürdigen Ordnung der Wirtschaft". Eine Antwort auf die Frage, was darunter zu verstehen ist, hätte man eigentlich von den Kirchen erwartet. Trotz der Berufung auf das „christliche Verständnis vom Menschen und auf unveräußerliche Grundrechte" fehlt jedoch dem Gemeinsamen Wort von Anfang an eine grundsätzliche Wertorientierung im Sinne der christlichen Anthropologie und Soziallehre. Was können und sollen - etwa im Verhältnis der Prinzipien Personalität, Subsidiarität und Solidarität - die Menschen in den wirtschaftlichen und sozialen Belangen einer freien Gesellschaft selbst bewältigen? Was ist von ihren Selbsthilfeeinrichtungen (Familien, Unternehmen, Kirchen, Vereinen, Verbänden und vielfältigen Gemeinschaften der staatsfreien Solidarität) zu erwarten, und was soll der Staat tun? Auf eine systematische Diskussion um die Verteilung der Aufgaben zwischen Staat und Privaten haben sich die Kirchen nicht eingelassen. Statt dessen wird in der „Hinfuhrung" des Gemeinsamen Wortes2 mit Schlagworten wie Solidarität, Gerechtigkeit, Gemeinwohl, Nachhaltigkeit und Egoismus argumentiert. Die 2

Im folgenden werden die Fundstellen anhand der durchnumerierten Ziffern des Gemeinsamen zitiert; Hervorhebungen von A.S.

Wortes

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Inhalte und Beurteilungsmaßstäbe hierfür lassen sich nur aus bestimmten Wertannahmen folgern. Welche sind gemeint? Sind diese miteinander vereinbar? Dem Gemeinsamen Wort liegen zwei unterschiedliche Auffassungen von Sozialer Marktwirtschaft mit grundverschiedenen Menschenbildern und Staatsverständnissen zugrunde. Das hat Konsequenzen für die Diagnose der Krisenerscheinungen und für den Wert des kirchlichen Beitrags zu der geforderten Neuorientierung der Sozialen Marktwirtschaft (siehe Kapitel III.). Freilich spiegelt das Kirchenpapier damit nur wider, was in der Gesellschaft festzustellen ist: Ein fundamentaler Dissens über die Ursachen der Krise und über die Möglichkeiten, diese zu bewältigen. Der erste Typ von Sozialer Marktwirtschaft hat das Individualprinzip zur Wertgrundlage; der zweite Typ baut auf dem Kollektivprinzip auf. 1.

Soziale Marktwirtschaft vom Typ I: Das Individualprinzip als Wertgrundlage

a.

Wertorientierung, staatliche Ordnungsaufgaben und wirtschaftliche Ergebnisse

Geht man von den Prinzipien der Katholischen Soziallehre aus, so betont Typ I die Personalität und die freiwillige Solidarität. Daraufbauen - gleichsam 'von unten nach oben' - die Vorstellungen zur Subsidiarität und zur staatlich organisierten Solidarität auf. Der Mensch wird als „sinnbestimmendes Element" (Röpke in diesem Band) in den Mittelpunkt der Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik gestellt, wie dies dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft in Walter Euckens Verständnis von den konstituierenden und regulierenden Prinzipien der Wettbewerbsordnung entspricht. Die Wertorientierung dieses Konzepts besteht im Vertrauen erstens in die kreativen Fähigkeiten der menschlichen Person, deren Kraft und Bereitschaft zu einem selbstverantwortlichen Leben und zur freiwilligen Solidarität, zweitens in die Funktions- und Evolutionsfähigkeit der Zivilrechtsgesellschaft. Hierzu ist dem mündigen Bürger Spielraum für Eigenverantwortung und kreative Entfaltung seines Wissens - kurz für Suchund Entdeckungsprozesse, für Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten - zu geben. Die staatliche Ordnungsaufgabe wird in der Konstituierung und Sicherung eines rechtlichen Rahmens für eine freiheitliche Ordnung gesehen, in der sich ein menschenwürdiges und wirtschaftlich erfolgreiches Leben entwickeln kann (Eucken 1952/1990, 14). Dies setzt voraus, daß die Freiheitsrechte nicht zu Lasten anderer Menschen mißbraucht werden können. Hierzu ist private und staatliche Macht zu verhindern oder zu begrenzen. Das wirksamste Entmachtungsinstrument wird im Wettbewerb gesehen. Deshalb steht eine bewußte Politik der Wettbewerbsordnung im Mittelpunkt der staatlichen Ordnungsaufgaben. Vertragsfreiheit, Marktpreiskoordination, Privateigentum und Wettbewerb werden als unverzichtbar angesehen, um ein produktives, ressourcensparendes Leistungs- und Kostenbewußtsein zu erzeugen. Unternehmungen und unternehmensgebundene Beschäftigungsmöglichkeiten werden als Ausfluß der Privatrechtsautonomie, der Nutzung des Marktpreissystems als Teil des wettbewerblichen Suchens nach nützlichen Tausch-

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beziehungen aufgefaßt. In allen Teilaspekten des Marktsystems, also auch der Arbeitsmärkte, in den sozialen Sicherungssystemen und den staatlichen Leistungsangeboten geht es um die Suche nach günstigen zwischenmenschlichen Austauschbeziehungen. Die soziale Dimension des Individualprinzips ist damit offenkundig. Je weiter die Wirtschaftsverfassung des Wettbewerbs greift, desto mehr wirtschaftliche Aspekte der Zivilrechtsgesellschaft stehen in einem marktwirtschaftlichen Funktions- und Bewertungszusammenhang. So ist die Orientierung der Rechtsverhältnisse auf Arbeitsmärkten an den Anforderungen der Produktmärkte Bedingung dafür, daß der Strukturwandel eine Quelle des Wohlstands für alle bleibt, die auf Arbeit angewiesen sind, arbeiten wollen und können. Nur dann bleibt die Arbeit als die „grundlegende Dimension menschlicher Existenz und Würde" (Enzyklika Laborem Exercens 1981) bezahlbar. Die Politik der Wettbewerbsordnung wird zugleich als der entscheidende Ansatzpunkt für eine soziale Ordnungspolitik betrachtet: - für eine Wirtschaftspolitik, die bewußt darauf gerichtet ist, der Entstehung sozialer Fragen im Gesamtzusammenhang der Wirtschaftsordnung entgegen zu wirken; in diesem Zusammenhang bieten Euckens konstituierende und regulierende Prinzipien Ansatzpunkte für vielfältige marktkonforme sozialpolitische Vorkehrungen; - für wettbewerbsorientierte Systeme der sozialen Sicherung auf der Grundlage des Versicherungsprinzips mit Kontrahierungszwang und Diskriminierungsverbot; - für eine kostengünstig einlösbare Pflicht zu einer Mindestversicherung für den Fall der Krankheit, Invalidität, Arbeitslosigkeit und für das Alter; - für eine zahlungskräftige, staatlich organisierte Solidarität für jene, die vorübergehend oder dauerhaft daran gehindert sind, von den Möglichkeiten des Marktsystems und der freiwilligen Solidarität menschenwürdig zu leben, und deshalb auf öffentliche Vor- und Fürsorge angewiesen sind. Der besondere soziale Gehalt dieses Ordnungstyps wird in Ordnungsbedingungen gesehen, die geeignet sind, einen leistungsfähigen, beschäftigungsfreundlichen Produktionsbereich zu ermöglichen und so die Entstehung sozialer Fragen soweit wie möglich zu verhindern, gegebenenfalls aber deren Lösung auf einer soliden finanziellen Grandlage zu erleichtem. Dem dienen neben den konstituierenden und regulierenden Prinzipien der Wettbewerbsordnung auch bestimmte Prinzipien für die Ordnung des politischen Prozesses: Erstens sollte die Politik des Staates darauf gerichtet sein, wirtschaftliche Machtgruppen aufzulösen oder ihre Funktionen zu begrenzen; zweitens sollte die wirtschaftspolitische Tätigkeit des Staates auf die Ordnungspolitik gerichtet sein, nicht auf die Lenkung des Wirtschaftsprozesses (Eucken 1952/1990, 334 ff.). Diese Regeln für die Ordnung des politischen Bereichs beruhen auf der Vorstellung, daß „die Option für das marktwirtschaftliche System und die privilegienlose Zivilrechtsgesellschaft" (Böhm 1980, 164; Vanberg in diesem Band) als eine verfassungspolitische Grundentscheidung zugunsten einer Gesellschaft zu werten ist, in der, jeder die gleichen Rechte und den gleichen Status, nämlich den Status einer Person des Privatrechts" (Böhm 1980, 107) innehat.

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Das Ideal einer Ordnung von gleichberechtigten und gleich freien Menschen hat mehrere wirtschaftliche Vorzüge: In dieser Ordnung ist die staatlich organisierte Solidarität begrenzt. Die Staatsquote kann dementsprechend gering sein, jedenfalls eher bei dreißig als bei vierzig Prozent liegen. Dies stärkt das Innovations- und Anpassungsvermögen des privatwirtschaftlichen Sektors mit günstigen Wachstums- und Beschäftigungsperspektiven; denn jenseits der Sicherung des Rechtsschutzstaates und der öffentlichen Vorsorge für wirklich Bedürftige kann man sagen: Je kleiner die Staatsquote, desto größer das Ausmaß der privatwirtschaftlichen Entfaltungsmöglichkeiten. b. Das 'Denken in Ordnungen' und die Kirchen Typ I der Sozialen Marktwirtschaft beruht auf Prinzipien, die in einem sozialethischen Sinne begriffen werden können, wenn die soziale Problematik als eine solche der Gesamtordnung, nicht aber als eine „Sozialkonstruktion im isolierten Raum" (MüllerArmack 1950/1981, 68) aufgefaßt wird. So denken auch maßgebende Repräsentanten der Kirchen. Bischof Lehmann (1996) zum Beispiel stellt im Hinblick auf die ethischen Dimensionen wirtschaftlichen Handelns eine bemerkenswerte Nähe der ordnungspolitischen Vorstellungen, die der Enzyklika Centesimus Annus (1991) zugrunde liegen, zum Ordnungstyp I fest. Im 'Denken in Ordnungen' haben Wissenschaft und Kirchen (und dies ist in der katholischen Soziallehre weniger umstritten als in der evangelischen Soziallehre) eine tragfähige sozialethische Basis, um gemeinsam als ordnende Potenz zu wirken. K. Paul Hensel (1949, 229 ff.) und Walter Eucken (1952/1990, 348) verweisen in diesem Zusammenhang auf die Wettbewerbsordnung als der einzigen Ordnung, „in der das Subsidiaritätsprinzip voll zur Geltung kommen kann". Nach Lehmann gehen Versuche, bestimmte Bereiche der Wirtschaftspolitik isoliert, autonom oder punktuell zu behandeln, an der Erkenntnis vorbei, daß prinzipiell alle Gebiete der Wirtschaftspolitik als Teil einer ordnungspolitischen Gesamtentscheidung für eine Wirtschaftsverfassung des Wettbewerbs angesehen werden müssen. Die entscheidenden Wertgrundlagen dieser Ordnung sind mitgeprägt von religiösen Bindungen und Weltanschauungen. Das davon bestimmte soziale und ethische Ordnungswollen beruht auf der Annahme, daß es im Wettbewerb um knappe Mittel starke menschliche Neigungen gibt, durch Diebstahl, Erpressung, Betrug, Ausbeutung, Verweigerung der Gegenleistung und unanständigem ('opportunistischem') Leistungsverhalten zu Wohlstand zu kommen. Es bedarf deshalb der „strengsten Zähmung" der Menschen nicht nur durch das Recht und die Sitte, sondern auch durch die Religionen, um sie „auf gewissenhafte Einhaltung der Regeln der Wettbewerbsordnung zu verpflichten" {Röpke 1937/1994, 41). Es besteht kein Zweifel, daß solche ethoshaften Selbstbindungen (Selbstdisziplin, Gerechtigkeitssinn, Ehrlichkeit, Fairneß usw.) das Marktgeschehen reibungsloser, verläßlicher, ressourcenschonender und damit effizienter machen. Das Risiko der Tauschbeziehungen nimmt ab, die Transaktionskosten sinken. Es besteht auch kein Zweifel an der Produktivitätsreserve, die darin liegt, daß die Menschen viele dieser sittlichen Normen mitbringen, „wenn sie auf den Markt gehen und sich im Wettbewerb messen"

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{Röpke 1961, 185). Wenn nun das Marktsystem, wie auch im Gemeinsamen Wort (91) hervorgehoben wird, solche ethoshaften Bindungen nicht selbst in ausreichendem Maße erzeugen kann, so müßte den Kirchen um so mehr an Ausprägungen der Sozialen Marktwirtschaft gelegen sein, die eine möglichst günstige Bilanz im Verhältnis von marktextemem und -internem Moralaufkommen einerseits und Moralverschleiß andererseits verspricht. Vor allem müßte den Kirchen an Ordnungsbedingungen und Ordnungskonsequenzen gelegen sein, gegenüber denen sie selbst nicht Gefahr laufen, sich für Handlungen in die Pflicht genommen zu sehen, durch die die Aufkommens- und Verwendungsseite der gesellschaftlichen Moralbilanz verschlechtert wird. Die dem Ordnungstyp I entsprechende Politik der Wettbewerbsordnung für den wirtschaftlichen und politischen Marktbereich nimmt typischerweise indirekt und generell über die Gestaltung des Ordnungsrahmens Einfluß auf die Marktergebnisse. Dies entspricht der Idee der privilegienlosen Zivilrechtsordnung, die für Bestechung, Korruption und beharrliche Machtausübung sachnotwendig weniger anfällig ist; der Moralverzehr ist vergleichsweise gering. Gleichwohl bietet eine freiheitliche Wettbewerbsordnung immer auch Spielraum für unanständiges ('opportunistisches') Verhalten. Um die damit verbundenen defektiven volkswirtschaftlichen Wirkungen zu begrenzen, sind geeignete moralische Selbstbindungen hilfreich. Damit ist in dem Maße zu rechnen, „wie hierdurch die eigene Wohlanständigkeit durch die Wohlanständigkeit der anderen belohnt und damit bekräftigt wird" {Meyer 1989, 192). Eigeninteresse und Moral schließen sich also keineswegs aus, ergänzen sich vielmehr häufig. Stets neigen Menschen dazu, am liebsten das zu tun, „was auf Dauer auch ihnen selbst zugute kommt, ein Gesetz, das biologische Wurzeln zu haben scheint" (ebenda). Das Zusammenspiel von Eigeninteresse und moralischer Bindung verdient in dem Maße Beachtung, wie bei der Gestaltung der Arbeitsrechtsverhältnisse neben den expliziten (einklagbaren) Leistungsverpflichtungen wechselseitig die impliziten (nicht einklagbaren) Leistungserwartungen zunehmen. Dies ist überall der Fall, wo Unternehmen zur Gewinnung und Wahrung von Wettbewerbsvorteilen auf Spielräume für vielfältige freie Vereinbarungen der Produktions- und Arbeitsbedingungen angewiesen sind. Das Arbeitsverhältnis ist unter diesen Bedingungen noch weniger als sonst von der Herrschaft des Arbeitgebers über die Person des Arbeitnehmers gekennzeichnet, sondern davon, daß sich die Beschäftigten „kreativ in der Kooperation mit anderen an der Verwirklichung arbeitstechnischer Teilzwecke beteiligen, die ihrerseits zwar nach wie vor dem Unternehmen/Arbeitgeber dient, jedoch von diesem nicht im Detail vorgeschrieben, sondern der gemeinsamen Suche der jeweils zuständigen Arbeitnehmer nach dem besten Weg anvertraut wird" {Reuter in diesem Band). Hierfür sind betriebsspezifische Formen des „Mitwissens, der Mitwirkung und der Mitverantwortung" {Wilhelm Röpke) innerhalb eines kooperativen Führungsstils und eines nicht im einzelnen vertraglich festgelegten Leistungsrahmens zu entwickeln. Die Aussicht auf entsprechende Kooperationsgewinne beruht auf impliziten Leistungserwartungen. Nur wenn diese einigermaßen gleichwertig und verläßlich sind, besteht wechselseitig ein hinreichender Anreiz, diese Einkommenschancen systematisch zu nutzen und in Möglichkeiten ihrer Verbesserung zu investieren.

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Von den Unternehmen können die impliziten Leistungserwartungen gestärkt und für die Sicherung der expliziten Leistungsverpflichtungen eingesetzt werden, indem in den Mitarbeitern mündige, selbstverantwortliche Menschen gesehen werden, deren Interessen und Fähigkeiten Beachtung verdienen, indem die Bereitschaft zur Leistung und zum mitverantwortlichen Handeln durch materielle und immaterielle Anreize (unter anderem durch Vermögensbeteiligung) gefördert wird. Diese Einstellung ist jedoch nicht selbstverständlich. Sie setzt vielmehr das oben angesprochene Vertrauen in die kreativen Fähigkeiten der Menschen und ein Arbeits- und Tarifrecht voraus, das im Arbeitgeber/ Arbeitnehmer-Verhältnis nicht von einer Konflikt- und Ausbeutungsbeziehung ausgeht, sondern von der Wohlanständigkeit der Partner und der produktiven Kraft der Kooperation, wie es den modernen kontrakttheoretischen Ansätzen der Unternehmenserklärung entspricht (Schüller 1984, 155 ff.). Je mehr die impliziten Vertragselemente in den Produktions- und Beschäftigungsverhältnissen als Aktionsparameter im Wettbewerb der Unternehmen und damit im Standortwettbewerb an Bedeutung gewinnen, desto größer wird das Interesse einer Gesellschaft sein müssen, der Neigung zu opportunistischem Verhalten „durch Einpflanzung von geeigneten moralischen Standards Grenzen [zu] setzen" (Meyer 1989). Wer es mit der menschlichen Fähigkeit zu Freiheit und Verantwortung wirklich ernst meint (und davon ist im Gemeinsamen Wort an mehreren Stellen die Rede), muß im Hinblick auf die veränderten Anforderungen der Unternehmen im Wettbewerb die erforderlichen Reformen des Arbeitsmarktes und des Sozialstaats anmahnen; er darf jedenfalls nicht vorschnell Partei für die Freiheit machtvoller Verbände ergreifen, die über das bestehende Tarif-, Arbeits- und Mitbestimmungsrecht die Freiheit der Einzelnen beschränken und ihre Beschäftigungschancen verschlechtern können. Ordnungstyp I bietet - bei prinzipiell günstigen Voraussetzungen für vielfaltige private Aktivitäten auch mehr Spielraum für Bürgersinn und freiwillige Solidarität, für die Erschließung privater Hilfen durch Spenden, für ehrenamtliche und gemeinnützige Tätigkeiten. Je mehr sich freie Vereinigungen in der Gesellschaft entfalten können und um knappe Mittel konkurrieren, desto stärker müssen sich die Kirchen auf ihren Wettbewerbs vorteil besinnen - auf ihr großes Reservoir an praktischer Klugheit, an Einsichten in die „Nützlichkeit der Uneigennützigkeit" (Leipold 1997, 54). Freilich ist ein Problem nicht zu übersehen, das auch den Kirchen im Alltag immer wieder begegnet. Der Nutzen und die Kosten des wettbewerblichen Marktsystems werden in der Bevölkerung vielfach asymmetrisch wahrgenommen: Der Nutzen äußert sich in breit gestreuten wirtschaftlichen Handlungs- und Wahlmöglichkeiten. Davon profitieren die Nachfrager, aber auch vor allem diejenigen Anbieter, die im Wettbewerb Leistungen erbringen, die von den Käufern begehrt werden. Einerseits ist der Wettbewerb die leistungsstimulierende und -kontrollierende Bedingung für ein effizientes Marktsystem, andererseits erzeugt er im Entwicklungsprozeß der Märkte Anpassungszwänge, die von denjenigen als unangenehm empfunden werden, die weniger erfolgreich sind, die sich bietenden Gelegenheiten zu nutzen, deren Einkommens- und Beschäftigungssituation sich deshalb verschlechtert. Diese Kosten des Wettbewerbs konzentrieren sich im Wandel des Marktgeschehens häufig auf bestimmte Branchen, Unternehmen und Standorte. Die Kosten sind deshalb bestimmten Personengruppen direkt zurechenbar.

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Diese Konstellation ist einem politischen Klima förderlich, in dem sich mit Hilfe der Verbände und Medien emotionale Betroffenheit ('Mitleidsethik') mobilisieren und Eingriffsbereitschaft 'kaufen' läßt. Hierfür stehen vor allem solche Politiker bereit, die in großzügiger Interpretation von § 1 Abs. 2 des Parteiengesetzes Zuständigkeiten „auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens" beanspruchen, entweder weil sie davon einen Vorteil im Wettbewerb um Wählerstimmen erwarten oder weil sie dazu neigen, wirtschaftliche Ungleichheit mit Unrecht gleichzusetzen und in wettbewerblichen Marktprozessen die Ursache für eine fortschreitende Vertiefung von Ungleichheiten zu sehen. Das Streben nach Sondervorteilen - häufig mit Hilfe von Postulaten einer gruppenspezifischen sozialen Gerechtigkeit - verbindet sich hierbei mit dem Versprechen, konkrete (wählerwirksame) soziale und wirtschaftliche Zustände unabhängig von den Funktionsbedingungen eines wettbewerblichen Marktsystems zu sichern. Wenn dann auch noch Vertreter der Kirchen die Ethik des Teilens größer schreiben als die Ethik des Produzierens und das verbreitete Mißtrauen gegen die Ergebnisse der Wettbewerbsordnung bestärken, kann die Einsicht in die Vorteilhaftigkeit der wirtschafts- und staatspolitischen Grundsätze dieser Ordnung zusätzlich getrübt werden.

2. Soziale Marktwirtschaft vom Typ II: Das Kollektivprinzip als Wertgrundlage a. Wertorientierung, staatliche Ordnungsaufgaben und wirtschaftliche

Ergebnisse

Typ II der Sozialen Marktwirtschaft stellt Typ I gleichsam auf den Kopf. Die staatlich organisierte Solidarität wird betont. Die Prinzipien der Subsidiarität und Personalität werden tendenziell nachrangig - gleichsam 'von oben nach unten' - verstanden. Von den politischen Wegbereitern dieses Ordnungstyps wird unter anderem angenommen (siehe Schüller 1996a, 57 ff.), daß die Privatrechtsgesellschaft mit ihren wirtschafts- und staatspolitischen Grundsätzen keine hinreichende verfassungspolitische Grundlage für eine funktions- und menschenwürdige Ordnung ist. Orientierungspunkte sind vielmehr „soziale Ganzheiten als Wesenseinheiten sui generis" (von Hayek) wie die Gesellschaft und gesellschaftliche Komplexe. Die Wirtschaft, die volkswirtschaftliche 'Gesamtarbeit' werden als gegebene Größe, der Faktor Arbeit und der Faktor Kapital als handelnde Einheiten, die Unternehmungen als Wesenseinheiten 'an sich' betrachtet. Die heutige Form der Mitbestimmung, die Tarifautonomie, der Sozialstaat werden als Institutionen mit einem 'eigenständigen moralischen Wert' aufgefaßt. Typisch für das vom Kollektivprinzip bestimmte Denken sind Polarisierungen wie 'die Wirtschaft hat dem Menschen zu dienen, nicht umgekehrt' oder Konfliktpaare wie 'die Besserverdienenden und die Schwachen'; 'die Reichen und die Armen', 'privater Reichtum und öffentliche Armut'. Die staatliche Ordnungsaufgabe wird darin gesehen, die Struktur und Potenz der Kollektive, die für das Wohl der Menschen besonders wichtig angesehen werden, zu formen und zu stärken. Hierbei wird angenommen: Das Individualprinzip auf der Grundlage eines selbstverantwortlichen Lebens, der Fähigkeit und Bereitschaft zur freiwilligen Solidarität ist dem Einzelnen um so weniger zumutbar, je höher ein Be-

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dürftiis und das zu seiner Befriedigung als geeignet angesehene Gut in der gesellschaftlichen Bedürfhishierarchie angesiedelt werden. Aus dem Denken in notwendigen gesellschaftlichen Bedürfnissen folgt für den Staat die Aufgabe, bestimmte wirtschaftliche und soziale Versorgungszustände zu gewährleisten. Von daher wird versucht, die Kollektive primär unter Verteilungsgesichtspunkten zu beurteilen und zu organisieren. Daran hat sich der staatliche Ordnungsauftrag zu bewähren. Der Produktions- und Leistungsaspekt ist nachrangig oder erwächst aus der Lösung des Verteilungsproblems. Typisch hierfür sind die beiden folgenden Argumente: Erstens das Argument der positiven Wachstumswirkung. Hiernach vergrößert sich durch staatliche Umverteilung das volkswirtschaftliche Gesamteinkommen; damit wird die Lösung von Umverteilungsproblemen also wie eine produktive Investition in die Leistungsfähigkeit der Menschen und damit als eine entscheidende Quelle des wirtschaftlichen Wachstums interpretiert. Das volkswirtschaftliche Produktionsvolumen wird - zumindest bis zu einem bestimmten Ausmaß - als positiv abhängig vom Ausmaß der Umverteilung angesehen; in diesem Sinne gilt der nationale und internationale Wohlfahrtsstaat als eine produktive Kraft. Zweitens das Argument der Umverteilung vorhandener Arbeit. Darin wird eine unverzichtbare Voraussetzung für neue Arbeitsplätze gesehen: ,Riecht auf Arbeit qualifiziert sich somit als ein Partizipationsrecht des Einzelnen an der gesellschaftlichen Gesamtarbeit" {Brakelmann 1987, 19). Davon wird der verfassungsrechtliche Anspruch 'der' Gesellschaft an 'den' Staat abgeleitet, das 'Recht auf Arbeit' faktisch einzulösen. Drittens das Argument der überlegenen Kompetenz des Staates in Verteilungsfragen. Hierbei wird angenommen, daß die damit Beauftragten angesichts schwieriger Informations-, Kompetenz- und Anreizprobleme nicht versagen. Vielmehr wird die mit den sozialpolitischen Maßnahmen angestrebte Umverteilung als tatsächlich erreichbar unterstellt. Darin wird der einzige Weg gesehen, soziale Spannungen auszugleichen oder zu überwinden. Charakteristisch für das Kollektivprinzip sind - zusammengefaßt - folgende Denkweisen: - das Denken in sozialen Grundrechten (Recht auf Arbeit, soziale Sicherheit, Mitbestimmung, Gesundheit, Wohnung, Freizeit, kulturelle Lebensbeteiligung usw.); - das Denken in verteilungsspezifischen Konfliktbeziehungen zwischen sozialen Ganzheiten (Arbeit und Kapital, Wirtschaft und Staat); - das Denken in Durchschnittsgrößen im allgemeinen, in wirtschaftlichen und sozialen Endzuständen im besonderen, ohne Rücksicht auf den Ordnungszusammenhang ihrer Entstehung. Die so verstandene staatliche Ordnungsaufgabe schließt Neigungen und Versuche ein, die Angebotsseite der Volkswirtschaft im Hinblick auf die gesellschaftlich notwendigen Bedürfhisse direkt oder indirekt zu lenken. Hierbei wird angenommen, daß diese Lenkungsaufgabe um so besser gelingt, je weiter das Gewinnstreben der Unternehmen zurückgedrängt werden kann. Für die besonders wichtig eingeschätzten Aufgaben, etwa der sozialen Sicherung, werden deshalb auch umfassende versorgungsstaatliche Monopoleinrichtungen bevorzugt. In der Praxis ist mit dem Kollektivprinzip ein wirtschaftspolitischer Punktualismus verbunden. Die entsprechenden Bereiche sind mehr oder weniger von der Wirtschafts-

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Verfassung des Wettbewerbs entbunden. Für die wohlfahrtsstaatliche Variante des Typs II, die zur Zeit in Deutschland vorherrscht, ist eine interventionistische Politik der Arbeitsmarktgestaltung und der sozialen Sicherung mit einer weitgehenden Absonderung dieser Gebiete vom Geschehen auf den Produktmärkten typisch. Die Unternehmung wird regelmäßig konflikttheoretisch aus dem gegensätzlichen Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital erklärt. Aus dieser Beziehung wird ein strukturelles Mitbestimmungsdefizit des Faktors Arbeit und der Anspruch auf originäre Mitgliedschaftsrechte der Arbeitnehmer am Unternehmen gefolgert. Hierbei wird typischerweise von existierenden Unternehmen, nicht von den Bedingungen ihrer Entstehung und Entfaltung her - etwa auf der Grundlage der Vertragsfreiheit, des Privateigentums, der Marktpreiskoordination und des Wettbewerbs - argumentiert. Das Kapital beherrscht in dieser Sicht wie eine handelnde Einheit nicht nur 'die' Unternehmung und 'die' Wirtschaft, sondern auch 'die' Politik. Folgerichtig wird in den Unternehmen ein entscheidender Ansatzpunkt gesehen, um das dem Faktor Kapital zugeschriebene Übergewicht abzubauen und nicht nur das: Es gilt, das Prinzip des Vorrangs der Arbeit gegenüber dem Kapital zu verwirklichen. Aus dem Verständnis der Unternehmung als Umverteilungsproblem entsteht dann die Neigung, die sozialen Sicherungssysteme an die Arbeitsverhältnisse zu binden, individuelle Berufs- und Lebensrisiken auf die Unternehmen zu übertragen, den Arbeitsvertrag als Dauerarbeitsverhältnis zu interpretieren, den Beschäftigten kollektive Mitverwaltungsrechte und andere Formen der Zwangsbeteiligung am Unternehmensvermögen zu übertragen, die Tarifautonomie für Umverteilungszwecke einzusetzen. Dies geschieht etwa über die Sockellohnpolitik, über die Praxis der knappheitswidrigen Einheitslohnpolitik - Flächentarifdenken, gleicher Lohn für gleiche Arbeit -, durch tarifliche Festschreibung der freiwilligen betrieblichen Sozialleistungen. Wenn es dann gelingt, Institutionen der Arbeitsmarktverfassung und des Sozialstaats im öffentlichen Bewußtsein als Verkörperung des 'sozialen Friedens' und der 'verantwortlichen Gesellschaft' zu verankern, ist die Konsequenz klar: Nicht die Arbeitsmarktverfassung und der Sozialstaat können zu teuer sein, zu teuer ist 'die' Arbeitslosigkeit. Und wer 'die' Wirtschaft als handelnde Einheit begreift, folgert dann auch ungeniert: 'Die Wirtschaft hat dem Menschen zu dienen, nicht umgekehrt', oder: 'die Lehrlingsausbildung ist eine Bringschuld der Unternehmen'; 'wer nicht ausbildet, muß zahlen'; 'Unternehmen haben eine moralische Ausbildungsverpflichtung'. Wer demgegenüber zu bedenken gibt, daß die Ausbildungsbereitschaft der Unternehmen auch von der Höhe der Ausbildungsvergütung abhängt, muß damit rechnen, als unmoralisch, unsozial, ja unchristlich bezeichnet zu werden. Nach diesem Ordnungsverständnis hat die soziale Gerechtigkeit immer nur den Charakter punktueller Ergebnisse des Wirtschaftsprozesses. Als sozial gerecht gilt deshalb auch der typische punktuelle Mitteleinsatz - zur Beschränkimg der Vertragsfreiheit, der freien Preisbildung, der Wettbewerbsfreiheit, der Eigentumsnutzung. Von diesem isolierten, ergebnisorientierten Mitteleinsatz her werden deshalb auch Subventionen und staatliche Transferzahlungen häufig als Ausdruck der sozialen Gerechtigkeit bezeichnet; Bestrebungen, diese zur Entlastung des Staatshaushalts und der Steuerzahler abzubauen, gelten als ungerecht. Durch die mit dem punktuellen Interventionismus entstehende

