Ohne Pfeil und Bogen: Ganzheitliche Pädagogik bei Heinrich Jacoby 3721406931


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German Pages 144 [148] Year 1998

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Ohne Pfeil und Bogen: Ganzheitliche Pädagogik bei Heinrich Jacoby
 3721406931

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Walter Biedermann, aufgewachsen in

Winterthur. Studium an der Universität Zürich (Dr. ehern.) 1948 - 52 Landwirtschaftliche Forschungsanstalt Wädenswil, 1952 - 1983 Basler Industrie (Farbenforschung). 1944 Begegnung mit Heinrich Jacoby. Besuch mehrerer Kurse 1950 - 1960. Befasst sich intensiv mit dem Werk Jacobys und setzt sich für die Verbreitung seines Gedankenguts ein. 1993 erschien «Unmusikalisch ... ? Die Musikpädagogik von Heinrich Jacoby».

Walter Biedermann Ohne Pfeil und Bogen

Heinrich Jacoby (1889 -1964)

Walter Biedermann

Ohne Pfeil und Bogen Ganzheitliche Pädagogik bei Heinrich Jacoby

Clratio Verlag

© 1998 Oratio Verlag GmbH, oratio books CH-8200 Schaffhausen Alle Rechte vorbehalten Die Reproduktion der Zeichungen erfolgte ab Fotografien: © Foto Teuwen, Basel Druck: Freiburger Graphische Betriebe ISBN 3-7214-0693-1

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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.. . . . . . . ,. . . . . . . .. . . . .. . .

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Fortsetzungskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Berichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Biographie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Helldunkel-Versuche des Autors . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einführungskurs

Nachwort

Vorwort

Kennen Sie Eugen Herrigels Buch »Zen in der Kunst des Bogenschiessens«? Herrigel berichtet von seinem mehrjährigen Aufenthalt in Japan zwischen 1930 und 1940. Sein Interesse galt dem Zen, jener alten, spirituellen japanischen Tradition. Einen Zugang fand er durch den Unterricht beim berühmten Meister Kenzo Awa. Solcher Unterricht führt zu einer »Begegnung mit sich selbst«, sowohl auf der körperlichen wie nichtkörperlichen Ebene: beim Zen verschwindet diese Grenze. Von Herrigels Buch hörte ich in einem Kurs bei Heinrich Jacoby. Es ging ihm nicht um Zen, und er besass weder Pfeil noch Bogen. Aber - neben deutlichen Unterschieden - waren gewisse Anklänge nicht zu verkennen. Auch Jacoby zielte auf Selbstbegegnung, und auch er verstand den Körper- und Nichtkörperbereich als Einheit. »Selbstbegegnung« ist freilich ein anfechtbares Unterfangen, dann nämlich, wenn sich das Interesse auf die eigene Person beschränkt, wenn die Umgebung zweitrangig wird. Jacoby wollte etwas anderes: Hindernisse wegräumen, welche den Zugang zu verborgenen eigenen Möglichkeiten versperren; daraus sollte - das eigentliche Anliegen Jacobys - eine Öffnung resultieren, eine Hinwendung sowohl gegenüber den Mitmenschen wie auch bezüglich den Anforderungen aus der Umwelt. Der Kurs, über den ich erlebnishaft berichte, fand im Winter 1950/51 statt. In der Zwischenzeit hat sich die Gesellschaft verändert; damalige Probleme sind entschärft, dafür bedrängen uns neue. Trotzdem: Jacobys Vorgehen, seine »Schüler«

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zu interessieren, zu motivieren und zu mobilisieren, hat seine einzigartige Bedeutung nicht eingebüsst. Obschon Jacobys Pädagogik in letzter Zeit bekannter geworden ist, findet sie noch nicht die ihr gebührende Beachtung. Anliegen meines Buches ist es, dem Leser in gedrängter Form einen ersten Kontakt zu vermitteln; anschliessend werden am Beispiel des Autors - Auswirkungen des Kurses dokumentarisch aufgezeigt (Abschnitt »Berichte«). - Auf die bereits bestehende Literatur wird am Schluss hingewiesen.

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Einführungskurs

Erste Begegnung Es ist mehr als 50 Jahre her, dass ich Jacoby zum ersten Mal begegnete. Freunde hatten mir den Kontakt ermöglicht. Er trug einen unauffälligen, grauen Anzug, war klein und grauhaarig. Sein Kopf war eigenartig und eindrücklich, der Blick aufmerksam. Er wirkte sehr gesammelt, sein Alter war schwer zu erraten. Er führte mich in ein geräumiges, modernes aber unaufdringliches Zimmer. Ich hatte gehört, dass Jacoby, der ursprünglich Musiker war, Kurse für Erwachsene gab, bei denen es um Begabungsfragen ging. Mein eigenes Problem, das mich dorthin trieb, waren Zweifel am Beruf. Obschon mein Chemiestudium schon ziemlich fortgeschritten war, plagte mich eine Neigung zur Musik als dauernder Stachel. Ich erhoffte mir eine Beurteilung, vielleicht ein Urteil. An die Einzelheiten des Gesprächs kann ich mich nicht erinnern. Es war jedenfalls so eindrücklich, dass ich wieder und wieder zu Jacoby ging, in grossen zeitlichen Abständen freilich. Ich spielte ihm Klavierstücke vor und merkte, dass er nicht begeistert war. »Ihre Finger bewegen sich schneller, als Ihre Ohren zu folgen vermögen« sagte er, und »Improvisieren Sie?« (eine Frage, deren Bedeutung mir erst viel später deutlich wurde). Einmal: »auf dem Gebiet der Musik hätten Sie über Jahre die Arbeit eines Stiefelputzers zu leisten«. Dann setzte er sich an den Flügel und improvisierte. Ich war fasziniert, ich habe seither nie mehr auf ähnlichem Niveau improvisieren gehört. Er erschien mir als Zauberer. »Musik als Hobby ist vielleicht ebenso schön« 9

sagte der Zauberer. Sie wurde mein Hobby, ich blieb bei der Chemie. Eines Tages erhielt ich eine gedruckte Einladung zu einem »Einführungskurs«. Ich meldete mich an, freilich ohne zu ahnen, mit welch tiefgreifenden Folgen.

Der erste Kursabend Der Kurs fand in Jacobys Wohnung statt, in jenem sehr geräumigen Zimmer, das ich bereits kannte. Den Boden bedeckte ein grauer Spannteppich, ein Flügel stand da, daneben eine Pauke. Auf dem Flügel Blumen, an den Wänden volle Büchergestelle, jedoch keine Bilder, einzig die Totenmaske von Pestalozzi. In zwei Ecken befand sich eine grössere Zahl von Hockern, alle ohne Lehne. Der Eindruck war sachlich, aber nicht kalt. Die Teilnehmer kannten sich nicht, es waren zehn Männer und zwölf Frauen im Alter von etwa 25 bis 50 Jahren. Die Hocker wurden in Reihen gestellt, die Sitze eingenommen, und Jacoby setzte sich gegenüber. Er begrüsste jeden Anwesenden, indem er seinen Namen langsam aussprach und etwas wartete, wahrscheinlich um selbst mit ihm in Kontakt zu kommen und auch, um ihn der Runde vorzustellen. Ich hatte erwartet, dass nun über die Kursthemen gesprochen werde, oder vielleicht über den Weg, welchen Jacoby bei seiner Arbeit durchschritten hatte. Davon jedoch nichts. Statt dessen sprach er über das »Ankommen«, welchen Ausdruck er offensichtlich in doppeltem Sinne verstand: das physische Erscheinen im Kurs und vor allem die Einstellung jedes Teilnehmers auf das, was ihn erwartete, bzw. den Zustand, in welchem man sich befindet. Er erkundigte sich ferner - und dies berührte mich seltsam - ob man die auf dem

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Kursthemen aufwiedergegebenen Einladungsschreiben merksam gelesen habe (er setzte dies offenbar nicht als selbstverständlich voraus). Und weiter wollte er wissen, ob nicht die Fragen, die er stelle, eine gewisse Beunruhigung oder Angst auslösen würden, weil man die Antwort vor einem Publikum zu geben hätte (Beunruhigung war auch deshalb naheliegend, weil ein zentrales Mikrofon aufgestellt war, über welches alle Gespräche auf Tonband aufgenommen wurden, eine damals noch sehr ungewohnte und progressive Massnahme). Jacoby begann also - und das sollte sich als charakteristisch erweisen - mit dem Nächstliegenden, mit etwas, worüber alle bereits verfügten und wodurch keiner sich überfordert fühlte. Und er begann - was wir nicht wissen konnten - mit einem sehr zentralen Thema: dem Verhalten in einer noch ungewohnten Situation (hier: Sprechen vor dem Mikrofon). Es versteht sich, dass viele Teilnehmer begonnen hatten, Notizen zu machen. »Schreiben Sie nichts auf! Lernen Sie nichts!« sagte Jacoby eindringlich. Damit war ein weiteres Thema von grundlegender Bedeutung berührt: die Frage Selbstvertrauen, und hier im besondern das Vertrauen, etwas Gehörtes behalten zu können. Eine zuversichtliche Haltung wäre bei Kindern noch selbstverständlich, gehe aber durch Erziehung und Schule meistens verloren. - Übrigens eigne sich der Kurs nicht gut zum Protokollieren. Denn man werde - für manche vielleicht beunruhigend - von einem Thema zum andern springen, gewisse Fragen erst allmählich einkreisen und auf die wesentlichen Dinge immer wieder zurückkommen. Noch etwas empfahl Jacoby: Wenn bei einem Teilnehmer eine Frage auftauche, solle er dieselbe nicht speichern, sondern gleich vorbringen. Denn durch »Besetzt-sein« mit hängigen Fragen würde die Aufmerksamkeit für die laufende Diskussi11

on leiden. Dabei gebe es keine sogenannten »dummen Fragen«. Als ich an diesem Abend nach Hause zurückgekehrt war, suchte ich mir ein Notizbuch. Ich fand ein kleines blaues Oktavheftchen und schrieb auf die erste Seite: »7. Nov. 1950. Das Ankommen. Änderung des Zustandes durch eine Frage (Angst), d.h. durch die Situation, einem Publikum zu antworten. Notizen machen: »Lernen Sie nichts«. Methode des Springens = beunruhigend. Schule, Erziehung; Vertrauen: zu andern oder zu sich selbst; nicht improvisieren (d. h. sich ängstlich vorbereiten) ist ein Mangel an Vertrauen zu sich.« Solche Fragmente trug ich nach jedem Kursabend ein, einige Texte waren etwas länger, andere sogar noch kürzer. Aus dem jeweils ziemlich umfangreichen zweistündigen Stoff griff ich das heraus, was für mich aktuell war. Diese Notizen bilden nach jahrzehntelanger Lagerung in einer Schublade die Grundlage für den vorliegenden Bericht. Im Unterschied zum Tonbandprotokoll 1 handelt es sich also um Schlaglichter.

2. Abend Ein Bedürfnis nach kreativer Betätigung ist heute überall sichtbar, und die Freizeitindustrie trägt solchen Wünschen Rechnung. Das war nicht immer so und ist doch älter als man denkt. Bereits 1925 hielt Jacoby einen Vortrag mit dem Titel »Die Befreiung der schöpferischen Kräfte, dargestellt am Bei-

1 Seit 1980, also lange nach Jacobys Tod, erschienen im Christians-Verlag, Hamburg, drei gekürzte Tonbandprotokolle in Buchform: »Jenseits von Begabt und Unbegabt« (das Standardwerk); »Musik, Gespräche, Versuche«; »Erziehen, Unterrichten, Erarbeiten«. Hingegen handelt es sich bei »Jenseits von Musikalisch und Unmusikalisch« um gesammelte frühe Publikationen Jacobys (siehe auch die Bibliografie am Schluss des Buches).

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spiel der Musik«. Schon damals war also - zumindest in Fachkreisen - ein Interesse vorhanden 1 . Der 2. Kursabend nahm auf diese frühen Arbeiten Bezug, freilich ohne Hinweis auf ihre Publikation. Schöpferische Kräfte schlummern in jedem Menschen, sind aber häufig verschüttet. Verschüttet durch ungeeignete Erziehung, durch Entmutigung. Erstaunlich jedoch, dass sich Kreativität bei Erwachsenen auch nach vielen Jahren wieder freilegen lässt. Zu wünschen wäre, dass die schöpferischen Fähigkeiten gar nie zugedeckt würden. Kinder wären - sofern man sie gar nicht erst störte - kreativ, d.h. zu Leistungen befähigt, die wir als Ausfluss besonderer Begabungen betrachten. So gesehen haben »Begabungen« - falls man an diesem Ausdruck überhaupt festhalten will - immer auch gesellschaftliche Vorbedingungen und sind nicht einfach angeboren. Letzteres ist einer der Kernpunkte unter Jacobys Thesen. Derartige Ansichten sind heute weniger fremd als 1950 oder gar 1910-15, in der Zeit, da Jacoby zu ihnen gelangt war. Er erkannte bald die Notwendigkeit, seine Behauptungen unter Beweis zu stellen und experimentierte durch viele Jahre mit Kindern und Erwachsenen. An diesem 2. Kursabend nun brachte Jacoby die drei wichtigsten Stützen für seine Thesen (es war das einzige Mal, dass er schulähnlich aufzählte) 1. Die Leistungen von kleinen Kindern 2. Die Leistungen von Behinderten 3. Seine Versuche mit Menschen, die als unbegabt galten 1 Jacobys Vortrag - wiedergegeben in »Jenseits von Musikalisch und Unmusikalisch« - wurde auf einem internationalen Kongress in Heidelberg gehalten. Das Kongressthema war charakteristisch für die damalige Reformpädagogik und lautete: »Die Befreiung der schöpferischen Kräfte beim Kinde«.

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Dies vorerst als Andeutung. Grassen Wert legte er offensichtlich darauf, dass es sich nicht um seine persönlichen Ansichten handle, sondern um nachprüfbare Fakten. Im Kurs würde es nun gerade darum gehen, solche Vorstellungen zu verifizieren. Das hatte - wie ich erst viel später erkannte - eine doppelte Bedeutung. Einerseits konnte sich der Vorgang der Nachprüfung auf den Teilnehmer selbst sehr günstig auswirken. Andrerseits sah Jacoby hier wohl die beste Möglichkeit, seinen Ansichten zum Durchbruch zu verhelfen, hat er doch nach seinen wenigen Publikationen zwischen 1920 und 1930 keine Schriften mehr veröffentlicht. Inwiefern sind solche Ideen heute noch aktuell? Sind sie nicht durch eine weltweite moderne Pädagogik eingeholt und assimiliert worden? Die Antwort ist differenziert zu geben. Sicher gibt es heute ein lebendiges Interesse für pädagogische Fragen, eine Offenheit und Hochschätzung gegenüber allem Kreativen, ein starker Abbau der erzieherischen Dressur hat stattgefunden. Trotzdem sind Jacobys Konzepte nicht überholt; sie sind es schon deshalb nicht, weil er sich fast ausschliesslich an die Erwachsenen wandte. Zwar ging es ihm zunächst um ein möglichst fundiertes Verständnis des Kindes, woraus sich erst die Formen des Erziehens und des Unterrichtens ableiten. Das Wichtigste aber ist, dass der Erzieher/Lehrer sich selbst auf den Weg macht, nämlich sich in Situationen des Experimentierens und Erarbeitens begibt und dadurch zu einer bewussten Nachentfaltung gelangt. Jacoby war überzeugt, dass eine solch bewusste Auseinandersetzung die Chance bringt, gezielt zum guten Erzieher/Lehrer zu werden, während auf konventionellem Weg die guten Lehrer Glücksfälle darstellen. Kaum eine pädagogische Richtung enthält so eindeutige Forderungen an den Erwachsenen. Dieser steht zunächst im Zentrum, übrigens noch aus einem weiteren Grunde: Jacoby lehnte es fast immer ab, Personen in seine Kurse zu nehmen, die in 14

einer Ausbildung standen. Er wusste, dass sie durch Weckung von Zweifeln und Kritik desorientiert würden, wodurch ihr erfolgreicher schulischer Abschluss gefährdet worden wäre. Das wollte er unbedingt vermeiden. An dieser Stelle sollte ich auf einen Punkt vor Kursbeginn hinweisen. Die Einladung wurde von der »Vereinigung zur Förderung der Begabungsforschung« versandt. Sie enthielt eine gedrängte, eher umständliche Angabe des Programms 1 . Wer sich anmeldete, wusste also, dass es um Begabung ging, besser um Begabungsproblematik, denn das Wort »Begabung« war stets in Anführungszeichen gesetzt. Anhand praktischer Versuche sollten die Bedingungen des »Begabtseins« erarbeitet werden. Dabei standen die Verhaltensweisen im Vordergrund. Ihre Bedeutung für Alltag, Beruf, Erziehung und Unterricht sollte geklärt werden. Der Kurs wurde »Arbeitsgemeinschaft« genannt. Pro Woche sollte an zwei Abenden jeweils zweistündig gearbeitet werden (also 4 Stunden pro Woche). Eine so hohe Intensität wurde als unbedingt notwendig erachtet. Wer sich anmeldete, verpflichtete sich zur »regelmässigen Mitarbeit für die ganze Kursdauer«. Das Kursgeld war ausserordentlich niedrig.

1 24 zweistündige Arbeitsgemeinschaften bringen eine Einführung in die Ergebnisse der Untersuchungen Heinrich jacobys . Es wird der entscheidende Einfluss aufgezeigt, den die Qualität des eigenen Zustandes und Verhaltens auf die Qualität aller unserer Eindrücke, Wahrnehmungen, Äusserungen und Leistungen ausübt. Durch praktische Versuche zur Überprüfung und Disziplinierung der eigenen Verhaltensweisen soll ein bewusster Zugang zu Voraussetzungen erarbeitet werden, von deren Erfüllung sowohl das, was man »Begabtsein« zu nennen pflegt, als auch das Zustandekommen qualifizierter Leistungen abhängt. Die Klärung der Beziehungen zwischen Verhaltensweisen und »Begabung« offenbart die grundsätzliche Bedeutung dieser Problematik für Alltag und Berufsarbeit, wie für Erziehung und Unterricht.

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Vor Kursbeginn mussten Lebenslauf, Fragebogen, Phonogramm, Zeichnungen sowie eine schriftliche Darstellung eingereicht werden. Die Fragebogen erforderten ganz ungewohnt detaillierte Antworten und lieferten weitere Hinweise auf die Kursthemen. Zudem bedeuteten sie bereits eine gewisse Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte. Beim Phonogramm (damals Platte) waren verlangt: Sprechbeispiele (Prosa, Verse, frei und abgelesen), eine Musikwiedergabe (kurze Improvisation und ein sehr kurzes Stück auf einem Instrument bzw, gesungen oder gebrummt), und etwas Gesungenes (Volks- und Kunstlied). - Zwei Zeichnungen waren abzugeben (ohne Farbe, nach Modell und Phantasie), ferner eine freie schriftliche Darstellung (Erzählung, Aufsatz, Brief etc). Ohne diese Unterlagen war eine Teilnahme nicht möglich. Die Absicht, die sich nicht leicht durchschauen liess, war eine mehrfache: Kennenlernen des Teilnehmers, Stimulierung zur Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, Grundlage zur Detailgestaltung des Kurses (Setzung der Gewichte), Festhalten der Ausgangslage, d.h. Vergleichsbasis für einen Erfolgsnachweis, Hinweise auf die Ursache von persönlichen Schwierigkeiten. Aufgrund dieser Dokumentation führte Jacoby mit jedem Kursteilnehmer ein langes Vorgespräch unter vier Augen. Kein Zweifel also, dass er sich auf eine ungewöhnlich intensive Weise mit jedem Einzelnen auseinandersetzte.

