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English Pages 847 [829] Year 2010
A. Margulies Th. Kroner A. Gaisser I. Bachmann-Mettler Onkologische Krankenpflege 5. Auflage
A. Margulies Th. Kroner A. Gaisser I. Bachmann-Mettler
Onkologische Krankenpflege 5., aktualisierte und erweiterte Auflage Mit 270 Abbildungen
123
Anita Margulies Speerstrasse 22 8038 Zürich, Schweiz
Andrea Gaisser Deutsches Krebsforschungszentrum Im Neuenheimer Feld 280 69120 Heidelberg, Deutschland
Dr. med. Thomas Kroner Trollstrasse 30 8400 Winterthur, Schweiz
Irène Bachmann-Mettler Institut für Hausarztmedizin Universität Zürich Sonneggstrasse 6 8091 Zürich, Schweiz
Ihre Meinung ist uns wichtig: www.springer.com/978-3-642-05126-5 ISBN-13 ISBN-13
978-3-642-05126-5 978-3-540-20376-6
5. Auflage, Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York 4. Auflage, Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York
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22/2122/UN – 5 4 3 2 1 0
V
Vorwort zur 5. Auflage Seit dem Erscheinen der letzten Auflage hat sich die Praxis der Onkologie in vielen Bereichen weiterentwickelt. Durch neue Therapiekonzepte wurde die Behandlung wirksamer, aber auch komplexer. Gleichzeitig verlagert sie sich immer mehr in den ambulanten Bereich – die Mehrzahl aller onkologischen Behandlungen wird heute ambulant in Polikliniken oder fachärztlichen Praxen durchgeführt. Viele Patienten sind nicht mehr »pflegebedürftig« im herkömmlichen Sinn – entsprechend verändern sich die Anforderungen an die Pflege: Neben der als selbstverständlich vorausgesetzten Beherrschung des pflegerischen Handwerks erwarten Patientinnen und Patienten vermehrt kompetente Information und Beratung. Allerdings besitzen Ärzte und Pflegende heute kein Informationsmonopol mehr: Medizinische Informationen können aus einer Vielzahl von Quellen bezogen werden: Printmedien, Radio und Fernsehen berichten über neue Krebsbehandlungen. Verwandte und Bekannte, Selbsthilfegruppen und v. a. das Internet liefern Informationen unterschiedlicher Qualität. Neben der eigentlichen Vermittlung von Information müssen Ärzte und Pflegende deshalb immer häufiger Patienten und Angehörigen beistehen, sich in der Flut oft widersprüchlicher Informationen zurechtzufinden. Diese anspruchsvollen Aufgaben können von Pflegenden nur auf der Basis von solidem und aktuellem Fachwissen bewältigt werden. Auch dazu soll unser Buch weiterhin seinen Beitrag leisten. In diese 5. Auflage haben wir drei neue Kapitel aufgenommen: Der neue Beitrag über krankheitsbedingte Veränderungen des Körperbildes widmet sich einem Thema, dessen Bedeutung während langer Zeit zu wenig erkannt wurde. Die zwei neuen Kapitel über geriatrische bzw. pädiatrische Onkologie beleuchten besondere Aspekte der Pflege in diesen Altersgruppen. Daneben wurden alle Kapitel – teils von neuen Autorinnen und Autoren – aktualisiert und dem heutigen Stand der onkologischen Theorie und Praxis angepasst. Am Wesentlichen haben wir jedoch festgehalten: Den Schwerpunkt des Buches bilden die für die Pflege wichtigen, onkologiespezifischen Probleme unserer Patienten: Ursachen und mögliche Maßnahmen werden ausführlich und nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft dargestellt. Gerne hätten wir alle in diesem Buch beschriebenen Empfehlungen auf Forschungsergebnisse abgestützt. Dies war leider nicht immer möglich: Wie in allen Gebieten der Medizin und der Pflege fehlen auch in der Onkologie noch auf viele Fragen wissenschaftlich gut begründete Antworten. Wie üblich mussten sich unsere Autorinnen und Autoren in diesen Fällen auf Expertenmeinung oder auf ihre persönliche Erfahrung berufen. Lieber würden
wir unseren Empfehlungen ausschließlich methodisch gute Arbeiten der Pflegeforschung zugrunde legen: Nach den Regeln der evidenzbasierten Medizin und Pflege ist die Beweiskraft (der Evidenzgrad) der Empfehlungen von Fachleuten und Experten wesentlich geringer als diejenige gut durchgeführter, womöglich randomisierter Forschungsarbeiten. Wir möchten alle Leserinnen und Leser dazu ermuntern, die vielen offenen Fragen in der onkologischen Pflege mit guten Forschungsprojekten zu klären. Viele Menschen haben zum Gelingen dieser 5. Auflage beigetragen. Wir danken in erster Linie den Autorinnen und Autoren für ihren großen Einsatz, mit dem sie – neben ihrer Tagesarbeit – ihre Beiträge überarbeitet oder neu verfasst haben. Wir danken ferner Prof. Dr. Hartmut Goldschmidt, Dr. Alexander Marmé, Dr. Urs R. Meier, Dr. Andreas Müller, PD Dr. Urs Schanz, Dr. Christian Taverna und PD Dr. Mathias Witzens-Harig herzlich für die kritische Durchsicht einiger Kapitel. Erstmals gab es einen Wechsel in der Herausgeberschaft: Kathrin Fellinger hat aufgrund familiärer Verpflichtungen auf die weitere Mitarbeit als Herausgeberin verzichtet. Wir danken ihr herzlich für die große Arbeit, die sie während beinahe 20 Jahren – von den ersten Konzepten zu diesem Buch bis zur 4. Auflage – als Mitherausgeberin erbracht hat und bleiben ihr gerne weiterhin freundschaftlich verbunden. An ihre Stelle ist Irène Bachmann-Mettler getreten – sie besitzt glücklicherweise neben großer Fachkompetenz, Erfahrung und Belastbarkeit die ebenfalls zum Jobprofil einer Herausgeberin gehörende Portion an Humor und Frustrationstoleranz. Ein ganz besonderer Dank geht an die Mitarbeiterinnen des Springer-Verlags: Frau Barbara Lengricht hat – unterstützt durch Frau Dr. Ulrike Niesel – das Projekt geleitet. Sie stand den Herausgebern mit vielen wertvollen Ratschlägen zur Seite und mahnte freundlich und energisch – leider nicht immer erfolgreich – zur Einhaltung der Termine. Wir sind ihr für ihre Kompetenz und Geduld dankbar und freuen uns auf die weitere Zusammenarbeit. Frau Michaela Mallwitz lektorierte die Manuskripte; es ist ihrem sprachlichen Geschick zu verdanken, dass alle Texte lesbar und verständlich sind. Frau Annette Gack danken wir für einen Großteil der Abbildungen, Frau Christine von Solodkoff und Herrn Dr. Michael von Solodkoff für die Neuzeichnung der anatomischen Darstellungen. Wir sind dem Verlag dankbar, dass diese Auflage im Vierfarbendruck erscheinen kann. Dadurch wurde das Buch nicht nur bunter und ansprechender, sondern hat – wie wir hoffen – auch an Lesbarkeit gewonnen.
VI
Vorwort zur 5. Auflage
Das freundschaftliche Verhältnis unter den Herausgebern hat erfreulicherweise auch die Strapazen dieser 5. Auflage unbeschadet überstanden. Das Gleiche gilt für ihre Ehen und Partnerschaften – herzlichen Dank für das Verständnis und das Versprechen: Jetzt wird alles besser. Nicht zuletzt danken wir unseren Leserinnen und Lesern für ihre Anregungen und Kommentare. Wir hoffen, dass auch diese Auflage sich ihnen – und damit den Patientinnen und Patienten – als nützlich erweist. Im Herbst 2010
Anita Margulies Thomas Kroner Andrea Gaisser Irène Bachmann-Mettler
VII
Vorwort zur 1. Auflage In auffallendem Gegensatz zur wachsenden Bedeutung und Komplexität der onkologischen Krankenpflege sind Aus- und Weiterbildung in diesem Bereich wenig strukturiert. Es besteht keine Einigkeit über Anzahl und Gewicht der Themen. Oft beschränkt man sich auf medizinische Aspekte, d.h. auf einzelne Krankheitsbilder, oder legt das Gewicht zu sehr auf psychologische und psychosoziale Fragen. Dabei kommt die konkrete pflegerische Praxis zu kurz. Ein großes Bedürfnis nach fachspezifischer und praktisch umsetzbarer Information manifestiert sich. Angebotene Fortbildungskurse sind sofort ausgebucht, klinikinterne Weiterbildungen über onkologische Themen gut besucht. Gefragt wird immer häufiger nach deutschsprachiger Fachliteratur, die die Pflegenden bei ihrer Arbeit unterstützt. All das war Motivation genug, dieses Buch in Angriff zu nehmen. Es ist uns gelungen, eine beachtliche Zahl von Fachleuten, von Pflegenden und Ärzten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, dafür zu gewinnen, ihr Wissen und Können in dieses Projekt einzubringen. Beide Berufsgruppen haben dabei eng zusammengearbeitet. Hauptanliegen war es, den Pflegenden konkrete Hilfe anzubieten, und zwar in allen Arbeitsbereichen, d.h. in Krankenhäusern, in Ambulatorien und Nachsorgekliniken, im Rahmen der häuslichen Pflege, in der privaten Praxis, in Hospizen und natürlich auch an Krankenpflegeschulen. Das Buch soll auch jenen dienen, die nicht täglich mit Tumorpatienten zu tun haben und deshalb besonders auf ein verläßliches, jederzeit verfügbares Nachschlagewerk angewiesen sind. Neben den ausführlich dargestellten pflegerelevanten Themen findet auch die medizinische Theorie Berücksichtigung, die hier v.a. der Vermittlung erforderlicher Grundlagen und damit der Begründung und Erklärung der pflegerischen Maßnahmen dient und nicht als Selbstzweck für sich stehen soll. Die Pflege und die direkt damit verbundenen Probleme bestimmen die Themenwahl der einzelnen Kapitel. Übersichten, Hinweise und Tabellen werden so eingesetzt, daß ein schnelles Nachschlagen möglich ist. In unseren Darstellungen haben wir uns um gute Verständlichkeit bemüht. Um das Buch auch als Lehrbuch im Rahmen der fachlichen Weiterbildung nutzen zu können, orientiert sich die Konzeption an dem von der »European Oncology Nursing Society« für die Kommission der Europäischen Gemeinschaft ausgearbeiteten Basislehrplan für einen weiterführenden Kurs in onkologischer Krankenpflege. Die zahlreichen Hinweise auf Maßnahmen und Möglichkeiten der Pflegeplanung können von den Pflegenden nicht nur dazu genutzt werden, auf die momentane Situa-
tion zu reagieren, sondern sie bieten auch die Möglichkeit, flexibel auf die wechselnden Bedürfnisse der Patienten und ihrer Angehörigen während des gesamten Krankheitsverlaufs einzugehen. Ein solches Buch kann nicht zustande kommen ohne den großen Einsatz vieler Menschen, die über Jahre hinweg das Projekt zur Reife und schließlich zum Abschluß bringen. Neben den Autoren gilt unser Dank den Mitarbeitern des Springer-Verlags für ihre engagierte Unterstützung über alle Durststrecken und Schwierigkeiten hinweg: Insbesondere danken wir Herrn Dr. Dr. V. Gebhardt und Herrn Dr. J. Wieczorek, die sich für das Zustandekommen des Buches intensiv eingesetzt und alle möglichen Hilfen geboten haben, Frau R. Schulz für ihre sorgfältige und gerade bei Vielautorenwerken besonders wichtige Lektorierung und nicht zuletzt der Herstellerin, Frau B. Karg, deren Wirken aus einer Manuskriptsammlung ein lesbares und schön gestaltes Buch gemacht hat. Frau M. Ryser von der Medizinischen Poliklinik des Kantonsspitals Winterthur hat uns mit ihrer organisatorischen Begabung, ihrer guten Laune und ihrem Textverarbeitungssystem sehr geholfen. Herzlichen Dank und »happylanding«! Mit besonderer Dankbarkeit durften wir feststellen, daß weder das freundschaftliche Verhältnis unter den Herausgebern noch ihre Ehen durch »das Buch« nachhaltigen Schaden erlitten haben: Unser Dank gilt deshalb speziell unseren Partnern, Kindern und Freunden für ihre Unterstützung und ihren (meist) klaglosen Verzicht auf warme Mahlzeiten und andere gemeinsame Aktivitäten: Allan, Bruno, Carla, Haps, lva, Laura, Oliver, Reinhold: Danke. Wir wünschen uns, unseren Lesern und vor allem unseren Patienten, daß dieses Engagement ein hilfreiches und für die tägliche Arbeit brauchbares Handbuch hervorgebracht hat. Sollten Sie es schließlich einmal zerfleddert am Arbeitsplatz liegen sehen, so wäre dies ein Hinweis, daß das Vorhaben gelungen ist: Im Juli 1994
Anita Margulies Kathrin Fellinger Thomas Kroner Andrea Gaisser
IX
Inhaltsverzeichnis
Teil I 1
Grundlagen der Onkologie
Entstehung und Biologie bösartiger Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
D. Jäger
2
Einteilung und Klassifikation maligner Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31
K. Buser
3
Epidemiologie: Risikofaktoren und die Entstehung maligner Tumoren . . . . . .
39
K. Buser
4
Prävention und Früherkennung maligner Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
55
T. Kroner
Teil II 5
Diagnostik und Therapie maligner Tumoren
Onkologische Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73
A. Gaisser
6
Prinzipien der Tumorbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
T. Kroner, U. Strebel
7
8
Tumorchirurgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Schnider, U. Metzger
107
Strahlentherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 W. Rhomberg, C. Zint
9
Medikamentöse Tumortherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 T. Kroner
10
Knochenmarktransplantation und andere Methoden des Stammzellersatzes
175
T. Kroner
11
Komplementär- und Alternativmedizin bei Krebs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 M.R. Schlaeppi, G. Kaiser
12
Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 H. Delbrück
13
Ethische Aspekte in der Onkologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 M. Zimmermann-Acklin, U. Strebel
X
Inhaltsverzeichnis
Teil III Technische Aspekte und Sicherheit der Tumortherapie 14
Verabreichung der intravenösen und oralen Tumortherapie . . . . . . . . . . . . . . 225 A. Margulies
15
Implantierbare Port-Systeme und Pumpen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 H. P. Klotz, A. Margulies
16
Schutzmaßnahmen beim Umgang mit Zytostatika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 I. Bachmann-Mettler, K. Beretta
17
Strahlenbelastung und Strahlenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 W. Rhomberg, E. Hillbrand
Teil IV 18
Häufige klinische und pflegerische Probleme
Schmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 T. Kroner, A. Margulies
19
Neurotoxizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 K. Oechsle, A. Margulies
20
Atemnot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . L. Jost, A. Margulies
341
21
Fatigue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . F. Strasser, I. Bachmann-Mettler
351
22
Ernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . R. Imoberdorf, M. Rühlin, P. E. Ballmer
363
23
Übelkeit und Erbrechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 H. P. Honegger, B. Fichmann
24
Diarrhö und Obstipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 A. Siegmund, J. Keppler
25
Haarausfall und Haarveränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 K. Fellinger, T. Kroner
26
Haut- und Nagelveränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 A. Margulies
27
Schleimhautveränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 A. Margulies
XI Inhaltsverzeichnis
28
Knochenmarksuppression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 H. Ludwig, H. Zöchling
29
Veränderungen des Körperbildes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535 S. Zettl
30
Sexualität und Fertilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543 S. Zettl, T. Kroner
31
Tumoren im Kopf-Hals-Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557 A. Hinck, C. Fischer, F. Mathis-Jäggi
32
Operative Eingriffe an der Brust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571 A. Günthert, M. Eicher, M. Biedermann
33
Stomapflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587 A. Fleischmann, K.E. Matzel
Teil V 34
Notfälle in der Onkologie
Notfälle durch Obstruktion und Infiltration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607 C. Renner, A. Beylich
35
Stoffwechsel- und Elektrolytentgleisungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 621 H. Ludwig, H. Zöchling
36
Störungen der Blutgerinnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 633 H. Ludwig, H. Zöchling
Teil VI 37
Psychosoziale Onkologie
Kommunikation in der Onkologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641 M. Keller, J. Zwingmann
38
Inhalte und Aufgaben der Psychoonkologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 657 R. Schwarz, S. Claus
Teil VII 39
Spezielle Bereiche der onkologischen Pflege
Geriatrische Onkologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683 N. Kearney, L. Repetto
40
Pädiatrische Onkologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 693 G. Finkbeiner, E. Bergsträsser
XII Inhaltsverzeichnis
41
Häusliche Betreuung und Pflege von Tumorpatienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 701 H. Stoll, S. Schmidt
42
Klinische Krebsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 711 R. Herrmann, C. Böhme
Teil VIII
43
Kurzprofile ausgewählter Krebserkrankungen: Epidemiologie, Risikofaktoren, Symptome, Histologie, Stadieneinteilung, Therapie, Prognose, Nachsorge
Tumoren der Atemwege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723 A. Gaisser, M. Pless
44
Tumoren des Verdauungstrakts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 737 T. Kroner
45
Mammakarzinom und gynäkologische Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 747 A. Gaisser
46
Urologische Malignome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 763 P. Jaeger
47
Leukämien und Lymphome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 773 T. Kroner, A. Gaisser
48
Seltenere solide Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 793 T. Kroner, S. Hofer, A. Gaisser
49
Häufige Tumoren im Kindesalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 807 E. Bergsträsser
Teil IX
Anhang
A1
Tumorwirksame Medikamente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 815
A2
Wichtige Adressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 829
A3
Internetadressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 835
A4
Verzeichnis häufiger Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 837 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 841
XIII
Autorenverzeichnis Bachmann-Mettler, Irène Dipl Pflegefachfrau Dipl. Pflegeexpertin Institut für Hausarztmedizin Universität Zürich Sonneggstrasse 6 8091 Zürich , Schweiz
Claus, Sylke Kinderkrankenschwester. M.A. Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, Universität Leipzig Department für Psychische Gesundheit Ph.-Rosenthal-Str. 55, 04103 Leipzig Deutschland
Ballmer, Peter E., Prof. Dr. med. Medizinische Klinik Kantonsspital Winterthur Brauerstr. 15, 8401 Winterthur Schweiz
Beretta, Kurt, Dr. med. Kaiserstr. 8, 4310 Rheinfelden Schweiz
Delbrück, Hermann, Prof. Dr. med. In der Krimm, 42369 Wuppertal Deutschland
Eicher, Manuela Dipl. Pflegefachfrau Dr. rer.medic.
Abt. Onkologie Universitäts-Kinderklinik Steinwiesstr. 75, 8032 Zürich Schweiz
Brust- und Tumorzentrum, Inselspital Effingerstr. 102 3010 Bern, Schweiz und Haute école de santé Fribourg Route des Cliniques 15, 1700 Fribourg Schweiz
Beylich, Anja, Diplom Pflegeund Gesundheitswissenschaftlerin
Fellinger, Kathrin Dipl. Pflegefachfrau
Goethestr. 6, 25421 Pinneberg Deutschland
Heurüti 10, 8126 Zumikon Schweiz
Biedermann, Monika Dipl. Pflegefachfrau, Breast Care Nurse
Fichmann-Merlin, Beatrice Dipl. Pflegefachfrau
Bergsträsser, Eva, Dr. med.
Fleischmann, Alexandra, Dip. Pflegefachfrau, Enterostomatherapeutin Kastanienweg 41, 91083 Baiersdorf Deutschland
Foubert, Jan, Dipl. Pflegefachmann PhD Verpleegkundig departement (Pflegedirektion), Universitair Kinderziekenhuis Koningin Fabiola J.J. Crocqlaan 15, 1020 Brussel Belgien
Gaisser, Andrea, Ärztin Deutsches Krebsforschungszentrum Krebsinformationsdienst Im Neuenheimer Feld 280 69120 Heidelberg Deutschland
Günthert, Andreas Priv.-Doz. Dr. med. Universitätsklinik für Frauenheilkunde Inselspital Effingerstr. 102, 3010 Bern Schweiz
Herrmann, Richard, Prof. Dr. med.
Universitätsklinik für Frauenheikunde Inselspital Effingerstr. 102, 3010 Bern Schweiz
Böhme, Christel Dipl. Pflegefachfrau Studienkoordination DIM/Onkologie/ Hämatologie, Kantonsspital St. Gallen Rohrsschacher Str. 95, 9007 St. Gallen Schweiz
Buser, Katharina, Dr. med. Sonnenhof-Klinik Engeried Riedweg 15, 3012 Bern Schweiz
Sihlrainstr. 14, 8002 Zürich Schweiz
Klinik für Onkologie, Universitätsspital Petersgraben 4, 4031 Basel Schweiz
Hillbrand, Elmar, Dipl.-Ing. Dr. Finkbeiner, Gabriela Dipl. Pflegefachfrau Dipl. Pflegeexpertin Stiegweg 16a 8303 Bassersdorf Schweiz
Fischer, Claude, Dr. med. Otorhinolaryngologie (Hals-Nasen-Ohren ORL), Kantonsspital Graubünden Loëstr. 170, 7000 Chur Schweiz
Abt. für Med. Physik, Landeskrankenhaus Feldkirch Carinagasse 47, 6800 Feldkirch Österreich
Hinck, Andreas, Dipl. Pflegefachmann Dipl. Pflegeexperte HNO-Klinik, Hals- und Gesichtschirurgie Universitätsspital Basel Spitalstr. 21, 4031 Basel Schweiz
XIV
Autorenverzeichnis
Hofer, Silvia, Dr. med.
Keller, Monika, Priv.-Doz. Dr. med.
Oechsle, Karin, Dr. med.
Klinik und Poliklinik für Onkologie UniversitätsSpital Zürich Rämistr. 100, 8091 Zürich Schweiz
Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik Sektion Psychoonkologie Universitätsklinikum Heidelberg Im Neuenheimer Feld 410 69120 Heidelberg Deutschland
2. Medizinische Klinik Klinik für Onkologie,Hämatologie, KMT mit Sektion Pneumologie Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf Martinistr. 52, 20246 Hamburg Deutschland
Keppler, Julia, Gesundheitsund Krankenpflegende
Pless, Miklos, Priv.-Doz. Dr. med.
Honegger, Hans Peter, Prof. Dr. med. Institut für Med. Onkologie und Hämatologie, Stadtspital Triemli Birmensdorferstr. 497, 8063 Zürich Schweiz
Imoberdorf, Reinhard, Dr. med. Medizinische Klinik Kantonsspital Winterthur Brauerstr. 15, 8401 Winterthur Schweiz
Medizinische Klinik V Universität Heidelberg Im Neuenheimer Feld 410 69120 Heidelberg Deutschland
Renner, C., Prof. Dr. med. Klotz, Hans Peter, Priv.-Doz. Dr. med.
Jäger, Dirk, Prof. Dr. med. Medizinische Onkologie Nationales Centrum für Tumorerkrankungen Universitätsklinikum Heidelberg Otto-Meyerhof-Zentrum Im Neuenheimer Feld 350 69120 Heidelberg Deutschland
Jaeger, Peter, Prof. Dr. med. Wannenstr. 19, 8542 Wiesendangen Schweiz
Medizinische Onkologie und Tumorzentrum Kantonsspital Winterthur Brauerstr. 15, 8401 Winterthur Schweiz
Klinik im Park Bellariastr. 38, 8038 Zürich Schweiz
Klinik für Onkologie Universitätsspital Zürich Rämistr. 100, 8091 Zürich Schweiz
Kroner, Thomas, Dr. med.
Repetto, Lazzaro, Dr. med.
Trollstr. 30, 8400 Winterthur Schweiz
Unità Operativa/Geriatria Oncologica Istituto Nazionale di Riposo e Cura per Anziani Via Cassia 1167, 00189 Rom Italien
Ludwig, Heinz, Prof. Dr. med. 1. Medizinische Abteilung, Zentrum für Onkologie und Hämatologie Wilhelminenspital Montleartstr. 37, 1160 Wien 16 Österreich
Rhomberg, Walter, Prof. Dr. med. Alte Landstr. 2, 6800 Feldkirch Österreich
Jost, Lorenz, Dr. med. Abteilung Onkologie Kantonsspital Bruderholz 4101 Binningen, BL Schweiz
Kaiser, Gerwin, Dr. med. Arzt für Innere Medizin, Hämatologie Intern. Onkologie, Naturheilverfahren Sportmedizin, Psychotherapie Heroldsberger Weg 37, 90411 Nürnberg Deutschland
Kearney, Nora RGN, MSc Professor of Nursing and Cancer Care School of Nursing and Midwifery University of Dundee 11 Airlie Place, DD1 4HJ Dundee Großbritannien
Margulies Anita RN, BSN Speerstr. 22, 8038 Zürich Schweiz
Mathis-Jäggi, Franziska Dipl. Pflegefachfrau, MNS Spital Uster 8610 Uster Schweiz
Matzel, Klaus, Prof. Dr. med. Chirurgische Klinik mit Poliklinik der Universität Erlangen Nürnberg Krankenhausstr. 12, 91054 Erlangen Deutschland
Metzger, Urs, Prof. Dr. med. Chirurgische Klinik, Stadtspital Triemli Birmensdorferstr. 497, 8063 Zürich Schweiz
Rühlin, Maya Dipl. Ernährungsberaterin Medizinische Klinik, Kantonsspital Winterthur Brauerstr. 15, 8401 Winterthur Schweiz
Schlaeppi, Marc R.S, Dr. med. Fachbereich Onkologie/Hämatologie Kantonsspital St. Gallen Rorschacher Str. 95, 9007 St. Gallen Schweiz
Schmidt, Simone, Gesundheitsund Krankenpflegende Bahnhofstr. 24, 68526 Ladenburg Deutschland
XV Autorenverzeichnis
Schnider, Annelies, Dr. med.
Zint, Christina, Dipl. Sr.
Klinik für Viszeral-Thorax und Gefässchirurgie, Stadtspital Triemli Birmensdorferstr. 497, 8063 Zürich Schweiz
Intensivstation, Landeskrankenhaus Feldkirch Carinagasse 47, 6800 Feldkirch Österreich
Schwarz, Reinhold (†), Prof. Dr. med.
Zöchling, Helga, Dipl. Sr.
ehem. Selbständige Abteilung Arbeitsund Sozialmedizin, Universität Leipzig Department für Psychische Gesundheit Riemannstr. 32, 04107 Leipzig Deutschland
1. Medizinische Abteilung Zentrum für Onkologie und Hämatologie, Wilhelminenspital Montleartstr. 37, 1160 Wien Österreich
Siegmund, Annika, Dr. med.
Zwingmann, Jelena, Dipl.-Psych.
Nationales Centrum für Tumorerkrankungen Medizinische Onkologie Im Neuenheimer Feld 350 69120 Heidelberg Deutschland
Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik Sektion Psychoonkologie Universitätsklinikum Heidelberg Im Neuenheimer Feld 410 69120 Heidelberg Deutschland
Stoll, Hansruedi Dipl. Pflegefachmann MSc Abteilung Onkologie Universitätsspital Basel Petersgraben 4/2, 4031 Basel Schweiz
Strasser, Florian, Priv.-Doz. Dr. med. Klinik für Onkologie und Hämatologie, Kantonsspital St. Gallen Rohrsschacher Str. 95, 9007 St. Gallen Schweiz
Strebel, Urs, Dr. med. Medizinische Klinik, Spital Männedorf PF 664, 8708 Männedorf Schweiz
Zettl, Stefan, Dipl. Psych. Dipl. Biol. Bliesweg 10, 69126 Heidelberg Deutschland
Zimmermann-Acklin, Markus Dr. theol. Theologische Fakultät der Universität Fribourg, Departement für Moraltheologie und Ethik Av. de l‘Europe 20, 1700 Fribourg Schweiz
XVII
Der Wegweiser durch’s Buch Folgende didaktische Hilfen vereinfachen Ihnen das Lesen und Arbeiten mit diesem Buch. )) Kenntnisse der komplexen Abläufe und der Auswirkungen einer Strahlentherapie sind für die Pflegenden wichtig: Sie erhalten dadurch wertvolle Hinweise für die Information und Beratung der Patienten, die diesbezüglich immer wieder Fragen stellen, und für pflegerische Handlungen zur Verhütung und Therapie unerwünschter Wirkungen.
Definition
Zu Beginn des Kapitels ein kurzer Überblick, der in das Thema einführt und den Stellenwert des Themas herausstellt
Eine kurze Definition wesentlicher Begriffe
Kurzdarmsyndrom fasst die Beschwerden zusammen, die nach der chirurgischen Entnahme von großen Teilen des Dünndarms und/oder Dickdarms auftreten. ! Neuropathische Schmerzen sind durch Analgetika schlecht beeinflussbar.
Intrakavitäre Radiotherapie
Wichtige Fakten oder Hinweise, wesentliche Kernaussagen
Übersicht oder Aufzählung
5 Gebärmutter- und Vaginalkarzinome (klassische und älteste Indikation; in der Regel kurative Zielsetzung) 5 Nasen-Rachen-Raum, Ösophagus, Bronchialbaum sowie 5 Gallengänge, Blase und Rektum (meist mit palliativem Ansatz)
Beispiel
Beispiel aus der Praxis oder Patientensituation
Ein Patient nimmt 4-stündlich fix 8 mg Morphin ein. Er brauchte in den vergangenen 24 h zusätzlich 3× eine Reservedosis (2×5 mg, 1×2 mg). Seine Tagesdosis betrug somit 6×8 mg (Grunddosis) und 12 mg (Reserve), total 60 mg. Die 4-stündliche Grunddosis für den nächsten Tag beträgt 10 mg (60 mg : 6).
Pflegerische und ernährungstherapeutische Interventionen bei Geschmacksveränderungen 4 Bitter wird stärker, süß und sauer schwächer empfunden → Gewürzarm kochen und selbst würzen lassen. 4 Nahrungsmittel ohne starken Eigengeschmack können besser verträglich sein, z. B. Kartoffeln, Teigwaren, Reis. 4 Kalte Mahlzeiten mit geringer Geruchsemission werden z. T. bevorzugt.
Grün gekennzeichnete pflegerische Hinweise und spezielle Pflegetechniken
Die Rolle der Pflegenden in der Onkologie J. Foubert 1
Rollenbeschreibung
– XX
1.1 1.2 1.3 1.4
Aktive Unterstützung bei Entscheidungsprozessen – XX Kompetentes Handeln bei verschiedenen Therapiemodalitäten Informieren, beraten, begleiten – XX Multiprofessionelle Zusammenarbeit – XXI
2
Herausforderungen durch demographische und medizinische Entwicklungen – XXI
3
Evidenzbasierte Pflege
4
Pflegeforschung in der Onkologie
5
Neue Rollen und Ausbildungen für Onkologiepflegende
– XX
– XXI – XXII – XXII
XX Die Rolle der Pflegenden in der Onkologie
))
1.1
Parallel zur medizinischen Entwicklung der Onkologie hat sich die Rolle der in diesem Bereich tätigen Pflegenden gewandelt und an Bedeutung gewonnen. Die Onkologiepflege ist heute ein Fachgebiet mit eigenem Fachwissen und Subspezialisierungen. Für Pflegende in der Onkologie ist neben einer fundierten Grundausbildung erweitertes Fachwissen unabdingbar, das durch spezifische Weiterbildung und regelmäßige Fortbildung erworben und mit den Erfahrungen der Praxis verbunden werden muss. Komplexe Krebstherapien, spezielles Symptommanagement sowie die psychosozialen Auswirkungen einer Krebserkrankung auf die Betroffenen und ihr soziales Umfeld erfordern qualifizierte Pflegende mit einer definierten Rolle und entsprechender Aus- und Weiterbildung, wie beispielsweise in der Beratung und Schulung von Patienten und der Pflegeforschung (. Abb. 1). Mit spezifischem Fachwissen und Kompetenz leisten Pflegende im onkologischen Behandlungsteam einen wichtigen Beitrag dazu, dass Patienten und Angehörige die Auswirkungen der Erkrankung und Therapie besser bewältigen können. Die verschiedenen Aufgaben werden im Folgenden ausführlicher besprochen.
1
Rollenbeschreibung
Die Rolle der Pflegenden in der Onkologie besteht darin, Patienten mit kompetentem Handeln und mit Information, Beratung und Unterstützung zur Seite zu stehen. Ziel ist es, Patienten und deren Angehörige in allen Phasen der Krankheit zu unterstützen und sie dahingehend zu begleiten, dass sie die Krebserkrankung und die Auswirkungen der Behandlungen im Alltag bewältigen können. Spezialisierte Pflegende haben zudem eine Schlüsselposition an der Schnittstelle zwischen Ärzten, Patienten und deren Angehörigen. Diese zentrale Rolle ist eine unschätzbare Hilfe für alle Beteiligten und kann eine Betreuungskontinuität bieten, die von Patienten sehr geschätzt wird. Allein die Tatsache, Patient zu sein, macht einen Menschen verletzlich. Dies erfordert unsere Verantwortung, nebst onkologiespezifischen Aufgaben die Patienten bei den täglichen Aktivitäten, die sie nicht selbst ausführen können, zu unterstützen Jederzeit müssen die Grundrechte eines Patienten, wie Selbstbestimmung sowie Anspruch auf Behandlung und Pflege, und die Würde, von der Diagnosestellung bis zur Rehabilitation, zur Genesung oder bis zum Tod – oft über Monate und Jahre – gewahrt werden. Die Rolle der Onkologiepflegenden kann mit folgenden Aufgabenbeschreibungen definiert werden:
Aktive Unterstützung bei Entscheidungsprozessen
Die meisten Krebspatienten wünschen sich, bei Entscheidungen bezüglich der Therapie, der Supportivmaßnahmen oder des Ortes der Behandlung und Pflege mitzuwirken. Die Beteiligung an Entscheidungen ermöglicht es den Patienten, eine gewisse Kontrolle über eine schwierige Lebenssituation auszuüben. Voraussetzung für die Teilnahme an der Entscheidungsfindung ist die verständliche Information der Patienten über ihre Krankheit, mögliche Behandlungsmethoden und die Auswirkungen auf die Lebensgestaltung. Für die Aufgaben der Pflegenden bedeutet dies beispielsweise: 4 Durch entsprechende Kommunikation zu ermöglichen, dass bei der Therapie und Pflege auf die Präferenzen der Patienten eingegangen wird. 4 Proaktive Mitwirkung beim Informationsaustausch unter allen Beteiligten im Sinne des Patienten. 4 Klären, ob Patienten und Ärzte von einer Therapie überzeugt sind; d. h. nachfragen, wenn sich Hilflosigkeit bei Ärzten und Pflegenden zu therapeutischem Aktivismus entwickelt oder falsche Hoffnung statt Trost vermittelt wird.
1.2
Kompetentes Handeln bei verschiedenen Therapiemodalitäten
Patienten mit einer Krebserkrankung, die unter einschränkenden Problemen leiden, erwarten von Onkologiepflegenden fachkompetentes Handeln, das zu einer Linderung ihrer Beschwerden führt, wie beispielsweise: 4 Erklärung, Einleitung und Überwachung präventiver Maßnahmen gegen unerwünschte Wirkungen der Therapien. 4 Sichere und sorgfältige Verabreichung komplexer medikamentöser Therapien. 4 Entsprechende Unterstützung in der Behandlung, sodass diese sicher und effizient ablaufen kann. 4 Durch gezieltes Erfassen frühzeitiges Erkennen von Komplikationen, wie Infektionen oder Blutungen. 4 Pflege bei spezifischen unerwünschten Wirkungen onkologischer Therapien und Symptome wie Schmerz, Mukositis, Fatigue, Venenentzündungen, Hautveränderungen oder verändertes Aussehen.
1.3
Informieren, beraten, begleiten
Trotz einiger Informationslücken sind der Patient und seine Angehörigen zunehmend gut informiert. Mit den Fortschritten der Informationstechnologie sind zuvor nicht
XXI 3 · Evidenzbasierte Pflege
verfügbare Informationen heute öffentliches Gut. Um die vielen verschiedenen Informationen richtig einordnen zu können und sich durch Verhaltensänderungen aktiv an der Gesundheitsförderung zu beteiligen, wird viel Wert auf Beratung und Information gelegt, wie beispielsweise: 4 Förderung des Selbstmanagements durch Herausfinden und Aufzeigen der persönlichen Ressourcen des Patienten und seiner Angehörigen. 4 Erkennen und verstehen, wie Patienten und Angehörige ihre Situation bewältigen. 4 Bei psychosozialer Belastung unterstützende Gespräche anbieten und auf Wunsch Weiterleitung an weitere Therapeuten und Anlaufstellen. 4 Beraten, wenn Patienten sich schrittweise an eine Reduktion der körperlichen Fähigkeiten und an eine Verschlechterung der Lebensqualität anpassen müssen. 4 Mit Patienten in der letzten Lebensphase herausfinden, was für sie in dieser Situation Lebensqualität beinhaltet und wie sie diese bis zum Tod so gut wie möglich erhalten können.
1.4
liative Pflege, konsiliarische pflegerische Beratung der Behandlungsteams, pflegerische Beratung für Patienten und Angehörige, spiritueller Beistand, Unterstützungsgruppen und Trauerberatung müssen fester Bestandteil eines gut entwickelten onkologischen Angebots sein. Da aber auch viele Menschen mit und nach einer Krebsdiagnose heute länger überleben oder langfristig geheilt werden, stellen sich hier ebenfalls neue Herausforderungen im Zusammenhang mit den Spätfolgen von Krebserkrankungen und Krebstherapien. Die Behandlung und Pflege der Patienten findet heute in allen Phasen der Erkrankung vorwiegend im ambulanten Sektor statt. Die notwendigen Strukturen und Abläufe sind in vielen Institutionen nicht entsprechend den Bedürfnissen der Patienten entwickelt. Die Herausforderung besteht darin, Angebote zu entwickeln, damit Patienten Unterstützung und Beratung erhalten, um zu Hause mit den Auswirkungen der Erkrankung und Therapie gut umgehen zu können. Diese Herausforderungen können nur mit evidenzbasierter Pflege und entsprechend notwendiger Pflegeforschung angegangen werden.
Multiprofessionelle Zusammenarbeit 3
Die Zusammenarbeit verschiedener Berufsgruppen ist Voraussetzung für eine professionelle Behandlung, Pflege und Begleitung der Patienten und ihrer Angehörigen. Die Aufgaben ergänzen sich gegenseitig und sollen entsprechend den Bedürfnissen der Patienten und Angehörigen eingesetzt werden, wie beispielsweise: 4 Strukturen nutzen oder aufbauen zur Förderung der Zusammenarbeit mit Spezialisten, Hausärzten, Psychoonkologen, Sozialdiensten, Seelsorgern und ambulanten Pflegediensten. 4 Förderung der koordinierten und kontinuierlichen Pflege und Integration von spezialisierten Pflegenden.
2
Herausforderungen durch demographische und medizinische Entwicklungen
Betrachtet man die demographische Entwicklung, so sind eine weitere starke Zunahme der Krebserkrankungen und ein wachsender Anteil älterer Patienten in der onkologischen Praxis zu erwarten. Trotzdem gibt es bisher nur wenig Forschung zur optimalen Versorgung und zu spezifischen Anforderungen bei älteren Krebspatienten. Palliative Care sowie technologische Fortschritte haben neue Möglichkeiten geschaffen, Lebensqualität lange zu erhalten und das Leben zu verlängern. Sie stellen zugleich traditionelle ethische und gesellschaftliche Werte bezüglich Tod und Sterben in Frage. Einrichtungen für pal-
Evidenzbasierte Pflege
Wie andere Disziplinen auch, hat die Pflege den Auftrag, wirksam, zweckmäßig und wirtschaftlich zu handeln. Eine praxisorientierte Disziplin ist jedoch keine »reine« Wissenschaft, bei der alles eindeutig gemessen und definiert werden kann. Viele verschiedene Einflussfaktoren sind bei Entscheidungen zu berücksichtigen. ! Von einer anerkannten Profession wird erwartet, dass erklärt und verstanden wird und bis zu einem gewissen Grad nachgewiesen und vorausgesagt werden kann, wie und wann eine pflegerische Intervention wirksam ist, welche Intervention schadet und welche in einer bestimmten Situation angebracht ist. Dazu ist die auf Evidenz basierende Pflege notwendig.
Definition Evidenzbasierte Pflege Evidenzbasierte Pflege bedeutet auf (wissenschaftlichen) Beweisen basierende Pflege (engl. »evidence«: Beweis). Dieser Begriff definiert das bewusste, ausdrückliche und umsichtige Anwenden des gegenwärtigen stärksten externen Beweises (klinisch relevante, valide Forschungsergebnisse) als Entscheidungshilfe zur Lösung von gesundheitsrelevanten Problemen.
In der Pflegepraxis ist evidenzbasierte Pflege als eine Denkund Arbeitsrichtung zu verstehen, die problem- und handlungsorientiert von konkreten Praxissituationen ausgeht und dabei zwei wesentliche Aspekte berücksichtigt:
XXII
Die Rolle der Pflegenden in der Onkologie
4 die Evidenz aus klinisch relevanten Forschungsergebnissen und 4 die klinische Expertise, die auf Wissen und Erfahrungen im entsprechenden Praxisgebiet beruht und die Präferenzen des Patienten einbezieht. Die klinische Expertise zeigt sich in sozialer und praktischer Kompetenz sowie der Urteilsfähigkeit beim treffsicheren Diagnostizieren, beim Wahrnehmen der psychosozialen Situation, aber auch beim Mitdenken und Mitfühlen. Es werden also immer mehrere Faktoren in die Entscheidung einbezogen. Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass sich die Entwicklung von evidenzbasierter Pflege durch den Transfer von Forschungsresultaten in die Praxis lohnt.
4
Pflegeforschung in der Onkologie
Pflegeforschung und -wissenschaft werden zunehmend als eine eigenständige Disziplin anerkannt. Zu den zahlreichen Herausforderungen, die mit der Weiterentwicklung der Forschungsagenda in der onkologischen Pflege in Verbindung stehen, zählt auch die verstärkte Qualifizierung von Pflegenden für die Durchführung von Forschungsprojekten. Der bessere und flexiblere Zugang zu Daten dank neuer Medien und neuen Beobachtungs- und Kommunikationsmethoden wird die weitere Pflegeforschung beeinflussen. Forscher in onkologischer Pflege müssen sich international verstärkt vernetzen und Erfahrungen und Ergebnisse austauschen. Der Großteil der Forschungsthemen bezieht sich auf Symptommanagement, das Verhalten von Patienten und ihrer Angehörigen im Zusammenhang mit Krankheit, ihrer Behandlung und Krankheitsprävention.
. Abb. 1. Verteilung der Kompetenzen in der Onkologiepflege
Neben dem Aufgreifen und der Bearbeitung wichtiger Themen kommt es darauf an, valide Forschungsergebnisse und Erkenntnisse rascher und konsequenter in die Praxis umzusetzen. Pflegende mit einer akademischen Ausbildung sollten sich vermehrt an Projekten der klinischen Forschung und beim Initiieren von Praxisentwicklungsprojekten beteiligen wie auch an der Erarbeitung praktischer Leitlinien und der Umsetzung von Standards. Pflegende in der Praxis werden somit unterstützt, Forschungsresultate gezielt bei ihren Patienten einzusetzen. Es ist sinnvoll, sich mit neuen Rollen auseinanderzusetzen, um Verbesserungen in der Pflege mit aktuellen Forschungsresultaten zu erzielen.
5
Neue Rollen und Ausbildungen für Onkologiepflegende
Veränderungen in der Onkologiepflegeausbildung haben verschiedene Antriebskräfte: Erstens die zunehmende Komplexität der klinischen onkologischen Pflege und zweitens die Implementierung des Bologna-Prozesses in ganz Europa, der darauf abzielt, Studienprogramme in den unterschiedlichen Ländern kompatibel und vergleichbar zu machen und die Qualität auf europäischem Niveau zu verbessern. Diese Veränderungen stellen eine Chance für die Onkologiepflege dar, einen neuen Startpunkt für ein gemeinsames Curriculum der Onkologiepflege in ganz Europa zu schaffen. Die aktuelle Entwicklung neuer Rollen und Spezialisierungen – insbesondere auch neuer Berufsbezeichnungen – hat bei Patienten und Angehörigen und Mitarbeitern im Gesundheitswesen, auch bei Pflegenden selbst, einige Verwirrung bezüglich der Bedeutung und des praktischen Einsatzes verursacht. Erforderliche Kompetenzen und Ausbildungen und die Erwartungen an solche Rollen sind noch nicht klar definiert. Beispielsweise werden »Breast Care Nurse« oder »Case Manager« zunehmend auch im deutschsprachigen Raum eingesetzt. Sie stoßen am Anfang jedoch in vielen Institutionen und bei Pflegenden aufgrund der Eigenschaften oder Unterschiede der Rollen noch nicht auf volle Akzeptanz. Die verschiedenen Rollen, auch die der Generalisten, haben entsprechende Kompetenzen und Ausbildungen (. Abb. 1). Sie sollen aufeinander abgestimmt und die entstehenden Synergien genutzt werden. Der Wert und der Nutzen solcher Spezialisierungen und der dahinterstehenden Aufgaben wie auch die Kosteneffektivität entsprechender Ausbildungen müssen nachgewiesen werden, was bereits zu mehreren Forschungsprojekten geführt hat. Die onkologische Pflege wird in Zukunft breiter und spezifischer gefächert sein, und die inter- und intraprofessionellen Grenzen in den Aufgaben werden sich zunehmend öffnen.
I
Teil I Grundlagen der Onkologie Kapitel 1
Entstehung und Biologie bösartiger Tumoren
–3
D. Jäger
Kapitel 2
Einteilung und Klassifikation maligner Tumoren
– 31
K. Buser
Kapitel 3
Epidemiologie: Risikofaktoren und die Entstehung maligner Tumoren – 39 K. Buser
Kapitel 4
Prävention und Früherkennung maligner Tumoren – 55 T. Kroner
1
Entstehung und Biologie bösartiger Tumoren D. Jäger 1.1
Einleitung und wichtigste Definitionen
1.1.1 Kriterien für Malignität
1.2
–4
–4
Grundlagen der Zellbiologie
1.2.1 Zellteilung und Apoptose 1.2.2 Signalübermittlung – 7
–5
–5
1.3
Tumorgenetik
–9
1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.3.4 1.3.5
Grundlagen – 9 Mutationen – 13 Mutationen von Onkogenen und Suppressorgenen – 15 Genetische Instabilität – 17 Entwicklung maligner Tumoren als Mehrschrittprozess – 18
1.4
Ursachen maligner Entartung
– 19
1.4.1 Familiäre (vererbte) Krebskrankheiten 1.4.2 Erworbene Mutationen – 21
– 19
1.5
Lokales Tumorwachstum und Metastasierung
1.5.1 1.5.2 1.5.3 1.5.4
Regulation des Tumorwachstums Tumorangiogenese – 22 Infiltration und Invasion – 23 Metastasierung – 23
1.6
Immunologische Aspekte
– 22
– 25
1.6.1 Grundlagen – 25 1.6.2 Immunsystem und maligne Tumoren
1.7
– 21
– 26
Klinische Manifestationen maligner Tumoren
1.7.1 Symptome aufgrund des lokalen Tumorwachstums 1.7.2 Paraneoplastische Symptome – 27
– 27 – 27
4
1
Kapitel 1 · Entstehung und Biologie bösartiger Tumoren
)) Wie entsteht Krebs? Weshalb versagt das Immunsystem bei der Abwehr bösartiger Krankheiten? Warum treten Krebskrankheiten in einigen Familien gehäuft auf? Die moderne Molekularbiologie hat auf solche Fragen erste Antworten gefunden. Sie leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung neuer Formen der Krebsbehandlung. Kenntnisse der Entstehung und Entwicklung bösartiger Tumoren erlauben es, die heute eingesetzten Behandlungsverfahren besser zu verstehen.
1.1
Einleitung und wichtigste Definitionen
und damit das Gewebewachstum streng kontrolliert. In bösartigen Tumoren ist diese Wachstumsregulation gestört oder aufgehoben. Invasives und infiltratives Wachstum. Diese Eigenschaft beschreibt das Eindringen von Tumorzellverbänden in andere Organstrukturen, ohne anatomische Grenzen zu beachten. Maligne Tumoren dringen häufig in benachbarte Gewebe ein (Invasion) und zerstören deren Struktur (Destruktion). Häufig beobachtet man eine Tumorzellinfiltration von Blut- und Lymphgefäßen mit dem Risiko der Metastasierung. Fähigkeit, Tochtergeschwülste (Metastasen) in anderen Organen zu setzen. Der Begriff Metastasierung be-
Neoplasie Im engeren Sinne verstehen wir aber unter »Tu-
schreibt den Prozess der Tumorzellabsiedlung in entfernten Organen (Organmetastasen, Fernmetastasen) oder in Lymphknoten (Lymphknotenmetastasen). Grundsätzlich kann das über ein Ausschwemmen von Tumorzellverbänden über den Blutweg (hämatogene Metastasierung) oder über den Lymphweg (lymphogene Metastasierung) erfolgen. Diese Absiedlungen können dann zu manifesten Metastasen heranwachsen, sofern die Tumorzellverbände Anschluss an die örtliche Blutversorgung finden. Die Fähigkeit der Metastasierung ist spezifisch für maligne Tumoren.
mor« eine echte Gewebeneubildung, fachsprachlich Neoplasie. Einer Neoplasie liegt also immer ein vermehrtes Zellwachstum zugrunde. Das bedeutet, dass die Wachstumskontrolle und die Wachstumsregulation in einem Gewebe gestört sind.
Gestörte Zelldifferenzierung. Normale Zellen können sich nicht nur teilen, sondern auch nach Bedarf differenzieren. Die Differenzierung beschreibt den Spezialisierungsprozess einer Zelle.
Definition Tumor Unter einem Tumor versteht man zunächst jede Schwellung eines Gewebes, ohne die Ursache hierfür zu beschreiben. Im weiteren Sinne können Tumoren also im Rahmen von entzündlichen Gewebeveränderungen (z. B. einem Abszess) oder einem Bluterguss entstehen.
Dignität Die Gutartigkeit oder Bösartigkeit wird mit dem Begriff Dignität beschrieben: Es gibt bösartige (maligne) und gutartige (benigne) Tumoren. Der Begriff Dignität beschreibt das biologische Verhalten eines Tumors. Gutartige (benigne) Tumoren sind Neoplasien, die einige typische Veränderungen zeigen, die auch bei malignen Neoplasien auftreten. Benigne Tumoren sind lokal begrenzt. Sie wachsen nicht invasiv, können allerdings durch stetes Größenwachstum benachbarte Strukturen verdrängen und dadurch schädigen. Sie haben nicht die Fähigkeit, Metastasen zu bilden. Gutartige Tumoren können u. U. maligne entarten und in Krebs übergehen. So kann beispielsweise im Dickdarm ein gutartiger Polyp (Adenom) in ein Kolonkarzinom übergehen (7 Kap. 1.3.5).
1.1.1 Kriterien für Malignität Unkontrollierte Zellproliferation. (lat. »proles«: Nach-
wuchs, und »ferre«: tragen) Maligne Zellen vermehren sich unkontrolliert. In normalem Gewebe wird die Zellteilung
Beispiel Eine Stammzelle des Knochenmarks hat das Potenzial, sich zu verschiedenen, unterschiedlich spezialisierten Zellen zu entwickeln: Sie kann entweder zu einem Erythrozyten oder beispielsweise zu einem Lymphozyten ausreifen bzw. differenzieren. Bei der Differenzierung zum Erythrozyten bildet sie Hämoglobin und gewinnt dadurch die Fähigkeit, Sauerstoff zu transportieren. Sie verliert dabei aber das Potenzial, sich in einen Lymphozyten zu differenzieren und Antikörper zu bilden.
Tumorzellen zeigen häufig die umgekehrte Entwicklung der Dedifferenzierung oder Entdifferenzierung, die dazu führt, dass die ursprünglich zugedachte Zellfunktion nicht mehr wahrgenommen werden kann. Diese Dedifferenzierung führt aber nicht dazu, dass die Tumorzelle wieder Stammzelleigenschaften erwirbt und sich erneut in eine spezialisierte Zelle ausdifferenzieren kann.
5 1.2 · Grundlagen der Zellbiologie
Beispiel Die normalen Zellen der Bronchialschleimhaut sind spezialisiert auf den Abtransport von kleinsten Fremdkörpern aus den Bronchien. Sie tragen dazu zahlreiche Flimmerhärchen. Die Zellen eines Bronchialkarzinoms sind entdifferenzierte Zellen der Bronchialschleimhaut. Als Zeichen der Entdifferenzierung fehlen ihnen die Flimmerhärchen.
Als Zeichen der Entdifferenzierung können Tumorzellen aber nicht nur Eigenschaften reifer Zellen verlieren, sondern auch wieder Eigenschaften embryonaler Zellen annehmen, z. B. die Fähigkeit, sich auch in einem anderen als ihrem Ursprungsgewebe einzunisten und sich dort zu vermehren. Dies ist eine Voraussetzung für die Metastasierung.
1.2
Grundlagen der Zellbiologie
1.2.1 Zellteilung und Apoptose
Zellzyklus Viele Zellen des menschlichen Körpers haben die Fähigkeit, sich zu teilen und so zur Erneuerung des entsprechenden Zelltyps oder Gewebes beizutragen. Der Ablauf der Zellteilung folgt einem strikt regulierten Programm, dem sog. Zellzyklus (. Übersicht und . Abb. 1.1).
Zellzyklus 5 Ruhephase – G0-Phase (G für engl. »gap«: Lücke, Pause). In dieser Phase üben die Zellen die für sie typischen Funktionen aus: Eine Pankreasinselzelle produziert Insulin, eine Nervenzelle leitet Signale etc. Die meisten Zellen des erwachsenen Körpers befinden sich in dieser Ruhephase. Ihre Dauer variiert von Zellart zu Zellart. Zellen, die sich selten teilen – wie z. B. Leberzellen, können über Jahre in der Ruhephase verbleiben. Zellen mit häufiger Zellteilung, z. B. Zellen des Darmepithels, befinden sich dagegen nur etwa 12 h in dieser G0-Phase. 5 Durch bestimmte Wachstumssignale, die die Zelle von außen erreichen (s. unten), kann die Zelle zur Teilung angeregt werden. Sie tritt in die G1-Phase ein. Während dieser Phase wird die Zelle etwas größer und speichert Energie für die bevorstehende Teilung. 5 In der folgenden, kurzen S-Phase (S für Synthese) wird im Zellkern die Erbsubstanz der Zelle, die DNS (Desoxyribonukleinsäure; DNS bzw. DNA für engl. »acid«: Säure) verdoppelt. 5 Es folgt ein zweiter Gap, die G2-Phase, während der die Zelle wieder Energie speichert. 6
. Abb. 1.1. Zellzyklus: Phasen und Kontrollpunkte. (G0, G1, G2 7 Text. M Mitose, S Synthesephase)
1
6
1
Kapitel 1 · Entstehung und Biologie bösartiger Tumoren
5 In der folgenden M-Phase (Mitose) findet die eigentliche Zellteilung statt mit der Trennung und Aufteilung der verdoppelten Chromosomen, der anschließenden Trennung des Zytoplasmas und der Bildung von 2 Tochterzellen.
Steuerung und Kontrolle des Zellzyklus Der Zellzyklus wird durch ein kompliziertes Zusammenspiel von inneren und äußeren (intrazellulären und extrazellulären) Signalen gesteuert. Einige der äußeren Signalwege werden in 7 Kap. 1.2.2 näher beschrieben. Im Folgenden wird eine Auswahl von intrazellulären Signalen geschildert, die für die Entwicklung bösartiger Tumoren wichtig sind. Dabei spielen zyklusbeschleunigende wie bremsende Stoffe eine große Rolle. 4 Zu den beschleunigenden Faktoren gehören etwa die Zykline. Sie aktivieren bestimmte Enzyme, die zyklinabhängigen Kinasen (abgekürzt cdk für engl. »cyclindependent kinase«). Zykline sind sehr kurzlebige Eiweiße, die bereits wenige Minuten nach ihrer Synthese wieder abgebaut werden. Dies ermöglicht eine sehr feine Steuerung der cdk-Aktivierung. 4 Zu den Signalen mit Bremswirkung gehören Inhibitoren (Hemmstoffe) der zyklinabhängigen Kinasen (z. B. das Eiweiß p16) sowie die Eiweiße p53 und p21. Die Eiweiße p53 und p16 sind Schlüsselproteine, die den Übergang einer Zelle von einer Zellzyklusphase in die nächste steuern. p53 nimmt im Zellzyklus eine sehr wichtige Funktion wahr: Es verhindert die Fortsetzung des Zellzyklus, falls ein Schaden an der DNA besteht, und stoppt den Zyklus an einem Kontrollpunkt (»Checkpoint«), bis der DNA-Schaden repariert ist. Falls eine Reparatur nicht möglich ist, leitet p53 den Zelltod (7 unten: Apoptose) ein. In vielen malignen Tumoren ist p53 durch Mutation inaktiviert (7 Kap. 1.3.3). ! Wegen seiner zentralen Funktion in der Kontrolle des Zellzyklus wird p53 auch als »Wächter des Genoms« bezeichnet. . Abb. 1.2. Zellzyklus und programmierter Zelltod. Eine Zelle in der Ruhephase G0 kann durch externe Signale dazu veranlasst werden, entweder in den Zellteilungszyklus oder in die Apoptose, d. h. den programmierten Zelltod, einzutreten (auch Fehler während des Zellzyklus führen zur Apoptose; G1, S, G2, M Phasen der Zellteilung)
Es liegt auf der Hand, dass eine Überproduktion von Wachstumsfaktoren oder Zyklinen zur Entstehung oder Weiterentwicklung bösartiger Tumoren beitragen kann. Das Gleiche gilt für das Fehlen von hemmenden Faktoren (dazu im Detail 7 Kap. 1.3.3). An kritischen Stellen des Zyklus, den sog. Kontrollpunkten (Checkpoints), wird kontrolliert, ob die einzelnen Schritte richtig abgelaufen sind. So wird etwa vor Eintritt in die S-Phase geprüft, ob ein Defekt in der DNA (z. B. eine Mutation) vorliegt, und unmittelbar vor der M-Phase wird kontrolliert, ob die neu gebildeten Chromosomen richtig mit den Fasern des Spindelapparates verbunden wurden. Wird ein Fehler festgestellt, so wird der Zyklus angehalten und der Defekt nach Möglichkeit repariert. Ist der Defekt irreparabel, so kann die Zelle den Zellzyklus nicht abschließen – sie tritt in die Apoptose ein (s. unten). Durch diese Mechanismen – eine Art Qualitätssicherung – wird die Vermehrung von Zellen mit defektem genetischem Material verhindert.
Apoptose (programmierter Zelltod) Auch der Tod der Zelle wird normalerweise von einem genetisch festgelegten Programm kontrolliert und gesteuert (. Abb. 1.2). Dieser programmierte Zelltod wird Apoptose genannt, nach dem griechischen Wort für das Abfallen (griech.: ptosis) der Blütenblätter beim Verwelken – einem botanischen Beispiel für den programmierten Zelltod. ! Wie die Zellteilung ist auch der Zelltod ein normaler biologischer Vorgang. Beide unterliegen einer genauen Kontrolle. Defekte dieser Kontrollmechanismen spielen eine wichtige Rolle bei der Entwicklung bösartiger Tumoren.
Die Apoptose ist zu unterscheiden von der Nekrose – einer Art von traumatisch bedingtem Zelltod und Zelluntergang, der Folge einer akuten Zellschädigung von außen, etwa durch einen Infarkt. Im Gegensatz zur Nekrose wird bei der Apoptose aktiv ein Programm in Gang gesetzt, das zum Tod der betreffenden Zelle führt. Mikroskopisch lässt sich unterschieden, ob eine Zelle durch Apoptose oder durch Nekrose untergegangen ist.
7 1.2 · Grundlagen der Zellbiologie
Wenn in dem sehr störanfälligen Zellzyklus Fehler auftreten, wird – wie oben beschrieben – das Apoptoseprogramm gestartet. Dieses »Selbstmordprogramm« schützt den Organismus davor, dass fehlerhafte Zellen am Leben bleiben und ihre fehlerhafte DNA an Tochterzellen weitergeben. Die Apoptose führt auch zur physiologischen Abschilferung und damit zur Erneuerung von Haut und Schleimhäuten. Daneben können viele schädigende Einflüsse zur Apoptose führen wie chronischer Sauerstoffmangel, Viren oder toxische Substanzen. ! Auch Zytostatika lösen den Zelltod über die Apoptose aus.
Die Apoptose dient aber nicht nur zur »Fehlerbehebung« – sie spielt beispielsweise auch bei der Regulation der Blutbildung eine wichtige Rolle: Beispiel Während der Entwicklung der roten Blutzellen (Ec) im gesunden Knochenmark gehen normalerweise 95% der Erythroblasten (der unmittelbaren Vorläufer der Ec) durch Apoptose zugrunde. Steigt der Bedarf an Ec, produzieren die Nieren vermehrt Erythropoietin. Dieses blockiert im Knochenmark die Apoptose der Ec-Vorläufer und ermöglicht ihre Ausreifung zu Erythrozyten. Dies führt zu einem sehr raschen Anstieg der Ec, rascher als es möglich wäre, wenn die Produktion von Vorläuferzellen gesteigert werden müsste.
Auch bei verschiedenen Krankheitsbildern ist das Apoptoseprogramm beteiligt: Chronischer Sauerstoff- oder Nährstoffmangel führt über eine Steigerung der Apoptose zur Hypotrophie von Organen, bei Morbus Alzheimer führen apoptotische Prozesse zum Untergang von Hirnzellen. Umgekehrt haben Tumorzellen häufig ein verändertes Zellzyklusprogramm, das die Apoptose hemmt oder verhindert und ihnen damit einen Wachstumsvorteil verschafft.
1.2.2 Signalübermittlung Viele – wenn nicht die meisten – Funktionen einer Zelle werden von »außen« gesteuert: Jede Zelle erhält ständig Signale aus dem extrazellulären Raum. Diese bestimmen, ob die Zelle sich beispielsweise teilen oder differenzieren soll. Die Apoptose kann durch extrazelluläre Signale »aktiv« ausgelöst werden, sie tritt aber auch ein, wenn die Zelle keine Wachstumssignale mehr erhält. Auch die Synthese bestimmter Eiweiße oder die Motilität der Zelle wird durch solche Signale gesteuert. Der Eintritt einer Zelle in den Zellzyklus und damit die Zellteilung und Zellvermehrung werden eben-
falls durch spezielle Botenstoffe reguliert. Diese wirken z. T. von außen auf die Zelle ein, andere werden innerhalb der Zelle selbst gebildet. Von außen auf die Zelle einwirkende Botenstoffe (Hormone, Wachstumsfaktoren u. a.) binden sich an Rezeptoren auf der Zelloberfläche oder im Zellinneren (. Abb. 1.3). Diese Bindung ist hoch spezifisch, d. h. jeder Rezeptor (»Schloss«) braucht seinen passenden Botenstoff (»Schlüssel«), um den Signalweg zu aktivieren. Der Signalweg gleicht einer Kettenreaktion, bei der ein biologischer Prozess – in der Regel eine Enzymreaktion – den nächsten auslöst, bis schließlich die Zelle zum Eintritt in die G1-Phase geführt wird. Es sind bereits über 5000 verschiedene Eiweiße bekannt, die an der Signalübermittlung in der Zelle beteiligt sind; dies als Hinweis auf die außerordentliche Komplexität dieses Systems. Die Komplexität ist aber nicht, wie man annehmen könnte, mit einer großen Störanfälligkeit verbunden. Im Gegenteil: Das System der Signalübermittlung ist für die Zelle bzw. den Organismus so wichtig, dass es – um einen Ausdruck aus der Technik zu gebrauchen – mehrfach redundant angelegt ist. (Redundanz von lat. redundare: im Überfluss vorhanden sein. Der Begriff bezeichnet das Vorhandensein von gleichen oder vergleichbaren Komponenten in einem System, wenn diese im Normalfall – bei störungsfreiem Betrieb – nicht benötigt werden. Vor allem sicherheitstechnisch wichtige Komponenten werden oft redundant angelegt, z. B. Bremssysteme in Fahrzeugen.) Das bedeutet, dass bei Ausfall eines Signalwegs meistens ein anderer Weg zur Verfügung steht, auf dem das Signal sein Ziel erreichen kann. Besondere Bedeutung in der Onkologie haben Signalwege, die durch folgende Rezeptoren aktiviert werden: 4 EGFR (epidermaler Wachstumsfaktorrezeptor 1, engl. »epidermal growth factor receptor 1«), 4 her2 (epidermaler Wachstumsfaktorrezeptor 2, engl. »human epidermal growth factor receptor 2«), auch als her2/neu bezeichnet (s. unten), 4 VEGFR (vaskulärer endothelialer Wachstumsfaktorrezeptor). ! Auf jeder Zelle finden sich mehrere 100.000 solcher Rezeptoren!
An dieser Stelle sind zwei Bemerkungen zur gelegentlich recht verwirrenden Terminologie angebracht: 4 Ein Gen und das durch dieses Gen kodierte Eiweiß werden oft gleich bezeichnet: her2 ist die Bezeichnung für einen Rezeptor des epidermalen Wachstumsfaktors. Gleichzeitig ist es auch die Bezeichnung für das Gen, das diesen Rezeptor (ein Eiweiß) kodiert. Zur Unterscheidung werden nach einer internationalen Regelung das Gen mit Großbuchstaben (z. B. HER2) und
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Kapitel 1 · Entstehung und Biologie bösartiger Tumoren
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. Abb. 1.3a, b. Unterschiedliche Signalwege von Steroidhormonen und Wachstumsfaktoren. a Steroidhormone (z. B. Östrogene) binden an Rezeptoren im Zytoplasma der Zelle. Der Hormonrezeptorkomplex wandert in den Zellkern und bindet an spezifische DNA-Stellen (Kontrollregion . Abb. 1.7). Dies aktiviert Gene in der Nähe dieser Bindungsstelle. b Wachstumsfaktoren (z. B. EGF) binden an spezifische Rezeptoren auf der Zellmembran. Diese Bindung aktiviert ein
Enzym des Rezeptors (die Tyrosinkinase) und löst in der Folge eine Kaskade von Signalen im Zytoplasma und schließlich im Zellkern aus. Die Signale aktivieren im Zellkern sog. Transkriptionsfaktoren (z. B. Fos und Jun), die ihrerseits an eine Kontrollregion binden und dadurch Gene aktivieren, z. B. Gene, die die Synthese von Zyklinen steuern
das Genprodukt mit Kleinbuchstaben (z. B. her2) bezeichnet. Diese Regelung wird allerdings oft nicht konsequent angewandt. Gelegentlich wird ausdrücklich geschrieben, was gemeint ist. Man schreibt dann her2Rezeptor oder HER2-Gen. Oft ist aber nur aus dem Zusammenhang zu verstehen, ob das Gen oder das Genprodukt gemeint ist. 4 Ein und dasselbe Gen (oder sein Produkt) können verschieden Bezeichnungen tragen: her2, her2/neu, erbB2 und erbB2/neu bezeichnen alle das gleiche Gen (bzw. den gleichen Rezeptor)! Die Vielfalt der Bezeichnungen ist historisch bedingt: Einige Gene wurden ursprünglich nach dem Tumor benannt, in dem sie erstmals nachgewiesen wurden: das Gen erb2 in einer VogelErythroblastose (einer Leukämie), das Gen neu in einem Ratten-Neuroblastom. Erst später wurde festgestellt, dass diese Gene das gleiche Produkt, nämlich den Rezeptor für den menschlichen epithelialen Wachstumfaktor her (»human epithelial growth factor receptor«) kodieren.
Einige für Tumoren besonders wichtige Signalwege sind in den letzten Jahren identifiziert worden; sie bilden Ansatzpunkte für neue Therapien. So können etwa mit spezifischen Antikörpern Rezeptoren oder der Botenstoff selbst blockiert werden. Beispiel In etwa 30% aller Mammakarzinome findet sich auf der Zelloberfläche eine Vermehrung von her2-Rezeptoren. Man bezeichnet diese Karzinome als her2-positiv. Diese Mammakarzinome sind besonders bösartig. Sie wachsen schnell und metastasieren früh. Ein gegen diesen Rezeptor gerichteter Antikörper (Trastuzumab) hat sich als sehr wirksames Medikament erwiesen und gehört heute zum Standard in der Behandlung des her2-positiven Mammakarzinoms. Diese Therapie kann die zunächst ungünstige Prognose dieser Tumoren deutlich verbessern.
Mehr zu diesen neuen, sog. gezielten Therapien findet sich in 7 Kap. 9.
9 1.3 · Tumorgenetik
1.3
Tumorgenetik
1.3.1 Grundlagen
DNA/DNS (Desoxyribonukleinsäure) Anstelle der Abkürzung DNS ist heute auch im deutschen Sprachgebiet die englische Bezeichnung DNA (mit A für
. Abb. 1.4. Doppelstrang (Doppelhelix) der Desoxyribonukleinsäure (DNA). Die Basen auf den Einzelsträngen können sich nur nach dem Schema Guanin/Cytosin und Adenin/Thymin paaren. Bei der Zellteilung trennt sich der Originaldoppelstrang der DNS reißverschlussartig in seine beiden Teilstränge, beide werden durch Anlage-
acid, Säure) sehr gebräuchlich. Die DNA ist ein sehr langes, fadenförmiges Molekül. 2 DNA-Stränge sind über »Sprossen« wie eine Leiter miteinander verbunden (doppelsträngiges DNA-Molekül). Die »Sprossen« bestehen aus 4 verschiedenen sog. »Basen«, Bausteinen der Nukleinsäuren (. Übersicht und . Abb. 1.4).
rung von Nukleotiden (Bausteinen der DNA) wieder zu orginalgetreuen Doppelsträngen ergänzt. Auf dem gleichen Prinzip beruht die Bildung der Boten-RNA bei ihrer Kopierung an der DNA (Transkription). (Spornitz 2007)
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10 Kapitel 1 · Entstehung und Biologie bösartiger Tumoren
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Genom In der DNA vorkommende Basen 5 5 5 5
Adenin (Abkürzung A) Guanin (Abkürzung G) Cytosin (Abkürzung C) Thymin (Abkürzung T)
Die Abfolge dieser Basen bestimmt die genetische Information. Ähnlich vermittelt die Abfolge von Buchstaben Informationen in einem Text.
Chromosomen Bei den Chromosomen handelt es sich um die »Verpackung« der DNA. Ein einzelnes Chromosom enthält jeweils einen langen, kontinuierlichen DNA-Doppelstrang. Da ein solcher DNA-Faden mehrere Zentimeter lang sein kann, ein Zellkern aber nur wenige Tausendstel Millimeter Durchmesser hat, muss die DNA zusätzlich »gepackt« werden. Dies geschieht mit Hilfe bestimmter Eiweiße, beispielsweise den sog. Histonen. Der DNA-Doppelstrang windet sich um die Histone, diese dienen als Stützapparat für die DNA. Nur während der Kernteilung (Mitose) sind Chromosomen zu einer kompakten Form kondensiert und im Mikroskop sichtbar. In einer menschlichen Körperzelle liegt jedes Chromosom in 2 Kopien vor, verteilt auf einen Satz von 23 Chromosomenpaaren, insgesamt also 46 Chromosomen (. Abb. 1.5).
. Abb. 1.5. Chromosomensatz bei chronischer myeloischer Leukämie. Die 46 Chromosomen sind als Gebilde mit einem quer angelegten Bandenmuster erkennbar. Sie sind der Größe nach sortiert (Chromosomenpaar 1 am größten). Auch die Geschlechtschromosomen sind erkennbar: Die Kombination XX weist darauf hin, dass die Zelle von einem weiblichen Individuum stammt. Die zwei mit Pfeilen markierten Chromosomen sind abnorm: Ein Chromosom 9 ist
Als Genom oder auch Erbgut eines Lebewesens wird die Gesamtheit der vererbbaren Informationen einer Zelle bezeichnet, die als DNA vorliegt.
Gen Nach der klassischen Definition entspricht ein Gen dem Abschnitt auf einem DNA-Molekül, der die Information für die Bildung eines bestimmten Proteins (Eiweißmoleküls) enthält. Das menschliche Genom enthält etwa 22.000 Gene. Davon sind mehr als 5.000 in den komplexen Ablauf von Zellzyklusregulation und Zellwachstum involviert, viele übernehmen dabei eine Art Überwachungsfunktion.
Eiweiße (Proteine) Proteine sind wichtige Bausteine des Organismus und nehmen im menschlichen Körper mannigfaltige Funktionen wahr (einige Beispiele in . Tab. 1.1). Eiweiße sind sehr große Moleküle. Ihre Bausteine sind 20 verschiedene Aminosäuren, die zu Ketten verbunden werden. Diese Ketten können aus mehreren tausend Aminosäuren bestehen.
Eiweißsynthese Die Information zur Bildung eines Körperproteins ist in einem Gen durch die Abfolge der Basen niedergeschrieben. Dabei definieren jeweils 3 aufeinanderfolgende Basen (ein sog. Codon oder Basentriplett) eine Aminosäure des zu bildenden Proteins. (Man sagt: diese 3 Basen kodieren eine bestimmte Aminosäure.) Welche Aminosäuren durch
zu lang. Ein ebenfalls markiertes Chromosom 22 ist zu kurz: dieses Philadelphia-Chromosom besteht aus einem Stückchen des Chromosoms 9 sowie aus einem Stück des Chromosoms 22. Das Philadelphia-Chromosom ist die charakteristische chromosomale Abnormität der chronischen myeloischen Leukämie. (Abb. von Priv.-Doz. Dr. Jotterand, Lausanne, mit frdl. Genehmigung)
11 1.3 · Tumorgenetik
Protein
Vorkommen
Funktion
4 Translation: In den Ribosomen wird die Basensequenz der mRNA in eine Aminosäuresequenz übersetzt und diese Aminosäuren zu einem Eiweiß synthetisiert.
Hämoglobin
Erythrozyten
Sauerstofftransport
Genregulation
Kollagen
Haut/Bindegewebe/Knochen
Stütz- und Haltefunktion
Myosin
Muskeln
Kontraktion
Transaminasen
Leberzellen
Stoffwechsel (Enzyme)
Jede Körperzelle verfügt über das ganze Genom, d. h. die gesamte Erbinformation des Organismus ist in jedem Zellkern vorhanden. In den verschiedenen Zellen sind aber unterschiedliche Gene aktiv. Nur Gene, die für die Funktion der jeweiligen Zelle gerade eine Rolle spielen, sind angeschaltet.
EGFR (Rezeptor des epithelialen Wachstumsfaktors)
Epitheliale Zellen
Regulation des Zellwachstums
Insulin
Blut
Hormon
Immunglobuline
Blut und Schleimhäute
Abwehr (Antikörper)
. Tab. 1.1. Proteine im menschlichen Körper (Beispiele)
. Tab. 1.2. Beispiele für den genetischen Code
Codon
Kodierte Aminosäure
TCT
Serin
ACT
Threonin
GCT
Alanin
GTA
Valin
Abkürzungen: Die Basen (s. oben) werden standardisiert abgekürzt: A=Adenin, C=Cytosin, G=Guanin, T=Thymin. Beispiel: Das Codon TCT entspricht der Basenfolge CytosinGuanin-Cytosin innerhalb eines Gens.
Beispiel Die Inselzellen des Pankreas produzieren Insulin (ein Eiweiß), d. h. das entsprechende Gen ist aktiv. Dagegen sind die Gene, die die Eiweiße des Hämoglobins kodieren, im Pankreas nicht aktiviert, wohl aber in den Vorläuferzellen der Erythrozyten im Knochenmark.
Die Steuerung der Genaktivierung im Zellkern wird auch als Genregulation bezeichnet. Sie ist ein hochkomplizierter, wichtiger Prozess. Er wird durch sog. Transkriptionsfaktoren gesteuert. Dies sind Eiweiße (oft auch Komplexe mehrerer Eiweiße), die – unter dem Einfluss von Wachstumsfaktoren und Hormonen – in der Zelle gebildet werden. Transkriptionsfaktoren binden sich an die »Enhancer«, spezifische DNA-Sequenzen in der Kontrollregion des von ihnen regulierten Gens. Sie wirken als »Schalter«, die die Transkription des Gens an- oder abschalten. An den »Promoter« binden die Enzyme, die die DNA ablesen und Boten-RNA synthetisieren (RNA-Polymerasen). Den Aufbau eines Gens zeigt schematisch . Abb. 1.7. Beispiel
welche Basenabfolgen kodiert werden, ist im sog. genetischen Code vorgeschrieben (. Tab. 1.2). Dieser Code ist für praktisch alle Lebewesen – vom Bakterium bis zum Menschen – mit wenigen Ausnahmen identisch! Die Abfolge der Basen in einem Gen legt also den Aufbau und damit die Funktion eines bestimmten Proteins fest. Gendefekte (Mutationen) werden sich deshalb auf die Zusammensetzung und damit die Funktion von Eiweißen auswirken. Die Veränderung eines einzigen Proteins kann mitunter schon mit einer erheblichen Störung der Zellfunktion einhergehen. Ein Gen enthält also die Information zur Bildung eines Proteins. Aufgrund dieser Information wird in einem komplizierten Prozess die Proteinsynthese in Gang gesetzt (. Abb. 1.6). Wichtige Teilschritte in diesem Prozess sind: 4 Transkription: Ablesen der Gensequenz und Bildung einer Boten-RNA (»messenger RNA«, mRNA), 4 Transport der mRNA aus dem Zellkern ins Zytoplasma,
Östrogene steuern die Zellteilung in östrogenabhängigen Geweben wie der Gebärmutterschleimhaut oder der Brustdrüse. Diese Steuerung erfolgt durch die Östrogenrezeptoren, die im Zellkern als Transkriptionsfaktoren wirken (. Abb. 1.3).
Wie erwähnt, umfasst das menschliche Genom ca. 25.000 Gene. Die eiweißkodierenden Gene machen jedoch nur 1–2% des Genoms aus. Der größte übrige Teil des Genoms scheint zwar ebenfalls zu RNA-Molekülen transkribiert zu werden, deren Funktion ist aber noch weitgehend unbekannt. Viele dieser RNA-Sequenzen (sog. »nicht kodierende RNA«) scheinen ebenfalls an der Genregulation beteiligt zu sein.
Epigenetische Regulation Zusätzlich kann der Aktivierungszustand eines Gens durch einen für alle Gene gleichartigen Mechanismus, die DNAMethylierung, beeinflusst werden. Dabei wird durch ein
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12 Kapitel 1 · Entstehung und Biologie bösartiger Tumoren
1
. Abb. 1.6. Schematische Darstellung der Eiweißsynthese in der Zelle: Im Zellkern wird von einem Gen eine Kopie in Form eines mRNA-Stranges hergestellt (Transkription). Dieser wandert ins Zytoplasma zu einem Ribosom und wird dort abgelesen (Translation).
Während der Translation wird, kodiert durch 3 Basen, an der mRNA jeweils eine spezifische Aminosäure durch Transport-RNA-Moleküle (t-RNA) in die wachsende Eiweißkette eingebaut. (Spornitz 2007)
. Abb. 1.7. Aufbau eines Gens (7 Text)
Enzym eine Methylgruppe (chemisch: -CH3) an bestimmte Basen der DNA angelagert. Dies geschieht typischerweise in der Promoter-Region eines Gens. Diese ist – wie die Enhancer-Region – ein Teil der Steuereinheit des Gens. Durch die Methylierung des Promoters wird dieser (und dadurch das Gen) inaktiviert.
Der Methylierungszustand eines Gens wird bei der Zellteilung auf die Tochterzellen übertragen, er ist aber reversibel (durch enzymatische »Demethylierung«) und verändert die Basenfolge des Gens nicht. Er wird als epigenetischer Steuermechanismus bezeichnet (epi: griech. dazu, daneben). Epigenetische Mechanismen spielen
13 1.3 · Tumorgenetik
auch bei der Entwicklung maligner Tumoren eine Rolle (7 Kap. 1.3.5).
1.3.2 Mutationen Definition Eine bleibende Veränderung des Erbguts, der DNA, wird Mutation genannt. ! Durch eine Mutation kann die Funktion eines Gens erheblich gestört werden oder auch komplett verloren gehen. Typischerweise sind in Tumoren häufig Gene mutiert, die eine wichtige Rolle bei der Steuerung von Zellteilung und Apoptose, bei der DNA-Reparatur oder der Zelldifferenzierung spielen.
Nach den betroffenen Zellen sind 2 Arten von Mutationen zu unterschieden: Keimbahnmutationen. Diese Mutationen werden von
einem oder beiden Elternteilen ererbt. Wir sprechen von Keimbahnmutationen oder von ererbten Mutationen. Sie sind in den Keimzellen (Ei- bzw. Samenzellen) und allen Körperzellen nachweisbar. Diese Mutationen sind sehr selten. Sie sind verantwortlich für die familiären Krebserkrankungen (7 Kap. 1.4.1). Somatische Mutationen. Die meisten Mutationen entste-
hen im Lauf des Lebens in einer einzelnen Körperzelle. Solche Mutationen werden somatische Mutationen genannt. Sie sind nicht in allen Körperzellen nachweisbar, sondern nur in den betroffenen Zellen und in den aus ihnen durch Zellteilung entstandenen Tochterzellen. (Betrifft eine somatische Mutation eine Keimzelle, wird sie bei den Nachkommen zu einer Keimbahnmutation.) Nach dem Mechanismus der DNA-Schädigung werden verschiedene Mutationstypen unterschieden. Punktmutation. »Kleine« Mutationen, die nur eine einzige Basenpaarung betreffen, werden Punktmutationen genannt. So kann z. B. in einem einzigen Codon die Base Thymin durch die Base Adenin ersetzt sein. Dieser Austausch einer einzigen Base in einem Gen kann dazu führen, dass ein Protein mit einer veränderten Aminosäureabfolge entsteht, wodurch auch die Funktion des Proteins verändert wird. Man kann sich das analog der Buchstabenfolge in einem Wort vorstellen, wo ein »Druckfehler« (der Austausch eines Buchstabens) analog einer Mutation einen komplett anderen Sinn ergibt: Hautfarbe – Hausfarbe.
. Abb. 1.8. Verschiedene Typen von Mutationen (7 Text). (Mit frdl. Genehmigung des National Human Genome Research Institute)
Translokation. Bei einer Translokation (Ortswechsel) sind
größere Genabschnitte aus einem DNA-Strang herausgelöst und an anderer Stelle (z. B. in einem anderen Chromosom) wieder in den DNA- Strang integriert worden. . Abb. 1.5 zeigt das mikroskopische Bild einer solchen Translokation, . Abb. 1.8 und 1.9 schematische Darstellungen. Beispiel
Definition Den Verlust von kleineren oder größeren Genabschnitten nennt man Deletion (lat.: Verlust).
Für verschiedene Tumoren sind typische Translokationen bekannt, beispielsweise das sog. Philadelphia-Chromosom bei der chronisch myeloischen Leukämie (CML) . Abb. 1.5 und 1.9.
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14 Kapitel 1 · Entstehung und Biologie bösartiger Tumoren
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. Abb. 1.9. Philadelphia-Chromosom bei chronisch myeloischer Leukämie. a Auf dem Chromosom 9 liegt normalerweise das Gen ABL (für »Abelson murine leukemia viral oncogene«). Es kodiert eine Tyrosinkinase, ein Enzym mit wichtiger Rolle bei der Übermittlung von Signalen der Wachstumsregulation (. Abb. 1.3). Auf Chromosom 22 liegt das Gen BCR »breakpoint cluster region«; benannt aufgrund der häufigen Brüche in diesem Gen. b Es kommt an der Stelle dieser Gene zu Brüchen in beiden Chromosomen. c Das kurze Bruchstück von Chromosom 9 lagert sich an die Bruchstelle von Chromosom 22 an und umgekehrt. Durch dieseTranslokation (lat. Ortswechsel) sind neue Gene direkt benachbart, die vorher auf verschiedenen
Chromosomen lagen. Auf dem Chromosom 22 »verschmilzt an der Bruchstelle das BCR-Gen mit dem vom Chromosom 9 kommenden ABL-Gen. Es kommt zur Fusion (»Verschmelzung«) dieser Gene, zu einem neuen, sog. Fusionsgen. Das dadurch auf dem »neuen« Chromosom 22 – dem sog. Philadelphia-Chromosom – entstandene BCR-ABL-Fusionsgen kodiert ein neues Protein, das BCR-ABL-Genprodukt, ein Fusionsprotein. Dieses ist wie das abl-Protein eine Tyrosinkinase, aber unter dem Einfluss der BCR-Region dauerhaft aktiviert. Dadurch wird die betroffene Zelle unkontrolliert durch Wachstumssignale stimuliert. Über diese Entwicklung wird die Zelle zu einer Tumorzelle
Amplifikation. In der normalen Körperzelle ist jedes Gen doppelt vorhanden, je einmal von beiden Elternteilen ererbt. Sind mehr Kopien im Erbgut vorhanden (typischerweise in verschiedenen Chromosomen), nennen wir das Amplifikation (lat. amplificare: erweitern, vermehren). Von amplifizierten Genen sind bis zu 100 Kopien vorhanden. Dies kann zu einer massiven Überproduktion des entsprechenden Genproduktes führen – wir sprechen dann von Überexpression des Genproduktes.
Mutationen reparieren, wenn zumindest noch der komplementäre Gegenstrang der DNA intakt ist: Dieser Strang wird dann als Matrize (Vorlage) benutzt. Deletionen oder Translokationen können nicht repariert werden. Wenn nicht reparable Mutationen entstehen, wird dies im Zellzyklus erkannt und die Apoptose der Zelle eingeleitet. Dies verhindert, dass sich die veränderte Zelle teilen und so die Mutation weitergeben kann. Wenn dieser Kontrollmechanismus versagt und die Apoptose nicht aktiviert wird, dann werden Tumorzellvorstufen häufig von speziellen Abwehrzellen des Immunsystems erkannt, und die betreffende Zelle wird vernichtet (7 Kap. 1.6). Der Körper hat also mindestens 3 Verteidigungslinien etabliert, die es ihm erlauben, mutierte Zellen entweder zu reparieren oder zu vernichten: 4 Reparatur, 4 Apoptose, 4 Immunabwehr.
Beispiel Das Gen für den Rezeptor des epithelialen Wachstumsfaktors her2/neu ist bei etwa 1/3 aller Mammakarzinome amplifiziert. Dadurch wird der entsprechende Rezeptor in den Tumorzellen vermehrt gebildet, was diesen zu einem Wachstumsvorteil verhilft.
Reparaturmechanismen Mutationen sind sehr häufig. Jeden Tag kommt es bei jedem Menschen zu einer Vielzahl von Mutationen, ohne dass daraus Krebs entsteht. Die Zellen besitzen ausgeklügelte Programme, die es ihnen erlauben, Mutationen zu erkennen und zu reparieren. Die DNA-Reparaturenzyme, die diese Aufgabe übernehmen, können allerdings nur
Nur wenn alle 3 Verteidigungslinien versagen, kann sich ein Tumor entwickeln.
15 1.3 · Tumorgenetik
1.3.3 Mutationen von Onkogenen
und Suppressorgenen Zellwachstum, Zellteilung und Zelltod sind für das Überleben des Organismus überaus wichtige Funktionen und deshalb strikt reguliert und kontrolliert. Eine Vielzahl von Genen steuert diese komplexen Kontroll- und Regulationsprogramme, die wir teilweise bereits in 7 Kap. 1.2.1 und 1.2.2 kennengelernt haben. Dabei nehmen 2 Gruppen von Genen – bzw. die von ihnen kodierten Eiweiße – wichtige Rollen ein: Tumorsuppressorgene. (lat. supprimere: unterdrücken)
Diese Gene wirken hemmend auf den Zellzyklus. Ihre Aktivierung führt zu Wachstumsstopp und kann den Zelltod (Apoptose) einleiten. Onkogene. Onkogene führen die Zellen durch den Zellzyklus, sie stimulieren die Zellteilung. Zwei Bemerkungen zur Terminologie: 4 In der wissenschaftlichen Literatur werden die »normalen« (nicht mutierten) Onkogene oft als Proto-Onkogene bezeichnet. Die Bezeichnung Onkogen wird dann für das mutierte (oder auch das amplifizierte) Gen reserviert. Hier verwenden wir den Begriff Onkogen für das normale und das mutierte Gen. 4 Wie schon in 7 Kap. 1.2.2 vermerkt, gilt auch hier (leider), dass mit dem Begriff »Onkogen« bzw. »Tumorsuppressorgen« sowohl das Gen wie sein Produkt bezeichnet werden kann.
. Abb. 1.10. Funktion von p53. a Die DNA einer Zelle ist durch UVStrahlung beschädigt worden. Die Konzentration des Proteines p53 im Zellkern nimmt zu. Dadurch wird die Zelle in der G1-Phase des Teilungszyklus angehalten, sodass der DNA-Defekt repariert werden kann. Ist eine Reparatur nicht möglich, wird die Zelle der Apoptose zugeführt. b p53 ist aufgrund einer Mutation defekt. Der Zellzyklus
! Tumorsuppressorgene und Onkogene sind in jeder normalen Zelle während des Zellzyklus aktiviert. Mutationen in diesen Genen spielen bei der Krebsentstehung eine wichtige Rolle.
Onkogene stimulieren die Zellteilung. Entsprechend finden sich in Tumorzellen Mutationen, die zu einer Überfunktion des Gens oder des Genproduktes führen. Man spricht von Gain-of-function-Mutationen (engl. »gain«: Gewinn). Tumorsuppressorgene hemmen die Zellteilung und damit die Entwicklung von Krebs. Entsprechend finden sich in Tumorzellen Mutationen, die zu einem Funktionsverlust dieser Gene führen, sog. Loss-of-function-Mutationen (engl. »loss«: Verlust). Bei den Gain-of-function-Mutationen von Onkogenen handelt es sich meist um Amplifikationen oder Translokationen; bei den Loss-of-function-Mutationen von Supressorgenen dagegen um Deletionen. Mutationen von Onkogenen, Tumorsuppressorgenen und DNA-Reparaturgenen bilden die ersten Schritte bei der Entwicklung einer normalen Zelle zu einer Krebszelle. Mit fortschreitendem Tumorwachstum lassen sich im Genom der Tumorzellen immer zahlreichere Mutationen feststellen (7 Kap. 1.3.5). Am häufigsten finden sich Mutationen im Tumorsuppressorgen p53, dem »Wächter des Genoms« (7 Kap. 1.2.1): Es zeigt bei etwa der Hälfte aller bösartigen Tumoren Mutationen (. Abb. 1.10). Außer durch Mutationen können Gene auch durch epigenetische Veränderungen (7 Kap. 1.3.2) dauernd inaktiviert
wird bei einer DNA-Schädigung nicht angehalten. Die Zelle stirbt apoptotisch ab oder teilt sich, wobei die DNA-Schädigung an die Tochterzellen weitergegeben wird. Eine Anreicherung solcher DNASchäden führt zu maligner Entartung der Zelle. (Nach Karp et al. 2005)
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16 Kapitel 1 · Entstehung und Biologie bösartiger Tumoren
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. Tab. 1.3. Genmutationen in malignen Tumoren (Auswahl)
Gen
Funktion
Onkogene (Gain-of-Function-Mutationen) Gene für Wachstumsfaktoren oder Rezeptoren
erb-B2
4 Andere Bezeichnungen: her-2 oder neu 4 Kodiert den Rezeptor für einen epithlialen Wachstumsfaktor 4 Überexprimiert bei gewissen Mammakarzinomen (7 Kap. 45.1) u. a. Malignomen
Gene für Proteine der Signalübermittlung im Zytoplasma
K-ras
4 Beteiligt bei verschiedenen Karzinomen, z. B. Lungen-, Ovar- und Dickdarmkarzinomen 4 Zuerst in Rattensarkomen nachgewiesen
Gene für Transkriptionsfaktoren im Zellkern
Myc, Fos
4 Kodieren Eiweiße, die den Zellzyklus auslösen 4 Bei vielen malignen Tumoren durch Mutation aktiviert
Gene für Zykline
Zyklin D, Zyklin E
4 Führen die Zelle durch den Zellzyklus 4 Bei vielen Tumoren durch Mutation aktiviert
Gene für Faktoren, die die Apoptose regulieren
Bcl-2
4 Kodiert ein Eiweiß, das die Apoptose blockiert (7 Kap. 1.2.1) 4 Überexprimiert bei follikulären Lymphomen [gehören zu den B–Zell (cell)-Lymphomen] und bei anderen Tumoren
Suppressorgene (Loss-of-Function-Mutationen) p53
4 Kodiert das Eiweiß p53 (7 Kap. 1.2.1), ein für die Kontrolle des Zellzyklus wichtiges Protein 4 Bei vielen malignen Tumoren mutiert und inaktiviert
RB
4 Kodiert das Retinoblastomeiweiß, das den Zellzyklus kontrolliert 4 Beteiligt beim Retinoblastom (einem malignen Tumor des Auges) und bei vielen anderen Malignomen
p14, p16
4 Kodieren für die zyklinabhängige Kinasen p14 bzw. p16; diese hemmen ein Zyklin 4 Bei vielen malignen Tumoren inaktiviert
APC
4 Kodiert ein Eiweiß, das die Proliferation der Dickdarmschleimhaut reguliert → bei familiärer Polypenbildung im Dickdarm mutiert und inaktiviert mit der Folge gesteigerter Proliferation (adenomatöse Polyposis coli) 4 Bei Dickdarm- und Magenkrebs beteiligt
DNA-Reparaturgene (Loss-of-Function-Mutationen) MSH2
4 Kodiert ein Enzym, das bestimmte DNA-Schäden repariert 4 Bei hereditären (erblichen), nicht polypösen kolorektalen Karzinomen (HNPCC) mutiert und inaktiviert
BRCA-1, BRCA-2
4 Kodieren Eiweiße, die u. a. DNA-Schäden reparieren 4 Beim familiären Mammakarzinom (breast cancer) oft mutiert und inaktiviert; Mutationen auch bei anderen Tumoren
werden. Dies kann zur Tumorentstehung beitragen, wenn die epigenetische Deaktivierung beispielsweise Tumorsuppressorgene betrifft. Neue tumorwirksame Medikamente (z. B. das bei gewissen Leukämien eingesetzte Decitabine; 7 Kap. 9.2.2), wirken demethylierend, d. h. sie beheben den epigenetischen Defekt der Hypermethylierung. . Tab. 1.3 zeigt eine Auswahl von häufigen, in Tumorzellen nachweisbaren Mutationen.
Nicht in jedem Tumor sind die gleichen Mutationen zu finden, allerdings sind gewisse Mutationen für bestimmte Tumorarten typisch. . Tab. 1.4 zeigt das Vorkommen von Mutationen im p53- und ras- Gen bei verschiedenen Tumoren.
17 1.3 · Tumorgenetik
. Tab. 1.4. Prozentuale Häufigkeit von Mutationen des p53 und ras-Gens in menschlichen Tumoren
Tumor
Ras
p53
Pankreas
90%
40%
Schilddrüse
60%
10%
Dickdarm
45%
50%
Lunge
35%
40%
Blase
10%
35%
Niere
10%
15%
[Nach Daten aus Weinberg R (2007) The Biology of Cancer. Garland Science, New York]
1.3.4 Genetische Instabilität Genetische Instabilität ist eine wesentliche Eigenschaft der Krebszelle, die nicht nur für die Entstehung, sondern auch für das Fortschreiten des neoplastischen Wachstums verantwortlich gemacht wird. Definition Wir verstehen unter genetischer Instabilität die Anfälligkeit von Tumorzellen, weitere Mutationen, sowohl Punktmutationen als auch Deletionen, Translokationen und Amplifikationen, zu erwerben.
Wie bereits ausgeführt, sind Tumoren dadurch charakterisiert, dass sie Mutationen in Genen tragen, die wesentlich für Zellzyklusregulation, Apoptoseregulation und DNA-Reparatur sind. Bei Mutationen solcher Kontrolloder Reparaturgene treten bei jeder Zellteilung wesentlich mehr Fehler auf, als das bei gesunden Körperzellen der Fall ist. Manifestationen der genetischen Instabilität von Tumorzellen lassen sich sowohl auf chromosomaler als auch auf DNA-Ebene nachweisen. Auf chromosomaler Ebene führt eine Störung der Chromosomenverteilung im Rahmen der Zellteilung bei den Tochterzellen zur Aneuploidie. Darunter verstehen wir eine Mutation, bei der einzelne Chromosomen zusätzlich vorhanden sind oder fehlen. Dies führt dazu, dass in Tumorzellen häufig nicht der normale Chromosomensatz von 46 Chromosomen vorliegt. Diese Aneuploidie wird ihrerseits wieder für eine gesteigerte Mutationsanfälligkeit der aneuploiden Zellen verantwortlich gemacht. Diese chromosomale Instabilität stellt die Hauptform der genetischen Instabilität bei malignen Tumoren des Menschen dar und lässt sich bei der Mehrzahl der malignen Tumoren nachweisen. Die dieser
Form der genetischen Instabilität zugrunde liegenden Mechanismen sind bislang noch weitgehend unbekannt. Eine zentrale Rolle sollen jedoch sog. Mitosespindel-Checkpoint-Gene spielen (7 Kap. 1.2.1), die während der Zellteilung die Anlagerung der Chromosomen an die Mitosespindel und die korrekte Verteilung auf die Tochterzellen kontrollieren. Beim Menschen konnten bislang 5 verschiedene Checkpoint-Gene charakterisiert werden. Untersuchungen an Zellkulturen von Dickdarm- und Lungenkarzinomen zeigten einen Zusammenhang zwischen Mutationen von Checkpoint-Genen und dem Auftreten von Aneuploidie.
Auf der DNA-Ebene ist neben Punktmutationen und Veränderungen des Methylierungsstatus der DNA auch das Phänomen der Mikrosatelliteninstabilität (MSI) zu erwähnen. Dabei kommt es gehäuft zu Mutationen in zumeist nicht für Proteine kodierenden Abschnitten des Genoms, den sog. Mikrosatelliten. Die MSI wurde zunächst bei bestimmten vererbten Karzinomen (hereditäre nicht polyposisassoziierte kolorektale Karzinome; HNPCC) beschrieben. Ihr liegen Mutationen in bestimmten DNA-Reparaturenzymen, den sog. Mismatchrepair-Genen zugrunde. Während bei den hereditären Tumoren in ca. 90% der Fälle eine MSI nachweisbar ist, soll bei diesen Tumoren eine Aneuploidie eher selten vorliegen. Im Gegensatz dazu ist die MSI bei sporadischen Karzinomen nur in ca. 15% der Fälle nachweisbar. Vor diesem Hintergrund weisen neuere Untersuchungen auf unterschiedliche Wege der Karzinomentstehung bei hereditären und sporadischen Karzinomen hin.
Aufgrund der genetischen Instabilität bestehen solide Tumoren nicht aus genetisch identischen Zellen. . Abb. 1.11 zeigt schematisch, wie im Verlauf von 3 Mutationen ein Tumor mit unterschiedlichen (heterogenen) Zellpopulationen entsteht. ! Die genetische Instabilität bewirkt, dass die Zellen eines Tumors äußerst heterogen sind.
Dies hat große Bedeutung für die Therapie: Wir können nicht davon ausgehen, dass die Gesamtheit aller Zellen eines Tumors in gleichem Maße auf eine Behandlung anspricht. Typischerweise wird ein Teil der Tumorzellen ansprechen, d. h. in Apoptose gehen und absterben, ein Teil dagegen ist resistent, und diese Zellen können weiter proliferieren. Sie bestimmen dann das Verhalten des Tumors. Wir müssen uns darüber klar sein, dass alle Systemtherapien (Chemotherapie, Hormone, Tyrosinkinasehemmer u. a.) zu einer Selektion resistenter Tumorzellen führen können (7 Kap. 9.9).
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18 Kapitel 1 · Entstehung und Biologie bösartiger Tumoren
werden (sog. Adenom-Karzinom-Sequenz): Das Dickdarmkarzinom entwickelt sich über gutartige Vorstufen, die tubulären Adenome (gutartige Polypen) und Adenome mit schweren Atypien hin zu einem invasiven Karzinom (. Abb. 1.12). Es ist anzunehmen, dass diese »Sequenz« nicht in allen Fällen eingehalten wird. So bleiben einige Tumoren möglicherweise auf der Stufe eines gutartigen Polypen »stehen«, während andere sich viel rascher zu einem malignen Tumor entwickeln können. Die Schritte der Karzinomentstehung sind durch mehrere, charakteristische Mutationen von wachstumsregulierenden Genen definiert. Typischerweise überwiegt dabei die Zahl der inaktivierten Tumorsuppressorgene deutlich die Zahl der aktivierten Onkogene.
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! Wir kennen heute bei vielen Tumorerkrankungen die wesentlichen genetischen Veränderungen, die für die Tumorentstehung verantwortlich sind.
Zeitdauer von den ersten Mutationen bis zum klinisch manifesten Tumor Wie bereits erwähnt, ist die Tumorentstehung ein Mehrschrittprozess, bei dem mehrere »kritische«, also entscheidende Mutationen auftreten müssen, bevor eine Zelle maligne wird. Verschiedene Beobachtungen sprechen dafür, dass es in der Regel viele Jahre bis Jahrzehnte dauert, bis aus der ersten Mutation in einer Zelle ein manifester maligner Tumor entsteht. Beispiel
. Abb. 1.11. Im Verlauf seiner Entwicklung finden in den Zellen eines Tumors mehrere Mutationen statt. Ein Tumor besteht deshalb aus genetisch unterschiedlichen Zellen mit kumulierenden Genveränderungen
1.3.5 Entwicklung maligner Tumoren
als Mehrschrittprozess Die Entstehung maligner Tumoren geschieht in einem Mehrschrittprozess, wobei jeder Schritt hin zur malignen Zelle einer weiteren Veränderung des Erbgutes (Mutation) entspricht. Dabei durchlaufen Zellen verschiedene prämaligne Stadien und erwerben dabei weitere Mutationen, bis schließlich eine Zelle mit allen malignen Eigenschaften entsteht. Bei einigen Tumoren wie etwa dem Dickdarmkarzinom sind die einzelnen Schritte der Tumorentstehung bereits gut bekannt, und die genetischen Veränderungen (Mutationen), die für die prämalignen Vorstufen charakteristisch sind, konnten ebenfalls weitgehend aufgeklärt
Durch Koloskopie (Dickdarmspiegelung) können gutartige Kolonadenome entdeckt und entfernt werden. Durch Wiederholung der Untersuchung und erneutes Abtragen allfälliger Adenome kann das Auftreten eines Dickdarmkarzinoms, d. h. die Umwandlung eines Adenoms in ein Karzinom, bei den meisten Patienten verhütet werden. Es genügt dazu, die Untersuchung in Abständen von mehreren Jahren zu wiederholen. Beim Gebärmutterhalskrebs dauert es in der Regel Jahrzehnte, bis nach der auslösenden Infektion mit bestimmten humanen Papillomaviren (v. a. HPV 16 und 18; 7 Kap. 3.4.2) über mehrere prämaligne Vorstufen ein Karzinom entsteht. Aus dem Vorhergehenden ist auch zu verstehen, warum längst nicht jede HPV-Infektion zu einem Karzinom führt: Die Mehrzahl der HPV-Infekte heilt spontan ab, bevor die Mutationskaskade in Gang kommt.
Bei sehr aggressiven Erkrankungen, wie etwa den akuten Leukämien, kann der Zeitraum zwischen dem Auftreten der kritischen Mutationen in einer Zelle und dem Ausbruch der Erkrankung aber auch wesentlich kürzer sein und im Bereich von einigen Monaten liegen.
19 1.4 · Ursachen maligner Entartung
. Abb. 1.12. Genetische Veränderungen bei der Entwicklung eines Dickdarmkarzinoms: Ein Dickdarmkarzinom entwickelt sich aus der normalen Schleimhaut über die sog. Adenom-Karzinom-Sequenz. Eine erste Mutation findet im mcc-Gen statt (»mutated in colon carcinoma«). Es folgen durch Punktmutationen oder Deletionen weitere Mutationen, u. a. in den Genen k-ras (. Abb. 9.14), dcc (»deleted in
1.4
colorectal carcinomas«) und p53. Die Akkumulation dieser und anderer genetischer Veränderungen führt über einen Zeitraum von vielen Jahren vom Adenom zum Karzinom. In den Zellen kolorektaler Karzinome können über 10 genetische Veränderungen nachgewiesen werden. (Löffler et al. 2007)
Ursachen maligner Entartung
Wir haben gesehen, dass Mutationen eine zentrale Rolle bei der Entstehung maligner Tumoren spielen. . Abb. 1.13 zeigt in einer schematischen Übersicht, wie Mutationen zu Krebs führen können. Wie aber kommt es zu solchen Mutationen? Die Ursachen sind vielfältig: Sie können angeboren sein oder im Lauf des Lebens erworben werden; sie entstehen spontan als Fehler bei der Zellteilung oder durch innere und äußere Einflüsse. Im Folgenden sollen mögliche Ursachen nur kurz angesprochen werden. Detaillierter werden sie in 7 Kap. 3 diskutiert.
1.4.1 Familiäre (vererbte) Krebskrank-
Typische Merkmale von familiären Krebskrankheiten 5 Der Tumor tritt oft in einem ungewöhnlich frühen Alter auf (z. B. Mammakarzinom bei einer 20-jährigen Frau). 5 Der Tumor tritt oft doppelseitig auf (z. B. beidseitiges Ovarialkarzinom). 5 Es treten oft beim gleichen Patienten verschiedene Primärtumoren auf (z. B. Dickdarm- und Magenkarzinom). 5 Seltene Tumorarten an ungewöhnlichen Lokalisationen. 5 In der Verwandtschaft finden sich Angehörige mit der gleichen oder anderen Krebskrankheiten.
heiten Schon lange ist bekannt, dass in einigen Familien Krebserkrankungen gehäuft auftreten können. Seit einigen Jahren sind auch einige der dafür verantwortlichen Keimzellmutationen (7 Kap. 1.3.2) bekannt. Es handelt sich dabei fast ausschließlich um Mutationen in Tumorsuppressorgenen. Die Entstehung von Krebs verläuft in einem Mehrschrittprozess (7 Kap. 1.3.5) und verlangt mehrere Mutationen in verschiedenen Genen einer Zelle. Bei familiären Krebskrankheiten wird lediglich die erste dieser Mutationen vererbt. ! Es wird also streng genommen nicht die Krebskrankheit vererbt, sondern nur der erste Schritt auf dem Weg dazu.
Einige familiäre Krebskrankheiten seien hier etwas näher beschrieben:
Hereditäres nicht polypöses Kolonkarzinom (HNPCC) Etwa 5–10% aller Kolonkarzinome liegt diese familiäre Form zugrunde. Verantwortlich sind verschiedene Mutationen von Genen, die alle an der Reparatur von Gendefekten beteiligt sind. Träger dieser Gendefekte haben ein Risiko von 80%, während ihres Lebens ein Kolonkarzinom zu entwickeln. Das durchschnittliche Alter bei der Diagnose des Kolonkarzinoms beträgt lediglich 45 Jahre, das Karzinom ist meistens rechtsseitig (im Colon ascendens) lokalisiert. Häufig treten bei diesen Patienten auch andere Karzinome auf, besonders Karzinome von Endometrium, Ovar, Magen und Pankreas.
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20 Kapitel 1 · Entstehung und Biologie bösartiger Tumoren
1
. Abb. 1.13. Mutation und die Entstehung maligner Tumoren
Familiäre adenomatöse Polypose (FAP)
Familiäres Mammakarzinom
Dies ist eine andere, seltenere Form von familiärem Kolonkarzinom. Dabei treten schon in jugendlichem Alter zahlreiche Dickdarmpolypen auf. Diese Polypen sind noch nicht maligne, bis zum Alter von 50 Jahren entwickeln sich daraus jedoch mit einer Wahrscheinlichkeit von beinahe 100% ein oder mehrere Karzinome. Gleichzeitig besteht ein erhöhtes Risiko für das Auftreten von malignen Tumoren an anderen Orten des Magen-Darm-Traktes und im Gehirn. Beim mutierten Gen handelt es sich um das APC-Gen, ein Tumorsuppressorgen, das die Synthese von Catenin reguliert. Catenin ist Bestandteil eines Signalübermittlungswegs und zusätzlich an der Stabilisierung des Zellskeletts beteiligt.
Als erste für die Entstehung von familiärem Brustkrebs verantwortliche Mutationen wurden die sog. »Brustkrebsgene« BRCA1 und BRCA2 entdeckt (»breast cancer«). Unterdessen konnten bereits mehrere Hundert verschiedene Mutationen (Punktmutationen, Deletionen u. a.) in diesen beiden Genen nachgewiesen werden. BRCA1 und BRCA2 kontrollieren die Stabilität der DNA während des Zellzyklus und wirken damit im weiteren Sinne als Reparaturgene. Es ist verständlich, dass Mutationen in diesen Genen ihrerseits zu einer erhöhten Mutationsrate und damit zu Krebs führen können. Das Risiko für Frauen mit einer BRCA1-Mutation, an Brustkrebs zu erkranken, beträgt
21 1.5 · Lokales Tumorwachstum und Metastasierung
4 bis zum Alter von 30 Jahren etwa 3%, 4 bis zum Alter von 40 Jahren etwa 20%, 4 bis zum Alter von 70 Jahren etwa 85%. Gleichzeitig ist auch das Risiko für das Auftreten von Ovarialkarzinomen deutlich erhöht, ebenso – aber geringer – das Risiko für Kolonkarzinome und für Prostatakarzinom. Bei Männern ist eigenartigerweise das Risiko für das Auftreten eines Mammakarzinoms nur bei BRCA2-Mutationen erhöht. ! Mutationen von BRCA1/2 sind für 10 andere Keimbahnmutationen bekannt, die ebenfalls mit familiären Mammakarzinomen verknüpft sind. Die meisten dieser anderen Mutationen haben eine sehr geringe Penetranz, d. h. das Risiko ihrer Trägerinnen, an einem Mammakarzinom zu erkranken, ist gering (allerdings höher als bei Frauen ohne die entsprechende Mutation). Einige Forscher gehen davon aus, dass möglicherweise bei fast der Hälfte aller Mammakarzinome solche Keimzellmutationen eine gewisse Rolle spielen. Weitere Informationen zu familiären Krebskrankheiten finden sich in 7 Kap. 3.4. Neue Methoden der Gentechnologie erlauben heute die Diagnose von bekannten, mit einem erhöhten Krebsrisiko verbundenen Mutationen. Dies ermöglicht es, bei Angehörigen von Risikofamilien festzustellen, ob sie die Mutation – und damit das erhöhte Risiko für die Entwicklung der entsprechenden Tumorkrankheit – geerbt haben. Mit diesen Untersuchungen verbundene Fragen werden in 7 Kap. 5.8.2 diskutiert.
1.4.2 Erworbene Mutationen
»Umweltfaktoren« Zahlreiche Faktoren in unserer Umwelt – wobei Umwelt hier im weitesten Sinn als unsere gesamte Umgebung verstanden wird – können das Erbgut schädigen, d. h. Mutationen auslösen. Zu diesen Faktoren zählen beispielsweise 4 chemische Substanzen (Tabakrauch, Alkohol, Medikamente, Asbest), 4 ionisierende Strahlen (Radon, Röntgenstrahlen), 4 Krankheitserreger (Viren, Bakterien, Parasiten). Bei einigen dieser Faktoren ist recht gut bekannt, wie sie eine gesunde Zelle in eine Krebszelle umwandeln können: Röntgenstrahlen verursachen beispielsweise Brüche des DNA-Doppelstrangs, Chemikalien können direkt mit der DNA reagieren und sie dauerhaft verändern. Beides führt zu Mutationen. Komplizierter ist es bei Infektionen: Dort sind verschiedene Mechanismen wirksam.
Beispiel Ein Beispiel liefert die Infektion mit humanen Papillomaviren (HPV), die durch Geschlechtsverkehr übertragen wird und zu einer chronischen HPV-Infektion der Gebärmutterhalszellen führen kann. Dabei wird DNA des Virus in die DNA von Gebärmutterhalszellen eingebaut. Die in das menschliche Genom integrierte virale DNA kodiert für Eiweiße, die die Funktion der Tumorsuppressorgene p53 und Rb im Zellkern hemmen. Wie wir gesehen haben, sind p53 und Rb für die Kontrolle des Zellzyklus von großer Bedeutung. Die Expression der viralen Gene führt somit zur Umwandlung der infizierten Zellen in Karzinomzellen.
Für einige chronische bakterielle Infekte ist ebenfalls ein Zusammenhang mit bestimmten Karzinomen gesichert. So erhöht eine chronische Infektion der Magenschleimhaut mit dem Bakterium Helicobacter pylori das Risiko eines Magenkarzinoms. Hier führt wahrscheinlich das Bakterium indirekt über die chronische Entzündung zur Karzinomentstehung: Auf welchem Wege Entzündungen zur Karzinomentstehung beitragen, ist aber noch weitgehend unklar. Wahrscheinlich spielen dabei die von den Entzündungszellen gebildeten Zytokine (7 Kap. 1.6.1) eine wichtige Rolle. Auch bestimmte Ernährungsgewohnheiten sind mit erhöhtem oder erniedrigtem Krebsrisiko verbunden (7 Kap. 3.4.2). Es ist auch hier größtenteils unbekannt, auf welchen molekularen Mechanismen dies beruhen könnte.
»Innere Faktoren« Neben den genannten »Umweltfaktoren« spielen auch körpereigene Faktoren bei der Tumorentstehung eine Rolle. Körpereigene Hormone (Östrogene) sind beispielsweise mitbeiteiligt an der Entstehung von Brustkrebs. Hormone verursachen allerdings keine Mutationen. Sie stimulieren jedoch die Zellteilung in hormonabhängigen Geweben (wie z. B. der Brustdrüse) und können so in einem komplexen Zusammenspiel mit anderen Faktoren (z. B. mutierten Rezeptoren von Wachstumsfaktoren) zur Krebsentstehung beitragen.
1.5
Lokales Tumorwachstum und Metastasierung
Das Größenwachstum eines Tumors wird im Wesentlichen durch 2 Faktoren bestimmt: 4 einerseits durch die Zunahme der Zellzahl durch Zellteilung, 4 anderseits durch den gleichzeitigen Zelluntergang aufgrund von Apoptose oder Nekrose.
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22 Kapitel 1 · Entstehung und Biologie bösartiger Tumoren
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Zellteilungsrate. Teilen sich die Zellen häufig, so wächst der Tumor schneller und verursacht früher Symptome als ein Tumor mit einer niedrigen Zellteilungsrate. Als Maß für die Zellteilung gilt der sog. Proliferationsindex. Er besagt, welcher Anteil der Tumorzellen sich in Zellteilung befindet. Beispiel Schnell wachsende Tumoren haben einen hohen Proliferationsindex. Bei einigen sehr schnell wachsenden Tumoren wie etwa dem kleinzelligen Bronchialkarzinom oder den akuten Leukämien kann dieser Proliferationsindex 100% betragen, d. h. alle Zellen befinden sich in Zellteilung. Auf der anderen Seite gibt es Tumoren, die ausgesprochen langsam wachsen und eine Proliferationsrate von wenigen Prozent (1–5%) aufweisen, wie beispielsweise gut differenzierte Prostatakarzinome. Diese Tumoren wachsen dann langsam und nehmen über viele Jahre kaum messbar an Größe zu.
Zelluntergang. Die Proliferationsrate bestimmt das Tu-
morwachstum aber nicht allein. Generell benötigen sich vermehrende Zellen eine genügende Energie- und Sauerstoffversorgung. Eine ausreichende Gefäßversorgung ist demnach für wachsende Tumoren essenziell wichtig. Bei schnell proliferierenden Tumoren hinkt die Blutgefäßversorgung diesem schnellen Wachstum häufig hinterher, deshalb sterben die schlecht versorgten Areale dieser Tumoren ab und werden nekrotisch. Dies erklärt, warum wir häufig im Zentrum von schnell wachsenden Tumoren abgestorbene Areale, die zentralen Nekrosen beobachten. Nicht zuletzt hängt das Tumorwachstum auch von der Interaktion mit dem Immunsystem des Wirtsorganismus ab (7 Kap. 1.6). ! Aus dem Verhältnis von Zellteilung und Zelluntergang resultiert schließlich die Tumorverdopplungszeit, d. h. die Zeit, die ein maligner Tumor braucht, um sein Volumen zu verdoppeln. Diese Zeit kann zwischen 2 und 600 Tagen liegen!
1.5.1 Regulation des Tumorwachstums Das Tumorwachstum wird – wie das Wachstum normaler Zellen – durch verschiedene Wachstumsfaktoren reguliert, die über Rezeptoren auf oder in den Tumorzellen Proliferationsreize vermitteln. Ein komplexes Netz aus Wachstumsfaktoren bestimmt, ob eine Zelle sich teilt oder ob beispielsweise Blut- und Lymphgefäße proliferieren können, für Tumoren – wie wir noch sehen werden – eine wesentliche Vorraussetzung, um ausreichend mit Energie und Sauerstoff versorgt zu werden.
Viele Tumoren bilden selbst Wachstumsfaktoren, die »ihre« Zellen zum Wachstum und zur Zellteilung anregen (z. B. EGF) oder die zur Einsprossung von Gefäßen in den Tumor führen (z. B. VEGF). Ferner ist die Zahl der Wachstumsfaktorrezeptoren pro Zelle in vielen Tumoren deutlich erhöht, wodurch die betreffende Zelle einen Wachstumsvorteil gewinnt. Infolge einer Mutation können Wachstumsfaktorrezeptoren auch dauerhaft aktiviert sein – die rezeptorabhängige Signalkette ist dann ständig aktiv, auch ohne Bindung eines Wachstumsfaktors an den Rezeptor (konstitutive Aktivierung). Moderne onkologische Therapien machen sich diese Abhängigkeit der Tumorzellen von Wachstumsfaktoren zunutze. Monoklonale Antikörper, die VEGF binden, oder Antikörper, die den EGF-Rezeptor blockieren, haben bereits Einzug in die Therapie von verschiedenen Tumorerkrankungen gehalten. Sogenannte Tyrosinkinasehemmer, kleine Moleküle, die spezifisch rezeptorabhängige Signalwege in Zellen blockieren, werden heute ebenfalls bei vielen Tumorerkrankungen therapeutisch eingesetzt. Man fasst diese Medikamente unter dem Begriff »targeted therapies« (engl. »target«: Ziel) – deutsch »gezielte Therapien« – zusammen (7 Kap. 9.3).
1.5.2 Tumorangiogenese Zellen können nicht überleben, wenn sie >0,2 mm von einem Gefäß entfernt sind. Tumoren mit einem Volumen von >2–3 mm3 (entsprechend etwa einer kleinen Erbse) sind deshalb für die Versorgung mit Sauerstoff und Nährstoffen darauf angewiesen, Anschluss an ein Blutgefäß zu finden und eigene Blutgefäße zu bilden – sonst führt Sauerstoffmangel zu Apoptose oder Nekrose der Tumorzellen. Die Bildung neuer Blutgefäße im Tumor, die sog. Tumorangiogenese (. Abb. 1.14), ist deshalb ein kritischer, wachstumsbestimmender Faktor in der Entwicklung maligner Tumoren. An der Angiogenese ist neben den Tumorzellen und den Gefäßen auch das Stützgewebe des Tumors, das sog. Tumorstroma beteiligt. Teilweise wirken beim Vorwachsen der neuen Gefäße in das Tumorgewebe ähnliche Mechanismen wie bei der im Folgenden beschriebenen Invasion von Tumorzellen in benachbartes Gewebe. Tumorzellen sezernieren – neben mehreren anderen angiogenetischen Faktoren – den vaskulären endothelialen Wachstumsfaktor (VEGF). Dieser wird an seinen Rezeptor auf den Endothelzellen benachbarter Gefäße gebunden (Endothelzellen bilden die innere Schicht von Gefäßen). Tumorzellen und VEGF-stimulierte Endothelzellen geben auch sog. Matrixmetalloproteinasen (MMP) in ihre Umgebung ab. Die 6
23 1.5 · Lokales Tumorwachstum und Metastasierung
. Abb. 1.14. Angiogenese und Tumorwachstum. In Schritt 1 besteht der Tumor erst aus einer kleinen Zellansammlung. Ohne eigene Gefäßversorgung kann der Tumor nicht wachsen. In Schritt 2 produziert der Tumor Wachstumsfaktoren, die das Gefäßwachstum sti-
mulieren, z. B. den vaskulären endothelialen Wachstumsfaktor (VEGF). Neue Gefäße beginnen, in den Tumor einzusprossen. In Schritt 3 ist der Tumor mit Gefäßen durchsetzt und kann nun weiterwachsen. (Karp et al. 2005)
MMP lockern die Matrix (das Gewebegerüst) um das Gefäß und erleichtern dadurch das Einsprießen neuer Kapillaren, gleichzeitig stimulieren sie auch das Gefäßwachstum.
die das Gewebegerüst (die sog. extrazelluläre Matrix), das hauptsächlich aus Kollagen besteht, auflösen können. Die Migration (Wanderung) aus dem ursprünglichen Zellverband wird durch Wachstumsfaktoren (z. B. EGF) ausgelöst und durch Eiweiße des Zellskeletts (Aktinfasern) ermöglicht, die sich ähnlich wie Muskelfasern kontrahieren können. Ähnliche Vorgänge spielen auch bei der normalen Wundheilung eine Rolle. Migration und Infiltration werden durch die Bildung von Integrinen auf der Oberfläche der Tumorzelle unterstützt. Dies sind spezielle Proteine, die die Anheftung an Matrixstrukturen erleichtern.
Die Angiogenese ist für die Entwicklung maligner Tumoren in zweierlei Hinsicht von Bedeutung: Einmal führt sie den Tumorzellen die für ihren Stoffwechsel nötigen Substanzen zu, sodass sie überleben und sich vermehren können. Gleichzeitig bietet sie Tumorzellen durch den Zugang zum Gefäßsystem die Möglichkeit, sich im ganzen Körper zu verbreiten und Fernmetastasen zu bilden.
1.5.3 Infiltration und Invasion Der Prozess der Infiltration und Invasion eines Tumors in das umgebende Gewebe erfolgt in mehreren Schritten: 4 Ablösung einzelner Tumorzellen aus dem Tumorzellverbund (Lösen der Zell-Zell-Kontakte), 4 Umbau bzw. Auflösung der Gewebematrix, 4 Bindung von Tumorzellen an die Gewebematrix des umgebenden Normalgewebes, 4 Wanderung der Tumorzellen in das umliegende Gewebe. Der Zusammenhalt der Zellen in einem normalen Gewebe wird durch spezialisierte Proteine, sog. Adhäsionsmoleküle, vermittelt. In vielen Tumoren sind solche Adhäsionsmoleküle (z. B. E-Cadherin) mutiert. Das hat zur Folge, dass die Zell-ZellKontakte weniger stabil sind. Die Tumorzellen lösen sich deshalb leichter aus dem Zellverbund. Tumorzellen produzieren ferner Enzyme (Kollagenasen und Matrixmetalloproteinasen), 6
Alle diese Mechanismen ermöglichen es den Tumorzellen, ihren Zellverbund zu verlassen und aktiv in die Umgebung, in andere Organe und in Blut- und Lymphgefäße zu inflitrieren. Sie bieten aber zumindest theoretisch auch Ansatzpunkte für tumorwirksame Medikamente. Erste klinische Studien mit Hemmstoffen von Matrixmetalloproteinasen (MMP) zeigten bis jetzt allerdings wenig Erfolg.