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'Verinselung' der Wirtschaftspolitik wird der volkswirtschaftliche Rechnungszusammenhang brüchig. Die Bruchstücke müssen dann notdürftig durch bürokratische Bindungsglieder verknüpft werden. Diese „Ersatzverfahren der Koordination" (Hensel 1977, 178) sind mit der Entwicklung abgesonderter Rechts- und Verwaltungssysteme verbunden. Es entstehen Zentren der Rechts- und Verwaltungsevolution eigener Art, nicht selten mit einer entsprechenden Gerichtsbarkeit. Die so entstehenden wirtschaftlichen Handlungen der 'Insulaner' sind - je nach Art der Eingriffe - wenig oder gar nicht von den Institutionen und den jeweils bestehenden Problemlagen des wettbewerblichen Marktsystems bestimmt. Das Verhalten der Akteure ist auf die Anpassung an die Ordnungsbedingungen und Problemlagen der „Ersatzverfahren der Koordination" gerichtet. Das Sonderinteresse wird dem Wohl des Ganzen übergeordnet. Von dieser Gruppenmoral ist nicht nur die Vorstellung der wirtschaftlichen 'Insulaner' von sozialer Gerechtigkeit geprägt, sondern auch die Gewöhnung an die Sonderbehandlung. Mit dem Ausmaß und der Dauer der Isolierung vom allgemeinen Wettbewerbsgeschehen entwickeln sich die Interventionsbereiche zu einer Art von 'Trockeninseln', die sich durch eine von der Umgebung abweichende Vegetation auszeichnen. Unter diesen Bedingungen verringern sich Kraft und Bereitschaft der Begünstigten, den Erfordernissen des wettbewerblichen Marktsystems Rechnung zu tragen. Die Wahrscheinlichkeit einer Revision des Eingriffs hängt negativ von der Dauer und von der Entfernung der Intervention vom (Welt-)Marktgeschehen ab. Damit geht auch das Bewußtsein für die Bedeutung einer marktwirtschaftlichen Rechts-, Tausch-, Preisund Zahlungsgemeinschaft verloren, in der die materiellen Voraussetzungen für die Erfüllung der Sonderansprüche erarbeitet werden müssen. Dieser Bewußtseinsverlust kann so weit gehen, daß der Staat gerade von denjenigen zum Gespött gemacht wird, die ihn flir die eigenen Zwecke am nachhaltigsten beansprucht haben. In einer Art von Bunkermentalität greifen die Geschützten den Staat mit medienwirksamen erpresserischen Demonstrationen an, wenn er die bisherigen Ansprüche nicht mehr erfüllen kann. Hierbei ist in dem Maße mit der Mißachtung des rechtlich-institutionellen Rahmens des Marktsystems, der Verfassung des Rechtsstaats, zu rechnen, in dem der jeweilige Sonderanspruch von prominenten Kirchenleuten moralisch aufgewertet und legitimiert wird, so der Aufruf der Gewerkschaft Bergbau und Energie des Jahres 1997, ein ,3and der Solidarität" zu spannen und mit einer Menschenkette zwischen Neukirchen-Vluyn bis Lünen für den Erhalt der Steinkohlenforderung zu demonstrieren. Der Staat wird mit Nötigungen und moralischen Vorhaltungen dieser Art in die Rolle des Schuldigen gedrängt und gefügig gemacht. In dem Maße, wie die Triebkräfte des Wettbewerbs von den Triebkräften des punktuellen Interventionismus verdrängt und überlagert werden, verliert das Marktsystem an Innovations- und Anpassungsfähigkeit. Je weiter der Punktualismus betrieben wird, desto chaotischer werden die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen (Schüller 1994, 17). Die Revision dieser Entwicklung ist besonders schwierig, wenn die Ordnungsaufgabe des Typs II vom staatspolitischen Grundsatz bestimmt ist: „Recht ist, was die Mehrheit bestimmt bzw. was den Politikern Mehrheiten bei Wahlen einbringt". Dieses Prinzip der „unbegrenzten

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Demokratie" (von Hayek 1971, 127) steht im Widerspruch zu den staatspolitischen Grundsätzen des Ordnungstyps I. Was die wirtschaftlichen Ergebnisse anbelangt, so hat das Solidaritäts- und Subsidiaritätsverständnis, das dem Menschenbild von Typ II zugrunde liegt, zur Folge, daß mit zunehmender Staatstätigkeit die Spielräume für private Aktivitäten immer enger, die Anreize für mehr Leistungen und Investitionen immer schwächer werden (siehe Peffekoven in diesem Band). Die starke Anspruchserwartung der Begünstigten gegenüber dem Staat und die Ausweichhandlungen der Belasteten entwickeln im politischen Prozeß systemzerstörende Kräfte. Ausdruck hierfür ist die im Vergleich zu Typ I hohe Staatsquote von etwa fünfzig Prozent und mehr. Der Versuch, die Kosten des Sozialstaates fortschreitend den Beschäftigungsverhältnissen anzulasten und autonom zu gestalten, schwächt das unternehmerische Innovations- und Anpassungsvermögen und führt in dem Maße in eine Wachstums- und Beschäftigungskrise, in dem der relevante Wirtschaftsraum globalen Charakter annimmt. b. Das Verteilungsdenken und die Kirchen Ordnungstyp II weist einige Eigenschaften auf, die per Saldo negativ für die Moralbilanz einer Gesellschaft sind: (1) Verbände erhalten starke Anreize für den Versuch, auf dem Wege des „politischen Tauschs" {James M. Buchanan) mit den Parteien und mit Hilfe der Staatsbürokratie den Geltungsbereich der allgemeinen wettbewerblichen Marktkontrolle einzuschränken oder zu beseitigen und hierdurch den Mitgliedern einen besonderen Einkommensvorteil, eine künstliche wirtschaftliche Rente zu verschaffen. Hierbei ist die publizistische und moralische Unterstützung der Massenmedien und der Kirchen besonders hilfreich und willkommen. Die Lobby-Ausgaben für rentenbegründende und -sichernde Handlungsrechte und für die in ihrem Gefolge expandierenden Verbände- und Staatsbürokratien stellen aus volkswirtschaftlicher Sicht eine Vergeudung dar; denn diese Aufwendungen dienen nur der Umverteilung, nicht der Wertschöpfung. Die Tauschbeziehungen im wettbewerblichen Marktgeschehen, die in jedem Fall einen Mehrwert erzeugen, werden verdrängt oder überlagert von einem Nullsummenspiel, „das Kräfte verzehrt, die an anderer Stelle fehlen" (Giersch 1985, 19), ja das immer wieder Anreize schafft, in die Sicherung der Sondervorteile zu investieren oder auf der anderen Seite nach Möglichkeiten Ausschau zu halten, um sich vor daraus entstehenden Belastungen zu schützen, zum Beispiel durch das Ausweichen in den informellen Sektor, die sogenannte Schattenwirtschaft. (2) Die Verzerrung oder Auflösung des marktwirtschaftlichen Rechnungszusammenhangs erschwert oder verhindert knappheitsgerechte Tauschbeziehungen. Aus der Verfälschung der individuellen Kosten-Nutzen-Kalküle im Gesamtzusammenhang des Marktpreissystems entstehen Fehlanreize, die bei massenhaftem Auftreten zu schweren strukturellen volkswirtschaftlichen Fehlentwicklungen führen können. In

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den entsprechenden Bereichen der Wirtschaft 3 wird anstelle der wettbewerblichen Marktkontrolle das Prinzip der Staatskontrolle mit einer weitreichenden „institutionellen Zersplitterung" (Gröner 1983, 236 ff.) praktiziert. Die Staatskontrolle ist aber selbst Ursache schwerer ökonomischer Fehlentwicklungen. (3) Je mehr die Wirtschaftspolitik dem Einfluß einer übergeordneten Idee, der 'Wirtschaftsverfassung des Wettbewerbs' und eines übergeordneten Ressorts mit einer eindeutigen Haltung zur marktwirtschaftlichen Ordnung entzogen ist und von Arbeits-, Sozial-, Wohnungs-, Agrar-, Verkehrs- und Industriepolitikern beherrscht wird, desto stärker wird das Verhältnis zwischen den Fachministern dem Streben nach Kompetenz- und Budgetexpansion ausgesetzt sein. In diesem Wettbewerb wird der Ressortegoismus jene Triebkraft des Interventionismus verstärken, die von rentenstrebenden Verbänden und Parteien ohnehin ausgeht. In konkreten Tagesfragen läuft dies auf eine mehr oder weniger massive Minderschätzung der Belange der Gesamtordnung und ihrer gemeinsamen Regeln der Gerechtigkeit hinaus. Im Neben- und Gegeneinander der Eingriffe erhalten die Interventionsressorts im Zusammenspiel mit den jeweiligen Verbänden den Charakter von eigenständigen wirtschafts- und sozialpolitischen Machtkörpern, von Regierungen in der Regierung, die wie wirtschaftspolitische Besatzungsmächte bestrebt sind, ihren Einflußbereich der Aufgabe überzuordnen, an das Wohl des Ganzen zu denken. Insgesamt ist dieser Ordnungstyp besonders anfallig für Korruption und Bestechung, für eine ausgedehnte Subventionsmentalität und -kriminalität sowie für die mißbräuchliche Inanspruchnahme von staatlichen Leistungen und Privilegien. Gerade den Kirchen müßte - zur Schonung der Moralbilanz der Gesellschaft - an einer präventiven Bekämpfung dieser Begleiterscheinungen des Interventionismus gelegen sein. Empirische Untersuchungen zeigen nämlich, daß Volkswirtschaften mit vergleichsweise geringen Neigungen zum Interventionismus auch weniger anfällig für Korruption und Bestechlichkeit der Politiker, der Parlamentarier und Beamten sind (siehe Mauro 1997). Zudem schwächt die Dominanz der staatlich organisierten Solidarität, die sich in einer vergleichsweise hohen Staatsquote ausdrückt, die materiellen Möglichkeiten und Anreize der Menschen für erfolgreiche Experimente, Innovationen und Investitionen auf dem Gebiet der freiwilligen Solidarität. Die Kirchen geraten in die Gefahr, sich in der Welt des Interventionismus einzurichten und mit den gruppenspezifischen Gerechtigkeitsvorstellungen zu identifizieren. Dabei ist folgendes zu berücksichtigen: Das Zusammenspiel der ordnenden Potenzen des Typs II kann in Verbindung mit der Bindungskraft der Eingriffe den begünstigten Gruppen im politischen Prozeß ein solches Eigengewicht und ein solches Beharrungs3

Es handelt sich einmal um Branchen, Unternehmen und Regionen, die im Prozeß der Markt- und Einkommensentwicklung zurückgeblieben sind und über wählerwirksame Verbandsmacht verfugen (Landwirtschaft, Bergbau, Schiffsbau, Eisen- und Stahlindustrie usw.). Zum anderen geht es um bestimmte Maßnahmen der Arbeitssicherung, -forderung und Arbeitsbeschaffung, um gezielte Leistungen der Wohnungsbauförderung, der sozialen Sicherung, des Gesundheitsschutzes, der Verkehrsteilnahme. Schließlich gehören dazu die sogenannte Versorgungswirtschaft (Public Utilities) wie Elektrizitäts-, Gas- und Wasserwirtschaft, das Bildungswesen, der Verkehrs- und Telekommunikationsbereich.

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vermögen verleihen, daß deren Kampf um Sonderinteressen und um die Macht im Staat zu einer Einheit verschmelzen (Eucken 1932, in diesem Band). Aus der Sicht der parteiund staatsbürokratischen Potenzen dieser Ordnimg erhält dann die Frage, wer die Regierang beeinflussen kann, eine überragende Bedeutung. Die Härte des politischen Kampfes in Ländern mit einem hochentwickelten Interventionismus wird deshalb nur vor dem Hintergrund der damit verbundenen Politisierung des Wirtschaftslebens verständlich. Die Begleiterscheinungen sind nicht nur wirtschaftlicher, sozialer und moralischer Niedergang, sondern 'institutionelle Sklerose' und Anzeichen von politischer Unregierbarkeit. Diese erweist sich bei näherem Hinsehen als Konsequenz eines tief und breit verwurzelten Interventionismus mit einer ausgedehnten Subventionspraxis und der daraus entstehenden chaotischen Wirtschaftspolitik. In dieser Situation sehen sich die Kirchen dann in die „Machtkämpfe der Politik hineingezerrt" (Eucken 1952/1990, 347). Ohne klare ordnungspolitische Orientierung stehen die Kirchen mit ihren Arbeitskreisen und Hilfswerken in der Gefahr, sich darin auch zum eigenen Schaden zu verstricken. Davon zeugt das Gemeinsame Wort.

III. Das Gemeinsame Wort der Kirchen - ein Wegweiser aus der Krise? 1. Ordnungstyp II - Orientierungsgrundlage der Kirchen Der 'Konsultationsprozeß' für ein Gemeinsames Wort der Kirchen wurde 1994 (EKD und DBK) mit der Schrift „Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland" eingeleitet. Trotz der Kritik an bestimmten Auswüchsen des Sozialstaats geht der Text im wesentlichen von den Wertgrundlagen des Ordnungstyps II aus. So ist das Vertrauen in die Problemlösungsfähigkeit der politisch-bürokratischen Kollektive nicht nur ungebrochen, die wichtigste Ordnungsaufgabe wird sogar darin gesehen, den bisherigen Trend von der Erwerbs- zur Traijsfergesellschaft systematischer zu gestalten (siehe Schüller 1996b), zum Beispiel: - durch eine korporatistische Vorformung der Wirtschaftspolitik mit Hilfe 'Runder Tische' und konzertierter Aktionen; - durch 'Lenkung des Strukturwandels' im Hinblick auf mehr Beschäftigung und das 'ethische Ziel der Nachhaltigkeit'. Die hierfür erforderliche staatliche Investitionsund Beschäftigungslenkung würde das wirtschaftliche und soziale Chaos des punktuellen Interventionismus verstärken; - durch den Versuch, den Ordnungstyp II, wie er sich in Deutschland entwickelt hat, in der Europäischen Union (EU) zu verankern; - durch den Vorschlag, die vorhandene Erwerbsarbeit zu teilen. Im Ergebnis würde hierdurch die wirtschaftliche, soziale und moralische Krise der Gegenwart vertieft. Einige Konsequenzen fiir die Kirchen wurden in Kapitel II. aufgezeigt. Im Verlaufe des 'Konsultationsprozesses' wurde vor allem der Gedanke der staatlichen 'Gesamtsteuerung der gesellschaftlichen Entwicklung' aufgegeben; die massive Kritik an dieser Idee hat wohl die Kirchen, wie Abschnitt (140) erkennen läßt, beein-

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druckt. Zu einem entschiedenen Kurswechsel in Richtung Typ I ist es auf dem Weg zum Gemeinsamen Wort jedoch nicht gekommen, wenn auch immer wieder auf die Bedeutung wichtiger Elemente dieses Ordnungstyps verwiesen wird. Im folgenden soll gezeigt werden, daß das Gemeinsame Wort letztlich an der Wertorientierung des Typs II festhält; dies erklärt dann auch den Charakter der ordnungspolitischen Empfehlungen der Kirchen. Das Vertrauen in den Menschen, begriffen als Person in Freiheit und in der Verantwortung für sich und für Engagements in freiwilliger Solidarität, ist gering, wenn es um die Sache und nicht um die Rhetorik geht. An der Stelle, an der erstmals auf das Individuum im Ordnungskontext der Marktwirtschaft Bezug genommen wird (12), ist sogleich die Rede vom „individuellen Eigennutz" als einem „entscheidenden Strukturelement der Marktwirtschaft" und seiner Gefahr, „zum zerstörerischen Egoismus [zu] verkommen". Individueller Eigennutz und Marktwirtschaft einerseits und zerstörerischer Egoismus, Bestechung, Steuerhinterziehung und Mißbrauch von Subventionen und Sozialleistungen sind Tatbestände, die auf eine Weise in einen zusammenhängenden Gedankengang gebracht werden, die ein positives Verhältnis von „Moral und Marktsystem" ein für allemal auszuschließen scheint (siehe hierzu aber Hoppmann 1990, 3 f f ) . Auch an anderer Stelle wird die menschliche Freiheit im Zusammenhang mit konkreten Ordnungsaufgaben, etwa der Wiedervereinigungspolitik, zuerst von der negativen Seite her gesehen:,Freiheit hat ihren Preis; sie kann mißbraucht werden... Der Preis für den Auszug aus der beherrschenden, aber auch betreuenden Diktatur der DDR war insbesondere ein Verlust an Sicherheitsgefiihl und staatlich geplanter Fürsorge" (29). Die Chance der Freiheit für kreative Gestaltungsmöglichkeiten wird verkannt oder mißtrauisch, jedenfalls nachrangig behandelt. Die Formulierung läßt gar auf eine stille Sehnsucht nach dem sozialistischen Kollektivprinzip der DDR schließen. Die Gefängnissicherheit der DDR wie das irrige Menschenbild des Sozialismus, die daraus entstandene Verletzung der menschlichen Grundrechte, die menschenverachtende Funktionsunfahigkeit des Wirtschaftssystems werden verharmlost (siehe Spieker 1997, 120). An dieser Stelle, in einem anderen Zusammenhang noch deutlicher, klingt ein Verständnis von Subsidiarität an, das der Bevormundung nahekommt. „Subsidiarität heißt: Zur Eigenverantwortung befähigen" (27). Warum sollen die Menschen das nicht selbst können, wenn die Ordnungen, in denen sie leben, dies erlauben und dazu motivieren? Das Gemeinsame Wort vermittelt den Eindruck, als könne die Befähigung zur Eigenverantwortung sich nicht aus Selbstinteresse, Bürger- und Familiensinn entwickeln. Moral als individueller Handlungsanreiz hätte es verdient, in einem Kirchenpapier groß- statt kleingeschrieben zu werden. Bezieht sich dann aber das Gemeinsame Wort auf die Wertvorstellung des Typs I, also auf ein Menschenbild, 'das Freiheit und persönliche Verantwortung beinhaltet', so wird sofort eine Distanz zur marktwirtschaftlichen Ordnung erkennbar. In Freiheit und persönlicher Verantwortung werden nämlich Voraussetzungen gesehen, welche die Soziale Marktwirtschaft „selbst nicht herstellen und auch nicht garantieren" könne (91). Daß die Soziale Marktwirtschaft vom Typ I sich ausdrücklich von freiheitsstiftenden, -sichernden und -kontrollierenden Prinzipien her versteht, wird übersehen. In den Abschnitten (91) bis (106), (149), (152) und (215) wird diese grobe Fehlsicht nur teilweise

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korrigiert: Markt und Wettbewerb werden vordergründig als technische Instrumente angesehen, um bestimmte ökonomische Ergebnisse wie sparsamer Ressourceneinsatz, Befriedigung der Konsumentenwünsche, leistungsgerechte Entgelte, Wohlstand zu erzielen. Weil Markt und Wettbewerb nicht in Verbindung mit einer privilegienfreien Zivilrechtsgesellschaft bedacht werden, wird auch nicht ausgeschlossen, daß es eine bessere Ordnung geben könnte: „Kein anderes gesellschaftliches Ordnungsprinzip vermag derzeit besser den ökonomischen Ressourceneinsatz und die Befriedigung der Konsumentenwünsche zu gewährleisten als ein funktionierender Wettbewerb" (142). Nicht erkannt wird die Bedeutung des Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren, als ein nichtautoritäres System sozialer Kontrollen, also als Entmachtungsinstrument. Die freiheitsgewährleistenden Ergebnisse marktwirtschaftlicher Wettbewerbsprozesse werden vernachlässigt. Überall, wo es in der Gesellschaft um Aufgaben geht, die für besonders wichtig gehalten werden, ist das Vertrauen der Kirchen in den Menschen und seine Bereitschaft zur freiwilligen Solidarität nicht groß. Die Erklärung hierfür liegt darin, daß das Gemeinsame Wort von einem egalitären (ergebnisorientierten) Verständnis von sozialer Gerechtigkeit ausgeht. Darin wird das „übergeordnete Leitbild" gesellschaftlichen Handelns gesehen, und zwar mit folgender Begründung: „Angesichts real unterschiedlicher Ausgangsvoraussetzungen ist es ein Gebot der Gerechtigkeit, bestehende Diskriminierungen aufgrund von Ungleichheiten abzubauen und allen Gliedern der Gesellschaft gleiche Chancen und gleich wertige Lebensbedingungen zu ermöglichen" (111). Im Vergleich zu diesem Schlüsselwort des Kirchenpapiers werden alle anderen Vorstellungen von Gerechtigkeit als nicht hinreichend betrachtet, um die gesellschaftlichen Beziehungen „unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft" zu gestalten. Folglich ist nach dem Grundsatz zu handeln: 'Jedem nach seinen Bedürfnissen'. Vom Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz ist Abschied zu nehmen. Vom Staat ist also Einzelfallgerechtigkeit gefordert, die Ausgangspunkt und moralische Legitimation für einen punktuellen Interventionismus mit einem schwer zu begrenzendem Interventionsbedarf ist. Die politisch-bürokratischen Einrichtungen, die diesen Grundsatz unter den Bedingungen der 'unbegrenzten Demokratie' mit Leben zu erfüllen haben, sind damit moralisch legitimiert, den Staatssozialismus heutigen Zuschnitts prinzipiell beizubehalten (siehe Kapitel II.2.b.). Aus diesem Gerechtigkeitsverständnis mit Vorrang für die staatlich organisierte Solidarität folgt: Für die Selbstverantwortlichkeit und freiwillige Solidarität bleibt bei unvermeidlicher Mittelknappheit nur ein eingeschränkter Handlungsspielraum. Die zum Beispiel unter (117) formulierten Bekundungen für Aktivitäten im Sinne einer freiwilligen Solidarität verlieren einfach sachlich hierdurch an Überzeugungskraft. Die in der Öffentlichkeit aufmerksam registrierte, ja beifällig aufgenommene Empfehlung des Gemeinsamen Wortes, „Abschied zu nehmen von dem Wunsch nach einem Wohlfahrtsstaat, der in paternalistischer Weise allen Bürgerinnen und Bürgern die Lebensvorsorge abnimmt" (121), erscheint wenig glaubwürdig. Der sozialstaatliche Egalitarismus als „das übergeordnete Leitbild gesellschaftlichen Handelns" verleiht der Sozialbürokratie eine unbestreitbare materielle und moralische Dominanz gegenüber der

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im Gemeinsamen Wort angemahnten „Erneuerung der Sozialkultur" auf der Grundlage „menschlicher Fähigkeiten, Ideen, Initiativen und sozialer Phantasie". Wahrscheinlich ist aber gar nicht ernsthaft daran gedacht, das Prinzip der Solidarität stärker vom Prinzip der Personalität her zu deuten; denn im gleichen Abschnitt (121) heißt es: „Andererseits entspricht es nicht dem Sinn des Subsidiaritätsprinzips, wenn man es einseitig als Beschränkung der staatlichen Zuständigkeit versteht". Dies würde der „sozialen Gerechtigkeit" und - so ist hinzuzufügen - der Orientierung des Denkens und Handelns am Kollektivprinzip schaden. So wie das Gemeinsame Wort „soziale Gerechtigkeit" versteht, scheinen „die Lebensmöglichkeiten der Gesellschaft" gleichsam als gegebene Anspruchsgrundlage für den Einzelnen aufgefaßt zu werden - mit einem „Recht auf Bildung und Teilnahme am kulturellen Leben, Recht auf Arbeit und faire Arbeitsbedingungen, Recht auf Eigentum, auf soziale Sicherung und Gesundheitsversorgung, auf Wohnung, Erholung und Freizeit". Folgerichtig wird daraus eine staatliche Verpflichtung abgeleitet, „sich für die Realisierung dieser Rechte einzusetzen" (132). Und weil der Sozialstaat als „tragende Säule des gesellschaftlichen Grundkonsenses" diese „sozialen" Rechte einzulösen hat, wird seinen Einrichtungen „ein eigenständiger moralischer Wert" zugesprochen. Der Sozialstaat „verkörpert Ansprüche der verantwortlichen Gesellschaft (!) und ihrer zu gemeinsamer Solidarität bereiten Bürgerinnen und Bürger an die Gestaltung des ökonomischen Systems" (133). Zwei praktische Folgerungen liegen nahe: - Der Grundkonsens unserer Gesellschaft baut sich hinsichtlich der 'wirtschaftlichsozialen und kulturellen Grundrechte' primär auf individuellen Versorgungsansprüchen, nicht auf entsprechenden Pflichten auf, etwa zur Aufbringung der Mittel oder zum Nachdenken darüber, wie sich das zugrundeliegende 'Leitbild gesellschaftlichen Handelns' auf die Leistungsmotivation und Zahlungsbereitschaft der Bürger auswirkt. - Dem ökonomischen System - konkret sind wohl die Unternehmen gemeint - als Lasttier des Sozialstaates wird ein minderer sozialer Rang zugebilligt; denn nur dem Sozialstaat wird ein „eigenständiger moralischer Wert" zugesprochen. Wird die Last des Sozialstaats zu drückend, dann hat das ökonomische System sich anzupassen, nicht aber der Sozialstaat. Hier kommt der Punktualismus, das Denken 'im isolierten Raum', wie es für das Kollektivprinzip typisch ist, besonders drastisch zum Ausdruck. Zwar wird die Leistungsfähigkeit des ökonomischen Systems als Voraussetzung für die Finanzierbarkeit der Einrichtungen des Sozialstaats erwähnt (133), daß diese Voraussetzung aber etwas mit dem Zustand der Einrichtungen des Sozialstaats zu tun haben könnte, wird nicht - jedenfalls nicht in diesem Zusammenhang - anerkannt. Wenn das Gesellschafts- und Wirtschaftssystem insgesamt auch vorherrschend unter dem Verteilungsaspekt betrachtet wird, so erfährt das Unternehmen im Gemeinsamen Wort - anders als in der Diskussionsgrundlage von 1994 - eine durchaus faire Beurteilung. Dem arbeitsplatz- und güterschaffenden Unternehmertum wird auch „unter ethischen Gesichtspunkten" (142) hohe Anerkennung ausgesprochen. Sogleich wird dann

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aber wieder nur den Unternehmern eine Neigung zur Wettbewerbsbeschränkung zugeschrieben, obwohl folgendes nicht hätte übersehen werden dürfen: (1) Die meisten Unternehmer sind unter den Bedigungen offener Märkte der disziplinierenden Wirkung des internationalen Wettbewerbs auf den Produktmärkten und den wettbewerbsstimulierenden Wirkungen, die von den globalisierten Finanzmärkten ausgehen, ausgesetzt. (2) Die Einschätzung der Arbeitsmarktposition der Unternehmer gegenüber der Arbeiterschaft in ihrer Gesamtheit ist einseitig. Es wird nicht berücksichtigt, daß auf den Arbeitsmärkten die individuelle Vertragsfreiheit weitgehend eingeschränkt worden ist. Die Wirkung der Tarifvertragspolitik fuhrt mit Hilfe des Arbeitsrechts, des Tarifvertragsrechts und des 'gewerkschaftlichen Drohpotentials' zu einer so weitgehenden Vereinheitlichung der materiellen Arbeitsbedingungen, daß von diesen Erscheinungen der Vermachtung der Arbeitsmärkte her „die Evolutionsfähigkeit des Marktsystems" insgesamt entscheidend beeinträchtigt worden ist (siehe Diekmann in diesem Band). Wilhelm Röpke (1950, 270) hat schon auf die immer mächtiger werdenden Gewerkschaften hingewiesen, „deren Opfer nicht zuletzt die weniger gut organisierten und weniger rücksichtslos geführten Arbeiter, Angestellten, Intellektuellen und Angehörigen des Mittelstandes sind". Tatsächlich versagen die Arbeitsmärkte, weil Staat und Arbeitsgerichte deren Vermachtung direkt oder indirekt zulassen und begünstigen. Dies verstößt fundamental gegen den Ordnungsauftrag im Sinne des Typs I der Sozialen Marktwirtschaft, wonach der Staat für wettbewerbliche Märkte zu sorgen hat. Und wenn in diesem Machtmißbrauch einer der Hauptgründe für die Beschäftigungsmisere liegt, dann muß sich ein Kirchenwort, das nach Abwägung aller möglichen Gründe letztlich in externen, gleichsam als schicksalhaft angenommenen Faktoren die entscheidende Ursache des Beschäftigungsproblems sieht - wie in den Abschnitten (61) bis (65) den Vorwurf gefallen lassen, die Dinge nicht beim Namen zu nennen und die Machtposition der „Gewerkschaften in der rechtsstaatlichen Demokratie einer Arbeitnehmergesellschaft" (Zacher 1975, 707) zu tabuisieren. (3) Übersehen wird auch, daß das geltende Wettbewerbsrecht einseitig gegen privatwirtschaftliche Wettbewerbsbeschränkungen im Produktmarktbereich gerichtet ist. Volkswirtschaftlich hartnäckiger und damit schädlicher sind heute dagegen die vielfaltigen staatlichen Wettbewerbsbeschränkungen, die nicht selten sozialpolitisch motiviert sind. Davon abgesehen übersehen die Kirchen - wie angedeutet - die Fesselung des Staates durch mächtige, häufig von der Existenz des Sozialstaats profitierende Verbände und die hiervon bestimmten Blockaden der Politik. Daß mit Blick auf das Beschäftigungsproblem hier die 'soziale Frage' unserer Zeit liegen könnte, wird nicht in Betracht gezogen. Wahrscheinlich liegt das einmal daran, daß im Staat und in den Einrichtungen und Verbänden des Sozialstaats die Garanten der sozialen Gerechtigkeit gesehen werden. Andererseits kann die Blindheit der Kirchen für das Machtproblem auch darauf zurückzuführen sein, daß sie immer noch vom Konflikt zwischen Kapital und Arbeit ausgehen und hierbei das Verhältnis einer strukturellen Über- und Unterordnung unterstellen.

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Darauf deutet auch die Aussage hin, dieses Verhältnis habe sich „zu Lasten des Faktors Arbeit" verschoben (145). Da ohnehin enorm gestiegene Leistungsansprüche, Zeitdruck und kurzfristiges Effizienzdenken sowie insgesamt eine verschlechterte Lebensqualität vieler Beschäftigter beklagt werden (154), ist zu folgern: Eigentlich gibt es auf der Seite der Arbeitnehmerverbände kein nennenswertes Problem der Wettbewerbsbeschränkung. Von Appellen an die gesellschaftlichen Gruppen, nicht „an allem Bestehenden festzuhalten und jeden sozialen Besitzstand zu verteidigen" (146), brauchen sich jedenfalls die Gewerkschaften nicht emsthaft angesprochen zu fühlen. Auch der Hinweis auf die Pflicht der Träger der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-, Tarifund Sozialpolitik, „größtmögliche Anstrengungen zu unternehmen, um die Beteiligung an der Erwerbsarbeit zu gewährleisten" (151), kann diejenigen prinzipiell unberührt lassen, die sich berufen fühlen, im Dienste der Realisierung der sozialen Gerechtigkeit im Verständnis des Kirchenpapiers zu stehen. 2. Die ordnungspolitischen Empfehlungen des Gemeinsamen

Wortes

Nach Höffner ist die „Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse an erster Stelle eine weltliche, nicht eine kirchliche Aufgabe". Deshalb habe die Kirche nicht die Sendung, „in gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Fragen die Führung zu übernehmen" (zitiert nach Roos 1997, 180). So möchten auch die Kirchen das Gemeinsame Wort verstanden wissen. Sie wollen lediglich Politik möglich machen (4). Ihren Auftrag und ihre Kompetenz auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Sozialpolitik sehen sie vor allem darin, „für eine Wertorientierung einzutreten, die dem Wohlergehen aller dient". Die Frage, welche Politik die Kirchen möglich machen wollen, erhält eine erste Antwort mit der Warnung vor einer 'reinen' Marktwirtschaft mit US-amerikanischen Verhältnissen, die dem Gerechtigkeitsanspruch des Gemeinsamen Wortes nicht genügt (11), (14), (146). Damit aber scheiden auch Reformen aus, die in Richtung des Ordnungstyps I zielen. Vorherrschende Auffassung ist vielmehr, das bestehende Konzept der Sozialen Marktwirtschaft sei seit fünfzig Jahren erfolgreich praktiziert worden. Der geeignete Ansatz für eine zukunftsfahige Wirtschafts- und Sozialpolitik wird in einer „sozial, ökologisch und global verpflichteten" Weiterentwicklung erblickt. Machen die Kirchen damit keine Politik? Indem sie die Soziale Marktwirtschaft zur ökologwc/j-sozialen Marktwirtschaft erweitern wollen, stehen sie in der Gefahr, ordnungspolitisch den Kräften in der Politik Auftrieb zu geben, die sich erst in dem Maße überhaupt der marktwirtschaftlichen Ordnung angenähert haben, in dem sich diese zum Typ II entwickelt hat und damit in die heute beklagte Krisensituation geraten ist. Von dieser Seite gibt es starke Neigungen, die Umweltprobleme als Alibi für einen willkürlichen und diskriminierenden Interventionismus zu nutzen, wären da nicht die Restriktionen und Sanktionen des internationalen Wettbewerbs. Wenn 'ökologisch' das Bedachtsein auf die Fernwirkungen und unbedachten Wirkungen menschlichen Handelns, also Verantwortungsethik ausdrücken soll, dann kann diese Handlungsmaxime schon mit dem Begriff 'sozial' umschrieben werden, etwa in dem Sinne, daß wir uns mehr als gewöhnlich anstrengen, um herauszufinden, ob wir in unserem Tun und Lassen den Interessen

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und Belangen unserer Mitmenschen heute und morgen gerecht werden können (siehe von Hayek 1957, 287). Ob die Kirchen nicht auch die Gefahr sehen (sollten), daß das Wort 'ökologisch' - ganz ähnlich wie das Wort 'sozial' - dabei ist, eine Art von religiöser Ersatzorientierung zu werden? Schon vor dem Ersten Weltkrieg war eine starke Neigung festzustellen, „die soziale Sphäre zu einem Ersatz der religiösen zu machen" (von Hayek 1957, 288). Diese Neigung ist in unserer Zeit so selbstverständlich, daß der Gebrauch des Wortes sozial inflationär geworden ist, wie auch das Gemeinsame Wort zeigt: Soziale Gesinnung, soziales Gewissen, sozialer Ausgleich, soziale Balance, soziale Verantwortlichkeit, soziale Politik, soziale Demokratie, soziale Gesetzgebung, sozialer Frieden, soziale Kontrolle, sozialer Rechtsstaat, traditionelle, neue, entwickelte Sozialkultur, soziale Ordnungen, soziale Verpflichtungen, soziale Gerechtigkeit usw. Mit diesen Begriffen wird beansprucht, daß die eigenen Ansichten 'sozial' und damit besser als die des anderen sind, wenn diese nicht vordergründig mit dem Etikett 'sozial' versehen sind. Um so leichter ist es, diese Auffassungen als unsozial abzutun, was häufig mit unchristlich gleichgesetzt wird. Dieselbe Entwicklung scheint das Wort 'ökologisch' zu durchlaufen. Warum folgen die Kirchen diesem verhängnisvollen Trend? Daß die Sozialleistungsquote4 heute etwa 45 Prozent (gegenüber 21,8 Prozent im Jahre 1950) ausmacht (Heuß, in diesem Band), daß die auch im Gemeinsamen Wort beklagte hohe Steuerlast wesentlich auf diesen Anstieg zurückgeht, hindert die Verfasser des Kirchenworts nicht an der Feststellung: „Nicht der Sozialstaat ist zu teuer, sondern die Arbeitslosigkeit." Damit machen die Kirchen Politik. Sie machen auch damit Politik, daß sie die Arbeitslosigkeit letztlich von externen Faktoren verursacht betrachten (61)-(65). Somit kann es bei dem Befund bleiben: Der Sozialstaat (einschließlich der dem Denken in Kategorien des Kollektivprinzips verhafteten Mitbestimmung der Arbeitnehmer, des Systems der Tarifautonomie, der Arbeitsschutzgesetzgebung, der Systeme der sozialen Sicherung und des heutigen Verständnisses der Sozialpflichtigkeit des Eigentums) wird als 'moralischer Wert an sich' zur ordnungspolitischen Tabuzone erklärt und bietet damit keinen entscheidenden Ansatzpunkt für einen Weg aus der Krise. Im Gegenteil: Tarifpartnerschaft und soziale Sicherung werden im Gemeinsamen Wort als Garanten des „sozialen Friedens" bezeichnet, der sich seinerseits als bedeutsamer Standortvorteil erwiesen habe. Daß hierdurch die Rechte der Arbeitsuchenden extrem diskriminiert werden, wird in Kauf genommen. Auch seien die verschiedenen „Säulen der sozialen Sicherung" über einen Zeitraum von mehr als hundert Jahren in Deutschland als ein „anpassungsfähiges System solidarischer Risikogemeinschaft" aufgebaut worden. Dieses System verdiene es, „in seiner Grundidee und seinen Grundelementen erhalten und verteidigt zu werden", zumal wir uns dies in Deutschland als „eines der reichsten Länder der Erde" leisten könnten (14). Alternativmodelle - wie etwa der Übergang vom Umlageprinzip zum Kapitalstockprinzip in der Rentenversicherung werden als „nicht zukunftweisende Lösungen" abgetan. Mögen Ökonomen noch so scharfsinnige und empirisch gestützte Vorschläge für einen solchen Übergang machen (siehe Glismann und Horn, in diesem Band), die Kirchen sehen darin keinen ernsthaften 4

Als Anteil der Transferzahlungen am Nettosozialprodukt zu Faktorkosten.