3.-4. Abend Nochmals die Frage von Vertrauen und Angst (d. h. des Gegenteils von Vertrauen). Sie sind nicht angeboren, sondern hängen mit der persönlichen Geschichte zusammen. Sie beein-

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flussen unser Grundverhalten positiv bzw. negativ in allen Lebensbereichen, sei es bezüglich Hemmungen, Versagen, Improvisationsbereitschaft, zwischenmenschliche Beziehungen, Gedächtnis usw. Wenn in der Schule das Vertrauen zu den eigenen Fähigkeiten erworben werden soll, so nur durch selbständiges Erarbeiten. Am schlimmsten dabei sei das Verbot, sich irren zu dürfen. Lernen ist »sich auch am Falschen orientieren«. Nur so wird man selbständig. Der Lehrer sollte Rätsel stellen, die gelöst werden können (nicht aber gleichzeitig das Rätsel und dessen Lösung darbieten). Und längerfristig wäre es die vornehmste Aufgabe des Lehrers, sich überflüssig zu machen.

Es ist hier nicht der Ort, den Ablauf der Gespräche im Detail zu schildern. Sie wurden wie gesagt auf Tonband (anfänglich noch auf Stahldraht) aufgenommen und sind erhalten. Einer der so konservierten Kurse (1945) ist in Buchform erschienen (»Jenseits von Begabt und Unbegabt«). Aus diesem Buch wird klar, dass es für die Art der Gesprächsführung kaum Vorbilder gibt. Die Teilnehmer waren nicht etwa eine »Gruppe« im modernen Sinn, welche unter sich diskutiert, überwacht von einem sehr zurückhaltenden Moderator, der etwa aufbrechende Emotionen auffangen soll. Umgekehrt fand auch kein Lernkurs im konventionellen Sinn statt. Vielmehr versuchte Jacoby, uns dazu zu verhelfen, die Dinge des Alltags in einem neuen Licht sehen zu lernen. Er wartete ständig auf Einwände, nahm diese sehr ernst und benützte sie, das Problem von einer neuen Seite zu beleuchten. Fertige Ansichten teilte er nicht gerne mit, er wollte lieber den Weg zu Veränderungen vorbereiten. Dabei befand er sich wohl in einem dauernden Dilemma: Wieviel von den Resultaten soll ich bereits verraten? - Sein Anliegen war es, die »Schüler« zu einer Überprüfung ihrer Gewohnheiten anzuregen; daraus konnte sich dann 17

allmählich eine andere Sehweise und konnten sich andere Verhaltensqualitäten entwickeln. Vergleicht man die Kurse 1945 und 1950 1, so zeigt sich, dass sie sich in der Thematik und Methodik nicht unterscheiden. Hingegen liegen die Gewichte etwas anders, da sich Jacoby improvisierend den jeweiligen Bedürfnissen anpassen wollte. Zum Beispiel kam 1950 das Thema Religion fast nicht zur Sprache.

5.- 6. Abend Überprüfen von Gewohnheiten (3.-4.Abend) ist in einem umfassenden Sinne gemeint. Wohl betraf die bisherige Diskussion den »psychischen« Bereich, doch Jacoby ging es um eine ganzheitliche Betrachtung, bei der Leib und Seele als Einheit verstanden werden. Obschon dies als Postulat schon lange bekannt ist, »spuken Aristoteles und Thomas von Aquino noch überall herum« 2 • Ganzheitliche Betrachtung würde bedeuten, stets den Leib, die Seele, die Umwelt und die Geschichte der betreffenden Person zu berücksichtigen. Meistens jedoch widmet man sich diesen Aspekten, wenn überhaupt, isoliert. Indessen ist es ja die Sprache, welche bereits Brücken schlägt mit Ausdrücken wie anlehnungsbedürftig, bodenständig, halsstarrig, gelassen etc. Ungeachtet dessen ist die Beziehung zum eigenen Körper meist Stiefkind. Zwar befinden wir uns stets in liegender, sitzender oder stehender Stellung, doch setzen wir uns damit nicht bewusst auseinander. Weshalb sollte 1 1945 - der dem Buch » Jenseits von Begabt und Unbegabt« zugrunde liegende Kurs. 1950 - der hier wiedergegebene Kurs. 2 Es gibt auch vorsichtigere Interpretationen der Philosophien von Aristoteles und Thomas.

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man dies? » Wie Sie sitzen, könnte mir einerlei sein«, sagte Jacoby, »doch wenn es sich darum handelt, sitzend eine Tätigkeit qualifiziert zu leisten, ist die Art des Sitzens nicht gleichgültig.« Er packte aus einer Schachtel ein Rückenskelett aus, bestehend aus dem Becken und den Wirbeln; letztere waren - um die natürliche Reihenfolge zu sichern - an einem Faden lose aufgereiht. Jacoby stellte mit der linken Hand das Becken auf ein Brett und baute mit der rechten einen Turm von Wirbeln auf. Jeder Wirbel trägt den nächst höhern, wie die Segmente einer antiken Säule. Das Becken selbst steht auf zwei vorstehenden Höckern, den Sitzknorren (Sitzbeinknorren). Würden die Menschen ihr Verhalten an der so demonstrierten Säulenstruktur orientieren, würden sie zu einem optimalen Sitzen gelangen. Denn die Knochen befänden sich dann in einem (labilen) statischen Gleichgewicht. Es droht zwar ständig ein Kippen des Beckens, doch zur balancierenden Stabilisierung des Zustandes genügt ein geringer Aufwand an Muskelkraft. Die Last des Kopfes bedeutet keinen grossen Mehraufwand. Die meisten Menschen sitzen hingegen unökonomisch: Entweder auf dem Steissbein oder nach vorne gelehnt. Dadurch geht der Wirbelsäule ihre horizontale Basis verloren und kann nur durch Muskelkraft gehalten werden 1 . Es kommt zu Ermüdung, und Rückenschmerzen können sich einstellen. Jacoby forderte uns zur Überprüfung des Sitzens auf, und nach einiger Zeit des Experimentierens legte er nahe, uns für unser 1 Der Vergleich mit einer antiken Säule ist tendenzmässig und als Verhaltenshinweis korrekt; anatomisch gibt es hingegen Vorbehalte. Ein Besuch im anatomischen Museum lässt relativ komplizierte Verhältnisse erkennen; die Oberseite des Kreuzbeins (= Basis der Säule) ist weder beim Stehen noch beim Sitzen wirklich horizontal.

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Sitzen im Alltag ernsthaft zu interessieren. Ich ahnte nicht, dass sich dies bei mir zu einer lebenslänglichen Betätigung auswachsen würde. Wesentliche Bedingung, sich mit der Sitzqualität auseinanderzusetzen, ist eine harte, völlig ebene Unterlage. Diese begünstigt die Erfahrbereitschaft des Gesässes und das Vergleichen verschiedener Positionen. Leider sind solche Sitzflächen in unserer Zivilisation sehr selten. Und die Stuhllehnen, die eigentlich das Kippen des Beckens verhindern sollten, waren damals stets am falschen Ort, nämlich zu hoch. Inzwischen sind die Lehnen oft besser geworden, die Sitzflächen kaum. Auch die Höhe der Sitzfläche über dem Boden spielt eine Rolle. Jeder der ausprobiert, kommt zu dem Ergebnis, dass die Sitze meist zu hoch sind; als Folge beteiligen sich die Füsse zu wenig am Balancieren der Körperlast. Noch deutlicher zeigt sich dies, wenn Kinder die Möbel von Erwachsenen benützen: oft halten sie ihr Gleichgewicht durch Umschlingen der Stuhlbeine mit den Füssen. Mit der Zunahme von Rückenschäden hat auch die Arbeitsmedizin begonnen, sich mit dem Sitzen zu beschäftigen. Man trifft dort aber kaum auf die einfachen Prinzipien Jacobys; es bestehen berechtigte Zweifel, ob die jeweiligen Ärzte über eine eigene, bewusste und differenzierte Sitzerfahrung verfügen. Dabei hätte jeder Interessierte ein feines inneres Gespür für Gleichgewicht und unnötigen Aufwand.

Das Sitzverhalten zu überprüfen, erwies sich später als ein erstes Beispiel. Typisch war die Mehrschichtigkeit solcher Angebote. Einerseits betrafen sie den Umgang mit dem eigenen Körper und besassen damit sogar einen gesundheitlichen, nahezu medizinischen Hintergrund. Sie zielten gleichzeitig auf

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Arbeits- und Leistungsqualität. Ausserdem war das Sitzen gedacht als ungefährliches Experimentierfeld: man konnte und sollte autodidaktisch 1 lernen, eigenes Verhalten zu überprüfen und Befriedigenderes von weniger Befriedigendem zu unterscheiden. Jacoby wusste, dass solche Auseinandersetzung sich auf ganz andern Gebieten unerwartet auswirken konnte. Immer gab er nur Anstösse. Er hoffte auf Mitarbeit, d. h. auf das Sammeln von Eigenerfahrung und beabsichtigte, das Thema später auf neuem Niveau wieder aufzunehmen.

8. Abend Es gibt Situationen, die besonders geeignet sind, sich des leibseelischen (psychosomatischen) Zusammenhangs bewusst zu werden. Schockerlebnisse gehören hierher. Oft sind Ängste lebenslänglich durch ein einmaliges Schockerlebnis fixiert, welches als solches vergessen wird. In diesem Fall ist eine bewusste Auseinandersetzung erforderlich. Ein Beispiel, das für sehr viele Menschen zutrifft, ist kaltes Wasser. An ihm lässt sich Schockverhalten gefahrlos studieren. Jacoby empfahl, zu Hause mit kaltem Wasser zu experimentieren (»probieren«), z.B. durch vorsichtiges Eintauchen des Ellbogens in ein Wasserbecken, oder durch Kontakt mit kaltem Wasser in der Badewanne. Sobald eine Beunruhigung re1 Die Ausdrücke »Autodidakt« und »autodidaktisch«, die ich manchmal verwende, bedürfen einer Erläuterung. Gelegentlich verbindet man mit dem Autodidakten die Vorstellung eines nicht ganz seriösen Aussenseiters, eines Dilettanten oder einer etwas schrulligen Person. Für Jacoby hingegen signalisierte »autodidaktisch« viel eher Unvoreingenommenheit, Unabhängigkeit, Freude an Entdeckungsreisen und die Bereitschaft, sich etwas selbständig zu erarbeiten. Dieses selbständige Sich-Erarbeiten bildet bei Jacoby den eigentlichen Gegensatz zum konventionellen »Lernen«, dem gehorsamen übernehmen von vorgebildeten Ansichten und Resultaten.

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gistriert wird (z.B. ein Zusammenziehen des Bauches), soll der Versuch abgebrochen und von neuem begonnen werden. Das Ziel wäre grössere Gelassenheit und vielleicht sogar Freude an kaltem Wasser. Dabei spielt der Zustand vor Beginn eine Rolle. Durchwärmt und mit angeregter Zirkulation reagiert man anders. Nicht Panik, sondern Gelassenheit. Letztere trägt dazu bei, in tiefem Wasser nicht unterzugehen, sogar ohne Bewegen der Arme und Beine. Denn das Wasser trägt (Schwimmerlebnis; floaten). Aus den Erfahrungen mit kaltem Wasser lässt sich einiges lernen für anspruchsvolle Situationen ganz anderer Art: Sprechen vor Publikum, Umgang mit Direktoren etc. Festzuhalten ist freilich: Die Auseinandersetzung mit kaltem Wasser ist als Modell zu verstehen, als ein Herantasten an ein allgemeines Problem. Mit Wasserstudien überprüft und beeinflusst man zunächst nur die Beziehung zum Wasser. Doch lässt sich - das war Jacobys Idee - hier Grundsätzliches lernen, nämlich: sich einen bewussten Zugang zum anspruchsvollen Gebiet der Schocks, der Panik und mancher Ängste erarbeiten. Kein Zweifel allerdings, dass die praktische Realisierung - also der Abbau von Ängsten - im Einzelfall viel Zeit und Geduld erfordern wird.

7. und 9. Abend Prüfung des Sitzverhaltens kann Ausgangspunkt für eine bessere Körperbeziehung sein. Kontaktvolles Verhalten steht aber bei jeder Art von Tätigkeit zur Diskussion: Sich von einem Stuhl erheben, eine Treppe hinaufsteigen, eine Türfalle drücken, einen Nagel einschlagen, Lasten heben, Schreiben 22

auf der Maschine, Klavier spielen, Umgang mit Menschen. Jacoby hat dies alles in eine kurze Frage gefasst: »Ding, was willst du von mir?« (aber auch: »Mensch, was willst du von mir?«). Von der zu bewältigenden Aufgabe geht auf mich eine Einstellwirkung aus, falls ich bereit bin, diese wahrzunehmen 1 . Ein Sich-einstellen (bzw. ein Sich-einstellen-lassen), ja ein Sich-verwandeln-lassen ist erforderlich: um ein Wiegenlied oder einen Walzer zu spielen, muss ich ein jeweils anderer sein. Aber Verwandeln muss man sich vor dem Beginn. Was weiter benötigt wird, ist eine Bereitschaft zu »stolpern«, gepaart mit einer Freude am unermüdlichen Ausprobieren neuer Wege (Probier- und Erfahrbereitschaft). Und überdies sollte man lernen, sich das Stolpern zu verzeihen. Das Gegenteil davon wäre die Routine: man weiss bereits wie, probiert nicht mehr aus, sondern legt sich ein Verhalten »auf Vorrat« zu und bleibt deshalb nicht in vollem Kontakt mit der Aufgabe. Unzweckmässiges Verhalten beginnt bereits beim Kleinkind: es soll sitzen, stehen oder gehen, bevor es hierzu wirklich reif ist. Darunter leidet die Natürlichkeit. Durch Probieren mit kleinen, unwichtigen Dingen lässt sich eine ursprünglichere Körperbeziehung wiedererwerben. Doch wäre dies nur als Teil einer grösseren Aufgabe aufzufassen: des Abbaus von anerzogenen Gewohnheiten, einer Aufgabe, welche - wenn einmal begonnen - den grössten Teil des Lebens beanspruchen wird. Wie gesagt, es handelt sich um eine Auseinandersetzung, in welcher es um das Bewusstwerden eigener Routinen geht. Da-

1 Diese Formulierung Jacobys ist pädagogisch zu verstehen, sie bedeutet keinen Hinweis auf eine geheimnisvolle mystische Beziehung.

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bei verkörpert »Stolpern« den ersten Schritt; Stolpern bedeutet zu merken, dass etwas besser, mit mehr Beziehung hätte geschehen können. Doch inwiefern ist der bewusste Weg wirklich notwendig? Jacoby unterschied zwei Fälle: 1. Die Auseinandersetzung mit eigenen Routinen, wie sie hier skizziert wurde, ist besonders aktuell, wenn ein Mensch sein »Funktionieren« überprüfen und verändern möchte. 2. Die Auseinandersetzung von Lehrern mit ihrer eigenen Tätigkeit. Nach Jacoby passiert es häufig, dass Erfolgreiche im Selbstmissverständnis eine Erfolgstheorie aufstellen, welche das wesentliche, nämlich Offensein und Probieren, vernachlässigt. Jacoby war sich im klaren, dass Bewusstmachung zu gewaltigen Irritationen führen kann. Er erzählte die Geschichte vom Tausendfüssler und der Kröte (und er erzählte solch erhellende Geschichten ausgezeichnet): »Wie machst du es nur«, fragte die Kröte den Tausendfüssler, »dass sich immer zur richtigenZeit das richtige Bein bewegt?«. DerTausendfüssler wusste keine Antwort, versuchte eine zu finden, indem er zum Gehen ansetzte, aber - oh Schreck - er war dazu nicht mehr imstande. Eine analoge Erzählung gibt es bei Kleist (»Über das Marionettentheater«) 1. Es geht in dieser kleinen, konzentrierten Schrift unter anderm um den plötzlichen Verlust der Natürlichkeit durch eine einmalige Störung, hier durch die Entdeckung eigener Grazie bei einem zufälligen Blick in einen Spiegel. Einsetzende Reflexion macht das bisher unbewusste optimale »Funktionieren« zunichte. Kleist spricht vom Verlust des Paradieses und fragt, wie letzteres wiedergewonnen werden könne. Auch er sieht das Bewusstwerden als möglichen Weg (»Wir müssen die Reise um die Welt machen, um zu

1 Kleist, Heinrich v.: Über das Marionettentheater,

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Gesamtausgabe.

sehen, ob es [das Paradies] vielleicht von hinten irgenwo wieder offen ist«). Dadurch wird eine viel zuverlässigere, weniger störbare Stufe erreicht. - Jacoby wies in solchem Zusammenhang auf Musikinterpreten (z.B. Busoni) hin, die sich trotz grosser Erfolge eine lange Unterbrechung für bewusste Auseinandersetzung leisteten. Nachher »funktionierten« sie auf einem ganz neuen Niveau.

10.-14. Abend Mehr und mehr begannen die Abende damit, dass sich Jacoby ausgiebig erkundigte, ob seine Anregungen zum eigenen Experimentieren geführt hätten. Die Teilnehmer berichteten über ihre Erfahrungen, und Jacoby machte auf Missverständnisse aufmerksam. Diese unspektakulären Gespräche sind auf Band aufgenommen, für eine stichwortartige Zusammenfassung eignen sie sich kaum. Eines der möglichen Missverständnisse betraf z.B. die Vorsicht. »Etwas vorsichtig machen, ist noch nicht probieren«, sagte Jacoby. Denn »Probieren« würde bedeuten, den angemessenen Aufwand durch überund unterdosierte Versuche allmählich einzugrenzen. Ein neues Angebot Jacobys betraf die Augen. Schliessen der Augen bedeutet, weniger durch äussere Einflüsse abgelenkt, also stiller zu werden, mehr »bei sich sein« zu können. Die Sensibilität für Hör- und Tasteindrücke nimmt zu. Das Empfinden für Gleichgewicht in sitzender Stellung nimmt zu. Wir hörten also mit geschlossenen Augen und verbrachten so beträchtliche Teile der Abende. Dabei kann das Verharren mit geschlossenen Augen einen gewissen Aufwand bedeuten, weshalb empfohlen wurde, eine Binde umzulegen. Erst sie erzeugt völlige Dunkelheit. So ist es leichter, die Tagesunruhe und die Schauabsicht abklingen zu lassen. - Ein besonderer Moment war jeweils das Abnehmen der Binde, denn hier ging es dar-

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um, die Augen aufgehen zu lassen, ohne sehen zu wollen. »Für den, der an Malerei interessiert ist, und für Brillenträger sind solche Versuche von besonderem Interesse«, sagte Jacoby.