1.5.4 Metastasierung Im Gegensatz zum kontinuierlichen Tumorwachstum in die Umgebung (Infiltration und Invasion) bezeichnet der Begriff Metastasierung die Bildung von Tochtergeschwülsten in entfernten Organen. ! Fernmetastasen sind für das Schicksal der meisten Patienten entscheidend: Nur bei etwa 10% aller Tumorpatienten ist der Primärtumor die direkte Todesursache. 90% der Patienten sterben an den Folgen der Fernmetastasierung.
1
24 Kapitel 1 · Entstehung und Biologie bösartiger Tumoren
1
. Abb. 1.15. Vorgänge bei der hämatogenen Metastasierung. (Nach Cotran et al. 1993)
Aus noch unbekannten Gründen metastasieren einige Tumoren üblicherweise schon sehr früh: Beim Melanom bilden bereits kleine Primärtumoren sehr oft schon Fernmetastasen, während beim Basalzellkarzinom der Haut (Basaliom) auch in lokal fortgeschrittenen Stadien nur selten Fernmetastasen auftreten. Bei vielen bösartigen Tumoren ist eine Metastasierung bereits eingetreten, bevor der Primärtumor entdeckt und behandelt wird. Diese Metastasen sind zum Zeitpunkt der Diagnose des Primärtumors oft noch so klein (sog. Mikrometastasen), dass sie mit keiner der verfügbaren diagnostischen Methoden nachgewiesen werden können. Bei einigen Tumoren, z. B. dem Mammakarzinom, wird deshalb eine adjuvante Therapie (7 Kap. 6.3.1) eingeleitet, falls mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit das Vorliegen solcher Mikrometastasen anzunehmen ist. Die Metastasierung kann über die Lymphgefäße (lymphatische Metastasierung) und/oder die Blutgefäße (hämatogene Metastasierung) erfolgen. Die lymphatische Metastasierung führt in erster Linie zu Ablegern in Lymphkno-
ten. Lymphknotenmetastasen haben v. a. eine prognostische Bedeutung: Sie zeigen an, dass die Tumorzellen die Fähigkeit zur Metastasierung erworben haben und dass möglicherweise bereits hämatogene Fernmetastasen vorliegen. Die Metastasierung geschieht in mehreren Schritten (. Abb. 1.15). Damit eine Tumorzelle diese durchlaufen kann, muss sie – durch Mutationen – die dazu nötigen Eigenschaften erworben haben. 4 Einbrechen der Tumorzellen in Blut- oder Lymphgefäße. Das Einbrechen in die Gefäße ist ein aktiver Prozess und läuft nach ähnlichen Mechanismen ab wie die Infiltration und Invasion. 4 Tumorzellverbände werden über den Blut- und/oder Lymphweg in andere Organe bzw. Lymphknoten transportiert (hämatogene bzw. lymphogene Metastasierung). 4 Die Tumorzellverbände bleiben in der Gefäßendstrombahn hängen. Dabei spielen wiederum Adhäsionsmoleküle wie das oben erwähnte Cadherin eine wichtige
25 1.6 · Immunologische Aspekte
. Tab. 1.5. Typische hämatogene Metastasierungsmuster
Primärtumor
Zielorgan für Metastasen
Prostata
Skelett
Melanom
Leber, Hirn
Dickdarm
Leber
Mamma
Skelett, Leber, Lunge, Hirn
Rolle. Sie erklären die Bevorzugung bestimmter Organe für die Absiedelung. 4 In der neuen Umgebung beginnen diese Tumorzellverbände zu wachsen und durch die Gefäßwand in die Umgebung zu infiltrieren. Für das Wachstum der Metastase ist es nötig, dass das umgebende Gewebe zur Gefäßneubildung aktiviert wird, nur dann kann sie sich zur Makrometastase entwickeln. Gelingt das nicht, geht sie entweder unter oder bleibt – als Mikrometastase – in einem sog. »Ruhezustand«. ! Tumorzellen können über Jahre, manchmal sogar Jahrzehnte, im Körper in einem Ruhezustand verharren und erst nach einem langen Zeitraum wieder aktiv werden und sich vermehren. Dadurch ist erklärbar, dass ein Rückfall viele Jahre nach zunächst erfolgreicher Behandlung auftreten kann.
Öfters ist das beim Mammakarzinom zu beobachten, bei dem selbst >20 Jahre nach Erstbehandlung noch Tumorrezidive beobachtet werden. Wodurch diese »Aktivierung« der Mikrometastasen erfolgt, ist allerdings größtenteils unbekannt. Die hämatogene Absiedlung von Tumorzellverbänden in bestimmten Gefäßgebieten ist nicht allein durch die unterschiedliche Durchblutung der Organe zu erklären: Nieren, Herzmuskel, Skelettmuskulatur und Darmwand sind alles sehr gut durchblutete Organe, Metastasen treten dort aber nur ausnahmsweise auf. Umgekehrt erhält das Skelett einen relativ geringen Anteil der Blutzufuhr, Kno-
chenmetastasen sind aber sehr häufig. Es wird angenommen, dass unterschiedliche Adhäsionsmoleküle für die Ausbildung dieser »Metastasierungsmuster« von Bedeutung sind (. Tab. 1.5). Tumorzellen behalten auch nach der Metastasierung die Eigenschaften des Primärtumors: Histologisch sieht die Lebermetastase eines Mammakarzinoms prinzipiell gleich aus wie der Primärtumor in der Brust. Der Pathologe kann deshalb in der Regel von der Untersuchung einer Metastase auf den Sitz des Primärtumors schließen. Für die medikamentöse Behandlung hat das wichtige Konsequenzen: Sie richtet sich nach dem Primärtumor. Bei einer Patientin mit metastasierendem Mammakarzinom werden Lebermetastasen mit einer mammakarzinomspezifischen Therapie behandelt. Beim primären Leberzellkarzinom oder bei Lebermetastasen eines Dickdarmkarzinoms werden jeweils andere Therapien eingesetzt.
1.6
Immunologische Aspekte
1.6.1 Grundlagen Das Immunsystem ist ein Abwehrsystem des Körpers und schützt ihn vor Viren, Bakterien, Pilzen und anderen krankmachenden Mikroorganismen. Es besteht aus verschiedenen Zellen, v. a. aus den Monozyten, den Makrophagen und den Lymphozyten. Im Gegensatz zu anderen Organen haben diese Zellen keinen festen Kontakt untereinander, sondern zirkulieren zwischen Blutbahn, Lymphsystem und anderen Geweben. Die Zellen des Immunsystems können sich dennoch gegenseitig kontrollieren, indem sie kleinste Mengen von Zytokinen (Botenstoffen) ausscheiden. Da Zytokine die Kommunikation zwischen Lymphozyten und anderen weißen Blutkörperchen (Leukozyten) ermöglichen, werden sie auch Interleukine genannt. In . Tab. 1.6 sind einige Zytokine, die tumorbiologisch von Bedeutung sind, aufgelistet. Neben Zytokinen mit tumorhemmenden Eigenschaften sind auch wachstumsstimulierende Zytokine bekannt.
. Tab. 1.6. Einige wichtige Zytokine
Zytokin
Herkunft
Eigenschaften
Interleukin-2
Aktivierte T-Zellen
4 Aktiviert natürliche Killerzellen 4 Stimuliert B- und T-Zellen
Interleukin-12
Monozyten, Makrophagen, B-Lymphozyten
4 Stimuliert aktivierte T-Lymphozyten und natürliche Killerzellen Führt zur vermehrten Produktion von Interferonen und anderen Zytokinen
Tumornekrosefaktor (TNF)
Makrophagen
4 Zytotoxisch für Tumorzellen
γ-Interferon
Aktivierte T-Zellen
4 Aktiviert Makrophagen
1
26 Kapitel 1 · Entstehung und Biologie bösartiger Tumoren
1
! Symptome wie Tumorkachexie oder Nachtschweiß werden durch Zytokine verursacht (Näheres 7 Kap. 1.7.2).
untergeordnete Rolle, hier scheint die zellvermittelte Immunität im Vordergrund zu stehen.
Die Hauptaufgabe des Immunsystems besteht darin, zwischen »selbst« (Zellen und Eiweiße des eigenen Körpers) und »nicht selbst« bzw. »fremd« (Bakterien, Viren etc.) zu unterscheiden. Die Erkennung von »selbst« und »nicht selbst« erfolgt über Eiweißmoleküle (Antigene) an der Oberfläche der fremden Zelle. Viren, Bakterien, andere Mikroorganismen und – in einem gewissen Ausmaß – auch Tumorzellen besitzen an ihrer Oberfläche solche fremden Eiweiße, die das Immunsystem zur Abwehr anregen. Man unterscheidet zwischen der zellvermittelten und der humoralen Immunabwehr. Bei beiden Formen spielen Lymphozyten eine wichtige Rolle, wobei B-Lymphozyten (B=»bone marrow«, d. h. Reifungsort: Knochenmark) und T-Lymphozyten (T=Thymus, d. h. Reifungsort: Thymus) unterschieden werden. B- und T-Lymphozyten besitzen spezifische Oberflächenrezeptoren, mit denen sie Antigene erkennen können.
Zellvermittelte Immunität
Humorale Abwehr Bei der humoralen Abwehr erkennen die B-Lymphozyten die in den Körper eingedrungenen Krankheitserreger. Die B-Zelle erkennt mit ihren Rezeptoren das als fremd identifizierte Molekül (das sog. Antige n) an der Oberfläche des Erregers und stellt in der Folge Antikörper dagegen her. Antikörper sind Eiweiße, die mit einem Antigen reagieren und es binden. Die Bindung zwischen Antigen und Antikörper (Antigen-Antikörper-Komplex) löst in der Regel weitere Schritte der Immunabwehr gegen ein Fremdeiweiß oder eine Fremdzelle aus, sodass es zur Zerstörung (Lyse) der Zielzelle kommen kann. Daneben werden auch sog. Gedächtniszellen gebildet, die bei einem späteren Kontakt mit dem gleichen Antigen zu einer viel schnelleren Immunantwort führen. Die humorale Abwehr ist v. a. wichtig bei der Abwehr von Bakterien und Viren. Bei der Abwehr von Tumorzellen spielt sie wahrscheinlich eine
. Abb. 1.16a, b. Zytotoxische T-Lymphozyten können über zwei Mechanismen zum Untergang einer Zielzelle führen: a Ein T-Lymphozyt (T) (oben) bindet an eine Zielzelle, z. B. eine Tumorzelle. Durch »giftige« Eiweße des T-Lymphozyten wird die Membran der
Die zellvermittelte Immunität beruht v. a. auf den T-Lymphozyten. T-Zellen sind verantwortlich für die Zerstörung von körperfremdem Gewebe sowie von mit Viren infizierten Körperzellen. Auch die immunologische Abwehr von Tumorzellen erfolgt hauptsächlich über das System der T-Zellen. Wir kennen in diesem sehr komplexen, durch Zytokine gesteuerten System viele verschiedene T-Lymphozyten. Wichtige Vertreter sind: 4 T-Helferzellen: Aktivieren B- und T-Lymphozyten. 4 Regulatorische T-Zellen (auch T-Suppressorzellen genannt): Steuern und unterdrücken die Immunantwort. 4 Zytotoxische T-Lymphozyten (engl. abgekürzt CTL): Letztes Glied in der Kette der zellvermittelten Immunität; sie zerstören die Zielzellen. Zytotoxische T-Lymphozyten reagieren auf spezifische Antigene. Bei der Erkennung dieser Antigene spielen die Moleküle des sog. Histokompatibilitätskomplexes (MHC-Moleküle) an der Oberfläche der Zielzelle eine wichtige Rolle: Sie »präsentieren« Antigene auf der Zelloberfläche.
Die Erkennnung eines Antigens führt zur Bindung des CTL an die Zielzelle und über zwei verschiedene Mechanismen zum Untergang der angegriffenen Zelle: Entweder durch »giftige« Eiweisse (Perforine), die vom CTL ausgeschieden werden und die Zellmembran der Zielzelle auflösen, oder durch Auslösung der Apoptose (. Abb. 1.16).
1.6.2 Immunsystem und maligne Tumoren Die meisten der mutierten Zellen, die jeden Tag im Körper entstehen und aus denen sich ein Tumor entwickeln könnte, gehen entweder aufgrund der Kontrollmechanis-
Zielzelle geschädigt. b Ein Eiweiß auf der Oberfläche des T-Lymphozyten (der Fas-Ligand) bindet an Fas, einen spezifischen Rezeptor auf der Zielzelle. Durch diese Bindung wird der programmierte Zelltod, die Apoptose, ausgelöst. (Nach Hahn et al. 2009)
27 1.7 · Klinische Manifestationen maligner Tumoren
men im Zellzyklus durch Apoptose zugrunde oder werden vom Immunsystem erkannt und abgetötet. Es gibt verschiedene Hinweise darauf, dass im Organismus immunologische Mechanismen gegen maligne Tumoren wirksam sind: 4 In der Umgebung von Tumoren finden sich oft große Ansammlungen von lymphatischen Zellen. Diese Tumoren haben eine günstigere Prognose. 4 Gelegentlich kommt es auch in fortgeschrittenen Stadien zu spontanen Tumorrückbildungen, v. a. bei Melanomen und Nierenzellkarzinomen. Auch in diesen Fällen findet sich in der Umgebung der Tumoren – als Hinweis auf eine Immunreaktion – eine Anhäufung von Lymphozyten und Makrophagen. Bei Patienten mit einer Schwächung des Immunsystems (z. B. durch HIV-Infektion oder immunsupprimierende Behandlung nach Organtransplantation) treten gehäuft maligne Tumoren auf. Dabei handelt es sich allerdings v. a. um Tumoren, bei deren Entstehung Viren beteiligt sind (z. B. maligne Lymphome, Analkarzinom, Leberzellkarzinom, Kaposi-Sarkom u. a.; 7 Kap. 3.4.2). Bei Tumorpatienten, etwa bei Patienten mit kleinzelligem Bronchialkarzinom, finden sich im Blut oft Antikörper gegen bestimmte Antigene, die sich sowohl auf den Tumorzellen wie auf normalen Körperzellen finden. Diese sog. Autoantikörper können schwere neurologische Symptome auslösen (7 Kap. 1.7.2). Die Immunabwehr von Tumorzellen setzt voraus, dass 4 Tumorzellen spezifische Antigene produzieren, 4 Tumorzellen diese Antigene auf ihrer Zelloberfläche präsentieren, 4 Zellen des Immunsystems diese Antigene erkennen und darauf reagieren. Spezifische Tumorantigene sind Moleküle, die nur von Tumorzellen, nicht aber von normalen Körperzellen produziert werden. Dazu gehören beispielsweise die Produkte mutierter Gene, z. B. mutierter Onkogene oder Tyrosinkinasegene. Wahrscheinlich lösen auch Antigene eine Immunantwort aus, die zwar auch in normalen Zellen vorkommen, in Tumorzellen aber überexprimiert (d. h. vermehrt gebildet) werden.
Weshalb aber kann das Immunsystem die Entwicklung maligner Tumoren nicht immer verhindern? ! Tumorzellen entwickeln verschiedene Mechanismen, die es ihnen erlauben, sich der Immunabwehr zu entziehen.
Dazu gehören: 4 der Verlust von tumorspezifischen Antigenen, 4 der Verlust der MHC-Moleküle (7 Kap. 1.6.1) auf der Zelloberfläche, 4 die Bildung von Zytokinen, die die Immunantwort unterdrücken,
4 die Blockierung von Apoptose in Tumorzellen, 4 die Auslösung von Apoptose in Lymphozyten. Trotz der hocheffektiven Mechanismen der Immunabwehr können also Tumorzellen entstehen, die das Immunsystem nicht erkennen und nicht abtöten kann. Dabei kann es allerdings geschehen, dass im Zuge des Erwerbs zusätzlicher Mutationen im wachsenden Tumor die Tumorzellen zwar doch vom Immunsystem erkannt werden, die Abwehr dann aber nicht stark genug ist, den schon großen Tumor zu zerstören.
1.7
Klinische Manifestationen maligner Tumoren
Tumoren verursachen je nach Ursprung und Lokalisation unterschiedliche Symptome. Im Vordergrund stehen in den meisten Fällen Probleme, die durch das lokale Wachstum des Primärtumors oder seiner Metastasen bedingt sind.
1.7.1 Symptome aufgrund des lokalen
Tumorwachstums Dazu gehören etwa 4 Schluckstörungen oder Ileus bei Kompression und Verlegung von Hohlorganen, 4 Ödeme, Thrombosen und Embolien bei Kompression von Blutgefäßen, 4 Schmerzen bei Infiltration von Nervenwurzeln, 4 Blutungen bei Einwachsen in Gefäße etc. Bei vielen Tumorerkrankungen wird die Diagnose erst aufgrund von metastasenbedingten Beschwerden oder Komplikationen gestellt. Knochenmetastasen können Schmerzen verursachen und zu spontanen Frakturen führen (pathologische Frakturen). Metastasen in inneren Organen können die Organfunktion beeinträchtigen und werden dadurch klinisch symptomatisch.
1.7.2 Paraneoplastische Symptome Neben diesen im weitesten Sinn mechanisch bedingten Symptomen treten bei sehr vielen Tumorpatienten Symptome auf, die nicht durch das lokale Tumorwachstum zu erklären sind und als paraneoplastische Symptome bezeichnet werden, z. B.: 4 Fieber (ohne Infekt), 4 Anämie (ohne Blutung), 4 Gewichtsverlust (ohne mechanische Behinderung im Magen-Darm-Trakt).
1
28 Kapitel 1 · Entstehung und Biologie bösartiger Tumoren
1
. Tab. 1.7. Durch Hormone verursachte paraneoplastische Syndrome
Syndrom
Hormon
Symptome
Tumoren
Cushing-Syndrom
ACTH
Schwäche, Striae, Hyperglykämie, Hypertonie
SCLC
SIADH
ADH (antidiuretisches Hormon, Vasopressin)
Hyponatriämie
SCLC, NSCLC, Kopf-/Halstumoren
Hyperkalzämie
Parathormonähnliche Substanzen
Durst, Schwäche, Übelkeit, Verwirrung, Niereninsuffizienz
Mammakarzinom, Myelom, NSCLC u. a.
Gynäkomastie
HCG
Gynäkomastie
Hodentumoren, SCLC, NSCLC
Hypoglykämie
Insulin
Hypoglykämie
Inselzelltumoren des Pankreas
Hypoglykämie
IGF
Hypoglykämie
Sarkome, Leberzellkarzinom
Abkürzungen: ACTH=adrenokortikotropes Hormon, SCLC=»small cell lung cancer« (kleinzelliges Bronchialkarzinom), NSCLC=nicht kleinzelliges Bronchialkarzinom, HCG=humanes Choriongonadotropin (normalerweise in der Plazenta gebildet), IGF=Insulin-like growth factor (insulinähnlicher Wachstumsfaktor).
Sie werden durch Botenstoffe ausgelöst (endokrine und zytokinbedingte Paraneoplasien) oder durch immunologische Phänomene, die durch die Tumorerkrankung angestoßen (antikörpervermittelte Paraneoplasien). Paraneoplastische Symptome – etwa das sog. Anorexie- und Kachexie-Syndrom mit Müdigkeit, Schwäche und starkem Gewichtsverlust (7 Kap. 22.3.4) – können für die Patienten ganz im Vordergrund stehen. Andererseits kann sich ein paraneoplastisches Symptom auch nur mit einer diskreten, asymptomatischen Veränderung eines Laborwertes manifestieren, z. B. mit einer leichten Verminderung der Natriumkonzentration im Blut (Hyponatriämie) bei SIADH (s. unten). Paraneoplasische Symptome werden v. a. bei fortgeschrittener Tumorkankheit sehr häufig gefunden. Sie können jedoch auch bereits in einem sehr frühen Stadium auftreten und dann als erstes Symptom des Tumors zu seiner Diagnose führen. Die beste Maßnahme gegen paraneoplastische Syndrome ist die effektive Behandlung der zugrunde liegenden Tumorerkrankung. Selbstverständlich müssen symptomatische oder lebensbedrohende Stoffwechselentgleisungen wie Hyperkalzämie oder Hypoglykämie ausgeglichen werden.
Endokrine Paraneoplasien Die Zellen verschiedener maligner Tumoren können Hormone oder hormonähnliche Substanzen bilden und in die Blutgefäße abgeben. Häufig handelt es sich dabei um Tumoren von Geweben, die normalerweise keine Hormone sezernieren, z. B. Bronchialkarzinome. Wesentlich seltener verursachen Tumoren von endokrinen Drüsen ein paraneoplastisches Syndrom, z. B. Inselzelltumoren des Pankreas (. Tab. 1.7).
Zytokinbedingte Paraneoplasien Durch Zytokine (7 Kap. 1.6.1) ausgelöste paraneoplastische Symptome sind ausgesprochen häufig und beherrschen gelegentlich das klinische Bild einer Tumorkrankheit. Die Zytokine werden sowohl von den Tumorzellen selbst wie auch von den umgebenden Entzündungszellen (Lymphozyten, Makrophagen und Granulozyten) produziert. In der Regel sind für ein Symptom gleichzeitig mehrere Zytokine verantwortlich (. Tab. 1.8).
Antikörpervermittelte Paraneoplasien Neurologische paraneoplastische Störungen werden meist durch Autoantikörper gegen Nerven bzw. Nervenscheidenbestandteile verursacht. Der Nachweis solcher Antikörper in Verbindung mit dem neurologischen Beschwerdebild macht die Diagnose eines paraneoplastischen Syndroms sehr wahrscheinlich. Typischerweise führen die Autoantikörper zu degenerativen Veränderungen der be-
. Tab. 1.8. Zytokinbedingte paraneoplastische Symptome (Auswahl)
Symptom
Zytokin
Fieber
IL-1, IL-2, TNF u. a.
Gewichtsverlust, Kachexie
IL-1, IL-6, TNF u. a.
Nachtschweiß
?
Leukozytose
IL-6, IL-8, TNF u. a.
Thrombozytose
IL-1, IL-3
Anämie
?
Abkürzungen: IL=Interleukin, TNF=Tumornekrosefaktor.
29 1.7 · Klinische Manifestationen maligner Tumoren
. Tab. 1.9. Durch Antikörper verursachte neurologische paraneoplastische Syndrome (Auswahl)
Syndrom
Antigen
Symptome
Tumoren
Hirnstammenzephalitis
Hu, Ma
Schwindel, Doppelbilder, Nystagmus
SCLC u. a.
Subakute zerebelläre Degeneration
Yo, Tr
Ataxie, motorische Sprachstörungen
SCLC, Ovar u. a.
Subakute sensorische Neuropathie
Hu
Sensibilitätsstörungen
SCLC, Mamma, Ovar
Abkürzung: SCLC=»small cell lung cancer« (kleinzelliges Bronchialkarzinom).
troffenen Nervenstrukturen mit anfangs reversiblen, später irreversiblen Schädigungen und entsprechenden Symptomen(. Tab. 1.9). Beispiel Bei etwa 20% aller Patienten mit kleinzelligem Bronchialkarzinom lassen sich Antikörper gegen das Antigen Hu nachweisen. Dieses wird auf der Oberfläche der Krebszellen exprimiert und löst offenbar die Bildung von Antikörpern aus. Verschiedene Typen von normalen Nervenzellen tragen ebenfalls das Hu-Antigen und werden durch die Antikörper angegriffen und zerstört. Diese Patienten haben oft nur einen kleinen Tumor (möglicherweise aufgrund der erfolgreichen immunologischen Abwehr). Gelegentlich ist aber die neurologische Symptomatik für das Überleben dieser Patienten entscheidend, und sie sterben an den Folgen der neurologischen Störung, bevor der Primärtumor metastasiert oder lokale Symptome verursacht.
Literatur Alberts B et al. (2001) Lehrbuch der Molekularen Zellbiologie, 2. Aufl. Wiley-VCH, Weinheim Berges R, Isaacs JT (1993) Programming events in the regulation of cell proliferation and death. Clin Chem 39: 356 Cotran RS, Kumar V, Robbins SL (1993) Grundlagen der allgemeinen Pathologie. Gustav Fischer, Stuttgart, Jena, New York Hahn H et al. (Hrsg) (2009) Medizinische Mikrobiologie und Infektiologie. Springer, Berlin Heidelberg New York Karp G et al. (Hrsg) (2005) Molekulare Zellbiologie. Springer, Berlin Heidelberg New York Löffler G. et al. (2007) (Hrsg) Biochemie und Pathobiochemie – ein Springer-Lehrbuch. Springer, Berlin Heidelberg New York Nordheim A, Lücher B (2006) Prinzipien der Tumorbiologie. In: Schmoll H-J et al. (Hrsg) Kompendium Internistische Onkologie. Springer, Berlin Heidelberg New York, S 1–100 Spornitz UM (2007) Anatomie und Physiologie, Kap. 2, 5. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Weinberg RA (2007) The biology of cancer. Garland Science, New York
Internetadressen Max-Planck-Gesellschaft: www.max-wissen.de/Fachwissen/bereich/ Biologie.html (weiterführende Texte zu verschiedenen biologischen Themen wie Apoptose, Steuerung des Zellzyklus, Epigenetik u. a. m.)
1
2
Einteilung und Klassifikation maligner Tumoren K. Buser 2.1
Einteilung nach der Tumorlokalisation
– 32
2.2
Einteilung nach Gewebetyp (Typing)
2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5 2.2.6
Karzinome – 32 Sarkome – 33 Leukämien – 33 Lymphome – 33 Tumoren des zentralen Nervensystems Andere Tumoren – 34
– 32
2.3
Einteilung nach dem Malignitätsgrad (Grading)
2.4
Einteilung nach dem Tumorstadium (Staging)
2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4
TNM-System – 35 Stadiengruppierung – 36 Ann-Arbor-Stadieneinteilung für maligne Lymphome – 37 FIGO-Stadieneinteilung der gynäkologischen Tumoren – 37
2.5
R-Klassifikation (Residualtumorklassifikation)
2.6
Klassifikation nach immunhistochemischen oder molekulargenetischen Eigenschaften – 38
2.7
Kombination verschiedener Einteilungssysteme
– 34
– 34 – 35
– 37
– 38
32 Kapitel 2 · Einteilung und Klassifikation maligner Tumoren
))
. Tab. 2.1. Grundelemente der Tumorklassifikation
Praktisch jedes Gewebe, Organ oder Organsystem kann Ausgangsort für eine maligne Tumorerkrankung sein. Wir unterscheiden etwa 100 verschiedene Tumorerkrankungen beim Menschen. Bei jeder dieser Erkrankungen richten sich die Behandlung und die Prognose nach der Histologie (Klassifikation nach Gewebetyp und Malignitätsgrad) sowie der anatomischen Ausbreitung (Staging). Diese Eigenschaften eines Tumors sind deshalb wichtige Bestandteile jeder Tumordiagnose. Dieses Kapitel zeigt die Prinzipien auf, nach denen diese Einteilungen erfolgen. Dafür sind international gültige Klassifikationssysteme etabliert.
2
Einteilung nach Lokalisation
Ursprungsorgan/-gewebe
ICD-Kodierung
Einteilung nach Gewebetyp
Histologischer Tumortyp
Typing
Differenzierungsgrad
Grading
Anatomische Ausbreitung
Primärtumor
T
Staging (TNMKlassifikation)
Regionäre Lymphknoten
N
Fernmetastasen
M
Fehlen/Vorhandensein von Resttumor
! Die Einteilung eines Tumors nach Gewebetyp und Malignitätsgrad (Klassifikation und Grading) sowie die Stadieneinteilung (Staging) sind Voraussetzung für eine optimale Behandlung und Abschätzung der Prognose.
R-Klassifikation
[Ergänzt nach: Wittekind C, Tannapfel A (2006) In: Schmoll H-J, Höffken K, Possinger K (Hrsg) Kompendium internistische Onkologie, 4. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York]
Beispiel Beim lokalisierten Plattenepithelkarzinom der Bronchien wird als Erstbehandlung die Operation angestrebt. Fortgeschrittene Stadien werden mit Chemotherapie behandelt. Das kleinzellige Bronchialkarzinom hingegen wird bereits in lokalisierten Stadien in der Regel mit Chemotherapie behandelt, da es sehr früh zur Metastasierung neigt.
Zur Klassifikation von malignen Tumoren wird die Einteilung der WHO (World Health Organisation) und der UICC (International Union against Cancer; früher »Union Internationale contre le Cancer«) angewendet. Die einheitliche Klassifikation erlaubt die internationale Vergleichbarkeit von Studienergebnissen.
2.1
Einteilung nach der Tumorlokalisation
Die Einteilung von Tumorerkrankungen orientiert sich zunächst an der Lokalisation und erfolgt nach dem ICDO-3-Code (International Classification of Diseases for Oncology, 3. Auflage 2000). Dieser Code beschreibt anatomische Bezirke und Unterbezirke mit einem 3- bis 4stelligen Code, bestehend aus Buchstaben und Zahlen. Erkrankungen aus dem Bereich der Onkologie und Hämatologie sind zwischen C00 und D90 klassifiziert.
! Die Kodierung der Diagnosen nach dem international einheitlichen ICD-System ermöglicht die weltweite Untersuchung der Ursachen von Morbidität und Mortalität in der Bevölkerung.
2.2
Einteilung nach Gewebetyp (Typing)
Die Einteilung nach dem Gewebetyp nimmt der Pathologe anhand von Gewebeproben vor. Sie beruht auf bestimmten, im Mikroskop erkennbaren Struktureigenschaften des Tumorgewebes. Das maligne entartete Gewebe kann in unterschiedlichem Grad noch dem Gewebe gleichen, aus dem es hervorgegangen ist. Von Tumoren mit völlig unreifen, undifferenzierten Zellen bis zu solchen, die in Aussehen und Funktion der Ursprungszelle noch sehr ähnlich sind, finden sich alle Übergänge. Die Bezeichnungen der histologischen Typen richten sich nach den Empfehlungen der WHO (International Histological Classification of Tumors). Nach dem Ausgangsgewebe werden die im Folgenden erläuterten Tumortypen unterschieden (. Tab. 2.2).
2.2.1 Karzinome Definition
Beispiele für ICD-Codierungen 5 Mammakarzinom C50 5 Rektumkarzinom C20 – Rektumkarzinom des oberen Rektumdrittels C20.93. 5 Morbus Hodgkin C81
Krebserkrankungen, die aus epithelialen Geweben hervorgehen, werden Karzinome genannt.
Epithelzellen bilden die äußerste Schicht von Haut und Schleimhäuten (Magen-Darm-Trakt, Luftwege, ableitende
33 2.2 · Einteilung nach Gewebetyp (Typing)
. Tab. 2.2. Histologische Tumorklassifikation (Auswahl)
Ausgangsgewebe
Tumorgruppen
Tumortypen (Beispiele)
Epithel
Karzinome
4 Adenokarzinom des Dickdarms 4 Plattenepithelkarzinom der Lunge
Bindegewebe
Sarkome
4 Osteosarkom 4 Fibrosarkom
Blutbildendes Gewebe
Leukämien
4 Akute lymphatische Leukämie 4 Chronische myeloische Leukämie
Lymphatisches Gewebe
Lymphome
4 Morbus Hodgkin 4 Follikuläres Lymphom 4 Multiples Myelom
Keimdrüsen
Germinale Tumoren
4 Seminom 4 Embryonales Karzinom
[Nach: Siewert JR (Hrsg) (2006) Chirurgie. 8. komplett überarbeitete Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York, S. 168]
den Milchdrüsengängen (duktales Karzinom) oder aus den Drüsenläppchen (lobuläres Karzinom) entwickelt hat.
2.2.2 Sarkome Definition Bösartige Erkrankungen des Binde- und Stützgewebes nennt man Sarkome.
Zu den Sarkomen gehören alle Tumoren des Binde- und Stützgewebes (mesenchymale Gewebe) wie Knorpel-, Knochen-, Muskel- und Fettgewebe. Sie sind relativ selten, ihr Anteil an den bösartigen Tumoren beträgt nur etwa 2%. Entsprechend dem Ausgangsgewebe unterscheiden wir beispielsweise: 4 das Liposarkom (aus Fettgewebe), 4 das Leiomyosarkom (aus glatter Muskulatur), 4 das Osteosarkom (aus Knochen), 4 das Fibrosarkom (aus Fasergewebe).
2.2.3 Leukämien Definition
Harnwege, Genitaltrakt usw.) und bilden Drüsen (Brustdrüsen, Bauchspeicheldrüse usw.). Karzinome machen mit etwa 75% den Großteil aller bösartigen Tumoren beim Menschen aus. Dazu gehören so häufige Tumoren wie das Mammakarzinom, das Kolonkarzinom oder das Pankreaskarzinom. Bei differenzierten Karzinomen (7 Kap. 2.3) lässt sich mikroskopisch feststellen, ob sie sich aus Drüsengewebe oder aus einer mit Plattenepithel bedeckten Schleimhaut entwickelt haben: 4 Adenokarzinome haben ihren Ursprung in drüsigen Schleimhäuten (z. B. der Darmschleimhaut) oder in Drüsen (z. B. der Bauchspeicheldrüse). 4 Plattenepithelkarzinome entstehen in der Haut oder in mit Plattenepithel bedeckten Schleimhäuten, z. B. der Luftwege (Bronchuskarzinom), der Speiseröhre oder der Vagina. Von einigen Geweben können sowohl Plattenepithel- wie Adenokarzinome ausgehen, z. B. von der Bronchial- und der Ösophagusschleimhaut. Beim Bronchuskazinom werden diese beiden Karzinomtypen als nicht kleinzelliges Bronchuskarzinom zusammengefasst und vom kleinzelligen Bronchuskarzinom abgegrenzt. Die Ursprungszelle des kleinzelligen Bronchuskarzinoms ist noch nicht eindeutig definiert. Bei einem gut differenzierten Mammakarzinom kann mikroskopisch sogar unterschieden werden, ob es sich aus
Zu den bösartigen Erkrankungen des blutbildenden Systems (Knochenmark) zählen Leukämien und myelodysplastische Syndrome.
Die Krebserkrankungen des blutbildenden Systems machen ca. 2,5% aller bösartigen Erkrankungen aus. Nach einer groben Einteilung können Leukämien der myeloischen Zellreihe (myeloische Leukämien) und Leukämien der lymphatischen Reihe (lymphatische Leukämien) unterschieden werden. Die Einteilung der Leukämien wird in 7 Kap. 47 näher beschrieben.
2.2.4 Lymphome Definition Die Krebserkrankungen des lymphatischen Gewebes umfassen in erster Linie die malignen Lymphome und das Myelom.
Etwa 5% aller Tumorerkrankungen sind Lymphome. Sie werden in 2 Hauptgruppen eingeteilt: 4 Der Morbus Hodgkin (Hodgkin-Lymphom) ist die bekannteste dieser Erkrankungen und macht etwa 15% aller bösartigen Lymphdrüsenerkrankungen aus. Verschiedene histologische Typen unterscheiden sich in ihrer Prognose. 4 Als Nicht- bzw. Non-Hodgkin-Lymphome werden üblicherweise alle malignen Lymphome bezeichnet, die
2
34 Kapitel 2 · Einteilung und Klassifikation maligner Tumoren
2
nicht dem wohldefinierten Krankheitsbild des Morbus Hodgkin angehören. Sie machen 85% aller Lymphomerkrankungen aus und umfassen viele, nach ihrem Verlauf sehr unterschiedliche Krankheiten. Das multiple Myelom ist eine maligne Erkrankung der Plasmazellen, die ebenfalls zu den B-Lymphozyten gehören, es wird deshalb auch zu den Non-Hodgkin-Lymphomen gezählt. Es entsteht in der Regel im Knochenmark. Etwa 1,2% aller Tumorerkrankungen sind multiple Myelome. ! Maligne Lymphome können nicht nur in Lymphknoten entstehen, sondern auch in Milz, Leber, Knochenmark und vielen anderen Organen. Maligne Lymphome, die ihren Ursprung nicht in Lymphknoten, sondern in anderen lymphatischen Zellen oder Geweben haben, werden als extranodale Lymphome bezeichnet.
Die histologische Einteilung der malignen Lymphome erfolgt seit 2001 nach einem von der WHO festgelegten System. Die Klassifikation nach WHO hat früher gebräuchliche Klassifikationen wie die Einteilung nach IWF (International Working Formulation), nach Lennert oder die sog. REAL- (revidierte europäisch-amerikanische Lymphom-) Klassifikation ersetzt. In 7 Kap. 47 wird näher auf die Einteilung der Lymphome eingegangen. Zur genauen Typisierung der Lymphome werden neben der Histologie zusätzlich molekulargenetische und immunhistochemische Tests eingesetzt.
2.2.5 Tumoren des zentralen Nerven-
systems Man unterscheidet zwischen Hirntumoren, Rückenmarktumoren und seltenen Tumoren peripherer Nerven. Am häufigsten sind bei Erwachsenen bösartige Tumoren mit Ursprung aus dem Bindegewebe des Gehirns, die Gliome (7 Kap. 48.2). Tumoren des ZNS sind bei Kindern relativ häufig (7 Kap. 49.3). In der Krebsstatistik machen Hirntumoren etwa 10% aller Tumoren aus.
2.2.6 Andere Tumoren Das Melanom hat seinen Ursprung in den Melaninpigment bildenden Zellen der Haut, den Schleimhäuten und in der Aderhaut (7 Kap. 48.3). Als Keimzelltumoren werden Tumoren bezeichnet, die von den Keimzellen der Hoden oder – seltener – der Ovarien ausgehen. Keimzelltumoren des Hodens sind die häufigsten bösartigen Tumoren bei jungen Männern zwischen 20 und 35 Jahren (7 Kap. 46.4).
2.3
Einteilung nach dem Malignitätsgrad (Grading)
Tumoren der gleichen histologischen Klassifikation können sich im Verhalten stark unterscheiden. Tumoren mit einem langsameren Wachstum und geringerer Neigung zur Metastasierung, d. h. einer besseren Prognose, sind in der Regel histologisch durch eine bessere Differenzierung charakterisiert. Dies wird als niedriger Malignitätsgrad bezeichnet. Tumoren mit rascherem Wachstum und hoher Aggressivität zeigen in der Regel histologisch eine schlechte Differenzierung (hoher Malignitätsgrad). Vereinfachend gilt, dass ein Tumor umso differenzierter (und damit weniger maligne) ist, je mehr Ähnlichkeit er mit seinem Ursprungsgewebe zeigt. So weist beispielsweise ein gut differenziertes Mammakarzinom noch brustdrüsenähnliche Strukturen auf, und in den Krebszellen lassen sich – wie in normalen Brustdrüsenzellen – die typischen Hormonrezeptoren nachweisen. ! Die Bestimmung des Malignitätsgrades, das sog. Grading, erfolgt aufgrund von Merkmalen der einzelnen Krebszellen (Zytologie) wie auch des Gewebeaufbaus (Histologie).
Dazu gehören beispielsweise: 4 Anzahl der Mitosen (Kernteilungsfiguren): Eine große Anzahl Mitosen spricht für eine hohe Proliferationsrate (7 Kap. 1.5) und damit für eine höhere Aggressivität des Tumors, d. h. schlechtere Differenzierung oder höheres Grading. 4 Kernatypien: Atypisches Aussehen der Zellkerne ist ein Merkmal schlechter Differenzierung.
. Tab. 2.3. Grading der WHO
Skala
Kennzeichen
4-stufige Skala 4 G1 = Grad I
Gut differenziert
4 G2 = Grad II
mäßig differenziert
4 G3 = Grad III
Schlecht differenziert
4 G4 = Grad IV
Undifferenziert
2-stufige Skala 4 L
Low Grade (G1/G2)
4 H
High Grade (G3/G4)
Weitere Bezeichnungen 4 GX
Differenzierungsgrad kann nicht bestimmt werden
4 G0
Grading nicht vorgesehen
35 2.4 · Einteilung nach dem Tumorstadium (Staging)
Zellpolymorphie. Große Unterschiede in der Form der
Tumorzellen sind ebenfalls ein Merkmal schlechter Differenzierung. Die WHO sieht für das Grading wahlweise eine Unterteilung in 4 Stufen (G1–G4) oder eine 2-stufige Skala (Low Grade G1/G2, High Grade G3/G4) vor (. Tab. 2.3).
2.4
Einteilung nach dem Tumorstadium (Staging)
Ein wichtiges Einteilungsprinzip maligner Tumoren ist die Klassifikation nach dem Tumorstadium. Nach der Diagnosestellung muss der Tumor in seiner Ausbreitung, dem sog. anatomischen Tumorstadium, erfasst werden. Diese Stadieneinteilung wird auch mit einem englischen Ausdruck als Staging bezeichnet. Das Tumorstadium ist für die Therapiewahl und für die Prognose von entscheidender Bedeutung. ! Die Bestimmung des Tumorstadiums, das sog. Staging, erfolgt aufgrund der anatomischen Tumorausbreitung bei der Diagnosestellung oder bei Therapiebeginn.
Die Einteilung nach dem Tumorstadium geht davon aus, dass die Tumorerkrankung vorerst lokalisiert ist, später jedoch in die Umgebung einwachsen oder Metastasen setzen kann. Die Stadieneinteilung ist für jede einzelne Tumorart festgelegt. Diese Einteilungen werden von internationalen Organisationen wie der WHO oder der UICC oder anderen internationalen Fachgesellschaften wie der FIGO (International Federation of Gynecology and Obstetrics) vorgenommen und regelmäßig neuen Erkenntnissen angepasst.
2.4.1 TNM-System Im Bestreben, eine möglichst präzise, einheitliche und von allen nationalen und internationalen Gremien anerkannte Tumoreinteilung zu schaffen, wurde das TNM-System ausgearbeitet, welches weltweit gültig ist. Es beruht auf der Beschreibung des Primärtumors (T für Tumor), der Lymphknoten (N für engl. »node«: Knoten) und der Metastasen (M). Dank der Standardisierung der Stadieneinteilung durch die UICC können Behandlungsresultate verschiedener Forschergruppen international verglichen werden. Seit dem 1.1.2010 gilt die 7. Auflage von TNM (TNM-7) ! Das TNM-System ist eine Kurzschrift zur Beschreibung der Ausdehnung einer Tumorerkrankung und berücksichtigt: 6
4 die anatomische Ausdehnung des Primärtumors (T), 4 Fehlen oder Vorhandensein von regionären Lymphknoten (N), 4 Fehlen oder Vorhandensein von Fernmetastasen (M).
Durch Hinzufügen von Ziffern zu diesen 3 Komponenten wird das Stadium der Krebserkrankung angezeigt. Man unterscheidet je nach Zeitpunkt, zu dem die Stadieneinteilung (Staging) vorgenommen wird, zwischen einem klinischen (meist präoperativen) Staging und einem pathologischen (meist postoperativen) Staging. Beruht die Stadieneinteilung bei einem Patienten auf einem klinischen Staging, wird die Bezeichnung »c« (»clinical«) hinzugefügt (cTNM-Stadien). Sie beruht auf prätherapeutischen Befunden (klinische Untersuchung, bildgebende Verfahren, Endoskopie, Biopsie). Beruht die Beurteilung auf einer pathologischen Klassifikation, d. h. der mikroskopischen Untersuchung des bei der Operation entfernten Gewebes, wird die Bezeichnung »p« beigefügt (pTNM-Stadien). Das pathologische Staging berücksichtigt die zusätzlichen Befunde zur Tumorausdehnung, die bei einer Operation erhoben werden. Das pathologische Staging ist präziser als das klinische und liefert zuverlässigere Daten für die Abschätzung der Prognose. . Tab. 2.4 zeigt als Beispiel die klinische (präoperative) TNM-Stadieneinteilung des Mammakarzinoms. Sind mehrere Primärknoten in einer Brust vorhanden, so bestimmt der größte Knoten die pT-Klassifikation. Das Vorliegen von mehreren Knoten wird mit dem in Klammern nachgestellten Zusatz (m) gekennzeichnet. Wird bei der Operation lediglich die Sentinel-Technik (Entfernung des Wächterlymphknotens) und keine Axilladissektion durchgeführt, wird die Lymphknotenklassifikation mit dem Zusatz (sn) gekennzeichnet. Die pTNM-Klassifikation gibt Hinweise auf die Prognose und bestimmt die Behandlungsform (Operation, Radiotherapie, Chemotherapie etc.). So wird beispielsweise bei einem Mammakarzinom im Stadium pN2 postoperativ oft eine Bestrahlung der Axilla durchgeführt, im Stadium pN1 kann dagegen meist darauf verzichtet werden. Beispiel Ein durch Biopsie gesichertes Mammakarzinom, bei dem klinisch und radiologisch keine Lymphknoten- oder Fernmetastasen nachgewiesen wurden, erhält das Tumorstadium cT1 cN0 cM0. Nach der Operation mit Tumorektomie und Sentinel-Lymphknotenentfernung erfolgt die Stadieneinteilung desselben Mammakarzinoms wie folgt: pT1b N0(sn)(0/ 2)(i-) cM0. Das postoperative Stadium macht deutlich, dass der Primärtumor histologisch kleiner war als radiologisch vermutet. Es zeigt zudem an, dass 2 Sentinel-Lymphknoten (sn) 6
2
36 Kapitel 2 · Einteilung und Klassifikation maligner Tumoren
. Tab. 2.4. Klinische (präoperative) cTNM-Einteilung des Mammakarzinoms
2
Stadium
Erklärung
T (Primärtumor) TX
Der Primärtumor kann nicht klinisch beurteilt werden (z. B. nach Exzision vor klinischer Beurteilung)
T0
Kein Anhalt für Primärtumor
Tis
Präinvasives Karzinom (in situ)
T1
Tumor 2 cm oder weniger in größter Ausdehnung
4 T1mic
Ausdehnung jenseits der Basalmembran 0,1 cm oder weniger
4 T1a
0,5 cm oder weniger
4 T1b
Tumor 0,5–1 cm
4 T1c
Tumor 1–2 cm
T2
Tumor zwischen 2 und 5 cm
T3
Tumor> 5 cm in größter Ausdehnung
T4
Tumor jeder Größe mit Infiltration von Haut und/oder Brustwand
4 T4a
Infiltration der Brustwand (Rippen, Interkostalmuskeln, M. serratus anterior)
4 T4b
Hautbefall (Ödem, Orangenhaut, Ulzeration, Sat ellitenhautmetastasen)
4 T4c
Brustwandinfiltration und Hautbefall
4 T4d
Inflammatorisches Karzinom (diffuse Hautinfiltration)
N (Klinischer Lymphknotenbefall) NX
Lymphknoten nicht beurteilbar
N0
Lymphknoten tumorfrei
N1
Ipsilaterale axilläre Lymphknoten befallen, beweglich
N2a
Ipsilaterale axilläre Lymphknoten, fixiert
N2b
Lymphknoten entlang der A. mammaria interna, klinisch erkennbar
N3a
Lymphknoten infraklavikulär
N3b
Lymphknoten axillär und entlang A. mammaria interna, klinisch erkennbar
N3c
entfernt wurden, die weder nach der konventionellen histologischen Untersuchung (0/2) noch nach immunhistochemischer Spezialfärbung (i-) tumorbefallen waren.
Generell werden zur Kennzeichnung von speziellen Situationen in der TNM-/pTNM-Klassifikation zusätzliche Symbole benutzt, die als Präfixe vorangestellt werden (. Übersicht): Das »y« wird gewählt, wenn die TNM-Klassifikation während oder nach einer initialen/präoperativen Therapie (Radio- und/oder Chemotherapie) erfolgt ist. Das »r« wird gewählt, wenn nach einem krankheitsfreien Intervall ein Rezidivtumor aufgetreten ist. Zusatzbezeichnungen bei TNM-Klassifikationen 5 5 5 5
c: klinisches Stadium p: pathologisches Stadium m: Vorliegen von mehreren Primärtumoren sn: Bestimmung des N-Stadiums nach der SentinelMethode 5 i: Untersuchung der Lymphknoten mit immunhistologischen Techniken 5 y: Stadieneinteilung nach Durchführung einer nicht operativen Therapie (Radiotherapie oder medikamentöse Tumortherapie 5 r: Stadieneinteilung bei Rezidiv
2.4.2 Stadiengruppierung Verschiedene TNM-Kategorien, die Tumorausbreitungen mit ähnlicher Prognose bezeichnen, werden in sog. Stadiengruppierungen nach den Empfehlungen der UICC oder AJCC (American Joint Committee on Cancer) zusammengefasst. Diese Stadien werden mit römischen Ziffern be-
. Tab. 2.5. Einteilung von Tumoren nach Stadium
Stadium
Erklärung
Stadium 0
Präinvasives Karzinom (Carcinoma in situ)
Stadium I
Frühe lokale Invasion, keine Metastasen
Stadium II
Begrenzte lokale Tumorausbreitung mit minimalem regionalem Lymphknotenbefall
Stadium III
Ausgedehnter lokaler Tumorbefall mit extensivem regionalem Lymphknotenbefall
Stadium IV
Normalerweise inoperable extensive Ausbreitung des Tumors und starker Befall der Lymphknoten; oder jeder Befund mit Fernmetastasen ohne Berücksichtigung der lokalen Tumorausbreitung
Lymphknoten supraklavikulär
M (Fernmetastasen) M0
Keine Fernmetastasen
M1
Fernmetastasen vorhanden
[Nach: Wittekind C, Meyer HJ (2010) Klassifikation maligner Tumoren (UICC, 7th edn). Wiley-VCH, Weinheim]
37 2.5 · R-Klassifikation (Residualtumorklassifikation)
. Tab. 2.6. Stadiengruppierung des Mammakarzinoms nach UICC
. Tab. 2.7. FIGO-Stadieneinteilung für das Endometriumkarzinom
Stadium
T
N
M
Stadium
Erklärung
Stadium 0
Tis
N0
M0
Stadium I
Karzinom auf das Corpus uteri beschränkt
Stadium I
T1
N0
M0
Stadium IA
Tumor auf Endometrium beschränkt
Stadium IIA
T0
N1
M0
Stadium IB
Weniger als die Hälfte des Myometriums infiltriert
T1
N1
M0 Stadium IC
Mehr als die Hälfte des Myometriums infiltriert
T2
N0
M0 Stadium II
T2
N1
M0
T3
N0
M0
Ausbreitung über Endometrium und Myometrium hinaus, aber nicht außerhalb der Gebärmutter
Stadium IIA
Ausbreitung auf endozervikale Drüsen
T0
N2
M0 Stadium IIB
Ausbreitung auf das Zervixstroma
T1
N2
M0 Stadium III
T2
N2
M0
T3
N1, N2
M0
T4
Jedes N
M0
Ausdehnung jenseits des Uterus mit Tumorinfiltration der Serosa oder der Adnexe und/oder positive Peritonealzytologie (IIIA) oder Befall der Vagina (IIIB); Befall von Lymphknoten im Becken und/oder paraaortal
Jedes T
N3
M0
Stadium IV
Jedes T
Jedes N
M1
Metastasen/Befall anderer Organe, Infiltration der Schleimhaut der Blase oder des Rektums, Fernmetastasen einschließlich intraabdomineller und/oder inguinaler Lymphknoten
Stadium IIB
Stadium IIIA
Stadium IIIB
Stadium IV
Beispiele: Ein Mammakarzinom wird als T3, N3, M0 klassifiziert. Dies entspricht einem Stadium IIIB. Ein anderes Mammakarzinom wird als T3 N0 M0 bezeichnet. Es entspricht einem Stadium II. [Nach: Wittekind C, Meyer HJ (2010) Klassifikation maligner Tumoren (UICC, 7th edn). Wiley-VCH, Weinheim]
zeichnet, üblicherweise von 0–IV. Die Bedeutung dieser Stadien für die meisten soliden Tumoren zeigt . Tab. 2.5. Die zusammenfassende Stadiengruppierung auf der Grundlage der TNM-Klassifikation stellt . Tab. 2.6 am Beispiel des Mammakarzinoms dar.
2.4.4 FIGO-Stadieneinteilung
der gynäkologischen Tumoren Für die gynäkologischen Tumoren wird häufig auch die Stadieneinteilung der FIGO (International Federation of Gynecology and Obstetrics = Internationale Vereinigung für Gynäkologie und Geburtshilfe) angewandt. Sie ist allerdings mittlerweile weitgehend mit der TNM-Klassifikation in Übereinstimmung gebracht worden. Als Beispiel zeigt . Tab. 2.7 die FIGO-Stadieneinteilung des Endometriumkarzinoms.
2.4.3 Ann-Arbor-Stadieneinteilung
für maligne Lymphome Das TNM-System ist für die malignen Lymphome leider nicht brauchbar, da bei diesen Erkrankungen nicht zwischen Primärtumor, Lymphknotenbefall oder Metastasen unterschieden werden kann. Für die malignen Lymphome gilt daher die Ann-Arbor-Stadieneinteilung. In diesem System wird die anatomische Ausbreitung des Tumors mit den Zahlen I–IV bezeichnet. Das Fehlen oder Vorhandensein von sog. Allgemeinsymptomen wie Fieber oder Nachtschweiß wird mit dem Zusatz A oder B angegeben. Diese Einteilung wird in 7 Kap. 47 (»Leukämien und Lymphome«) näher beschrieben.
2.5
R-Klassifikation (Residualtumorklassifikation)
Die R-Klassifikation (. Tab. 2.8) ist – neben der Erfassung der TNM-Kategorien – ein essenzieller Bestandteil der Tumorklassifikation zur Beschreibung des Tumorstatus nach Therapie (7 Kap. 6.4). ! Das Fehlen oder Vorhandensein von Resttumor nach einer Behandlung wird durch die R-Klassifikation bezeichnet. Für die Prognose ist entscheidend, ob der Tumor komplett im Gesunden entfernt wurde oder ob Resttumor zurückblieb.
2
38 Kapitel 2 · Einteilung und Klassifikation maligner Tumoren
2
. Abb. 2.1. Beispiel für eine Kombination verschiedener Einteilungssysteme; Klassifikation eines Mammakarzinoms
. Tab. 2.8. R-Klassifikation
Stadium
Erklärung
RX
Vorhandensein oder Fehlen von Resttumor kann nicht beurteilt werden
R0
Weder makroskopisch noch mikroskopisch ist Resttumor nachweisbar
R1
Mikroskopisch ist Resttumor nachweisbar ( z. B. an den Resektionsrändern)
R2
Makroskopisch ist Resttumor nachweisbar
Die Bezeichnung R0 entspricht einer vollständigen und potenziell kurativen Tumorentfernung oder, wenn eine Strahlentherapie und/oder Chemotherapie angewendet wurde, einer kompletten Remission.
2.6
Klassifikation nach immunhistochemischen oder molekulargenetischen Eigenschaften
Neben der konventionellen histologischen Untersuchung von angefärbten Gewebeschnitten stehen heute dem Pathologen weitere, modernere Methoden wie die Immunhistochemie oder molekulargenetische Untersuchungen zur Verfügung. Damit können Tumorerkrankungen oft besser klassifiziert werden (7 Kap. 5). Diese Untersuchungen sind besonders wichtig für die Klassifikation von Leukämien und Lymphomen (7 Kap. 47).
2.7
Kombination verschiedener Einteilungssysteme
Bei der Beschreibung von Tumorerkrankungen werden häufig verschiedene Klassifikationssysteme kombiniert, etwa Stadieneinteilung, Histologie und Differenzierungsgrad (. Abb. 2.1). Hinzu kommen möglicherweise noch Angaben über das Vorhandensein von Hormonrezeptoren oder anderer prognostisch wichtiger Faktoren.
Literatur Edge SB, Byrd DR, Compton CC, Fritz AG, Greene FL, Trotti A (eds) (2010) AJCC Cancer Staging Manual 7th edn. Springer, Berlin Heidelberg New York Siewert JR (Hrsg) (2006) Chirurgie, 8. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Wittekind C, Meyer HJ (Hrsg) (2010) TNM-Klassifikation maligner Tumoren, 7. Aufl. Wiley-VCH, Weinheim Wittekind C, Tannapfel A (2006) Prinzipien der Pathologie in der Onkologie. In: Schmoll HJ, Höffken K, Possinger K (Hrsg) Kompendium Internistische Onkologie, 4. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York
Internetadressen DIMDI, Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information: www.dimdi.de (ICD-Klassifikation) UICC, International Union against Cancer (früher: Union Internaionale contre le Cancer): www.uicc.org (TNM-Klassifikation, engl.) National Cancer Institute, USA: www.cancer.gov (Übersicht über maligne Tumoren, engl.)
3
Epidemiologie: Risikofaktoren und die Entstehung maligner Tumoren K. Buser 3.1
Epidemiologie in der Onkologie
3.1.1 Datenquellen
3.2
– 40
– 40
Methoden und Begriffe der Epidemiologie
3.2.1 Deskriptive Epidemiologie – 41 3.2.2 Ätiologische Epidemiologie – 43
3.3
Risikofaktoren und Krebsentstehung
3.3.1 Unbeeinflussbare Riskofaktoren – 45 3.3.2 Vermeidbare Risikofaktoren – 47
– 44
– 41
40 Kapitel 3 · Epidemiologie: Risikofaktoren und die Entstehung maligner Tumoren
)) Patienten und Angehörige stellen häufig Fragen nach den Ursachen bösartiger Tumoren. Epidemiologische Kenntnisse helfen den Pflegenden, solche Fragen kompetent zu beantworten: Die moderne Epidemiologie wird definiert als die Lehre von der Häufigkeit der Krankheiten und den Faktoren, die diese Häufigkeit beeinflussen. Sie untersucht die Ursachen von Krankheiten und liefert wichtige Grundlagen zu ihrer Prävention.
3
3.1
Epidemiologie in der Onkologie
In der Onkologie befasst sich die Epidemiologie mit der Erfassung von: 4 Krebshäufigkeit, 4 Krebssterblichkeit und 4 Risikofaktoren. Krebserkrankungen stehen in der Rangliste der Todesursachen in den westlichen Industrieländern an 2. Stelle nach Herz- und Kreislaufkrankheiten. In der Schweiz sind 30% der Todesfälle der Männer und 25% bei den Frauen auf Krebs zurückzuführen. Krebserkrankungen stellen ein wichtiges gesundheits- und sozialpolitisches Problem dar.
a
Stellvertretend für die westlichen Industrienationen sind in . Abb. 3.1 die wichtigsten Todesursachen bei Männern und Frauen in der Schweiz dargestellt.
3.1.1 Datenquellen Todesursachenstatistik. Die wesentliche Datenquelle für
die Erfassung der Krebssterblichkeit ist die amtliche Todesursachenstatistik. In dieser Statistik werden die Todesursachen (Diagnosen) anonym dokumentiert. So ist es möglich, den Anteil der verschiedenen Todesursachen an der Gesamtsterblichkeit (Mortalität) einer Bevölkerung zu beurteilen. Die Todesursachenstatistik ist die wichtigste und häufig auch immer noch die einzige Datenquelle der Epidemiologie. Alle der Weltgesundheitsorganisation (WHO) angeschlossenen Länder kennen die Meldepflicht für Sterbefälle und Todesursache. Krebsregister. In vielen Ländern werden nationale oder regional organisierte spezielle Krebsregister geführt, in denen jede Neuerkrankung an Krebs registriert wird. Krebsregister können somit auch Informationen zur Häufigkeit (Inzidenz) maligner Tumoren liefern. Durch Zusammenarbeit mit den pathologischen Instituten wird für jeden registrierten Fall eine genaue histologische Klassifikation
b
. Abb. 3.1. Die häufigsten Todesursachen in der Schweiz 2006. a Männer. b Frauen. (Quelle: Das Gesundheitswesen in der Schweiz. Interpharma, Basel 2008)
41 3.2 · Methoden und Begriffe der Epidemiologie
dokumentiert. In einzelnen Krebsregistern werden auch Angaben über die beruflichen Tätigkeiten gesammelt. Die Daten eines Krebsregisters erlauben somit epidemiologische Aussagen über: 4 Krebshäufigkeit und -sterblichkeit im Einzugsbereich/ Meldebereich des Registers, 4 ihre Veränderungen im Laufe der Zeit (seit Bestehen des Registers), 4 ihre Abhängigkeit von Alter, Geschlecht, Wohnort und evtl. von der beruflichen Tätigkeit.
3.2
Methoden und Begriffe der Epidemiologie
3.2.1 Deskriptive Epidemiologie Sie beschreibt Krankheitshäufigkeiten in Bevölkerungsgruppen, Veränderungen im Verlauf der Zeit, regionale Auffälligkeiten sowie Unterschiede bedingt durch Alter, Geschlecht und Beruf. Untersuchungsgegenstand der deskriptiven (beschreibenden) Epidemiologie ist also eine Bevölkerung (Population), sei es die eines Landes, eines Gebietes, einer Stadt oder einer anderen, definierten Region. Maßzahlen der deskriptiven Epidemiologie sind Inzidenz, Prävalenz und Mortalität: Inzidenz, Prävalenz und Mortalität werden häufig pro 100.000 Einwohner angegeben. Man spricht dann von Inzidenz-, Prävalenz- bzw. Mortalitätsraten. Definition Unter Inzidenz versteht man die Anzahl Neuerkrankungen in einer definierten Bevölkerung während eines bestimmten Zeitraumes (meist 1 Jahr).
Beispiel Die Inzidenzrate des Mammakarzinoms in Deutschland beträgt 79,8. Das bedeutet: Jährlich erkranken von 100.000 Frauen 79,8 neu an Brustkrebs.
Definition Die Prävalenz einer Krankheit ist die Anzahl der Menschen, die in einer definierten Bevölkerung zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Leiden erkrankt sind.
Die Prävalenz hängt somit nicht nur von der Häufigkeit, sondern auch von der Dauer und Heilbarkeit einer Erkrankung ab: Je chronischer eine Krankheit verläuft und je niedriger ihre Mortalität, desto höher ist ihre Prävalenz. Diese wird häufig für eine bestimmte Zeitperiode angegeben.
Beispiel Die 5-Jahres-Prävalenzrate des Mammakarzinoms in Deutschland beträgt 0,553% oder 553. Das bedeutet, dass bei 0,553% (oder 553 von 100.000) der aktuell in Deutschland lebenden Frauen in den vergangenen 5 Jahren ein Brustkrebs diagnostiziert wurde.
Definition Die Mortalität bezeichnet die Anzahl von Todesfällen an einer Erkrankung in einer definierten Bevölkerung während eines bestimmten Zeitraumes (meist 1 Jahr).
Beispiel Die Mortalität an Brustkrebs in Deutschland beträgt 21,6. Das bedeutet, dass pro Jahr von 100.000 Frauen 21,6 an Brustkrebs sterben.
Altersstandardisierte und alterskorrigierte Inzidenzund Mortalitätsraten. Die meisten Tumorarten treten im
Alter häufiger auf. Eine Bevölkerung mit einem großen Anteil älterer Menschen weist also eine hohe Tumorinzidenz auf. Vergleiche der Krebsinzidenz von Bevölkerungen mit unterschiedlicher Altersstruktur werden deshalb irreführende Resultate ergeben, solange diese Unterschiede nicht berücksichtigt werden. Die Inzidenz- oder Mortalitätsraten verschiedener Populationen werden deshalb entweder statistisch einander angeglichen (korrigiert) oder an einen definierten Standard (z. B. den durchschnittlichen Altersaufbau der Weltbevölkerung) angeglichen (standardisiert). Man spricht dann von alterskorrigierten oder altersstandardisierten Inzidenz- bzw. Mortalitätsraten. . Abb. 3.2 zeigt regionale Unterschiede der altersstandardisierten Häufigkeit (Inzidenz) und Mortalität verschiedener Tumoren innerhalb Europas. Es wird daraus ersichtlich, dass Krebserkrankungen in Europa je nach Region mit unterschiedlicher Häufigkeit auftreten: Frauen zeigen zwar in allen europäischen Ländern hohe Raten von Brust- und Dickdarmkrebs; in Osteuropa sind aber Zervix- und Magenkarzinom häufiger als in Westeuropa; dafür ist Lungenkrebs in Westeuropa häufiger als in den Ländern Osteuropas. Jedes Land muss deshalb seine eigenen epidemiologischen Daten untersuchen und eigene Schwerpunkte in der Krebsprävention setzen. Zeitliche Trends. Veränderungen von Mortalitätsraten geben oft wichtige Hinweise auf Risikofaktoren oder die Wirksamkeit von Vorsorge- und Behandlungsmaßnahmen. . Abb. 3.3 zeigt Veränderungen der Sterblichkeit der 5 wichtigsten Tumorarten in Deutschland seit 1950, z. B.: 4 Während die Sterblichkeit an Lungenkrebs bei Männern dank veränderter Rauchgewohnheiten seit etwa 1985 abnimmt, steigt sie bei Frauen in den letzten Jah-
3
42 Kapitel 3 · Epidemiologie: Risikofaktoren und die Entstehung maligner Tumoren
3
. Abb. 3.2. Inzidenz und Mortalität der wichtigsten Krebsarten bei Frauen, Vergleich von West- und Osteuropa. Zu Westeuropa werden hier gezählt: Belgien, Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Schweiz. Zu Osteuropa zählen: Bulgarien, Republik Moldova, Polen, Rumänien, Russische Föderation, Slowakei, Tsche-
chien, Ukraine, Ungarn, Weißrussland. Die Zahlen bezeichnen die altersstandardisierte Mortalität bzw. Inzidenz auf 100.000 Einwohner/ Jahr. Die unterschiedliche Skala für West- und Osteuropa ist zu beachten! (Aus: UICC 2006, mit frdl. Genehmigung)
a
b
. Abb. 3.3. Die 5 häufigsten Krebstodesursachen in Deutschland 1950–2005 (Mortalität). a Männer. b Frauen. (Nach Becker u. Wahrendorf 1998, Fortschreibung im Internet: www.krebsatlas.de)
43 3.2 · Methoden und Begriffe der Epidemiologie
ren leider an. Lungenkrebs ist mittlerweile die zweithäufigste Krebstodesursache bei Frauen in Deutschland und der EU. 4 Aufgrund sinkender Inzidenz, wahrscheinlich wegen geänderter Essgewohnheiten, ist die Mortalität an Magenkrebs sowohl bei Frauen als auch bei Männern schon seit Längerem deutlich rückläufig. 4 Die Mortalität an Brustkrebs nimmt ab. Dabei spielen sowohl Früherkennung als auch neue Therapieformen (adjuvante Systemtherapie) eine wichtige Rolle. ! Insgesamt haben sich in der EU die langfristigen Überlebensraten bei vielen Krebsarten in den letzten Jahrzehnten erheblich verbessert, v. a. dank Fortschritten in der Früherkennung und Therapie.
Die Früherkennung hat einen großen Beitrag zur Verbesserung der Überlebensraten beim Zervixkarzinom, beim Dickdarmkrebs sowie beim Melanom geleistet. Bei Hodenkrebs, Morbus Hodgkin sowie bei Krebs im Kindesalter sind v. a. neue therapeutische Möglichkeiten entscheidend für die Verbesserung der Überlebensraten. Beim Mammakarzinom spielen – wie erwähnt – sowohl Früherkennung als auch Therapieneuerungen eine wichtige Rolle. Relative Überlebensraten. Als Maß für den Behandlungserfolg bei einer bestimmten Erkrankung können Überlebensraten berechnet werden. Bei Krebserkrankungen werden meist 5-Jahres- oder 10-Jahres-Überlebensraten berechnet. Definition Die relative 5- oder 10-Jahres-Überlebensrate gibt die Wahrscheinlichkeit an, die auf die Krebsdiagnose folgenden 5 oder 10 Jahre zu überleben, bezogen auf die Überlebenswahrscheinlichkeit von gleichaltrigen, nicht an Krebs erkrankten Personen.
Beispielhaft zeigt . Tab 3.1 relative Überlebensraten für das Mammakarzinom in verschiedenen Stadien. ! Die 5-Jahres-Überlebensrate darf nicht mit einer Heilungsrate gleichgesetzt werden.
Der früher oft gebrauchte Begriff der »5-Jahres-Heilung« wurde deshalb auch verlassen: Viele Tumorkrankheiten, z. B. das Mammakarzinom, können auch viele Jahre nach Diagnose und Erstbehandlung rezidivieren und damit zum Tod führen. Bei diesen Krankheiten ist die relative Überlebensrate nach 10 Jahren deutlich geringer als nach 5 Jahren. Anders ist die Situation bei Tumoren, bei denen Spätrezidive selten auftreten, z. B. beim Dickdarmkarzinom: Hier sinkt die relative Überlebensrate zwischen 5 und 10 Jahren nur noch wenig ab, da die Patienten ein zur Normalbevölkerung vergleichbares Überleben haben.
. Tab. 3.1. Relative Überlebensraten für Brustkrebs
Stadium I
Stadium IV
4 Kleiner Primärtumor 4 Keine Lymphknoten 4 Keine Fernmetastasen
4 Fernmetastasen
Nach 5 Jahren
99%
25%
Nach 10 Jahren
96%
13%
Nach 15 Jahren
90%
90% Patienten*
Carmustin >250 mg/m2 Cisplatin >50 mg/m2 Cyclophosphamid i.v. >1500 mg/m2 Dacarbazin Dactinomycin Lomustin >60 mg/m2. Mechlorethamin Procarbazin Streptozotocin
Minimal
Mäßig bis hoch
30–90% der Patienten*
Aldesleukin (Interleukin-2; >12–15 Mio.) Arsentrioxid Azacitidine Busulfan i.v.>4 mg/m2 Carboplatin Carmustin 60 mg/m2 Epirubicin >90 mg/m2 Etoposid p.o. Idarubicin Ifosfamid Imatinib Irinotecan Melphalan i.v.>50 mg/m2 Methotrexate 250–1000 mg/m2 Mitoxantron Oxaliplatin Temozolamid Vinorelbine p.o.
Bevacizumab Bleomycin Busulfan p.o. Cetuximab Cladribin (2-CDA) Chlorambucil . Dasatinib Erlotinib. Fludarabin i.v. 5-Fluorouracil Einlauf). Einläufe sollten auf besonders »hartnäckige Fälle« beschränkt bleiben. ! Bei allen Tumorpatienten muss besonders auf deren reduzierte Abwehrsituation geachtet werden; d. h. bei der Durchführung von Einläufen muss besonders vorsichtig vorgegangen werden. Bei neutropenischen und thrombozytopenischen Patienten sollten aufgrund des Risikos der Keiminvasion und Blutung keine Einläufe durchgeführt werden.
Auf die Anwendung von ausreichend Gleitmittel wird größter Wert gelegt. Als Spülschlauch kann wegen des flexiblen Materials und der glatten Oberfläche auch ein großlumiger Harnröhrenkatheter Verwendung finden.
Literatur Degen L, Dederding JP, Bauerfeind P, Beglinger C (2008) Fakten und Mythen zur Obstipation – State of the Art. Schweiz Med Forum 8: 913–918 (im Internet abrufbar unter www.medicalforum.ch/pdf/ pdf_d/2008/2008-47/2008-47-426.pdf ) Giulieri S, Mombelli G (2005) Antibiotika-assoziierte Diarrhoe. Schweiz Med Forum 5: 409–413 (im Internet abrufbar unter www.medicalforum.ch/pdf/pdf_d/2005/2005-16/2005-16-459.pdf ) Lutz L (2001) Therapie gastrointestinaler Nebenwirkungen. In: Manual Supportive Maßnahmen und symptomorientierte Therapie. Tumorzentrum München (im Internet abrufbar unter http://tumorzentrum-muenchen.de/fileadmin/manuale/732_Manual_Supportive_Massnamen.pdf ) Weiss A, Weiss H (2005) Gastrointestinale Symptome bei Tumorpatienten. Onkologe 11: 399–406 Woolery M, Bisanz A, Lyons HF, Gaido L, Yenulevich M, Fulton S, McMillan SC (2008); Putting evidence into practice: evidence-based interventions for the prevention and management of constipation in patients with cancer. Clin J Oncol Nurs 12: 317–337
Internetadressen National Cancer Institute, USA: www.cancer.gov/cancertopics/pdq/ supportivecare/gastrointestinalcomplications/HealthProfessional (Zusammenfassung gastrointestinaler Probleme bei Tumorpatienten) National Comprehensive Cancer Network (NCCN), USA: www.nccn. org/professionals/physician_gls/f_guidelines.asp (Guidelines für Supportive Maßnahmen u. a.)
24
25
Haarausfall und Haarveränderungen K. Fellinger, T. Kroner 25.1
Der normale Haarwuchs
– 434
25.2
Therapieinduzierter Haarausfall
25.2.1 25.2.2
Haarausfall bei medikamentöser Tumortherapie Haarausfall durch Radiotherapie – 436
25.3
Pflegerische Interventionen bei Haarausfall
25.3.1 25.3.2 25.3.3
Information – 437 Beratung und Schulung – 437 Prophylaxe des Haarausfalls durch Unterkühlung der Kopfhaut
25.4
Andere therapieinduzierte Haarveränderungen
25.4.1 25.4.2 25.4.3 25.4.4
Spröde und trockene Haare – 440 Veränderungen der Haarfarbe – 441 Veränderungen der Wimpern und Augenbrauen Hypertrichose im Gesicht – 441
– 434 – 435
– 437
– 441
– 440
– 438
434
Kapitel 25 · Haarausfall und Haarveränderungen
))
25
Tumorbehandlungen können nicht nur zu Haarverlust, sondern auch zu Veränderungen der Haarfarbe und der Haarbeschaffenheit führen. Besonders der Verlust des Kopfhaars verändert die Patienten nicht nur äußerlich, sondern beeinflusst auch ihre psychische Verfassung. Mit dem Haarausfall wird die Krebserkrankung öffentlich. Betroffene sehen sich als Krebskranke gezeichnet und sind nicht selten den immer noch vorhandenen Vorurteilen der Gesellschaft gegenüber Krebs ausgesetzt. Mit erweitertem Fachwissen sind Pflegende in der Lage, Betroffene zu beraten, wie sie mit diesen einschneidenden Veränderungen besser umgehen können.
25.1 Der normale Haarwuchs Im Durchschnitt hat ein Mensch ca. 100.000 Kopfhaare. Jedes Haar entsteht in einem Haarfollikel, einer Einstülpung der Epidermis. Das Haar wächst in drei Phasen: 1. Wachstumsphase (Anagenphase), 2. Übergangsphase (Katagenphase), 3. Ruhephase (Telogenphase). Nicht alle Haare befinden sich in derselben Phase des Haarwachstums, sonst würden immer alle Haare gleichzeitig ausfallen. 1. Die Wachstumsphase ist die Phase des aktiven Haarwachstums. Sie dauert ca. 2–6 Jahre. In diesem Zeitraum teilen sich die Zellen im Bereich der Haarwurzel mit hoher Frequenz. Dadurch wächst das Haar täglich um etwa 0,35 mm. In der Wachstumsphase befinden sich ca. 85–90% der Kopfhaare. Wegen der großen Anzahl sich teilender Zellen sind die Haarfollikel in dieser Phase sehr anfällig für Schädigungen durch Zytostatika oder Radiotherapie. Die Körperhaare und die Augenbrauen befinden sich nur für 3 Monate in der aktiven Wachstumsphase. Sie werden deshalb weniger lang und sind deshalb auch weniger der Schädigung durch Zytostatika ausgesetzt. Damit erklärt sich, weshalb unter Chemotherapien oft nur das Kopfhaar, nicht aber die Augenbrauen ausfallen. 2. Die Phase, in der die Haarwurzel umgebaut wird, wird als Übergangsphase bezeichnet. In dieser Phase, die 1– 2 Wochen dauert, stellen die Zellen der Haarwurzel vorübergehend die Zellteilung und damit die Haarproduktion ein. Das untere Ende des Haares verhornt, und das Haar wird nach oben geschoben. Dort wird es noch in der Haarwurzel festgehalten. In der Übergangsphase befinden sich nur ca. 1–3% der Kopfhaare.
. Tab. 25.1. Dauer der Wachstumsphasen von Kopfhaar und Augenbrauen
Kopfhaar
Augenbrauen
Wachstumsphase
2–6 Jahre
4–7 Monate
Übergangsphase
1–2 Wochen
3–4 Wochen
Ruhephase
1–3 Monate
9 Monate
3. In der Ruhephase verbleibt das Haar noch 1–3 Monate in der Haarwurzel und fällt dann z. B. durch Waschen, Kämmen oder durch das nachwachsende Haar aus. Bei einem normalen Haarwachstumszyklus fallen täglich bis zu 100 Kopfhaare aus. In der Ruhephase befinden sich 7–14% der Haare. Im Anschluss an diese 3 Phasen beginnt erneut eine Wachstumsphase. Die Wachstumsphasen des Haarfollikels werden durch Wachstumsfaktoren gesteuert, so auch durch den epithelialen Wachstumsfaktor (engl. »epithelial growth factor«; EGF). Rezeptoren für EGF (EGFR) finden sich auf den Zellen der Haarfollikel. Tumorwirksame Medikamente, die ihre Wirkung über die Beeinflussung des EGFR ausüben, führen deshalb oft zu Veränderungen der Haarbeschaffenheit (7 Kap. 25.4). Die Dauer der 3 Phasen unterscheidet sich für Kopfhaare und Augenbrauen deutlich (. Tab. 25.1). Dies erklärt die Unterschiede in der Länge dieser Haare und ihrer Reaktion auf Chemo- oder Radiotherapie.
25.2 Therapieinduzierter Haarausfall Teilweiser oder vollständiger Haarausfall (Alopezie) ist eine bekannte unerwünschte Wirkung der medikamentösen Tumortherapie und auch der Radiotherapie. Haarverlust wird von Betroffenen – wie alle Veränderungen des Körperbildes (7 Kap. 29) – sehr unterschiedlich erlebt und akzeptiert. Manchen gelingt es, im Rahmen ihrer Erkrankung den Haarverlust recht gelassen als »notwendiges Übel« hinzunehmen. Andere jedoch schildern dieses Erlebnis als einschneidende und schlimme Erfahrung während ihrer Krebserkrankung. Selten gibt es Betroffene, die eine Haarausfall bewirkende Tumortherapie sogar ganz ablehnen. Der Schweregrad des Haarausfalls wird nach CTCAE (Common Terminology Criteria for Adverse Events; 7 Kap. 6.5) wie in . Tab. 25.2 dargestellt angegeben.
435 25.2 · Therapieinduzierter Haarausfall
. Tab. 25.2. Schweregrad des Haarausfall (nach CTCAE V4.02)
. Tab. 25.3. Häufigkeit* des Haarausfalls bei Zytostatika (in alphabetischer Reihenfolge)
Grad
Haarausfall
1
4 Verlust bis zu 50% der für den Betroffenen üblichen Haardichte 4 Erkennbar nur bei naher Betrachtung, nicht auf Distanz 4 Eventuell Änderung der Frisur, aber kein Haarersatz nötig
Führen üblicherweise zu Haarausfall
Führen gelegentlich zu Haarausfall
Führen üblicherweise nicht zu Haarausfall
Actinomycin Amsacrin Cyclophosphamid (i.v) Daunorubicin Docetaxel Doxorubicin Epirubicin Etoposid Etoposidphosphat Idarubicin Ifosfamid Irinotecan Paclitaxel Topotecan
Capecitabin Cytosin-Arabinosid Dacarbazin Fluorouracil Mitomycin Mitoxantron Raltitrexed Treosulfan Vinblastin Vincristin Vindesin Vinorelbin
Anagrelid Asparaginase Azacitidin Bleomycin Bortezomib Busulfan Carboplatin Cisplatin Carmustin Chlorambucil Doxorubicin Liposomal Fludarabin Gemcitabin Hydroxyurea Lenalidomid Leucovorin Lomustin Mechlorethamin Melphalan Mercaptopurin Methotrexat Oxaliplatin Pemetrexed Procarbazin Streptozotocin Temozolomid Temsirolimus Thalidomid Thioguanin
2
25.2.1
4 Verlust von mehr als 50% der für den Betroffenen üblichen Haardichte 4 Für Außenstehende leicht erkennbar 4 Haarersatz oder Kopfbedeckung nötig (falls Kaschierung erwünscht) 4 Mit psychosozialen Folgen verbunden
Haarausfall bei medikamentöser Tumortherapie
Es sind in erster Linie die klassischen Zytostatika, die häufig (aber nicht immer!) zu Haarausfall führen. Der Mechanismus des zytostatikabedingten Haarausfalls wird auch heute noch nicht verstanden. Es ist unklar, weshalb einige Zytostatika regelmäßig zu schwerem Haarausfall führen, während andere – von der chemischen Struktur her ähnliche Substanzen – oft keinen oder nur geringen Haarausfall verursachen. Unklar ist auch, weshalb es etwa bei der wiederholten Gabe von Doxorubicin zunächst zu einem erheblichen Haarverlust kommt, dann aber – unter Weiterführung der Therapie – die Haare wieder zu wachsen beginnen. Neben dem Kopfhaar können auch Wimpern, Brauen, Barthaar und die Körperbehaarung, besonders die Achselhaare und Haare im Genitalbereich, von der Alopezie betroffen sein. Andere tumorwirksame Medikamente wie hormonell wirkende Substanzen, monoklonale Antikörper und Hemmstoffe der Signalübermittlung führen seltener zu Haarausfall. Unter EGFR-Hemmern tritt bei Behandlung über mehrere Monate gelegentlich eine leichte Alopezie, v. a. im Stirnbereich, auf. Häufiger sind unter diesen Medikamenten aber andere Haarveränderungen (7 Kap. 25.4)
Beeinflussende Faktoren
* Abhängig auch von anderen Faktoren, v. a. Dosis und Applikationsweise (7 unten)!
! Neben dem Zytostatikum selbst sind zahlreiche andere Faktoren für den Schweregrad des Haarausfalls verantwortlich. Dies erklärt, warum das gleiche Zytostatikum zu sehr unterschiedlicher Ausprägung von Haarausfall führen kann. Neben der Substanz müssen immer auch andere Faktoren wie Dosis, Applikationsart etc. (7 unten) berücksichtigt werden.
Der Schweregrad des Haarausfalls unter Zytostatika wird durch verschiedene Faktoren bestimmt:
Dies gilt besonders für die in der mittleren Spalte von . Tab. 25.3 aufgeführten Medikamente; . Tab. 25.3 kann deshalb nur orientierende Hinweise geben.
Wahl des Zytostatikums. Es gibt Zytostatika, die fast immer Haarausfall bewirken, z. B. Paclitaxel, und auch solche, die in der Regel gar keinen Haarausfall auslösen, z. B. Fludarabin. Zu beachten ist, dass nicht alle Zytostatika der gleichen Wirkstoffgruppe gleich stark haartoxisch sind.
Dosierung. Mit erhöhter Dosis steigt in der Regel auch die epilierende Wirkung des entsprechenden Zytostatikums. So verursacht Busulfan in der üblichen peroralen Dosierung keinerlei Haarausfall, nach Hochdosisgabe vor Stammzelltransfusion ist jedoch regelmäßig ein vollständi-
25
436
Kapitel 25 · Haarausfall und Haarveränderungen
ger Haarverlust zu beobachten. Hingegen verlieren die Patienten bei anderen Medikamenten (z. B. Gemcitabin) selbst bei höheren Dosierungen nur in seltensten Fällen ihre Haare.
25
Therapieschema, Applikationsart und -dauer. Ein Zytostatikum kann im Rahmen verschiedener Therapieschemata eingesetzt werden und zu unterschiedlich ausgeprägtem Haarausfall führen. Einige Beispiele: 4 In 3- bis 4-wöchentlichen Zeitabständen als Bolus oder Kurzinfusion verabreichte intravenöse Therapien mit epilierenden Zytostatika führen in der Regel zu starkem Haarverlust. Bei gleicher Gesamtdosis führt die wöchentliche intravenöse Verabreichung von Doxorubicin in der Regel zu geringerem Haarausfall als die Applikation der 3-fachen Dosis alle 3 Wochen. 4 Bei Therapieschemata mit kontinuierlicher Infusion über mehrere Tage, z. B. FOLFOX, erleben die Patienten trotz höherer Dosierung des über 2 Tage kontinuierlich verabreichten 5-FU einen nur wenig ausgeprägten Haarverlust 4 Tägliche perorale Medikamenteneinnahme führt meistens zu keinem oder nur zu geringem Haarausfall. Kombinationen von Zytostatika. Werden mehrere epilierende Zytostatika gleichzeitig verabreicht (Kombinationschemotherapie), so erhöht sich in der Regel auch das Risiko des Haarverlustes. Andere Medikamente. Nicht nur tumorwirksame Medikamente führen zu Haarausfall! Auch folgende Medikamente können Haarverlust verursachen: 4 Heparin, 4 Orale Antikoagulanzien, 4 Lithium, 4 Indomethacin, 4 Allopurinol, 4 β-Blocker, 4 Thyreostatika, 4 hormonale Kontrazeptiva, 4 Vitamin A in hoher Dosierung. Patientenbezogene Faktoren. Der Schweregrad des Haar-
ausfalls ist auch von individuellen Faktoren abhängig. Folgende Faktoren begünstigen einen therapiebedingten Haarausfall: 4 vorbestehender schütterer Haarwuchs oder dünnes Haar, 4 höheres Alter, 4 schlechter Ernährungszustand, 4 schwere Begleiterkrankungen, v. a. Infekte, 4 dauergewelltes, gefärbtes und strapaziertes Haar scheint ebenfalls anfälliger.
Unbekannte Faktoren. Nicht immer ist der Grad des Haarausfalls vorhersehbar. Zahlreiche, teils unbekannte Faktoren bewirken, dass die gleiche Therapie individuell zu unterschiedlich stark ausgeprägtem Haarausfall führen kann.
Chronologischer Ablauf des Haarverlustes Falls es zu einem deutlichen Haarverlust kommt, tritt dieser meist 10–28 Tage nach der Verabreichung der ersten Chemotherapiedosis ein, sehr selten bereits in den ersten Tagen nach Therapiebeginn. Bis zum Verlust von ca. 50% des ursprünglichen Haarvolumens bleibt der Haarverlust vielfach von Außenstehenden unbemerkt. ! Chemotherapieinduzierter Haarausfall ist reversibel!
Erneutes Haarwachstum setzt in Einzelfällen schon unter fortgesetzter Therapie ein, i. Allg. ca. 2–4 Wochen nach Abschluss der Chemotherapie. Von diesem Zeitpunkt an kann der Patient damit rechnen, nach ca. 3 Monaten ohne Perücke auszukommen. Wimpern, Augenbrauen und übrige Körperbehaarung wachsen ebenfalls in diesem Zeitraum nach. Das neu gewachsene Haar unterscheidet sich oft in Farbe und Beschaffenheit von seiner ursprünglichen Art. Bei vielen Patienten, deren Haar früher strähnig und glatt war, wächst vorerst krauses, gelocktes Haar nach, oft zeigt auch bereits ergrautes Haar wieder seine frühere Farbe. Nach etwa einem Jahr hat das Haar dann wieder die gleiche Beschaffenheit wie vor der Chemotherapie.
25.2.2
Haarausfall durch Radiotherapie
Die Strahlentherapie verursacht ähnliche Schäden an den Haarfollikeln wie die zytostatische Behandlung. Die Alopezie tritt nur in den bestrahlten Gebieten auf (eine Bestrahlung des Abdomens verursacht keinen Haarausfall am Kopf). Der Alopeziegrad ist abhängig von der verabreichten Strahlendosis und dem Bestrahlungsvolumen (Ganzschädelbestrahlung oder Schädelteilbestrahlung). Bei Schädelbestrahlung mit niedriger Dosierung, z. B. 30 Gy, beginnt das erneute Haarwachstum ca. 6 Monate nach Beendigung der Radiotherapie. ! Nach Ganzschädelbestrahlung mit einer Dosis >60 Gy sind die Haarfollikel bei den meisten Patienten irreversibel geschädigt.
437 25.3 · Pflegerische Interventionen bei Haarausfall
25.3
25.3.1
Pflegerische Interventionen bei Haarausfall Information
Durch frühzeitige und sachgemäße Information über eine mögliche therapieinduzierte Alopezie können Pflegende und Ärzte dem Patienten helfen, besser mit dieser belastenden Situation umzugehen. Frühzeitig heißt: ! Wenn der Patient sein Haar mit großer Sicherheit verlieren wird, muss er dies vor Therapiebeginn wissen.
Dies ist wichtig, weil jeder Patient ganz individuell Zeit braucht, um sich und seine Umgebung langsam an das veränderte Äußere zu gewöhnen. Ebenso sollen Patienten die Gelegenheit haben, eine Therapie, die zu Alopezie führt, abzulehnen, was allerdings selten vorkommt. Des Weiteren müssen organisatorische Faktoren zur Beschaffung des Haarersatzes berücksichtigt werden. Es empfiehlt sich deshalb, anhand einer Checkliste (. Übersicht) zu prüfen, ob der Patient eine umfassende Information erhalten hat.
Checkliste zur Information vor Therapiebeginn 5 Chronologischer Ablauf und Reversibilität des zu erwartenden Haarausfalls 5 Abhängigkeit von Medikament, Dosierung und Applikationsart 5 Möglicher Ausfall von Wimpern, Brauen und Körperbehaarung sowie – bei Männern – von Bart und Schnurrbart 5 Veränderte Beschaffenheit des neu wachsenden Haars
Für die Information der Patienten ist folgender Punkt von großer Bedeutung – er sei deshalb hier wiederholt: ! Chemotherapieinduzierter Haarausfall ist immer reversibel! Radiotherapieinduzierter Haarausfall ist – in Abhängigkeit von der Strahlendosis – nicht immer reversibel.
25.3.2
Beratung und Schulung
Eine rechtzeitige Beratung und Schulung zu verschiedenen Themen ist nötig, wenn als Folge einer geplanten Therapie mit starkem Haarausfall zu rechnen ist.
Checkliste zur Beratung und Schulung 5 Haarpflege während der Therapie 5 Kosmetische Möglichkeiten bei Alopezie 5 Kosmetische Möglichkeiten bei Ausfall von Wimpern und Brauen 5 Schutz der kahlen Kopfhaut 5 Möglichkeiten der Alopezieprophylaxe durch Hypothermie der Kopfhaut (7 Kap. 25.3.3) 5 Motivation und Lernbedarf für kosmetische Möglichkeiten klären
Haarpflege während der Therapie 4 Milde Shampoos und weiche Haarbürsten verwenden. 4 Nach Möglichkeit auf Dauerwellen oder Färben verzichten. 4 Nach Möglichkeit auf Heizlockenwickler verzichten. 4 Das Haar nicht mit Gummibändern straff binden, nicht mit Haarkämmen oder -clips straff befestigen.
Anpassung der Frisur Vor allem Frauen sollten sich bereits vor dem Haarausfall überlegen, welche Frisur (Perücke) sie nach dem Haarausfall tragen möchten. Perücken mit sehr langem Haar können gelegentlich unnatürlicher aussehen. Oft ziehen Patientinnen und Patienten es vor, sich die Haare gleich selbst ganz kurz zu schneiden oder zu rasieren, bevor sie ausfallen. Das Ausfallen von langen Haaren wird als störender empfunden als Haarausfall von kurzem Haar.
Möglichkeiten zur Kaschierung der Alopezie Wie von Alopezie betroffene Patienten mit ihrer Situation umgehen und welche Variante sie zur Überbrückung der Zeitspanne ohne Haare wählen, hängt wesentlich mit der Einstellung und der Kreativität der Pflegenden und der Ärzte zusammen. Diese sollten die Patienten so umfassend beraten, dass sie motiviert sind, selbst auszuprobieren, was ihnen steht, selbst zu entscheiden, ob sie eine Perücke wünschen oder andere Varianten bevorzugen. Für Männer mit vorbestehender Glatze ist eine Perücke meist wenig geeignet. Auch andere Männer, v. a. wenn sie viel Sport treiben, entscheiden sich oft gegen eine Perücke und legen sich vor Beginn der Chemotherapie eine Kurzhaarfrisur zu. Pflegende können den geschützten Rahmen bieten, in dem die Patienten verschiedene Möglichkeiten ausprobieren und eine ehrliche Beurteilung ihres Äußeren erwarten können.
Perücken Oft sind Pflegende Erstberatende, wenn es um die Anschaffung einer Perücke geht. Sie sollten folgende Punkte in ihrer Beratung berücksichtigen:
25
438
25
Kapitel 25 · Haarausfall und Haarveränderungen
4 Die Patienten sollten von geeigneten Friseur- oder anderen Fachgeschäften in der Umgebung beraten werden. Auf Wunsch sollen Adressen von guten Fachgeschäften vermittelt werden. Bei bettlägerigen Patienten ist darauf zu achten, dass die Fachkraft zum Patienten kommen kann. Sollte dies nicht möglich sein, kann die Fachkraft mit Hilfe folgender Anhaltspunkte eine Perücke anfertigen: 5 genaue Ausmessung des Kopfes nach Anweisung der Fachkraft; 5 qualitativ gutes Foto des Patienten mit der aktuellen Frisur oder mit einer früheren, bevorzugten Frisur; 5 ein Büschel Haare des Patienten abschneiden als Muster für Farbe und Beschaffenheit. 4 Vorurteile gegenüber Perücken erkennen und abbauen, evtl. durch Vorstellung eines anderen Betroffenen mit einer guten Perücke. An dieser Stelle ist auch zu erwähnen, dass die Scheu gegenüber Kunsthaarperücken unbegründet ist. Diese werden heute so perfekt gearbeitet, dass sie kaum von Naturhaar zu unterscheiden sind. Natürlich hängt dies auch vom Preis ab. Sie sind aber in jedem Fall billiger als Naturhaarperücken, meist auch leichter und einfacher zu pflegen. 4 Sich vergewissern, dass Patienten vom Fachgeschäft richtig über die Pflege von Kopfhaut und Haarersatz informiert wurden. 4 Abklären, wieweit die Kosten gedeckt sind: 5 In Deutschland und in Österreich wird den Patienten eine Perücke von der Krankenkasse bezahlt. 5 In der Schweiz übernimmt die Invalidenversicherung in der Regel die Kosten bis Fr. 1500,– pro Kalenderjahr. Bei Patienten im AHV-Alter übernimmt die AHV in der Regel 75% des Nettopreises einer Perücke, maximal Fr. 1000,– pro Jahr. Ein entsprechendes ärztliches Zeugnis muss vorliegen.
Kopfbedeckungen Mit Hüten, gestrickten Mützen oder kunstvoll um den Kopf gebundenen Haartüchern kann ein vorteilhafter optischer Effekt erreicht werden (. Abb. 25.1). Es gibt unzählige Tuchbindetechniken, die für jede Patientin eine tragbare Lösung ermöglichen sollten. Es ist dabei zu beachten, dass sogar Seidentücher durchaus gut am Kopf halten, wenn sie richtig gebunden werden. Von Jugendlichen werden oft auch Baseball-Mützen gewählt. Ebenso häufig tragen Betroffene gestrickte Mützen oder im Sommer Strohhüte. Ältere Frauen bevorzugen im häuslichen Bereich oft einen Turban aus Baumwollfrottee. Viele Patientinnen wünschen aber trotz dieser Möglichkeiten zusätzlich eine Perücke, v. a. für den außerhäuslichen Bereich.
Schutz der kahlen Kopfhaut Es gibt immer wieder Patienten, in der Regel eher jüngere, die keine Kopfbedeckung wünschen. Besonders im Sommer werden von ihnen Kopfbedeckungen, v. a. Perücken, als zu lästig empfunden. Da aber durch die Sonne die Verbrennungsgefahr der Kopfhaut sehr groß ist, müssen diese Patienten unbedingt dazu angehalten werden, an ausreichenden Sonnenschutz zu denken: 4 Schutz durch Hüte, Mützen, Kopftücher, 4 ausreichend wirksame Sonnenschutzmittel auftragen, 4 feuchtigkeitspendende Creme oder Lotion als Schutz vor dem Austrocknen der Haut auftragen. ! Insbesondere während einer Radiotherapie im Kopfbereich muss den Patienten dringend geraten werden, die Kopfhaut vollständig vor Sonnenlicht zu schützen.
Ausfall von Wimpern und Brauen Nicht selten verlieren Patienten nach Chemotherapie – je nach Zytostatikum – auch Wimpern und Brauen. Dem Umfeld des Patienten fällt meist »nur« der Verlust des Kopfhaares auf. Der Verlust von Wimpern und Brauen verändert aber das Aussehen und den Gesichtsausdruck ebenfalls sehr stark. Patienten und Umfeld empfinden dies unterschiedlich. ! Bei Verlust der Wimpern sollten die Augen mit einer Sonnenbrille vor intensivem Licht und Staub geschützt werden.
Brauen können nachgezeichnet werden. Der Verlust der Wimpern kann durch künstliche Wimpern evtl. befriedigend kompensiert werden. In Deutschland und in der Schweiz ist die Stiftung »Look Good Feel Better« vertreten. Sie offeriert den Patienten einen ca. 2-stündigen Kurs mit Anleitungen zur Optimierung des Aussehens, u. a. durch Make-up-Beratung. 4 Deutschland: www.aktiv-gegen-krebs.de, 4 Schweiz: www.lookgoodfeelbetter.ch.
25.3.3
Prophylaxe des Haarausfalls durch Unterkühlung der Kopfhaut
Prinzip und Technik der Unterkühlung Durch die lokale Unterkühlung (Hypothermie) wird die arterielle Blutversorgung der Kopfhaut reduziert und gleichzeitig der Stoffwechsel in den Zellen der Haarwurzeln vermindert. Geschieht dies in der Zeitspanne der höchsten Blutkonzentration des Zytostatikums, werden die Haarwurzeln weniger geschädigt, weil weniger toxische Substanzen an und in die Haarwurzeln gelangen. Zur Unterkühlung der Kopfhaut stehen zwei verschiedene Systeme zur Verfügung:
439 25.3 · Pflegerische Interventionen bei Haarausfall
. Abb. 25.1. Anleitung zum Binden von Kopftüchern. (Nach Krebsliga Schweiz)
4 Gel-Kühlhauben:
Sie enthalten ein Gel, das auch in tiefgekühltem Zustand flexibel bleibt. Die Hülle besteht aus einem straffen, dehnbaren, wasserfesten Gewebe. Die Hauben werden im Tiefkühlfach eines Kühlschranks gelagert und der Patientin vor der Chemotherapie aufgesetzt. Die Hauben erwärmen sich innerhalb von ca. 20– 30 min und müssen während der Applikation regelmäßig durch frische, gekühlte Hauben ersetzt werden. 4 Kühlhauben mit geschlossenem Kühlsystem: Eine Kühlflüssigkeit wird in einem elektrisch betriebenen Kühlapparat auf die gewünschte Temperatur abgekühlt und durch einen Schlauch kontinuierlich in eine Silikonkühlhaube geführt. Dort zirkuliert sie
durch ein Kanalsystem und fließt dann wieder zurück in den Kühlapparat. Diese Systeme sind in der Anschaffung sehr teuer. Gegenüber »konventionellen« Hauben besteht aber der Vorteil, dass die Haube während der Applikation nicht ausgewechselt werden muss und somit wesentlich längere Kühlzeiten ohne zusätzliche zeitliche Belastung des Personals möglich sind.
Pharmakologische Voraussetzungen für den sinnvollen Einsatz Die verabreichten Zytostatika dürfen nur während kurzer Zeit eine hohe Konzentration im Blut aufweisen, da die schädigende Wirkung an den Haarwurzeln sonst zu lange
25
440
Kapitel 25 · Haarausfall und Haarveränderungen
andauert. Diese Bedingung wird nur von wenigen Zytostatika erfüllt. Die Zytostatikaverabreichung darf nicht länger als 30–60 min dauern, da eine längere Kühlung mit großen praktischen Schwierigkeiten verbunden ist (7 unten).
25
Mögliche Indikationen Aufgrund des aktuellen Wissensstandes kann eine Anwendung bei folgenden Therapien diskutiert werden: 4 Paclitaxel in wöchentlicher Applikation, 4 Docetaxel in wöchentlicher Applikation, 4 Epirubicin und Doxorubicin in wöchentlicher Applikation. Kontraindikationen. Bei adjuvanten Therapien wird von der Anwendung generell abgeraten: Es ist nicht auszuschließen, dass durch die Hypothermie die Wirkung des Zytostatikums auf mögliche Mikrometastasen in der Kopfhaut abgeschwächt wird. Aus dem gleichen Grund wird auch bei Leukämien auf den Einsatz von Kühlhauben verzichtet.
4 Wie lange vor bzw. nach der Applikation des Zytostatikums muss gekühlt werden? 4 Wirkt die Kühlung besser bei nassem oder bei trockenem Haar? 4 Welches ist das beste Kühlhaubenmodell? ! Von großer Bedeutung ist eine offene und umfassende Beratung vor Anwendung der Hypothermie. Dazu gehören: 4 der Hinweis auf die Unsicherheit der Wirkung, 4 der Hinweis auf den Zeitaufwand und auf mögliche Kopfschmerzen, 4 der Hinweis auf Alternativen wie Perücken und Kopfbedeckungen.
25.4
Andere therapieinduzierte Haarveränderungen
Auch ohne Haarausfall können unter der Behandlung mit tumorwirksamen Medikamenten Haarveränderungen auftreten.
Probleme der praktischen Anwendung 4 Die Kühlung wird von den Patienten nicht immer gut ertragen (Gewicht der Haube, Kopfschmerzen durch die Kälte). 4 Die Kühlung muss mindestens 15 min vor Beginn der jeweiligen Chemotherapieapplikation eingeleitet und mindestens 15 min darüber hinaus weitergeführt werden. Bei geschlossenen Kühlsystemen wird sogar empfohlen, die Kühlung 1–2,5 h (!) über die Dauer der Infusion hinaus weiterzuführen. Der dadurch bedingte zeitliche Mehraufwand bedeutet für die Patienten, aber auch für die Pflegenden, eine erhebliche Belastung. 4 Es ist im Einzelfall nicht voraussehbar, ob – auch bei guter Indikation – ein massiver Haarausfall tatsächlich verhütet werden kann.
Offene Fragen Leider gibt es nur wenige gesicherte Daten zur Hypothermie. Eine neue Übersichtsarbeit nennt lediglich 3 randomisierte klinische Studien zu ihrer Wirksamkeit. Diese Studien zeigen alle einen signifikanten Nutzen der Hypothermie, haben aber methodische Schwächen. Trotzdem kommen die Autoren der Übersicht zum Schluss, dass der Einsatz der Hypothermie unter gewissen Bedingungen vorläufig empfohlen werden kann. Weitere methodisch gute Untersuchungen zu den zahlreichen noch offenen Fragen sind nötig. Zu diesen Fragen gehören u. a.: 4 Bei welchen Medikamenten und in welchen Dosierungen ist regelmäßig eine Wirkung der Hypothermie zu erwarten? 4 Welches ist die optimale Kühltemperatur?
25.4.1
Spröde und trockene Haare
Medikamente, die die Wirkung des epithelialen Wachstumsfaktors (EGF) hemmen (7 Kap. 9.3), können nach mehreren Zyklen die Haarbeschaffenheit beeinflussen und zu trockenem oder sprödem Haar führen. Zu diesen Medikamenten zählen sowohl intravenös wie peroral verabreichte Substanzen, z. B. 4 Cetuximab, 4 Panitumumab, 4 Gefitinib, 4 Erlotinib. > Praxistipps Information und Beratung 4 Mildes Shampoo benutzen, z. B. Babyshampoo, pH-5Shampoo. 4 Evtl. Haarpackungen mit pflegenden Substanzen. 4 Föhnen auf niedriger Stufe – zu heiße Luft trocknet die Haare zusätzlich aus. 4 Dauerwellen und Haarfärben nach Möglichkeit vermeiden. 4 Nach Ende der Therapie nehmen die Haare wieder ihre normale Beschaffenheit an.
441 25.4 · Andere therapieinduzierte Haarveränderungen
25.4.2
Veränderungen der Haarfarbe
Unter Sunitinib, einem neueren Medikament aus der Gruppe der Kinasehemmer, kann eine bisher unbekannte Wirkung an den Haaren auftreten, nämlich eine Veränderung der Haarfarbe. Es handelt sich dabei um eine Depigmentierung, wahrscheinlich bedingt durch eine Störung der Synthese des Farbstoffs Melanin. Die Haare können dabei in einem gestreiften Muster, z. B. dunkel–hell–dunkel wachsen. Diese Streifen entsprechen den Abschnitten der Medikamenteneinnahme bzw. der Therapiepausen (. Abb. 25.2).
. Abb. 25.2. Haar eines Patienten unter Sunitinib. Die alternierenden Bänder entsprechen Perioden ohne (pigmentiert) und mit Therapie (depigmentiert). (Aus: Robert et al. 2005, mit frdl. Genehmigung)
> Praxistipps Information und Beratung 4 Kosmetische Lösungen (z. B. Haare tönen/färben) können vorgeschlagen werden, sofern die Haare nicht zu trocken und spröde sind. 4 Nach Absetzen des Medikaments nehmen die Haare wieder ihre frühere Farbe an.
25.4.3
Veränderungen der Wimpern und Augenbrauen
Dauert die Behandlung mit EGFR-hemmenden Medikamenten (7 Kap. 25.4.1) länger als 2–3 Monate an, sind Veränderungen an den Wimpern zu beobachten: Sie werden dicker, länger und gekräuselt (. Abb. 25.3). Dies wird als Trichomegalie bezeichnet (griech. »trichos«: Haar, »megalos«: groß). Vor allem für Brillenträger ist die Trichomegalie störend, da die langen Wimpern die Brillengläser berühren. Ähnlich verändern sich auch die Augenbrauen: Sie werden buschiger.
. Abb. 25.3. Trichomegalie der Wimpern unter Behandlung mit EGFR-Hemmer (Erlotinib). (Aus: Robert et al. 2005, mit frdl. Genehmigung)
> Praxistipps Information und Beratung
4 Bei kosmetisch störender Hypertrichose (selten): Mit der Patientin die Möglichkeit epilierender oder bleichender Maßnahmen diskutieren.
4 Empfehlen, die Wimpern regelmäßig mit der Schere zu trimmen.
25.4.4
Hypertrichose im Gesicht
Bei länger dauernder Behandlung mit EGFR-Hemmern wird oft – v. a. bei Frauen – ein vermehrtes Haarwachstum im Gesicht bemerkt. Meist handelt es sich dabei um sehr dünnes, helles, flaumiges Haar. Selten wachsen aber dickere, dunkel pigmentierte Haare, die bei Frauen kosmetisch sehr stören können.
> Praxistipps Information und Beratung
Literatur Hartmann JT et al. (2009) Haut- und Schleimhauttoxizität neuer Substanzen. Onkologe 15 (2): 163 Reeves DM (2002) Alopecia in cancer. In: Yarbro CM, Frogge MH, Goodman M (eds) Cancer symptom management. Jones & Bartlett, Boston Grevelman EG, Breed WP (2005) Prevention of chemotherapy-induced hair loss by scalp cooling. Ann Oncol 16 (3): 352–358 Krebsliga Schweiz. Image Pool für Broschüren: »Die Krebstherapie hat mein Aussehen verändert« und Gut betucht »Tipps und Tricks im Umgang mit verändertem Körperbild« Macduff C, Mackenzie T, Hutcheon A, Melville L, Archibald H (2003) The effectiveness of scalp cooling in preventing alopecia for patients receiving epirubicin and docetaxel. Eur J Cancer Care 12 (2): 154– 161 Randall J, Ream E (2005) Hair loss with chemotherapy: at a loss over its management? Eur J Cancer Care 14: 223–231)
25
442
25
Kapitel 25 · Haarausfall und Haarveränderungen
Rosenbaum S.E. et al, (2008) Dermatological reactions to the multitargetd tyrosine kinase inhibitor sunitinib, Support Care Cancer 16: 557–566 Hinds G, Thomas Valencia D (2008) Malignancy and cancer treatmentrelated hair and nail changes. Dematol Clin 26: 59–68 Lotfi-Jam K et al. (2008) Nonpharmacologic strategies for managing common chemotherapy adverse effects: a systematic review J Clin Oncol 26: 5618 Robert C et al.(2005) Cutaneous side-effects of kinase inhibitors and blocking antibodies. Lancet Oncol 6: 491–500 Gut betucht (2008) Tipps und Tricks zu kreativen Umgang mit dem Kopftuch. klarigo – Verlag für Patientenkommunikation, Pfungstadt
Internetadressen Krebsliga Schweiz: www.krebsliga.ch (Informationsbroschüre für Patienten und Angehörige: Die Krebstherapie hat mein Aussehen verändert. Tipps und Ideen für Haut und Haare) Stiftung »Look Good Feel Better«: www.lookgoodfeelbetter.org (Schweiz) bzw. www.aktiv-gegen-krebs.de (Deutschland) (2-stündiger Kurs mit Anleitungen zur Optimierung des Aussehens, u. a. durch Make-up-Beratung)
26
Haut- und Nagelveränderungen A. Margulies 26.1
Aufgaben und Anatomie der Haut
– 445
26.2
Ursachen von Haut -und Nagelveränderungen bei Tumorpatienten – 445
26.3
Maligne Hautinfiltrate
26.3.1 26.3.2 26.3.3 26.3.4 26.3.5 26.3.6
Pathophysiologie – 446 Erfassung und Beurteilung – 447 Auswirkungen auf den Patienten – 447 Medizinische Interventionen – 447 Wundpflege und Verband – 447 Pflegerische Interventionen bei der Wundversorgung
26.4
Lymphödem
26.4.1 26.4.2 26.4.3 26.4.4 26.4.5 26.4.6 26.4.7 26.4.8
Ursachen – 455 Inzidenz – 456 Erfassung und Beurteilung – 456 Kontroverse und irreführende Informationen zum Lymphödem Information und Schulung des Patienten – 457 Medizinische Interventionen – 457 Physikalische Maßnahmen – 458 Pflegerische Interventionen – 459
26.5
Pruritus
26.5.1 26.5.2 26.5.3
Ursachen – 463 Medizinische Interventionen – 463 Pflegerische Interventionen – 463
26.6
Hautveränderungen als Folge einer Radiotherapie
26.6.1 26.6.2 26.6.3 26.6.4 26.6.5
Ursachen – 465 Verlauf – 465 Erfassung und Beurteilung – 466 Medizinische Interventionen – 467 Pflegerische Interventionen – 467
– 446
– 451
– 455
– 457
– 463
– 464
26.7
Haut- und Nagelveränderungen unter medikamentöser Behandlung mit klassischen Zytostatika – 471
26.7.1 26.7.2 26.7.3 26.7.4 26.7.5 26.7.6 26.7.7
Exantheme – 471 Hand-Fuß-Syndrom – 472 Hyperpigmentation – 473 Photosensibilisierung – 475 Aufflammphänomen (engl. »recall«) – 476 Hyperkeratose und Schälen der Haut – 477 Nagelveränderungen – 477
26.8
Haut- und Nagelveränderungen unter medikamentöser Behandlung mit Hemmstoffen des EGFR – 480
26.8.1 26.8.2 26.8.3 26.8.4
Akneähnlicher Hautausschlag – 481 Trockene Haut/Fissuren – 484 Paronychie – 485 Veränderungen an Kopfhaar und Wimpern
26.9
Haut- und Nagelveränderungen unter medikamentöser Behandlung mit Multikinasehemmstoffen – 486
26.9.1 26.9.2 26.9.3
Hand-Fuß-Hautreaktion – 486 Ausschlag (»Rash«) – 486 Nagel- und Haarveränderungen
26.10
Herpesinfektion
26.10.1 26.10.2
Herpes simplex – 487 Herpes zoster – 487
– 486
– 486
– 485
445 26.2 · Ursachen von Haut -und Nagelveränderungen bei Tumorpatienten
)) Hautveränderungen, die während der Krankheit oder unter der Therapie auftreten, können Patienten und Angehörige physisch wie auch psychisch sehr belasten. Daneben stellen sie aber auch Medizin und Pflege vor Probleme. Einige neue Medikamente – v. a. die EGFR (»epidermal growth factor receptor«)- und die Kinasehemmer – führen regelmäßig zu teils schweren, kosmetisch beeinträchtigenden Haut- und Nagelveränderungen und können dadurch die Patienten sehr belasten. Pflegende können durch eine genaue Erfassung und Beurteilung von Hautveränderungen und durch geeignete Interventionen das Ausmaß der unerwünschten Wirkungen und damit die Belastungen für die Betroffenen deutlich vermindern.
den durch den epithelialen Wachstumsfaktor EGF (»epithelial growth factor«) reguliert. Es ist verständlich, dass die Zellen dieser Basalschicht besonders zahlreiche Rezeptoren für diesen Wachstumsfaktor aufweisen (»epithelial growth factor receptor«; EGFR, 7 Kap. 1.2.2 »Signalübermittlung«). Die Epidermis enthält keine Blutgefäße. Unter der Epidermis liegt das bindegewebige Corium (deutsch: Lederhaut, engl. »dermis«). Es ist gut durchblutet und enthält u. a. Nervenendigungen (Tastkörperchen). Die epithelialen Hautanhangsgebilde wie Haare und Schweißdrüsen reichen in das Corium hinein. Die ebenfalls bindegewebige Subkutis (Unterhaut) verbindet die Haut mit den darunterliegenden Organen wie Muskeln oder Knochen. Sie ist ebenfalls reich an Blutgefäßen und enthält Fettzellen.
26.2 Ursachen von Haut -und Nagel-
veränderungen bei Tumorpatienten 26.1 Aufgaben und Anatomie der Haut Die Haut ist das größte und am deutlichsten sichtbare Organ des Körpers. Sie bedeckt eine Fläche von ca. 1,8 m2. Die Haut dient: 4 als Sinnesorgan zur Wahrnehmung von Schmerz, Berührung und Temperatur, 4 als Schutz gegen Infektionserreger: sie ist eine mechanische Barriere und ein Ort der Immunabwehr (Langerhans-Zellen in der Epidermis), 4 zur Regulation der Körpertemperatur durch Vasokonstriktion und Verdunstung, 4 als Speicher für Fett und Wasser, 4 als Resorptionsfläche für dermal applizierte Medikamente. Nicht zu vernachlässigen ist die große Bedeutung der Haut für das Selbstwertgefühl und die Beziehung zu den Mitmenschen. Nägel sind nicht nur von kosmetischem Wert. Sie schützen Finger und Zehen, helfen dem Tastsinn und der Fingerfertigkeit. Die Haut (lat. cutis, griech. derma) besteht aus der Epidermis (mit ihren Abkömmlingen wie Haaren, Nägeln und Schweißdrüsen) sowie bindegewebigen Anteilen (der Lederhaut und der Subkutis) (. Abb. 26.1). Die Epidermis (Oberhaut) ist ein verhornendes Plattenepithel. Ihre oberste Schicht – die Hornhaut – ist an mechanisch beanspruchten Stellen wie der Fußsohle und der Handinnnenfläche am dicksten, sie schilftert an der Oberfläche in feinen Schuppen ab. Die unterste Schicht der Epidermis ist die Basalschicht (auch Keimschicht, Stratum germinativum genannt): Hier befinden sich zahlreiche Mitosen, und von hier aus findet die ständige Regeneration der Haut statt. Zellteilung und Zellwachstum für diese Regeneration wer-
Veränderungen können direkt durch den Tumor, durch die Therapie oder durch Infekte verursacht werden (. Übersicht). Ursachen von Haut- und Nagelveränderungen 1. Direkt tumorbedingte Veränderungen 5 Maligne Hautinfiltrate – Primäre Tumoren der Haut: Melanom, Basalzellkarzinom (Basaliom), Spindelzellkarzinom (Spinaliom), kutanes T-Zelllymphom (Mycosis fungoides, Sezary-Syndrom), Kaposi-Sarkom – Hautinfiltration durch andere Tumoren, z. B. Mammakarzinom, Karzinome des HNO-Bereichs, Bronchialkarzinom, Leukämien und Lymphome – Hautmetastasen, z. B. Bronchialkarzinom, Kolonkarzinom 5 Paraneoplastische Syndrome der Haut – Hyperkeratose – Pruritus
2. Therapiebedingte Veränderungen 5 Nach Chirurgie, Radiotherapie, medikamentösen Tumortherapien, allogener Knochenmark- oder Stammzelltransplantation, z. B. – Hautausschläge – Nagelveränderungen – Lymphödem – Narben – Hyperpigmentation
3. Infektionen 5 Herpes simplex 5 Herpes zoster 5 Pilze u. a. m.
26
446
Kapitel 26 · Haut- und Nagelveränderungen
26
. Abb. 26.1. Anatomie der Haut. »(Spornitz 2007)«
26.3
Maligne Hautinfiltrate
Maligne Hautinfiltrationen können zu chronischen, malignen Wunden führen. Diese stigmatisieren oft durch ihren Anblick oder ihren Geruch den Patienten für seine Umgebung und bedeuten damit eine sehr große Belastung für ihn, seine Angehörigen und Freunde. Oft sind sie auch medizinisch und pflegerisch eine Herausforderung.
26.3.1
Pathophysiologie
Hautinfiltrate sind anfangs oft asymptomatische Knoten. Bei weiterem Wachstum kommt es zur ungenügenden Gefäßversorgung des Infiltrates. Störungen der Mikrozirkula-
tion führen zu Durchblutungsstörungen auch in der Umgebung des Tumorgewebes und in der Folge zu Gewebsnekrosen. Durch Einwachsen des Tumors in Gefäße oder durch entzündliche Reaktionen werden u. U. Hautgefäße infiltriert und zerstört. Hautinfiltrate können deshalb zu Ulzerationen sowie zu akuten oder chronischen Blutungen führen. Ihr Exsudat kann klar hellgelb bis eitrig-blutig sein. Im Bereich von ulzerierten Hautinfiltraten finden sich regelmäßig lokale Infektionen. Gelegentlich sind sie Ausgangspunkt von systemischen Infekten. Bei Ulzerationen des nekrotischen Gewebes können anaerobe Keime (z. B. Bacteroides) wachsen, die durch Gewebeabbau einen sehr unangenehmen Geruch verursachen. Dieser ist wahrscheinlich durch die Ausschüttung von Fettsäuren bedingt.
447 26.3 · Maligne Hautinfiltrate
26.3.2
Erfassung und Beurteilung
Dokumentiert werden Größe, Farbe, Tiefe/Höhe, Geruch und Blutung der malignen Läsionen sowie die Beschaffenheit des umliegenden Gewebes (. Abb. 26.2a, b). Als bestes Mittel zur Verlaufsdokumentation haben sich Fotografien erwiesen. Erfasst und beurteilt werden auch die Auswirkungen auf den Patienten, z. B. durch das veränderte Körperbild oder die soziale Isolation (7 unten). Derzeit existieren keine einheitlichen Erfassungs- bzw. Beurteilungsinstrumente für maligne Hautinfiltrate. Grundsätzlich sind folgende Punkte zu dokumentieren: 4 Ort der Infiltration, 4 Wunde: Größe, Tiefe, Höhe, Ränder, Umgebung, Farbe (evtl. mit Foto) 4 Fisteln, 4 Exsudate: Menge, Konsistenz, 4 Blutung, 4 Geruch, 4 Schmerzen. Eine Dokumentation sollte mittels einer standardisierten Wunddokumentation erfolgen und für alle an der Pflege Beteiligten verfügbar sein. Eine Fotodokumentation, mit Einverständnis des Patienten, unterstützt die schriftliche Dokumentation. Die Resultate der Erfassung und Beurteilung sollen helfen, ein Wundpflegeprogramm zu erstellen, das so lange wie möglich vom Patienten selbstständig durchgeführt werden kann.
26.3.3
Auswirkungen auf den Patienten
Fortgeschrittene Hautinfiltrate haben erhebliche psychologischen Auswirkungen auf den Patienten und seine Angehörigen: Die Körperbildveränderungen durch das ulzerierende Tumorgewebe, die Nekrose und die damit häufig verbundenen Superinfektionen sowie der Fäulnisgeruch erinnern dauernd an die fortschreitende Tumorerkrankung. Der Patient fürchtet sich vor einem unkontrollierbaren Zustand. Vor allem der Geruch und der unschöne Anblick der Tumormassen führen zur Furcht vor ablehnenden Reaktionen der Umgebung. Die Patienten haben das Gefühl, der ganze Körper verfaule. Verlegenheits-, Scham- und Schuldgefühle entstehen. Die psychische Belastung beeinflusst die täglichen Aktivitäten, privat und im Berufsleben. Als Folge zieht sich der Patient immer mehr in die Isolation zurück. Pflegende können Patienten und auch Angehörige direkt fragen, was diese Situation für sie bedeutet. Die Symptome des Hautinfiltrats führen auch bei den Angehörigen – bei Erwachsenen wie bei Kindern – oft zu einem Gefühl
der Hilflosigkeit und zu einem Rückzug von den Patienten. Das normale Familienverhalten wird gestört. Auf diese Weise entsteht eine »doppelte Isolation« – sowohl des Patienten als auch der Angehörigen. ! Die psychologischen Auswirkungen der Hautinfiltrationen auf den Patienten und die Angehörigen dürfen nie außer Acht gelassen werden.
26.3.4
Medizinische Interventionen
Wie bei jeder Tumormanifestation ist auch bei malignen Hautinfiltraten das primäre Ziel der medizinischen Intervention, das Hautinfiltrat ganz oder zumindest teilweise zur Rückbildung zu bringen. Dies kann – auch bei Tumoren in fortgeschrittenem Stadium – erreicht werden durch: 4 systemische Chemotherapie/Hormontherapie, 4 lokale Bestrahlung, 4 chirurgische Entfernung oder 4 eine Kombination dieser Therapiemöglichkeiten. Mit einer wirksamen Tumorbehandlung kann auch bei großen Hautinfiltraten eine Rückbildung erreicht werden. Ist dies – bei einem therapieresistenten Tumor – nicht möglich, wird zumindest eine Linderung der Symptome und Beschwerden angestrebt. ! Ohne eine wirksame Tumortherapie ist auch bei optimaler Pflege die Heilung eines malignen Hautinfiltrats nicht zu erwarten.
Bei einer Infektion des Hautinfiltrates kann evtl. eine antibiotische Therapie die durch den Infekt verursachten Symptome, z. B. die Geruchsbildung, unterdrücken. In Frage kommen dafür je nach Erreger: 4 systemische Verabreichung von Metronidazol, Clindamycin oder Ornidazol; 4 topische Applikation von Metronidazol-Gel (z. B. Rozex). Falls eine Schmerzbehandlung angezeigt ist, erfolgt diese gemäß den in 7 Kap. 18 (»Schmerz«) beschriebenen Standards.