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Ansatzpunkt, der die „langwierigen und risikobeladenen Umstellungsverfahren rechtfertigen könnte". Es ist angesichts des beharrlichen Festhaltens an den kostenträchtigen und wettbewerbsfeindlichen Umverteilungsmechanismen der sozialen Sicherungssysteme verständlich, wenn von gewerkschaftlicher Seite das Gemeinsame Wort als Ausdruck dafür gewertet wird, wie sehr Kirchen und Gewerkschaften als die 'sozialverpflichteten Säulen der Demokratie' an einem Strang ziehen, ja sich als die eigentlichen zivilisatorischen Säulen unserer Gesellschaft bezeichnen dürften. Gewerkschaftler sehen in dieser gemeinsamen Rolle und der von den Kirchen beigesteuerten moralischen Legitimation verständlicherweise auch die Grundlage für den Anspruch: 'Nicht das Argument und die Sachgesetzlichkeit zählen, es zählt vielmehr die Macht'. Daß die Kirchen mit dem Gemeinsamen Wort Politik machen, ist offensichtlich. Sie machen auch damit Politik, daß sie die Arbeitslosigkeit zwar heftig beklagen, gleichzeitig aber die Ursachen nicht primär im gestörten Bewertungszusammenhang der Güterund Faktormärkte sehen, sondern überwiegend in externen (gleichsam schicksalhaften) Faktoren. Im übrigen betrachten die Kirchen die anhaltenden Exportüberschüsse als Ausweis für die „nach wie vor hohe Leistungsfähigkeit großer Teile der deutschen Volkswirtschaft" (8). Sie übersehen dabei, daß anhaltend hohe Exportüberschüsse im Zahlungsbilanzzusammenhang die Konsequenz von Kapitalexportüberschüssen sind. Mit dem Nettokapitalexport eines Landes nehmen die Leistungsüberschüsse zu. Im Hinblick auf die von den Kirchen beklagte Beschäftigungsmisere könnte aber gerade ein größerer Nettokapitalimport - etwa in Form von ausländischen Direktinvestitionen willkommen sein. Die Kirchen haben in diesem wie in anderen Punkten von der reichlich gebotenen Möglichkeit, sich sachkundig zu machen, keinen hinreichenden Gebrauch gemacht. Weil insgesamt eine Politik gefordert wird, die an den oben charakterisierten 'Maßstäben der Solidarität und Gerechtigkeit' orientiert ist, verbleiben eigentlich nur Maßnahmen, die im bestehenden Ordnungsrahmen des Typs II entweder finanzielle Entlastung bringen (Perspektive 1), vielleicht auch nur die Belastungsbereiche verlagern (Perspektive 2) oder den bisherigen ordnungspolitischen Kurs verstärken (Perspektive 3). Beispiele für Perspektive 1: - Die „staatlich gewährleistete Versorgung" soll durch mehr Eigenverantwortung und Verantwortung der kleinen sozialen Einheiten entlastet werden. Mit Hilfe dieser „entwickelten Sozialkultur" könnte eine substantielle Stärkung des Prinzips der Personalität gegenüber dem Prinzip der staatlich organisierten Solidarität gemeint sein. Doch wird gleichzeitig davor gewarnt, den Einzelpersonen und den untergeordneten gesellschaftlichen Ebenen „wachsende Risiken zuzuschieben". Von dieser Art „entwickelter Sozialkultur" (26/27) dürfte also keine nennenswerte Entlastung der Sozialleistungsquote zu erwarten sein. - Eine „umfassende" Reform der Steuer- und Abgabensysteme wird als „vordringliche Aufgabe" bezeichnet. Sie soll arbeitsplatzfordernd wirken, zugleich aber „sozial gerechter" sein (170). Von einer nach dem ordnungspolitischen Verständnis des Gemeinsamen Wortes „sozial gerechter" gestalteten Steuer- und Abgabenreform dürf-

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ten kaum innovations-, investitions- und beschäftigungsfördernde Impulse ausgehen. Das scheinen die Verfasser des Gemeinsamen Wortes möglicherweise auch so zu sehen. Denn zugleich fordern sie verstärkte (steuerliche?) Anreize für Innovationen, für die Erschließung bestimmter Beschäftigungspotentiale und für eine Verbesserung der Ausbildungssysteme. Die Stoßrichtung dieser Reformvorstellung läßt Wirkungen erwarten, die weniger als Beitrag für Perspektive 1, sondern vielmehr für Perspektive 3 zu bezeichnen sind. - Die „verschiedenen Säulen der sozialen Sicherung" werden als „ein anpassungsfähiges System solidarischer Risikogemeinschaft" bezeichnet (14). Um die finanzielle Stabilität zu gewährleisten, seien allerdings „spürbare Änderungen nötig". Anspruchsberechtigung und Leistungsverpflichtung müßten „spürbarer" aneinander gekoppelt werden. Auch seien „Einschnitte bei den sozialen Leistungen" nötig. Der Streit um entsprechende Lösungen soll vor allem auf der Ebene der Tarifpartner „seinen sinnvollen Ort" haben (15). Es wird erkannt, daß die „größte strukturelle Schwäche" der sozialen Sicherung in der Bindung an das Erwerbseinkommen liegt 5 . Wie sich nun aber immer wieder gezeigt hat, zuletzt an der Frage einer Reform der Lohnfortzahlung, läßt sich diese „strukturelle Schwäche" wohl kaum beseitigen, solange es bei der heutigen Praxis der Tarifautonomie bleibt (siehe hierzu Dichmann in diesem Band). Hierfür scheinen sich aber die Kirchen einzusetzen; mit ihrem Eintreten für eine tarifgebundene Investivlohnregelung empfehlen sie sachlich sogar eine Stärkung der Tarifautonomie mit allen damit verbundenen beschäftigungsfeindlichen Konsequenzen. Beispiele für Perspektive 2: - Es wird empfohlen, die versicherungsfremden Leistungen der Sozialversicherung über Steuern zu finanzieren. Übersehen wird hierbei, daß damit die Abgabenquote, die in Deutschland seit Anfang der neunziger Jahre von 40 auf 43 Prozent gestiegen ist, weiter erhöht würde. Das Investitionsklima in Deutschland würde nicht verbessert, die Aussicht auf eine dringend erwünschte Erhöhung beschäftigungswirksamer Direktinvestitionen aus dem Ausland würde verschlechtert. - Im „Grundgedanken vom Teilen der Erwerbsarbeit" (etwa durch Abbau von Überstunden oder durch Arbeitszeitverringerung ohne 'vollen' Lohnausgleich) sehen die 5

Die Nachteile werden zutreffend erkannt (16). Gleichwohl werden nur „langsame Schritte der Anpassung" empfohlen. Was damit gemeint ist, bleibt offen. Es liegt zum Beispiel die Empfehlung nahe, die Löhne und Gehälter der Arbeitnehmer um die Anteile der Arbeitgeber an den Beiträgen der Sozialversicherung zu erhöhen. Die Beschäftigten müßten dann in Zukunft ihre Beiträge vollständig und eigenverantwortlich selbst abfuhren. Mit der Entstehung eines persönlichen Bezugs zu Versicherungseinrichtungen und der erhöhten Spürbarkeit der Kosten der sozialen Sicherung könnte das Bewußtsein für das Verhältnis von Beitragshöhe und Leistungserwartung geschärft werden. Abweichungen zwischen Prämienhöhe und Erwartungswert der Versicherungsleistungen würden deutlicher registriert. Die Versicherten könnten einen Anreiz erhalten, sich über Alternativen zu informieren und sich mehr Wissen auf diesem Gebiet anzueignen. Schließlich würden sie sich fragen, warum sie sich nicht gegen die vorherrschende undurchsichtige Umverteilungspraxis der Sozialversicherungseinrichtungen zur Wehr setzen und günstigere Formen der Sicherung wählen können. Siehe hierzu die Nachweise bei

Glismann und Horn, in diesem Band.

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Kirchen einen Weg zu mehr Beschäftigung. Sie stehen mit dieser Erwartung im Gegensatz zur volkswirtschaftlichen Theorie und Empirie (siehe Rubel 1997). Schon die dem Denken in Kategorien des Kollektivprinzips folgende Vorstellung von der „gegebenen Gesamtarbeit" ist verfehlt. Die ganz überwiegende Zahl der Vollbeschäftigten würde nicht weniger, sondern mehr arbeiten wollen, wenn es keinen Lohnausgleich gäbe. Würde die Arbeitszeitverkürzung durch Tarifvertrag erzwungen, wäre mit Motivationsverlust, erhöhtem Krankheitsstand, verschlechterter Arbeitsqualität, verstärkter Neigung zur Nebentätigkeit zu rechnen. Die Zahl der Scheinselbständigen, im Gemeinsamen Wort eher kritisch beurteilt, nähme rapide zu. Die Maschinenlaufzeit, heute in Deutschland die kürzeste in ganz Europa, würde weiter sinken, die Kapitalrentabilität nähme ab, der Realkapitalexport zu. Hierbei ist zu berücksichtigen, daß bei den Motiven für deutsche Direktinvestitionen im Ausland heute zu 70 Prozent Kostengründe genannt werden (1990 waren es nur 30 Prozent). Unter realistischen Annahmen würde eine Politik, die sich den „Grundgedanken vom Teilen der Erwerbseinheit" zu eigen machte, die Arbeitslosenquote erhöhen (siehe Rubel 1997). Die Kirchen müßten sich deshalb für die umgekehrte Strategie, nämlich für Möglichkeiten der freiwilligen Wahl und damit auch der Verlängerung der Arbeitszeit, vor allem auch im Hinblick auf eine Verminderung der Lasten, die aus der demographischen Entwicklung resultieren, einsetzen. Dem Phänomen der alternden Gesellschaft und den damit verbundenen Kosten stehen die Kirchen hilflos gegenüber. Vom Denkansatz des Kollektivprinzips her scheinen sie letztlich einer höheren Steuerfinanzierung bei fortschreitender Verletzung des Versicherungsprinzips zuzuneigen. Beispiele für Perspektive 3: - Das Gemeinsame Wort empfiehlt, die sozialstaatlichen Leistungen beizubehalten und weiterzuentwickeln. Angenommen wird, die hiermit verbundene Belastung habe mit der Wachstums- und Beschäftigungsschwäche der deutschen Wirtschaft nichts zu tun (190). In diesem Sinne zeigen die folgenden Forderungen besonders deutlich, wie sich die Kirchen die Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft vorstellen: (1) Der Kreis der Sozialversicherungspflichtigen soll um die geringfügig Beschäftigten erweitert werden (173). (2) Die „aktiven Instrumente der gestaltenden Arbeitsmarktpolitik" sollen ausgeschöpft und weiterentwickelt, die „öffentlich geförderte Arbeit" mit Hilfe von Beschäftigungsgesellschaften, „sozialen Betrieben und Programmen", Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen usw. verstärkt werden. Damit soll der Weg der faktischen Verstaatlichung des Beschäftigungssystems zügig fortgesetzt werden (174-176). (3) Die Sozialhilfe soll weiter ausgebaut werden, wobei das Problem der Verletzung des Lohnabstandsgebots geleugnet wird. (4) Die Jugendlichen sollen „in ausreichendem Maße angemessen ausgestattete Orte mit hohem Selbstbestimmungsgrad in der Jugend- und Jugendverbandsarbeit" erhalten (208). - Die unternehmerische Selbstständigkeit soll einerseits gefördert werden, andererseits sollen die Arbeitgeber veranlaßt werden, „ihrer Verpflichtung zur Ausbildung im notwendigen Umfang (nachzukommen)" (206) und den Bedürfnissen der Familien" (193) stärker Rechnung zu tragen.

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- Die Kirchen sind sich auch sicher, daß die bisherigen staatlichen Leistungen für Ostdeutschland weiterhin „vollauf gerechtfertigt" sind (30). Einwände, daß damit die Kosten der lohnpolitischen Fehlentscheidungen auf die Steuer- und Beitragszahler abgewälzt werden können, daß das Machtkartell der Tarifparteien und moralisches Fehlverhalten begünstigt werden, daß die Wirtschaftsrechnung der Unternehmen weiterhin verfälscht bleibt und dadurch kapitalintensive und arbeitssparende Investitionen begünstigt werden, bleiben unberücksichtigt. - Um den Sozialstaat bisherigen Zuschnitts sichern und weiterentwickeln zu können, ist den Kirchen jedes Mittel recht. So wird die Erschließung neuer Finanzierungsquellen empfohlen: durch Einführung von Energie- und C0 2 -Steuern, mögen diese in der Wissenschaft und in der Politik noch so umstritten sein; vor allem aber wird eine stärkere Besteuerung der Vermögen empfohlen. Da hinsichtlich der Bemessungsgrundlage nicht zwischen Vermögenserträgen und Vermögenssubstanz unterschieden wird, ist wohl hierbei an eine reale Vermögensumverteilung gedacht. Denn Reichtum wird mit Überfluß gleichgesetzt. Was liegt also näher, als aus dem Überfluß einen Gleichfluß zu machen?! Bei der stärkeren Einforderung der Sozialpflichtigkeit des Eigentums übersehen die Kirchen folgendes: Rechtmäßig erworbenes Vermögen ist Voraussetzung menschlicher Freiheit, die Grundlage vor allem der menschlichen Selbstverantwortung und Selbstvorsorge, der Finanzierung von Aktivitäten der freiwilligen Solidarität, von Investionen, Arbeitsplätzen und Einkommen. Wenn die Kirchen entgegen den Grundsätzen ihrer Soziallehre den Staat ermuntern, in die Vermögenssubstanz einzugreifen, unterschätzen sie die Ausweichmöglichkeiten durch innere und äußere Kapitalflucht. Mit ihrer Forderung nach einer stärkeren Vermögensbesteuerung befinden sich die Kirchen im Widerspruch zu eigenen vermögenspolitischen Vorstellungen, wonach deijenige, der produktives Vermögen in den Wirtschaftsprozeß einsetzt, dafür auch belohnt werden soll (EKD und DBK 1993, 11). - Weil auch die Kirchen wissen, daß eine Fortsetzung der bisherigen Sozialpolitik im internationalen Wettbewerb hart sanktioniert wird, unterstützen sie auf europäischer Ebene vehement die Bestrebungen, die auf eine rasche Ergänzung der Wirtschaftsund Währungsunion durch eine Sozialunion gerichtet sind. Der europäische Einigungsprozeß steht nach Auffassung der Kirchen „für die Einsicht, daß eine Wirtschafts- und Sozialpolitik, die nicht von den internationalen Märkten abhängig sein will, übergreifender Entscheidungs- und Koordinationsinstanzen bedarf (83). „Sozialer Fortschritt" in Europa wird - ganz im Sinne des Ordnungstyps II - ausschließlich vom politischen Willen zu einer gemeinsamen Sozialpolitik erwartet. Hierbei sollen verbindlich soziale Mindestregeln nicht nur für gleiche Wettbewerbsbedingungen sorgen, sondern auch so angelegt sein, daß die „nationalen sozialstaatlichen Gewährleistungen" nicht ausgehöhlt werden können (234). - Was passiert, wenn „soziale Standards" ohne hinreichende Beachtung der Produktivitäts- und Wettbewerbslage der Betriebe im Hinblick auf die Sozialpolitik der führenden Länder harmonisiert werden, kann auf dem Arbeitsmarkt und an der Entwicklung der Staatsfinanzen im wiedervereinigten Deutschland beobachtet werden. Die Folgen für die Europäische Union wären fatal:

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(1) Die Lohnkostenunterschiede würden als Motiv für Direktinvestitionen zwischen den betreffenden Ländern hinfallig. In den wirtschaftlichen Randgebieten der EU, also den Süd- und Ostländern, würde damit die Chance eines Aufholens und der Angleichung mit ausländischen Investitionen sowie durch eigene Leistungen unter Ausnutzung von Kostenvorteilen erheblich erschwert. (2) Wegen der zu erwartenden Einbuße an Beschäftigungsmöglichkeiten wäre mit starken Belastungen der öffentlichen Haushalte, vor allem des Gesamthaushalts der EU, und einem Verlust an internationaler Wettbewerbsfähigkeit aller Mitgliedsländer der EU zu rechnen. (3) Die Arbeitslosigkeit würde unter dem Druck der Gewerkschaften und Parteien eine verstärkte Neigung zum Außenhandelsprotektionismus auslösen. Der in der Praxis gegenüber aufholenden Ländern erhobene Vorwurf, ihre Wettbewerbsvorteile beruhten auf 'Sozialdumping', bietet schon heute Anlaß für eine beträchtliche handelspolitische Diskriminierung. Die EU würde sich handelspolitisch weiter einigeln. Das Gemeinsame Wort verkennt die Problematik und die Bedeutung der Osterweiterung der EU für eine friedliche Zukunft Europas. (4) Die Empfehlung, das sozialpolitische Gefälle in der EU durch distributive Kraftanstrengungen der Mitgliedsländer zu beseitigen, übersieht, daß die Bereitschaft auf der Geberseite hierfür so lange begrenzt ist, solange sich kein Zusammengehörigkeitsgefühl in der EU von der Art „Wir sind ein Volk" entwickelt hat. Die Kirchen glauben auch zu wissen, was viele Wissenschaftler und Politiker bezweifeln, daß nämlich der europäische Binnenmarkt erst durch die Währungseinheit seine „volle Wirkung wird entfalten können" (235). Wesentlich sei allerdings, daß „der soziale Schutz für die Schwächeren nicht preisgegeben und die Lasten sozial gerecht von allen getragen werden" (235). Wie die notwendigen Umverteilungen ohne Gefährdung der bisherigen Integrationserfolge zustande kommen können, wenn es - wie auch die Kirchen einräumen - an einem „ausgeprägten europäischen Gemeinschaftsbewußtsein und einer gemeinsamen europäischen Identität mangelt", bleibt offen. Bedenkt man allein die Schwierigkeiten im wiedervereinigten Deutschland, das Zusammenwachsen auf einer soliden finanziellen Grundlage zustandezubringen und in diesem Zusammenhang den Finanzausgleich neu zu organisieren, so darf man skeptisch sein, ob eine Währungsunion mit der Konsequenz eines umfangreichen Umverteilungsbedarfs wirklich zur sozialen und wirtschaftlichen Stabilität in Europa beitragen kann. Wenn sich die Kirchen den Befürwortern einer unverzüglichen Einführung der europäischen Währungsunion anschließen, müßten sie erst recht für einen ordnungspolitischen Kurswechsel in Richtung Ordnungstyp I der Sozialen Marktwirtschaft eintreten. Mit der Währungsunion wird nämlich der bisherige Wechselkursschutz wegfallen. Bei den erheblichen Produktivitäts- und Einkommensunterschieden zwichen den EULändem werden dann die nationalen Arbeitsmärkte über Nacht direkten Wettbewerbsbeziehungen unterworfen sein. Besonders Hochlohnländer wie Deutschland werden sich einem verstärkten Preiswettbewerb ausgesetzt sehen. Davon erwarten die Befürworter des EURO eine große Entlastung der Stabilitätspolitik. Wenn es hierbei aber nicht zu

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einer weiteren Beschäftigungseinbuße und damit zur Verschärfung der bestehenden Probleme kommen soll, müßten schon jetzt deutliche Signale für den Kurswechsel gesetzt werden, damit noch in der verbleibenden Zeit bis zum Wegfall des Wechselkursschutzes die notwendige Verhaltensänderung der Verbände und Sozialpolitiker eintreten und beschäftigungswirksam werden könnte. Statt sich hierfür einzusetzen, glauben die Kirchen, man könne dem erhöhten Wettbewerbsdruck auf dem gemeinsamen Arbeitsmarkt durch Vereinheitlichung der Arbeits- und Sozialpolitik ausweichen. Vor diesem Weg in eine tiefe integrationspolitische Sackgasse werden uns allerdings die EU-Länder zu bewahren wissen, da sie durch eine solche produktivitäts- und knappheitswidrige Harmonisierungspolitik an internationaler Wettbewerbsfähigkeit einbüßen würden. Auch würden wir selbst auf den besonders dynamischen Märkten außerhalb der EU weiter an Boden verlieren. Insgesamt stehen die Kirchen mit ihrer Wertorientierung und den daraus abgeleiteten ordnungspolitischen Empfehlungen im Widerspruch zu einem ordnungspolitischen Kurswechsel, der notwendig ist, um die wirtschatliche, soziale und moralische Krise der Sozialen Marktwirtschaft zu überwinden. Das Gemeinsame Wort läßt viel von jenen ordnungspolitischen Verwirrungen erkennen, die Wilhelm Röpke schon 1953 (siehe den Beitrag in diesem Band) mit dem Hinweis auf bestimmte kirchliche Kreise als verhängnisvoll bezeichnet hat. Er schreibt: Diese Kreise sympathisieren aus christlicher und humanistischer Überzeugung mit dem Sozialismus. Sie glauben, „daß hier ihre Grundüberzeugung vom Vorrecht des Menschen gegenüber jeder ihn einengenden Gewalt die beste Erfüllung fände". Sie erkennen nicht, „daß sie damit eine Ordnung der Gesellschaft und Wirtschaft begünstigen, die ihr eigenes [und unser] Ideal vom Menschen und seiner Freiheit zu zerstören droht". Die fatalen Wirkungen des Gemeinsamen Wortes liegen darin, daß es nicht kleinen Kreisen der Kirchen zugeschrieben werden kann, sondern daß der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz Wert darauflegen, das vorgelegte Wort zu „verantworten" (34). Literatur Brakelmann, Günter (1986), Sinn der Arbeit - Sinn des Lebens, in: Volker Beuthien (Hrsg.), Arbeitnehmer und Gesellschaft: Zur Zukunft des Arbeitsrechts in der Wirtschaftsordnung, Stuttgart, S. 13-26. Böhm, Franz (1980), Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, herausgegeben von ErnstJoachim Mestmäcker, Baden-Baden. Diekmann, Werner (1997), Gewerkschaften und Tarifautonomie in ordnungspolitischer und evolutorischer Sicht, in diesem Band, S. 677-704. EKD und DBK (1993), Beteiligung am Produktiveigentum, herausgegeben vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland und vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Hannover und Bonn. EKD und DBK (1994), Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland: Die Diskussionsgrundlage für den Konsultationsprozeß über ein gemeinsames Wort der Kirchen, herausgegeben vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und von der Deutschen Bischofskonferenz, Gemeinsame Texte 3, Bonn. Enzyklika Centesimus Annus (1991), Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 101, herausgegeben vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn.

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Enzyklika Laborem Exercens (1981), Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 32, herausgegeben vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn. Eucken, Walter (1952/1990), Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 6. Aufl., Tübingen 1990. Eucken, Walter (1950), Die Grundlagen der Nationalökonomie, 6. Aufl., Berlin, Göttingen und Heidelberg. Eucken, Walter (1932), Staatliche Strukturwandlungen und die Krisis des Kapitalismus, in diesem Band, S. 5-24. Evangelische Kirche in Deutschland (Hrsg.) (1991), Denkschrift: Gemeinwohl und Eigennutz. Wirtschaftliches Handeln in Verantwortung für die Zukunft, 2. Aufl., Gütersloh. Gemeinsames Wort (1997), Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, herausgegeben vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und von der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn. Giersch, Herbert (1986), Die Ethik der Wirtschaftsfreiheit, in: Roland Vaubel und Hans D. Barbier (Hrsg.), Handbuch Marktwirtschaft, Pfullingen. S. 12-22. Glismann, Hans H. und Ernst-Jürgen Horn (1997), Alterssicherung in Deutschland: Primat des Interventionismus? In diesem Band, S. 505-527. Gröner, Helmut (1983), Property Rights-Theorie und staatlich regulierte Industrien, in: Alfred Schüller (Hrsg.), Property Rights und ökonomische Theorie, München, S. 219-239. Hax, Herbert (1997), Fixiert auf die Verteilung. Im „Wort der Kirchen" wird die Bedeutung der Motivation für Leistung und Initiative verkannt: Ordnungspolitische Empfehlungen und die Grenzen der Kompetenz, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 113 vom 17. Mai 1997, S. 15. Hayek, Friedrich A. von (1957), Was ist und was heißt sozial? In: Albert Hunold (Hrsg.), Masse und Demokratie, Zürich, S. 71-84. Hayek, Friedrich A. von (1971), Die Verfassung der Freiheit, Tübingen. Hensel, K. Paul (1949), Ordnungspolitische Betrachtungen zur katholischen Soziallehre (im Sinne der Päpstlichen Enzykliken Rerum Novarum und Quadragesimo Anno), ORDO, Zweiter Band, S. 229-269. Hensel, K. Paul (1977), Systemvergleich als Aufgabe, Stuttgart und New York. Heuß, Ernst (1997), Die Deformation der Marktwirtschaft durch die Wohlfahrtspolitik, in diesem Band, S. 137-146. Hoppmann, Erich (1990), Moral und Marktsystem, ORDO, Bd. 41, S. 3-26. Lehmann, Karl (1996), Über den eigenen Auftrag der Kirche zwischen Wohlstand und Armut angesichts der heutigen Sozialstruktur und veränderter Lebenslagen. Eröffnungsreferat des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz bei der Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz am 23.9.1996, Pressemitteilungen der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn. Leipold, Helmut (1997), Der Zusammenhang zwischen gewachsener und gesetzter Ordnung: Einige Lehren aus den postsozialistischen Reformerfahrungen, in: Dieter Cassel (Hrsg.), Institutionelle Probleme der Systemtransformtion, Berlin, S. 43-68. Mauro, Paolo (1997), Why Worry About Corruption? Economic Issues 8, International Monetary Fund, Washington D.C. Meyer, Wilhelm (1989), Das Menschenbild in der Ökonomie, in: Universität Bern (Hrsg.), Das heutige Menschenbild: Entwürfe und Ansätze. Kulturhistorische Vorlesungen, Bern, Frankfurt/Main, New York und Paris, S. 171-193. Müller-Armack, Alfred (1950/1981), Soziale Irenik, in: Alfred Müller-Armack (Hrsg.), Religion und Wirtschaft: Geistesgeschichtliche Hintergründe in unserer europäischen Lebensform, 3. Aufl., Bern und Stuttgart, 1981, S. 559-578. Novak, Michael (1996), Die katholische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Deutsche Bearbeitung und Übersetzung von Johannes Stemmler, Trier. Peffekoven, Rolf (1997), Finanzpolitik im Konflikt zwischen Effizienz und Distribution, in diesem Band, S. 119-136. Rauscher, Anton (1997), Das Wort der Kirchen bietet uns eine Chance, Deutsche Tagespost, Nr. 27 vom 1.3.1997, S. 3.