Blickt man von hier auf den Anfang des Kurses zurück, wird erkennbar, wie subtil Jacoby vorging bzw. vorgehen musste. Er wollte alles Schockierende vermeiden und bereitete seine »Angebote« gründlich vor. Eine Schar von gut 20 Erwachsenen, die mit verbundenen Augen auf ihren Sitzknorren balancierten, war ein seltsamer Anblick. Es kamen - wie wir bald sehen werden - noch weitere ungewohnte Aufforderungen hinzu. Doch gelang es Jacoby, eine Art Laboratoriums-Atmosphäre zu schaffen, in welcher man sich nicht an zunächst befremdlichen Situationen stiess. Nicht immer lief alles glatt. Ich erinnere mich, dass mehrere Brillenträger sich weigerten, vor Anlegen der Binde ihre Brille wegzunehmen; bei einer Teilnehmerin war diese Weigerung so heftig, dass alle Überredungskunst, auf die »Prothese« zu verzichten, nichts nützte. - Weitere Probleme konnten zu Hause auftauchen. Wer die Angebote Jacobys ernst nahm, begann daheim zu experimentieren, manchmal - durch Missverständnis - in eine Fehlrichtung (denn Experimentieren schliesst Fehlrichtungen ein). Für die Angehörigen konnte dies eine grosse Zumutung sein. Waren Kinder da, kam es allmählich zu abweichenden Erziehungsvorstellungen. Deshalb empfahl Jacoby, dass der Ehepartner einen späteren Kurs ins Auge fassen sollte.

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13. -14. Abend Immer wieder wurden wir aufgefordert, die Augen zu verbinden, die Schauabsicht abklingen zu lassen, die Sitzknorren zu spüren. Man wird gelassener, aufnahmefähiger. »Antenniges Verhalten« statt Erhaschenwollen. Ein Teilnehmer bemerkte, dass beim Yoga Ähnliches zur Diskussion stehe (Yoga gab es damals bereits in Zürich, wurde aber als ziemlich fremd empfunden). überraschend führte Jacoby den Lotossitz vor, den er so gut beherrschte, dass er, seine Hände auf die Unterlage stützend, den übrigen Körper vom Boden abheben konnte. »Die Stellung«, sagte Jacoby, »ist nicht das Wesentliche. Wird sie um ihrer selbst willen erstrebt, bleibt sie Attrappe. Wesentlich ist die Gelassenheit«. Letztere sei für die erforderte grosse Gelenkigkeit wichtiger als Training. Er selbst habe den Sitz erstmals mit 55 Jahren ausgeführt. Doch wie gelangt man zu Gelassenheit und Lockerung? Narkose bzw. Morphium wären mögliche Wege, unter ihrer Wirkung verschwinden die muskulären Widerstände. Der andere Weg besteht darin, beim Sitzen völlig ins Gleichgewicht zu kommen. Dann können die Muskelpartien, die sonst den Körper vor dem Kippen bewahren, sich entspannen. »Hier ist etwas für Sie zu holen, mehr als bei philosophischen Gesprächen«, sagte Jacoby. Er forderte uns dazu al;lf, von nun an die Schuhe im Korridor zu deponieren und den Kurs in Socken weiterzuführen. Es war klar, dass es um das Sitzen auf dem Fussboden gehen würde. Nachgetragen sei die Bemerkung eines Teilnehmers, man könnte auch mittels Alkohol zu einer allgemeinen Lockerung gelangen und sich so von Routinen und Konventionen lösen. Jacoby freilich bezeichnete Alkohol und Drogen 1 als Surrogate und Schleichwege; sie ständen in diametralem Gegensatz zu

1 Drogen waren allerdings noch kaum im Gespräch, das Problem entstand später.

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seinem Anliegen, da sie von der Realität wegführten. Diesbezüglich sei auch bei östlichen Praktiken (z.B. bei manchen Meditationsformen) - wenn sie in den Westen gelangen - Vorsicht geboten. Aus der formalen Ähnlichkeit seines Lotos-Sitzens mit dem Sitzen in Yoga-Kursen möge man keine voreiligen Schlüsse ziehen. Ihm gehe es um eine Art von Ökonomie, im Kurs auch um das Verdeutlichen, was unter Gelassenheit zu verstehen sei. Jacoby suchte jedenfalls keine spirituellen Erfahrungen, nicht einmal Erholung durch Entspannung; Erholung und Mobilisation erstrebte er kaum in unbeweglichem Verharren, sondern viel eher über kleine meist sehr geringe - Aktivitäten.

Die Entdeckung eines Bauches Mein Notizbuch enthält nach dem 14. Abend folgende zusätzliche Bemerkung: »In diesen Tagen habe ich 'meinen Bauch entdeckt'. Erst jetzt erinnere ich mich wieder, was Jacoby in der Vorbesprechung nach Abhören meines Phonogramms sagte: 'Mit Ihrem Bauch muss dann noch etwas in Ordnung kommen'. Im Zusammenhang mit den Sitzversuchen wurde ich gewahr, dass mein Bauch ständig etwas gespannt ist. Ich versuche nun von morgens bis abends und auch nachts, den Bauch zu entspannen. Er scheint mir ein ausserordentlich feines Reagens zu sein. Kleinste körperliche Beanspruchungen, Töne, Nachrichten, Begegnungen, Sprechen etc. führen stets zu kleinen Kontraktionen. Ich versuche, diese abklingen zu lassen. Meine Kaltwasserversuche müssen neu begonnen werden, weil ich bisher nur die gröbsten Kontraktionen bemerkt habe. Ich vermute, dass ich hier etwas Zentrales gefunden habe, und dass sich eine Lockerung des Bauches auf vielen Gebieten günstig auswirken wird.«

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Berücksichtigt man, dass in der Antike das Sonnengeflecht als Sitz der Seele galt, so war mein Gefühl von etwas Zentralem vielleicht gar nicht so abwegig. Ich gebe meine Notizen vor allem darum wieder, um zu zeigen, wie es Jacoby gelang, die Kursteilnehmer mit unkonventionellen Methoden zu mobilisieren. Offensichtlich hatte er bei mir Erfolg mit seinem 'Sie sollen nichts lernen, sondern auf Entdeckungsreisen gehen'. Ich entdeckte meinen Bauch, ohne dass dieser Körperteil vorher zum Kursthema geworden war 1• Doch ich befinde mich mit meinem Bauch-Bericht bereits m einem charakteristischen Dilemma. War es richtig, meine Erfahrungen hier mitzuteilen? Der Leser ist - falls er sich für das Gebiet interessiert - nun nicht mehr so frei wie vorher. Er wird vielleicht auf die Suche nach seinem eigenen Bauch gehen, sich also vorprogrammieren und damit weniger offen sein, als ich selbst es war.

15. - 17. Abend Am Boden zu sitzen ist unkonventionell, aber - wie jede ungewohnte Situation - eine Chance, sich von der Routine zu entfernen 2 • Widerstände gab es von Seiten der Teilnehmer nicht. Hingegen traten bald Ermüdungen und Schmerzen auf. Nun war ein Sich-quälen nicht beabsichtigt. So kehrte jeder, der es nicht mehr aushielt, auf seinen Hocker zurück und

1 Inzwischen wurde der »Bauch« zu einem Modebegriff, er signalisiert häufig den empfindungsmässigen, nicht-intellektuellen Weg. Es gibt entsprechende Kongresse und Zeitschriften. Wesentlich scheint mir aber die im Text erwähnte Tatsache, dass man dank Jacobys Vorgehen dahin gelangen konnte, selbst neue Bereiche und unvermutete Zusammenhänge zu entdecken. 2 Am Boden sitzende Erwachsene wirkten damals viel exotischer als heute.

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blickte neidvoll auf den gelassen sitzenden Jacoby. Auffallend die grossen Unterschiede bei den Teilnehmern, besonders bezüglich der Höhe der Knie im »Schneidersitz«. Fast indiskret kamen mir damals solche vergleichende Blicke vor; gesprochen wurde freilich nie darüber. Lässt sich die Gelassenheit bewusst erhöhen? Jacoby liess uns die Augen schliessen und die Hände in Gesässnähe leicht auf den Boden drücken. Dadurch wird das Gesäss etwas entlastet und freier und kann sich in eine natürlichere, entspanntere Position einpendeln; die Hände sind hierauf wieder zu entlasten. Es zeigte sich, dass dabei grosse Missverständnisse auftreten können, die bis zu verkrampftem Stemmen und hochrotem Kopf gingen. Für mich selbst wuchsen sich diese sanften Experimente allmählich zu einem lebenslänglichen Bedürfnis aus. Sitzen am Boden gehörte von nun an dazu. Manche kombinierten es freiwillig mit den verbundenen Augen. Unterdessen, d. h. während des Sitzens mit verbundenen Augen, griff Jacoby das Thema Erziehung wieder auf. Eine zu autoritäre Erziehung kann zweierlei bewirken - entweder einen gebrochenen Willen, Folgsamkeit, Schlaffheit und Duckmäusertum, - eine ständige, lebenslängliche Protesthaltung. Woher stammt das Pochen auf Autorität? Jacoby wies auf gesellschaftliche Ideale hin. Der preussische Kasernenhof war langezeit ein verbreitetes Vorbild. Man wollte die Menschen gefügig machen. Sich von solchen Modellen zu lösen, ist nicht leicht; eine Umstellung geschieht häufig nur in der Theorie, die Praxis verharrt beim überkommenen. Wer kennt nicht die Erziehung zur »Haltung«, um Haltlosigkeit zu vermeiden. Übrigens sind »Haltung verlangen« bzw. »sich Haltung geben« brauchbare Beispiele, zwei prinzipielle Verhaltensweisen zu unterscheiden: 30

- etwas machen wollen; - geschehen lassen. Die Erziehung tendiert stark zum Machen statt zur Gelassenheit. Im Körperbereich (Sitzen) müsste man dem Rücken erlauben, sich allmählich von selbst aufzurichten, statt ihn befehlsweise zu strecken (Jacoby: »Spüren, ob sich etwas vermehrt aufrichten möchte«). Die schon angedeutete alternative Reaktion gegenüber Drill und Zwang ist der Protest. Jacoby wies auf Freiheitsdichtung und auf möglichen Freiheitskult hin, mahnte aber zur Vorsicht beim Umgang mit unreflektierten Freiheitsbegriffen. Man kann Menschen im Namen der Freiheit für ihre eigene Knechtung kämpfen lassen.

Es fällt auf, dass über die antiautoritäre Erziehung als Gegenpol zur diktatorischen nicht gesprochen wurde. Sie war noch kaum im Gespräch. In den Jahren um 1968 kam es gelegentlich zu Übertreibungen; solche hätte Jacoby sicher als unnatürlich und als im Gegensatz zu den wahren Bedürfnissen des Kindes stehend betrachtet. Mit »geschehen lassen« war kein laisser faire gemeint. - Übrigens hatten ausufernde und limitierende Diskussionen auch zur Zeit der Reformpädagogik (1900-1933) stattgefunden 1 . Am Beispiel »antiautoritär« lässt sich die Frage aufwerfen, wieweit überhaupt die damalige Kursthemen heute noch von Interesse seien. Sicher wirkt einiges zeitgebunden, gab es doch inzwischen Frauenemanzipation, Sexwellen, Jugendunruhen, Drogen, einen Abbau des autoritären Gehabens und das Brechen vieler Tabu's. Doch ist es wohl mehr die Oberfläche, die

1 Z.B. Theodor Litt: Führen oder Wachsenlassen? (1927).

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da und dort etwas Patina angesetzt hat; gleich darunter blinken Einsichten in unverminderter Aktualität.

Die Kursteilnehmer und der Umgang im Kurs 1 Was waren es für Leute, die sich zu dieser »Arbeitsgemeinschaft« zusammenfanden? Hätte man Einblick in die Lebensläufe und Fragebogen gehabt, hätte sich vielleicht etwas Gemeinsames gezeigt. So aber erschien der Kurs als ein Kollektiv ohne besondere Merkmale. Dass ein junger Mann wegen Kinderlähmung an zwei Stöcken ging, war nicht extrem auffällig, denn die Impfung gab es noch nicht. Ein anderer junger Mann trug einen Hörapparat. Bei einer jungen, ansprechenden Frau erwies es sich, dass sie lispelte. Der Gesamteindruck jedoch war normal. Allmählich erfuhr man etwas über den Beruf: es gab Hausfrauen, Sekretärinnen, einen Juristen, Lehrerinnen und Lehrer, einen Architekten und zwei Chemiker. Der schulische Hintergrund war ganz uneinheitlich, was sich nicht negativ, vielleicht sogar positiv auswirkte. Die Männer waren - von Ausnahmen abgesehen - eher zurückhaltend, typische Manager gab es kaum. Aber sanft waren beileibe nicht alle, auch die Frauen nicht. Spätere Kurse mit andern Teilnehmern haben diese Eindrücke bestätigt. Der Ton war - nach dem ersten Abtasten - kameradschaftlich. Man sprach sich - der Zeit entsprechend - mit »Sie« an. Immer wieder benützte Jacoby das Kollektiv als »Auffangbecken«: »Das geht uns allen so ... «, » Wir alle haben diese Probleme mehr oder weniger ausgeprägt ... «, » Wer von Ihnen 1 Wie schon erwähne, bestand der Kurs aus 10 Männern und 12 Frauen im Alter von etwa 25-50 Jahren.

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kennt das auch?«. Der Einzelne sollte zur Erkenntnis geführt werden, dass er mit seinen Problemen nicht allein war. Im Unterschied zu modernen Gruppen blieb der Ton aber distanziert, Emotionen waren nicht beabsichtigt und traten sichtbar kaum auf. Körperliche Berührungen unter Teilnehmern oder mit Jacoby gab es nicht, auch nicht bei der Auseinandersetzung mit dem Körper. Ein gemeinsames Merkmal war wahrscheinlich bei allen vorhanden: Eine Bereitschaft, eigenes Verhalten in Frage zu stellen.

18. -19. Abend Behinderte bzw. Handicapierte waren für Jacoby, wie er schon am 2. Abend darlegte, von besonderem Interesse. Denn bei ihnen sind Fortschritte meistens leichter und deutlicher ablesbar. Er verfügte über eine grosse Sammlung mit detaillierten Angaben. Menschen ohne Arme zum Beispiel, die ihr Leben mit den Füssen vollwertig bewältigten (Kochen, Rasieren, Kinderpflege, Musizieren etc.).Von Ärzten als gelähmt Aufgegebene, die nachträglich sportliche Höchstleistungen erzielten. »Hatten diese Armlosen etwa besonders begabte Füsse?«, fragte Jacoby. In seiner Sicht sind Behinderte dazu herausgefordert, die ihnen verbleibenden Möglichkeiten besonders ernst zu nehmen. Im günstigen Fall gelangen sie zu einem so produktiven Probieren, dass eine überdurchschnittlich gute Körperbeziehung entsteht, die dann unerwartete, auch überdurchschnittliche Leistungen ermöglichen kann (im Buch »Jenseits von Begabt und Unbegabt«, S. 192ff, finden sich Bilder und weitere Beispiele). Doch was soll »Probieren« hier konkret bedeuten? Der kindergelähmte Kursteilnehmer stellte sich bereitwillig für Versu-

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ehe zur Verfügung. Seine zu schwachen Beine trugen ihn nicht. Jacoby sagte, dass alle Aufmerksamkeit auf diesen Punkt gerichtet sei. Es zeigte sich jedoch, dass der Rumpf und die Lenden ebenfalls schwach waren. Es gehe darum, zunächst mehr Beziehung zur eigenen Last zu finden. Durch beziehungsvolles Rumpfsenken und -heben könne der Rücken gestärkt werden. Die Bewegungen müssten aber reversibel 1 geschehen, d. h. man dürfe in keinem Moment in Erschlaffung fallen. Bescheiden seien alle Stellungen auszuprobieren, damit die Muskeln wieder zu spielen begännen. Denn die Muskeln seien zwar zurückgebildet, aber noch vorhanden und durchblutet. So wie sich der Kindergelähmte bis dahin verhielt, nütze er nur wenige Prozente seiner Möglichkeiten. Wo seine wahren Grenzen liegen, könne man im voraus nicht wissen. In einem Punkt seien die Behinderten im Vorteil: Sie gelangen nur zu Erfolg, wenn sie sich beziehungsvoll verhalten (hier im Kontakt mit der Last und mit dem erforderlichen Kraftaufwand). Aber nicht jeder Behinderte probiert erfahrbereit. Zunächst wird er sich nach einem Ausweg aus der Notsituation umsehen, und findet sich einer, so ist es oft nicht eine erste, d.h. vorläufige Möglichkeit, sondern der Ausweg. Er wird zu einem Trick, dann nämlich, wenn er zum Verharren im ersten Erfolg, zum Verzicht auf weiteres Probieren führt. Nach Abschluss des Kurses verlor ich den Kindergelähmten aus den Augen. Einige Jahre später erkundigte ich mich bei Jacoby nach den Fortschritten jenes Mannes. Er sei tot, er habe sich das Leben genommen, war die Antwort. Im Kurs war nicht sichtbar geworden, dass der sympathische, eher heitere Kollege in grossen inneren Schwierigkeiten steckte.

1 Reversibel: Während des Vorgangs befinden sich die wirkenden Kräfte im Gleichgewicht; eine Richtungsumkehr ist jederzeit möglich.

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Dieser Ausgang beeindruckte mich nicht nur, ich wurde mir auch einer gefährlichen Neigung bewusst, bei Jacoby charismatische Eigenschaften zu vermuten, die - zuverlässig - bei seinen Schülern hinreichende Selbstheilungskräfte freisetzen würden.

Zen Eines Abends erwähnte Jacoby das damals noch wenig bekannte Buch von Eugen Herrigel: »Zen in der Kunst des Bogenschiessens« 1 . Herrigel, ein junger deutscher Philosoph, war nach 1930 beruflich in Japan. Sein Interesse galt der nichtspekulativen Mystik. Er meldete sich beim Zen-Meister Kenzo Awa zum Unterricht. Das kleine Buch ist eine Beschreibung dieser Unterweisung über fast sechs Jahre, und es gibt gleichzeitig eine gedrängte und besonders eindrückliche Darstellung des Zen-Buddhismus, genauer: einer Vorschule zum Zen, so wie Herrigel sie erlebte. Für westliche Menschen war Japan damals ein fernes, fremdes Land mit einer völlig andern Mentalität; ein Zugang zum Zen war deshalb schwerer als heute. Indem Herrigel auch über eine Reihe von Missverständnissen beim Unterricht berichtete, vermittelt er zumindest eine Ahnung vom Wesentlichen. In unserem Kurs ging es um eine Szene aus dem Buch, in welcher die ungeheure Treffsicherheit des Zen-Meisters beschrieben wird. Letzterer ist überzeugt, dass nicht er, sondern dass »Es« getroffen habe. Auch sei nicht das Treffen das Wesentliche, wesentlich sei die Verfassung, das Gesamtverhalten des Schiessenden.