26.3.5
Wundpflege und Verband
In den letzten Jahren wurden neue Verbandstoffe und andere Präparate zur Wundversorgung entwickelt. Mit ihnen lassen sich offene maligne Hautinfiltrationen sehr effizient und sauber pflegen. Sie erlauben einen relativ atraumatischen Verbandwechsel und schenken dem Patienten einiges mehr an Lebensqualität, u. a. auch wegen ihrer geruchsmindernden Eigenschaften. Es werden sehr viele
26
. Abb. 26.2a, b. Wunddokumentationsblätter. (Abb. der Onkologiepflege Schweiz, »Pflege und Behandlung der malignen Wunde«, mit frdl. Genehmigung)
448 Kapitel 26 · Haut- und Nagelveränderungen
26
26
449
. Abb. 26.2b
26.3 · Maligne Hautinfiltrate
450
26
Kapitel 26 · Haut- und Nagelveränderungen
verschiedene Formen und Kombinationen, je nach Art und Beschaffenheit des Hautinfiltrats, angeboten. Die Wahl der Produkte richtet sich neben medizinisch-pflegerischen Gesichtspunkten auch nach Kosten und Lieferbarkeit. Es muss abgeklärt werden, ob die Krankenversicherung die Kosten übernimmt. Kriterien bei der Wahl des Verbandes sind: 4 Häufigkeit des Wechsels, 4 Größe der Wunde, 4 Menge an Exsudat, 4 Schmerzen (auch durch den Verbandwechsel), 4 Blutung, 4 Geruchsverminderung, 4 Infektionskontrolle. Der Verband soll so einfach und effizient wie möglich sein, um dem Patienten und der Familie den Verbandwechsel zu erleichtern. Je besser er der Körperform angepasst ist, desto eher bleibt die Beweglichkeit erhalten und umso eher wird er auch kosmetisch akzeptiert. Ausreichende Saugfähigkeit und Luftdurchlässigkeit müssen gewährleistet sein. Die umliegende gesunde Haut sollte trocken bleiben, sie darf durch das wiederholte Abreißen der Klebebänder nicht geschädigt werden. Die verschiedenen Arten von
Verbandmaterialien, die für maligne Tumoren besonders geeignet sind, zeigt . Tab. 26.1). Es ist äußerst wichtig, die eingesetzten Materialien zur Wundpflege ständig neu der Situation anzupassen. Es ist deshalb hilfreich, wenn sich am Arbeitsplatz eine Liste befindet, in der die zu verwendenden Produkte, ihre Eigenschaften und die Anforderungen zusammengestellt sind. Wird der Patient zu Hause gepflegt, muss eine genaue Anleitung für den Patienten bzw. die Angehörigen oder die zuständigen Pflegenden ausgearbeitet werden. In diese Anleitung gehören Informationen über: 4 Verbandmaterial und Prozedur, 4 Häufigkeit des Verbandwechsels, 4 Eigenschaften der Wunde und Schwierigkeiten im Heilungsverlauf, 4 Kosten und Bezugsquelle der Materialien. Ein gemeinsames Einüben der Wundpflege und des Verbandwechsels unterstützt den Patienten und die Angehörigen darin, die Techniken und Materialen optimal einzusetzen. Ein Verbandwechselplan gewährleistet die Kontinuität der Wundversorgung im Krankenhaus oder zu Hause.
. Tab. 26.1. Auswahl an Verbandmaterialien für chronische maligne Hautveränderungen
Verbandmaterial
Eigenschaften
Hydrogele 4 mit Silber 4 ohne Silber
4 Für Wunden ohne Exsudat 4 Hält das Wundgebiet feucht 4 Silber wirkt bakteriostatisch
Hydrofaser (z. B. Carboxymethyzellulose) 4 mit Silber 4 ohne Silber
4 4 4 4
Für Wunden mit Exsudat Stark absorbierend Bildet ein Gel und soll das Auslaufen des Exsudats verhindern Mit Silber: Bakterien werden innerhalb der Gelmasse eingekapselt
Alginat (Kalzium/Kalzium-Natrium)
4 4 4 4
Hämostatisch Stark absorbierend Einfach zu entfernen Nichtokklusiv
Schaumstoffe
4 Stark absorbierend, jedoch nicht geruchsmildernd 4 Semiokklusiv 4 Nichthaftend
Vlieskompresse mit Superabsorber, z. B. Sorbion sachet S
4 Stark absorbierend 4 Schutz vor Mazeration
Hautschutz, z. B. SkinPrep, Cavilon Barrier Film
4 Schützt die Wundränder und die umliegenden, intakten Hautpartien, z. B. vor zusätzlichem Reiz des Verbandklebestoffs
Verbandstoff 4 mit Aktivkohle 4 mit Aktivkohle und Silber
4 Geruchsmildernd 4 z. T. bakteriostatisch 4 z. T. absorbierend
451 26.3 · Maligne Hautinfiltrate
26.3.6
Pflegerische Interventionen bei der Wundversorgung
Die pflegerischen Maßnahmen sind sowohl präventiver Natur, etwa bei noch nicht ulzerierten Hautinfiltraten, als auch lindernd bei Blutung, Geruchsbildung, Exsudaten, Schmerzen, Verletzungen und Superinfektionen. Die regelmäßig durchgeführte Erfassung mit Beschreibung und guter Bilddokumentation erlaubt eine exakte Verlaufskontrolle und hilft bei den pflegerischen Entscheidungen darüber, welche Interventionen Priorität haben sollten. Alle pflegerischen Maßnahmen und deren Bedeutung sollten dem Patienten und den Angehörigen genau erklärt werden, auch wenn dies mit Zeitaufwand verbunden ist (. Pflegerische Interventionen). Der Patient und seine Angehörigen sind dankbar für jedes zusätzliche Engagement seitens des Pflegepersonals, sei es im Krankenhaus oder zu Hause.
Nichtulzerierende Läsionen
. Abb. 26.3. Nichtulzerierende Läsion. (Abb. der Klinik für Onkologie, Universitätsspital Zürich, mit frdl. Genehmigung)
Ein Beispiel für eine nichtulzerierende Läsion bei einem Tumorpatienten zeigt . Abb. 26.3.
Pflegerische Interventionen bei nichtulzerierenden Läsionen Allgemein 4 Sorgfältige Hautpflege; kein Reiben. 4 Waschen mit lauwarmem Wasser und milder Seife; Trocknen durch Abtupfen.
Verminderung der Verletzungsgefahr 4 Vermeidung von Druck und Reibung. 4 Kleidung soll nicht reizen (raue Stoffe, irritierende Waschmittel) und nicht einengen (z. B. Kragen, Miederwaren, Gürtel). 4 Verbandstoff oder weiche Baumwolle/Leinenauflagen als Schutz vor mechanischer Verletzung verwenden. 4 Spezielle Schutzpolster bei besonders verletzungsgefährdeten Körperstellen (z. B. Körperfalten) anbringen.
Ulzerierende oder nässende Läsionen Eine ulzerierende, nässende Läsion ist in . Abb. 26.4 dargestellt. Es gelten die gleichen Richtlinien wie bei den nichtulzerierenden Läsionen. Zusätzlich: Reinigung und Spülung (. Pflegerische Interventionen).
. Abb. 26.4. Ulzerierende, nässende Läsion. (Abb. der Klinik für Onkologie, Universitätsspital Zürich, mit frdl. Genehmigung)
Große ulzerierende, flächige oder tiefe Läsionen Speziell bei nicht mehr therapierbaren Tumoren mit großen nekrotischen Läsionen (. Abb. 26.5) kommt der Pflege eine ganz besondere Bedeutung zu (. Pflegerische Interventionen).
26
452
Kapitel 26 · Haut- und Nagelveränderungen
Pflegerische Interventionen bei ulzerierenden Läsionen
26
Reinigen und Spülen
Verband
4 Läsion mit lauwarmem Wasser oder mit NaCl 0,9% reinigen, bis das Gewebe sauber ist. 4 Eine größere Spritze mit z. B. einer Knopfkanüle erlaubt eine gezielte Flüssigkeitszufuhr; zu starken Druck wegen Blutung/Schmerzen vermeiden. 4 Den Patient ermuntern, mit lauwarmem Wasser zu duschen. 4 Umschläge mit nassem, saugfähigem Haushaltspapier, durchtränkt mit Wasser, NaCl 0,9% oder Ringerspüllösung, 30 min auflegen, dabei alle 5 min die Auflage wechseln. 4 Alternativ Spülung mit Dakin-Lösung 0,4–0,5% oder mit Ringerspüllösung; danach trocken abtupfen. Dakin-Lösung (Natrii hypochlorosi solutio chirurgicalis sextemplex) ist als Konzentrat erhältlich und muss täglich in der gewünschten Konzentration frisch hergestellt werden. 4 Die Anwendung proteolytischer Enzyme zur Reinigung ist möglich, solange keine Blutungen vorhanden sind. 4 Reinigung mit H2O2 darf nur durchgeführt werden, wenn keine Granulation vorhanden ist. Danach gründlich mit NaCl 0,9% spülen. Trocken abtupfen.
4 Läsion mit einem trockenen, sterilen, nicht klebenden Verband abdecken. 4 Der Verband soll nach Bedarf, je nach Geruch oder wenn er sich vollgesogen hat, mindestens jedoch 2–3× täglich gewechselt werden. 4 Ausgetrocknete Verbände müssen mit Wasser oder NaCl 0,9% befeuchtet werden. Dies ist weniger schmerzhaft beim Entfernen. 4 Abschließend einen luftdurchlässigen, Verband applizieren; bei großer Exsudatmenge kann beschichtetes Material (z. B. Moltex) obenauf gelegt werden. 4 Achtung: Mazeration bei kontinuierlich okklusiven Verbänden vermeiden! 4 Bei Applikation von absorbierenden Hydrofaserverbandstoffen (z. B. Aquacell) oder Kalziumbzw. Kalzium-Natrium-Alginat-Kompressen (z. B. Kaltostat) kann der Verband wegen seiner großen Absorptionsfähigkeit u. U. 2–3 Tage belassen werden. Achtung: Geruchsbildung. 4 Absorbierender Polyuretanschaumstoff (z. B. Alledyn) ist sehr saugfähig, jedoch nicht geruchsneutralisierend. 4 Bei einzelnen, abgrenzbaren, stark nässenden Läsionen kann die Anwendung eines kleinen Stomabeutels erwogen werden. Gegen die Geruchsbildung enthalten die Stomabeutel meist einen Aktivkohlefilter. 4 Es ist speziell auf den Schutz der gesunden Haut rund um die Läsionen zu achten, z. B. mit Skin Prep. 4 Speziell für schwierige Hautareale wie Axilla, Inguina, Perineum, Hals steife, dicke Verbände vermeiden. 4 Körperfalten mit absorbierenden Verbandstoffen ausfüllen, um den Exsudatfluss einzuschränken. 4 Den Verband an kritischen Randpunkten einschneiden und der Körperform anpassen. 4 Druck vermeiden, da er zusätzliche Schmerzen, Gewebereizung und Verrutschen des Verbandes bewirken kann. 4 Zur Fixierung von großen oder problematischen Verbänden Kleidungsstücke benutzen, z. B. Sport-BH, Rollkragenpullover, leichte Miederhosen, Stützstrümpfe mit oder ohne Bein.
Vermeiden 4 Salben und Puder sollten unbedingt vermieden werden: Wenn sich diese mit den Exsudaten vermischen, entsteht ein sehr unangenehmer Brei, der sich nur schwer abspülen lässt und zudem Bakterien- oder Pilzinfektionen begünstigt. 4 Antiseptische Mittel, z. B. Chlorhexidin, oder jodhaltige Präparate sind für einen häufigen Gebrauch i. Allg. zu brennend bzw. gewebereizend und hemmen z. T. die Granulation.
453 26.3 · Maligne Hautinfiltrate
b
a
c
d
. Abb. 26.5a–d. Exulzerierende Läsionen an Brust und Hals. (Abb. der Klinik für Onkologie, Universitätsspital Zürich, mit frdl. Genehmigung)
Zusätzliche Interventionen 4 Maßnahmen zur Blutstillung (s. u.) und systemischen Schmerztherapie (7 Kap. 18) nach Bedarf. 4 Für die gründliche Reinigung eignen sich Mundduschen und Sprudelbäder. Mit einer Infusionsflasche und Infusionsschlauch sowie Spritzen mit Knopfkanülen kann der Flüssigkeitsstrahl sehr gut gesteuert werden. 4 Bei tiefen, stark nässenden Ulzerationen die Wunde mit einer Kalzium- oder Kalzium-Natrium-AlginatTamponade locker auffüllen. 4 Großflächige nässende Läsionen können ganz oder auch nur partiell mit einer speziellen Hydrofaseroder Schaumstoffkompresse (z. B. Aquacel, Comfeel) abgedeckt werden, darüber eine sterile, nicht haftende Gaze legen.
4 Großflächige nichtnässende Läsionen mit einem speziellen, evtl. imprägnierten nichthaftenden Verband versorgen. 4 Salben und Puder vermeiden!
Verband fixieren 4 Nur hautfreundliche Heftpflaster benutzen. 4 Vermeiden einer wiederholten Befestigung von Verbandmaterial mit Heftpflaster. 4 Stomaadhäsiv oder z. B. Varihesive anwenden: Applikation rund um die Läsion auf die intakte Haut; das Heftpflaster auf das Adhäsiv kleben und nicht direkt auf die Haut. 4 Zur Fixierung des Verbandes Bänder, elastische Binden, Tubegaze, Netzverband, Sport-BH u. a. Hilfsmittel einsetzen.
26
454
Kapitel 26 · Haut- und Nagelveränderungen
Entfernung von Krusten oder altem Gewebe . Pflegerische Interventionen. ! Débridement ist nur bei Granulaten des gesunden Gewebes indiziert, da sonst starke Blutungen auftreten können und die Granulationszeit verlängert wird! Chirurgisches Débridement ist selten nötig.
26
Pflegerische Interventionen bei Entfernung von Krusten und altem Gewebe 4 Kontinuierlich nasse Kompressen mit Dakin-Lösung, NaCl 0,9%, Ringerspüllösung oder H2O2 1% applizieren und nach kurzer Einwirkungszeit entfernen; wiederholte Applikation, bis das Gewebe sauber ist; mit Wasser oder NaCl 0,9% gründlich spülen. Trocknen nur durch Abtupfen. 4 Große Wattetupfer oder Gazekompressen mit H2O2 1–3% tränken, auf die Läsion legen. Wenn sie leicht angetrocknet sind, sorgfältig entfernen. Nicht antrocknen lassen – die Wunde wird sonst aufgerissen! 4 Der Gebrauch von autolytischen oder enzymatischen Methoden muss mit dem Arzt besprochen werden.
Schmerzen bei Wundpflege und Verbandwechsel . Pflegerische Interventionen.
Pflegerische Interventionen bei blutenden Läsionen 4 Verbandwechsel bei Blutungen nur so oft wie nötig, v. a. zur Geruchsminderung und bei starkem Nässen durchführen. 4 Kein Débridement, verschorfte Krusten belassen. 4 Sorgfältiges Spülen mit Wasser oder NaCl 0,9% mit Hilfe einer Spritze und Knopfkanüle, eines Infusionsschlauchs oder einer Munddusche. 4 Mit einem direkt aufliegenden, nichthaftenden Verband soll durch leichten Druck die Blutung gestillt werden. Gelingt die Blutstillung damit nicht, muss ein Druckverband angelegt werden. 4 Bei kleinen blutenden Läsionen Hämostatika auf Gelatinebasis oder auf Thrombinbasis nach Verordnung auftragen. 4 Bei tiefen Hautinfiltraten, z. B. in der Umgebung der A. carotis, sind lebensbedrohliche Blutungen möglich (7 Kap. 31 »Tumoren im Kopf-Hals-Bereich«).
Geruchsminderung . Pflegerische Interventionen.
Pflegerische Interventionen bei unangenehmem Geruch Allgemeine Maßnahmen
Pflegerische Interventionen bei Schmerzen 4 Schmerzmittel unbedingt ca. 30 min im Voraus verabreichen! 4 Alle Handgriffe erklären. 4 Konzentrierte und möglichst zügige Versorgung mit Unterstützung einer zweiten Person. 4 Zur Befestigung möglichst hautfreundliche Heftpflaster oder einen Ersatz dafür, z. B. Tubegaze, Netzgaze, verwenden. 4 Die umliegenden Hautstellen vor übermäßiger Reizung durch Heftpflaster schützen, evtl. durch Applikation von Stomaadhäsiv oder speziellem Pflaster (z. B. Varihesive); weitere Möglichkeit: Hautschutzpräparate, z. B. Skin Prep, einsetzen. 4 Systemische Schmerztherapie (7 Kap. 18).
Blutende Läsionen Blutungen können von dem »bröckligen« Tumorgewebe verursacht werden und/oder entstehen durch Antikoagulation oder durch Manipulation während des Verbandwechsels (. Pflegerische Interventionen).
4 Um das Auftreten unangenehmer Gerüche zu verhindern oder so weit wie möglich zu verringern, statt sie lediglich zu überdecken, zunächst klären, wo der Geruch bereits bemerkbar ist: – durch den Verband? – durch die Kleider oder die Bettdecke? – durch das Zimmer bzw. Haus? 4 Als wichtigste allgemeine Maßnahme bis zu 3× täglich die Reinigungsprozedur wiederholen (s. oben; Reinigen und Spülen.) 4 Läsion nach der Reinigung eingehend beurteilen. 4 Metronidazol o. Ä. nach Verordnung systemisch verabreichen oder einmal täglich auf die gesamte Wundfläche bis zum Rand auftragen (z. B. Rosex Gel). 4 Bei oberflächlichen Läsionen nach der Reinigung – Integration eines Aktivkohlefilters (z. B. Actisorb, Carboflex) mit oder ohne Silber in den sauberen, weichen, gut absorbierenden, nichtklebenden Verband. 4 Fetthaltige, imprägnierte Gazen vermeiden.
455 26.4 · Lymphödem
In der Literatur sind weitere Verfahren mit unterschiedlichen Produkten beschrieben, die jedoch nicht als standardisierte Pflegemethoden gelten können (. Pflegerische Interventionen). Beim Einsatz solcher Produkte ist Vorsicht geboten, denn meist ist ihre Anwendung nicht durch Studien abgesichert.
Zusätzliche pflegerische Interventionen bei unangenehmem Geruch
Pflegerische Interventionen zur Vorbeugung einer Superinfektion 4 Konsequente aseptische Wundversorgung. 4 Kreuzinfektion verhindern durch vorsichtige Spültechnik. 4 Applikation und/oder Verabreichung der verordneten topischen und systemischen Antibiotika. 4 Vorsicht mit antiseptischen Spüllösungen wegen möglicher Störung der Wundheilung.
Bei tiefen Ulzerationen zusätzlich 4 Wunde in der Tiefe nur leicht mit steriler Gaze auskleiden, Druckstellen vermeiden. 4 Bei stark nässenden Läsionen in der Tiefe mit alginathaltigen Verbandstoffen (z. B. Kaltostat) auskleiden oder auffüllen. 4 Auf den oberen Verbandteil, der ebenfalls gut absorbierend sein soll, Verband mit integrierter Aktivkohle legen (z. B. Carboflex, Actisorb Silver) oder desodorierende Tropfen auf den Abdeckverband applizieren. 4 siehe auch S. 452- Dakin-Lösung.
Zur Raumdesodorierung 4 Häufig das Zimmer lüften. 4 Das Bett des Patienten in die Nähe des Fensters rücken. 4 Mit Hilfe eines Ventilators kann frische Luft in den Raum gebracht werden. 4 Gebrauchte Verbandmaterialien in einem gut verschlossenen Plastiksack sofort entsorgen. 4 Aktivkohle auf einem Tablett in das Zimmer stellen. Eventuell Wattetupfer mit einem desodorierenden Mittel tränken, ein Tablett oder eine Schale mit Zedernholzspan oder Eukalyptusblättern im Zimmer aufstellen. Dabei auf Geruchsvorlieben des Patienten Rücksicht nehmen.
! Einige süß riechende Desodoranzien oder Duftöle verstärken den üblen, süßlichen Geruch des nekrotischen Gewebes!
26.4
Lymphödem
Obwohl nicht primär von der Haut ausgehend, kann das Lymphödem bei Tumorpatienten verschiedenste Hautprobleme verursachen. Vor allem nach operativen und strahlentherapeutischen Behandlungen von Brustkrebs und gynäkologischen Tumoren kann sich ein Lymphödem entwickeln. In Anbetracht der Häufigkeit dieser Tumoren und der zunehmenden Anzahl von Langzeitüberlebenden hat das Lymphödem große Bedeutung für Pflege und Medizin – auch wenn dank besserer Operations- und Bestrahlungstechniken das Risiko für die einzelne Patientin abgenommen hat. Für die betroffenen Patientinnen stehen die mit ihrem Lymphödem verbundenen Schwierigkeiten oft während ihres ganzen weiteren Lebens im Vordergrund. Eine kontinuierliche Unterstützung ist daher von großer Bedeutung für die Patientinnen und ihre Angehörigen. Trotz seiner Häufigkeit hat die Behandlung des therapiebedingten Lymphödems in der Medizin und Pflege bis jetzt relativ wenig Aufmerksamkeit gefunden. Die Kenntnisse über die Behandlung sind limitiert. Entsprechend finden sich in der Literatur teilweise widersprüchliche Empfehlungen. Anderseits finden wichtige neue Erkenntnisse und Empfehlungen zu wenig Beachtung. Das Behandlungsteam muss bestehende Empfehlungen kritisch hinterfragen und sein Wissen ständig aktualisieren.
26.4.1
Ursachen
Superinfektion Praktisch alle nekrotisierenden Hautinfiltrate sind infiziert. Keimfreiheit gibt es nicht. So weit wie möglich sind die . Pflegerischen Interventionen zu beachten.
In folgenden Situationen besteht nach wie vor ein Risiko für die Ausbildung eines Lymphödems: 4 nach axillärer Lymhknotenentfernung mit Resektion auch der Level-III-Knoten (7 Kap. 32.2), 4 nach einer Lymphknotenentfernung mit Nachbestrahlung, 4 nach ausgedehnten gynäkologischen oder urologischen Eingriffen im kleinen Becken,
26
456
Kapitel 26 · Haut- und Nagelveränderungen
4 bei ausgedehnten Tumoren des Lymphsystems oder bei lymphogener Metastasierung mit Abflussbehinderung infolge Kompression oder Zerstörung der Lymphbahnen durch den Tumor, z. B. Melanom, 4 nach Bestrahlung des Lymphabflusssystems bei KopfHals-Tumoren.
26
Die Sentinel-Lymphknotenexzision (7 Kap. 32.2.1) ist mit einem relativ geringen Risiko verbunden. Adipositas und ein schlechter Ernährungszustand sollen das Risiko erhöhen. Das Lymphödem ist das Resultat eines gestörten Lymphabflusses, wodurch sich die Lymphe, eine eiweißreiche Flüssigkeit, im Gewebe ansammelt. Die Haut verliert ihre Elastizität, das Unterhautgewebe wird zunehmend fibrotisch. Die schlechte Mikrozirkulation im gestauten Gewebe erhöht das Risiko für rezidivierende Erysipele. Diese wiederum führen zu weiterer Zerstörung von Lymphbahnen und verstärken das Lymphödem. Am häufigsten entsteht ein Lymphödem an den Extremitäten, es kommt aber auch am Hals, am Kopf bzw. im Gesicht und an den Genitalien vor. Es zeigt sich in einer sicht- und tastbaren Schwellung des Gewebes, die sich bei Lagewechsel kaum ändert und nicht wegdrückbar ist. Ein Lymphödem kann bereits kurz nach der Operation oder auch erst viele Jahre später auftreten. In der Regel entwickelt sich ein Lymphödem langsam. Kardiopulmonale Erkrankungen verursachen kein Lymphödem.
26.4.2
Inzidenz
In der Literatur finden sich sehr unterschiedliche Angaben zur Häufigkeit von Lymphödemen. Sie schwanken z. B. nach onkologischen Brustoperationen zwischen 6 und 70%. Diese großen Differenzen sind durch die unterschiedlichen Kriterien zu erklären, die für die Definition bzw. die Diagnose des Lymphödems verwendet werden. Zudem sind die Untersuchungszeiträume der bisherigen Studien meistens kurz, sodass Patienten, die erst 10–20 Jahre nach einer Operation ein Lymphödem entwickeln, oft nicht einbezogen werden. Publikationen beziehen sich zudem sehr häufig nur auf Mammakarzinome.
26.4.3
Erfassung und Beurteilung
Erfassung Es gibt kein Erfassungsinstrument für Lymphödeme, das sich für alle Patienten eignet. Die in der . Übersicht genannten Punkte sind zu beachten.
Häufige Anzeichen eines Lymphödems 5 5 5 5 5 5 5
5 5 5 5 5
Veränderte Körperproportionen Zunahme des Umfangs der betroffenen Extremität Ermüdbarkeit der betroffenen Extremität Verminderte Beweglichkeit Fingerringe werden zu eng Kleider oder Schuhe passen nicht mehr Die Patienten bemerken Anzeichen eines Lymphödems oft selber und melden sich spontan beim Behandlungsteam Inspektion Erytheme Schuppung und Schälen der Haut Schlecht heilende kleine Verletzungen, z. B. Insektenstiche, Kratzer Infektionen (Erysipele!)
Palpation 5 Temperaturveränderungen 5 Ödem
Messung ödematöser Körperteile 5 Messung des Umfangs der betroffenen Extremität an definierten Stellen: – Oberarm/Unterarm: z. B. 10 cm oberhalb/unterhalb der Ellenbeuge – Unterschenkel auf Höhe des größten Wadenumfangs 5 Messung des Volumens einer Extremität durch Bestimmung der Wasserverdrängung (Angabe in Litern) 5 Immer zum Vergleich die gesunde Seite mitmessen
Funktionssstatus 5 Messung des Bewegungsumfangs
Verschiedene Methoden für diese Messungen sind in Gebrauch. Wahrscheinlich sind Kontinuität und Genauigkeit bzw. Häufigkeit der Durchführung genauso wichtig wie die Messmethode selbst. ! Auch die psychosozialen Auswirkungen eines Lymphödems sind zu erfassen!
Beurteilung Ein Lymphödem kann nach CTCAE Version 4.0 standardisiert beurteilt werden (. Tab. 26.2). Konsistente Erfassungsinstrumente müssen erst noch entwickelt werden, um ein Lymphödem quantitativ und qualitativ zu beurteilen und so die bestmöglichen, den individuellen Bedürfnissen des Patienten angepassten Empfehlungen zu geben.
457 26.4 · Lymphödem
. Tab. 26.2. Lymphödem – Beurteilung nach der CTCAE-Version 4.0
Grad
Lymphödem
1
Angedeutete Verdickung oder geringfügige Farbveränderung
2
Deutliche Farbveränderungen Lederartige Hautbeschaffenheit Bildung von Papillen Leichte Einschränkungen der ATL
3
Ausgeprägte Symptome Schwere Einschränkung bei der Ausführung von ATL
4
–
5
–
Nach Common Terminology Criteria for Adverse Events (CTCAE).
26.4.4
Kontroverse und irreführende Informationen zum Lymphödem
Wegen fehlender Studien werden den Patienten derzeit oft widersprüchliche Informationen zu Prophylaxe und Behandlung eines Lymphödems gegeben. ! Empfehlungen an die Patienten zur Lymphödemprophylaxe müssen sich auf das als wirksam Erwiesene beschränken! Verschiedene Merkblätter gehen viel zu weit, indem sie Patienten Dinge verbieten, die nicht oder nur ausnahmsweise Ödeme verursachen oder verstärken, wie z. B. Sport, Sauna, Kaffee, Tee etc. Solche Einschränkungen und Verbote verhindern geradezu den Weg zurück in den Alltag.
Broschüren für Patienten enthalten häufig allgemein gehaltene Informationen über das Risiko, ein Lymphöden zu entwickeln, ungeachtet der Art des chirurgischen Eingriffs. Dies weckt Befürchtungen und vermittelt den Patienten, die sich nicht einer radikalen Lymphknotenentfernung und Strahlentherapie unterziehen mussten, falsche Informationen. Verschiedene Faktoren liegen dem unbefriedigenden Wissensstand zugrunde: 4 Es fehlt eine allgemein anerkannte, quantitative Definition des Lymphödems. 4 Es fehlen Langzeitstudien: Viele Untersuchungen zu Prophylaxe oder Therapie des Lymphödems haben Beobachtungszeiten von lediglich 1–2 Jahren. Dies ist in Anbetracht des oft Jahrzehnte dauernden Verlaufs zu kurz.
4 Es fehlen Studien zu Häufigkeit und Schweregrad des Lymphödems nach verschiedenen Eingriffen. Die meisten Studien betreffen Frauen mit Brustkrebs. Zur Häufigkeit des Lymphödems an den unteren Extremitäten nach Eingriffen im Beckenbereich liegen nur spärliche Daten vor.
26.4.5
Information und Schulung des Patienten
Patienten sollten nach der Operation bzw. nach der Bestrahlung individuelle Instruktionen darüber erhalten, welche Maßnahmen für sie wichtig sind. Es ist von großer Bedeutung, welche Informationen Pflegende, Ärzte und Physiotherapeuten dem Patienten mitgeben und mit welchem Nachdruck sie dies tun. Das »Prinzip Selbsthilfe« ist für den Patienten sinnvoll und hat sich als sehr hilfreich erwiesen. Es müssen insbesondere jene Patienten genau instruiert werden, die ein hohes Risiko haben, ein Lymphödem zu entwickeln. Beispiel Unmittelbar nach einer Mastektomie oder nach eine brusterhaltenden Operation werden Patientinnen oft informiert: »Auf dieser Seite dürfen Sie niemals …« Das Wort »niemals« in einer klinischen Umgebung zu verwenden, kann zu Konflikten führen, falls dafür keine eindeutigen wissenschaftlich begründeten Zusammenhänge bestehen. Warnungen und das Provozieren von Furcht sind deplatziert. Patienten müssen ihre individuelle Situation verstehen lernen und dazu befähigt werden, Entscheidungen zu treffen über gängige Vorkehrungen wie Venenpunktionen und Blutdruckmessung an der operierten Seite. Patienten fangen an, die vielen Tabus und Vermeidungsstrategien zu hinterfragen und anzufechten. Wie kann eine z. B. berufstätige Mutter mit drei kleinen Kindern mit solch einschränkenden Empfehlungen zurechtkommen?
Ausführliche Punkte der Patienteninformationen werden in 7 Kap. 26.4.8 besprochen.
26.4.6
Medizinische Interventionen
Nur selten ist es möglich, durch chirurgische, radiotherapeutische oder medikamentöse Verkleinerung von Tumormassen eine Verbesserung des Lymphabflusses und dadurch auch eines Lymphödems zu erreichen In der Regel kann ein bestehendes Lymphödems nur palliativ behandelt werden, da die zugrunde liegenden Ursachen meist nicht therapierbar sind. Häufig ist eine Kombination verschiedener Maßnahmen indiziert. Diuretika
26
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26
Kapitel 26 · Haut- und Nagelveränderungen
werden i. Allg. bei sekundärem Lymphödem nicht eingesetzt. Unabhängig von äußeren Verletzungen ist die Haut beim Lymphödem ein sehr gutes Wachstumsmedium für Infektionserreger. Ausgehend von der lymphödematös veränderten Haut kommt es deshalb häufig zu Erysipelen, oft auch zu multiplen Episoden. Symptome des Erysipels sind eine lokalisierte Rötung, heftige Schmerzen, hohes Fieber, oft begleitet von Schüttelfrost, Übelkeit und Erbrechen. Die Erreger sind häufig Staphylo- oder Streptokokken. Bei Erysipel muss die antibiotische Therapie rasch eingeleitet werden, um weitere Schädigungen der Lymphgefäße und zunehmende Fibrosen zu verhindern. Patienten, die wiederholte Episoden von Erysipelen erlebten, sollten zu Hause Antibiotika nach Verordnung in Reserve haben. Bei ersten Anzeichen einer Infektion und nach telefonischer Besprechung mit dem Arzt kann so ohne weiteren Zeitverlust die antibiotische Behandlung eingeleitet werden.
26.4.7
drainage eingesetzt und können Tag und Nacht anbehalten werden. 4 Kompressionstrümpfe werden fachgerecht den Extremitäten angepasst (. Pflegerische Interventionen). Der Patient trägt sie während des Tages, v. a. wenn das Lymphödem unter Kontrolle und der Patient nicht mehr von fremder Hilfe abhängig ist. In der Regel sind die Strümpfe zu eng, um in der Nacht getragen zu werden.
Pflegerische Interventionen bei Kompressionsstrümpfen Tragen sicherstellen und helfend unterstützen 4 Patienten berichten von Schwierigkeiten, die Strümpfe anzuziehen. 4 Besonders Betagte beschweren sich darüber, dass die Strümpfe nach unten rutschen und im Sommer sehr warm sind. 4 Schlechte Auswahl der Farben, die Strümpfe sind »hässlich«.
Physikalische Maßnahmen
Bereits bei ersten Anzeichen eines Lymphödems soll eine fachlich korrekte physikalische Entstauungstherapie durchgeführt werden (Lymphdrainage, 7 unten). Anschließend ist ein maßgefertigter Kompressionsstrumpf zu verordnen, um das Resultat der Lymphdrainage zu konservieren. Falls eine physikalische Entstauung nicht möglich ist, sollte man das Ödem mit fachgerecht angelegter Dauerkompressionsbandage reduzieren und dann bestrumpfen. Als Minimalmaßnahme kommt die alleinige Bestrumpfung in Frage. Einer neuen Studie zufolge kann eine prophylaktische postoperative Entstauungstherapie bei Patientinnen mit axillärer Lymphknotenausräumung das Risiko eines Lymphödems möglicherweise reduzieren.
Flugeisen
Kompressionsbandagen und Kompressionsstrümpfe
Manuelle Lymphdrainage
Die Kompression hilft nicht nur bei der Reduktion der Flüssigkeit, sie vermindert auch den Austritt von Lymphe ins Gewebe und bietet eine Unterstützung der muskulären Funktionen, was zu einer verbesserten Aufnahme der Flüssigkeit in die Kapillaren führt. Die Form der Extremitäten wird normalisiert, und die Proliferation von Bindegewebe wird verhindert. Wichtig ist, dass die Patienten beide Methoden beherrschen, um sie zur richtigen Zeit anwenden zu können. Es wird zwischen Kompressionsbandage und Kompressionsstrümpfen unterschieden: 4 Kompressionsbandagen sind spezielle gepolsterte Bandagen für Lymphödem. Sie werden z. B. bei Lymph-
4 Der Kabinendruck während Flügen ist reduziert. Es kann zu vermehrten Schwellungen kommen. Das oft langdauernde Sitzen verlangsamt die Blutzirkulation und den Lymphfluss. Das kann besonders in den unteren Extremitäten zu Schwellungen führen. 4 Lymphödempatienten sollten daher während der Reise Kompressionsstrümpfe/-bandagen tragen. 4 Kompressionsstrümpfe sollten vor dem Abflug angezogen und bis ca. 1–3 h nach Ankunft getragen werden. 4 In der Literatur finden sich auch folgenden Informationen: Für die oberen Gliedmaßen werden Kompressionen von mindestens 20–30 mm Hg empfohlen, für die unteren 30–40 mm Hg
Die Durchführung durch einen ausgebildeten Lymphtherapeuten ist Voraussetzung für eine fachgerechte Drainage. Die Lymphdrainage ist eine manuelle Technik, mit der die Lymphflüssigkeit von der Region mit der größten Konzentration zu einer nicht belasteten Körpergegend bewegt wird. Ziele der Lymphdrainage sind: 4 Verminderung des Ödems. 4 Erhöhung des Lymphflusses von den Stauarealen. 4 Verminderung der subdermalen Fibrose. 4 Verbesserung des Hautzustands. 4 Erhöhung der Funktionsfähigkeit der betroffenen Körperteile.
459 26.4 · Lymphödem
4 Dem Patienten zu ermöglichen, ein Self-Care-Programm durchzuführen. Beispiel Lymphödem im rechten Arm Die Prozedur beginnt im nächstliegenden, nicht betroffenen Körperquadranten (hier: im linken Oberkörper) mit einer Vorbehandlungsmassage zur Vorbereitung für die Aufnahme der Flüssigkeit des rechten Armes. Die Massage setzt danach bei der rechten Schulter – der Extremitätenwurzel – an. Massiert wird in Richtung Schulter. Die Massage, die an der Extremitätenwurzel begonnen hat, wird Richtung Hand fortgesetzt und endet schließlich bei den Fingern. Anschließend wird eine Kompressionsbandage appliziert, um eine erneute Ansammlung der Flüssigkeit zu verhindern.
Solange offene Lymphgefäße vorhanden sind, ist eine manuelle Lymphdrainage möglich. Die Lymphdrainage sollte nur von Lymphtherapeuten ausgeführt werden und kann sowohl ambulant als auch stationär erfolgen. Die Patienten müssen mit einer länger dauernden Therapie, über Monate, u. U. auch für den Rest ihres Lebens rechnen. Weitere Schwierigkeiten bestehen darin, dass die physikalischen Behandlungen nicht überall möglich sind. Für aktive, berufstätige Personen sind bestimmte Behandlungen auch zu zeitraubend. Zudem ist es oft schwierig, Bandagen allein anzubringen, besonders am dominanten Arm. Die Kostenübernahme durch die Krankenversicherungen ist nicht einheitlich geregelt. Sie muss mit den Patienten besprochen bzw. abgeklärt werden.
Apparative Kompressionsbehandlung Mit pneumatischen Apparaturen (ähnlich einer Blutdruckmanschette) wird ein wechselnder Druck auf die lymphödematöse Extremität ausgeübt. Dadurch kann der lymphatische Rückfluss erhöht werden. Die Indikation muss durch den Arzt gestellt werden. Diese pneumatische Entstauung stellt eine ergänzende Maßnahme dar – sie kann die manuelle Lymphdrainage unterstützen, aber nicht ersetzen.
26.4.8
Pflegerische Interventionen
Selbstmanagement ! Ein schweres Lymphödem verändert das Körperbild erheblich. Dies kann dazu führen, dass sich das Fühlen und Denken der Patienten ganz auf die ödematöse Extremität zentriert. Die Patienten müssen lernen, ihre Behinderung zu akzeptieren, ohne sich von ihr beherrschen zu lassen.
Allgemeine Bemerkungen zu pflegerischen Interventionen 4 Vorbeugende und therapeutische Pflegeinterventionen können sowohl im Krankenhaus als auch bei ambulant behandelten Patienten erfolgen. 4 Ein »Selbstmanagementprogramm« soll den Patienten darin unterstützen, trotz seiner Krankheit ein weitgehend normales, unabhängiges Leben zu führen. 4 Falls sich ein Lymphödem entwickelt, sollen die Patienten nicht das Gefühl bekommen, dass sie diese Komplikation durch falsches Verhalten verschuldet hätten. 4 Spezielle Diäten haben keinen Einfluss auf die Entwicklung des Lymphödems. 4 Um das normale Aussehen und die Funktion der Extremitäten solange wie möglich zu erhalten, müssen kurzfristige und langfristige Ziele gesetzt werden. 4 Alle im Folgenden aufgeführten Interventionen sind für die oberen wie die unteren Extremitäten anwendbar. Punkte, die speziell das Beinödem betreffen, werden besonders gekennzeichnet.
Die Patienten müssen den Zweck der vorgeschlagenen Maßnahmen verstehen. Ein aktives Mitmachen während langer Zeit kann dieses Selbstmanagement deutlich unterstützen. 4 Gewichtszunahme vermeiden bzw. abnehmen. 4 Regelmäßige körperliche Übungen – Aerobic und allmählich gesteigerte Gymnastik mit Gewichten. 4 Alkoholkonsum und Rauchen vermindern bzw. vermeiden. Speziell für das Beinödem gilt: 4 Langes Stehen vermeiden; Arbeit als Verkaufspersonal ist besonders ungünstig. 4 Langes Sitzen vermeiden, z. B. bei Reisen, Sitzungen. 4 Günstig sind: Spaziergänge und Tanzen.
Informationen in der präoperativen Phase Vor jedem operativen Eingriff, der zur einem Lymphödem führen kann, z. B. ausgedehnten Operationen im kleinen Becken, müssen die Patienten über die Möglichkeit eines Lymphödems und die entsprechenden postoperativen Maßnahmen informiert werden.
Informationen in der postoperativen Phase Informationen unmittelbar postoperativ. Bis zur Wundheilung den Patienten zu besonderer Vorsicht anhalten:
26
460
Kapitel 26 · Haut- und Nagelveränderungen
4 Keinen übermäßigen Zug auf die Wunde ausüben. 4 Flexion/Abduktion der operierten Seite >45° vermeiden. 4 Vorsicht beim Hochziehen am hängenden Bettbügel. 4 Progressive Gymnastik mit Gewichten unter genauer Instruktion des Physiotherapeuten durchführen.
26
Informationen vor der Entlassung
4 Betonen der Wichtigkeit der Gymnastikübungen, die in der Klinik erlernt wurden. 4 Betonen der Wichtigkeit einer regelmäßigen Nachsorge. 4 Vermitteln von Kontaktadressen im Falle von unerwarteten Ereignissen. Im weiteren postoperativen Verlauf keine übermäßige Ruhigstellung fordern. Die Patienten sollten sobald als möglich ihre normalen täglichen Aktivitäten ausüben können. 4 Einseitige, sehr anstrengende Hausarbeit vermeiden (z. B. das Tragen schwerer Lasten wie Möbel oder das gleichzeitige Reinigen aller Fenster usw. 4 Stark belastende sportliche Aktivitäten nur nach Rücksprache mit dem Arzt oder dem Physiotherapeuten. Nach der postoperativen Phase erfolgt die Nachsorge für die meisten Patienten ambulant. Das Ziel ist die Fähigkeit, den Alltag normal bewältigen zu können. Interventionen erfolgen daher eher in Form fortgesetzter Information und Schulung zum Selbstmanagement und nicht unbedingt als »aktive« Pflege.
Informationen zur Langzeitprophylaxe bei Risikopatienten ! Es kann für den Patienten mit erheblichen Einbußen an Lebensqualität verbunden sein, wenn er Empfehlungen zur Prävention eines Lymphödems über Monate und Jahre befolgen muss. Deshalb ist hier eine sorgfältige Einschätzung des Risikos erforderlich. Instruktionen und Informationen sollten den Betroffenen normale ATL erlauben und keine unnötigen Ängste verursachen.
Die folgenden Informationen gelten für Risikopatienten ohne Lymphödem: Blutentnahme, Blutdruckmessung, Injektionen. Übli-
cherweise wird nach Eingriffen, die mit dem Risiko eines Lymphödems verbunden sind, von Venenpunktionen und Blutdruckmessung am entsprechenden Arm abgeraten. Wenn allerdings nach einer Operation über längere Zeit kein Lymphödem aufgetreten ist, können Venenpunktionen oder Blutdruckmessungen an diesem Arm durchaus in Betracht gezogen werden. Ausreichende Studien zu
diesem Thema liegen jedoch nicht vor. In aktuellen Publikationen wird die Frage aufgeworfen, ob Venenpunktionen oder Injektionen ein Lymphödem auslösen oder verstärken können, oder ob dies nicht eher Folge eines zu fest oder zu lange getragenen Stauschlauchs ist. Es gibt dazu keine Studien. Dieselben Unsicherheiten bestehen hinsichtlich des möglichen Schadens durch Blutdruckmessungen. ! Es sollte daher mit den Patienten darüber gesprochen werden, ob sie mit Venenpunktionen oder Blutdruckmessung am operierten Arm einverstanden sind, falls dies am gesunden Arm nicht möglich ist. Ein Konsens zwischen Patient, Arzt und Pflegenden muss in der Krankengeschichte dokumentiert werden.
Flugreisen. Basierend auf den individuellen, klinischen Risikofaktoren sollten Patienten mit dem Behandlungsteam Rücksprache nehmen, um abzuklären, ob prophylaktische Maßnahmen nötig sind, z. B. einen Kompressionsstrumpf zu tragen. Sport/Gymnastik. Körperliche Betätigung ist auch bei Ri-
sikopatienten empfohlen, der Gesundheit förderlich und sicher, wenn die damit verbundenen Belastungen langsam gesteigert werden. Hautverletzungen
4 Quetschungen, Schnitt- und Schürfwunden sowie Verbrennungen sollen vermieden werden. 4 Sorgfältige Hand- und Fußnagelpflege durchführen; Nägelkauen vermeiden und Vorsicht bei Nagelhautentfernung. Eventuell Fachhilfe einbeziehen, z. B. zur Fußpflege. ! Auf Anzeichen von Hautveränderungen oder -entzündungen (Erysipel) achten und dem Behandlungsteam sofort berichten.
Information und Schulung bei manifestem Lymphödem Viele Patienten mit Lymphödem schonen das betroffene Glied unnötig, sei es aus Furcht oder angeleitet von allgemein zugänglichen Informationsquellen. Solche Ratschläge, obgleich in der guten Absicht erteilt, Schaden zu vermeiden, führen oft zu unnötigen Einschränkungen von noch möglichen körperlichen Aktivitäten und beeinträchtigen das psychische Wohlbefinden (. Abb. 26.6). Lagerung. Eine Hochlagerung der betroffenen Extremität mit Hilfe von Kissen, Decken, Schaumstoff usw., z. B. beim Fernsehen, auf längeren Reisen oder im Liegen ist sinnvoll (z. B. Unterarm ca. 45° höher als Oberarm).
461 26.4 · Lymphödem
! Neue Erkenntnisse zeigen nun, dass sorgfältig kontrollierte körperliche Belastung und das Heben von Gewichten bei Lymphödem nicht nur unschädlich, sondern sogar hilfreich ist. In einer breit angelegten, randomisierten Studie wurden aus Frauen mit stabilem Lymphödem nach Brustoperation 2 Gruppen gebildet: eine Kontrollgruppe und eine Gruppe mit körperlichem Training in einem Fitnesszentrum über ein Jahr. Das Training umfasste Stretching sowie Übungen zur Kräftigung der Muskulatur, inkl. Heben von Gewichten. Die Probandinnen steigerten das zu hebende Gewicht langsam und individuell, es wurde keine Begrenzung vorgegeben. Nach einem Jahr zeigte die Gruppe mit dem körperlichen Training im Vergleich zur Kontrollgruppe weniger Verschlimmerungen des Lymphödems, die subjektiven Symptome des Lymphödems hatten ab- und die Kraft zugenommen.
. Abb. 26.6. Frühstadium eines Lymphödems. (Abb. der Klinik für Onkologie, Universitätsspital Zürich, mit frdl. Genehmigung)
! Hochlagerung des Arms über längere Zeit kann zur Einschränkung der Schulterbeweglichkeit führen. Bei fibrosiertem Gewebe bringt eine Höherlagerung keinen Nutzen.
Körperhaltung und Gelenkbeweglichkeit. Das einseitige Gewicht der ödematösen Extremität führt häufig zu einer schiefen Körperhaltung mit entsprechend asymmetrischer Skelettbelastung. Oft sind Rückenschmerzen die Folge. Die ödembedingte Schonung und Ruhigstellung eines Arms führt zur oft schmerzhaften Einschränkung der Beweglichkeit im Schultergelenk. ! Bei Körperfehlhaltungen und Einschränkungen der Gelenkbeweglichkeit sind frühzeitige physiotherapeutische Interventionen angezeigt.
Körperliche Belastung und Heben von Gewichten. Das Heben von schweren Gegenständen unter Einsatz des Arms auf der operierten Seite des Körpers wird bis jetzt in der Regel sowohl prophylaktisch wie auch bei einem manifesten Lymphödem untersagt. Meist werden nur kleine Belastungen zugelassen.
Trotzdem gelten gewisse Einschränkungen und Vorsichtsmaßnahmen: 4 Einseitige Hausarbeit über längere Zeit (z. B. stundenlanges Fensterputzen) vermeiden. 4 Anstrengende Sportarten nur nach Rücksprache mit dem Arzt oder dem Physiotherapeuten. 4 Vermeidung übermäßiger Beanspruchung des betroffenen Körperteils (z. B. kein Tragen von schweren Lasten ohne vorherigen Aufbau bzw. Training). Gymnastik. Bei den meisten Patienten ist Gymnastik
empfohlen und sicher, 4 wenn Kompressionsstrümpfe getragen werden, 4 wenn das ödematöse Körperteil nicht bis zur Übermüdung bewegt wird; Übungen sind ggf. anzupassen, um Verletzungen zu vermeiden. Wassergymnastik kommt in Frage, die Patienten sind jedoch oft verlegen und einsam wegen ihres Aussehens. Schwere Gegenstände aufheben: 4 nur nach vorgehendem Aufbautraining, 4 wenn Kompressionsstrümpfe getragen werden und 4 Instruktionen mit progressivem Gewichtheben durchgeführt worden wird. Schutz vor Verletzungen (7 Kap. oben) bei Arbeit und Körperpflege
4 Schutzvorkehrungen bei Haus- und Gartenarbeiten. 4 Sorgfältige Hand- und Nagelpflege. 4 Benutzung elektrischer Rasierapparate statt Klingen, um kleine Schnittwunden zu vermeiden(Gesicht, Achselhöhle, Beine).
26
462
Kapitel 26 · Haut- und Nagelveränderungen
Hautpflege und Hautschutz. Die Haut über dem ödema-
26
tösen Gewebe ist empfindlich, gespannt und in erhöhtem Maße infektanfällig. 4 Milde Seife (evtl. pH-neutral) zum Waschen verwenden. 4 Regelmäßig eincremen/einfetten, um die Geschmeidigkeit der Haut zu erhalten. 4 Temperaturextreme vermeiden: keine Eisbeutel/Kompressen und keine Heizkissen benutzen. 4 Sonnenbrand vermeiden. ! Falls eine Sonnencreme mit hohem Schutzfaktor benutzt wird, können sich die Patienten bei Sonnenexposition normal verhalten. Das Tragen besonderer Kleidung mit (langärmelig, lange Hosen) ist nicht nötig.
4 Lange Hitzeexposition (>15 min) vermeiden (heiße Bäder, Sauna, Sprudelbäder). 4 Extreme Kälteexposition vermeiden (Haut kann spröde werden). Kleider
4 Bei Armödem: 5 Blusen, Mäntel, Pullover usw. müssen meist maßgeschneidert werden. 5 Einengenden Schmuck (z. B. Fingerringe, Armreifen) vermeiden. 5 Eng sitzende Kleidung (BH, Kragen, Gürtel, usw.) vermeiden. 4 Bei Beinödem: 5 Umstellung auf lange, weite Hosen, Röcke. 5 Unterschiedliche Schuhgrößen tragen, evtl. Spezialanfertigung. Verzicht auf »schöne« Schuhe. 5 Spezielle Anfertigung von Badekleidung ist möglich, wird aber von Patienten schlecht akzeptiert. 5 Keine einschneidende Unterwäsche tragen.
a
Die Beratung für notwendige Änderungen der Kleidung muss ein Bestandteil der Information sein; Adressen sollten vermittelt werden können. ! Für Patienten ist es oft schwierig, die körperlichen Veränderungen zu akzeptieren und ins tägliche Leben, auch in das Berufsleben, zu integrieren.
Ein Körperteil mit einem merklichen Lymphödem ist weder für die Patienten noch für seine Angehörigen »schön«, es kann nicht »versteckt« werden, und die Funktion des betroffenen Körperteils kann stark beeinträchtigt sein. Besonders bei fortgeschrittenem Lymphödem (. Abb. 26.7) leiden die Patienten unter den drastischen Veränderungen ihres Körperbildes. Physische und psychische Probleme sind untrennbar miteinander verbunden. Bei unüberwindbaren Problemen ist eine psychologische Betreuung zu empfehlen (7 Kap. 29).
b . Abb. 26.7a, b. Fortgeschrittenes Lymphödem mit Erysipel. (Abb. der Klinik für Onkologie, Universitätsspital Zürich, mit frdl. Genehmigung)
Verhalten bei Anzeichen eines Erysipels. Patienten müs-
sen über die Symptome eines Erysipels (7 Kap. 26.4.6) orientiert sein. Sofort den Arzt benachrichtigen bei: 4 hohem Fieber, Schüttelfrost, 4 Übelkeit/Erbrechen, 4 schmerzhafter Hautrötung an der betroffenen Extremität.
463 26.5 · Pruritus
Offene Läsionen . Pflegerische Interventionen.
Ursachen von Pruritus 5 Paraneoplastisch, z. B. bei: – Malignen Lymphomen (M. Hodgkin und Non-Hodgkin-Lymphomen) – Multiplem Myelom (Plasmozytom) – Leukämien, z. B. Polycythaemia vera 5 Als Therapiefolge: – Radiotherapie (Strahlendermatitis) – Chemotherapie (z. B. unter EGFR-Hemmern) – Opioidtherapie (häufig!) – Graft-versus-Host-Disease (GvHD) 5 Andere Ursachen: – Ikterus (Verschluss der Gallenwege) – Herpes zoster – Niereninsuffizienz – Diabetes mellitus – Allergische Dermatitis (auch medikamenteninduziert) – Hautatrophie im hohen Alter
Pflegerische Interventionen bei offenen Läsionen 4 Offene Hautstellen gründlich säubern (Infektionsprophylaxe). 4 Bei andauerndem Flüssigkeitsausfluss einen nichtklebenden stark absorbierenden Verband applizieren; evtl. Benutzung von z. B. Hydrokolloidkompressen. 4 Für genitale und perineale Wunden spezielle Unterwäsche verwenden, die Platz für Binden und/oder Verbandstoffe bietet. 4 Zur Fixierung der Verbände hautfreundliche Heftpflaster verwenden oder je nach Hautbeschaffenheit ganz meiden, Netzverband benutzen. 4 Auf Anzeichen eines Erysipels (7 oben) achten.
26.5
Pruritus
Das Wort Pruritus (Juckreiz) stammt von dem lateinischen »prurire« (= jucken). Der Juckreiz führt zur Kratzreaktion, die den Juckreiz oftmals noch verstärkt – und so entsteht ein Teufelskreis. Das starke Kratzen kann zu Hautverletzungen führen. Die Hautempfindung »Pruritus« ist schwierig zu lokalisieren und präsentiert sich gewöhnlich als Missempfindung in einem ganzen Hautbezirk. ! Wie bei Schmerzen basieren Erfassung und Beurteilung dieser Empfindung auf der subjektiven Wahrnehmung des Betroffenen.
Meist ist der Juckreiz reversibel. Dies ist wichtig, da der Patient durch diese Information beruhigt werden kann. Es wird geschätzt, dass 15–20% der Tumorpatienten während ihrer Krankheit Juckreiz erleben.
4 4 4 4
Gewebehypoxie, chemische Reizstoffe, trockene Haut (Dehydratation), psychologische Ursachen, z. B. Angst.
26.5.2
Die medizinischen Maßnahmen bei Pruritus zielen zunächst auf die Behandlung der Grundkrankheit. Die symptomatische Behandlung umfasst die systemische und topische Anwendung von Kortikosteroiden, Antihistaminika sowie verschiedenen Cremes und Lotionen. Bei starkem, lang anhaltendem Juckreiz können Anxiolytika oder andere Psychopharmaka eingesetzt werden.
26.5.3 26.5.1
Ursachen
Unterschiedliche Mechanismen werden vermutet, meist sind die pathophysiologischen Ursachen nicht bekannt. Die Symptome können durch Dehydratation verstärkt werden. Mögliche Ursachen von Pruritus sind in der . Abb. Übersicht gelistet. Der Juckreiz wird durch innere oder äußere Faktoren ausgelöst oder verstärkt: 4 Dilatation der Kapillaren (Wärmewirkung), z. B. bei Fieber, im warmen Bad oder im Bett,
Medizinische Interventionen
Pflegerische Interventionen
! Das Hauptziel aller pflegerischen Maßnahmen ist, das Kratzen zu verhindern oder zu vermindern und damit eine weitere Schädigung der Haut zu vermeiden (. Pflegerische Interventionen).
Falls der Patient zu Hause gepflegt wird, müssen auch seine Angehörigen unterstützt werden. Die Hilflosigkeit und die Anspannung dieser Personen in der Umgebung eines Patienten mit anhaltendem Pruritus darf nicht unterschätzt werden.
26
464
Kapitel 26 · Haut- und Nagelveränderungen
Erfassung
26
Für die Pflegeplanung ist die Erfassung und schriftliche Dokumentation folgender Punkte wichtig: 4 Lokalisation des Juckreizes, 4 verstärkende Faktoren, die gelindert oder vermieden werden können, 4 Häufigkeit, Dauer und Intensität des Juckreizes, 4 Beurteilung der Haut: – Beschaffenheit, Temperatur, Farbe, – (Art der) Kratzspuren, – Hautschäden (offene Wunden, Pusteln, Schorf, alte hyperpigmentierte Kratzspuren), – Verdickung und Hervorhebung der Hautlinien.
Der Patient kann den Juckreiz mittels VAS (visuelle Analogskala) quantifizieren, Pflegende können das Kratzen beobachten und erfassen.
26.6 Hautveränderungen als Folge einer
Radiotherapie Bei einer perkutanen Radiotherapie sind Hautveränderungen möglich. Schwere Hautschäden durch Strahlentherapie sind in den letzten Jahren stark zurückgegangen. Dennoch sind pflegerische Maßnahmen notwendig, um Hautschäden womöglich vorzubeugen bzw. die – wenn
Pflegerische Interventionen bei Pruritus Gewährleistung optimaler Hydrierung bei trockener Haut 4 4 4 4
Adäquate, reichliche Flüssigkeitszufuhr. Gute Raumfeuchtigkeit (ca. 30–40%). Fettreiche Cremes oder Salben auftragen. Kein übermäßig häufiges und/oder zu langes Baden (≤30 min); evtl. Ölbäder. 4 Alkoholhaltige Lotionen bzw. Lösungen vermeiden.
Vasodilatation 4 Reduktion der Überwärmung durch moderate Raumtemperatur und Vermeidung von zu heißem Baden, Duschen bzw. Sauna, Dampfbad. 4 Reduktion körperlicher Anstrengung. 4 Für leichte Baumwollkleidung bzw. Wäsche sorgen, Baumwollbettwäsche benutzen. 4 Alkoholische Getränke reduzieren oder vermeiden.
Symptomatische Maßnahmen 4 Nichtmedikamentöse Möglichkeiten, den Juckreiz zu stillen: ca. 15 min Kälteapplikation (Eisbeutel, nasser Lappen o. Ä. auflegen) oder über die Haut streichen. 4 Auftragen von anästhesierenden Gels oder Creme, z. B. Lidocain 2% oder EMLA-Creme. 4 Wasserlösliche, unparfümierte Cremes, evtl. auf Mentholbasis, verwenden (nur auf intakten Hautstellen!). 4 Lindernde Bäder mit pH-neutralen, unparfümierten, nichtalkoholhaltigen Zusätzen, z. B. Badeöle, Kleie, Hafermehl etc. 4 Scharfe Waschmittel für Kleider und Bettwäsche meiden. 4 Kleidungsstücke aus rauem Stoff oder Polyester vermeiden. 4 Zusätzliche Reibung durch eng anliegende Kleidungsstücke vermeiden.
Schutz der Hautintegrität
Nervosität, Schlaflosigkeit und Angst
4 Fingernägel kurz schneiden und für saubere Hände sorgen (→ Infektionsgefahr). 4 Bei Bedarf dünne Baumwollhandschuhe während der Nacht tragen. 4 Raue, juckende (z. B. wollene) Kleiderstoffe vermeiden. 4 Alkalifreie Seife bzw. Waschlotion benutzen, gut abspülen. 4 Haut durch Abtupfen trocknen, nicht reiben. 4 Statt Kratzen: Bei noch intakter Haut leichte Massage (starkes Drücken und Massagen können den Juckreiz verstärken), Druck mit der Handfläche, Druck mit einer oder mehreren Fingerspitzen. 4 Bei größeren Verbänden möglichst kein Heftpflaster benutzen.
4 Einem schweren unkontrollierbaren Juckreiz können (ganz oder teilweise) psychologische Ursachen zugrunde liegen. 4 Umgekehrt bedeutet aber jeder länger dauernde, schwere Juckreiz eine erhebliche psychologische Belastung des Patienten (und seiner Angehörigen). Diese Patienten dürfen nicht »psychologisiert« werden! 4 Besprechung mit dem Behandlungsteam und dem Patienten, ggf. Psychopharmaka oder Neuroleptika nach Verordnung.
465 26.6 · Hautveränderungen als Folge einer Radiotherapie
auch seltener – auftretenden Reaktionen zu behandeln. Auch sollte der Patient über die möglichen Begleiterscheinungen der Strahlentherapie und über deren Behandlungsmöglichkeiten informiert werden, denn nach wie vor haben viele Personen falsche Vorstellungen von dieser Therapieform, die oft noch mit »Verbrennungen« in Verbindung gebracht wird. Mit gezielten Interventionen können die z. T. unvermeidlichen Hauttoxizitäten gelindert und die Patienten so unterstützt werden, dass sie bereit sind, ihre Therapie weiterzuführen.
26.6.1
Ursachen
Auch wenn die Haut nicht das Zielorgan der Bestrahlung ist, muss sie dennoch durchstrahlt werden, um tiefer liegende Strukturen zu erreichen. Ebenso ist die Haut beim Wiederaustritt der ionisierenden Strahlen aus dem Körper betroffen. Die Gewebeveränderungen werden beeinflusst durch: 4 die Höhe der totalen Strahlendosis, 4 die Höhe der Einzeldosen, 4 den Zeitabstand zwischen den einzelnen Bestrahlungen, 4 Strahleneigenschaften und -energie, 4 die Lokalisation der bestrahlten Region, 4 multimodale Therapie (z. B. Strahlentherapie plus Chemotherapie). Die hohe Strahlensensibilität der Haut beruht auf der Teilungsaktivität der Hautzellen. Sehr empfindlich sind auch die betroffenen Gefäße, weniger die Muskulatur und Nervenzellen. Einige Körperregionen reagieren aufgrund ihrer Gewebestruktur oder ihrer anatomischen Lokalisation besonders sensibel auf die Einflüsse einer Strahlentherapie. Bereiche hoher Strahlenempfindlichkeit sind z. B.: 4 Hautfalten infolge der Feuchtigkeit und der Reibung (Axilla, Leiste, unter den Brüsten, Gesäßspalte, Perineum, Gesicht), 4 Schleimhaut (7 Kap. 27), 4 Stellen mit dünner, weicher Haut (Axilla, Leiste, Perineum), 4 entzündete oder infizierte Hautstellen, 4 durch Unfall oder chirurgischen Eingriff traumatisierte Areale, 4 Regionen mit verminderter vaskulärer Versorgung. Hautschäden können zusätzlich durch den Hauttyp, das Alter sowie äußere Reize begünstigt werden.
26.6.2
Verlauf
Die akuten Hautreaktionen treten meist in einem Zeitraum von 1–6 Wochen nach Therapiebeginn auf. Sie nehmen in Abhängigkeit von der applizierten Dosis einen progressiven Verlauf, der in 4 Stadien eingeteilt wird (. Übersicht).
Verlauf der akuten Hautreaktion auf die Bestrahlung 5 Stadium 1 – Gesamtdosis ca. 20–30 Gy (bei normaler Fraktionierung à 2 Gy pro Sitzung) – Erythem (entzündliche Rötung des Bestrahlungsfeldes, bedingt wahrscheinlich durch Kapillarerweiterung), ähnlich wie ein Sonnenbrand I. Grades – Evtl. leichtes Ödem im Bestrahlungsfeld – Minimaler Schaden; die Therapie wird weitergeführt 5 Stadium 2 – Gesamtdosis ca. 30–40 Gy – Häufig Juckreiz oder leichtes Brennen – Beginnender Haarausfall im Behandlungsfeld – Die Therapie wird gewöhnlich weitergeführt 5 Stadium 3 – Gesamtdosis ca. 40–50 Gy – Blasenbildung (entsprechend einem Sonnenbrand II. Grades – Lokale Schmerzen – Der erlittene Hautschaden ist teilweise reversibel – Bleibender Haarausfall im bestrahlten Gebiet – Die Therapie wird evtl. unterbrochen, bis sich der Hautzustand wieder gebessert hat 5 Stadium 4 – Gesamtdosis ca. 65–70 Gy – Suppression der Talg- und/oder Schweißdrüsenfunktion – Definitiver Verlust der Haare im bestrahlten Hautareal – Nekrosen, irreversible Schädigung
Auch nach kompletter Abheilung der akuten Hautschäden und wieder »normal« aussehender Haut besteht immer das Risiko irreversibler, später auftretender Hautveränderungen. Die Stärke der akuten Reaktion entspricht nicht unbedingt den späteren Veränderungen! Nach Ablauf von ca. 3 Monaten oder mehr treten u. U. Spätveränderungen auf. Diese sind meist irreversibel (. Übersicht).
26
466
Kapitel 26 · Haut- und Nagelveränderungen
Spätveränderung der Haut nach Bestrahlung
26
5 Hyperpigmentierung/Depigmentierung 5 Subkutane Fibrosierung 5 Verminderte oder aufgehobene Sekretionsleistung der Talg-, Schweiß- und Speicheldrüsen) 5 Atrophien 5 Hyperkeratosen 5 Fissuren 5 Teleangiektasien
Wird nach einer Radiotherapie eine Chemotherapie verabreicht, so können frühere durch Radiotherapie bedingte
Hautschäden an den bestrahlten Hautpartien wieder aufflammen. Man spricht von Aufflammphänomen (engl. »recall«; weitere Details 7 Kap. 26.7.5).
26.6.3
Erfassung und Beurteilung
Die Toxizitätsskalen der RTOG (Radiation Therapy Oncology Group)/EORTC (European Organisation for Research and Treatment of Cancer) erlauben eine einheitliche Erfassung und Beurteilung der Hautreaktionen bei Radiotherapie. Die akute Toxizitätsskala wird von Tag 1 (Therapiebeginn; . Tab. 26.3) bis Tag 90 benutzt, danach die Skala für spätere Toxizitäten (. Tab. 26.4).
. Tab. 26.3. EORTC/RTOG-Skalen für akute Hauttoxizität
EORTC/RTOG-Skala für akute Hauttoxizität
Grad
Kennzeichen/Hautveränderungen
0
4 Normale Haut 4 Kein Erythem
1
4 Geringes Erythem 4 Trockene Desquamation 4 Reduzierte Schweißsekretion
2
4 Mäßiges Erythem 4 Feuchte Desquamation 4 Mäßiges Ödem
3
4 Ausgeprägtes Erythem 4 Zusammenfließende, feuchte Desquamation (ohne Hautfalten) 4 Wegdrückbares Ödem
4
4 Ulzeration 4 Blutung 4 Nekrose
Nach Radiation Therapy Oncology Group [www.ROTG.org].
. Tab. 26.4. EORTC/RTOG-Skalen für Spätveränderungen der Haut
EORTC/RTOG-Skala für Spätveränderungen der Haut
Grad
Kennzeichen/Hautveränderungen
0
4 Keine
1
4 Geringe Atrophie 4 Pigmentationsänderungen 4 Wenig Haarverlust
2
4 Fleckenartige Atrophie 4 Mäßige Teleangiektasien 4 Komplette Alopezie
3
4 Starke Atrophie 4 Sehr markante Teleangiektasien
4
4 Ulzeration
5
4 Tod
Nach Radiation Therapy Oncology Group [www.ROTG.org].
467 26.6 · Hautveränderungen als Folge einer Radiotherapie
26.6.4
Medizinische Interventionen
Mit den heutigen Methoden der Bestrahlung lassen sich Hautschäden minimieren. Die allgemeine Tendenz ist, die geplante Dosis zu applizieren und dabei eventuelle kleinere Hautschäden, die während der Behandlung auftreten könnten, in Kauf zu nehmen. Bei kurativer Absicht wird die Strahlentherapie nur bei sehr schwerwiegenden Hautbefunden unterbrochen. Bei palliativer Zielsetzung (bei Schmerzen, Einflussstauungen usw.) liegen die Strahlendosen niedriger, und die Hautschäden sind i. Allg. geringer ausgeprägt. Eine Dosisreduktion ist der Behandlungsunterbrechung vorzuziehen, aber sie bringt andere Probleme mit sich, z. B. längere Bestrahlungszeit und damit längere Hautexposition. Abgesehen von Dosisreduktion oder Unterbrechung der Bestrahlung gibt es keine Möglichkeit, die strahlenbedingte Hauttoxizität zu beeinflussen, insbesondere stehen dafür keine systemisch wirkenden Medikamente zur Verfügung.
Notwendigkeit, mechanische, chemische und thermische Hautreizungen zu vermeiden (. Pflegerische Interventionen).
Pflegerische Interventionen: Irritationsfaktoren auf der bestrahlten Hautfläche vermeiden Mechanische Reize 4 Eng anliegende Kleidungsstücke (z. B. BH, Mieder, Gürtel, Krawatten usw.). 4 Einengender Schmuck (z. B. Halsketten). 4 Druckstellen von Brillen oder Hörgeräten (diese ggf. polstern). 4 Raue, juckende Kleider, z. B. Wolle, gerippter Stoff, Kunstfasern (Baumwolle bevorzugen). 4 Nassrasur. 4 Heftpflaster. 4 Kratzen, starke Massage, Schrubben.
Chemische Reize
26.6.5
Pflegerische Interventionen
Die pflegerischen Interventionen bei Hautveränderungen bei einer Strahlentherapie richten sich nach Lokalisation, Art und Zeitpunkt des Schadens sowie danach, wie frühzeitig die Reaktion erkannt wurde. Je nach Institution kann die Hautpflege beträchtlich variieren. Die hier vorgestellten Interventionen sind zwar überall anwendbar, sollten jedoch auf die Übereinstimmung mit den hauseigenen Richtlinien geprüft werden.
Information der Patienten und Angehörigen Eine gute prophylaktische Hautpflege kann das Ausmaß der Hautveränderungen maßgeblich beeinflussen. Erstinformation und Schulung des Patienten haben als prophylaktische Maßnahmen zu gelten. Patienten und Angehörige sollten neben einer mündlichen Anleitung für die Selbstpflege auch schriftliche Instruktionen erhalten. Weil viele Bestrahlungstherapien ambulant durchgeführt werden, sind diese schriftlichen Informationen wichtig.
Prophylaxe ! Grundregel ist, dass die Haut solange wie möglich trocken, geschmeidig und geschlossen bleiben soll, um Infektion, Schmerz und ein verändertes Körperbild zu vermeiden oder zu mindern. Die Hautpflege wird in der Regel nach der Bestrahlung durchgeführt.
Vermeiden von zusätzlichen Reizungen und Schädigungen. Patienten und Familie sollten über die zu erwar-
tenden Hautprobleme informiert werden sowie über die
4 Reizende Hautpflegeprodukte wie starke Seifen, Waschlotionen und Shampoos sowie Deodorants, Parfums, Desinfektionsmittel, Lotionen mit hohem Alkoholgehalt, Phenol, Menthol. 4 Make-up mit Silikonkomponente. 4 Schwimmen in chloriertem oder Salzwasser während der ganzen Behandlung.
Thermische Reize 4 Direkte Sonnenbestrahlung (Tragen von schützender Kleidung und Hüten, Applikation von Sonnenschutzmittel Faktor 15–30). 4 Heiße Vollbäder. 4 Feuchte Hautfalten (trocken halten). 4 Temperaturextreme (z. B. Heizkissen, Bettflaschen, heißer Haarfön, Eispackungen, kalte Außentemperaturen).
Bei Bestrahlung des kleinen Beckens müssen spezielle Informationen über die Reinigung des Urogenitalbereichs vermittelt werden. Duschen ist i. Allg. möglich. Falls das Bestrahlungsfeld auf der Haut markiert ist, hat sich die Applikation einer durchsichtigen, luftdurchlässigen, aber wasserdichten Folie auf der Markierung bewährt. Die Folie kann während der Bestrahlung belassen werden. Patienten sollen gebeten werden, ihre Pflegeprodukte mitzubringen oder die Namen dieser Produkte aufzuschreiben. So können die Patienten vor der Anwendung stark hautreizender Produkte gewarnt werden.
26
468
Kapitel 26 · Haut- und Nagelveränderungen
Interventionen während der Radiotherapie
26
Die Haut sollte regelmäßig auf folgende Veränderungen untersucht werden: 4 Hautfarbe, 4 Hauttrockenheit, 4 Temperatur, 4 Schmerzempfindlichkeit, 4 Juckreiz, 4 Belag/Infektion. Sowohl die Ein- als auch die Austrittsstelle der Strahlung muss inspiziert werden. Erforderlich ist eine regelmäßige Hautkontrolle nach jeder Sitzung, denn je nach Größe des Strahlungsfeldes können verschiedene Hautreaktionen gleichzeitig auftreten. Die Dokumentation der Befunde auf einem Beurteilungsblatt (evtl. mit Beurteilungsskala) ist wünschenswert, um ein kontinuierliches Bild vom Verlauf und Schweregrad der Veränderung zu erhalten. Durch Bestrahlung verursachte akute Hautläsionen sind meist reversibel. Die pflegerischen Interventionen folgen den aktuell gültigen Prinzipien der Behandlung chronischer Wunden:
4 4 4 4 4 4
Reinigen, Debridement, Blutungskontrolle, Geruchskontrolle, Vermeidung von zusätzlichen Reizen, Schmerzkontrolle (7 Kap. 18).
Vor der Bestrahlung sollten Restbestände der Hautpflegeprodukte sanft entfernt werden. Je nach klinikinterner Regelung kann bei offenen Läsionen die Bestrahlung durch eine Vlieskompresse hindurch durchgeführt werden. In einigen Radioonkologieabteilungen wird die Wundheilung mit Hilfe spezieller Verbände unterstützt. Während der normalen Reepithelisation, d. h. falls keine Infektion festzustellen ist, können eine feucht gehaltene Hautoberfläche und ein spezielles Verbandmaterial (z. B. Aquacell, Kaltostat = Kalzium-Natrium-Alginate, Mepithel) den Heilungsprozess unterstützen. Der Einsatz von Okklusivverbänden kann zu Mazerierung führen und wird nicht empfohlen. Weil die Bestrahlungstherapie meist ambulant stattfindet, können die . Pflegerischen Interventionen auch als Bestandteil der Patienteninformation und -schulung dienen.
Pflegerische Interventionen bei Hautreaktionen mit trockener oder nässender Desquamation Hautreaktionen mit Erythem oder trockener Desquamation (Grad 0–1; . Abb. 26.8)
Hautreaktionen mit nässender Desquamation (Grad 2–3; . Abb. 28.9, 28.10)
4 Häufige Luftexposition. 4 Betroffene Stellen mit lauwarmem Wasser und evtl. alkalifreier Seife waschen; trockentupfen oder kühl fönen. 4 Kühle bis lauwarme feuchte Kompressen (Wasser + NaCl 0,9%, Ringerspüllösung), trockene Kühlung (z. B. umhülltes Cold-Pack oder trockenen Stofflappen aus dem Gefrierfach) 3–5 min auf die warme, gerötete Stelle legen. 4 Bei starkem Erythem kann die Applikation einer 1%-igen Kortikosteroidcreme (z. B. Betnovate) ärztlich verordnet werden. 4 Bei trockener Desquamation spezielle Lotionen (z. B. Bepanthol) in den Behandlungsintervallen anwenden. 4 Besonders Hautfalten trocken halten, Verband häufig wechseln, Reibungen vermeiden. 4 Alkoholkompressen, -tupfer und Intimtücher vermeiden. 4 Vermeidung von Heftpflastern am Ort der Bestrahlung. 4 Weiterhin gilt: Keine parfümierten Salben oder Cremes auf die betroffenen Hautpartien aufbringen. 6
4 Beschreibung und Dokumentation des Ausmaßes der Läsion. Bei größeren Läsionen kann eine Photodokumentation hilfreich sein. 4 Hautareal sauber halten und von Verkrustungen befreien, um die Reepithelisation zu fördern und Infektionen zu vermeiden: – Hautstelle 1–2×/Tag mit Wasser, NaCl 0,9% reinigen; kühl trockenfönen oder sehr vorsichtig abtupfen. – Für schwierig zu entfernende Verkrustungen: Débridement oder Salbe auftragen (z. B. Iruxol 1–2×/Tag). – Eine zu stark mechanische Reinigung (Reiben, Schrubben) ist nicht empfohlen. 4 In der Literatur werden Spülungen mit 1%-igem H2O2 beschrieben. Achtung: Ein zu häufiger Gebrauch von H2O2 kann den Reepithelisationsprozess behindern. 4 Bei Reaktionen Grad 2–3 sollten alle Verbände aseptisch angebracht werden. Beim Verbandwechsel 4 Den Verband vor Entfernung anfeuchten. 4 Steriles, nichtklebendes Verbandmaterial anwenden, besonders zum Abdecken von Reibungsstellen.
469 26.6 · Hautveränderungen als Folge einer Radiotherapie
4 Auf Zeichen einer Infektion achten. 4 Bei Infektion: Auftragen von Silbersulfadiazinsalbe (z. B. Flammazine), meist 1×/Tag, beim nächsten Verbandwechsel Restsalbe entfernen. 4 Körperfalten (z. B. Axilla, Ingiunalregion) mit besonderer Sorgfalt pflegen. 4 Puder vermeiden! Puder kann zusätzliche Hautreizungen verursachen sowie das Wachstum von Bakterien und Pilzen fördern, und es bildet sich ein unangenehmer breiartiger Belag. Falls vom Arzt verordnet, zwischen den Applikationen von Puder deshalb unbedingt gut spülen. Zur Förderung der Reepithelisation ein feuchtes Wundmilieu fördern 4 Einlegen von saugfähigen, nichtklebenden Kompressen. 4 Evtl. Gebrauch von hydrokolloiden Gels und Verbänden (7 unten). 4 Evtl. Auftragen von Ialugen- oder Bepanthen-Creme.
Große, nässende oder schwer zu behandelnde Läsionen 4 Chirurgisches Débridement in Betracht ziehen 4 Evtl. häufigerer Verbandwechsel; nichtklebendes Verbandmaterial verwenden (z. B. Mepithel-Gaze) Anogenitale Läsionen 4 Kurze lauwarme Sitzbäder (bis 5 min); kühl fönen. 4 Evtl. schützende Salbe (z. B. Bepanthen-Creme) auftragen, um Brennen beim Wasserlassen zu vermindern. 4 Bei anhaltendem Durchfall: Reinigung durch lokales kühles bis lauwarmes Duschen, so oft wie nötig. 4 Starken Wasserstrahl (z. B. bei Closomat) direkt auf das Strahlenfeld vermeiden. 4 Exposition an der Luft so häufig wie möglich. 4 Vermeidung einer zusätzlichen Verletzung der Läsion durch Kleidungsstücke oder Leintücher. 4 Zu starke Wärme vermeiden, z. B. zu heiße Sitzbäder, heißes Fönen. 4 Verabreichung systemischer Schmerzmittel nach Verordnung. 4 Geruchsreduzierende Maßnahmen durch aktivkohlenhaltigen Verband (z. B. Actisorb) durchführen.
a
a
b
b
. Abb. 26.8a, b. Hautreaktion Grad 1. (Abb. von Prof. Dr. med. U. Lütolf , Radio-Onkologie, Universitätsspital Zürich, mit frdl. Genehmigung)
. Abb. 26.9a, b. Hautreaktion Grad 2. (Abb. von Prof. Dr. med. U. Lütolf , Radio-Onkologie, Universitätsspital Zürich, mit frdl. Genehmigung)
26
470
Kapitel 26 · Haut- und Nagelveränderungen
26 a
b
c
d
e
. Abb. 26.10a–e. Hautreaktion Grad 3: Blasenbildung und nässende Desquamation. (Abb. von Prof. Dr. med. U. Lütolf , Radio-Onkologie, Universitätsspital Zürich, mit frdl. Genehmigung)
471 26.7 · Haut- und Nagelveränderungen unter medikamentöser Behandlung mit klassischen Zytostatika
Juckreiz. Während unterschiedlichen Zeitpunkten der
Bestrahlung kann lokal Juckreiz auftreten. Gegen Juckreiz, verursacht durch trockene Desquamation, aber auch bei verminderter Schweiß- und Talgdrüsenfunktionen sind die . Pflegerischen Interventionen hilfreich.
Pflegerische Interventionen bei Juckreiz 4 Kühle, trockene Kompressen auflegen (z. B. Cold-Pack). 4 Mit lauwarmem Wasser waschen (bis zu 3×/Tag); trocken abtupfen oder kühl fönen. 4 Auftragen von Hautlotion, z. B. Bepanthol, Excipial U Hydrolotio. 4 Eventuell Auftragen von Kortikosteroidsalbe (z. B. Betnovate Creme).
Nachsorge Nach Abschluss der Bestrahlung und wenn keine offenen Läsionen mehr vorhanden sind, wird die trockene, noch gereizte oder gerötete Haut mit Cremes oder Ölen nach Anweisung bis zur Beruhigung und Wiederherstellung der Geschmeidigkeit gepflegt. Je nach Zustand der Haut bei Therapieabschluss ist eine mehr oder weniger häufige Nachsorge notwendig. Bei stark nässenden Läsionen ist die Kontrolle bis zur Abheilung mehrmals in der Woche nötig. Rasieren der bestrahlten Areale ist erst einige Wochen nach Behandlungsende wieder erlaubt. Direkte Sonnenbestrahlung ist bis zur Abheilung zu vermeiden, nötigenfalls durch Sonnenschutzmittel mit hohem Lichtschutzfaktor zu reduzieren.
26.7
Haut- und Nagelveränderungen unter medikamentöser Behandlung mit klassischen Zytostatika
Antitumorale Therapien können – als unerwünschte Wirkung – vielfältige Hautveränderungen hervorrufen. Diese können an der ganzen Haut auftreten, sich aber auch auf einzelne Hautpartien (z. B. Gesicht) oder einzelne Hautanhangsorgane (z. B. Nägel) beschränken. Eine vorbestehende Hauterkrankung kann sich durch eine Chemotherapie verschlimmern (z. B. Akne) oder auch bessern (z. B. Psoriasis). Bei einem Patienten können gleichzeitig oder nacheinander verschiedene Hautreaktionen auftreten. Auch bei den Hautreaktionen nach Chemotherapie ist es wichtig, alle Veränderungen mit Schweregrad und Verlauf sorgfältig zu dokumentieren. Die pflegerischen Inter-
ventionen richten sich nach Art und Ausdehnung der Hautveränderungen unter besonderer Berücksichtigung der Reaktionen des Patienten. ! Hautreaktionen an gut sichtbaren Körperstellen, v. a. im Gesicht, verändern das Körperbild. Sie führen bei den Patienten zu großer Verunsicherung und evtl. zu sozialem Rückzug und Isolation (7 Kap. 29)
Wie durch alle Medikamente können auch durch Zytostatika und andere in der Onkologie eingesetzte Medikamente Hypersensitivitäts- und allergische Reaktionen ausgelöst werden, z. B. in Form von Urtikaria, Pruritus, ekzemähnlichen Ausschlägen bis zu Anaphylaxie. Ihre Erkennung ist wichtig, da das für die Allergie verantwortliche Medikament in der Regel abgesetzt werden muss. Häufig sind Hilfsstoffe in den Zytostatika (z. B. Cremophor in Paclitaxel) für die allergischen Reaktionen verantwortlich. Systemische Hypersensitivitätsreaktionen werden in 7 Kap.14.5 (»Akute Infusionsreaktionen«) besprochen. Eine häufige Reaktion der Haut auf Zytostatika ist der Haarverlust (Alopezie). Er wird in 7 Kap. 25.2 ausführlich behandelt. Detaillierte Informationen betreffend Extravasation und die daraus resultierenden Hautveränderungen sind in 7 Kap. 14.7 zu finden. Die im Folgenden aufgeführten Medikamente sind jeweils in alphabetischer Reihenfolge zusammengestellt. Die genannten Medikamente können, müssen aber nicht Reaktionen auslösen. ! Um bei der Information des Patienten unnötige Verunsicherung zu vermeiden, sollte im Vorgespräch betont werden, dass kein Medikament immer und zwangsläufig zu Hautveränderungen führt.
26.7.1
Exantheme
Viele tumorwirksame Medikamente können ein in der Regel mildes, unspezifisches Arzneimittelexanthem (Ausschlag) auslösen. Der Ausschlag (engl. »rash«) gleicht dem bei Masern (Morbilli) und wird deshalb oft als morbilliform bezeichnet. Auslösende Medikamente sind u. a. Bortezomib, Cladribine, Pemetrexed. Wie bei allen unerwünschten Therapiewirkungen müssen auch beim Auftreten eines Exanthems das Therapieziel (kurativ, palliativ) und die Schwere des Exanthems in Betracht gezogen werden. Erst dann kann entschieden werden, ob das dafür verantwortliche Medikament abgesetzt werden soll.
26
472
Kapitel 26 · Haut- und Nagelveränderungen
26.7.2
26
Hand-Fuß-Syndrom
Dieses Syndrom wird auch palmar-plantare Erythrodysästhesie oder akrales Erythem genannt und als HFS oder PPE abgekürzt. Es äußert sich an den Innenflächen beider Hände und an beiden Fußsohlen. Als erste Symptome berichten die Patienten oft über 4 eine unklare Gefühlsstörung und 4 ein Kribbeln an den Händen bzw. Füßen. Im weiteren Verlauf kommt es zu 4 einer ausgeprägten Rötung und Übererwärmung, 4 Spannung und ödematöser Schwellung, 4 Schmerzen an belasteten Stellen, 4 Fissuren und Schälen der Haut bis zu Ulzeration und Nekrose. Patienten mit einem schweren HFS haben Schwierigkeiten zu gehen und Gegenstände in den Händen zu halten. Die Pathophysiologie des Hand-Fuß-Syndroms ist nicht bekannt. Das HFS ist eine charakteristische unerwünschte Wirkung bestimmter klassischer Zytostatika (. Übersicht; . Abb. 26.11 und 26.12). Es tritt bei diesen in Abhängigkeit von Dosierung und Therapieschema in unterschiedlichen Häufigkeiten und Schweregraden auf.
a
b
Klassische Zytostatika, die häufig ein Hand-FußSyndrom auslösen (Präparatnamen 7 Anhang) 5 5 5 5
Capecitabin Cytosin-Arabinosid Doxorubicin 5-Fluorouracil (hauptsächlich hoch dosiert bei Dauerinfusionen) 5 Liposomales Doxorubicin
Bei der Behandlung mit einigen Multikinasehemmern wird eine ähnliche unerwünschte Wirkung beobachtet, die sog. »Hand-Fuß-Hautreaktion«. Sie wird in 7 Kap. 26.9.1 diskutiert.
Beurteilung Der Schweregrad eines HFS kann nach CTCAE (Common Terminology Criteria for Adverse Events) 4.0 erfasst werden (. Tab. 26.5).
Medizinische Interventionen Dosisreduktion und/oder Therapiepause sind heute die einzigen kausal wirkenden medizinischen Interventionen. Symptomatisch sind oft Schmerzmittel indiziert. Nach Therapiestopp lassen die Symptome innerhalb von 2–4 Wochen nach. In der Literatur finden sich daneben verschie-
c . Abb. 26.11a–c. Hand-Fuß-Syndrom unter Capecitabin und Lapatinib. (Abb. der Klinik für Onkologie und Prof. Dr. med. R. Dummer, Dermatologische Klinik und Klinik für Onkologie, Universitätsspital Zürich, mit frdl. Genehmigung)
473 26.7 · Haut- und Nagelveränderungen unter medikamentöser Behandlung mit klassischen Zytostatika
dene therapeutische Empfehlungen zur Prophylaxe oder Therapie des HFS, z. B. lokale Applikation von Kälte, DMSO oder Kortikosteroiden sowie eine systemische Medikation mit Pyridoxin (Vitamin B6) oder Kortikosteroiden. ! Diese Behandlungen sind bis jetzt nicht als Standard anerkannt, und ihr Nutzen ist nicht durch größere klinische Studien bewiesen. In Einzelfällen können sie aber gelegentlich hilfreich sein.
Pflegerische Interventionen ! Die in den . Pflegerische Interventionen genannten Empfehlungen beruhen auf der klinischen Erfahrung von Experten (Onkologen, Dermatologen und Pflegenden). Es liegen ihnen keine randomisierten Studien zugrunde.
a
26.7.3
b . Abb. 26.12a, b. Schälen an der Handfläche nach Cytosin-Arabinosid. (Abb. der Klinik für Onkologie, Universitätsspital Zürich, mit frdl. Genehmigung)
Hyperpigmentation
Eine lokalisierte oder generalisierte Dunkelfärbung ist eine häufige unerwünschte Wirkung von Zytostatika. Sie kann an Haut, Schleimhäuten und Nägeln sowohl lokalisiert wie generalisiert auftreten. Sie betrifft unterschiedliche Körperpartien, z. B. Hand- und Fußflächen, die Haut über peripheren Venen (nach Injektionen/Infusionen des Zytostatikums), die Mundschleimhaut oder die Zunge. Die Haut von dunkelhäutigen Personen wird noch dunkler, besonders auffällig ist dies entlang der Handlinien. Von außen einwirkende Faktoren, z. B. Druckstellen, die Entfernung von Pflastern oder Sonnenlicht können eine Hyperpigmentation lokal auslösen oder verstärken. Eine spezielle Form von Hyperpigmentation tritt »linienförmig« über dem Verlauf von peripheren Venen auf, in die
. Tab. 26.5. Schweregradeinteilung des Hand-Fuß-Syndroms nach CTCAE
Common Terminology Criteria for Adverse Events
Grad
Kennzeichen
1
4 Geringe Hautveränderungen (z. B. Erythem, Ödem, Hyperkeratose) 4 Keine Schmerzen
2
4 Deutliche Hautveränderungen (z. B. Blasenbildung, Schälen, Ödem, Blutung, Hyperkeratose) 4 Schmerzen 4 Mäßig eingeschränkte ATL
3
4 Starke Hautveränderungen (z. B. Blasenbildung, Schälen, Ödem, Blutung, Hyperkeratose) 4 Schmerzen 4 Stark eingeschränkte ATL
4
–
5
–
Nach Common Terminology Criteria for Adverse Events (CTCAE).
26
474
Kapitel 26 · Haut- und Nagelveränderungen
Pflegerische Interventionen bei Hand-Fuß-Syndrom Vor Therapiebeginn 4 Vor Therapiebeginn sollte eine Untersuchung der Haut, besonders an Stellen, wo sich eine Hyperkeratose bilden kann, durchgeführt werden.
26
Patientenschulung und -information vor Beginn einer Behandlung, die zu einem HFS führen könnte 4 Das HFS ist nicht lebensbedrohlich, kann aber die Lebensqualität beeinträchtigen. 4 Präventive Interventionen sind möglich. 4 Patienten sollen schon leichte Symptomen unverzüglich melden: Eine frühzeitige Behandlung kann Linderung bringen.
Präventive Interventionen (zielen in erster Linie auf die Vermeidung von Hitze, Druck und Reibung an Händen und Fußsohlen) 4 Gute Hautpflege an Handflächen und Fußsohlen; Auftragen einer Feuchtigkeitscreme (z. B. Excipial Lipolotio, Cold Creme usw.). 4 Einengende Schuhe sowie Fingerringe und Armbänder vermeiden: Schuhe mit weichen, stoßdämpfenden Einlagen auskleiden. 4 Vermeiden von wiederholtem Druck oder Reibung auf Handflächen oder Fußsohlen: kein Jogging, keine langen Fußmärsche, kein längerer oder wiederholter Gebrauch von Werkzeugen, bei denen die Handfläche gegen einen harten Gegenstand gedrückt wird (Gartenschere, Messer, Schraubenzieher etc.).
das verursachende Zytostatikum injiziert oder infundiert wurde. Es handelt sich dabei nicht um eine Phlebitisfolge. Eine Hyperpigmentation kann bereits ca. 2–3 Wochen nach Beginn der Chemotherapie auftreten, aber auch erst 10–12 Wochen nach Abschluss der Behandlung. Sie ist nach Absetzen der Therapie in der Regel reversibel.
4 Vermeiden von heißem Wasser an Händen und Füßen (beim Duschen, Baden, Wäschewaschen oder Geschirrspülen): Mit lauwarmem oder kühlem Wasser baden oder duschen. 4 Keine Gummihandschuhe tragen beim Waschen in heißem Wasser: Gummi hält die Hitze im Inneren des Handschuhs zurück! 4 Keine Hitzeexposition: kein Saunabesuch, nicht in der Sonne sitzen. 4 Scharfe Putz- oder Reinigungsmittel nur mit Handschuhen benutzen. 4 Nur Körperpflegemittel ohne Alkohol verwenden.
Therapeutische Intervention (zusätzlich zu den genannten präventiven Interventionen) bei manifestem Hand-Fuß-Syndrom 4 Hände und Füße kühlen: kühle oder kalte Kompressen (trocken) wiederholt über 15–20 min auflegen. Eis nicht direkt mit der Haut in Kontakt bringen! 4 Nasse Hände und Füße zum Trocknen nicht mit einem Handtuch abreiben, sondern nur sanft abtupfen! 4 Hände und/oder Füße mit dünnen Baumwollhandschuhen bzw. -socken schützen, auch während des Schlafens → schützt vor zusätzlicher Reizung der offenen Stellen und vor dem Verschmieren der aufgetragenen Cremes. 4 Sanftes Auftragen einer ureahaltigen Feuchtigkeitscreme (z. B. Excipial Fett Creme, Cold Creme usw.), nicht einreiben. 4 Hände und Füße beim Sitzen und Liegen hochlagern. 4 Analgesie nach Verordnung (7 Kap. 18 »Schmerz«).
Die Ursachen sind nicht bekannt. Neben Zytostatika (. Tab. 26.6; . Abb. 26.13–26.15) können auch andere Medikamente eine Hyperpigmentation verursachen (Tetrazykline, Antimalariamittel, Amiodaron u. a.). Es werden keine medizinischen Interventionen durchgeführt, . Pflegerische Interventionen im Folgenden.
Pflegerische Interventionen bei Hyperpigmentation 4 Den Patienten informieren, dass diese unerwünschte Wirkung bei den verabreichten Medikamenten auftreten kann und nach Abschluss der Therapie in der Regel verschwindet, wenn auch z. T. erst nach einigen Monaten. 4 Während der Behandlung direkte Sonnenbestrahlung vermeiden, Sonnencreme mit hohem Schutzfaktor verwenden.
4 Speziell bei Behandlung mit Bleomycin: Bei Therapiebeginn dem Patienten empfehlen, Kratzen, dauernde Druck- oder Reibestellen (z. B. beim Rucksacktragen, Gebrauch von Werkzeugen) u. Ä. zu vermeiden. 4 Falls kosmetische Maßnahmen notwendig werden, Unterstützung des Patienten durch fachgerechte Hilfe.
475 26.7 · Haut- und Nagelveränderungen unter medikamentöser Behandlung mit klassischen Zytostatika
. Tab. 26.6. Hyperpigmentation aufgrund von Zytostatikatherapie
Häufig auslösende Medikamente*
Typische Manifestationen
Bleomycin
4 Manifestation besonders bei gleichzeitiger Traumatisierung der Haut, z. B. durch Druck oder Kratzen (. Abb. 26.14) 4 Rückbildung nach Absetzen der Therapie sehr langsam, gelegentlich erst nach Jahren
Busulfan
4 M.-Addison-ähnliche generalisierte Dunkelfärbung (nach längerer Therapiedauer) 4 Hyperpigmentation häufig verbunden mit anderen schweren Toxizitäten
Cyclophosphamid, Ifosfamid
4 Linienförmige Veränderungen der Nägel 4 Dunkle Hautflecken (. Abb. 26.13)
Daunomycin
4 Nagelverfärbung
Doxorubicin
4 Nagelverfärbung 4 Dunkelfärbung der Schleimhaut in der Mundhöhle (Gingiva, Zunge, besonders bei dunkelhäutigen Personen) 4 Linienförmige Hautverfärbung über den Venen (keine Phlebitisfolge!).
5-Fluorouracil (i.v. und topisch), Capecitabin
4 Linienförmige Verfärbung der Haut über den Venen (keine Phlebitisfolge!) 4 Verfärbung der Nägel und Mundschleimhaut 4 Lokalisierte Dunkelfärbung über den Fingergelenken und an sonnenexponierten Hautstellen
* Präparatnamen 7 Anhang.
. Abb. 26.13. Hyperpigmentation nach Cyclophosphamid. (Abb. der Klinik für Onkologie, Universitätsspital Zürich, mit frdl. Genehmigung)
26.7.4
Photosensibilisierung
Verschiedene Zytostatika führen zu einer erhöhten Empfindlichkeit der Haut gegenüber UV-Lichtstrahlen (Sonnenstrahlung). Diese Sensibilisierung kann verschiedene Reaktionen auslösen (. Tab. 26.7).
. Abb. 26.14. Kratzspuren während Bleomycin-Therapie. (Abb. der Klinik für Onkologie, Universitätsspital Zürich, mit frdl. Genehmigung)
Medizinische Interventionen Medizinische Behandlung bedingt eine Medikamentpause – oder Beendigung und Verschreibung von Sonnenschutzmitteln, evtl. topische Kortikosteroidsalbe. In schwerwiegenden Fällen ist eine systemische Kortikosteroidbehandlung in Erwägung zu ziehen. . Pflegerische Interventionen sind gesondert dargestellt.
26
476
Kapitel 26 · Haut- und Nagelveränderungen
26.7.5
26
. Abb. 26.15. Hyperpigmentation nach Lapatinib-CapecitabineTherapie. (Abb. der Klinik für Onkologie, Universitätsspital Zürich, mit frdl. Genehmigung)
Aufflammphänomen (engl. »recall«)
Wird nach einer Radiotherapie eine Chemotherapie verabreicht, so können frühere, radiotherapiebedingte Hautschäden an den bestrahlten Hautpartien wieder aufflammen. Die Pathogenese dieser Reaktion ist unklar. Ein Aufflammphänomen kann auch erst viele Jahre nach einer Radiotherapie auftreten. Die Intensität der Reaktion hängt von zahlreichen Faktoren ab, u. a. von der Zeitspanne zwischen der Radio- und der Chemotherapie sowie von der Dosis und der Art der Medikamente. Auch die Schleimhaut kann befallen werden. Manifestation und Verlauf des Aufflammphänomens entsprechen denen einer primären Strahlen-
Häufigste auslösende Medikamente (Präparatnamen 7 Anhang)
Pflegerische Interventionen bei Photosensibilisierung 4 Schriftliche und mündliche Anweisung des Patienten, direkte Sonnenbestrahlung zu vermeiden. 4 Darüber hinausgehende Maßnahmen zum Sonnenschutz: – Auf körperbedeckende Kleidung achten; Sonnenhut empfehlen. – Anwendung effektiver Lichtschutzmittel (Faktor 15–30), auch bei leichter Bewölkung; ausreichend häufige Applikation.
5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5
Actinomycin D Bleomycin Cytosinarabinosid (hoch dosiert) Daunorubicin Doxorubicin 5-Fluorouracil Gemcitabin Idarubicin Hydroxyurea Interferon Methotrexat Melphalan Paclitaxel Pemetrexed
. Tab. 26.7. Photosensibilisierung durch Zytostatika
Reaktion
Manifestationen
Häufigste auslösende Medikamente
Phototoxische Reaktion
4 Entspricht einem Sonnenbrand, mit Rötung und Schmerzen 4 An sonnenexponierten Stellen 4 Beginn innerhalb von Minuten bis Stunden nach Sonnenexposition 4 Evtl. Blasenbildung 4 Anschließend meist Hyperpigmentation
4 4 4 4
Photoallergische Reaktion
4 Allergische Reaktion, frühestens 24 h nach Sonnenexposition 4 Papulovesikulärer Ausschlag, Juckreiz, Schuppenbildung 4 Zu Beginn begrenzt auf sonnenexponierte Hautstellen, später oft weitere Ausbreitung
4 Flutamid 4 Tegafur
Photoreaktivierung
4 Medikament löst (ohne Sonnenexposition) Sonnenbrandsymptome aus an gleicher Stellen wie bei früher – vor Monaten oder Jahren – erlebtem Sonnenbrand
4 Methotrexat
Photoverstärkung
4 Starkes Erythem ca. 2–5 Tage nach UV-Lichtexpostition an exponierten Stellen
4 Hochdosiertes Methotrexat
Photoonycholyse
4 Sehr seltenes Ereignis 4 Ablösung des Nagels vom Nagelbett
4 Mercaptopurin
Actinomycin D Dacarbazin Vinblastin Cetuximab
477 26.7 · Haut- und Nagelveränderungen unter medikamentöser Behandlung mit klassischen Zytostatika
reaktion (7 Kap. 26.6.2 und 26.6.3). Nach der Abheilung kann die Haut eine Hyperpigmentation aufweisen.
Pflegerische Interventionen Sie entsprechen den Maßnahmen bei einer Hautreaktion nach Radiotherapie (7 Kap. 26.6.5).
26.7.6
Hyperkeratose und Schälen der Haut
Als Hyperkeratose wird die Verdickung der obersten Hornhautschicht (Epidermis) bezeichnet. Sie tritt besonders an Händen, Füßen oder Ellbogen auf, jedoch z. T. auch im Gesicht oder an Stellen von Verletzungen bzw. an Druckstellen. Sie kann zu einer Störung der feinmotorischen Funktionen der Hände führen, wenn sie mit einem starken Ödem verbunden ist. Typisches Symptom ist das Schälen der Haut (. Tab. 26.8, . Pflegerische Interventionen).
. Tab. 26.8. Hyperkeratose und Schälen der Haut – häufigste auslösende Zytostatika
Häufigste auslösende Medikamente*
Typische Manifestationen
All-trans-Retinsäure
Schälen
Bleomycin
Hyperkeratose an Händen, Füßen, Ellbogen
Hydroxyurea
Schälen bei langzeitiger Einnahme
* Präparatname 7 Anhang.
Pflegerische Interventionen bei Nagelveränderungen Allgemeine Informationen für die Patienten
Pflegerische Interventionen bei Hyperkeratose und Schälen der Haut 4 Den Patienten darüber informieren, – dass er das Auftreten von Hautveränderungen mitteilt, – dass die Veränderungen reversibel sind. 4 Topische Medikamente nach Verordnung auftragen.
Speziell bei feinmotorischen Störungen 4 Hilfe leisten bei täglichen Verrichtungen (z. B. Kleider zuknöpfen, Schnürsenkel binden usw.). 4 Dem Patienten evtl. dünne Baumwollhandschuhe empfehlen. 4 Dem Patienten raten, sich evtl. vom Arzt krankschreiben zu lassen oder den Sozialdienst einzubeziehen, falls die Berufsausübung nicht möglich ist.
Speziell bei Schälen der Haut 4 Auftragen einer fettreichen, hydrierenden Lotion (z. B. Excipial Lipolotio).
26.7.7
Nagelveränderungen
Einige klassische Zytostatika verursachen – wahrscheinlich durch Entzündungen oder Störungen der mitotischen Aktivität im Nagelbett – typische Veränderungen an Finger- und Zehennägeln (. Pflegerische Interventionen).
4 Nagelveränderungen so früh wie möglich berichten. 4 Nagelveränderungen sind nach Abschluss der Therapie reversibel. 4 Bei Onycholyse wachsen die Nägel wieder nach. 4 Schmerzen können behandelt werden.
Brüchigkeit 4 Mit einer fettigen Creme regelmäßig einreiben. 4 Nach einem lauwarmen Handbad die Nägel kurz und gerade schneiden. 4 Evtl. schützenden Nagellack, z. B. Dikla, auftragen. 4 Keine Kunstnägel aufkleben. 4 Bei gespaltenen Nägeln dünne Baumwollhandschuhe tragen.
Pigmentstörungen. Pigmentierte Bänder oder Linien,
eine diffuse Hyperpigmentation oder querverlaufende Rillen der Nägel können unter bestimmten Zytostatika auftreten. Bei den meisten dieser Veränderungen handelt es sich um kosmetische Probleme. Diese dürfen allerdings nicht bagatellisiert werden: Sie entsprechen Störungen des Körperbildes, oft mit entsprechenden Folgen (7 Kap. 29). Chronische Entzündung des Nagelfalzes (Paronychien, »Umlauf«). Diese Form der Nagelveränderung tritt unter
einer Behandlung mit Capecitabine, Etoposid oder Docetaxel gelegentlich auf. Sie kann zur erheblichen Einschränkungen der Alltagsaktivitäten führen. Es handelt sich um eine typische unerwünschte Wirkung von Hemmstoffen der Signalübermittlung, sie wird deshalb dort diskutiert (7 Kap. 26.8.3).
26
478
Kapitel 26 · Haut- und Nagelveränderungen
. Tab. 26.9. Nagelveränderungen – häufigste auslösende Zytostatika
Häufigste auslösende Medikamente*
Typische Manifestationen
Bleomycin
4 Erhöhte Brüchigkeit 4 Verlangsamtes Wachstum 4 Pigmentierung (linienförmig)
Capectabine
4 Paronychie** 4 Erhöhte Brüchigkeit 4 Flächige oder linienförmige Pigmentierung
26
Cyclophosphamid
4 Pigmentierung (linienförmig)
Docetaxel
4 4 4 4
Doxorubicin
4 Onycholyse bei hochdosierter Verabreichung in kurzen Intervallen 4 Dunkle Pigmentierung
Etoposide
4 Paronychie**
Fluorouracil
4 Erhöhte Brüchigkeit 4 Flächige oder linienförmige Pigmentierung (. Abb. 26.16),
Paclitaxel
4 Erhöhte Brüchigkeit 4 Onycholoyse 4 Paronychie**
a
Onycholyse (häufig!) Subunguale Blutungen Dunkle Pigmentierung Paronychie**
b
* Präparatname 7 Anhang. ** Paronychie 7 Kap. 26.8.3.
Onycholyse. Als Onycholyse wird die vollständige oder partielle Ablösung des Nagels vom Nagelbett bezeichnet. Auch sie führt zu erheblichen Einschränkungen der Alltagsaktivitäten. Onycholysen treten besonders häufig nach Behandlung mit Docetaxel auf, bei wöchentlicher Applikation häufiger als bei 3-wöchentlicher Verabreichung. In einer Studie zeigten nach 6 Monaten wöchentlicher Docetaxel-Behandlung 60% der Patienten Nagelveränderungen (Paronychien und Onycholyse; . Tab. 26.9; . Abb. 26.16– 26.18). Unter einigen Kombinationstherapien treten besonders starke Nagelveränderungen auf, z. B. bei BEACOPP (. Abb. 26.18; Therapieschemata 7 Anhang).
Onycholyse: Prophylaxe durch lokale Unterkühlung (Kältehandschuhe) Prinzip und Technik der Unterkühlung. Analog zur Prophylaxe des Haarverlusts durch Verwendung einer Kühlhaube (7 Kap. 25.3.3 »Prophylaxe des Haarausfalls durch Unterkühlung der Kopfhaut«) kann versucht werden, die Onycholyse durch lokale Anwendung von Kälte (Hypothermie) zu verhüten.
c . Abb. 26.16a–c. Linienförmige und flächige Nagelveränderungen während 5-Fluorouracil-Therapie. (Abb. der Klinik für Onkologie, Universitätsspital Zürich, mit frdl. Genehmigung)
Durch die lokale Unterkühlung wird die arterielle Blutversorgung der Finger und damit des Nagelbetts reduziert. Geschieht dies in der Zeitspanne der höchsten Blutkonzentration des Zytostatikums, wird das Nagelbett weniger geschädigt, weil weniger toxische Substanzen dorthin gelangen. Zur Unterkühlung der Finger bestehen 2 Möglichkeiten: 4 Eintauchen der Hände in eiskaltes Wasser während der Dauer der Zytostatikainfusion. Diese Methode ist schlecht dokumentiert.
479 26.7 · Haut- und Nagelveränderungen unter medikamentöser Behandlung mit klassischen Zytostatika
a
. Abb. 26.18. Nagelveränderungen nach Abschluss einer Behandlung mit BEACOPP. Jeder Zyklus hinterlässt eine weiße Linie. (Abb. der Klinik für Onkologie, Universitätsspital Zürich, mit frdl. Genehmigung)
4 Kältehandschuhe: Es handelt sich dabei um im Handel erhältliche spezielle Fausthandschuhe (Elasto-Gel der Fa. Akromed, Frankreich). Ihre Hülle enthält Glycerin, das auch in tiefgekühltem Zustand flexibel bleibt. Die Handschuhe werden im Tiefkühlfach eines Kühlschranks gelagert und 15 min vor der Chemotherapie angezogen. 15 min nach Therapieende kann der Patient die Handschuhe wieder ausziehen – bei einer 1-stündigen Infusion beträgt die Tragedauer also 90 min (Achtung: Die Handschuhe erwärmen sich innerhalb von ca. 45 min und müssen deshalb bei einer 1-stündigen Infusion 1× gewechselt werden). b
Probleme der praktischen Anwendung 5 Die Kühlung kann Schmerzen in den Händen auslösen. 5 Die lange Tragezeit der Handschuhe (7 oben) bedeutet einen zeitlichen Mehraufwand für die Patienten, aber auch für die Pflegenden. 5 Es ist im Einzelfall nicht voraussehbar, ob eine Nagelschädigung tatsächlich verhütet werden kann.
Offene Fragen. Leider gibt es nur wenige gesicherte Dac . Abb. 26.17a–c. Nagelveränderungen nach monatelanger Behandlung mit Docetaxel. (Abb. von Prof. Dr. med. R. Dummer, Dermatologische Klinik und Klinik für Onkologie, Universitätsspital Zürich, mit frdl. Genehmigung)
ten zur Hypothermie mittels Kältehandschuhen. Eine kontrollierte Studie zeigte einen deutlichen Nutzen bei subjektiv guter Verträglichkeit. Bevor die Methode generell empfohlen werden kann, sind jedoch wichtige Fragen zu klären. Neue Pflegestudien sollten folgende Fragen beantworten: 4 Zu welchem Zeitpunkt soll die Hypothermie eingeleitet werden: Bei Therapiebeginn oder erst bei Anzeichen einer Nagelveränderung?
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Kapitel 26 · Haut- und Nagelveränderungen
4 Welches sind die Risikopatienten für die Entwicklung von schweren Nagelveränderungen? 4 Bei welchen Medikamenten und in welchen Dosierungen ist regelmäßig eine Wirkung der Hypothermie zu erwarten? 4 Welches ist die optimale Kühltemperatur? 4 Wie lange vor bzw. nach der Applikation des Zytostatikums muss gekühlt werden? 4 Welches Verfahren ist wirksamer – Handschuhe oder Eiswasserbad? Anwendung im Einzelfall. Die Anwendung der Handschuhe kommt nach dem aktuellen Wissensstand v. a. bei Behandlungen mit Docetaxel in wöchentlicher und 3-wöchentlicher Applikation in Frage. Eine Hypothermie kann besonders mit Patienten diskutiert werden, die privat oder beruflich sehr auf ihre Fingerfertigkeit angewiesen sind (z. B. Goldschmiede, Klavierspieler) und die durch eine Onycholyse oder Paronychie entsprechend behindert wären. Die Entscheidung für oder gegen den Einsatz der Hypothermie muss in jedem Fall individuell getroffen werden. ! Von großer Bedeutung ist eine offene und umfassende Information und Beratung vor Anwendung der Hypothermie (. Pflegerische Interventionen). Dazu gehören 4 der Hinweis auf die Unsicherheit der Wirkung, 4 der Hinweis auf den Zeitaufwand und auf mögliche lokale Schmerzen.
Pflegerische Interventionen bei eingetretener Onycholyse 4 Die Patienten müssen in ihrem Selbstmanagement unterstützt werden. 4 Hilfe bei täglichen Verrichtungen. 4 Schmerzen durch Fixierung des Nagels reduzieren, z. B. durch Hautpflaster um Nagel und Fingerkuppe. 4 Bei Schwierigkeiten im Beruf: Soziale Beratung vorschlagen oder organisieren. 4 Falls erwünscht, kosmetische Hilfe organisieren.
Hautzellen an Rezeptoren (EGFR) für diesen Wachstumsfaktor (. Abb. 26.1). Viele von epithelialen Geweben ausgehende bösartige Tumoren sind ebenfalls reich an diesen Rezeptoren und für ihr Wachstum auf die entsprechenden Signale angewiesen. Substanzen, die diesen Rezeptor oder die von ihm abhängigen Signalwege blockieren, haben sich als wirksame Medikamente zur Behandlung verschiedener Tumoren erwiesen. Zu diesen Medikamenten gehören 4 die monoklonalen Antikörper Cetuximab (Erbitux) und Panitumumab (Vectibix), 4 die Kinasehemmer Erlotinib (Tarceva), Gefitinib (Iressa) und Lapatinib (Tykerb bzw. Tyverb). Es ist verständlich, dass unter der Behandlung mit diesen Substanzen z. T. schwere unerwünschte Wirkungen an der Haut wie auch an den Nägeln und Haaren beobachtet werden können. Das Auftreten dieser Veränderungen zeigt in der Regel einen typischen zeitlichen Verlauf (. Abb. 26.19). 4 In einer 1. Phase tritt ein akneähnlicher Hautausschlag auf, entsprechend einer akuten Entzündung der Haut. 4 In einer 2. Phase, ab etwa 4–6 Wochen nach Therapiebeginn, geht die akute Entzündung zurück, die Haut trocknet lokal aus, es können sich Krusten und Schuppen bilden. Die Haut wird dünner und empfindlicher, es können sich Teleangiektasien (»Gefäßreiser«, »Besenreiser«) ausbilden. Teilweise kommt es zu schmerzhaften Rhagaden und Fissuren. 4 In einer 3. Phase treten zusätzlich gelegentlich Paronychien auf (Entzündungen des Nagelfalzes). Neben den genannten Medikamenten, die relativ gezielt den EGFR-Signalweg blockieren, kommen neuerdings auch Substanzen zum Einsatz, die gleichzeitig verschiedene intrazelluläre Signalwege hemmen, die sog. Multi-
26.8 Haut- und Nagelveränderungen
unter medikamentöser Behandlung mit Hemmstoffen des EGFR Der epitheliale Wachstumsfaktor EGF (»epithelial growth factor«) spielt eine zentrale Rolle bei der ständigen Erneuerung aller epithelialen Gewebe und somit auch der Haut (7 Kap. 1.2.2). Entsprechend reich sind die sich teilenden
. Abb. 26.19. Zeitlicher Verlauf der Haut-Nagel-Veränderungen. Obwohl die Kurve für die Hautveränderungen glatt gezeichnet ist, erleben die Patienten während der Therapie Phasen, die frei sind von z. B. Hautausschlag sowie Schübe mit verschiedenen Hautreaktionen. (Nach Merck GmbH)
481 26.8 · Haut- und Nagelveränderungen unter medikamentöser Behandlung mit Hemmstoffen des EGFR
kinasehemmer. Dazu gehören Dasatinib (Sprycel), Imatinib (Glivec), Nilotinib (Tasigna), Sorafenib (Nexavar), Sunitinib (Sutent). Auch diese Medikamente verursachen Hautreaktionen, die sich aber von denen der EGFR-Hemmer etwas unterscheiden. Sie sind in der Regel milder und zeigen etwas andere Symptome und Lokalisationen. Sie werden separat in 7 Kap. 26.9. diskutiert.
26.8.1
Akneähnlicher Hautausschlag
Es handelt sich um eine akute, z. T. eitrige Entzündung der Haut, ausgehend von den Haarfollikeln – ähnlich einer Akne. Sie wird deshalb als akneähnliches Exanthem (Ausschlag) oder als akneiforme oder akneähnliche Follikulitis bezeichnet (engl. »acneiform rash«). Im Unterschied zur eigentlichen Akne bilden sich aber keine Komedonen (»Mitesser«). 4 Das Exanthem tritt unter EGFR-Hemmern bei 50–90% der Patienten auf. 4 Das Exanthem zeigt eine typische Körperverteilung: Wie bei Akne ist der Ausschlag in der Regel auf die seborrhoischen Zonen (Gesicht, vordere und hintere Schweißrinne am Thorax) begrenzt, es kann jedoch auch – v. a. bei den Kinasehemmern – am ganzen Körper auftreten.
4 Das Exanthem erscheint ca. 1–3 Wochen nach Therapiebeginn. Der Höhepunkt wird etwa in der 5. Woche erreicht. Auch bei Weiterführung der Therapie klingt die akute Follikulitis dann in der Regel ab. In vielen Studien konnte ein Zusammenhang zwischen der Hautreaktion und dem Ansprechen des Tumors auf den EGFR-Hemmer nachgewiesen werden: Je stärker die Hautreaktion, desto besser war i. Allg. das Therapieansprechen. Das Auftreten einer Hautreaktion sollte deshalb nicht zu einem Therapieabbruch führen!
Erfassung Ein standardisiertes Erfassungsinstrument fehlt. Folgende Punkte sollten aber erfasst werden: 4 Stärke des Exanthems, 4 Ausbreitung, 4 Beschwerden, 4 Auswirkungen auf den Patienten und die Angehörigen.
Beurteilung Die Entscheidung für eine Behandlung stützt sich auf eine korrekte Beurteilung. Häufig wird dazu die Einteilung nach NCI-CTCAE Version 4.0 benutzt (. Tab. 26.10; . Abb. 26.20–26.22). Bei der EGFR und Multikinasehemmer sind aber mehrere relevante Kategorien zu finden.
Medizinische Interventionen . Tab. 26.10. Akneiformer Ausschlag – Beurteilung nach der CTCAE-Version 4.0
Grad
»Rash« (Ausschlag) akneiform
1
Papeln und/oder Pusteln auf 30% der KOF 4 mit oder ohne Pruritus oder geringen Schmerzen 4 mit lokaler Superinfektion; orale Antibiotika indiziert 4 mit Einschränkung der ATL
4
Papeln und/oder Pusteln auf beliebigem Anteil der KOF 4 mit oder ohne Pruritus oder geringen Schmerzen 4 mit ausgedehnter Superinfektion; i.v. Antibiotika indiziert 4 lebensbedrohliche Konsequenzen
5
Tod
Nach Common Terminology Criteria for Adverse Events (CTCAE).
! Die EGFR-Hemmer sind eine relativ neue Gruppe von Medikamenten. Es besteht deshalb noch kein Konsens über die optimale medizinische Behandlung der damit verbundenen unerwünschten Wirkungen. Die wissenschaftliche Evidenz für die folgenden Empfehlungen ist entsprechend bescheiden, sie beruht vorwiegend auf oft widersprüchlichen Expertenmeinungen.
. Abb. 26.20. Hautreaktion auf EGFR-Hemmer Grad 1. (Abb. von Prof. Dr. med. R. Dummer, Dermatologische Klinik, Universitätsspital Zürich, mit frdl. Genehmigung)
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Kapitel 26 · Haut- und Nagelveränderungen
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a
b
. Abb. 26.21a, b. Hautreaktion auf EGFR-Hemmer Grad 2 an Gesicht und Brust. (Abb. von Prof. Dr. med. R. Dummer, Dermatologische Klinik, Universitätsspital Zürich, mit frdl. Genehmigung)
Akneiformer Ausschlag 5 Ausschlag Grad 1 – evtl . keine Behandlung – evtl. topische, antibiotische Gels/Lotionen 5 Ausschlag Grad 2–3 – evtl. Antihistaminika bei starkem Juckreiz – evtl. Kortikosterioid-Salbe – nur kurzdauernde Anwendung! – evtl. lokale und/oder orale Antibiotika – evtl. Konsilium mit Onkodermatologen – evtl. Therapieunterbrechung (bei Grad 3) 5 Ausschlag Grad 4 – Therapieunterbrechung – Konsilium mit Onkodermatologen
. Abb. 26.22. Hautreaktion auf EGFR-Hemmer Grad 2/3. (Abb. von Prof. Dr. med. R. Dummer, Dermatologische Klinik, Universitätsspital Zürich, mit frdl. Genehmigung)
Als Antibiotika werden vorwiegend Tetrazykline (Minocyclin, Doxyciclin u. a.) eingesetzt: sie haben unabhängig von ihrer antibakteriellen auch eine entzündungshemmmende Wirkung.
Pflegerische Interventionen Pflegende sind oft in die Behandlung der akneartigen Exantheme involviert und informieren und beraten Patienten
und Angehörige. Dies sind wichtige Tätigkeiten, da frühzeitige Interventionen dazu beitragen, die Beschwerden eines akneähnlichen Ausschlags zu reduzieren. Es kann dadurch auch vermieden werden, dass Patienten eine erfolgversprechende Behandlung wegen dieser unerwünschten Wirkung von sich aus abbrechen. Ein Therapieabbruch sollte in jedem Fall nur nach Rücksprache mit dem behandelnden Arzt erfolgen. ! Schwere akneähnliche Veränderungen im Gesicht bedeuten eine große Belastung für Patienten und Angehörige und dürfen nicht unterschätzt oder bagatellisiert werden.
483 26.8 · Haut- und Nagelveränderungen unter medikamentöser Behandlung mit Hemmstoffen des EGFR
Wie für die medizinischen Interventionen gilt auch für die pflegerischen Interventionen bei Hautveränderungen unter EGFR-Hemmern: ! Es besteht noch kein Konsens über die optimalen pflegerischen Interventionen. Die wissenschaftliche Evidenz für die folgenden Empfehlungen ist bescheiden, sie beruht vorwiegend auf – oft widersprüchlichen – Expertenmeinungen.
Information des Patienten Die Behandlung mit EGFR-Hemmern erfolgt in der Regel ambulant. Der Patient und die Angehörigen müssen mit den unerwünschten Wirkungen zurecht kommen. Es sind gute Informationsschriften für Patienten erhältlich. Patienten müssen zu Beginn der Behandlung – sowohl bei intravenös wie bei oral verabreichten Medikamenten – über die in den . Pflegerischen Interventionen genannten Punkte informiert werden.
Pflegerische Interventionen bei akneiformem Ausschlag Information, Beratung und Schulung 4 Eine akneähnliche Reaktion wird mit großer Wahrscheinlichkeit auftreten. 4 Es handelt sich dabei weder um eine allergische Reaktion noch um eine typische Akne. 4 Sie kann sich in unterschiedlicher Stärke manifestieren. 4 Sie kann sich während der Therapie wieder zurückbilden. 4 Es ist wichtig, das Behandlungsteam zu informieren, sobald eine Hautveränderung bemerkt wird oder sie sich verschlimmert; wirksame Behandlungen sind verfügbar. 4 Die oralen EGFR-Hemmer nur nach Rücksprache mit dem Arzt absetzen! 4 Das Befolgen der Empfehlungen zur Hautpflege reduziert die Schwere der Symptome. 4 Keine Produkte zur Hautpflege kaufen oder benutzen ohne Rücksprache mit dem Behandlungsteam. 4 Kosmetisch störende Veränderungen im Gesicht können durch Make-up abgedeckt werden.
Empfehlungen zur Hautpflege Zu empfehlen 4 Gute Körperhygiene. 4 Kopfwäsche mit sehr milden Shampoos. 4 Bade- oder Duschöl benutzen. 4 Wegen Infektionsrisiko nur saubere und weiche Handtücher verwenden. 4 Vorsichtig rasieren. 4 Mit einem nicht parfümierten, feuchtigkeitsspendenden Produkte wie Creme oder Lotion ca. 2× pro Tag eincremen. 4 Als Make-up silikonfreie, dermatologisch getestete Deckcreme verwenden. 4 Milde, pH-neutrale Make-up-Entferner verwenden.