754 • Alfred Schüller Rauscher, Anton (1985), Katholische Soziallehre und liberale Wirtschaftsauffassung, in: Anton Rauscher (Hrsg.), Selbstinteresse mit Gemeinwohl. Beiträge zur Ordnung der Wirtschaftsgesellschaft, Berlin, S. 279-318. Reuter, Dieter (1997), Die Praxis des Arbeitsrechts - eine Achillesferse der Sozialen Marktwirtschaft, in diesem Band, S. 437-464. Röpke, Wilhelm (1953/1997), Kernfragen der Wirtschaftsordnung, in diesem Band, S. 27-67. Röpke, Wilhelm (1937/1994), Die Lehre von der Wirtschaft, 13. Auflage, Bern, Stuttgart und Wien. Röpke, Wilhelm (1950), Rittlings zwischen Sozialismus und Liberalismus, ORDO, Bd. III, S. 268-271. Roos, Lothar (1997), Joseph Kardinal Höffner (1906 - 1987), in: Jürgen Aretz, Rudolf Morsey und Anton Rauscher (Hrsg.), Zeitgeschichte in Lebensbildern, Bd. VIII., Mainz, S. 173-195. Roos, Lothar (1997), Veränderung als Chance: Die gemeinsame Erklärung der beiden großen christlichen Konfessionen auf dem Prüfstand, Rheinischer Merkur, Nr. 10 vom 7. März 1997, S. 3. Rübel, Gerhard (1997), Reducing working hours in the context of growing real capital mobility, Intereconomics, Jg. 32, H. 5, S. 230-241. Schüller, Alfred (1984), Unternehmensgebundene Verfugungsrechte im Spannungsfeld zwischen marktwirtschaftlichen Funktionserfordernissen und sozialstaatlichen Bindungen, in: Arthur F. Utz (Hrsg.), Das Unternehmen als Größe der Arbeitswelt. Der Arbeiter als Gesellschafter? Bonn, S. 124-214. Schüller, Alfred (1994), Meine Tasche, deine Tasche: Das Umverteilungschaos im Sozialstaat, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 281 vom 3.12.1994, S. 17. Schüller, Alfred (1996a), Der Sozialstaat unter dem Einfluß chaotischer Umverteilungskräfte, in: Barbara Burkhardt-Reich, Hans-Joachim Hof und Bernd Noll (Hrsg.), Herausforderungen an die Sozialstaatlichkeit der Bundesrepublik, Pforzheim, S. 38-65. Schüller, Alfred (1996b), Die Kirchen und die Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft. Ausgewählte Texte - Gelbe Seiten Nr. 33 des Bundes Katholischer Unternehmer, Köln. Smith, Adam (1776/1974), Der Wohlstand der Nationen: Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen. Neu aus dem Englischen übertragen von Horst Claus Recktenwald, München 1974. Spieker, Manfred (1997), Notwendige Widerworte: Kritische Anmerkungen zum gemeinsamen Wort der Kirchen, Die Neue Ordnung, Jg. 51, H 2, S. 112-121. Vanberg, Viktor (1997), Die normativen Grundlagen von Ordnungspolitik, in diesem Band, S. 707-726. Zacher, Hans F. (1975), Gewerkschaften in der rechtsstaatlichen Demokratie einer Arbeitnehmergesellschaft, in: Heinz Sauermann und Emst-Joachim Mestmäcker (Hrsg.), Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung: Festschrift für Franz Böhm zum 80. Geburtstag, Tübingen, S. 707-736. Zusammenfassung Die Soziale Marktwirtschaft befindet sich in einer wirtschaftlichen, sozialen und moralischen Krise. Seitens der Wissenschaft werden schon seit vielen Jahren grundlegende Reformen gefordert. Im Februar 1997 haben dies nun auch die beiden großen christlichen Kirchen getan. In einem Gemeinsamen Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland rufen sie dazu auf, die Wertgrundlagen der Sozialen Marktwirtschaft zu erneuern. Im vorliegenden Beitrag wird festgestellt, daß dem Gemeinsamen Wort implizit zwei widersprüchliche Wertorientierungen zugrunde liegen. Dem entsprechen zwei Konzeptionen von Sozialer Marktwirtschaft, die nicht miteinander vereinbar sind. Typ I folgt dem Individualprinzip. Danach steht der Mensch als sinnbe-

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stimmendes Element im Mittelpunkt der Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik. Typ II baut auf dem Kollektivprinzip auf; Orientierungspunkt des politischen Handelns sind gesellschaftliche Einheiten (Kollektive). Im Beitrag werden die Konsequenzen des jeweiligen Typs im einzelnen herausgearbeitet. Daraus ergibt sich die Diagnose für die Ursache der Krise. Der Wert des kirchlichen Beitrags zur geforderten Neuorientierung der Sozialen Marktwirtschaft wird an diesem Befund gemessen. Insgesamt wird festgestellt: Die Kirchen stehen mit ihrer Wertorientierung und den daraus abgeleiteten politischen Empfehlungen im Banne des Typs II und damit im Widerspruch zu einer Wirtschaftspolitik, die aus wissenschaftlicher Sicht notwendig ist, um die wirtschaftliche, soziale und moralische Krise der Sozialen Marktwirtschaft zu überwinden. Summary The Church and the Fundamental Values of the Social Market Economy The Social Market Economy is in an economic, social and moral crisis. For many years economic scientists have demanded radical reforms. In February 1997 the two main Christian Churches finally followed suit. In a Joint Declaration (Gemeinsames Wort) on the economic and social situation in Germany they appeal for a revival of the fundamental values of the Social Market Economy. This article ascertains that the Joint Declaration implicitly rests on two contradictory value systems. These correspond with two mutually inconsistent concepts of the Social Market Economy. Type I is based on the principle of individualism. It states that Man is the chief purpose of social and economic policy. Type II is based on the principle of collectivism; here social units are the focus of political action. In this article the particular consequences of these two different types of the Social Market Economy are explained. From this a diagnosis for the reasons of the current crisis is made. This serves as a measure for the value of the Churches contributions to the required reorientation of the Social Market Economy. The conclusion is as follows: The two Churches support more strongly those fundamental values which lead to political recommendations in favour of Type II of the Social Market Economy. This is incompatible with the proposals of economic scientists regarding an economic policy which would be able to overcome the social and moral crisis of the Social Market Economy.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1997) Bd. 48

Manfred Spieker

Ordnungspolitik und katholische Kirche Inhalt I. Schwierigkeiten der Kirchen mit der Ordnungspolitik II. Die Entdeckung der Strukturen III. Die Bedeutung von Centesimus Annus IV. Sozialethische Diskussionen über die Ordnungspolitik V. Ordnungspolitische Probleme des Schwangerschaftskonfliktgesetzes Literatur Zusammenfassung Summary: Ordnungspolitik and the Catholic Church

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I. Schwierigkeiten der Kirchen mit der Ordnungspolitik Schwierigkeiten mit der richtigen Einschätzung der Ordnungspolitik müssen sich die christlichen Kirchen immer wieder vorwerfen lassen. Dazu tragen sie zu einem erheblichen Teil auch selbst bei. In der Pastoral steht die individuelle Bekehrung und die Nachfolge Christi im Mittelpunkt. In der Wahrnehmung der Zeichen der Zeit dominiert nicht selten die mangelnde Solidarität der Zeitgenossen, ihr Egoismus, der schnell als Werteverfall interpretiert wird. In den Predigten wird auf die persönliche Bekehrung und die Rekonstruktion der Tugend mit Recht mehr Wert gelegt als auf Ordnungsprobleme und Strukturreformen. So scheint es ganz konsequent zu sein, wenn auch die Politik den Kirchen, in einer durchaus wohlwollenden Betrachtung von deren Rolle, die Zuständigkeit für die Grundwerte zuweist. Sie hätten, so Helmut Schmidt 1976, „sittliche Grundauffassungen in der Gesellschaft lebendig zu erhalten".1 Im Bereich der Wirtschaftsordnung und der Wirtschaftspolitik scheinen die Schwierigkeiten der christlichen Kirchen mit der Ordnungspolitik noch manifester zu sein. Ihr Insistieren auf einer gerechten Einkommens- und Vermögensverteilung erweckt gelegentlich den Eindruck, als fehle ihnen jedes Verständnis für die Probleme des Ordnungsrahmens und der jeder Verteilung vorausgehenden Produktion. Der im gemeinsamen Wort der katholischen und evangelischen Kirche zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland geforderte „Reichtumsbericht" und die ebenfalls geforderte Heranziehung der Vermögen zur Finanzierung der deutschen Einheit stützen dieses Vorur-

1

So Bundeskanzler Helmut Schmidt (1977, 25) in seiner Hamburger Grundwerterede „Ethos und Gesellschaft" am 23.5.1976. Schmidt wollte damit aber zugleich den Staat von seiner Verantwortung für die Grundwerte entlasten. Zu dieser Grundwertedebatte Spieker (1977, 21 ff.).

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teil.2 Auch die kritische Sicht des Marktes und des Wettbewerbs fast das ganze 20. Jahrhundert hindurch trägt dazu bei, den Kirchen mangelndes Verständnis für die Ordnungspolitik und darüber hinaus für die soziale Marktwirtschaft zu unterstellen. So eindeutig auch immer die Ablehnung der sozialistischen Zentralverwaltungswirtschaft war, die Äußerungen zugunsten der sozialen Marktwirtschaft waren immer mit Einschränkungen und Vorbehalten verbunden. 3 Im Markt wird nicht nur in der Befreiungstheologie (Assmann und Hinkelammert 1992) schnell der Dschungel gesehen, in dem sich der Egoismus der Produzenten entfaltet. Dementsprechend kritisch wird häufig auch die Rolle der Unternehmer beurteilt. Daß der Markt, wenn er funktioniert, ein Instrument zu einer besseren und preisgünstigeren Befriedigung der Bedürfnisse in der Gesellschaft ist, daß ihm also eine soziale Funktion zukommt, diese Erkenntnis findet in der katholischen Kirche bis in die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts nur wenig Resonanz.

II. Die Entdeckung der Strukturen Dennoch bleibt festzuhalten, daß die Bedeutung der Strukturen und damit die Notwendigkeit einer Ordnungspolitik zumindest in der katholischen Kirche nicht erst am Ende des 20., sondern bereits im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erkannt wurde. Papst Leo XIII unterstrich in seiner Sozialenzyklika Rerum Novarum 1891, daß die Arbeiterfrage, das große soziale Problem aller industrialisierten Länder, durch ein tugendhaftes Verhalten von Unternehmern und Arbeitern allein nicht zu lösen sei, daß es dazu vielmehr auch der sozialpolitischen Gesetzgebung des Staates, also einer neuen Ordnung bedürfe. 4 Der Mainzer Bischof Wilhelm Emanuel Ketteier, in der Partei des 'Zentrums' engagierte Priester und Laien wie Franz Hitze und Ludwig Windthorst sowie sozialwissenschaftliche Studienkreise in der Schweiz, in Frankreich, Belgien, Österreich, Deutschland und Italien haben ihm vorgearbeitet, und niemand hat die in Rerum Novarum enthaltenen Forderungen, die eine Distanzierung vom liberalen Nachtwächterstaat bedeuteten, ordnungspolitisch so umfassend umgesetzt wie der Priester Heinrich Brauns, der als Sozialpolitiker der Zentramsfraktion des Reichstages und als Reichsarbeitsminister in zwölf Kabinetten der Weimarer Republik von 1920 bis 1928 eine Fülle von sozialstaatlichen und arbeitsrechtlichen Strukturen schuf, die bis heute zur Ordnung des Sozialstaats in Deutschland wesentliches beitragen. Die Entdeckung der Strukturen und ihrer Bedeutung für das soziale und individuelle Leben war die Geburtsstunde der katholischen Soziallehre. Auch die akademische Disziplin der Christlichen Gesellschaftslehre hat hier ihre Wurzeln. Zwei Jahre nach Rerum 2

Gemeinsames Wort der katholischen und evangelischen Kirche zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit (1979, Ziffer 219 f.), s. a. Schüller in diesem Band. 3 Kerber (1990, 11 ff.). Den Grund für diese Zurückhaltung vermutet Kerber in der Selbstbeschränkung der Kirche, die es ihr verbiete, zu Fragen technischer Art Stellung zu nehmen. Für diese Fragen habe sie weder die geeigneten Mittel noch eine Sendung, habe schon Pius XI1931 in Quadragesimo Anno 41 erklärt. Die Frage freilich ist, ob Markt und Wettbewerb nur eine technische Frage sind. 4 Leo XIII, Rerum Novarum 45. Die in diesem Beitrag zitierten Sozialenzykliken und anderen kirchlichen Dokumente sind enthalten in: Texte zur Katholischen Soziallehre 1992.

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Novarum wurde an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster die erste Professur für Christliche Sozialwissenschaften eingerichtet. Gesellschaftliche Strukturen haben aber nicht nur für die Entstehung oder Vermeidung von materiellem Elend eine große Bedeutung. Das 20. Jahrhundert mit seinen totalitären Herrschaftssystemen lehrt, daß sie für das Gelingen des menschlichen Lebens schlechthin und damit auch für das Heil der Seelen eine Schlüsselbedeutung haben. Gesellschaftliche, politische und ökonomische Verhältnisse können den Menschen so belasten, daß er keinen Blick und keine Kraft mehr hat für das, was sein eigentlicher Auftrag ist: im Hören auf Gottes Wort sein Leben zu entfalten. Wer durch die ökonomischen Verhältnisse gezwungen wird, seine Zeit und seine Energie ausschließlich in die Sorge um das tägliche Brot für sich und seine Angehörigen zu investieren, der wird kaum Gelegenheit haben, seine eigentliche Berufung zu entdecken. Das gleiche gilt für den, der durch die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse totalitärer Systeme einem ständigen Druck ausgesetzt ist, sich um des eigenen Überlebens oder der Ausbildung der Kinder willen an den jeweiligen Zeitgeist anzupassen. So schreibt Papst Pius XI in seiner Enzyklika Quadragesimo Anno 1931 nach den ersten Erfahrungen mit den totalitären Systemen des sowjetischen Kommunismus, des mexikanischen Sozialismus und des italienischen Faschismus und am Vorabend der nationalsozialistischen Machtergreifung in Deutschland, daß die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Gegenwart es einer ungeheuer großen Zahl von Menschen „außerordentlich schwer machen, das eine Notwendige, ihr ewiges Heil, zu wirken".5 Pius XII fragt zehn Jahre später, ob die Kirche schweigen dürfe „gegenüber sozialen Verhältnissen, die bewußt oder unbewußt darauf hinauslaufen, einen christlichen Lebensaufbau ... zu erschweren oder praktisch unmöglich zu machen". 6 Das II. Vatikanische Konzil hat 1965 die pastorale Überlegung von Pius XI aufgegriffen und mit einer anthropologischen Reflexion verbunden. Aus der gesellschaftlichen Natur des Menschen gehe hervor, daß der Fortschritt der menschlichen Person und das Wachsen der Gesellschaft als solcher sich gegenseitig bedingen. „Wenn nun die menschliche Person zur Erfüllung ihrer Berufung, auch der religiösen, dem gesellschaftlichen Leben viel verdankt, so kann dennoch nicht geleugnet werden, daß die Menschen aus den gesellschaftlichen Verhältnissen heraus, in denen sie leben und in die sie von Kindheit an eingefangen sind, oft vom Tun des Guten abgelenkt und zum Bösen angetrieben werden." 7 Wenn das Gelingen des menschlichen Lebens, das in der Perspektive der Christen von der Nachfolge Christi abhängt, auch auf humane soziale Strukturen angewiesen ist, kommt diesen Strukturen eine sittliche Relevanz zu. Ihre Gestaltung und somit die Ordnungspolitik gehören zur Nachfolge Christi. Die Möglichkeitsbedingungen für das Gelingen des menschlichen Lebens sind die Leitfrage jeder Ethik. Inhumane soziale Verhältnisse, z. B. totalitäre politische Systeme, gesellschaftliche Marginalisierung oder ökonomische Not, können das Gelingen des menschlichen Lebens nicht nur erschweren, 5 6 7

Pius XI, Quadragesimo Anno 130. Pius XII, Pfingstbotschaft 1941 zur Fünfzigjahrfeier von Rerum Novarum, in: Utz und Groner 1954, Ziffer 498. II. Vatikanisches Konzil, Gaudium et Spes 25; Ratzinger 1996, 235.

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sondern auch unmöglich machen. Sie können die Menschen so belasten, daß sie den Weg zur Nachfolge Christi nicht finden, daß sie, um es noch einmal mit den Worten des II. Vatikanischen Konzils auszudrücken, „oft vom Tun des Guten abgelenkt und zum Bösen angetrieben werden". Erst wenn die Sorge um das unmittelbare Überleben nicht alle Kräfte absorbiert, kann die Frage nach dem Gelingen des Lebens ein handlungsrelevanter Gesichtspunkt werden. 8 Die Christliche Gesellschaftslehre beschäftigt sich deshalb auch und zentral mit den sozialen und politischen Voraussetzungen eines gelingenden menschlichen Lebens. Sie fragt nach den Rahmenbedingungen des Gemeinwohls und damit nach der Ordnungspolitik. Ihr Ziel ist die Humanisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Sie will die Menschen ermutigen, die sozialen, ökonomischen und politischen Strukturen im Geist des Evangeliums so zu gestalten, daß sie eine Zivilisation der Liebe ermöglichen. Sie geht davon aus, daß gesellschaftliche Verhältnisse um so humaner sind, je konsequenter die Christen ihrer Berufung zur Heiligkeit folgen. 9

III. Die Bedeutung von Centesimus Annus Die Christliche Gesellschaftslehre hat seit Rerum Novarum keinen Zweifel daran aufkommen lassen, daß humane gesellschaftliche Verhältnisse nur solche sein können, in denen Privateigentum, unternehmerische Initiative, Freiheit der Arbeitsplatzwahl, Markt und Wettbewerb, Assoziationsfreiheit, Absicherungen gegen soziale Risiken und Mitbestimmung der Arbeitnehmer gewährleistet sind. Sie hat ebenfalls keinen Zweifel daran aufkommen lassen, daß dem Staat die Aufgabe zukommt, diese Bedingungen humaner gesellschaftlicher Verhältnisse sicherzustellen. Wenn der 1983 verstorbene Münsteraner Sozialethiker Wilhelm Weber 1975 trotz der Vorbehalte in den kirchlichen Äußerungen zur Marktwirtschaft von einer „erstaunlichen ordnungspolitischen Nähe und zum Teil totalen konzeptionellen Übereinstimmung" zwischen der katholischen Soziallehre - zumindest ihrer 'Solidarismus' genannten wichtigsten Richtung - und dem Neoliberalismus sprach 10 , hat er die Tradition der sozialen Verkündigung der Kirche im 20. Jahrhundert zutreffend interpretiert. Allerdings muß man bis zur Enzyklika Centesimus Annus 1991 den VorTang der Marktwirtschaft eher indirekt aus den Ordnungsprinzipien und dem Menschenbild der katholischen Soziallehre rekonstruieren und immer wieder feststellen, daß die knappen Würdigungen von Markt und Wettbewerb in den kirchlichen Dokumenten begleitet sind von Warnungen vor seiner Alleingeltung als Ordnungsprinzip und vor seiner Zügellosigkeit." Auf diesen Vorrang der Marktwirtschaft in der katholischen Soziallehre haben auch Wirtschaftswissenschaftler schon sehr früh hingewiesen. So hat ihn Paul Hensel 1949 aus dem Subsidiaritätsprinzip in Quadrage8 Spaemann (1989,45). Spaemann nennt die Ethik die „Lehre vom gelingenden Leben" (a.a.O., 15 ff.). 9 II. Vatikanisches Konzil, Lumen Gentium 40. 10 So W. Weber in einem Leserbrief mit dem Titel „Katholische Soziallehre gegen liberale Wirtschaftsordnung?", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6.11.1975, 15. Rauscher (1988, 360 ff. und 371 ff.). 11 Pius XI, Quadragesimo Anno 109; Johannes XXIII, Mater et Magistra 36 und 71; Paul VI, Populorum Progressio 26, 33, 60; Paul VI, Octogésima Adveniens 9 und 15.

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simo Anno abgeleitet und gezeigt, daß das ebenfalls in Quadragesimo Anno entwickelte Konzept der Berufsständischen Ordnung einen "inneren Gegensatz" zum Subsidiaritätsprinzip beinhaltet (.Hensel 1949, 258 und 238). Die Wende, die den expliziten Vorrang der Marktwirtschaft markiert, kommt erst 1991 mit der Enzyklika Centesimus Annus, deren Anlaß der 100. Jahrestag der Enzyklika Rerum Novarum ist. Johannes Paul II beschreibt nicht nur die Verdienste Leos XIII, sondern setzt sich ausführlich mit der Entwicklung der Welt nach dem Zusammenbruch des Kommunismus auseinander. Auf die Frage, ob der Kapitalismus nun das siegreiche Gesellschaftssystem und das Ziel jener Länder sei, die Wirtschaft und Gesellschaft zu transformieren versuchen, gibt er eine differenzierte Antwort. Werde mit 'Kapitalismus' ein Wirtschaftssystem bezeichnet, „das die grundlegende und positive Rolle des Unternehmens, des Marktes, des Privateigentums und der daraus folgenden Verantwortimg für die Produktionsmittel, der freien Kreativität des Menschen im Bereich der Wirtschaft anerkennt, ist die Antwort sicher positiv... Wird aber unter 'Kapitalismus' ein System verstanden, in dem die wirtschaftliche Freiheit nicht in eine feste Rechtsordnung eingebunden ist, die sie in den Dienst der vollen menschlichen Freiheit stellt und sie als eine besondere Dimension dieser Freiheit mit ihrem ethischen und religiösen Mittelpunkt ansieht, dann ist die Antwort ebenso entschieden negativ" (42, die Ziffern beziehen sich auf die Enzyklika). Johannes Paul II plädiert in Centesimus Annus also für ein Wirtschaftssystem, das durch eine Ordnungspolitik gestaltet und gelenkt wird, eine Ordnungspolitik, die sich nicht nur auf das ökonomische, sondern auch auf das politische und soziale System erstreckt und in deren Mittelpunkt das Gemeinwohl als Gesamtheit der gesellschaftlichen Möglichkeitsbedingungen personaler Entfaltung des Menschen steht (15, 35, 44, 48 und 58). Er empfiehlt eine Wirtschaftsordnung, die auf der Freiheit von Produzenten, Arbeitnehmern und Konsumenten, auf dem Recht auf Privateigentum, auf unternehmerische Initiative und auf der Freiheit des Wettbewerbs gründet, die Rolle des Gewinns anerkennt und dem Staat die Aufgabe zuweist, durch seine Rahmengesetzgebung zwar soziale Gerechtigkeit, ein menschenwürdiges Arbeitsrecht und die Mitbestimmung der Arbeitnehmer zu gewährleisten, aber doch im zweiten Glied zu bleiben. Er sieht im freien Markt „das wirksamste Instrument für die Anlage der Ressourcen und für die beste Befriedigung der Bedürfnisse" (34). Die Marktmechanismen helfen, „besseren Gebrauch von den Ressourcen zu machen, sie fördern den Austausch der Produkte und stellen den Willen und die Präferenzen des Menschen in den Mittelpunkt" (40). Das von Centesimus Annus favorisierte Wirtschaftssystem gleicht zweifellos dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft. 12 Die Bewertung von Markt und Wettbewerb deckt sich im übrigen mit der der evangelischen Sozialethik, soweit sie in der ein knappes halbes Jahr nach Centesimus Annus veröffentlichten Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Sozialen Marktwirtschaft ihren Niederschlag fand. Diese Denkschrift (1991, Ziffer 40) beschreibt die soziale Funktion des Marktes noch präziser und ausführlicher als Centesimus An12 Rauscher (1992, 14), Ockenfels (1992, 106), Roos (1991, 6; 1993a, 319), Kerber (1991, 153 f.), Lehmann (1996,4), Spieker ( 1 9 9 4 , 1 6 9 ff.).

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nus. „In der Marktwirtschaft dient der Wettbewerb als wirksames Entmachtungsinstrument. Er entmachtet, weil er Alternativen für die Käufer schafft und dadurch bewirkt, daß Chancen zur Benachteiligung anderer erst gar nicht entstehen oder jedenfalls verringert werden. Wo Konsumenten zwischen zahlreichen Anbietern auswählen können, sind die Anbieter zu normgerechtem Verhalten in der Regel wirksam angehalten. Wettbewerb ist somit ein zentrales Moment jeder Marktwirtschaft, und dies auch unter ethischen Gesichtspunkten. Wo er nicht funktioniert, können sich Machtstellungen entwikkeln, die immer die Gefahr des Mißbrauchs in sich schließen... Wettbewerb ist freilich nicht bloß hilfreich, er ist auch unbarmherzig. Häufig wird er mit großer Härte ausgetragen. Wenn ein Betrieb im Wettbewerb nicht mehr mithalten kann, verbindet sich dies für die betroffenen Menschen in der Regel mit Existenzfragen ... Darum wird Wettbewerb unter ethischen Gesichtspunkten vielfach nicht vorrangig als Entmachtungsinstrument und Bollwerk gegen die egoistische Ausbeutung des einen durch die anderen betrachtet, sondern als Aufforderung an die Menschen, ihren egoistischen Antrieben zu folgen. Er gilt unter diesen Voraussetzungen als bedenklicher Mechanismus. In der Tat kommt der Wettbewerb den Interessen derer entgegen, die Eigeninitiative beweisen, Risiken eingehen, überlegene Leistungen erbringen und ihren Erfolg ... sicherzustellen oder zu vergrößern suchen. Er belohnt die Leistung des Tüchtigeren. Dieser Ansporn dient aber dem Gemeinwohl." Centesimus Annus würdigt auch die Funktion des freien Unternehmertums grundlegender und zutreffender als alle früheren Dokumente der Christlichen Gesellschaftslehre. Johannes Paul II nennt „die Fähigkeit, die Bedürfnisse der anderen Menschen und die Kombinationen der geeignetsten Produktionsfaktoren für ihre Befriedigung rechtzeitig zu erkennen", eine „bedeutende Quelle des Reichtums in der modernen Gesellschaft. Viele Güter können gar nicht durch die Arbeitskraft nur eines einzelnen wirksam erstellt werden, sondern sie erfordern die Zusammenarbeit vieler für dasselbe Ziel. Einen solchen Produktionsprozeß zu organisieren, seinen Bestand zu planen, dafür zu sorgen, daß er, unter Übernahme der notwendigen Risiken, der Befriedigung der Bedürfnisse positiv entspricht: auch dies ist eine Quelle des Reichtums in der heutigen Gesellschaft". Es ist die Aufgabe des Unternehmers, diesen Produktionsprozeß zu organisieren. Dafür bedarf er wichtiger Tugenden, „wie Fleiß, Umsicht beim Eingehen zumutbarer Risiken, Zuverlässigkeit und Treue in den zwischenmenschlichen Beziehungen, Festigkeit bei der Durchführung von schwierigen und schmerzvollen, aber für die Betriebsgemeinschaft notwendigen Entscheidungen und bei der Bewältigung etwaiger Schicksalsschläge" (32). Die Enzyklika enthält aber nicht nur ein Loblied auf die Freiheit des Marktes und der unternehmerischen Initiative, sie sieht auch die Grenzen dieser Freiheit und die Aufgaben des Staates. Da es „unzählige menschliche Bedürfnisse (gibt), die keinen Zugang zum Markt haben", ist es eine „strenge Pflicht der Gerechtigkeit und der Wahrheit zu verhindern, daß die fundamentalen menschlichen Bedürfnisse unbefriedigt bleiben und daß die davon betroffenen Menschen zugrunde gehen ... Noch vor der Logik des Austausches gleicher Werte und der für sie wesentlichen Formen der Gerechtigkeit gibt es etwas, das dem Menschen als Menschen zusteht, das heißt auf Grund seiner einmaligen Würde" (34). Der Staat hat deshalb „die Aufgabe, den rechtlichen Rahmen zu erstellen,

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innerhalb dessen sich das Wirtschaftsleben entfalten kann". Er hat die Pflicht zur Ordnungspolitik. Hier entspricht das Anliegen der Enzyklika dem Euckens (1948, 338; 1952, 153). Der Staat hat durch seine Wirtschafts-, Finanz-, Sozial- und Umweltpolitik das „Ziel eines ausgeglichenen Wachstums und der Sicherung der Vollbeschäftigung" zu verfolgen, eine Renten- und Arbeitslosenversicherung, ein hohes Ausbildungsniveau und gegebenenfalls, d. h. in Strukturkrisen, Umschulungsmaßnahmen zu gewährleisten (15). Er hat am Ziel eines „familiengerechten Lohnes" festzuhalten (34). Er hat sich um den Schutz der Arbeitsbedingungen und der natürlichen Umwelt zu kümmern (40 und 34). Er hat Mitbestimmungsmöglichkeiten zu regeln (43), den Wettbewerb zerstörende Monopole zu verhindern und schließlich „die Sicherheit der individuellen Freiheit und des Eigentums sowie eine stabile Währung und leistungsfähige öffentliche Dienste" zu garantieren (48). So hat er seinen Beitrag zu einer menschenwürdigen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung zu leisten, in der vermieden wird, „daß die Arbeit des Menschen und der Mensch selber auf das Niveau einer bloßen Ware herabgedrückt werden" (34). Neben diesen vielfaltigen Einzelaufgaben der Rahmengesetzgebung kann der Staat „in Ausnahmefällen" aber auch „Vertretungsfunktionen wahrnehmen, wenn gesellschaftliche Bereiche oder Unternehmenssysteme zu schwach oder erst im Entstehen begriffen und daher noch unfähig sind, ihre Aufgaben zu erfüllen. Solche stellvertretenden Interventionen, die durch dringende, vom Gemeinwohl geforderte Gründe gerechtfertigt sind, müssen aber zeitlich möglichst begrenzt sein, um nicht den genannten Bereichen und Untemehmenssystemen die ihnen eigenen Kompetenzen auf Dauer zu entziehen und nicht den Umfang der staatlichen Intervention übermäßig auszuweiten. Dies wäre sowohl für die wirtschaftliche wie für die bürgerliche Freiheit schädlich" (34). Der Staat hat also im zweiten Glied zu bleiben. Er hat das Subsidiaritätsprinzip zu beachten. Selbst wenn ihm im Hinblick auf „die Ausübung der Menschenrechte" in der Wirtschaft eine Kontrollfunktion zukomme, so liege doch „die erste Verantwortung auf diesem Gebiet... nicht beim Staat, sondern bei den einzelnen und bei den verschiedenen Gruppen und Vereinigungen, in denen sich die Gesellschaft artikuliert. Der Staat könnte das Recht aller Bürger auf Arbeit nicht direkt sicherstellen, ohne das gesamte Wirtschaftsleben zu reglementieren und die freie Initiative der einzelnen abzutöten." Auch in seinem sozialstaatlichen Leistungssystem, das der Staat entwickeln muß, um „menschenunwürdige Formen der Armut und Entbehrung" zu beseitigen, hat er das Subsidiaritätsprinzip zu beachten. „Der Wohlfahrtsstaat, der direkt eingreift und die Gesellschaft ihrer Verantwortung beraubt, löst den Verlust an menschlicher Energie und das Aufblähen der Staatsapparate aus, die mehr von bürokratischer Logik als von dem Bemühen beherrscht werden, den Empfängern zu dienen; Hand in Hand damit geht eine ungeheure Ausgabensteigerung" (48). Die positive Bewertung einer Wirtschaftsordnung, die jener der Sozialen Marktwirtschaft gleicht, durch die Enzyklika Centesimus Annus gründet letztlich nicht auf dem Erfolg dieser Wirtschaftsordnung in dem halben Jahrhundert nach dem 2. Weltkrieg, sondern im personalen Menschenbild der katholischen Soziallehre, das die Freiheit und die Würde des Menschen als hohe Werte betrachtet und das sich wie ein Leitfaden durch die Enzyklika zieht. Hier berührt sich die Enzyklika mit dem Konzept der Sozia-

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len Marktwirtschaft von Alfred Müller-Armack, für den die Marktwirtschaft „lediglich ein Instrument, ein Verfahren, ein Weg (ist), um die menschliche Freiheit zu nutzen, uns etwas weiter zu bringen, uns etwas wohlhabender und sicherer leben zu lassen, uns das Gefühl der Gerechtigkeit und der Freiheit von Zwang und Ausbeutung zu geben" (.Müller-Armack 1948/1976, 192). Das personale Menschenbild ist im übrigen auch die Grundlage der Ordnungsprinzipien der Solidarität, der Subsidiarität und des Gemeinwohls, die ihrerseits ebenfalls eine Wirtschaftsordnung präjudizieren, die der Sozialen Marktwirtschaft gleicht (Spieker 1994, 169 ff.).

IV. Sozialethische Diskussionen über die Ordnungspolitik Die Enzyklika Centesimus Annus hat die sozialethische Diskussion über die Bedeutung der Ordnungspolitik und auch über das Selbstverständnis der Christlichen Gesellschaftslehre neu angestoßen. Die Christliche Gesellschaftslehre definiert sich zunehmend als Institutionenethik, das heißt als eine Wissenschaft, die davon ausgeht, daß das Gelingen des menschlichen Lebens nicht nur von tugendhaften Einstellungen und Verhaltensweisen, sondern auch von gesellschaftlichen Institutionen und Regeln abhängig ist, und die danach fragt, welche Institutionen und Regeln geeignet sind, sowohl im Bereich der Wirtschaft als auch der Gesellschaft und des Staates, einschließlich der internationalen Beziehungen, die Weichen zur Realisierung des Gemeinwohls zu stellen. Zu den Aufgaben der Christlichen Gesellschaftslehre gehört es deshalb, in Kooperation mit den Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften Ordnungssysteme zu entwickeln, die die Bürger zu gemeinwohlfreundlichen Einstellungen und Verhaltensweisen veranlassen {Kerber 1990, 21). Diesem Zweck dient auch die von Johannes Paul II 1994 neugegründete Päpstliche Akademie der Sozialwissenschaften. Sie soll die Soziallehre der Kirche fordern, zur Entwicklung der Wirtschafts-, Sozial- und Rechtswissenschaften beitragen und den Dialog zwischen diesen Disziplinen fördern.13 Die wiederholten Bemerkungen in einigen päpstlichen Dokumenten, die Soziallehre der Kirche gehöre „in den Bereich der Theologie und insbesondere der Moraltheologie" 14 , werden im zweiten Teil dieser Zuordnung diesem Anliegen allerdings nicht gerecht. Gewiß ist die katholische Soziallehre Teil der Theologie. Aber sie ist nicht Teil der Moraltheologie, aus der sie sich am Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt hat. Mit dieser Zuordnung, die deutsche Bischöfe auch schon in Versuchung brachte, die Christliche Gesellschaftslehre als akademische Disziplin zu eliminieren {Spieker 1997, 92 ff.), wird gerade ihr Bemühen um eine Institutionenethik verdeckt. Im Bereich der politischen Ethik hat sich vor allem Bernhard Sutor darum bemüht, den Charakter der Christlichen Gesellschaftslehre als einer Institutionenethik zu verdeutlichen. Dabei hat er jede Einseitigkeit vermieden, die darin bestehen würde, die Sozialethik ausschließlich als Institutionenethik zu konzipieren. Politische Ethik ist 13 Statut der Akademie und Ansprache Johannes Pauls II zur Eröffnung der Akademie im Year Book der Akademie, First edition, Vatican City 1995, 15-29. 14 Johannes Paul II, Sollicitudo Rei Socialis 41; Centesimus Annus 55.

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„Institutionenethik und Tugendethik, aber erstere ist ihr Schwerpunkt" (Sutor 1991a, 41; 1997, 29 f.). Institutionen seien als „normative Gefüge mit Sinnvorgabe" unentbehrlich, um das Handeln der Bürger zu koordinieren und eine gewisse gegenseitige Verläßlichkeit zu gewährleisten. Sie könnten die Leistungen individueller Moral nicht ersetzen; aber sie können sie unterstützen und Defizite der Moral kompensieren. Sie haben die Aufgabe, verbindliche Entscheidungen für eine Gesellschaft zu ermöglichen und „die Orientierung dieser Entscheidungen an Prinzipien einer guten Gesamtordnung zu sichern" (Sutor 1991a, 67). Im Bereich der Wirtschaftsethik haben zahlreiche Vertreter der Christlichen Gesellschaftslehre auch schon vor Centesimus Annus die Bedeutung ordnungspolitischen Denkens unterstrichen. Hier bestehen sehr viele Verbindungen zu Euckens Ordoliberalismus. Für den 1940 bei Walter Eucken promovierten Joseph Höffner, den späteren Kardinal und Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, lehrt die Geschichte, „daß Freiheit und Würde des Menschen weithin vom Ordnungssystem der Wirtschaft abhängen". Dieses Ordnungssystem der Wirtschaft definiert er als „das Insgesamt der Rahmenbedingungen, innerhalb derer der Wirtschaftsprozeß sich vollzieht". Von der jeweiligen Wirtschaftsordnung hänge es ab, „wer über den Produktionsplan, das technische Verfahren, den zeitlichen Aufbau der Produktion, die Standortfrage, den Umfang und die Art der zur Verfügung stehenden Konsumgüter und Dienste, die Preise, die Verteilung des zum Leben Notwendigen bestimmt, und ob die freie Wahl des Berufes und des Arbeitsplatzes sowie die freie Konsumwahl gewährleistet sind oder nicht" ( H ö f f n e r 1986, 479 f.). Höffner zeigt in seinen Arbeiten Verbindungen "zwischen den frühen Ansätzen eines 'Ordo-Denkens' in der Spätscholastik und der Ordnungstheorie des Freiburger Kreises um Walter Eucken" (Roos 1997, 179). Diese Position wird von den meisten deutschsprachigen Sozialethikem geteilt.15 Eine Wirtschaftsordnung aber bleibt immer eingebunden in ein politisches und kulturelles System. Sie läßt sich nicht von sittlichen Werten und der Moral der Bürger isolieren. Dies deutlich zu machen, war in den 90er Jahren das Anliegen von Michael Novak, dessen Arbeiten über den Geist des demokratischen Kapitalismus zum einen die Interdependenz des ökonomischen, politischen und kulturellen Systems und zum anderen die Verbindungen zwischen dem demokratischen Kapitalismus und der katholischen Soziallehre deutlich zu machen versuchten. Der demokratische Kapitalismus „kann nicht ohne die moralische Kultur gedeihen, die die Tugenden und Werte nährt, von denen seine Existenz abhängt. Er kann auch nicht ohne eine demokratische Staatsform gedeihen..." (Novak 1992, 75,155; 1996). Die Christliche Gesellschaftslehre ist das ganze 20. Jahrhundert hindurch ein Plädoyer an Politik und Ökonomie, der gemeinwohlbedingten Interdependenz zwischen ökonomischer, politischer und kultureller Ordnung Rechnung zu tragen. Johannes Paul II hat in seinen Sozialenzykliken und Apostolischen Briefen sowie in zahlreichen sozialethischen Ansprachen zu verstehen gegeben, daß dies bedeutet, eine sozial orientierte Marktwirtschaft mit einem demokratischen Rechtsstaat und einer Zivilgesellschaft auf

15 Roos (1993a), Ockenfels (1992), Rauscher (1988, 365 f.; 1992), Weiler (1991, 107 ff.), (1994, 106 ff.), Hengsbach (1997, 5).