1 Herrigel, Eugen: Zen in der Kunst des Bogenschiessens, Verlag Curr Weller, Konstanz 1948.

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Beim Lesen dieses Buches stösst man auf erstaunliche Verwandtschaften zwischen Zen und Jacoby. Hier wie dort spielt der Körper eine Rolle. Zwischen Lehrer und Schüler wird eine physische Aufgabe verabredet, sie dient als Ausgangspunkt zu geduldigem Probieren bzw. Üben. Um sportliche Betätigung handelt es sich nicht. Missverständnisse sind kaum zu vermeiden. Der Lehrer lässt auch in die Irre gehen und gibt nur Hinweise, denn der Schüler soll sich am Unzutreffenden orientieren, soll sich Wesentliches selbst erarbeiten. Zu Beginn tritt als Folge gesteigerter Körperbewusstheit häufig eine Verunsicherung ein, doch ist dies eine Durchgangsstufe zu einem neuen Niveau von Unbewusstheit und geringerer Störanfälligkeit (Unabhängigkeit von Anlagen, Zufällen und Stimmungen). Es handelt sich um eine Begegnung mit dem eigenen Körper und gleichzeitig um eine geistige Auseinandersetzung (»Der Schütze trifft sich selbst«) 1• Dabei ist der Weg wichtiger als das Ziel. Nicht aufs Ziel starren, sondern Vertrauen in das Wahrnehmen der eigenen Befindlichkeit erwerben (»Schauen ohne zu schauen, Treffen ohne zu zielen«). - Wesentlich ist die Vorbereitungsphase, dort passiert das meiste. Das Ziel übt eine Einstellwirkung aus, es richtet uns. Nicht agieren, nicht »etwas machen«, sondern »geschehen lassen«, absichtslos warten, »bis die reife Frucht abfällt« (mit Hinweis auf das meist unreflektierte, eher intuitive Verhalten von kleinen Kindern). Wichtiger als der Erfolg ist, wie gesagt, die geistige Verfassung. Das Ganze ist keine intellektuelle Angelegenheit, der Intellekt ist eher hinderlich. Erwartet wird eine der Sache dienende Einstellung, beim Zen ein Dienst an der »grossen Lehre«. Doch ist eine solche Lehre nirgends präzis festgehalten, sie wird umschrieben und angedeutet; klare Begriffe fehlen. Der Schüler vergisst den Meister nicht, der Meister ist im Wandel, er spricht nicht gern von sich selbst. Die Ähnlichkeiten müssen verblüffen, besonders wenn man 1 D. h. er begegnet sich selbst.

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die völlig verschiedenen Ausgangspositionen von Zen und Jacoby in Betracht zieht. Zen ist eine alte Form des japanischen Buddhismus, es hat einen spirituellen, nichtrationalen Hintergrund. Jacoby verstand sich weitgehend als Pädagoge; er vertrat Ideen der europäischen Aufklärung, freilich mit grossen Vorbehalten gegenüber einem betonten Rationalismus. Berührungspunkte zwischen Zen und Jacoby sehe ich im Suchen nach einer ganz unmittelbaren, unverstellten Nähe zu allem, was uns begegnet. Ein möglicher Zugang ist bei Jacoby das »Bei-sich-sein«, beim Zen die »Ichlosigkeit«. Es handelt sich dabei um zwei Wege, welche sich wahrscheinlich näher liegen, als es diese gegensätzlich klingenden Ausdrücke vermuten lassen. Neben den Ähnlichkeiten zu Herrigels Bogenschiessen gibt es auch grosse Unterschiede, und gerade durch sie lässt sich die Jacobysche Position nochmals verdeutlichen. Es sind vor allem Unterschiede im einzuschlagenden Weg. So ist das japanische Lehrer/Schüler-Verhältnis ein anderes: der Schüler vertraut seinem Lehrer bedingungslos und versucht, ihn nachzuahmen. Jacobys Devise hingegen lautete: Sie sollen (mir) nichts glauben, sondern alles selbst überprüfen. - Ferner gelangt der Japaner mit dem Geist des Zen dadurch in Kontakt, dass er sich mit der (Bogen)Technik auseinandersetzt; bei Jacoby hingegen geht es - so z.B. beim Musizieren - zuerst stets um den inneren Gehalt, und die Technik entwickelt sich gleichsam nebenher. - Dass Jacoby den Zen-Meistern in die eigentlichen mystischen Bereiche (Meditation, Erleuchtung) gefolgt wäre, ist sehr unwahrscheinlich. Einen bedeutsamen Unterschied sehe ich auch in der Klausurfrage. Der Zen-Schüler begibt sich (zumindest beim Bogenschiessen) für sein Üben in die Abgeschiedenheit. Es besteht eine Parallele zu analogen Wegen wie Esoterik, christliche und nichtchristliche Wahrheits- und Gottessuche, Rückzug ins Kloster oder in die Einsiedelei. Erwartet wird immer ein inne37

rer Läuterungsprozess, der aber, wie man weiss, nicht frei ist von der Gefahr eines Absturzes in elitäre Selbstkultivierung. Bei Jacoby sollte man seine Kurse nicht als »Klausur« verstehen; in den Kursen ging es eigentlich nur darum, sich mit seiner Betrachtungsweise, seinen Anliegen und seinen Empfehlungen vertraut zu machen. Zwar sollten Jacobys Angebote hernach »im stillen Kämmerlein« ausprobiert werden, jedoch nur, um sich allein und ungestört mit seinen Konzepten auseinanderzusetzen, um sie deutlicher werden zu lassen. Die eigentliche Nachentfaltung, so wie Jacoby sie verstand, müsste sich hingegen im gewöhnlichen Alltag abspielen: möglichst von früh bis spät, stets unterwegs. Immer geht es dabei um Jacobys Grundanliegen: sich weiterer Verhaltensroutinen bewusst zu werden, und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, unterstützt durch ein deutlicheres Wahrnehmen des eigenen Zustandes. Im Anfang wird man dies als »Schüler« tun, der Jacobys Empfehlung befolgt; aber bald sollte sich daraus aufgrund von Neugierde und erwachtem Bedürfnis - ein eigener Antrieb entwickeln.

20. - 21. Abend Wodurch ist optimales »Funktionieren« beeinträchtigt? Jacoby hatte wiederholt auf störendes oder gar verstörendes Eingreifen der Erzieher hingewiesen; es sind Einwirkungen, denen oft gute Absicht, gepaart mit grosser Ahnungslosigkeit, zugrunde liegt. Gegenüber Kindern fehlt den Erwachsenen häufig das notwendige Einfühlungsvermögen; Jacoby erläuterte dies am Beispiel des kindlichen Nachahmungstriebs. Kinder imitieren die Erwachsenen bei einer Vielzahl ihrer Tätigkeiten. Mit Nachdruck wies Jacoby darauf hin, dass es den Kindern nicht um reines Kopieren und nicht um ein identisches Resultat gehe, sondern vor allem um ein »Da-

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bei-sein« und um ein »Mit-tun«. Das Kind agiert mit seinen eigenen Möglichkeiten, und oft wird es dabei sogar kreativ. Die Kinder zu korrigieren und zu einem exakten Imitieren anleiten zu wollen, wäre deshalb ein Missverständnis, freilich ein verbreitetes. Diese Unterscheidung - es handelt sich um ein Wahrnehmen des eigentlichen Anliegen des Kindes charakterisierte Jacoby mit zwei »Fachausdrücken«: Die Kinder möchten nicht »nachmachen«, sondern »Auch-machen«. Ein anderes Beispiel des »Eingreifens«, das Jacoby heranzog, war der Geburtsvorgang und der daran anschliessende Umgang mit dem Säugling. Damals gab es ein ganzes Arsenal von routinemässigen Begleitmassnahmen wie Wehemittel, Geburtszangen, die Behandlung der Augen des Neugeborenen mit Silbersalzen etc. Man hielt dem Säugling die Nase zu, wenn er nicht trank, man entfernte ihn von der Brust, wenn die Normzeit abgelaufen war. Jacoby vermutete, dass solche Eingriffe spätere Verhaltensstörungen nach sich ziehen können. Auf mögliche Entfaltungsbarrieren ganz aderer Art kam Jacoby jetzt zu sprechen: auf die Neurosen. Daran, dass er keine kurzen Definitionen gab, hatte man sich bereits gewöhnt. Der Ausdruck »Neurose« stammt aus einer Zeit, da man noch ziemlich scharf zwischen Körper und Psyche unterschied; er ist aber praktisch zur Bezeichnung eines bestimmten Verhaltens. Es ging Jacoby freilich nicht um schwere Traumata, welche ärztliche Hilfe erfordern, sondern um die leichteren Fälle unseres Alltags. Die meisten Menschen sind irgendwie »neurotisch« dergestalt, dass sie unaufgearbeitete Benachteiligungen mit sich tragen, die ihre Leistungen behindern können, oft in Form von unbegründeten Ängsten. Neurotiker solcher Art sind in unfruchtbarer Weise durch persönliche Probleme besetzt; der eigene Kummer erscheint gross, wirkliches Elend in der Umgebung wird zu wenig wahrgenommen. Damit ist eine

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Verwandtschaft zwischem neurotischem und asozialem Verhalten angedeutet 1 . Jacobys Anliegen war es, dass man sich produktiv mit eigenen Problemen auseinandersetze. Fast alle seine »Angebote« lassen sich als diesbezügliche Anregungen verstehen. Sie zielen auf einen Realitätsgewinn, auf einen direkteren und unroutinierten Kontakt mit unserer Umgebung und unsern Möglichkeiten; ein besseres »Funktionieren« ist angestrebt. - In solcher Perspektive kann man darauf verzichten, Neurosen zu dramatisieren: wenn sie eine produktive Bewältigung des Alltags nicht wesentlich beeinträchtigen, besteht unter Umständen kein Anlass zu einer tiefschürfenden Auseinandersetzung. Die Neurosen waren ein Beispiel dafür, wie Jacoby relativ komplizierte Phänomene mit einfachen Worten behandelte, ohne zum »terrible Simplificateur« zu werden. Er versuchte, wenig Fremdwörter und wenig Fachausdrücke zu gebrauchen. Dies nicht nur, um allgemeinverständlich zu bleiben! Ein Fachjargon birgt immer die Gefahr, noch ungelöste Probleme zu verschleiern. Freilich wurden wir mehr und mehr von Jacobys eigener »Fachsprache« umwoben. Diese zeichnete sich dadurch aus, dass sie, wie gesagt, wenig Fremdwörter enthielt, aber auch keine abstrakten Begriffe und überhaupt nur wenig Substantive. Es ist nicht möglich, das ganze Vokabular aufzulisten, aber einige Ausdrücke seien hier wiedergegeben:

1 Jacoby orientierte sich - was er allerdings nicht sagte - am Neurosebegriff Alfred Adlers, welcher sich von Freuds Sexualtheorie deutlich unterscheidet. Nach Adler leidet der Neurotiker unter einem Manko an (häufig frühkindlicher) Zuwendung und Anerkennung, er fühlt sich in einer feindlichen Umwelt. In Wolfgang Metzgers » Gestalt-Psychologie«, S. 484-487, Verlag Kramer, Frankfurt a.M. (1986), wird der Unterschied der beiden Theorien einprägsam dargestellt.

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Bei sich sein, anwesend sein, stille sein, erfahrbereit, antenniges Verhalten, gelassen sein, sich überlassen, geschehen lassen (anstelle von machen wollen), zu sich kommen lassen (statt glotzen), sich etwas zuwachsen lassen; spüren, ob sich etwas ändern möchte; auf Signale achten, tastendes Verhalten, sich Zeit lassen, stolpern lernen, in Kontakt kommen, sich auf etwas einstellen, Einstellwirkung, Ding was willst du von mir?, zweckmässiges Verhalten, sich bewegen lassen, Munterkeit, auf Entdeckungsreisen gehen, Entfaltung und Nachentfaltung. Bei diesen Ausdrücken geht es meistens um Verhaltensqualitäten, sie verdeutlichen eine bestimmte Betrachtungsweise. Manche mögen anfänglich befremdlich wirken, im jeweiligen Zusammenhang sind sie jedoch nicht leicht ersetzbar. Durch das ganze Buch » Jenseits von Begabt und Unbegabt« trifft man ununterbrochen auf diese »Fachsprache« Entsprechende Vokabeln aus dem moralischen Bereich fehlen dagegen völlig. Es wäre verkehrt anzunehmen, dass Geringschätzung dahinter stand, eher ein Wissen, dass die Teilnehmer von klein auf damit überfüttert waren. Jacoby war der Ansicht, dass der Weg zu ethischem Verhalten nicht über Gebote und Diskussionen führt, dass vielmehr neben einer günstigen Atmosphäre überzeugende Beispiele erfordert sind, an denen man sich orientieren kann.

22. Abend Jacoby kam nochmals auf die Begabungsfrage zu sprechen. Man muss berücksichtigen, dass damals eine grosse Tendenz bestand, hervorragende Leistungen einseitig mit besonderen Erbanlagen zu erklären. Die Stammbäume der Familien Bach (Musik) und Bernoulli (Mathematik) wurden überall als

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Beweis für die Vererbung geistiger Eigenschaften herangezogen. Jacoby schickte voraus, dass es unsinnig wäre, Vererbung abzulehnen. Er stellte aber fest, dass sehr viele Leute - auch Pädagogen, Psychologen und Biologen - mit dem Begriff der Begabung nicht verantwortungsbewusst umgingen. Zu oft gerate man in den spekulativen Bereich: es werden Ansichten geäussert, ohne sie auf ihre Gültigkeit geprüft zu haben. Jacobys Hoffnung war, dass Begabungsfragen in einem naturwissenschaftlichen Stil bearbeitet würden. Dabei müsste - wie in den folgenden Beispielen angedeutet - ein Einfluss der gesellschaftlichen Verhältnisse stärker berücksichtigt werden. Bezüglich der Familie Bach erinnerte Jacoby daran, dass es damals für viele Berufe, so auch für den Musiker, Familientraditionen gab. Er fügte hinzu, dass im Stammbaum der Familie Bach von manchen Personen nur der Beruf »Musiker« vorkomme, über ihr tatsächliches Können sei hingegen nichts bekannt. Im Fall der Bernoulli verstanden anscheinend die meisten historisch orientierten Bearbeiter zu wenig von Mathematik. Denn eigentlich war nur ein Bernoulli (Jacob, 1654-1705) bahnbrechend, die übrigen konnten im Besitze einer neuen Methode verhältnismässig leicht Neuentdeckungen machen. Sie unterrichteten sich innerhalb der Familie; publiziert wurde damals eher wenig.

Warum wohl kam Jacoby an diesem Abend noch auf Sprache, auf Schreiben und Dichten zu sprechen? Wahrscheinlich wollte er einige Anstösse geben, über diesen Bereich nüchterner nachzudenken, als es meistens geschieht.

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Die Schrift ist eine eher junge Erfindung in der Geschichte der Menschheit. Mit Sicherheit weiss der Schreibende nie, ob er vom Leser verstanden wird, und auch das Umgekehrte trifft zu: Versteht der Lesende den Schreiber wirklich? Bestände hier kein Problem, könnte ein Gedicht von Goethe, der doch ein Meister des schriftlichen Ausdrucks war, nicht auf verschiedene Arten rezitiert werden. Übrigens sei der Dichter eine Erscheinung des 19. Jahrhunderts, wogegen Lessing, Schiller und Goethe im Hauptberuf nicht Dichter gewesen seien. »Früher schämte man sich nicht, Geld auf normale Art zu verdienen«.

Nach diesem Abend musste der Kurs für sieben Wochen unterbrochen werden (aus Gründen, die ich mir nicht notierte). Was empfahl Jacoby für diese Pause? Er sagte, wir dürften alles wieder vergessen, aber wir sollten versuchen, uns erfahrund »stolperbereit« zu halten, also offen zu sein, ob uns etwas begegne: kaltes Wasser, Sitzen, die Türfalle, die Treppe. Nicht Glotzen beim Sehen und Hören. Es gebe eigentlich nur zwei Arten des Sich-Verhaltens: das Erhaschen-wollen und das antennige Verhalten. Bei dieser Gelegenheit wies Jacoby noch darauf hin, dass nach seiner Erfahrung ein einziger seiner Kurse nicht ausreiche, mit seinen Anliegen hinreichend vertraut zu werden. Denn es gehe darum, eine Art von Umstellungsarbeit zu leisten, und allein sei dies schwierig: man müsse sich immer wieder erinnern lassen. - Als derartige Fortsetzungen empfahl Jacoby den nochmaligen Besuch von »Einführungskursen«, in denen dann vieles auf anderer Basis erfahren werde als beim ersten Male. Die Erfahrung habe gezeigt, dass sich eine Teilnahme über 3-4 Jahre empfehle.

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23. Abend Ich war verhindert, an diesem Kursabend teilzunehmen, erhielt aber Gelegenheit, das Tonband abzuhören: Es war von Gleichgewichten die Rede. Zunächst im körperlichen Bereich, z.B. beim Sitzen. Wer nicht im Gleichgewicht sitzt, wird Positionen finden, die mehr Aufwand erforden, und die man » Ersatzgleichgewicht« nennen kann. Aus einem solchen - ist es zur Gewohnheit geworden - zum wirklichen Gleichgewicht zu kommen, gelingt nicht leicht. Zunächst muss das Ersatzgleichgewicht als solches erkannt werden (d.h man muss gestolpert sein), doch dann fängt das Probieren erst an. Man wird viel Unzweckmässiges versuchen müssen, um sich allmählich dem Sitzen im Gleichgewicht zu nähern. Um Gleichgewichte geht es auch im psychischen Bereich. Wenn Störungen in Form von Verletzungen (z.B. Enttäuschungen, Kränkungen, Eifersucht, Unterdrückung) auftreten, wird man versuchen, ins Gleichgewicht zurückzufinden; häufig handelt es sich auch hier um ein Ersatzgleichgewicht, und ein solches kann sich lebenslänglich fixieren, z.B. als Protesthaltung, als gestörte Beziehung zu einem Elternteil, als Duckmä usertum etc. Unverarbeitete Verletzungen haben oft unangemessene emotionale Reaktionen und Affekte im Gefolge 1 . Vermeiden lassen sich psychische Verwundungen nicht, sie gehören zum Leben; sich ihrer bewusst zu werden, bedeutet für Jacoby den möglichen Beginn einer Reifung. Er empfahl, sich ein Heft anzulegen und darin kurz zu notieren, wenn man sich über Menschen und Dinge, auch über sich selbst, ärgerte (»Ärgerbüchlein«). Im Rückblick wird man wahrscheinlich 1 Von »angemessenen« Emotionen sprach Jacoby kaum. Die unangemessenen Affekte hingegen waren für ihn insofern ein Thema, als sie sowohl den zwischenmenschlichen Kontakt wie auch die Entfaltung behindern. Spontaneität und Kreativität beruhten für Jacoby nicht auf Zügellosigkeit.