4 Hände und Füße mit feuchtigkeitspendenden Produkten eincremen → beugt Hautaustrocknung und Fissuren vor. 4 Baumwollwäsche gegenüber Synthetikfasern bevorzugen → reduziert Schwitzen oder übermäßigen Wärmestau. Zu vermeiden 4 Manipulation der Hautveränderungen (erhöht die Infektionsgefahr): Pusteln nicht ausdrücken! 4 Alkoholhaltige Lösungen oder Gels. 4 Starkes Reiben mit dem Handtuch meiden (besser: Abtupfen der Haut). 4 Rückfettende Pflegeprodukte (z. B. Tagescremes, Nachtcremes, Salben), da ihr Okklusionseffekt die Abheilung der Hautveränderungen beeinflussen kann. 4 Waschen der betroffenen Körperteile mit heißem Wasser (nur lauwarmes Wasser verwenden). 4 Heißes Föhnen der Haare. 4 Enge Kleider: Kleidung darf nicht auf entzündeten Hautstellen reiben. 4 Rasieren der Körperbehaarung (Gefahr der Mikroverletzung der Haut). 4 Starke direkte Sonnenexposition (. Abb. 26.23) → Sonnenschutz mit hohem Faktor verwenden. 4 Aknemedikamente auf der Basis von Retinoiden oder Benzoylperoxid sollten nicht benutzt werden. Zur Verhinderung von Narben und Hyperpigmentation 4 Verkrustete Läsionen nicht entfernen. 4 NaCl 0,9%-Kompressen auflegen. 4 Mit milder Seife waschen. 4 Mit Feuchtigkeitsemulsionen eincremen. Bei der Rückbildung der eitrigen Hautveränderung mit Ausbildung von Krusten und Schuppung 4 Hautreinigung mit feuchtigkeitsspendenden Ölen oder Seifen (ohne Duftstoffe).
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Kapitel 26 · Haut- und Nagelveränderungen
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b . Abb. 26.23. Hautreaktion auf EGFR-Hemmer nach Sonnenexposition. (Abb. von Prof. Dr. med. R. Dummer, Dermatologische Klinik und Klinik für Onkologie, Universitätsspital Zürich, mit frdl. Genehmigung)
26.8.2
Trockene Haut/Fissuren
Nach Abklingen des akuten, akneähnlichen Ausschlags entwickelt sich bei 10–15% der mit EGFR-Hemmern behandelten Patienten eine ausgeprägte, entzündliche Hauttrockenheit (Xerodermie). Als Folge bilden sich ca. 10–12 Wochen nach Beginn der Behandlung Fissuren (Risse) mit schlechter Heilungstendenz (. Abb. 26.24, . Pflegerische Interventionen). Häufig befinden sie sich an den Fingerkuppen, manchmal an den Fersen. Sie sind sehr schmerzhaft und stören die Alltagsaktivitäten (Fingerfertigkeit, Gehen).
c . Abb. 26.24a–c. Fissuren, verursacht durch EGFR-Hemmer. (Abb. von Prof. Dr. med. R. Dummer, Dermatologische Klinik und Klinik für Onkologie, Universitätsspital Zürich, mit frdl. Genehmigung)
485 26.8 · Haut- und Nagelveränderungen unter medikamentöser Behandlung mit Hemmstoffen des EGFR
Pflegerische Interventionen
. Tab. 26.11. Paronychie – Beurteilung nach der CTCAE-Version 4.02
Pflegerische Interventionen bei trockener Haut
Grad
Paronychie
Prophylaxe
1
4 Hände und Füße ab Therapiebeginn 2× pro Tag mit einer Feuchtigkeitscreme einreiben.
4 Nagelfalzödem oder Erythem 4 Nagelhäutchen nicht mehr intakt
2
4 Nagelfalzödem oder Erythem mit Schmerzen 4 Mit Sekretion oder Onycholyse 4 Lokale oder systemische Intervention (z. B. Antibiotika) indiziert 4 Einschränkung der ATL
3
4 Chirurgische Intervention oder i.v. Antibiotika nötig 4 Erhebliche Einschränkung der ATL
4
–
5
–
Bei Fissuren 4 Fettcreme oder harnstoffhaltige Lotionen mehrmals täglich auftragen. 4 Evtl. Hydrocolloidverband aufkleben (Produkte von Fa. Compeed). 4 Evtl. antibiotikahaltige Salben auftragen. 4 Spray-Verbandstoff (z. B. Band-Aid von Fa. Hansaplast). 4 Nicht klebender Schaumstoffverband: Die Verbände sollten besonders an den Fingern nicht zu groß sein, um die Fingerfertigkeit möglichst wenig zu beeinträchtigen. 4 Dünne baumwollene Handschuhe tragen.
Nach Common Terminology Criteria for Adverse Events (CTCAE).
Pflegerische Interventionen bei Paronychie Mit der Hauttrockenheit können sich – an den Stellen der Hauptmanifestation der akuten Phase – Teleangiektasien (»Gefäßreiser«) ausbilden. Sie stellen höchstens ein kosmetisches Problem dar.
26.8.3
Paronychie
Eine Paronychie (Entzündung des Nagelfalzes, »Umlauf«) tritt bei 10–15% der Patienten ca. 2–3 Monate nach Beginn der Behandlung mit einem EGFR-Hemmer auf. Sie beginnt mit einer schmerzhaften Rötung des Nagelfalzes, im Verlauf kann es zur Bildung von Granulomen kommen. Bei Superinfektion, oft mit Staphylococcus aureus, bildet sich Eiter. Betroffen sind einzelne Finger- oder Zehenägel, besonders häufig der Großzehennagel. Die Paronychie ist nach Absetzen des EGFR-Hemmers immer reversibel. Eine Paronychie ist sehr schmerzhaft, v. a. auf Druck, und kann deshalb zu erheblichen Einschränkungen der Aktivitäten des täglichen Lebens führen (. Tab. 26.11).
Prophylaxe 4 Einengende Schuhe vermeiden: Weite Schuhe, evtl. Sandalen tragen. 4 Nagelpflege: – Nägel gerade schneiden, keine abgerundeten Ecken. – Nagelhäutchen nicht abreißen oder zu fest zurückschieben.
Bei Paronychie 4 Finger bzw. Zehen in lauwarmem Seifenwasser oder Kamillenlösung baden. 4 Bei sehr schmerzhaften, druckempfindlichen Stellen: evtl. Verband mit Schaumstoffpolster, nicht klebende Verbände sowie dünne Baumwollhandschuhe. 4 Evtl. Auftragen von Steroid- oder antibiotischen/ antimykotischen Salben nach ärztlicher Verordnung.
Medizinische Interventionen 4 Evtl. lokale Steroidbehandlung. 4 Bei Superinfektion (Bakterien, Candida): antibiotische Behandlung gemäß Antibiogramm, evtl. lokal antibakterielle/antimykotische Salben. 4 Evtl. scharfes Abtragen von Granulationsgewebe. 4 Evtl. Nagelextraktion. . Pflegerische Interventionen sind gesondert dargestellt.
26.8.4
Veränderungen an Kopfhaar und Wimpern
Unter der Behandlung mit EGFR-Hemmern können an Kopfhaar und an den Wimpern typische Veränderungen beobachtet werden. Sie werden in 7 Kap. 25 (»Haarausfall und Haarveränderungen«) besprochen.
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26.9
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Kapitel 26 · Haut- und Nagelveränderungen
Haut- und Nagelveränderungen unter medikamentöser Behandlung mit Multikinasehemmstoffen
Neben den eben besprochenen EGFR-Hemmern kommen in jüngerer Zeit Medikamente zum Einsatz, die gleichzeitig verschiedene intrazelluläre Signalwege hemmen, die sog. Multikinasehemmer. Dazu gehören 4 Dasatinib (Sprycel), 4 Imatinib (Glivec), 4 Nilotinib (Tasigna), 4 Sorafenib (Nexavar), 4 Sunitinib (Sutent). Auch diese Medikamente verursachen Hautreaktionen, die sich aber von denen der EGFR-Hemmer unterscheiden. Sie sind teilweise milder und zeigen etwas andere Symptome und Lokalisationen.
26.9.1
Hand-Fuß-Hautreaktion
Unter Sunitinib und Sorafinib tritt bei 10–60% der Patienten eine sog. Hand-Fuß-Hautreaktion auf (engl. »hand foot skin reaction«; HFSR), meist bereits während der ersten 2–4 Wochen der Behandlung. Sie ist nach Absetzen des Medikaments vollständig reversibel. An Stellen mit Druckbelastung (Fingerspitzen, Fersen, Fußballen) sowie über den Hand- und Fußgelenken bilden sich schmerzhafte Erytheme (Rötungen), evtl. mit zentralen Blasen. Nach einigen Wochen verdickt sich dort die Haut (Hyperkeratose), und es kommt zur Ausbildung von ebenfalls schmerzhaften Schwielen, die die Beweglichkeit stark einschränken können. Ähnlich wie das typische Hand-Fuß-Syndrom (HF), das unter konventionellen Zytostatika wie Fluorouracil, Capecitabin u. a. auftreten kann (7 Kap. 26.7.2), ist die HFSR an Händen und Füßen lokalisiert. Typisch für die HFSR sind aber die Ausbildung an druckbelasteten Stellen und die ausgeprägte Hyperkeratose. Die . Pflegerischen Interventionen entsprechen denen beim HFS (7 Kap. 26.7.2). Besondere Aufmerksamkeit ist aber der Prophylaxe und Pflege der Hyperkeratose zu schenken.
26.9.2
Ausschlag (»Rash«)
Vor allem unter der Behandlung mit Sorafenib tritt häufig ein akneähnlicher Ausschlag im Gesicht auf, ähnlich wie unter EGFR-Hemmern (7 Kap. 26.8.1). Er ist unter Sorafenib meist weniger stark ausgeprägt. Häufig wird er von
Pflegerische Interventionen bei Hand-Fuß-Hautreaktion nach Behandlung mit Multikinasehemmstoffen Prophylaxe 4 Vor Therapiebeginn: Bei vorbestehender Hyperkeratose (Hornhaut/Hühneraugen) Entfernung durch professionelle Pediküre. 4 Keine engen Schuhe tragen. 4 Keine Tätigkeiten mit Werkzeugen, die wiederholten, starken Druck auf Handflächen oder Finger ausüben – beim Tippen möglichst wenig Druck auf die Tastatur ausüben. 4 Heißes Wasser an Händen und Füßen vermeiden.
Bei Hyperkeratose 4 Keratolytische (hornhautlösende) Salben (salicylat- oder harnstoffhaltig) anwenden.
eigenartigen, unangenehmen Sensationen (Dysästhesien) im Bereich der Kopfhaut begleitet.
26.9.3
Nagel- und Haarveränderungen
Typisch für die Behandlung mit Multikinasehemmern sind spezifische Veränderungen an Nägeln und Haaren. Nagelveränderungen. Unter Sorafenib und Sunitinib werden kleine Blutungen unter den Fingernägeln (seltener auch unter den Zehennägeln) beobachtet, sog. SplinterBlutungen (nach engl. »splinter«: Splitter). Sie sind meist schmerzlos und manifestieren sich als kurze schwarze, dunkelbraune oder dunkelrote Striche unter den Nägeln. Sie wandern mit dem Wachstum des Nagels zum freien Nagelrand und können dann dort vom Nagel abgekratzt werden. Haarveränderungen. Die eigenartigen Haarverfärbungen
unter Sunitinib werden in 7 Kap. 25.4.2 beschrieben.
26.10
Herpesinfektion
Besonders bei immunsupprimierten Tumorpatienten ist das Risiko einer Infektion durch Bakterien, Pilze oder Viren erhöht. Auch die Haut kann infiziert werden, v. a. durch Viren der Herpesgruppe: Herpes-simplex- (HSV) und Varizella-zoster-Viren (VZV).
487 26.10 · Herpesinfektion
26.10.1 Herpes simplex Einer der am weitesten verbreiteten Virusstämme ist das Herpes-simplex-Virus (HSV). Es wird in 2 Gruppen unterteilt: 4 Herpes simplex 1 (HSV-1) und 4 Herpes simplex 2 (HSV-2). Infektionen mit HSV-1 sind gewöhnlich charakterisiert durch einen lokalen Befall der Haut im Bereich der Lippenund Nasenregion (Herpes labialis), doch können auch Mund- oder Ösophagusschleimhaut befallen werden. HSV-2 verursacht Infektionen der Anogenitalregion: Schamlippen, Gebärmuttermund, Glans, Penis, Vorhaut. Bei beiden Geschlechtern können Oberschenkel-, Gesäßund Analregion betroffen sein (Herpes genitalis). Bei Patienten, die noch nie mit dem Virus in Kontakt gekommen sind, spricht man von Erstinfektion; die Rezidive entstehen durch eine Reaktivierung des latent in den regionalen Nervenganglien persistierenden Virus. Fieber, psychische Belastungen und Stresssituationen scheinen beim Ausbruch von Rezidiven eine Rolle zu spielen. ! Bei Patienten mit erheblicher Schwächung des Immunsystems (z. B. Patienten mit malignen Lymphomen und lymphatischen Leukämien, Chemo- oder Kortikosteroidtherapien, nach Stammzelltransplantation) besteht ein erhöhtes Risiko für das Auftreten einer HSV-Virämie (Zirkulation und Verbreitung der Viren im Blut) und damit einer generalisierten, schweren Herpes-simplexInfektion.
Verlauf Noch bevor die lokalisierte Infektion überhaupt sichtbar wird, kann sich die Infektion durch Kopfschmerzen und allgemeines Unwohlsein bemerkbar machen. Am Ort der Hautinfektion: 4 Oft zuerst Juckreiz, Brennen, Ziehen. 4 Nach wenigen Stunden bis Tagen treten erste Bläschen auf; allmähliche Zunahme der Größe der Läsionen. 4 Die Flüssigkeit in den Bläschen enthält aktive Viren und ist deshalb infektiös. 4 Die betroffenen Regionen sind gewöhnlich schmerzhaft. 4 In der Abheilungsphase können die entstehenden Krusten bei Bewegungen oder beim Essen aufbrechen. Dies verursacht zusätzliche Schmerzen und bietet auch eine Eintrittspforte für Bakterien und Pilze und damit die Gefahr von Superinfektionen. HSV-2-Infektionen können für die sexuellen Beziehungen des Patienten ein ernstes Problem darstellen.
Medizinische Interventionen Eine Prävention von HSV-Infektionen ist nicht möglich. Auch besteht keine Möglichkeit, die latent in den Nervenganglien persistierenden Viren zu eliminieren. Als systemische antivirale Medikation werden z. B. Aciclovir (Zovirax) oder Valaciclovir (Valtrex) eingesetzt. Mit topischen Applikationen, z. B. Aciclovir-haltiger Creme, sollte zum frühestmöglichen Zeitpunkt nach Ausbruch der Infektion begonnen werden. Bei rezidivierenden Infektionen sollte die Behandlung bereits im Prodromalstadium einsetzen, wenn Spannungsgefühl und Juckreiz auftreten. . Pflegerische Interventionen sind gesondert dargestellt.
Pflegerische Interventionen bei Herpes-simplex-Infektion Information, Beratung und Schulung von Patienten und Angehörigen 4 Erfassung des Informationsstandes des Patienten über Herpesinfektionen und Abbau der Furcht vor sozialem Stigma bzw. von Missverständnissen wie z. B. bezüglich der Ansteckungsgefahr ohne intimen Körperkontakt. 4 Erläuterung der Charakteristika der Erkrankung und der Therapie.
Verhaltensregeln erläutern 4 Vermeidung von Sonnenexposition. 4 Vermeidung von direktem Hautkontakt mit dem infizierten Körperteil und mit infizierten Gegenständen. 4 Vermeidung von Küssen (HSV-1) und Geschlechtsverkehr (HSV-2) während der akuten Phase der Infektion.
Weitere pflegerische Interventionen bei Herpes-simplexInfektionen werden in 7 Kap. 26.10.2 (Pflegerische Interventionen bei Herpes zoster) diskutiert.
26.10.2 Herpes zoster Herpes zoster wird durch das Varizella-zoster-Virus verursacht. Die Erstinfektion manifestiert sich als Varizellen (Windpocken). Die meisten Viren werden durch Antikörper zerstört, einige überleben jedoch in den Ganglien sensibler Nerven und verbleiben dort in Latenz bis zum Zeitpunkt einer Reaktivierung. Der Mechanismus der Reaktivierung ist unklar. Die Reaktivierung wird als »Herpes zoster« oder »Gürtelrose« bezeichnet.
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Kapitel 26 · Haut- und Nagelveränderungen
Eine erhöhte Inzidenz von Herpes zoster wird bei immungeschwächten Patienten beobachtet. Das größte Risiko besteht bei: 4 malignen Lymphome (M. Hodgkin und anderen Lymphomen), 4 chronisch lymphatischer Leukämie, 4 Plasmozytom, 4 während oder nach Chemo- oder Radiotherapie, 4 während oder nach Steroidtherapie, 4 nach Stammzelltransplantation. ! Bei Patienten mit erheblicher Schwächung des Immunsystems kann sich die Herpes-zoster-Infektion auf mehrere Hautsegmente (Dermatome) auf beiden Körperhälften oder gar generalisiert über den ganzen Körper ausbreiten.
Verlauf Herpes zoster wird durch folgende 4 Phasen charakterisiert: 1. Prodromalphase ohne sichtbare Läsionen, mit Fieber und Unwohlsein, Auftreten von lokalen Schmerzen, Juckreiz oder Sensibilitätsstörungen in den betroffenen Körperregionen. 2. Eruptionsphase (Exanthem) mit dem Auftreten von erythematösen Flecken innerhalb der betroffenen Dermatome sowie von gruppierten Bläschen, die anschließend verkrusten (. Abb. 26.25); Konfluieren der Bläschen zu großen Blasen (evtl. hämorrhagisch oder nekrotisierend), Fieber, Kopfschmerzen, Unwohlsein, Schüttelfrost, evtl. Lymphknotenschwellungen, evtl. mit starken lokalen Schmerzen. 3. Dissemination (bei stark immungeschwächten Patienten) mit evtl. verstreuten Läsionen über den ganzen Körper; auch innere Organe können betroffen sein. 4. Postherpetische Neuralgien erleben ca. 10–15% der Patienten, scheinbar häufiger bei älteren Patienten. Schmerzen an den Stellen der abgeheilten Läsionen können über lange Zeit anhalten (bis zu 1 Jahr oder länger), man spricht von postherpetischer Neuralgie.
Bei offenen Läsionen besteht das Risiko von Superinfektionen mit Bakterien oder Pilzen. ! Ein Patient mit Herpes zoster ist infektiös für alle Personen, die noch keine Windpocken gehabt haben oder deren Immunsystem geschwächt ist. Die Übertragung erfolgt durch direkten Kontakt mit dem Wundexsudat.
Eine Isolation von Patienten mit Herpes zoster ist jedoch nicht unbedingt notwendig. Herpes zoster ist aber ein Risiko für andere immungeschwächte Patienten. Eine Ansteckungsgefahr besteht auch für die Pflegenden, falls diese nicht früher eine Varizelleninfektion durchgemacht haben. In solchen Situationen sollen Schutzmaßnahmen getroffen werden. Bei Schwangeren verläuft die Erstinfektion mit dem VZV oft besonders schwer. Sie kann zusätzlich zur Schädigung des Embryos führen (Varizellenembryopathie). ! Schwangere ohne Immunität gegen VZV sollten deshalb den Kontakt mit Varizellenpatienten und mit Herpeszoster-Patienten in der Akutphase meiden.
Erfassung Prodromalzeichen sind weder sichtbar noch tastbar. Beim Auftreten von Läsionen Dokumentation von: 4 Läsionstyp (einzelne oder gruppierte Bläschen), 4 Farbe, 4 Beschaffenheit, 4 Menge und Art des Exsudats, 4 Schmerz.
Medizinische Interventionen Die Therapie einer Herpes-zoster-Infektion besteht gewöhnlich in einer antiviralen Medikation. Ohne antivirale Therapie heilt die Krankheit i. Allg. innerhalb von ca. 4 Wochen ab. Antivirale Medikamente werden angewandt, um die Eruptionsphase abzuschwächen, eine Generalisierung zu verhüten und Symptome zu lindern. Als antivirale Substanzen stehen Aciclovir (z. B. Zovirax), Valaciclovir (z. B. Valtrex) und Famciclovir (z. B.Famvir) zur Verfügung, sie können i.v., p.o. oder lokal angewandt werden.
Therapieindikationen bei Herpes zoster
. Abb. 26.25. Herpes zoster in der Eruptionsphase bei M. Hodgkin. (Abb. der Klinik für Onkologie, Universitätsspital Zürich, mit frdl. Genehmigung)
5 Indikationen zur intravenösen antiviralen Therapie: – Massiver Zoster bei immungeschwächten Patienten – Zoster mit Befall von mehreren Hautsegmenten oder generalisiert – Zoster im Bereich des Auges. 6
489 26.10 · Herpesinfektion
5 Indikationen zur oralen antiviralen Therapie: – Unkomplizierter Zoster bei immungeschwächten Patienten – Zoster mit starken Schmerzen während der Akutphase 5 Keine Indikation für antivirale Therapie: – Alle Läsionen sind bereits verkrustet – Postherpetische Neuralgie
Die lokale Behandlung der Hautbläschen, z. B. mit »Schüttelmixtur« oder anderen Präparaten auf Zinkbasis, wirkt lokal kühlend und schmerzlindernd, fördert die Austrocknung der Blasen und hilft, eine Superinfektion zu verhüten. Topische antimikrobielle Medikamente
sind bei ulzerierenden oder gangränösen Läsionen indiziert.
Pflegerische Interventionen Ziele aller pflegerischen Maßnahmen sind 4 die möglichst weitgehende Linderung von Schmerzen und Juckreiz, 4 die Verhinderung von Komplikationen und/oder der Ausbreitung der Infektion auf andere Personen sowie 4 die Unterstützung von Patienten und Angehörigen während der Erkrankung. Die meisten Patienten werden ambulant behandelt. Die in den . Pflegerischen Interventionen genannten Maßnahmen können sowohl in der Klinik wie zu Hause Anwendung finden.
Pflegerische Interventionen bei Herpes Zoster Information, Beratung und Schulung von Patienten und Angehörigen 4 Erfassung des Informationsstandes des Patienten über Herpes zoster, besonders bezüglich Übertragungsgefahr auf nicht immune Personen. 4 Erläuterung der Charakteristika der Erkrankung und der Therapie. 4 Erläuterung der Regeln für das Verhalten während der akuten Phase: – Vermeidung von Sonnenexposition. – Kein Kontakt zu nicht immunen Schwangeren und zu Personen mit geschwächtem Immunsystem.
Schmerzhafte und verkrustete Läsionen 4 Bewegungsübungen bei immobilen Patienten mit Herpes zoster müssen vorsichtig ausgeführt werden, um an Bläschen oder Krusten keine zusätzlichen Verletzungen oder Risse zu verursachen. 4 Verabreichung der verordneten systemischen Schmerzmittel. 4 Lokale Linderung durch kühle bis lauwarme Umschläge, z. B. Wasser oder NaCl 0,9%; manche Patienten empfinden sehr kühle Umschläge als wohltuend. Danach vorsichtig abtupfen. 4 Verordnete topische Medikamente auf die betroffenen Hautstellen auftragen. 4 Vermeidung von okklusiven und klebenden Verbänden; nicht klebenden Verband evtl. mit Netzgazen befestigen. 6
4 Kein Débridement der Krusten! 4 Weite, bequeme Kleidung empfehlen. Auch nachts mechanische Reize vermeiden durch einengende Pyjamas usw., z. B. mittels Bettrahmen die Bettdecke hochhalten.
Zur Prävention einer Superinfektion (je nach Lokalisation der Läsionen) 4 Sorgfältig auf Zeichen einer Superinfektion achten (erhöhte Körpertemperatur, eitriges Exsudat). 4 Aufbrechen der Läsionen vermeiden: Fingernägel kurz schneiden, wenn nötig Baumwollhandschuhe tragen lassen. 4 Läsionen mit trockenen, sterilen nicht haftenden Verbänden abdecken. 4 Zur Verhinderung einer Einschleppung pathogener Keime gewissenhafte Händedesinfektion und Hautpflege, Intimpflege nach Ausscheidungen, Vermeidung eines Blasenkatheters, falls irgend möglich, Kürzen lokaler Behaarung (z. B. Schamhaar bei HSV-2), falls es schwierig ist, die Läsionen sauber zu halten.
Generalisierung und Augenbeteiligung 4 Besonders bei Herpes zoster den Arzt verständigen, wenn Bläschen außerhalb des befallenen Dermatoms oder an anderen Körperstellen auftreten. 4 Bei Bindehautreizung oder motorischer Schwäche den Arzt informieren.
26
490
Kapitel 26 · Haut- und Nagelveränderungen
Postherpetische Neuralgien
26
4 Diese Symptome werden von den Patienten als besonders störend und belastend empfunden. Weil oft auf der Haut keine Läsionen mehr zu sehen sind, werden die Schmerzen möglicherweise angezweifelt. Dann ist für den Patienten nicht nur der physische Schmerz vorhanden, sondern es wird auch seine Glaubwürdigkeit wird in Frage gestellt. 4 Erfassung der Schmerzbeschreibung. 4 Vermeidung von Reibung durch die Kleidung: – Lockere, gut waschbare Kleidung über den schmerzhaften Stellen tragen. – Hautverträgliche Gewebe wählen (keine kratzenden Wollkleider, keine rauen Oberflächen). – Seidene Tücher zwischen Haut und Kleidungsstück einlegen.
Literatur Baker J et al. (2008) Docetaxel-related side effects and their management. Eur J Oncol Nurs 12: 253–268 Bruner DW, Haas, ML, Gosselin-Acomb TK (2006) Manual for radiation oncology nursing practice and education, 3rd edn. Oncology Nursing Society, Pittsburgh Hartmann J et al. (2009) Haut- und Schleimhauttoxizität neuer Substanzen. Onkologe 15 (2):163–168 Lacomba MT et al. (2010) Effectiveness of early physiotherapy to prevent lymphoedema after surgery for breast cancer: randomised, single blinded, clinical trial. Br Med J 340b: 5396 Lacouture ME et al. (2008) Evolving stategies for the management of hand-foot skin reaction associated with the multitargetd kinase inhibitors Sorafenib and Sunitinib. Oncologist 13: 1001–1011 Lawenda B et al. (2009) Lymphema: A primer on the identification and management of a chronic condition in oncologic treatment. CA Cancer J Clin 59: 8–24 Lee TS et al. (2009) Factors that affect intention to avoid strenuous arm activity after breast cancer surgery. Oncol Nurs Forum 36 (4): 454–462 Lockwood S (2007) Lymphedema in oncologic cancer survivors . An area for exploration? Cancer Nurs 30 (4): E11–18 Lynch TJ et al. (2007) Epidermal growth factor receptor inhibitor-associated cutaneous toxicities: an evolving paradigm in clinical management. Oncologist 12: 610–621 MerckSerono. Fachinformationbroschüre und Patienteninformationbroschüre Moore-Higgs GJ et al. (2003) The role of licensed nursing personnel in radiation oncology: integrating the ambulatory care nursing conceptual framework. Oncol Nurs Forum 30 (1): 59–64 Onkologiepflege Schweiz (2007) Pflege und Behandlung der malignen Wunde.Standards in der Onkologiepflege Schiech L (2002) Malignant cutaneous wounds. Clin J Oncol Nurs 6 (5): 305–309 Robert C et al. (2005) Cutaneous side-effects of kinase inhibitors and blocking antibodies. Lancet Oncol 6: 491–500 Ryan M et al. (2003) The experience of lower limb lymphedema for women after treatment for gynecologic cancer. Oncol Nurs Forum 30 (3): 417–423
4 Analgetika und Anxiolytika nach ärztliche Verordnung verabreichen. 4 Evtl. nach Abheilung der Läsionen lokal hyperämisierende Salbe applizieren. 4 Evtl. lokal anästhesierende Salbe (z. B. 2–5%iges Lidocain) auftragen. 4 Evtl. lokale Applikation von 5%igem Lidocain-Pflaster. 4 Evtl. Eisapplikation nach Abheilung der Läsion (7 Kap. 18 »Schmerz«). 4 Vorsicht mit Capsaicin-Salbe (aus roten Chilischoten hergestellt): Eine anästhesierende Wirkung ist bisher nicht gesichert, und Patienten berichten über ein zusätzliches starkes Brennen auf der Haut.
Juckreiz 4 7 Kap. 26.5 (Pruritus).
Schmitz KH et al. (2009) Weight lifting in women with breast-cancerrelated lymphedema. New Engl J Med 361 (7): 664–673 Scotté F et al. (2005) Multicenter study of a frozen glove to prevent docetaxel-induced onycholysis and cutaneous toxicity of the hand. J Clin Oncol 23: 4424 Spornitz UM (2007) Anatomie und Physiologie, 5. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Ulrich J et al. (2008) Hauttoxizität durch antitumorale Therapie. Dtsch Dermatol Ges 6: 959–977
Internetadressen Radiation Therapy Oncology Group: www.ROTG.org (RTOG/EORTCKlassifikationskirterien für frühe und späte Strahlenfolgen; auf englisch) National Lymphedema Network: www.lymphnet.org (Information über Prävention und Management des primären und sekundären Lymphödems; Update 2008) National Comprehensive Cancer Network: www.NCCN.org (NCCNTask-Force-Report: Management von dermatologischen und anderen toxischen Veränderungen, die mit EGFR-Hemmung verbunden sind; auf englisch) UpToDate Inc.: www.utdol.com (Hautveränderungen durch Chemotherapie; auf englisch)
27
Schleimhautveränderungen A. Margulies 27.1
Definitionen und Begriffsklärungen
– 492
27.2
Anatomische und physiologische Grundlagen
27.3
Pathophysiologie
27.4
Ursachen und Risikofaktoren
27.4.1 27.4.2 27.4.3
Chemotherapie – 493 Radiotherapie – 495 Kombinierte Tumortherapie
27.5
Schleimhautveränderungen in Mundhöhle, Rachen und Speiseröhre – 495
27.5.1 27.5.2 27.5.3 27.5.4
Orale Mukositis und Ösophagitis – 495 Infektiöse Stomatitis – 503 Xerostomie (Mundtrockenheit) – 504 Leukämische Infiltrate – 505
27.6
Schleimhautveränderungen von Magen und Darm
27.6.1 27.6.2
Erosive Gastritis – 507 Enteritis/Kolitis – 508
27.7
Schleimhautveränderungen der Bindehaut
27.8
Schleimhautveränderungen im Urogenitaltrakt
27.8.1 27.8.2
Zystitis – 508 Vaginitis/Vulvitis
– 492
– 492
– 509
– 493
– 495
– 507
– 508 – 508
492
Kapitel 27 · Schleimhautveränderungen
))
27
Entzündliche Schleimhautveränderungen sind bei Tumorpatienten häufig. Sie können – mit verschiedenen Ursachen – alle Schleimhäute des Körpers betreffen, in erster Linie aber den gesamten Gastrointestinaltrakt vom Mund bis zum After, den Urogenitaltrakt von der Blase bis zu den äußeren Genitalorganen sowie die Bindehaut des Auges. Diese Schleimhautveränderungen werden häufig unterschätzt, dabei können sie äußerst schmerzhaft sein und zu Superinfektionen, Ernährungsproblemen und oft unnötigen Hospitalisationen führen. Die Lebensqualität kann stark beeinträchtigt sein. Bei Risikopatienten können Pflegende durch Schulung der Patienten und korrekte Interventionen die Morbidität mindern und eine höhere Lebensqualität ermöglichen.
27.1 Definitionen und Begriffsklärungen Eine Entzündung der Schleimhaut (lat.: mucosa) wird Mukositis genannt. Je nach Lokalisation wird sie bezeichnet als 4 Stomatitis (Entzündung der Mundschleimhaut), 4 Ösophagitis (Entzündung der Speiseröhre), 4 Enteritis (Entzündung der Darmschleimhaut), 4 Zystitis (Blasenentzündung) oder 4 Konjunktivitis (Entzündung der Bindehaut) usw. Bis 1980 wurde der Begriff »Stomatitis« generell für alle Schleimhautveränderungen des Mundes gebraucht. Seit 1980 findet man in der Literatur immer häufiger den spezifischeren Begriff »orale Mukositis«. ! Als orale Mukositis wird spezifisch und ausschließlich die durch Chemo- und Radiotherapie verursachte Entzündung der oralen Mukosa bezeichnet.
Der Begriff Stomatitis, (von griech. »stoma«: Mund), wird immer noch bei Mundschleimhautentzündungen mit einem anderen pathogenetischen Hintergrund benutzt, z. B. bei Pilzinfektionen (z. B. Soorstomatitis) oder bei Entzündungen, die durch einen schlechten Zahnstatus (Peridontose) verursacht werden.
27.2 Anatomische und physiologische
Grundlagen Die Schleimhaut kleidet den gesamten Gastrointestinaltrakt, den Respirationstrakt und den Urogenitaltrakt aus und überzieht als Bindehaut (Konjunktiva) die Hornhaut und die Innenseite der Lider. Sie schützt vor mechanischen
Verletzungen und Infektionen und dient Ausscheidungsund Aufnahmeprozessen, z. B. der Aufnahme von Nährstoffen und Wasser im Dünn- und Dickdarm, und dem Transport von Nährstoffen. Die Zellen der Schleimhäute sind sehr teilungsaktiv. Dies bedeutet eine kurze Lebensdauer der einzelnen Zellen, nämlich ca. 5–14 Tage, und eine entsprechend hohe Zellteilungsrate. Ein großer Teil der Zellen befindet sich somit immer in der Zellteilungsphase. Während der Mitose sind die Zellen besonders anfällig für schädigende äußere Reize.
27.3 Pathophysiologie Schleimhäute reagieren auf Reizungen oft mit einer Entzündung. Typische Zeichen einer Entzündung sind die lokale Hyperämie und Ödeme, evtl. auch Erosionen und Ulzerationen. Dies führt zu einer lokalen Verminderung der Abwehr und zu Funktionsstörungen. Die orale Mukositis oder eine Entzündung anderer Schleimhäute läuft in 5 Phasen ab (. Abb. 27.1 und . Übersicht). Dieser Ablauf ist ein sehr komplexer, biologischer Vorgang.
Die 5 Phasen der Mukositis nach S. Sonis (2004) (. Abb. 27.1) 5 Phase I der Entzündung (Initiierung): Zellen werden durch Radio- oder Chemotherapie geschädigt. Die Schleimhaut ist noch intakt. 5 Phase II (Signalübertragung): Die Zellschädigung aktiviert Enzyme und löst die Apoptose geschädigter Zellen aus. Botenstoffe (Zytokine) führen zur Einwanderung von Entzündungszellen (Leukozyten und Makrophagen) in die Schleimhaut und zur Erweiterung der Blutgefäße. 5 Phase III (Amplifikation): Das Schleimhautepithel ist zerstört, die Schädigung greift auch auf die Submukosa über. Die Schleimhaut ist gerötet und beginnt zu schmerzen. 5 Phase IV (Ulzeration): Es kommt zur Ulzeration und Infektion (Bakterien und Pilze). Die eingewanderten Entzündungszellen produzieren Stoffe zur Abwehr von Bakterien, dadurch wird die Schleimhaut weiter geschädigt. Die Ulzerationen sind schmerzhaft. 5 Phase V (Heilung): Die Infektion wurde überwunden. Entzündungsund andere Zellen haben Wachstumsfaktoren produziert. Diese stimulieren die Zellteilung im Epithel. Das Epithel erneuert sich, die Ulzerationen heilen ab.
493 27.4 · Ursachen und Risikofaktoren
. Abb. 27.1. Pathophysiologie: Die 5 Phasen der Mukositis
27.4
Ursachen und Risikofaktoren
Die Identifikation der Ursache oder der Ursachen ist für die Behandlung wichtig. Einige können prophylaktisch oder therapeutisch beeinflusst werden, z. B. der Zahnstatus des Patienten. Eine Mukositis bei Tumorpatienten kann direkt ausgelöst werden durch: 4 einen Tumor (z. B. Kopf-Hals-Tumoren mit direkter Zerstörung der Schleimhaut, aber auch Leukämien und Lymphome mit Schleimhautinfiltration), 4 chemische Schädigungen durch Zytostatika (oder auch durch Nikotin und Alkohol), 4 physikalische Schädigungen, z. B. Radiotherapie, 4 mechanische Schädigungen, wie Zähneputzen mit zu harter Zahnbürste, grobe, kantige Nahrungsmittel usw., 4 thermische Schädigung, z. B. durch zu heiße Nahrungsmittel. Indirekte Auslöser sind: 4 schlechte Immunabwehrlage durch Leukozytenmangel infolge Chemotherapie: gesteigerte Infektanfälligkeit der Schleimhaut durch den ungehinderten Eintritt von Bakterien, Viren und Pilzen, 4 reduzierter Allgemein- und Ernährungszustand, 4 Graft-versus-host-Reaktion nach allogener Knochenmarktransplantation, 4 Xerostomie (= Mundtrockenheit).
Das Ausmaß der Mukositis wird durch weitere, patientenbezogene Faktoren beeinflusst: 4 Qualität der Mundhygiene und Intimhygiene, 4 bestehende chronische Entzündungen, wie Paradontose, Bronchitis, Divertikulitis, Gastritis oder MagenDarm-Ulzera, 4 Alter (jüngere Patienten neigen eher zu Mukositis, möglicherweise wegen der in der Jugend höheren Zellteilungsrate).
27.4.1
Chemotherapie
Zytostatika schädigen hauptsächlich Zellen, die sich in Teilung befinden. Da die Zellteilungsrate der Schleimhaut hoch ist, ist auch die unerwünschte Wirkung auf das Schleimhautepithel ausgesprochen groß. Der Mechanismus der Schädigung wird in . Abb. 27.1 gezeigt. Die folgenden Faktoren beeinflussen das Ausmaß: Art des Zytostatikums. Nicht alle tumorwirksamen Medi-
kamente verursachen eine Mukositis, und die Lokalisation der Schleimhautschädigung kann variieren. Die entsprechenden Medikamente sind in . Tab. 27.1 aufgeführt. Neben konventionellen Zytostatika wirken auch einige Tyrosinkinasehemmer schleimhautschädigend. Monoklonale Antikörper scheinen dagegen das Risiko einer Mukositis nicht zu erhöhen.
27
494
Kapitel 27 · Schleimhautveränderungen
. Tab. 27.1. Schleimhauttoxizität von Zytostatika
27
Zytostatikum
Orale Mukositis
5-Fluorouracil
XXX
Actinomycin D
XX
Amsacrin
XX
Bleomycin
X
Capecitabine
XXX
XXX
Cisplatin
XX
X
Cyclophosphamid
Zystitis
Enteritis
Gastritis
Konjunktivitis
XX
X
X
XX
Cytosin-Arabinosid
X
Dacarbacin
X
Daunorubicin
XX
Docetaxel
X
Doxorubicin
XX(X)
Etoposid
XX
Everolimus
XX
Hydroxyurea
X
Ifosphamid
X
XX
X
XXX
Irinotecan
XXX
Methotrexat
XX(X)
XX
Mitomycin
X
Mitoxantron
X
Podophyllotoxin
XX
X
Raltitrexed
XX
XX
Sunitinib
XX
Temsirolimus
XX
Topotecan
X
Vinblastin
XX
X
X
Lokale Schleimhauttoxizität: X gering, XX mittelstark, XXX sehr stark.
Dosis, Therapieschema und Verabreichungsart. Die Reaktion der Patienten auf dieselbe Dosis eines Medikamentes ist individuell sehr unterschiedlich. Bei bestimmten hoch dosierten Chemotherapien muss jedoch meist mit dem Auftreten einer Mukositis gerechnet werden. Kumulative Therapiezyklen können das Risiko einer Mukositis erhöhen und größere Schleimhautprobleme verursachen. Falls ein Patient während oder nach dem ersten Zyklus einer Therapie eine Mukositis entwickelt hat, ist das
Risiko groß, dass auch bei folgenden Zyklen eine Mukositis auftritt. Kombinierte Radio- und Chemotherapien führen häufiger zu einer Mukositis, je nach Ort der Bestrahlung. Medikamentenmetabolismus. Werden Zytostatika verzögert abgebaut oder ausgeschieden, z. B. bei Leber- bzw. Nierenschädigung, so führt dies neben anderen Komplikationen oft zu schweren Schädigungen der Schleimhaut.
495 27.5 · Schleimhautveränderungen in Mundhöhle, Rachen und Speiseröhre
. Tab. 27.2. Bestrahlungsregion und mögliche akute Schleimhautreaktionen und Spätfolgen
Bestrahlungsregion
Frühreaktion
Spätreaktion
Mund und Rachen
4 Orale Mukositis
4 4 4 4 4
Ösophagus
4 Ösophagitis
4 Stenose
Darm
4 Enteritis 4 Kolitis
4 Darmstenosierung (Ileusgefahr) 4 Malabsorbtionssyndrom
Vagina
4 Vaginitis
4 Atrophie der Schleimhaut (Trockenheit) 4 Stenosierung oder vollständige Obliteration (Verschluss)
Blase
4 Zystitis
4 Schrumpfblase
27.4.2
Radiotherapie
Wie die Chemotherapie schädigt auch die Radiotherapie gesunde Zellen. Um die nötige Therapiedosis an den Tumor zu bringen, muss gesundes Gewebe mitbelastet werden. Die Schleimhaut reagiert darauf mit einer Mukositis. Werden Speicheldrüsen mitbestrahlt, so kann die Schädigung dieser Drüsen zu einer verminderten Speichelproduktion führen, d. h. zu einer Xerostomie (Mundtrockenheit; 7 Kap. 27.5.3). Die Reaktion der Schleimhaut und deren Verlauf hängen von unterschiedlichen Faktoren ab (7 Kap. 8 »Strahlentherapie«): 4 Einzeldosis und zeitliche Abfolge (Fraktionierung), 4 Gesamtdosis, 4 Volumen des therapierten Gewebes, 4 Ort der Bestrahlung, 4 Kombinierte Radiochemotherapie. Bei den Therapiefolgen ist zwischen der vorübergehenden akuten Reaktion und der bleibenden Spätreaktion des Gewebes zu unterscheiden (. Tab. 27.2). Spätreaktionen können auch lange Zeit nach der Bestrahlung auftreten und irreversibel sein.
27.4.3
Kombinierte Tumortherapie
Mundtrockenheit (Xerostomie) Zahnverlust infolge Paradontose Kariesanfälligkeit Osteomyelitis (selten) Atrophie der Nasenschleimhaut (Trockenheit)
niger Verzögerung kumulieren kann (»Recall« oder »Aufflammphänomen«; 7 Kap. 26: »Haut- und Nagelveränderungen«).
27.5
Schleimhautveränderungen in Mundhöhle, Rachen und Speiseröhre
Eine orale Mukositis ist bei Tumorpatienten das häufigste Schleimhautproblem. Eine orale Mukositis beeinflusst die Lebensqualität des Patienten durch Schmerzen, Infektion, Ulzeration, reduzierten Ernährungszustand, Schluckbeschwerden und Geschmacksveränderungen. Sie behindert ferner die Kommunikation und verändert den Gesichtsausdruck. Dosisreduktionen, Therapieverzögerung und Hospitalisationen sind mögliche Konsequenzen.
27.5.1
Orale Mukositis und Ösophagitis
Inzidenz Die Häufigkeit einer oralen Mukositis ist abhängig von der eingesetzten Therapie (. Tab. 27.3). . Tab. 27.3. Inzidenz der oralen Mukositis
Art der Behandlung
Insbesondere Kopf-Hals-Tumoren sowie das Rektumkarzinom werden häufig gleichzeitig chemo- und radiotherapiert. Diese Kombination führt oft zu einer stärkeren lokalen Mukositis. Auch Patienten, die vor einer Radiotherapie bereits chemotherapiert wurden oder umgekehrt, sind besonders gefährdet, eine Mukositis zu entwickeln, da die Toxizität von Chemotherapie und Radiotherapie mit ei-
Anteil Patienten mit Mukositis
Zytostatika 4 Standarddosierung
10–40%
4 Hochdosistherapie
75–100%
Radiotherapie im Kopf-Hals-Bereich
85–100%
27
496
27
Kapitel 27 · Schleimhautveränderungen
Ein besonderes Risiko besteht bei: 4 Chemotherapien mit folgenden Substanzen, besonders bei hohen Einzeldosen und bei Verabreichungen über mehrere Tage: – 5-Fluorouracil (bei Fluorouracil ist in Kombination mit anderen Zytostatika die Inzidenz zusätzlich erhöht), – Capecitabine, – Doxorubicin, – Methotrexat, – Bleomycin, 4 hoch dosierter Chemotherapie mit Ifosphamid oder Cyclophosphamid kombiniert mit Busulfan, (angewandt vor Stammzelltransplantationen), 4 lokaler Radiotherapie im Kopf-Hals-Bereich, kombiniert mit gleichzeitiger oder sequenzieller Chemotherapie.
Symptome Eine orale Mukositis kann überall an der Mund- und Rachenschleimhaut auftreten, sie beginnt nach Chemotherapien üblicherweise zwischen dem 5. und 10. Tag nach Behandlungsbeginn. Bei lokaler Radiotherapie kann die orale Mukositis bereits wenige Tage nach Therapiebeginn auftreten. Wird der Ösophagus in eine Radiotherapie miteinbezogen, so ist als Akutreaktion einige Tage nach Therapiebeginn mit einer Ösophagitis zu rechnen. Häufig wird die orale Mukositis durch eine bakterielle oder pilzbedingte Superinfektion kompliziert; dies führt zu einer Verstärkung der Symptome. In . Tab. 27.4 findet sich eine Liste typischer Mukositissymptome.
Erfassung Um das Auftreten einer oralen Mukositis möglichst frühzeitig zu erkennen, ist es unerlässlich, bei Risikopatienten vor, während und nach der Therapie den Zustand des Mundes mit Spatel (evtl. mit feuchter Gaze umwickelt) und Taschenlampe zu kontrollieren (. Abb. 27.2). Eine konsequente Erfassung und Beurteilung der Mundhöhle bereits vor Therapiebeginn ist wichtig. Damit können vorbestehende Probleme erfasst und entsprechend früh behandelt werden. Dies hilft, die Intensität der oralen Mukositis zu reduzieren. Die Untersuchung kann durch den behandelnden Arzt oder durch geschulte Pflegende erfolgen. Die Befunde werden auf einem standardisierten Dokumentationsblatt eingetragen. Zu untersuchen sind: 4 Ober- und die Unterlippenmukosa, 4 beide Wangen 4 Mundboden, 4 weicher Gaumen, 4 Zahnfleisch,
4 Zähne, 4 Konsistenz des Speichels, 4 Zunge. Weitere Punkte, die zu berücksichtigen sind: 4 Hat der Patient Schmerzen? 4 Trägt der Patient eine Teil- oder Ganzzahnprothese? 4 Hat der Patient innerhalb der letzten 24 h feste oder flüssige Nahrung zu sich genommen? Ambulante Patienten können angeleitet und beraten werden, zu Hause die Mundinspektion selbst vorzunehmen. ! Die korrekte Erfassung und Beurteilung der Mundhöhle vor, während und nach der Therapie gilt heute als wichtiger Teil der Mundpflege.
Ein interessantes Erfassungsinstrument ist der »Oral Assessment Guide« (OAG) des University of Nebraska Medical Center. Er ist einfach zu handhaben und eignet sich gut für den praktischen Gebrauch in Klinik oder Praxis.
Beurteilung Für die Beurteilung einer Mukositis ist es nötig, ihren Schweregrad anzugeben. Dazu stehen verschiedene Instrumente zur Verfügung. Häufig eingesetzt werden die Einteilungen der WHO (World Health Organization) und die CTCAE (Common Terminology Criteria Adverse Events). Sie sind in . Tab. 27.4 und 27.5 dargestellt. Keines dieser Erfassungs- oder Grading-Instrumente ist umfassend. Wichtig ist, dass der Einsatz innerhalb der Klinik standardisiert wird; alle sollten das gleiche Instrument einsetzen. Folgende Punkte müssen dazu berücksichtigt werden: 4 Ist das Instrument dem Patientenkollektiv angepasst (stationär/ambulant, Chemotherapie/Radiotherapie)? 4 Wird das Instrument konsequent von allen Mitgliedern des Behandlungsteam benutzt? 4 Reicht die Zeit für die Erfassung aus, und werden die Abläufe in der Klinik angepasst (bei Patienten, für die eine Kopf-Hals-Bestrahlung vorgesehen ist, ist z. B. eine intensivere Mundinspektion nötig als für Patienten mit einer Behandlung von Fludarabin allein)? 4 Weist das Instrument die notwendigen physischen und funktionellen Elemente auf (z. B. Schlucken, Essen, Reden)? 4 Kann es auch vom Patienten selbst für eine selbstständige Kontrolle einfach benutzt werden? Die Erfassung und Beurteilung erlaubt eine frühe Identifikation von Problemen und unerwünschten Wirkungen. Durch die korrekte Beurteilung kann die Behandlung der Mukositis präzise durchgeführt und kontinuierlich optimiert werden.
497 27.5 · Schleimhautveränderungen in Mundhöhle, Rachen und Speiseröhre
. Abb. 27.2. Beispiel eines Dokumentationsblattes mit Mundschema
. Tab. 27.4. Schweregrade und Symptome der oralen Mukositis/Ösophagitis nach WHO
Schweregrad
Objektive Symptome
Subjektive Symptome
Grad I
Leichte Rötung einzelner Stellen und Schwellungen der Mundschleimhaut bzw. Gingivae
Schmerzempfindlichkeit, Überempfindlichkeit bei heißen und scharfen Speisen und Getränken, Brennen
Grad II
Fleckenförmige Erythem, vereinzelte fibrinöse Beläge, kleine Erosionen, helle Flecken ( Praxistipps Prophylaktische Mundspülungen, z. B. mit Chlorhexidin, haben sich in größeren Studien als unwirksam erwiesen. Auch durch andere nicht fundierte Interventionen kann die Mundschleimhaut geschädigt werden.
Kryotherapie
a
Eine möglicherweise wirksame Prophylaxe ist die »Kryotherapie« bei Bolusgaben von Fluorouracil als Monotherapie und bei Bolusgaben von Fluorouracil-Leucovorin. Sie besteht darin, dass der Patient vor, während und nach der Zytostatikaverabreichung, insgesamt etwa eine halbe Stunde lang Eiswürfel oder Wassereis lutscht. Durch die kältebedingte Minderdurchblutung der Schleimhaut gelangen weniger Zytostatika in die Zellen der Mundschleimhaut. Die Methode ist in kleineren Studien als nützlich beschrieben worden. Untersucht wird der Einsatz von Kryotherapie auch bei der Hochdosistherapie mit Busulfan. b
Medikamentöse Therapie Als neue Prophylaxe bei Stammzelltransplantation und bei der Chemotherapie von Leukämien ist die Verabreichung von Palifermin (Kepivance) zu erwähnen. Palifermin ist ein epithelialer Wachstumsfaktor. Die verbleibenden Schleimhautzellen werden durch ihn zur Zellteilung angeregt. Kepivance wird an 3 aufeinanderfolgenden Tagen vor der Konditionierung und in einer 3-Tage-Folge nach der Therapie i.v. verabreicht.
. Abb. 27.3a, b. Orale Mukositis nach Chemotherapie. (Abb. der Klinik für Onkologie, Universitätsspital Zürich, mit frdl. Genehmigung)
gen werden. Tumortherapien mit kurativer Absicht werden jedoch, auch bei stärksten Nebenwirkungen (. Abb. 27.3), nach Möglichkeit ohne Kompromisse durchgeführt, um die Chance auf Heilung nicht zu mindern (7 Kap. 9: »Medikamentöse Tumortherapie«).
Interventionen bei bestehender Mukositis Schmerztherapie Ziele von Interventionen bei Mukositis 5 5 5 5
Effiziente Schmerzlinderung Rasche Abheilung der oralen Mukositis Vermeidung eines Superinfekts Erhalten eines guten Ernährungszustandes
Je nach Ausmaß der oralen Mukositis muss vom behandelnden Arzt eine Dosisreduktion oder evtl. eine Unterbrechung der Chemo- oder Radiotherapie in Erwägung gezo-
Zur Schmerzlinderung kommen bei kleinen lokalen Läsionen in erster Linie lokal angewendete lidocainhaltige Medikamente in Betracht (. Tab. 27.6). Falls diese Maßnahme nicht reicht, sollen zusätzlich unbedingt genügend systemisch wirksame Schmerzmittel, einschließlich Opioiden, verordnet werden. Vor allem bei Ösophagusbefall reichen örtlich wirksame Medikamente nicht aus, da sie nicht in genügender Konzentration an den Schmerzort gelangen. Bei höherer Dosierung besteht die Gefahr, dass als Folge der anästhesierenden Wirkung der Medikamente der Schluckreflex gestört wird.
27
500
Kapitel 27 · Schleimhautveränderungen
. Tab. 27.6. Schmerzbehandlung – Topische Maßnahmen
Produkt / Präparat Topische Anästhetika (Lidocain-Gel 2%)
Dosis
Anwendungsmethode
Nebenwirkung
Beurteilung
Wird so oft wie nötig mit einem durchtränkten Wattestäbchen über die Läsion oder die entzündete Stelle verteilt
Bei Spülungen des ganzen Mundes können Probleme mit dem Schluckreflex auftreten
Besonders hilfreich vor einer Mahlzeit 4 Wirksamkeit ist zeitlich begrenzt 4 Systemische Aufnahme ist nicht klar definiert 4 Nicht prophylaktisch einsetzen
[Mit frdl. Genehmigung der Onkologiepflege Schweiz, Standard orale Mukositis.]
27 > Praxistipps Ziel ist Schmerzlinderung, wenn möglich Schmerzfreiheit: Lokalanästhetika nach Bedarf und nach Absprache mit dem Arzt auftragen, ca. 10 min vor dem Essen sowie zwischendurch. Evtl. ein systemisch wirkendes Schmerzmittel jeweils 30 min vor dem Essen verabreichen oder regelmäßig nach festem Zeitplan, falls nötig auch Opioide. ! Die lokale Applikation des Schmerzmittels ersetzt die regelmäßige Reinigung/Spülung nicht.
Gels (z. B. Gelclair), die einen Film zum Abdecken der gesamten Mundschleimhaut bilden, und Salben (Mundisal), werden nicht empfohlen, denn kontrollierte Studien mit Krebspatienten fehlen. 4 Die Auswirkungen auf onkologiespezifische Probleme, z. B. Aplasie, Superinfektionen, wurden bisher nicht erforscht. 4 Über Auswirkungen auf die Mundflora liegen keine Daten vor. 4 Der Schutzfilm kleidet die ganze Mundhöhle aus, anstatt nur auf wenige, einzelne Läsionen zu wirken. 4 Der Geschmack wird nicht immer toleriert. 4 Patienten dürfen bis zu 1 h nach Anwendung weder essen noch trinken. Bei einer systemischen Schmerztherapie gelten die gleichen Prinzipien wie in 7 Kap. 18 (»Schmerz«) beschrieben: Bei Schmerzen aufgrund einer oralen Mukositis soll nicht an Schmerzmitteln gespart werden. Bei Patienten, die nicht schlucken können, wird Morphin parenteral (i.v. oder als Pflaster) eingesetzt.
Mundpflege ! Die intensive Mundpflege ist die wichtigste pflegerische Intervention bei einer bestehenden oralen Mukositis (. Pflegerische Interventionen).
Das Wissen und die Fähigkeit, eine solche Mundpflege nach Programm durchzuführen, können im Team mit konsequenter Weiterbildung erworben werden. Diese Kompetenz bringt für den Patienten positive Ergebnisse,
physisch und psychologisch. Man soll sich aber darüber im Klaren sein, dass es sich bei den Kontrollen des Mundzustandes und bei der Mundpflege um zudringliche, möglicherweise auch um schmerzhafte Vorgänge handelt. Der Patient muss daher rechtzeitig darüber informiert werden, was die Pflege beabsichtigt und wie vorgegangen wird.
Pflegerische Interventionen bei Mukositis Information, Beratung und Schulung 4 Information des Patienten, dass die Symptome vorübergehend sind. 4 Dokumentation des Verlaufs und der getroffenen Maßnahmen. 4 Prothesenträgern ist zu empfehlen, die Prothese nur zum Essen und in der Öffentlichkeit zu tragen.
Reinigung 4 Normale Zahnreinigung mit weicher Zahnbürste, Reinigung der Zahnzwischenräume mit Zahnseide oder speziellen Zahnstäbchen (2–4× täglich) 4 Zahnprothesen ebenso regelmäßig entfernen und reinigen, Zahnfleisch dabei auf Läsionen und Druckstellen kontrollieren. 4 Cave: Bei Thrombozytenwerten Praxistipps Auf jeden Fall sollte die Versorgung des Stomas möglichst einfach, aber dennoch sicher sein. Eine kompliziert zu handhabende Versorgung erschwert die Situation des Patienten unnötig.
Folgende Beutelarten sind erhältlich: 4 mit transparenter oder hautfarbener Folie, 4 unten geschlossene Beutel oder unten entleerbare Beutel (»Ausstreifbeutel«), 4 Minibeutel, 4 Urostomabeutel mit integrierter Rücklaufsperre (7 Kap. 33.4.4), 4 Sterile OP-Beutel (7 Kap. 33.4.4), 4 Stomakappe, 4 Maxi-high-output-Beutel mit Stöpsel, 4 Schlauchbeutel für die Irrigation (7 Kap. 33.4.3). ! Bei der Entscheidung für die endgültige Versorgung ist es ratsam, die Wahl des Beuteltyps von der Stuhlkonsistenz und der Häufigkeit der Ausscheidungen abhängig zu machen.
Einsatz und Umgang Die Tragedauer der Versorgung ist immer individuell, die angegebenen Intervalle sind als Richtwerte zu sehen. Die Hautsituation und -transpiration haben einen deutlichen Einfluss auf die Haftfähigkeit der Versorgung. Problematische Stomaanlagen erfordern oft kürzere Tragezeiten und steigern den Materialverbrauch. Durch den Kontakt mit der Ausscheidung zersetzt sich das Adhäsivmaterial unterschiedlich schnell vom Loch zum Rand hin. Deshalb sollte eine Stomaversorgung regelmäßig erneuert werden und nicht abgewartet werden, bis die Haftung versagt. Da man durch die Versorgung nicht hindurchschauen kann, hat man keine Kontrolle über das Geschehen unter dem Hautschutz und riskiert Hautentzündungen. Für runde Stomata werden Hautschutzplatten mit verschiedenen vorgefertigten Lochgrößen angeboten, bei ovalen Stomata muss das Loch für das Stoma im Adhäsivmaterial maßgerecht von Hand mittels gebogener Schere, z. B. einer Nagelschere, zugeschnitten werden.
Ausstattungsmerkmale Stomabeutel haben eine Vliesumhüllung auf der körperzugewandten Seite, je nach Modell auch auf der Vorderseite. Die Beutel für Darmstoma werden mit integriertem Aktivkohlefilter angeboten, damit etwaige Blähungen geruchsneutralisiert entweichen können und sich der Beutel nicht aufbläht. Es sei darauf hingewiesen, dass die Wirksamkeit der Aktivkohlefilter nur ca. 8–24 h anhält.
Sonderversorgungen Für Problemostomien wie Retraktionen (eingesunkenes Stoma) oder Stomalokalisationen in Narben oder Hautfalten stehen konvexe Versorgungen zur Verfügung. Hierbei handelt es sich um konvex ausgeformte Hautschutz- bzw. Basisplatten, die sich besonders gut Vertiefungen und Kratern in der Bauchdecke um das Stoma herum anpassen(. Abb. 33.7; 7 Kap. 33.8).
Hautschutzformen Die Formen sind: 4 plan, konvex, leicht konvex, 4 ausschneidbar, vorgeschitten, 4 mit oder ohne mikroporösem Haftrand. Zur Haftung auf der Haut werden heute bei beiden Systemen die Beutel mit Hautschutzplatten auf der Basis von Pektin, Carboxymethylzellulose und Gelatine versehen. Das sog. Adhäsivmaterial hat die Fähigkeit, auf der Haut zu haften und Feuchtigkeit, z. B. Schweiß, aufzusaugen, ohne
. Abb. 33.7. Konvexer Hautschutz. (Abb. von Fa. Hollister Incorporated, mit frdl. Genehmigung)
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594
33.4.3
Kapitel 33 · Stomapflege
Irrigation
Definition Irrigation Bei der Irrigation handelt es sich um eine Technik
! Zur Irrigation über ein Stoma darf kein Darmrohr verwendet werden, da die Perforationsgefahr sehr hoch ist. Hierfür gibt es eigens den atraumatischen Stomakonus (. Abb. 33.10).
zur Einleitung einer zeitlich kontrollierten und geplanten Stuhlentleerung, nicht um ein Sauberspülen des Darms.
33.4.4 Die Methode der Irrigation ermöglicht den Kolostomieträgern eine ausscheidungsfreie und somit quasi kontinente Phase von 1–2 Tagen, in denen sie mit einem Minibeutel oder einer Stomakappe auskommen können. Diese Abdeckungen sind auch für Sport, Schwimmen, Sauna oder Intimleben gut geeignet. (. Abb. 33.8).
Postoperative Versorgung und Beobachtung
Alle Ostomiearten werden am Ende des Eingriffs noch im Operationssaal mit einem transparenten, entleerbaren Beu-
! Eine erfolgversprechende Irrigation ist nur bei Patienten durchzuführen, deren Stoma im Bereich des Colon descendens oder des Sigmas liegt.
33
Wichtige Voraussetzungen sind die Bereitschaft des Patienten, die Irrigation selbst durchzuführen, außerdem das Fehlen medizinischer Kontraindikationen wie z. B. Stenose, Syphonbildung oder Strahlenkolitis. Die Durchführung der Irrigation dauert zu Beginn ca. 45 min, verringert sich aber im späteren Verlauf (. Abb. 33.9, 33.10). Sie wird anfangs täglich vorgenommen und reduziert sich bei einigen Patienten nach einer Gewöhnungszeit auf jeden 2. Tag. Mit der Irrigation kann wenige Wochen nach der Operation begonnen werden, sobald sich der Patient vom Eingriff erholt hat und bereit ist, die Technik selbst anzuwenden. Der Patient sollte nach Absprache mit dem Arzt mindestens 1–2× unter fachkundiger Anleitung einer speziell geschulten Stomatherapeutin irrigieren, damit er zu Hause selbstständig und sicher damit umgehen kann.
. Abb. 33.8. Stomakappe für Kolostoma. (Abb. von Fa. Hollister Incorporated, mit frdl. Genehmigung)
. Abb. 33.9. Stomairrigation. (Abb. von Fa. Hollister Incorporated, mit frdl. Genehmigung)
. Abb. 33.10. Stomakonus und Schlauchbeutel. (Abb. von Fa. Hollister Incorporated, mit frdl. Genehmigung)
595 33.4 · Stomatherapie
tel mit steriler Hautschutzplatte versorgt. Der Beutel wird vorerst mit dem Ende zur Flanke angebracht, wodurch die Entleerung des Beutels für das Pflegepersonal erleichtert werden soll. Die Hautschutzplatte sollte das Stoma (besonders bei Ileostoma) exakt abdichten. Die Öffnung darf aber auch nicht zu eng sein, da sonst das Stoma abgeschnürt wird und sich in der Folge ein übermäßiges Stomaödem entwickeln kann. Auch Schnittverletzungen der Schleimhaut sind durch eine zu enge Lochgröße möglich. ! Es sollten postoperativ (1.–7. Tag) alle Stomata mit transparenten Beuteln versorgt werden, damit die Schleimhaut und die Ausscheidungen rund um die Uhr ohne Manipulation am Versorgungssystem beurteilt werden können. Das Einheilen des Stomas und die peristomale Haut werden beim Wechseln des Hautschutzes beurteilt.
Beobachtung Postoperativ ist vorrangig zu achten auf Auffälligkeiten wie: 4 Blutung, Teerstuhl, 4 Schleimhautödem, 4 Schleimhautischämie, 4 Schleimhautnekrose, 4 Störung der Einheilung, 4 Stomaausriss (postoperative Retraktion), 4 Hautveränderungen um das Stoma herum (= »peristomal«), 4 Störungen der Ausscheidung (»high output«, Ileus).
. Abb. 33.11. Geschlossener Beutel. (Abb. von Fa. Hollister Incorporated, mit frdl. Genehmigung)
! Bei allen Stomata muss bis zu 6 Wochen postoperativ die Größe des Stomas wiederholt vermessen und die Hautschutzöffnung entsprechend angepasst werden.
Kolostomie Nach ca. 10 Tagen können bei regulärer Verdauung geschlossene, hautfarbene Beutel mit Aktivkohlefilter verwendet werden (. Abb. 33.11). Da ein großer Teil des Dickdarms zur Wasserrückresorption noch zur Verfügung steht, wird sich der Stuhl mit der Zeit verfestigen und sich meist die Zahl der Entleerungen auf 1–3 pro Tag normalisieren.
Transversostomie Diese Kolostomieart liegt aufgrund der anatomischen Gegebenheiten meist im Oberbauch und fördert 2–5× pro Tag weichen Stuhlgang. Die Versorgung ist abhängig von der Ausscheidung mit geschlossenen als auch mit Ausstreifbeuteln (. Abb. 33.12) möglich.
Ileostomie Die Ausscheidung aus dem Ileostoma ist dünnflüssig und durch den hohen Gehalt an Gallensäure aggressiv zur
. Abb. 33.12. Ausstreifbeutel. (Abb. von Fa. Hollister Incorporated, mit frdl. Genehmigung)
Bauchhaut. Bei stundenlangem Kontakt mit der Haut (z. B. unbeseitigte Unterwanderung der Hautschutzplatte durch Ausscheidung) kann sie diese in kurzer Zeit andauen und Mazerationen verursachen. Entscheidend sind deshalb die bestmögliche operative Anlage der Ileostomie und die wiederholte, sorgfältige Anpassung der Lochgröße in der Sto-
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596
Kapitel 33 · Stomapflege
durch sternförmiges Einschneiden der Hautschutzplatte diese unter den Steg geklebt werden, sodass auch der Hautbezirk unter dem Steg vor Ausscheidungen geschützt ist. Ist der Steg fixiert oder steht er unter Spannung, wird die Versorgung darauf geklebt und ein spezieller Vermerk vorgenommen. > Praxistipps Es empfiehlt sich, mit der praktischen Unterweisung des Patienten in der Selbstversorgung erst nach der Entfernung des Steges zu beginnen, da ein liegender Steg eine Erschwernis in der Versorgung darstellt.
Urostomie
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. Abb. 33.13. High-output-Beutel. (Abb. von Fa. Hollister Incorporated, mit frdl. Genehmigung)
Urostomata erfordern Geschick und Übung beim Versorgen. Die Schwierigkeiten entstehen beim Anbringen der Beutel bzw. der Basisplatte durch den ständigen Urinfluss. Oft ist zudem die Stomaöffnung klein und hauteben angelegt (Ureter-Haut-Fisteln), sodass man konvexe Versorgungen benötigt. Bei einem Ileum- oder Kolon-Conduit (Brigger-Blase) hat man zwar ein größeres Stoma, jedoch genauso Schwierigkeiten mit dem ständig nachlaufenden Urin während der Pflegeinterventionen. Postoperativ ragen operativ eingelegte Splints oder Schienen, die zur vorübergehenden Stabilisierung der Harnleiter dienen, aus dem Stoma heraus. Sie werden nach ca. 12–14 Tagen vom Urologen gezogen. > Praxistipps
maplatte. Das Ileostoma wird aufgrund seiner Ausscheidung immer mit Ausstreifbeuteln, bei sehr viel flüssiger Sekretion mit großvolumigen High-output-Beuteln versorgt (. Abb. 33.13).
Auch bei der Urostomie empfiehlt sich eine durchdachte Planung der Pflegeinterventionen, also am besten morgens, bevor der Patient getrunken hat, um die Menge der Stomaausscheidung während der Stomapflege und somit den Zeit- und Materialaufwand zu minimieren.
> Praxistipps Es empfiehlt sich, die Pflege einer Ileostomie vor Einnahme der Mahlzeiten vorzunehmen, da dann eine geringere Ausscheidungsintensität als nach dem Essen zu erwarten ist und das Stoma sorgfältiger gepflegt und neu versorgt werden kann.
Doppelläufige Stomaanlage Eine doppelläufige Stomaanlage hat 2 Darmöffnungen, d. h. die des zuführenden und die des abführenden Schenkels (. Abb. 33.4). Sie wird in der Regel postoperativ für ein paar Tage mit einem Steg vor der Bauchdecke gehalten. Dieser Steg schützt den Darm vor dem Zurücksinken unter das Hautniveau. Der Steg wird innerhalb der ersten 2 postoperativen Wochen auf Anordnung des Chirurgen entfernt. Es ist wichtig, dass auch bei einem doppelläufigen Stoma das Loch der Hautschutzplatte dem Durchmesser des Stomas angepasst wird und nicht der Breite des Stegs. Sitzt der Steg locker und ist nicht mit Fäden fixiert, kann
Klassische Urostomien benötigen Beutel, die am unteren Ende Ablaufhähne haben (»Urostomabeutel«; . Abb. 33.14). Während der Nacht kann man diesen mittels Adapter (. Abb. 33.15) an einen Bettbeutel anschließen, was den Vorteil hat, dass keine nächtliche Entleerung des Stomabeutels notwendig wird. Auch gibt es sog. Beinbeutel, die tagsüber unter der Kleidung zur zusätzlichen Entlastung des Stomabeutels getragen werden können. Kontinente Urostomien benötigen keine haftende Beutelversorgung. Sie werden in regelmäßigen Abständen einmalkatheterisiert. ! Bei allen Urostomabeuteln ist eine eingeschweißte Rücklaufsperre obligat. Sie verhindert am liegenden Patienten das Zurückfließen des Urins in und an das Stoma und die damit verbundene Ausbildung von Urinkristallen, Hyperkeratosen und Infektionen.
597 33.4 · Stomatherapie
33.4.5
Versorgungswechsel und allgemeine Pflegeinterventionen
Die Pflege der peristomalen Haut ist besonders wichtig, da diese einer ständigen Belastung durch Klebstoffe ausgesetzt ist. Um eine Benetzung der peristomalen Umgebung mit Ausscheidungen und die nachfolgende Irritation und Entzündung zu vermeiden, ist es wichtig, dass der Hautschutz das Stoma exakt umschließt und sich keine Hohlräume zwischen der Bauchhaut und dem Hautschutz bilden. An dieser Stelle sei nochmals darauf hingewiesen, dass das Stoma in den ersten postoperativen Wochen um ca. 1/3 seiner Größe schrumpfen kann. Oft wird versäumt, den Patienten bei der Entlassung aus der Klinik auf diese Tatsache hinzuweisen. Allen Beutelpackungen liegen Messhilfen bei, sodass der Betroffene auch selbst des Öfteren die Größe kontrollieren kann (. Abb. 33.16). Sollten Narben, Falten oder Retraktionen die Unterwanderung der Hautschutzplatte mit Stuhl ermöglichen, muss man diese Vertiefungen mit Hilfe von Hautschutzpaste, Hautschutzringen oder anderem Modelliermaterial ausgleichen und darauf die Versorgung (z. B. konvexer Hautschutz, . Abb. 33.7, zusätzlich mit speziellem Stomagürtel) anbringen (. Pflegerische Interventionen). . Abb. 33.14. Urostomabeutel. (Abb. von Fa. Hollister Incorporated, mit frdl. Genehmigung)
. Abb. 33.16. Messhilfe zur Bestimmung des Stomadurchmessers. (Abb. von Fa. Hollister Incorporated, mit frdl. Genehmigung) . Abb. 33.15. Adapter. (Abb. von Fa. Hollister Incorporated, mit frdl. Genehmigung)
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598
Kapitel 33 · Stomapflege
Pflegerische Interventionen bei der Stomapflege Vorbereitung 4 Planung der Stomapflege in Abhängigkeit von den Mahlzeiten (7 Kap. 22 »Ernährung«). 4 Information des Patienten über die Pflegeinterventionen. 4 Wahrung der Intimsphäre des Patienten.
Durchführung
33
4 Die alte Stomaversorgung wird abgelöst, indem man mit der einen Hand die Hautschutzplatte abzieht und mit der anderen Hand vorsichtig die Haut von der Platte löst. Die Verwendung von besonderen Lösungsmitteln (Pflasterentferner) ist dabei möglich, jedoch in der Regel nicht erforderlich. 4 Die das Stoma umgebende Haut wird sorgfältig mit weichen Vlieskompressen, Wasser und evtl. mit einer neutralen Seife gesäubert. Spezielle Stomareinigungsmittel sind zwar erhältlich, normalerweise aber nicht erforderlich. 4 Auf keinen Fall sollten an der peristomalen Haut Äther, Alkohol oder Benzin verwendet werden, da sie den normalen Fett- und Säuregehalt der Haut zerstören und sie brüchig machen! 4 Auch ölhaltige Mittel sind in der Stomapflege zu meiden, da sie die Haftfähigkeit der Hautschutzplatte beeinträchtigen. 4 Zur Entfernung von evtl. auf der Haut verbliebenen Pflasterrückständen werden spezielle hautschonende Pflasterentferner angeboten. 4 Nach der Anwendung wird der Pflasterentferner von der Haut mit einer angefeuchteten Vlieskompresse abgewaschen.
33.5
Information und Anleitung der Patienten und/oder ihrer Angehörigen
Sobald wie möglich wird der Patient in die Stomapflege und -versorgung mit einbezogen. Das ist besonders bei älteren Personen wichtig, da sie erfahrungsgemäß etwas längere Zeit benötigen, um sich an die neue Situation zu gewöhnen und die Handhabung der Beutel zu erlernen. Die praktische Anleitung gehört zur Aufgabe der Pflegenden und der Stomatherapeuten. Beim Anlernen sind folgende Zielsetzungen zu berücksichtigen: 4 Kann der Patient bereits aufstehen, wird er angehalten, die Stomapflege baldmöglichst selbst zu übernehmen.
4 Anschließend wird die Haut mit einer weichen Vlieskompresse getrocknet. 4 Bei peristomaler Behaarung muss der Klebebereich regelmäßig rasiert werden (Einmalrasierer oder Elektrorasierer verwenden zur Prophylaxe der Follikulitis). Von der Benutzung von Enthaarungscremes in diesem Bereich wird abgeraten. 4 Nach der Reinigung können spezielle Hautschutzmittel aufgebracht werden, die entweder eine gerbende und damit abhärtende Funktion haben oder einen Schutzfilm auf der Haut bilden. Trockene und empfindliche Haut kann durch spezielle fettfreie Hautschutzcremes, die die Haftung der Versorgung kaum beeinträchtigen, gepflegt werden. 4 Dann wird das Stoma vermessen und die neue Versorgung entsprechend vorbereitet. 4 Die neue Versorgung wird auf der sauberen Haut angebracht und braucht nun Körperwärme, um seine Haftkraft entfalten zu können. 4 Der Patient sollte ein paar Minuten große Rumpfbewegungen vermeiden, damit die Haftung optimal verläuft.
Nachbereitung 4 Belüftung des Raums, Abfallentsorgung außerhalb des Raums. 4 Dokumentation der Beobachtungen, der verwendeten Materialien und des Status der Anleitung.
Anfangs können die Pflegenden noch helfend eingreifen, später jedoch sollte er alle Handgriffe allein ausführen, damit er bei der Entlassung bereits die Grundkenntnisse der praktischen Handhabung beherrscht. 4 Ist der Betroffene nicht in der Lage, seine Stomaversorgung selbstständig zu übernehmen, müssen die nächsten Angehörigen in die Pflege mit einbezogen werden. Auch sie sollten bis zur Entlassung die nötigen Handgriffe erlernt haben, um unterstützend tätig werden zu können. Anderenfalls ist der Patient auf häusliche Pflege angewiesen. Information und Beratung
Das Informationsgespräch mit dem Patienten und evtl. Angehörigen beinhaltet das Zusammenfassen aller not-
599 33.8 · Komplikationen
wendigen Informationen, das Beseitigen von Unklarheiten und die Beantwortung von Fragen sowie 4 Ausgabe von Stomaratgeberheften (z. B. »Colostomie – Ileostomie« der deutschen ILCO e. V.). 4 Termin bei einer Stomatherapeutin zur fachkundigen Beratung und Information. 4 Zu den Informationen für den Patienten gehört auch die Aufstellung einer Liste der benötigten Materialien mit Bestellnummern, Beutelgröße und Firmennamen. Das erleichtert dem Hausarzt das Erstellen des Rezepts und dem Fachhandel das Besorgen der entsprechenden Ware. Diese Aufstellung, die Angaben zum Stoma und die Adresse der nächstgelegenen Stomafachkraft am Heimatort des Patienten sollten in einem Stomapass aufgeschrieben werden, den der Patient bei der Entlassung mitbekommt. Solche Pässe sind bei den Herstellerfirmen und den ILCO-Selbsthilfegruppen erhältlich.
33.6
Ernährung
Speiseunverträglichkeiten sind individuell unterschiedlich. Einige Gemüsearten wie Kohl, Zwiebeln, Hülsenfrüchte usw. können Blähungen verursachen. ! Für Stomaträger, die nicht an einer anderen diätpflichtigen Erkrankung (z. B. Diabetes mellitus) leiden, gibt es keine diätetischen Einschränkungen.
! Eine Stomablockade ist eine ernstzunehmende Situation, die bis zur Notoperation führen kann. Diese Gefahr kann durch sorgfältiges Kauen und faserarme Kost vermindert werden.
4 Urostomieträger sollten ebenfalls viel trinken, um die Urinkonzentration niedrig zu halten.
33.7
Medikamente
Ileostomiepatienten, die orale Medikamente einnehmen, müssen mit dem Arzt besprechen, ob die verordneten Medikamente bis zum Ileostoma resorbiert werden können, da der Dickdarm als Resorptionsorgan wegfällt (z. B. Herzmedikamente, Schmerzmittel, Antibabypille). ! 4 Über ein Stoma werden grundsätzlich keine Medikamente oder Zäpfchen verabreicht. 4 Bei Verstopfung können orale Abführmittel gegeben werden. Beim Kolostoma kann alternativ mittels Einmalkatheter oder Stomakonus ein Klistier in das Stoma appliziert werden. Beides muss vom behandelnden Arzt angeordnet werden. 4 Gegen Durchfälle werden übliche orale Medikamente gegeben.
33.8
Komplikationen
33.8.1
Stomakomplikationen
Information und Beratung
4 Ausgabe von Ernährungsratgeberheften für Stomaträger (z. B. »Stomaträger und Ernährung« der ILCO e. V.) 4 Es ist ratsam, ein Ernährungsprotokoll zu erstellen, in dem alles, was der Patient zu sich nimmt, und seine Verdauungsreaktion darauf vermerkt werden. Dies ist bei der Ermittlung von Unverträglichkeiten und Verdauungsstörungen infolge von Ernährungsfehlern sehr hilfreich. So kann der Patient selbst sehr schnell feststellen, welche Speisen er gut verträgt und welche er besser meiden sollte. 4 Angebot einer individuellen Ernährungsberatung durch Diätassistenten. 4 Ileostomieträger müssen unbedingt angehalten werden, mindestens 2 l Flüssigkeit pro Tag zu trinken, da der tägliche Flüssigkeitsverlust über die Ileostomie erheblich ist. Empfehlenswert sind isotonische (Sport-) getränke, die u. a. Elektrolyte enthalten. 4 Ileostomieträger sollten zudem schlecht verdauliche und faserhaltige Speisen wie z. B. Spargel, Pilze, Nüsse, Orangen und Obstsschalen sowie Vollkornprodukte (Müsli, Körnerbrot) meiden, da das Ileostoma durch Faserklumpen verstopfen kann (sog. »Stomablockade«).
Die Therapie von Stomakomplikationen obliegt dem Chirurgen. Pflegerische Interventionen wirken prophylaktisch oder zur Vermeidung von Folgeschäden. In . Tab. 33.2 sind die 4 häufigsten Stomakomplikationen dargestellt.
33.8.2
Hautprobleme
Die häufigsten Hautprobleme sind auf zu lange Tragezeiten sowie unzulängliche Versorgung und Pflege zurückzuführen. Um ihre Ursachen ausfindig zu machen, ist es unbedingt erforderlich, sich den Lokalbefund und die Unterseite der abgelösten Hautschutzplatte genau anzusehen. Außerdem sollte man gezielt nach den Pflegegewohnheiten fragen. Leichte Rötungen ohne deutlich erkennbare entzündliche Veränderungen sind meist eine Reaktion auf ein zu vehementes Abziehen der Versorgung.
Irritation Hautirritationen haben ihre Ursache in dauernder Benetzung der Haut mit den Ausscheidungen. Dadurch wird die
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600
Kapitel 33 · Stomapflege
. Tab. 33.2. Die 4 häufigsten Stomakomplikationen
Komplikation
Probleme
Interventionen
Hernie
4 Husten, Meteorismus und körperliche Anstrengung können einen Bruch der Bauchwand in der Nähe des Stomas bewirken (peristomale oder parastomale Hernie)
Prophylaxe
4 Das Heben schwerer Lasten sollte unbedingt unterlassen werden (maximal 10 kg)
Therapie
4 Konservativ: Bruchband 4 Operativ: Hernienkorrektur oder Neuanlage
Prolaps
4 Durch Husten, Meteorismus, intraabdominellen Druckanstieg und körperliche Anstrengung kann es zur Ausbildung eines Stomavorfalls kommen 4 Das Hinein- und Hinausgleiten des Darms kann weiterhin infolgedessen zur Bildung von Schleimhautulzera, Pseudopolypen und Blutungen führen
Therapie
4 Konservativ: manuelle Reposition 4 Operativ: Stomakorrektur oder Neuanlage 4 Bei eingeklemmten Prolaps besteht absolute Operationsindikation (Gefahr der Darmnekrose)
Stenose
4 Engstelle der Bauchwand oder der Faszie führt zu Stuhlverhalten, Ileusgefahr
Pflegerische Prophylaxe
4 Sorgfältiges Anpassen der Stomaversorgung, um Stenosierungsprozesse durch chronische Hautmazerationen mit Überschusswachstum zu vermeiden
Therapie
4 Operative Korrektur oder Neuimplantation
Pflegerische Intervention
4 Sorgfältiges Anpassen der Stomaversorgung, um Hautprobleme zu vermeiden
Therapie
4 Operative Neuanlage
Retraktion
33
4 Bei dicker Bauchdecke, starker Gewichtszunahme, Narben oder Verwachsungen kann es zur Retraktion kommen, was die Versorgung erschwert 4 Sekundär können Hautprobleme um das Stoma durch Dichtigkeitsprobleme der Versorgung entstehen 4 Chronische Hautprobleme können zu Stenosen führen
obere Epidermisschicht angegriffen. Zu Beginn ist diese Veränderung durch Rötung und einen feuchten Glanz sichtbar. Im fortgeschrittenen Stadium reicht die Schädigung bis in die tieferen Hautschichten, führt also zur Mazeration. Es kommt zu schmerzhaften, nässenden und blutenden Hautläsionen, die durch ihre narbige Ausheilung als Spätkomplikation eine Stenose zur Folge haben können. Diese Läsionen sind nicht scharf begrenzt. Ursachen sind: 4 zu große Hautschutzausschnitte, 4 häufig undichte Versorgung, 4 zu langes Tragen der Versorgung, 4 schlechte bis mangelhafte Pflege und Hygiene. Ist erst einmal eine Entzündung eingetreten, so ist es schwierig, auf der nässenden, wunden Haut einen Beutel zu befestigen. Hier haben sich die Hautschutzplatten aus Adhäsivmaterial gut bewährt, da sie Feuchtigkeit aufnehmen und sich gut anschmiegen. Durch ihren Gehalt an Pektin und Gelatine beschleunigen diese Platten die Abheilung der geschädigten Haut.
4 Die Läsion kann mit Adhäsivpuder bestäubt werden, darauf kann direkt die Hautschutzplatte oder ein hydrokolloider Hautschutzring aufgeklebt werden. 4 Auch der kurzfristige Einsatz von zusätzlichen hydrokolloiden Wundverbänden oder Alginaten, die zwischen die Wunde und die Hautschutzplatte geklebt werden, hat sich bewährt. 4 Bei Hautentzündungen haben Ursachenforschung und entsprechende Problembehebung Priorität. Ist die Haut vom Kontakt mit der Ausscheidung geschützt, erholt sie sich oft recht schnell wieder. ! Ist eine Versorgung undicht, so muss sie baldmöglichst gewechselt werden. Ein Versuch, sie mit Pflasterstreifen erneut zu befestigen, sollte unbedingt unterlassen werden. Wird eine Versorgung zu lange getragen, zersetzt sich der Hautschutz, und die Ausscheidungen benetzen für längere Zeit die Haut. Dies kann auch durch mangelhafte Pflege und Hygiene verursacht sein.
601 33.8 · Komplikationen
Allergie/Kontaktekzem
> Praxistipps
Ein Kontaktekzem kann entstehen als allergische Reaktion auf 4 Klebeflächen, 4 Plastikmaterial des Beutels, 4 Dichtungsmaterial (z. B. Paste) 4 Hautpflegemittel, Reinigungsmittel, Pflasterlöser.
In den meisten Fällen benötigen Ostomieträger keine speziellen Lotionen zum Entfernen, Reinigen etc., sondern kommen mit Wasser und einer neutralen Seife aus.
Im Gegensatz zur Irritation ist die allergische entzündliche Rötung scharf begrenzt und oft ein Spiegelbild des auf die Haut aufgebrachten Allergens, z. B. der Klebefläche oder Beutel (. Abb. 33.17). Bei der Plattenallergie muss die Haut mit Hilfe von Hautschutzlösungen oder zusätzlichen hypoallergenen Hautschutzplatten vor dem direkten Kontakt geschützt werden. Bei einer allergischen Reaktion auf das Adhäsivmaterial kann manchmal durch Wechsel der Produkte eine Besserung erzielt werden, denn die Angebote der Industrie unterscheiden sich u. a. in der Zusammensetzung des Adhäsivmaterials und im Einsatz verschiedener Klebstoffe. Patienten mit einer bekannten Allergie auf den Konservierungsstoff Perubalsam, der z. B. bei Kosmetika, aber eben auch bei der Herstellung von Stomaplatten verwendet wird, sollten sich speziell nach dem Anteil dieses Stoffes im Adhäsivmaterial erkundigen. Auch das Plastikmaterial des Beutels kann bei Hautkontakt ein Ekzem auslösen. Ein häufiger Verursacher von Allergien sind auch die mikroporösen Klebeflächen, die an manchen Platten das Hautschutzmaterial umrahmen. Hier empfiehlt es sich, auf Platten mit durchgehendem Hautschutz zu wechseln. Um herauszufinden, ob eine Überreaktion auf Reinigungs- bzw. Pflegemittel oder Seifen besteht, genügt oft das Weglassen der speziellen Mittel und der Wechsel zu einer neutralen, parfümfreien Seife.
Follikulitis Die Follikulitis ist eine Entzündung der Haarbälge, die sich durch kleine rote, später eitergefüllte Pickel zeigt. Sie entsteht durch das Ausreißen der Haare beim Abziehen der Klebeflächen. 4 Die Haare im parastomalen Bereich sollten zur Vermeidung dieser Komplikation bei jedem Beutelwechsel entfernt werden (7 Kap. 33.4.5) 4 Bei stark entzündeter Haut ist nach der Rasur eine Hautschutzplatte mit durchgehendem Adhäsivmaterial zu empfehlen. Mikroporöse Klebflächen sollten nicht verwendet werden.
Pilzinfektion (Candida) Pilzinfektionen treten im Stomabereich gehäuft auf, da hier die wichtigsten Voraussetzungen zum Gedeihen von Candida – feuchte Wärme und Luftabschluss – vorliegen. Bestimmte Bedingungen, wie verminderte Immunabwehr bei Patienten mit Chemotherapie und Steroidtherapie oder Diabetes mellitus, können den Pilzbefall noch begünstigen. Die Candidainfektion erkennt man an den oft verstreuten roten Papeln oder Pusteln, die gelegentlich einen weißen schuppigen Belag aufweisen. Besteht der Verdacht einer Candidainfektion, sollte ein Arzt hinzugezogen werden. Ein Abstrich mit anschließender Kultur sichert die Diagnose. Zur lokalen Behandlung kommen hier antimykotische Lotionen auf wasserlöslicher Basis, Sprays, Puder oder Gels in Frage, die täglich aufgetragen werden müssen. Salben oder Cremes sollten nicht verwendet werden, da sie die Haftung der Stomaversorgung verhindern. In einigen Fällen muss der gesamte Magen-Darm-Trakt mitbehandelt werden. Auch hier sollte wieder eine Stomaversorgung ohne mikroporöse Klebfläche gewählt werden, wenigstens solange, bis die Infektion abgeheilt ist.
Peristomales Druckulkus
. Abb. 33.17. Allergische Reaktion auf die Haftfläche
Durch unkorrekten Einsatz von konvexen Versorgungen, deren Beliebtheit in den letzten Jahren stark zugenommen hat, kann es durch zu starken Druck auf den peristomalen Bereich zu Druckulzerationen kommen. Wird die Versorgung eines Stomas, das chirurgisch korrekt (über Hautniveau) angelegt wurde, mit flachen Versorgungen häufig undicht, sollte man erst nach der Ursache forschen (z. B. falsche Technik beim Säubern oder Aufkleben), bevor vorschnell zu konvexen Versorgungen gegriffen wird. Auch
33
602
Kapitel 33 · Stomapflege
Gürtel oder Bruchbandagen können Verursacher von Druckulzera sein. Das Druckulkus heilt nach Behebung der Ursache je nach Ausprägung mit einem hydrokolloiden Wundverband zwischen dem Ulkus und der Stomaversorgung wieder ab.
Neoplasien Bei jeder Routinenachsorge der Patienten darf auch die Inspektion und Palpation des Stomas nicht vernachlässigt werden. Bei suspekten Befunden wie Polypenbildung oder Neubildungen von Körpergeweben müssen die Patienten einer zeitnahen ärztlichen Behandlung zugeführt werden. Hat eine Krebserkrankung primär zur Stomaversorgung geführt, besteht die Möglichkeit eines Rezidivs oder einer Metastase am Stoma.
33
33.9
Spezielle Probleme bei Urostomien
33.9.1
Hyperkeratose
Durch ständige Feuchtigkeit der parastomalen Umgebung aufgrund von Urinkontakt kommt es zum Aufquellen der Haut (»Waschfrauenhändehaut«). Reaktiv verdickt sich die Hornschicht und führt zu einer Hyperkeratose, die das Stoma bis zur Stenose einengen kann. Die Ursachen liegen in einem zu groß gewählten Beutelausschnitt oder im Fehlen einer speziellen Urostomieversorgung mit Rücklaufsperre. Die Behandlung besteht in der Anpassung der exakten Versorgung und in Spülungen mit einer Essig-Wasser-Lösung im Verhältnis 1 : 1. Dazu wird eine mit der EssigWasser-Lösung getränkte Kompresse für ca. 10 min auf das Stoma gedrückt. Diese Behandlung sollte täglich mindestens einmal vorgenommen werden, bis sich die Verdickung der Hornschicht zurückgebildet hat.
33.9.2
Kristallbildung
Kristalle bilden sich bei zu hoher Harnsalzkonzentration. Sie lassen sich auch durch Reiben nicht entfernen und sitzen wie ein fester Ring um das Stoma. Ihre Behandlung erfolgt analog der Hyperkeratose, zusätzlich durch Neutralisieren des Urin-pH-Wertes durch genügend Flüssigkeitszufuhr und/oder ergänzende Medikamente nach ärztlicher Verordnung.
33.10
Psychosoziale Probleme bei Stomapatienten
Durch die Anlage eines Stomas wird der Patient mit einer veränderten Körpersituation und Körperwahrnehmung konfrontiert. Dass sich die Ausscheidungen jetzt aus der Bauchwand unkontrolliert entleeren, stellt für viele Patienten ein großes psychisches Problem dar. Was jahrelang zum Intimbereich gehörte und ausschließlich allein hinter verschlossener Tür passierte, findet jetzt mehr oder weniger öffentlich statt. Pflegende sollten versuchen, soweit wie möglich auf die Intimsphäre Rücksicht zu nehmen und die nicht bettlägerigen Patienten in einem separaten Raum versorgen. Die psychosoziale Anpassung an ein Stoma braucht Zeit. Bei diesem Prozess, insbesondere zu Beginn, spielen die Pflegenden eine wichtige Rolle. Der Patient wird sie genau wahrnehmen und beobachten, wird auf ihre Bereitschaft schauen, das Stoma zu berühren, den Beutel zu leeren oder zu wechseln. ! Patienten und Angehörige richten sich in ihren Reaktionen und Beurteilungen oftmals nach dem Verhalten des Pflegepersonals.
Zu der veränderten körperlichen Situation kommt die Angst, die Erkrankung könnte nicht ganz beseitigt sein oder wieder auftreten. Bei der Bewältigung können außer den Bezugspersonen, Angehörige, Psychoonkologen, Stomatherapeuten und behandelnde Ärzte oder auch andere rehabilitierte Betroffene (ILCO; Adresse 7 unten) behilflich sein (7 Kap. 29 »Veränderungen des Körperbildes«).
33.10.1 Störung des Sexuallebens Infolge der veränderten Körpersituation kann es, unabhängig vom Alter des Patienten, zu einer Beeinträchtigung des Sexuallebens kommen. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus und der Erholungszeit realisieren die Patienten, dass sie wieder ein normales, aktives Leben führen können. In dieser Phase können folgende sexuelle Probleme stark zum Ausdruck kommen: 4 Die Patienten fühlen sich nicht mehr attraktiv und begehrenswert. 4 Sie und ihre Partner fürchten sich davor, das Stoma während des Geschlechtsverkehrs zu verletzen. 4 Sie fürchten ein Verrutschen des Beutels oder ein Auftreten von Winden und unangenehmer Geruchsbildung. Diese Ängste des Stomaträgers können psychologisch beratend und unterstützend mit ausführlichen Gesprächen sowie stomatherapeutisch durch ausgiebige Informationen
603 33.10 · Psychosoziale Probleme bei Stomapatienten
über diskrete Versorgungsmöglichkeiten angegangen werden. Ergänzend gibt es auch zu diesem Thema Ratgeberhefte für Stomaträger, z. B. »Stoma und Sexualität« der Firma Dansac (www.dansac.de). Wesentlich anders ist die Situation teilweise nach radikalen Operationen, wie z. B. bei abdominoperinealen Rektumexstirpation bei Männern. Die mögliche definitive Zerstörung der vegetativen Innervation der Geschlechtsorgane kann zu irreversiblen sexuellen Störungen führen. Diese sind therapeutisch schwer zu beeinflussen und sollten Spezialisten wie Urologen und/oder Andrologen zugeführt werden. Patienten reden gewöhnlich nicht von sich aus über sexuelle Probleme. Besteht jedoch genügend Vertrauen auf der Basis einer tragfähigen Beziehung, so können Angehörige, Pflegende, Stomatherapeut, Psychotherapeut, Arzt und Selbsthilfegruppen im Gespräch und durch ihr Verhalten wichtige Hilfestellung bieten (7 Kap. 30 »Sexualität und Fertilität«).
Literatur Boelker T, Webelhuth W (2003) Durch dick und dünn, 2. Aufl. Schmücker, Menden Feil-Peter H (2001) Stomapflege, 7. Aufl. Schlütersche Verlagsbuchhandlung, Hannover Stoll-Salzer E, Wiesinger G (2004) Stomatherapie. Thieme, Stuttgart Esch M, (2005) Stomatherapie – Beratung Anleitung Pflege, Kohlhammer, Stuttgart Deutsche ILCO e. V. (2006/2007) Colostomie-Ileostomie Ein Leitfaden; Stomaträger und Ernährung Gruber G, Droste W (2006) Sektorenübergreifender Leitfaden Stomatherapie, Schlütersche Verlagsbuchhandlung, Hannover ECET Deutschland e. V. (2004) Leitlinie zur Stomatherapie
Internetadressen Selbsthilfevereinigungen DCCV e. V. (Deutsche Crohn und Colitis Vereinigung), Paracelsusstr. 15, D-51375 Leverkusen, www.dccv.org Deutsche ILCO e. V. (Ileostomie-Colostomie-Urostomie Vereinigung), Thomas-Mann-Str. 40, 53111 Bonn, www.ilco.de ILCO e. V. Österreich: www.ilco.at ILCO e. V. Schweiz: www.ilco.ch Berufsverbände Stomatherapeuten: DVET Fachverband Stoma und Inkontinenz: www.dvet.de Schweizerische Vereinigung der StomatherapeutInnen: www.stomach.com Verband österreichischer Stomatherapeut/innen: www.stoma-wundkontinenz.com European Council of Enterostomal Therapy ECET: www.ecet.de Sonstige Dansac GmbH, Hürth: www.dansac.de (Ratgeberbroschüre »Stoma und Sexualität«)
33
Teil V Notfälle in der Onkologie Kapitel 34
Notfälle durch Obstruktion und Infiltration
– 607
C. Renner, A. Beylich
Kapitel 35
Stoffwechsel- und Elektrolytentgleisungen H. Ludwig, H. Zöchling
Kapitel 36
Störungen der Blutgerinnung H. Ludwig, H. Zöchling
– 633
– 621
34
Notfälle durch Obstruktion und Infiltration C. Renner 1, A. Beylich 34.1
Hirndruck
34.1.1 34.1.2 34.1.3 34.1.4 34.1.5
Ursachen – 608 Symptome – 608 Beurteilung und diagnostische Möglichkeiten Medizinische Interventionen – 609 Pflegerische Interventionen – 609
34.2
Rückenmarkkompression und Querschnittslähmung
34.2.1 34.2.2 34.2.3 34.2.4
Ursachen – 610 Beurteilung und diagnostische Möglichkeiten Medizinische Interventionen – 612 Pflegerische Interventionen – 612
34.3
Obere Einflussstauung
34.3.1 34.3.2 34.3.3 34.3.4 34.3.5
Ursachen – 613 Symptome – 613 Beurteilung und diagnostische Maßnahmen Medizinische Inverventionen – 614 Pflegerische Interventionen – 614
34.4
Intestinale Obstruktion (Darmverschluss)
34.4.1 34.4.2 34.4.3 34.4.4 34.4.5
Ursachen – 614 Symptome – 615 Beurteilung und diagnostische Möglichkeiten Medizinische Interventionen – 616 Pflegerische Interventionen – 617
34.5
Ruptur der A. carotis
34.5.1 34.5.2 34.5.3 34.5.4 34.5.5
Ursachen – 617 Symptome – 617 Beurteilung und diagnostische Möglichkeiten Medizinische Interventionen – 618 Pflegerische Interventionen – 618
1
– 608
– 608
– 611
– 613
– 613
– 614
– 615
– 617
Überarbeitung des Beitrags von H.J. Illiger (1.–4. Auflage).
– 618
– 610
608
Kapitel 34 · Notfälle durch Obstruktion und Infiltration
))
34.1.2
Tumorerkrankungen können durch Obstruktion oder Infiltration von wichtigen anatomischen Strukturen (z. B. Nervenbahnen, Magen-Darm-Trakt, Blutgefäßen) rasch einsetzende und für den Patienten lebensbedrohliche Komplikationen hervorrufen. Sie erfordern in der Regel zügiges Handeln und sollten immer der aktuellen Situation des Patienten als auch der Prognose seiner Grunderkrankung angepasst sein. In diesen dramatischen Situationen hängt für den Patienten viel vom Wissen, der gezielten Beobachtungsgabe und dem raschen, kompetenten und zielbewussten Handeln der Pflegenden ab. Durch aufmerksame Beobachtung können sie beispielsweise den Arzt früh auf die Zeichen einer beginnenden Komplikation wie Rückenmarkkompression hinweisen. Dies kann für das weitere Schicksal des Patienten von entscheidender Bedeutung sein, da nur durch eine rasch einsetzende Behandlung z. B. eine dauerhafte Querschnittslähmung abzuwenden ist.
34
34.1
Hirndruck
34.1.1
Ursachen
Jede Raumforderung im zentralen Nervensystem (ZNS) kann über kurz oder lang aufgrund der Verdrängungssymptomatik zu einem Anstieg des Hirndrucks führen. Die häufigsten Tumoren mit Erhöhung des intrazerebralen Drucks sind Metastasen von epithelialen Tumoren (. Tab. 34.1). Die Häufigkeit von zerebralen Metastasen ist aufgrund der längeren Lebenserwartung insbesondere bei Brust- und Lungentumoren in den letzten Jahren steigend.
. Tab. 34.1. Prozentuale Häufigkeit der Primärtumorlokalisationen bei Patienten mit Hirnmetastasen
Primärtumor
Häufigkeit [%]
Brustkrebs
15
Lungenkrebs
48
Melanom
9
Kolonkarzinom
5
Unbekannter Primärtumor
11
Sonstige
12
Berger DP, Engelhardt R, Mertelsmann (eds) (2006) Das Rote Buch: Hämatologie und Internistische Onkologie, 3. Aufl. Ecomed, Landsberg
Symptome
Die allgemeine Drucksteigerung im Gehirn führt in der Regel in 3 Schritten zu den folgenden Symptomen: 4 Es treten Kopfschmerzen mit Übelkeit und evtl. auch Erbrechen auf. Blutdruck und Atemfrequenz sind meist normal. Auch weitergehende neurologische Veränderungen können fehlen, die Motorik kann unbeeinflusst bleiben. Die Anfangssymptome sind also ähnlich wie bei einer schweren Migräne. Während die Kopfschmerzen bei der Migräne i. Allg. wellenförmig und krampfartig auftreten, imponieren die Beschwerden bei erhöhtem Hirndruck meistens kontinuierlich. 4 Mit zunehmendem Druck, gelegentlich auch ohne Vorboten, kommt es dann zu Bewusstseinseintrübungen, Nackensteifheit und u. U. auch zu Krämpfen (vergleichbar epileptischen Zuständen), Sehstörungen, verminderter Schmerzempfindung und -reaktion, maximaler Pupillenverengung oder nachlassender Lichtreaktion. 4 Bei weiter fortschreitendem Druck tritt Bewusstlosigkeit ein mit Streckhaltungen von Extremitäten, Pupillenerweiterungen, Erliegen von Schmerzreflexen, Atemstörungen. Zuletzt brechen Atem- und Kreislauffunktionen zusammen.
34.1.3
Beurteilung und diagnostische Möglichkeiten
Jede Hirndrucksteigerung ist lebensbedrohlich und kann über einen komatösen Zustand mit variabler Zeitdauer (Stunden bis Tage) zum Tod führen. Unspezifische Symptome (7 oben) gehen in der Regel dem komatösen Zustandsbild lange voraus, werden aber häufig dem Arzt vom Patienten nicht rechtzeitig mitgeteilt. Hier sind insbesondere die Pflegenden aufgerufen, Patienten wachsam zu begleiten, um ggf. dem Arzt gezielt Hinweise auf hirndruckverdächtige Beobachtungen zu geben. Bei kurativ oder und langfristig palliativ behandelbarer Grundkrankheit mit guter Lebensqualität hat eine gezielte und rationelle Diagnostik möglichst schnell einzusetzen, um größeren Schaden zu vermeiden. ! Zur Beurteilung der Hirndrucksteigerung bzw. Hirnstammfunktionsstörung sowie der Geschwindigkeit, mit der sie sich entwickelt, ist die fortlaufende Überwachung des Patienten notwendig. Hierzu gehört die laufende Dokumentation des Zustands des Patienten, der Bewusstseinslage, der Mobilität und Reaktion auf Reize, des Verhaltens der Pupillen und Augenbewegungen, von Atmung, Temperatur sowie Blutdruck und Puls.
609 34.1 · Hirndruck
34.1.4
Medizinische Interventionen
Je nach Diagnose und Therapieziel sind medizinische Interventionen differenziert und situationsgerecht zu ergreifen. So wird man möglicherweise bei multiplen Hirnmetastasen eines ausgiebig vorbehandelten soliden Tumors anders vorgehen als bei einem solitären zerebralen Herd bei unbekanntem oder noch nicht behandeltem Primärtumor. Unabhängig von evtl. notwendigen und gewissenhaft zu planenden lokalen Therapiemaßnahmen (Operation, Strahlentherapie) steht als Notfalltherapie evtl. schon parallel zu weiteren diagnostischen Maßnahmen die Injektion eines Kortikosteroids (Nebennierenrindenhormon) an erster Stelle, z. B. Dexamethason, Decadron-Phosphat, Millicorten-Dexamethason i.v., mit dem Ziel, ein um einen tumorösen Herd liegendes Ödem und damit den intrakraniellen Druck zu mindern. Der Wirkungsmechanismus von Dexamethason beim Hirnödem ist weitgehend unbekannt, die Folge jedoch, eine Verminderung des Hirnödems, bei etwa 70% aller Patienten zu beobachten. Der Erfolg setzt in der Regel innerhalb von 10–20 min ein, selten später. Die Anfangsdosis von 4 mg kann ausreichen, um für 6–8 h alle Symptome zu beseitigen. Gelegentlich sind aber wesentlich höhere Dosen nötig (10–40 mg). Eine Wiederholung der Injektion kann alle 6–8 h nötig werden. Deshalb empfiehlt es sich, als Erhaltungsdosis 4– 8 mg Dexamethason oral alle 6 h zu verordnen, bis die Kausaltherapie der Grundkrankheit Wirkung zeigt. Danach allmähliche Dosisreduktion. Angesichts der Notfallsituation sind die üblichen Kontraindikationen für Steroide zu relativieren. Ziel sollte es aber immer sein, die Dauer der Einnahme so kurz wie möglich zu halten, sodass eine wirksame Kausaltherapie
möglichst schnell einsetzen muss. Nur selten muss eine diuretische Therapie anstatt einer Steroidtherapie durchgeführt werden. Die Kausaltherapie orientiert sich an der Lokalisation der Raumforderung und der Grundkrankheit. Lokal wirksame radiotherapeutische Interventionen, Chemotherapie oder operative Interventionen kommen auch bei primären Hirntumoren und auch bei solitären Hirnmetastasen vorrangig zum Einsatz.
34.1.5
Pflegerische Interventionen
Die Pflege von Patienten mit einem Anstieg des Hirndrucks verlangt große Fachkompetenz und Erfahrung der Pflegenden, da die Symptome sehr vielfältig und anfangs auch unspezifisch sein können. Die Situation erfordert von den Pflegenden eine gezielte Beobachtung sowie eine sorgfältige Überwachung des Patienten, eine fortlaufende Beurteilung der Situation und eine genaue Dokumentation des Gesamtzustands, damit eine schnell angepasste und damit sichere Pflege gewährleistet ist. Die Pflege orientiert sich am Krankheitsstadium des Patienten. Die wichtigsten Ziele der Palliativpflege sind die Linderung von Symptomen, wie Schmerz, Übelkeit und Erbrechen. Bei zunehmender Immobilität sind prophylaktische Maßnahmen anzuwenden (. Pflegerische Interventionen). Patienten und Angehörige benötigen in dieser lebensbedrohlichen Situation fortlaufende Information über das Geschehen. Damit kann ihre Angst und Ungewissheit reduziert werden. Die Intensität und Art der geplanten Pflegeinterventionen richtet sich nach der Prognose des Patienten in Absprache mit ihm und seinen Bezugspersonen.
Pflegerische Intervention bei Hirndruck Allgemein 4 Engmaschige Überwachung und Dokumentation der Vitalfunktionen (Puls, Blutdruck, Atmung, Temperatur), der Bewusstseinslage, der Mobilität, der Pupillenreaktion, der Augenbewegungen und der Gesamtsituation besonders; Veränderungen dem Arzt mitteilen. 4 Gespräche mit den Angehörigen zum besseren Verständnis der Situation. 4 Atemwegfreie, bequeme Lagerung des Patienten, 30° Kopfteilerhöhung (Kopf nicht unter Körperniveau lagern, damit der Rückfluss des Blutes und der Lymphe gewährleistet ist). 6
4 Ruhige, entspannte Atmosphäre schaffen, ggf. Verlegung in ein Einzelzimmer, leises Sprechen, evtl. Abdunkeln des Zimmers; Besuche ermöglichen, die ruhige Atmosphäre fördern. 4 Langsame Bewegungen mit dem Patienten, um Hirndruckschwankungen zu vermeiden. 4 Flüssigkeitsbilanzierung. 4 Bei Sprach-, Hör-, Konzentrationsstörungen und zunehmender Wesensveränderung langsam, einfühlsam, deutlich und dem Patienten zugewandt sprechen. 4 Bei Bewusstseinsstörungen Ruhe und Sicherheit durch häufige Anwesenheit vermitteln.
34
610
Kapitel 34 · Notfälle durch Obstruktion und Infiltration
4 Angehörige möglichst einbeziehen und anleiten bei der Pflege, z. B. bei der Lagerung.
Bei Schmerzen 4 Einschätzung der Schmerzsituation in Ruhe und bei Belastung unter Verwendung einer Schmerzskala. 4 Ärztliche Anordnung zur Schmerztherapie umsetzen. 4 In Absprache mit dem Arzt Prophylaxe und Behandlung schmerzmittelbedingter Nebenwirkungen durchführen, z. B. Verabreichung von Medikamenten, die weichen Stuhlgang fördern und damit Pressen beim Stuhlgang verhindern.
Bei Übelkeit und Erbrechen 4 Erfassung von Intensität und Frequenz, Applikation verordneter Antiemetika (7 Kap. 23). 4 Unterstützung beim Erbrechen, Intimsphäre wahren, Anstrengung reduzieren. 4 Entspannungsübungen, Ablenkung, Duftlampe anbieten, für frische Luft sorgen. 4 Wunschkost; gekühlte Getränke und Speisen bevorzugen. 4 Entlastende Maßnahmen: Mundpflege ermöglichen, atemstimulierende Einreibungen anbieten.
34 34.2
Rückenmarkkompression und Querschnittslähmung
34.2.1
Ursachen
Metastasen oder primäre Tumoren im Bereich der Wirbelsäule und der Rückenmarkhäute sind Ursachen für eine Kompression des Rückenmarks bzw. von austretenden Nervenwurzeln. Diese Kompression führt zu einer Querschnittslähmung, die meist symmetrisch ist. Je nach Lage der Läsion kann aber auch eine Betonung einer Seite auftreten. Verschiedene Mechanismen können zur Kompression des Rückenmarks führen (. Abb. 34.1): 4 Skelettmetastasen können aus einem Wirbelkörper herauswachsen und den Wirbelkanal einengen oder kontinuierlich in den Rückenmarkkanal hineinwachsen. 4 Seltener sind Metastasen auf den Rückenmarkhäuten (Meningen) Ursache für eine Rückenmarkkompression. 4 Gelegentlich kann Tumorgewebe auch aus Lymphknoten vor der Wirbelsäule (durch die Foramina interver-
4 Unterstützung durch Physiotherapie erwägen, ggf. sanfte Massage, Fußreflexzonenmassage oder Atemtherapie. 4 Nierenschale in Reichweite, aber nicht ins direkte Blickfeld des Patienten stellen.
Bei neurologischen Veränderungen (Lähmungen, Krampfanfällen, Nackensteifigkeit, Gleichgewichtsstörungen, Sehstörungen, Bewusstseinsstörungen) 4 Intensive Beobachtung des Patienten, Befragung zu Sehfähigkeit, Doppelbildern, Gesichtsfeldeinschränkung; Veränderungen dem Arzt mitteilen. 4 Bei Lähmungen sorgfältige Pflege nach Bobath-Konzept und Einbeziehen der Physiotherapie. 4 Vorsicht mit Wärme- und Kälteanwendungen, da es aufgrund von Sensibilitätsstörungen zu Erfrierungen oder Verbrennungen kommen kann. 4 Schutz des Patienten vor Verletzungen, Anbringen gepolsterter Bettgitter bei erhöhter Krampfneigung, Bereitstellen von angeordneten Notfallmedikamenten und Gummikeil. 4 Ruhe und Sicherheit durch fortlaufende Information und häufige Anwesenheit vermitteln. 4 Wenn möglich, Angehörige in die Pflege einbeziehen. 4 Psychoonkologen, Seelsorger, Sitzwachen bei Bedarf frühzeitig einbeziehen.
tebralia) in den Rückenmarkkanal vorwachsen, z. B. bei malignen Lymphomen. 4 Mögliche weitere Ursachen sind primäre Tumoren des Rückenmarks oder der Rückenmarkhäute.
Tumoren, die häufig zu Querschnittsläsionen führen können 5 5 5 5 5
Bronchialkarzinom Mammakarzinom Prostatakarzinom Plasmozytom (multiples Myelom) Non-Hodgkin-Lymphome
Durch Skelettmetastasen bedingte Wirbelfrakturen (. Abb. 34.2) verursachen nur selten eine Querschnittsläsion. Die pathologischen Wirbelfrakturen haben (wie Wirbelfrakturen bei Osteoporose) eine Höhenminderung des Wirbelkörpers und damit eine Abnahme der Körperlänge des Patienten zur Folge. Zu einer wesentlichen Einengung des Rückenmarkkanals durch Frakturfragmente kommt es dann, wenn die Fraktur zu einer deutlichen Abknickung
611 34.2 · Rückenmarkkompression und Querschnittslähmung
. Abb. 34.1a–d. Rückenmarkkompression durch: a Sinterungsfraktur mit Einengung des Wirbelkanals durch Knochenfragment, b Tumor innerhalb der Dura, z. B. ausgehend von den Meningen oder den Nervenscheiden, (intraduraler Tumor), c Tumor innerhalb des Spinalkanals vom Rückenmark ausgehend (intramedullärer Tumor),
d Tumor, der sich zwischen den Wirbelkörper oder in die Foramina intervertebrale ausdehnt, sodass der Epiduralraum eingeengt wird, z. B. bei Lymphknotenmetastasen (extravertebraler Tumor). (Nach Yarbro CH et al. 1999)
der Wirbelsäulenachse führt. Wenn bei einem Tumorpatienten mit einer Querschnittslähmung eine pathologische Wirbelfraktur gefunden wird, liegt neben der Fraktur meist auch eine Kompression des Rückenmarks durch aus dem Wirbelkörper herauswachsendes Tumorgewebe vor.
Symptome Die Einklemmung des Rückenmarks kann zu symmetrischen, aber auch seitenbetonten Symptomen in Form von Schmerzen oder Lähmungen, und Gefühlsstörungen führen. ! Schmerzen sind bei 90% der Betroffenen Leitsymptom und können den objektiven Befunden lange vorausgehen.
Nach Tagen bis Monaten kommen dann meist Parästhesien, d. h. Empfindungsstörungen wie Kribbeln, auch Taubheitsempfindungen und Brennen, hinzu. Frühzeitig werden Störungen beim Wasserlassen bzw. beim Stuhlgang angegeben, die bei fortschreitender Rückenmarkkompression zu einer kompletten Inkontinenz führen.
34.2.2
. Abb. 34.2. Typisches MRI-Bild bei Wirbelkörperfraktur (A) und tumorbedingter Einengung des Epiduralraums (B). (Abb. vom Institut für Diagnostische Radiologie, UniversitätsSpital Zürich, mit frdl. Genehmigung)
Beurteilung und diagnostische Möglichkeiten
Eine schnelle diagnostische Entscheidung bei Frühveränderungen ist nötig. Eine exakte Lokalisationsdiagnostik erfolgt zunächst durch eine sorgfältige neurologische Untersuchung. Ergänzend hierzu wird dann je nach Lokalisation eine Röntgenuntersuchung der Wirbelsäule folgen. Com-
34
612
Kapitel 34 · Notfälle durch Obstruktion und Infiltration
putertomographie oder NMR-Untersuchung (kernmagnetische Resonanz) sind heutzutage Methoden der Wahl, um frühe Veränderungen, aber auch das Ausmaß von Tumormanifestationen korrekt erfassen zu können. Auch intraspinal wachsende Tumoren, die keinerlei Skelettveränderungen verursachen, können so diagnostiziert werden. Eine Lumbalpunktion oder eine Myelographie durch Einbringen von Röntgenkontrastmittel in den Spinalkanal ist dadurch heute zumeist überflüssig. ! Frühveränderungen bzw. Zeichen einer beginnenden Rückenmarkkompression sind bei gezielter schneller Therapie meist reversibel. Eine komplette Querschnittslähmung hingegen ist nach wenigen Stunden irreversibel. Deshalb muss eine rasche Diagnostik und Therapie, d. h. auch notfallmäßig zu jeder Tages- und Nachtzeit, erfolgen.
34.2.3
34
voraus, dass benachbarte Wirbelkörper krankheitsfrei sind oder nur geringe Läsionen aufweisen. Die Mobilität in der Wirbelsäule ist nach diesem operativen Eingriff eingeschränkt.
Radiotherapie Wenn die operative Intervention den lokalen Tumor nicht komplett beseitigt hat, so ist eine Nachbestrahlung in der Regel erforderlich. Inoperable Patienten sollten primär lokal begrenzt mit einer Strahlendosis von 10–30 Gy bestrahlt werden.
Indikationen für Bestrahlung 5 Patient nicht operabel 5 Tumor wahrscheinlich sehr strahlenempfindlich 5 Tumor durch Operation nicht oder nur unvollständig entfernt
Medizinische Interventionen
Chirurgie
Medikamentöse Behandlung
Nach Sicherung der Diagnose ist eine notfallmäßige Intervention in der Regel erforderlich. An erster Stelle der Maßnahmen steht – falls möglich – die Operation. Eine schnelle Entlastung des komprimierten Rückenmarks wird durch eine Laminektomie (Entfernung von einem oder mehreren Wirbelbögen) erreicht. Da aber durch diese Maßnahme die auslösende Ursache nicht beeinflusst und zudem die Stabilität der Wirbelsäule geschwächt wird, ist eine stabilisierende Operation vorrangig in Erwägung zu ziehen. Hierzu gibt es verschiedene operative Maßnahmen, die in der Regel von vorn durchgeführt werden; die Laminektomie dagegen setzt am Rücken an. Während der stabilisierenden Operation kann auch ein Versuch zur Resektion des Tumors bzw. der Metastasen unternommen werden. Ein Knochenaufbau mit Zement kann hierbei notwendig werden. Ein »Fixateur interne« – eine mechanische Stabilisierung durch im Wundbereich liegende Metallstäbe, die an benachbarten Wirbelkörpern verankert sind – gibt zwar die größere Stabilität, setzt aber
Die Indikation für eine Chemotherapie besteht nur dann, wenn der Tumor wahrscheinlich sehr empfindlich dafür ist. Die Chemotherapie ist bei Anzeichen einer beginnenden Querschnittslähmung in der Regel nicht ausreichend wirksam und somit nur wenigen Situationen vorbehalten (z. B. bei malignen Lymphomen). Hingegen hat eine hoch dosierte Kortisongabe (ähnlich wie bei der Hirndrucksteigerung) einen Sinn, wenn auch die Wirksamkeit deutlich geringer ist als bei der intrakraniellen Hirndrucksteigerung. Es gelten die bereits dargestellten Regeln der Kortisontherapie (7 Kap. 34.1.4), die eine weitergehende Lokaltherapie bzw. Behandlung der Grundkrankheit nicht ausschließen. Die lokale Applikation von Zytostatika in den Intrathekalraum ist bei einer Querschnittsläsion nicht sinnvoll. Nur bei einer diffusen Beteiligung der Hirnhäute (Meningeosis), z. B. bei einer Leukämie oder einem malignen Lymphom, wird sie in Ergänzung zu einer lokalen Maßnahme erforderlich sein. Jedoch ist eine Meningeosis in der Regel nicht auslösende Ursache einer Querschnittsläsion.
Voraussetzungen für die Indikation zum operativen Eingriff bei Rückenmarkkompression 5 5 5 5 5 5 5
Guter Allgemeinzustand Operabilität des Patienten Solitäre Metastase Benachbarte Wirbelkörper intakt Histologie des Tumors noch nicht bekannt Wirbelsäulenabschnitt bereits bestrahlt Tumor wahrscheinlich nicht strahlensensibel
Kortikosteroid
34.2.4
Pflegerische Interventionen
Die Pflege des Patienten mit einer akuten Rückenmarkkompression verlangt intensive physische und psychische Betreuung. Eine wichtige Aufgabe der Pflegenden ist die genaue Beobachtung und Früherkennung von auftretenden motorischen, sensorischen oder autonomen Störungen. Je nach Ausmaß der Lähmungserscheinungen, der Immobilität und dem Krankheitsstadium werden bedarfs-
613 34.3 · Obere Einflussstauung
orientiert pflegerische Interventionen und Prophylaxen beim Patienten durchgeführt. Der Patient mit akut oder progredient fortschreitender Querschnittslähmung ist meist stark psychisch belastet.
Aufgabe der Pflegenden ist es, in Gesprächen bewusst auf die Ängste, Belastungen und Bedürfnisse des Patienten und seiner Bezugspersonen einzugehen (. Pflegerische Interventionen).
Pflegerische Inverventionen bei beginnender Rückenmarkkompression mit instabilen Wirbelfrakturen 4 Bettruhe. 4 Lageveränderung mit Rollbrett, um Schädigungen vorzubeugen. 4 Evtl. Einbeziehen der Physiotherapie.
Bei Schmerzen 4 Einschätzung der Schmerzsituation mittels Schmerzskala, Schmerzerfassung (u. a. Intensität, Lokalisation, Art) und Dokumentation. 4 Adäquate Schmerztherapie umsetzen, Arzt informieren bei unzureichender Schmerztherapie. 4 Informationen zur Einnahme verordneter Medikamente wie Analgetika und Kortikosteroide. 4 Schmerzlindernde Lagerung.
Bei eingetretener Querschnittslähmung 4 Beobachtung des Patienten hinsichtlich sensorischer Veränderungen wie Kribbeln, Brennen, Taubheitsgefühl und Missempfindungen bei Berührung. 4 Verlaufskontrolle und Dokumentation der Vitalzeichen, der Motorik von Armen und Beinen, der Blasen- und Darmtätigkeit und des Allgemeinzustands.
4 Vorsicht bei Kälte- und Wärmeanwendungen, da es aufgrund von Sensibilitätsstörungen zu Erfrierungen oder Verbrennungen kommen kann. 4 Vermeidung von Druck- oder Drehbewegungen, Patienten »en-bloc« drehen, dabei gedachte Linie von der Nase bis zum Bauchnabel beibehalten. 4 Pflege nach Bobath-Konzept. 4 Einbeziehen der Physiotherapie.
Bei Ängsten, psychischer Belastung des Patienten und seiner Bezugspersonen 4 Dem Patienten und seinen Bezugspersonen zuhören, Ängste verbalisieren, fortlaufende Information über Entwicklung – Ruhe und Sicherheit vermitteln. 4 Gemeinsam mit dem Arzt realistische und ehrliche Darstellung und Erklärung des zeitlichen Verlaufs. 4 Ggf. Psychologen bzw. Sozialarbeiter einbeziehen.
34.3
Obere Einflussstauung
34.3.2
34.3.1
Ursachen
Subjektiv mag ein unspezifischer Kopfdruck im Vordergrund stehen. Bei der Betrachtung des Patienten zeigen sich oft nur gestaute Halsvenen. Bei weiterem Rückstau kommt dann allerdings gelegentlich eine extreme Schwellung des Gesichts und der Hals- sowie Armregionen hinzu. Wegen des venösen Rückstaus kommt es auch zu einer blauroten Verfärbung des Gesichts. Eine Dyspnoe wird oft infolge des gleichzeitig bestehenden Drucks auf die Atemwege beobachtet.
Tumoren oder Metastasen im oberen Mediastinum bzw. im Bereich der oberen Thoraxappertur können eine obere Einflussstauung verursachen. Folgende Tumoren sind häufig Ursache dafür: 4 Bronchialkarzinom, 4 maligne Lymphome, 4 Thymom bzw. Thymuskarzinom, 4 metastasiertes Mammakarzinom durch Lymphknotenmetastasen oder Einwachsen in die obere Hohlvene.