Zsißovits

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der Basis eines lebendigen religiösen Glaubens zu verbinden. Auch wenn Centesimus Annus die ordnungspolitischen Akzente verstärkt, so hält Johannes Paul II doch an der Trias Wirtschaft, Politik und Moral sowie an der Notwendigkeit gleichzeitiger Gesinnungs- und Strukturreformen zur Bewältigung der Probleme postkommunistischer Transformationsländer und der Staaten der Dritten Welt fest. Die Lösung der ernsten nationalen und internationalen Probleme sei,glicht nur eine Frage der Wirtschaft oder der Rechts- oder Gesellschaftsordnung". Sie erfordere vielmehr „klare sittlich-religiöse Werte sowie die Änderung der Gesinnung, des Verhaltens und der Strukturen" (60). Gegenüber diesem Plädoyer der Christlichen Gesellschaftslehre unterstreicht Karl Homann sehr pointiert den institutionenethischen Charakter der Wirtschaftsethik. Sein Versuch, die Ökonomik als „Ethik mit anderen Mitteln" zu definieren und alle ökonomischen Aussagen „in terms of ethics" zu rekonstruieren, und sein Vorschlag, „Ethik und Ökonomik als zwei Diskurse ein und derselben Problematik menschlicher Interaktionen aufzufassen, als zwei Diskurse also, die jeweils verschieden ansetzen, verschiedene Methoden und verschiedene Klassen von Argumenten benutzen, die jedoch im Prinzip, d.h. vom Gegenstandsbereich her, als deckungsgleich angenommen werden müssen" (Homann 1994, 16), könnten durchaus geeignet sein, die Diskussion zwischen Ökonomen und Ethikern zu beleben und das Verhältnis zwischen Ökonomie und Ethik vor einem unfruchtbaren Dualismus zu bewahren, wenn er nicht dazu neigen würde, die Tugenden dann doch zum Dekor der Institutionen verkommen zu lassen. Zur Steuerung moderner Gesellschaften unter Dilemmabedingungen gäbe es nur den ordnungsethischen, nicht den individualethischen Ausweg. Dem müßten auch Moral und Sittlichkeit Rechnung tragen {Homann 1994, 23). Moralische Aufrüstung zur Bekämpfung des Werteverfalls sei „völlig verfehlt". Die Steuerung moderner Gesellschaften könne nur über eine „Anreizmoral" und „grundsätzlich nicht im Paradigma der individuellen Handlungssteuerung gedacht werden" (Homann 1997, 13 f f ) . Diese Fixierung auf die Institutionen- oder Anreizethik führt Homann auch zu einer ungerechten Kritik an den Sozialenzykliken Johannes Pauls II Sollicitudo Rei Socialis und Centesimus Annus. Er wirft ihnen eine „vormoderne Sozialtheorie" vor. Sie würden „zahlreiche globale Krisenerscheinungen unserer Welt immer noch auf böse Motive der Handelnden" zurückfuhren. Sie hätten „die Funktionszusammenhänge der modernen Wirtschaft, die bevorzugt über Regeln und Institutionen und nicht über böse Motive gesteuert wird, noch nicht begriffen" (Homann 1991). Diese Kritik geht an den Aussagen Johannes Pauls II vorbei, der nicht nur in Centesimus Annus, sondern auch schon in Sollicitudo Rei Socialis die Notwendigkeit ordnungspolitischer Maßnahmen unterstreicht. So weist er in Sollicitudo Rei Socialis 44 daraufhin, daß eine erfolgreiche ökonomische und soziale Entwicklung in manchen Staaten der Dritten Welt die Reform ungerechter Strukturen und insbesondere der eigenen politischen Institutionen voraussetzt, „um korrupte, diktatorische und autoritäre Regime durch demokratische Ordnungen der Mitbeteiligung zu ersetzen". Mit Recht hat Bernhard Sutor (1991b) Homanns Kritik an Centesimus Annus und der katholischen Soziallehre als unsachgemäß zurückgewiesen. Die Christliche Gesellschaftslehre hat keine Schwierigkeiten, im Rahmen ihrer Sozialethik auch eine Institutionenethik zu entwickeln und damit der Bedeutung der Ord-

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nungspolitik für eine humane Gesellschaftsordnung Rechnung zu tragen. Sie wird ihre ordnungspolitischen Reflexionen allerdings immer - wie ihre Sozialethik - anthropologisch begründen. Ihre Prämisse, daß die Person Ursprung, Träger und Ziel aller gesellschaftlichen Prozesse und Institutionen sei 16 , gilt auch für die Ordnungspolitik. Die soziale Dimension der menschlichen Natur, die in der personalen Anthropologie der katholischen Theologie eine ebenso intensive Würdigung erfährt wie die individuelle Dimension (Spieker 1993), ist sogar geeignet, die ordnungspolitischen Reflexionen zu verstärken und tiefer zu begründen, als es ein Ansatz vermag, der die Institutionen allein mit Interessen oder systemtheoretisch begründet. Für die Christliche Gesellschaftslehre ist die marktwirtschaftliche Ordnung deshalb „die notwendige Konsequenz ihrer Sicht des Menschen als freies, verantwortliches Subjekt, dem das Recht auch der wirtschaftlichen Selbstbestimmung zusteht, und das sich durch Arbeitsteilung und Tausch die wirtschaftlichen Grundlagen zu einer weitergehenden Entfaltung seiner Kultur bereitstellt". Als Institution kreativer Selbstbestimmung ist der Markt „die ordnungspolitische Konsequenz des Grundwertes Freiheit" (Roos 1993a, 323 f.; Schmitz 1988, 3 ff.). Damit der Markt funktioniert, sind die politischen Rahmenbedingungen sowie Moral und Tugenden aber unverzichtbar. Markt und Wettbewerb sind nicht nur eine sozioökonomische Technik, sondern eine kulturelle Veranstaltung. Das wußten auch die Väter der Sozialen Marktwirtschaft, die neben den politischen Institutionen und Rahmenbedingungen von den am Wettbewerb Beteiligten auch Tugenden wie „Selbstdisziplin, Gerechtigkeitssinn, Ehrlichkeit, Fairneß, Ritterlichkeit, Maßhalten, Gemeinsinn, Achtung vor der Menschenwürde des anderen, feste sittliche Normen" forderten. Sie müßten diese Tugenden „bereits mitbringen", wenn sie den Markt betreten. Sie seien nicht erst auf dem Markt, im Spiel von Angebot und Nachfrage zu erwerben {Röpke 1958/1979, 186). Die moralische Grundlage des Marktes, so Wilhelm Röpke (1960, 25), seien die Zehn Gebote. Ordnungspolitik kann also Moral weder entbehren noch sie ersetzen (Hensel 1949, 264 f.). Gegenüber jenen wirtschaftsethischen Ansätzen, in denen die Institutionenethik die Tugendethik als „vormoderne Sozialtheorie" behandelt, ist mit Centesimus Annus festzuhalten, daß Ordnungspolitik allein die ausstehenden Probleme nicht löst und sich auch nicht wie ein Instrument zur Erzeugung der notwendigen Tugenden und Verhaltensweisen einsetzen läßt. Adam Smith ist wohl doch einen Schritt zu weit gegangen, als er behauptete, daß ihn im Hinblick auf die Versorgung des Marktes mit den notwendigen Gütern die Motive des Bäckers, Brauers und Metzgers nicht interessierten. Ihm hält auch Lothar Roos entgegen, daß sich die anstehenden Probleme nur lösen lassen, wenn wir den vor 200 Jahren von ihm vorgenommenen Paradigmenwechsel von der Dominanz der Individualethik zur Institutionenethik „tendenziell umkehren" (Roos 1993a, 341). Das bedeutet nicht, allein auf Gesinnungsreformen zu setzen, sondern nur, bei den notwendigen Strukturreformen zum Beispiel in der Sozialversicherung immer auch das

16 II. Vatikanisches Konzil, Gaudium et Spes 25 und 63; Johannes XXHI, Mater et Magistra 19; Johannes Paul II, Christifidelis Laici 37.

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Ethos der Bürger im Auge zu behalten - nicht nur als Folge, sondern auch als Voraussetzung gesellschaftlicher und politischer Strukturen (Spieker 1986, 305 f f ) . Das ganze 20. Jahrhundert hindurch hat die Christliche Gesellschaftslehre deutlich zu machen versucht, daß Ordnungspolitik eine Aufgabe ist, die sich sowohl auf das ökonomische als auch auf das politische System bezieht. Innerhalb der katholischen Kirche hat sie damit keine Schwierigkeiten mehr. Centesimus Annus ist der jüngste und deutlichste Beleg dafür, daß das ordnungspolitische Denken in der Verkündigung der Kirche rezipiert wurde. Auch das Apostolische Schreiben Johannes Pauls II über die Berufung und Sendung der Laien in Kirche und Welt (1988) zeigt, daß die politische und ökonomische Gestaltung der Gesellschaft integraler Teil des Weltauftrages der Laien ist.17 Die Ordnungspolitik ist davon nicht ausgeschlossen, auch wenn sie noch nicht eigens gewürdigt wird. Die Denkschriften der EKD „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie" (1985) und „Gemeinwohl und Eigennutz" (1991) zeigen, daß auch für die Evangelische Kirche in Deutschland gilt, daß Christen, die das Gemeinwohl verwirklichen wollen, sich nicht nur um tugendhaftes Verhalten, sondern auch um die entsprechenden Rahmenbedingungen bemühen müssen. Das gemeinsame Wort der beiden Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland fällt dagegen ordnungspolitisch wieder zurück (s. a. Schüller in diesem Band). Es spricht in seinem 3. Kapitel zwar auch von der Weltgestaltung aus dem christlichen Glauben, der ethische Orientierung nicht nur für das individuelle Handeln, sondern auch für den „institutionellen Rahmen der Gesellschaft" anbiete (108). Es fordert dazu auf, politische und ökonomische Strukturen zu schaffen, die „dem einzelnen die verantwortliche Teilnahme am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben erlauben" (113). In seinem Schlußkapitel beschränkt es den Weltauftrag des Christen dann aber auf „den diakonischen und caritativen Dienst an Menschen in Not", die Unterstützung der „kirchlichen Hilfswerken weltweiter Solidarität" und das Engagement zugunsten Runder Tische sozialer Verantwortung, kontinuierlicher Kontakte mit der Arbeitswelt, einer positiven Einstellung gegenüber Fremden und des Einsatzes für den Umweltschutz (250 ff.). Parlamente und Parteien kommen nicht vor. Von Politik als Gestaltung der öffentlichen Ordnung ist nicht die Rede.

V. Ordnungspolitische Probleme des Schwangerschaftskonfliktgesetzes Ein Problem, dessen ordnungspolitische Dimensionen bisher weder in den Kirchen noch in der Gesellschaft hinreichend erkannt wurden, ist das 'Beratungsschutzkonzept', mit dem der Gesetzgeber 1995 das alte Abtreibungsstrafrecht ersetzte und dem Abtreibungsurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28.5.1993 Rechnung zu tragen versuchte. Von besonderer Bedeutung ist das Problem für die katholische Kirche, die durch die Frage, ob sie sich am gesetzlichen Beratungssystem beteiligen soll, einer großen Zerreißprobe ausgesetzt ist. Daß sie durch diese Frage so sehr verunsichert wurde und seit

17 Johannes Paul II, Christifidelis Laici 42.

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mehreren Jahren keine klare Antwort zu geben versteht, dürfte vor allem daran liegen, daß sie die ordnungspolitischen Dimensionen des neuen §218 ff. StGB und des Schwangerschaftskonfliktgesetzes übersieht. Der Bundestag beschloß am 29.6.1995, daß der Schwangerschaftsabbruch mit Ausnahme jener Abtreibungen, die nach einer medizinischen oder kriminologischen Indikation vorgenommen werden und die als nicht rechtswidrig gelten, zwar weiterhin rechtswidrig bleiben soll, daß er aber nicht strafrechtlich zu verfolgen sei, wenn die Schwangere „sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff hat beraten lassen" (§ 218a, Abs. 1, Satz 1). Die für die Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs entscheidende Pflichtberatung der Schwangeren ist in § 219 StGB und im Schwangerschaftskonfliktgesetz geregelt. In § 219 heißt es: „Die Beratung dient dem Schutz des ungeborenen Lebens. Sie hat sich von dem Bemühen leiten zu lassen, die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen und ihr Perspektiven für ein Leben mit dem Kind zu eröffnen; sie soll ihr helfen, eine verantwortliche und gewissenhafte Entscheidung zu treffen. Dabei muß der Frau bewußt sein, daß das Ungeborene in jedem Stadium der Schwangerschaft auch ihr gegenüber ein eigenes Recht auf Leben hat und daß deshalb nach der Rechtsordnung ein Schwangerschaftsabbruch nur in Ausnahmesituationen in Betracht kommen kann, wenn der Frau durch das Austragen des Kindes eine Belastung erwächst, die so schwer und außergewöhnlich ist, daß sie die zumutbare Opfergrenze übersteigt." In dem das Nähere regelnden Schwangerschaftskonfliktgesetz heißt es dann, daß die Beratung „ergebnisoffen zu führen" ist, daß sie „von der Verantwortung der Frau aus(geht)" und daß sie „ermutigen und Verständnis wecken, nicht belehren oder bevormunden" soll (§ 5,1), daß die Schwangere auf ihren Wunsch anonym bleiben kann (§ 6,2) und daß ihr eine Beratungsbescheinigung auszustellen ist, selbst dann, wenn keine Beratung stattgefunden hat (§ 7,1). Der Streit um das Beratungsziel in den parlamentarischen Kontroversen wurde mithin so „gelöst", daß jede Seite erhielt, worum sie kämpfte. CDU und CSU setzten in § 219 eine deutliche Orientierung der Beratung am Schutz des ungeborenen Lebens und das Lebensrecht des Ungeborenen auch gegenüber der Mutter durch. FDP und SPD erhielten in § 5 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes, das die Beratung im Detail regelt, die Ergebnisoffenheit der Beratung, die „das Ziel der alleinigen und eigenverantwortlichen Entscheidung der Frau" 18 nicht antastet. Mit dem 'Beratungsschutzkonzept' hat der Gesetzgeber praktisch die Fristenregelung eingeführt. Er hat die Verfügung über das Leben des ungeborenen Kindes in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft der alleinigen Disposition der Mutter anheimgegeben. Das Recht des ungeborenen Kindes auf Leben, mithin auf Geburt, hat zurückzutreten gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht der Mutter. Der rechtswidrige Schwangerschaftsabbruch wird so zur erlaubten Handlung (Kluth 1993, 1382). Einzige Bedingung der Strafbefreiung ist die gesetzlich vorgeschriebene und bescheinigte Beratung. Das bedeutet die Kapitulation des Rechtsstaates, zu dessen konstituierenden Grundsätzen es gehört, das Leben zu schützen, d. h. dem Bürger die Verfügungsgewalt über das Leben

18 So der FDP-Abgeordnete H. Lanfermann, 3759.

in: Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht 13/47,

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Dritter zu entziehen {Spieker 1995, 334 ff.). Die Abtreibung wird letztlich zur Privatangelegenheit. Im Ergebnis holt die deutsche Rechtsordnung damit nach, was die Vereinigten Staaten schon 1973 eingeführt haben, als der Supreme Court die Abtreibung unter das Recht auf 'Privacy' subsumierte. In den innerkirchlichen Kontroversen darüber, ob die katholische Kirche sich an diesem Beratungssystem beteiligen dürfe, haben die Mehrheit der deutschen Bischöfe und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken als Laienvertretung bisher die Meinung vertreten, sie dürfe, ja sie müsse sich beteiligen, um Schwangeren in einer Konfliktschwangerschaft zu helfen und Leben zu schützen. Nur Erzbischof Dyba hat bereits 1993 entschieden, daß die Beratungsstellen seines Bistums den Beratungsschein nicht länger ausstellen dürften. Schon am 10.6.1992 hatte Bischof Lehmann als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz in den Auseinandersetzungen um die Neuregelung des §218 erklärt, daß sich die katholischen Beratungsstellen „nicht in ein Verfahren einbinden lassen (können), das die Ausstellung einer Beratungsbescheinigung zu einer wesentlichen Voraussetzung für die straffreie Tötung eines ungeborenen Menschen macht". Nachdem das Gesetz von 1995 eben dieses Verfahren eingeführt hat, wurden allerdings nur von Bischof Dyba von Fulda die entsprechenden Konsequenzen gezogen. Eine erste ordnungspolitische Dimension des Problems liegt darin, daß die Beratungsbescheinigung mehr ist als eine Bescheinigung über die Beratung. Sie ist zum einen ein Ticket für die straffreie Tötung des ungeborenen Kindes und zum anderen ein Zertifikat für die Privatisierung der Entscheidung über Leben und Tod. Dies gilt völlig unabhängig vom Text des Beratungsscheines. Ordnungspolitisch ist die Beratungsbescheinigung also eine Tötungslizenz, auch wenn gerade die katholischen Beratungsstellen, die solche Scheine ausstellen, und die Vertreter der Kirche, die die Ausstellung der Bescheinigungen gutheißen, betonen, sie seien nur Bescheinigungen über eine Beratung im Sinne des Gesetzes und der Lehre der Kirche. Sie müssen sich freilich zwei Fragen stellen lassen. Zum einen die Frage, cui bono? Wofür werden solche Bescheinigungen gebraucht? Wenn die Priester und die pastoralen Einrichtungen der Kirche für sonstige 'Dienstleistungen' wie die Lossprechung nach der Beichte, die Spendung anderer Sakramente oder eine Beratung in Ehe-, Familien- und Erziehungsberatungsstellen keine Bescheinigungen ausstellen, warum dann bei einer Schwangerschaftskonfliktberatung? Die unbefangene Antwort auf diese Frage muß den Blick auf die Funktion der Strafbefreiung nach der Abtreibung und damit auf das System lenken, das der Gesetzgeber mit dem 'Beratungsschutzkonzept' kreiert hat, in das er die katholische Kirche einbinden möchte und in das diese sich einbinden läßt. Die Formulierung des Textes auf dem Beratungsschein, etwa der Art, man habe alles getan, um das Lebensrecht des Kindes ins Bewußtsein der Schwangeren zu rücken, kann an dieser Funktion überhaupt nichts ändern. Zum anderen muß die kirchliche Beratungsstelle, die Bescheinigungen ausstellt, die Frage beantworten, ob sich der Gesetzeszweck und die Lehre der Kirche decken. Nach § 219 besteht das Beratungsziel darin, der Frau zu helfen, „eine verantwortliche und gewissenhafte Entscheidung zu treffen". Ob die Entscheidung gegen das Leben des ungeborenen Kindes ausfällt, bleibt offen, d. h. dem Gewissen der Frau überlassen. Nach

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der Lehre der Kirche aber bleibt Abtreibung immer und überall ein Verbrechen.19 Das Gewissen kann nie über dem Grundrecht auf Leben stehen. Ein Verstoß gegen dieses Grundrecht kann also nicht mit einer Gewissensentscheidung begründet werden. Auch Apartheid oder Sklaverei lassen sich nicht unter Berufung auf Gewissensentscheidungen rechtfertigen oder auch nur tolerieren oder straffrei stellen. Gewiß bleibt nach einer Beratung immer offen, welche Entscheidung die beratene Frau trifft. Die Freiheit der Menschen kann und darf von einer kirchlichen Beratungsstelle nicht negiert werden. Aber sie muß deutlich machen, daß eine Tötung des ungeborenen Kindes den sittlichen Entscheidungsspielraum überschreitet, und sie darf nicht durch den Beratungsschein diese Entscheidung vor strafrechtlichen Sanktionen bewahren und dadurch den Weg zur Einsicht in ihre Unsittlichkeit erschweren. Eine weitere ordnungspolitische Dimension des Beratungsschutzkonzepts liegt darin, daß der Gesetzgeber damit das den Rechtsstaat konstituierende Gewaltverbot für Private abgeschafft hat. Er ist in das Faustrecht des Hobbesschen Naturzustandes zurückgefallen (Hofmann 1995, 339) - nur mühsam drapiert durch die Beratungspflicht. Mit dem Beratungsschein in der Hand weiß jede Schwangere, daß sie nun selbst auch nach der Rechtsordnung 'Herr' des weiteren Verfahrens ist. Sie kann über das Leben des ungeborenen Kindes verfügen. Eine Entscheidung gegen das Leben des ungeborenen Kindes bleibt nicht nur straffrei, sondern zwingt Staat und Gesellschaft auch noch zur Bereitstellung einer Reihe von wohlfahrtsstaatlichen Leistungen: zur flächendeckenden Vorhaltung von leicht erreichbaren Abtreibungseinrichtungen, zu Sonderkonditionen bei der Gewährung von Sozialhilfe für die Finanzierung der Abtreibungskosten und zur Lohnfortzahlung in einem Beschäftigungsverhältnis. Das Beratungsschutzkonzept ist deshalb nicht nur ein „frommer Betrug" (Geiger 1993, 49), sondern eine Institution zur Privilegierung der Entscheidung gegen das Leben des ungeborenen Kindes. Es korrumpiert das Rechtsbewußtsein der Bürger. Die Abtreibungsstatistik zeigt denn auch im ersten Jahr nach der Einführung des neuen Gesetzes einen Anstieg der Abtreibungen um rund ein Drittel. Verzeichnete das Statistische Bundesamt 1995 rund 97.000 Abtreibungen, so waren es 1996 über 130.000. Im ersten Quartal 1997 ist die Zahl der Abtreibungen noch einmal gestiegen. In der innerkirchlichen Diskussion wird die Ausstellung des Beratungsscheins bisher fast nur moral- oder pastoraltheologisch diskutiert. Die moraltheologische Betrachtung konzentriert sich auf die Frage, ob die Ausstellung des Scheines eine cooperatio materialis oder eine cooperatio formalis ist. Eine materiale - indirekte - Kooperation bei der Abtreibung wäre er dann, wenn er eigentlich einem ganz anderen Zweck dient, aber für die Abtreibung mißbraucht werden kann. Er wäre in diesem Fall aber weder aufgrund seiner Bedeutung noch aufgrund seines Ziels oder aufgrund der Intention des ausstellenden Beraters ein Beitrag zur Abtreibung. Eine formale - direkte - Kooperation wäre er dann, wenn er entweder aufgrund seines Wesens oder aufgrund der Funktion, die er in einem konkreten Kontext hat, oder aufgrund einer mit ihm verbundenen Billigung der

19 II. Vatikanisches Konzil, Gaudium et Spes 51; Johannes Paul //, Evangelium Vitae (1995) 58 und 73; Katechismus der katholischen Kirche (1993), 2271.

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Abtreibungsabsicht als Mitwirkung an der Abtreibung betrachtet werden muß. 20 Eine ordnungspolitische Betrachtung wird dem Moraltheologen die Schlußfolgerung nicht ersparen können, daß der Beratungsschein zwar nicht aufgrund seines Wesens oder seines Zieles, auch nicht aufgrund der Intention des Beraters, aber aufgrund des Kontextes eine formale, also direkte Mitwirkung an der Abtreibung ist. Robert Spaemann hat dies schon für das Beratungssystem der früher geltenden Indikationenregelung festgestellt {Spaemann 1988, 24). Dennoch scheint eine nur moraltheologische Betrachtung des Beratungsschutzkonzepts wenig hilfreich zu sein, weil sie sich schnell bei den Motiven und subjektiven Absichten der beratenden Einrichtungen festhakt und so auf eine individualethische Perspektive beschränkt bleibt. Eine ordnungspolitische Betrachtung dagegen vermag die Rahmenbedingungen des Beratungsschutzkonzepts und somit das System in den Blick zu rücken, in dessen Rahmen dem Beratungsschein eine konstitutive Funktion als Tötungslizenz zukommt. Eine pastoraltheologische Betrachtung stellt den Beistand in den Mittelpunkt, den die Kirche Müttern und Kindern in konfliktträchtigen Notlagen zu gewähren hat und in ihren Beratungsstellen anbietet. Sie pflegt davor zu warnen, daß die Kirche schwere Schuld auf sich laden würde, wenn sie die Mütter in diesen Notlagen allein lassen und sich ins Getto zurückziehen würde. Auf den Einwand, daß niemand die Kirche ins Getto fuhren will, weil sie nicht aus der Beratung 'aussteigen', sondern nur von der Ausstellung des Beratungsscheines absehen soll, wird geantwortet, daß sich der Kirche aber durch das Beratungsschutzkonzept ganz neue Chancen böten. Durch die gesetzliche Beratungspflicht würden ihr Frauen 'zugeführt', die nie in die Kirche kämen und die sie sonst nicht erreichen könne. Diese Chancen dürfe die Kirche nicht verspielen (Bayerlein 1996). Ist es wirklich legitim, die erzwungene 'Zufuhrung' von Schwangeren in die kirchlichen Beratungsstellen als 'Chance' zu bezeichnen, also das Strafrecht zu einer Magd der kirchlichen Pastoral zu machen? Die Kirche kann und darf sich bei aller sonst bewährten Partnerschaft mit dem Staat in ihrer Seelsorge nicht des Strafrechts bedienen, um ihre Botschaft vom Leben zu verkünden, auch dann nicht, wenn sie damit Menschen erreicht, die sie sonst nicht erreichen würde. Ihre Beratungsstellen können nur dadurch für sich werben, daß es sich bei den Frauen herumspricht, daß sie dort jederzeit offene Ohren, menschlichen Zuspruch und konkrete Hilfsangebote finden. Die Kirche hat, schrieb Papst Johannes Paul II am 21.9.1995 an die deutschen Bischöfe, ihre Beratung so zu organisieren, daß sie,glicht mitschuldig wird an der Tötung unschuldiger Kinder" und auch in ihrer Freiheit nicht beeinträchtigt wird. Sie darf also in keinem einzigen Fall der Tötung eines ungeborenen Kindes den Weg ebnen (s. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30.9.1995). Die Ausstellung von Beratungsscheinen läßt sich also auch nicht damit rechtfertigen, daß jährlich „Tausende von Kindern dieser Beratung ihr Leben (verdanken)", wie das Zentralkomitee in seiner Erklärung zum Verbleiben im gesetzlichen Beratungssystem vom 6.6.1997 behauptete. Selbst wenn diese mehr als vage Zahlenangabe nicht aus der Luft gegriffen wäre, so ist ihr entgegenzuhalten, daß nicht nur die Lehre der Kirche, sondern selbst das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28.5.1993 (BVerfGE 88) 20 Johannes Paul II, Evangelium Vitae 74.

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zum Schutz jedes einzelnen menschlichen Lebens verpflichten. Das Aufrechnen von abgetriebenen und geretteten Kindern ist eine Sackgasse, die nicht nur der Lehre der Kirche, sondern auch dem Geist des Grundgesetzes widerspricht. In sie gerät, wer an der ordnungspolitischen Funktion des Beratungsscheines vorbeisieht. Warum soll die abtreibungswillige Frau, die nach einer Beratung in einer kirchlichen Beratungsstelle auf der Scheinerteilung besteht, auf die Benutzung des Scheins verzichten, wenn die Beratungsstelle es nicht über sich bringt, auf die Ausstellung des Scheins zu verzichten. Der Schein bürdet der Schwangeren eine doppelte Last auf. Sie soll nicht nur begreifen, daß die Abtreibung gegen die Lehre der Kirche und gegen die Rechts- und Verfassungsordnung verstößt, sondern sie soll auch noch auf all die Privilegien verzichten, die ihr der Beratungsschein eröffnet. Eine ordnungspolitische Betrachtung des § 219 StGB und des Schwangerschaftskonfliktgesetzes kommt somit nicht um die Feststellung herum, daß das 'Beratungsschutzkonzept' eine Ordnung schafft, die das Gegenteil dessen bewirkt, was sie bewirken will. Sie will das Leben schützen, indem sie die Entscheidung über Leben und Tod allein der Gewissensentscheidung der Mutter anvertraut. Sie sichert damit aber „nicht etwa das Leben des Kindes", sondern nur die „autonome Entscheidung der Schwangeren oder des sie bedrängenden Umfeldes" (Tröndle 1996). Die Bezeichnung 'Beratungsschutz' für diese Ordnung ist insoweit irreführend. Es geht nicht um den Schutz des Lebensrechtes des ungeborenen Kindes, sondern um das ihm übergeordnete Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren. Dieses Selbstbestimmungsrecht ist gewiß ein hohes Gut. Aber es hat seinen Platz vor, nicht nach dem Zeugungsakt. Wird es erst nach dem Zeugungsakt in Anspruch genommen, verwandelt es sich in ein jeden Rechtsstaat zerstörendes Recht zum Töten. Mit dem 'Beratungsschutzkonzept' hat der Rechtsstaat eine Institution geschaffen, die dieses Recht zum Töten toleriert. Damit hat er seine Kapitulation eingeleitet. Um diese Kapitulation zu verbergen, hat er die Beratungspflicht eingeführt, bei deren Realisierung er sich der Mitwirkung der katholischen Kirche vergewissern möchte. Das System des 'Beratungsschutzkonzeptes' aber ist so geschaffen, daß die Kirche, wenn sie sich integrieren läßt, nicht nur damit leben muß wie sie mit Zivilehe und Ehescheidungsrecht leben muß. Sie muß vielmehr daran mitwirken. Ihre Entscheidung gegen das 'Beratungsschutzkonzept' wäre somit ein Signal nicht nur zur Wiedergewinnung der eigenen Glaubwürdigkeit, sondern auch zur Rekonstruktion des Rechtsstaates.

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They stated that structural conditions can make the way to salvation more difficult and even prevent it. Especially Centesimus Annus outlined the relation between the democratic rule of law, the social market economy, civil society and personal virtue. Therefore the importance of the „Ordnungspolitik" was underlined. Christian social teaching is also increasingly defined as an institutional ethic. Economic ethics are already shifting from the personal perspective to an exclusively institutional one. For the Catholic Church the „Schwangerschaftskonfliktberatung" (a consultation which is a prerequisite for legal abortion) is a considerable problem within the structural dimension of „Ordnungspolitik". The Catholic opinion on abortion seems to be fixed on the perspective of moral and pastoral theology.