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auf die Wiederholung ähnlicher Situationen stossen, auf empfindliche Bereiche also, auf Achillesfersen. Damit eröffnet sich eine Möglichkeit, eigenen Verhaltensmustern auf die Spur zu kommen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Eine derartige Auseinandersetzung kann Resultate bringen, zu denen man auch in einer Psychoanalyse gelangt, dort freilich mit viel grösserem Aufwand 1 . Zur Psychoanalyse riet Jacoby, obschon er viel von Freuds Erkenntnissen hielt, nur mit Vorbehalt; er bezeichnete sie als Glückssache: Analytiker und Patient müssen zusammenpassen. Jacoby betrachtete die Psychoanalyse nur dann für angezeigt, wenn jemand sozial nicht mehr tragbar war. Häufig lassen sich Schwierigkeiten auf einfacherem und rationalem Weg angehen: Klarmachen der Situation; zeigen, dass es sich um ein allgemeines Problem handelt etc. Sich auf die angedeutete Art mit Emotionen und Affekten zu beschäftigen, ist ein längerfristiges Unternehmen. Man wird versuchen, mit Affektsituationen des Alltags »an Ort und Stelle« fertig zu werden. Jacoby verstand darunter ein Abklingenlassen von Erregungen, ein Wiederfinden des Gleichgewichts und des Bei-sich-seins. Er wies nochmals auf die Parallelen zum Körperbereich hin, nicht zuletzt auf die Versuche mit kaltem Wasser. Auf eine ähnliche Weise geht es auch dort darum, ein Sich-Zusammenziehen und eine (muskuläre) Überspannung abzubauen, den (Kälte)schock zu bewältigen, um in direkten Kontakt mit der Realität (kaltes Wasser) zu kommen. Dieses Abklingen darf aber nicht bis zur Erschlaffung reichen, denn im erschlafften Zustand geht das Widerstandsvermögen verloren. Um Gleichgewichte geht es nach Jacoby auch im gesundheitlichen Bereich Er betrachtete Krankheiten als Gleichgewichts-

1 Die milderen Formen der Psychotherapie (z.B. Gesprächstherapie) gab es damals noch kawn.

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störungen. Es wäre Aufgabe jedes Einzelnen, seine Lebensweise an einer Gesundheitsbalance zu orientieren, statt sich darauf zu beschränken, im Fall von Störungen den Arzt aufzusuchen. Jacoby zitierte den berühmten griechischen Arzt Galen (129- 201): Wer mit 40 Jahren nicht sein eigener Arzt geworden ist, wird nie einen finden. Im alten China wurden die Ärzte für die gesunden Tage bezahlt! Jacoby hatte viel übrig für »Naturmethoden«: eine sorgfältige Ernährung mit unraffinierten Produkten, Frischluft, Bewegung, anregende Wechselbäder. Eine beträchtliche Rolle spielte für ihn eine gut funktionierende Verdauung. Menschen mit chronischer Verstopfung empfahl er, sich öfters »durchzuputzen«.

24. Abend Jacoby kam rückblickend auf die » Verabredungen« zu sprechen, welche er im Lauf des Kurses vorgeschlagen hatte, so auch auf die allererste: Vor Beginn der Stunde still zu werden, das Verflossene auftauchen zu lassen und für Kommendes bereit zu werden. Jacoby bezeichnete das Einhalten von Vereinbarungen als ziemlich anspruchsvoll, da niemand dazu mahnt. Vielmehr wird selbständiges Mitmachen und bereitwilliger Einsatz erwartet. Wenn dies in einem Kreis, der auf freiwilliger Teilnahme beruht, schon schwierig ist, wieviel schwerer werden es Erzieher (Eltern, Lehrer) haben. Damit leitete Jacoby erneut zum Thema Schule über. Ihre Methoden sind zwar moderner geworden, man arbeitet mit Psychologie etc; doch Jacoby war misstrauisch: Vom jungen Lehrer kann man kaum anderes erwarten, als das, was er selbst erlebte, und das ist im Grunde ein gewaltmässiges Vorgehen. Die Schule verlangt das Erfüllen von Programmen. Im Rahmen der geltenden Lehrpläne ist es schwierig, das Leben zu erreichen. - In solchem Zusammenhang kam die Rudolf SteinerSchule ins Gespräch. Jacoby wusste über sie Bescheid; er wies

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darauf hin, dass manches bereits vor Rudolf Steiner angebahnt war. Im Hinblick auf den folgenden, den letzten Abend des Einführungskurses, kehrte Jacoby nochmals zum »Schauen« (siehe 10.-14. Abend) zurück. Die Schauqualität steht in enger Beziehung zu unserer Gesamtverfassung. Antenniges, gelassenes Schauen vermittelt andere Eindrücke als eine auf Raffen gerichtete Einstellung. Ein Teilnehmer teilte mit, dass er auch ohne Augenbinde zu einem Abbau der Schauabsicht gelangt sei. Nach Jacoby beruhte dies eher auf glücklichem Zufall; durch sorgfältiges Probieren werde man die Vorteile einer Binde im Anfang erleben. Ihre Wirkung beruht vor allem auf der Herabsetzung der Lichtintensität, vielleicht auch auf einer sanften, beruhigenden Wirkung des Druckes. - Ein Abbau der Schauabsicht vermag die Gesamtverfassung zu beeinflussen, also auch gelassenes Lauschen zu begünstigen. Als Beispiel zeigte Jacoby Fotos des Cellisten Casals, wie er mit instinktiv geschlossenen Augen musizierte. - Schauspieler auf der Bühne sind in einer vergleichsweise schwierigeren Situation; sie dürfen die Augen nicht schliessen. Hier ist Gelassenheit und Beisich-sein mit geöffneten Augen gefragt, eine anspruchsvollere Forderung.

25. Abend Jacoby kam nochmals zurück auf das gelassene Schauen, auf den Abbau der Schauabsicht; dann besteht die Chance, lebendige und plastische Gestalteindrücke zu erfahren. Vor allem das Wahrnehmen von räumlichen Strukturen bedeutete für Jacoby den intensiven Kontakt mit einem Gegenstand. Verglichen damit waren für ihn die Konturen zunächst zweitrangig. - Worauf nun beruhen die plastischen Eindrücke? Es sind die Helligkeitsunterschiede innerhalb der Objekte.

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Deshalb waren Helldunkel-Versuche für Jacoby die beste Kontrolle, ob ein Zugang zu gelassenem Schauen gefunden wurde. Unter Helldunkel-Versuchen verstand er Zeichnungen, bei deren Herstellung man einzig auf Unterschiede in der Helligkeit reagiert. Dabei bieten einfarbige Objekte Vorteile. Es wird also darum gehen, nicht Linien, sondern Flächen wiederzugeben. »Linien gibt es nicht«, war eine von Jacobys überspitzten, pädagogisch jedoch nützlichen Feststellungen. Die Aussage trifft insofern zu, als Linien immer dort auftreten, wo sich Flächen verschiedener Helligkeit berühren. Als bedauerlich bezeichnete es Jacoby, dass in der Schule und schon im Vorschulalter häufig mit Bleistiften gearbeitet wird; dadurch geraten die Kinder weg von flächigen Wiedergaben, die spontaner wären. »Eigentlich möchten die Kinder lebensgrosse Bilder erzeugen, indem sie die Wände mit Dreck beschmieren«. Flächig wurde in den Höhlen der »primitiven« Kulturen in der Steinzeit (Altamira, Lascaux) gemalt (Strichzeichnungen aus der Steinzeit betrachtete Jacoby als weniger ursprünglich, als eventuell spätere Entwicklungsstufe). Frühere Maler, die ein Sujet rasch festhalten wollten, haben skizziert; was ihnen dabei wichtig war, wurde flächig dargestellt, Linien dienten mehr den »Nebensächlichkeiten«. - Auch im Schulunterricht müsste man mit flächigen Darstellungen beginnen. Andernfalls überspringt man die wesentliche Stufe einer intensiven Kontaktnahme mit dem Gegenstand. Das Strichzeichnen hingegen beruht auf Abstraktion und sollte, da es schwieriger ist, auf einen späteren Zeitpunkt verlegt werden. In der Folge zeigte Jacoby Serien von Helldunkel-Versuchen aus früheren Kursen (Diapositive) 1 . Jede Serie stammte von einem ehemaligen Teilnehmer, und immer war eine jener Zeichnungen dabei, die man vor Kursbeginn hatte einreichen

1 Wiedergegeben im Buch » Jenseits von Begabt und Unbegabt« (siehe Literaturverzeichnis).

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müssen. Es waren oft jämmerliche Ausgangsdokumente, und Jacoby bemerkte, die späteren Zeichnungen seien in manchen Fällen gegen grossen Widerstand ausgeführt worden: weder der Teilnehmer selbst, noch die häusliche Umgebung glaubten anfänglich an seine Fähigkeiten, er galt für unbegabt. Die erzielten Resultate hingegen waren erstaunlich, beeindruckend auch die raschen Fortschritte. Für Jacoby war es wesentlich, die in verhältnismässig kurzer Zeit erzielten Resultate mit den Ergebnissen eines neunjährigen schulischen Zeichenunterrichts zu vergleichen. Er betonte, dass der Erfolg weitgehend davon abhängt, wie die Aufgabe gestellt wird, dies nicht nur beim Zeichnen. Die »zweckmässige Aufgabenstellung« führt hin zum zweckmässigen Gebrauch der natürlichen Gegebenheiten.

An diesem letzten Kursabend las Jacoby nochmals das seinerzeit auf der Einladung skizzierte Kursprogramm vor. Er fragte, ob die betreffenden Sätze aussagekräftiger geworden wären. Auch gab er seiner Hoffnung Ausdruck, dass das Wesentliche des Kurses richtig verstanden worden sei: dass nämlich Jacobys Vorgehen nicht nur als seine persönliche Ansicht betrachtet werden sollte, sondern überpersönliche, also allgemeingültige Anteile enthalte. Beim antennigen Verhalten und beim greifen-wollenden Verhalten handle es sich um zwei grundlegende Verhaltensweisen von allgemeingültiger Bedeutung. Eine Umorientierung sei möglich durch die Verlagerung des Interesses auf den eigenen Zustand, das Verhalten und die Art der Aufgabenstellung, dies alles begleitet von einem Abbau des Begabungsdenkens und des Erfolgsstrebens. Man wird dann »auf einer andern Leitung« funktionieren; Erfolge - falls sie sich einstellen - »kommen aus einer ganz andern Gegend« und sind eher als Begleitprodukte einer neuen Gesamtverfassung zu verstehen.

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F ortsetzungskurs

Einleitung Der Fortsetzungskurs begann im Januar 1952, also nach einer etwa halbjährigen Pause. Er zog sich in den Sommer hinein und umfasste 21 Abende. Der äussere Rahmen und die Art der Durchführung blieb unverändert (Improvisatorisches Vorgehen Jacobys; Einsprechen und Fragen jederzeit erwünscht). Der Einführungskurs - das war Jacobys Meinung - hätte an sich genügend Stoff für eine lebenslängliche Beschäftigung geboten; doch die Erfahrung habe ergeben, dass sich im Anfang ein häufiges Erinnern empfehle, ohne welches die Gefahr bestehe, dass sich die Eindrücke des ersten Kurses verflüchtigen und verdünnen bzw. sich verschieben und deformieren. Dieses Erinnern sei das eigentliche Motiv des Fortsetzungskurses. Es zeigte sich dann aber, dass Jacoby deutlichere thematische Schwerpunkte legte. Es handelt sich um folgende Bereiche: das Ankommen; Sprechen; Schauen/Zeichnen; Körperbeziehung (incl. Spannen/Entspannen/Erschlaffen); Krankheit/Gesundheit; Pädagogik. Die folgende Darstellung basiert wiederum auf meinen Kursnotizen. Ich verzichte diesmal auf die bisherige Ausführlichkeit, werde vielmehr versuchen, in kompakter und vor allem in thematisch geordneter Form zu referieren. Die einzelnen Abschnitte enthalten also Kursstoff, welcher ursprünglich über viele Abende verstreut war. Einen Hintergrund des Kurses bildete Jacobys Kritik am voreiligen Begabungsdenken; man sollte sich von ihm lösen, da es ein Fragen nach den wesentlichen Dingen und Zusammenhängen verbaut. Jacoby war überzeugt, dass jeder Mensch viele verborgene, ungenutzte Möglichkeiten in sich trägt;

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doch sah er seine Kursteilnehmer als Gefangene ihrer jeweiligen Biografie: ihre Entfaltung war zu wenig gefördert, oft sogar behindert worden. Es gilt, ein Bewusstsein für entfaltungsfördernde und -hemmende Einflüsse zu entwickeln, dies durch eine Auseinandersetzung mit allem, was in der Schule, in der Gesellschaft und in der häuslichen Erziehung sich abspielt. Wer an den Kursen teilnahm, musste offen sein für eine Revision seiner Gewohnheiten. Jacoby zielte letzlich auf Nachentfaltung 1 ; er wollte etwas in Bewegung bringen, und das auf experimentell/praktischem Weg. Zunächst geht es darum, »Stolpern« zu lernen 2 • Stolpern ist für Jacoby ein spontanes Entdecken bzw. lnnewerden von Routinen, also von eingeschliffenen Verhaltensweisen, welche den spontanen Kontakt mit der jeweiligen Aufgabe in Frage stellen. Einen Abbau solcher Routinen erwartet Jacoby vom praktischen »Probieren« und Experimentieren. Begünstigt wird das Probieren - aber auch das Stolpern - durch Jacobys »Angebote« und »Verabredungen«; auf ihre zentrale Rolle werden wir zurückkommen. Angebote sollen - unter anderm - eine wache, gelassene Erfahrbereitschaft entwickeln, nicht zuletzt auf dem Weg einer allgemeinen Mobilisierung. Gerade die Mobilisierung ist als wesentliche Perspektive stets im Auge zu behalten. Schon zu Anfang dieses Kurses gab Jacoby seiner Hoffnung Ausdruck, vermehrt »gebraucht zu werden«. Er meinte damit, die Teilnehmer sollten in Form von Resümees, von Einzelgesprächen oder durch Fragen in den Kursstunden über ihre Erfahrungen berichten. Vor allem interessiere es ihn, welchen Schwierigkeiten man im Alltag oder beim »Probieren« begeg-

1 Entfaltung bedeutet eine Entwicklung in Richtung von Offenheit, Selbständigkeit und Kreativität. 2 Siehe auch Einführungskurs: 7. und 9. Abend.

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ne, wo man nicht zurecht komme, wo es nicht weitergehe. Er verfüge über Erfahrung im Umgang mit Blockaden und könne vielleicht etwas zu deren Bewältigung beitragen, also Tips geben, wie man im Einzelfall fortschreiten sollte.

»Ankommen« Jacoby verstand unter dem »Ankommen« verschiedene Arten der Präsenz. Zunächst geht es um die persönliche Verfassung, im weiteren um den Kontakt (z.B. zwischenmenschlicher Kontakt). Wie gelangt man dazu, häufiger »bei sich« zu sein? Ein erster Schritt ist es, überhaupt Unterschiede der eigenen Verfassung zu registrieren. Unterstützend wirkt ein Abklingenlassen von Unruhe, ein Stillerwerden. Jacoby bezeichnete das »Bei-sich-sein« im Alltag als anspruchsvoll; aber es lasse sich an kleinen Dingen und Aufgaben üben. Der Kurs oder auch ein Kämmerlein könne als Laboratorium dienen. Jacoby wies darauf hin, dass es noch andere Wege gibt, seine Verfassung zu beeinflussen, sich »einzustimmen«, so z.B. Rituale: der Pianist Paderewsky spielte vor seinen Konzerten Billard, Haydn ging vor dem Komponieren zum Barbier. Nach Jacoby wäre eine bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen Verfassung geeignet, uns aus der Abhängigkeit von Stimmungen zu befreien; dann würde es sich erübrigen, zu Ritualen Zuflucht zu nehmen. Bei-sich-sein begünstigt den Kontakt: Man spricht nicht mehr schneller, als die eigenen Ohren zu folgen vermögen, man hört sich zu. Die Mutter redet nicht an ihrem Kind vorbei, der Vortragende spürt Aufmerksamkeit der Zuhörer. »Bei-sich-sein« bedeutet einen Zustand; er wirkt ansteckend, der Partner kann sich seiner Wirkung nicht entziehen. Hinzu kommt, dass man durch die Wachheit, welche das Bei-sich-sein begleitet, selbstkritischer wird.

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Ein »Angebot« während der Kursstunde: einige Teilnehmer hatten im Kreis auf dem Boden zu sitzen. Jacoby stellte einen Ball zur Verfügung, den man einem Teilnehmer (bzw. einer Teilnehmerin) zuspielen sollte. Bevor das Zuspiel erfolgte, musste die gewählte Person durch Mimik informiert werden, und sie hatte durch Gegensignale ihre Bereitschaft zum Ausdruck zu bringen. Eine Änderung des Zustandes, nämlich grössere Straffheit wird sich einstellen. Dieses an sich harmlose Spiel sollte den Unterschied zwischen subtiler Kontaktnahme und »Mit-der-Tür-ins-Haus-fallen« illustrieren und erleben lassen. Die Idee bestand darin, solch kleine Erlebnisse auf den »Ernstfall« zu übertragen, d.h. im alltäglichen zwischenmenschlichen Bereich anzuwenden. - Gleichzeitig liegt hier ein Beispiel dafür vor, wie Jacoby versuchte, ein Problem ohne grosse psychologische Abhandlungen oder Belehrungen anzugehen und erfahrbar zu machen.

Schauen/Zeichnen Schauen/Zeichnen war bereits das Thema des letzten Abends im Einführungskurs. Jacoby nahm es wieder auf und verliess es nicht mehr, es wurde kursbegleitend. Ausgangspunkt war die Auseinandersetzung mit dem Schauverhalten: Gelingt es, die Schauabsicht abzubauen? Gelingt es, beim Schauen zwei gänzlich verschiedene Verhaltensweisen zu erfahren: das Haben-wollen/Glotzen einerseits, das antennige »Auf sich zukommen lassen« andrerseits? Es handelt sich um Gegensätze, die auf einer unterschiedlichen Verfassung beruhen. Freilich lässt sich ein gelassen/antenniger Zustand nicht erzwingen, nur begünstigen: durch Versuche, Unruhe abklingen zu lassen und stiller zu werden. Wie bereits im Einführungskurs erwähnt, verstand Jacoby das

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Zeichnen als Überprüfung und Kontrolle des Schauverhaltens. Dabei sprach er konsequent nur von Helldunkel-Versuchen. Beschränkt man sich darauf, ausschliesslich die wahrgenommenen Helligkeitseindrücke wiederzugeben, bedeutet dies den Verzicht aufs Zeichnen von Linien, zumindest im Frühstadium des Versuchs. Die Aufforderung, nur Helldunkel-Eindrücke wiederzugeben, gehört in den Bereich der »zweckmässigen Aufgabenstellung«. Zweckmässig bedeutet, dass - anknüpfend an natürliche menschliche Gegebenheiten - der Zeichner sich nicht überfordert fühlt, was seine Entfaltung fördern wird. Zugleich begünstigt eine geeignete Aufgabenstellung - das ist meine persönliche Erfahrung - die Gesamtverfassung (Beisich-sein). In den Kursen wurde nie gezeichnet, dies geschah zu Hause. ( «Helldunkel-Versuche des Autors» siehe Seiten 137-142.) Im Anfang musste man mit einem Minimum an Ratschlägen auskommen. Immerhin machte Jacoby - es wurde erwähnt - Anregungen, indem er Dias von Zeichnungsserien aus früheren Kursen zeigte. In seiner Vorstellung sollten die geeigneten Zeichenutensilien eigentlich selbst gefunden werden. Trotzdem gab er konkrete Hinweise, wenn auch nur spärliche. Er nannte ein mögliches Papierformat von 35x50cm, wobei auch Packpapier in Frage komme. Da das Abdunkeln von Flächen mittels Bleistiften mühsam und zeitraubend ist, empfahl Jacoby käufliches Graphitpulver, ein viel bequemeres Hilfsmittel. Ferner wies er auf Knetgummi hin, welcher beim Aufhellen dunkler Flächen wegen seiner Ausgiebigkeit besonders geeignet sei. Die Teilnehmer brachten ihre Versuche in den Kurs. Sie wurden ausgelegt. Jacoby kritisierte nur insofern, als er zur Diskussion stellte, ob es dem Zeichner gelungen war, die Verabredungen einzuhalten. Auffallend waren die raschen Fortschritte bei diesem weitgehend autodidaktischen Vorgehen.