34.3.3 Die tumorösen Veränderungen komprimieren die obere Hohlvene (V. cava superior) und behindern dadurch den Rückfluss im venösen und lymphatischen System, sodass ein Rückstau der Flüssigkeit im Kopf-Hals-Bereich und in den Armen resultiert (. Abb. 34.3).
Symptome
Beurteilung und diagnostische Maßnahmen
Auch wenn die klinische Symptomatik für die Diagnose einer oberen Einflussstauung spricht, muss eine exakte Dokumentation des Ausmaßes des Tumors erfolgen, da
34
614
Kapitel 34 · Notfälle durch Obstruktion und Infiltration
. Abb. 34.3. Obere Einflussstauung durch Kompression der oberen Hohlvene
34
nur hierdurch eine optimale Therapieplanung möglich wird. Ist eine bösartige Grunderkrankung bereits bekannt, wird die Therapie sich hieran orientieren. Bei unbekanntem Primärtumor jedoch wird die histologische Abklärung nötig, sofern in der vorliegenden Situation möglich. Je nach Befunden wird eine Thorakotomie, Mediastinoskopie oder Bronchoskopie, gelegentlich auch eine Lymphknotenbiopsie die Diagnose klären können, oft wird man allerdings eine empirische Therapie je nach klinischem Bild einleiten. Die Prognose der oberen Einflussstauung ist bei unbehandelten Patienten ernst. Liegt ein therapiesensibles Grundleiden vor, kann die Prognose entscheidend gebessert werden. Wichtig ist aber auf jeden Fall, die Therapie möglichst zügig einzuleiten.
34.3.4
Medizinische Inverventionen
Als Notfalltherapie der 1. Wahl gilt auch hier wieder die hoch dosierte Kortisontherapie, die relativ schnell zum Abklingen der Symptome führen kann. So wird es durch diese Kortisontherapie oft auch möglich, einen Zeitraum von mehreren Tagen bis zur Einleitung einer effektiven Tumortherapie zu überbrücken. Eine Behandlung mit Diuretika kann ergänzend hilfreich sein. Es gilt jedoch zu bedenken, dass es sich um eine mechanisch bedingte Wassereinlagerung handelt, die durch Diuretika in der Regel kaum beeinflusst werden kann. Im Mittelpunkt steht die gezielte Therapie des Grundleidens, wobei sowohl eine Strahlentherapie wie auch – bei chemotherapiesensiblen Tumoren – eine Zytostatikatherapie angewendet werden kann; diese Behandlungen können neben der laufenden Kortisontherapie durchgeführt wer-
den. Begleitende medizinische Maßnahmen wie Sauerstoffzufuhr und Heparinisierung können in Frage kommen.
34.3.5
Pflegerische Interventionen
! Ziel der Pflege ist es, durch Erkennen von Frühsymptomen eine frühzeitige Therapie einzuleiten, um lebensbedrohliche Komplikationen zu vermeiden sowie die Atemnot zu lindern.
Patienten und Angehörige sind oftmals durch sicht- und spürbare Symptome wie violett oder blau verfärbte Lippen, Nägel oder Fingerspitzen und Atemnot verunsichert. Sie empfinden Angst. Ausreichend Zeit für Informationen und Gespräche sollten deshalb eingeplant werden (. Pflegerische Interventionen).
34.4
Intestinale Obstruktion (Darmverschluss)
Dieser Abschnitt beschäftigt sich ausschließlich mit der mechanischen Obstruktion. Der paralytische Ileus wird in 7 Kap. 24 (»Diarrhö und Obstipation«) abgehandelt.
34.4.1
Ursachen
Ein mechanischer Darmverschluss mit kompletter oder auch nur inkompletter Unterbrechung der Passage ist bei malignen Erkrankungen eine schwerwiegende und nicht seltene Komplikation. Folgende Tumoren sind häufig Ursache dafür:
615 34.4 · Intestinale Obstruktion (Darmverschluss)
Pflegerische Interventionen bei oberer Einflussstauung Bei Atemnot (Dyspnoe, Tachypnoe)
Bei Ödemen der oberen Extremitäten
4 Beobachtung von Atemfrequenz, -tiefe, -geräuschen, Hautfarbe, Mimik (Zeichen von Angst/Stress). 4 Kontrolle und Dokumentation der Vitalzeichen, Blutdruckmessung an den oberen Extremitäten vermeiden; wenn möglich Blutdruckmessung am Bein (Manschette am Oberschenkel anlegen und die A. poplitea in der Kniekehle abhören). 4 Entlastungsmöglichkeiten: Ruhige sichere Atmosphäre schaffen, Patient während Dyspnoe nicht allein lassen. Wenn möglich, Angehörige zur Beruhigung einbeziehen, ggf. Frischluft- oder Sauerstoffzufuhr (je nach Empfinden des Patienten über Sonde oder Maske), genügend Zeit und Raum für Aktivitäten lassen. 4 Lagerungstherapie: Atementlastende Kopfteilhochlagerung, untere Extremitäten nicht hoch lagern. 4 Diuretika nach Verordnung. 4 Mundpflege bei trockener Schleimhaut.
4 Zentralvenöse Katheter in der V. basilica und V. jugularis sollten vermieden werden. 4 Venöse Zugänge in der ödematösen Extremität sollten vermieden werden. 4 Keine einengenden Kleidungsstücke tragen. 4 Fingerringe, Uhren und Armbänder ablegen. 4 Pflege mit Wasser-Öl-Emulsion-Creme bei leicht gespannter Haut, um Verletzungen bzw. Sekundärinfektionen vorzubeugen → Möglichkeit, um die Angehörigen in die Pflege zu integrieren.
4 Ovarialkarzinom (Darmverschluss bei ca. 25% aller Patientinnen mit Ovarialkarzinom), 4 Dickdarmkarzinom, 4 Zervixkarzinom, 4 Blasenkarzinom, 4 maligne Lymphome. Während bei Ovarial- und Darmtumoren meist der Tumor oder seine Metastasen zur Obstruktion führen, sind bei Zervix- und Blasentumoren, aber auch bei Lymphomen vorausgegangene Strahlentherapien mit nachfolgenden Fibrosen ursächlich zu nennen. Eine benigne Adhäsion oder ein Zweittumor sind eher selten. Oft hat die maligne intestinale Obstruktion mehrere auslösende Ursachen, z. B. Tumorokklusion oder Strangbildung bei gleichzeitigem Einsatz von Medikamenten, die die Dünndarmmotilität herabsetzen.
34.4.2
Symptome
Die intestinale Obstruktion kann akut mit kolikartigen Schmerzen beginnen und zu Übelkeit und Erbrechen sowie Obstipation führen. Meist setzt jedoch die Obstruktion langsam ein, über Wochen oder auch Monate an Intensität zunehmend. Gehäuft kommen dann auch Episoden mit teilweisem oder auch komplettem Verschluss und relativ akuter Symptomatik hinzu.
Bei Ängsten des Patienten und seiner Bezugspersonen 4 Gefühle des Erstickens bzw. »Ertrinkens« beim Patienten wahrnehmen und diese verbalisieren. 4 Durch Informationsgespräche zu den Ursachen der Symptome und zu den Möglichkeiten einer Linderung Stellung nehmen.
Bei einer langsam einsetzenden Obstruktion finden sich oft ganz andere Symptome als bei einem akuten Verschluss: Im Vordergrund stehen Übelkeit und Erbrechen, Koliken und andere tumorbedingte Schmerzen. Der Stuhlgang kann lange normal bleiben, Diarrhöen sind häufiger als Obstipation.
34.4.3
Beurteilung und diagnostische Möglichkeiten
Die Diagnose ist bisweilen in der Anfangsphase schwer zu stellen, insbesondere, wenn die Symptome nur mild und uncharakteristisch sind. Mit fortschreitendem Prozess wird es einfacher und typischer. Allerdings verschlechtern sich Behandlungsmöglichkeiten und Prognose. Bei der physikalischen Untersuchung fühlt man evtl. schon einen Tumor oder mehrere Knoten im Abdomen. Eine Röntgenuntersuchung des Abdomens zeigt zwar zuverlässig, dass eine Obstruktion vorliegt, aber nicht wo. Mit Kontrastmittel kann gewöhnlich zwischen Obstruktion durch Metastasen, radiogenen Schäden und Adhäsionen unterschieden werden. Eine langsame Passage von Bariumbrei deutet auf eine Motilitätsstörung hin, wie sie oft bei Ovarialkarzinomen besteht. Heutzutage wird vermehrt eine Computertomographie mit oralem Kontrastmittel anstelle des herkömmlichen Bariumbreischlucks durchgeführt. Ein Kolonkont-
34
616
Kapitel 34 · Notfälle durch Obstruktion und Infiltration
. Abb. 34.4. Dünn- und Dickdarmileus bei metastasierendem Ovarialkarzinom mit Darmdilatation (weißer Pfeil) und Flüssigkeitsspiegel (schwarzer Pfeil)
rasteinlauf oder eine Kolonoskopie kann bei Verschlüssen des Dickdarms hilfreich sein. Allerdings sollten solche Untersuchungen nur erfolgen, wenn chirurgische Konsequenzen sinnvoll erscheinen (. Abb. 34.4).
34
34.4.4
Medizinische Interventionen
Bei jedem Tumorpatienten mit einer intestinalen Obstruktion sind zunächst die Möglichkeiten einer operativen Intervention zu klären, auch wenn nur noch palliative Therapiechancen bestehen sollten; denn manche Patienten erleben nach einer nur palliativen Operation eine Verbesserung der Lebensqualität. Für eine Operation kommen v. a. Patienten in gutem Allgemeinzustand mit möglicherweise solitären oder nur wenigen beweglichen Tumoren in Frage. Bei ausgedehntem Tumorbefall wird in der Regel von einer Operation abgesehen. Ist eine Operation nicht durchführbar, ermöglichen palliative Behandlungen eine Linderung. Eine palliative medikamentöse Tumortherapie hängt vom Ausmaß und der Prognose der Krebserkrankung, sowie vom Allgemeinzustand des Patienten und seinen Wünschen ab. Die Einlage eines Stents kann je nach Lokalisation der Obstruktion eine Palliation bewirken. Die parenterale Ernährung kommt nur als vorübergehende Maßnahme bei operablen Patienten mit Mangelernährung in Frage (7 Kap. 22). Eine nasogastrale Sonde kann kurzfristig eine merkliche Entlastung des MagenDarm-Trakts bewirken, stellt aber keine befriedigende Langzeitlösung des Problems dar. In der Regel sind diese Maßnahmen nur bei Patienten mit der Chance auf opera-
tive Problemlösung als vorbereitende Maßnahme sinnvoll. Zur längerfristigen Entlastung des Magen-Darm-Trakts wird die PEG-Sonde gegenüber der nasogastrale Sonde bevorzugt. Rein symptomatische medikamentöse Behandlungen bei Koliken und anderen tumorbedingten Schmerzen, Übelkeit und Erbrechen sowie Diarrhö müssen sorgfältig aufeinander abgestimmt werden, und zwar sowohl bezüglich der Dosis als auch des Zeitplans und der Applikationsart. Auch die Kombination verschiedener Mittel bei unterschiedlichen Symptomen muss im Einzelfall überdacht werden. So können z. B. Antiemetika wie Metoclopramid über eine Steigerung der Peristaltik die Koliksymptome verstärken. Auch Prokinetika und stimulierende Laxanzien sind deshalb bei Kolikschmerzen oder vollständiger Obstruktion abzusetzen. Oft wird der Einsatz von Morphin und einem Spasmolytikum als hilfreich und lindernd empfunden. Der Arzt sollte sich nicht scheuen, diese Medikamente bis zu einer guten Linderung der Symptome zu verordnen. Die orale Applikation, die zur Schmerztherapie normalerweise gut wirksam ist, ist bei intestinaler Obstruktion wegen der fast obligaten Übelkeit mit Erbrechen selten möglich. Die parenterale bzw. transdermale Applikation stellt eine sinnvolle Alternative dar, insbesondere wenn eine Therapie über einen längeren Zeitraum nötig ist. Bei mangelnder peroraler Flüssigkeitsaufnahme stellt sich die Frage einer subkutanen Hydratation. Die Prognose der chronischen Obstruktion ist ungünstig; trotzdem gibt es immer wieder Patienten, die über einen Zeitraum von vielen Monaten eine derartige Behandlung und Pflege benötigen. Das Ernährungsproblem in
617 34.5 · Ruptur der A. carotis
diesen Situationen ist zu lösen. Die Patienten sollten essen und trinken, was sie wünschen, möglichst aber nur in kleinen Portionen. Eine künstliche Ernährung wird nicht empfohlen.
Pflegerische Inverventionen bei Darmverschluss Allgemein
34.4.5
Pflegerische Interventionen
Ziel der Pflege ist es, durch gezielte Beobachtungen und kompetente Interventionen bestehende Symptome zu lindern und lebensbedrohliche Komplikationen zu vermeiden (. Pflegerische Interventionen).
34.5
Ruptur der A. carotis
34.5.1
Ursachen
Eine Ruptur der A. carotis, der großen Halsschlagader, führt zu einer akuten, lebensbedrohlichen Blutung. Sie kann bei Patienten mit Kopf-Hals-Karzinomen in zwei verschiedenen Situationen auftreten: 4 Ruptur der Gefäßwand als Folge einer Arrosion durch einen progredienten Tumor, meist bei ausbehandelten Patienten in einem terminalen Krankheitsstadium; 4 Ruptur als Folge einer therapiebedingten Gefäßschädigung. Die therapiebedingte Ruptur kann kurz nach einer erfolgreichen Lokalbehandlung (Operation, evtl. in Kombination mit Bestrahlung) auftreten, also bei tumorfreien Patienten mit guter Prognose. Es handelt sich um eine postoperative Komplikation, meist 3–5 Wochen nach dem Eingriff, evtl. auch noch später, je nach Operationsverfahren. Risikofaktoren sind v. a. eine vorausgegangene Bestrahlung, schlechter Ernährungszustand, Begleiterkrankungen, wie Diabetes mellitus oder Arteriosklerose, und Operationsfolgen, wie Wundinfekte, Hautlappennekrosen und Pharynxfisteln.
34.5.2
Symptome
Bei der Arrosion der A. carotis infolge eines progredienten Tumors kommt es nicht selten zunächst nur zu kleineren Blutungen, bevor dann eine akut einsetzende, massive arterielle Blutung in der Regel das Leben des Betroffenen beendet. Subjektiv fühlen oder sehen viele Patienten vorher ihren Tumor wachsen, was verständlicherweise Gefühle von Angst und Hilflosigkeit verursacht und unterhält. Auch Schmerzen, Gefühlsstörungen und Missempfindungen können je nach Lokalisation der Tumoren einer Blutung vorausgehen.
4 Unterstützung bei eingeschränkten Selbstpflegetätigkeiten und Durchführung notwendiger prophylaktischer Pflegeinterventionen. Insbesondere für regelmäßige Mundpflege sorgen. 4 Psychische Begleitung des Patienten. Interventionen und Zusammenhänge erklären – Unruhe vermeiden. 4 Ernährungsart individuell auf Bedürfnisse und Krankheitsstadium des Patienten abstimmen; Wunschkost, kleine Portionen und selbstbestimmte Essenszeiten; ggf. subkutane Hydratation. 4 Ggf. Operationsvorbereitung, wenn eine Kausaltherapie indiziert ist.
Bei kolikartigen Schmerzen 4 Schmerzeinschätzung, Analgetika und Spasmolytika nach ärztlicher Verordnung. 4 Prophylaxe und Behandlung schmerzmittelbedingter Nebenwirkungen. 4 Schmerzlindernde, bauchdeckenentspannende Lagerung. 4 Wärmeanwendung nach ärztlicher Rücksprache.
Bei Übelkeit/Erbrechen (7 Kap. 23) 4 Antiemetika nach Verordnung. 4 Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme klären – Wünsche des Patienten nach Möglichkeit berücksichtigen. 4 Ggf. Einlage einer Magensonde diskutieren, kann bei Völlegefühl Erleichterung bringen. 4 Vitalzeichenkontrolle einschließlich Flüssigkeitsbilanzierung (Gefahr der Dehydratation). 4 Für entspannte Atmosphäre sorgen, z. B. durch Entspannungsübungen, Phantasiereisen und Aromatherapie.
Bei Defäkationsstörungen wie Diarrhö, Obstipation (7 Kap. 24) 4 Beobachtung und Dokumentation der Stuhlentleerungen und deren Beschaffenheit. 4 Bei körperlich geschwächten Patienten Unterstützung und Hilfestellung beim Toilettengang. 4 Analpflege bei andauerndem Durchfall.
34
618
Kapitel 34 · Notfälle durch Obstruktion und Infiltration
Einer postoperativen Karotisruptur geht oft eine mehr oder weniger ausgedehnte Haut- oder Lappennekrose mit meist bakteriell bedingten entzündlichen Veränderungen voraus.
ven und von Instrumenten zur notfallmäßigen Versorgung einer akut einsetzenden Ruptur).
34.5.4 34.5.3
34
Beurteilung und diagnostische Möglichkeiten
Die Arrosion durch einen progredienten Tumor ist ein Ereignis einer terminalen Krankheit, die Prognose also äußerst ungünstig. Der Einsatz aller diagnostischen Maßnahmen sollte sich hieran orientieren. Ohnehin ist die aufmerksame Beobachtung des Lokalbefundes die diagnostische Methode mit der größten praktischen Relevanz, sodass sich weitergehende technische Untersuchungen wie Angiographien, Computertomographien usw. in der Regel erübrigen. Die Ruptur als postoperative Komplikation ist prognostisch und somit auch therapeutisch günstiger einzustufen. Trotzdem gelten für den diagnostischen Aufwand die oben genannten Einschränkungen, lediglich eine selektive kontralaterale Karotisdiagnostik zur Beurteilung der restlichen Hirndruckblutung bei einer u. U. durchzuführenden Karotisligatur ist als sinnvolle Maßnahme einzustufen. Wird ein derartiger Eingriff als möglich und sinnvoll erachtet, sind auch entsprechende Vorbereitungen zu treffen, um im Notfall den Patienten optimal versorgen zu können (Bestimmung der Blutgruppe, Bereitstellung von Blutkonser-
34.5.5
Medizinische Interventionen
Bei einer Arrosion der Karotis durch einen progredienten Tumor sind therapeutische Ansatzpunkte äußerst begrenzt, da ja in der Regel zuvor alle üblichen gezielten antineoplastischen Maßnahmen wie Operation, Strahlentherapie und u. U. auch Chemotherapie vorausgegangen und in ihren Möglichkeiten erschöpft sind. Angesichts dieses terminalen Tumorstadiums erscheint es fragwürdig, ob man sich bei einer drohenden Ruptur noch zu einer aktiven operativen Intervention entschließen soll oder ob man nicht besser bei angemessener Sedierung dem Ereignis seinen Lauf lässt. Diese Entscheidung sollte frühzeitig, zusammen mit dem Patienten und den Angehörigen, getroffen und dokumentiert werden. Bei der Gefahr einer postoperativen Karotisruptur ist die HNO-ärztliche Fachbetreuung notwendig. Dem Erfahrenen bleibt es vorbehalten, über Chancen und Grenzen einer sinnvollen operativen Intervention zu befinden. ! Die Entscheidung über therapeutische Interventionen kann nur in Absprache zwischen allen Beteiligten getroffen werden, d. h. zwischen dem Patienten, seinen Angehörigen, den betreuenden Ärzten und den Pflegenden.
Pflegerische Interventionen
Pflegerische Inverventionen bei Ruptur der A. carotis Allgemein 4 Verhütung der Karotisruptur, v. a. in der postoperativen Situation, u. a. durch Verminderung des Drucks auf die A carotis. 4 Mithilfe beim Entscheidungsprozess, ob im Falle einer Ruptur intensive therapeutische Maßnahmen versucht oder unterlassen werden sollen. 4 Vorbereitung aller Beteiligten auf das Vorgehen bei massiver akuter Blutung.
Interventionen bei drohender Ruptur der A. carotis 4 Engmaschige Vitalzeichenkontrolle, ggf. Beurteilung der Operationswunde und Verlaufsdokumentation. 4 Nichtokklusiver Verbandwechsel, täglich oder nach Bedarf. 6
4 Angetrocknete Verbände vor dem Entfernen mit NaCl 0,9% anfeuchten. 4 Verwendung nichtklebender Verbandstoffe, feuchtes Wundmilieu fördern. 4 Sorgfältige Hautpflege im Bereich um die Operationswunde, einengende Kleidung vermeiden. 4 Besondere Aufmerksamkeit bei der Reinigung und dem Wechsel der Trachealkanüle. 4 Vermeidung von Druckerhöhung in der A. carotis (z. B. durch Husten, Erbrechen, Obstipation):. – ggf. Antitussiva nach Verordnung verabreichen, – ggf. Antiemese nach Verordnung verabeichen, – evtl. Magensonde zur Entlastung legen. 4 Obstipationsprophylaxe: Verabreichung von Laxanzien nach Verordnung.
619 34.5 · Ruptur der A. carotis
4 Ausreichende Flüssigkeitszufuhr, evtl. enterale oder parenterale Ernährung bei Schluckbeschwerden. 4 Nach Absprache zwischen Patient, Angehörigen, Arzt und Pflegenden Entscheidungen treffen hinsichtlich des Vorgehens im Falle einer massiven Blutung. 4 Entscheidungen dokumentieren. 4 Ggf. Seelsorger oder Psychologen informieren.
Interventionen bei massiver Blutung aus der A. carotis und Entscheidung für ein operatives Vorgehen 4 Nach dem Anlegen von Schutzkleidung mit saugfähigen Kompressen und dunkel gefärbten Tüchern digitalen Druck auf die Wunde ausüben, bis andere blutstillende Interventionen eingeleitet sind. 4 Applikation von Sedativa, Analgetika, Infusionen nach Verordnung.
4 Für freie Atemwege sorgen, Sauerstoffgabe, ggf. Mundhöhle mit weichem Katheter absaugen. 4 Präoperative Versorgung. 4 Emotionale Unterstützung des Patienten und seiner Angehörigen.
Interventionen bei massiver Blutung aus der A. carotis und Entscheidung für ein palliatives Vorgehen 4 Vermeiden von Panik bei zunehmender Blutung. 4 Verhindern, dass das Blut sichtbar ist durch den Einsatz dunkel gefärbter Tücher (OP-Tücher). 4 Genügend Tücher in Reichweite bereitstellen. 4 Sedierende Medikamente nach Verordnung verabreichen. 4 Ruhe und Sicherheit vermitteln. 4 Ggf. atemnotlindernde Interventionen.
Literatur
Internetadressen
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34
35
Stoffwechsel- und Elektrolytentgleisungen H. Ludwig, H. Zöchling 35.1
Hyperkalzämie
– 622
35.1.1 35.1.2 35.1.3 35.1.4
Ursachen und Pathophysiologie – 622 Klinische Symptome und Komplikationen Medizinische Interventionen – 625 Pflegerische Interventionen – 626
35.2
Tumorlysesyndrom
35.2.1 35.2.2 35.2.3 35.2.4
Ursachen und Pathophysiologie – 628 Klinische Symptome und Komplikationen Medizinische Interventionen – 629 Pflegerische Interventionen – 629
35.3
Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion (SIADH)
35.3.1 35.3.2 35.3.3 35.3.4
Ursachen und Pathophysiologie – 629 Symptome und Komplikationen – 630 Medizinische Interventionen – 630 Pflegerische Interventionen – 631
– 625
– 628 – 628
– 629
622
Kapitel 35 · Stoffwechsel- und Elektrolytentgleisungen
)) In allen Zentren, in denen Tumorpatienten mit Risiken für Stoffwechsel- und Elektrolytentgleisungen betreut werden, müssen die Voraussetzungen für eine optimale Behandlung solcher potenziell lebensbedrohlichen Komplikationen gegeben sein. Gerade bei Patienten in Notfallsituationen, die intensivmedizinische Überwachung und Pflege benötigen, sind Spezialwissen und Erfahrung der Pflegenden unabdingbar. Dazu gehört auch die Aufgabe, Patienten und deren Angehörige zu informieren und zu beraten.
35.1
Hyperkalzämie
35.1.1
Ursachen und Pathophysiologie
Definition Unter Hyperkalzämie versteht man die Erhöhung des Serumkalziumspiegels auf über 2,7 mmol/l (= 11 mg/100 ml; Normbereich: 2,3–2,7 mmol/l = 9,5–11 mg/100 ml).
35
Da Kalzium eine wesentliche Rolle bei der Signalübertragung in Körperzellen spielt, insbesondere bei der Reizleitung in Herzmuskelfasern und Nervenzellen, stellt hochgradige Hyperkalzämie einen lebensbedrohlichen Zustand dar. Hyperkalzämie kann eine Komplikation von Krebserkrankungen sein. Die häufigste Ursache ist ein Tumorbefall des Skeletts (. Abb. 35.1). Besonders gefährdet sind Patienten mit 4 multiplem Myelom (Plasmozytom), 4 metastasiertem Plattenepithelkarzinom der Lunge (bei Lungenkarzinomen anderer histologischer Typen, z. B. kleinzelligem Bronchialkarzinom oder Adenokarzinom, sind Hyperkalzämien seltener), 4 metastasiertem Mammakarzinom, 4 metastasiertem Nierenzellkarzinom, 4 metastasiertem Prostatakarzinom, 4 malignen Lymphomen, 4 bestimmten lymphatischen Leukämien von Erwachsenen (T-Zell-Leukämien). Der Anstieg des Serumkalziums kann langsam über mehrere Wochen, aber auch innerhalb weniger Stunden bis Tage erfolgen und unabhängig von der Ausbildungsgeschwindigkeit zu einem kritischen Zustandsbild führen. Der Entwicklung tumorassoziierter Hyperkalzämien liegen in Abhängigkeit von der onkologischen Grunderkrankung unterschiedliche Mechanismen zugrunde (. Tab. 35.1). Am häufigsten ist ein Tumorbefall des Skelettsystems die Ursache.
. Abb. 35.1. Röntgenologische Darstellung einer osteolytischen Metastase im Femur
Die folgenden Zellen sind für Knochenbildung und -resorption (Knochenabbau) verantwortlich bzw. im Knochengerüst vorhanden: 4 Osteoblasten: Knochenbildende Zellen, die Kollagen produzieren und ausscheiden; ihre Aktivität wird durch Kalzitonin stimuliert und von Parathormon und Vitamin D gehemmt. 4 Osteoklasten: Mehrkernige Zellen, die den Knochen abbauen; ihre Bildung und Aktivität wird durch Parathormon und Vitamin D stimuliert und durch Kalzitonin gehemmt. 4 Osteozyten: Ruhende Zellen des Knochengerüsts, die von kalzifizierter Knochensubstanz umgeben sind. Beim multiplen Myelom und bei Non-Hodgkin-Lymphomen werden verschiedene Zytokine und insbesondere ein Ungleichgewicht zwischen dem »Knochenschutzfaktor« Osteoprotegerin und dem Rank-Liganden (RANKL), der Osteoklasten (knochenabbauende Zellen) aktiviert, für den verstärkten Knochenabbau verantwortlich gemacht.
623 35.1 · Hyperkalzämie
. Tab. 35.1. Ursachen für gesteigerten Knochenabbau bei Tumorpatienten
Faktoren
Krankheitsgruppen
Osteoklasten aktivierende Faktoren (OAF), Interleukin-1, Interferon, Lymphotoxin, Tumornekrosefaktor (TNF), Verschiebung des Verhältnisses von Osteoprotegerin (OPG) zu Rank-Ligand (RANKL) zugunsten von RANKL
Plasmozytom, Non-Hodgkin-Lymphome, adulte lymphatische Leukämie vom T-Zell-Typ
Prostaglandine, insbesondere Prostaglandin E2, direkte Resorption durch Tumorzellen und andere Faktoren
Solide Tumoren mit Knochenmarkmetastasen (kleinzelliges Lungen-, Mamma-, Zervixkarzinom)
»Parathormon-related peptide« (PTHrP)
Solide Tumoren ohne Knochenmarkmetastasen (Plattenepithelkarzinom der Lunge, Nieren-, Pankreas-, Ovarialkarzinom)
1,25-Dihydroxy-Vitamin-D-Bildung (von pathologischen lymphatischen Zellen vermehrt produziert)
Sarkoidose, Non-Hodgkin-Lymphome
. Abb. 35.2. Mechanismus der tumorzellinduzierten Osteolyse. Die Tumorzelle kann Faktoren freisetzen, die auf Osteoblasten und Stromazellen des Knochenmarks einwirken. Diese Zellen produzieren daraufhin vermehrt den RANK-Liganden (RANKL), der mit dem entsprechenden Rezeptor (RANK) auf der Oberfläche der Vorläuferzelle der Osteoklasten (Ok) interagiert, und weniger mit dem »Gegenspieler« und Knochenschutzfaktor Osteoprotegerin (OPG), das wie RANK aufgebaut ist und RANKL »neutralisiert«. Die RANKL/ RANK-Wechselwirkung führt in Gegenwart von makrophagenkolo-
niestimulierendem Faktor (M-CSF), der an seinen Rezeptor c-fms auf Osteoklastenvorläufern bindet, zur vermehrten Bildung aktiver Osteoklasten. In der Folge kommt es zur gesteigerten Knochenresorption durch Osteoklasten. Tumorzellen produzieren manchmal selbst löslichen RANK-Liganden (sRANKL), der ebenfalls an RANK auf Osteoklasten bindet. Tumorzellen können außerdem eiweißspaltende Enzyme (Proteasen) absondern, die ihnen das Eindringen ins nichtmineralisierte Knochengewebe erleichtern
35
624
Kapitel 35 · Stoffwechsel- und Elektrolytentgleisungen
Solide Tumoren mit Skelettmetastasierung führen ebenfalls durch Freisetzung von verschiedenen Zytokinen (z. B. TGF-α, Interleukin-1 und -6, Interferon-α, Prostaglandine) zum Knochenabbau. In bestimmten Fällen dürften Tumorzellen selbst zur Knochenresorption befähigt sein (. Abb. 35.2). Hyperkalzämie bei Tumorpatienten ohne Skelettmetastasierung ist seit dem Nachweis eines dem Parathormon verwandten Peptids (PTHrP) plausibel zu erklären. PTHrP kann von bestimmten Tumorzellen (Plattenepithel-, Lungen-, Nieren-, Pankreas- und Ovarialkarzinome) produziert werden und unterscheidet sich in seiner Struktur nur unwesentlich vom eigentlichen Parathormon, das von den Epithelkörperchen (Nebenschilddrüse) produziert wird und in die Regulation des Kalziumstoffwechsels eingreift (. Abb. 35.3 und 35.4). Auch durch Immobilisierung kann es zum gesteigerten Knochenabbau mit geringgradiger Erhöhung des Serumkalziumspiegels kommen. Eine schwere hyperkalzämische Krise ist allerdings dadurch nicht zu erwarten. . Abb. 35.3. Einfluss des Parathormons auf den Kalziumspiegel im Serum (Ca++: Kalzium)
35
. Abb. 35.4a, b. Ursachen der Knochenresorption bei Tumorerkrankungen. a Plattenepithelkarzinom der Lunge. Knochenresorption durch paraneoplastische Bildung von PTHrP (»Parathormon-related peptide«) durch den Tumor. b Osteolytische Metastasen mit lokaler Knochenresorption
a
b
625 35.1 · Hyperkalzämie
35.1.2
Klinische Symptome und Komplikationen
. Tab. 35.2. Klinische Symptome der Hyperkalzämie nach betroffenem Organsystem
Wie eingangs erwähnt, kann sich die tumorassoziierte Hyperkalzämie unterschiedlich schnell ausbilden. Bei langsamer Erhöhung des Serumkalziums werden nicht selten psychische Veränderungen beobachtet. Zusätzlich klagen die Patienten über vermehrten Durst, da die erhöhte Urinmenge einen beträchtlichen Flüssigkeitsverlust bedeutet. Ein weiterer Anstieg der Kalziumwerte kann eine Reihe von Symptomen auslösen (. Tab. 35.2). Mit zunehmendem Anstieg kann es zu einer hyperkalzämischen Krise kommen, die häufig mit einer Verstärkung der neuropsychologischen Veränderungen, wie Verwirrtheit oder Somnolenz bis zum komatösen Zustandsbild, einhergeht.
35.1.3
Medizinische Interventionen
Organsystem
Symptome
Psyche, ZNS
Müdigkeit, Depression, Verwirrtheit, Persönlichkeitsveränderung, Somnolenz, Koma
Gastrointestinaltrakt
Anorexie, Übelkeit, Erbrechen, Bauchschmerzen, Obstipation, Ileus, Hypotonie der glatten Muskulatur
Niere
Polyurie, Azotämie, Nephrolithiasis, Polydipsie, Nierenversagen
Herz
Verkürzung der QT-Zeit, Rhythmusstörungen (Brady- und Tachyarrhythmien); bei extremer Hyperkalzämie: Bradykardie, Vorhofflimmern, Kammerextrasystolen, AV-Blockierungen
Muskulatur
Verminderter Muskeltonus, Schwäche
Stoffwechsel
Metabolische Alkalose, Dehydratation (Gewichtsverlust)
Die Behandlung der Hyperkalzämie (. Tab. 35.3) zielt auf: 4 Korrektur des Flüssigkeitsdefizits, 4 Verstärkung der Diurese und damit der renalen Kalziumausscheidung, 4 Verminderung der ossären Kalziumfreisetzung, 4 ggf. Verminderung der enteralen Kalziumaufnahme.
4 der Kaliumspiegel, 4 der Säure-Basen-Haushalt.
Hinsichtlich der Therapie der Grundkrankheit ist zu beachten: 4 die Flüssigkeitsbilanz, 4 die kardiale Funktion,
Bei älteren Patienten mit eingeschränkter Leistungsfähigkeit muss im Rahmen der Hydratation eine sorgfältige Flüssigkeitsbilanzierung vorgenommen werden, um eine Überwässerung und in weiterer Folge eine kardiale De-
. Tab.35.3. Medizinische Interventionen bei Hyperkalzämie
Behandlungsmaßnahmen
Arzneistoffe
Präparate
Flüssigkeitszufuhr Bisphosphonate
Dosierungen 3000–4000 ml/Tag
Clodronat
D/CH: Ostac
300–600 mg/Tag i. v.
A: Lodronat
1040–2080 mg/Tag p.o.
Ibandronat
Bondronat
2–4(6) mg als i. v. Infusion (Einmaldosis)
Pamidronat
D/CH/A: Aredia, Pamidronat
15 mg/Tag i. v. bzw.60–90 mg i. v. Einmaldosis
Zoledronat
D/CH/A: Zometa
4 mg i. v. Einmaldosis
D: z. B. Calsynar, Karil CH: z. B. Calcitonin, Miacalcin A: z. B. Calcitonin, Sanabo
100 i. E./Tag
Kalzitonin
Fakultativ: Kortikosteroide
Prednisolon
D: z. B. Decortin H, Solu-Decortin CH: z. B. Ultracorten H, Solu-Dacortin A: z. B. Solu-Dacortin
20–80 mg/Tag
Fakultativ: Diuretika
Furosemid, Etacrynsäure
D/CH/A: z. B. Lasix
20–80 mg/Tag
D: z. B. Hydromedin CH/A: z. B. Edecrin
50–150 mg/Tag
35
626
Kapitel 35 · Stoffwechsel- und Elektrolytentgleisungen
kompensation zu vermeiden. Die Verabreichung von sog. Schleifendiuretika wie Furosemid, z. B. Lasix, steigert die Diurese und die Kalziumausscheidung.
Medikamentöse Behandlung
35
Bisphosphonate. Die zweite wesentliche Maßnahme neben der Flüssigkeitszufuhr besteht in der i. v.-Verabreichung von Bisphosphonaten. Diese Substanzen hemmen die Osteoklastenaktivität und damit die Knochenresorption mit Kalziumfreisetzung. Aufgrund der höheren Wirksamkeit werden heute die stickstoffhaltigen Bisphosphonate der neueren Generation bevorzugt (Ibandronat, Pamidronat, Zoledronat). Sie führen bei 70–90% der Patienten innerhalb von 24 h zu einer signifikanten Senkung des Kalziumspiegels. Angaben zur Dosierung finden sich in . Tab. 35.3. Die Dauer der Behandlung hängt vom Ansprechen und auch vom verwendeten Bisphosphonat ab. In der Regel kann man von einer Stabilisierung des Kalziumspiegels für etwa 2–4 Wochen ausgehen. Bei langfristiger Anwendung können Bisphosphonate die Progression der osteolytischen, aber auch osteoblastischen Skelettmetastasierung reduzieren, z. B. beim Mammakarzinom, beim multiplen Myelom und beim Prostatakarzinom, sodass sie auch in dieser Indikation verabreicht werden, in der Regel alle 4 Wochen oder auch in längeren Intervallen. Sie verringern das Auftreten von metastasenbedingten Frakturen und von Hyperkalzämien, die deshalb seit dem vermehrten Einsatz dieser Substanzen deutlich seltener geworden sind. Auch zur Behandlung bzw. Vorbeugung des Knochensubstanzverlusts (Osteoporose) bei antihormoneller Therapie mit GnRH-Analoga und/oder Aromataseinhibitoren sind Bisphosphonate wirksam. In dieser Indikation ist die orale Therapie oder – je nach Indikation und Präparat – monatliche bis jährliche i.v. Applikation wirksam. Bisphosphonate sind insgesamt gut verträglich, aber doch nicht ohne mögliche Nebenwirkungen und Komplikationen. Orale Präparate können zu Magen-Darm-Problemen wie Magenbeschwerden und Durchfall führen, die bei wöchentlicher Dosierung geringer sind. Bei i.v. Applikation muss auf die Nierenfunktion geachtet werden. Adäquate Hydrierung vor der Therapie und Überwachung der Kreatininwerte sind erforderlich. Da Bisphosphonate (speziell in höherer Dosierung) auch zu Knochenmineralisationsstörungen führen können, wird – je nach Indikation – die begleitende Gabe von Kalzium und Vitamin D empfohlen. Bei langfristiger i.v. Therapie kann sich in seltenen Fällen eine Knochennekrose (Osteonekrose) des Kiefers entwickeln, häufiger am Unterkiefer als am Oberkiefer. Ihre Ursache ist noch nicht vollständig geklärt. Ein Risiko scheint besonders bei den hochwirksamen neuen Aminobisphosphonaten und insgesamt eher bei i.v. Therapie zu
bestehen. Die Behandlung ist schwierig, weshalb der Vorbeugung besondere Bedeutung zukommt: 4 Zahnärztliche Kontrolle und notwendige Sanierungen möglichst vor Behandlungsbeginn durchführen. 4 Während der Therapie sorgfältige Mund- und Zahnhygiene sowie möglichst Vermeidung invasiver kieferchirurgischer Eingriffe, insbesondere nach Möglichkeit keine Zahnextraktionen (7 Kap. 35.1.4). Kalzitonin. Kalzitonin führt über eine Hemmung der Osteoklastenaktivität und gesteigerte Kalziumausscheidung durch die Niere zu einer raschen Senkung des Kalziumspiegels und eignet sich zur Behandlung ausgeprägter akuter hyperkalzämischer Zustandsbilder. Glukokortikosteroide. Kortikosteroide werden v. a. bei ma-
lignen Lymphomen und Plasmozytom eingesetzt. Neben einer Anti-Vitamin-D-Wirkung, die u. a. zur Reduzierung der Kalziumresorption aus dem Darm führt, hemmen sie die Produktion verschiedener osteoklastenstimulierender Zytokine. Außerdem lässt sich gerade bei malignen Lymphomen der häufig zu beobachtende antineoplastische Effekt dieser Substanzen therapeutisch nutzen.
35.1.4
Pflegerische Interventionen
Da die Hyperkalzämie zu den häufigen Komplikationen von Tumorerkrankungen gehört, kommt der adäquaten Pflege besondere Bedeutung zu (. Pflegerische Interventionen). Pflegende haben die Aufgabe, beim Auftreten der in . Tab. 35.2 aufgeführten Symptome differenzialdiagnostisch an eine mögliche Hyperkalzämie zu denken und den Arzt frühzeitig zu informieren. Durch das Messen des Kalziumspiegels im Blut kann die Diagnose einfach und schnell gestellt werden, und entsprechende Maßnahmen können frühzeitig eingeleitet werden. ! Patienten mit hohem Risiko, eine tumorassoziierte Hyperkalzämie zu entwickeln, und deren Angehörige sollten von Ärzten und Pflegenden über das mögliche Auftreten und die Symptome einer Hyperkalzämie informiert werden. Mit diesem Wissen sind sie in der Lage, frühzeitig medizinische Hilfe zu suchen und die Symptome nicht mit unerwünschten Wirkungen einer Radiooder Chemotherapie zu verwechseln und damit die Diagnose zu verzögern.
Bei ansteigendem Serumkalziumspiegel muss die Flüssigkeitszufuhr in Abhängigkeit vom Schweregrad der Hyperkalzämie entsprechend gesteigert werden – natürlich unter exakter Flüssigkeitsbilanzierung und Gewichtskontrolle, um einer eventuellen Überwässerung bzw. kardialen Dekompensation vorzubeugen.
627 35.1 · Hyperkalzämie
Pflegerische Interventionen bei Hyperkalzämie bzw. entsprechendem Risiko Information des Patienten und Angehörigen 4 Information über die Symptome der Hyperkalzämie und wodurch sie sich entwickelt (Hinweis, dass es sich nicht um eine unerwünschte Wirkung der Chemotherapie oder Strahlentherapie handelt). 4 Information über Maßnahmen zur Prophylaxe von Hyperkalzämien: ausreichende Flüssigkeitsaufnahme, körperliche Bewegung (Spaziergänge, soweit möglich), korrekte Medikamenteneinnahme. 4 Diätempfehlungen (Vermeidung oder Reduktion kalziumreicher Nahrungsmittel), ggf. Einbeziehung der Ernährungsberatung. 4 Bei längerdauernder i.v. Bisphosphonattherapie: – Vorher zahnärztliche Kontrolle ggf. Durchführung notwendiger Eingriffe zur Sanierung, Überprüfung von Prothesen, Druckstellen beseitigen. – Information über das Risiko der Kieferosteonekrose und über mögliche Symptome: lokale Schmerzen, Infektionszeichen mit Rötung, Schwellung und eitriger Sekretion, Entzündung. – Information über präventive Maßnahmen: sorgfältige Mund- und Zahnhygiene, Vermeidung von invasiven zahnmedizinischen oder kieferchirurgischen Eingriffen. – Bei oraler Medikation Information über die Einnahme entsprechend den Vorschriften für das Präparat.
Interventionen bei psychoneurologischen Veränderungen 4 Beachtung und Erfassung von Müdigkeit, Verwirrtheit, Somnolenz, Koma und Persönlichkeitsveränderungen (die Korrektur der Hyperkalzämie führt zur Normalisierung der psychoneurologischen Veränderungen).
Durch die forcierte Entwässerung kommt es auch zu einer vermehrten Kaliumausscheidung, die in vielen Fällen eine Kaliumsubstitution notwendig macht. Eine solche empfiehlt sich auch, um einer erhöhten Erregbarkeit des Herzens und einer Reizleitungsstörung, die durch gleichzeitiges Vorliegen von Hyperkalzämie und Hypokaliämie begünstigt wird, vorzubeugen. Bei digitalisierten Patienten ist wegen der hyperkalzämiebedingt verstärkten Wirkung von Herzglykosiden eine sorgfältige kardiale Überwachung notwendig.
4 Vorsichtsmaßnahmen zur Vermeidung von pathologischen Frakturen (Unterstützung bei der Mobilisation, Begleitung bei Bedarf, ggf. Bettseitenschutz). 4 Ausgleichen des Flüssigkeitsverlustes: – Flüssigkeitszufuhr. – Überwachung und Dokumentation der Flüssigkeitsbilanz. 4 Überwachung der Herz-Kreislauf-Funktion.
Interventionen bei Elektrolytstörungen (nach Verordnung) 4 Verabreichung von Diuretika zur Forcierung der Kalziumausscheidung. 4 Verabreichung von kalziumsenkenden Medikamenten (Bisphosphonate etc.). 4 Verabreichung von Kalium. 4 Hinsichtlich möglicher kardialer Störungen Anzeichen einer kardialen Dekompensation (Hustenreiz, Ödeme, Atemnot) beachten, genaue Pulskontrolle durchführen.
Interventionen bei Magen-Darm-Störungen 4 Beobachtung des Patienten hinsichtlich Übelkeit und Erbrechen (ggf. Verabreichung von Antiemetika nach Verordnung). 4 Beachtung von Obstipation (Verabreichung von Laxanzien bzw. Klistieren nach Verordnung). Bei der Mobilisierung ist zu beachten 4 Vorsicht, um pathologische Frakturen zu vermeiden. 4 Einleitung physiotherapeutischer Interventionen und Anleitung zu isometrischen Übungen. 4 Der Patient soll 4- bis 6-mal/Tag aufstehen, wenn sein körperlicher Zustand dies erlaubt.
Selbstverständlich sollte bei hyperkalzämischen Patienten die Aufnahme kalziumreicher Nahrungsmittel wie Milch, Käse, aber auch von kalziumreichem Mineralwasser eingeschränkt werden. Bei hypophosphatämischen Patienten kann über eine Phosphatsubstitution eine zusätzliche Kalziumreduktion erreicht werden. Es ist hilfreich, wenn sich die Pflegenden die Laborresultate ansehen, um eine bessere Vorstellung vom Verlauf der medizinischen Behandlung zu bekommen.
35
628
Kapitel 35 · Stoffwechsel- und Elektrolytentgleisungen
35.2
Tumorlysesyndrom
35.2.1
Ursachen und Pathophysiologie
! Bei rasch fortschreitenden Krebserkrankungen kann es sowohl infolge einer Chemotherapie als auch spontan zum massiven Tumorzellzerfall kommen. Dies kann zu schweren metabolischen Entgleisungen und Störungen des Elektrolythaushalts führen und insgesamt eine bedrohliche Situation darstellen.
35
Das Risiko für die Entwicklung eines Tumorlysesyndroms wird bestimmt durch die Tumorbiologie, die Behandlung und bestehende Begleiterkrankungen. Besonders gefährdet sind Patienten mit aggressiven Lymphomen und akuten lymphatischen Leukämien, hoher Tumorzellmasse, hoch wirksamen Therapien mit raschem und massivem Tumorzellzerfall. Eine vorbestehende Nierenfunktionsstörung erhöht das Risiko zusätzlich und ist zugleich ein eigenständiger Risikofaktor. Am häufigsten ist das Tumorlysesyndrom in den ersten Tagen nach intensiver Chemotherapie mit Zerstörung großer Tumorzellmassen. Dies führt zu einer massiven Freisetzung von intrazellulären Proteinen und Nukleinsäuren. Dadurch wird der Purinstoffwechsel überlastet, und der Harnsäurespiegel steigt rasch an (Hyperurikämie). Ein dadurch bedingtes Nierenversagen verursacht nicht selten einen weiteren exzessiven Anstieg der Harnsäurekonzentration. Harnsäure ist bekanntlich im Serum nur schlecht löslich und fällt bereits bei geringer Konzentrationserhöhung aus. Dadurch entstehen Harnsäureniederschläge im Bereich der Nierentubuli, wodurch die Nierenfunktion weiter eingeschränkt wird und bis zur Anurie fortschreiten kann (. Abb. 35.5) . Abb. 35.5. Pathogenese des Tumorlysesyndroms. (Ritter 2009)
Durch den übermäßigen Zellzerfall werden auch große Mengen an Kalium und Phosphat freigesetzt und gelangen in den Blutkreislauf. Die Komplikationen der Hyperkaliämie betreffen in erster Linie das Reizleitungssystem des Herzens. Es kann zu Rhythmusstörungen bis zum Herzstillstand kommen, außerdem tritt eine generelle Schwäche der Muskulatur auf, die im Extremfall zu einer Lähmung führen kann. Auch die »spontane« Entwicklung eines Tumorlysesyndroms ist möglich: Bestimmte Lymphome, Leukämien und das kleinzellige Bronchialkarzinom können in Einzelfällen derart schnell wachsen, dass das Tumorwachstum der Entwicklung des für die Versorgung notwendigen Gefäßsystems voraneilt. Als Folge der Mangelversorgung kommt es zum ausgedehnten nekrotischen Tumorzellzerfall mit den beschriebenen Folgen.
35.2.2
Klinische Symptome und Komplikationen
Die klinische Symptomatik wird durch die schnelle Freisetzung intrazellulärer Substanzen und der damit verbundenen Hyperurikämie, Hyperkaliämie, Hyperphosphatämie und Hypokalzämie geprägt. Diese Veränderungen können zu rasch auftretender Niereninsuffizienz mit Oligo- und Anurie führen und darüber hinaus schwere tachykarde Herzrhythmusstörungen hervorrufen. Außerdem leiden die Patienten unter Übelkeit und abdominellen Schmerzen und werden lethargisch. Bedingt durch die Hypokaliämie können darüber hinaus schwere tetanische Muskelkrämpfe auftreten.
629 35.3 · Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion (SIADH)
35.2.3
Medizinische Interventionen
Bei bezüglich eines Tumorlysesyndroms besonders gefährdeten Patienten sollten bereits prophylaktisch Maßnahmen getroffen werden. So empfiehlt sich: 4 eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr von etwa 3000– 4000 ml/24 h, 4 Diuretikagabe vom Typ Furosemid zur Aufrechterhaltung einer ausreichenden Diurese und zur Elimination von Kalium, 4 sorgfältige Überwachung der Flüssigkeitsbilanz zur Vermeidung einer Überwässerung, 4 die Verabreichung von Allopurinol parenteral in einer Dosis von 300–600 mg/24 h zur Prävention einer Hyperurikämie. Mit Rasburicase (Fasturtec) steht ein noch wirksameres Medikament zur Prophylaxe und Therapie der akuten Hyperurikämie zur Verfügung, das zu einer raschen Elimination der Harnsäure aus dem Serum führt. Neben diesen unterstützenden Maßnahmen muss besonderes Augenmerk auf eine sorgfältige Planung der Tumortherapie gelegt werden. Diese muss bei gefährdeten Patienten, die einen gegenüber Chemotherapie hochsensiblen Tumor haben, mit einer niedriger dosierten Vorbehandlung eingeleitet werden, um einen zu raschen Tumorzerfall zu vermeiden. Besteht bei Patienten mit derart hochsensiblen Tumoren aus bestimmten klinischen Gründen (z. B. Einflussstauung) die Notwendigkeit, unverzüglich eine aggressive Tumortherapie einzuleiten, so muss die Ausbildung eines akuten Tumorlysesyndroms in Betracht gezogen werden. Hier sind die oben angeführten Maßnahmen unverzüglich einzuleiten. Darüber hinaus sollte der Harn zur Vermeidung der Ausfällung von Harnsäure mit Natriumbikarbonat alkalisiert und auf einen pH-Wert von etwa 7–7,5 eingestellt werden.
35.2.4
Pflegerische Interventionen
Das Tumorlysesyndrom stellt eine lebensbedrohliche Komplikation dar. Davon betroffene Patienten sowie Patienten mit Risikofaktoren bedürfen daher einer intensiven Pflege (. Pflegerische Interventionen).
35.3
Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion (SIADH)
35.3.1
Ursachen und Pathophysiologie
Tumorerkrankungen stellen die häufigste Ursache für das Syndrom der inadäquaten Sekretion von antidiuretischem Hormon (Schwarz-Bartter-Syndrom) dar. Bei diesen Patienten ist die Sekretion des antidiuretischen Hormons (ADH) in Relation zur Serumosmolarität inadäquat erhöht, der Harn wird nicht verdünnt, sodass es zu einer Flüssigkeitsretention kommt. Diese führt zu einer Vermehrung des extrazellulären Flüssigkeitsvolumens, ohne dass Ödeme auftreten, sowie zu einer Abnahme der Serumosmolarität. Im Flüssigkeitshaushalt spielt das ADH, das im Zusammenspiel von Hypothalamus und Hypophyse gebildet und aus dem Hypophysenhinterlappen freigesetzt wird, eine zentrale Rolle (. Abb. 35.6). ADH ist in der Niere wirksam, wo es zu einer Erhöhung der Wasserrückresorption und zu einer stärkeren Konzentrierung des Harns führt.
Pflegerische Interventionen bei Tumorlysesyndrom 4 Mehrmals täglich Kontrolle der Vitalfunktionen. 4 Erfassung möglicher neurologischer und zentralnervöser Veränderungen (herabgesetzte Vigilanz, Desorientiertheit, Krampfbereitschaft, Verwirrtheit). 4 Flüssigkeitsbilanzierung. 4 Kontrolle des Harn-pH-Wertes (dieser sollte auf pH 7–7,5 eingestellt sein). 4 Kontrolle der Haut: Auftreten eines Ausschlags als unerwünschte Wirkung von Allopurinol – Information des Patienten darüber bei Entlassung. 4 Bei Entlassung: Information wie und wie lange Allopurinol zu Hause eingenommen werden muss.
. Abb. 35.6. Regulation des Wasserhaushalts durch antidiuretisches Hormon (ADH)
35
630
Kapitel 35 · Stoffwechsel- und Elektrolytentgleisungen
Stimuliert wird die ADH-Ausschüttung, wenn die Barorezeptoren in den Herzvorhöfen einen Blutdruckabfall oder die Osmorezeptoren im Hypothalamus einen Anstieg der Serumosmolarität registrieren. Das »Kommando« heißt dann: Intrazelluläres Volumen erhöhen bzw. verdünnen, Harn konzentrieren. Bei Krebspatienten kann es zum Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion kommen, da verschiedene Tumoren zur ektopen Produktion von ADH (außerhalb der Hypophyse) befähigt sind, die sich der physiologischen Regulation entzieht. Außerdem können einige Zytostatika die ADH-Sekretion stimulieren. Auch Stress – z. B. durch Schmerzen, Verletzungen und Operationen – führt zu einer gesteigerten ADH-Sekretion und damit zu einer Flüssigkeitsretention (. Übersicht).
Ektope ADH-Produktion und inadäquate ADH-Sekretion bei Tumorerkrankungen Tumoren, die zur ektopen ADH-Produktion führen können
35
5 Kleinzelliges Bronchialkarzinom und Plattenepithelkarzinom der Lunge (bis zu 10%) 5 Prostatakarzinom 5 Nebennierenrindenkarzinom 5 Karzinoide 5 Pankreaskarzinom 5 Dünndarmkarzinom 5 Harnblasenkarzinom 5 Endometriumkarzinom 5 Non-Hodgkin-Lymphome 5 Morbus Hodgkin 5 Thymom
Zytostatika, die zur inadäquaten ADH-Sekretion führen können 5 5 5 5
Cyclophosphamid Vincristin Vinblastin Cisplatin (selten)
Begleiterkrankungen, die zur inadäquaten ADH-Sekretion führen können 5 Lungenerkrankungen (Pneumonien, Abszesse) 5 Stress 5 Operationen
Andere Medikamente, die zur inadäquaten ADH-Sekretion führen können 5 Barbiturate 5 Trizyklische Antidepressiva 5 Diuretika
35.3.2
Symptome und Komplikationen
Symptome und Laborbefunde bei Patienten mit inadäquater ADH-Sekretion zeigt die . Übersicht.
Symptome und Laborbefunde bei inadäquater ADH-Sekretion Klinische Symptome 5 5 5 5
Gewichtszunahme Schwäche Lethargie Neurologische Symptome mit Verwirrung und in Extremfällen Bewusstseinstrübung bis zum Koma 5 Ödeme und Bluthochdruck (selten) 5 Anorexie, Übelkeit und Erbrechen (selten)
Laborbefunde 5 Hyponatriämie ( Praxistipps Einbußen an Lebensqualität sind dann am geringsten oder können am besten ertragen werden, wenn der Patient hinreichend in die Therapieentscheidungen einbezogen wurde (7 Kap. 37 »Kommunikation in der Onkologie«). ! Vor allem in der palliativen Behandlungssituation sind Radikalität, Intensität und Dauer der Behandlung und der unsichere Gewinn an Überlebenszeit abzuwägen gegen die therapiebedingten Beschwerden, Beeinträchtigungen und Einschränkungen in der individuellen Lebensgestaltung – also der Qualität des Lebens. Der therapeutische Fortschritt in der palliativen Tumorbehandlung bemisst sich daran, inwieweit beides, Lebensqualität und Lebenszeit, in Einklang stehen.
38
Die Psychoonkologie hat den Auftrag, sich als eine Disziplin der psychosomatisch orientierten Krankenversorgung dem einzelnen Patienten und dessen persönlicher Notlage zuzuwenden. Für die Lebensqualität förderlich ist es hier, mittels der Methode des »helfenden Gesprächs« die Erwartungen und Ängste des Patienten zu Wort kommen zu lassen, seine Phantasien über die Krankheitsentstehung und Behandlung (»subjektive Theorien«) kennenzulernen und nach Abwägen der objektiven und subjektiven Gegebenheiten einvernehmlich zu einer Behandlungsentscheidung zu finden.
38.2.1
Verfahren zur Messung der Lebensqualität
Um den Einfluss von Krankheit und Therapie auf die Lebensqualität erfassen zu können, muss diese gemessen werden. Eine Fremdeinschätzung durch den Arzt widerspricht dabei der Auffassung, dass Lebensqualität nur aus der subjektiven Sicht des Betroffenen zu bemessen ist. Der – z. B. durch den Karnofsky-Index (KI) nach objektiven Kriterien
wie Grad der körperlichen Leistungsfähigkeit und der Fähigkeit zur Selbstversorgung bestimmte – Allgemeinzustand und die subjektiv empfundene Lebensqualität können stark auseinanderklaffen: Auch bei starkem Absinken des KI kann die Lebensqualität unverändert sein. Deshalb sollte eine Bewertung der Lebensqualität auf einer Selbsteinschätzung durch den Patienten basieren. Dazu wurden verschiedene Messverfahren entwickelt, die neben körperlichen auch psychische und soziale Komponenten in die Beurteilung einfließen lassen. Eines der am häufigsten eingesetzten Messinstrumente ist der EORTC-Fragebogen (Aaronson et al. 1993; . Abb. 38.1). Dieser Fragebogen wurde speziell für Tumorpatienten entwickelt, beinhaltet 30 Fragen zu verschiedenen Dimensionen der Lebensqualität und kann durch derzeit 8 organspezifische Module (z. B. Mammakarzinom, kleinzelliges oder nichtkleinzelliges Lungenkarzinom) ergänzt werden. Da Lebensqualität etwas sehr Individuelles und Subjektives darstellt, wird er von den Patienten nach Selbsteinschätzung ausgefüllt. Ein weiteres Messinstrument zur Selbsteinschätzung ist der Fragebogen zur Lebenszufriedenheit (FLZ; Herschbach u. Henrich 1991), der neben allgemeinen und krankheitsspezifischen Modulen auch einen dynamischen Aspekt mit berücksichtigt, denn die Kriterien, nach denen ein Mensch seine Lebensqualität beurteilt, können sich im Laufe der Zeit verändern und unterliegen somit nicht nur der aktuellen Befindlichkeit. Dieser Aspekt ist sehr wichtig: ! Lebensqualität ist ein plastischer Begriff, der sich im Zuge einer Redefinition von Standards und Werten im Krankheitsverlauf entsprechend den Umständen verändern kann.
Die Diagnose Krebs geht auch nicht zwangsläufig mit einer besonders schlechten Lebensqualität einher, wie der Vergleich mit anderen Erkrankungen und auch der »Normalbevölkerung« zeigt (. Abb. 38.2). Ein anderes tumorspezifisches Selbstbeurteilungsinstrument ist der FACT-Fragebogen (Functional Assessment of Cancer Therapy; Cella et al. 1993). Dieser Fragebogen verfügt über Zusatzmodule bezüglich der Tumorentität (z. B. Pankreas-, Blasen- oder Prostatakarzinom), bezüglich der Behandlung (z. B. Knochenmarktransplantation) und bezüglich verschiedener Symptome, wie Anämie, Fatigue und Anorexie. Beim Distress-Thermometer beschreibt der Patient auf einer visuellen Analogskala von 0 (gar nicht belastet) bis 10 (extrem belastet) seine subjektiven Beeinträchtigungen (. Abb. 38.3). Dieses Instrument können auch Pflegende einsetzen, um eine psychosoziale Belastung ihrer Patienten abzuklären. Bei einem Wert über 6 besteht die Indikation, eine psychoonkologische Betreuung einzuleiten. Ziel sollte es sein, Belastungen rechtzeitig zu erkennen, um schwere
661 38.2 · Lebensqualität bei onkologischen Patienten
. Abb. 38.1. Fragebogen der European Organization for Research and Treatment of Cancer (EORTC). (Schmoll et al. 2006)
38
662
Kapitel 38 · Inhalte und Aufgaben der Psychoonkologie
. Abb. 38.2. Lebensqualität im Vergleich (Summenwert nach Fragebogen zur Lebenszufriedenheit, FLZ) bei unterschiedlichen Diagnosebzw. Personengruppen (n=15.984). (Nach Herschbach u. Heussner 2008)
psychische Begleiterkrankungen wie Angststörungen oder Depressionen zu erfassen und zu behandeln.
38
38.3
Strategien zur Krankheitsverarbeitung (»Coping«)
38.3.1
Zum Coping-Begriff
Tumorerkrankungen werden aufgrund ihres unkalkulierbaren Verlaufs, immer mit der Möglichkeit eines ungünstigen Ausgangs, oftmals von seelischen und sozialen Beeinträchtigungen begleitet, die verarbeitet und überwunden werden müssen. »Coping with cancer« nannte der Pionier der psychosozialen Krebsforschung, Avery D. Weisman, sein 1979 erschienenes Buch, das die Auseinandersetzung Krebskranker mit ihrem Leiden beschreibt. »Coping«, übersetzt als Bewältigen, Beherrschen, Meistern, umreißt hier ein Programm, das mehr einem heroischen Vorsatz als einer realistischen Möglichkeit gleicht. »Coping« nach heutigem Verständnis meint die Auseinandersetzung mit den psychosozialen Krankheitsfolgen: 4 Wie versuchen Menschen unter schweren Belastungen ihre seelische Gesundheit und soziale Balance zu erhalten oder wiederherzustellen? 4 Wovon hängen Erfolg oder Misserfolg dieser Bemühungen ab?
Es geht also einerseits um die äußere, besonders aber um die innere Realität »Krebs«, um die vielfach bedrohlichen Bilder und die ganz persönlichen, oft zusätzlich krank machenden Vorstellungen von dieser Krankheit – vielleicht als Strafe, als Todesurteil, als Unrecht – begleitet von Leiden, Schmerzen und Abhängigkeit. In diesem Sinne spricht die selbst betroffene amerikanische Schriftstellerin Susan Sontag (1978) von Krebs als Metapher – als Sinnbild für die genannten Vorstellungen – und schreibt dazu: »… dass die ehrlichste Weise, sich mit ihr [der Metapher] auseinanderzusetzen – und die gesündeste Weise, krank zu sein, darin besteht, sich soweit wie möglich vom metaphorischen Denken zu lösen, ihm größtmöglichen Widerstand entgegenzusetzen.«
Damit grenzt sich Susan Sontag von Vorstellungen ab, die Krankheitsursachen im Zusammenhang mit psychischen Befindlichkeiten sehen. Diese Ansichten basieren im Fall einer Krebserkrankung darauf, dass ein Patient durch bestimmte Persönlichkeitsmerkmale und Gefühlsunterdrückung seine Erkrankung selbst verschuldet hat. Sontag geht in ihrem Essay vehement gegen solche Auffassungen und Schuldzuweisungen Betroffener gegen sich selbst vor. Sie wendet sich dagegen, Krebs als eine Metapher, ein Bild für das Böse, für aggressive, zerstörerische innere Kräfte aufzufassen.
663 38.3 · Strategien zur Krankheitsverarbeitung (»Coping«)
. Abb. 38.3. Distress-Thermometer. (Aus: Mehnert et al. 2006, mit frdl. Genehmigung)
38
664
Kapitel 38 · Inhalte und Aufgaben der Psychoonkologie
Definition
> Praxistipps
»Coping« lässt sich definieren als ein Problemlösungsprozess, der auf Belastungsverminderung abzielt: 4 durch Umdeutung der äußeren bedrohlichen Situation, 4 durch Änderung der inneren Einstellung zu der Bedrohung, 4 durch Eingehen von Kompromissen, um größtmögliche emotionale Stabilität wiederzugewinnen.
Um in der Lage zu sein, einem unter Belastung stehenden kranken Menschen beizustehen, brauchen wir somit Informationen über seine Verhaltensweisen, seine Fähigkeiten im Umgang mit anderen und sein soziales Netz, das im Krankheitsfall mitmenschliche und materielle Unterstützung leisten kann.
38.3.3 Für Pflegende stellt sich oftmals die Frage, welcher Bewältigungsstil für Patienten förderlich ist: Immer dann sind Selbstbestimmung und Würde am wenigsten gefährdet, wenn Patienten ein Gleichgewicht herstellen können zwischen eigenverantwortlicher Auseinandersetzung und Abgeben von Verantwortung an andere sowie zwischen Verleugnung und konstruktiver Verarbeitung. Ein Bewältigungsverhalten, das sich auf das weitere Krankheitserleben und die Lebensqualität eher ungünstig auswirkt, wäre ein Wechsel zwischen Depressivität, Verdrängung und Bagatellisierung. Aber auch die weitverbreitete Meinung, dass eine kämpferische Haltung gegenüber der Erkrankung und ihren Folgen zu besseren Überlebenschancen führen, hat sich nicht bewahrheitet.
38.3.2
38
Belastende Lebensereignisse: »Stress«
Lange Zeit wurden Belastungen gleichgesetzt mit Krankheit, d. h. je stärker der Stress, umso schlechter das Befinden. Die Stressforschung verfuhr nach dem Vorbild der mechanischen Materialprüfung, bei der z. B. die Stabilität von Werkstücken unter Spannung (Stress) getestet wird. Übertragen auf den Menschen gilt Stress als Gefährdung eines inneren Gleichgewichts, dem der Organismus allerdings Regulationsmechanismen entgegensetzt. Krankheit wäre dann vielmehr Resultat einer Überforderung der regulativen Kräfte und erst in zweiter Linie Funktion der Belastung; denn diese ist bis zu einem gewissen Grade sogar für die seelische und körperliche Gesundheit erforderlich. Zur Unterscheidung zwischen gesund erhaltender und krank machender Wirkung wurden die Begriffe Eustress und Distress eingeführt. Im Gegensatz zu einem Werkstück kann sich der Mensch also auf Belastungen einstellen, ihnen ausweichen, Widerstand entgegensetzen und sie verändern. Wir wissen, dass Menschen unter vergleichbaren Situationen unterschiedlich reagieren. Diese Verschiedenheit hängt ab von der Art und Weise, Belastungen wahrzunehmen, ihnen begegnen zu können und von den zur Verfügung stehenden Hilfsquellen.
Krebs als Krise
Die Erkrankung an Krebs bedeutet für die meisten Menschen eine existenzielle Erschütterung, die ihr Anpassungsvermögen zumindest kurzfristig übersteigt und eine krisenhafte Entwicklung einleitet. Im Gegensatz zu biographisch vorauszusehenden, entwicklungsbedingten Krisen (z. B. die Pubertät, Beginn der Berufstätigkeit etc.) sprechen wir hier von einer traumatischen Krise als einer Ausnahmesituation mit folgenden Charakteristika: 4 Das Ereignis trifft meist unerwartet einen unzureichend vorbereiteten Menschen. 4 Die körperliche, seelische und soziale Existenz erscheinen in Gefahr. 4 Über den Fortgang besteht Ungewissheit, da verlässliche Orientierungshilfen und Vorerfahrungen fehlen. 4 Bewährte Methoden der Konfliktlösung greifen nicht. 4 Die Grenzen des individuellen Anpassungsvermögens sind erreicht oder überschritten. 4 Der Handlungsspielraum ist gering. 4 Fluchtmöglichkeiten sind eingeschränkt. Selbst wenn Tumorerkrankungen typische Auslöser von traumatischen Krisen darstellen, ist das Erleben doch stark gefärbt von persönlichen Vorerfahrungen, von der Stellung des Betroffenen im Lebenszyklus und von möglichen entwicklungsbedingten Lebensveränderungskrisen. Die Sicht auf den Patienten darf also nicht nur auf seine Krankheit reduziert werden. Neben sozialen und lebensgeschichtlichen Charakteristika besitzt jeder Mensch Persönlichkeitsanteile, die aufgrund früherer Erfahrungen mehr oder weniger brüchig sind, wo Aufgaben der psychologischen Entwicklung unvollständig gelöst sind. Daraus resultieren Stärken oder Schwächen, die in einer aktuellen Krisenlage richtungsweisend sein können und die das Handeln steuern im Sinne einer produktiven Weiterentwicklung, aber auch eines unschlüssigen Verharrens oder eines Rückgriffs (»Regression«) auf kindliche Verhaltensweisen. ! Der komplexe Hintergrund, gebildet durch die Art der Erkrankung, die soziale und persönliche Situation und die jeweils speziellen Lebenserfahrungen, stellt bei Krebspatienten die Basis für das Erleben der Folgeprobleme durch die Behandlungsmaßnahmen und den Krankheitsverlauf dar.
665 38.3 · Strategien zur Krankheitsverarbeitung (»Coping«)
38.3.4
Phasen und Formen der Bewältigung
Trotz aller individuellen Unterschiede hat sich eine immer wieder zu beobachtende Abfolge von Gefühlszuständen und Reaktionsweisen herauskristallisiert, die als Schritte (Phasen) auf dem Weg zur Bewältigung gelten können.
Allgemeiner Krisenverlauf nach Cullberg Vielen Phasenmodellen liegt ein 4-Stadien-Modell zugrunde, in das der skandinavische Krisenforscher J. Cullberg den Krisenverlauf allgemein eingeteilt hat (. Übersicht).
4-Stadien-Modell von Johan Cullberg 5 5 5 5
Phase 1: Schockphase Phase 2: Reaktionsphase Phase 3: Bearbeitungsphase Phase 4: Phase der Neuorientierung
Schockphase. Die initiale Schockphase stellt einen Ausnahmezustand dar, in dem die Wirklichkeit kaum wahrgenommen werden kann. In dieser Zeit besteht eine eingeschränkte Merkfähigkeit, woran besonders zu denken ist, wenn wichtige Informationen vermittelt werden sollen (7 Kap. 37). Es kann nicht damit gerechnet werden, dass die Patienten sich an solche Mitteilungen später korrekt erinnern. Es hat sich deshalb als nützlich erwiesen, in Situationen, deren Bedrohlichkeit vorhersehbar ist, einen dem Patienten vertrauten Menschen zu Gesprächen hinzuzuziehen – oder sich auf wiederholte Erklärungen einzustellen. Reaktionsphase. Die besonders schmerzhaft erlebte Re-
aktionsphase folgt auf die schließlich unvermeidbare Konfrontation mit der Realität und spiegelt die damit verbundenen Gefühle wider.
Bearbeitungsphase. Der Übergang zur dritten, der Bearbeitungsphase, ist sehr anfällig für Verzögerungen auf dem Weg zum inneren Gleichgewicht. Wenn Abschied und Trauer über den eingetretenen oder erwarteten Verlust nicht möglich erscheinen, z. B. aus unüberwindbaren Verletzungen und Kränkungen oder weiterreichenden nicht verwundenen Verlusten, kann es zu einer depressiven Erstarrung kommen, die nicht selten eine psychotherapeutische Unterstützung erfordert. Neuorientierung. Das Ziel des inneren Prozesses, trauernd Abschied zu nehmen, besteht darin, eine Neuorientierung mit veränderten Sinnfindungen und neuen Zielvorstellungen zu ermöglichen, was auch angesichts lebensbedrohlicher Erkrankungen nicht ausgeschlossen ist. Falls Bearbeitung und Neuorientierung aber nicht gelingen, kann sich die Krise bis hin zu depressiven Entwicklungen steigern. Während bei akuten, einmaligen Krisen eine Überwindung des Traumas oder sogar eine produktive Neuorientierung möglich erscheinen, muss bei Tumorpatienten mit größeren Schwierigkeiten gerechnet werden. Insbesondere dann, wenn keine Heilungschancen bestehen, sind chronische Verläufe vorauszusehen. Selbst »geheilte« Patienten leben unter dem Stigma »Krebs« anhaltend in einem Zustand gesteigerter Verwundbarkeit. Sie haben das Urvertrauen in ihren Körper verloren und kämpfen mit immer wieder aufflackernden Krankheitsängsten. Die Merkmale von »krebstypischen« Krisen und darauf abgestimmten Interventionsmöglichkeiten sind in . Tab. 38.1 und 38.2 zusammengestellt. Vereinfacht gesehen begegnen uns 2 Typen von Krisenverläufen, die im Folgenden skizziert werden. Typ 1. Viele traumatische Krisen zeichnen sich aus durch ein offenes Reaktionsmuster mit Erregungszuständen, Verwirrtheit, Angstattacken und hysterisch anmutenden oder aggressiven Durchbrüchen. Verläufe dieser Art sind zwar im Augenblick Aufsehen erregend und auch beunru-
. Tab. 38.1. Krisenmerkmale
Allgemein
Krebstypisch
Chronifizierung
Unerwartetes, traumatisches Ereignis
Abfolge von traumatischen Ereignissen
Fortbestehen der Belastung
Gefahr für soziale, physische und psychische Existenz
Latente Angst vor Rezidiven
Ungünstiges Coping (Verleugnung, Selbstvorwürfe, Zurückweisung von Verantwortung, Depressivität)
Keine bewährten Verhaltensweisen verfügbar
Kontrollverlust, keine völlige Wiederherstellung
Sekundärer Krankheitsgewinn
Konfrontation unausweichlich
Metapher »Krebs« (7 38.3.1)
38
666
Kapitel 38 · Inhalte und Aufgaben der Psychoonkologie
. Tab. 38.2. Interventionsebenen während des Krisenverlaufs
Phase
Seelisch
Sozial
Körperlich
1
Schock
4 Katharsis (Reinigung, Neuorientierung)
4 Gegenwart eines Betreuers
4 Kurzfristige Medikation
2
Reaktion
4 »Dosierte Konfrontation« 4 Eigenaktivität fördern 4 informieren
4 Soziale Beziehungen stärken: zu Familie, Freunden, Betreuern 4 Selbsthilfe
4 Funktionelle Entspannung (nach Jacobson)
3
Bearbeitung
4 4 4 4
4 Sozialberatung 4 Familienberatung
4 Anschlussheilbehandlung 4 Rehabilitation
4
Neuorientierung
4 Gesprächskontakt halten 4 ggf. Psychotherapie
4 Berufliche Rehabilitation
4 Medizinische Nachsorge 4 Nachbetreuung
Reflexion der Krisenreaktion Trauer über Verluste Begleiten verbliebene und neue Befriedigungsmöglichkeiten herausarbeiten
higend, schaffen langfristig jedoch bessere Voraussetzungen für eine Konfliktbearbeitung. Diese offensiven, dramatisch anmutenden Ausbrüche führen zu einer inneren Entlastung, einer Katharsis (»Reinigung«). Indem auf diese Weise Krankheit und Krankheitsfolgen in den weiteren Lebensentwurf integriert werden können, entstehen bessere Voraussetzungen für eine Neuorientierung (einbeziehender oder integrierender Bewältigungsstil). Typ 2. Die »stumme« oder »stille« Krise entwickelt sich
demgegenüber meist von anderen unbemerkt. Der Patient erscheint teilnahmslos, depressiv, gelähmt; vielleicht äußert er verdeckt Suizidgedanken. Von dem inneren Aufruhr dringt nichts nach außen, im Gegenteil: Es herrscht eine katatonieähnliche Starre, die als Versuch zu verstehen ist, sich selber von der Katastrophe »Krebs« abzuschotten.
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Chronische Krise. Im Fall der stummen Krise mit isolie-
rendem oder ausgrenzendem Bewältigungsstil droht eine chronische Entwicklung, v. a. wenn die auslösende Belastung fortbesteht und ein hoher »sekundärer Krankheitsgewinn« dazukommt. So erlangen manche Patienten durch die Krankenrolle unangemessene, die Abhängigkeit eher verstärkende Entlastung von Verpflichtungen oder greifen zu letztlich selbstschädigenden Kompensationsversuchen mit Medikamenten, Drogen, Alkohol etc. Patienten in einer chronischen Krise sind in Gefahr, sich aufzugeben und abzukapseln. Sie sind oft voller Verbitterung und unausgesprochener Vergeltungsgefühle. Komplizierend kommen funktionelle körperliche Störungen hinzu wie Kreislaufbeschwerden, Appetit- und Schlaflosigkeit, Schmerzen oder große Schmerzempfindlichkeit und hypochondrische Symptome.
Patienten in einer chronischen Krise stellen auch hohe Anforderungen an die Behandelnden und Pflegenden. Neben der objektiven Schwierigkeit im Umgang provozieren sie Ärger und Ablehnung bei Betreuern und Angehörigen – Gefühle, die sich diese meist nicht eingestehen mögen, die aber dennoch ein schlechtes Gewissen verursachen.
Phasenmodell nach Kübler-Ross Auf der Basis des Cullberg-Krisenmodells sind verschiedene weitere Phasenschemata entstanden, um den Verlauf der Auseinandersetzung mit seelischen Erschütterungen anhand beobachtbarer psychischer Phänomene zu beschreiben. Elisabeth Kübler-Ross (2009) bezieht sich in ihrem Phasenmodell auf seelische Prozesse, die das krankheitsbedingte Geschehen begleiten und die als psychische Bewältigungs- und Reaktionsformen verstanden werden können. Die zeitliche Reihenfolge stellt allerdings mehr eine Aufzählung regelmäßig beobachtbarer Phänomene dar. Keinesfalls sind damit gesetzmäßig sich ablösende Entwicklungsschritte gemeint.
Phasen nach Kübler–Ross 5 5 5 5 5
Phase 1: Nicht-wahrhaben-Wollen und Isolierung Phase 2: Zorn Phase 3: Verhandeln Phase 4: Depression Phase 5: Zustimmung
Nicht-wahrhaben-Wollen und Isolierung
Die Phase der Verleugnung oder, nach Kübler-Ross, des Nicht-wahrhaben-Wollens und der Isolierung erlaubt es,
667 38.3 · Strategien zur Krankheitsverarbeitung (»Coping«)
die Wirklichkeit vom Bewusstsein fernzuhalten, bis der Patient im Zuge der Behandlung oder im Gespräch mit anderen sich zu einer langsamen Konfrontation mit der Realität bereit findet. Im Übergang wird nahezu regelmäßig ein Zustand zwischen Wissen und Nichtwissen (»middle knowledge«) beobachtet, als Zeichen für das Bedürfnis nach innerem und äußerem Interpretationsspielraum. Was bedeutet die Verleugnung für den weiteren Behandlungsverlauf? Der strikt verleugnende Patient wird
viel Zeit verstreichen lassen, bis er die krebsverdächtigen Symptome zur Kenntnis nimmt und abklären lässt, wodurch er eine wirksame Früherkennung verhindert. Im Hinblick auf die klinisch-onkologischen Erfordernisse ist mit selbstschädigendem Verhalten durch Therapieabbrüche oder Ablehnung von Behandlungsangeboten zu rechnen. Entgegen weitverbreiteten Annahmen verweigern solche Patienten auch die sog. alternativen Therapiemethoden. Nachsorgeuntersuchungen werden nicht wahrgenommen und fallen ebenfalls der Verleugnung zum Opfer. Ein Verleugnen wirkt sich umso negativer aus, je mehr die aktive Mitarbeit des Patienten gefragt ist. In der passiv erlittenen Schocksituation der Diagnosemitteilung hat sie dagegen eine wichtige Schutzfunktion. Wie sollen Pflegende und Ärzte mit der Verleugnung umgehen? Die Versuchung, die anfängliche, auf Stabilisie-
rung ausgerichtete Verleugnung aufrechtzuerhalten, ist auch für die Betreuer sehr groß. Bietet doch der Patient eine Möglichkeit an, die für alle Beteiligten belastende Krankheitsproblematik »zu vergessen«. Da jedoch zu erwarten ist, dass der Patient die Verleugnung nicht lange aufrechterhalten wird und um einer späteren Enttäuschung über die »Unaufrichtigkeit« der Behandelnden und Pflegenden vorzubeugen, sollten diese um eine weitgehende Neutralität bemüht sein, die ihnen zwar erlaubt, illusionären Gedankenflügen der Patienten zu folgen, die sie aber nicht die Realität aus den Augen verlieren lässt. ! Der Patient kann die Verleugnung nur dann lockern, wenn er spürt, dass die Betreuer bereit sind, auch über belastende Themen wie Behinderungen, Abhängigkeit und Sterben zu sprechen; d. h. der Patient kann im Schutz einer vertrauensvollen Beziehung von sich aus auf den Schutz der Verleugnung verzichten. Zu vermeiden ist auf jeden Fall, die Abwehr des Patienten durch wiederholte, forcierte Aufklärungsaktionen zu durchbrechen!
Zorn
Wenn die Verleugnung brüchig geworden ist, setzen oft massive Aggressionen, Schuldzuschreibungen und Neid-
gefühle ein, die E. Kübler-Ross unter dem Begriff »Zorn« zusammenfasst. Ein literarisches Dokument dieser Entwicklungsstufe ist von dem Autor Fritz Zorn bekannt, der diesen Affekt zu seinem Pseudonym gewählt hat und der dieses Gefühl durch den Buchtitel »Mars« (Zorn 1977) in die nächste Potenz erhob. Wut und Zorn finden v. a. in 2 Formen Ausdruck: 4 in offener Weise durch aggressives Verhalten gegen alles und jeden oder 4 verdeckt in einer mehr untergründigen Feindseligkeit. Dahinter steht die Angst, von persönlich wichtigen Menschen verlassen zu werden, die möglicherweise gleichzeitig auf die Probe gestellt werden, und die Angst vor der inneren zerstörerischen Kraft, vergegenständlicht im Krebs. Dieses Dilemma, »gleichzeitig Angst und Aggression zu spüren«, kann sich gleichsam als Kompromiss, in Form von Euthanasiewünschen äußern. In der Phase des Zorns besteht die Gefahr, dass sich das Behandlungs- und Pflegeteam verärgert zurückzieht, den Patienten für undankbar hält und womöglich sogar mit verdeckten, unbewussten Racheaktionen antwortet. Beim Umgang mit solchen Patienten ist zu bedenken, dass es sich um eine Reaktionsweise handelt, die aus dem persönlichen Erleben der Krankheit zu verstehen ist. > Praxistipps Dann wird das Missverständnis weniger leicht aufkommen, dass der Zorn gegen Behandelnde und Pflegende persönlich gerichtet sei, die sich stattdessen eher als »Klagemauer« verstehen können und dadurch dem Patienten ermöglichen, Wut und Neid, z. B. auf die Gesunden, zu äußern.
Verhandlung
Obwohl der Patient sich nun der Schwere seines Leidens und dessen Unheilbarkeit bewusst ist, versucht er dennoch, Aufschub zu erlangen, er will verhandeln. Wenn er dieses oder jenes Opfer brächte, vielleicht würde ihn dann das Schicksal noch ein wenig verschonen. Solche Opfer zeigen sich oft in der Hinwendung zu »alternativen« Behandlungsmethoden, für die Patienten bereit sind, große finanzielle Summen aufzuwenden und Verzichtleistungen zu erbringen. Depression
Depressive Symptome finden sich im gesamten Verlauf von Krebserkrankungen, und sie sind gleichzeitig der Hintergrund des Verlusterlebens generell. Die Verdichtung auf eine Phase der Krankheitsauseinandersetzung durch E. Kübler-Ross entspricht am ehesten einer gewissen Akzentsetzung. Die Depression des Krebskranken speist sich aus mehreren Quellen:
38
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Kapitel 38 · Inhalte und Aufgaben der Psychoonkologie
4 Viele Erkrankte zweifeln an ihrem persönlichen Wert durch eine reale oder phantasierte Einbuße an körperlicher Attraktivität, an Selbstständigkeit oder durch den Verlust ihrer sozialen Position. 4 Gedanken werden lebendig an Versäumnisse der Vergangenheit. 4 Trauer kommt auf über das so empfundene »ungelebte Leben«, oder es werden schmerzhaft erlebte Verluste aus der Vergangenheit erneut spürbar. Von einem depressiven Erleben geprägt ist auch die vorweggenommene Trauer in Erwartung eines drohenden Verlustes: Der Patient nimmt Abschied von seinen Vorlieben, von seinen Sehnsüchten, von Menschen, die für ihn wichtig sind. Vor die Frage gestellt, weiter zu kämpfen oder zu resignieren, neigen Patienten an dieser Stelle oft zum Aufgeben. > Praxistipps Die Pflegenden – und die Ärzte – sollten hier ihrem Bedürfnis widerstehen, durch übertriebene Aktivität die eigene Hilflosigkeit angesichts eines sich vollziehenden Patientenschicksals bekämpfen zu wollen.
Zustimmung
In dieser Phase haben Patienten ihre Situation akzeptiert und wissen allmählich, auch mit Hilfe und Unterstützung ihrer Angehörigen, mit ihrer Erkrankung und deren Folgen umzugehen.
38
! Der unbestreitbare Wert der Beschreibung dieser seelischen Erscheinungen durch E. Kübler-Ross liegt in der Verstehenshilfe für die seelische Not der Krebspatienten, die sich in vielfältiger Weise ausdrücken kann. Die Pflegenden werden durch diese Phasenbeschreibung sensibilisiert, die oft verwirrenden Gefühlszustände der Patienten richtig einzuordnen und zu interpretieren. Eine feste, regelhafte Abfolge von Entwicklungsschritten, gibt es jedoch nicht. Der Versuch, Patienten in eine solche Abfolge zu drängen, wäre wenig hilfreich.
38.3.5
Zusammenfassung der grundlegenden Bewältigungseinstellungen
Obwohl gerade im onkologischen Krankheitsgeschehen eine Vielzahl verschiedener Belastungsfaktoren wirken und sich unterschiedliche Anpassungsanforderungen an den Patienten stellen, lassen sich dennoch einige übergeordnete Prinzipien aufzeigen. Allgemein gesehen ist im Zusammenhang mit einem lebensbedrohlichen Ereignis zweierlei zu gewährleisten:
4 die Sicherung der persönlichen Existenz, 4 die Aufrechterhaltung eines inneren, seelischen Gleichgewichts. Definition Inneres Gleichgewicht Unter einem inneren Gleichgewicht wird die relative Stabilität von Selbstwert, Selbstständigkeit, Autonomie und Sicherheitsgefühl auch in bedrohlichen Situationen verstanden.
Hinsichtlich des inneren Gleichgewichts sind verschiedene Haltungen denkbar: Kontaktvermeidung, Bagatellisierung, ein Sich-Ablenken oder Vermeiden von bedrohlichen Beobachtungen und Assoziationen bis hin zu einem hilflosen Versinken in Ängsten oder depressiv gefärbten Erwartungen des Unausweichlichen. Dem steht eine Auseinandersetzung mit dem Geschehen durch aktive Informations- und Kontaktsuche, gedankliches »Probehandeln« und ggf. eine Neubewertung der Situation gegenüber. Nur dadurch wird eine rationale Entscheidung und Einschätzung ermöglicht, inwieweit sich die problematische Lage verändern lässt, welche Handlungskonsequenzen sich aus der veränderten Situation ergeben, wie und woher Hilfe zu erlangen ist (einbeziehend-integrierender gegenüber ausgrenzend-isolierender Bewältigungsstil). Die klinische Erfahrung bei der Betreuung krebskranker Menschen hat gezeigt, dass immer dann, wenn Menschen zu flexiblem Einsatz sowohl von Verleugnung als auch zu couragiertem Zugehen auf andere fähig sind, wenn eine Balance zwischen situationsangemessener partieller Übertragung von Verantwortung auf andere und selbstständiger, aktiver Auseinandersetzung gefunden ist, die Kooperationsfähigkeit und Entscheidungsfreiheit des Patienten insgesamt erhalten und Autonomie und Würde, selbst beim Pflegebedürftigen, gewahrt bleiben können. Ungünstige und den weiteren Krankheitsverlauf eher belastende Reaktionsweisen sind z. B. das nicht selten zu beobachtende Schwanken zwischen Depressivität, Verzicht und Zurückweisung von Verantwortung einerseits und »Größenphantasien« andererseits bei überzogenem Selbstständigkeitsideal. Dieses Verhalten wird auf der Handlungsebene begleitet von appellativen, gelegentlich sogar als erpresserisch empfundenen Aktionen, die nicht selten in selbstschädigende Kreisläufe einmünden. Übertriebener Aktivismus bedeutet nicht nur deshalb, weil gehandelt wird, ein »besseres« Coping. Auch Handeln kann in den Dienst der Verleugnung treten. Die Formen des Umgangs mit der Erkrankung sind im individuell sehr unterschiedlich, je nach Eigenarten des Verlaufs, nach therapeutischer Beeinflussbarkeit, nach Schwere der Symptomatik und leib-seelischer Beeinträchtigung. Ein und dasselbe Verhalten kann je nach Situation anpassungsförderlich oder -hinderlich sein.
669 38.4 · Psychosoziale Bedeutung von Krebsdiagnose und Behandlung
! Letztlich bleibt die Frage noch weitgehend unbeantwortet, welche Bewältigungseinstellungen und welche konkreten Verhaltensweisen anpassungsförderlich sind und möglicherweise auch mit einem besseren medizinischen Krankheitsverlauf einhergehen. Niemand kann sagen, was in diesem Sinne aus wissenschaftlicher Perspektive »richtig« ist (7 38.3.1).
38.4
Psychosoziale Bedeutung von Krebsdiagnose und Behandlung
Neben den beschriebenen regelmäßig anzutreffenden Reaktionen auf die Krebsdiagnose und das, was daraus folgt, trägt jede Krankengeschichte persönlich geprägte Besonderheiten, die sich die Betreuenden verdeutlichen und auf die sie sich einstellen müssen. Dies betrifft die unterschiedlichen Krankheitsphasen, aber auch die Akzeptanz und Verträglichkeit der erforderlichen Therapiemaßnahmen sowie die Beeinträchtigungen und Behinderungen durch die erkrankten Organsysteme und die ganz persönliche Bedeutung für den Kranken.
38.4.1
Seelische Krebsrisiken
Bevor auf die Verlaufseigentümlichkeiten im Krankheitsgeschehen eingegangen wird, soll eine verbreitete, allerdings durch wissenschaftliche Daten nicht untermauerte Ansicht diskutiert werden, die davon ausgeht, dass es Persönlichkeitsstrukturen, Lebensereignisse und psychosoziale Einstellungen gibt, die von vornherein das Krankheitsrisiko für Krebs erhöhen – analog zur Annahme, dass der gelungenen bzw. misslungenen Bewältigung von Krisen im Leben ein besonderer Stellenwert in der Verursachung von körperlichen Erkrankungen zukommt. Dabei schien sich ein spezielles, in der Persönlichkeit verankertes Verhaltensmuster in Reaktion insbesondere auf Verlusterfahrungen herauszukristallisieren, das mit dem Etikett »Krebspersönlichkeit« versehen wurde. Den Personen, die vor diesem Hintergrund für Krebserkrankungen disponiert sein sollen, werden verschiedene Eigenschaften zugeschrieben: Schon bei geringen Belastungen reagierten sie mit Vermeidenshaltung, Verleugnung und Verdrängung; sie seien unfähig, Ärger und Wut auszudrücken; nach dem Verlust nahe stehender Personen verharrten sie lange Zeit in Hoffnungslosigkeit und passiv akzeptierender Haltung, sie seien autoritätsgläubig, wenig flexibel und in unkritischer Weise religiös. Die zwischenmenschlichen Beziehungen werden als flach und instabil beschrieben, Erotik und Sexualität seien gehemmt, dem eigenen Körper werde insgesamt wenig Beachtung geschenkt.
Forschungsergebnisse zeigen aber, dass es sich bei den genannten Eigenschaften um die Folgen einer Tumorerkrankung und nicht um Ursachenfaktoren handelt. ! Ein Zusammenhang zwischen Persönlichkeit und Krebs, also eine psychosoziale Verursachung von Tumorerkrankungen, kann heute aufgrund der Ergebnisse vieler Studien als unwahrscheinlich gelten.
Obwohl individuelle Merkmale der Persönlichkeit bzw. der Stressbewältigung nicht als ursächliche Faktoren für Krebserkrankungen gelten können, ist diese Ansicht in der Öffentlichkeit, bei Erkrankten und auch bei professionellen Berufsgruppen immer noch verbreitet. Viele Gesunde können sich mit dieser Ursachenzuschreibung besser von den Erkrankten abgrenzen. Schließlich treibt auch sie die Angst, eines Tages zu erkranken, und so hat es vielleicht auch eine Schutzfunktion, wenn jeder für sein Schicksal, also auch für die Erkrankung an Krebs, selbst verantwortlich gemacht wird. Gedanken wie »Ich habe immer gewusst, dass X an Krebs erkranken würde, weil sie/er immer alles in sich hinein gefressen hat, so gehemmt und konfliktscheu war, den Verlust des Partners nicht gut verarbeitet hat …« sind Ausdruck einer solchen Haltung. Auch bei Betroffenen können solche Überlegungen im Bewältigungskontext eine Rolle spielen: Sie stellen sich die Frage nach den Ursachen ihrer Erkrankung, und der Rückgriff auf psychische Faktoren kann hier eine plausible und einfache Erklärung darstellen. Obwohl diese Begründung für die Betroffenen auf den ersten Blick negativ erscheint, so ist diese doch möglicherweise besser auszuhalten als gar keine Antwort auf die Frage: »Warum gerade ich?« Nicht selten erklären sich Patienten ihre Erkrankung durch seelische Erschütterungen; der Begriff »Kummerkrebs« scheint recht gebräuchlich zu sein. Solche Erklärungsversuche gehören in einen Coping-Zusammenhang und sind auf jeden Fall ernst zu nehmen, ohne die Patientensicht unbedingt selbst teilen zu müssen. Die Bedeutung dieser persönlichen Ursachenzuschreibung weist auf ein Problem hin, das den Patienten sehr stark belastet, so stark, dass er es mit einer lebensbedrohlichen Krankheit in Zusammenhang bringt. Die unkritische Verbreitung der Theorie einer »Krebspersönlichkeit« bringt für die Betroffenen eher zusätzliche Belastungen und eine Behinderung der Krankheitsbewältigung mit sich: Dadurch werden den Krebskranken zu ihrem körperlichen Leiden auch noch psychische Störungen angesonnen. Sie werden gleichsam psychiatrisiert und fühlen sich oft beschuldigt, selber in vermeidbarer Weise zu ihrer Erkrankung beigetragen zu haben.
38
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Kapitel 38 · Inhalte und Aufgaben der Psychoonkologie
! Zu der bedauerlichen Ausgrenzung vieler Krebskranker schon durch ihr bedrohliches Leiden kommt noch eine weitere Isolierung durch solche psychopathologischen Zuschreibungen hinzu, die aktives Umgehen und eine offene Auseinandersetzung mit der Krankheit und den Menschen eher erschweren.
38.4.2
Etappen und Reaktionsweisen im Verlauf des Krankheitsgeschehens
Prädiagnostische Phase
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Einige sehr bedeutsame Phänomene der vordiagnostischen und prätherapeutischen Krankheitsetappe stehen in enger Beziehung zum persönlichen Bewältigungsstil von krisenhaften Entwicklungen. Gemeint sind das Früherkennungsverhalten (»Vorsorge«) und die Verzögerung der Diagnostik nach dem Auftreten krebsverdächtiger Symptome. Krankheitszeichen im Vorfeld vieler Karzinomdiagnosen (Blut im Sputum, Urin oder Stuhl, Verhärtung in der Brustdrüse, tastbare Lymphknoten etc.) sind in hohem Grade alarmierend und lösen Krisensituationen aus, deren Bewältigung von den bereits benannten persönlichen und auch soziokulturellen Gegebenheiten abhängt. Die Bereitschaft, sich Screening- oder Früherkennungsuntersuchungen zu unterziehen und ohne Verzögerung die Diagnostik eines verdächtigen Befundes zu betreiben, haben ähnliche Persönlichkeitshintergründe, wobei die soziale Schicht, der Bildungsstand und der Informationsgrad über medizinische Zusammenhänge eine nicht zu unterschätzende zusätzliche Rolle spielen. Ein Teil der Diagnoseverzögerung wird auch von den Ärzten herbeigeführt, die nicht immer die Bedrohlichkeit der Symptomatik sofort erkennen bzw. adäquat abklären. Ausgehend vom Patienten werden die längsten Verzögerungszeiten bei solchen Menschen beobachtet, die die Symptomwahrnehmung in fatalistischer Weise unterdrücken oder verleugnen, und bei solchen, die sich durch Passivität, Negativismus und Ängstlichkeit auszeichnen. Wenig tragfähige soziale Beziehungen, niedrige soziale Schicht und Desinteresse an gesundheitlichen Dingen wirken in dieselbe Richtung – allerdings auch von ärztlicher Seite ein aufklärungsfeindlicher, die Ängstlichkeit eher schürender Umgang mit der Krebsdiagnose. Wir kennen neben einer persönlichkeitsabhängigen, früherkennungswidrigen Coping-Einstellung beim Patienten auch eine Haltung im medizinischen System, die sich durch einen autoritären, die individuellen Krankheitserfahrungen ignorierenden Umgang auszeichnet und die schon im präventiven Bereich eher zur Vermeidung beiträgt als zum Sich-Anvertrauen.
Ein neues Kapitel in der Krebsprävention wurde durch die Entdeckung genetisch (mit-)bestimmter Krebserkrankungen aufgeschlagen. Die weitreichenden Entscheidungen über die genetische Testung bei Häufung von Krebserkrankungen in der Familie, die persönliche Not bei Nachweis einer zur Erkrankung disponierenden Genveränderung, die Abwägung der Konsequenzen hinsichtlich kontinuierlicher Kontrolluntersuchungen und ggf. vorsorglicher operativer Eingriffe erfordern die enge Kooperation der Patienten und ihrer Familien mit Psychoonkologen, Genetikern, Chirurgen und anderen Fachdisziplinen (7 Kap. 4 »Prävention und Früherkennung maligner Tumoren« und 7 Kap. 5 »Tumordiagnostik«).
Diagnostische Phase – Aufklärung des Patienten Diagnostik vollzieht sich durch das Sammeln und Interpretieren von Informationen. Wenngleich sich der Prozess der Diagnosesicherung in der Regel in kleinen Schritten vollzieht, in die der Patient zugleich als Objekt und als Subjekt verwickelt ist und die er mit seinen Phantasien begleitet, wird »Aufklärung« im Vorverständnis vieler als einmaliges Ereignis missverstanden und nicht als kontinuierlicher Prozess gesehen. Die Diagnoseaufklärung steht oft sinnbildlich für das ganze Krebsproblem. Die früher bei Ärzten verbreitete, heute erfreulicherweise immer seltener anzutreffende Tendenz, die Diagnose zu verschweigen, ist zu verstehen als der unterschwellige Wunsch, den Krebs ganz zu verleugnen, durch Verneinung aus der Welt zu schaffen – als ob sich mit dieser Diagnose ein unentrinnbares, sofort vollstrecktes Todesurteil verbände, das man dazu noch verkünden oder verschweigen könne. Zu Vorbehalten gegen die Aufklärung trägt auch die Tatsache bei, dass die Mitteilung der gesicherten Diagnose eine akute Krisensituation heraufbeschwört, mit oft massiven Reaktionen auf Seiten der Patienten, im Sinne der »Schockphase« nach Cullberg oder der »Phase des NichtWahrhaben-Wollens« nach Kübler-Ross. Dass die meisten Patienten dennoch eine klare Mitteilung der Diagnose wünschen, beweisen mittlerweile zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen. Das legt gleichzeitig die Hypothese nahe, dass die Aufklärung mehr ein Problem der Ärzte als eines der Patienten ist. Ohne hier in ganzer Breite auf das Für und Wider der Patienteninformation eingehen zu wollen (7 Kap. 37 »Aufklärung und Information«), seien einige Punkte angesprochen, die deutlich machen, dass die Kontroverse über die Diagnoseaufklärung zwar keineswegs praktisch gelöst, aber doch faktisch entschieden ist. Abgesehen von dem Wunsch der meisten Patienten nach ausreichender Information, dem gemäß eines Selbstbestimmungsrechts der Menschen schon aus ethischer
671 38.4 · Psychosoziale Bedeutung von Krebsdiagnose und Behandlung
Sicht Rechnung zu tragen ist, setzt die rechtswirksame Einwilligung in krebsspezifische Therapieformen eine umfassende Informiertheit voraus. Möglichkeiten der Rehabilitation und sozialrechtliche Unterstützungsangebote kann nur der informierte Patient in Anspruch nehmen. Da sich eine Krebsdiagnose heute kaum mehr vor den Betroffenen verheimlichen lässt, geht es im Prinzip nicht mehr um ein Ja oder Nein zur Aufklärung, sondern vielmehr um das Wie: > Praxistipps Es muss eine Form der Aufklärung gefunden werden, die das Vermögen des Patienten, seine Krankheit zu bewältigen, unterstützt. Dazu trägt v. a. das Angebot einer Vertrauen stiftenden Beziehung zu Arzt und Pflegenden – bzw. zum Behandlungsteam – bei.
Durch ein kompetentes, stabiles Umfeld wird der weiteren Aushöhlung des ohnehin stark belasteten Selbstbewusstseins und Sicherheitsgefühls des Erkrankten und seiner Angehörigen entgegengewirkt, und es entstehen Voraussetzungen für eine durch äußere Querelen, Misstrauen und Heimlichkeiten ungestörte Auseinandersetzung mit der neuen Situation. ! Es versteht sich somit von selbst, dass die Information von Angehörigen hinter dem Rücken der Patienten abzulehnen ist. Die inneren Prozesse der Krankheitsbewältigung werden nachhaltig unterstützt durch ein soziales Umfeld, das vorübergehend und in flexibler Weise die verloren gegangenen Kompetenzen des Patienten übernehmen kann, ohne ihn zu infantilisieren und seiner Selbstbestimmung zu enteignen.
Dieser im Sinne des Patienten verantwortliche Umgang ist v. a. bei extremen Bewältigungseinstellungen gefragt. Ganz allgemein können wir zwischen 2 entgegengesetzten Reaktionsstilen unterscheiden: 4 aktive Grundhaltung mit kämpferischer Konfrontation, 4 defensives Zurückweichen in Hoffnungslosigkeit und Verleugnung (7 Kap. 38.3.4). Bezogen auf die Diagnoseaufklärung begegnen uns als Extremform dieser beiden Reaktionsstile radikal Information fordernde oder Information vermeidende Menschen. Obwohl wir davon ausgehen können, dass die meisten Menschen über ihre Krankheit informiert sein wollen und dass diese Information im Gespräch zwischen Arzt und Patient vermittelt wird, so begegnen wir durchaus auch Patienten, die den Eindruck erwecken, nichts wissen zu wollen, und die konsequenterweise auch keine direkten Fragen stellen. Dieses Verhalten stellt eine Abwehr im Sinne der Verleugnung oder Vermeidung dar, mit dessen
Hilfe gefürchtete Wirklichkeitsbestandteile vom Bewusstsein ausgeschlossen oder in der Phantasie umgestaltet werden. Eine solche innere Abwehr gegen die Wirklichkeit stellt einen seelischen Schutz dar, um Zeit zu gewinnen und um sich langsam der Konfrontation mit einer schmerzlichen Realität zu nähern. Meistens ist diese Verleugnung, die im Grunde ein latentes, furchtbesetztes Wissen voraussetzt, nicht in allen Situationen durchgängig und auch nicht allen Personen gegenüber gleich. Vielfach sind Patienten erst dann in der Lage, die Realität ihrer Krankheit zur Kenntnis zu nehmen, wenn sie sich versichert haben, dass eine tragfähige persönliche Beziehung trotz der Erkrankung bestehen bleibt. In den seltenen Fällen, in denen Patienten auf einem hartnäckigen »Nicht-wissen-Wollen« bestehen, sollten die Betreuer ihre Bemühungen um einen guten Gesprächskontakt dennoch nicht aufgeben. Solche Patienten fühlen ihr oft starkes Unabhängigkeits- oder Autonomiestreben durch die Krankheit gefährdet, und die Verleugnung hat etwas von einer trotzigen Selbstbehauptung an sich, der wir keine Gegengewalt entgegensetzen sollten. ! Oft sind es aber nicht nur Eigenschaften der Patienten, die keine Fragen aufkommen lassen. Die im Falle einer Krebsdiagnose immer bereitstehende Verleugnungsneigung wird mitunter gern vom Betreuungsteam aufgegriffen und dient als Begründung für eine zurückhaltende Informationsstrategie.
Bei den aktiv erscheinenden Patienten, die Fragen stellen und dadurch anbieten, in ein Gespräch einzutreten, fühlen sich alle Beteiligten erst einmal wohler und haben weniger Schwierigkeiten, auch unangenehme Mitteilungen zu machen. Gleichwohl besteht hier eine Gefahr – die der Überinformation. Patienten suggerieren durch ihr auf den Arzt zugehendes Verhalten eine stabile psychische Verfassung, sodass ihnen oft zuviel zugemutet wird. Dabei wird jedoch die Tatsache verkannt, dass diese Aggressivität eine Art Vorwärtsverteidigung darstellt, die nicht etwa psychische Stabilität, sondern eher große Ängstlichkeit bedeutet. Eigentlich erwartet der Patient eine gute Nachricht und wehrt die Angst vor der Krebsdiagnose durch forsches Verhalten ab. Nach der Mitteilung der letztlich dann doch ungünstigen Information bricht er nicht selten zusammen und gerät in eine umso tiefere psychische Krise. Im Normalfall finden wir bei jedem Menschen beide Tendenzen in wechselnder Ausprägung. Zur Unterstützung einer aktiven, selbstverantwortlichen, »integrativen« Auseinandersetzung mit der Krebsdiagnose hat es sich als nützlich erwiesen, die Seite der Autonomie und Selbstbestimmung zu stärken, die auf Informiert-Sein angewiesen ist.
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Kapitel 38 · Inhalte und Aufgaben der Psychoonkologie
! Die (innere) Haltung der ärztlichen und pflegerischen Betreuer dient dem Patienten als Modell. Wenn das Betreuungsteam selber auf der Seite der Verleugnung steht, bedeutet das für den Patienten, dass die Wahrheit, die er sehr wohl ahnt, so schlimm sein muss, dass keiner sie aussprechen darf und dass seine finstersten Phantasien wohl zutreffen.
Primärtherapie Mit der Behandlung der Krebserkrankung sind für den Patienten zum Teil massive Eingriffe in seine körperliche Integrität verbunden. Jedoch tolerieren viele Menschen unter dem Eindruck einer Krebsdiagnose selbst Organverluste mit schweren Beeinträchtigungen und Folgen als Preis für ihr Überleben (7 38.3.3). Trotz allem gilt es, den lähmenden Schock soweit zu überwinden, dass eine zukunftsorientierte, rehabilitationsförderliche Einstellung entsteht, was einige Zeit in Anspruch nehmen kann, v. a. wenn eine lange und belastende Behandlung erforderlich ist. Nicht immer reicht die vom Gesetzgeber vorgegebene Zeit der Krankengeldzahlung aus, und die Berentung leistet einem passiven Rückzug Vorschub, anstatt die Rehabilitation zu fördern. ! Psychische Störungen, insbesondere Depressivität, Angstzustände und funktionelle Organstörungen, sind in den ersten 2 Jahren nach der Krebserkrankung und der damit verbundenen Therapie gegenüber der Allgemeinbevölkerung deutlich vermehrt. Die Häufigkeit gleicht sich allerdings später dem Bevölkerungsdurchschnitt wieder an.
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Eine erhöhte Anfälligkeit, auf Belastungen mit seelischer Dekompensation zu reagieren, bleibt jedoch erhalten, insbesondere nach neuerlichen, auch nicht mit der Erkrankung in Zusammenhang stehenden Traumatisierungen. Wenn am Ende einer belastenden Therapie die berechtigte Hoffnung auf Heilung besteht, sind – individuelle Unterschiede hier außer Acht gelassen – die Aussichten auf eine Rehabilitation und psychosoziale Integration günstig, besonders dann, wenn es dem Patienten gelingt, die anfänglich eher mechanisch gegebene Zustimmung zur Therapie innerlich nachzuvollziehen, die Krebserkrankung mit ihren Folgen als gegeben hinzunehmen und einen Neubeginn zu versuchen (7 Kap. 12 »Rehabilitation«).
Stadium der Nachsorge Das Ende der Therapie wird vielfach sehnlichst erwartet, mit dem Gefühl, dann das Schlimmste überstanden zu haben. Der Begriff »Nachsorge« vermittelt den Eindruck, jetzt sei alles durchgestanden. Fast immer gerät der Patient aber stattdessen in eine neue innere Notlage. Auch in Fällen ohne sichtbare Behinderung wird »Gesundheit« bzw. »Krankheit« zu einem Dauerthema. Selbst bei berechtigter
Hoffnung auf Heilung schwebt die Angst vor einem Rückfall wie ein Damoklesschwert über dem aus der engmaschigen medizinischen Betreuung Entlassenen. Dem zunehmenden Bewusstsein, jetzt für sich selber verantwortlich zu sein bzw. abwarten zu müssen, ob der eingeschlagene therapeutische Weg sich bewähren wird, entspricht eine ständige Alarmbereitschaft, auch bei bis dahin als harmlos erachteten Symptomen, was sich zu Panik und einer sekundären Hypochondrie steigern kann. In diesem Zusammenhang nehmen die regelmäßigen Untersuchungstermine einen besonderen und doppelgesichtigen Stellenwert ein: 4 Einerseits beschwören sie die alten, bedrohlichen Gefühle und Ängste vor einem Rezidiv herauf. 4 Andererseits versprechen sie die Aussicht auf Beruhigung, wenn nämlich das Ergebnis der Untersuchung lautet: »Ohne Befund«, also ohne Rezidiv und Metastasen. Die Entlassung aus der Therapie bedeutet auch den Verlust einer schützenden Umgebung, in der konsequent der Krebs bekämpft wird, wo Eigenverantwortung bis zu einem gewissen Grad hintangestellt werden kann und in der auf der anderen Seite die solidarische Gemeinschaft der Kranken zusammensteht. Die Welt der Gesunden auf der anderen Seite konfrontiert den »Geheilten« mit zahlreichen Forderungen: Vorher an die medizinischen Betreuer delegierte Entscheidungen müssen nun eigenverantwortlich nachvollzogen werden, und weitere gesundheitsbezogene Schritte sind selbst zu vertreten. Darüber hinaus ist der ehemalige Patient wieder ganz der Alltagswelt ausgesetzt, die unverändert Rollenerwartungen in Familie, Beruf und sozialem Kontext stellt und zu der ein neues Gleichgewicht zu finden ist. Nicht selten werden Übergänge in andere soziale Rollen vollzogen, die mit Abstiegen bezüglich Hierarchie und Prestige verbunden sein können. Die körperliche Versehrtheit selbst wird neben der objektiven Behinderung als Wertverlust empfunden, sowohl im materiell-ökonomischen Bereich, sichtbar an schlechteren Berufschancen, als auch psychologisch durch ein erschüttertes Selbstwertgefühl. Während »Coping« bisher auf den innerseelischen Bereich bezogen und weitgehend auf die Sondersituation der Behandlung beschränkt war, erweitert sich das Feld nun beträchtlich. Für manche Betroffenen bieten Selbsthilfegruppen und/oder der Austausch in Internetforen übergangsweise die Möglichkeit, in beschränkter Öffentlichkeit unter Gleichen soziale Umgangsformen bei veränderten Bedingungen einzuüben, am Modell der anderen das aktive Zugehen auf die Mitmenschen zu erproben und am Beispiel der Leidensgefährten Möglichkeiten der Neuorientierung und das Erschließen neuer Befriedigungsquellen gedanklich vorwegzunehmen. Bei körperlicher Behin-
673 38.4 · Psychosoziale Bedeutung von Krebsdiagnose und Behandlung
derung gelten die alten Vergleichs- und Gütemaßstäbe nicht mehr. Das Anspruchsniveau kann sich nicht mehr an den Gesunden und auch nicht an den Leistungen der eigenen Vergangenheit orientieren. Vielfach versuchen Patienten, einer empfundenen therapeutischen Untätigkeit in der Nachsorgephase zu begegnen durch Hinwendung zu »alternativ- und komplementärmedizinischen« Angeboten, die das Gefühl des passiven Abwarten-Müssens mildern können (7 Kap. 11 »Komplementär- und Alternativmedizin bei Krebs«). Inwieweit das Gleichgewicht Umwelt–Person in akzeptabler Weise wiederhergestellt werden kann, hängt nur zum Teil von dem Betroffenen selbst ab. Die Unterstützung seitens Angehöriger und Freunde ist von großem Wert, nicht nur durch materielle und praktische Hilfen, sondern auch bei der Wiedererlangung eines stabilen Selbstwertgefühls. In der Wahrnehmung von Wertschätzung durch andere kann der Betroffene auch selbst den erlittenen Wertverlust ausgleichen. Keine geringe Rolle spielt dabei die Tatsache, dass Krebskranke trotz besseren Wissens gemieden und ausgegrenzt werden und eine Rückkehr ins normale Leben dadurch unnötig erschwert wird. ! Es gibt kaum eine Krankheit, die ein ähnlich schlechtes Image hat wie Krebs. Dieses schlechte Image überträgt sich unwillkürlich auch auf den Träger der Erkrankung. Besonders Vorstellungen, Krebs sei ansteckend oder eine Bestrafung für einen falschen oder ungesunden Lebensstil, tragen zur Ausgrenzung Krebskranker bei.
Solche Ansichten haben allerdings ebenfalls Coping-Funktion – und zwar für die Gesunden, die sich dadurch von den eigenen, verborgenen Ängsten distanzieren können, möglicherweise selber an Krebs zu erkranken.
Progredienz Wenn – ggf. auch nach zunächst erfolgreicher Primärtherapie – doch ein Rezidiv oder Metastasen auftreten und die Ängste der Nachsorgephase plötzlich Realität werden, kommt die gesamte Gefühlskaskade mit gesteigerter Heftigkeit wieder in Gang. Das erneute Auftreten der Erkrankung stellt in psychischer Hinsicht eine stärkere Belastung dar als die Primärbehandlungsphase, die trotz allem noch von Optimismus getragen war. In dem Maße, wie die Hoffnung auf Heilung schwindet, erschöpfen sich zumindest anfänglich die Coping-Möglichkeiten, und psychische Dekompensationen sind nicht selten. Dabei muss man auch sehen, dass heute viele Patienten auch mit einem Rezidiv noch längere Zeit leben und die Erkrankung einen chronischeren Charakter annimmt. Dann können die CopingMechanismen nach gewisser Zeit wieder greifen. Einen wichtigen Wendepunkt in der Wahrnehmung der Patienten bildet in jedem Fall der Übergang zur palliativen Versorgung.
Sowohl die Ängste vor Ausgrenzung, Einsamkeit, aber auch vor Autonomieverlust, als auch die Beziehungssituation mit Ärzten, dem Pflegeteam und den Angehörigen bilden ein schwer auflösbares Gewirr. Insbesondere die Arzt-Patient-Beziehung gerät durch die zunehmende Abhängigkeit, aber auch durch Enttäuschung und Wutgefühle unter Druck. Gerade solche gegensätzlichen Emotionen belasten weitere Behandlungsversuche, die nun oft mehr der Symptomkontrolle als einer positiven Beeinflussung des Grundleidens dienen. Es gibt nicht wenige Patienten, die trotz großer Angst vor Leiden und Schmerz eine wirksame Analgetikatherapie ablehnen, weil mit der Einwilligung in eine hoch dosierte und konsequente Schmerzbehandlung die Anerkennung der Unheilbarkeit gleichgesetzt wird. Zur Aufrechterhaltung des inneren Gleichgewichts treten nun radikale Bewältigungsversuche ein. So finden wir häufig das Phänomen der Spaltung in Gut und Böse, Idealisieren und Entwerten. Die Klinik, in der der Patient sich derzeit befindet, wird beispielsweise hochstilisiert, während andere Ärzte und Krankenhäuser in den dunkelsten Farben gezeichnet und mit nahezu leidenschaftlichem Hass verfolgt werden. Die Suche nach einem Schuldigen trägt zu einer inneren Ausgeglichenheit bei; das Böse und Unsichere gehört nicht zum Patienten selbst, sondern findet sich außerhalb. Parallel dazu werden Vorsätze der Nachsorgephase unter großem Verzweiflungsdruck wieder aufgegriffen. Um die Phantasie der Heilung aufrechterhalten zu können, sind die Patienten oft noch mehr bereit, große Opfer zu bringen, vielleicht aus dem unbewussten Wunsch der Wiedergutmachung heraus und der magischen Vorstellung, Gesundheit gegen Verzicht eintauschen zu können. Da Patienten in dieser Erkrankungsphase einen großen Anteil einer onkologischen Station bilden, wird das Behandlungs- und Pflegeteam stark in die Konflikte dieser Krankheitsphase hineingezogen. So mag sehr rasch der Eindruck entstehen, dass Krebserkrankungen trotz Behandlung eben doch häufiger einen ungünstigen Verlauf nehmen. Diese pessimistische Einschätzung beruht im Wesentlichen darauf, dass geheilte Patienten nach Abschluss der Primärtherapie in Kliniken eher selten gesehen werden, sodass der Teil des Krankheitsspektrums mit ungünstigem Verlauf stärker in Erscheinung tritt. ! Ärzten und Pflegenden wie auch den Patienten fällt es in dieser Situation schwer, positive Aspekte, zumindest relative Fortschritte, wahrzunehmen und daraus Kraft für den weiteren Weg zu schöpfen.
Sterben Inwieweit Begriffe wie Menschlichkeit, Lebensqualität und Nächstenliebe ernstzunehmen sind und nicht nur Sonntagsreden dekorieren, erweist sich im Umgang mit Schwer-
38
674
Kapitel 38 · Inhalte und Aufgaben der Psychoonkologie
kranken und Sterbenden. Je fortgeschrittener die Krankheit, je schlechter die Prognose, umso mehr hängt das Befinden der Patienten von den Rahmenbedingungen ab. Die besonderen Ängste vor dem Alleingelassen-Werden, vor Vereinsamung und Unaufrichtigkeit finden eine Entsprechung in der sozialen Realität, in der der Tod und alles, was damit zusammenhängt, noch immer unter einem Tabu steht, das sich allerdings dank der Entwicklung der Palliativmedizin und -pflege zu lockern beginnt. Zeichen dafür sind das wachsende Interesse einer Reihe gesellschaftlicher Gruppen am Problem von Sterben und Tod. So entwickeln sich vielerorts Initiativen, die das Sterben zu Hause oder in menschenwürdig gestalteten Hospizen oder Palliativstationen unterstützen. Auch in der naturwissenschaftlichen Medizin wird palliativ- und supportivmedizinischen Problemen vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt. ! Um es dem Patienten zu ermöglichen, den Zustand verstärkter Hinfälligkeit und Abhängigkeit hinzunehmen, muss eine zugewandte Pflege und Betreuung gewährleistet sein, die auch Körperkontakte nicht vermeidet und auf individuelle Wünsche des Kranken eingeht. Parallel dazu ist die Unterstützung der Angehörigen wichtig, die selbst Hilfe brauchen, um ihrem Kranken auch in der letzten Phase beistehen zu können.
38
Für den Patienten ist es hilfreich, wenn er von negativen Gefühlen hinsichtlich seiner Vergangenheit und seines Körpers in seiner Hinfälligkeit Abstand gewinnen und seinem Leben rückblickend einen Sinn geben kann. Weiterhin ist es günstig, wenn er gute, tragende Erinnerungen an Menschen seiner Lebensgeschichte wiederbelebt. Voraussetzungen dafür sind die Fähigkeit zur Trauer um den Verlust der äußeren Welt und des eigenen Körpers sowie die Gewissheit, dass alles unternommen wird, damit das Leben bis zum Ende erträglich bleibt, belastende Symptome behandelt werden und die individuelle Lebensqualität höchste Priorität hat. ! Ziel ärztlicher und pflegerischer Bemühungen um den Patienten in der Terminalphase einer Krebserkrankung ist es, dem Sterbenden die Erfahrung des Gehaltenwerdens und der Symptomlinderung zu vermitteln, ohne durch sinnlose therapeutische Interventionen das möglicherweise bereits akzeptierte Lebensende herausschieben zu wollen.
38.4.3
Psychologische Aspekte der Tumortherapie
Das Krankheitserleben unter der Diagnose »Krebs« wird in hohem Maße und etappenweise ausschließlich von der Therapie bestimmt.
Patienten sind kaum in der Lage, sich gleichzeitig mit der Problematik einer Krebsdiagnose und deren Implikationen, mit den Belastungen und Folgen der Therapie und dazu noch mit den allgemeinen Lebensumständen im Zeichen einer Krebserkrankung oder gar mit aktuell entstandenen Konflikten auseinanderzusetzen. Wenn in vielen Krisensituationen ein aktives, problemlösendes Handeln konstruktive Lösungen verspricht, so ist unter belastenden therapeutischen Bedingungen gerade eine entgegengesetzte Haltung von Vorteil: Die Fähigkeit, sich dem therapeutischen Team zumindest zeitweise vertrauensvoll überlassen zu können, erscheint dem aktuellen Befinden und der Krisenbewältigung eher förderlich. ! Voraussetzung für eine verlässliche Unterstützung seitens der Institution ist eine reibungslose, kompetente und sichere Handhabung der technischen Erfordernisse und Maßnahmen ohne lange, zusätzlich ängstigende Wartezeiten bei einer möglichst gleichbleibend stabilen Zugewandtheit.
Unter z. T. sehr belastenden therapeutischen Prozeduren sind Patienten oft wenig geneigt, auf Gesprächsangebote im Sinne eines konfliktorientierten psychotherapeutischen Dialogs einzugehen. Viele Patienten brauchen vorerst die Möglichkeit, sich von den phantasierten oder realen Folgen ihres Leidens innerlich distanzieren zu können. Diese gefühlsmäßige Abschottung stellt im Fall einer objektiven Lebensbedrohung einen notwendigen Schutzmechanismus dar, den der Patient zur Überwindung dieser Extremsituation braucht. Neben einer Sicherheit gebenden Umgebung mit konstanten Bezugspersonen sind in dieser Situation am ehesten psychotherapeutische Interventionen sinnvoll, die dem Schutzbedürfnis entgegenkommen. Gleichzeitig wäre es wünschenswert, die wechselseitige Verstärkung von Angst, Verkrampfung und therapiebedingten Nebenwirkungen zu unterbrechen. Hier haben sich z. B. Entspannungsverfahren bewährt, die zudem eine deutliche Verminderung von Übelkeit und Erbrechen bewirken können. Insbesondere die Symptome im Vorfeld der Therapie, wie antizipatorische Übelkeit und Erbrechen, sind durch verschiedene Entspannungstechniken günstig zu beeinflussen. Die von vielen Patienten gleichwohl gewünschten Möglichkeiten zum Gespräch über die Unsicherheiten von Gegenwart und Zukunft, ggf. im Lichte der Erfahrungen der Vergangenheit, und über belastende Konflikte im persönlichen sozialen Netz können besser genutzt werden, wenn sich eine hilfreiche, auch psychotherapeutische Beziehung auf dem Wege eines konkreten Tuns etabliert hat. Viele Patienten wenden sich v. a. im fortgeschrittenen Stadium ihrer Erkrankung alternativ- und komplementärmedizinischen Verfahren zu. Darunter fallen unspezifische Immunstimulanzien, pflanzliche Heilmittel, diätetische
675 38.5 · Rolle der Angehörigen und Betreuenden
Maßnahmen, Abschirmung gegen Erdstrahlen, Wasseradern etc. Fragen nach der spezifischen Wirksamkeit dieser Maßnahmen einmal ausgeblendet, haben diese Aktivitäten eine wichtige Funktion im Krankheitsbewältigungsprozess. Insbesondere die Kranken, die immer wieder von ängstigenden Gedanken an ihre Krebserkrankung überschwemmt werden, finden Entlastung in der Vorstellung, auch selbst aktiv etwas zur Besserung ihres Befindens und zu ihrer Gesundung beitragen zu können. Sie schaffen sich durch die selbst gewählten zusätzlichen Therapieversuche den Freiraum, dessen sie sich durch die »totale Institution« Krankenhaus oft beraubt fühlen (7 Kap. 11 »Komplementärund Alternativmedizin bei Krebs«).
terstützung auch in Kummer, Not, Angst, Entmutigung und Schwäche. Vertraute Menschen sind, falls erforderlich, auch bereit, vorübergehend Entscheidungen und Verantwortung zu übernehmen. Eine Krebserkrankung kann jedoch in der Familie und im privaten Umfeld auch Spannungen, Konflikte und Reaktionsweisen auslösen, die nicht zuträglich sind. Die Pflegenden sollten dies wissen, beobachten und berücksichtigen. Sie können für Krebspatienten ebenfalls wichtige Bezugspersonen sein.