ORDO

Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1997) Bd. 48

Ernst Dürr

Die Enzyklika „Centesimus annus" und die Soziale Marktwirtschaft

Die IV. Lateinamerikanische Bischofskonferenz wandte sich noch im Oktober 1992 gegen die 'neoliberale' Wirtschaftspolitik in Lateinamerika. Neoliberale Wirtschaftspolitik bedeutet in Lateinamerika die Beseitigung von Inflation, staatlichem Interventionismus und Protektionismus durch marktwirtschaftliche Reformen und durch eine stabilitätsorientierte Geldpolitik. Die mit diesen Reformen notwendigerweise verbundenen erheblichen Strukturänderungen setzen zumindest vorübergehend Arbeitskräfte frei, schaffen allerdings längerfristig durch die Beschleunigung der wirtschaftlichen Entwicklung neue Arbeitsplätze. In der Übergangszeit ist eine soziale Absicherung erforderlich, die in den meisten lateinamerikanischen Ländern jedoch fehlt. Die Theologie der Befreiung, die besonders in Lateinamerika verbreitet ist, steht der kapitalistischen Marktwirtschaft noch kritischer gegenüber. Daher ist es für diesen durch den Katholizismus geprägten Kontinent besonders wichtig, daß sich Papst Johannes Paul II. in seiner 1991 veröffentlichten Enzyklika 'Centesimus annus' grundsätzlich für die marktwirtschaftliche Ordnung mit Privateigentum an den Produktionsmitteln auch in Entwicklungsländern ausgesprochen hat. Schon hundert Jahre zuvor hatte Papst Leo XIII. in seiner Enzyklika 'Rerum novarum' den natürlichen Charakter des Rechts auf Eigentum bestätigt. Papst Johannes Paul II. schreibt in Ziffer 34 von 'Centesimus annus', daß „sowohl auf nationaler Ebene der einzelnen Nationen wie auch auf jener der internationalen Beziehungen—der freie Markt das wirksamste Instrument für die Anlage der Ressourcen und für die beste Befriedigung der Bedürfnisse zu sein" scheint. Damit wendet sich der Papst sowohl gegen die zentrale Planung der Wirtschaft als auch gegen den Interventionismus. Es sei jedoch „strenge Pflicht der Gerechtigkeit und der Wahrheit zu verhindern, daß die fundamentalen menschlichen Bedürfnisse unbefriedigt bleiben" (Ziffer 34). Nach den vorhergehenden Ausführungen zur Befriedigung der Bedürfnisse durch den Markt kann man hieraus jedoch kein Plädoyer für die Grundbedürfnisstrategie ableiten. Diese ist weniger als die marktwirtschaftliche Ordnung, wenn sie durch Sozialpolitik ergänzt wird, in der Lage, die Befriedigung der Grundbedürfnisse zu sichern {Jungfer 1991). Der Sozialismus ist als alternatives Modell nicht geeignet, „das tatsächlich nichts anderes als einen Staatskapitalismus darstellt" (Ziffer 35). Der Papst befürwortet den Kapitalismus als Wirtschaftsmodell für die Entwicklungsländer, sofern mit Kapitalismus ein Wirtschaftssystem bezeichnet wird, „das die grundlegende und positive Rolle des Unternehmens, des Marktes, des Privateigentums und der daraus folgenden Verantwortung für die Produktionsmittel...anerkennt" (Ziffer 42). „Wird aber unter 'Kapitalismus' ein System verstanden, in dem die wirtschaftliche Freiheit nicht in eine feste Rechtsordnung

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eingebunden ist, die sie in den Dienst der vollen menschlichen Freiheit stellt und sie als eine besondere Dimension dieser Freiheit mit ihrem ethischen und religiösen Mittelpunkt ansieht", dann sei der Kapitalismus ebenso entschieden abzulehnen (Ziffer 42). Das bedeutet, daß sich der Papst gegen eine kapitalistische Laisser-faire-Marktwirtschaft ausspricht, in der die Unternehmer die Freiheit des Marktes durch Kartelle und Monopole ausschalten können. Ebenso lehnt der Papst den Wohlfahrtsstaat ab. „Der Wohlfahrtsstaat, der direkt eingreift und die Gesellschaft ihrer Verantwortung beraubt, löst den Verlust an menschlicher Energie und das Aufblähen der Staatsapparate aus, die mehr von bürokratischer Logik als von dem Bemühen beherrscht werden, den Empfangern zu dienen; Hand in Hand geht eine ungeheure Ausgabensteigerung... Funktionsstörungen und Mängel im Wohlfahrtsstaat rühren von einem unzutreffenden Verständnis der Aufgaben des Staates her. Auch auf diesem Gebiet muß das Subsidiaritätsprinzip gelten" (Ziffer 48). Der schwedische Wohlfahrtsstaat ist also nicht als Modell für die Entwicklungsländer geeignet. Aufgaben des Staates im Bereich der Wirtschaft sind nach Meinung des Papstes 1. die Sicherung der individuellen Freiheit und des Eigentums, 2. die Bereitstellung leistungsfähiger öffentlicher Dienste, 3. die Sicherung einer stabilen Währung und 4. die Sicherung des Wettbewerbs: „Der Staat hat desweiteren das Recht einzugreifen, wenn Monopolstellungen die Entwicklung verzögern oder behindern" (Ziffer 48). Die Eigentumsordnung, die Bereitstellung öffentlicher Dienste, die Geld- und Wettbewerbsordnung sind wesentliche Bestandteile der Sozialen Marktwirtschaft. Femer spricht sich der Papst für einen freien Außenhandel aus. „Noch vor wenigen Jahren wurde behauptet, die Entwicklung würde von der Isolierung der ärmsten Länder vom Weltmarkt und davon abhängen, daß sie nur auf ihre eigenen Kräfte vertrauen. Die jüngsten Erfahrungen aber haben bewiesen, daß die Länder, die sich ausgeschlossen haben, Stagnation und Rückgang erlitten haben. Eine Entwicklung hingegen haben jene Länder durchgemacht, denen es gelungen ist, in das allgemeine Gefiige der internationalen Wirtschaftsbeziehungen einzutreten. Das größte Problem scheint also darin zu bestehen, einen gerechten Zugang zum internationalen Markt zu erhalten" (Ziffer 33). Damit wendet sich der Papst gegen die in vielen Entwicklungsländern, besonders in Lateinamerika, betriebene Importsubstitutionspolitik, die die industrielle Entwicklung durch Protektionismus zu beschleunigen sucht. Da der Aufbau der Industrie, die vorher importierte Güter herstellen soll, unter hohem Zollschutz und nichttarifären Importbeschränkungen zustande kommt, sind deren Kosten und Preise hoch, zumal wenige Betriebe einer Branche ausreichen, um den kleinen einheimischen Markt zu versorgen, und dadurch auch der inländische Wettbewerb eingeschränkt wird. Infolge der hohen Preise ist der einheimische Markt bald gesättigt; ein Export ist nicht möglich, zumal die internationale Wettbewerbsfähigkeit durch die Überbewertung der einheimischen Währung beeinträchtigt wird. Daher kommt es nur in der Anfangsphase der Importsubstitutionspolitik zu einer Erhöhung der industriellen Produktion, die je nach Größe des einheimischen Marktes nach einigen Jahren stagniert. Verbilligte Kredite und die Zuteilung

Die Enzyklika „Centesimus annus" und die Soziale Marktwirtschaft • 7 8 1

künstlich verbilligter Devisen für den Import von Investitionsgütern begünstigen kapitalintensive Verfahren, so daß die Investitionen nur wenige Arbeitsplätze schaffen, während andererseits durch die Benachteiligung der Landwirtschaft dort Arbeitsplätze verlorengehen. Erst der Übergang zu einer weltmarktorientierten Politik kann die wirtschaftliche Entwicklung wieder in Gang setzen. Zahlreiche empirische Untersuchungen bestätigen diese Hypothesen (Escher 1990, 98 ff.). Der Papst fordert die Industrie- und Entwicklungsländer gleichermaßen auf, sich dem freien Welthandel anzupassen. „Die stärkeren Nationen müssen den schwachen Gelegenheiten zur Eingliederung in das internationale Leben anbieten, und die schwachen müssen in der Lage sein, diese Angebote aufzugreifen. Sie müssen dazu die notwendigen Anstrengungen und Opfer aufbringen, indem sie die politische und wirtschaftliche Stabilität, die Sicherheit für die Zukunft, die Förderung der Fähigkeiten der eigenen Arbeiter, die Ausbildung leistungsfähiger Unternehmer, die sich ihrer Veranwortung bewußt sind, gewährleisten" (Ziffer 35). Wesentlich ist nach Ansicht des Papstes die Teilhabe aller Menschen an der wirtschaftlichen Entwicklung, so wie es Ludwig Erhard im Titel seines Buches „Wohlstand für alle" zum Ausdruck gebracht hat. „Viele Menschen... verfügen heute nicht über die Mittel, die ihnen tatsächlich und auf menschenwürdige Weise den Eintritt in ein Betriebssystem erlauben. ... Sie haben keine Möglichkeit, jene Grundkenntnisse zu erwerben, die es ihnen ermöglichen würden, ihre Kreativität zum Ausdruck zu bringen und ihre Leistungsfähigkeit zu entfalten. ... Die wirtschaftliche Entwicklung geht über ihre Köpfe hinweg" (Ziffer 33). Tabelle 1: Anteil der Einkommensbezieher am Volkseinkommen in vH Land Ecuador Brasilien Peru Bolivien Kolumbien Venezuela Uruguay Taiwan BR Deutschland

Obere 20 Prozent 1965 1985 72 62 63 61 52 59 59 53 54 51 46 41 38 45 39

Untere 40 Prozent 1965 1985 5 9 8 7 13 13 11 13 14 10 16 22 20 18 20

Quelle: World Bank 1991 und Republic of China 1987, 61 f. Der Papst fordert also eine breit angelegte Bildungspolitik, insbesondere auch berufliche Bildimg, während in vielen Entwicklungsländern eher die akademische Bildung gefördert wird, was zu einem Überschuß an ungelernten Arbeitern und an Akademikern führt, während ein Mangel an Facharbeitern besteht 1 . Neben der Schaffung von Chan1

Vgl. Beyer (1975). - Eine positive statistische Beziehung zwischen verschiedenen Indikatoren der höheren Schulbildung und des Universitätsstudiums auf der einen Seite und dem Wirtschaftswachstum auf der anderen Seite, und zwar auch bei Berücksichtigung längerer time lags, ist nicht feststellbar (Dürr und Escher 1997, Teil 2, Kapitel II, 2).

7 8 2 • Ernst Dürr

cengleichheit fordert der Papst die Schaffung sozialer Sicherheit durch Sozialversicherung gegen Alter und Arbeitslosigkeit sowie den angemessenen Schutz der Arbeitsbedingungen. „Es ist dringend notwendig, nicht nur die Familienpolitik, sondern auch die Sozialpolitik zu fördern" (Ziffer 49). Das ist besonders wichtig in Ländern mit sehr ungleichmäßiger Einkommensverteilung wie vor allem in Lateinamerika. Bildungspolitik, Wettbewerb und Geldwertstabilität können zwar eine Einkommensverteilung nach der individuellen wirtschaftlichen Leistung erreichen, nicht aber unter dem Gesichtspunkt sozialer Gerechtigkeit. Außerdem dauert es zu lange, bis Bildungspolitik, Wettbewerb und Geldwertstabilität die starke Ungleichheit der Einkommensverteilung, die in vielen Entwicklungsländern herrscht, verringern. Problematisch ist allerdings die Forderung des Papstes nach familiengerechten Löhnen (Ziffer 34). Eine Staffelung der Löhne nach der Größe der Familie würde gerade die kinderreichen Arbeiter benachteiligen, da sie wegen nicht marktgerechter Löhne Schwierigkeiten hätten, einen Arbeitsplatz zu finden. Eine marktkonforme Lösung dieses familienpolitischen Problems wären Transferzahlungen, wie zum Beispiel in Deutschland das Kindergeld. Nach Ansicht des Papstes hat der Staat Vollbeschäftigung anzustreben. „Der Staat hat die Pflicht, die Tätigkeit der Unternehmen dahingehend zu unterstützen, daß er Bedingungen für die Sicherstellung von Arbeitsgelegenheiten schafft" (Ziffer 48). Damit spricht sich der Papst für eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, nicht aber für öffentliche Arbeiten zur Beseitigung von Arbeitslosigkeit aus. Jedoch kann es kein Recht auf Arbeit geben. „Der Staat könnte das Recht aller Bürger auf Arbeit nicht direkt sicherstellen, ohne das gesamte Wirtschaftsleben zu reglementieren und die freie Initiative der Einzelnen abzutöten" (Ziffer 48). Die staatliche Zusicherung eines Arbeitsplatzes für jeden Bürger ist nur in einer sozialistischen Zentralverwaltungswirtschaft möglich, in der der Staat die Betriebe anweisen kann, eine bestimmte Zahl von Arbeitskräften zu beschäftigen ohne Rücksicht darauf, ob zusätzliche Arbeitskräfte Lohnkosten verursachen, die über ihrem Beitrag zum Produktionsergebnis liegen. Dadurch entstehende Verluste werden in einer sozialistischen Zentralverwaltungswirtschaft vom Staat getragen. Zwar schreibt der Papst, die Kirche habe keine eigenen Modelle vorzuschlagen (Ziffer 43), doch kann aus der Enzyklika geschlossen werden, daß er auch für Entwicklungsländer die Soziale Marktwirtschaft empfiehlt {Kuppler 1996, 25). Die entscheidende Frage ist, ob und inwieweit die Soziale Marktwirtschaft in Entwicklungs- und Schwellenländem realisierbar ist. Die Soziale Marktwirtschaft ist an folgende Bedingungen gebunden {Dürr 1991): 1. Da nicht der Staat, sondern private Unternehmer die wirtschaftliche Entwicklung voranbringen, sind Unternehmerpersönlichkeiten erforderlich. Daß diese auch in Entwicklungsländern vorhanden sind, zeigen die wirtschaftlichen Erfolge von Ländern, die marktwirtschaftliche Reformen durchführten, welche günstige Bedingungen für das Auftreten von Unternehmern schufen: Chile 1973 und - insbesondere nach der Korrek-

Die Enzyklika „Centesimus annus" und die Soziale Marktwirtschaft • 7 8 3

tur des Wechselkurses Anfang der achtziger Jahre - Bolivien 1985, Mexiko 1987, Argentinien und Peru 1991 2 . 2. Da nicht die zentrale Planung, sondern der Markt Angebot und Nachfrage koordiniert, ist ein funktionsfähiger Preismechanismus erforderlich, insbesondere die positive Reaktion der Anbieter auf Preissteigerungen. Diese Bedingung ist gegeben, wie auch die Reaktion der Anbieter auf staatliche Preiseingriffe zeigt (Dürr 1991, 107 f.). 3. Geldwertstabilität erfordert keine staatlichen Preiskontrollen, sondern ist das Ergebnis stabilitätsorientierter Geldpolitik {Escher 1990, 43 ff.). Diese kann durch die Unabhängigkeit der Notenbank (wie in Chile seit 1989) oder die Bindung der Geldbasis an die Devisenreserven der Notenbank (wie in Argentinien seit 1991) gesichert werden. 4. Zur Erreichung einer gleichmäßigeren Einkommensverteilung ist neben Wettbewerb, Geldwertstabilität und einer Bildungspolitik, die alle Teile der Bevölkerung erfaßt, vielfach eine Agrarreform notwendig. Taiwan ist ein Musterbeispiel für gleichmäßige Einkommensverteilung bei hohem Wirtschaftswachstum. Im Gegensatz zu Südkorea wurden in Taiwan nicht die Großunternehmen gefördert, so daß ein breiter Mittelstand entstand. Tabelle 2: Relation zwischen dem Einkommen der 20 vH reichsten und 20 vH ärmsten Familien in Taiwan 1953 20,47

1961 11,56

1964 5,34

1972 4,49

1976 4,19

1980 4,18

Quelle: Kuo (1983, 96 ff.)

5. Sozialpolitik ist mit hohem Wirtschaftswachstum vereinbar. Dies zeigt Chile. Bereits unter der Militärregierung wurden die staatlichen Sozialausgaben von 1973 bis 1980 um 50 vH erhöht {National Planning Office ODEPLAN o.J., 51 ff.). Mit einem Anteil von 19,05 vH der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt lag Chile in den achtziger Jahren weit über dem Durchschnitt der Entwicklungs- und Schwellenländer von 11,43 vH (International Monetary Fund 1988, 114 f.). 6. Die Soziale Marktwirtschaft braucht eine starke Regierung, die sich gegen die Interessen einzelner Gruppen durchsetzen kann. Nicht nur Militärregierungen (z.B. in Chile 1973), sondern auch demokratisch gewählte Regierungen (z.B. in Argentinien 1991) haben marktwirtschaftliche Reformen durchgeführt. Inwieweit die Demokratie Regierungen mit einer ausreichenden Mehrheit im Parlament hervorbringen kann, hängt zum Teil vom Wahlsystem (Mehrheits- oder Verhältniswahlrecht) ab. Wesentlich ist die Zustimmung breiter Bevölkerungskreise zur Sozialen Marktwirtschaft. Hierzu kann insbesondere in katholischen Ländern die Enzyklika 'Centesimus annus' beitragen.

2 Dürr und Escher (1997, Teil 3, Kapitel VI, 1). - Zu den Erfolgen marktwirtschaftlicher Reformen in anderen Kontinenten vgl. Jungfer (1991); Helmschrott, Osterkamp und Schönherr (1992); Krueger (1993); Ludwig Erhard Stiftung (1982).

784 • Ernst Dürr Literatur Beyer, Horst (1975), Indiens postkoloniales Bildungssystem zwischen Reform und struktureller Stagnation, Diss. Erlangen-Nürnberg. Dürr, Ernst (Hrsg.) (1991), Soziale Marktwirtschaft in Entwicklungs- und Schwellenländern, Bern und Stuttgart. Dürr, Ernst und Mönica Escher (1997), Politico econömica, Madrid. Enzyklika Centesimus annus (1991), Seiner Heiligkeit Papst Johannes Paul II. an die verehrten Mitbrüder im Bischofsamt, den Klerus, die Ordensleute, die Gläubigen der katholischen Kirche und alle Menschen guten Willens zum hundertsten Jahrestag von Rerum novarum, 1. Mai 1991, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn. Escher, Mönica (1990), Die wirtschaftlichen und sozialen Probleme Lateinamerikas: Eine Untersuchung unter ordnungspolitischen Gesichtspunkten, Bern und Stuttgart. Görgens, Egon (1983), Entwicklungshilfe und Ordnungspolitik: Eine theoretisch-empirische Wirkungsanalyse unter besonderer Berücksichtigung Schwarzafrikas, Bern und Stuttgart. Helmschrott, Helmut, Rigmar Osterkamp und Siegfried Schönherr (1992), Stagnation in der Dritten Welt - hat die Wirtschaftspolitik versagt? Empirische Untersuchungen über den Zusammenhang von Staat, Markt und Entwicklung, München, Köln und London. International Monetary Fund (1988), Government Finance Statistics Yearbook, Washington. Jungfer, Joachim (1991), Grundbedürfnisstrategie oder Ordnungspolitik als Wege zur Überwindung wirtschaftlicher Unterentwicklung, Bem und Stuttgart. Krueger, Anne O. (1993), Political Economy of Policy Reform in Developing Countries, Cambridge/Mass. und London. Kuo, Shirley (1983), The Taiwan Economy in Transition, Boulder/Colorado. Kuppler, Benno (1996), Umbau mit oder ohne Konzept: Ein Beitrag der kirchlichen Soziallehre zum Sozialstaat, in: Blickpunkte, Schriftenreihe des Kartellverbandes der Katholischen deutschen Studentenverbindungen (CV): Der Umbau des Sozialstaates, 1/1996. Ludwig-Erhard-Stiftung (Hrsg.) (1982), Marktwirtschaft draußen: Beispiele geglückter Übernahmen oder Ansätze in Ländern der Dritten Welt, Stuttgart und New York. National Planning Office ODEPLAN (o.J.), Chilean Economic and Social Development 19731979, Santiago de Chile. Republic of China (1987), Taiwan Statistical Data Book, Taipei. World Bank (1991), Social Indicators of Development 1990, Baltimore und London. Zusammenfassung Papst Johannes Paul II. spricht sich in seiner Enzyklika 'Centesimus annus' auch in bezug auf die Entwicklungsländer für eine marktwirtschaftliche Ordnung mit sozialem Ausgleich und gegen die sozialistische zentrale Planung und den Wohlfahrtsstaat aus. Aufgaben des Staates in der Wirtschaft sind die Sicherung der individuellen Freiheit und des Privateigentums, die Bereitstellung der Infrastruktur sowie die Schaffung einer Geld- und Wettbewerbsordnung, die stabilen Geldwert und Wettbewerb sichern. Ferner befürwortet der Papst einen liberalen Außenhandel, der auch den schwachen Ländern Gelegenheit zur Eingliederung in die internationale Arbeitsteilung gewährt. Weiterhin fordert er die Angleichung der Startchancen der einzelnen Menschen, insbesondere in bezug auf die Bildung, sowie die Ergänzung der Wirtschaftspolitik durch die Sozialpolitik. Vollbeschäftigung ist durch die Schaffung günstiger Bedingungen für die Sicherstellung von Arbeitsgelegenheiten zu erreichen. Ein Recht auf Arbeit lehnt der Papst dagegen ab, da dieses ohne staatlichen Interventionismus und Ausschaltung der freien Initiative des Einzelnen nicht zu realisieren sei. Damit befürwortet der Papst indirekt die

Die Enzyklika „Centesimus annus" und die Soziale Marktwirtschaft • 7 8 5

Soziale Marktwirtschaft. Die Erfahrungen mit Wirtschaftsreformen in Entwicklungsländern zeigen, daß diese Wirtschaftsordnung auch für die Dritte Welt geeignet ist. Summary The Encyclical „Centesimus annus" and the Social Market Economy In his encyclical „Centesimus annus" Pope John Paul II advocates a socially balanced, market economy also for developing countries, and opposes the central command economy and the welfare state. The state has the obligation to safeguard individual freedom and private property, to provide infrastructure and to create a stable monetary and competitive system. In addition, free competition is to be attained through an appropriate legislative framework. The Pope advocates free trade that grants weak nations the opportunity to participate in the international division of labour. Further, he calls for equal opportunities for everyone especially with regard to education, and the supplementation of economic policies by social policy. Full employment is to be attained by the promotion of favourable conditions for job creation. However, the Pope rejects a general right to work, since this implies state intervention and the elimination of private initiative. Consequently, the Pope indirectly advocates the social market economy. Experience with economic reforms in developing countries shows that this economic system is also appropriate for countries of the Third World.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1997) Bd. 48

Sachregister Abfindung 457; 695 Abtreibung 770 ff. Agrarmarkt 148; 202; 342 ff. Agrarpolitik 207; 341 ff.; 668 Europäische — 342; 346; 359 Preisausgleichszahlungen 344 f.; 359 Quotensysteme 359 Aktiengesellschaft 154 Allgemeinverbindlichkeit 213; 391; 394; 441 ff.; 684 ff.; 699 Alterssicherung 317; 505 ff.; 531; 537; 626 Äquivalenz 52; 130; 509 —prinzip 537 fiskalische— 130 Arbeit —geber 103; 143 ff.; 209; 213; 342; 386 ff.; 438 ff.; 494 ff.; 657; 668; 677 ff.; 732 f.; 748 f. —nehmer 10 ff.; 102; 138 f f ; 209 ff.; 327 ff.; 386 ff.; 412 ff.; 437 ff.; 471; 494; 506; 677 ff.; 717; 732 ff.; 758 ff.; 781 f. —nehmerbeiträge 129; 144 Bündnis für — 685 Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen 402; 417 ff.; 749 Arbeitsförderungsgesetz 385; 398 ff.; 417; 426; 473 Arbeitsgericht 213; 391; 439 ff.; 744 Arbeitskampfrecht 395; 455 Arbeitskosten 387; 389; 390; 394; 428; 439; 440; 446 Arbeitslosen —geld 427; 695 —quote 405 ff.; 474; 519; 749 —Versicherung 398; 415; 421; 494; 763 Arbeitslosigkeit 3; 19; 33; 67; 72; 76 f.; 89; 107 ff.; 124; 133; 170; 188; 227; 327; 333; 356; 363; 375; 387 ff.; 411 ff.; 440; 470; 487 f.; 510 ff.; 591; 680; 689 ff.; 730; 736; 746 ff.; 782

Arbeitslosigkeit (Fortsetzung) Langzeit— 415 ff. Strukturelle — 404 ff. Arbeitsmarkt 19; 54; 67 ff.; 103; 111; 119; 148; 184; 202 ff.; 245; 333; 385 ff.; 412 ff.; 438 ff.; 470 ff.; 494; 517; 523; 678; 687 ff.; 727; 730; 744 ff. —politik 333; 374; 385; 398 ff.; 411 ff.; 695; 749 Aktive— 333; 385; 398 ff. Arbeitsplätze 67 ff.; 120; 128; 155 ff.; 203; 212; 327; 391; 399; 429; 439 ff.; 451; 457; 544; 735; 750; 779 ff. Arbeitsproduktivität 439; 684 Arbeitsrecht 437 ff.; 744; 761 Arbeitsvermittlung 212; 398 Arbeitszeit 444; 448; 697; 749 Asymmetrie 133; 400; 561; 575; 616 ff.; 632 ff. Aus- und Weiterbildung 140 f.; 205; 209; 327 ff.; 529; 533; 749; 759; 781 Ausfuhrkartell 647 Ausnahmebereich 201 ff.; 229; 234 ff.; 275; 563 ff.; 660 Außenhandel 24; 36; 46; 103; 201; 206; 209; 245; 334; 343 f.; 552 ff.; 638; 640; 780 Freier— 245; 556; 780 Außenhandelspolitik 206; 550 ff.; 639 Außenpolitik 3; 5; 15 ff.; 638 Außenwirtschaftspolitik 555 Banken 159; 181 f.; 203; 209; 246; 249; 517; 564; 580; 621; 680; 696 Bauernverband 207; 358; 656 ff. Bedürfnisse 6; 24; 88; 156; 448; 469; 531; 682; 735; 758 ff.; 779 Beihilfen 281; 291; 367; 368; 370 Beitragsbemessungsgrenze 141 f. Berufsbildung 399; 473 Beschäftigung 49; 67; 106 ff.; 125 ff.; 155; 170; 214; 327 f.; 364; 385 ff.; 411 ff.; 460; 603; 693; 740; 749

7 8 8 • Sachregister

Beschäftigungsmisere 411 ff.; 431 f.; 744; IM Beschäftigungspolitik 35; 125; 389 ff.; 411 ff.; 455 Beschäftigungsproblem 49; 400; 693; 744 Besteuerung 27; 54; 126 ff.; 168; 343; 370; 471; 484 ff.; 553; 587; 750 Betriebsautonomie 437; 445; 448 ff. Betriebsvereinbarung 450 ff.; 698 Betriebsverfassung 148; 443; 449; 451 Betriebsverfassungsgesetz 103; 213; 444; 472; 473 Betriebsverfassungsrecht 445 f.; 459 Bevölkerung 20; 34; 56; 79; 88 f f ; 99; 102; 124 f.; 131; 154; 160; 168; 290; 317; 370 ff.; 412; 489; 496; 510 ff.; 595; 633; 680; 733; 783 Bildung 113; 327 f.; 336 Bildungspolitik 399; 474; 781; 783 Binnenschiffahrt 209; 286; 290 Bischofskonferenz 728 ff.; 765 ff. Bretton-Woods 192; 573; 579 ff. Budget —disziplin 633 —kriterien 615 ff.; 632 f. —Politiken 618 ff. Bundesbank, s.a. Zentralbank 69; 77; 94; 103; 173; 179 ff.; 235; 249; 388; 394; 395; 513; 580 ff.; 595 ff.; 627; 644 Bank deutscher Länder 103 Bundeskartellamt 139; 203; 213; 231 ff.; 241 ff.; 263 ff.; 647 Bundesländer Alte — 30 ff.; 77 ff.; 106 ff.; 147 ff.; 201; 311; 385; 388; 445; 541 N e u e — 79; 95; 110 f.; 121 ff.; 148 ff.; 201; 205; 296; 311; 316 f.; 356; 403; 406; 412; 417; 427; 495; 657; 669; 684 f.; 693 ff.; 750 Bundesministerium — für Arbeit und Sozialordnung 105; 399; 506; 522; 684 — für Finanzen 120; 600

Bundesministerium (Fortsetzung) — fur Post und Telekommunikation 214; 263 — für Umwelt 373; 375 — für Wirtschaft 99 f f ; 156; 201 ff.; 229; 236; 241 ff.; 272; 558; 666 — für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung 638 Bundessozialgericht 490 ff. Bundestagswahl 26; 102; 104; 209 Bundesverfassungsgericht 102; 130; 143; 204 f.; 208; 243 ff.; 281; 319; 441; 483 ff.; 517; 537 f.; 768; 772 Bürokratie 69; 109; 202; 211; 476; 660; 664 Chancengleichheit 213; 332; 470; 473 Constitutional Economics 708; 712; 714; 724 Demokratie 3; 9; 29; 41; 74; 78; 92; 112; 476 ff.; 485; 524; 659; 738 ff.; 768;783 Deregulierung 76; 94; 110; 201 ff.; 259; 285; 287; 294 ff.; 309 ff.; 324; 338; 404; 417; 429; 558 Deutsche Einheit 65; 78 f f ; 94 f.; 125; 147 ff.; 295; 374 f.; 406; 465; 474; 495; 590; 627; 657; 757 Devisenbewirtschaftung 555 ff.; 576 Devisenmarkt 45; 586; 609 —intervention 187; 585 ff. Dienstleistungen 80; 140; 203; 211; 258; 260; 335; 365; 415; 439; 563; 657; 687; 693; 770 Dienstleistungssektor 404; 406; 414; 415; 439; 686 Universal— 253 ff. Dirigismus 77; 207; 342 Diskriminierungsverbot 730 Dumping Lohn— 685 Sozial— 72; 684; 751 Effizienz 72; 75; 108; 119 ff.; 128 ff.; 194; 202; 222 ff.; 292; 309; 319 ff.; 349; 368; 378; 412 f.; 419 ff.; 477; 529; 541; 648 f.; 657; 670; 692; 698 Eigenkapital 297

Sachregister • 7 8 9

Eigentum 37; 40; 152 ff.; 273; 286; 319; 370; 487 f.; 496; 534 f.; 681; 743; 779 Eigentumsordnung 153; 780 Eigentumsrechte 168; 260; 320; 329; 366; 368; 376; 508; 660 Eigentumstransformation 147; 153 Einkommen 11; 101; 128 ff.; 141 f f ; 168; 193; 203; 315 ff.; 327 ff.; 342 ff.; 420; 429; 498; 507 f.; 512 ff.; 532 ff.; 557; 622; 639; 662; 750; 783 Eisenbahn 285 ff. Elektrizitätswirtschaft 272 ff. Energie 47; 56; 207; 235; 249; 261; 270 ff.; 338; 367; 564; 665; 737; 750; 759; 763; 780 —Politik 113; 202; 269 ff. —träger 280; 367 —Wirtschaft 90; 204; 212; 269 ff.; 378; 664; 667; 680 Entflechtung 226; 276 Entsende —gesetz 67 ff.; 213; 242; 390 —richtlinie 213; 242; 684; 691; 699 Entwicklung Industrielle— 780 Nachhaltige— 379 Wirtschaftliche — 4 ff.; 170; 182; 510 ff.; 597 ff.; 638 ff.; 779 ff. Entwicklungsforderung 335 Entwicklungshilfe 638 ff. Entwicklungsländer 71 f.; 208; 561 f.; 566; 637 ff.; 779 ff. Entwicklungspolitik 637 ff. Enzyklika Centesimus annus 779 Rerum novarum 779 Sollicitudo Rei Socialis 764; 766 Erwerbstätigkeit 402; 406; 424; 531 ff. Erziehungsgeld 543 Erziehungsurlaub 543 Erziehungszeiten 543 Ethik 690; 734; 759; 760; 764; 766 Europäische Gemeinschaft 104 f.; 174; 206; 230 ff.; 241 ff.; 255; 261 f.; 276; 291 ff.; 357; 550; 557 ff.; 588; 601; 618; 623; 638; 640 ff.; 659; 669

Europäische Kommission 261; 333; 598; 607 Europäische Union 70 ff.; 127; 179; 186; 206 ff.; 236; 254; 261; 269 ff.; 297 ff.; 341 ff.; 371 ff.; 597 ff.; 623 ff.; 664; 684 f.; 740; 750 f. Europäische Währung 71; 186 f f ; 214; 589; 595 ff.; 615 Europäische Währungsunion 71; 188 f.; 214; 595 ff.; 615 ff. Europäische Zahlungsunion 573; 576 Europäische Zentralbank 69; 174; 179 f.; 189 ff.; 243; 249; 595 ff.; 616 ff. Europäischer Währungsverbund 573; 588 Europäisches Währungsinstitut 600; 604; 607; 626; 628; 631 Europäisches Währungssystem 183 ff.; 589 ff.; 617 Europäisches Währungssystem II 595 ff. Existenz —gründung 206 —minimum 140; 415; 466; 484; 486; 499; 542; 677 Export 293; 553; 646; 780 —erstattung 359 —förderung 206 f.; 557; 561; 578 —kreditbürgschaften 647 Externe Effekte 123; 209; 234; 285; 304; 329; 336; 350; 360; 561; 620 ff. Faktormarkt 341 f f ; 356; 401; 660; 684 Familien 37 f f ; 58; 348; 353; 484; 487; 498 f.; 529 ff.; 782 —arbeit 539; 543 —förderung 498 —lastenausgleich 483; 498 ff.; 523; 537 —Politik 529 ff.; 782 Fernmeldewesen 204 Finanz —ausgleich 131 f.; 286; 751 —innovation 187; 190 —markte 189; 583 f f ; 591; 620; 629 —politik 39; 107 f f ; 119 ff.; 680 —Verfassung 119 ff. Finanzen, öffentliche 77; 110; 119; 599