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Anhand solcher Versuche liess Jacoby weitere Ratschläge einfliessen, blieb aber zurückhaltend. Er praktizierte dabei ein pädagogisches Grundprinzip: zu Anfang möglichst wenig Hilfe anbieten, die ersten Schritte sollten allein ertastet werden. Erst wer selbst probiert hat, wird genügend aufnahmebereit für detailliertere Anregungen. Solch eingestreute Empfehlungen waren zum Beispiel -

Die Wahl des· Objekts. Jacoby empfahl einfarbige Gegenstände, weil bei ihnen die Übersetzung der Farbe in eine adäquate Dunkelstufe entfällt. - Der Zeichner sollte an seinem Objekt bzw. an der gestellten Aufgabe interessiert sein. Gewählt wurden häusliche Gegenstände, manchmal auch Büsten.

- Jacoby warnte davor, die Gegenstände von ihrer Umgebung bzw. vom Hintergrund zu isolieren. Für ihn hätte dies bereits eine gewisse Verletzung der Grundvereinbarung bedeutet: Helldunkel-Eindrücke wiederzugeben. Er warnte auch davor, Bilder machen zu wollen; es genüge, bei komplizierteren Objekten sich auf einen Ausschnitt, auf ein Detail zu beschränken. Es ging ihm also auch um einen Abbau jenes Anspruchs, bereits etwas Definitives und Vorzeigbares zu liefern. -

Dringend riet Jacoby zu Beleuchtungsstudien: Variieren der Lichtquelle, direktes Licht aus verschiedenen Richtungen, diffuses Licht. Dabei lernt man seinen Gegenstand besser kennen, erhält Kontakt mit ihm und erfährt eine Menge von Wiedergabemöglichkeiten. Gleichzeitig bedeuten solche Studien.auch ein Sich-einstimmen auf den zeichnerischen Vorgang.

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Auf Packpapier als Zeichenfläche wurde bereits hingewiesen. Diejenigen, die weisses Papier bevorzugten, machte Jacoby auf dessen Blendwirkung aufmerksam. Er empfahl

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daher, das Papier vor Beginn auf eine helle Graustufe zu tönen. Er verglich diese Vorbereitung mit dem Grundieren der Leinwand durch den Maler, einem für Jacoby wesentlichen Schritt: Grundieren bietet die Chance, sich einzustimmen bzw. sich auf das noch Kommende einzustellen. -

Von Zeit zu Zeit musste Jacoby an die anfängliche Verabredung erinnern: es gehe um die gehorsame Wiedergabe von optischen Eindrücken bei antennigem Verhalten. Es gehe nicht darum, Bilder zu erzeugen; Ästhetik stehe also nicht zur Diskussion, es gehe auch nicht um persönlichen Ausdruck, schon gar nicht um Kunst (Kunst könne man nicht machen sie passiere einem vielleicht). Und immer wieder: Nicht das Niveau der Zeichnungen an sich stehe zur Diskussion, sondern die auf den Anfangsstatus bezogene Entwicklung.

Nach Jacoby boten die Zeichenversuche Gelegenheit zu einer Selbstbegegnung. Die Vorurteile bezüglich Unbegabtheit werden bei den meisten Teilnehmern relativ schnell relativiert bzw. in Frage gestellt. Es liegt also nahe, bei sich selbst analoge Bereiche zu vermuten, deren Entfaltung blockiert ist, die sich aber entwickeln liessen. Diese breite Palette von Darlegungen und Ratschlägen sollte demnach nicht als Zeichenunterricht interpretiert werden, vielmehr als ein Modell dafür, was unter einer gründlichen Auseinandersetzung mit einer gestellten Aufgabe zu verstehen sei, und wie man vorgehen könnte. - Jacoby wies bei dieser Gelegenheit darauf hin, dass im Fall einer spezifischen Interessenlage (z.B. Musik) ein entfernter Bereich (z.B. Zeichnen) eher die grösseren Chancen böte, das Wesentliche seiner Pädagogik zu erfassen. Dies deshalb, weil man sich auf einem Sekundärgebiet meistens unbeschwerter bewege.

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Körper Durch die Zivilisation entfernen wir uns zunehmend von der Natur; deshalb wird meistens beeinträchtigt, was man einen »anlagegemässen« Gebrauch des Organismus nennen könnte. Zu denken ist dabei sowohl an den körperlichen wie an den nichtkörperlichen Bereich. Nun waren Wechselwirkungen zwischen Körper und Psyche für Jacoby eine Selbstverständlichkeit, und solche Verflechtungen bedeuten, dass man sich für gutes Funktionieren im Alltag auch um eine bewusste Körperbeziehung kümmern sollte. Für einen ursprünglicheren Gebrauch des Körpers verfügen wir über eine innere Instanz; wir können durch sie erfahren, wie sehr unser Zustand bzw. unser Verhalten sich in Ordnung oder Unordnung befindet (indem unsere Instanz z.B. über Gleichgewichte, über Wohlbefinden und über Unbehagen orientiert). - Gleichzeitig ist der Körper ein geeigneter Experimentierplatz: Was ist unter Routine/Stolpern/Probieren zu verstehen? Im folgenden seien einige von Jacobys zahlreichen »Angeboten« skizziert: Signale: Der Körper teilt uns durch Signale seinen Zustand mit (Hunger, Ermüdung, Schmerz, Wohlbefinden etc.). Ein Ernstnehmen solcher Informationen kann beitragen, beziehungsvoller und ökonomischer mit sich selbst umzugehen. Auch hier begünstigt Stille die Erfahrbereitschaft. Mit der Zeit werden sich Bedürfnisse deutlicher melden, z.B. das Bedürfnis, sich zu dehnen, zu strecken und durchzuatmen. Beim Erwachen gibt es solche Tendenzen, und man sollte versuchen, ihnen nachzugeben (»Säuglingserwachen«), um sich auf eine natürliche Weise zu mobilisieren. Es geht nie darum, Vorschriften zu befolgen, sondern um das »Spüren, ob sich etwas ändern möchte«. Schwerkraft: Bei fast allen unseren körperlichen Tätigkeiten 57

ist die Schwerkraft im Spiel. Jacobys Angebote zielten darauf, mit der Schwerkraft in bewussten Kontakt zu gelangen. Er verteilte kleine Sandsäcklein, die man ganz langsam von der Unterlage abheben und anschliessend wieder sinken lassen sollte. Wesentlich war, die möglichen Varianten zu erfahren. Es sind dabei zwei Blickpunkte zu unterscheiden: - die Beziehung zum erforderlichen Aufwand - die Frage: Was spielt sich während des Vorgangs im eigenen Organismus ab? Ähnliche Aufgaben waren das Anheben eines Hockers oder das Aufstehen und Sich-setzen. Es handelte sich um Ansätze, mit dem eigenen Funktionieren vertrauter zu werden. Spannen-Entspannen: Das Gebiet war noch nicht so publik wie heute. Bei Jacoby ging es zunächst darum, unterschiedliche Spannungszustände überhaupt wahrzunehmen. Wieder mag das Anheben von kleinen Lasten als Beispiel dienen. Wir agieren häufig routiniert, nämlich mit Überdosierung, also unökonomisch. Ist die Last angehoben, verharren wir vielleicht verspannt, und auf dem Rückweg geraten wir in Erschlaffung. Erschlaffen bedeutete für Jacoby eine Unterbrechung des Vorgangs, einen Verlust der Aktionsbereitschaft. Jacobys Anliegen bestand darin, durch »anwesendes Probieren« eine Beziehung zum jeweils geforderten Aufwand zu entwickeln, also die Spannung der Situation anzupassen. Rezepte lassen sich keine aufstellen, weil das jeweils Zutreffende auch von der Erwartung des noch Kommenden beeinflusst wird. Das Thema Spannung reicht weit über den Körperbereich hinaus: Viele unserer Wahrnehmungen sind von Spannungsänderungen begleitet, und alle unsere Äusserungen (Sprache, Musik) beinhalten Spannungsabläufe, sowohl psychische wie physische. - überhaupt ist unsere Verfassung in beträchtlichem Ausmass eine Frage des Spannungszustandes, und auf eine angemessene Spannung zielen auch die vorhin erwähnten Ansätze, sich zu mobilisieren.

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Einseitigkeit: Die Bevorzugung der rechten Hand bzw. der rechten Körperseite hat meistens zur Folge, dass die linke Seite unterentwickelt bleibt. Daraus erwächst aber eine Chance, Nachentfaltung modellmässig studieren zu können. Jacoby empfahl, möglichst oft die ungeübte Körperseite zu benutzen, z.B. die Türen linkshändig zu öffnen und überhaupt alternativ zu funktionieren. Hat man damit begonnen, wird man schnell den grossen Unterschied zwischen routiniertem und unroutiniertem Verhalten erleben und auch die Chancen eines nichtroutinierten Verhaltens erkennen. Dabei bildet sich eine konkretere Vorstellung, worum es bei einer Nachentfaltung geht. Von solchen Versuchen erhoffte sich Jacoby auch eine grössere Balance, die sich allmählich auf den ganzen Organismus ausdehnen sollte. Zu erwarten sind günstige Wirkungen auch auf praktische Tätigkeiten (Arbeiten mit den Händen, Musizieren).

Füsse: Als Folge der Zivilisation bleibt die Greiffunktion unserer Füsse weitestgehend unentwickelt, wir benützen sie fast nur zum Stehen und Gehen. Säuglinge hingegen spielen gern mit den Füssen und machen Greifversuche. Doch letztere werden - weil man den Kindern Schuhe anzieht - immer seltener. Der Erwachsene schenkt seiner Fussregion meist nur geringe Beachtung, sie tritt kaum ins Bewusstsein. Das äussert sich z.B. in der Wahl von unzweckmässigem Schuhwerk (Mode!}. Nicht selten kommt es zu Deformationen der Füsse, und ungünstige Folgen können sich bis hinauf ins Gebiet der Wirbelsäule ergeben. - Jacoby empfahl, z.B. durch Greifversuche zu einer Nachentfaltung der Fussregion (die er bis in die Leistengegend erweiterte) zu gelangen, vor allem aus folgenden Gründen: -

Gesundheitlicher Gesichtspunkt: Durch aktive Betätigung werden die genannten Zonen besser durchblutet. Ihre Mo-

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bilität verbessert sich, die Muskulatur wird sich entwickeln. J acoby erwartete günstige Wirkungen nicht nur für das Stehen und Gehen, sondern auch für den Gesamtorgamsmus. -

Auch die Füsse bieten Chancen, Jacobys Anliegen zu verdeutlichen. Er empfahl z.B., die Türfalle mit den Füssen zu betätigen und machte dabei folgende Unterscheidung: Entfaltung ist zu erwarten, wenn sich der Fuss vom Wirkungsort gleichsam »anziehen« lässt, gleichviel, ob er ihn erreicht oder nicht. Unproduktiv wäre hingegen die forcierte Bewegung, die nicht harmonisch wächst, sondern durch ein vorgefasstes (im Grunde intellektuelles) Programm erzwungen wird. Die beiden Varianten entsprechen ziemlich genau dem Gegensatz von Geschehenlassen und Machenwollen; der Unterschied lässt sich so modellmässig studieren. Übertragungen auf andere Gebiete (z.B. Musik) sind naheliegend.

- Jacoby zeigte in solchem Zusammenhang Bilder aus seiner Behinderten-Dokumentation: Armlos Geborene, die den Alltag mit ihren Füssen meistern. Er regte an, zu Hause mit den Füssen zu schreiben. In der Tat wird man so in eine Situation geraten, die völlig frei von Routine ist, und man wird an einem harmlosen Beispiel sein eigenes Verhalten mitverfolgen können. Vielleicht wird man beobachten, dass kleine Erfolge bereits zu ersten Routinen bzw. zum Einspuren in »Erfolgskanäle« verleiten. Oder man erliegt der Verführung, Kunststücke vollbringen zu wollen (während die Verabredung darin bestand, neue Wege zu entdecken). - Darüber, dass manche Angebote sehr ungewohnt waren, befand sich Jacoby im klaren, und einmal sagte er, ein Aussenstehender würde seinen Kurs wohl als Narrenhaus ansehen.

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Gesundheit/Krankheit

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Gesundheit und Krankheit war ein weiteres Dauerthema. Jacoby behandelte es in einer damals eher ungewohnten und interessanten Weise; daher entging es mir, dass sein Anliegen einen ganz persönlichen Hintergrund haben konnte: Vielleicht war sein eigener Gesundheitszustand ziemlich labil. Jacoby vertrat auch im medizinischen Bereich eine möglichst ganzheitliche Sichtweise. Krankheiten an sich gab es für ihn nicht, er bezeichnete sie als Symptome der Störung von Gleichgewichten. Man sollte mehr nach den Faktoren des Gesund-bleibens, also nach der Prophylaxe fragen. Dementsprechend vertrat er eine gesunde Lebensweise. Dazu gehört die Ernährung (Jacoby war Vegetarier), eine geregelte Verdauung, gutes Durchatmen (in Jacobys Verständnis ein Beitrag zur Entgiftung), ferner die Anregung der Blutzirkulation, sowohl durch viele Arten von Bewegung, wie auch durch Fussbäder (einmal machte er - ganz gegen seine sonstigen Aufforderungen, auf Entdeckungsreisen zu gehen - sehr präzise Empfehlungen für Wechselbäder: Dauer des Eintauchens, obere und untere Temperatur, Anzahl der Zyklen, ungefähre Eintauchtiefe, allfälliges Einölen). Für den Fall von gesundheitlichen Störungen empfahl Jacoby, bewährte Hausmittel in Betracht zu ziehen wie Fasten, »Durchputzen«, Schwitzen (die Haut als Ausscheidungsorgan), Wickel auflegen. Eine solche teilweise Rückkehr zur traditionellen »Volksmedizin« war damals wenig üblich; sie bedeutete eine Gegenposition zur oft mechanistischen, d.h. nicht ganzheitlichen Denkweise der Schulmedizin. Die Ausbildung zum Mediziner war Jacoby zu sehr auf die Erkennung von Krankheiten und deren Behandlung, m semer 1 Siehe auch Einführungskurs:

23. Abend.

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Perspektive auf Symptome ausgerichtet, zu wenig auf das Vorbeugen. Er tendierte dahin, dass man so weit als möglich sein eigener Arzt werde; das würde etwa bedeuten: Man begnügt sich nicht damit, sich vom Arzt Krankheiten bzw. ihre Symptome wegtherapieren zu lassen, sondern kümmert sich selbst um die möglichen Ursachen einer Störung. Man fühlt sich für die Gesundheit mitverantwortlich und ist bereit, das Verhalten - falls nötig - zu ändern. Dazu gehört auch eine Bereitschaft, auf die vom Organismus ausgehenden Signale zu achten. Es handelt sich z.B. um das Wahrnehmen von Unterschieden im Zustand und Befinden, wie es im vorangehenden Kapitel (Körper) skizziert wurde. Zu entwickeln ist ein Vertrauen in die eigene Kompetenz (Instanz), welche über das Angemessene und Bekömmliche orientiert, aber auch die Grenzen mitteilt und vor Exzessen warnt. Das grosse Interesse Jacobys am medizinischen Bereich sollte freilich noch in einem übergeordneten Zusammenhang gesehen werden. Es ging ihm ums Funktionieren im Alltag und um qualifizierte Leistungen. Hierfür ist Leistungsbereitschaft und Mobilisation erforderlich, Voraussetzungen also, die mit dem Gesundheitszustand verknüpft sind.

Sprachliche Äusserung Sprechen ist das wichtigste Kommunikationsmittel; es verschafft uns den täglichen Kontakt mit der menschlichen Umwelt. Daher liegt es nahe, sich mit der Qualität sprachlicher Äusserungen zu beschäftigen. Wo soll man mit der Überprüfung unseres Sprechens beginnen? Im Alltag? In der Tat kam von Jacoby öfters die Aufforderung, sich selbst zuzuhören. Oder er ermunterte dazu, mit Reden erst anzufangen, wenn zum Ansprechpartner ein gewisser Kontakt entstanden ist.

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Aber die eigentlichen Sprechversuche wurden mit vorgeformten Texten aus der Literatur (meistens Gedichte, aber auch Prosa) unternommen. Die Vorarbeit war zu Hause zu leisten. Man sollte den Text selbst wählen, von ihm berührt und erfüllt sein, sich von ihm mobilisieren und verwandeln lassen (»Text, was willst du von mir?«) und ihn gern vortragen wollen. Handelt es sich um gute Literatur, wird sie tragfähig sein, d.h. der Sprecher wird sich ihr überlassen dürfen. Solches »Sich-überlassen« beruht auf Vertrauen zum Text, man lässt sich von ihm führen, will ihm nicht nachhelfen (nicht gestalten oder gar »eins draufsetzen«). Also nichts »Machen-wollen «, sondern die Wiedergabe sich vollziehen lassen (»Geschehen-lassen«). Nun gibt es allerdings eine Reihe von Umständen, die das »Geschehen-lassen« in Frage stellen. Es sind vor allem die Konventionen und Routinen, in welche wir früh hineinwachsen. Sich mit Sprechgewohnheiten auseinanderzusetzen und sie abzubauen, zielt nicht allein auf die sprachliche Äusserung als solche; vielmehr liegt auch hier ein Modell vor für eine Auseinandersetzung mit Konventionen ganz allgemein. Jacoby wies darauf hin, dass wir meistens auf ein metrisches Rezitieren gedrillt sind (»Leiern«), und dass damit eine Erschlaffung am Zeilenende verbunden ist, wodurch der Fluss gefährdet wird 1 . Er empfahl, Gedichte in einen fortlaufenden Text umzuschreiben, dadurch den Gehalt deutlicher werden zu lassen und ihn als Mitteilung des Dichters zu begreifen. Beim Sprechen sollte man versuchen, sich selbst zu hören, eventuell unterstützt durch Schliessen der Augen. Dabei entsteht die Chance wahrzunehmen, ob man mit einem angemessenen Aufwand spricht. Ein angemessener Aufwand be-

1 Im professionellen Bereich beobachtet man auch ein absichtlich erzwungenes Überbrücken solcher Einschnitte.

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deutet eine Mittellage zwischen Überdosierung (bzw. Übertreibung) und Schlaffsein. Wer genügend wach ist, wird zu jenem Mass an Straffheit finden, welches erlaubt, die vom Text geforderte Spannung zu halten. Das Tonband diente schon damals dazu, die Diskussion über die einzelnen Sprechversuche zu versachlichen. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, inwiefern der Vortragende seine eigenen Gefühle einfliessen lassen solle. Nach Jacoby darf man ein Gedicht nicht als Gehäuse missbrauchen, um private Emotionen loszuwerden. Vielmehr sollte der Interpret - es wurde gesagt - sich vom Inhalt berühren, mobilisieren und verwandeln (ev. emotionalisieren) lassen, um das Anliegen des Dichters zu verdeutlichen und verständlich zu machen. Jacoby führte Platten des berühmten Moissi vor, der mit einer überbordenden Theatralik rezitierte. Das bewirkte ein allgemeines und überlegenes Schmunzeln bei den Zuhörern. Jacoby freilich warnte vor Überheblichkeit: Zwar entspreche Moissis Stil nicht seinen Vorstellungen, doch stecke immerhin ein grosses Können dahinter. Und ohne eine beträchtliche Mobilisation wäre diese Art des Sprechens nicht möglich. Dieses ganze Konzept Jacobys lässt sich in einem hohen Ausmass auf das Reproduzieren von Musik übertragen. Sogar das Metrum und die Zeilenenden finden ihre Analogien: im Betonen der »guten« Taktteile und im Erschlaffen bei den Taktstrichen. Im Zusammenhang mit einem »beziehungsvollen « Sprechen meldete sich eine Teilnehmerin, welche öfters vor Publikum zu referieren hatte. »Soll man während des Vortrags mehr an die Sache denken, oder aber an die Zuhörer?«, wollte sie wissen. Für Jacoby war die Frage falsch gestellt, er bezeichnete beide Varianten als »mittelbar«. »Wer von der Sache erfüllt ist, erreicht das Publikum« lautete seine Antwort. 64

Solches »Erfüllt-sein« hat eine wesentliche Bedeutung, es erleichtert sowohl das »Bei-sich-sein« wie auch das »Ankommen«. Dies als Hinweis, dass die Jacobyschen »Fachausdrücke« als Spielarten einer zentralen Verhaltensqualität zu sehen sind. Dass beim sprachlichen Sich-äussern Gedichte (oder Teile davon) im Vordergrund standen, hat noch folgenden Grund: Ein banaler Alltagstext stellt zu wenig Ansprüche, er nutzt sich ab und wird langweilig. Ein gutes Gedicht hingegen ist ein geeignetes »Probierfeld«, ein Modell für immer neue Sprechvarianten. Etwas vom Wesentlichen ist, wie gesagt, sich selbst zuzuhören. Je mehr diese Fähigkeit erworben wird, desto grösser die Chance, auch im Alltag entsprechend zu funktionieren.