Körperbildveränderungen
Die Einstellung der Angehörigen, ihre ermutigende und stützende Zuwendung ist in einer gesundheitlichen Krise von großer Bedeutung, die aber häufig idealisiert und etwas voreilig für selbstverständlich erachtet wird. Die Betroffenheit der Familienangehörigen und die große Belastung, die eine Krebserkrankung auch für sie bedeutet, werden häufig übersehen. Hilfsblockaden, die aus der Mitbetroffenheit resultieren, können dann leicht als Verantwortungs- oder Lieblosigkeit missdeutet werden. Die Familienverhältnisse von Krebskranken müssen nicht grundsätzlich besser sein als die von Gesunden. Konflikte, Rivalitäten, starke affektive Spannungen bilden auch hier eher die Regel als die Ausnahme. Darüber hinaus verfügen viele, insbesondere ältere Menschen oft über keine engen Verwandtschaftsbeziehungen mehr. Nicht wenige Kranke lassen sich lieber von guten Freunden als von ihren Verwandten betreuen. Denn persönliche Beziehungen können nur dann hilfreich sein, wenn sie nicht wegen ihrer Konflikthaftigkeit selbst eine Belastung darstellen.
Für die persönliche Einstellung und das Verhalten eines Patienten sind nicht allein Diagnose und Prognose maßgebend. Mindestens so wichtig für die spätere Anpassung sind die spezifischen Folgeprobleme, die bei bestimmten Tumorlokalisationen zu erwarten sind. Bei einigen Tumorerkrankungen kann es durch notwendige onkologische Behandlungen (chirurgische, Chemo-, Strahlen- und endokrine Therapie) zu Körperbildveränderungen kommen. Die empfundene Entstellung des Körpers durch Amputationen (Mastektomie, Hysterektomie, kastrierende Eingriffe), Haarverlust, Gewichtszunahme, Narben, Ödembildungen und Hautveränderungen kann die Lebensqualität deutlich beeinträchtigen und zu erheblichen psychischen Störungen führen. Die Betroffenen müssen sich nicht nur mit ihrer veränderten körperliche Situation und den daraus resultierenden Einschränkungen auseinandersetzen, sondern auch ihr Selbstwertgefühl ist massiv destabilisiert. Angst, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit sind häufige Symptome. Minderwertigkeitskomplexe und Schamgefühle erschweren oftmals die offene und konstruktive Auseinandersetzung mit dem veränderten Körperbild. Die Krebserkrankung macht nicht nur »krank«, sondern »anders« – und oft für sich selbst nicht mehr akzeptabel (hierzu 7 Kap. 29 »Veränderungen des Körperbildes«). Körperbildprobleme können zudem Auswirkungen auf die Partnerschaft und die Sexualität haben (7 Kap. 30).
38.5
Rolle der Angehörigen und Betreuenden
Eine vertrauensvolle Beziehung zu Familie und Freunden hat unschätzbaren Wert für die Bewältigung von Krisen und für den späteren Anpassungsprozess. Feste Bindungen sind zuverlässige Quellen von Trost, Zuneigung und Wertschätzung: Sie können als Garanten für die Sorge um das Wohlergehen des Patienten gelten, sind Gefährten und Un-
38.5.1
Die Angehörigen
! Auf jeden Fall sollte die psychosoziale Betreuung eines Tumorkranken das soziale Netz mit einbeziehen. Bestehen zumindest potenziell tragfähige Familienbeziehungen, so ist die gesamte Familie als »Betreuungseinheit« zu betrachten.
Mit welchen Vorgängen ist nun im Familienverband zu rechnen, wenn eines seiner Mitglieder an Krebs erkrankt? Regelmäßig treten Schuldgefühle auf, besonders bei Eltern krebskranker Kinder, aber auch bei Partnern und Kindern Tumorkranker. Das schlechte Gewissen, das einzelne Familienmitglieder ohnehin oft untereinander haben, lässt auf die Frage: »Was habe ich falsch gemacht?« fast immer eine belastende Antwort finden.
Rückzug der Angehörigen vom Patienten Die Angst vor dem Verlust, vor dem Verlassenwerden, oft in Form einer vorweggenommenen Trauer, bestimmt den Umgang mit den Kranken, v. a. wenn sich der aufklärende
38
676
Kapitel 38 · Inhalte und Aufgaben der Psychoonkologie
Arzt zu konkreten Terminangaben bezüglich der verbleibenden Lebensspanne hat hinreißen lassen. Hilf- und Ratlosigkeit angesichts der Beschwerden und des fortschreitenden Leidens sind für den Begleiter schwer zu ertragen. Viele Angehörige wissen sich und dem Patienten nicht zu helfen, wenn z. B. unstillbare Schmerzen, anhaltende Übelkeit oder verzögertes Erbrechen die Situation bestimmen. Die existenzbedrohende Krankheit beispielsweise des Lebenspartners rührt an eigene Todes- und Krankheitsbefürchtungen und Verlassenheitsängste. Im günstigsten Fall lassen sich diese Ängste und Probleme im Kreis der Familie besprechen, wodurch das Gefühl der Sicherheit und der gegenseitigen Verlässlichkeit wachsen kann. ! Meist ist es aber so, dass Ohnmacht und Verlustangst die Angehörigen überwältigen, sodass sie außerstande sind, mit dem Erkrankten zu reden, da sie fürchten, ihn und sich selbst noch mehr zu belasten. In dieser Situation brauchen Angehörige gelegentlich mehr Hilfe als der Betroffene. Oftmals kann man die paradox erscheinende Beobachtung machen, dass Patienten ihre gesunden Angehörigen trösten, da sie spüren, dass der andere sich verschließt und sich innerlich zurückzieht.
Überforderung Immer wieder kommt es nach Überwinden der akuten Krankheitsphase rasch zum »Übergang zur Tagesordnung«, d. h. dem ehemaligen Patienten werden – in überfordernder Weise – die Aufgaben in Familie oder Beruf genauso wie vorher übertragen, »als ob nichts gewesen wäre«, um die Angst der vergangenen Wochen vergessen zu machen und der Besorgnis über ein mögliches Rezidiv keinen Raum zu geben. Dieser Familientyp führt zur Überlastung des Patienten, der gezwungen wird, seine Krankheit zu bagatellisieren und die Angehörigen zu trösten.
38
Überfürsorglichkeit Die entgegengesetzte, überfürsorgliche Haltung ist für den Kranken genauso schwierig, wenn nämlich die Angehörigen sich völlig die Sicht des als schonungsbedürftig erachteten Patienten zu eigen machen. Sie übernehmen – vielleicht aus latenten Schuldgefühlen heraus – die volle Verantwortung für ihn, schirmen ihn gegen alle Anforderungen und vermeintlichen Unannehmlichkeiten des Alltags ab. Der Patient, dem alles aus der Hand genommen wird, kann dann seinerseits leicht passiv, misstrauisch, ängstlich und klagsam werden. Die Rehabilitation wird auf diese Weise erschwert, zumal der Kranke nicht selten vorschnell in den Rentenstatus gedrängt wird. Mit ihrem unstillbaren Informationsbedürfnis und den immer neuen Vorschlägen bezüglich Therapie und Pflege stellen solche Angehörige manchmal ein Problem für die Betreuer dar.
Dieser Familientyp bewirkt eine totale Entmündigung des Patienten. Zum Verlust der gewohnten Funktion in der Familie und zu einer inneren Isolation des Kranken kommt eine Überforderung des Familiensystems durch ein starkes Überengagement. ! Um dem Kranken die Familie als Ort der inneren und äußeren Stütze zu erhalten, muss versucht werden, sowohl dem Rückzug der Familie als auch ihrer Selbstüberforderung durch Überfürsorglichkeit vorzubeugen.
Angehörige versuchen oft, Informationen, die der Arzt und die Pflegenden an den Patienten adressieren, zu filtern, um – wie sie sagen – Belastungen vom Kranken fern zu halten. Eine solche Aufklärungsstrategie findet auch bei den Betreuern allzuleicht Anklang, war es doch früher ohnehin üblich, die Diagnose – wenn überhaupt – nur den Angehörigen mitzuteilen. Ein solcher Umgang mit Informationen kann fatal sein und den Patienten noch mehr in die Isolation geraten lassen: 4 Im Fall des schrittweisen Rückzugs der Angehörigen vom Patienten werden die Angehörigen sehr oft überfordert durch die meist ja viel radikalere Information, die die Ärzte den Verwandten zu geben geneigt sind. Dies belastet schließlich die Beziehungen innerhalb der Familie noch mehr. Durch das ständige Bewusstsein einer schlechten Prognose ist beispielsweise der Partner nicht mehr in der Lage, unbefangen mit dem Kranken zu sprechen. 4 Im Fall der überfürsorglichen Entmündigung hat der Kranke ohnehin das Gefühl, dass Arzt, Angehörige und Pflegende in heimlicher Komplizenschaft gegen ihn stehen. In der Tat konspiriert hier der Arzt mit den Angehörigen, was eine solidarische Haltung dem Patienten gegenüber ausschließt.
Partnerschaft und Sexualität Ein zentraler Aspekt des Familienlebens ist das intime Miteinander von Partnern, das in Erotik und Geschlechtlichkeit einen wesentlichen Ausdruck findet. Gespräche über sexuelle Probleme fallen im Kontext chronischer Tumorerkrankungen besonders schwer, da hier zwei Tabubereiche – Krebs und Sexualität – zusammenkommen. Andererseits werden gerade durch Krebserkrankungen Probleme von Nähe und Sexualität in extremer Weise berührt. Das Wesentliche dabei ist nicht allein die Krebserkrankung, sondern vielmehr die sekundären, durch therapeutische Interventionen bewirkten Veränderungen des Körpergefühls und des Körperbilds, besonders deutlich nach Mastektomie, Hysterektomie oder kastrierenden Eingriffen. Selbstliebe und Selbstachtung aber sind Voraussetzungen für die Liebe zu einem anderen Menschen – und für die Bereitschaft, auch Liebe anzunehmen; Siegmund Freud formulierte treffend: »Liebe zur eigenen Person ist
677 38.5 · Rolle der Angehörigen und Betreuenden
das Geheimnis der Schönheit«. Dies lässt die Forderung erheben, Sexualität offensiv anzusprechen. Durch das selbstverständliche Thematisieren dieser Lebensbereiche wird es dem Patienten leichter fallen, auch seinerseits weitergehende Fragen zu stellen (Näheres in 7 Kap. 30 »Sexualität und Fertilität«).
38.5.2
Aufgaben und Belastungen der Pflegenden
Die Pflegenden sind direkt konfrontiert mit den beschriebenen krisenhaften Entwicklungen im Zusammenhang mit dem Krankheitsgeschehen und erleben die emotionale Erschütterung der Kranken und ihrer Angehörigen unmittelbar. Sie üben ihren Beruf in großer Nähe zu schwer kranken Menschen aus, sowohl im konkreten Sinne (Intimität körperlicher Verrichtungen) als auch durch ihre – zumindest potenzielle – Verfügbarkeit als Ansprechpartner für alle Fragen und Kümmernisse. Diese Nähe kann den notwendigen inneren Abstand gefährden und erschwert die Abgrenzung sowie die Fähigkeit, eigene Interessen wahrzunehmen und adäquat zu vertreten. In den vergangenen Jahren hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass Familie und Freunde als wichtigste Quelle der Unterstützung ihrerseits auch der Hilfe und Beratung bedürfen. Es ist die Aufgabe der Pflegenden zu erfassen, wen der Betroffene als wichtigste Bezugspersonen definiert, und diese Menschen in der Unterstützung des Patienten aktiv zu fördern. Sie benötigen für diese Aufgaben ebenfalls professionelle Unterstützung.
Beziehungsgeflecht Patient–Pflegende– Angehörige Als Vermittler zwischen Patient und Arzt wie zwischen Patient und Angehörigen sind die Pflegenden Ansprech- und Vertrauenspersonen. Sie hören zu, sie trösten, in sie setzen Patienten und Angehörige hohe Erwartungen. Zudem gelten sie als Garanten eines geordneten Stations- und ggf. Behandlungsablaufs. Somit liegt es nahe, dass Angst, Hilflosigkeit, Trauer und Enttäuschung, Ohnmacht, Auflehnung und Wut der Patienten sich auch auf die Pflegenden übertragen und für diese als Belastungsfaktoren wirksam werden. ! Eine ganzheitliche, auch an psychosozialen Aspekten ausgerichtete Pflege fordert, dem Körperlichen nicht weniger, sondern dem Seelischen ebenso Beachtung zu schenken. Sie entbindet die Pflegenden nicht von der Pflicht einer kritischen Selbstreflexion über Nähe und Distanz, Zuwendung und Abgrenzung.
Vergleichbares gilt für die Angehörigen des Patienten; die unterstützende Hilfe der Familie kann dem Patienten und den Pflegenden sehr nützlich sein.
Pflegende sollten sich nicht in Konkurrenz zu Angehörigen sehen (»bessere Mutter, Vater, Ehepartner etc.«), sondern die Familie als eine wichtige Quelle der Unterstützung sehen, die ebenfalls der Hilfe und Beratung für diese Aufgaben bedarf. Noch immer wird die Ratlosigkeit der Familienmitglieder von Patienten zu wenig wahrgenommen und häufig unterschätzt.
Kooperation und Konkurrenz Trotz der notwendigen Spezialisierung und Arbeitsteilung sollte eine ganzheitliche Sichtweise das Handeln in der Onkologie bestimmen, denn durch ein Zusammenwirken der beteiligten Disziplinen wird der gemeinsame Nutzen größer als der individuelle. Kooperation mit anderen Berufsgruppen ist unerlässlich und erfordert den eigenen Einsatz und das Zugehen auf andere. ! Die gelungene Kooperation bringt einen großen Gewinn für den Einzelnen und für das gesamte Team und stellt damit eine wichtige Unterstützung dar.
Eine häufige Störungsquelle vertrauensvoller Zusammenarbeit findet sich in Rivalitäts- und Konkurrenzgefühlen, die nicht zuletzt von Schwerkranken und ihren Angehörigen stimuliert werden können, wenn deren unbewusste Konfliktdynamik z. B. Stationsmitglieder gegeneinander auszuspielen scheint. Auf der Seite des Behandlungsteams – bei Ärzten und Pflegenden – mag sich das in unausgesprochenen, unterschwelligen (Besitz-) Ansprüchen äußern, vielleicht durch eine Haltung, die vermittelt: »Wem gehört der Patient eigentlich?« Die Pflegenden sehen sich mit Neidgefühlen, Besitzansprüchen und Kränkungen konfrontiert, denn sie sind es ja, die unmittelbar am Patienten handeln, die ihn pflegen und am längsten mit ihm zusammen sind. Oft entstehen so Konkurrenzsituationen zwischen Pflegenden und Ärzten, die u. U. zu Ungunsten der Patienten ausgetragen werden können. Aber in einem Behandlungsteam geht es um gegenseitige Wertschätzung und ein gelungenes Neben- und Miteinander. Kooperation heißt auch, den Informationsfluss untereinander in gegenseitiger Akzeptanz offen zu gestalten, Informationen weder zurückzuhalten noch in falsche Kanäle zu lenken. Der Aufklärungs- und Informationsprozess des Patienten beispielsweise sollte eine gemeinsame Aufgabe sein, denn auch hier sind die Pflegenden diejenigen, die häufig als »Dolmetscher« für den Patienten zur Verfügung stehen müssen. Es ist eine Besonderheit der stationären onkologischen Pflege, dass in einem Klima hoher emotionaler Anspannung bei Patienten und Angehörigen die Arbeitsabläufe funktionieren müssen bei gleichzeitig hohen Anforderungen an das Einfühlungsvermögen in die Patienten, die sich in einer Extremsituation erleben.
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678
Kapitel 38 · Inhalte und Aufgaben der Psychoonkologie
Burnout-Prophylaxe Wie für die Patienten, so gilt es auch für die Pflegenden, geeignete Bewältigungsformen zu finden, um die Lebensfreude und Arbeitskraft zu erhalten. Voraussetzungen dafür sind eine befriedigende Arbeitsatmosphäre, Fachwissen und sinnvoll geplante und durchdachte Handlungsund Organisationsabläufe. Dadurch werden Kräfte und Zeit freigesetzt, die den Patienten zugute kommen. ! Supervision, psychosozial ausgerichtete Stationskonferenzen oder Balint-Gruppen sind auf einer onkologischen Station unverzichtbar – als Möglichkeit zur eigenen Entlastung und zur Selbstreflexion. Voraussetzung ist ein wohlwollend-akzeptierendes und wertschätzendes Miteinander.
Gute Teamarbeit und Festigung der beruflichen Kompetenz gedeihen am besten in einer Atmosphäre, die von einer sicheren beruflichen Identität getragen ist. Dazu gehören die Förderung einer kontinuierlichen fachlichen, aber auch persönlichen Weiterbildung, der Arbeitsstil einer gemeinsamen Verantwortung, Zielorientierung, wobei auf die Gefahr der Überforderung geachtet werden muss. Nicht zuletzt ist es notwendig, sich in wohlverstandener Selbstverantwortung um die Lösung auch persönlicher Konflikte zu bemühen, um diese nicht in die Arbeit mit Patienten und die Zusammenarbeit in der Arbeitsgruppe hineinzutragen. Die vielseitigen Probleme, das facettenreiche Bewältigungs- und Abwehrgeschehen im Verlauf von krankheitsbedingten Krisen machen deutlich, dass der Krebskranke gerade die Zuwendung der Pflegenden besonders benötigt. Berufliche und persönliche Qualifikation bilden die Basis einer gelungenen pflegerischen Beziehung zum Patienten und einer effektiven Kooperation aller an der Betreuung und Pflege Beteiligten.
38
! Die Pflege in der Onkologie zeichnet sich durch eine besonders hohe, der Intensivmedizin vergleichbare Herausforderung bei maximalem persönlichem und fachlichem Einsatz aus. Um die Pflege auf einem hohen Niveau zu halten, werden neben pflegerischen Fertigkeiten auch soziale Kompetenzen wie Einfühlungsvermögen, Beziehungsfähigkeit, Wertschätzung und Achtung gegenüber den Patienten gefordert.
Infolge der zahlreichen ungünstigen Krankheitsverläufe und häufigen Trennungserfahrungen stoßen Pflegende oftmals an ihre Grenzen und fühlen sich überfordert. Beim Umgang mit schwerkranken Menschen werden sie an ihre eigenen Gefühle erinnert, die sich in Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Angst äußern können. Ein Arbeitsumfeld wie dieses birgt Gefahren, und die Spannweite der individuellen Reaktionen ist sehr groß:
4 Die oft als gering erlebten Behandlungserfolge können als persönliches Versagen verstanden und zunächst mit enormen zusätzlichen Anstrengungen beantwortet werden. 4 Überlastung und Selbstüberforderung entstehen aus illusionären Zielvorstellungen heraus. 4 Wenn andere Lösungsmöglichkeiten nicht mehr bereitstehen, kommt es zum Rückzug aus Erschöpfung und Überdruss. Eine solche Entwicklung in ihren Anfängen zu erkennen und zu bearbeiten ist wichtig. Stress und Überforderung können gerade in helfenden Berufen mit andauernden emotionalen Belastungen im Zusammenhang mit langfristigem, intensivem und engagiertem Einsatz für andere Menschen zum »Ausgebranntsein« (»Burnout«) führen. Wenngleich das Konzept des Burnout nicht unumstritten ist (Herschbach 1991) und keinesfalls als Besonderheit der onkologischen Pflege betrachtet werden kann, hat die Diskussion um diesen Begriff zu der Forderung nach einer fundierten, auch psychoonkologische Inhalte einschließenden Fachweiterbildung geführt. Der hohe Stellenwert der konkreten Arbeitsbedingungen und die Bedeutung der Berufserfahrung in diesem Kontext ließen sich durch entsprechende Forschungsarbeiten nachweisen.
Literatur Filipp S-H, Aymanns P, (2003) Bewältigungsstrategien (Coping). In: Uexküll Th v Psychosomatische Medizin. Urban und Fischer, München, S 297–310 Holland J (1998) Psychooncology. Oxford University Press, New York Oxford Husebø S, Klaschik E (2006) Palliativmedizin. Grundlagen und Praxis. Springer Berlin Heidelberg New York Koch U, Weis J (1998) Krankheitsbewältigung nach Krebs und Möglichkeiten der Unterstützung. Schattauer, Stuttgart Meerwein F, Bräutigam W (1998) Einführung in die Psycho-Onkologie. Huber, Bern Röttger K (2003) Psychosoziale Onkologie für Pflegende: Grundlagen – Modelle – Anregungen für die Praxis. Schlütersche Verlagsbuchhandlung, Hannover Schmidtbauer W (1992) Hilflose Helfer. Rowohlt, Reinbek Schwarz R, Singer S (2008) Einführung Psychosoziale Onkologie. Reinhardt, München Basel Singer S et al (2007) Häufigkeit psychischer Begleiterkrankungen und der Wunsch nach psychosozialer Unterstützung bei Tumorpatienten im Akutkrankenhaus. Dtsch Med Wochenschr 132: 2071– 2076 Sontag S (1978/2000) Krankheit als Metapher. Hanser, München Wien Weis J (2002) Leben nach Krebs. Belastungen und Krankheitsverarbeitung im Verlauf einer Krebserkrankung. Huber, Bern Zettl S, Hartlapp J (2008) Krebs und Sexualität. Weingärtner, Berlin
679 38.5 · Rolle der Angehörigen und Betreuenden
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Internetadressen Deutsche Arbeitsgemeinschaft für psychosoziale Onkologie e. V.: www.dapo-ev.de (Veranstaltungshinweise, Adressen von Psychotherapeuten, Ärzten, Sozialarbeitern und -pädagogen, Seelsorgern, Supervisoren und Angehörigen anderer Berufsgruppen, die in der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Psychosoziale Onkologie e. V. mitwirken, auch in Österreich und in der Schweiz) Weiterbildung Psychosoziale Onkologie – WPO e. V.: www.wpo.de (Weiterbildungsangebote im Bereich psychosoziale Onkologie, Literaturempfehlungen) Krebsinformationsdienst des Deutschen Krebsforschungszentrums: www.krebsinformationsdienst.de/wegweiser/adressen/adressen-index.php (Adressen von Krebsberatungsstellen und psychotherapeutisch arbeitenden Psychoonkologen mit zertifizierter Weiterbildung nach WPO)
38
Teil VII Spezielle Bereiche der onkologischen Pflege Kapitel 39
Geriatrische Onkologie
– 683
N. Kearney, L. Repetto
Kapitel 40
Pädiatrische Onkologie
– 693
G. Finkbeiner, E. Bergsträsser
Kapitel 41
Häusliche Betreuung und Pflege von Tumorpatienten – 701 H. Stoll, S. Schmidt
Kapitel 42
Klinische Krebsforschung R. Herrmann, C. Böhme
– 711
39
Geriatrische Onkologie N. Kearney, L. Repetto
39.1
Der ältere Mensch – Selektion der Bevölkerung
– 684
39.1.1
Begriffserklärung – Altern und Alter
39.2
Ethische und klinische Entscheidungen
39.2.1 39.2.2
Vorurteile und Fehleinschätzungen bei älteren Menschen mit Krebserkrankungen – 685 Klinische Krebsforschung und ältere Menschen – 686
39.3
Geriatrisches Assessment und der ältere Krebspatient
39.4
Behandlungsaspekte
39.4.1 39.4.2 39.4.3 39.4.4 39.4.5
Änderungen der Organfunktion – 688 Komorbiditäten – 688 Tumorchirurgie – 689 Radiotherapie – 689 Medikamentöse Tumortherapie – 689
39.5
Pflege des älteren, an Krebs erkrankten Menschen
39.5.1
Kommunikation mit älteren, krebskranken Menschen
39.6
Zukünftige Herausforderungen
– 684
– 685
– 686
– 687
– 692
– 690
– 691
684
Kapitel 39 · Geriatrische Onkologie
)) Die Diagnose Krebs und seine Behandlung haben gerade bei älteren Menschen beträchtliche Auswirkungen. Häufig leiden sie bereits an anderen chronischen Erkrankungen. Die Krebserkrankung stellt deshalb eine zusätzliche Belastung dar, und ihre Therapie ist oft komplikationsreicher als bei jüngeren Patienten. Ältere Krebskranke bedürfen deshalb meist einer intensiveren Unterstützung. Bereits heute treten in Deutschland die Hälfte aller malignen Erkrankungen bei Menschen über 69 Jahren auf. Ähnliches ergibt sich aus den österreichischen und schweizerischen Statistiken. Aus der Tatsache, dass die Bevölkerung in den Industrienationen ein immer höheres Alter erreicht, lässt sich schlussfolgern, dass die Belastungen durch Krebserkrankungen bei älteren Menschen in den kommenden Jahrzehnten immer größer werden. Die zukünftige Pflege muss sich deshalb sowohl der Prinzipien der onkologischen wie auch der gerontologischen Pflege annehmen, um für den älteren krebskranken Menschen eine optimale Versorgung zu gewährleisten.
39.1
Der ältere Mensch – Selektion der Bevölkerung
Die Weltbevölkerung wird zunehmend älter. Nach Angaben der WHO lebten im Jahr 2000 600 Millionen Menschen, die älter als 60 Jahre waren, im Jahr 2025 werden es 1,2 Milliarden sein, 2050 voraussichtlich 2 Milliarden. In den Industrienationen stellen die Hochbetagten (>80 Jahre) die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe dar.
Krebs ist v. a. eine Krankheit des Alters, weshalb die Inzidenz von Krebserkrankungen in sämtlichen Ländern in den kommenden Jahrzehnten zunehmen wird. . Abb. 39.1 zeigt die Inzidenz bösartiger Erkrankungen in Deutschland nach Altersgruppen.
39.1.1
Begriffserklärung – Altern und Alter
Altern bezeichnet den Prozess physiologischer und psychologischer Veränderungen im Verlauf eines Lebens. In den industrialisierten Ländern kommt dabei den chronologischen Lebensjahren eine zentrale Rolle zu und weniger den individuellen physiologischen und psychologischen Altersveränderungen. Das Alter zwischen 60 und 65 Jahren entspricht in etwa demjenigen des Eintritts ins Rentenalter. Dessen Festlegung ist allerdings mehr oder weniger willkürlich. ! Gegenwärtig gibt es keine allgemeingültige Definition für »Alter« bzw. für »älterer Mensch«.
Bei der Diskussion von Themen der geriatrischen Onkologie müssen 2 Begriffe unterschieden werden: 4 das chronologische, in Jahren gemessene Alter (Lebensalter) und 4 das biologische Alter. Das chronologische Alter misst die Lebenszeit. Das chro-
nologische (oder biographische) Alter ist die geläufige zeitliche Altersangabe, die sich aus dem Geburtsdatum errechnet (»jemand ist 65 Jahre alt«).
39
. Abb. 39.1. Häufigkeit (Inzidenz) bösartiger Erkrankungen in Deutschland nach Altersgruppen. (Aus: Robert Koch-Institut u. Ge-
sellschaft der epidemiologischen Krebsregister in Deutschland e. V. 2010, mit frdl. Genehmigung)
685 39.2 · Ethische und klinische Entscheidungen
Das biologische Alter bezeichnet den Gesundheitszustand eines Menschen in Bezug auf sein Alter. Mit dem
biologischen Alter ist also der Zustand des Körpers gemeint, der normalerweise einem bestimmten Alter ungefähr entspricht Der Alterungsprozess verläuft individuell sehr unterschiedlich: Menschen, die im gleichen Jahr geboren sind, sehen unterschiedlich alt aus. Von einem 65Jährigen kann man sagen: »Er sieht aus wie 80« – umgekehrt aber auch von einem 80-Jährigen: »Er sieht aus wie 65«. Auch das biologische Alter verschiedener Organsysteme kann unterschiedlich sein. So kann ein durchtrainierter Leistungssportler kardiologisch in einer ausgezeichneten Verfassung sein: Das Herz ist biologisch jünger, als es dem chronologischen Alter dieses Menschen entspricht. Dagegen können die Gelenke desselben Sportlers durch die starke Belastung deutlich stärkere Verschleißerscheinungen aufweisen, als es für das chronologische Alter typisch wäre. Die Gelenke wären also vorgealtert und somit biologisch älter als der Mensch selbst. Das biologische Alter ist eher ein Gradmesser für den individuellen körperlichen Zustand als das chronologische Lebensalter. ! In der geriatrischen Onkologie – wie in der Geriatrie generell – ist sowohl für die medizinische Behandlung wie für die Pflege das biologische Alter von wesentlich größerer Bedeutung als das chronologische Alter.
Die meisten klinischen Studien, die sich mit älteren Menschen befassen, wurden an >65-Jährigen durchgeführt, allerdings gibt es auch Studien, die bereits 60-Jährige oder auch erst 70-Jährige und ältere Menschen einbezogen. Fälschlicherweise wird dabei häufig vorausgesetzt, dass ältere Menschen eine homogene Gruppe darstellen, bestimmt durch Altersgruppen, bei denen gleiche Erkrankungen medizinisch gleich behandelt werden können (7 Kap. 39.2.2). Das unterschiedliche biologische Alter wird dabei nicht berücksichtigt. Neben der oft großen Diskrepanz zwischen chronologischem und biologischem Alter ist in der geriatrischen Onkologie die Tatsache zu berücksichtigen, dass bei vielen älteren Tumorpatienten neben der Tumorerkrankung eine oder mehrere weitere Krankheiten vorliegen, z. B. Diabetes mellitus, Niereninsuffizienz oder eine Gefäßkrankheit (7 Kap. 39.4.2). ! Diese Komorbidität hat oft einen deutlich größeren Einfluss auf die Gesundheit und das Wohlbefinden als die Tumorerkrankung und beeinflusst Prognose und Therapiewahl entscheidend.
39.2
Ethische und klinische Entscheidungen
Ältere Menschen mit Krebs erfahren ihre Krebsdiagnose im Vergleich zu jüngeren Patienten meist in einem fortgeschritteneren Stadium. Es besteht zudem das Risiko, dass sie – zumindest bei bestimmten Krebsformen – eine weniger intensive Therapie erhalten und eine geringere Überlebenschance haben. Zahlreiche Faktoren können zu solchen Ungleichheiten führen. Dazu gehören von Seiten der Pflege: 4 mangelndes geriatrisches Fachwissen, 4 inadäquate onkologische Pflege sowie 4 unzureichende Berücksichtigung der kognitiven, physischen und psychologischen Einschränkungen älterer Patienten, sei es in der Routinepflege oder in der entsprechenden Forschung. Möglicherweise erleben ältere Patienten sogar eine eher negative Einstellung bei den Pflegenden. Als Pflegende haben wir eine ethische Verpflichtung, alle Patienten unabhängig von ihrem Alter gleich gut zu versorgen. Die älteren krebskranken Menschen in eine offene und ehrliche Aussprache über ihre Diagnose und Behandlungsoptionen einzubinden, ist eine zentrale Aufgabe auch der Pflegenden, um die Beteiligung des Patienten an klinischen Entscheidungen zu ermöglichen.
39.2.1
Vorurteile und Fehleinschätzungen bei älteren Menschen mit Krebserkrankungen
Aufgrund verschiedener nicht sachlich begründeter Einstellungen und Vorstellungen seitens der Behandelnden oder auch der Angehörigen werden bei vielen Patienten wirksame Tumortherapien verzögert oder unterlassen. Zu solchen unterlassenen oder unterdosierten Behandlungen kann es v. a. aus folgenden Gründen kommen: 4 Unterschätzung der Lebenserwartung, 4 aufgrund der Annahme, ältere Personen könnten die Behandlung nicht tolerieren, 4 aufgrund der Annahme, Tumoren wüchsen weniger schnell bei älteren Menschen, 4 aufgrund der Annahme, ältere Menschen bräuchten weniger Screening oder präventive Maßnahmen, 4 Fehlinterpretationen seitens des Patienten und des Arztes von Symptomen des Tumors als Komorbidität, 4 Bagatellisierung der Symptome meist durch den Patienten oder die Angehörigen, 4 aufgrund der Annnahme, dass ältere Personen mit größeren Ängsten reagieren, wenn sie die Wahrheit über die Krankheit erfahren.
39
686
Kapitel 39 · Geriatrische Onkologie
Älteren Menschen fällt es oft schwer, sich zu wehren. Es erstaunt daher nicht, dass sie es schwierig finden, gleichberechtigten Zugang zu optimaler Krebsbehandlung zu fordern, selbst wenn sie sich mit einer lebensgefährlichen Erkrankung konfrontiert sehen. Unterbehandlung kann zum einen fatale Konsequenzen für die einzelnen Patienten haben, andererseits führt sie auch zu einer erheblichen Verzerrung der Statistik, weil Unterbehandlung naturgemäß zu schlechteren Resultaten führt, als es bei adäquater Therapie zu erwarten wäre.
39.2.2
39
Klinische Krebsforschung und ältere Menschen
Obschon einige Studien auch ältere Patienten einschließen, erfassen nur wenige klinische Studien gezielt deren Bedürfnisse bei Krebsbehandlungen. Ausschlusskriterien gemäß Studienprotokollen, einschließlich eingeschränkte Organfunktionen, sowie der eingeschränkte funktionale Status (. Tab. 39.1) werden zum Problem, wenn es darum geht, ältere Menschen in Studien einzubeziehen. Das allein genügt bereits, um deren mangelnde Repräsentation zu erklären. Zudem wurden die meisten Studien, die sich mit dem Verhalten von Patienten befassten, mit Jüngeren durchgeführt. Die derzeit vorliegenden Studienresultate erlauben keine konsistenten, auf Evidenz basierenden Antworten auf Fragen nach der spezifischen Behandlung von an Krebs leidenden älteren Menschen. Betrachtet man die unterschiedlichen Sichtweisen im Behandlungsteam und bei den älteren Patienten, stellt man Folgendes fest: 4 Aus Sicht des Patienten: 5 Information über und Beteiligung an klinischen Studien werden weniger gesucht. 5 Im Vergleich zu jüngeren Patienten ist der ältere Krebspatient eher geneigt, Hilfe beim Allgemeinarzt zu suchen. 5 Fehlen der Möglichkeit, zu weit entfernt vom Wohnort gelegenen medizinischen Zentren zu reisen; gar nicht machbar ist u. U. für alleinlebende Patienten das häufige Aufsuchen eines spezialisierten Krebsbehandlungszentrums. 5 Die Belastung für Betreuende ist groß, eine ausreichende Betreuung ist möglicherweise gar nicht verfügbar. 5 Es bestehen Schwierigkeiten, komplexe Formulare einer Einverständniserklärung zu verstehen. 4 Aus Sicht des Arztes: 5 Zu wenig Wissen über aktuelle klinische Studien, die spezifisch für ältere Patienten angelegt sind. 5 Wegen Komorbiditäten Zurückhaltung, die Teilnahme an einer klinischen Studie anzubieten.
5 Zeitlicher Mehraufwand für Ärzte und Pflegende beim Erklären der in Frage kommenden Behandlungen und für das Einholen von Einverständniserklärungen. 5 Geeignete Protokolle sind nicht verfügbar; Studien sind mangelhaft gestaltet und nicht auf ältere Krebspatienten zugeschnitten. Altersbedingte Veränderungen der kognitiven, physischen und psychosozialen Fähigkeiten sollten in künftigen Studien vermehrt berücksichtigt werden. Dabei müssen auch die unterschiedlichen Bedürfnisse der sog. »jungen« älteren Menschen (65–75 Jahre) und der »alten« älteren Menschen (>75 Jahre) in Betracht gezogen werden.
39.3
Geriatrisches Assessment und der ältere Krebspatient
Trotz der hohen Anzahl von neuen Krebserkrankungen (60%) und einer Todesrate durch Krebs von >70% bei Patienten über 65 Jahren wurden die Behandlungsstandards meist bei jüngeren Erwachsenen validiert. Altern wird mit einer Anhäufung zahlreicher und verschiedener medizinischer und sozialer Probleme in Verbindung gebracht. Das chronologische Alter eignet sich nicht dazu, das Ausmaß der Komorbidität oder der funktionalen Beeinträchtigungen des Einzelnen bis zum Alter von 85 Jahren zu prognostizieren. Die Behandlung sollte dem höchst heterogenen biologischen Alter, ihrer individuellen Lebenserwartung, den funktionalen Reserven, ihrer sozialen Unterstützung und ihren Präferenzen Rechnung tragen. Die Einschätzung des Alterns beinhaltet 4 die Gesundheit, 4 den funktionellen Status (z. B. Informationen über die Bewältigung des Alltags wie Essen, Anziehen, Körperpflege, Mobilität, physische Aktivität, 4 die Wahrnehmung, 4 eine sozioökonomische Einschätzung, 4 eine psychologische Einschätzung (etwa hinsichtlich Demenz, Depressionen usw.). Dieses multidisziplinäre Assessment wird als Comprehensive Geriatric Assessment (CGA) oder als multidimensionales Geriatrisches Assessment bezeichnet. Anhand des CGA kann die Fähigkeit des Patienten vorhergesagt werden, eine lebenserhaltende, aber toxische Krebstherapie zu tolerieren. Daher ist es notwendig, die Therapieform an die Ergebnisse des CGA zu adaptieren, um die Verträglichkeit der Krebstherapie für den älteren Patienten zu verbessern. Die im Behandlungsteam Tätigen sind geneigt, akut auftretende Probleme als die wichtigsten zu betrachten
687 39.4 · Behandlungsaspekte
. Tab. 39.1. Elemente des CGA (Comprehensive Geriatric Assessment/multidimensionale geriatrische Erfassung)
Faktor
Assessment-Werkzeug
Zusätzliches Assessment
Funktionaler Status
4 Aktivitäten des täglichen Lebens (ATL) 4 Instrumentelle Aktivitäten des täglichen Lebens (IATL) 4 Leistungsstatus
Komorbidität
4 Charlson-Komorbiditäts-Index 4 Kumulative Index-Rating-Skala für die Geriatrie (CIRS-G)
Sozioökonomische Faktoren
Ernährungsstatus
4 Mini Nutritional Assessment (MNA)
Geriatrische Syndrome
4 Geriatrische Depressions-Skala (GDS) 4 Mini Mental Status (MMS) nach Folstein
Polypharmazie/Multimedikation
4 4 4 4
Lebensumstände Anwesenheit einer Pflegeperson Einkommen Transportmöglichkeiten
4 4 4 4
Delirium Stürze Osteoporose Verwahrlosung und Missbrauch
4 Anzahl der Medikationen 4 Medikamenteninteraktionen
Nach Balducci (2003).
und befassen sich oft nicht früh genug mit anderen, bereits bestehenden gesundheitlichen Einschränkungen einschließlich Gebrechlichkeit. Während der letzten 10 Jahre haben Onkologen und Geriater damit begonnen, gemeinsam die Prinzipien der geriatrischen Behandlung und Pflege in die Onkologie und Onkologiepflege zu integrieren. Die Internationale Gesellschaft für Geriatrische Onkologie (SIOG) hat eine Arbeitsgruppe eingesetzt, um die Evidenz der Anwendung des CGA bei Krebspatienten zu bewerten, dessen Kernelemente in . Tab. 39.1 dargestellt sind. Neben dem CGA existieren geriatrische Instrumente, z. B. die VES-Skala (Vulnerable Elders Survey), mit denen sich Gebrechlichkeit, Lebenserwartung und weitere krankheitsspezifische Aspekte erfassen lassen. Ein CGA verbunden mit einer entsprechenden Nachsorge kann bei der Behandlung von älteren Patienten hilfreich sein, indem unentdeckte Probleme erkannt werden, der funktionale Status verbessert wird und darüber hinaus soziale Barrieren für eine Behandlung beseitigt werden. Es gibt eindeutige Beweise dafür, dass sich die Funktionsfähigkeit nach Durchführung der CGA und entsprechender Behandlung verbessert und dass dies bei älteren Menschen zu weniger Krankenhausaufenthalten führt. ! Ältere Krebspatienten sollten daher ein umfassendes geriatrisches Assessment erhalten.
39.4 Behandlungsaspekte Obschon das chronologische Alter als solches in der Krebsbehandlung oft mitberücksichtigt wird, gibt es das Ausmaß physiologischer Veränderungen nicht ausreichend wieder. ! Behandlungsentscheidungen dürfen nicht nur auf dem chronologischen Alter, sondern sie müssen zudem auf der individuellen Leistungsfähigkeit des Patienten, seinem funktionalen Status und der Lebenserwartung basieren. Nicht zu vergessen sind persönliche Wünsche und Anliegen des Patienten, die es zu berücksichtigen gilt.
Die Behandlung älterer Krebspatienten erfordert multidisziplinäre Fähigkeiten und eine enge Zusammenarbeit zwischen Onkologen, Pflegenden, der hausärztlichen Versorgung und Geriatern. Nach der geriatrischen Beurteilung und bei der Entscheidung über eine Tumortherapie können die Patienten in 4 Gruppen eingeteilt werden (. Übersicht). Eines der wichtigsten Ziele bei der Entscheidung über eine Behandlung, speziell von älteren Menschen, besteht darin, dass die mit einer Behandlung möglicherweise verbundenen Morbiditäten die Lebensqualität möglichst nicht beeinträchtigen sollten. Es macht wenig Sinn, wenn ein Patient zwar 3 Monate länger überlebt, aber 11 Wochen davon hospitalisiert ist.
39
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Kapitel 39 · Geriatrische Onkologie
Entscheidung über eine Tumortherapie nach geriatrischer Beurteilung 5 Patienten, die selbstständig sind und keine Komorbiditäten aufweisen, kommen für eine Standardbehandlung in Betracht, d. h. für die gleiche Behandlung wie jüngere Patienten 5 Patienten mit mäßigen, reversiblen Komorbiditäten kommen für eine weniger belastende Therapie mit zusätzlich supportiven Maßnahmen in Frage 5 Gebrechliche Patienten: Hier ist die Morbidität zu behandeln und die Therapie anzupassen; ggf. muss auf eine tumorspezifische Therapie verzichtet und eine Palliation mit Symptomkontrolle gewählt werden 5 Sehr eingeschränkte Lebensqualität, »sehr kranke« Patienten: Geriatrische Intervention; Palliation mit Symptomkontrolle
39.4.1
Änderungen der Organfunktion
Während der Alterung sind bestimmte Einschränkungen der Organfunktionen bekannt. Der Alterungsprozess ist aber sehr individuell und erweist sich als sehr heterogen. Im Wissen um die physiologischen Veränderungen bei älteren Menschen sind vor Beginn der Behandlung die in . Tab. 39.2 genannten Funktionen besonders sorgfältig zu überprüfen.
39.4.2
39
Komorbiditäten
Bekanntlich nimmt mit fortschreitendem Alter nicht nur die Häufigkeit von Krebserkrankungen, sondern auch von anderen Krankheiten zu. Die höhere Inzidenz von Komorbiditäten beeinflusst die Krebsbehandlung. Mehr als 80% aller Menschen von >65 Jahren leiden an mindestens einer chronischen Erkrankung. Bei bestehenden Begleiterkrankungen muss überlegt werden, ob und wie sie die Tumorerkrankung bzw. ihre Behandlung und die Prognose beeinflussen.
. Tab. 39.2. Physiologische Veränderungen im Alter
Organ(system)
Beispiele
Neurologische Veränderungen
4 Veränderung der motorischen Funktionen 4 Veränderung der Sinne (Hörvermögen, Tastsinn usw.) 4 Veränderung des Gedächtnisses 4 Veränderte oder verminderte Wahrnehmung 4 Auftreten von Demenz 4 Auftreten von Delirium 4 Auftreten von Depressionen
Eingeschränkte Funktionsfähigkeit einzelner Organe
4 Risiko von Organversagen
Nieren
4 Abnahme der glomerulären FIltrationsrate 4 Verminderter renaler Blutfluss
Leber
4 Verminderte Leberdurchblutung 4 Proteinsynthaserate nimmt ab
Gastrointestinalsystem
4 Gastrische Säuresekretion vermindert 4 Auftreten von GERD (»gastroesophageal reflux disease«) 4 Magenentleerungszeit und Motilität verlangsamt 4 Abnahme der Gesamtoberfläche des intestinalen Epithels 4 Absorptionsfähigkeit reduziert 4 Verminderter Blutfluss (Splanchnikusgebiet)
Herzmuskel
4 4 4 4
Lungenfunktion
4 Abnahme des Gasaustauschs 4 Verlust an Elastizität (Lunge und Thoraxwand) und an Stärke der Atemmuskulatur 4 Lungenfunktionswerte nehmen ab
Körperzusammensetzung
4 Reduziertes Plasmavolumen 4 Abnahme des Gesamtkörperwassers 4 Änderungen des Verhältnisses von Fett zu Muskelmasse
Blutbildung (Knochenmark)
4 Hämatopoetisch aktives Gewebe wird durch Fettmark ersetzt 4 Abnahme der Zahl der Stammzellen
Immunologische Veränderungen
4 Abnahme der Anzahl und der Funktion von Immunzellen
Beispiel Beispiele häufiger Komorbiditäten: 5 Herz-Kreislauf-System: Hypertonie. 5 Muskulär/Skelettsystem: Arthrose, Arthritis, Osteoporose. 5 Sinnesorgane: grauer Star, Hörverlust. 5 Neurologisch: Demenz, Delirium, Depression. 5 Diabetes mellitus. 5 Gastrointestinale Probleme (»gastroesophageal reflux disease«; GERD).
Verdickung der Gefäßwände Verlust von Elastinfasern Zunehmende Fibrose Senkung des maximalen Minutenvolumens unter Belastung
689 39.4 · Behandlungsaspekte
Multimedikationen, um die vorgenannten Krankheiten zu behandeln, sind üblich. Werden nicht vorsorgliche Maßnahmen getroffen, sind vermehrte unerwünschte Wirkungen und Interaktionen der Medikamente wahrscheinlich. Wichtig ist nun das unverzügliche Erkennen solcher Symptome sowie deren adäquates Management. Auf diese Weise dürfte sich auch das Ausmaß unerwünschter Wirkungen der eigentlichen Tumortherapie vermindern lassen.
39.4.3
Tumorchirurgie
Die funktionale Leistungsfähigkeit (ADL und IADL) und die Erfassung von Komorbiditäten sind geeignete Indikatoren für die Identifikation von an Krebs erkrankten Patienten, die einer Radikaloperation unterzogen werden sollen. Die Furcht vor erhöhter postoperativer Morbidität und Mortalität führt häufig zu suboptimalen Entscheidungen, was Krebsoperationen bei älteren Menschen angeht. Die präoperative Ausschaltung von Risikofaktoren sowie die postoperative Rehabilitation sind dabei genauso wichtig wie die Anwendung bester Anästhesie- und Operationstechniken, um gute postoperative Ergebnisse zu erzielen, die mit denjenigen jüngerer Patienten vergleichbar sind. ! Ungeachtet des Alters bleibt der chirurgische Eingriff die wichtigste Behandlung bei älteren Patienten mit soliden Tumoren. Nach sorgfältiger Evaluation des zu erwartenden Nutzens und der postoperativen Risiken (Komplikationen) stellt sich jedoch die Frage, ob überhaupt operiert werden soll.
Umfassende Früherfassung von Komorbiditäten, beispielsweise mittels CGA, hat sich als empfehlenswert erwiesen, um die perioperative Mortalität von Patienten zu senken. Das scheint besonders bei der Gruppe der >80-Jährigen der Fall. Man geht davon aus, dass der Heilungsprozess bei älteren Menschen anders verläuft als bei jüngeren, doch wurden keine entsprechenden Recherchen durchgeführt, aufgrund derer sich diese Annahme hätte erhärten lassen. Das Schmerzmanagement (7 Kap. 18) muss bei älteren Patienten ebenfalls anders angegangen werden als bei jüngeren.
39.4.4
Radiotherapie
Die Strahlentherapie ist auch bei älteren Patienten eine gute Therapieoption, wenn Operationen und Chemotherapie kontraindiziert sind. Mit den neueren Technologien und verbesserten Techniken, wie dem hochenergetischen Linearbeschleuniger, ist diese Behandlungsform heute
durch bessere Kontrolle der Zielgebiete, dreidimensionale CT-Planung und eine optimierte Dosimetrie erträglicher und sicherer als früher. Vor der Strahlentherapie sollte das CGA erhoben werden, um die Grundlage des funktionellen Status zu bestimmen. Radiochemotherapie sollte bei älteren Patienten mit Vorsicht eingesetzt werden. Dosisänderungen der Chemotherapie können erforderlich werden, um toxische Nebenwirkungen zu reduzieren. Der gebrechliche ältere Mensch scheint ein höheres Risiko für Strahlenschädigung der Lunge und der Koronarien, für Ösophagitis und Enteritis zu haben. ! Es liegen eindeutige Belege dafür vor, dass ältere Patienten mit gutem Allgemeinzustand eine Standarddosis Radiotherapie tolerieren und dass diese mit minimaler Toxizität sowohl kurativ wie auch palliativ in fast allen Fällen angewendet werden kann.
39.4.5
Medikamentöse Tumortherapie
Obwohl es keine anerkannten Algorithmen für die Behandlungsentscheidungen bei älteren Krebspatienten gibt, stehen immer mehr Daten zur Verfügung, um die Anwendung von Chemotherapien bei dieser Patientenpopulation vorzugeben. Die meisten Studien zeigen, dass ältere Patienten i. Allg. in einem Ausmaß von der Krebstherapie profitieren, das dem bei jüngeren vergleichbar ist. Nur eine Minderheit der Patienten muss aufgrund einer verminderten Toleranz von der Behandlung ausgeschlossen werden. ! Chemotherapien sollten bei älteren Menschen auf der Grundlage der Ergebnisse des CGA individuell verordnet werden.
Zu den Faktoren, die bei der Auswahl der Chemotherapie berücksichtigt werden müssen, gehören Einschränkungen von Resorption, Verteilung, Metabolismus, Ausscheidung, Interaktionen und Adhärenz (Therapietreue) sowie pharmakokinetische und pharmakodynamische Veränderungen, die bei älteren Patienten auftreten. Darüber hinaus müssen die physiologischen altersbedingten Veränderungen sorgfältig beobachtet und Dosisanpassungen unter Berücksichtigung von Dysfunktionen der Endorgane (Niere, Leber) vorgenommen werden, um älteren Patienten eine sichere Verabreichung der Chemotherapie zu gewährleisten (. Übersicht und . Tab. 39.2). Die Auswahl der Chemotherapie wird bei älteren Menschen häufig durch das Ausmaß der Komorbidität und durch ihren funktionellen Status bestimmt. Diese Faktoren sind wichtig und können häufig Reaktion und Toxi-
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690
Kapitel 39 · Geriatrische Onkologie
Bei der Verabreichung einer Chemotherapie bei älteren Patienten zu berücksichtigende Faktoren 5 Das Volumen der Medikamentenverteilung wird bei älteren Menschen durch Veränderungen der Körperzusammensetzung, Anämien und eine verminderte Plasmaalbuminkonzentration beeinflusst. 5 Die Nierenausscheidung spielt bei vielen Medikamenten eine wichtige Rolle; die Abnahme der glomerulären Filtrationsrate ist eine allgemeine Alterserscheinung. 5 Der Medikamentenmetabolismus in der Leber wird v. a. durch Veränderungen des P450-Systems und durch die zusätzliche Verabreichung weiterer Medikamente (Polypharmazie) beeinflusst, die mit diesem wichtigen Enzymsystem interagieren.
zität bestimmen. Zu den beteiligten Mechanismen gehören: 4 Genmutationen, 4 Resistenz gegenüber der Apoptose, 4 schlechtere Oxygenierung aufgrund der eingeschränkten Durchblutung. Bei älteren Patienten sollten Chemotherapien individuell auf die Art der Erkrankung und auf die Alltagsbewältigung (»performance status«) zugeschnitten werden. Auch bei einer Chemotherapie erweist sich das CGA als nützlich für eine Identifizierung der Patienten, für die eine Chemotherapie in Frage kommt. ! Das chronologische Alter des Patienten allein ist bei einer standarddosierten Therapie kein Grund für die Dosisreduktion, solange adäquate supportive Maßnahmen gewährleistet werden können.
39
Eine Anpassung der Dosis empfiehlt sich jedoch bei verminderter Organfunktion oder mit Rücksicht auf Komorbiditäten. Eine zu niedrig dosierte Tumortherapie ist allerdings inadäquat und reduziert die Chancen auf Heilung oder Linderung der Beschwerden (7 Kap. 9).
39.5 Pflege des älteren, an Krebs
erkrankten Menschen Auch ältere Patienten können unter zahlreichen Symptomen bedingt durch die Krankheit oder die entsprechende Therapie leiden. Mit dem Alter scheinen die Symptome beider Ursachen noch zuzunehmen. Der Umgang mit solchen Symptomen erfordert bei älteren Menschen ein sofortiges Erkennen und eine entsprechende Behandlung,
um eine angemessene, unterstützende Pflege dieser potenziell besonders vulnerablen Patienten sicherzustellen. Bei der Pflege von älteren krebskranken Menschen ist es zudem wichtig, die Vielfalt der Beeinträchtigungen, unter denen Ältere leiden, zu verstehen sowie ihrem Bedürfnis nach einer auf sie persönlich abgestimmten, »maßgeschneiderten« und unterstützenden Pflege zu entsprechen. So leiden ältere, an Krebs erkrankte Menschen häufiger auch unter kardiovaskulären Erkrankungen, neurologischen und endokrinen Störungen oder einer psychischen Beeinträchtigung wie z. B. Demenz. ! Um eine optimale Pflege zu gewährleisten, müssen Pflegende daher sämtliche Bedürfnisse dieser Patienten berücksichtigen. Die Prinzipien der onkologischen wie auch der gerontologischen Pflege müssen für eine optimale Versorgung beachtet werden.
Abgesehen von den allgemeinen Symptomen krebskranker Patienten weisen Ältere ein höheres Risiko für Anorexie und Kachexie sowie für kognitive Störungen, wie Depressionen und Delirium, auf. Darüber hinaus scheinen ältere Menschen im ersten Jahr nach der Krebsdiagnose eine Vielzahl weiterer Symptome zu entwickeln. So haben ältere Patienten mit Schmerzen durchschnittlich noch 3,8 weitere Symptome und Patienten, die unter Fatigue leiden, im Durchschnitt 4,4 weitere Symptome. Patienten, die sowohl unter Schmerzen als auch unter Fatigue leiden, weisen durchschnittlich 6,3 zusätzliche Symptome auf. Die systematische Einschätzung aller Symptome mit Hilfe angemessener und validierter Symptomerfassungsinstrumente ist daher notwendig und sollte als Teil eines umfassenden geriatrischen Assessments erfolgen. Wegen der bekannten altersbedingten physiologischen Änderungen (. Tab. 39.1) führt die Behandlung mit tumorwirksamen Medikamenten bei älteren Krebspatienten zu einem erhöhten Risiko der Toxizitäten. Eine intensivere Aufmerksamkeit und Behandlung als bei jüngeren Patientengruppen ist erforderlich. Die wichtigsten Toxizitäten, die besondere Aufmerksamkeit verlangen, sind in . Tab. 39.3 dargestellt. ! Der Patient und die Angehörigen sollten informiert werden, dass eine Bagatellisierung der Symptome (»weil die Person älter ist«) eine wirksame Behandlung beeinträchtigen und verzögern kann.
Manche Symptome der Krebserkrankung überlagern diejenigen, die in der palliativen/Langzeitpflege auftreten. Dies erfordert geriatrisches wie auch onkologisches Wissen. Pflegende sind auf Pflegerichtlinien angewiesen, auf Standards, die auf Evidenz basieren, die ihnen helfen, zu beurteilen und zu bewerten, zu planen und eine qualitativ hochwertige Pflege in diesem wachsenden Segment zu garantieren.
691 39.5 · Pflege des älteren, an Krebs erkrankten Menschen
. Tab. 39.3. Spezielle Aspekte der Pflege alter Menschen
Symptom
Inzidenz
Intervention/spezielle Aufmerksamkeit
Neutropenie
Häufigerer, schwererer Verlauf, Risiko scheint in frühen Zyklen höher
4 Information über Zeichen einer Infektion 4 Kontaktadresse vermitteln 4 Anzeichen von deliranten Zuständen beachten (7 Kap. 19)
Anämie
Prävalenz >65 Jahre
4 Berichte über Anzeichen einer Anämie seitens der Patienten oder Angehörigen beachten (7 Kap. 19)
Mukositis
Verstärkt bei älteren Patienten; oral (orale Mukositis) und intestinal (Durchfall)
4 Besondere Information von Prothesenträgern (Voll- oder Teilprothesen) 4 Behandlung gemäß Standard orale Mukositis (7 Kap. 27) 4 Flüssigkeitseinnahme erfragen bzw. kontrollieren (7 Kap. 22.2.5)
Schmerz
Hohe Prävalenz
4 Ursache bestimmen 4 Spezielle Interventionen (7 Kap. 19)
Übelkeit/Erbrechen
Nicht besonders erhöht, aber evtl. schwerwiegendere Komplikationen als bei jüngeren Patienten
4 Anzeichen zunehmenden Dehydratation beachten (verminderte Menge oder sehr konzentrierter Urin; 7 Kap. 23)
Neurotoxizität
Nicht erhöht, kann aber wegen Komorbiditäten evtl. schwerwiegender sein als bei jüngeren Patienten
4 Anzeichen von Störungen des Gleichgewichtsinns beachten → Sturzgefahr 4 Aspekte der Sicherheit zu Hause ansprechen 4 Erfassung von bereits vorhanden Neuropathien (7 Kap. 19)
Depression
Erhöht bei älteren Menschen
4 Bei Verdacht: Psychologische Abklärung durch Arzt (u. a. 7 Kap. 38)
Mod. nach Repetto et al. (2003); Balducci u Carreca (2003); Green et al. (2004). Die ausführliche Besprechung der oben genannten Pflegeinterventionen ist in den entsprechenden Kapiteln zu finden.
Die zunehmende Verlagerung von stationärer zu ambulanter Behandlung erhöht auch die Bedeutung der Betreuung und der Pflege außerhalb der Klinik. Manchmal wird diese Pflege von Angehörigen durchgeführt, teils unterstützt durch häusliche Betreuung durch professionelle Pflegende. Beispiel Eine 75-jährige Frau hat ein metastasierendes Kolorektalkarzinom und lebt zu Hause. Sie sollte 2× täglich oral Medikamente einnehmen. Sie ist ferner angewiesen auf Medikamente wegen Bluthochrucks und ebenso auf Schmerzmittel wegen ihrer Arthritis. Ihr Ehemann ist 80 Jahre alt, sieht schlecht und hat Gehbeschwerden. Ein ambulanter Pflegedienst könnte eingesetzt werden zur Gewährwleistung der sicheren Medikamenteneinnahme. Dieser Pflegedienst kann die notwendigen Hilfen koordinieren, um den Ehemann im Haushalt zu entlasten (7 Kap. 41).
Ältere Patienten werden häufig durch ihre Partner – ebenfalls alternde Menschen – begleitet. Die Familien sind unvorbereitet mit der Krebserkrankung eines Angehörigen konfrontiert, oft verfügen sie nicht über die Mittel oder die Energie, um den Bedürfnissen der Patienten genügen zu können (7 Kap. 41).
39.5.1
Kommunikation mit älteren, krebskranken Menschen
Die Informationsvermittlung spielt bei der Beziehung zwischen Patienten und Pflegenden eine wichtige Rolle. Die Pflegenden helfen dem Betroffenen bei der Bewältigung der Beeinträchtigung seiner Lebensqualität nach der Krebsdiagnose und -behandlung. Auf die Informationsbedürfnisse älterer Krebspatienten beziehen sich jedoch nur wenige Studien. Danach haben die im Gesundheitswesen professionell Tätigen größere Schwierigkeiten bei der Kommunikation mit älteren Patienten, verbringen teilweise weniger Zeit mit ihnen und erkennen die Rolle, die diese Patienten im Entscheidungsprozess einnehmen möchten, nicht an. Auch in der Informationsvermittlung bestehen gegenüber den älteren Patienten Kommunikationsprobleme. Oft zögern ältere Menschen, über ihre Belastungen und ihre Befindlichkeit zu sprechen. Leider wird dieses Problem, das bei dieser Patientengruppe häufiger auftritt, oft unterschätzt. Ein solcher Mangel an Kommunikation kann nachteilige Folgen haben für den Erfolg der Behandlung, für die Adhärenz des Patienten sowie für seine Lebensqualität und diejenige seiner Angehörigen. Mangelnde Kommunikation kann auch den Wunsch nach einem
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Kapitel 39 · Geriatrische Onkologie
schnellen Tod aufkommen lassen. Diese Art Belastung ist bei älteren Menschen schwieriger zu erkennen, weil sie diesbezüglich meist weniger eindeutige Belastungssymptome zeigen. ! Am Eindruck, ein älterer Patient interessiere sich nicht für seine Krankheit oder für die Behandlung, ist nicht selten eine Fehlinterpretation des Behandlungsteams schuld. Überlegungen oder verbale Reaktionen dieser Patienten erfordern manchmal mehr Zeit als bei jüngeren Patienten.
39.6 Zukünftige Herausforderungen
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Die Alterung der Bevölkerung schreitet fort. Pflegende dürfen die Geriatrie künftig nicht lediglich als untergeordnetes Spezialgebiet betrachten. Da Krebserkrankungen die häufigsten Krankheiten älterer Menschen sind, müssen sich die im Gesundheitswesen professionell Tätigen der Bedürfnisse dieser Patientengruppe besser bewusst werden. Das aus Studien gewonnene neue Wissen wird noch viel zu wenig in die tägliche klinische Pflege übertragen. Die Bedeutung, ein umfassendes geriatrisches Assessment bei älteren Krebspatienten einzusetzen, ist hinreichend diskutiert worden und muss wesentlicher Teil unserer Pflege werden, wenn wir – wie oben erwähnt – eine angemessene Behandlung und Pflege leisten wollen. In zahlreichen europäischen Ländern fehlt ein Studienplan für die Pflege älterer Krebspatienten. Genau deshalb und weil man sich der steigenden Herausforderung durch die Zunahme der alternden, an Krebs erkrankten Bevölkerung bewusst war, hat die Europäische Gesellschaft für Onkologiepflege (European Oncology Nursing Society/ EONS) einen entsprechenden Lehrplan entwickelt und veröffentlicht. Sie beabsichtigt, damit alle europäischen Länder zu befähigen, ihren Pflegenden die speziellen Bedürfnisse älterer, krebskranker Menschen näher zu bringen.
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40
Pädiatrische Onkologie G. Finkbeiner, E. Bergsträsser 40.1
Einleitung
40.2
Medizinische Aspekte
40.3
Allgemeine pflegerische Aspekte
40.4
Nebenwirkungen der Therapie und Symptommanagement
40.5
Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit onkologischer Erkrankung – 696
40.5.1 40.5.2 40.5.3
Krankheitsverständnis von Kindern und Jugendlichen – 696 Information – 697 Unterstützung bei unangenehmen oder schmerzhaften Interventionen – 697 Jugendliche – 698
40.5.4
– 694 – 694 – 695
40.6
Betreuung, Miteinbeziehen, Information und Anleitung der Familie – 698
40.6.1 40.6.2
Eltern – 698 Geschwister – 699
– 696
694
Kapitel 40 · Pädiatrische Onkologie
)) Etwa eines von 500 Kindern erleidet bis zum Erwachsenenalter eine Krebserkrankung. Die Kinderonkologie gehört zu den Bereichen der Medizin, die Erfolgsgeschichte schreiben durften: Während in den 1960-Jahren beispielsweise die akute lymphatische Leukämie in der Regel tödlich verlief, können heute fast 80% dieser Kinder langfristig geheilt werden. Dies lässt sich mit den biologischen Besonderheiten der Krebskrankheiten bei Kindern, ihrer höheren Sensibilität gegenüber Chemotherapeutika und der engen internationalen Zusammenarbeit bei klinischen Behandlungsstudien erklären. Die verbesserten Heilungschancen führen zu einer hohen Anzahl Langzeitüberlebender. Damit kommt den Spätfolgen nach der Behandlung und der Frage der Lebensqualität im Erwachsenenalter eine zunehmende Bedeutung zu. Dieses Kapitel zeigt wichtige Unterschiede in Medizin und Pflege zwischen der pädiatrischen Onkologie und der Onkologie bei Erwachsenen. Mit »Kind« sind hier Kinder und Jugendliche jeder Alterstufe bis zum Abschluss des Wachstums gemeint.
> Praxistipps Bei der Pflege von Kindern mit onkologischer Erkrankung sollten also neben dem Patienten immer auch Eltern, Geschwister und andere Bezugspersonen im Fokus der Betreuung stehen.
Die Tumorbehandlung und die Betreuung und Begleitung der Patienten und ihrer Familien erfordern ein interdisziplinäres Behandlungsteam bestehend aus Ärzten, Pflegenden, Sozialarbeitern, Psychologen, Lehrern, Kindergärtnern, Physiotherapeuten, Ernährungsberatern etc. Dies ist nur an spezialisierten Zentren für pädiatrische Onkologie möglich, die über weitere Infrastrukturen wie z. B. eine Intensivstation und eine Hämodialyse verfügen. Weiterhin ist eine enge Zusammenarbeit mit dem Kinder- oder Hausarzt, der ambulanten Pflege und evtl. der Schule des Kindes anzustreben. ! Anders als bei Erwachsenen kann Krebs bei Kindern weder durch vorbeugende Maßnahmen verhindert noch durch Vorsorgeuntersuchungen frühzeitig erkannt werden.
Diese Punkte sind im Umgang mit betroffenen Kindern, Jugendlichen und deren Familien von weitreichender Bedeutung.
40.1 Einleitung 40.2 Medizinische Aspekte
40
Erkrankt ein Kind an Krebs, bedeutet dies für jede betroffene Familie eines der denkbar schlimmsten Ereignisse. Die Fortschritte in der Behandlung von Krebserkrankungen im Kindes- und Jugendalter haben zwar dazu geführt, dass etwa 75% der Kinder geheilt werden können, aber trotzdem ist die Familie mit einer lebensbedrohlichen Krankheit konfrontiert, die zum Tod führen kann und sicher Spuren hinterlässt. Die ersten Jahre sind geprägt von intensiven Behandlungen, wiederholten Klinikaufenthalten, häufigen Kontrollen und Untersuchungen in medizinischen Einrichtungen und damit einer andauernden latenten Unsicherheit in Bezug auf den Ausgang der Krankheit. Eine Unsicherheit, die auch nach Abschluss der Behandlung häufig über Jahre bestehen bleibt. Die physischen und emotionalen Anforderungen an alle Familienmitglieder sind hoch, es müssen große Anstrengungen unternommen werden, um den neuen Erfordernissen gerecht zu werden. Veränderungen in der Familienroutine sind unausweichlich: Das Leben dreht sich nunmehr um das erkrankte Kind, seine Krankenhausaufenthalte, seine Behandlung und seine gesundheitliche Verfassung. Die Folgen hat die ganze Familie zu tragen, die Lebensbereiche eines jeden Familienmitgliedes sind in Mitleidenschaft gezogen.
Kinder erkranken im Vergleich zu Erwachsenen sehr selten an einem Tumor (ca. 1% aller malignen Erkrankungen betreffen Kinder). Die Krebsarten unterscheiden sich wesentlich: So treten bei Kindern vorwiegend Leukämien,
. Tab. 40.1. Die häufigsten malignen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen
Krebs
Prozentualer Anteil an allen malignen Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen [%]
Leukämien (7 Kap. 49.1)
35
Tumoren des zentralen Nervensystems (7 Kap. 49.3)
20
Lymphome
12
Neuroblastom (7 Kap. 49.2)
10
Wilms-Tumor
6
Weichteilsarkome
6
Knochentumoren
5
695 40.3 · Allgemeine pflegerische Aspekte
Tumoren des zentralen Nervensystems und Sarkome auf, während Erwachsene eher an Karzinomen erkranken. Über die Ursachen kindlicher Krebserkrankungen ist noch relativ wenig bekannt. Die Behandlung basiert wie bei Erwachsenen auf den 3 Standbeinen: 4 Polychemotherapie, 4 Chirurgie und 4 Radiotherapie. Der Chemotherapie kommt aus verschiedenen Gründen die größte Bedeutung zu: 4 Die Biologie der meisten im Kindesalter auftretenden Tumoren ist mit einer hohen Sensibilität gegenüber Chemotherapeutika verbunden. 4 Kinder vertragen aus ungeklärten Gründen die Akuttoxizität von Chemotherapeutika in der Regel besser als Erwachsene, sodass die Therapieschemata intensiver gestaltet werden können. Die Heilungschancen von Leukämien sind bei Kindern besser als bei Jugendlichen, die einer weniger intensiven Chemotherapie aus Erwachsenenprotokollen zugeführt werden. 4 Ein weiterer Grund, warum die Chemotherapie gegenüber der Radiotherapie bevorzugt wird, liegt in den unterschiedlichen Spätfolgen der beiden Behandlungsmodalitäten. Nach Radiotherapie ist das Risiko für die Entstehung von Zweitumoren um ein Vielfaches größer als nach einer Chemotherapie. Allerdings kommt den Spätfolgen nach einer Chemotherapie im Kindesalter, v. a. bei sehr jungen Kindern, ebenfalls eine beträchtliche Rolle zu. Diese betreffen fast alle Organsysteme, zu nennen sind v. a. Beeinträchtigungen des zentralen Nervensystems wie kognitive Störungen oder motorische Funktionsausfälle, Hörstörungen, Funktionsstörungen der Hormondrüsen, kardiale Erkrankungen wie Kardiomyopathie und nephrologische Komplikation. Diese können Auswirkungen im psychosozialen Bereich oder hinsichtlich der Lebensqualität haben. Auch in der pädiatrischen Onkologie werden Hochdosistherapien mit autologem Stammzellersatz und allogene Knochenmarktransplantationen durchgeführt. Neue Therapieformen, wie v. a. der Einsatz von monoklonalen Antikörpern, halten langsam Einzug in die pädiatrischen Therapieprotokolle, werden zu einem größeren Teil jedoch in experimentellen Behandlungsansätzen bei therapieresistenten Tumoren oder anderweitig schwer behandelbaren Krankheiten eingesetzt. Trotz aller Erfolge in der Behandlung von Tumorerkrankungen bei Kindern bilden diese nach unfallbedingten Todesfällen die zweithäufigste Todesursache bei >1-jährigen Kindern.
40.3 Allgemeine pflegerische Aspekte Aufgrund der Aggressivität und Komplexität, aber auch der langen Dauer der Therapien sind Pflege, Betreuung und Begleitung dieser Patienten und ihrer Familien intensiv und anspruchsvoll. Die Familien verbringen viel Zeit in der Klinik, zur Tumorbehandlung und wegen akuter therapiebedingter Komplikationen, v. a. Infektionen. Den Pflegeprozess dieser Patienten und ihrer Familie zu steuern, stellt hohe Anforderungen. Von den Pflegenden erwarten Eltern und Patienten nicht nur, dass sie die Therapiepläne kennen und umsetzen oder Kenntnisse über Medikamente, Verabreichungsweise, Wirkung und Nebenwirkung haben. Sie sollten den Patienten und seine Familie, seine Gewohn- und Eigenheiten möglichst gut kennen, auf diese eingehen, mögliche Probleme vorausschauend angehen, Informationen beschaffen, vermitteln und eng mit dem interdisziplinären Team vernetzt arbeiten (. Pflegerische Interventionen).
Pflegerische Interventionen bei pädiatrischen Patienten Hauptaufgaben der Pflegenden 4 Durchführung von diagnostischen, therapeutischen und rehabilitativen Maßnahmen. 4 Überwachen der Nebenwirkungen der Tumorbehandlung und Durchführung von Maßnahmen zu deren Linderung. 4 Aufbau einer professionellen Beziehung zum Patienten und seiner Familie. 4 Bereitstellung der für den Patienten und seine Familie notwendigen Informationen. 4 Unterstützung und Beratung bei der Bewältigung von Alltagsaktivitäten (z. B. Essen, Körperpflege). 4 Unterstützung, Beratung und Anleitung von Patienten und Eltern für die Übernahme von pflegerischen Aufgaben zu Hause wie Symptomkontrolle und -bewältigung oder Medikamentenverabreichung, v. a. bei Kleinkindern. 4 Unterstützung und Begleitung des Patienten und seiner Familie bei der emotionalen Bewältigung der Geschehnisse. 4 Anleitung von Patient und Eltern zu Vorsichtsmaßnahmen während der Therapie (keine rektale Temperaturmessung, Vermeiden von Menschenansammlungen, Umgang mit Kinderkrankheiten in der Umgebung, Impfungen in der Familie – z. B. Varizellenimpfung bei Geschwisterkindern).
40
696
40.4
Kapitel 40 · Pädiatrische Onkologie
Nebenwirkungen der Therapie und Symptommanagement
Bei Kindern und Jugendlichen treten ähnliche Nebenwirkungen der Tumortherapie auf wie bei Erwachsenen, nur ist die Intensität der Akuttoxizität bei Kindern oft geringer (7 oben). Das Symptommanagement unterscheidet sich aber erheblich. Auf einige Besonderheiten sei im Folgenden hingewiesen: Chemotherapie. Für die sichere Verabreichung wird bei
allen Kindern ein zentralvenöser Verweilkatheter, in der Regel ein Portsystem oder ein tunnelierter Katheter, eingelegt. Thrombozytentransfusionen bei Thrombozytopenie.
Diese erfolgen bei Säuglingen und kleinen Kindern z. T. früher als bei Erwachsenen (40 kg Körpergewicht wurden gute Erfahrungen mit Aprepitant gemacht; eine internationale Multicenterstudie zur Dosisfindung bei Kindern ist geplant. Antizipatorisches Erbrechen tritt bei Kindern seltener auf, wird aber bei Jugendlichen beobachtet. Verändertes Hungergefühl/Gewichtsverlust. Der Ernäh-
40
rung wurde in der Vergangenheit wenig Beachtung geschenkt. Inzwischen ist bekannt, dass Unterernährung bei Kindern mit onkologischen Erkrankungen häufig und ihre Erfassung von großer Bedeutung ist; ca. 60% der Kinder sind davon betroffen. Schmerz. Für Kinder stehen altersspezifische Instrumente zur Beurteilung der Schmerzintensität zur Verfügung, die v. a. für die Fremdeinschätzung von Schmerzen wichtig sind: 4 Neonatal Infant Pain Score (NIPS) bis 2,5 Jahre, 4 Children’s Hospital of Eastern Ontario Pain Scale (CHEOPS) 2,5–4 Jahre, 4 Gesichterskala nach Bieri ab 4 Jahren, 4 Visuelle Analogskala (VAS) wie bei Erwachsenen für >12-Jährige.
Diagnostische Eingriffe (Lumbalpunktion, Knochenmarkpunktion) werden meistens in Kurznarkose durchgeführt. Opioide werden zur Schmerztherapie auch bei sehr kleinen Kindern eingesetzt.
40.5
Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit onkologischer Erkrankung
Kinder mit onkologischer Erkrankung müssen sich einer intensiven Therapie unterziehen und große Einschränkungen in ihren Lebensaktivitäten in Kauf nehmen. Viele der gewohnten Aktivitäten wie Schule, Kindergarten, Spielen mit andern Kindern, Geschwistern oder Haustieren, Schwimmen oder Vereinsaktivitäten können gar nicht oder nur noch eingeschränkt ausgeübt werden. Der Alltag wird plötzlich durch fremdbestimmte Verpflichtungen wie Einnahme von Medikamenten, unangenehme Prozeduren und eine unbekannte Umgebung, nämlich die einer Klinik, dominiert. Es sollte ein Ziel der Pflege sein, gemeinsam mit dem Patienten und seinen Eltern einen Weg zu finden, auf dem sich der Patient unabhängig von seinem Alter in diese neue Umgebung einfinden und bei der Durchführung der notwendigen Maßnahmen kooperieren kann.
40.5.1
Krankheitsverständnis von Kindern und Jugendlichen
Kinder und Jugendliche entwickeln im Laufe ihrer Erkrankung ein persönliches Krankheitskonzept, in das sie das, was mit ihnen und um sie herum geschieht, einzuordnen versuchen. Die Bildung dieses Denkkonzeptes ist abhängig vom Alter und vom Entwicklungsstand, aber auch von den Erfahrungen, die das Kind bzw. der Jugendliche vor und während seiner Erkrankung macht. ! Das Behandlungsteam sollte sich bewusst machen, dass es mit seinen Handlungen diese Erfahrungen entscheidend prägt, und entsprechend sorgfältig und vorausschauend handeln und kommunizieren.
Kleinkinder haben noch irrationale Vorstellungen darüber, wie die Welt und auch ihr Körper funktionieren. Sie können von Phantasievorstellungen und Märchen geprägte Ideen entwickeln, warum sie krank geworden sind. Diese können Angst machen und das Kind belasten, beispielsweise die Idee, dass das Kind als Strafe krank geworden sei, weil es nicht artig war oder weil eine böse Hexe einen Zauber ausgesprochen hat. Diese magische Vorstellungskraft kann aber auch genutzt werden, um dem Kind einzelne Aspekt seiner Therapie zu erklären (Chemotherapie als Polizei, die die Krankheit verfolgt und »wegmacht«).
697 40.5 · Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit onkologischer Erkrankung
. Tab. 40.2. Altersbedingter Wandel des Krankeitsverständnisses
Alter
Krankheitsverständnis
Vorschulalter
4 Irrationale (»magische«) Erklärungen 4 Konkrete Sachverhalte werden wahrgenommen 4 Egozentrische Sichtweise 4 Betrachtung in einzelnen Aspekten
Schulalter
4 Denken an konkret beobachtbare Ereignisse gebunden 4 Übernahme der Perspektive von anderen Personen möglich 4 Mehrere Aspekte können gleichzeitig berücksichtigt werden 4 Möglichkeit, Dinge einzuordnen
Jugendalter
4 Logisch-abstraktes Denken 4 Hypothetisches Denken 4 Erklärung der Krankheit durch multifaktorielle Einflüsse möglich
Je älter das Kind wird, desto eher ist es in der Lage, das, was mit ihm geschieht, in einen Zusammenhang mit Erlebtem oder Gesehenem zu bringen. Es kann verstehen, dass seine Symptome in einem Zusammenhang mit der Krankheit stehen können, z. B. Blässe und Müdigkeit aufgrund der Chemotherapie, weshalb eine Bluttransfusion nötig ist. Mit Erreichen und Fortschreiten des Jugendalters entwickelt sich immer mehr ein abstrakt-logisches Krankheitsverständnis, das dem Erwachsener zu gleichen beginnt. . Tab. 40.2 zeigt diese Zusammenhänge auf.
40.5.2
Information
40.5.3
Unterstützung bei unangenehmen oder schmerzhaften Interventionen
Es wird ein Weg gesucht, auf dem der Patient die Prozedur möglichst gut mitmachen kann. Beispielsweise wird die Verabreichungsform des Medikamentes angepasst (Sirup statt Tablettenform oder Einnahme des Medikaments zusammen mit einem Nahrungsmittel, das den Geschmack des Medikamentes übertönt). Wichtig ist die aktive Teilnahme des Kindes an diesem Prozess. Das »Unterjubeln« eines Medikamentes gelingt vielleicht einige Male, aber nicht über viele Monate. Mögliche andere Strategien sind: 4 Ablenkung, z. B. durch einen Videofilm, durch ein Spiel oder Musik. 4 Gezieltes Erlernen von Verhaltensweisen oder Entspannungstechniken (z. B. bestimmte Atemübungen), die in belastenden Situationen (z. B. beim Anstechen des Portsystems) angewendet werden können. 4 Motivation durch ein Belohnungssystem: Der Patient erhält jeweils für die unangenehme Prozedur eine kleine Anerkennung. Möglichkeiten dazu sind z. B. bunte Kleber mit passenden Motiven, von denen dann jeweils einer ausgewählt und auf ein Plakat aufgeklebt werden darf, oder ein Korb, aus dem ein kleines Geschenk ausgesucht werden darf. Eine weitere Möglichkeit sind Schmuckperlen, die auf eine Kordel aufgezogen werden und so mit fortschreitender Therapie eine hübsche bunte Halskette ergeben (. Abb. 40.1). > Praxistipps Ist eine schmerzhafte Prozedur erforderlich oder kann eine Intervention nur unter Zwang durchgeführt werden, so soll dies nach Möglichkeit außerhalb des Patientenzimmers in einem Behandlungsraum und in Absprache mit den Eltern erfolgen und der Patient dabei nach Möglichkeit von einer Bezugsperson begleitet werden.
Alle Patienten werden angemessen und bedürfnisorientiert über ihre Krankheit und Therapie informiert. Die Information erfolgt alters- und entwicklungsentsprechend und berücksichtigt das Krankheitsverständnis des Kindes, sein Vorwissen und seine aktuelle psychische und physische Situation und Befindlichkeit. Die Informationsweitergabe sollte nach Möglichkeit durch die Eltern oder in Absprache mit den Eltern erfolgen. Diese wissen am besten, welches Vorwissen oder welche Erfahrungen mit Krankheiten oder Therapien ihr Kind schon hat (7 Kap. 40.6).
. Abb. 40.1. Motivation durch ein Belohnungssystem: Perlen als Belohnung nach unangenehmen Interventionen oder der Einnahme von Medikamenten
40
698
40.5.4
40
Kapitel 40 · Pädiatrische Onkologie
Jugendliche
Erkranken Jugendliche an Krebs, müssen sie nicht nur die komplexen Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz bewältigen, sondern sehen sich gleichzeitig mit einer lebensbedrohlichen Krankheit konfrontiert. Körperlich spürbare und sichtbare Folgen der Behandlung werden als große Stressoren wahrgenommen. Dazu gehören das Durchleiden schmerzhafter Prozeduren, aber v. a. die Veränderungen des Aussehens, die sie von Gleichaltrigen unterscheiden und ihnen das Gefühl »ich bin ein Außerirdischer« vermitteln können. Kontrollverlust wird so erlebt, dass die Krankheit das Leben kontrolliert, dass es meist keine Wahlmöglichkeiten gibt, dass Termine und neue Regeln eingehalten werden müssen. So dürfen etwa – wegen der Infektionsgefahr – während einer Chemotherapie Haustiere wie Hamster und Meerschweinchen nicht im Kinderzimmer gehalten werden. Auch müssen während neutropenischer Phasen Menschenansammlungen gemieden werden; dadurch werden die Patienten in ihren Aktivitäten mit Gleichaltrigen eingeschränkt, was oft zu einer Veränderung von bestehenden Freundschaften und ersten Partnerschaften führt. Einerseits sind Jugendliche entwicklungsbedingt bestrebt, sich von ihren Eltern zu lösen, andererseits erleben sie nun aufgrund der Krankheit wieder eine verstärkte Fürsorge. Diese Fürsorge wird geschätzt, wenn sie sich schlecht fühlen und umsorgt werden wollen. Andererseits wird es als anstrengend und als Einschränkung von Privatsphäre und Eigenständigkeit empfunden, wenn es ihnen gut geht. Ein Stressor ist auch die Vorstellung, ihre Gefühle unter Kontrolle haben zu müssen, weil sie fast schon erwachsen sind und weil sie den Eltern keine Sorgen bereiten wollen. Fragen nach dem Sinn beschäftigen die Jugendlichen stark. Neben Fragen nach dem »Warum« finden sie aber auch positive Effekte der Krankheit auf ihr Leben. Die Zukunftsfrage ist ein wichtiges Thema: die Ungewissheit über den Ausgang der Krankheit, aber auch über die Erfüllung der Lebenspläne. Dazu gehören auch Fragen zu Spätfolgen der Therapie wie beispielsweise die möglicherweise eingeschränkte Zeugungsfähigkeit. Studien zu psychosozialen Auswirkungen zeigen, dass Krebs in der Adoleszenz nicht unbedingt zu Anpassungsschwierigkeiten führen muss, aber doch einen Risikofaktor für die Entwicklung psychosozialer Schwierigkeiten darstellt. Jugendliche machen Erfahrungen wie Furcht, Angst, Depressivität, aber auch Aggressivität, Stimmungsschwankungen, Einsamkeit und Isolation. Als hilfreich werden genannt: 4 aktiv sein und Normalität aufrechterhalten, 4 anderen Menschen keinen Grund zum Mitleid geben, 4 vom Umfeld wie »vorher« und nur manchmal besonders behandelt werden,
4 verständnisvolle Freunde, 4 Kontakt zu Gleichaltrigen, 4 Kontakt zu anderen Jugendlichen mit Krebserkrankungen, 4 Unterstützung durch Familienangehörige, 4 Unterstützung durch das Klinikpersonal. Befragungen aus dem angelsächsischen Raum zeigen, dass es Jugendliche bevorzugen würden, in einer für Jugendliche eingerichteten onkologischen Abteilung behandelt zu werden. Leider gibt es in vielen Zentren keine solchen Stationen. Einige der Anliegen lassen sich aber auch auf altersgemischten Stationen erfüllen. Die Vorteile von spezialisierten Einrichtungen für Jugendliche werden in der . Übersicht angeführt.
Vorteile von spezialisierten Einrichtungen für Jugendliche 5 Die Patienten erhalten ausreichend Informationen und Unterlagen den altersgemäßen Bedürfnissen entsprechend (Sprache, visuelle Gestaltung, Wahl der Medien). 5 Sie erhalten insbesondere auch Informationen zu Themen, die vom Personal mit wenig Erfahrung mit dieser Altersgruppe vergessen oder vermieden werden, beispielsweise zur Sexualität. 5 Das Personal kennt sich besser aus mit Jugendlichen, es versteht nicht nur die Sorgen von Krebspatienten, sondern auch die normalen Probleme gesunder Jugendlicher → die Ansprache ist angemessener. 5 Die Umgebungsgestaltung entspricht den altersgemäßen Bedürfnissen. Es gibt Aufenthaltsräume für Jugendliche mit entsprechender Möblierung und Beschäftigungsmöglichkeiten wie Fernseher, Spielkonsolen, Internetzugang etc. 5 Rückzugsmöglichkeiten sind vorhanden. 5 Es gibt andere Patienten im selben Alter mit ähnlichen Interessen und Problemen. 5 Sprechstunden und Hilfestellungen zu spezifische Themen (z. B. Compliance) werden über Beratungstelefon, Mobiltelefon oder E-Mail angeboten.
40.6
Betreuung, Miteinbeziehen, Information und Anleitung der Familie
40.6.1
Eltern
Die Diagnosemitteilung wird von vielen Eltern als der einschneidendste Moment im Verlauf der Krankheit beschrieben. Sie wird oft als niederschmetternd erlebt.
699 40.6 · Betreuung, Miteinbeziehen, Information und Anleitung der Familie
Eltern werden zu diesem Zeitpunkt sowohl als Paar wie einzeln mit einer äußerst bedrohlichen Nachricht konfrontiert. Eltern können in dieser Situation ihre Rolle als Beschützer, Versorger und Vorbild ihrer Kinder gefährdet sehen und gleichzeitig die Notwendigkeit verspüren, für die Stabilität der Familie, die Aufrechterhaltung des Familienlebens verantwortlich zu sein. Aus dieser Einsicht kann eine große Energie entstehen, das Kind mit allen mobilisierbaren Kräften in der Bewältigung der Krankheit unterstützen zu wollen. Neben den auf das Kind gerichteten Aufgaben sehen Eltern ihre Partnerschaft, in der Unterstützung und Hilfe empfangen und geleistet werden kann. Die Philosophie, Eltern und professionelle Pflegende partnerschaftlich an der Pflege des kranken, hospitalisierten Kindes zu beteiligen, ist in der pädiatrischen Pflege anerkannt und wird immer mehr auch tatsächlich umgesetzt. Eltern beteiligen sich an der Pflege ihres Kindes aus Gründen wie: 4 dem Gefühl elterlicher Verpflichtung, 4 der Sorge darüber, ob die Pflege der Individualität und den Gewohnheiten des Kindes entsprechend ausgeführt wird, 4 eigenen Erfahrungen in Bezug auf Krankenhausaufenthalte, 4 Unbehagen darüber, die Pflege Fremden zu überlassen. Eltern sehen ihre Beteiligung an der Pflege ihrer Kinder als essenziell für deren emotionales und körperliches Wohlbefinden. Sie empfinden ihre Anwesenheit als notwendig, um möglichst viel Vertrautes in die fremde und teilweise bedrohliche Umgebung zu bringen. Um diese Bereitschaft, sich an der Pflege ihrer Kinder zu beteiligen, aktiv zu unterstützen, sind folgende Maßnahmen hilfreich: 4 Zu Hause erbrachte Pflegemaßnahmen werden, wenn möglich, auch im Krankenhaus übernommen. Das betrifft alltägliche Verrichtungen, aber auch spezifische pflegerische Verrichtungen, wie Mundpflege, Stomaversorgung etc. 4 Eltern als Experten für ihr Kind anerkennen, da sie individuelle Gewohnheiten und Verhaltensweisen kennen. 4 Dem Bedürfnis, neue Pflegeaufgaben zu erlernen, aktiv begegnen, sodass diese zu Hause übernommen werden können. Folgende Faktoren können sich erschwerend auf die Bereitschaft von Eltern, sich an der Pflege des Kindes zu beteiligten, auswirken: 4 Befürchtungen, dem Kind zu schaden bzw. ihm weh zu tun. 4 Informationsdefizit, z. B. zu wenig Information über die Einrichtungen oder Abläufe der Abteilung; dies
kann dazu führen, dass Eltern Hemmungen haben, das Personal zu fragen. 4 Unklarheiten darüber, was die Aufgabe der Pflegenden ist, oder mangelnde Absprache, welche Tätigkeiten Eltern übernehmen wollen und welche nicht und in welchen Tätigkeiten eine Anleitung erforderlich ist. 4 Psychische Belastung nach Diagnosestellung kann zu dem Wunsch führen, dass die Pflege in der ersten Zeit durch das dafür zuständige Fachpersonal übernommen wird. 4 Gefühle von Einsamkeit, Müdigkeit und Langeweile, die durch eingeschränkte Beschäftigungs- und Kontaktmöglichkeiten und unbefriedigende Infrastruktur zum Schlafen, für Verpflegung und Körperhygiene im Krankenhaus hervorgerufen oder verstärkt werden. Eltern wünschen sich 4 Information bezüglich der Krankheit, Pflege und Behandlung des Kindes, 4 Empfehlungen für weitere Informationsmittel, wie Bücher, Informationsmaterial, gute Internetseiten etc., 4 emotionale Unterstützung durch Familie und Freunde, aber auch durch das professionelle Behandlungsteam, 4 Unterstützung in praktischen, finanziellen und rechtlichen Fragen. Ebenfalls hilfreich kann ein familiäres Netzwerk und die Unterstützung durch andere betroffene Eltern sein: einerseits für die Bewältigung von Alltagspflichten wie Betreuung von Geschwisterkindern, andererseits auch durch das Teilen von Ängsten und den Austausch von Informationen und Problemlösungsstrategien.
40.6.2
Geschwister
Brüder und Schwestern von krebskranken Kindern erleben während der Erkrankung und Behandlung ihres Geschwisters eine schwierige Zeit, die eine große Belastung darstellen kann. Die Beziehung unter Geschwistern zählt zu den tiefsten und dauerhaftesten im Leben. Erkrankt ein Kind, verändert sich die Geschwisterbeziehung und die bislang größtenteils geteilte Lebenswelt. Das kranke Geschwister verändert sich, sieht anders aus, ist oft abwesend. Die gewohnten Abläufe im Familienleben verändern sich ebenfalls, ein Elternteil ist meist abwesend, das gesunde Kind muss oder darf mehr Aufgaben und Verantwortung übernehmen. Gleichzeitig erwarten Eltern vielleicht mehr Kooperation oder haben weniger Verständnis und Geduld. Damit Eltern die Betreuung des kranken Kindes im Krankenhaus möglich ist, sind Geschwister oft in der Obhut von Drittpersonen und müssen auf vieles verzichten.
40
700
Kapitel 40 · Pädiatrische Onkologie
Die Krankheit fordert von den Geschwistern eine frühzeitige Reife und Übernahme von Verantwortung. Neben der Angst um die Schwester oder den Bruder können Gefühle von Schuld, Eifersucht, Wut und Isolation entstehen, aber auch Stolz und Zufriedenheit, bei der Bewältigung der Situation mitzuhelfen. Die in der . Übersicht dargestellten Maßnahmen können den gesunden Geschwistern bei der Bewältigung der Situation helfen.
Maßnahmen, die den gesunden Geschwistern helfen können 5 Dem Alter und Entwicklungsstand angepasste Informationen und Erklärungen zur Erkrankung 5 Versicherung, dass sie keine (Mit-) Schuld an der Erkrankung ihres Geschwisters haben 5 Offene Kommunikation in der Familie 5 Gesprächspartner, die jederzeit zur Verfügung stehen 5 Am Klinikleben teilhaben, z. B. beim Patienten übernachten 5 Aktiv in die Sorge um und in die Pflege des Patienten sowie in Familienaufgaben einbezogen werden 5 Etwas für das erkrankte Geschwister tun, z. B. die Betreuung eines Haustiers übernehmen oder ein Bild für das Zimmer im Krankenhaus malen 5 Anerkennung für ihre Mithilfe und ihre Leistungen
Literatur
40
Gadner H, Gaedicke G, Niemeyer C, Ritter J (Hrsg) (2006) Pädiatrische Hämatologie und Onkologie. Springer, Berlin Heidelberg New York Grotzer M, Bergsträsser E (2005) Lebensqualität von Langzeitüberlebenden. Spätfolgen, neue Therapiestrategien und interdisziplinäre Nachsorge. Schweiz Z Onkol 2: 22–25 Gutjahr P (2003) Krebs bei Kindern und Jugendlichen: Klinik und Praxis der Pädiatrischen Onkologie. Deutscher Ärzteverlag, Köln Imbach P, Kühne T (2004) Kompendium Kinderonkologie. Springer, Berlin Heidelberg New York Längler A, Kameda G, Seifert G (2007) Alternative und komplementäre Behandlungsmethoden in der Kinderonkologie – ein Überblick. Dtsch Z Onkol 39: 100–106 Niggli F, Bourquin JP (2005) Leukämien im Kindesalter. Aktueller Stand der Diagnostik und Therapie. Schweiz Z Onkol 2: 6–13 Roila F, Feyer P, Maranzano E, Clark-Snow R, Warr D, Molassiotos A (2005) Antiemetics in children receiving chemotherapy. Support Care Cancer 13: 129–131 Tomlinson D, Kline N (2005) Pediatric Oncology Nursing Advanced Clinical Handbook. Springer, Berlin Heidelberg New York WHO-Empfehlungen (2002) »Cancer pain and palliative care in children.« Henkel W, Zernikow B (Hrsg) Vestische Kinderklinik, Universität Witten/Herdecke, Datteln Woodgate RL (2005) A different way of being. Cancer Nurs 28: 1 Zernikow B (2009) Schmerztherapie bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Springer, Berlin Heidelberg New York
Bilderbücher für Kinder Grotzer M, Sommer A (2003) Eugen und der freche Wicht. Bilderbuch zu Hirntumoren bei Kindern. Edition Moderne, Zürich Motzfeldt H (2002) Der Chemo-Kasper. Seine Jagd auf die bösen Krebszellen. DLFH-Dachverband Schlichting G, Schmitz D (1998) Prinzessin Luzie und ihre Chemo-Ritter. Deutsche Kinderkrebsstiftung Radio-Robby (1999) Sein Kampf gegen die bösen Krebszellen. DLFHDachverband Bücher für Eltern Bode G (2001) Mein Kind hat Krebs. Ein Ratgeber für Eltern krebskranker Kinder. Schriftenreihe der Deutschen Leukämie-Forschungshilfe – Aktion für krebskranke Kinder e. V. – Dachverband Mack U (2007) Mein Kind hat Krebs. Seelsorge an den Grenzen des Lebens. Vandenhoeck & Ruprech, Göttingen Nobile L (1992) Krebs bei Kindern. Huber, Bern
Internetadressen Kinderkrebshilfe Schweiz: www.kinderkrebshilfe.ch ((Informationen und Unterstützung für krebskranke Kinder und ihre Familien) Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Häatologie: www.kinderkrebsinfo.de (Informationsdienst zu Krebs- und Bluterkrankungen bei Kindern und Jugendlichen) Kind und Krebs Schweizer Forschungsstifung: www.kinderkrebs.ch (Informationen zur Kinderkrebsforschung in der Schweiz) Vereinigung zur Unterstützung krebskranker Kinder: www.kinderkrebs.ch (Informationen und Unterstützung für krebskranke Kinder und ihre Familien) Onko-Kids-Online: www.onkokids.de (ein Internetprojekt für krebskranke Kinder und Jugendliche und ihre Familien) Planet Cancer: www.PlanetCancer.org (US-amerikanische Plattform mit Informationen und Austauschmöglichkeiten für Adoleszente und junge Erwachsene mit Krebs; in englischer Sprache) Teenage Cancer Trust: www.teenagecancertrust.org (englische Stiftung mit Informationen und Unterstützungsangeboten für Adoleszente und junge Erwachsene mit Krebs; in englischer Sprache)
41
Häusliche Betreuung und Pflege von Tumorpatienten H. Stoll, S. Schmidt 41.1
Allgemeine Aspekte der häuslichen Pflege von Tumorpatienten – 702
41.2
Voraussetzungen für die häusliche Pflege von Krebspatienten – 702
41.3
Was ist bei der Pflege zu Hause anders als im Krankenhaus? – 703
41.3.1 41.3.2 41.3.3 41.3.4 41.3.5 41.3.6 41.3.7
Klinisches Assessment (systematisch oder symptomfokussiert) – 704 Beschaffung von Material und Medikamenten – 704 Selbstmanagement der Patienten und Angehörigen – 704 Schnittstellenmanagement – 705 Spezielle technische Verrichtungen – 706 Krisenprävention mit Patienten und Angehörigen – 706 Laufende Koordination der Pflege und Pflegedokumentation – 706
41.4
Was leisten die häusliche Onkologiepflege und die ambulante Palliativversorgung? – 707
41.4.1 41.4.2
Qualitätssicherung – 708 Persönliche Verarbeitung – 709
702
Kapitel 41 · Häusliche Betreuung und Pflege von Tumorpatienten
)) Nicht nur die dramatische Zunahme der Krankenhauskosten für die Versicherungen hat in den letzten Jahren dazu geführt, der Pflege kranker Menschen zu Hause mehr Bedeutung beizumessen. Die häusliche Pflege und Betreuung gewinnt auch deshalb an Bedeutung, weil sie dem Bedürfnis der heutigen Menschen nach Individualität entgegen kommt. Individualität und Selbstbestimmung prägen stark die Lebensqualität eines jeden Menschen. Diese Entwicklungen zeigen sich konkret im Ausbau schon bestehender regionaler Pflegedienste, in der Entstehung neuer, privater Hauspflegedienste und auch in vermehrt auf Tumorpatienten spezialisierten häuslichen Pflegediensten. Dabei haben sich die Bereiche Krankenhaus und häusliche Pflege fast unabhängig voneinander entwickelt, sodass heute ein großes Informationsdefizit über den jeweils anderen Bereich besteht. Dies führt zu Schnittstellenproblemen sowohl bei der Krankenhausaufnahme als auch bei der -entlassung. Bei Krebs als chronischer Erkrankung verbringen die Patienten einen großen Teil ihrer Krankheitszeit zu Hause und nicht im Krankenhaus. Deshalb ist es von zentraler Bedeutung, dass Patienten und Angehörige mit den Auswirkungen von Krankheit, Therapie und Therapienebenwirkungen auch zu Hause zurechtkommen (Selbstmanagement) und dabei professionelle Unterstützung erhalten. Dieses Kapitel möchte v. a. sensibilisieren für spezifische Fragestellungen zu Hause sowie die besonderen Möglichkeiten, die die häusliche Pflege hat. In der Schweiz wird bewusst unterschieden zwischen häuslicher Onkologiepflege und der häuslichen Palliativpflege. In Deutschland findet diese Unterscheidung in der Regel nicht statt. Man spricht daher hauptsächlich von häuslicher Palliativpflege. Allerdings gibt es z. B. in Baden Würtenberg die sog. »Brückenpflege«. Sie wurde speziell für die Versorgung von Tumorpatienten eingerichtet, die in ihre gewohnte häusliche Umgebung zurückkehren möchten.
41.1 Allgemeine Aspekte der häuslichen
41
Pflege von Tumorpatienten Die meisten Menschen möchten am Lebensende zu Hause gepflegt werden. Etwa 70% sterben aber im Krankenhaus und nur 30% zu Hause oder im Pflegeheim. Der wesentliche Unterschied zwischen Krankenhaus und häuslicher Pflege ist, dass dem Patienten im Krankenhaus alles abgenommen werden kann bis hin zur Übernahme der lebenswichtigen Funktionen wie Atmung und Ausscheidung. Zu Hause aber ist das höchste Gebot das Selbstmanagement.
. Abb. 41.1. Mögliches Betreuungsnetz eines Krebspatienten zu Hause
»Management« bedeutet gemäß Cambridge Advanced Learner’s Dictionary (2003): (selbst)verantwortlich organisieren und kontrollieren können; denn zu Hause sind sowohl Fachpersonal wie Laienhelfer nur punktuell vor Ort. Des Weiteren kommen Angehörige ins Krankenhaus zu Besuch und gelten meist entweder als Gesunde, die mithelfen, durch Weitergabe von Informationen oder durch Mitarbeit in der Pflege, oder aber sie sind Störfaktoren, die sich einmischen und unangebrachte Fragen stellen. Zu Hause sind die Angehörigen dagegen Betroffene und Fachleute, die meist die Hauptlast der Pflege erbringen. Vor allem aber sind zu Hause die Pflegenden lediglich Besucher. Gelingt die Einbeziehung der Angehörigen nicht, bleibt die Haustür kurzerhand verschlossen. Nur langsam setzt sich die Einsicht durch, dass Angehörige nicht Instrumente zur Versorgung der Patienten sind, sondern ebenso vom Krebs Betroffene (. Abb. 41.1). So zeigen z. B. Untersuchungen bei Patienten nach Knochenmarktransplantation und ihren Angehörigen, dass die Lebensqualität der Angehörigen in verschiedenen Bereichen nach einem Jahr schlechter ist als die der Patienten.
41.2 Voraussetzungen für die häusliche
Pflege von Krebspatienten Technisch gesehen ist heute zu Hause medizinisch alles möglich außer Bestrahlung und Operation. So wird in manchen Ländern bereits die Pflege von Patienten unmittelbar nach Stammzelltransplantation ambulant durchge-
703 41.3 · Was ist bei der Pflege zu Hause anders als im Krankenhaus?
führt. Chemotherapien könnten weitgehend zu Hause verabreicht werden. In den meisten Fällen geht es aber bei der häuslichen Onkologiepflege bzw. der häuslichen Palliativpflege entweder um Symptomlinderung wie bei Schmerzen, Atemnot, Angst etc. oder aber explizit um das Sterben zu Hause. Hier sind Themen rund um die Vorbereitung von Patienten und Angehörigen relevant wie etwa Vorsorgeverfügungen (Patientenverfügung, Betreuungsverfügung, Bestattungsverfügung) und güterrechtliche Regelungen. Aber auch Fragen der Gestaltung des Sterbens und der Begleitung der Betroffenen sind von großer Bedeutung. Was ist demnach die Voraussetzung, damit das Verbleiben »zu Hause bis zum Tod« gelingen kann? 4 Die Angehörigen sollten für sich selbst einen Gewinn bzw. Nutzen in der Pflege des Patienten sehen. Dies kann z. B. den »Wunsch des Patienten erfüllen« oder »mehr Normalität« sein, da der Angehörige nicht ständig zwischen der Krankenhauswelt und der Welt zu Hause hin und her gerissen ist. Es kann aber auch eine verminderte Frustration in der Pflege zu Hause sein, da die Angehörigen zu Hause Schlüssel- und nicht Randfiguren sind. 4 Die Patienten sollten mit Angehörige im gleichen Haushalt leben, da ein Sterben zu Hause nur in seltenen Fällen auch bei gut ausgebautem Hilfsnetz ohne Angehörige im gleichen Haushalt gelingt. Im Kanton Aargau (Schweiz) haben 2007 von 360 gepflegten Patienten nur 8,3% keine Angehörigen, von den in der häuslichen Onkologiepflege Verstorbenen sogar nur 1% (Krebsliga Aargau Jahresbericht 2007). Angehörige sind demnach im wahrsten Sinne des Wortes unbezahlbar. 4 Patienten müssen auf die magische Glocke über dem Bett verzichten können. Das bedeutet, dass es zu Hause nicht Fachpersonal auf Knopfdruck gibt. Patienten mit einem geringeren Bedürfnis nach Sicherheit und dafür mehr nach Selbstbestimmung sind zu Hause zufriedener. 4 Eine offene Kommunikation zwischen Patienten und Angehörigen mit expliziter Klarheit über das Ziel der Pflege zu Hause, z. B. Sterben in den eigenen vier Wänden, ist unabdingbar. Es ist nicht möglich, eine Sterbebegleitung zu Hause zu machen, ohne dass die Angehörigen dies mittragen. 4 Ein dicht vernetztes System von Fachpersonal bei der Brückenpflege, bei der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung SAPV (Ärzte, Pflegende, Apotheker, Psychologe und Seelsorger) und geschulten Freiwilligen (ambulanter Hospizdienst) oder Laien (Nachbarn/ Freunde), die einander mit Wertschätzung begegnen, ist ein wichtiges Element. Zentrale Dienste bzw. deren Vertreter müssen dabei rund um die Uhr erreichbar sein.
Wenn diese Rahmenbedingungen nicht gegeben sind, ist die häusliche Pflege von Krebspatienten kaum befriedigend möglich. Weitere Umstände, die gegen die Pflege zu Hause sprechen, sind: 4 Nebst fehlenden Angehörigen und dem Bedürfnis nach Sicherheit kann eine allzu komplexe Pflege oder Therapie bei fehlender fachlicher Unterstützung (z. B. parenterale Ernährung, Antibiotika- oder Chemotherapie) zum Scheitern der Pflege zu Hause führen. Fachwissen und Erfahrung sowie die Verfügbarkeit von Fachpersonal zu Hause sind notwendig für das Gelingen. 4 Ein wesentlicher Hinderungsgrund sind pflegende Angehörige, die psychisch überfordert oder/und physisch überlastet sind, z. B. weil sie vom medizinischen Fachpersonal zu wenig begleitet wurden oder weil sie sich nicht pflegen/unterstützen lassen wollten. »Solange es geht, mache ich es allein!« oder »Mein Mann will keine fremde Hilfe im Hause!« sind Killerargumente für den rechtzeitigen Aufbau einer Pflege zu Hause. 4 Natürlich kommt es auch vor, dass die Entwicklung der Krankheit einen dramatischen Verlauf nimmt, bei dem es nicht oder nicht rasch genug gelingt, die Situation unter Kontrolle zu bekommen, z. B. das Auftreten pathologischer Frakturen oder Unruhe des Patienten über Wochen. 4 Probleme von Seiten der Helfer wie Unsicherheit, Nichterreichbarkeit, Probleme im Umgang mit Nähe und Distanz, gefährden das Unternehmen aber auch. Zusammenfassend gilt: Krebspatienten und ihre Angehörigen haben in der Pflege zu Hause meist eine lange Krankheits- und Therapieerfahrung und sind kompetent in der Pflege und dem Symptommanagement. Sie brauchen eine fachlich kompetente Umgebung, die ihnen hilft, die Organisation zu beherrschen und die Kontrolle über die Situation zu behalten, vorausgesetzt, es sind soziale und kommunikative Bedingungen erfüllt.
41.3 Was ist bei der Pflege zu Hause
anders als im Krankenhaus? Im Krankenhaus gibt es ein Organigramm, aus dem klar hervorgeht, wer wem unterstellt und wer wofür zuständig ist. In der häuslichen Pflege ist das Zusammenspiel der verschiedenen Akteure sehr viel komplizierter, was gerade in komplexen Situationen wie der Pflege von Krebspatienten und ihren Angehörigen oft deutlich zum Tragen kommt. So müssen bei jedem Patienten die Aufgaben und Verantwortlichkeiten neu definiert werden. Es sind nicht nur verschiedene Teams, sondern verschiedene Organisationen, die beim Patienten »zu Gast« sind und zusammenarbeiten
41
704
Kapitel 41 · Häusliche Betreuung und Pflege von Tumorpatienten
müssen. So sind in komplexen Situationen der Hausarzt, der Onkologe, die Pflegenden, der Apotheker, der Seelsorger und/oder Psychoonkologe und möglicherweise die häusliche Onkologiepflege involviert. Dabei haben Patient und Angehörige zwar mehr Wahlfreiheit, wer zu Hause in die Pflege einbezogen ist, aber auch sehr viel mehr Verantwortung als im Krankenhaus. Zu Hause sind v. a. die Kommunikationswege zwischen den verschiedenen Diensten sehr viel länger als im Krankenhaus, da alles dezentralisiert organisiert ist. Einen »Runden Tisch« oder eine gemeinsame Visite zu organisieren ist fast unmöglich. So muss sich jeder Dienst seine Informationen entsprechend seinem Auftrag selbst beschaffen. Die Schwerpunkte der pflegerischen Tätigkeiten zu Hause umfassen deshalb speziell die in der . Übersicht genannten Punkte.
Die Schwerpunkte der pflegerischen Tätigkeiten zu Hause 5 Klinisches Assessment (Anamnese und körperliche Untersuchung), um die Lage zu erfassen, daraus eine Beurteilung ableiten zu können und anschließend die Pflegeprioritäten zu setzen 5 Symptomfokussiertes Assessment, um eine zielstrebige Symptomlinderung mit den anderen Diensten einzuleiten; am besten mit einem validierten Instrument 5 Spezielle pflegerische Verrichtungen 5 Krisenprävention von Patienten und Angehörigen, inkl. der Fragen rund um Sterben und Tod bis hin zu den Vorsorgeverfügungen (Patientenverfügung, Bestattungsverfügung, Vorsorgeauftrag) 5 Laufende Koordination der Behandlung und Pflege mit allen involvierten Diensten 5 Forschung und Qualitätssicherung
41.3.1
41
Klinisches Assessment (systematisch oder symptomfokussiert)
Ein umfassendes Verständnis für die Situation des Patienten und derjenigen der Angehörigen setzt das Beherrschen des klinischen Assessments in der Pflege voraus. Ansonsten gehen wichtige Informationen verloren, was sich bei den großen Distanzen und den langen Kommunikationswegen zu Hause rächt. Insbesondere die Erfassung der subjektiven Symptome des Patienten (Schmerz, Atemnot, Angst, Durst, Müdigkeit etc.) in seinen biopsychosozialen Dimensionen ist Voraussetzung für eine rasche Linderung. Gerade der onkologische Spezialdienst kommt zu Hause in der Regel erst spät zum Einsatz und muss
dann rasch handlungsfähig sein, soll eine Krankenhausaufnahme vermieden werden. Nur wenn Symptome systematisch angesprochen werden, gehen sie nicht verloren (. Tab. 41.1). ! Das Ziel ist demnach, möglichst frühzeitig die Situation zu erfassen als Basis einer wirksamen Symptomlinderung auch in einer dezentralen Organisation. Dazu ist meist keine komplizierte Technik vonnöten.
41.3.2
Beschaffung von Material und Medikamenten
Das Problem der technischen Ausrüstung ist zu berücksichtigen, die sich jeder Dienst selbst beschaffen muss. Für eine häusliche Pflegeorganisation ist es oft schwierig, wenn ein terminal kranker Tumorpatient aus dem Krankenhaus nach Hause entlassen wird. Im Krankenhaus sind alle Medikamente und auch Sauerstoff jederzeit zur Verfügung. Im häuslichen Milieu gibt es ein (beschränktes) Angebot des Apothekers zu bestimmten Öffnungszeiten. Mangels Einblick in die häusliche Pflege sind sich Ärzte und Pflegende im stationären Betrieb oft der anders gearteten Abläufe zu Hause und der Probleme, welche an der Schnittstelle Krankenhaus – Pflege zu Hause entstehen können, nicht ausreichend bewusst.
41.3.3
Selbstmanagement der Patienten und Angehörigen
Der Patient wird im Krankenhaus meist mit den nötigen Schmerzmitteln und den oft dazugehörigen Abführmitteln versorgt, er lernt aber nicht, die Schmerztherapie oder den Stuhlgang selbst zu steuern. Er bekommt die Mittel zur rechten Zeit vom Fachpersonal und bei der Entlassung ein Bündel Rezepte zur Weiterführung der Therapie zu Hause, anstatt schon im Krankenhaus die Reservemedikation und die Abführmittel im Zimmer zu haben und unter Aufsicht zu lernen, damit umzugehen. Auch haben die Angehörigen nicht gelernt, ihre Ängste hinsichtlich einer Therapie mit Opioiden abzubauen. So kommt es zu unnötigen Wiederaufnahmen ins Krankenhaus. Daraus leiten sich für das Krankenhaus zwei Aufgaben ab: 4 die Symptomlinderung und 4 die Befähigung von Patient und Angehörigen zum selbstständigen Umgang mit den Auswirkungen von Krankheit und Therapie auf ihren Alltag. Die Schmerzen z. B. müssen gelindert werden, aber der Patient sollte im Krankenhaus auch gelernt haben, seine Schmerzdokumentation selbst zu führen, selbst zu ent-
705 41.3 · Was ist bei der Pflege zu Hause anders als im Krankenhaus?
. Tab. 41.1. Klinisches Assessment
Pflegeproblem
Spezielle Punkte bei der Symptomlinderung
Details
Schmerzen
4 Je einfacher eine funktionierende Schmerztherapie ist, umso einfacher die Selbstverwaltung durch den Patienten (mit BTM-Pflaster, Tropfen oder Tabletten kann der Patient länger selbst umgehen als mit Injektionen). 4 Pumpen und Spritzen, wie etwa bei der PCA (patientenkontrollierte Analgesie) machen den Patienten und die Angehörigen von Fachpersonal abhängig.
7 Kap. 18
Appetitlosigkeit
4 Klären, was das Ziel der Pflege und Behandlung ist. Geht es um Symptomlinderung in der palliativen Situation, muss gegen Appetitlosigkeit nichts, wohl aber gegen Hungergefühle etwas unternommen werden. Das Körpergewicht ist nicht relevant, da es meist nicht beeinflussbar ist. 4 Besonders sind hier Gespräche mit den Angehörigen wichtig
7 Kap. 22
Müdigkeit
4 Erfassung und Beratung in Bezug auf energiesparende, energiefördernde und energieerhaltende Maßnahmen (7 u. a. Pflegestandards der Onkologiepflege Schweiz OPS)
7 Kap. 21
Flüssigkeitsbedar f in der Endphase
4 Es geht um die Linderung von Durst, und nur daraus leitet sich der Flüssigkeitsbedarf ab. Es gibt keine Minimalmenge pro Tag, die der Patient zu sich nehmen muss. Eine Trinkbilanz ist absolut kontraproduktiv, da nur Durst und nicht Exsikkose behandelt werden soll. 4 Die Durchführung von Infusionstherapien i. v. oder s. c. ist bei korrekter Mundpflege und Aufklärung selten nötig.
7 Kap. 22
Atemnot
4 Bei einer symptomatischen Therapie ist das Mittel der Wahl nicht Sauerstoff, sondern eine Opioidtherapie; in Konzept und Dosierung wie bei der Schmerztherapie.
7 Kap. 20
Übelkeit
4 Durchführung einer angepassten Antiemetikatherapie, nach Abklärung der Ursache (oft ist dies Obstipation).
7 Kap. 23
Soorstomatitis
4 Durchführung einer angepassten Mundpflege, solange wie möglich mit Zahnbürste und Zahnpasta.
7 Kap. 27
scheiden, wann die Schmerzreserve fällig ist und welche Abführmittel heute für einen geregelten Stuhlgang nötig sind. Dies kann und muss dann auch zu Hause geschehen können. Dort ist dies aber wegen der selteneren Patientenkontakte der Betreuer weit schwieriger. Die Pflegenden im häuslichen Milieu sind zwar gut auf das Management von chronischen Erkrankungen vorbereitet, die Organisation aber ist wegen der komplizierten Strukturen oft sehr anspruchsvoll.
41.3.4
Schnittstellenmanagement
Dies kann nur mit einem nahtlosen Schnittstellenmanagement Krankenhaus – zu Hause erfolgreich gemeistert werden. In der Schweiz werden dazu im Moment verschiedene Modelle getestet: Einsatz von Case-Managerinnen, übergangsweise Einsatz von Pflegespezialistinnen eines Krankenhauses bis hin zur Schaffung eigener Unternehmen, die ausschließlich die Schnittstelle Krankenhausentlassung managen, um einen sicheren Übertritt nach Hause zu gewährleisten. Die Einführung von z. B. Brückenpflege kann diesen Übergang vereinfachen.
Spezielle Anforderungen im Zusammenhang mit dem Übergang von der Klinik in die häusliche Pflege sind in der . Übersicht zusammengestellt.
Übergang vom Krankenhaus in die häusliche Pflege 5 Planung der häuslichen Pflege – Wenn möglich, muss die Übernahme des Patienten durch die häusliche Pflege bereits gemeinsam im Krankenhaus geplant werden, sollen Lücken in der Versorgung verhindert werden. 5 Organisatorische Aufgaben – Gewährleisten der Erreichbarkeit des Fachpersonals rund um die Uhr – am besten einer Bezugsperson und nicht eines Dienstes. 5 Technische Vorbereitung – Sicherstellung des speziellen Materials, das der Patient benötigt, z. B. für die Versorgung eines Stomas. 6
41
706
Kapitel 41 · Häusliche Betreuung und Pflege von Tumorpatienten
– Verfügbarkeit der Rezepte und der Schmerzmittel (Dauermedikation und Reserve) bei ungewöhnlichen Dosierungen bereits Tage vor der Entlassung. 5 Pflegerische Vorbereitung – Üben der notwendigen Fertigkeiten bereits im Krankenhaus, z. B. Stuhlregulierung, Schmerzmittelgebrauch.
! Die Beratung und Anleitung von Krebspatienten und ihren Angehörigen in allen pflegerischen Bereichen nimmt in der häuslichen Betreuung einen großen Stellenwert ein!
41.3.5
Spezielle technische Verrichtungen
4 Punktion und Pflege von implantierten Kathetersystemen bzw. Ports, 4 Infusionstherapien mittels tragbaren Pumpensystemen oder Infusomaten, 4 Bluttransfusionen (je nach rechtlicher Lage), 4 Durchführung von Chemotherapien (je nach rechtlicher Lage), 4 spezielle Hautpflege bei Läsionen nach Radiotherapie, 4 Verbandwechsel, z. B. bei malignen Wunden, 4 tracheales Absaugen, 4 Organisation von Sauerstoffgeräten oder -konzentratoren
41
Vor allem die Übernahme der speziellen und auch zeitaufwendigeren Verrichtungen, wie Punktionen von implantierbaren Systemen, evtl. Bluttransfusionen oder auch häufige, komplexe Verbandwechsel, durch einen Pflegedienst für Krebspatienten zu Hause ist sehr sinnvoll, sind doch dies meist Gründe, weshalb der Patient trotz Heimpflege immer wieder für einige Stunden in die Klinik muss oder weshalb eine Pflege zu Hause nicht mehr möglich ist. Ein gut strukturierter ambulanter Pflegedienst für Krebspatienten mit Schwerpunkt auf diesen Pflegeverrichtungen kann somit äußerst sinnvoll sein, um solche »Lücken« in der häusliche Pflege zu schließen (7 Kap. 41.3).
4 Wie wird meine Krankheit verlaufen? 4 Mit welchen Komplikationen muss ich am ehesten rechnen? 4 Wie könnte mein Sterben ablaufen? Muss ich leiden? 4 Was kann ich machen, um selbstbestimmt zu bleiben, auch wenn ich mich nicht mehr äußern kann? 4 Aber auch Fragen der Angehörigen sind zu berücksichtigen: 4 Worauf muss ich achten in der Pflege des Patienten? 4 Wie muss ich bei Komplikationen reagieren? 4 Kann ich Fehler machen? 4 Was muss ich tun, wenn mein Angehöriger gestorben ist? Die Beratung zu diesen Fragen erfordert, dass zu Hause Fachpersonen zur Verfügung stehen müssen, die inhaltliche Kompetenz besitzen, d. h. die Verläufe der Tumorerkrankungen etwa abschätzen können. Sie müssen aber auch über ausgewiesene Kommunikationsfähigkeiten verfügen, um die individuellen Bedürfnisse von Patienten und Angehörigen befriedigen zu können. Solche Fähigkeiten können in speziellen Kursen, wie etwa von der Krebsliga Schweiz zum Thema Kommunikationstraining für Onkologen und Onkologiepflegende angeboten, erworben werden. In Deutschland existiert eine Fachweiterbildung »Palliative Care«, die sich inhaltlich am Curriculum der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin orientiert. Dieses Curriculum wurde 1996 von Kern, Müller und Aurnhammer erstellt und umfasst 160 Unterrichtsstunden. Sowohl für die stationäre als auch für die spezialisierte ambulante Palliativpflege ist die Beschäftigung einer entsprechend qualifizierten Fachkraft Voraussetzung. Die wichtigsten Inhalte der Ausbildung »Palliative Care«: 4 Grundlagen von Palliative Care und Hospizarbeit, 4 Anwendungsbereiche, 4 körperliche Aspekte der Pflege, 4 psychosoziale Aspekte der Pflege, 4 spirituelle und kulturelle Aspekte der Pflege, 4 ethische und rechtliche Aspekte der Pflege, 4 Teamarbeit und Selbstpflege, 4 Qualitätssicherung.