7 9 0 • Sachregister

Flächenstillegung 345 ff.; 356 Forschung 69; 122; 232; 292 f.; 327 ff.; 373; 536 ff.; 667; 683 Forschungsförderung 69 Forschungspolitik 327; 333; 337 Frauen 398; 402; 459; 529 ff.; 677; 772 Fusion 223; 232; 234 Fusionskontrolle 225 ff.; 244 ff; 554 Gefangenendilemma 660; 714; 716 Geld —angebot 604 —menge 181 ff.; 581 ff.; 602 Steuerung der— 182; 187 ff. —nachfrage 189 f. —politik 168 ff.; 179 ff.; 249; 388; 395; 574; 580 ff.; 595 ff.; 617 ff; 779; 783 —Schaffung 180; 596 —schöpfiing 175 —Verfassung 167 ff. —vermögen 534; 536 —wertstabilität 27; 49 f.; 69; 94; 103; 151; 167 ff.; 189 ff.; 339; 551; 554; 596 ff.; 616 f.; 629; 632; 782 f. Gemeinden 130 ff.; 273 ff.; 301; 304; 313 ff.; 324; 544 Gemeinwohl 44; 67; 112; 202; 286; 670; 714; 728; 761 ff.; 768 General Agreement on Tariffs and Trade 206 f.; 344; 355; 358 f.; 368; 550; 557 ff. Generationenvertrag 141; 507; 538 Gerechtigkeit 29; 41; 151; 313; 315; 372; 466 ff.; 489; 538; 543; 667; 680; 728; 734 ff.; 758 ff.; 779 ff. Leistungs— 522 Soziale— 151; 477; 489; 543; 736 ff.; 761; 782 Gesellschaft Formierte— 107 Gesellschaftsordnung 534; 681 f.; 707; 728; 766; 767 Gesellschaftspolitik 150; 379; 475; 529 ff.; 541

Gesundheit 143; 459; 493; 530; 536; 735 Gesundheitspolitik 473 Gesundheitswesen 71; 491; 643; 663 Gewerbe —freiheit 204 ff; 656; 662; 665 —Ordnung 372; 506 Gewerkschaften 31 ff; 54; 66; 68; 73; 93; 102; 202 ff.; 212; 300; 386; 391 ff.; 415 f.; 430; 439 ff.; 539; 677 ff.; 737 ff. Gewerkschaftsmitglieder 453; 689; 692 Glaubwürdigkeit 114; 172 ff.; 183 ff; 421; 773 Globalisierung 3; 111; 211; 242; 329; 335; 375; 389; 554; 563; 682 ff. Globalsteuerung 75; 92 f.; 107 ff.; 399 Grundbedürfnisstrategie 639; 779 Grundgesetz 66; 102 f.; 133; 149; 180; 221; 364; 483 ff.; 500; 657; 678; 681 Grundlagenforschung 123; 333 ff. Grundrecht 102; 203 ff.; 385; 442; 452; 485 ff.; 535; 728; 735; 741 ff; 771 Grundsicherung 510; 516; 520 ff. Günstigkeitsprinzip 213; 391; 394; 689; 698 Güter Kollektiv— 666; 693 Öffentliche— 109 Gütermarkt 54; 210; 213; 388; 413 f.; 634; 677; 727 Haftung 151; 174; 368; 370; 398; 494; 693 Handelspolitik 11; 18; 21; 75; 334; 550; 559 ff.; 646 Handwerk 54; 154; 201; 204 ff.; 656 ff.; 717 Handwerkskammer 206 Handwerksordnung 205; 662; 665 Härtefallregelung 695 Hermes 645 ff. Hochschule 39; 69; 121; 328 ff.; 682; 759 Hochtechnologie 75; 336 Humankapital 158; 328 ff.; 348; 415; 419 ff.; 454; 666; 687

Sachregister • 791

Humanvermögen 529 ff. Ideologie 5; 23; 683; 688; 690 Import —beschränkung 206; 208; 563; 566; 640; 647; 780 —substitutionspolitik 780 Individualprinzip 727; 729; 734 Industriepolitik 20; 70; 147; 157 f.; 202; 221 f.; 249; 334 f.; 565; 663 Industrielle Kerne 157; 160; 669 Inflation 32 f.; 48 f.; 108 f.; 167 ff.; 185; 232; 292; 311 f.; 405; 420; 512; 554; 584; 602; 779 Innovation 101; 220; 254; 305; 335 ff.; 554; 693; 697; 739; 748 Innovationsförderung 122 Institutionen 143; 148; 175; 206; 226; 243; 249; 256; 263; 266; 302; 334; 336; 351; 357; 360; 394; 400; 469 ff.; 478; 533 ff.; 617; 649; 660; 686 ff.; 734 ff.; 764 ff. —Ökonomik 285 Interdependenz 100; 112; 144; 151; 152; 167 f.; 175; 219; 253 f.; 368; 473 ff.; 549 ff.; 567 ff.; 618; 641; 765 Interessen —gruppe 4; 74; 125; 132; 202 ff.; 227 ff.; 353 f.; 417; 430; 477; 560 f.; 658 ff.; 691; 697; 716 f.; 724 —Vertretung 657; 659; 679; 684; 691 Partikular— 214; 221; 238; 270; 476; 658 ff. Internationaler Währungsfonds 577 ff. Interventionismus 3; 10 f.; 22 f f ; 223; 270; 505 f.; 642; 737 ff.; 779 Investitionen 21; 40 ff.; 59; 69; 87; 95; 103; 107; 119 ff.; 143; 171; 254; 301; 310 f.; 318 ff.; 327 ff.; 346 ff.; 376 f.; 519; 541; 633; 642; 666; 682; 687; 738 f f ; 781 Investitionslenkung 59; 93; 680 ff. Kapital —bildung 103; 142; 329; 508; 578; 625 —deckungsverfahren 141; 508 f. —stocksystem 518 ff.

Kapital (Fortsetzung) —verkehr 17 f.; 70; 80; 203; 573; 579 —Verkehrskontrollen 181; 583; 589 f.; 623; 625 Kapitalismus 3 ff.; 29; 56; 67; 137; 466; 473; 761; 765; 779 Kapitalmarkt 36; 38; 45; 59; 70; 337; 420; 507; 512 ff.; 552; 575; 586; 620 Kartell 6; 52 f.; 104; 225 ff.; 378; 656 ff.; 666; 780 —amt 242; 245; 648 —behörde 203; 241 f f ; 666 —gesetz 51; 53; 105; 203; 245; 247; 662; 665; 668 —recht 227; 234; 236; 248; 564 —verbot 53; 104; 203; 226 ff.; 241; 369; 386; 647; 661 f. Rationalisierungs— 228 Kernenergie 278; 374 Kinder 141; 330 f.; 493; 530 ff.; 759; 772 —erziehung 538 —geld 103; 120; 133; 141; 472; 498 ff.; 782 Kirchen 539; 727 ff.; 757 ff.; 768 Gemeinsames Wort der— 727 ff.; 740 Kohlen 6; 203; 207 f.; 278 ff. —Politik 269 ff. —Subventionen 282 Kollektivismus 27 ff.; 442; 727 ff. Kollektivprinzip 727 ff. Konformität 147 ff.; 291; 370; 470 f.; 556 ff. Markt— 438; 454; 458; 551; 556; 560; 679 Konjunktur 13; 107; 189; 470; 680 —Politik 106 f.; 318; 399; 470 Konsumenten 42 f f ; 343 —Souveränität 707; 718 ff. Konvergenz 58; 599 ff.; 616 ff. —kriterien 599 ff.; 616 ff.; 625 Konvertibilität 70; 103; 555; 558; 574 ff.; 623

7 9 2 • Sachregister

Konzentration 189; 226 ff.; 271; 285; 292; 298; 456 Konzertierte Aktion 93; 397 Kostendämpfung 139; 474; 495 Krankenhaus 139 f. Krankenkasse 73; 491 Krankenversicherung 94; 140 ff.; 472 ff.; 491 f.; 538 Kreditanstalt fiir Wiederaufbau 235; 638 Kündigung 319; 445 ff. Kündigungsschutz 93; 313 f f ; 388; 415 f.; 439; 457 f.; 691 Kurzarbeit 402 Länderfinanzausgleich 130 f. Landschaftsschutz 372 Landwirtschaft 21; 38; 68; 77; 90; 154; 204; 207; 249; 289; 342 ff.; 373; 566; 663 ff.; 717; 739; 781 Landwirtschaftsgesetz 207; 353; 665 Lateinamerika 779 ff. Leitbild 100 ff.; 147 ff.; 160; 203; 227 ff.; 379; 491; 550 ff.; 719 ff.; 742 f. Leitsätzegesetz 102; 352 Leitwährungsland 574; 580; 583; 591; 597; 609 Liberalisierung 103; 106; 112; 259 f f ; 287; 352 ff.; 390; 458; 558 f.; 564 ff.; 576; 646; 669; 684 Liberalismus 9 f.; 77; 221; 469 f.; 707 ff. Lohn 11; 143; 210; 327 ff.; 386 ff.; 404; 448; 677; 684 ff.; 748; 782 —nebenkosten 301; 388 ff. —niveau 95; 328; 389 ff. —Politik 23; 49; 89 ff.; 204; 389 ff.; 403; 610; 691 ff. —Starrheit 170 f. —stückkosten 406; 600 —Subvention 158 f.; 417 ff. Mindest— 684 Lombardpolitik 192 Markt —anteil 364; 369; 554 —eintritt 209; 234; 689

Markt (Fortsetzung) —macht 233; 262 f.; 274; 298; 368; 413; 425; 666 —Offenheit 211 —prozeß 68; 101; 221; 223; 412; 469; 551 ff. —unvollkommenheit 209; 643 ff. —versagen 121; 201; 209 f.; 271 ff.; 302 ff.; 367; 470; 475; 658 —Zugang 201; 205; 214; 338; 554 f.; 566 ff.; 646 Marktwirtschaft Aufgeklärte— 91 Soziale — 26; 33; 51; 65 f f ; 90; 99 ff.; 121; 137; 145; 147 ff.; 201; 219 ff.; 229; 288; 314; 341 f f ; 397; 411 f.; 437; 454; 459; 465 ff.; 507; 515; 529; 534; 549 ff.; 637 ff.; 655 f f ; 680 f.; 727 f f ; 758 f f ; 779 ff. Medien 210; 288; 293; 363; 374; 379; 679; 695; 734 Merkantilismus 4; 9; 21 Metallindustrie 390; 684 Mieten 312 ff. —politik 309 ff. Mieterschutz 310 ff. Mindestreserve 192; 194; 604 Ministererlaubnis 237; 244; 246 Mismatch 389; 413 ff. Mißbrauchskontrolle 203; 214; 225 ff.; 245; 274; 277; 338 Mitbestimmung 38; 78; 405; 437 ff.; 472 f.; 680; 683; 734 ff.; 760 f. Mittelstand 202; 236; 717; 783 Mittelstandspolitik 101; 231 Monetarismus 110; 188 Monopol 6; 14; 52; 54; 209 f f ; 228; 234; 274; 329; 338; 763; 780 —agentur 147; 153 —kontrolle 53; 88; 286 Moral hazard 420 f. Nachfragepolitik 417; 429 Nachhaltigkeit 728; 740 Nationalsozialismus 32; 40; 60; 100; 455; 655; 656

Sachregister • 7 9 3

Naturschutz 373 ff. Netzwerk 664; 679 Neuseeland 174; 189; 194; 212; 253 ff.; 360; 404 Nichtdiskriminierung 206; 211; 56 f. Niederlassungsfreiheit 101; 106; 211 Objektförderung 123; 309 ff. Öffentlicher Dienst 763; 780 Öffnungsklausel 394; 404; 695 f. Ölpreisschock 292; 373; 584 Ordnungsökonomik 707 ff. Ordnungspolitik 93; 99; 106 ff.; 147 f f ; 201 ff.; 231; 269; 286; 292; 346; 397; 465 ff.; 483; 550 ff.; 648; 707 ff.; 730; 757 ff. Ordnungstheorie 93; 270; 478 f.; 708; 765 Osterweiterung 359; 751 Personenverkehr 291; 297 Pfadabhängigkeit 226; 263; 351 Pflegeversicherung 91 ff.; 144; 497; 521 Politikversagen 152; 201; 209; 211; 366 Post 202 ff; 243; 248; 253 ff; 300 ff. Preisstabilität 170 ff; 599 ff; 618 ff. Privatautonomie 437 ff. Privateigentum 39; 102; 151 ff; 368; 551; 661; 729; 760 f.; 779 Privatisierung 94 f.; 103; 110; 147 ff; 259; 300 ff; 596; 770 Privatrechtsgesellschaft 707; 715; 734 Produktionsmittel 5; 39 f.; 101; 151 f f ; 270; 681; 761; 779 Produktionspotential 122; 227 Produktivität 67; 95; 152; 296; 327 ff; 352; 689; 693 Produktiwermögen 534 ff. Protektionismus 18; 75; 148; 206; 213; 334; 357; 555 ff; 685; 779 f. Qualifizierung 417 ff; 643 Rechtsprechung 51; 67; 71; 76; 130; 243 ff; 264; 310; 438 ff; 483 ff; 537; 687 ff. Regel —bindung 194; 467; 714 P e r s e - — 221 ff. Ruleofreason 221 ff.

Regel (Fortsetzung) Spielregeln 55; 58; 221; 235; 351; 478; 608; 677; 686 ff; 713 ff. Regionalpolitik 683 Regulierung 3; 24; 201 ff; 253 ff; 273; 275; 280; 285; 315 ff; 338; 355; 660; 670 f.; 684 Regulierungsbehörde 214; 243; 248; 253 ff. Regulierungspolitik 207; 209; 261 Rent Seeking 148 Renten 91; 104 f.; 129; 140 f.; 475 f f ; 494 f f ; 506 ff; 537; 660 ff; 687; 693; 697; 738; 763 —Politik 506; 511; 520 —reform 105; 120; 467; 519 —gesetz 105; 472 f.; 506 ff. —Versicherung 128; 138 ff; 388; 484; 494 ff; 506 ff; 531; 538; 543; 746 Gesetzliche — 484 ff; 506 f f ; 531 Private— 141 Reputation 179 ff; 336; 722 Richterrecht 491 f. Sanierung 99; 155 ff. Schienen 304 —monopol 285 ff. Schlüsselindustrie 680; 683 Schock Außenwirtschaftlicher— 179; 182 Exogener — 310; 431 Schwangerschaft 769; 773 Schweden 30; 32; 66; 189; 389 ff; 417; 425 ff; 599 ff; 624 ff. Solidarität 124; 354; 530; 666; 728 ff; 757 f.; 764; 768 Soziale Sicherung 474; 489; 542; 678; 743; 746 Soziale Sicherungssysteme 245; 330; 333; 730; 736; 747 Sozialer Ausgleich 489; 551; 746 Sozialethik 761 ff. Sozialgerichtsbarkeit 483 ff Sozialhilfe 120; 142; 389; 472; 474; 486; 500; 516; 521; 749; 771

7 9 4 • Sachregister

Sozialismus 4; 21; 27 ff.; 65 ff.; 466; 679 ff.; 741; 752; 759; 779 Soziallehre 100; 728 ff.; 758 ff. Sozialleistung 67; 72; 124; 137; 143; 486; 499; 736; 741 Sozialordnung 108; 143; 219; 399; 483 ff.; 506; 517; 522; 549; 684 ff.; 710 f. Sozialplan 388 Sozialpolitik 10; 36 ff.; 60; 68; 72; 90 ff.; 101 ff.; 137 ff.; 150 f.; 221; 319; 342; 465 ff.; 507; 533 ff.; 559; 617; 643; 649; 663; 745 ff.; 779 ff. Sozialprodukt 102; 138; 344; 348; 522 Sozialrecht 201; 337 Sozialstaat 3; 66; 109; 124; 488; 734 ff. Sozialstaatsprinzip 483 ff. Sozialvermögen 536 Sozialversicherung 91; 93; 105; 137; 142; 472 ff.; 487 ff.; 537; 748; 782 Sparquoten 622 ff. Spekulation 590 Staatsquote 92; 109 f.; 119 ff.; 405; 476; 667; 731; 738 f. Staatsvertrag 147; 474 Staatsziel 364 Stabilität 7; 17 f.; 50; 107 f.; 131; 168; 175; 270; 288; 324; 413 ff.; 470 ff.; 513; 529; 534; 554; 591; 599 ff.; 620 ff.; 633; 667 ff.; 688; 748 ff.; 781 Stabilitätsgesetz 107; 397 f.; 404 f. Standardisierung 254 ff.; 688 Standort 111; 269; 299; 391; 683 f. —politik 327; 683 —Wettbewerb 72; 327; 375; 733 Steuer —aufkommen 121; 474 —last 119; 124; 126; 294; 333; 746 —politik 126; 245 —recht 333; 367 —reform 94; 103; 110; 133; 333; 334 Einkommen— 121; 127 ff. Körperschafts— 127 ff. Mehrwert— 127 Mineralöl— 293; 300 ff. Umsatz— 127; 131; 133 Straßenverkehr 286; 295; 300 ff.

Streik 390; 690 Struktur —politik 231; 324; 334; 347; 399; 469; 681 f. —wandel 110; 123; 242; 294; 304; 332 ff.; 346; 355; 360; 404; 415; 428; 431; 667; 682 ff.; 730; 740 Subsidiarität 261; 470; 477; 489; 728 ff.; 764 Subsidiaritätsprinzip 124; 236; 470 ff.; 617; 661; 731; 761 ff.; 780 Subventionen 123; 264; 281; 294; 322; 359; 404; 646; 647; 695 Subventionspolitik 208; 245; 568 Tarif —autonomie 103; 204; 385 ff.; 441 ff.; 677 ff.; 734 ff. —kartell 441; 459 —lohn 415; 422 —Ordnung 437 ff. —Parteien 68; 107 f f ; 170; 204; 330; 385 ff.; 420; 426; 438 ff.; 544; 685 ff.; 748 ff. —politik 103; 342; 390; 440; 692 —Verhandlung 170; 392 ff.; 413 ff. —vertrag 330; 386; 395; 427; 438 ff.; 682 ff.; 749 Finnentarif— 443 Flächentarif— 392 ff.; 669; 682 ff. —Vertragsgesetz 103; 213; 395; 397; 442; 472; 678 Technologie 87; 289; 293; 373; 647 —politik 261; 327 ff.; 568 —Zentrum 336 Telekommunikation 202; 209 ff.; 214; 243; 248 f.; 253 ff.; 302 ff.; 338; 564 Transaktionskosten 351; 366 ff.; 386; 687 ff.; 731 Transferzahlungen 111; 123 ff.; 138; 357; 359; 415; 419 ff.; 746; 782 Transformation 111; 147 ff.; 167; 285; 293; 336; 641 Treuhandanstalt 69; 95; 154 ff. Umlageverfahren 91; 94; 105; 141; 508 ff.; 537

Sachregister • 795

Umwelt 72; 101; 157; 269; 293; 298; 363 ff.; 542; 568; 684 ff.; 722; 763 ff. —politik 363 ff.; 649; 763 —recht 371; 375; 377 —Schäden 363 ff. —schütz 72; 269; 366; 370 ff.; 768 Unfallversicherung 142; 472 f.; 490 ff. Unternehmung 5 ff.; 20; 36 ff.; 70 ff.; 86 ff.; 111; 114; 121; 143; 153 ff.; 210 ff.; 229 ff.; 243 ff.; 257; 271 ff.; 295 ff.; 327 ff.; 347; 363 ff.; 378 f.; 386; 389; 393; 396; 405 f.; 421; 428; 439 ff.; 454; 457; 553; 643 ff.; 655 ff.; 678 ff.; 721; 728 ff.; 758; 780 ff. Verbände Arbeitgeber— 73; 204; 386; 391; 394; 440; 657; 678; 687 ff. Interessen— 105; 236 ff.; 477; 659 f. Wirtschafts— 352; 655 ff. Verbraucher 101; 170; 202; 207; 664 Verfassung 13; 34; 112; 149; 154; 248; 449; 483; 485; 490; 500; 602; 605; 608;737 Verkehr 77; 90; 211; 245; 249; 261; 285 ff.; 373; 386; 563 Verkehrsinfrastruktur 285; 297; 301 Verkehrsmarktordnung 285 Verkehrspolitik 286 ff. Vermögen 144; 155; 168; 350; 498; 507; 512; 529 ff.; 678; 750; 757 Verschuldung 109; 119; 124; 126; 577; 599; 620 ff.; 695 Öffentliche — 599; 620 ff.; 727 Schuldenquote 109; 600 f.; 623 ff. Schuldenstand 119; 605; 623; 632 f. Verschuldungskriterium 600; 616 ff. Verschuldungsstruktur 623 Versicherung 140; 142; 470; 507; 537 Verstaatlichung 749 Verteilung 55; 67; 122; 130 ff.; 168; 440; 473; 537; 757; 765 Verteilungskämpfe 182 Vertrag von Maastricht 174; 615 ff. Vertragsfreiheit 151; 202; 319; 368 f.; 447; 451; 553; 689 f.; 697; 729; 736; 744

Verursacherprinzip 378 Volkseinkommen 137; 141; 781 Vollbeschäftigung 15; 32; 49; 93; 108 f.; 385 ff.; 428; 469; 692; 763; 782 Wachstum 15 ff.; 78; 92; 110; 114; 124 ff.; 155; 160; 172; 182 ff.; 214; 242; 335; 348; 353; 363; 388; 392; 465 ff.; 517 ff.; 629 ff.; 641; 689 Stetiges — 242; 478 Wachstumspolitik 107; 231 Wachstumstheorie 334 Währung Anker— 187; 574; 589 Währungspolitik 20; 103; 168; 243; 471; 595 f.; 609; 616; 634 Währungsraum 596 f. Währungsreform 77; 86 ff.; 100 ff.; 180; 201; 287 ff.; 352; 471 f.; 557 Währungssystem 173; 573 f f ; 599 ff. Wechselkurs 86; 109; 182; 189; 554; 573 ff.; 597 ff. —erwartungen 189 —kriterium 599 —system 573; 585 Fester — 554; 574 Flexibler — 573; 585 Weimarer Republik 3; 655 ff.; 758 Weltbank 367; 648 Weltmarkt 206; 334; 336; 354; 359; 780 Werteverfall 757 Wertgrundlagen 27 f.; 727 ff. Wertpapierpensionsgeschäfte 192; 604 Werturteil 151; 291; 347; 350; 690; 707 ff. Wettbewerb Funktionsfähiger— 213; 253; 257 ff. Leistungs— 51; 658; 707; 715 ff. Ruinöser— 234 Standort— 72; 327; 375; 733 Wettbewerbsbeschränkungen 68; 90; 104; 203; 221 ff.; 241 ff.; 260; 271; 274; 287; 386; 438; 554 f.; 564; 567; 569; 647; 660 f.; 668 f.; 687; 744 Gesetz gegen— 90; 104 f.; 203 f f ; 221 ff.; 241 ff.; 260 ff.; 386; 438

7 9 6 • Sachregister

Wettbewerbsfähigkeit 157 ff.; 328; 333; 446; 498 ff.; 645; 751 f.; 780 Wettbewerbsordnung 52 ff.; 100 f.; 150 f.; 167; 222; 270; 274; 279; 285 ff.; 369; 468; 550; 552; 595 ff.; 609; 647; 659; 661; 710 ff.; 729 ff.; 780 Wettbewerbsrecht 221 ff.; 236 f.; 258 ff.; 275; 564; 648; 744 Wirtschaftsethik 765 f. Wirtschaftsgesinnung 6 ff. Wirtschaftsordnung 4 ff.; 27 ff.; 65 ff.; 85; 93; 106; 111; 147 ff.; 167; 368; 466; 489; 549 ff.; 637 ff.; 681; 711; 723; 728 ff.; 757 ff. Wirtschaftspolitik 9 ff.; 30 ff.; 66 ff.; 92 ff.; 99 ff.; 148 ff.; 167; 201; 209; 214; 224; 231; 247; 269 ff.; 334; 360; 368 ff.; 389 ff.; 466 ff.; 507; 551 ff.; 573 ff.; 617 f.; 638 ff.; 658; 661; 680 ff.; 713; 727 ff.; 757; 779 ff. Wirtschaftsprozeß 32 ff.; 74 f.; 85; 107; 148; 153; 168; 721; 730 ff.; 765 Wirtschaftsrechnung 46; 86; 168; 222; 369; 750 Wirtschaftssystem 29; 37 ff.; 72; 86; 151; 640 ff.; 655 ff.; 687; 692; 741 ff.; 761; 779 Wirtschaftsverfassung 85; 167; 173; 711; 714; 720 ff.; 730 f.; 736 Wirtschaftszweig 275; 309; 556 f. Wissen 37; 86; 114; 222; ff.; 274; 338; 397; 421; 529; 534; 684; 688; 748

Wissenschaft 70; 123; 127; 131; 169; 174; 190; 205; 266; 524; 531; 536; 538; 615 f.; 659; 707 ff.; 727 ff.; 750; 764 Wohlfahrtspolitik 137 Wohlfahrtsstaat 36 f f ; 66; 108; 137; 144; 415 f.; 423; 735; 742; 763; 780 Wohngeld 312; 320 ff.; 474 Wohnungsbau —subventionierung 309; 321 Sozialer— 310 ff.; 474 Wohnungsbewirtschaftung 309 ff. Wohnungsmarkt 202; 470 f. Wohnungspolitik 309 f f ; 474 Wohnungswirtschaft 38; 77; 309 ff. World Trade Organisation 249; 551; 557 ff. Zahlungsbilanz 32; 106; 181; 573 ff. Zahlungsverkehr 190; 555; 576 ff. Zentralbank, s. a. Bundesbank 50; 69; 171 ff.; 179 ff.; 243; 249; 388; 405; 574; 595 ff.; 616; 627 Zentralplanwirtschaft 42 Zentralverwaltungswirtschaft 4; 36; 39 ff.; 77 ff.; 88; 147 ff.; 758; 782 Zertifikatelösung 370; 376 f. Zinsen 70; 125; 171; 187; 512; 518; 520; 575; 591; 599; 620; 632 Zinspolitik 629 ff. Zoll 11; 14; 51; 53; 206; 343; 553 ff.; 717; 780 Zusammenschlußkontrolle 228 ff.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1997) Bd. 48

Personenregister Abelshanser, Werner 87 Aberle, Gerd 235; 291 f.; 295 f.; 304 Abs, Hermann J. 112 Adenauer, Konrad 3; 33; 103 ff.; 581; 663; 680 Adler, Jonathan 378 Akerlof, George A. 170; 693 Albert, Hans 709 Alemann, Ulrich v. 659; 664; 667 f.; 670 Alesina, Alberto 192; 602; 619 Alogoskoufis, George 421 Altmann, Jörn 375 Antoni, Carlo 47 Apolte, Thomas 148; 661 Argy, Victor 580; 583 Armstrong, Mark 212 Aschinger, Franz E. 580; 585 Ashoff, Guido 638 f. Assmann, Hugo 758 Bader, Pascal 377 Baldwin, Richard 596 Bandemer, Stephan von 439 Barbier, Hans D. 243 Barro, Robert 597 Barry, Norman P. 712 Bartling, Hartwig 378 Baum, Herbert 297; 304 Baumann, Hans 684 Bayerlein, Walter 772 Bayoumi, Tamin 597 f.; 605 Bean, Charles 387; 416 Becker, Friedrich 439; 449 Becker, Gary S. 659 f.; 670 Becker, Helmut Paul 137 Bednarczyk, Susan 254; 259 Behrens, Peter 647 Beise, Marc 242 Bellmann, Lutz 402 Bender, Dieter 184; 187 Benzner, Bodo 664 Berg, Hartmut 280; 581 f. Berghahn, Volker 656; 661 f. Bernanke, Ben 603 Bernholz, Peter 477; 583

Berry, Jeffrey M. 655 Berthold, Norbert 392; 411; 415; 418; 428 Bertola, Giuseppe 415; 429 Beyer, Hans-Martin 373 Beyer, Horst 781 Beyme, Klaus v. 663 f. Bhagwati, Jagdisch N. 660 Biedenkopf, Kurt H. 443; 446; 475 Birk, Dieter 498 Bismarck, Otto 3; 10; 16; 137; 145; 516 Blanchard, Carl 257; 258 Blanchflower, David G. 392 Blancpain, Jean-Pierre 576-579; 581 Blankart, Charles B. 254 f. Blum, Reinhard 92 Blümle, Ernst-Bernd 655 Bock, Matthias 378 Boeckh, Andreas 645 Bofinger, Peter 580; 589 Böhm, Franz 38; 65; 78; 89; 100 f.; 104 f.; 108; 137; 229; 468; 549; 666; 707711; 715-719; 721-724; 730 Bollard, Allan 212 Borland, Melvin V. 330 Boss, Alfred 204; 212; 505 Both, Ulrike 484 Brakelmann, Günter 735 Brandt, Andreas 697 Brandt, Willy 292; 398 Breitling, Rupert 655 Brentano, Lujo 438; 441 Breuel, Birgit 160 Breyer, Friedrich 477; 516 Briefs, Goetz 66; 467 Brödner, Peter 439 Brüne, Stefan 644 Buchanan, James M. 125; 506; 708; 712-714; 721; 738 Büchner, Karl 658 Büdenbender, Ulrich 273 Bünning, Lars 618 Bunte, Hermann-Josef 263 Burchardi, Wolrad 226; 231; 232

798 • Personenregister Burger, Alexander 505 Burr, Wolfgang 254 Butschek, Felix 393 Calmfors, Lars 392; 402; 417-419; 421423; 426; 429 f. Canaris, Claus-Wilhelm 442 Cansier, Dieter 365; 378 Choi, Karen A. 667 Ciaassen, Emil-Maria 586; 588 Clapham, Ronald 73; 641 Clark, Colin 49 Clark, John Maurice 53; 231 Clasen, Lothar 686 Coase, Ronald 367 f. Coe, David 425 Couch, Jim F. 330 Cukierman, Alex 192; 602 Dams, Theodor 638; 641 Däubler, Wolfgang 437; 446 f.; 456 ff. Daxhammer, Rolf 658; 670 f. De Grauwe, Paul 574; 582; 586; 597; 601 Deist, Heinrich 108 Delhaes, Karl von 237 f. Denzau, Arthur T. 660; 669 Dichmann, Werner 441; 677; 679; 685; 688-691; 693; 696 f.; 699; 744; 748 Dicke, Hugo 639 Dickens, William T. 170 Diebold, Werner 662 Diekmann, Achim 304 Dietz, Roy 443 Dommermuth, Friedhelm 255 Dönch, Uli 645 Dönges, Juergen B. 75; 201 f.; 209; 334 Downs, Anthony 193 Driffill, John 392; 430 Duijm, Bernhard 549; 555; 566-568; 608 f.; 637 Dürr, Ernst 573; 779; 781-783 Ebel, Hans-Rudolf 275 Ecker, Walther 491 Eckerle, Konrad 513 f.; 519 Edwards, Sebastian 519 Eekhoff Johann 113; 213; 242; 316318; 320; 322 f.; 327; 334

Ehrlicher, Werner 120 Eich, Rolf-Achim 698 Eichener, Volker 439 Eichengreen, Barry 597 f.; 605 Eickhof, Norbert 235; 278 Eitenmüller, Stefan 514 Elmeskov, Jorgen 416 Emmerich, Volker 271-279 Emminger, Otmar 181; 578; 585; 587 Engels, Wolfram 467 Enste, Dominik 327 Erhard, Ludwig 67 ff.; 87 ff.; 101 ff.; 137; 151; 201 ff.; 221; 228; 245; 352; 395 ff.; 467 ff.; 534; 537; 558 f.; 658 ff.; 781 ff. Eschenburg, Rolf 660 Eschenburg, Theodor 655 ff. Escher, Mönica 781; 783 Eucken, Walter 3; 5; 38; 40 ff.; 48; 50; 61; 85 ff.; 100; 111; 137; 151; 167; 168; 173; 219; 221; 224; 270; 368; 369; 468 ff.; 476; 549; 552; 595; 609; 641; 659; 707 ff.; 727 ff.; 740; 765 Ewers, Hans-Jürgen 375 Fastrich, Lorenz 447 Feess, Eberhard 376 Fehl, Ulrich 90; 219; 223 f.; 237 f.; 321 Fehn, Rainer 392; 411; 414-416; 423; 428 Feist, Holger 605 Feldstein, Martin 172; 513; 518; 523; 597 Fels, Gerhard 209; 688 Fels, Joachim 187 Ferreira, Bruno C. 259 f. Field, Barry 367 Filosa, Renato 190 Fischer, Andreas 174 Fischer, Stanley 170 Fischer, Walter 352 Fischer, Wolfram 69 FitzRoy, Felix 387 Flassbeck, Heiner 388 Folkers, Cay 125 Forrestal, James V. 56 Frankel, Jeffrey 598

Personenregister • 799

Franz, Wolfgang 387 ff.; 406; 414 Frenkel, Jakob A. 587 Frerich, Johannes 472; 474 f. Frey, Bruno 665 Frey, Martin 472; 474 f. Frey, René L. 303 Friauf, Karl H. 441 Frickhöffer, Wolfgang 467 Friedman, Milton 173; 194 Fuchs, Maximilian 497 Fues, Thomas 647 Fuhrer, Jeffrey C. 171; 192 Funke, Michael 387 Furth, J. Herbert 33 Gabrisch, Christoph 254 Gäfgen, Gérard 476 Gamillscheg, Franz 441-445; 447; 449; 454

Gaugier, Eduard 439; 447 Gawel, Erik 368 Geiger, Willi 771 Genosko, Joachim 678 f.; 692 Gerding, Rainer 596 Gerken, Lüder 368; 370 Gerson, Philip R. 620 Giersch, Herbert 738 Gitter, Wolfgang 385; 483; 490; 493 Glismann, Hans H. 505 f.; 517- 519; 746; 748