Pädagogik, Erziehung, Schule Die pädagogischen Vorstellungen Jacobys sind eng verknüpft mit seinem Bild vom Menschen, insbesondere vom unversehrten Menschen. Repräsentativ ist für ihn das Kleinkind; es beeindruckt durch die Bereitschaft zum Kontakt mit der Umwelt und durch die Tendenz, sich in ihr zurechtzufinden. Dies geschieht durch unablässiges »Experimentieren«, durch Lernen aus eigenen Erfahrungen. Es ist ein autodidaktisches Vorgehen, welches das Kind bald einmal befähigt zu stehen, zu gehen und zu sprechen. Ein Eingreifen der Erwachsenen wirkt sich eher störend aus. Auch zum Kindergartenalter hat sich Jacoby geäussert. Man sollte die Kinder »wachsen lassen«, doch die Erzieher ziehen häufig an den jungen Knospen. Wer das Werken der »kleinen Menschen« bewertet (z.B. die Zeichnungen), gefährdet die Selbstverständlichkeit, die Unbefangenheit und die Naivität. Ein Appell an den Ehrgeiz kann das Interesse an der Sache 65

selbst stören. - Würde die ganze Umgebung malen, wäre Nichtmalen abnormal. Mit dem Eintritt in die Schule beginnt jeweils eine andere Art des Lernens: es beginnt das »Beibringen« seitens des Lehrers. Dieses Beibringen war (bzw. ist) oft verbunden mit einem Drill zur Korrektheit; der Schüler gerät in Lernschienen, die sich unterscheiden von der produktiven Unsicherheit des Autodidakten; letzterer bahnt sich selbst einen (oft kreativen) Weg durch das Dickicht des Zutreffenden und Unzutreffenden. Die »Verschulung« führt allzu häufig dazu, dass wir in zahlreichen Bereichen unseres Alltags- und Berufslebens nicht über einen Spontankontakt zu den gestellten Aufgaben verfügen, dass wir kein Leben »aus erster Hand« leben. Wohl hat Jacoby im Kurs produktivere Wege für Schule und Erziehung skizziert, doch genügte ihm dies nicht. Das von ihm entworfene Kind bild mit seinen späteren »Entfremdungen« entsprach ja gleichzeitig der Biografie der meisten Kursteilnehmer. Er versuchte, sie davon zu überzeugen, dass für Erwachsene eine Revision noch möglich und lohnend ist. Doch zielte er dabei nicht nur auf ein besseres »Funktionieren« der Kursbesucher: noch wichtiger waren ihm die möglichen Konsequenzen für die Jugend. Denn er erblickte in jedem Erwachsenen einen potentiellen Erzieher, und er glaubte, dass die Jugend an ehesten zu erreichen sei, wenn sie sich an Erwachsenen orientieren kann, die sich bewusst um die eigene Nachentfaltung kümmern. Ein Stück Nachentfaltung bewusst zu erleben, dazu verstand sich Jacoby als Wegbereiter und Helfer. Es geht - wie gesagt darum, Konventionen und Routinen abzubauen, beginnend mit »Stolpern« (bzw. Stolpern-lernen) und nachfolgendem »Probieren«. Jacoby wollte den Teilnehmern Erfahrgelegenheiten verschaffen (eine der wichtigsten Aufgaben jedes Lehrers), und er tat dies in Form seiner zahlreichen »Angebote«. Von den Angeboten - ebenso von allen schulischen Aufgaben - verlangte Jacoby, dass sie die Entfaltung begünstigen, sie

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sollten »zweckmässig« gestellt sein, d.h. sie sollten den Schüler zu einem »zweckmässigen Gebrauch seiner biologischen Ausrüstung« anregen 1 . Mit dieser umständlichen Formulierung ist eigentlich etwas Einfaches gemeint, ich möchte es zuerst am Beispiel des damaligen Musikunterrichts (Jacobys Ausgangspunkt) darlegen; er kann als Modellfall einer ungeeigneten Pädagogik betrachtet werden 2 : Konventioneller Musikunterricht begann (beginnt?) häufig damit, dem Schüler richtige Haltungen und korrekte Fingerstellungen beizubringen, ihn gleichzeitig das Notenlesen zu lehren. Hingegen wurde das eigentliche Erleben der Musik meistens auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Jacoby war hingegen der Ansicht, man solle sich ganz übers Ohr orientieren, d.h. von der naturgegebenen Fähigkeit des Lauschens, des Klangerlebens und des Erlebens von Spannungsverläufen ausgehen, also dieses in den Mittelpunkt stellen. »Zweckmässiger Gebrauch« bedeutet, mit solchen Grundphänomenen im Kontakt zu bleiben; »zweckmässige Aufgabenstellung« soll diesen Kontakt unterstützen, statt von ihm wegführen. Der Schüler sollte sich - soweit als möglich selbständig vorantasten, zunächst unter Verzicht auf Noten (optische Orientierung) und unter Verzicht des Lehrers auf Haltungsanweisungen. - Fingertechnik steht nicht im Vordergrund; Hilfe seitens des Lehrers ist natürlich erlaubt und kann angezeigt sein, aber erst, nachdem der Schüler sich selbst engagiert hat 3 • - Musik steht hier stellvertretend für zahlreiche

1 Solche Formulierungen sind als Zeiterscheinung zu verstehen. Jacoby wollte die sachlich-nüchterne Einstellung zum Ausdruck bringen, im Gegensatz zum damals verbreiteten Kunst- und Begabungsbrimborium. 2 Auf Jacobys Musikpädagogik beziehen sich die Positionen 3, 7, 8 und 10 im Literaturverzeichnis am Schluss dieses Buches. 3 Musik sollte - vor allem im Anfang - nicht in ihre Elemente (z.B. Intervalle, Taktarten) zerlegt werden, um diese einzeln zu trainieren und nachträglich zusammenzusetzen. Deshalb lehnte Jacoby den Solfege- und Rhythmikunterricht (Jaques-Dalcroze) ab.

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Unterrichtsbereiche, denn nach Jacoby wird in der gesamten Pädagogik zu wenig von den natürlichen und ursprünglichen Gegebenheiten Gebrauch gemacht. Im folgenden sei kurz auf weitere Beispiele hingewiesen, die im Kurs zur Sprache kamen; dabei dient eigentlich stets das Gehen- und Sprechenlernen des Kleinkindes als Modell, an welchem man sich orientieren sollte: Schreiben, Lesen: Es geht um Kommunikation ausserhalb des gesprochenen Wortes, hiefür ist ein Bewusstsein zu entwickeln. Anzuknüpfen ist an die Fähigkeit der Kinder, mit graphischen Symbolen umzugehen (z.B. Signale im Strassenverkehr). Buchstaben- oder Ganzwortmethode? Jacobys Antwort lautete: Oft verkörpert das Lernen von Ganzwörtern blass eine neue Methode, dann bleibt alles beim alten. Wesentlich wäre auch hier, an Bekanntes anzuknüpfen, z.B. an das eben erwähnte Verständnis für graphische Symbole 1 . Zeichnen: Die naturgegebene Möglichkeit, Gestalteindrücke als Helldunkel-Unterschiede wiederzugeben, steht für Jacoby im Zentrum. Sich auf die Wiedergabe von Helligkeiten zu beschränken, ist ein Beispiel für »zweckmässige Aufgabenstellung«. Schwimmen: Das Erlebnis, auch ohne Bewegungen vom Wasser getragen zu werden, ist ein Grundphänomen, von welchem Schwimmunterricht ausgehen sollte. »Zweckmässiger Gebrauch« bedeutet, sich dem Wasser zu überlassen, »zweckmässige Aufgabenstellung« wäre die Aufforderung, zu erproben, ob das Wasser wirklich trägt. Mathematik:

Die naturgegebene Voraussetzung, an welche

1 Schönschreiben hat seit der Erfindung der Schreibmaschine an Bedeutung verloren. Die Erfahrung lehrt, dass sich auch ohne Schreibdressur gut leserliche Schriften entwickeln.

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anzuknüpfen ist, ist die Fähigkeit zu ordnen, zu vergleichen, zu schätzen, zu messen und mit Symbolen umzugehen. Handwerk: In einem frühen Zeitpunkt hat J acoby erwartet, in der handwerklichen Ausbildung (z.B. Holz- und Metallbearbeitung) idealen Verhältnissen zu begegnen, doch wurde er enttäuscht. Auch hier traf er auf ein Beibringen des Richtigen und Vermeiden allen Falschmachens. Eine produktive Aufgabenstellung wäre hingegen: Wie antwortet das jeweilige Material auf ganz verschiedene Arten, mit ihm umzugehen? Körper: »Zweckmässiger Gebrauch« des eigenen Körpers ist ein weites Gebiet; im Bewegungsbereich sei daran erinnert, dass der Beziehung zur Schwerkraft eine fundamentale Bedeutung zukommt. Jacobys Angebote (wie z.B. das Heben von Sandsäcklein oder das Erarbeiten eines bewussten Kontakts mit den Sitzknorren) sind Beispiele für »zweckmässige« Aufgabenstellung hinsichtlich eines »zweckmässigen« Verhaltens. Jacoby hat nicht bestritten, dass man mit Drill und Dressur zu Erfolgen gelangen kann. Doch hielt er den Aufwand, der dabei getrieben wird, für unnötig gross und unökonomisch. Der » beibringende« Unterricht bereitet wenig Freude, erschwert meistens den Zugang zum Kern der Sache und verhindert Spontanbeziehung sowie Kreativität. Jacobys eigenes Konzept basiert auf dem Vertrauen in die von der Natur vorgegebenen Möglichkeiten und auf dem Vertrauen in die Eigenaktivitäten von Kindern und Jugendlichen: die Freude am Selbst-entdecken, am Selbst-erarbeiten, die Lust am Explorieren. Ein solches Vorgehen benötigt im Anfang vielleicht mehr Zeit als »schulmässiges« Vorgehen, Beibringen und Drill; auf die Dauer ist Jacobys Weg der schnellere.

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Weitere Themen In diesem Abschnitt finden sich Äusserungen Jacobys, welche einerseits seine Anliegen verdeutlichen, anderseits auf gewisse Gefahren hinweisen. - Jacoby sagte einmal über sich selbst, er komme aus einem ähnlichen Milieu wie die meisten Kursteilnehmer, einem Milieu, in welchem Ehrgeiz und Konkurrenz eine grosse Rolle spielten, und wo man keine Fehler machen durfte. »Aber ich habe relativ früh die Folgen einer unkritischen Begabungsmentalität erkannt, und seither kreist mein Leben um diesen Punkt«. Und nochmals: »Wenn man kurzschlüssig mit Begabung und Vererbung argumentiert, hört das Fragen nach den wesentlichen Dingen auf«. -

Die Begabungsdiskussion ist zu ergänzen durch den bereits erwähnten Bereich der »zweckmässigen « Frage- und Aufgabenstellung. Der Erzieher/Pädagoge sollte über die von der Natur generell gegebenen Voraussetzungen Bescheid wissen und an sie anknüpfen. Löst man sich gleichzeitig von Begabungsvorurteilen, erhöhen sich die pädagogischen Erfolgschancen ganz wesentlich. Dies zu vertreten, hat Jacoby während Jahrzehnten versucht, doch wurde das Prinzipielle seines Konzepts von den Angesprochenen kaum wahrgenommen. Deshalb sah sich Jacoby veranlasst, seine Einsichten auf verschiedenen Gebieten konkret zu demonstrieren. Dies sei freilich ein Notbehelf, denn im Grunde sollte sich das Eintreten auf Spezialgebiete (z.B. Zeichnen, Musik, körperorientierte Kurse, Erziehungskurse) erübrigen.

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»Arbeiten an sich selbst« bedeutet für viele - das war Jacobys Ansicht - einem Vorbild, einem Modell nachzueifern. Er selbst verstand darunter etwas anderes: im wesentlichen den Abbau von Routinen und von Erziehungs-

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deformationen, im weitem den Gewinn von Vertrauen in die eigene innere Führung, verbunden mit dem Versuch, mehr und mehr autodidaktisch zu operieren. Vom »Anwesend-sein« sagte Jacoby, es sei im Alltag nicht leicht zu realisieren. Aber man könne es an kleinen Dingen üben, und viele seiner Angebote seien in diesem Sinne zu verstehen. Der Kurs wird dann zum Laboratorium. -

Die zeichnerischen Helldunkel-Versuche (und auch andere Angebote) betrachtete Jacoby als eine Möglichkeit, über sich selber klarer zu werden; sie bedeuteten einen Weg, Nacherziehung bewusster zu erleben. An sich selber zu arbeiten, war für Jacoby weitgehend identisch mit bewusster Nachentfaltung. Auch unter diesem Blickwinkel sollte die Konkretisierung auf einem Spezialgebiet stets nur Modellcharakter tragen.

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Die eingehende Beschäftigung mit dem eigenen Zustand und Verhalten birgt nach Jacoby auch gewisse Gefahren. Die Kurse können zu einem Sonderdasein verleiten; es kann ein Gefühl entstehen, besser Bescheid zu wissen, geschickter und vielleicht kompetenter zu sein als die andern. Es besteht die Gefahr, in einen Narzissmus (Selbstgenügsamkeit, Selbstgefälligkeit) zu geraten. Am Beispiel von übersteigert pathetischen Rezitationen berühmter Künstler wurde bereits darauf hingewiesen, wie leicht beim Kursbesucher ein Gefühl der Überheblichkeit entstehen kann. Dies wäre natürlich das Gegenteil von Jacobys Anliegen.

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Denn für Jacoby spielten mitmenschlicher Kontakt und gegenseitige Verträglichkeit eine immer grössere Rolle. Er bezeichnete die soziale Frage - das Verhalten zum Nebenmenschen - als sein wichtigstes Anliegen, wichtiger als etwa die Helldunkel-Versuche. Und er fügte hinzu, vor 40 Jahren hätte bei ihm die Musik im Vordergrund gestanden; Musik könne zwar viel sein, aber es gebe noch 71

Wichtigeres in einer Welt, die von Atombomben bedroht sei (1952). - Eine solche Äusserung, im Rahmen seiner Kurse ausgesprochen, legt mit Deutlichkeit offen: Jacoby verstand seine Angebote - und nicht zuletzt die körperbezogenen - immer als Einstieg in eine Revision der gesamten Person.

Angebote, Verabredungen Auch im Fortsetzungskurs spielten » Angebote« und » Verabredungen« eine wesentliche Rolle. Um ihre Bedeutung innerhalb der Jacobyschen Pädagogik hervorzuheben, sei ihnen ein eigenes Kapitel gewidmet. Zwar waren die Kurse, die ja auf Umorientierung und Revision zielten, zum grössten Teil verbale Auseinandersetzung; doch das Entscheidende erwartete Jacoby von einem experimentellen Engagement. Seine Angebote sind als Aufforderung zu sehen, die ersten kleinen Schritte in diese Richtung zu tun, und viele von Jacobys Darlegungen lassen sich als Vorbereitungen für die Angebote, also für ein experimentelles Vorgehen, verstehen. Fast immer ging es darum, Routinen wahrzunehmen und zu versuchen, sich autodidaktisch von ihnen zu lösen. Unter Angeboten kann man die Gesamtheit von Jacobys Vorschlägen verstehen. Nicht um Gebote handelt es sich, sondern um Anregungen. Darunter gibt es auch solche, die man »versteckte« Angebote nennen könnte: Wenn z.B. über Gelassenheit gesprochen wurde, war dies an sich schon ein Anlass, sich im Alltag für Unterschiede des eigenen Zustandes zu interessieren. Die Verabredungen sind Angebote, mit etwas grösserer Dringlichkeit. Jacoby erwartete, dass alle Kursteilnehmer davon Gebrauch machen würden. Man darf sich darunter aber keinen 72

Fahneneid, nicht einmal eine formale Zustimmung vorstellen. Jacoby sagte einfach: »Wir wollen vereinbaren, dass ... « In manchen Fällen dienten Verabredungen dazu, für das Probieren gewisse Richtlinien zu geben. Nur bei konsequentem Einhalten von Verabredungen lässt sich die Effizienz eines Angebots überprüfen. Was hier als »Angebot« und »Verabredung« daherkommt, all diese Experimentiervorschläge verdienen ihren Namen eigentlich nur im Anfangsstadium. Sie sind auf den Alltag gerichtet; bei hinreichendem Interesse werden sie dort schnell Eingang finden. Dabei kann sich aus einem routinierten Verhalten bald einmal ein »Alltagsprobieren « entwickeln.