41.3.7 41.3.6
Krisenprävention mit Patienten und Angehörigen
Daneben sind es sehr häufig Beratungsaufgaben, die ein spezieller Dienst übernimmt. Hierbei geht es v. a. um Fragen bezüglich des Lebensendes, und zwar um Fragen sowohl des Krebspatienten wie etwa:
Laufende Koordination der Pflege und Pflegedokumentation
An der Pflege von Krebspatienten zu Hause, insbesondere von sterbenden Patienten, sind meist mehrere Fachpersonen beteiligt (. Abb. 41.1). Damit sich der Patient und die Angehörigen sicher aufgehoben und betreut fühlen, ist Kontinuität in der Pflege nötig. Diese wird nur erreicht,
707 41.4 · Was leisten die häusliche Onkologiepflege und die ambulante Palliativversorgung?
wenn ein fortlaufender Informationsaustausch zwischen den an der Pflege beteiligten Fachpersonen stattfindet. Ist dies nicht der Fall, so erlebt der Patient, dass Pflegeverrichtungen jedes Mal anders durchgeführt werden oder dass der Hausarzt z. B. nichts von einer neuen Schmerzverordnung vom Onkologen weiß, weil er abwesend war oder umgekehrt. Solche Situationen führen meist zu Unsicherheit und Konfusion und folglich auch zu einer vermeidbaren Klinikeinweisung. ! Es ist deshalb unerlässlich, auch im häuslichen Bereich eine genaue Pflegedokumentation zu führen, deren Kern der individuelle Pflegeplan ist.
Der Pflegeplan ist selbsterklärend verfasst und mit Patienten und Angehörigen abgesprochen. Er liegt am besten immer beim Patienten an einem vereinbarten Platz. Jeder, der eine Verrichtung ausführt, tut es auf der Basis dieses verbindlichen Dokumentes, egal ob Arzt, Pflegende oder Angehörige, und zwar mit: 4 Angabe der Tätigkeit, 4 Datum und Uhrzeit, 4 Unterschrift. Auch ärztliche Verordnungen, sei es vom Hausarzt oder Onkologen, müssen schriftlich erfolgen, genau wie im Krankenhaus. Dazu gehören Eintragungen auf dem »Medikamentenblatt« ebenso wie Rezepte oder gefaxte Dokumente. Darin müssen Medikament, Dosis, und Verabreichungszeit vermerkt sein, mit Datum, Uhrzeit und Unterschrift des Arztes. Im häuslichen Umfeld ist dies nicht immer einfach zu gewährleisten. Jede Pflegende muss sich aber im Klaren darüber sein, dass nur eine vom Arzt unterschriebene Verordnung zulässig ist. Eine solche fortlaufende genaue Dokumentation ist in Situationen, wo ein Notfallarzt eingeschaltet werden muss oder eine Klinikeinweisung notwendig ist, äußerst hilfreich, damit schnell ein aktueller Überblick gewonnen werden kann. Sie dient aber auch der Absicherung der Pflegenden und der Dokumentation des Behandlungserfolges. Die Koordination der häuslichen Pflege kann sehr zeitintensiv sein und bedeutet manchmal, unzählige Telefonate führen zu müssen. Dies zahlt sich aber aus, wenn der Patient sich dadurch sicher und kompetent betreut fühlt und so lange wie möglich (mit)entscheidungsfähig bleibt. ! Für alle diese Fragen, die z. B. in einer Patienten-, Betreuungs- und Bestattungsverfügung festgehalten werden, ist Fachpersonal nötig, das sich sowohl mit dem Verlauf der Krankheit als auch mit den gesetzlichen Bestimmungen rund um Tod und Sterben gut auskennt und auch die nötigen kommunikativen Fertigkeiten beherrscht, um diese und weitere Fragen mit Patienten und Angehörigen zu besprechen.
41.4 Was leisten die häusliche
Onkologiepflege und die ambulante Palliativversorgung? Um den vielfältigen Bedürfnissen der schwerkranken und sterbenden Krebspatienten und ihren Angehörigen gerecht zu werden, ist die entsprechende Grundausbildung mit anschließender mehrjähriger Pflegepraxis absolut notwendig. Mittlerweile ist es sogar eine gesetzliche Forderung, dass in einem solchen Dienst auch eine Weiterbildung in Onkologiepflege oder evtl. Palliativpflege notwendig ist. Eine onkologische Weiterbildung ermöglicht eine höhere Autonomie im Handeln und eine bessere Reflexion der eigenen Arbeit und damit die sicherere Ausführung spezieller Pflegeverrichtungen sowie eine kompetente Beratung in spezifisch onkologischen Pflegeproblemen. Meist handelt es sich in der Pflege von Tumorpatienten um palliativ-onkologische Dienste, auch wenn diese je nach Region in der Schweiz ganz unterschiedliche Namen wie »Onkospitex« oder »Brückendienst« führen. In Deutschland kommen verschiedene Möglichkeiten der ambulanten Betreuung von Krebspatienten in Frage. Zunächst besteht die Möglichkeit der Betreuung durch einen ambulanten Pflegedienst. Diese Form der Palliativversorgung wird auch als »allgemeine Palliativpflege« bezeichnet. Bei der Brückenpflege handelt es sich um ein Bindeglied zwischen der stationären und ambulanten Versorgung von onkologischen Patienten. Sie koordiniert und organisiert bei der Entlassung die notwendigen Akteure, regelt im Vorfeld die mögliche Finanzierung, berät und unterstützt den Patienten und seine Angehörigen bei der Beschaffung von Hilfsmitteln und bietet psychosoziale Betreuungsangebote. Entstanden ist die Brückenpflege zu Beginn der 1990-er Jahre in Baden-Württemberg, nachdem Ende der 80-er Jahre Führungskräfte aus dem Sozialbereich nach England gereist waren und sich dort über die Möglichkeiten der langjährigen Hospizarbeit informiert hatten. So entstand beispielsweise 1994 das Heidelberger Brückenpflegeteam. Inzwischen hat sich die Brückenpflege auch in anderen Bundesländern etabliert, Unterschiede bestehen jedoch noch durch die verschiedenen Finanzierungsformen. Außerdem wurde im Rahmen des sog. Pflegeweiterentwicklungsgesetzes auch die spezialisierte ambulante Palliativversorgung SAPV nach § 132d Abs. 2 SGB V genau definiert. Dabei handelt es sich um spezialisierte Leistungserbringer, die in einem Palliativ-Care-Team (PCT), bestehend aus qualifizierten Ärzten und Pflegefachkräften, sowie anderen Berufsgruppen, beispielsweise Psychologen, Sozialpädagogen oder Sozialarbeitern, fachübergreifend zusammenarbeiten und eine palliativmedizinische und palliativpflegerische Versorgung gewährleisten.
41
708
Kapitel 41 · Häusliche Betreuung und Pflege von Tumorpatienten
Diese interdisziplinären Dienste schließen mit den Krankenkassen einen Versorgungsvertrag ab und sind für den Betroffenen zuzahlungsfrei. Problematisch ist jedoch, dass bisher nur wenige onkologische Patienten von der SAPV profitieren, da die notwendigen Strukturen nicht so schnell aufgebaut werden konnten, weil es an qualifiziertem Personal fehlte und weil der Abschluss von Versorgungsverträgen mit den Krankenversicherungen nur schleppend verlief. Wichtige Aufgaben des PCT: 4 Beratungsleistung, 4 Koordination der Versorgung, 4 additiv unterstützende Teilversorgung, 4 vollständige Versorgung. Unter ambulanten Hospizdiensten oder Hospizhelfern versteht man ehrenamtliche Mitarbeiter, die ein Seminar absolviert haben und die Betreuung von Sterbenden sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich unterstützen. Sie übernehmen weder pflegerische noch hauswirtschaftliche Tätigkeiten, sondern konzentrieren sich auf die Begleitung und Bewältigung. Der Einsatz von Hospizhelfern ist kostenfrei. In der Schweiz machen selbst bei den sog. »mobilen Palliativdiensten« die Tumorerkrankungen meist >80% der Patienten aus. Da Tumorpatienten oft bis wenige Wochen vor Ende ihres Lebens mobil sind, handelt es sich bei den Nutzern von häuslicher Onkologiepflege sogar meist um terminal kranke Krebspatienten in den letzten Tagen und Wochen des Lebens. Je nach Angebot des Dienstes werden die Qualifikation des Personals und auch die Abläufe anders als in anderen mobilen Pflegediensten sein. Da aber die Krankheit Krebs und ihre Folgen bis zum Tod vieles bestimmt, muss das Personal solcher Dienste v. a. mit der Krankheit Krebs und ihren Verläufen vertraut sein. Die gängigen Kontroversen solcher Dienste sind im Folgenden kurz geschildert. Teamzusammensetzung. Soll das Team monodisziplinär
41
(nur Pflegende) zusammengesetzt sein oder multidisziplinär d. h. mit eigenem Arzt und/oder Psychologen etc. operieren? Kommt ein komplettes Fachteam nach Hause, oder werden die lokalen Strukturen genutzt d. h. die Aufgaben je nach Stärken verteilt auf unterschiedliche Dienste? Auftrag. Arbeitet der Dienst nur in Ergänzung zur häusli-
chen Pflege vor Ort (subsidiär), übernimmt er die gesamte Pflege oder führt er nur Beratung durch? Erreichbarkeit. Ist der Dienst in Rufbereitschaft verfügbar (d. h. die diensthabende Pflegende kommt im Bedarfsfall vorbei) oder gibt es eine für den Patienten zuständige Pfle-
gende (Bezugspflege im engeren Sinn), die aber im Bedarfsfall nicht zwingend vor Ort ist? Trägerschaft. Ist der Dienst eingebunden in die örtliche
Sozialstation (in der Schweiz: »Spitex«) oder Teil einer spezialisierten Trägerschaft wie Stiftung oder Krebsliga? Was sich in der Schweiz als sehr heikel erwiesen hat, sind Pflegende, die vom Krankenhaus aus ihr Wissen direkt in die häusliche Pflege tragen. Sie werden von den niedergelassenen Ärzten und Pflegenden meist als Konkurrenz verstanden. Positive Effekte der häuslichen Onkologiepflege und der ambulanten Palliativpflege: 4 Patienten und Angehörigen muss rund um die Uhr Sicherheit vermittelt werden können. Dies erfordert entsprechende Erreichbarkeit eines solchen Dienstes. 4 Bei Tumorpatienten mit komplexer Pflege ist eine onkologische und palliative Kompetenz nötig, die immer auf dem neuesten Stand ist. 4 In der Schweiz gehören Pflegende der Spitex und des häuslichen Onkologiepflegedienstes sowie der Hausarzt immer zum Kernteam eines solchen Dienstes. Wegen der Qualifikationen des Personals, der hohen Erreichbarkeit und der guten Ausrüstung einerseits und der nur punktuellen eher kurzen Einsatzdauer ist ein solcher Dienst vergleichsweise teuer. Aus diesem Grund darf die Leistung der SAPV nicht mehr erbracht werden, wenn eine allgemeine Palliativpflege ausreichend ist. Die Versorgung von Tumorpatienten zu Hause kann somit in verschiedenen Formen erfolgen, z. B. durch einen unabhängigen Pflegedienst, der beim einzelnen Krebspatienten eine umfassende Pflege anbietet. Aber auch bei einem gut ausgebauten regionalen Pflegedienstangebot kann ein spezialisierter onkologischer Pflegedienst durchaus seinen Platz haben. Er wird sich zwangsläufig mehr auf die speziellen onkologischen Pflegemaßnahmen, wie die Punktionen von implantierbaren Kathetersystemen, Durchführung von Schmerztherapien mittels Pumpensystemen etc., konzentrieren, dafür aber ein größeres Gebiet versorgen können.
41.4.1
Qualitätssicherung
Die Qualitätssicherung muss in der häuslichen Onkologiepflege und der ambulanten Palliativpflege, wo viele Dienste und Mitarbeiter engagiert sind, eine große Bedeutung haben. Zudem ist die Qualitätssicherung im Gesetz genauso für die Arbeit zu Hause vorgeschrieben wie im Krankenhaus. In der Schweiz bemüht sich auf nationaler Ebene die Palliativgesellschaft um eine Zertifizierung von Diensten in der Palliativpflege und -behandlung. Hier zeigt sich
709 41.4 · Was leisten die häusliche Onkologiepflege und die ambulante Palliativversorgung?
aber auch die Schwierigkeit im Vergleich von stationären und ambulanten Diensten. In Deutschland besteht die gesetzliche Verpflichtung zur Implementierung eines Qualitätsmanagementsystems für alle Leistungserbringer im Gesundheitswesen, eine Pflicht zur Zertifizierung gibt es jedoch bisher noch nicht. Häusliche Onkologiepflege, Brückenpflege und ambulante Palliativpflege sind auf jeden Fall teurer als konventionelle häusliche Pflege, da sie größere Wegzeiten, höher qualifiziertes Personal und mehr Schnittstellenarbeit leisten müssen. Dieser Mehraufwand muss nachgewiesen werden. Auch hier spielt die hohe Qualität der Pflegedokumentation eine zentrale Rolle. Die meisten häuslichen Onkologiepflegen haben zudem ergänzend eigene Standards entwickelt, die weniger in der Behandlung als in den Abläufen, Statistiken, Fakturierung bei ortspezifischen Fragen wichtig und sinnvoll sind. Diese werden in der Schweiz alljährlich auf den gemeinsamen Treffen diskutiert. So haben auch mehrere Kantone in der Schweiz mittlerweile die häusliche Onkologiepflege auf Gesetzesstufe festgeschrieben. Eine gut funktionierende Versorgung von Tumorpatienten zu Hause kann nur dann bestehen und sinnvoll sein, wenn sie sorgfältig auf die Ansprüche der dahinterstehenden Institution und die lokalen Gegebenheiten abgestimmt wird, natürlich in Abhängigkeit von den jeweiligen rechtlichen Bestimmungen. Dies verlangt eine genaue Abklärung der persönlichen Möglichkeiten sowie der äußeren Rahmenbedingungen. In Deutschland hat die Sektion Pflege der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin e. V. (DGP) zu den wichtigsten onkologischen Problemen pflegerische Leitlinien entwickelt, die ebenfalls als qualitätssichernde Maßnahme dienen. Diese Leitlinien zur Palliativpflege sind auf der Homepage der DGP veröffentlicht (. Übersicht).
Leitlinien der DGP 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5
Dyspnoe Ernährung Exulzerierende Wunden Lagerung Lymphödem Mundpflege Obstipation Pruritus Situation nach dem Versterben Übelkeit, Erbrechen
41.4.2
Persönliche Verarbeitung
Die Pflege von Tumorpatienten zu Hause ist geprägt durch eine starke emotionale Beteiligung, bedingt durch die meist sehr intensive, oft längere Zeit dauernde Einbeziehung in den konkreten Alltag von Patient und Angehörigen. Insbesondere während der letzten Zeit eines sterbenden Patienten müssen sich die Pflegenden stark mit den Gefühlen der Betroffenen auseinandersetzen und somit auch mit den ganz persönlichen, eigenen Gefühlen der Trauer und des Abschiednehmens. Dies kann einerseits eine hohe persönliche Befriedigung bedeuten, in dem Gefühl, den Betroffenen durch die eigene ehrliche Anteilnahme bedeutend geholfen zu haben, andererseits heißt dies auch, eine starke Belastung über manchmal längere Zeit auszuhalten. Auch der Abschied nach dem Tod des Patienten fällt Pflegenden manchmal nicht leicht, und es ist ganz wichtig, dass sie in dieser Situation die Möglichkeit haben, sich langsam, ihrem Bedürfnis entsprechend, von dieser emotionalen Bindung lösen zu können. Manchmal hilft es, an der Beerdigung teilzunehmen, manchmal sind noch einige Besuche bei den Angehörigen tröstlich, manchmal ist es eine Karte an die Angehörigen, die hilft, Abstand zu gewinnen, je nach der erlebten Intensität der Pflegesituation. Wenn mehrere Fachkräfte an der Pflege beteiligt waren, ist es sehr hilfreich, miteinander die Erlebnisse auszutauschen. Gespräche unter Kollegen wirken meist entlastend. Ideal ist es, wenn Pflegende die Möglichkeit haben, an Supervisionen teilzunehmen, wo intensive Pflegesituationen in objektivem Rahmen zur Sprache gebracht werden. Auch Balint-Gruppen werden an verschiedenen Orten angeboten, um den in komplexen Pflegesituationen entstehenden Druck und Belastung abzubauen. Auf Mitarbeiterseite ist das Ergebnis einerseits eine gewisse Belastung durch ein hohes punktuelles Engagement, das aber durch gute fachliche Einbettung wie etwa bei Doppelanstellung (Krankenhaus und häuslicher Spezialpflegedienst) und die große Befriedigung, von der Aufnahme bis zum Tod eines Tumorpatienten etwas zur Leidensverminderung und zur Orientierung in der Situation beitragen zu können, mehr als wett gemacht wird. ! Für viele engagierte Onkologiepflegende ist die Pflege und Betreuung von Krebspatienten und ihren Angehörigen am Ende des Lebens die Königsdisziplin der Pflege und mit mehr Befriedigung als Belastung verbunden, wenn man innerhalb seiner Kompetenzen arbeitet.
41
710
Kapitel 41 · Häusliche Betreuung und Pflege von Tumorpatienten
Literatur Bodenheimer T, Wagner E, Grumbach K (2002) Improving primary care for patients with chronic illness. JAMA 288 (14): 1776–1779 Jermann P, Stoll H (2007) Psychologische Aspekte des Bereitschaftsdienstes in einer Krankenhausexternen Onkologiepflege. Palliative-ch, 01: 25–30 Kim J, Dodd M, West C et al. (2004) The PRO-SELF© Pain Control Program improves patients’ knowledge of cancer pain management. Oncol Nurs Forum 31, 6 Löser AP (2000) Ambulante Pflege bei Tumorpatienten. Schlütersche Verlagsbuchhandlung, Hannover Kern, Müller, Auernbach (1996) Basiscurriculum Palliative Care. In: Müller M, Kern M, Nauck F, Klaschik E (Hrsg) (1997) Qualifikation
für hauptamtliche Mitarbeiter. Pallia Med Verlag, Bonn
Internetadressen Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin: www.dgpalliativmedizin. de/ (u. a. Pflegeleitlinien, Forbildung in onkologischer Pflege etc.) Spitex Schweiz: www.spitexch.ch/ Landesarbeitsgemeinschaft Hospiz Baden-Württemberg e. V.: www. hospiz-bw.de (u. a. Fortbildungen, Adressen, gesetzliche Grundlagen) Deutscher Hospiz- und PalliativVerband e. V. (bisherige BAG Hospiz): www.hospiz.net (Informationen zur Hospizarbeit)
41
42
Klinische Krebsforschung R. Herrmann, C. Böhme 42.1
Begriffserläuterungen
– 712
42.2
Klinische Forschung
42.3
Klinische Studien
42.3.1 42.3.2 42.3.3
Phase-1-Studien Phase-2-Studien Phase-3-Studien
42.4
Ethische Fragen und die Regeln der »good clinical practice« (GCP) – 716
42.4.1 42.4.2 42.4.3
Ethikkommissionen – 716 Aufklärung bei klinischen Studien – 717 Dokumentation der Studienresultate – 717
42.5
Die Rolle der Pflegenden in der klinischen Forschung
42.5.1 42.5.2
Berufsbezeichnung – 718 Mögliche Aufgaben – 718
– 713
– 713
– 713 – 714 – 715
– 717
712
Kapitel 42 · Klinische Krebsforschung
)) In früheren Jahrhunderten, noch bis in die 2. Hälfe des 20. Jahrhunderts hinein, beruhten die meisten Entscheidungen in der Medizin auf persönlicher oder überlieferter Erfahrung. Natürlich war vieles davon nicht falsch. Wir verdanken noch heute viel den genauen Beobachtungen unserer Vorfahren und den Erkenntnissen, die sie daraus abgeleitet haben. Der Verlauf einer Krankheit und die Wirkung einer Therapie beruhen aber auf einer großen Vielfalt von Einflüssen, die ein Einzelner niemals ganz überblicken kann. Deshalb setzt man heute auf große klinische Forschungsstudien. Sie bilden nicht die Erfahrungen Einzelner ab, sondern untersuchen ganz bestimmte Fragen systematisch unter genau bezeichneten Bedingungen. Die Ergebnisse der klinischen Forschungsstudien sind die Grundlage für eine Medizin, die somit nicht mehr auf Erfahrung beruht, sondern auf Evidenz (wissenschaftlichen Belegen) gründet. Hier unterscheidet sich die »Schulmedizin« von der »Alternativmedizin«, deren Therapien nicht innerhalb methodisch klar definierter klinischer Studien überprüft werden. Für in der Onkologie tätige Pflegende ist es wichtig, über die wesentlichen Prinzipien der klinischen Krebsforschung Bescheid zu wissen. Denn häufig wirken sie an klinischen Studien mit, und für die Patienten sind sie eine wichtige Informationsquelle.
42.1 Begriffserläuterungen ! Ziel der klinischen Forschung im Allgemeinen und der onkologischen Forschung im Speziellen ist es, Erkenntnisse zu gewinnen, die helfen, einen Krankheitsverlauf oder die Aussichten einer Behandlung unter definierten Bedingungen zuverlässig vorherzusagen. Dazu gehören die Forschung betreffend Therapien, Lebensqualität, Pflege.
42
Jede Form von Forschung muss zwei Voraussetzungen erfüllen: Sie muss die bestehenden Lehrmeinungen in Frage stellen, und sie muss dem möglichen Ergebnis gegenüber unvoreingenommen sein. Die Krebsforschung lässt sich grob in die folgenden Bereiche einteilen, die nachfolgend genauer erklärt werden: 4 epidemiologische Forschung, 4 Grundlagenforschung, 4 translationale Forschung, 4 klinische Forschung. Die epidemiologische Krebsforschung untersucht das Auftreten und den Verlauf von Krebs in Abhängigkeit von äußeren Umständen, wie z. B. Geographie, ethnischer Her-
kunft, Gewohnheiten oder Umwelteinflüssen ( 7 Kap. 3 »Epidemiologie: Risikofaktoren und die Entstehung maligner Tumoren«). Damit kann es möglich werden, Krankheitsursachen einzugrenzen. Damit epidemiologische Studien Beweiskraft haben, müssen jedoch gleichlautende Ergebnisse in mehr als einer Untersuchung nachgewiesen werden, und in der Regel müssen experimentelle Studien vorliegen, die das Resultat unterstützen. Epidemiologische Studien können retrospektiv (= zurückschauend) oder prospektiv (= vorausschauend) angelegt sein. Beispiele sind retrospektive Untersuchungen, die ein höheres Krebsrisiko bei rückwirkend erfragter, geringer Vitaminzufuhr vermuten lassen, und prospektive Studien, innerhalb derer ein definierter Personenkreis seine Vitaminzufuhr über einen längeren Zeitraum genau festhält. Findet man dabei einen Zusammenhang zwischen Vitaminzufuhr und Krebsrisiko, stützt das die Annahme, dass eine ausreichende Vitaminzufuhr das Krebsrisiko vermindert. Dies kann dann der Anlass für eine Interventionsstudie sein, innerhalb derer gesunde Personen eine definierte Vitaminzufuhr oder ein Placebo erhalten, um herauszufinden, ob diese Vitamine tatsächlich die Krebshäufigkeit vermindern. Wie wichtig gerade solche sehr aufwendigen prospektiven Studien sind, zeigt das Ergebnis einer aktuellen Untersuchung dieser Art. Sie konnte nicht zeigen, dass eine definierte Vitaminzufuhr das Krebsrisiko senkt. Die Krebserkrankungsrate war sogar in der mit Vitaminen behandelten Gruppe höher. Fragen der Krebsepidemiologie werden in 7 Kap. 3 ausführlicher diskutiert. Die Grundlagenforschung beschäftigt sich mit den Mechanismen der Krebsentstehung, der Biologie der Krebszelle und den therapeutischen Eingriffsmöglichkeiten im Reagenzglas oder im Tierversuch. Sie schafft die Voraussetzungen für unsere Erkenntnisse zum Wesen der Krebserkrankungen beim Menschen. Die translationale Forschung ist die Verbindung zwischen Grundlagenlaborforschung und klinischer Forschung. Beispielsweise werden Tumorproben von Patienten untersucht, um Behandlungsergebnisse vorherzusagen, oder um während einer medikamentösen Therapie zu überprüfen, ob die gewünschten Effekte auf molekularer Ebene erreicht werden. Diese Art von Forschung hat dazu geführt, dass bereits bei mehreren Tumoren bestimmte Therapien nur dann eingesetzt werden, wenn definierte molekulare Marker nachgewiesen wurden (7 Kap. 5.9). Dies gilt z. B. für 4 Trastuzumab und HER2-Überexpression beim Mammakarzinom, 4 Cetuximab und K-RAS-Mutationsstatus beim kolorektalen Karzinom, 4 Erlotinib bzw. Gefitinib und EGFR Mutationsstatus beim nichtkleinzelligen Bronchialkarzinom.
713 42.3 · Klinische Studien
42.2
Klinische Forschung
Den größten Anteil der klinischen Krebsforschung nimmt die Therapieforschung ein. ! Ziel der Therapieforschung ist es, die gegenwärtige Behandlung zu verbessern. In allen Fachrichtungen der Onkologie werden neue Therapieverfahren untersucht, aber auch anerkannte, jedoch nicht ausreichend durch Studien belegte Therapien auf ihren Nutzen hin überprüft.
Ein wichtiger Punkt in der klinischen Forschung besteht darin, lückenlos alle Effekte zu erfassen, die für eine Beurteilung von Sicherheit und Nutzen der untersuchten Verfahren bedeutsam sind (. Tab. 42.1). Solche Effekte können sein: 4 der Einfluss auf das Tumorwachstum, 4 die Belastung der Patienten durch akute Nebenwirkungen und Aufwand, 4 die Langzeittoxizität, 4 die Kosten. Begleitende Untersuchungen zur Lebensqualität sind heute ebenfalls Bestandteil vieler klinischer Studien. Neben der reinen Therapieforschung ergeben sich weitere Forschungsaufgaben im supportiven Bereich, z. B. 4 in der Schmerztherapie, 4 in der Vorbeugung und Behandlung von Therapienebenwirkungen (z. B. Mukositis, Übelkeit), 4 bei der Optimierung der venösen Zugänge (Port-Systeme).
42.3
. Tab. 42.1. Beispiele für in vergleichenden klinischen Studien zu prüfende Therapieverfahren in verschiedenen Fächern
Fachgebiet
Therapieverfahren
Operative Fächer
Vergleich verschiedener Operationstechniken
Radioonkologie
Vergleich verschiedener Bestrahlungsdosen oder Fraktionierungen
Medizinische Onkologie
Vergleich einer neuen mit einer etablierten medikamentösen Therapie
Interdisziplinär
Vergleich unterschiedlicher Abfolgen kombinierter Therapieverfahren (z. B. Bestrahlung vor oder nach einer Operation)
ren entwickelt. Wir unterscheiden verschiedene Phasen in der Prüfung eines neuen Medikaments: 4 In der Phase 1 wird klassischerweise die für den Menschen noch verträgliche Dosis definiert. Die entsprechenden Studien werden deswegen auch Dosisfindungsstudien genannt. 4 In der Phase 2 wird die gefundene Dosis bei definierten Erkrankungen eingesetzt, um Informationen über die Wirksamkeit zu erhalten. 4 In der Phase 3 erfolgt ein Vergleich mit der bisher als Standard geltenden Therapie. Im Folgenden sollen die Eigenheiten der verschiedenen Phasen klinischer Studien näher betrachtet werden.
Klinische Studien 42.3.1
Neue Therapien müssen schrittweise erforscht werden, bis sie schließlich in die klinische Praxis eingeführt werden können. Dies gilt für medikamentöse ebenso wie für andere Verfahren. In einem ersten Schritt wird das Verfahren bei einer definierten (kleinen) Patientenzahl eingesetzt. An dieser ersten Stelle steht die genaue Beobachtung, ob die zu erforschende Therapie oder Methode durchführbar und verträglich ist. Im zweiten Schritt wird das Verfahren bei einer etwas größeren, einheitlichen Gruppe von Patienten verwendet, um genauere Hinweise auf die Wirksamkeit bei bestimmten Krebserkrankungen zu erhalten und die Erfahrung zu erweitern. Schließlich erfolgt, falls sich das Verfahren bis dahin bewährt hat, der Vergleich mit den bereits auf diesem Gebiet etablierten Behandlungen. Speziell für die Einführung neuer Medikamente in der Onkologie wurde ein systematisches stufenweises Verfah-
Phase-1-Studien
Definition Phase-1-Studie Bei der klassischen Phase-1-Prüfung ist das wichtigste Ziel die Definition einer Dosis und eines Therapieschemas, welches dann in der weiteren Prüfung des Medikaments verwendet werden kann.
Voraussetzungen für den erstmaligen Einsatz von neuen Medikamenten beim Menschen sind u. a.: 4 Hinweise auf eine Wirksamkeit gegen maligne Tumoren, 4 Daten zur Toxizität des neuen Wirkstoffes, 4 Daten zur Pharmakologie: Verteilung und Ausscheidungswege des Wirkstoffs im Körper. Die erforderlichen Daten kommen aus der sog. präklinischen Forschung, d. h. aus der Laborforschung an Tumorzellkulturen und Tiermodellen.
42
714
42
Kapitel 42 · Klinische Krebsforschung
Im Gegensatz zu anderen Medikamenten, wie z. B. Antihypertensiva, werden neue tumorwirksame Substanzen nicht an gesunden Freiwilligen getestet, sondern an Krebspatienten mit fortgeschrittener Krankheit, für die keine wirksamen etablierten Therapien mehr zur Verfügung stehen. An die Auswahl dieser Patienten müssen strenge Maßstäbe angelegt werden. Die Art der Krebserkrankung spielt allerdings meist keine Rolle. Es können Patienten mit ganz verschiedenen Krebserkrankungen in der gleichen Phase-1-Studie behandelt werden. Die Studien beginnen mit einer Dosis, deren Höhe sich an den Ergebnissen der Tiertoxikologie orientiert. Das Verabreichungsschema (oral bzw. parenteral, Bolusinjektion bzw. Dauerinfusion, Behandlungsintervall) orientiert sich an den Kenntnissen zur Pharmakologie und zum Wirkmechanismus des Medikaments, wie sie aus den vorklinischen Untersuchungen vorliegen. Die Dosierung und das Schema werden dabei so gewählt, dass die ersten Patienten mit großer Wahrscheinlichkeit keine Nebenwirkungen erleiden. Nachdem 3 Patienten mit der niedrigsten Dosis behandelt und auch eine ausreichende Zeit beobachtet wurden, wird die Dosis nach einer im Protokoll festgelegten Weise gesteigert, und die nächsten 3 Patienten werden eingeschlossen. Dies wiederholt sich so lange, bis Nebenwirkungen auftreten. In jedem Protokoll ist festgelegt, welche Nebenwirkungen bis zu welcher Stärke noch akzeptiert werden bzw. ab welcher Nebenwirkungsintensität die Dosis für die nächsten Patienten wieder vermindert werden muss. Am Ende der Studie (in der Regel nach Behandlung von etwa 20 Patienten) wird die Dosis festgelegt, mit der das Medikament in den Studien der nächsten Phase (Phase 2) verwendet wird. Idealerweise ist es eine Dosis, die nur akzeptable, insbesondere den Patienten nicht gefährdende Nebenwirkungen verursacht. Da zu Beginn der Prüfung eines neuen Wirkstoffs keine Daten zu Art und Ausmaß von Nebenwirkungen beim Menschen vorliegen, müssen während des Ablaufs einer solchen Studie alle Änderungen in der Befindlichkeit des Patienten sorgfältig dokumentiert werden. Es müssen regelmäßig Blutuntersuchungen vorgenommen werden, um ggf. Toxizitäten, v. a. auf Knochenmark, Leber und Niere, frühzeitig zu erfassen. Bei besonderen Hinweisen aus den präklinischen Studien sind zusätzliche Untersuchungen, wie z. B. Lungenfunktionsprüfung oder Echokardiographie, notwendig. Wenn unerwünschte Ereignisse zu beobachten sind – z. B. eine Verschlechterung der Nierenfunktion –, bleibt häufig zunächst offen, ob sie Nebenwirkung der Therapie sind oder Folge eines Fortschreitens der Tumorerkrankung. Das Ziel besteht darin, eine möglichst hohe Dosierung zu verwenden. Das leitet sich aus der Theorie ab, dass für die meisten Zytostatika eine klare Dosis-Wirkungs-Beziehung besteht, d. h. dass grundsätzlich bei höherer Dosierung eine stärkere Wirkung erwartet wird. Es hat sich
allerdings in den letzten Jahren herausgestellt, dass für die meisten Zytostatika ab einer bestimmten, üblichen Dosis auch durch weitere Steigerungen keine messbaren Wirkungsveränderungen mehr erreicht werden. Pharmakokinetische Untersuchungen sind fester Bestandteil vieler Phase-1-Studien. Sie liefern 4 Informationen über die Verweildauer des Medikaments und seiner Abbauprodukte im Körper, 4 über den Zusammenhang zwischen verabreichter Dosis und Ausscheidung oder Abbau des Wirkstoffs. Dazu wird zu genau festgelegten Zeitpunkten nach Verabreichung des Medikaments Blut entnommen. Die Medikamentenkonzentration wird teilweise auch im Gewebe bestimmt, oder man untersucht Effekte der Medikamente auf den Tumorstoffwechsel. Ergebnisse solcher Untersuchungen können wichtige Hinweise für die weitere Entwicklung eines Medikaments geben. Auch wenn die Definition einer optimalen Dosis das Hauptziel der Phase-1-Prüfung ist, besteht ein weiteres Ziel darin, wenn irgend möglich auch den Effekt der Behandlung auf das Tumorwachstum zu messen. Selbst ein geringer, aber messbarer Effekt kann – abgesehen vom Nutzen für den Patienten – ein wichtiger Hinweis für die weitere Entwicklung des Medikaments sein. Phase-1b-Studien werden im Anschluss an die Phase 1 bei der Erkrankung durchgeführt, für die das zu untersuchende Medikament oder eine Medikamentenkombination in den weiteren Studien getestet werden soll. Ziel ist es, vor der weiteren Entwicklung Hypothesen zur Wirksamkeit und Verträglichkeit zu erhärten. Zeigen sich dabei keine unerwarteten schweren Toxizitäten, wird in der Regel eine Phase-2-Studie angeschlossen.
42.3.2
Phase-2-Studien
Definition Phase-2-Studie Die Phase-2-Prüfung neuer Medikamente hat zwei wichtige Ziele: Sie soll die Wirksamkeit bei definierten Tumorerkrankungen abschätzen, und sie soll erweiterte Kenntnisse zur akuten und verzögerten, evtl. auch kumulativen Toxizität liefern. Am Ende der Phase-2-Prüfung entscheidet sich, ob die klinische Entwicklung eines Medikaments in Richtung Zulassung weitergeführt wird.
Bei welcher Tumorkrankheit ein bestimmter Wirkstoff in der Phase 2 geprüft wird, hängt ab von: 4 der beobachteten Wirksamkeit in der Phase 1, 4 der Aktivität im Reagenzglas an Zellkulturen und in Tierversuchen, 4 dem vermuteten Wirkmechanismus.
715 42.3 · Klinische Studien
Endpunkte einer Phase-2-Studie sind in der Regel die Ansprechrate und/oder das progressionsfreie Überleben (»progression free survival«; PFS). Damit wird berücksichtigt, dass manche Medikamente das Tumorwachstum für eine gewisse Zeit aufhalten, auch wenn sie die Tumoren nicht verkleinern. Idealerweise wird in einer Phase-2-Studie die neue Therapie bereits mit einer Standardtherapie verglichen (randomisierte Phase-2-Studie). So kann abgeschätzt werden, ob die eingeschlossenen Patienten in etwa dem Durchschnitt entsprechen und eine Auswahl in eine bestimmte Richtung vermieden werden konnte. Die Patientenzahlen sind auch in Phase-2-Studien noch klein (ca. 40–60 Patienten). Deshalb erlauben die Ergebnisse solcher Studien keinen formalen Vergleich der Therapieergebnisse oder der Nebenwirkungsraten mit statistischen Methoden, was das Ziel der Phase-3-Studie ist. Sie helfen jedoch in der Entscheidung, ob eine meist sehr aufwendige und teure Phase-3-Studie in Angriff genommen werden soll.
42.3.3
Phase-3-Studien
Definition Phase-3-Studie In Phase-3-Studien werden neue Therapieansätze, die sich in der Phase 1 und 2 als erfolgversprechend gezeigt haben, bei einer großen Gruppe von Patienten in einer definierten Krankheitssituation mit der bis dahin geltenden Standardtherapie verglichen. Wenn für die gegebene Indikation keine Standardtherapie existiert, kann stattdessen auch eine unbehandelte Kontrollgruppe gewählt werden. Eine Phase-3-Studie kann zwei oder mehrere Behandlungen miteinander vergleichen. Man spricht dann von zwei- oder mehrarmigen Studien.
Das Besondere an der Phase-3-Studie ist die Randomisierung (engl. »random«: Zufall). Dies ist die zufällige Zuteilung der Patienten in eine der vorgesehenen Behandlungsgruppen. Dafür gibt es bestimmte computerisierte Verfahren. Diese garantieren, dass ausschließlich der Zufall die Wahl der zu untersuchenden Therapie bestimmt und weder Patient noch behandelnde Ärzte darauf irgendeinen Einfluss haben. Diese Randomisierung soll sicherstellen, dass sich die Behandlungsgruppen im Wesentlichen nur durch die unterschiedliche Behandlung und nicht durch andere Faktoren unterscheiden, welche möglicherweise das Ergebnis beeinflussen könnten, wie z. B. ein besserer oder schlechterer Allgemeinzustand, Alter oder Geschlecht. Wenn die Studien nicht sehr groß sind, können allerdings auch zufällig Ungleichgewichte entstehen. Um auch dies zu vermeiden, erfolgt meist noch eine Stratifizierung nach bekannten Risikofaktoren. Diese sorgt dafür, dass Patienten mit ebendiesen Risiko-
faktoren gleichmäßig auf die Behandlungsgruppen verteilt werden. Wenn möglich, soll eine Phase-3-Studie doppelblind durchgeführt werden. Dies heißt, dass weder Patient noch Prüfer wissen, welche der zu vergleichenden Behandlungen der Patient erhält. Damit möchte man erreichen, dass der Therapieeffekt ohne Voreingenommenheit (engl.: »bias«) bewertet wird. In der Onkologie sind jedoch doppelblinde Studien oft nicht möglich, da die Nebenwirkungen der zu vergleichenden Medikamente zu verschieden sind. Ob eine der geprüften Behandlungen der anderen überlegen ist, lässt sich am Ende einer Phase-3-Studie feststellen, indem man vorwiegend folgende Punkte erfasst: 4 Überlebenszeit, 4 symptomfreie Überlebenszeit, 4 Ansprechrate und Dauer des Ansprechens, 4 Rate an schweren Nebenwirkungen, 4 Verschiedene Aspekte der Lebensqualität, 4 Kosten. Man nennt diese Parameter auch Endpunkte. Welche Endpunkte für eine bestimmte Frage als wichtig angesehen werden, muss vor Beginn der Studie im Protokoll festgelegt werden. Die Unterschiede, die am Ende einer Studie zu beobachten sind, können zufällig oder das Ergebnis der Behandlung sein. Um das zu unterscheiden, wurden statistische Verfahren entwickelt. Sie geben an, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Unterschiede tatsächlich auf die unterschiedliche Behandlung zurückzuführen sind. Diese Wahrscheinlichkeit wird in der Regel mit dem Buchstaben »p« (für engl. »probability«: Wahrscheinlichkeit) bezeichnet. Als guter Hinweis auf einen tatsächlichen, nicht zufälligen Unterschied gilt zumeist ein p-Wert von 95%, dass tatsächlich ein Unterschied zwischen den geprüften Behandlungen besteht. Bei einem p-Wert von 99 %. ! Schwieriger als einen Unterschied nachzuweisen, ist der Beleg, dass zwei Behandlungen gleichwertig sind. Dies verlangt zumeist eine Studie mit sehr vielen Patienten.
Vor Beginn einer vergleichenden Phase-3-Studie muss festgelegt werden, wie viele Patienten eingeschlossen werden sollen. Die erforderliche Patientenzahl kann berechnet werden, wenn man definiert hat, welchen Unterschied man zwischen den untersuchten Therapien zumindest erwartet. Je größer der erwartete Unterschied ist, desto kleiner kann die Zahl der Patienten in der Studie sein. Wenn der erwartete Unterschied eher klein ist, braucht man eine größere Patientenzahl, um diesen Unterschied verlässlich
42
716
Kapitel 42 · Klinische Krebsforschung
zu zeigen. Bei einem erwarteten großen Unterschied muss man sich allerdings fragen, ob die Studie ethisch vertretbar ist, da sie ja einem Teil der Patienten eine erwartetermaßen schlechtere Behandlung zukommen lässt. Bei einem erwarteten kleinen Unterschied muss man sich überlegen, ob ein solch kleiner Unterschied überhaupt von Bedeutung ist. Phase-3-Studien schließen oft mehrere hundert Patienten ein, bei Studien zur adjuvanten Therapie oft >1000. Sie können somit nicht an einem einzelnen Zentrum in vernünftiger Zeit durchgeführt werden. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit von sog. Multizenterstudien, d. h. Studien, die an verschiedenen Kliniken, häufig sogar international, organisiert sind. Dies erfordert einen sehr großen organisatorischen und damit auch finanziellen Aufwand. Dieser wird entweder von Forschungsorganisationen, wie z. B. auf nationaler Ebene in Deutschland der DHSG (Deutsche Hodgkin Studiengruppe) oder AGO (Arbeitsgemeinschaft Gynäkologische Onkologie), in der Schweiz der SAKK (Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Klinische Krebsforschung), in Österreich z. B. der ABCSG (Austrian Breast Cancer Study Group), auf europäischer Ebene der EORTC (European Organization for Research and Treatment of Cancer, europäische Organisation für Forschung und Behandlung von Krebs) und ihren Untergruppierungen oder auch von Pharmafirmen professionell aufgebracht. Einige Studien werden sogar weltweit durchgeführt.
42.4
42
Ethische Fragen und die Regeln der »good clinical practice« (GCP)
Damit Forschungsergebnisse international anerkannt werden können, ist es notwendig, dass sie nach einheitlichen Regeln gewonnen werden. Deshalb wurden vor einigen Jahren die sog. Regeln der »good clinical practice« (GCP; »gute klinische Praxis«) aufgestellt. Diese werden inzwischen von den meisten Ländern als verbindlich anerkannt. Sie regeln die Durchführung aller Studien am Menschen (klinische Forschung). Ihre Einhaltung muss dokumentiert sein und wird von staatlichen Behörden überprüft. Insbesondere die Behörden, die für die Registrierung neuer Arzneimittel zuständig sind, achten darauf, ob die vorgelegten Ergebnisse entsprechend GCP-Regeln erzielt wurden. Folgende Aspekte werden hier besonders geregelt: 4 Schutz der Studienteilnehmer, 4 Ethikkommission für die Genehmigung klinischer Versuche, 4 Aufgaben und Verantwortlichkeiten von Sponsor, Monitor und Prüfarzt, Pflege, 4 Aufgaben der staatlichen Behörde.
Klinische Studien müssen vor Beginn in einem international frei zugänglichen Register erfasst werden. Damit sollen Doppelspurigkeiten, das Verschweigen negativer Ergebnisse, aber nicht zuletzt auch wissenschaftlicher Betrug verhindert werden.
42.4.1
Ethikkommissionen
Definition Ethikkommission Ethikkommissionen sollen sicherstellen, dass klinische Forschung die ethischen Maßstäbe nicht verletzt. Klinische Forschungsprotokolle dürfen deshalb erst nach Genehmigung durch die zuständige Ethikkommission in Kraft gesetzt werden.
Ethikkommissionen werden in der Regel auf regionaler Ebene eingesetzt. Ihre Mitglieder müssen aus verschiedenen, auch nichtmedizinischen, Berufen kommen. Neben Ärzten sind in diesen Kommissionen in der Regel auch Pflegende, Theologen, Pharmazeuten und Patientenorganisationen vertreten. Eingereichte Forschungsvorhaben werden nach folgenden Kriterien beurteilt: 4 Ist das Verhältnis von Belastung zu Nutzen für den Patienten vertretbar? 4 Ist es aufgrund des im Protokoll festgelegten Studienplans und den äußeren Bedingungen wahrscheinlich, dass die Studie wie geplant durchgeführt werden kann? 4 Sind die Verantwortlichen der Studie aufgrund ihrer Erfahrung und ihrer Kenntnisse in der Lage, eine solche Studie durchzuführen? 4 Ist im Protokoll sichergestellt, dass die Studie abgebrochen wird, wenn unvorhergesehene ungünstige Ereignisse auftreten? 4 Werden das Recht auf Anonymität und das Selbstbestimmungsrecht der Patienten ausreichend berücksichtigt? 4 Werden die Patienten vor Eintritt in die Studie umfassend und verständlich schriftlich und mündlich informiert? 4 Besteht eine ausreichende Versicherung von Sponsor und Prüfer, um Schäden, die im Rahmen eines klinischen Versuchs entstanden sind, abzudecken? Im Verlauf der Studie muss die Ethikkommission über jedes schwerwiegende Ereignis, z. B. einen Todesfall als Folge einer Studienmedikation oder eine hospitalisationsbedürftige Nebenwirkung, unverzüglich informiert werden. Solche Ereignisse können eine Revision der Bewilligung der Ethikkommission zur Folge haben. Die Ethikkommission muss aber auch gefragt werden, wenn bei einem Patienten ausschließlich zu Forschungs-
717 42.5 · Die Rolle der Pflegenden in der klinischen Forschung
zwecken eine Untersuchung, wie z. B. eine Röntgenaufnahme oder eine Blutentnahme, erfolgen soll, bei Letzterer selbst dann, wenn dazu keine eigene Venenpunktion erforderlich ist. Jede Maßnahme, die nicht zum Nutzen des individuellen Patienten erfolgt, ist juristisch gesehen eine Körperverletzung und nur nach Aufklärung und Zustimmung (»informed consent«) des Patienten und Zustimmung durch die Ethikkommission gestattet.
42.4.2
Aufklärung bei klinischen Studien
Nachdem die Studienverantwortlichen festgestellt haben, dass ein Patient für die Behandlung in einer Studie geeignet ist, muss dieser über Art und Ziele der Studie aufgeklärt werden. Am besten klärt der Studienverantwortliche selbst den Patienten zunächst mündlich auf und übergibt ihm dann die von der Ethikkommission akzeptierte schriftliche Information. ! Der Patient sollte dann Zeit haben, diese Information ohne zeitlichen Druck zu studieren und mit seinen Angehörigen zu besprechen.
Er muss wissen, dass er keine Nachteile erfahren wird, wenn er die Studienteilnahme ablehnt, und dass er auch nach seiner Zustimmung jederzeit seine Entscheidung revidieren kann. Besonders schwierig ist die Aufklärung über randomisierte Studien. Viele Patienten können nicht verstehen, dass der Zufall bestimmt, welche der in Frage kommenden Behandlungen sie erhalten werden. Hier muss den Patienten verständlich gemacht werden, dass nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand keine der Behandlungen der anderen überlegen ist. Wenn die Betreuenden tatsächlich der Meinung wären, dass eine der möglichen Behandlungen besser ist, wäre eine Randomisierung ethisch nicht vertretbar. Bei den meisten Studien werden zu genau definierten Zeitpunkten Zwischenanalysen durchgeführt. Wenn sich dabei eine eindeutige Überlegenheit für eine der Behandlungen zeigt, wird die Studie vorzeitig abgebrochen. ! Die Zustimmung des informierten Patienten ist unverzichtbarer Bestandteil jeder verantwortungsbewussten klinischen Forschung.
42.4.3
Dokumentation der Studienresultate
Die Auswertung einer Studie erfordert die sorgfältige Dokumentation aller wichtigen Ereignisse während des Verlaufs der Studie. Dazu gehören etwa:
4 4 4 4 4
Dosierung und Zeitpunkt der Medikamentengabe, unerwünschte Wirkungen, Resultate von Labor- und Röntgenuntersuchungen, Beurteilung der Tumorgröße, Beurteilung von Kriterien der Lebensqualität.
In der Regel werden diese Daten auf speziellen Studienprotokollblättern (engl. »case report forms«; CRF) festgehalten. Die Wirkung auf den Tumor und die unerwünschten Wirkungen werden nach standardisierten Regeln beurteilt.
Dokumentation der Tumorwirksamkeit Um den Einfluss der Behandlung auf die Tumorgröße quantitativ zu beurteilen, werden international vereinbarte Kriterien verwendet. Am häufigsten verwendet man die RECIST- (Response Evaluation Criteria in Solid Tumors) Kriterien, selten die WHO-Kriterien. Für Leukämien, Myelome und einige andere maligne Erkrankungen gibt es spezielle Empfehlungen. Die Remissionskriterien werden nicht nur in der Forschung, sondern auch im klinischen Alltag benutzt, um das Ansprechen eines Tumors auf eine Therapie zu beschreiben (auch 7 Kap. 6.4). Auch die Therapienebenwirkungen werden nach international gültigen Kriterien dokumentiert. Am häufigsten werden die Common Terminology Criteria for Adverse Events (CTCAE) verwendet, deren Version 4.0 im Jahr 2009 eingeführt wurde. Die Nebenwirkungen werden dabei in viele verschiedene Qualitäten und 5 Schweregrade (Grad 1–5) eingeteilt (7 Kap. 6.5).
42.5
Die Rolle der Pflegenden in der klinischen Forschung
Klinische Studien wurden in den letzten Jahren immer komplexer und die Anzahl der beteiligten Personen immer größer. Auch Pflegende sehen sich mit neuen Aufgaben konfrontiert, ihnen werden neue Aufträge erteilt. Dies hat zu einer Subspezialisierung in der Pflege geführt, nämlich die »Clinical Trial Nurse«. Mit dieser Subspezialisierung in der onkologischen Pflege wird die wichtige Rolle der Pflegenden dokumentiert, welche diese in den vergangenen Jahren bei der Durchführung klinischer Forschungsvorhaben in allen Phasen von Studien übernommen haben. Einige europäische Länder bieten dazu bereits Fortbildungen oder eine besondere Ausbildung an. Wegen der Komplexität der heutigen klinischen Studien, die auch ethische und rechtliche Fragen aufwerfen kann, ist abzusehen, dass in den nächsten Jahren Mitglieder eines Studienteams den Nachweis (Zertifikat) erbringen müssen, dass sie gemäß inter-
42
718
Kapitel 42 · Klinische Krebsforschung
nationalem Standard der guten klinischen Prüfpraxis (GCP; »good clinical practice«) befähigt sind, an der Durchführung von Studien mitzuwirken.
42.5.1
Berufsbezeichnung
Beurteilung und Umsetzung des Studienprotokolls Das Protokoll wird auf Vollständigkeit, Realisierbarkeit in der Praxis und die Aufgaben des Behandlungsteams geprüft. Beispiel
Für die in der klinischen Forschung tätigen Pflegenden sind weder die deutschen noch die englischen Berufsbezeichnungen klar geregelt. Im deutschen Sprachraum trifft man etwa auf die Bezeichnung »Forschungsschwester/pfleger« oder »Studienschwester/-pfleger«. Diese können zu Unsicherheiten über den eigentliche Auftrag führen, zumal noch weitere Bezeichnungen in Gebrauch sind – mehrheitlich in englischer Sprache – wie »Clinical Trial Nurse«, (»Clinical) Research Nurse«, »Study Nurse«, »Trial Coordinator« oder »Data Manager«. Diese Bezeichnungen zeigen zwar, dass es sich um Mitarbeitende im Forschungsteam handelt, lassen aber offen, ob es sich dabei um eine Pflegeperson handelt. Die Oncology Nursing Society (USA) benutzt häufig in ihren weitverbreiteten und anerkannten Publikationen den Ausdruck »Clinical Trial Nurse« (CTN). In diesem Kapitel wird daher dieser Ausdruck verwendet.
42.5.2
42
Mögliche Aufgaben
Eine »Clinical Trial Nurse« ist heute in der Regel an größeren onkologischen Zentren tätig oder bei Arbeitsgemeinschaften für klinische Forschung oder bei pharmazeutischen Firmen. Sie arbeitet mit dem verantwortlichen Arzt (sog. »Principal Investigator«) oder dem lokal verantwortlichen Arzt eng zusammen. Sie übernimmt Mitverantwortung für die korrekte Behandlung und Pflege der Patienten gemäß Studienprotokoll, oder sie hilft bei der Koordination von speziellen Forschungsaktivitäten. Je nach Auftrag kann die »Clinical Trial Nurse« eine zentrale Rolle in folgenden Gebieten übernehmen: 4 Beurteilung des Studienprotokolls, z. B. im Auftrag von Forschungsgemeinschaften, 4 Vorbereitung der Durchführung eines Studienprotokolls, 4 Rekrutierung und Information der Patienten, 4 Durchführung der Studie, 4 Datenmanagement. Der Arbeitsort oder der Auftrag innerhalb einer Klinik bestimmt, welche der oben genannten Rollen die »Clinical Trial Nurse« übernimmt.
In der Schweiz hat die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Klinische Krebsforschung (SAKK) eine Sektion »Clinical Trial Nurse«. Diese erhält vom SAKK-Zentrum einen streng vertraulichen Protokollentwurf zur Stellungnahme. Die Pflegenden erhalten klare Aufträge zur Überprüfung bestimmter pflegerelevanter Kapitel, und es werden Kommentare eingeholt. Diese Kommentare werden vom für die Studie verantwortlichen Arzt und vom SAKK-Zentrum in die endgültige Version des Protokolls aufgenommen.
In Form von Kommentaren können ferner aufgenommen werden: 4 Ein Behandlungsplan, der den zeitlichen Ablauf der Studie und die Konsequenzen für Patienten und Pflege beschreibt, 4 speziell benötigtes Material, das evtl. entsprechende Bestellungen erforderlich macht. 4 Vorgaben für zusätzliche Untersuchungen und für den Umgang mit Material, z. B. Blutentnahmen, Versand von Proben an auswärtige Labors, Lagerung von Gewebeproben.
Vorbereitung der Einführung eines Studienprotokolls Sobald eine klinische Studie beginnt, sind oft mehrere Mitarbeiter einer Klinik oder Praxis involviert. Zur Definierung der Rolle aller Beteiligten, um Protokoll- bzw. Behandlungsfehler zu vermeiden, kann die »Clinical Trial Nurse« mitbestimmen, wie die Rolle der einzelnen Beteiligten zu definieren ist. Je nach Protokoll kann es sich um folgende Aufgaben handeln: 4 Durchlesen der Unterlagen über die zu prüfenden Medikamente (die Prüfsubstanzen), besonders bezüglich Lagerung, Zubereitung, Verabreichung, Entsorgung und unerwünschte Wirkungen, 4 Erstellen eines Verabreichungsschemas/Pflegeprotokolls (ein Art Zusammenfassung des Masterprotokolls) für die übrigen Pflegenden, 4 Sicherstellen der Information zwischen dem Forschungsteam am Ort und den weiteren beteiligten Behandlungsteams (ambulant und stationär) mittels eines Informationsblatts mit klaren Vorgaben zu Abläufen, Verantwortlichkeiten, den Behandlungs- und den zu beachtenden Pflegestandards, z. B. bei oraler Mukositis.
719 42.5 · Die Rolle der Pflegenden in der klinischen Forschung
Rekrutierung von Patienten Zusammen mit den Ärzten kann die »Clinical Trial Nurse« einen Teil der Kompetenz zur aktiven Rekrutierung von Patienten übernehmen. Sie kann: 4 Ein- und Ausschlusskriterien prüfen, 4 bei der Auswahl geeigneter Patienten mitwirken, 4 den Patienten bei der Entscheidungsfindung beraten und unterstützen.
Patienteninformation und Einverständnis Jeder Patient, der an einer klinischen Studie teilnimmt, muss eine Einverständniserklärung unterschreiben. Dabei handelt sich nicht selten um sehr umfangreiche und anspruchsvolle Dokumente. Patienten und deren Angehörige sind oft überfordert, wenn sie die für sie relevanten Aspekte der geplanten Studie erfassen und verstehen sollen. Mit dem Wissen über Zielsetzungen und Abläufe der Studie ist es der »Clinical Trial Nurse« möglich, kompetente Antworten auf Fragen von Patienten und Angehörigen zu geben. Informationen, welche der Patient vom Arzt erhalten hat, können ergänzt bzw. wiederholt werden. Entsprechend können sich folgende Aufgaben stellen: 4 In Absprache mit dem Arzt Information des Patienten und seiner Angehörigen betreffend Studienteilnahme, 4 Einholen der schriftlichen Einverständniserklärung, 4 Unterstützung des Patienten und der Angehörigen bei der Auseinandersetzung mit ethischen Fragen, z. B. Vor- und Nachteile bei der Behandlung innerhalb einer Studie, 4 Anleitung des Patienten, wie z. B. Medikamente eingenommen werden müssen und bei welchen unerwünschten Wirkungen der Arzt informiert werden sollte.
Durchführung der Studie Die Information des Behandlungsteams über die Ziele und Abläufe der Studie, die Wirkungen der Medikamente, die Verabreichung der Prüfsubstanz und die Protokolle sind zentrale Aufgaben der »Clinical Trial Nurse«. Ärzte und Pflegende, die in die direkte Behandlung und Pflege der Patienten involviert sind, sollten insbesondere den Sinn der Durchführung einer Studie bei einem Patienten kennen und davon überzeugt sein. Die Durchführung von klinischen Studien kann für die Pflegenden auf der Bettenstation oder im ambulanten Bereich zu einem erheblichen Mehraufwand führen, wie z. B. häufigere Laboruntersuchungen, Vitalzeichenkontrolle, Verabreichung von Medikamenten nach speziellen Schemata. Folgende Information an die Pflegenden können die korrekte Durchführung der Studie erleichtern und gewährleisten: 4 Bedeutung der zusammengefassten Pflegedokmentation für die Studiendokumentation,
4 Bereitstellen von Material, z. B. für spezielle Blutentnahmen, von Prüfsubstanzen, 4 Sicherstellung der Abläufe für Bestellungen, 4 Instruktion über besondere Zubereitung von Medikamenten, 4 evtl. auch Verabreichen der Therapie. Andere Aufgaben, welche die »Clinical Trial Nurse« den übrigen Pflegenden im Rahmen von Studien erläutert oder zuteilt: 4 Information über die Zielsetzungen der Studie, insbesondere bezüglich des einzelnen Patienten, der gepflegt wird (hier können die Pflegenden das Verständnis und die Motivation gegenüber der Studie erhöhen helfen und Patienten sowie die Angehörigen besser beraten), 4 mögliche Vor- und Zubereitung der Prüfsubstanz, Verabreichung, Kontrollen nach Protokoll, 4 genaue Dokumentation der verlangten Parameter und der Reaktionen bzw. des Befindens des Patienten, 4 sofortige Meldungen an den Arzt bei unerwarteten Reaktionen des Patienten auf die Prüfsubstanz, 4 Erfassen von Fragen und Ängsten des Patienten im Zusammenhang mit der Studie und Weiterleiten an den Arzt und/oder die »Clinical Trial Nurse«.
Datenmanagement Das genaue Erfassen der verlangten Daten ist maßgebend für die endgültige Auswertung der Studie und um das Ziel des Forschungsprojektes zu erreichen. Eine gute Datenqualität wird nur erreicht, wenn das Forschungsteam und das Behandlungsteam intensiv zusammenarbeiten und alle über die Wichtigkeit der Datenerfassung und -dokumentation informiert und instruiert sind. Die Aufgaben von »Data Managern« sind primär: 4 Organisation und Planung von im Studienprotokoll vorgesehenen Maßnahmen, 4 Überprüfen der Dokumentation von Krankheitssymptomen, unerwünschten Wirkungen, Resultaten von Laborwerten und klinischen Kontrollen, Patiententagebucheinträge gemäß Protokollvorgabe, 4 fehlende Resultate einholen. 4 Übertragen der Information und der Resultate auf Dokumentationsbogen. 4 Einholen von durch die Patienten ausgefüllten Fragebogen zur Lebensqualität und von Schmerzerfassungsbogen, 4 Kontakt mit der Studienorganisation, z. B. SAKK, EORTC, IBCSG, pharmazeutische Industrie. Unabhängig von der Rolle der Pflegenden im Einzelnen sind sie wichtige Mitwirkende, um 4 die Compliance der Patienten zur Behandlung im Rahmen einer Studie zu erhöhen,
42
720
Kapitel 42 · Klinische Krebsforschung
4 bessere (Tumor-) Behandlungen und Wege der Prävention zu finden, 4 kritische klinische Forschungsfragen beantworten zu können, 4 Patienten von heute und den Patienten von morgen die beste Therapie offerieren zu können.
Literatur Hait WN (2005) Updated Methods for Reporting Clinical Trials. Clin Cancer Res 19: 6753 [http://de.wikipedia.org/wiki/Klinische_Forschung] Ehrenberger HE, Lillington L (2004) Development of a Measure to Delineate the Clinical Trial Nursing Role, Oncology Nursing Forum, 31: E64 Spilsbury K et al (2008) The role and potential contribution of clinical research nurses to clinical trials, Journal of Clinical Nursing, 17: 549 Mueller M-R (2001), From delegation to specialization: nurses and clinical trial coordination, Nursing Inquiry, 8; 182 Oncology Nursing Society (ONS) (2008) Manual for Clinical Trials Nursing, 2nd edn. ONS
Internetadressen European Organisation for Research and Treatment of Cancer: www. eortc.org (Ziel ist es, klinische Forschung in Europa zu entwickeln, fortzuführen und zu koordinieren) Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Klinische Krebsforschung: www.sakk.ch (Patientenbezogene Krebsforschung; Ziel ist es, unter Berücksichtigung aller Modalitäten die Tumortherapien weiterzuentwickeln) Deutsche Hodgkin-Studiengruppe: www.ghsg.org (Verbesserung und Standardisierung von Diagnostik, Therapie und weitere Pflege von Hodgkin-Lymphomen) Österreichische Brust- und Kolorektalekrebs Studiengruppe: www. abcsg.org (Zum Zweck der Durchführung von kontrollierten klinischen Studien gegründete Kooperative; Verbesserung der Kommunikation und Weitergabe von Kenntnissen über diese Krebsarten) Joint ECCO/AACR/ASCO Workshop on Methods in clinical Cancer Research: www.ecco-org.eu/Education/Flims/page.aspx/28 (Jährlicher Kurs, in dem die Methoden der klinischen Krebsforschung erlernt werden können)
42
Teil VIII Kurzprofile ausgewählter Krebserkrankungen: Epidemiologie, Risikofaktoren, Symptome, Histologie, Stadieneinteilung, Therapie, Prognose, Nachsorge Kapitel 43
Tumoren der Atemwege
– 723
A. Gaisser, M. Pless
Kapitel 44
Tumoren des Verdauungstrakts
– 737
T. Kroner
Kapitel 45
Mammakarzinom und gynäkologische Tumoren – 747 A. Gaisser
Kapitel 46
Urologische Malignome
– 763
P. Jaeger
Kapitel 47
Leukämien und Lymphome
– 773
T. Kroner, A. Gaisser
Kapitel 48
Seltenere solide Tumoren
– 793
T. Kroner , S. Hofer, A. Gaisser
Kapitel 49
Häufige Tumoren im Kindesalter E. Bergsträsser
– 807
43
Tumoren der Atemwege A. Gaisser, M. Pless 43.1
Larynxkarzinom (Kehlkopfkarzinom)
43.2
Bronchialkarzinome
43.3
Mesotheliom
– 733
– 727
– 724
724
Kapitel 43 · Tumoren der Atemwege
43.1
Larynxkarzinom (Kehlkopfkarzinom) A. Gaisser
43.1.1
Epidemiologie und Risikofaktoren
4 Etwa 6–8 Neuerkrankungen jährlich pro 100.000 Männer, 1–2 Neuerkrankungen pro 100.000 Frauen 4 Erkrankungswahrscheinlichkeit steigt mit dem Lebensalter 4 Mittleres Erkrankungsalter bei Männern und Frauen 63 Jahre 4 Bekannte Risikofaktoren 5 Rauchen ist der wichtigste Risikofaktor; Rauchdauer und Ausmaß des Tabakkonsums sind entscheidend 5 Alkoholkonsum, insbesondere in Kombination mit Rauchen, erhöht das Risiko ebenfalls 5 Risiko durch berufliche Exposition: Einatmen von Stäuben oder Aerosolen mit krebsverursachenden Stoffen (Asbest, Nickel, polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe, Chromsalze, Kohledestillate) 5 Kehlkopfpapillom (verursacht durch humane Papillomviren) 5 Präkanzerosen: chronische Laryngitis mit Dysplasie 5 Familiäre Vorbelastung 4 Möglicherweise risikomindernd: reichlicher Verzehr von Obst und Gemüse
43.1.2
Symptome
Symptome des unbehandelten Primärtumors 4 4 4 4 4
Neu auftretende, anhaltende Heiserkeit Knotige Schwellung am Hals (Halslymphknoten) Fremdkörper-, Kloßgefühl oder Kratzen im Hals Schluckbeschwerden Atemnot
43.1.3
Diagnostik
4 Eine Früherkennungsuntersuchung (Ziel: Entdeckung eines noch symptomlosen Tumors in einem heilbaren Stadium) gibt es nicht
Bei Verdacht auf Larynxkarzinom Ziel
43
4 Sicherung oder Ausschluss der Verdachtsdiagnose
Untersuchungen 4 Inspektion und Abtastung von Hals- und Zungengrundregion
4 Lupenlaryngoskopie und Endoskopie der gesamten oberen Atemwege und des oberen Verdauungstrakts (in Narkose), Biopsie für die pathohistologische Diagnose 4 Ultraschalluntersuchung der Halsweichteile 4 Evtl. Computertomographie (CT) oder Kernspintomographie (MRT) des Halsbereichs 4 Evtl. Positronen-Emissionstomographie (PET) zum Lymphknoten-Staging
Bei gesicherter Diagnose Ziele 4 Beurteilung der Krankheitsausbreitung in Körper 4 Erfassung therapierelevanter Faktoren
Untersuchungen 4 Thoraxröntgen
43.1.4
Histologie
4 Überwiegend (90–95%) verhornende oder nicht verhornende Plattenepithelkarzinome; schwere Dysplasie und Carcinoma in situ sind Krebsvorstufen 4 Das Grading gibt Auskunft darüber, wie stark ausgereift die Zellen unter dem Mikroskop aussehen: Unterscheidung der Grade G1 (gut differenziert) bis G4 (undifferenziert)
43.1.5
Klassifikation und Stadieneinteilung
Die klinische Untersuchung und bildgebende Verfahren erlauben die vorläufige klinische Beurteilung der Krankheitsausbreitung. Sie wird nach dem TNM-Klassifikationssystem der UICC entsprechend der jüngsten Fassung von 2010 (7. Auflage) beschrieben und ist Grundlage der Therapieplanung. Die operative Entfernung des Tumors und ggf. der nahegelegenen Lymphknoten sowie deren histologische Untersuchung ermöglichen eine pathologische Klassifikation (pTNM). Für das pathologische Lymphknoten-Staging sollten mindestens 10 Lymphknoten untersucht werden (. Tab. 43.1, 43.2). 4 Der Kehlkopf wird anatomisch eingeteilt in die Bereiche 5 Supraglottis (»über der Glottis gelegen«, Kehlkopfeingang), 5 Glottis (stimmbildender Teil des Kehlkopfs; Stimmritze: Stimmbänder und Stellknorpel) 5 Subglottis (»unter der Glottis gelegen«) 4 Glottistumoren sind mit 60–65% am häufigsten, gefolgt von supraglottischen Tumoren (30–35%)
725 43.1 · Epidemiologie und Risikofaktoren
. Tab. 43.1. TNM (7. Auflage 2010), gekürzt
Supraglottis T
Primärtumor
TX
Primärtumor kann nicht beurteilt werden
Tis
Carcinoma in situ
T1
Tumor auf einen Unterbezirk beschränkt, Stimmband normal beweglich
T2
Tumor wächst mindestens in zwei Unterbezirken oder betrifft auch Glottis oder Bereich außerhalb der Supraglottis, Larynx beweglich
T3
Tumor auf Larynx begrenzt, Stimmband unbeweglich und/oder Tumorbefall von Postkrikoidbezirk, präepiglottischem Gewebe oder tiefem Zungengrund
T4
Tumor durchbricht Schildknorpel und/oder wächst in umgebende Gewebe/Strukturen ein
Glottis T
Primärtumor
TX
Primärtumor kann nicht beurteilt werden
Tis
Carcinoma in situ
T1
Tumor auf Stimmband (Stimmbänder) begrenzt, Stimmbänder normal beweglich
T1a
Tumor auf ein Stimmband begrenzt
T1b
Tumorbefall beider Stimmbänder
T2
Tumorausbreitung auf Supraglottis oder Subglottis oder Stimmbandbeweglichkeit eingeschränkt
T3
Tumor auf Larynx begrenzt, Stimmband unbeweglich
T4a
Tumor durchbricht Schildknorpel und/oder wächst in umgebende Gewebe/Strukturen ein
T4b
Tumor wächst in Gewebe vor der Wirbelsäule oder ins Mediastinum vor oder ummauert die A. carotis
Subglottis T
Primärtumor
TX
Primärtumor kann nicht beurteilt werden
Tis
Carcinoma in situ
T1
Tumor auf Subglottis begrenzt
T2
Tumor breitet sich auf Stimmband (Stimmbänder) aus, normale oder eingeschränkte Beweglichkeit der Stimmbänder
T3
Tumor auf Larynx begrenzt, Stimmband unbeweglich
T4a
Tumor wächst in Krikoid oder Schildknorpel und/oder in umgebende Gewebe/Strukturen ein
T4b
Tumor wächst in Gewebe vor der Wirbelsäule oder ins Mediastinum vor oder ummauert die A. carotis
Für alle Lokalisationen N
Regionäre Lymphknoten
NX
Regionäre Lymphknoten können nicht beurteilt werden
N0
Keine regionären Lymphknotenmetastasen
N1
Gleichseitige einzelne Lymphknotenmetastase, maximal 3 cm Durchmesser
N2
Lymphknotenmetastase(n) gleichseitig oder auf Gegenseite, 3–6 cm Durchmesser
N2a
Metastase in einem einzelnen gleichseitigen Lymphknoten, maximaler Durchmesser 6 cm
N2b
Metastasen in mehreren ipsilateralen Lymphknoten, maximaler Durchmesser 6 cm
N2c
Metastase(n) in bilateralen oder gegenseitigen Lymphknoten, maximaler Durchmesser 6 cm
N3
Lymphknotenmetastase(n) mit mehr als 6 cm Durchmesser
M
Fernmetastasen
M0
Keine Fernmetastasen nachweisbar
M1
Fernmetastasen vorhanden
43
726
Kapitel 43 · Tumoren der Atemwege
. Tab. 43.2. Stadiengruppierung Stadium 0
Tis
N0
M0
Stadium I
T1
N0
M0
Stadium II
T2
N0
M0
Stadium III
T1, T2
N1
M0
T3
N0, N1
M0
T4a, T4b
N0, N1
M0
T1–T3
N2
M0
T4b
jedes N
M0
jedes T
N3
M0
jedes T
jedes N
M1
Stadium IVA
Stadium IVB
Stadium IVC
43.1.6
Therapie
Übersicht 4 Oberstes Ziel ist zunächst die Erhaltung des Kehlkopfs (und damit der Sprache und der Schluckfunktion)! 4 In frühen Stadien (I und II) haben funktionserhaltende operative Resektion der befallenen Anteile (ggf. endoskopisch) und Strahlentherapie gleiche Ergebnisse hinsichtlich der lokalen Kontrolle; bei hohem Risiko bzw. Lymphknotenbefall Radiochemotherapie 4 In lokal fortgeschrittenen Stadien (III und IV): primäre simultane (oder sequenzielle) Radiochemotherapie → ermöglicht bei Ansprechen auf die Therapie Kehlkopferhalt bei vergleichbaren Langzeitergebnissen wie Operation 4 Bei Nichtansprechen auf Chemoradiotherapie: Laryngektomie (totale Kehlkopfentfernung), in Abhängigkeit von Risikofaktoren ggf. anschließend Strahlentherapie oder Chemoradiotherapie 4 Operative Entfernung der Halslymphknoten (»neck dissection«) je nach Sitz des Tumors, klinischem Befall und Therapie 4 Rezidiv: Je nach Situation und Vorbehandlung evtl. erneute organerhaltende Operation oder Laryngektomie und/oder Bestrahlung bzw. Strahlenchemotherapie 4 Fernmetastasierung: Palliative Lokaltherapie und je nach Allgemeinzustand Chemotherapie oder supportive Therapie (»best supportive care«)
Chirurgie
43
4 Lokalisation und Ausdehnung des Tumors bestimmen Art und Umfang der Operation 4 In frühen Stadien eher endoskopische Operation, in lokal fortgeschrittenen Stadien eher offene Operation 4 Nach Möglichkeit Laserchirurgie (schonender)
4 Organ- und funktionserhaltende Teilresektionen bei lokal begrenzten Tumoren je nach Tumorsitz mit kurativem Ziel: 5 Chordektomie: Entfernung des betroffenen Stimmbandes (Folgeprobleme: Veränderung der Stimme, chronische Heiserkeit; bei Laserchirurgie evtl. keine oder kaum Veränderung der Stimmqualität) 5 Larynxteilresektion: Bei Befall der vorderen Kommissur wird diese mit einem Teil der Schildknorpelvorderwand entfernt 5 Hemilaryngektomie: Entfernung der Stimmlippe und eines Teils der angrenzenden Strukturen (Folgeproblem: Stimme verändert) 4 Totale Laryngektomie und Anlage eines permanenten Tracheostomas bei lokal ausgedehnten Tumoren, die nicht auf eine primäre Chemoradiotherapie ansprechen, oder bei Rezidiv (»Salvage-Operation«); Folgeprobleme: Verlust der natürlichen Stimmbildung, veränderte Atembedingungen, psychosoziale Belastung → Sollte nach Möglichkeit vermieden werden! Ggf. operative Anbahnung einer Ersatzstimme durch Anlage eines Tracheoösophagealventils (»Stimmfistel«; 7 Kap. 31: Tumoren im Kopf-Hals-Bereich) 4 Lymphknoten 5 Bei T1- und T2-Tumoren der Glottis und klinisch freien Lymphknoten: keine operative Entfernung der Halslymphknoten (»neck dissection«) 5 Bei lokal fortgeschrittenen Tumoren der Glottis und der Supraglottis: »neck dissection«, auch bei N0 5 Bei klinisch befallenen Lymphknoten: – Wenn Operation des Primärtumors, dann auch »neck dissection« – Falls Chemoradiotherapie und komplettes Ansprechen: Bei N1-Befall keine »neck dissection«, bei N2- und N3-Befall operative Entfernung unabhängig vom Ansprechen 4 Palliative chirurgische Eingriffe zur Vermeidung von Komplikationen und zur Schmerzlinderung
Strahlentherapie 4 Bei Stadium-I/II-Tumoren (kurative Zielsetzung); Zielregion: Primärtumor und ggf. regionäre Lymphknoten 4 Ggf. bei lokal fortgeschrittenen Tumoren, falls Kehlkopferhaltung gewünscht und keine Chemoradiotherapie und keine organerhaltende Operation möglich ist 4 Technik: Bevorzugt intensitätsmodulierte Bestrahlung (IMRT) zur Schonung angrenzender Strukturen und zum Erreichen hoher Dosen in der Zielregion 4 Postoperative (adjuvante) Bestrahlung nach organerhaltender Operation sollte wegen schlechterer funktioneller Ergebnisse vermieden werden (R0-Resektion wichtig!)
727 43.2 · Bronchialkarzinome
4 In fortgeschrittenen Stadien ggf. palliative Bestrahlung (z. B. zur Verbesserung der Atemfunktion)
Chemotherapie 4 Als primäre Alternative zur Laryngektomie in nichtmetastasierten lokal fortgeschrittenen Stadien (III/IV) in Kombination mit Radiotherapie (Chemoradiotherapie): Kehlkopferhalt primär möglich in 40–60% der Fälle 4 Bei lokal fortgeschrittenen Tumoren (Stadium III/IV) kombinierte definitive Radiochemotherapie mit Ziel des Kehlkopferhalts: potenziell kurativ; wichtig: adäquate Supportivtherapie (Mukositis, Schmerzen), evtl. temporäre Einlage einer perkutanen Magensonde (perkutane endoskopische Gastroenterostomiesonde, PEG; 7 Kap. 22.9.4) 4 Alleinige Chemotherapie ggf. bei lokal fortgeschrittener Erkrankung ohne Möglichkeit der Operation oder Bestrahlung und bei Fernmetastasierung 4 Wirksame Substanzen: Cisplatin, 5-FU, Taxane; in Studien: Cetuximab (EGFR-Antikörper)
43.1.7
Prognose
4 Die Prognose ist abhängig von der Tumorausdehnung und der Tumorlokalisation 4 75–95% Heilung bei kleinen Tumoren ohne Lymphknotenbefall 4 Bei lokal fortgeschrittenen Tumoren und ausgedehntem Lymphknotenbefall Kontrolle schwierig, häufig Fernmetastasierung 4 5-Jahres-Überleben: 5 Gesamt: 60–75% 5 Supraglottische Karzinome: stadienabhängig (T1: 50–80%, T2: 80%; T3, T4 :50–60%) 5 Glottische Karzinome: stadienabhängig 90% 5 Subglottische Karzinome: 35–40%
43.1.8
Untersuchungen 4 Engmaschige Kontrollen alle 2–3 Monate im ersten, alle 4–6 Monate im zweiten Jahr, da in dieser Zeit das Rezidivrisiko am höchsten ist; danach in längeren Intervallen (6–12 Monate) 4 Anamnese (Symptome?), Inspektion und körperliche Untersuchung (Hals, Mund, Rachen) 4 Evtl. Sonographie der Halsregion 4 Ggf. CT, MRT 4 Ggf. Schilddrüsenfunktionstests (häufig Schilddrüsenunterfunktion nach Strahlentherapie oder Teilentfernung der Schilddrüse) 4 Kein allgemein anerkanntes Schema
43.2
Bronchialkarzinome M. Pless, A. Gaisser
43.2.1
Epidemiologie und Risikofaktoren
4 Etwa 70 Neuerkrankungen jährlich pro 100.000 Männer, Inzidenz sinkt leicht 4 Etwa 10 Neuerkrankungen jährlich pro 100.000 Frauen, Inzidenz steigt 4 Das Erkrankungsrisiko steigt etwa ab dem 40. Lebensjahr mit dem Alter an 4 Wichtigster Risikofaktor: Zigarettenrauchen (Ursache von 90% aller Lungenkrebsfälle bei Männern, 60–80% bei Frauen); das Risiko steigt in Abhängigkeit von der Anzahl der Zigaretten pro Tag bis zum 20- bis 30-Fachen eines Nichtrauchers; etwa jeder 7.–10. Raucher erkrankt im Laufe seines Lebens, im Durchschnitt 30–40 Jahre nach Beginn des Rauchens 4 Weitere Risikofaktoren: 5 Exposition gegenüber verschiedenen chemischen Stoffen (Inhalation), z. B. Asbest, Arsen, Chrom, Nickel, aromatische Kohlenwasserstoffe, Radon 5 Passivrauchen 5 Schadstoffe in der Atemluft
Nachsorge
Ziele 4 Vorbeugen sowie Erfassung von Komplikationen aufgrund der Erkrankung oder der Therapie und deren Behandlung 4 Früherfassung von behandelbaren Krankheitsrückfällen und/oder Zweittumoren (häufig!) 4 Rehabilitation/Stimmrehabilitation (7 Kap. 31 »Tumoren im Kopf-Hals-Bereich«) 4 Rauchentwöhnung dringend angeraten (Weiterrauchen verschlechtert die Prognose) 4 Psychosoziale Betreuung und Begleitung
43.2.2
Symptome
Symptome des unbehandelten Primärtumors 4 Neu einsetzender oder Verschlimmerung eines chronischen Hustens 4 Auswurf mit oder ohne Blutbeimengungen 4 Schmerzen 4 Fieber 4 Atemnot 4 Gewichtsverlust, Abgeschlagenheit
43
728
Kapitel 43 · Tumoren der Atemwege
4 Bei kleinzelligen Karzinomen: evtl. paraneoplastische Syndrome 4 In der Regel keine Frühsymptome oder nur unspezifische, häufig Diagnoseverschleppung!
43.2.3
Diagnostik
Bei Verdacht auf Bronchialkarzinom Ziel 4 Sicherung oder Ausschluss der Verdachtsdiagnose
– Plattenepithelkarzinom (30–45%, Tendenz sinkend) – Adenokarzinom (35–45%, Tendenz steigend) – Großzelliges Karzinom (10–15%) – Seltene Tumoren (5–10%; z. B. adenosquamöses Karzinom) 4 Kleinzellige Bronchialkarzinome metastasieren früher und sprechen besser auf Chemotherapie und Strahlentherapie an als die nichtkleinzelligen Karzinome
43.2.5
Untersuchungen 4 Thoraxröntgen 4 Bronchoskopie, wenn möglich mit Biopsie und histologischer Untersuchung 4 Ggf. perkutane Nadelbiopsie 4 Zytologische Untersuchung von Bronchialsekret 4 Evtl. invasive Methoden, z. B. Thorakoskopie mit Biopsie
Bei histologisch oder zytologisch gesicherter Diagnose Ziele 4 Beurteilung der Operabilität des Tumors 4 Erfassung der Krankheitsausbreitung (lokal und metastatisch)
Untersuchungen 4 (Spiral-) Computertomographie des Thorax und des Oberbauchs 4 Ganzkörper-PET bzw. PET-CT (Lymphknotenbefall im Mediastinum? Fernmetastasen?) 4 Evtl. Mediastinoskopie 4 Skelettszintigraphie bei Verdacht auf Knochenmetastasen (nicht nötig, wenn PET verfügbar) 4 Ggf. Computertomographie oder MRT des Schädels 4 Untersuchungen zur Bestimmung des Operationsrisikos: 5 EKG 5 Lungenfunktionsdiagnostik (v. a. 1-s-Volumen bei Exspiration) 5 Blutgasanalyse
43.2.4
43
Histologie
4 Unterteilung der Karzinome für die Therapieplanung in: 5 Kleinzelliges Bronchialkarzinom (Abkürzung: SCLC für engl. »small cell lung cancer«, 15–20%, Tendenz sinkend) 5 Nichtkleinzellige Bronchialkarzinome (Abkürzung NSCLC für engl. »non-small cell lung cancer«)
Klassifikation und Stadieneinteilung
4 Die anatomische Ausbreitung des Tumors wird nach dem TNM-System der UICC erfasst (7 Kap. 2.4) 4 Anfang 2010 trat eine neue TNM-Klassifikation in Kraft (7. Auflage; . Tab. 43.3, 43.4); sie hat zwar eine bessere prognostische Aussagekraft als die 6. Auflage von 2002, kann aber noch nicht als Grundlage für therapeutische Entscheidungen eingesetzt werden, da hierfür die klinischen Daten fehlen
Stadieneinteilung kleinzelliger Karzinome 4 Für kleinzellige Karzinome ist auch die Einteilung in die beiden Stadien »limited disease« und »extensive disease« gebräuchlich: 5 »Limited disease« (LD): Tumor ist auf eine Thoraxseite beschränkt (30%) 5 »Extensive disease« (ED): Jede Tumorausdehnung über die Definition von »limited disease« hinaus; bei Fernmetastasen immer Einstufung als ED 5 Stadieneinteilung nach TNM wie nichtkleinzellige Karzinome: IA–IIIA immer LD, IIIB überwiegend LD, IV immer ED
43.2.6
Therapie kleinzelliger Karzinome (SCLC)
Übersicht 4 Ohne Therapie medianes Überleben 2–4 Monate 4 Wegen der Tendenz zur frühen Metastasierung ist Chemotherapie die wichtigste Therapieform: In der Regel rasche, bei einem Teil der Patienten (45–75% bei LD, 20–30% bei ED) vollständige Tumorrückbildung
Limited disease 4 Nur im Stadium I: Evtl. Operation gefolgt von Chemoradiotherapie 4 Kombinationschemotherapie und Strahlentherapie, simultan (am wirksamsten, allerdings mehr Toxizität) oder sequenziell
729 43.2 · Bronchialkarzinome
. Tab. 43.3. TNM (7. Auflage 2010), gekürzt. Die wichtigsten Änderungen gegenüber der 6. Auflage von 2002 sind kursiv fett markiert T
Primärtumor
TX
Primärtumor kann nicht beurteilt werden
Tis
Carcinoma in situ
T1
Größter Tumordurchmesser 3 cm
T1a
bis 2 cm
T2a
2–3 cm
T2
Tumor hat eines der folgenden Kennzeichen 4 größter Tumordurchmesser mehr als 3 cm, Hauptbronchus nicht befallen 4 Ausbreitung auf Hauptbronchus (2 cm oder mehr von Carina entfernt) 4 Tumorbefall der viszeralen Pleura 4 Atelektase eines Teils der Lunge
T2a
Größter Tumordurchmesser 3–5 cm
T2b
Größter Tumordurchmesser 5–7 cm
T3
Tumor größer als 7 cm. Tumor jeder Größe, der in eine der folgenden Strukturen eingewachsen ist: Brustwand, Zwerchfell, mediastinale Pleura, parietales Perikard und/oder Tumor im Hauptbronchus (weniger als 2 cm von Carina). Mehrere Tumoren im gleichen Lappen*
T4
Tumor jeder Größe, der in eine der folgenden Strukturen eingewachsen ist: Mediastinum, Herz, große Gefäße, Trachea, Ösophagus, Wirbelkörper, Carina, oder mehrere Tumoren in der ipsilateralen Lunge**
N
Regionäre Lymphknoten
NX
Regionäre Lymphknoten können nicht beurteilt werden
N0
Keine regionären Lymphknotenmetastasen
N1
Metastasen nur ipsilateral: in peribronchialen und/oder hilären Lymphknoten
N2
Metastasen nur ipsilateral: in mediastinalen Lymphknoten
N3
Metastasen kontralateral: in mediastinalen und/oder hilären Lymphknoten; ipsi- oder kontralateral: in Skalenus- oder supraklavikulären Lymphknoten
M
Fernmetastasen
M0
Keine Fernmetastasen nachweisbar
M1a
Lungenbefall kontralateral, Pleuraknoten oder maligner Pleura- oder Perikarderguss***
M1b
Fernmetastasen
* TNM 6. Auflage: T4 ** TNM 6. Auflage: M1 *** TNM 6. Auflage: T4
4 Bei Kontraindikation gegen Thoraxbestrahlung (beeinträchtigte Lungenfunktion, schlechter Allgemeinzustand) nur Chemotherapie 4 Prophylaktische Schädelbestrahlung (reduziertes Risiko eines ZNS-Rezidivs und höhere Lebenserwartung) 4 In der Regel Lebensverlängerung, insbesondere durch multimodale Therapie (auf median 18–24 Monate), aber nur ein kleiner Teil der Patienten bleibt längerfristig krankheitsfrei (15–20%)
Extensive disease 4 Nach Möglichkeit platinhaltige Kombinationschemotherapie über 4–6 Zyklen (Monotherapien zwar weniger toxisch, aber auch weniger wirksam) 4 Auch hier prophylaktische Ganzhirnbestrahlung (verbessert Überleben im Vergleich zu Chemotherapie allein) 4 Strahlentherapie zur Symptomlinderung 4 Bei bronchialer Obstruktion endobronchiale Brachytherapie, Lasertherapie oder Einlage von Stents
43
730
Kapitel 43 · Tumoren der Atemwege
. Tab. 43.4. Stadiengruppierung. Die wichtigsten Änderungen gegenüber der 6. Auflage von 2002 sind kursiv fett markiert
TNM 6. Auflage
TNM 7. Auflage
Okkultes Karzinom
TX
N0
M0
TX
N0
M0
Stadium 0
Tis
N0
M0
Tis
N0
M0
Stadium IA
T1
N0
M0
T1a,b
N0
M0
Stadium IB
T2
N0
M0
T2a
N0
M0
Stadium IIA
T1
N1
M0
T2b
N0
M0
T1a,b
N1
M0
T2a
N1
M0
Stadium IIB
Stadium IIIA
Stadium IIIB
Stadium IV
T2
N1
M0
T2b
N1
M0
T3
N0
M0
T3
N0
M0
T1–2
N2
M0
T1–2
N2
M0
T3
N1–2
M0
T3
N1–2
M0
T4
N0, N1
M0
jedes T
N3
M0
Jedes T
N3
M0
T4
jedes N
M0
T4
N2
M0
jedes T
jedes N
M1
Jedes T
Jedes N
M1
4 Medianes Überleben 8–12 Monate bei Kombinationschemotherapie
Rezidiv/Progress 4 Bei Rezidiv >6 Monate nach Primärtherapie Wiederholung der Erstlinienchemotherapie; bei primärer Resistenz oder Frührezidiv evtl. Second-line-Therapie (Erfolge selten und meist nur von kurzer Dauer) 4 Medianes Überleben 4–6 Monate 4 Behandlung nach Möglichkeit im Rahmen von Studien!
43
Strahlentherapie 4 Parallel zur Chemoradiotherapie oder nach Abschluss der Chemotherapie bei LD (Tumorregion, Mediastinum, ggf. auch die Supraklavikularregion; 50–60 Gy) 5 Bei der Chemoradiotherapie sollte die Bestrahlung früh beginnen, d.h. beim ersten oder 2. Chemotherapiezyklus 4 Insbesondere bei Vollremission nach Chemotherapie prophylaktische Bestrahlung des Schädels (24 Gy) wegen des hohen Risikos einer Fernmetastasierung im Gehirn (bis zu 60%)
Chirurgie
Palliativ
4 Geringer Stellenwert, da diese Tumoren bei Diagnose praktisch immer schon metastasiert haben; Ausnahmen: 5 Evtl. bei Operabilität (LD, Stadium I) mit zusätzlicher Chemoradiotherapie 5 Evtl. bei schlechtem Ansprechen auf Chemoradiotherapie (Grund: vermutlich Mischtumor mit Anteilen eines nichtkleinzelligen Karzinoms) 4 Operationstechniken 7 nichtkleinzellige Karzinome (7 43.2.7)
4 Bei Tumorprogression unter Chemotherapie und Lokalrezidiv 4 Zur Linderung tumorbedingter Beschwerden (lokal und durch Metastasen): Bei Obstruktion endobronchiale Brachytherapie, perkutane Thoraxbestrahlung, Schädelbestrahlung bei Hirnmetastasen
Chemotherapie 4 Wirksame Substanzen (alphabetisch): Anthrazykline, Carboplatin, Cisplatin, Cyclophosphamid, Etoposid, Ifosfamid, Irinotecan, Paclitaxel, Topotecan und Vincristin
731 43.2 · Bronchialkarzinome
4 Üblicherweise Kombinationstherapie (2 oder 3 Substanzen) über 4–6 Zyklen: z. B. Etoposid/Platin (EP, derzeitiger Standard), Cyclophosphamid/Doxorubicin/Vincristin (CAV), Ifosfamid/Carboplatin/Etoposid (ICE), Cisplatin/Irinotecan
Limited disease 4 Therapie potenziell kurativ 4 Chemotherapie möglichst in Kombination mit Strahlentherapie: parallel (wirksamer) oder sequenziell 4 Bei kombinierter Chemoradiotherapie: 4–6 Zyklen Cisplatin plus Etoposid 4 Remissionsraten über 80% (komplette Remissionen etwa 50–75%) 4 Erhaltungstherapie nicht sinnvoll
Extensive disease 4 Chemotherapie ähnlich wie bei LD, aber Einsatz auch neuerer Substanzen (7 oben); Studien! 4 Kombinationstherapie wirksamer als Monotherapie 4 Kaum Wirksamkeitsunterschiede bei den unterschiedlichen Kombinationen 4 Bis zu 80% Remissionen (etwa 20–30% vollständig), aber Remissionsdauer meist begrenzt
Rezidiv 4 Bei Rezidiv >6 Monate nach Primärtherapie Wiederholung der Erstlinienchemotherapie 4 Bei primärer Resistenz oder Frührezidiv evtl. Secondline-Therapie (Erfolge selten und meist nur von kurzer Dauer)
43.2.7
Therapie nichtkleinzelliger Karzinome (NSCLC)
4 Wenn keine Heilungsaussicht wegen ausgedehnten Primärtumors und/oder Fernmetastasierung besteht: palliative Chemotherapie, palliative Strahlentherapie, kombinierte Laser- und Strahlentherapie, Einlage eines Stents 4 Bei Rezidiv oder Progression nach Primärtherapie palliative Strahlentherapie oder Chemotherapie, bei Versagen der verfügbaren Zytostatika evtl. EGFR-Rezeptor-Inhibitor (Erlotinib); Resektion einzelner Metastasen; bei Obstruktion endobronchiale Therapie 4 Wegen generell unbefriedigender Ergebnisse Behandlung bevorzugt im Rahmen von Studien
Chirurgie Kurativ 4 Alleinige Operation im Stadium I 4 Operation mit adjuvanter Chemotherapie im Stadium II und IIIA (N2), vorgeschaltete (neoadjuvante) Chemotherapie für Stadium IIIA auch etabliert 4 In Einzelfällen auch im Stadium IIIB mit kontralateralem Lymphknotenbefall, Operation nach neoadjuvanter Chemoradiotherapie 4 Eingriff abhängig von Tumorgröße, Tumorlokalisation und Allgemeinzustand des Patienten (Begleiterkrankungen, Herz- und Lungenfunktion) 4 Verfahren: Lappenresektion (Lobektomie: häufigster Eingriff), Bilobektomie, Pneumonektomie (nur noch selten, höhere Operationsmorbidität und -mortalität), Segment- oder Keilresektion (ggf. Stadium 0, I) mit leicht erhöhtem Risiko für Lokalrezidiv 4 Bronchoplastische Techniken zum Erhalt funktionsfähigen Lungegewebes 4 Lymphknoten der näheren Umgebung und ggf. befallene Organe/Organteile in der Umgebung werden mitentfernt
Übersicht
Palliativ
4 Wirkungsvollste Therapie ist die Operation: Therapie der Wahl bei lokalisierten, operablen Tumorstadien (v. a. Stadium I und II, auch IIIA) 4 Nur bei 20–30% der Patienten ist eine potenziell kurative Operation möglich, ein Teil kann dadurch geheilt werden 4 (Neo-) adjuvante Chemotherapie bei größeren Tumoren (Stadien II–IIIA) 4 Bei operablen Tumoren, aber Kontraindikation gegen Operation: potenziell kurative Strahlentherapie (weniger gute Ergebnisse als Chirurgie) 4 Bei örtlich fortgeschrittenen Tumoren (T3–T4, N2– N3): Entscheidung, ob alleinige Strahlentherapie, alleinige Chemotherapie, kombinierte Chemo- und Strahlentherapie oder präoperative (neoadjuvante) Chemoradiotherapie mit nachfolgender Operation
4 Resektion des Primärtumors zur Vermeidung von Blutungen, Abszessbildung, poststenotischer Pneumonie, Schmerzen 4 Operation einzelner Metastasen
Strahlentherapie Kurativ 4 Perkutane Strahlentherapie (möglichst >60 Gy), wenn der Tumor zwar örtlich begrenzt, aber eine Operation nicht möglich ist (schlechter Allgemeinzustand, Begleiterkrankungen, keine Einwilligung zur Operation) 4 Dank stereotaktischer Bestrahlung hohe lokale Dosen unter besserer Schonung der gesunden Lunge möglich 4 Im Stadium IIIB ist eine kombinierte Chemoradiotherapie potenziell kurativ; ca. 15–20% aller Patienten sind mit dieser Therapie nach 5 Jahren rezidivfrei
43
732
Kapitel 43 · Tumoren der Atemwege
Neoadjuvant 4 Zur Operationsvorbereitung bei Pancoast-Tumoren 4 Bei Lymphknotenbefall (N2/N3) in Kombination mit Chemotherapie zur Tumorverkleinerung 4 Durchführung: perkutane Strahlentherapie
Adjuvant 4 Strahlentherapie nach vollständiger Operation (R0) wird in Studien untersucht (verbesserte lokale Kontrolle, aber keine nachgewiesene Verbesserung des Überlebens)
4 Neu: Bei Progression nach Chemotherapie mit Platin und Taxan evtl. Hemmung des EGF-Rezeptors mit Erlotinib (Tarceva) 5 Erlotinib ist nicht wirksam bei Kombination mit einer Chemotherapie! 5 Erlotinib ist besonders wirksam bei Tumoren mit einer Mutation des EGFR-Gens (molekularer prädiktiver Marker) sowie bei Patienten mit Adenokarzinomen, Frauen, Nichtrauchern und Ostasasiaten (klinische Marker)
Kurativ Additiv 4 Nach unvollständiger oder nicht sicher vollständiger operativer Tumorentfernung: perkutane Bestrahlung, evtl. endobronchiale Brachytherapie bei Obstruktion
4 In Kombination mit einer gleichzeitigen Radiotherapie im inoperablen Stadium IIIB (Heilungschance 15– 20%) 4 Toxische Behandlung
Palliativ
Neoadjuvant (präoperativ)
4 Bei inoperablem Karzinom (sofern keine Chemoradiotherapie möglich), bei Rezidiv, Metastasen, zur Linderung tumorbedingter Beschwerden und zur Vermeidung von Komplikationen 4 In der Regel als perkutane Bestrahlung 4 Endobronchiale Brachytherapie zur Beseitigung einer Stenose, oft zur Stabilisierung nach Lasertherapie 4 Stereotaktische Bestrahlung einzelner Hirnmetastasen
4 Im operablen Stadium IIIA allein oder evtl. in Kombination mit Radiotherapie 4 Im potenziell operablen Stadium IIIB (kontralaterale Lymphknotenmetastasen) als Chemoradiotherapie
Medikamentöse Therapie
43
4 Wirksame Substanzen: Platinsalze (Cisplatin und Carboplatin), Taxane (Docetaxel, Paclitaxel), Vinorelbin, Gemcitabin, Pemetrexed 4 Zweierkombinationen mit Platin und einer der neueren Substanzen gelten als am effektivsten; kein »bestes« Regime definiert 4 Bei Adenokarzinomen scheint Cisplatin mit Pemetrexed die wirksamste Kombination zu sein 4 Neu: Ein zusätzlicher Überlebensvorteil kann durch die Einbeziehung von Bevacizumab (Avastin) erzielt werden 5 Bevacizumab ist ein Antikörper gegen VEGF (»vascular endothelial growth factor«) und hemmt die Tumorangiogenese 4 Neu: Die Kombination einer cisplatinhaltigen Kombinationschemotherapie mit Cetuximab (Erbitux) ist besser wirksam als die Chemotherapie allein 5 Cetuximab ist ein monoklonaler Antikörper gegen den epidermalen Wachstumsfaktorrezeptor (EGFR, »epidermal growth factor receptor«) und hemmt intrazelluläre Wachstumssignale in der Tumorzelle 4 Bei Rezidiv nach oder Versagen platinhaltiger Therapie und gutem Allgemeinzustand evtl. Second-line-Chemotherapie (z. B. Monotherapie mit Docetaxel oder Pemetrexed)
Adjuvant 4 Nach kompletter Resektion (R0-Operation): Verbesserung der Prognose in Stadium II und IIIA 4 Überlebensvorteil verglichen mit alleiniger Operation 5–10% nach 5 Jahren
Palliativ 4 Überwiegend Teilrückbildungen (ca. 20% bis >40%), meist von kurzer Dauer, aber palliativer Vorteil gegenüber bester supportiver Therapie und (geringe) Lebensverlängerung 4 Rezidiv: 5 Bei gutem Allgemeinzustand platinhaltige Chemotherapie, falls noch nicht erfolgt, sonst Monotherapie (z. B. Docetaxel, Pemetrexed) 5 Ansprechen in der Regel kurzdauernd, aber palliativ 4 Sorgfältige Abwägung von Nutzen und Nebenwirkungen, Berücksichtigung des Patientenwunsches
43.2.8
Prognose
4 Abhängig von Tumorart (kleinzelliges oder nichtkleinzelliges Karzinom), Tumorstadium und Allgemeinzustand; insgesamt ungünstig 4 SCLC: 5 ohne Therapie medianes Überleben 2–4 Monate, mit Therapie 4–5× so lang 5 Nur etwa 5% der Patienten überleben 5 Jahre
733 43.3 · Mesotheliom
5 Günstigste Prognose bei LD mit Vollremission durch multimodale Therapie: medianes Überleben 16–24 Monate, 2-Jahres-Überleben 40–50%, längerfristige Krankheitsfreiheit (»Heilung«) in 15– 20% 4 NSCLC: je nach Stadium: 5 Stadium I nach vollständiger operativer Entfernung: 5-Jahres Überleben 70–80% 5 Stadium II nach Operation (R0) und adjuvanter Chemotherapie: 5-Jahres Überleben 60–70% 5 Stadium IIIA(N2) mit Operation und adjuvanter oder neoadjuvanter Chemotherapie: 5-Jahres-Überleben 30–40% 5 Stadium IIIB nach Chemoradiotherapie: 5-Jahres Überleben 15–20% 5 Stadium IV mit palliativer Chemotherapie: medianes Überleben ca. 12 Monate, mit bester supportiver Therapie allein dagegen nur 4–6 Monate und schlechterer Lebensqualität
43.2.9
Nachsorge
Ziele 4 Erfassung von Behandlungskomplikationen und deren Linderung 4 Früherfassung von Rezidiven und Zweittumoren (in der Lunge bis zu 10%) → Nur sinnvoll, wenn eine Therapie noch möglich ist (keine Frühdiagnose einer palliativen Situation) 4 Psychosoziale Betreuung
Nachuntersuchungen 4 Kein allgemein anerkanntes Schema 4 Nach potenziell kurativer Primärtherapie: Klinische Untersuchung und Thoraxröntgen, ggf. CT Thorax und Oberbauch 4 In den ersten 2 Jahren etwa alle 3 Monate, danach alle 6 Monate 4 In kurativer Absicht behandelte Patienten müssen aufhören zu rauchen, sonst ist das Risiko eines Zweitkarzinoms erheblich!
43.3
Mesotheliom M. Pless
Definition Mesotheliom Das maligne Mesotheliom ist ein Tumor der mesothelialen Oberfläche der Pleura, seltener auch des Perikards oder des Peritoneums.
43.3.1
Epidemiologie und Risikofaktoren
4 Die Inzidenz beträgt etwas über 1/100.000 und Jahr, steigt aber stark an; die maximale Inzidenz wird z. B. in der Schweiz um das Jahr 2020 erwartet 4 Da der Gebrauch von Asbest 1990 verboten wurde (7 unten), sollte nach 2020 die Häufigkeit der Mesotheliome wieder abnehmen 4 Der größte Risikofaktor ist die Asbestexposition: 5 Asbest (griech. »asbestos«: unvergänglich) ist ein Gemisch faseriger Mineralien aus Silikaten 5 Das wichtigste Produkt aus Asbest ist Eternit, welches aufgrund seiner guten physikalischen Eigenschaften in Industrie und Haushalt breit eingesetzt wurde: z. B. in Brems- und Kupplungsbelägen, beim Bau von Schiffen, Eisenbahnwaggons und Häusern (Isolation) 5 Die feinen Fasern werden eingeatmet und wandern in die Pleura, wo sie mit einer Latenz von 20–40 Jahren, wahrscheinlich durch eine chronische Entzündungsreaktion, ein Mesotheliom verursachen können 4 Das Risiko eines Asbestarbeiters, ein Mesotheliom zu entwickeln, beträgt 13% 4 Auch Familienmitglieder sind häufig unwissentlich Asbest ausgesetzt und können ein Mesotheliom entwickeln, z. B. durch Reinigung der Arbeitskleidung 4 Mesotheliome ohne Asbestkontakt sind extrem selten 4 Seit 1990 ist der Gebrauch von Asbest in der Schweiz verboten; Mesotheliome sind von der SUVA anerkannte Berufskrankheiten 4 Asbest ist auch ein Risikofaktor für andere Tumoren: So haben z. B. Raucher mit Asbestexposition ein fast 60-fach erhöhtes Risiko, an einem Bronchuskarzinom zu erkranken (Rauchen allein ca. 11-fach; 7 Kap. 43.2), und auch ein erhöhtes Risiko für gastrointestinale Malignome. Das Risiko eines Asbestarbeiters, an einem malignen Tumor zu erkranken, beträgt 50%, das Risiko in Normalbevölkerung in der Schweiz 18%.
43.3.2
Symptome
Die Symptome sind unspezifisch und treten spät auf: 4 Schmerzen (pleural) 4 Dyspnoe 4 Trockener Husten
43
734
43.3.3
Kapitel 43 · Tumoren der Atemwege
Diagnostik
Bei Verdacht auf Mesotheliom Ziel 4 Sicherung oder Ausschluss der Verdachtsdiagnose
Untersuchungen 4 Pleurapunktion mit Zytologie: häufig falsch-negativ, Sensitivität 65 Jahre 5 Hohe Leukozytenzahl bei Diagnose 5 Niedriger Hämoglobinwert bei Diagnose 4 Bei operablen Patienten mit multimodaler Therapie ist das 2-Jahres-Überleben knapp 40% und das 5-JahresÜberleben 15% 4 Es ist noch nicht klar, ob Patienten durch solche Behandlungen geheilt werden, oder ob nur die Zeit bis zum Rezidiv verlängert wird 4 Bei inoperablen Patienten mit fortgeschrittenem Mesotheliom beträgt das mediane Überleben mit optimaler Chemotherapie 1 Jahr; die Chemotherapie führt aber auch zu einer Verbesserung der Tumorsymptome und der Lebensqualität
Adjuvant (postoperativ) 4 In operablen Stadien (I–III), aktuell noch nicht Standard 4 In Nordamerika bevorzugt; ähnlich wirksam wie neoadjuvante Chemotherapie, evtl. höhere Toxizität 4 Wird im Rahmen von Studien eingesetzt
Palliativ 4 Bei inoperablen Patienten mit gutem Allgemeinzustand: Verbesserung des medianen Überlebens und der Lebensqualität 4 Meist Kombinationstherapie von Cisplatin mit Pemetrexed (Alimta): Ansprechrate 40%
Wirksame Substanzen 4 Cisplatin 5 Wirksamste Einzelsubstanz 5 Meist in Kombination mit Pemetrexed eingesetzt 4 Pemetrexed 5 Heute Standardtherapie in Kombination mit Cisplatin 5 Bei Patienten, die Cisplatin nicht tolerieren, ist auch Carboplatin als Partner von Pemetrexed einsetzbar 4 Andere wirksame Substanzen: 5 Gemcitabin: Allein oder besser in Kombination mit Cisplatin; Alternative Erstlinienkombination 5 Navelbin: Wirksame und wenig toxische Monotherapie bei Progression nach einer Erstbehandlung 5 Adriamycin: Früher häufiger eingesetzt 4 Die Wirksamkeit der neuen Antikörper und Tyrosinkinasehemmer wird derzeit in Studien untersucht, sie sind beim Mesotheliom noch nicht etabliert 4 Die EGFR- (»epidermal growth factor receptor«) Hemmer Erlotinib (Tarceva) und Gefitinib (Iressa) haben keine Wirkung gezeigt
Supportive Therapien
43
Prognose
Chemotherapie Neoadjuvant (präoperativ)
4 Pleurodese bei rezidivierendem symptomatischem Pleuraerguss (Erfolgsrate schlechter als bei Pleuraergüssen durch andere Tumoren) 4 Stenteinlagen in Bronchien oder in die großen Gefäße (Einflussstauung) bei Tumorkompression 4 Sauerstoff und Analgetika nach Bedarf
43.3.8
Nachsorge
Ziele 4 Bei Rezidiv nach einer extrapleuralen Pleuropneumonektomie (EPP) können Patienten meist nicht mehr kurativ behandelt werden → Nachsorge dient in diesen Fällen somit einzig der frühzeitigen Behandlung von Symptomen des Rezidivs bzw. von Therapiekomplikationen 4 Palliativ behandelte Patienten sollten symptomorientiert nachgesorgt werden
Untersuchungen 4 Kein allgemein anerkanntes Nachsorgeschema 4 Bei operierten Patienten ist eine klinische Kontrolle alle 3 Monate empfehlenswert, auch um postoperative Probleme rechtzeitig zu erkennen (Schmerzen, Infekte) 4 Bildgebende Untersuchungen (Computertomographie Thorax) bei kurativ behandelten Patienten nur, wenn auch bei einem Rezidiv noch eine kurative Option besteht, sonst nur bei Symptomen 4 Bei palliativer Situation richtet sich die Bildgebung nach den Symptomen
44
Tumoren des Verdauungstrakts T. Kroner 44.1
Ösophaguskarzinom
– 738
44.2
Magenkarzinom
44.3
Pankreaskarzinom
44.4
Kolorektale Karzinome
– 740 – 742 – 744
738
Kapitel 44 · Tumoren des Verdauungstrakts
44.1
44.1.1
Ösophaguskarzinom T. Kroner
T
Primärtumor
Epidemiologie und Risikofaktoren
T0
Kein Primärtumor nachweisbar
Tis
Carcinoma in situ/High-grade-Dysplasie
T1
Tumor geht nicht über Submukosa hinaus
T2
Tumor infiltriert die Muscularis propria
T3
Tumor durchsetzt die ganze Ösophaguswand und infiltriert die Adventitia
T4
Tumor breitet sich außerhalb des Ösophagus aus und infiltriert umliegende Strukturen
T4a
Infiltration von Pleura oder/und Perikard, Zwerchfell oder anliegendem Peritoneum
T4b
Infiltrationen von anderen anliegenden Strukturen, z. B. Aorta, Wirbelkörper, Trachea
N
Regionäre Lymphknoten
N0
Kein Befall regionärer Lymphknoten
N1
Befall von 1–2 regionären Lymphknoten
N2
Befall von 3–6 regionären Lymphknoten
N3
Befall von >6 regionären Lymphknoten
M
Fernmetastasen
M0
Kein Nachweis von Fernmetastasen
M1
Nachweis von Fernmetastasen
4 In Westeuropa etwa 4–5 Neuerkrankungen jährlich pro 100.000 Einwohner mit deutlicher Zunahme in den letzten 10 Jahren 4 In einigen Regionen Afrikas und Zentralasiens wesentlich häufiger 4 Häufiger im Alter, Altersgipfel bei 60 Jahren 4 Männer dreimal häufiger betroffen als Frauen 4 Alkohol- und Nikotinabusus sowie Refluxkrankheit sind wichtige Risikofaktoren
44.1.2
Symptome
4 Symptome des unbehandelten Primärtumors: 5 Schluckstörungen 5 Retrosternale Schmerzen 5 Gewichtsverlust, Mangelernährung
44.1.3
Diagnostik
4 Bei Verdacht auf Ösophaguskarzinom ist das Ziel der Abklärungen die Sicherung der Diagnose: 5 Endoskopie mit Biopsie 4 Bei gesicherter Diagnose des Ösophaguskarzinoms ist das Ziel der Abklärungen die Beurteilung der Operabilität (allgemein und lokal): 5 Thorax- und Abdomen-CT, evtl. PET 5 Endosonographie des Ösophagus
44.1.4
Histologie
4 In etwa 60% der Fälle handelt es sich um Plattenepithelkarzinome, bei etwa 40% um Adenokarzinome 4 Adenokarzinome treten v. a. im unteren Ösophagusdrittel auf, oft als Folge von Refluxkrankheit; Häufigkeit zunehmend
44.1.5
44
. Tab. 44.1. TNM (7. Auflage 2010)
Klassifikation und Stadiengruppierung
4 Die anatomische Ausbreitung des Tumors wird nach dem TNM-System der UICC erfasst (7 Kap. 2.4) 4 Die 7. Auflage trat Anfang 2010 in Kraft (TNM-7); sie wird hier wiedergegeben (. Tab. 44.1, 44.2) Speiseröhrenkrebs siehe Ösophaguskarzinom
. Tab. 44.2. Stadiengruppierung Stadium IA
T1
N0
M0
Stadium IB
T2
N0
M0
Stadium IIA
T3
N0
M0
Stadium IIB
T1–2
N1
M0
Stadium IIIA
T4a
N0
M0
T3
N1
M0
T1–2
N2
M0
Stadium IIIB
T3
N2
M0
Stadium IIIC
T4a
N1–2
M0
T4b
Jedes N
M0
Jedes T
N3
M0
Jedes T
Jedes N
M1
Stadium IV
739 44.1 · Ösophaguskarzinom
4 Es ist zu beachten, dass therapeutische Entscheidungen noch häufig auf der Basis von TNM-6 (2002) getroffen werden 4 Die anatomische Zuordnung von Karzinomen am Übergang von Magen und Ösophagus (Magenkarzinom? Ösophaguskarzinom?) gibt immer wieder Anlass zu Diskussionen → TNM-7 legt deshalb fest, dass ein Karzinom, dessen Zentrum innerhalb von 5 cm vom Übergang Magen–Ösophagus liegt und das sich in den Ösophagus erstreckt, als Ösophaguskarzinom klassifiziert wird 4 Neben dieser anatomischen Stadiengruppierung ist auch eine sog. prognostische Stadiengruppierung in Gebrauch, die neben den TNM-Kriterien zusätzlich die Histologie (Adenokarzinom oder Plattenepithelkarzinom), das Grading und die Lokalisation des Tumors im Ösophagus berücksichtigt
44.1.6
Therapie
Übersicht 4 Therapie oft multimodal → Planung erfolgt deshalb interdisziplinär 4 Wahl der Therapie abhängig von verschiedenen Faktoren: 5 Lage des Tumors im Ösophagus (oberes Drittel – mittleres Drittel – gastroösophagealer Übergang) 5 TNM-Stadium 5 Histologie (Adenokarzinom – Plattenepithelkarzinom) 5 Allgemeinzustand des Patienten 4 Eine Heilung wird durch eine chirurgische R0-Resektion angestrebt 4 Präoperative (neoadjuvante) Chemotherapie, evtl. kombiniert mit Radiotherapie, v. a. in lokal fortgeschrittenen Fällen indiziert 4 Bei inoperablen und metastasierten Tumoren kann eine palliative Chemo- und/oder Radiotherapie eingesetzt werden 4 Symptomatisch stehen zur Behandlung der Dysphagie auch die endoskopische Laser-Koagulation oder die Stenteinlage zur Verfügung
Chirurgie 4 Bei operablen Tumoren wird eine komplette Tumorresektion (R0-Resektion) in kurativer Absicht angestrebt. Zugang – je nach Lokalisation und Ausdehnung des Primärtumors – abdominal, abdominothorakal oder transmediastinal. Eine R0-Resektion ist nur bei etwa einem Drittel aller Patienten möglich
Strahlentherapie 4 Die Strahlentherapie wird heute beim Ösophaguskarzinom in der Regel mit einer Chemotherapie kombiniert (kombinierte Chemoradiotherapie, 7 unten) 4 Eine alleinige Strahlentherapie kann in palliativer Absicht bei symptomatischen Metastasen zum Einsatz kommen, auch als Brachytherapie (7 Kap. 8.4) bei Schluckstörungen
Chemotherapie 4 Präoperative (neoadjuvante) Chemotherapie – ohne Radiotherapie – v. a. bei Adenokarzinomen u. U. Umständen indiziert 5 Folgende Zytostatika zeigen eine gewisse Aktivität: 5 Fluoruracil 5 Cisplatin 5 Irinotecan 5 Taxane 5 Mitomycin C 4 Mit Zytostatikakombinationen, z. B. 5-Fluoruracil und Cisplatin, wird die Wirksamkeit – aber auch die Toxizität – der Chemotherapie erhöht
Kombinierte Chemo- und Strahlentherapie 4 Die Indikation zu einer kombinierten Chemoradiotherapie wird in folgenden Situationen geprüft: 5 Potenziell kurative Behandlung anstelle der Operation 5 Neoadjuvante kombinierte Behandlung vor Operation lokal fortgeschrittener Karzinome 5 Palliative Behandlung von lokal inoperablen Tumoren 4 Die kombinierte Chemoradiotherapie ist meist mit erheblicher Toxizität verbunden → Sollte nur bei Patienten in gutem Allgemeinzustand durchgeführt werden
44.1.7
Prognose
4 Sehr variabel in Abhängigkeit von Tumorstadium und Lokalisation 4 5-Jahres-Überleben zwischen ca. 65% (Stadium IA) und ca. 3% (Stadium IV)
44.1.8
Nachsorge
Ziele 4 Früherfassung von operierbaren Rezidiven nach Radikaloperation (selten) 4 Diätetische Betreuung 4 Erfassung und Behandlung von Komplikationen und unerwünschten Wirkungen der Therapie 4 Psychosoziale Betreuung
44
740
Kapitel 44 · Tumoren des Verdauungstrakts
Untersuchungen 4 Kein allgemein anerkanntes Nachsorgeschema 4 Systematische Suche nach Rezidiven verbessert die Prognose nicht
44.2
Magenkarzinom T. Kroner
44.2.1
Epidemiologie und Risikofaktoren
4 In Westeuropa ca. 10–15 Neuerkrankungen jährlich pro 100.000 Einwohner 4 Deutliche Abnahme der Erkrankungshäufigkeit in den letzten Jahrzehnten, wahrscheinlich in Zusammenhang mit veränderten Ernährungsgewohnheiten 4 Männer doppeltes Erkrankungsrisiko im Vergleich zu Frauen
Risikofaktoren 4 Lebensgewohnheiten/Ernährung: 5 Hoher Salzgehalt in der Nahrung (gepökelte Nahrungsmittel) 5 Wenig Obst und Gemüse 5 Rauchen 5 Beschäftigung in Kohle- oder Gummiindustrie 4 Medizinisch: 5 Chronische Gastritis 5 Infektion der Magenschleimhaut mit Helicobacter pylori 4 Erbliche Disposition
44.2.2
Symptome
Symptome des unbehandelten Primärtumors 4 Völlegefühl/Schmerz im Oberbauch, meist abhängig von Nahrungsaufnahme 4 Inappetenz 4 Gewichtsabnahme
Bei gesicherter Diagnose Ziele 4 Beurteilung der Operabilität (allgemein und lokal) 4 Ausschluss von Fernmetastasen (Bauchfell? Lunge? Leber?)
Untersuchungen 4 Ultraschall oder Computertomographie des Abdomens 4 Endoskopische Ultraschalluntersuchung des Magens (Beurteilung der Magenwand und der Lymphknoten) 4 Evtl. präoperative Laparoskopie, evtl. PET 4 Evtl. Tumormarker (CA 72-4, CEA, CA 19–9) zur Verlaufsbeurteilung
44.2.4
Histologie
4 Magenkarzinome sind fast ausschließlich Adenokarzinome 4 Bei ca. 5 % der bösartigen Magentumore handelt es sich um Sarkome oder um maligne Non-HodgkinLymphome, nicht um Karzinome 4 Die malignen Lymphome des Magens unterscheiden sich wesentlich von den Magenkarzinomen (7 maligne Lymphome, 7 Kap. 47.5)
44.2.5
Klassifikation und Stadiengruppierung
4 Die anatomische Ausbreitung des Tumors wird nach dem TNM-System der UICC erfasst (7 Kap. 2.4) 4 Die 7. Auflage trat Anfang 2010 in Kraft (TNM-7); sie wird hier wiedergegeben (. Tab. 44.3, 44.4) 4 Es ist zu beachten, dass therapeutische Entscheidungen noch häufig auf der Basis von TNM-6 (2002) getroffen werden
44.2.6
Therapie
Übersicht 44.2.3
Diagnostik
Bei Verdacht auf Magenkarzinom Ziel 4 Sicherung oder Ausschluss der Diagnose
44
Untersuchungen 4 Gastroskopie mit Biopsie
4 Definitive Heilung nur durch chirurgische Magenresektion möglich 4 Bei kurativer Absicht: Verbesserung der Heilungschancen durch prä- und postoperative Kombinationschemotherapie (oder postoperative Radiochemotherapie)
Chirurgie Kurativ 4 Meist totale Magenresektion (Gastrektomie) mit Entfernung der regionären Lymphknoten
44
741 44.2 · Magenkarzinom
. Tab. 44.3. TNM (7. Auflage 2010)
. Tab. 44.4. Stadiengruppierung
T
Primärtumor
Stadium IA
T1
N0
M0
T1a
Tumor infiltriert Lamina propria
Stadium IB
T2
N0
M0
T1b
Tumor infiltriert Submukosa
T1
N1
M0
T2
Tumor infiltriert Muskularis
T3
N0
M0
T3
Tumor infiltriert Subserosa
T2
N1
M0
T4a
Tumor durchbricht Serosa
T1
N2
M0
T4b
Tumor infiltriert benachbarte Strukturen, z. B. Milz, Pankreas, Leber etc.