Goldstein, Morris 587 Görgens, Egon 385; 402 Grimm, Dieter 476 Groger, Thomas 236 f. Gröner, Helmut 157; 229; 234 f.; 269; 272; 274; 276; 278 f.; 281; 550; 552; 556; 558-561; 565 f.; 573; 739

Groner, Josef-Fulko 759 Gros, Daniel 597 f.; 608 Grossekettler, Heinz 301; 658 Gruhl, Herbert 373 Gruß, Hans 281 Günther, Eberhard 104; 295; 347 Gutmann, Gernot 147 Häberle, Peter 488 Hagedorn, Konrad 666 Halm, George N. 588

Hamann, Rolf 372 Hamel, Hannelore 550 Hamm, Walter 289; 294; 309; 316; 318; 467

Hanau, Hans 444 Hanau, Peter 438 Hansen, Gerd 388 Härtel, H.H. 156; 157 Hartmann, Jochen 657; 663; 667 Hartwig, Karl-Hans 190; 194; 367; 655; 658; 660; 670

Hasse, Rolf 589; 596; 598; 600; 615; 617; 619; 623; 625; 632

Haussmann, Helmut 111 Hayek, Friedrich A. von 32; 48 f.; 74; 221 f.; 224; 342; 466 f.; 478; 596; 678; 691; 734; 738; 746

Hebborn, Ansgar 474 Heinze, Meinhard 438; 448 Heinze, Rolf G. 656; 659; 662; 665; 667 Heitger, Bernhard 519 Helmschrott, Helmut 783 Hempel, Carl G. 476 Hengsbach, Friedhelm 765 Hensel, K. Paul 731; 737; 761; 767 Henssler, Martin 440 Herms, Eilert 469 Herschel, Wilhelm 442 Herz, Bernhard 595; 601; 609 Herzog, Roman 70; 112; 537; 538 Hesse, Helmut 189; 586 Heuß, Ernst 137; 220; 225; 574; 746 Hey, Christian 378 Hicks, John 220 Hilbert, Josef 439; 671 Hilger, Marie-Luise 450 Hinkelammert, Franz J. 758 Hirsch, Barry T. 692 Hobbensiefken, Günter 376 Höcherl, Hermann 104; 229 Hoekman, Bernhard 567 Hoering, Uwe 647 Hoffmann, Walther 138 Hoffmann, Wolfgang 647 Höffner, Joseph Kardinal 745; 765 Hofmann, Rupert 771

800 • Personenregister

Holtschneider, Rainer 226-229; 662 Holzheu, Franz 149 Hamann, Karl 469; 766 Homburg, Stefan 329; 335 Hömig, Peter 487; 488 Hoppmann, Erich 221-225; 708; 741 Horn, Ernst-Jürgen 505 f.; 517-519; 746; 748

Howsen, Roy M. 330 Hucke, Joachim 373 Huckemann, Stefan 389 Humboldt, Wilhem von 466 Hütt, William H. 720 f. Ichino, Andrea 415; 429 Ihde, Gösta B. 290; 295 Isensee, Josef 495; 678 Issing, Otmar 167; 173; 181; 190; 467; 603

Jackman, Richard 415; 421; 429 Jenkis, Helmut W. 311-314; 317 Jens, Uwe 78 Jungfer, Joachim 779; 783 Kaiser, Joseph H. 659 Kaltefleiter, Werner 110 Kammholz, Axel 264 f. Kantzenbach, E. 231 Karl, Helmut 375 Kartte, Wolf gang 226 ff.; 662 Kasper, Wolfgang 404 Katzer, Hans 399 Keeton, G. W. 60 Keilhau, W. 39 Kerber, Walter 758; 761; 764 Kerber, Wolfgang 223 Keynes, John-M. 50; 91; 110 Kiesinger, Kurt-Georg 104 Kinder, Hella 565 King, Mervyn 603 Kirchgässner, Gebhard 375; 665; 707 Kirzner, Israel M. 223 Kissel, Otto R. 442 Klaue, Siegfried 273 Klein, Heribert 106; 220; 544 Kleinhenz, Gerhard 471 Klenke, Dietmar 288 Klodt, Henning 336

Kloepfer, Michael 155 Klopfer, Thomas 276 Klös, Hans-Peter 427 Kloten, Norbert 397 Kluge, Ulrich 352 Klump, Rainer 334 Kluth, Winfried 769 Knauth, Peter 255 Knieps, Günter 253-255; 259-264; 298 Knorr, Andreas 229; 234; 269; 363; 366-368; 375; 379; 550; 552

Köberlein, Christian 295; 296; 304 Koerfer, Daniel 663 Koester, Ulrich 341; 346; 350 f.; 358360

Kofner, Stefan 314 Kohl, Helmut 94; 112; 295; 598 Köhler-Fleischmann, Gabriele 483 König, Helmut 495 König, René 530 Koopmann, Georg 567 Kornemann, Rolf 311 f. Kösters, Wim 188 Kotios, Angelos 561 f. Kowalewsky, Reinhard 370 Kraft, Kornelius 419 Krakowski, Michael 209 Krasney, Otto Ernst 490 Krause, Peter 113; 295; 495 Kraushaar, Bernhard 458 Kreikenbaum, Dieter 278 Krengel, Rolf 87 Kreutz, Peter 450; 453 f. Krickhahn, Thomas 657; 664 Krischausky, D. 313 ; 317 Kromphardt, Wilhelm 680 Krueger, Anne O. 660; 667; 783 Krugman, Paul 414 Krumm, Raimund 601 Krüsselberg, Hans-G. 529; 532; 538 f. Kufer, Andreas 495 Kühl, Jürgen 400 Kuo, Shirley 783 Kuppler, Benno 782 Kydland, Finn E. 194 Lachmann, Werner 642-644

Personenregister • 801

Lafontaine, Oskar 72 Lambsdorff, Otto Graf 110; 241 Lampert, Heinz 90; 138; 142; 391; 398; 401-403; 471; 538

Lang, Harald 420; 422 Lang, Klaus 685 Lange, Thomas 41; 209; 417; 431; 530 Layard, Richard 387; 416 Lehmann, Karl 727; 731; 761; 770 Leinemann, Wolfgang 457 Leipold, Helmut 154; 733 Leisner, Walter 495 Lenel, Hans Otto 85; 505 Lenin, W. I. 168 Ley, Robert 507 Lichtenberg, Georg Christoph 42 Lieb, Manfred 451; 456 Lindbeck, Assar 412; 416 Lith, Ulrich van 329 Lorenz, Martin 686 Loritz, Karl-Georg 438; 455 f.; 458 Low, Patrick 375 Lütge, Gunhild 262 Lutz, Friedrich A. 100; 581; 619 Mackenzie, G.A. 620 Mackscheidt, Karl 313; 317 Maddock, Rodney 257; 260 Madigan, Brian 171 Madison, James 658 Maennig, Wolfgang 157; 159 f. Magee, Stephen P. 667 Maier, Kurt 484 Mann, Siegfried 656 ff. Manulat, Bernd M. 373 f. Marquardt, Odo 516 Morris, Stephen 586 Marshall, Anthony 257; 260 Martens, Wolf gang 488 Marx, Karl 5; 8; 12; 39; 145 Mauro, Paolo 739 Mayer, Thomas 187 Mayntz, Renate 658 McKenzie, RichardB. 659 McDermott, C. John 619 Meadows, Dennis 373 Melody, William H. 266

Menkhoff, Lukas 597; 604 Meroth, Peter 372 Merten, Detlef 485; 487-489 Mertens, Dieter 400 Mestmäcker, Ernst-J. 264; 662; 666 Meyer, Fritz W. 397; 581 Meyer, Sigrid 373; 378 Meyer, Wilhelm 732 f. Meyer, Wolfgang 696 Michaelis, Peter 376 Michel, Ernst 446 Miegel, Meinhard 520 Miksch, Leonhard 100; 221; 468; 552 Miller, Tracy C. 660 Mises, Ludwig von 466; 505; 524 Mishkin, Frederic 603 Mock, Matthias 670 Moe, Terry C. 668 Molitor, Bernhard 110 Möller, Hans 180; 576 f. Möller, Michael 590 Molsberger, Josef 549 ff.; 585; 588 Moltke, Konrad von 372 Mönig, Walter 271 Montesquieu, Charles de Secondat 525 Mosca, Gaetano 30 Möschel, Wernhard 236 f.; 241; 248; 271; 386 f.; 395; 397; 563-565

Most, Otto 288 Mötteli, Carlo 86 f. Mueller, Dennis C. 667 Müller, Emil-Peter 665 Müller, Hans-Peter 679 Müller-Armack, Alfred 33; 68; 87; 90; 100 f.; 137; 150 f.; 219; 438; 459; 467-471; 479; 551; 658; 731; 764

Munger, Michael C. 660; 668 f. Musgrave, Richard A. 121 Myrdal, Gunnar 476 Nagel, Bernhard 231 f. Nahrendorf, Rainer 113 Naini, Ahmad 641; 644 Nautz, Jürgen P. 678 Neu, Werner 259 f. Neubauer, Gerhard 142 Neumann, Lothar F. 484

8 0 2 • Personenregister

Neumann, Manfred J.M. 174; 603 Neumark, Fritz 100 Nickeil, Stephen J. 387 Niedenhoff, Horst-Udo 686 Niederleithinger, Ernst 264 Nikisch, Arthur 455 Niskanen, William A. 266; 478 North, Douglass C. 167; 226; 678; 686; 688

Novak, Michael 765 Nürk, Bettina 596 Nuscheier, Franz 640; 646 Oberender, Peter 139; 465; 472; 474 Ochel, Wolfgang 644; 645 Ockenfels, Wolfgang 659; 664; 666; 761; 765 Okruch, Stefan 465 Olson, Mancur 478; 660; 689 Oppenheimer, Franz 100 Orsmond, David W.H. 620 Orszag, Michael 423 Orton, W.A. 39 Oswald, Andrew J. 392 Papst Johannes Paul II 761 f.; 764 f.; 767 f.; 771 f.; 779 Papst Leo XIII 758; 779 Papst Pius XI 758-760 Papst Pius XII 759 Patfwe, Karl-Heinz 387; 404; 416; 427 Peacock, Alan 476; 709 Peffekoven, Rolf 119; 130-132; 738 Pege, Wolfgang 686 Pelinka, Anton 393 Peroni, Roberto 619 Perry, George L. 170 Peters, Hans-Rudolf 287 Peters, Karl 491 f. Piettre, André 33 Pzgou, /IrtÄw C. 287; 367 Pimpertz, Jochen 113 Pittmann, Rüssel 668 Plessner, Helmuth 465 Plumper, Thomas 588 PoM, Rüdiger 685 Popper, Karl R. 175; 465 f. Posner, Richard 667

Predöhl, Andreas 286; 657; 661 Preis, Ulrich 439; 450 Prescott, Edward C. 194 Pütz, Theodor 114 Rahmeyer, Fritz 377 Rauscher, Anton 728; 760 f.; 765 Rauscher, Bruno 497 Reichold, Hermann 451 f. Reimers, Hans-Eggert 190 Renner, Andreas 368; 370 Rennings, Klaus 375 Reuter, Dieter 437; 444 f.; 448; 451454; 456; 732 Revel, Saul W. 392 f. Rexrodt, Günter 208 Rey, Peter 378 Richardi, Reinhard 443; 451-453 Richardson, James 418; 421 f. Rieble, Volker 451 f. Rieger, Wilhelm 100 Riese, Hajo 388 Ritsehl, Albrecht 87 Rittaler, Jan B. 264 Ritter, Gerhard A. 476 Ritter, Hugo 666 Rittner, Fritz 241; 447 Robbins, Lionel 42; 659 Robert, Rüdiger 225-229; 772 Robertson, D.H. 32 Robinson, Peter 422; 426 Rohr, Hans Christoph von 236 Romier, Luden 56 Ronge, Volker 659 tfoos, Lothar 446; 745; 761; 765; 767 Äöpfe, Wilhelm 27 ff.; 65 ff.; 87; 100; 137; 144; 468-470; 476; 550-552; 556; 600; 729; 731 f.; 744; 752; 767 Rose, Klaus 586; 598 florA, Gisela 189 Roubini, Nouriel 126 Rousseau, Jean-Jaques 250; 658 Rubel, Gerhard 749 Ruland, Franz 490; 495 Rüstow, Alexander 100; 137; 467; 469471;658 Rüthers, Bernd 391; 395; 440; 457

Personenregister • 803

Sachs, Jeffrey D. 126 Säcker, Franz-Jürgen 449; 451 Samuelson, Paul 513 Scarpetta, Stefano 426 Schaper, Klaus 484 Schattschneider, Elmar E. 524 Schatz, Klaus-Werner 202; 204; 212 Scheel, Walter 640; 646 Scheide, Joachim 583 Schellhaas, Horst-Manfred 402 Schiffer, Hans-Wilhelm 272; 279 Schiller, Karl 91-93; 99; 102; 104 f.; 107 f.; 112 f.

Schlecht, Otto 99; 108; 241 ff.; 399; 467 Schlesinger, Helmut 181; 397; 514 Schmid, Josef 439 Schmidt, Helmut 113; 757 Schmidt, Ingo 233; 235 Schmidt, Klaus-Dieter 156 Schmieding, Holger 87 Schmitt, Alfons 286; 289 Schmitt, Dieter 271 Schmitt, Günther 347; 350; 666 Schmitz, Wolfgang 767 Schmölders, Günter 55 Schmoller, Gustav 454 Schmücker, Kurt 107 Schnabel, Claus 678; 686; 696 Schneider, Dieter 668 Schneider, Hans K. 271; 311 f. Schneider, Johann 334 Scholz, Helmut 354 Schömann, Klaus 427 Schreiber, Wilfrid 91; 532 Schreiter, Carsten 90; 219; 223; 237 Schröder, Jörg 389 Schubert, Alexandra 402 Schule, Ulrich 391; 398; 401; 402 Schulenburg, J.-Matthias Graf v. d. 516 Schüller, Alfred 70; 95; 220; 505; 553; 560; 561; 565; 574; 588; 727; 733 f.; 737; 740; 758; 768

Schulz, Walter 276 Schumpeter, Josef Alois 49 Schwarz, Hans-Peter 108 Schwarz, Peter 655

Seifert, Karl-Heinz 487 f. Seil, Friedrich 597 Semler, Johannes 99 Shugart, William F.II 330 Siebke, Jürgen 182; 188 Singler, Ulrike 495 Sinn, Gerlinde 693 Sinn, Hans-Werner 605; 693 Sinzheimer, Hugo 438; 441; 447; 454 f. Skedinger, Per 418; 426; 429 Smeets, Heinz-Dieter 573; 587; 590 Smith, Adam 532 f.; 658; 720 f.; 767 Sneessens, Henri R. 412 Snower, Dennis 416; 423; 425 Solomon, Robert 583; 586 Soltwedel, Rüdiger 202; 209; 391 Spaemann, Robert 760; 772 Sperling, Ingeborg 427 Spieker, Manfred 741; 757; 761; 764; 767; 768; 770

Spielmeyer, Günter 492 Stapf Jelena 334 Starbatty, Joachim 596; 605 Staudinger, Julius von 457 Stehn, Jürgen 639 Stein, Ekkehart 78 Stern, Klaus 485 Steuer, Werner 581; 619 Stevens, Candice 367 Stigler, George 660 Stockmann, Reinhard 638 Stoetzer, Matthias-Wolfgang 265 Stolpe, Michael 335 Storsberg, Günther 289 Strauch, Manfred 664 Strauß, Franz Josef 89; 104 Streinz, Rudolf 601 Streit, Manfred 34; 92; 105; 130; 132; 241; 243; 247; 638; 662; 708; 748; 769

Striewe, Ludwig 346 Stumpf Hermann 441 f.; 450 Sturm, Michael 126 Stütze!, Wolf gang 91 Summers, Lawrence 171; 192; 602

804 • Personenregister

Suntum, Ulrich van 286 f.; 290; 294; 389

Sutor, Bernhard 764; 766 Täger, Uwe Christian 444 Tangermann, Stefan 359 Taylor, Frederic Vinslow 446 Thieme, H. Jörg 179; 182; 190 Thuy, Peter 402 Tietmeyer, Hans 107; 113; 610 Tobin, James 70; 170 Tödter, Karl-Heinz 172; 190 Triesch, Günter 659; 664; 666 Tröger, Heinrich 77 Tröndle, Herbert 113 Tuchtfelds Egon 101; 109; 220 f.; 394 Tullock, Gordon 659 f. Tyler, Michael 254; 257; 259 Ulimann, Hans-Peter 224; 655 f.; 662 f. Unterhinninghofen, Hermann 685 Utz, Artur-Fridolin 759 Vanberg, Viktor 707; 713 f.; 719; 728; 730

Vaubel, Roland 193; 604 Vershofen, Wilhelm 100 Vieler, Alexander 655; 658; 670 f. Vobruba, Georg 671 Vogelsang, Ingo 263 Voigt, Stefan 713 Volmer, Ludger 647 Wagner, Richard E. 49; 125; 476 Wahl, Stefanie 526 Walsh, Carl E. 194 Walter, Christine 399; 426; 427 Waltermann, Raimund 453 Wandel, Eckhardt 196 Wank, Rolf 456 Wansleben, Martin 396 Warnke, Jürgen 641 Watrin, Christian 205; 551 Weber, Adolf 349 Weber, Jürgen 663 f. Weber, Max 616; 707; 709 Weber, Wilhelm 760 Wegehenkel, Lothar 366; 377 Wegner, Gerhard 466 Wegner, Manfred 589

Wehmeier, Axel 327 Wehner, Herbert 78; 108 Weiler, Rudolf 765 Wein, Wolfgang 265 Weippert, Georg 657; 661 Weitzman, Martin L. 696 Weizsäcker, Carl-Chr. von 221; 329 Wellesen, Iris 660; 669 Welter, Erich 34 Werner, Horst 583 Werner, Michael 294 Wernicke, Christian 646 Wescott, Robert F. 619 Westermann, Harm Peter 155 Wey, Klaus-Georg 371 Wilke, Manfred 679 Willeke, Rainer 285 f.; 288 f.; 292; 294297; 301; 303 f.

Willgerodt, Hans 26; 65 f.; 69 f.; 75-77; 550-552; 561; 568; 709

Williamson, John 585 Willigen, Tessa van der 412 Willms, Manfred 182; 602; 605 Wimmer, Richard 659 Windbichler, Christine 438 Winston, Clifford 212 Winter, Helen 565; 568 Wiseman, Jack 476 Witte, Eberhard 263 f. Wolf Dieter 236 f. Wolter, Achim 632 Womack, James P. 446 Wonneberger, Wolfgang 443 Wright, David McCord 49 Wünsche, Horst Friedrich 13; 58; 95; 397; 454; 670; 710

Yeager, Leland B. 577 f.; 581 Yeats, Alexander 375 Zacher, Hans F. 471-474; 744 Zeppernick, Ralf 642 Ziebarth, Gerhard 172 Ziesemer, Thomas 334 Zimmermann, Horst 120 Zöllner, Wolfgang 438; 447 f.; 455 ff. Zsifkovits, Valentin 765 Zweig, Stefan 708

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1997) Bd. 48

Anschriften der Autoren Dr. Norbert Berthold Professor an der Bayrischen Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Institut für Volkswirtschaftslehre, Lehrstuhl für Wirtschaftsordnung und Sozialpolitik, Sanderring 2 D-97074 Würzburg Dr. Werner Dichmann Privatdozent, Döttscheider Weg 57 D-53639 Königswinter Dr. Juergen B. Dönges Professor an der Universität zu Köln, Wirtschaftspolitisches Seminar, Robert-Koch-Str. 41 D-50931 Köln Dr. Emst Dürr Professor em. an der Universität Erlangen-Nürnberg, Buchenstr. 13 D-90537 Feucht Dr. Bernhard Duijm Privatdozent an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Abt. Volkswirtschaftslehre, insbesondere Wirtschaftspolitik II, Nauklerstr. 47 D-72074 Tübingen Dr. Johann Eekhoff Professor an der Universität zu Köln, Wirtschaftspolitisches Seminar, Albertus-Magnus-Platz D-50923 Köln (Lindenthal) Dipl.-Vw. Dominik Enste Wiss. Mitarbeiter an der Universität zu Köln, Wirtschaftspolitisches Seminar, Albertus-Magnus-Platz D-50923 Köln (Lindenthal) Dr. Ulrich Fehl Professor an der Philipps-Universität Marburg, Lehrstuhl Wirtschaftstheorie I, Universitätsstr. 24 D-35032 Marburg Dr. Rainer Fehn Wiss. Mitarbeiter an der Bayrischen Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Institut für Volkswirtschaftslehre, Lehrstuhl fur Wirtschaftsordnung und Sozialpolitik, Sanderring 2 D-97074 Würzburg

8 0 6 • Anschriften der Autoren

Dr. Dr. h.c. Wolfgang Gitter Professor an der Universität Bayreuth, Lehrstuhl für Zivilrecht, Arbeits- und Sozialrecht, Universitätsstr. 30 D-95440 Bayreuth Dr. Hans H. Glismann Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel, Düsternbrooker Weg 120 D-24105 Kiel Dr. Egon Görgens Professor an der Universität Bayreuth, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre II (Wirtschaftspolitik), Universitätsstr. 30 D-95440 Bayreuth Dr. Helmut Gröner Professor em. an der Universität Bayreuth, Fraunhoferstr. 44 D-95448 Bayreuth Dr. Dr. h.c. Gemot Gutmann Professor em. an der Universität zu Köln, Dolmannstr. 112a 51427 Bergisch-Gladbach Dr. Walter Hamm Professor em. an der Philipps-Universität Marburg, Zur Klause 28 D-35041 Marburg Dr. Karl-Hans Hartwig Professor an der Ruhr-Universität Bochum, Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik I, Universitätsstr. 150 D-44780 Bochum Dr. Rolf H. Hasse Professor an der Universität der Bundeswehr Hamburg, Institut für Wirtschaftspolitik, Holstenhofweg 85 D-22039 Hamburg Dr. Bernhard Herz Professor an Universität Bayreuth, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre I (Wirtschaftspolitik), Universitätsstr. 30 D-95440 Bayreuth Dr. Ernst Heuß Professor em. an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Siemensstr. 1 D-91207 Lauf

Anschriften der Autoren • 8 0 7

Dr. Emst-Jürgen Horn Institut für Weltwirtschaft an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Düsternbrooker Weg 120 D-24105 Kiel Dr. Dr. h.c. Otmar Issing Professor, Mitglied des Direktoriums der Deutschen Bundesbank, Wilhelm-Epstein-Str. 14 D-60431 Frankfurt Dr. Günter Knieps Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Institut für Verkehrswissenschaft und Reginalpolitik, Platz der Alten Synagoge D-79085 Freiburg Dr. Andreas Knorr Privatdozent an der Universität Bayreuth, Lehrstuhl Volkswirtschaftslehre I, Universitätsstr. 30 D-95447 Bayreuth Dr. Gabriele Köhler-Fleischmann Akademische Rätin an der Universität Bayreuth, Forschungsstelle für Sozialrecht und Gesundheitsökonomie, Universitätsstr. 30 D-95440 Bayreuth Dr. Ulrich Koester Professor an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Institute for Agricultural Economics, 01shausenstr.40 D-24098 Kiel Dr. Hans-Günter Krüsselberg Professor em. an der Philipps-Universität Marburg, In den Opfergärten 4 D-35085 Ebsdorfergrund-Beltershausen Dr. Hans Otto Lenel Professor em. an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Elisenhöhe 35 D-55411 Bingen Dr. Wernhard Möschel Professor an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Wilhelmstr. 7 D-72074 Tübingen Dr. Dr. h.c. Josef Molsberger Professor an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Abt. Volkswirtschaftslehre, insbesondere Wirtschaftspolitik II, Nauklerstr. 47 D-72074 Tübingen

8 0 8 • Anschriften der Autoren

Dr. Peter Oberender Professor an der Universität Bayreuth, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre (Wirtschaftstheorie), Universitätsstr. 30 D-95440 Bayreuth Dipl.-Vw. Stefan Okruch Wiss. Mitarbeiter an der Universität Bayreuth, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre (Wirtschaftstheorie), Universitätsstr. 30 D-95440 Bayreuth Dr. Rolf Peffekoven Professor an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre und Finanzwissenschaft, Saarstraße 21 D-55099 Mainz Dr. Dieter Reuter Professor an der Christian-Albrechts-Universität Kiel, Institut für Wirtschafts- und Steuerrecht, Olshausenstr. 40 D-24098 Kiel Dr. Otto Schlecht Professor, Staatssekretär a. D.,Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung e. V., Johanniterstr. 8 D-53113 Bonn Dr. Carsten Schreiter Wiss. Mitarbeiter an der Philipps-Universität Marburg, Lehrstuhl Wirtschaftstheorie I, Universitätsstr. 24 D-35032 Marburg Dr. Alfred Schüller Professor an der Philipps-Universität Marburg, Forschungsstelle zum Vergleich wirtschaftlicher Lenkungssysteme, Barfüßertor 2 D-35032 Marburg Dr. Heinz-Dieter Smeets Professor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Fachgebiet Volkswirtschaftslehre, Universitätsstr. 1 D-40225 Düsseldorf Dr. Manfred Spieker Professor an der Universität Osnabrück, Christliche Sozialwissenschaften, Institut für Katholische Theologie, Schloßstr. 4 D-49074 Osnabrück

Anschriften der Autoren • 8 0 9

Dr. H. Jörg Thieme Professor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, Universitätsstr. 1, D-40225 Düsseldorf Dr. Viktor Vanberg Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Institut für Allgemeine Wirtschaftsforschung, Abteilung für Wirtschaftspolitik, Platz der Alten Synagoge 1 D-79085 Freiburg Dipl.-Vw. Axel Wehmeier Wiss. Mitarbeiter an der Universität zu Köln, Wirtschaftspolitisches Seminar, Albertus-Magnus-Platz D-50923 Köln (Lindenthal) Dr. Rainer Willeke Professor em. an der Universität zu Köln, Institut für Verkehrswissenschaft, Universitätsstraße 22 D-50923 Köln Dr. Hans Willgerodt Professor em. an der Universität zu Köln, Hubertushöhe 7 D-51429 Bergisch-Gladbach

•JUimrM!« Welche Lehren lassen sich aus den Erfahrungen Neuseelands mit den Wirtschaftsreformen von 1984 für die Bundesrepublik ziehen? Andreas Knorr Das ordnungspolitische Modell Neuseelands - ein Vorbild für Deutschland? Die nahezu universellen Wirtschaftsreformen, die ab 1984 in Neuseeland eingeleitet wurden, halten trotz der sehr unterschiedlichen politischinstitutionellen Rahmenbedingungen eine Fülle beachtenswerter Lehren für die Bundesrepublik bereit. Euckens Grundprinzipien der Wirtschaftspolitik wurden im neuseeländischen Reformprozeß in einem Maße umgesetzt und gesetzlich abgesichert, wie es hierzulande niemals auch nur ansatzweise gelang. Das neuseeländische Modell beweist insbesondere, daß - den entsprechenden politischen Willen vorausgesetzt - eine durchgreifende Sanierung der Staatsfinanzen in erstaunlich kurzer Zeit ebenso möglich ist, wie eine nachhaltige Steige-

rung der Effizienz öffentlicher Unternehmen und der öffentlichen Verwaltung. Außerdem bestätigen die neuseeländischen Erfahrungen nachdrücklich die Warnungen ordoliberaler Ökonomen vor jeder exzessiven wohlfahrtsstaatlichen Redistributionspolitik. Sie lehren aber auch, daß die Verschleppung notwendiger Reformen über Jahrzehnte hinweg später umso radikalere Korrekturmaßnahmen erforderlich macht. Und selbst auf radikale Korrekturmaßnahmen hin sind keine kurzfristigen Erfolge - zum Beispiel ein deutlicher Rückgang der Arbeitslosigkeit - zu erwarten. 1997. X, 192 Seiten (Untersuchungen zur Ordnungstheorie und Ordnungspolitik 36). ISBN 3-16-146830-9 Broschur DM 98,-/öS 720,-/ sFR 89,-

Mohr Siebeck

Zielsetzung

dieser Veröffentlichung ist es, angesichts

der anhaltenden

Jahrbücher % Nationalökonomie »««Statistik

Sozialstaats

und sich verschärfenden

zur Diagnose

Sozialstaatskrise

Krise

und Therapie

beizutragen.Ausgehend

von der

Auffassung, daß angesichts einer schon zu hohen Sozialabgabenquote, Massenarbeitslosigkeit finanziellen

die durch die

entstehenden

Aufwendungen

sozialer

des

bewältigt werden können,

Experten für einen bestimmten Bereich die Bedeutung

Über-

zusätzlichen

des Systems

Sicherung nur durch einen Umbau Sozialstaates

gegenwärtig

und die fortschreitende

alterung der Bevölkerung

des

der

schildern

sozialpolitischen

und Dringlichkeit

der

sozia-

len Probleme und bewerten die verfolgten Ziele, die Effektivität

und die Effizienz

sowie Möglichkeiten

der

Maßnahmen

und Grenzen

sozialstaatlicher

Reformen.

1997. 240 S., Sonderpreis D M 138,-/öS 1.007,-/sFr. 123,(ISBN 3-8282-0048-6)

Der beabsichtigte Währungsunion

Europäischen

ob sie beginnt oder verschoben wird, wie die

Marktwirtschaftliche

REFORMPOLITIK Schriftenreihe der Aktioiisgenieinsciiafl Soziale Marktwirtschaft

Starttermin der

rückt näher, und das Verwirrspiel,

Koiwergenzkriterien

i

zu interpretieren sind und

welche Länder daran teilnehmen, nimmt

kein

Ende. Einen Vorteil aber hat diese Situation:

Wirtschafts- und Währungsunion auf dem Prüfstand Sihrittc zur wtittrtn Itttf^rdlion

Wirtschafts-

und Währungsunion

Gegenstand

öffentlicher Auseinandersetzung,

ihre politischen

Dimensionen

sichtbar

Die Aktionsgemeinschaft

Soziale

hat diese Schwachpunkte

bewußt zum

in der

werden.

Marktwirtschaft Gegenstand

der Analyse gemacht und dazu Vertreter aus Wissenschaft,

fc'unißd*

Unternehmen,

Politik und Administration

Gewerkschaften, eingeladen.

dieser Debatte sind die Empfehlungen II..ÌI II .... unj f„ ,.!.„„ SM,*.,,,

LUCIUS LUCIUS

Die

ist endlich

«5* «g»

Aktionsgemeinschaft die Europäische

Soziale

Wirtschafts-

1997. X, 132 S. geb. DM 46,-/ÖS 336,-/sFr. 42.50 (ISBN 3-8282-0045-1)

Lucius & Lucius

Ergebnis der

Marktwirtschaft und

für

Währungsunion.

Institutionen beeinflussen das Handeln

des

lernenden Menschen. Im Ungleichgewicht

SCHRIFTEN ZU ORDNUNGSFRAGEN OER WIRTSCHAFT Band 55 Hirjmgfgibfn von C. C.IWIMM(I • H. H.mid K Pfrjw ,-t. Stimila H J. 77«.«

Evolutionäre InstitutionenÖkonomik

sie sowohl Restriktionen

stellen

als auch gesellschaftliches

(Handlungs-) Vermögen dar, wodurch rationales Verhalten unter Ungewißheit überhaupt erst möglich wird. Die evolutionäre Institutionenökonomik auf dem Menschenbild

Ungewißheit in der historischen Zeit

lin Beitrag aus der Sicht iter dit^fHtchttihun Schule

rational Erwartungen bildet und lernt. Seine Aktivitäten

basiert

des homo discens, der unter subjektiv

pfadabhängig

sind dabei sowohl auf

den Marktetfolg als auch auf die Veränderung des institutionellen Rahmens gerichtet. In erster Linie Heiko

ergibt sich dabei aus den unintendierten

Grus

Folgen

intentionalen Handelns eine Ko-Evolution LUCIUS LUCIUS

J U

.WM,«*

von

Markt und Institutionen, die im vorliegenden Band untersucht wird.

1997. XII, 324 S., kt. DM 68,-/öS 496,-/sFr. 62,(ISBN 3-8282-0050-8)

Die Bedingungen für eine

menschenwürdige

Ordnung sieht der Autor in den ehtischcn und

SCHRIFTEN ZU ORONUNGSFRAGEN DER WIRTSCHAFT Band 56 1 lcriM^I'gfhfi} VON C. OIIMUN« ' II. Ilimrl K. Plf)*T • .4. Stint IItr H. J 77«tmt

rechtlichen Handlungsnormen,

im Vermögen als

dem wirtschaftlichen Handlungspotential

der

Menschen und im Kooperationsfeld der Familie. Die Verknüpfung der Wert-, Vermögens- und

Ethik,Vermögen und F a m i l i e

Familiengrundlage

menschlichen Handelns ist für

den Autor ein zentraler Ansatzpunkt für die

OUrilen dei Wolilstjii.h

Erforschung des Spannungsverhältnisses

von

(Jrdnuriß

Wirtschaftsordnung und individuellem

Handeln.

Hans-Günter

LUCIUS LUC 1 U $

Krusselhery

Ä »

1997. VIII, 341 S., kt. DM 68,-/öS 496,-/sFr. 62,(ISBN 3-8282-0055-9)

Lucius & Lucius