T4a
N0
M0
T3
N1
M0
N
Regionäre Lymphknoten
T2
N2
M0
N0
Keine regionären Lymphknotenmetastasen
T1
N3
M0
N1
Metastasen in 1–2 regionären Lymphknoten
T4a
N1
M0
N2
Metastasen in 3–6 regionären Lymphknoten
T3
N2
M0
N3a
Metastasen in 7–15 regionären Lymphknoten
T2
N3
M0
N3b
Metastasen in 16 und mehr regionären Lymphknoten
T4b
N0, N1
M0
M
Fernmetastasen
T4a
N2
M0
M0
Keine Fernmetastasen
T3
N3
M0
M1
Fernmetastasen
T4a
N3
M0
T4b
N2, N3
M0
Jedes T
Jedes N
M1
Stadium IIA
Stadium IIB
Stadium IIIA
Stadium IIIB
Stadium IIIC
Stadium IV
4 Operationstechnik abhängig von Sitz und Größe des Primärtumors und Vorliegen von Lymphknotenmetastasen. Evtl. subtotale Magenresektion bei gut differenziertem Karzinom des Antrums und/oder bei alten Patienten 4 Operation mit kurativer Absicht nur bei einer Minderheit von Patienten möglich, da Tumor bei Diagnosestellung meist bereits fortgeschritten 4 Mögliche Folgen der totalen Gastrektomie: DumpingSyndrom, Eisen- und Vitamin-B12-Mangel, andere Mangelerscheinungen wegen Resorptionsstörungen; Mangel kann parenteral korrigiert werden
Palliativ 4 Palliative Entfernung des Primärtumors bei Blutung und/oder bei Behinderung der Magenpassage: 5 Evtl. Umgehungsanastomose (Gastroenterostomie) 5 Evtl. endoskopische Einlage einer Endoprothese (bei Kardiakarzinom)
Chemotherapie Allgemein 4 Gut dokumentierte palliative Wirkung bei gewissen Indikationen 4 Gut dokumentierte Wirkung bei präoperativer (neoadjuvanter) Indikation 4 Wirksame Substanzen (Auswahl): 5 5-Fluorouracil, evtl. kombiniert mit Leukovorin 5 Capecitabin 5 Cisplatin, Oxaliplatin 5 Docetaxel 5 Epirubicin 5 Irinotecan 4 Anwendung meist als Kombinationschemotherapie, z. B. 5 ECF (Epirubicin, Cisplatin, Fluorouracil) 5 ECX (Epirubicin, Cisplatin, Capecitabin) 5 TCF (Docetaxel, Cisplatin, Fluorouracil)
Strahlentherapie
Neoadjuvante (präoperative) Chemotherapie
4 Gelegentlich als palliative Maßnahme bei lokalisierten Fernmetastasen indiziert
4 Eine präoperative Chemotherapie verbessert bei operablen Magenkarzinomen die Langzeitprognose
742
Kapitel 44 · Tumoren des Verdauungstrakts
4 Bei lokal fortgeschrittenen, primär inoperablen Tumoren ermöglicht sie bei etwa 40% der Patienten einen sekundären, evtl. kurativen chirurgischen Eingriff
Adjuvante (postoperative) Chemotherapie 4 Meist in Kombination mit neoadjuvanter, präoperativer Chemotherapie
Palliative Chemotherapie 4 Palliative Chemotherapie bei inoperablen Tumoren oder Rezidiven nach Operation oft sinnvoll, v. a. bei jüngeren Patienten 4 Behandlung meist mit Zytostatikakombinationen 4 Remissionsraten 20–40%, mittlere Remissionsdauer 8–10 Monate
44.2.7
Prognose
4 Abhängig von Tumorstadium bei Operation 4 Nach radikaler Operation bei Patienten ohne Lymphknotenmetastasen: Heilungschance ca. 50–80 %, mit Lymphknotenmetastasen ca. 20–40%
44.2.8
Nachsorge
Ziele 4 Früherfassung von operativ behandelbaren Rezidiven (selten) 4 Diätetische Betreuung 4 Erfassung und Behandlung von Therapiekomplikationen, v. a. nach Magenresektion (7 oben) 4 Psychosoziale Betreuung
Untersuchungen 4 Kein allgemein anerkanntes Nachsorgeschema
44.3
44.3.1
44
44.3.2
Symptome
4 In der Regel keine Frühsymptome → Tumor deshalb bei Diagnosestellung oft bereits inoperabel 4 Schmerzen im Ober- und Mittelbauch, oft mit Ausstrahlung gegen die Wirbelsäule 4 Appetit- und Gewichtsverlust 4 Verschlussikterus durch Kompression des Gallengangs, vor allem bei Karzinomen des Pankreaskopfs 4 Rückenschmerzen bei Infiltration des Plexus coeliacus
44.3.3
Diagnostik
4 Bei Verdacht auf Pankreaskarzinom ist das Ziel der Diagnostik die Abklärung der Operabilität und nicht die Sicherung der Diagnose: Operable Tumoren sollen präoperativ nicht biopsiert werden! 4 Operable Tumoren: 5 Gastroduodenoskopie, evtl. mit EUS (endoskopische Ultraschalluntersuchung) 5 Abdomen-CT, evtl. MRT 5 Thoraxröntgenbild, evtl. CT 5 Evtl. ERCP (endoskopische retrograde CholangioPankreatographie) 5 Evtl. Laparoskopie 4 Bei inoperablen Tumoren ist das Ziel die Sicherung der Diagnose vor Chemo- oder Radiotherapie: 5 Feinnadelbiopsie (evtl. aus Metastase), gesteuert durch Ultraschall, Computertomographie oder Laparoskopie (falsch-negative Resultate nicht selten!)
44.3.4
Histologie
4 In über 80% der Fälle handelt es sich um Adenokarzinome
Pankreaskarzinom
44.3.5
T. Kroner
4 Die anatomische Ausbreitung des Tumors wird nach dem TNM-System der UICC erfasst (7 Kap. 2.4) 4 Die 7. Auflage trat Anfang 2010 in Kraft (TNM-7); sie wird hier wiedergegeben (. Tab. 44.5, 44.6) 4 Es ist zu beachten, dass therapeutische Entscheidungen noch häufig auf der Basis von TNM-6 (2002) getroffen werden
Epidemiologie und Risikofaktoren
4 Etwa 10 Neuerkrankungen jährlich pro 100 000 Einwohner 4 Männer etwas häufiger betroffen als Frauen (Verhältnis 1,5:1) 4 Bei Zigarettenrauchern 2–3× häufiger als bei Nichtrauchern 4 Regelmäßiger Kaffeekonsum konnte als Risikofaktor nicht bestätigt werden
Stadiengruppierung
743 44.3 · Pankreaskarzinom
Chirurgie Kurativ
. Tab. 44.5. TNM (7. Auflage 2010) T
Primärtumor
T1
Tumor auf Pankreas beschränkt, maximaler Durchmesser 2 cm
T3
Tumorausdehnung über das Pankreas hinaus, aber beschränkt auf Gallenwege, Duodenum oder peripankreatisches Bindegewebe. Resektion noch möglich
T4
Erhebliche direkte Ausdehnung auf Magen, Milz, Kolon oder umgebende große Gefäße. Resektion nicht mehr möglich
N
Regionale Lymphknoten
N0
Regionale Lymphknoten nicht befallen
N1
Regionale Lymphknoten befallen
N1a
Metastasen in einem einzelnen regionalen Lymphknoten
N1b
Metastasen in mehreren regionalen Lymphknoten
NX
Aussage über den Befall regionaler Lymphknoten nicht möglich
M
Fernmetastasen
M0
Keine Fernmetastasen
M1
Fernmetastasen nachweisbar
4 Das Pankreaskarzinom ist wenig strahlenempfindlich 4 Mögliche Indikationen für eine palliative Bestrahlung (evtl. in Kombination mit Chemotherapie) sind: 5 Tumorbedingte Schmerzen bei Infiltration des Retroperitoneums 5 Isolierte Skelettmetastasen 4 Der Nutzen einer postoperativen, adjuvanten Radiotherapie nach R0-Resektion ist nicht genügend belegt 4 Eine postoperative kombinierte Chemoradiotherapie nach R1-Resektion kann u. U. diskutiert werden
Chemotherapie Allgemein
Stadium I
T1–2
N0
M0
Stadium II
T3
N0
M0
Stadium III
T1–3
N1
M0
Stadium IVA
T4
N0–1
M0
T1–4
Palliativ 4 Bei Darmverschluss oder Verschluss der Gallenwege können Umgehungsoperationen (z. B. Gastro-Enterostomie, Choledocho-Enterostomie) oder Stenteinlagen hilfreich sein
Strahlentherapie
. Tab. 44.6. Stadiengruppierung
Stadium IVB
4 In Abhängigkeit von Lokalisation und Ausdehnung des Tumors kommen verschiedene Methoden der Pankreatektomie zum Einsatz, häufig die Duodenopankreatektomie nach Whipple 4 Eine kurative R0-Resektion ist allerdings nur bei etwa 5–15 % aller Patienten möglich
N0–1
4 Das Pankreaskarzinom ist wenig chemotherapieempfindlich 4 Aktivität zeigen v. a. folgende Substanzen: 5 Gemcitabin 5 5-Fluorouracil 5 Capecitabin 5 Erlotinib
Adjuvante Chemotherapie 4 Eine adjuvante Behandlung mit Gemcitabin verlängert das Gesamtüberleben
Palliative Chemotherapie 44.3.6
Therapie
Übersicht 4 Definitive Heilung nur durch chirurgische R0-Resektion erreichbar 4 Bereits bei Diagnosestellung ist die Mehrzahl der Patienten nicht mehr radikal operabel 4 Bei inoperablem Primärtumor sind nur palliative Maßnahmen möglich: Stenteinlagen, Chemotherapie, Radiotherapie, chirurgische Eingriffe (»Umgehungsoperationen«)
4 Bei metastasierenden oder lokal fortgeschrittenen Tumoren kommt eine palliative Chemotherapie in Frage 4 Erstlinienbehandlung in der Regel mit Gemcitabin 4 Kombinationen von Gemcitabin mit anderen Substanzen (Capecitabin, Oxaliplatin, Erlotinib) nicht wesentlich wirksamer als Monotherapie mit Gemcitabin 4 Remissionsraten um 30 %
44
744
44.3.7
Kapitel 44 · Tumoren des Verdauungstrakts
Prognose
4 Abhängig von Tumorstadium bei Operation 4 Nach R0-Resektion Heilungschance ca. 15–35%
44.3.8
Nachsorge
Ziele 4 Früherfassung von operierbaren Rezidiven nach Radikaloperation (selten) 4 Diätetische Betreuung, v. a. nach Pankreatektomie 4 Erfassung und Behandlung von Komplikationen und unerwünschten Wirkungen der Therapie 4 Psychosoziale Betreuung
Untersuchungen 4 Kein allgemein anerkanntes Nachsorgeschema
44.4
Kolorektale Karzinome T. Kroner
44.4.1
Epidemiologie und Risikofaktoren
4 Etwa 50 Neuerkrankungen jährlich pro 100 000 Einwohner 4 Nach Brustkrebs bei Frauen und Lungenkrebs bei Männern zweithäufigste Krebserkrankung 4 Männer und Frauen etwa gleich häufig betroffen 4 Alter wichtigster Risikofaktor → Stetige Zunahme des Erkrankungsrisikos mit dem Lebensalter: 5 25-jährige Frauen: 1 Neuerkrankung jährlich/ 100.000 Einwohner 5 70-jährige Frauen: 100 Neuerkrankungen jährlich/ 100.000 Einwohner 4 Andere Risikofaktoren: 5 Colitis ulcerosa 5 Bestimmte Formen von Kolonpolypen 5 Fett- und fleischreiche, ballaststoffarme Ernährung 5 Familiär gehäuftes Vorkommen: erbliche Disposition bei ca. 10% der Patienten mit kolorektalem Karzinom (7 Kap. 1.4.1)
44.4.2
44
Symptome
4 Symptome des unbehandelten Primärtumors 5 Blut- und Schleimbeimengung im Stuhl 5 Änderung der Stuhlgewohnheiten 5 Wechsel von Durchfall und Verstopfung bis zum Darmverschluss 5 Anämie
44.4.3
Diagnostik
Bei Verdacht auf Dickdarmkrebs Ziel 4 Sicherung der Diagnose
Untersuchungen 4 Rektale digitale Untersuchung 4 Endoskopie mit Biopsie: immer Koloskopie
Bei gesicherter Diagnose Ziele 4 Beurteilung der Operabilität (allgemein und lokal) 4 Ausschluss von Fernmetastasen sekundär, da Primärtumor wegen Symptomen (7 oben) praktisch immer entfernt wird
Untersuchungen 4 4 4 4
Thoraxröntgenbild Ultraschall, evtl. PET Abdomen-CT Bei Rektumkarzinom: MRT, evtl. endoluminale Sonographie (Ultraschallsonde im Rektum) 4 Evtl. gynäkologische Untersuchung 4 Tumormarker (CEA) zur Verlaufsbeurteilung
44.4.4
Histologie
4 In etwa 95 % der Fälle handelt es sich um Adenokarzinome
44.4.5
Klassifikation und Stadiengruppierung
4 Die anatomische Ausbreitung des Tumors wird nach dem TNM-System der UICC erfasst (7 Kap. 2.4); gelegentlich wird noch die Dukes-Klassifikation (Dukes A–D) verwendet 4 Die 7. Auflage trat Anfang 2010 in Kraft (TNM-7); sie wird hier wiedergegeben (. Tab. 44.7, 44.8) 4 Es ist zu beachten, dass therapeutische Entscheidungen noch häufig auf der Basis von TNM-6 (2002) getroffen werden
44.4.6
Therapie
Übersicht 4 Definitive Heilung bei kolorektalen Karzinomen nur durch operative Resektion erreichbar, evtl. unterstützt
Rektumkarzinom siehe Kolorektale Karzinome Dickdarmkrebs
44
745 44.4 · Kolorektale Karzinome
. Tab. 44.7. TNM (7. Auflage 2010)
. Tab. 44.8. Stadiengruppierung
T
Primärtumor
Stadium I
T1–2
N0
M0
T1
Tumor infiltriert Submukosa
Stadium IIA
T3
N0
M0
T2
Tumor infiltriert Muscularis propria
Stadium IIB
T4a
N0
M0
T3
Tumor hat Muscularis propria, d. h. die eigentliche Darmwand, durchdrungen und infiltriert das perikolische oder perirektale Gewebe
Stadium IIC
T4b
N0
M0
Stadium IIIA
T1–2
N1/N1c
M0
T1
N2a
M0
T3–T4a
N1/N1c
M0
T2–T3
N2a
M0
T1–T2
N2b
M0
T4a
N2a
M0
T4a
Tumor durchwächst das viszerale Peritoneum
T4b
Tumor infiltriert direkt andere Organe oder Strukturen
N
Regionäre Lymphknoten
NX
Regionäre Lymphknoten können nicht beurteilt werden
N0
Keine regionären Lymphknoten-Metastasen
T3–T4a
N2b
M0
N1
Metastasen in 1–3 regionalen Lymphknoten
T4b
N1–N2
M0
N1a
Metastasen in 1 regionalen Lymphknoten
Stadium IVA
Jedes T
Jedes N
M1a
N1b
Metastasen in 2–3 regionalen Lymphknoten
Stadium IVB
Jedes T
Jedes N
M1b
N1c
Tumorablagerungen in der Subserosa, im Mesenterium oder in nichtperitonealisiertem perikolischem oder perirektalem Gewebe ohne Metastasen in regionalen Lymphknoten
N2
Metastasen in 4 oder mehr regionalen Lymphknoten
N2a
Metastasen in 4–6 regionalen Lymphknoten
N2b
Metastasen in 7 oder mehr regionalen Lymphknoten
M
Fernmetastasen
M0
Keine Fernmetastasen
M1
Fernmetastasen
M1a
Metastasen beschränkt auf 1 Organ (z. B. Leber, Lunge)
M1b
Metastasen in mehr als 1 Organ oder auf Peritoneum
durch adjuvante oder neoadjuvante Radio- und/oder Chemotherapie 4 Bei multiplen Metastasen oder inoperablem Primärtumor meist nur palliative Maßnahmen möglich: chirurgische Eingriffe, Radio- oder Chemotherapie
Stadium IIIB
Stadium IIIC
künstlicher Darmausgang); Entfernung der lokoregionalen Lymphknoten 5 Der Eingriff kann auch laparoskopisch durchgeführt werden 4 Rektumkarzinom: 5 Bei den meisten Rektumkarzinomen ist eine kontinenzerhaltende Operation möglich: Anteriore Rektumresektion mit Anastomose (kein definitiver künstlicher Darmausgang), dazu meistens Anlage einer passageren, sog. protektiven Stomie bis zum sicheren Funktionieren der Anastomose 5 Bei tiefem Sitz des Tumors evtl. Erhaltung des Schließmuskels unmöglich: abdominoperineale Rektumresektion mit definitivem Stoma 5 In beiden Fällen wird eine totale mesorektale Exzision (TME) durchgeführt: Resektion des Rektums mit dem umgebenden Fett- und Bindegewebe 5 Bei kleinen Tumoren (T1, selten auch T2, N0) gelegentlich transanale Resektion möglich 4 Metastasenresektion: chirurgische Resektion von einzelnen Metastasen in Leber oder Lunge sinnvoll, selten auch kurativ wirksam
Palliativ
Chirurgie Kurativ 4 Kolonkarzinom: 5 Eingriff abhängig von Lokalisation des Tumors: Weite Resektion des Tumors (Kolonteilresektion), in der Regel mit Anastomose (kein definitiver
4 Bei inoperablem Primärtumor oder Lokalrezidiv: Wiederherstellung der Darmpassage durch: 5 Laser- oder Elektrokoagulation 5 Anlegen eines Enterostomas 5 Endoskopische Einlage einer Endoprothese (»Stent«)
746
Kapitel 44 · Tumoren des Verdauungstrakts
Strahlentherapie Adjuvant
meist über ein implantiertes Kathetersystem (7 Kap. 15.1.2) → Etwas bessere lokale Remissionsraten als bei
4 Rektumkarzinom: 5 Bei lokal fortgeschrittenen Tumoren (T3–4) wird in der Regel eine präoperative (neoadjuvante) Bestrahlung durchgeführt, meistens kombiniert mit einer Chemotherapie 5 Die präoperative Radiochemotherapie erlaubt, v. a. bei fortgeschrittenen tiefsitzenden Tumoren, den operativen Eingriff kontinenzerhaltend auszuführen
i. v.-Chemotherapie, verbunden allerdings mit höherer Komplikationsrate
Palliativ 4 Eine palliative Bestrahlung wird v. a. bei lokalisierten, inoperablen Rezidiven des Rektumkarzinoms im Bereich des kleinen Beckens durchgeführt, evtl. als Brachytherapie (7 Kap. 8.4)
Chemotherapie Allgemein 4 Eine kurative Behandlung allein mit Chemotherapie ist nicht möglich 4 Wirksamste Substanzen: 5 5-Fluorouracil mit oder ohne Leucovorin 5 Capecitabin 5 Irinotecan 5 Oxaliplatin 5 Bevacizumab 5 Cetuximab 4 Gebräuchliche Kombinationen: 5 FOLFOX (Fluorouracil, Leucovorin, Oxaliplatin) 5 FOLFIRI (Fluorouracil, Leucovorin, Irinotecan) 5 CAPOX (Capecitabin, Oxaliplatin)
Adjuvant 4 Rektumkarzinom: 5 Meist präoperativer (neoadjuvanter) Einsatz in Kombination mit Radiotherapie 5 Bei fortgeschrittenen Stadien evtl. zusätzlich postoperative Chemotherapie 4 Kolonkarzinom: 5 Postoperative adjuvante Chemotherapie (z. B. FOLFOX oder CAPOX) senkt die Rezidivhäufigkeit und verlängert das Überleben 5 Indiziert im Stadium III, u. U. auch IIB/C 5 Dauer der Therapie in der Regel 6 Monate
Palliativ
44
4 Palliative Chemotherapie bei Nachweis von inoperablen Metastasen oft indiziert 4 Remissionsraten 20–40% 4 Bei ausschließlicher Metastasierung in die Leber evtl. lokoregionale Chemotherapie durch die A. hepatica,
44.4.7
Prognose
4 Große Spannbreite: Heilungschance 20–90% 4 Abhängig von Tumorstadium und Differenzierungsgrad 4 Abhängig von der Radikalität der Operation und der Erfahrung des Operateurs
44.4.8
Nachsorge
Ziele 4 Früherfassung von operativ behandelbaren Rezidiven 4 Früherkennung von kolorektalen Zweittumoren 4 Erfassung von Behandlungskomplikationen, z. B. nach Rektumresektion 4 Bei Stomaträgern: Förderung und Unterstützung der selbstständigen Pflege 4 Psychosoziale Betreuung
Untersuchungen 4 Kein allgemein anerkanntes Nachsorgeschema 4 Für die Erfassung von operablen Metastasen und Zweitkarzinomen werden regelmäßige endoskopische Kontrollen und Ultraschalluntersuchungen empfohlen 4 Als Beispiel können die Richtlinien der Schweizerischen Gesellschaft für Gastroenterologie SGG gelten [www.sggssg.ch/Dokumente/Merkblaetter/NaSo_ CRC_d.pdf]
45
Mammakarzinom und gynäkologische Tumoren A. Gaisser
45.1
Mammakarzinom
– 748
45.2
Zervix- und Portiokarzinom
45.3
Endometriumkarzinom (Korpuskarzinom)
45.4
Ovarialkarzinom
– 759
– 752 – 756
748
45
45.1
Kapitel 45 · Mammakarzinom und gynäkologische Tumoren
Mammakarzinom A. Gaisser
45.1.1
5 In Studien bei erhöhtem Risiko: antihormonelle Therapie zur Prävention 5 Bei BRCA-Mutation: beidseitige Ovarektomie (ab 40 Jahren) oder beidseitige Mastektomie
Epidemiologie und Risikofaktoren 45.1.2
4 Etwa 110 Neuerkrankungen jährlich pro 100.000 Frauen 4 Häufigste Krebserkrankung bei Frauen in den meisten Ländern der westlichen Welt 4 Erkrankungswahrscheinlichkeit steigt ab dem 5. Lebensjahrzehnt deutlich 4 Durchschnittliches Erkrankungsrisiko bis zum 85. Lebensjahr ca. 10 von 100 Frauen 4 Wichtigste Risikofaktoren 5 Rund 5% aller Erkrankungen durch ererbte Genveränderungen bedingt, insbesondere Mutationen der »Brustkrebsgene« BRCA1 und BRCA2 (7 Kap. 1.4.1) 5 Erkrankungsrisiko über die Lebenszeit bei BRCA1und/oder BRCA2-Mutation 50–85%, Erkrankung häufig schon in der Prämenopause, besonders bei BRCA1-Mutation; Ovarialkarzinomrisiko ebenfalls deutlich erhöht (7 Kap. 45.4) 5 Bei Vorerkrankung an Brustkrebs erhöhtes Risiko für Karzinom in der anderen Brust 5 Erkrankung von Mutter und/oder Schwester (2–3fach erhöhtes Risiko) 5 Bei der Mehrzahl der Patientinnen lässt sich keiner dieser Risikofaktoren ausmachen. Hier scheint das Zusammenwirken vieler unterschiedlicher Faktoren für die Tumorentstehung verantwortlich zu sein 4 Weitere Risikofaktoren 5 Proliferierende Mastopathie mit Atypien 5 Kinderlosigkeit, höheres Alter bei der ersten Geburt (über 30 Jahre) 5 Frühe erste Regelblutung (vor dem 12. Lebensjahr), späte Menopause 5 Regelmäßiger Alkoholkonsum (dosisabhängig, Risikoerhöhung um 10% pro 10 g Alkoholaufnahme täglich, Wechselwirkung mit Übergewicht und Östrogenspiegel wird angenommen) 5 Übergewicht in der Menopause (ca. 10% Risikosteigerung pro BMI-Erhöhung um 5 über normal) 5 Hormonersatztherapie in den Wechseljahren (Verdopplung des Risikos durch Östrogen-GestagenKombinationen über mehr als 5 Jahre, rascher Rückgang des Risikos nach Beendigung der Therapie) 5 Rauchen (wahrscheinlich) 4 Risikomindernde Faktoren 5 Regelmäßige körperliche/sportliche Aktivität 5 Schwangerschaft (vor dem 30. Lebensjahr), Stillen
Symptome
Symptome des unbehandelten Primärtumors 4 Tastbare Verhärtung oder Knoten 4 Schmerzen, Druck- oder Spannungsgefühl in der Brust 4 Mamillenveränderung (Einziehung, ekzemartig) 4 Einziehung oder Vorwölbung der Haut, Rötung, »Apfelsinenhaut« 4 Einseitige Sekretion aus der Mamille 4 Neu auftretende Größen- oder Formdifferenz der Brüste
45.1.3
Diagnostik
Früherkennungsuntersuchung Ziel 4 Entdeckung des noch symptomlosen Tumors in einem heilbaren Stadium
Untersuchungen 4 Mammographie (Screening: Wirksamkeit v. a. bei Frauen über 50 Jahre belegt) 4 Tastuntersuchung durch den Arzt und Brustselbstuntersuchung (umstritten zur Früherkennung) 4 Bei familiärem/genetischem Risiko: Überwachung ab dem 25. Lebensjahr (Palpation, Sonographie), Mammographie und MRT ab dem 30. Lebensjahr
Bei Verdacht auf Brustkrebs Ziel 4 Sicherung oder Ausschluss der Verdachtsdiagnose
Untersuchungen 4 Inspektion und Abtastung der Brüste sowie der regionären Lymphknoten (Axilla, supraklavikulär, Hals) 4 Mammographie in 2 Ebenen (beidseits) 4 Sonographie 4 Bei unklaren Befunden evtl. Kernspintomographie 4 Diagnostische Sicherung: Biopsie (Stanzbiopsie mit Entnahme von mindestens 3 Proben, bei nichttastbaren Veränderungen stereotaktisch, falls erforderlich offene Biopsie) und histologische Untersuchung (Tumortyp, Grading, Hormonrezeptoren, HER2-Status); ggf. erneute und weitere Untersuchungen am Operationspräparat
749 45.1 · Mammakarzinom
Bei gesicherter Diagnose Ziel 4 Beurteilung der Krankheitsausbreitung (Staging)
Untersuchungen 4 Mammographie der Gegenseite 4 Blutbild, Blutchemie 4 Bei lokal fortgeschrittenen Tumoren und bei Verdacht auf primäre Metastasierung: 5 Thoraxröntgen 5 Ultraschalluntersuchung oder Computertomographie Oberbauch (v. a. Leber) 5 Skelettszintigraphie 4 Weitere Staging-Untersuchungen je nach Befund postoperativ 4 Tumormarkerbestimmungen (CEA, CA 15-3) sind nicht erforderlich
45.1.4
Hormonrezeptoren 4 Bei etwa 75% der Tumoren sind in den Zellen in unterschiedlichem Ausmaß Rezeptoren für Östrogen (ER) und Progesteron (PgR) nachweisbar 4 Je nach Ausmaß der Ausprägung und weiteren biologischen Merkmalen des Tumors ist ein mehr oder weniger gutes Ansprechen auf endokrine Therapie (Hormontherapie) zu erwarten 4 Bei fehlendem Nachweis von Hormonrezeptoren ist Hormontherapie unwirksam
HER2-Rezeptoren 4 Bei 20–30% der Patientinnen ist in den Tumorzellen der Rezeptor des humanen epithelialen Wachstumsfaktorrezeptors (HER2) verstärkt ausgeprägt (Überexpression) 4 Bei deutlicher Überexpression (Beschreibung HER2 3+) ist eine therapeutische Blockade von HER2 wirksam
Histologie 45.1.5
Einteilung der Karzinome (nach WHO 2003) 4 Nichtinvasive Karzinome (10–20%, bis 30% im Mammographie-Screening): 5 Vor allem intraduktales Carcinoma in situ (DCIS) 5 Seltener lobuläres Carcinoma in situ (LCIS) 4 Invasive Karzinome: 5 Invasives duktales Karzinom (65–80%) 5 Seltener invasives lobuläres Karzinom, muzinöses Karzinom, medulläres Karzinom u. a.
Klassifikation und Stadieneinteilung
4 Die anatomische Ausbreitung des Tumors wird nach dem TNM-System der UICC erfasst (7 Kap. 2.4) 4 Die 7. Auflage trat Anfang 2010 in Kraft (TNM-7); sie wird hier wiedergegeben (. Tab. 45.1, 45.2) 4 Die operative Entfernung des Tumors und eines oder mehrerer axillärer Lymphknoten sowie die histologische Untersuchung des Gewebes ermöglicht die genauere pathologische Klassifikation (pTNM)
Prognosefaktoren Etablierte Prognosefaktoren (Krankheits- und Tumormerkmale, die Hinweise auf den Krankheitsverlauf geben) sind: 4 pTNM-Status (Tumorgröße, gleichseitiger Achsellymphknotenstatus, Fernmetastasierung) 4 Histologischer Typ und Grading 4 Einbruch in Lymph- und/oder Blutgefäße 4 Alter 4 In Diskussion/Prüfung: Proliferationsmarker, Knochenmarkmikrometastasierung, Genexpressionsprofile, Invasionsfaktoren UPA und PAI-1 (proteolytische Enzyme)
Prädiktive Faktoren 4 Für die Therapieplanung werden prädiktive Faktoren herangezogen: 5 Östrogen-/Progesteronrezeptorstatus im Tumor 5 HER2-Status 5 Menopausenstatus (prämenopausal: ggf. Einsatz von LHRH-Agonisten)
45.1.6
Therapie
Übersicht 4 Operative Entfernung des Primärtumors: Standard ist brusterhaltende Therapie (BET), Mastektomie nur, wenn BET nicht möglich ist (7 Kap. 32.1.1) 4 Ggf. präoperative (neoadjuvante) (Chemo)therapie bei großen Tumoren, um BET zu ermöglichen 4 Entfernung und Untersuchung gleichseitiger Achsellymphknoten 4 Nach BET Bestrahlung der Restbrust: senkt Lokalrezidivrisiko deutlich 4 Adjuvante medikamentöse Therapie entsprechend der Tumorbiologie und dem Rückfallrisiko: Hormontherapie (7 Kap. 9.4.2), Chemotherapie oder beides, ggf. zusätzlich Trastuzumab 4 Beim inflammatorischen Karzinom immer präoperative (neoadjuvante) Chemotherapie und Mastektomie 4 Duktales In-situ-Karzinom (DCIS): brusterhaltende Operation, Nachbestrahlung, evtl. Hormontherapie
45
750
45
Kapitel 45 · Mammakarzinom und gynäkologische Tumoren
. Tab. 45.1. pTNM-Klassifikation (7. Auflage 2010), gekürzt
. Tab. 45.2. Stadiengruppierung
pT
Primärtumor
Stadium 0
Tis
N0
M0
pTX
Primärtumor kann nicht beurteilt werden
Stadium IA
T1/T1mi
N0
M0
pT0
Kein Tumornachweis
Stadium IB
T0, T1
N1mi
M0
pTis
Nichtinvasives Karzinom
T0, T1/T1mi
N1
M0
pT1
Größte Ausdehnung des Tumors nicht mehr als 2 cm
T2
N0
M0
T2
N1
M0
T3
N0
M0
T0, T1/T1mi, T2
N2
M0
T3
N1, N2
M0
Stadium IIB
pT1mi
Mikroinvasion: 0,2 mm und/oder mehr als 200 Zellen in einem Schnittpräparat, aber nicht >2 mm)
pN2
Metastasen in 4–9 axillären Lymphknoten (pN2a) oder in Lymphknoten entlang der A. mammaria interna (klinisch erkennbar) (pN2b)
pN3
Metastasen in 10 und mehr axillären Lymphknoten oder in infraklavikuläen Lymphknoten (pN3a); Metastasen in >3 axillären Lymphknoten und in Lymphknoten entlang der A. mammaria interna durch Wächterlymphknotenbiopsie nachgewiesen (pN3b); Metastasen in supraklavikulären Lymphknoten (pN3c)
M
Fernmetastasen
M0
Keine Fernmetastasen nachweisbar
M1
Fernmetastasen vorhanden
V
Venöse Invasion: 4 V0 keine 4 V1 mikroskopisch 4 V2 makroskopisch
L
Lymphgefäßinvasion: 4 L0 keine 4 L1 vorhanden
4 Lobuläres In-situ-Karzinom (LCIS): Tumorentfernung, regelmäßige mammographische Kontrollen (erhöhtes Risiko für invasiven Brustkrebs!) 4 Bei Lokalrezidiven nach BET in der Regel Mastektomie 4 Bei Fernmetastasierung palliative Therapie: Hormontherapie, Chemotherapie, Trastuzumab bei positivem HER2-Status, Bisphosphonate bei Knochenmetastasen, lokale Maßnahmen (Operation, Strahlentherapie), Schmerztherapie 4 Bei einzelnen Organmetastasen ggf. lokale Therapie (Chirurgie, Thermotherapie, Kryotherapie, stereotaktische Bestrahlung u. a.) 4 Die Behandlung von Brustkrebs beim Mann (4 Lymphknoten, unsichere/unvollständige Entfernung im Gesunden): Perkutane Bestrahlung der Brustwand, je nach Situation auch lokoregionaler Lymphabflusswege
Palliativ 4 Bestrahlung von Skelettmetastasen bei Frakturgefahr und zur Schmerzlinderung 4 Bestrahlung von Hirnmetastasen
Medikamentöse Therapie 4 Wirksame Konzepte je nach Tumorbiologie: 5 Hormontherapie (bei Chemotherapie im Anschluss daran, nicht parallel): Antiöstrogene (Tamoxifen, Faslodex), Aromataseinhibitoren (Osteoporoserisko beachten!), Gestagene, LHRH-Analoga (in der Prämenopause)
Adjuvant 4 Ziele: 5 Zerstörung von Mikrometastasen, die zum Zeitpunkt der Krankheitsdiagnose und Erstbehandlung noch nicht nachweisbar sind 5 Verlängerung der rezidivfreien Zeit und der Überlebenszeit 5 Erhöhung des Anteils dauerhafter Heilungen 4 Therapiewahl nach Tumorbiologie, zu erwartender Wirksamkeit verfügbarer Therapien und Rückfallrisiko 4 Bedeutsame Faktoren: Hormonrezeptorstatus, HER2Status, Grading, Tumorgröße, Zahl befallener Lymphknoten, Gefäßinvasion 4 Hormontherapie bei positivem Hormonrezeptorstatus (jegliche Ausprägung): 5 Prämenopausal Tamoxifen, ggf. plus LHRH-Agonist 5 Postmenopausal Tamoxifen, Tamoxifen und Aromatasehemmstoff sequenziell oder nur Aromatasehemmstoff für zusammen 5 Jahre, evtl. länger (Studien) 4 Chemotherapie gefolgt von Hormontherapie bei erhöhtem Rückfallrisiko (für die Entscheidung relevante Parameter: Tumorgröße, Lymphknotenbefall, Rezeptorstatus, Grading, Teilungsaktivität der Tumorzellen, Invasion von Blut- und Lymphgefäßen, Alter) 5 4–6 Zyklen Kombinationschemotherapie (v. a. Anthrazykline, Cyclophosphamid, bei erhöhtem Risiko Einbezug von Taxanen) 5 Dosisintensivierte oder dosisdichte Chemotherapie bei Patientinnen mit hohem Rückfallrisiko 4 Trastuzumab bei HER2-Überexpression zusätzlich zu Chemo- und ggf. Hormontherapie (1 Jahr) 4 Chemotherapie allein bei Tumoren, die weder Hormonrezeptoren noch HER2 aufweisen (»triple-negativ«) 4 Adäquate supportive Therapie (Antiemese, Haarersatz, Ernährungsberatung, Kalzium und Vitamin D bei Therapie mit Aromatasehemmstoffen u. a.)
45
752
45
Kapitel 45 · Mammakarzinom und gynäkologische Tumoren
Palliativ (metastasiertes Karzinom) 4 Dauerhafte Krankheitsfreiheit ist bei Metastasierung nicht erreichbar, aber oft längerfristige Tumorrückbildung 4 Vorrangiges Ziel: Vorbeugung und Linderung von Beschwerden (Lebensqualität!) 4 Individuelle Planung entsprechend Tumorbiologie, Vorbehandlung, Krankheitssituation und -dynamik, Allgemeinzustand und Präferenz der Patientin (Therapiewunsch?) 4 Sequenzielles Therapiekonzept 4 Zur Verfügung stehen: 5 Hormontherapie 5 Chemotherapie ± Anti-HER2-Therapie entsprechend dem HER2-Status 5 Bisphosphonate bei Knochenmetastasen 4 Hormontherapie: 5 Bei hormonrezeptorpositiven Tumoren, langsamem Progress, geringen Beschwerden 5 In der Prämenopause LHRH-Agonist + Tamoxifen oder + Aromatasehemmer 5 In der Postmenopause sequenziell Aromatasehemmstoffe, Tamoxifen, Faslodex 5 Therapie jeweils bis zur Progression 4 Chemotherapie 5 Bei Versagen der Hormontherapie 5 Bei hormonrezeptornegativen Tumoren, raschem Progress, ausgedehntem Organbefall, drohenden Komplikationen 5 Bevorzugt Monotherapien (besser verträglich!) 5 Bei erforderlicher rascher Remission evtl. zunächst Kombinationschemotherapie 5 Je nach Vortherapie wirksame Substanzen: Anthrazykline, Taxane, Capecitabin, Gemcitabin, Vinorelbin, Alkylanzien, evtl. Bevacizumab 5 Bei Ansprechen meist Behandlung über 6 Zyklen 5 Weitere Chemotherapien bei Progression individuell 5 Bei BRCA-Mutation evtl. platinhaltige Chemotherapie oder PARP-Hemmung: Poly (ADP-Ribose) Polymerase, DNA-Reparaturenzym (Studien) 4 Trastuzumab bei HER2-Überexpression zusätzlich zu Chemotherapie oder allein, bei Versagen von Trastuzumab Lapatinib 4 In Studien: weitere Tyrosinkinaseinhibitoren (z. B. Sunitinib) 4 Bisphosphonate bei Skelettmetastasen 4 Adäquate supportive Therapie und psychosoziale Unterstützung/Begleitung
Gebärmutterkrebs siehe Zervix- und Portiokarzinom
45.1.7
Prognose
4 Abhängig von Tumorgröße und Lymphknotenbefall 4 In Frühstadien (im Screening erkannt) Überleben fast 100% 4 5-Jahres-Überleben alle Stadien: >80% 5 Stadium I: nahe 100% 5 Stadium II: 80–90% 5 Stadium III: 50–65% 5 Stadium IV (primäre Fernmetastasierung): 20–25% 5 Medianes Überleben ab Metastasierung: 2–2,5 Jahre, variable Verläufe 4 10-Jahres-Überleben 70%
45.1.8
Nachsorge
Ziele 4 Vorbeugung, Erfassung und Behandlung von krankheits- oder therapiebedingten Komplikationen, z. B. Armlymphödem 4 Früherfassung von behandelbaren (Lokal)rezidiven 4 Früherkennung von Zweittumoren (v. a. gegenseitige Brust) 4 Psychosoziale Betreuung und Begleitung 4 Rehabilitation
Untersuchungen 4 Anamnese und körperliche Untersuchung 4 Mammographie der gesunden und der erkrankten Brust 4 Zusatzuntersuchungen entsprechend der klinischen Situation und bei Symptomen 4 Kein allgemein anerkanntes Schema
45.2
Zervix- und Portiokarzinom A. Gaisser
45.2.1
Epidemiologie und Risikofaktoren
4 In Mitteleuropa etwa 15–20 Neuerkrankungen jährlich pro 100.000 Frauen 4 Weltweit häufigstes Genitalkarzinom bei Frauen (Carcinoma in situ eingerechnet) 4 Mortalität seit etwa 30 Jahren rückläufig, aber vermehrt Diagnose von Frühstadien (CIN: zervikale intraepitheliale Neoplasien; in Deutschland jährlich bei etwa 80–100 pro 100.000 Frauen) 4 Altersgipfel: 5 Frühstadien und Präkanzerosen: 20.–40. Lebensjahr
753 45.2 · Zervix- und Portiokarzinom
5 Invasive Karzinome: zwischen 35 und 55 Jahren sowie im höheren Alter 4 Ursächlich für die Entwicklung eines Zervixkarzinoms ist eine anhaltende Infektion mit bestimmten Hochrisikotypen der sexuell übertragbaren humanen Papillomviren, v. a. Typ 16 und 18 (HPV 16 und 18) 4 Zusätzliche Risikofaktoren/Kofaktoren: 5 Rauchen 5 Zahlreiche Schwangerschaften 5 Orale Kontrazeption (>5–10 Jahre) ist mit geringfügig erhöhtem Risiko assoziiert 4 Primärprävention möglich durch Impfung gegen die hauptsächlich krebsauslösenden HPV-Typen 16 und 18: wirksam insbesondere vor dem ersten Sexualkontakt
45.2.2
Symptome
4 Keine Frühsymptome – daraus ergibt sich die entscheidende Bedeutung der Früherkennung!
Symptome des bereits manifesten Primärtumors 4 Nur 20 % der Patientinnen mit manifestem invasivem Tumor sind symptomfrei 4 Symptome sind: 5 Blutiger, übelriechender vaginaler Ausfluss 5 Postkoitale Blutung 5 Atypische, irreguläre Genitalblutung, z. B. Blutung außerhalb der Menstruation
Symptome bei fortgeschrittenen Tumoren 4 Schmerzen (z. B. im Bereich der Lendenwirbelsäuleregion oder der Nierenregion)
4 Lymphstauung in den Beinen durch Befall inguinaler Lymphknoten 4 Seltener: Miktions- und Defäkationsschwierigkeiten
45.2.3
Diagnostik
Früherkennungsuntersuchungen bei asymptomatischen Patientinnen 4 Gynäkologische Untersuchung 4 Spiegeleinstellung der Portio und Abstrichentnahme von Portio und Zervikalkanal (ggf. unter kolposkopischer Vergrößerung) zur zytologischen Untersuchung 4 Evtl. zusätzlich HPV-Testung bei Frauen ab 30 Jahren 4 Einteilung der zytologischen Befunde nach der Klassifikation von Papanicolaou in 5 Gruppen: Pap I bis Pap V (. Tab. 45.3) 4 Bestätigt die histologische Untersuchung der Gewebeprobe eine schwere Dysplasie (CIN III; CIN=zervikale intraepitheliale Neoplasie), so wird der veränderte Bezirk entfernt: Elektrische Schlinge oder Konisation mit Laser oder Messer (Ausschneidung eines Gewebekegels aus Gebärmuttermund und -hals) 4 Testung auf Hochrisiko-HPV-Viren bei wiederholt auffälligem oder unklarem Pap-Befund 4 Bei Einbeziehung des HPV-Tests in die primäre Früherkennung ist das Vorgehen auch davon abhängig, ob Hochrisiko-HPV-Viren nachgewiesen werden oder nicht 4 Der Wert der regelmäßigen Abstrichuntersuchung im Hinblick auf Senkung von Morbidität und Mortalität durch Zervixkarzinome ist gesichert
. Tab. 45.3. Klassifikation von Papanicolaou
Pap
Zytologisches Bild
Vorgehen
I
Normales Zellbild
Nicht kontrollbedürftig
II
Entzündliche und degenerative Zellveränderungen
In der Regel nicht kontrollbedürftig Evtl. antientzündliche Therapie und danach Kontrolluntersuchung
IIID
Geringgradige bis mittelgradige Dysplasie, rückbildungsfähig
Erneute Abstrichuntersuchung nach 3–6 Monaten Bei Fortbestehen über 12 Monate Kolposkopie und Biopsie
III
Nicht eindeutiger Befund, schwere Entzündungszeichen, degenerative Veränderungen oder auch Präkanzerose oder Karzinom
Je nach klinischem Befund kurzfristige zytologische Kontrolle oder kurzfristige Kolposkopie mit Biopsie zur histologischen Abklärung
IVa
Mittelgradige bis schwere Dysplasie oder Carcinoma in situ
Kolposkopie und Biopsie zur histologischen Abklärung
IVb
Wie IVa, aber invasives Karzinom nicht auszuschließen
V
Invasives Karzinom wahrscheinlich
Histologische Abklärung (Biopsie)
45
754
45
Kapitel 45 · Mammakarzinom und gynäkologische Tumoren
Diagnostik bei Symptomen und/oder makroskopisch verdächtigem Befund 4 Inspektion von Vagina und Portio durch Spiegeleinstellung, Palpation (bimanuelle vaginale und rektovaginale gynäkologische Untersuchung) 4 Ergänzt im Einzelfall durch Kolposkopie, Ausschabung der Zervix und des Uterus bei endozervikalem Prozess, kolposkopisch gezielte Biopsie
Ausbreitungsdiagnostik nach histologischem Nachweis eines invasiven Karzinoms (Staging) Ziel 4 Erfassung von lokaler, regionaler und ggf. systemischer Tumorausbreitung zur situationsgerechten Therapieplanung, Beurteilung der Operabilität
45.2.5
Klassifikation und Stadieneinteilung
4 Die anatomische Ausbreitung des Tumors wird nach dem TNM-System der UICC erfasst (7 Kap. 2.4) 4 Die 7. Auflage trat Anfang 2010 in Kraft (TNM-7); sie wird hier wiedergegeben und stimmt mit der FIGOEinteilung für gynäkologische Tumoren weitgehend überein (. Tab. 45.4) 4 Die präoperative Einschätzung des Stadiums muss postoperativ aufgrund des Operationsbefunds und der histologischen Aufarbeitung des Operationspräparats häufig maßgeblich revidiert werden
45.2.6
Therapie
Untersuchungen 4 Wesentlich: bimanuelle gynäkologische Untersuchung (vaginal und rektal), ggf. in Narkose, und Spekulumuntersuchung zur Erfassung der lokalen Tumorausbreitung, ggf. weitere Biopsien 4 Ab Stadium FIGO IB Kernspintomographie (Ausbreitung im kleinen Becken?) 4 Transvaginale Sonographie, Sonographie von Nieren und Leber 4 Zystoskopie und Rektoskopie zum Ausschluss eines Tumoreinbruchs in Blase oder Rektum 4 Thoraxröntgen/CT 4 Im Einzelfall ggf. FDG-PET oder PET/CT (kein gesicherter Stellenwert) 4 Labor: Blutbild, Leber- und Nierenfunktion; ggf. Tumormarkerbestimmung (bei Plattenepithelkarzinom SCC, bei Adenokarzinom CEA bzw. CA 125)
45.2.4
Histologie
4 Etwa 80% Plattenepithelkarzinome unterschiedlicher Differenzierung (G1–G4) 4 15–20% Adenokarzinome oder adenosquamöse Karzinome 4 Andere histologische Formen sehr selten 4 Entwicklung des Zervixkarzinoms bevorzugt im Grenzbereich zwischen Plattenepithel und drüsigem Zylinderepithel der Zervikalkanals (Übergangszone, Transformationszone) über Zellveränderungen steigenden Schweregrades (CIN). Der Begriff CIN entspricht den zytologischen Befunden Pap IIID bis Pap IV: 5 CIN I: geringgradige Dysplasie (rückbildungsfähig) 5 CIN II: mittelgradige Dysplasie (rückbildungsfähig) 5 CIN III: hochgradige Dysplasie, Carcinoma in situ
Übersicht 4 Interdisziplinäre Therapieplanung 4 Therapieziel: Kuration durch chirurgische oder radiotherapeutische Maßnahmen bei lokalisierten Tumoren (bis Stadium II) und höhergradigen CIN 4 Bei höhergradigen Krebsvorstufen Elektroresektion (elektrische Schlinge) oder Konisation 4 In operablen Stadien in der Regel einfache oder radikale Hysterektomie und Lymphknotenentfernung 4 Ab Stadium IIB in der Regel primäre Kombination von Strahlentherapie und Chemotherapie (Radiochemotherapie mit Cisplatin ± 5-FU) 4 Bei Lokalrezidiv und Metastasierung: Je nach Situation und Vorbehandlung operative Therapie, Radio(chemo)therapie, ggf. gewöhnlich palliative Chemotherapie 4 Wirksame Regimes/Substanzen: 5 Cisplatin (bevorzugt), ggf. mit Paclitaxel, 5 Carboplatin 5 Second-line-Therapie: Topotecan, Ifosfamid, Anthrazykline, Mitomycin, Gemcitabin u. a. 4 Adäquate supportive Therapie und psychosoziale/psychoonkologische Betreuung
Dysplasien, Präkanzerosen (CIN) 4 CIN I: In der Regel keine Therapie, zytologische Kontrollen 4 CIN II: Zytologische und kolposkopische Kontrolle, bei Fortbestehen über 1 Jahr Resektion mit Elektroschlinge (Loop-Exzision) oder Konisation, bei ektozervikaler Läsion auch Laser-Vaporisation (Verdampfung) und Zervixausschabung 4 CIN III: Entfernung mit Elektroschlinge oder Konisation
755 45.2 · Zervix- und Portiokarzinom
. Tab. 45.4. Klassifikation nach TNM (7. Auflage) und FIGO
TNM
FIGO-Stadium
Tis
Carcinoma in situ
0
T1
Tumor ist begrenzt auf Cervix uteri (eventuelle Ausdehnung auf Corpus gilt nicht als Ausdehnung über Zervix hinaus)
I
T1a
Präklinisches invasives Karzinom, ausschließlich mikroskopisch diagnostiziert
IA
T1b
Makroskopisch erkennbares invasives Karzinom, begrenzt auf Zervix
IB
T2
Tumorausdehnung jenseits des Uterus, aber nicht bis zur Beckenwand und nicht ins untere Drittel der Vagina T2a
Kein Befall der Parametrien. T2a1 Tumorausdehnung bis 4 cm, T2a2 Tumorausdehnung > 4 cm
IIA
T2b
Parametrien befallen
IIB
T3
Tumorausdehnung bis zur Beckenwand und/oder ins untere Drittel der Vagina und/oder tumorbedingt Hydronephrose oder stumme Niere
III
T3a
Befall des unteren Drittels der Vagina, Beckenwand frei
IIIA
T3b
Ausdehnung bis zur Beckenwand und/oder Hydronephrose oder stumme Niere
IIIB
T4
Tumor infiltriert Schleimhaut von Blase oder Rektum und/oder überschreitet die Grenzen des kleinen Beckens
N1
Befall regionärer Lymphknotena
M1
Fernmetastasen vorhanden
a
II
IVA
IVB
Lymphknoten im Bereich der Zervix, des Parametriums, den an den Beckenarterien, vor und seitlich des Steißbeins.
FIGO-Stadium I
FIGO-Stadium III
4 Bei frühinvasiven Karzinomen (Stadium IA): Evtl. alleinige Konisation mit Zervixausschabung (bei bestehendem Kinderwunsch) oder einfache Hysterektomie, sonst radikale Hysterektomie mit Entfernung der Parametrien und Lymphknotenentfernung 4 Im Stadium IB: Radikaloperation (Hysterektomie, Entfernung der Parametrien, Lymphknotenentfernung); in ausgewählten Fällen evtl. radikale Trachelektomie (Teilentfernung der Zervix) 4 Bei inkompletter Tumorentfernung und Nachweis von Risikofaktoren ggf. postoperative kombinierte Radiochemotherapie
4 Sofern möglich: Primäre kombinierte Radiochemotherapie 4 Operation nur in Einzelfällen sinnvoll
FIGO-Stadium II
4 Lokalrezidiv: Behandlung je nach Lokalisation und Vortherapie, nach Möglichkeit erneute Operation (ggf. auch potenziell kurative Exenteration), Radiochemotherapie oder alleinige Strahlentherapie, ansonsten palliative Chemotherapie 4 Bei Fernmetastasierung und Beschwerden: 5 In der Regel palliative Chemotherapie, in geeigneten Fällen Operation oder Strahlentherapie 5 Symptomatische Therapie (Schmerzen, Lymphödem, Schleimhautatrophie, Harnwegsobstruktion, Blutungen, Ausfluss, Ileus etc.) 4 Psychoonkologische und psychosoziale Betreuung
FIGO-Stadium IV 4 Standard: Radiochemotherapie 4 Bei Beschränkung des Tumors auf das kleine Becken und gutem Allgemeinzustand evtl. großräumige Operation (Exenteration) 4 Im Stadium IVB (Fernmetastasen): Evtl. palliative zytostatische Therapie
Rezidiv/Metastasierung 4 Stadium IIA: Radikaloperation und Lymphknotenentfernung, bei Risikofaktoren ggf. anschließende Radiochemotherapie 4 Stadium IIB: Radikaloperation (bis zur Beckenwand und große Scheidenmanschette), bei Nachweis von Risikofaktoren ggf. zusätzlich Strahlen- oder Radiochemotherapie 4 Bei erhöhtem Operationsrisiko ggf. primäre kombinierte Radiochemotherapie
45
756
45
Kapitel 45 · Mammakarzinom und gynäkologische Tumoren
45.2.7
Prognose
4 Abhängig von FIGO-Stadium, Lymphgefäß-/Lymphknotenbefall, Grading und Histologie (Adenokarzinome ungünstiger) 4 Höchstes Rezidivrisiko in den ersten 3 Jahren nach Primärtherapie (75% aller Rezidive in diesem Zeitraum) 4 Relatives 5-Jahres-Überleben: 5 Alle Stadien (invasiv): ca. 70% 5 Vorstufen und ganz frühe Stadien: nahe 100% 5 Stadium I: ca. 85–95% 5 Stadium II: ca. 60–70% 5 Stadium III: ca. 50% 5 Stadium IV: ca. 15%
45.2.8
Nachsorge
Ziele 4 Früherfassung behandelbarer lokoregionärer Rezidive 4 Erfassung und Behandlung von Therapiefolgen und Komplikationen, Überwachung von Organfunktionen (besonders der Niere und der ableitenden Harnwege) 4 Differenzierung von Therapie- und tumorbedingten Beschwerden 4 Rehabilitation
Vorgehen 4 Kein allgemein anerkanntes Nachsorgeschema 4 In erster Linie gynäkologische Untersuchung (vaginal und rektal), ggf. Sonographie 4 Weitere Untersuchungen und Bildgebung bei Verdacht auf Rezidiv und bei Auftreten von Symptomen 4 Beratung und Unterstützung zu Auswirkungen von Erkrankung und Therapie, Sexualberatung, ggf. psychoonkologische Unterstützung
Endometriumkarzinom (Korpuskarzinom)
45.3
A. Gaisser
4 Bekannte Risikofaktoren: 5 Höheres Alter 5 Übergewicht (BMI >27) 5 Gesteigerter Östrogeneinfluss (Hormonersatztherapie nur mit Östrogen, Kinderlosigkeit, frühe Menarche und späte Menopause, langdauernde Einnahme von Tamoxifen) 5 Familiäre Disposition (Erkrankung bei Verwandten 1. Grades), HNPCC-Syndrom 5 Diabetes mellitus Typ 2 5 Polyzystische Ovarien (PCO-Syndrom) 5 Atypische Endometriumhyperplasie ist eine potenzielle Präkanzerose (Risiko ca. 30%) 5 Risikomindernd wirkt orale Kontrazeption
45.3.2
Symptome
4 Kardinalsymptome: 5 Postmenopausale Blutung 5 Irreguläre uterine Blutungen vor der Menopause 5 Blutungsstörungen beim Endometriumkarzinom meist relativ früh im Krankheitsverlauf! 4 Spätsymptome: 5 Chronische Unterleibsschmerzen 5 Eitriger Ausfluss 5 Miktions- und Stuhlunregelmäßigkeiten, Blutabgänge aus Blase und Rektum 5 Tastbarer Tumor 5 Beinödeme
45.3.3
Diagnostik
4 Früherkennung schwierig, zytologischer Abstrichbefund nicht aussagekräftig in Bezug auf Endometrium 4 Evtl. transvaginale Sonographie zur Bestimmung der Endometriumdicke und Endometriumbiopsie in Risikogruppen (Effektivität nicht belegt) 4 Generelles Screening nicht empfohlen
Bei Verdacht auf Endometriumkarzinom Ziel 4 Sicherung oder Ausschluss der Diagnose
45.3.1
Epidemiologie und Risikofaktoren
4 Etwa 15–20 Neuerkrankungen jährlich pro 100.000 Frauen 4 Inzidenz besonders in höheren Altersgruppen steigend 4 Vor der Menopause selten, Anstieg der Erkrankungsrate ab 50 Jahren, Erkrankungsgipfel 65.–80. Lebensjahr Gebärmutterkrebs siehe Endometriumkarzinom
Untersuchungen 4 Gynäkologische Untersuchung: Blutungsquelle? Ausdehnung des Prozesses? 4 Transvaginale Sonographie zur Messung der Endometriumdicke 4 Hysteroskopie (außer bei klinisch eindeutigem Befund) und fraktionierte Kürettage (Abrasio), getrennt für Zervix und Uteruskörper zur histologischen Untersuchung; diagnostische Sicherheit über 90–100%
45
757 45.3 · Endometriumkarzinom (Korpuskarzinom)
Bei gesicherter Diagnose Ziele 4 Beurteilung von Tumorausbreitung und Operabilität 4 Nachweis bzw. Ausschluss von Fernmetastasen
Untersuchungen 4 Verbindlich ist das operative Staging 4 Thoraxröntgen 4 Sonographie des Abdomens: Leber, Nieren (Harnstauung?) 4 Evtl. CT oder MRT zur Bestimmung der extrauterinen Ausdehnung im Becken 4 Basislabor, Gerinnung, Nieren- und Leberwerte 4 Im Einzelfall nützlich: Zystoskopie, Rektoskopie
45.3.4
Histologie
4 Rund 80% Adenokarzinome unterschiedlicher Differenzierung (G1–G3): überwiegend östrogenabhängig (Typ-I-Karzinom) 4 Rund 15% seröse und klarzellige Karzinome: östrogenunabhängig (Typ-II-Karzinom)
45.3.5
TNM
Prognosefaktoren 4 4 4 4
Tumortyp Grading Lymph- und Blutgefäßinvasion Invasionstiefe in das Myometrium und Tumordurchmesser 4 Zervixinfiltration 4 Lymphknotenbefall
Therapie
Übersicht 4 Etwa 75% der Tumoren sind bei Diagnosestellung im Stadium I (unterschiedliche Risikogruppen)
FIGOStadium
T1
Tumor auf Corpus uteri begrenzt T1a
I
Tumor begrenzt auf Endometrium I A oder durchdringt weniger als die Hälfte des Myometriums
T1b Tumor durchdringt mehr als die Hälfte des Myometriums
IB
T2
Tumor infiltriert das Stroma der Zervix, jedoch keine Ausbreitung jenseits des Uterus
II
T3 und/oder N1
Lokale und/oder regionäre Ausbreitung
III
Befall von Serosa und/oder Adnexen
IIIA
T3a
T3b Befall von Vagina oder Parametrium
IIIB
N1
Befall von Becken- und/oder paraaortalen Lymphknoten
IIIC
T4
Tumor befällt Schleimhaut von Blase und/oder Rektum
IVA
M1
Fernmetastasen außer in Vagina, Beckenserosa oder Adnexen, einschließlich Metastasen in inguinalen und anderen intraabdominalen Lymphknoten als paraaortal und im Becken (letztere als N1 klassifiziert)
IVB
Klassifikation und Stadieneinteilung
4 Die anatomische Ausbreitung des Tumors wird nach dem TNM-System der UICC beschrieben (7 Kap. 2.4) 4 Die 7. Auflage trat Anfang 2010 in Kraft (TNM 7); sie wird hier wiedergegeben und stimmt mit der FIGOEinteilung für gynäkologische Tumoren weitgehend überein (. Tab. 45.5, 45.6) 4 Maßgeblich ist die pathologische (postoperative) Klassifikation 4 Das definitive Staging erfolgt im Rahmen der chirurgischen Therapie.
45.3.6
. Tab. 45.5. Klassifikation nach TNM (7. Auflage) und FIGO
. Tab. 45.6. Stadiengruppierung Stadium I
T1a,b N0 M0
Stadium II
T2 N0 M0
Stadium III
T3a,b N0 M0 T1-3 N1 M0
Stadium IV
T4 jedes N M0 Jedes T jedes N M1
4 Bei der überwiegenden Mehrzahl der Patientinnen ist der Tumor operabel 4 Beste Heilungschance durch vollständige Operation (R0-Resektion) 4 Möglichst weitgehende operative Tumorentfernung auch in fortgeschrittenen Stadien 4 Postoperative Strahlentherapie bei hohem Lokalrezidivrisiko 4 Im Stadium III und IV sowie bei serösen und klarzelligen Karzinomen ggf. alternativ oder zusätzlich postoperative Chemotherapie oder ggf. Hormontherapie (bei hochdifferenzierten Tumoren)
758
45
Kapitel 45 · Mammakarzinom und gynäkologische Tumoren
4 Wirksame Substanzen (u. a.): 5 Chemotherapie: bevorzugt Cisplatin/Doxorubicin ± Paclitaxel oder Monotherapie (Platin, Paclitaxel), bei Karzinosarkom Ifosfamid ± Paclitaxel 5 Hormontherapie (bei fortgeschrittener und rezidivierter Erkrankung): v. a. Gestagene, auch Aromatasehemmstoffe, Tamoxifen 4 Bei Rezidiv nach Möglichkeit erneute Operation, alternativ Strahlentherapie; evtl. systemische Therapie (antihormonelle Therapie mit Gestagenen oder Tamoxifen bei hormonrezeptorpositiven Tumoren), evtl. palliative Chemotherapie (geringer Nutzen, Lebensqualität beachten) 4 Adäquate supportive und symptomatische Therapie
4 4 4 4
mie; bei eingeschränkter Operabilität Hysterektomie und Tumorreduktion vaginal, ggf. Lymphknotenentfernung Nachbestrahlung je nach operativer Radikalität und Befall (perkutan ± intravaginal) und/oder Chemotherapie Falls keine Radikaloperation durchführbar: Möglichst weitgehende Reduktion der Tumormasse und Bestrahlung (intravaginal und perkutan) Ggf. Chemotherapie zusätzlich zu oder anstelle von Strahlentherapie Bei primärer Inoperabilität Strahlentherapie perkutan ± intravaginal
Stadium IV Hyperplasie mit Atypien 4 Prämenopausal bei abgeschlossener Familienplanung und postmenopausal Hysterektomie 4 Bei postmenopausalen Frauen Entfernung der Adnexe (Eierstöcke und Eileiter)
Stadium I 4 Abdominale totale Hysterektomie mit Entfernung beider Adnexe; Spülzytologie aus Bauchhöhle/DouglasRaum, Lymphknotenentfernung im Becken und paraaortal (bei pT1a und b und G1/G2 nicht zwingend) 4 Adjuvante Nachbestrahlung bei ungünstigen Prognosefaktoren (senkt Lokalrezidivrisiko) 4 Bei hohem Risiko ist adjuvante Chemotherapie (platinhaltig) evtl. wirksamer als Strahlentherapie (bezüglich rezidivfreiem und Gesamtüberleben) 4 Primäre Strahlentherapie (perkutan ± Afterloading), wenn der Allgemeinzustand eine Operation nicht zulässt
Stadium II 4 Im Stadium IIA Operation wie Stadium I mit Lymphknotenentfernung 4 Im Stadium IIB zusätzliche Entfernung der Parametrien 4 Bei hohem Risiko und Lymphknotenbefall postoperative Strahlentherapie perkutan ± intravaginal (Afterloading) 4 Alleinige kombinierte Bestrahlung bei Inoperabilität
4 Möglichst weitgehende Tumorreduktion und Lymphknotenentfernung 4 Postoperative Strahlentherapie und/oder Chemotherapie (wirksame Substanzen: Anthrazykline, Platin, Taxane) 4 Bei fortgeschrittenen hormonrezeptorpositiven Tumoren evtl. orale Therapie mit Gestagen 4 Bei primärer Fernmetastasierung: Nach Möglichkeit Operation zur Tumorreduktion und Chemotherapie
Seröse und klarzellige Karzinome 4 Stadiengerechte Operation, immer Lymphknotenentfernung (Becken und paraaortal), Entfernung des großen Netzes, peritoneale Biopsien 4 Bei Ausbreitung über den Uterus hinaus weitestmögliche Tumorentfernung 4 Postoperative Chemotherapie zusätzlich zur oder anstelle der Strahlentherapie; wirksame Substanzen: Adriamycin, Cis-/Carboplatin, Taxane
Rezidiv/Metastasen 4 70–90% der Rezidive innerhalb der ersten 3 Jahre nach Primärtherapie (50% regional, 50% Fernmetastasierung) 4 Operative Therapie resektabler Rezidive (bei vaginalem Rezidiv potenziell kurativ) 4 Bei Inoperabilität Strahlentherapie 4 Palliative medikamentöse Therapie: evtl Chemotherapie (Lebensqualität beachten!) oder Hormontherapie
Stadium III 4 Im Stadium IIIA totale Hysterektomie mit beidseitiger Entfernung der Adnexe sowie Entfernung von Beckenund paraaortalen Lymphknoten, Entfernung des großen Netzes 4 Im Stadium IIIB mit Befall der Vagina bei guter Operabilität erweiterte radikale Hysterektomie, Lymphknotenentfernung, partielle oder komplette Kolpekto-
45.3.7
Prognose
4 Abhängig von Tumortyp, Grading, Tumorstadium, Lymph- und Blutgefäßinvasion, Invasionstiefe und Lymphknotenbefall 4 Relatives 5-Jahres-Überleben gesamt: 80–85%
759 45.4 · Ovarialkarzinom
4 Relatives 5-Jahres-Überleben nach Stadien: 5 Stadium I: >90% 5 Stadium II: ca. 80% 5 Stadium III: ca. 50–60% 5 Stadium IV: ca. 25%
45.3.8
Nachsorge
5 5 5 5
Ziele 4 Früherfassung behandelbarer Lokalrezidive 4 Früherfassung von Zweittumoren der Brust und des Kolorektums (deutlich erhöhtes Risiko bei Endometriumkarzinom) 4 Erfassung und Behandlung von Therapiefolgen und Komplikationen (genitale Atrophie, Lymphödem, radiogene Reaktionen an Blase und Darm, Folgen des Hormonausfalls) 4 Psychosoziale Betreuung 4 Rehabilitation
Vorgehen 4 Kein allgemein anerkanntes Nachsorgeschema 4 Risikoadaptierte Kontrolluntersuchungen (>70% aller Rezidive innerhalb von 2 Jahren nach Primärtherapie): Anamnese, klinische und gynäkologische Untersuchung, ggf. Ultraschall 4 Mammographie jährlich (erhöhtes Brustkrebsrisiko!) 4 Beratung zu Auswirkungen von Erkrankung und Therapie, Sexualberatung, ggf. psychoonkologische Unterstützung 4 Bei ausgeprägten klimakterischen Beschwerden ggf. Gestagene zur Symptomkontrolle
BRCA2, HNPCC-Syndrom); bei BRCA-Mutation Lebenszeitrisiko bis 45% Hormonelle Einflüsse (Kinderlosigkeit, Unfruchtbarkeit, frühe Menarche, späte Menopause, langjährige Hormonersatztherapie) Polyzystische Ovarien Vorerkrankung an Brustkrebs, Endometriumkarzinom, Darmkrebs Übergewicht
Risikomindernde Faktoren 4 Hormonelle Kontrazeption (auch bei erblicher Disposition): Je länger, desto höherer Schutz 4 Beidseitige Ovarektomie bei BRCA-Mutation nach abgeschlossener Familienplanung (Risikominderung >90 %)
45.4.2
Symptome
4 Keine Frühsymptome, deshalb meist erst spät entdeckt (Ausbreitung in Becken- oder Bauchraum in zwei Drittel der Fälle bei Diagnosestellung) 4 Keine typischen Symptome, oft Bauchschmerzen, leichte Übelkeit, Verdauungsbeschwerden und Völlegefühl, allgemeine Müdigkeit/Erschöpfung (unspezifisch!) 4 Tastbarer Tumor im Unterbauch, Aszites (Zunahme des Bauchumfangs ohne Gewichtszunahme!)
45.4.3
Diagnostik
Früherkennung 45.4
Ovarialkarzinom A. Gaisser
45.4.1
Epidemiologie und Risikofaktoren
4 In Europa ca. 15 Neuerkrankungen jährlich pro 100.000 Frauen 4 Erkrankungswahrscheinlichkeit steigt kontinuierlich mit dem Alter 4 Häufigkeitsgipfel im 8. und 9. Lebensjahrzehnt 4 Borderline-Tumoren: Mittleres Erkrankungsalter 50 Jahre 4 Einzelheiten der Krankheitsentstehung sind noch unbekannt 4 Bekannte Risikofaktoren: 5 Zunehmendes Alter 5 Genetische Disposition: ca. 10% der Ovarialkarzinome (in erster Linie Mutationen von BRCA1, auch Eierstockkrebs siehe Ovarialkarzinom
4 Keine effektive Früherkennungsuntersuchung verfügbar, kein generelles Screening 4 Auch in Risikogruppen (Familienanamnese!) ist Screening mit transvaginalem Ultraschall und CA 125-Bestimmung nach der Datenlage nicht effektiv
Bei Verdacht auf bösartigen Ovarialtumor Ziele 4 Ausschluss nichtgynäkologischer Erkrankungen 4 Weitere Hinweise zur Einschätzung (gutartig/bösartig) des Tumors 4 Beurteilung der Tumorausbreitung im Bauchraum sowie der Operabilität 4 Erfassung von möglichen Fernmetastasen
Untersuchungen 4 Bimanuelle gynäkologische Tastuntersuchung (rektal und vaginal) 4 Transvaginaler und abdominaler Ultraschall (wichtigste Untersuchung, hohe Sensitivität und Spezifität)
45
760
45
Kapitel 45 · Mammakarzinom und gynäkologische Tumoren
4 Ggf. CT oder MRT Becken/Bauchraum 4 Ggf. Thoraxröntgen, evtl. zusätzlich CT (bei unklarem Röntgenbefund): Lungenmetastasen? 4 Labor: Differenzialblutbild, Leber- und Nierenwerte, Tumormarkerbestimmung (CA 125; falls erhöht, Bestimmung in der Verlaufskontrolle nach Therapie) 4 Bei Aszites evtl. Punktion zur Entlastung, dann zytologische Untersuchung (Cave: Diagnostische Punktion eines zystischen Eierstocktumors wegen Gefahr der Tumorzellverschleppung) 4 Keine klinische oder apparative diagnostische Untersuchung kann die Operabilität verlässlich einschätzen und das sorgfältige operative Staging ersetzen
45.4.4
Histologie
4 Epitheliale Ovarialtumoren (bis zu 90%) Karzinome: serös (Mehrheit), muzinös, endometroid, selten klarzellig, undifferenziert, gemischt oder nicht klassifizierbar 4 Rund 10% niedrigmaligne Borderline-Tumoren der unterschiedlichen Formen 4 Bösartige Keimstrangstromatumoren (5–8%) 4 Bösartige Keimzelltumoren (5 Jahren vor; die Prognose für Patienten mit CML hat sich danach gegenüber früheren Therapien eindeutig verbessert 4 Unter Behandlung mit Imatinib sind nach 5 Jahren 5 >95% der Patienten, die innerhalb von 12 Monaten nach Behandlungsbeginn eine komplette zytogenetische Remission erreichen, noch in der chronischen Phase 5 Alle Patienten, die innerhalb von 12 Monaten nach Behandlungsbeginn eine »major« oder komplette molekulare Remission erreichen, noch in der chronischen Phase 5 Nur 5% an den Folgen der CML gestorben
Akzelerierte Phase 4 Ohne allogene Stammzelltransplantation beträgt nach Behandlung mit Imatinib (in erhöhter Dosierung) oder anderen TKI das mittlere Überleben ca. 3 Jahre 4 Die Prognose nach potenziell kurativer allogener Stammzelltransplantation – im Fall einer Rückführung in eine chronischen Phase – ist von zahlreichen Faktoren abhängig wie Qualität der durch TKI erreichten Remission, Spendertyp (verwandt/nicht verwandt), Alter etc.
Blastenkrise 4 Ohne allogene Stammzelltransplantation beträgt nach Behandlung mit Imatinib (in erhöhter Dosierung) oder anderen TKI das mittlere Überleben 3–12 Monate
779 47.3 · Chronische lymphatische Leukämie (CLL)
47.2.6
Nachsorge
Ziele Chronische Phase 4 Kontrolle des Remissionsstatus 4 Kontrolle der erwünschten und unerwünschten Therapiewirkungen
Akzelerierte Phase und Blastenkrise 4 Situationsentsprechend
Untersuchungen Chronische Phase 4 Entsprechend dem Remissionsstatus: Kontrollen von Blutbild, evtl. Knochenmark (zytogenetische Remission), PCR aus Blut (molekulare Remission)
47.3.4
Stadieneinteilung
4 Es sind zwei verschiedene Stadieneinteilungen gebräuchlich: die Einteilung nach Binet (. Tab. 47.2) und die Einteilung nach Rai (. Tab. 47.3)
47.3.5
Therapie
Übersicht 4 Keine definitive Heilung möglich 4 Die frühzeitige Einleitung einer Therapie führt nicht zu einer Verbesserung des Überlebens → Behandlungsbeginn deshalb erst beim Auftreten von Symptomen 4 Bei asymptomatischen Patienten ist oft über viele Jahre keine Therapie nötig
Akzelerierte Phase und Blastenkrise 4 Situationsentsprechend . Tab. 47.2. Stadieneinteilung nach Binet
47.3
Chronische lymphatische Leukämie (CLL) T. Kroner
47.3.1
4 4 4 4
Symptome
Oft Zufallsbefund bei symptomfreien Patienten Lymphknotenschwellungen Anämie, Thrombopenie Immunschwäche: Infekte (häufigste Todesursache!)
47.3.3
Hämoglobin >10,0 g/dl Thrombozytenzahl normal Weniger als 3 vergrößerte Lymphknotenregionen
Stadium B
Hämoglobin >10,0 g/dl Thrombozytenzahl normal 3 oder mehr vergrößerte Lymphknotenregionen
Stadium C
Hämoglobin 10% des Körpergewichts innerhalb von 6 Monaten
Zusatz S
Milzbefall
a
Zum lymphatischen Gewebe gehören Lymphknoten, Milz, Thymus, Waldeyer-Rachenring, Appendix.
47
782
Kapitel 47 · Leukämien und Lymphome
Prognoserelevante Risikofaktoren 4 4 4 4
47
Großer Mediastinaltumor Extranodale Ausbreitung (E-Stadien) Hohe BSG Befall von 3 und mehr Lymphknotenarealen
Therapierelevante Stadieneinteilung 4 Frühe Stadien IA und IIA ohne Risikofaktoren 4 Intermediäre Stadien I und II, A und B, mit Risikofaktoren 4 Fortgeschrittene Stadien: Stadium IIB mit Riskofaktoren sowie Stadien III und IV
47.4.6
Therapie
Übersicht 4 Die Therapie erfolgt in allen Stadien mit kurativer Zielsetzung 4 Das Vorgehen orientiert sich an Stadium und Risikofaktoren (7 oben) 4 Standard in der Primärtherapie ist heute in allen Stadien eine Polychemotherapie (je nach Stadium und Risiko 2–8 Zyklen), in bestimmten Fällen gefolgt von Bestrahlung der betroffenen Lymphknotenregionen bzw. von Resttumor 4 Bei Rezidiv zunächst ebenfalls kuratives Ziel mit Vorgehen je nach Vortherapie und Lokalisation: Chemotherapie oder Hochdosis-Chemotherapie mit autologem Stammzellenersatz; bei weiteren Rezidiven in Studien auch verschiedene immunologisch begründete Therapien
Chemotherapie/medikamentöse Therapie 4 Hodgkin-Lymphome sind sehr chemotherapiesensibel 4 Behandlungsstandard ist eine Kombinationschemotherapie, je nach Stadium und Risiko 2, 4 oder 8 Zyklen, in bestimmten Fällen gefolgt von einer Strahlentherapie 4 Gebräuchlichste Zytostatikakombinationen: 5 ABVD (Adriamycin, Bleomycin, Vinblastin, Dacarbazin 5 BEACOPP (Bleomycin, Etoposid, Doxorubicin COPP) oder BEACOPP eskaliert (dosisintensiviert, alle 3 Wochen): v. a. in fortgeschrittenen Stadien
Frühe Stadien 4 2 Zyklen ABVD (gefolgt von Bestrahlung der beteiligten Lymphknotenregionen); in Studien: Verzicht auf Strahlentherapie bei negativer PET nach Chemotherapie
4 Bei Kontraindikationen gegen Chemotherapie alternativ alleinige Strahlentherapie (»extended field«), aber schlechtere Ergebnisse
Mittlere Stadien 4 2 Zyklen BEACOPP eskaliert und 2 Zyklen ABVD (gefolgt von Bestrahlung der beteiligten Lymphknotenregionen)
Fortgeschrittene Stadien (IIB mit großem Mediastinaltumor, III, IV) 4 8 Zyklen (B)EACOPP eskaliert (plus Bestrahlung von Resttumoren von mehr als 2,5 cm) 4 In Studien: 5 Versuch der Reduzierung der Chemotherapieintensität, Verzicht auf Strahlentherapie in frühen Stadien bei negativer PET nach Chemotherapie, Intensivierung der Chemotherapie in intermediären Stadien (BEACOPP), Rituximab zur Elimination der B-Zellen im entzündlichen Infiltrat 4 Ältere Patienten: 5 Individuelle Therapieplanung entsprechend Allgemeinzustand, biologischem Alter und Organfunktionen 5 In fortgeschrittenen Stadien ggf. ABVD statt BEACOPP, bei kardialer Vorschädigung COPP und ABVD alternierend (Anthrazyklinreduktion) 5 Supportive Gabe von G-CSF
Rezidiv 4 Nach primärer alleiniger Strahlentherapie: ABVD oder BEACOPP 4 Nach initialer Chemotherapie: Je nach Remissionsqualität und -dauer die gleiche Chemotherapie wie primär oder anderes Regime (verschiedene Schemata möglich) 4 Ggf. Hochdosischemotherapie mit autologem Stammzellersatz (gesicherte Indikation) 4 Bei weiteren Rezidiven in Studien verschiedene Strategien, u. a. monoklonale Antikörper, Immuntoxine, bispezifische Antikörper, immunmodulatorische Substanzen, mTOR-Inhibitoren
Primär progrediente Erkrankung 4 Ungünstige Prognose 4 Optimales Vorgehen offen, ggf. Hochdosistherapie und autologe oder allogene Stammzelltransplantation, bei Versagen experimentelle Therapie
783 47.5 · Non-Hodgkin-Lymphome
Strahlentherapie
Untersuchungen
4 Die Strahlentherapie erfolgt in bestimmten Fällen im Anschluss an die Chemotherapie auf die betroffenen Lymphknotenregionen (»involved field«, 30 Gy, fraktioniert) 4 Alleinige Strahlentherapie (»extended field«), die früher in frühen Stadien Standard war, kommt wegen hoher Strahlenbelastung und geringerer Wirksamkeit im Vergleich zur sequenziellen Chemoradiotherapie nur noch bei Kontraindikationen gegen Chemotherapie in Betracht 4 Mögliche Bestrahlungsfelder bei »extended field« Bestrahlung: 5 Befall oberhalb des Zwerchfells: Bestrahlung aller stammnahen Lymphknotenstationen oberhalb des Zwerchfells (»Mantelfeld«); falls nicht nur Halsregion betroffen: zusätzlich der paraaortalen Lymphknoten und des Milzhilus 5 Bei Befall unterhalb des Zwerchfells: Bestrahlung aller Lymphknotenstationen unterhalb des Zwerchfells (»umgekehrtes Y-Feld«); falls nicht nur Leistenregion betroffen: zusätzlich Bestrahlung des Mediastinums und der Region oberhalb des Schlüsselbeins
4 Wegen des hohen Rezidivrisikos in den ersten Jahren nach Primärtherapie in dieser Phase engmaschige Kontrollen, dann in längeren Abständen 4 Anamnese (B-Symptome!), körperliche Untersuchung, Labor (7 oben), Thoraxröntgen und Sonographie des Abdomens; weitere apparative Untersuchungen abhängig vom klinischen Befund 4 EKG, Echokardiographie, Lungenfunktion, Schilddrüsenfunktion 4 Nachsorgeuntersuchungen über 10 Jahre hinaus (Zweittumorrisiko!)
47.4.7
Prognose
4 Insgesamt gute Prognose, Heilung in allen Stadien möglich 4 Alle Stadien: 5-Jahres-Überleben über 90% 4 Günstige Prognosefaktoren: jüngeres Alter, frühe Stadien, fehlende B-Symdrome
47.4.8
Nachsorge
Ziele 4 Erfassung von Rezidiven (treten überwiegend in den ersten Jahren nach Primärtherapie auf) 4 Erfassung von therapiebedingten Spätschäden (Herz, Lunge, Schilddrüse, periphere Nerven, Fertilitätsverlust, Fatigue) 4 Erkennung von Zweittumoren: kumulative Inzidenz bis zu 20%, in den ersten Jahren besonders Leukämien und myelodysplastisches Syndrom, später Non-Hodgkin-Lymphome und solide Tumoren, besonders Lungenkrebs und Brustkrebs 4 Psychosoziale Betreuung und Rehabilitation
47.5
Non-Hodgkin-Lymphome A. Gaisser
47.5.1
Epidemiologie und Risikofaktoren
4 Jährlich etwa 10–15 Neuerkrankungen pro 100.000 Einwohner 4 Altersgipfel im 8. Lebensjahrzehnt, aber unterschiedliche Altersverteilung bei den verschiedenen Lymphomformen 4 Mittleres Erkrankungsalter um 70 Jahre 4 Inzidenz ansteigend 4 Als mögliche Ursachen/Risikofaktoren werden diskutiert (mit unterschiedlicher Bedeutung für die einzelnen Lymphomformen): 5 Schwächung des Immunsystems (z. B. bei HIV-Infektion oder immunsuppressiver Therapie) 5 Virale Infektionen; z. B. Epstein-Barr-Virus (Burkitt-Lymphom), humanes T-Zell-Leukämie-Virus (HTLV-1), Hepatitis C-Virus 5 Chronische Infektion mit Helicobacter pylori (MALT-Lymphom des Magens) 5 Autoimmunerkrankungen mit chronischer Entzündung 5 Ionisierende Strahlen 5 Exposition gegenüber Schwermetallen, Insektiziden, Herbiziden, Pilzvernichtungsmitteln und einigen organischen Lösungsmitteln 5 Rauchen (Assoziation mit hochaggressiven Lymphomformen) 5 Bestimmte angeborene Genvarianten (begünstigend, nicht auslösend) 5 Zytostatika (Non-Hodgkin-Lymphome möglich als Zweittumoren nach Chemotherapie, insbesondere bei Hodgkin-Lymphom)
NHL siehe Non-Hodgkin-Lymphome
47
784
47.5.2
47
Kapitel 47 · Leukämien und Lymphome
Symptome
4 Keine spezifischen und oft gering ausgeprägte Symptome 4 Schmerzlose Lymphknotenvergrößerungen 4 Müdigkeit 4 Appetitlosigkeit 4 Evtl. Anämie oder Blutungsneigung bei Knochenmarkbefall 4 Allgemeinsymptome: Fieber, Nachtschweiß, Gewichtsverlust (B-Symptome) 4 Im Unterschied zum Hodgkin-Lymphom: 5 Häufiger Beschwerden durch Manifestationen außerhalb von Lymphknoten (extranodal): Mund-Rachen-Raum, Magen-Darm-Trakt 5 Häufigerer primärer Befall mehrerer Lymphknotenregionen 5 Primärer Hautbefall möglich (ekzem- oder tumorartig)
47.5.3
Diagnostik
4 Im Wesentlichen wie beim Hodgkin-Lymphom
Bei Verdacht auf Non-Hodgkin-Lymphome (NHL) 4 Diagnosesicherung durch histologische Untersuchung eines oder mehrerer befallener Lymphknoten oder von Gewebeproben aus befallenen extranodalen Geweben/ Organen 4 Immunhistochemische, ggf. zytogenetische/molekulargenetische Untersuchung zur genauen Klassifikation
4 Evtl. Liquoruntersuchung 4 Evtl. HNO-ärztliche Untersuchung, evtl. Gastroskopie
Histologie und klinische Charakteristika 4 Ausgehend von Zellen des lymphatischen Systems (Lymphknoten, Milz, Mandeln, Thymus sowie lymphatische Gewebe im Rachenbereich und im Gastrointestinaltrakt) 4 Rund 60% primär nodale, 40% primär extranodale Manifestation (am häufigsten Gastrointestinaltrakt, auch Haut oder Zentralnervensystem) 4 Etwa 90% B-Zell-Lymphome 4 Unterscheidung zahlreicher Unterformen, die sich daraus ergeben, dass in den Lymphknoten eine Vielzahl unterschiedlicher Lymphozyten nachweisbar sind, die alle entarten können → Charakterisierung durch Immunphänotypisierung (Lymphozytenantigene etc.) und zytogenetische Merkmale 4 Im Unterschied zum Hodgkin-Lymphom: 5 Häufig multizentrische Entstehung mit vielfach rascher und nicht kontinuierlicher Ausbreitung 5 Häufiger primär extranodale Manifestation, etwa im Gastrointestinaltrakt, in der Haut und anderen Organen bzw. Geweben 4 Nach ihrem natürlichen (unbehandelten) Verlauf und dem Ansprechen auf Behandlung Unterscheidung von indolenten (langsam progredienten), aggressiven und sehr aggressiven Non-Hodgkin-Lymphomen 4 Indolente NHL schreiten langsam fort, können aber nur in den seltenen frühen Stadien definitiv geheilt werden 4 Aggressive Formen sprechen in der Regel gut auf eine Therapie an und können oft geheilt werden
47.5.4
Bei gesicherter Diagnose Ziel 4 Erfassung der Krankheitsausbreitung (Stadieneinteilung, Staging)
Vorgehen 4 Laboruntersuchung: Differenzialblutbild und Zellzählung, Leber- und Nierenwerte, LDH, β2-Mikroglobulin, sCD25, Immunstatus, Virusserologie 4 Thoraxröntgen bzw. CT 4 Sonographie/CT von Halsregion und Abdomen/Becken 4 Evtl. ein- oder beidseitige Knochenmarkbiopsie aus dem Beckenkamm (Stanzbiopsie) 4 Skelettszintigraphie bei Verdacht auf Knochenbeteiligung 4 Evtl. PET
Klassifikation und Stadieneinteilung
4 Die aktuelle WHO-Klassifikation (letzte Modifikation 2008) teilt die NHL nach ihren Ursprungszellen der B-Zell-Reihe (rund 85%) und der T-Zell-Reihe (15%), nach ihrem Reifegrad (Vorläuferzellen oder periphere Zellen) und ihrer Histologie ein (. Tab. 47.5) 4 Die Stadieneinteilung erfolgt nach der modifizierten Ann-Arbor-Klassifikation (. Tab. 47.6), wie für das Hodgkin-Lymphom
Prognosefaktoren 4 Ungünstige prognostische Faktoren bei follikulären Lymphomen (indolent): 5 Alter >60 Jahre 5 Hb 4 befallene Lymphknoten 4 Ungünstige prognostische Faktoren bei aggressiven Lymphomen: 5 Alter >60 Jahre 5 Stadium III/IV 5 >1 extranodaler Befall 5 Schlechter Allgemeinzustand 5 LDH über Normbereich 5 Außerdem »bulky disease« (Tumoren >7,5 cm) 4 Prognostische Indizes erlauben Aussagen zum Risiko und zur Prognose: 5 FL-IPI für follikuläre Lymphome – Niedriges Risiko: 0–1 Faktoren, 5-Jahres-Überleben ca. 90% – Intermediäres Risiko: 2 Faktoren, 5-Jahres-Überleben ca. 75% – Hohes Risiko: ≥3 Faktoren, 5-Jahres-Überleben ca. 50% 5 Internationaler Prognostischer Index für aggressive Lymphome (IPI) – Je mehr ungünstige Faktoren, desto ungünstiger die Überlebensprognose – 0–2 (niedriges und niedrig-intermediäres Risiko): 4-Jahres-Überleben ca. 80% – 3–5 (hoch-intermediäres und hohes Risiko): 4-Jahres-Überleben ca. 50%
. Tab. 47.6. Stadieneinteilung
Therapie
Stadium I
Befall einer einzigen Lymphknotenregion (I/N) bzw. eines lokalisierten extranodalen Herdes (I/E)
47.5.5
Stadium II
Befall von zwei oder mehr Lymphknotenregionen auf einer Seite des Zwerchfells (II/N) oder lokalisierte extranodale Herde und Befall einer oder mehrerer Lymphknotenregionen auf einer Seite des Zwerchfells (II/E)
Stadium III
Befall von Lymphknotenregionen auf beiden Seiten des Zwerchfells (III/N), ggf. mit lokalisiertem extranodalem Befall (III/E), mit Befall der Milz (III/S) oder beidem (III/SE)
Stadium IV
Disseminierter oder multifokaler Befall eines oder mehrerer extralymphatischer Organe/Gewebe mit oder ohne Befall von Lymphknoten oder isolierter extralymphatischer Befall mit Befall entfernter (nichtregionaler) Lymphknoten
4 Die Behandlung richtet sich nach Krankheitsausbreitung (Stadium), Phänotyp (B- oder T/NK-Zell-Ursprung), Aggressivität, Symptomatik, Alter und Allgemeinzustand des Patienten und ist entsprechend unterschiedlich 4 Bei indolenten Lymphomen ist der Ansatz nur in den frühen Stadien primär kurativ, bei den aggressiven Formen in allen Stadien 4 Zur Verfügung stehen Radiotherapie, Chemotherapie, Zytokintherapie (Interferon alpha), Antikörpertherapie (v. a. Rituximab), bei Rezidiv Radioimmuntherapie mit Anti-CD20-Antikörper gekoppelt an ein Radionuklid
Zusatzbezeichnungen Zusatz A
Keine Allgemeinsymptome
Zusatz B
Eines oder mehrere Allgemeinsymptome vorhanden: Nicht erklärbares Fieber >38°C oder Nachtschweiß oder Gewichtsverlust >10% des Körpergewichts innerhalb von 6 Monaten
Übersicht
Indolente NHL 4 Etwa 50% der NHL zeigen indolente Verlaufsformen 4 Am häufigsten ist das follikuläre Lymphom
47
786
Kapitel 47 · Leukämien und Lymphome
Therapieziel
47
4 In lokalisierten Stadien (15–20% der Fälle) kurativer Ansatz 4 In fortgeschrittenen Stadien überwiegend palliativ: Krankheits- und Symptomkontrolle, Lebensverlängerung
5 Experimentelle Therapien: u. a. Bortezomib, Gentherapie mit Antisense-Molekülen, Vakzinetherapien 4 Falls Übergang in aggressive Form: Vorgehen wie bei primär aggressiven NHL
Aggressive NHL Vorgehen 4 In den lokalisierten Stadien I und II ohne Symptome ggf. zunächst abwartendes Beobachten 4 Primäre alleinige Strahlentherapie (»extended field«) oder »involved field« plus Rituximab → potenziell kurativ 4 Evtl. adjuvante Chemotherapie bei ungünstigen Prognosefaktoren 4 In Stadien III und IV ohne Symptome zunächst abwartendes Beobachten ohne Nachteil möglich 4 Bei Symptomen Chemotherapie in Kombination mit Rituximab (monoklonaler Antikörper gegen CD20Antigen, von fast allen B-Zell-Lymphomen exprimiert): aktueller Standard 4 Bei älteren Patienten, auch bei reduziertem Allgemeinzustand, Monotherapie mit einem Zytostatikum sinnvolle Alternative (z. B. Chlorambucil, Fludarabin, Bendamustin) 4 Wirksame Zytostatika: Prednison, Cyclophosphamid, Vincristin, Anthrazykline, Fludarabin, Bendamustin, Chlorambucil, Etoposid 4 Gebräuchliche Regimes: 5 CHOP (Cylophosphamid, Doxorubicin, Vincristin, Prednison) 5 MCP (Mitoxantron, Cyclophosphamid, Prednison) 5 CVP (Cyclophosphamid, Vincristin, Prednison) 5 FC(M) (Fludarabin, Cyclophosphamid ± Mitoxantron) 5 Bendamustin/(Mitoxantron)/Prednison 4 Die kombinierte Behandlung mit Chemotherapie und Rituximab (Immunchemotherapie) führt zu höheren Ansprechraten und signifikant verlängertem Überleben gegenüber Chemotherapie allein
Rezidiv/Progression 4 Falls wieder indolentes Lymphom: 5 Standard: Erneute Immunchemotherapie, anschließend Erhaltungstherapie mit Rituximab 5 Bei lokalisertem Rezidiv ggf. Bestrahlung 5 Bei Patienten 60 Jahre, >1 extranodaler Befall, erhöhte Serum-LDH und schlechter Allgemeinzustand; ein zusätzlicher Risikofaktor ist »bulky disease« (große Lymphome über 7,5 cm)
Vorgehen 4 Standard ist in allen Stadien Chemotherapie mit CHOP, bei CD20-positiven B-Zell-Lymphomen plus Rituximab (6–8 Zyklen) 4 Bei Patienten mit hohem Risiko evtl. Therapie mit einem Methotrexat-haltigen Chemotherapieprotokoll (analog GMALL NHL-Studie) 4 Die früher durchgeführte intrathekale ZNS-Prophylaxe mit Methotrexat erbringt in Kombination mit einer systemischen Therapie mit Rituximab/CHOP keinen zusätzlichen Nutzen 4 Bei Patienten mit Risiko für einen ZNS-Befall (>1 Extranodalbefall, LDH erhöht, schlechter Allgemeinzustand) Behandlung mit einem Methotrexat-haltigen Chemotherapieprotokoll (analog GMALL NHL-Studie) empfohlen 4 Hochaggressive lymphoblastische NHL werden in der Regel wie akute lymphatische Leukämien behandelt 4 Strahlentherapie ggf. bei akuten Problemen durch lokale Tumorausdehnung (»involved field«) zur raschen Symptomlinderung; systemische Therapie muss immer angeschlossen werden! 4 Strahlentherapie ist u. U. indiziert bei Extranodalbefall und bei sehr großen Lymphomen (»bulky disease«) mit partieller Remission nach Immunchemotherapie 4 In Studien: Konsolidierung mit Radioimmuntherapie
787 47.5 · Non-Hodgkin-Lymphome
Rezidiv/Progression 4 Je nach Risikokonstellation 25–40% nach initialer Komplettremission 4 90% der Rezidive treten innerhalb der ersten 2 Jahre nach Primärtherapie auf 4 Prognose entsprechend IPI, Dauer der vorausgegangenen Remission und Ansprechen auf die Rezidivtherapie 4 Nach Möglichkeit im Anschluss an Tumorreduktion durch konventionelle Chemotherapie (ggf. plus Rituximab) Hochdosis-Chemotherapie und Stammzelltransplantation: Im 1. Rezidiv erwiesener Überlebensvorteil gegenüber konventioneller Chemotherapie; 50% lang anhaltende Remissionen 4 Bei älteren Patienten mit Kontraindikationen gegen Hochdosistherapie konventionelle Zweitlinienchemotherapie (überwiegend palliativ): Kombinationstherapie (Schemata wie Induktion von Hochdosistherapie) oder Monotherapie (besser verträglich!), ggf. Rituximab zusätzlich oder als Monotherapie 4 In Studien bei jüngeren Patienten: allogene Transplantation, verschiedene immunologisch begründete Therapien (Antikörper etc.), Lenalidomid 4 Refraktäre Erkrankung: 5 Palliative Strahlentherapie bei lokaler Symptomatik 5 Evtl. palliative orale Chemotherapie 5 Bei jüngeren Patienten ggf. Versuch der allogenen Transplantation (hohe therapiebedingte Mortalität, nur in Studien)
Lymphome des Gastrointestinaltrakts 4 Häufigste extranodale Lymphome 4 Vor allem MALT (»mucosa associated lymphoid tissue«): mukosaassoziiertes lymphatisches Gewebe, BZell-Lymphom 4 Etwa 50% Primärlokalisation im Magen (50–80%), viel seltener Dünndarm und Dickdarm 4 Infektion mit dem Keim Helicobacter pylori spielt beim Magenlymphom eine ursächliche Rolle 4 Niedrigmaligne MALT des Magens: 5 In frühen Stadien kann medikamentöse Helicobacter-pylori-Eradikation zur kompletten Remission führen (ca. 70%) 5 Bei ausbleibendem Erfolg der Eradikation und Helicobacter-negativen MALT: In frühen Stadien perkutane Bestrahlung, bei fortgeschrittener Erkrankung Chemotherapie (z. B. Bendamustin, COP, CHOP), evtl. zusätzlich Rituximab; bei älteren Patienten auch Monotherapien
4 Hochmaligne MALT: 5 Kombinationstherapie mit Rituximab und CHOP (Immunchemotherapie) 5 Operation nicht mehr indiziert, nur noch bei Komplikationen
47.5.6
Prognose
4 Abhängig von Lymphomtyp, Lebensalter, Stadium und Fehlen oder Vorhandensein von B-Symptomen 4 Günstiger bei jüngeren Patienten, niedrigen Ann-Arbor-Stadien und fehlender B-Symptomatik 4 Überleben nach Risikoscore 7 oben (»Prognosefaktoren«)
Indolente Lymphome 4 Abhängig von Stadium und Histologie, Spontanverlauf häufig langsam über viele Jahre 4 Remissionen durch Therapie häufig, aber wegen Rezidivneigung selten Dauerheilung 4 Frühstadien durch Radiotherapie evtl. heilbar: 5-Jahres-Überleben 60–80% 4 Fortgeschrittenere Stadien: 5-Jahres-Überleben etwa 50%
Aggressive Lymphome 4 Unbehandelt rascher Progress 4 Durch kombinierte Chemo- und Antikörpertherapie (Immunchemotherapie) auch in fortgeschrittenen Stadien heilbar 4 5-Jahres-Überleben insgesamt: 40–50% 4 Bei Fehlen von Risikofaktoren (7 oben) und Vollremission durch Therapie: 5-Jahres-Überleben bis >80% 4 Bei hohem Risiko 5-Jahres-Überleben 20–30%
47.5.7
Nachsorge
Indolente Lymphome Ziele 4 Beobachtung des Krankheitsverlaufs und Beurteilung der Behandlungsbedürftigkeit 4 Erkennen von Komplikationen als Folge der Therapie und von tumorunabhängigen Begleiterkrankungen (meist ältere Patienten!) 4 Erkennen von Zweitneoplasien nach vorausgegangener Chemotherapie und/oder Bestrahlung 4 Psychosoziale Rehabilitation und Betreuung
47
788
Kapitel 47 · Leukämien und Lymphome
Untersuchungen
47
4 Risiko- und situationsadaptierte Kontrolluntersuchungen: hauptsächlich körperliche Untersuchung mit Blutbild und Labor (Nieren- und Leberfunktion!); apparative Untersuchungen: ggf. Thoraxröntgen und Ultraschall (Leber, Milz, evtl. retroperitoneale Lymphknoten)
4 Ein leicht erhöhtes Risiko besteht bei 5 Strahlenexposition (10–30 Jahre vor Erkrankung) 5 Exposition gegenüber Pestiziden 5 HIV-Infektion 5 In Diskussion: erbliche Veranlagung
47.6.2
Aggressive Lymphome Ziele 4 Erkennen von behandelbaren Rezidiven 4 Erkennen von therapiebedingten Komplikationen (aggressive Chemotherapien!) 4 Erkennen von Zweitneoplasien nach vorausgegangener Chemotherapie und/oder Bestrahlung 4 Psychosoziale Rehabilitation und Betreuung
Untersuchungen 4 Standardisiertes Nachsorgeprogramm nur bei Patienten in Vollremission, sonst individuell und risikoadaptiert 4 In den ersten 3 Jahren alle 3 Monate (>90% aller Rezidive in dieser Zeit), im Jahr 4 und 5 alle 6 Monate, danach jährlich 4 Anamnese (B-Symptome? Unklare Beschwerden?), Routinelabor, Thoraxröntgen, Sonographie Abdomen
47.6
Multiples Myelom (Plasmozytom) A. Gaisser
Definition Multiples Myelom (Plasmozytom) Das multiple Myelom ist eine Erkrankung von ausgereiften, differenzierten Plasmazellen (antikörperbildende B-Lymphozyten), ausgehend von einer einzelnen Zelle (monoklonal). Es zählt zu den malignen Lymphomen. Die Tumorzellen bilden Paraproteine (antikörperähnliche Proteine) und verschiedene Zytokine, die das pathologische Geschehen fördern mit Beeinträchtigung der Blutbildung und des Knochenstoffwechsels.
Symptome
4 Meist schleichender, symptomarmer Beginn, oft Zufallsdiagnose 4 Häufigste Symptome: »Rheumatische« Beschwerden, Knochenschmerzen und Spontanfrakturen (durch Osteolysen) 4 Blutungsneigung, Anämie 4 Müdigkeit, Abgeschlagenheit 4 Infektionsneigung 4 Laborbefunde: 5 Paraproteine im Serum 5 Nierenfunktionsstörungen bis zur Niereninsuffizienz durch Ausscheidung von Bence-Jones-Protein (Leichtketten von pathologischen Immunoglobulinen) 5 Stark beschleunigte Blutsenkung 5 Leukopenie, Thrombozytopenie 5 Hyperkalzämie (durch Freisetzung von Kalzium aus den Knochen)
47.6.3
Diagnostik
Früherkennung 4 Früherkennung nur durch spezifische Untersuchungen möglich, kein Screening 4 Vorstadien (monoklonale Gammopathie unklarer Signifikanz; MGUS) werden manchmal zufällig entdeckt; in ca. 10% der Fälle innerhalb von 10 Jahren Übergang in ein multiples Myelom
Bei Verdacht auf multiples Myelom Ziel 4 Diagnosesicherung und Stadieneinteilung (Staging)
Laboruntersuchungen 47.6.1
Epidemiologie und Risikofaktoren
4 Jährlich etwa 3–5 Neuerkrankungen pro 100.000 Einwohner 4 Männer etwas häufiger betroffen 4 Altersgipfel im 7. Lebensjahrzehnt 4 Über 50% der Patienten sind bei Diagnose älter als 65 Jahre
4 Beckenkammpunktion: Knochenmarkzytologie und -histologie 4 Molekulargenetische und zytogenetische Untersuchung zur Differenzierung prognostischer Gruppen; mehrere prognostisch relevante Chromosomenveränderungen sind beschrieben 4 Elektrophorese/Immunelektrophorese bzw. Immunfixation → Nachweis von monoklonalem patholo-
789 47.6 · Multiples Myelom (Plasmozytom)
gischem Protein (Paraprotein), Charakterisierung von Schwer- und Leichtketten in Serum/Urin 4 Blutbild, Hämoglobin, BSG 4 Elektrolyte im Serum (Hyperkalzämie!) 4 β2-Mikroglobulin, LDH, Albumin, C-reaktives Protein (CRP) 4 Urinuntersuchung (Proteinurie, Bence-Jones-Protein) 4 Nierenfunktionsdiagnostik (Kreatininclearance) 4 Test auf freie Leichtketten im Serum
Apparativ 4 Röntgen von Schädel, Wirbelsäule, Becken, knöchernem Thorax, Oberarmen und Oberschenkeln oder Computertomographie (»low dose«) 4 MRT (Wirbelsäule/Ganzkörper) 4 Knochendichtemessung
47.6.4
Histologie
4 Entartete Plasmazellen (Endstufe der Differenzierung von B-Lymphozyten), die pathologische Immunglobuline (Paraproteine) produzieren
Prognosefaktoren 4 Proliferationsrate der Myelomzellen 4 Art und Ausmaß der zytogenetischen Abnormitäten: Prognostisch ungünstig sind insbesondere 13q-Deletion (Verlust des langen Arms von Chromosom 13), sowie 4;14-Translokation und 17p-Deletion (Verlust des kurzen Arms von Chromosom 17) 4 Ausmaß der Knochenmarkinfiltration 4 Serumwerte von LDH, CRP, β2-Mikroglobulin, Albumin (ungünstig: Erniedrigung) 4 Paraproteine vom Leichtkettentyp
47.6.5
Klassifikation und Stadieneinteilung
4 TNM-Klassifikation ist nicht möglich 4 Nach WHO-Klassifikation der malignen Lymphome reife B-Zell-Neoplasie 4 Gebräuchlich ist seit langem die Stadieneinteilung nach Durie u. Salmon (1975; . Tab. 47.7) 4 Das neue Internationale Staging-System (ISS; Greipp et al. 2005; . Tab. 47.8) ist eine Weiterentwicklung des Internationalen Prognostischen Index (IPI)
. Tab. 47.7. Stadieneinteilung nach Durie u. Salmon
Stadium
Anteil der Patienten
Kriterien
I
IA IB
0,5% 7,5%
Geringe Myelomzellmasse
Alle folgenden Kriterien erfüllt: 4 Hämoglobin >10 g/dl 4 Serumkalzium normal 4 ≤1 Osteolyse 4 Geringe Paraproteinkonzentration im Serum (IgG 12 g/24 h
Anhand der Nierenfunktion zusätzliche Klassifikation pro Stadium: A
Normale Nierenfunktion: Kreatinin 176 mmol/l)
47
790
Kapitel 47 · Leukämien und Lymphome
. Tab. 47.8. Internationales Staging-System ISS (nach Greipp et al. 2005)
47
Stadium
Anteil der Patienten
Parameter
I
28%
Serum-β2-Mikroglobulin 90% an der Haut lokalisiert
48.3.1
Epidemiologie und Risikofaktoren
4 Zum Vergleich: Die Inzidenz der anderen häufigen Hauttumoren (semimaligne Basaliome und maligne Spinaliome) liegt zusammen bei etwa 130 pro 100.000 und Jahr 4 Deutliche Zunahme in den letzten 30 Jahren 4 Mittleres Erkrankungsalter um das 60. Lebensjahr 4 Frauen sind geringfügig häufiger betroffen 4 Ursächlich ist ein Zusammenwirken von exogenen (UV-Strahlung!) und endogenen Risikofaktoren anzunehmen 4 Exogene Risikofaktoren 5 Intensive, intermittierende oder regelmäßige UVExposition (auch im Solarium!) 5 Intensive Sonnenexposition, insbesondere Sonnenbrände vor dem 15. Lebensjahr 5 Immunsuppressive Medikamente 4 Endogene Risikofaktoren 5 »Labilität« (Anfälligkeit, Instabilität) des Genoms der Melanozyten 5 Melanomerkrankung bei Verwandten 1. Grades (etwa 10% familiäre Disposition) oder in der eigenen Vorgeschichte 5 Heller Hauttyp (Typ I), blondes oder rotes Haar 5 Albinismus (keine Melaninbildung!) 5 Vitiligo (eine wahrscheinlich immunologisch bedingte Pigmentstörung der Haut) 5 Zahlreiche Nävuszellnävi (Pigmentflecken) 5 Sonstige Vorläuferveränderungen (z. B. große angeborene Nävi, erworbene atypische Nävi, Lentigo maligna)
48.3.2
Symptome
4 Überwiegend dunkle Hautveränderung, oft unregelmäßig begrenzt und uneinheitlich gefärbt, die an Größe zunimmt und/oder ihre Form oder Färbung verändert 4 Evtl. Nässen, Bluten oder Jucken (hochgradig melanomverdächtig!)
48.3.3
Diagnostik
Früherkennung Ziel 4 Diagnose des Melanoms in einem noch heilbaren Stadium
Durchführung 4 Bösartigste Form von Hautkrebs 4 In Mitteleuropa erkranken pro Jahr etwa 10 von 100.000 Menschen an einem Melanom
4 Gezielte Anamnese und sorgfältige Inspektion der gesamten Haut einschließlich der Kopfhaut, von Hautfalten und sichtbaren Schleimhäuten
48
800
48
Kapitel 48 · Seltenere solide Tumoren
4 Anleitung zur Selbstbeobachtung 4 Für die Beurteilung von Pigmentflecken gibt die ABCDE-Regel Hinweise: 5 A: Asymmetrie: unregelmäßige Form? 5 B: Begrenzung: unscharf? 5 C: Color: uneinheitliche Färbung? 5 D: Durchmesser: größer als 6 mm? 5 E: Elevation: >1 mm Erhabenheit über das Hautniveau? 4 Zusätzlich: 5 F: Farbveränderung? 5 G: Größenzunahme? 5 H: Hämorrhagien (Blutungen)? 5 J Juckreiz? 4 Je mehr dieser Kriterien vorhanden sind, desto wahrscheinlicher liegt ein Melanom vor
Untersuchungen bei Verdacht auf ein malignes Melanom 4 Auflichtmikroskopie (Epilumineszenzmikroskopie) mit 10–50-facher Vergrößerung → Beurteilung des Pigmentmusters 4 Bei unklaren klinischen Befunden evtl. hochauflösender Ultraschall → Relativ genaue Aussage zur Tumordicke möglich 4 Sicherheit gibt die histologische Untersuchung: 5 Exzision der ganzen verdächtigen Hautveränderung → Bestimmung von Melanomtyp, Tumordicke in mm, Eindringtiefe, Ulzeration, Arealen mit spontaner Tumorrückbildung, Einbruch in Lymph-, Blutgefäße und Nervenscheiden, Mikrosatelliten
Untersuchungen zur Stadieneinteilung 4 Bestimmung von Tumordicke (maximaler vertikaler Durchmesser in mm; nach Breslow) und Eindringtiefe (Level) nach Clarke 4 Ausbreitungsdiagnostik (empfohlen ab 1 mm Tumordicke): 5 Lymphknotensonographie des Lymphabflussgebietes 5 Ggf. Wächterlymphknotenbiopsie (Sentinel-nodeBiopsie) 5 Sonographie des Bauchraums 5 Thoraxröntgen 5 Ggf. Schädel-MRT (ab 1,5 mm Dicke) 5 Ggf. PET (v. a. bei Tumordicke >1,5 mm); kein Standard! 5 Labor: Routinelabor, LDH, alkalische Phosphatase, Leberenzyme, Serumprotein S-100 (Tumormarker)
48.3.4
Histologie
4 Melanozyten mit typischen Zeichen der Malignität (Kernveränderungen, Formvielfalt, häufige Mitosen, mehrkernige Zellen) 4 Man unterscheidet 4 Melanomtypen: 5 Superfiziell spreitendes Melanom (SSM, etwa 60%): horizontales Wachstum 5 Noduläres Melanom (NMM, etwa 20%): vertikales Wachstum 5 Akrolentiginöses Melanom (ALM, etwa 5%): v. a. Handteller, Fußsohlen, Nägel 5 Lentigo-maligna-Melanom (LMM, etwa 10%): häufig Gesicht, Kopfhaut (chronisch lichtexponierte Partien)
48.3.5
Klassifikation und Stadieneinteilung
4 Die Klassifikation erfolgt nach der TNM-Klassifikation (7. Auflage 2010) 4 Die pT-Klassifikation (p: pathologisch, postoperativ; . Tab. 48.5) des Primärtumors berücksichtigt folgende Kriterien: 5 Tumordicke nach Breslow: Gemessen wird die vertikale Tumordicke mittels eines geeichten Mikroskops; die Messung erfolgt in mm von 4 mm 5 Tumormitoserate pro mm2: Wird herangezogen für die Klassifikation von T1-Tumoren, 2 mm und ≤4 mm IIIC
T1b–4b
N1b, N2b
M0
Jedes T
N3
M0
Jedes T
Jedes N
M1
a: Ohne Ulzeration b: Mit Ulzeration IV T4
Tumor >4 mm a: Ohne Ulzeration b: Mit Ulzeration
48.3.6
Therapie
pN
Regionäre Lymphknoten
Übersicht
pN0
Kein Lymphknotenbefall
pN1
1 regionärer Lymphknoten befallen
4 Früherkennung bietet die beste Heilungschance! 4 Kurativ ist allein die vollständige chirurgische Entfernung des Tumors mit einem an der Tumordicke orientierten Sicherheitsabstand (0,5–2 cm) 4 Vorgehen heute meist zweizeitig: Exzision zur Diagnosesicherung, dann ggf. Nachresektion 4 Sentinel-node-Biopsie oder radikale Lymphknotenentfernung je nach Befund 4 Ggf. adjuvante Strahlentherapie 4 Ggf. adjuvante medikamentöse Systemtherapie mit Interferon alpha 4 Bei Lokalrezidiv erneute chirurgische Therapie 4 Bei Metastasierung ggf. Operation einzelner Fernmetastasen, evtl. Strahlentherapie, evtl. palliative Systemtherapie (Chemotherapie, Immuntherapie oder Chemoimmuntherapie)
a: Mikroskopisch (nach Sentinel-Lymphknotenbiopsie, klinisch nicht erkennbar, auch immunhistochemisch nachgewiesene einzelne Tumorzellen) b: Makroskopisch (erkennbar, pathologisch bestätigt) pN2
2 oder 3 regionäre Lymphknoten befallen a: Mikroskopisch b: Makroskopisch c: Satellit(en)* oder In-transit-Metastase(n)** ohne Lymphknotenbefall
pN3
4 oder mehr regionäre Lymphknoten befallen oder verbackene Lymphknoten oder In-transit-Metastas(en) und regionäre Lymphknotenmetastasen
M
Fernmetastasen
M1
a: Fernmetastasen in Haut, Unterhaut oder nicht regionären Lymphknoten b: Lungenmetastase(n) c: Alle anderen viszeralen Fernmetastasen ohne erhöhte LDH oder jede Fernmetastasierung mit erhöhter LDH
* Satelliten sind Tumornester oder -knoten (makroskopisch oder mikroskopisch) innerhalb eines Abstands von 2 cm vom Primärtumor. ** In-transit-Metastasen sind Metastasen der Haut oder Subkutis, die mehr als 2 cm vom Primärtumor entfernt, aber nicht jenseits der regionären Lymphknoten liegen. LDH=Laktatdehydrogenase.
Chirurgie 4 Vorrangige und einzige kurative Therapie! 4 Vollständige Entfernung des Primärtumors und auch etwaiger Satelliten- bzw. In-transit-Metastasen 4 Der Primärtumor wird, abhängig von der Tumordicke, mit einem Sicherheitsabstand von 0,5 cm (In-situ-Karzinom) bis maximal 2 cm (bei Tumordicke >2 mm) ausgeschnitten; meist in Lokalanästhesie möglich 4 Bei klinisch freien Lymphknoten ab 1 mm Tumordicke Sentinel-node-Biopsie (Wächterlymphknotenbiopsie), bei ungünstigen Prognosefaktoren auch bei dünneren Melanomen
802
Kapitel 48 · Seltenere solide Tumoren
4 Bei klinisch oder durch Sentinel-node-Biopsie nachgewiesenem Lymphknotenbefall radikale bzw. modifiziert radikale Lymphadenektomie 4 Hautmetastasen und solitäre Organmetastasen (Gehirn, Lunge, Weichteile) werden nach Möglichkeit operiert
Strahlentherapie
48
4 Bei Inoperabilität oder ergänzend bei R1-Resektion bzw. ausgedehnten In-transit-Metastasen 4 In der Primärtherapie ggf. stereotaktische Bestrahlung solitärer Hirnmetastasen 4 Palliativ v. a. bei Metastasen in Skelett, Haut, Lymphknoten und Gehirn (20–30 Gy)
Medikamentöse Therapie 4 Adjuvante Systemtherapie mit Interferon alpha ab 1,5 mm Tumordicke und bei Lymphknotenbefall (erhöhtes Metastasierungsrisiko) möglicherweise von Vorteil bezüglich des rückfallfreien Überlebens (evtl. auch bezüglich Gesamtüberleben); bevorzugt Therapie in Studien! 4 Optimale Therapiedauer noch nicht gesichert, aktuell empfohlen 18 Monate 4 Alternativ kurzdauernde Hochdosis-Interferontherapie mit oder ohne Erhaltungstherapie 4 Bei Rezidiv je nach Situation erneute Resektion, evtl. Strahlentherapie mit Hyperthermie (in Studien) 4 Die Wirksamkeit einer palliativen medikamentösen Therapie bei Metastasierung ist begrenzt: 5 Wirksam sind v. a. Dacarbazin (DTIC), Fotemustin, Temozolomid, Vindesin, Interferon alpha, Interleukin 2 5 Ansprechrate bei Monotherapie maximal 25% 5 Kombinationstherapien (Polychemotherapie oder Chemoimmuntherapie) zeigen höhere Ansprechraten (bis 45%), sind aber nebenwirkungsreicher und ohne Vorteil bezüglich Überlebenszeit 4 Deshalb gilt: Palliative Systemtherapie nur bei Beschwerden! 4 Bei auf eine Extremität beschränkter ausgedehnter Hautmetastasierung evtl. isolierte hypertherme Extremitätenperfusion mit Melphalan (hohe Remissionsraten) 4 In Studien: Immuntherapien wie Vakzinetherapien mit Peptiden oder dendritischen Zellen, T-Zell-Transfer
48.3.7
4 10-Jahres-Überleben nach Tumordicke: 5 bis 1 mm: >90% 5 1–2 mm: 80% 5 2–4 mm: 60–65% 5 >4 mm: 50% 4 Fernmetastasierung: 2-Jahres-Überleben je nach Metastasenlokalisation und LDH 20–45% 4 Da heute die meisten Patienten in frühen Stadien zur ersten Diagnose kommen, sind die Heilungsergebnisse insgesamt wesentlich besser geworden
48.3.8
Nachsorge
Ziele 4 Erfassung therapiebedingter Komplikationen 4 Frühzeitige Erkennung von Rezidiven 4 Frühzeitige Erkennung von Zweitmelanomen (8% innerhalb von 2 Jahren nach Erstdiagnose)
Untersuchungen 4 Art und Intervalle der Nachuntersuchungen je nach Stadium und Rückfallrisiko (kein allgemein anerkanntes Schema) 4 In den ersten 3–5 Jahren intensiver, da 9 von 10 Rezidiven in diesem Zeitraum auftreten 4 Anamnese, klinische Untersuchung (gesamte Haut und Lymphknoten) 4 Apparative Untersuchungen ohne gesicherten Nutzen 4 Labor: Alleinig geeignet ist das Serumprotein S100 4 Instruktion des Patienten: Selbstbeobachtung (Haut und Lymphknoten), intensive Sonnenbestrahlung vermeiden 4 Ggf. psychosoziale Unterstützung
48.4
CUP-Syndrom (Metastasen bei unbekanntem Primärtumor) A. Gaisser
Definition CUP-Syndrom Histologisch oder zytologisch gesicherte Metastase(n) eines auch durch intensive Diagnostik nicht nachweisbaren soliden Primärtumors.
Prognose 48.4.1
4 Die Heilungswahrscheinlichkeit wird von der Vollständigkeit der Tumorentfernung und vom Stadium bei Diagnosestellung bestimmt 4 Wichtigstes prognostisches Kriterium ist die Tumordicke
Name und Synonym
4 CUP: von engl. »cancer of unknown primary« = Karzinom mit unbekanntem Primärtumor 4 Synonym TUO: von engl. »tumor of unknown origin«
803 48.4 · CUP-Syndrom (Metastasen bei unbekanntem Primärtumor)
48.4.2
Epidemiologie
4 2–4% aller Krebserkrankungen, in onkologischen Zentren 5–10% 4 Altersgipfel 6. und 7. Lebensjahrzehnt 4 Männer sind etwas häufiger betroffen 4 Ursachen und Entstehungsmechanismen weitgehend unklar
Biologische Besonderheiten 4 Spezielles Wachstumsverhalten: Metastasen wachsen schneller als der Primärtumor 4 Atypische Metastasierungswege und -orte, die den Rückschluss auf den Sitz des Primärtumors erschweren 4 In 80% der Fälle bei Diagnosestellung bereits disseminierte Metastasierung 4 Besonderes Spektrum von wahrscheinlichen Primärtumoren: am häufigsten Bronchial- und Pankreaskarzinome (20–30% bzw. 15–25%)
48.4.3
Symptome
Keine spezifischen Symptome Abhängig von Lokalisation der Metastasen und der Ausbreitung der Erkrankung 4 Evtl. allgemeine Krankheitszeichen 4 Evtl. paraneoplastische Syndrome
48.4.4
Diagnostik
Ziele 4 Unterscheidung von lokalisierten und disseminierten Krankheitsbildern 4 Erfassung von Erkrankungen, die mit Systemtherapie potenziell heilbar sind: Keimzelltumoren und maligne Lymphome 4 Erfassung von Erkrankungen, die durch Resektion potenziell heilbar sind 4 Erfassung von Erkrankungen, die durch bestimmte Systemtherapien gut in palliativer Absicht behandelt werden können: immunhistochemische Untersuchungen, besonders im Hinblick auf Identifizierung von Mamma-, Ovarial-, Prostatakarzinom u. a. 4 Primärtumorsuche 4 Merke: Der Primärtumor wird nur in 10–20% der Fälle zu Lebzeiten des Patienten entdeckt! 4 Diagnostik hat weniger das Ziel der lokalen Therapie als der Identifizierung der geeigneten systemischen Behandlung
Vorgehen 4 Die Primärtumorsuche sollte so wenig aufwendig und belastend wie möglich sein und sich an den möglichen therapeutischen Konsequenzen orientieren → Keine ungezielte Maximaldiagnostik! 4 Sorgfältige persönliche Anamnese (frühere diagnostische/therapeutische Eingriffe, Risikofaktoren, Symptome wie Husten, Änderungen der Ess- und Stuhlgewohnheiten, Blutungen etc., Frage nach Leitsymptomen wahrscheinlicher Primärtumoren) 4 Familienanamnese (Frage nach häufig aufgetretenen bzw. hereditären Tumoren) 4 Gründliche körperliche Untersuchung 4 Histologie/Zytologie der Metastase(n), Hormonrezeptorbestimmung 4 Bildgebung: Untersuchung v. a. der Organe, die aufgrund der Metastasenlokalisiation als Ursprungsort in Frage kommen
Basisprogramm 4 4 4 4
Thoraxröntgen (ggf. CT) Sonographie des Bauchraums (ggf. CT) Bei Frauen Mammographie und vaginale Sonographie Labor: Stuhltest auf okkultes Blut, Urin- und Sputumzytologie, Tumormarker (v. a. AFP, β-HCG, PSA, Kalzitonin, ggf. bei konkreter Fragestellung CEA, CA 199, CA 15-3, CA 125 7 Kap. 5 »Tumordiagnostik«), LDH (Erhöhung prognostisch ungünstig)
Histologische/zytologische/immunhistologische Untersuchungen 4 Wegweisend für die weitere Diagnostik und für die Therapie! 4 Entnahme von ausreichend Material zur Untersuchung, aber so wenig invasiv wie möglich, vorzugsweise durch Zytopunktion 4 Versuch der Zuordnung zu einem Gewebetyp bzw. einem Organsystem 4 Immunhistochemische Untersuchung auf Merkmale/ Antigene, die einen Rückschluss auf den Primärtumor erlauben (Hormonrezeptoren, Zellskelettmarker, tumor- bzw. organsystemassoziierte Antigene)
Weiterführende Diagnostik 4 Sinnvoll v. a. bei regional begrenzter Erkrankung: potenziell kurative Therapie! 4 Ggf. endoskopische Untersuchungen (Magen, Darm, Bronchien), Skelettszintigraphie oder MRT, PET oder PET-CT
48
804
48.4.5
48
Kapitel 48 · Seltenere solide Tumoren
Histologie
4 Am häufigsten Adenokarzinome: 40–60% (Primärtumorlokalisation u. a. Magen-Darm-Trakt, Pankreas, Leber- und Gallenwege, Mamma, Prostata) 4 Weiterhin in absteigender Folge: 5 Undifferenzierte Karzinome (20–30%), 5 Plattenepithelkarzinome (15–20%), 5 Kleinzellige Karzinome, neuroendokrine Karzinome, Melanome, andere (jeweils unter 5%)
48.4.6
Klassifikation und Stadieneinteilung
4 Bei reduziertem Allgemeinzustand und fortgeschrittenem biologischem Alter palliative und symptomatische Therapie mit Hauptziel Erhaltung der Lebensqualität 4 Bei Nachweis des Primärtumors erfolgt die krankheitsspezifische und stadiengerechte Behandlung, ggf. mit lokaler radikaler Therapie
Gruppe I: Lokal begrenzte Manifestation 4 Bei lokal begrenzter bzw. solitärer Metastasierung ggf. radikale lokale Therapie mit Operation und/oder Bestrahlung 4 Je nach Sitz und Histologie der Metastasen evtl. zusätzliche regionale oder systemische Chemotherapie
Gruppe II: Primär disseminierte Manifestation 4 TNM-Klassifikation ohne Nachweis des Primärtumors nicht möglich 4 Klassifikation entsprechend den Befunden der histologischen/zytologischen Untersuchungen und Einteilung in 3 prognostische Gruppen: 5 Gruppe I: – Primär lokal begrenzte Erkrankung (solitäre Metastase in einem Lymphknoten oder extranodal) – Etwa 20% 5 Gruppe II: – Primär disseminierte Erkrankung (Organ- und Lymphknotenmetastasen) – Etwa 70% 5 Gruppe III: – Primär disseminierte Erkrankung – Höheres Alter (>70 Jahre) – Schlechter Allgemeinzustand – Ungünstige Prognose – Etwa 10%
48.4.7
Therapie
4 Ggf. palliative Operation 4 Ggf. Strahlentherapie 4 Primär systemische Therapie, ausgerichtet nach den möglichen Primärtumoren (Histologie!) und hier nach dem chemotherapiesensibelsten möglichen Primärtumor 5 Bei hormonabhängigen Tumoren antihormonelle Therapie 5 Bei gänzlich fehlendem Hinweis auf mögliches Ursprungsgewebe: ggf. Platin-Taxan-Kombination (v. a. Paclitaxel) 4 Zusätzlich geeignete symptomatische und supportive Therapie
Undifferenziertes und wenig differenziertes Adenokarzinom 4 Guter Allgemeinzustand, Männer