Die Zahl von Jacobys Angeboten und Verabredungen ist beträchtlich; zusammen mit den »versteckten« Angeboten dürften es weit über fünfzig sein. Er hat sie nie klassifiziert, nicht einmal aufgelistet. Im folgenden versuche ich eine Einteilung in verschiedene Gruppen, ein Unterfangen, das nicht frei von Willkür sein kann. Die Gruppen werden durch konkrete Beispiele illustriert, freilich nur skizzierend 1. Wir werden darun-

1 Jacoby hingegen verdeutlichte seine Angebote oft mit ausführlichen Erklärungen, wie das folgende Beispiel zeigen mag: » Vergessen Sie nicht, dass ich Ihnen die Hell-Dunkel-Versuche (aus früheren Kursen) vorläufig nur zeige, damit Sie an Ihnen schwarz auf weiss erfahren können, was für ungeahnte Möglichkeiten erwachsene »Unbegabte« in sich tragen, nicht aber, um Ihnen zu zeigen, wie man die Aufgabe, Gestalten visuell darzustellen, am besten bewältigen kann. Bei Ihnen ging diese Verabredung schnell in Vergessenheit. Sie fragen sofort: »Wie macht man das?«, d. h. Sie interessieren sich für das Zeichenproblem trotz meiner Bitte, zunächst nur auf die zeichnerischen Fortschritte zu achten. Letztere beruhen auf einem zweckmässigen Verhalten, das seinerseits die Folge einer zweckmässigen Aufgabenstellung ist (etwas vereinfachte Wiedergabe aus »Jenseits von Begabt und Unbegabt«, S. 255).

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ter bereits bekannte Angebote antreffen, Wiederholungen waren nicht zu vermeiden.

1. Zustand, Ver(assung Es handelt sich um ein zentrales und übergreifendes Thema, zumal die Verfassung stets einen wesentlichen Faktor unseres Funktionierens darstellt. Fast alle Angebote und Verabredungen besitzen diesen Hintergrund. Deshalb verzichte ich auf konkrete Beispiele, möchte aber Jacobys Anliegen noch präzisieren. Es geht ihm um - Wege, den eigenen Zustand deutlich wahrzunehmen - Wege, den eigenen Zustand günstig zu beeinflussen

2. Sinneswahrnehmungen Die »Aufgabe« besteht darin, beim Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken mit dem eigenen Verhalten in bewussten Kontakt zu gelangen. Ist mein Zustand gelassen/antennig oder haben-wollend? Auf diesen Unterschied soll im Alltag geachtet werden, wo immer sich Möglichkeiten bieten. Die gelassene Variante soll man begünstigen durch Abklingen-lassen von Unruhe, durch Stiller-werden (u.a. durch Schliessen der Augen), durch einen Verzicht auf das Erhaschen von Einzelheiten. Schliessen der Augen entspricht auf den Gebieten Hören, Tasten, Riechen, Schmecken einem kombinierten Angebot; im Bereich Sehen bedeutet das Augenschliessen den Abbau der Schauabsicht. In diesem Sinn sollten Brillenträger versuchen, auch ohne Brille auszukommen. - Das Angebot Zeichnen (Wiedergabe von Hell-Dunkeleindrücken unter Verzicht auf Linien) bezeichnete Jacoby als Kontrolle der Schauqualität.

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Tastversuche (mit den Händen) zielen u.a. darauf, ein Sensorium dafür zu entwickeln, was mit »Erfahrbereitschaft« gemeint ist. Wird mit geschlossenen Augen ein unbekannter Gegenstand (bzw. eine Oberfläche) untersucht, steht im Vordergrund nicht die Frage »Was ist das?«, sondern zunächst nur: »Wie ist etwas beschaffen, was kann ich erfahren, was gibt es zu entdecken?« Es gehört zu den Erfahrungen der Ausübenden, dass Wechselwirkungen zwischen der gestellten Aufgabe und dem eigenen Befinden auftreten. Wer z.B. Hell-Dunkeleindrücke wiedergeben will, braucht ein gewisses Mass an innerer Stille; umgekehrt lässt uns die von Jacoby »zweckmässig« gestellte Aufgabe (Helldunkel-Wiedergabe) tatsächlich stiller werden.

3. Sich Äussern Routinen sind beim sprachlichen und musikalischen Sich-äussern verbreitet. In Gedichten sind es z.B. die Zeilenenden, in der Musik die Taktstriche, welche das natürliche Fliessen gefährden. Wie gelangt man dazu, das »Leiern« bei sich wahrzunehmen, sich von ihm zu lösen? Jacoby empfahl lauschendes Verhalten; letzteres ermöglicht es, sich zuzuhören. Er verwendete und empfahl auch Tonbandgeräte als Hilfe, damals freilich eine noch kostspielge Novität. - Solche Studien sollten zu einem beziehungsvolleren Sprechen auch im Alltag anregen. Beziehungsvolles Sprechen von Gedichten oder von Prosa verlangt eine Auseinandersetzung mit dem Gehalt. Hat sie stattgefunden, empfahl Jacoby, dass man sich vom Gehalt »tragen lasse«. Ein guter Text spricht weitgehend für sich selbst; man möge Vertrauen zu ihm haben, ihm nicht mit unnötigem Aufwand und »Machen« nachhelfen wollen, sondern das Sprechen »geschehen lassen«. - Um zu verdeutlichen, was unter »Sich-tragen-lassen« zu verstehen sei, schlug Jacoby - wie be75

reits erwähnt - Schwimmversuche vor: Auch ohne Aktivitäten der Arme und Beine vermag das Wasser den Körper zu tragen. Eine andere Empfehlung Jacobys betraf das Sprechen vor Publikum (Ansprachen, Vorträge). Statt einen vorbereiteten Text abzulesen, möge man versuchen zu improvisieren, also darauf vertrauen, dass einem die passenden Worte »zuwachsen« werden. Er selbst war ein überzeugendes Beispiel für improvisatorisches Sprechen.

4. Körper Hier gibt es nicht nur zahlreiche Angebote, auch die Gesichtspunkte sind vielfältig. Routine: Eine Reihe von Angeboten zielt direkt darauf, den Unterschied zwischen routiniertem und unroutiniertem Verhalten bewusst zu erleben. Hierzu empfiehlt Jacoby, sich in eine ungewohnte Situation zu bringen. Die linke (bzw. ungeübte) Körperseite soll an die Stelle der rechten (bzw. geübten) treten. Alltagsverrichtungen wie Türen öffnen, Rasieren, Gemüse rüsten etc. sind links auszuführen. Dabei ist das eigene Lernen in einer neuen Situation zu studieren. - Zu analogen Erfahrungen gelangt man, wenn Handverrichtungen an die Fi.isse delegiert werden (z.B. Greifen, Zeichnen, Schreiben). - Alle diese Angebote sollen es gleichzeitig ermöglichen, an Beispielen ein kleines Stück » bewusste Nachentfaltung« konkret zu erleben. Sitzen (auf Stühlen oder am Boden, z.B. Schneidersitz, Fersensitz): Das Erspüren der Sitzknorren bildet den Ausgangspunkt für ein freieres, im Gleichgewicht balancierendes Sitzen. Es geht darum, das eigene Gewicht zu spüren, den Kontakt mit der Unterlage wahrzunehmen, sich ihr zu überlassen (die gleichen Forderungen stellen sich auch beim Stehen). Wieder ist auf den Gesamtzustand zu achten: ein allfälliges Bedürfnis, sich etwas aufzurichten, kann entstehen. Solche Studien sind

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gleichzeitig als Probier-Modelle zu verstehen. Auch sollte sich ein bewusster Kontakt zu jener inneren »Instanz« bzw. Körperempfindung einstellen, welche uns über den Unterschied zwischen Befriedigendem und weniger Befriedigendem informiert. Schwerkraft: Die meisten unserer Bewegungen sind mit dem Anheben oder Absenken von Lasten verbunden. Es geht darum, eine Beziehung zur Schwerkraft (bzw. zum jeweiligen Gewicht) zu entwickeln, also zum erforderlichen Aufwand, die Schwerkraft zu kompensieren. Auch auf die Veränderungen im eigenen Körper soll geachtet werden. Als Modell dienten kleine Sandsäcklein. Es gibt eine grosse Zahl von Varianten, sie anzuheben und wieder sinken zu lassen, und ein Grosszahl von Körperempfindungen, die sich dabei einstellen. - Solche Versuche sind ideale Modelle für subtiles Probieren, und sie sind geeignet, Wechselwirkungen zwischen kleinen Körperaktivitäten und dem Gesamtzustand wahrzunehmen. - Erfahrungen mit dem Sandsäcklein sind sinngemäss auf das Anheben von grösseren Lasten zu übertragen. Dabei sollte man versuchen, »den Boden zu spüren« und den«Bodenwiderstand auszunützen«. - Das Aufstehen von Stühlen bzw. das Sich-setzen bietet eine Unzahl von Gelegenheiten, die Beziehung zur Schwerkraft zu überprüfen. Spannen, Entspannen: Bei jeder muskulären Aktivität treten Spannungsänderungen auf. Dass man zu den letzteren eine bewusste Beziehung gewinne, war ein wesentliches Anliegen Jacobys. Man sollte versuchen, die ganze Palette von Verkrampfung, Überspannung, angemessener Spannung bis hin zur Schlaffheit wahrzunehmen. Wohl der am besten geeignete Einstieg bildet wieder das Sandsäcklein. Es eignet sich auch, die Varianten des Rückwegs zu untersuchen. Gerade beim Rückweg fällt es nicht leicht, den Kontakt mit der Last wirklich zu behalten, da beim Abbau von Spannungen eine Tendenz besteht, vorzeitig »loszulassen« und in Schlaffheit zu verfallen. Schlaffheit wäre aber keine gute Bereitschaftslage für weitere Aktivitäten. 77

5. Mobilisation Es handelt sich stets darum, sich selbst zu mobilisieren, also von einem Zustand der Passivität und Schlaffheit wegzukommen. Hiefür ist im Grunde jede Art von Engagement geeignet, aber Jacoby zog vor allem den Körperbereich in Betracht. Das morgendliche Erwachen bietet dazu Gelegenheit: ein Streck-, Dehn- und Straffungsbedürfnis soll nicht nur wiederentdeckt werden, man möge ihm auch nachgeben (»Säuglingserwachen«). Auch tagsüber bieten sich Gelegenheiten, solche Bedürfnisse wahrzunehmen (sich dehnen, durchatmen). Jacoby empfahl ferner, kleine Steine in die Hand zu nehmen und sie zu drücken (eine Art von isometrischen Übungen). überhaupt ist jedes beziehungsvolle Muskelspiel mobilisierend, nicht zuletzt das Spiel mit dem Sandsäcklein. Auch Sport zog Jacoby in Betracht, sofern die Verabredung »Mobilisation« wirklich eingehalten wird. - Eigentlich wirkt sich jedes saubere »Probieren« mobilisierend aus. Die bisherigen Mobilisationsempfehlungen waren stets muskulär orientiert. Auf andere Möglichkeiten wurde bereits früher hingewiesen: Angebote, die die Durchblutung anregen und solche, welche die Verdauung begünstigen. Mobilisation bedeutet innerhalb der Jacobyschen Pädagogik einen Weg zu den Bereitschaften (Erfahrbereitschaft, Aktionsbereitschaft, Improvisationsbereitschaft, Leistungsbereitschaft etc.)

6. Schocksituationen Hier verweise ich auf den 8. Abend, auf die Versuche mit kaltem Wasser. Es versteht sich, dass kaltes Wasser als Modell aufzufassen ist. Jacoby hoffte, dass es gelinge, von den Erfahrungen mit kaltem Wasser auf beliebig andern Gebieten (Angstund Schocksituationen, Befangenheiten) zu profitieren.

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7. Kontakt In einem gewissen Sinn sind Kontaktprobleme allgegenwärtig. Wie meistens, legte Jacoby grossen Wert auf die Vorstufen, hier auf die Kontaktbereitschaft. Mit solchen Vorstufen sollte man sich auseinandersetzen. Ein Beispiel ist das »Ankommen«, also der Versuch, still zu werden, um sich auf eine bevorstehende Begegnung bzw. auf eine Aufgabe einzustellen. Man sollte bewusst lernen, die Wirkungen wahrzunehmen, die von Menschen, Dingen oder Aufgaben ausgehen und sollte sich von ihnen verwandeln und auf sie einstellen lassen (»Ding, was willst du von mir«).

8. Emotionen Dass Emotionen für unser Verhalten wesentlich sind, war Jacoby klar. In den Kursen kamen sie vorwiegend als Störfaktoren zur Sprache: sie können unser Funktionieren erschweren, vor allem dann, wenn sie den Kontakt zu Menschen, Dingen und Aufgaben beeinträchtigen (z.B. Unruhe, Angst, Aufregung, Wut). Das Angebot »Abklingen-lassen von Emotionen« zielt darauf, die Kontaktbereitschaft wiederherzustellen. Ein Absinken der Emotionalität auf den Nullpegel ist damit natürlich nicht gemeint: ohne Emotionen lässt sich weder kommunizieren, noch musizieren. In diesem Zusammenhang sei an das Angebot »Ärgerbüchlein« erinnert, von welchen im 23. Abend die Rede war. Von einer Reihe von Teilnehmern erfuhr ich, dass sie grossen Gewinn daraus zogen.

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9. Listen Das Ärgerbüchlein ist nicht die einzige Buchführung, die Jacoby vorgeschlagen hat. Er empfahl weitere Systematisierungen, nämlich sich Listen anzulegen über - Stolpern - Begegnung mit entfaltungsfördernden bzw. -hemmenden Tendenzen - wo habe ich über Menschen und Dinge statisch gedacht? - wo »mache« ich etwas, was sich vollziehen könnte? - Begegnung mit Verhaltensproblemen im Alltag - Ärgerbüchlein

Jacobys Angebote und Verabredungen bildeten eine breite Palette. Für die zentrale Aufgabe - für die Revision - wurden also zahlreiche Zugangswege vorgeschlagen 1. Ein Vorteil solcher Vielfalt bestand darin, dass möglichst viele Kursteilnehmer erreicht wurden: sie konnten sich auswählen, was ihnen besonders zusagte. Die Erfahrungen, die der Einzelne machte, waren im Kurs zur Sprache zu bringen oder in den Resümees mitzuteilen. Jacoby ging darauf ein, gab Ratschläge für die Fortsetzung der Versuche, machte auf Missverständnisse aufmerksam und erhob Einsprache, wenn man von der ursprünglichen Verabredung abwich. Gelegentlich sah sich Jacoby veranlasst daran zu erinnern, dass es sich bei den Angeboten nicht um Schulaufgaben handelte; im Gegenteil, es wurde eine forschende Einstellung erwartet, bei der es primär nicht um falsch und richtig ging. Und ausserdem sollten Angebote nicht in eine Selbstüberwa-

1 Jacoby hat auch angeregt, die Kursbesucher sollten selbst Angebots-ähnliche Aufgaben erfinden.

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chung einmünden, auch keine Ansprüche auf Pflichterfüllung stellen, sondern stets aufgrund von Neugier und Interesse praktiziert werden. Bei den mündlichen Berichten der Teilnehmer handelt es sich zwar um bedeutsame, jedoch um individuelle, erlebnishafte Mitteilungen. Sie lassen etwas von der Schwierigkeit erahnen, über Jacobys Arbeit in schriftlicher Form zu berichten. Ein beträchtlicher Teil der Angebote war körperorientiert. Dies hatte mehrere Gründe: die ganzheitliche Perspektive (der Körper ist immer dabei), ferner der Gesichtpunkt Mobilisation, ausserdem der Körper als geeignetes Feld zum Kennenlernen des »Probierens«. Doch um Therapie handelte es sich nicht; therapeutische Effekte wurden von Jacoby als Begleiterscheinungen bezeichnet. Das Konzept »ganzheitliche Betrachtungsweise« könnte zur Vermutung verleiten, dass eine Auseinandersetzung mit dem Körper automatisch die ganze Person in Ordnung bringe. Dies wäre ein Missverständnis, beruhend auf einer vereinfachten Vorstellung von »Ganzheit«. Erfahrungen im Körperbereich bilden aber einen guten Boden für ein Engagement bei Problemen und Aufgaben verschiedenster Art. In diesem Zusammenhang mag eine Gegenüberstellung mit dem japanischen Bogenschiessen naheliegen. Dort reicht, wie Herrigel gegen Schluss berichtet, ein einziges, stark körperorientiertes (allerdings in Teilaufgaben gegliedertes) Angebot aus, die ganze Persönlichkeit zu verändern. Zu berücksichtigen ist indessen die lange Dauer und die Intensität der Auseinandersetzung. Jacobys Angebote hingegen vermeiden bewusst die Klausur 1 ; sie sind breit gefächert und - wie gesagt -

1 Siehe Schluss des Kapitels »Zen«.

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direkt auf den Alltag bezogen. Falls sie ernst genommen werden, enthalten sie ähnliche Möglichkeiten wie jene Wege, die mit einem temporären Rückzug beginnen.

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Berichte

Vorwort zu den Berichten Spätestens am Ende der Kurse bat Jacoby die Teilnehmer, ihm ein Resümee einzureichen. Natürlich meinte er damit nicht die Rekapitulation des Kursstoffs, sondern die Prozesse, welche bei jedem Einzelnen ausgelöst worden waren. Um Verwechslungen zu vermeiden, verwende ich auch den Ausdruck »Berichte«. Mit solchen Berichten hatte Jacoby Verschiedenes im Sinn: Für den Kursbesucher waren sie eine Möglichkeit, sich Rechenschaft abzulegen. Jacoby selbst dienten sie als Kontrolle, ob er die Teilnehmer wirklich erreicht hatte. War es richtig gelaufen? Sind Missverständnisse aufgetreten? Gleichzeitig bestand eine dokumentarische Absicht: Was wurde mit den Kursen erreicht? - Meistens wurden die Resümees mit einer Einladung zu einem Gespräch unter vier Augen beantwortet. Jacoby verstand sich dabei als Entfaltungshelfer; er war ein äusserst aufmerksamer Zuhörer, zeigte sich bereit, auf persönliche Probleme einzugehen, gab vorsichtig einige Tips. Im Folgenden werden solche Berichte wiedergegeben, um zu illustrieren, wie sich die Kurse praktisch auswirken konnten. Doch wie zu derartigen Resümees gelangen? Sie liegen im Berliner Archiv der Gindler-Jacoby-Stiftung und sind mir nicht zugänglich. Es bestehen gewisse Probleme des Datenschutzes. Denn den Kursteilnehmern war - wie schon bei den Eintrittsdokumenten - Vertraulichkeit zugesichert worden. Das Einzige, was mir zur Verfügung steht, sind meine eigenen Berichte, und auch diese besitze ich eher zufällig: ich schrieb damals nicht gern mit der Maschine, reichte daher meine Resümees

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handgeschrieben ein und behielt mir eine Kopie zurück (ebenfalls handgeschrieben, die Xerographie gab es noch nicht). An eine Publikation meiner Berichte habe ich nie gedacht, aber eine interessierte Leserin forderte mich dringlich dazu auf. Sie empfand meinen Text als klärende Ergänzung. Besonders beeindruckt war sie, dass ich im Verlauf der Kurse selbständig zu Entdeckungen gelangt war, die andernorts (z.B. bei Feldenkrais, bei F. M. Alexander etc.) als Kursstoff dargeboten werden. Gerade dies - nämlich Autodidakt zu werden war Jacobys Anliegen. Es gibt also einige Motive zugunsten einer Publikation; erwähnt wurde bereits die Chance, an einem Beispiel Wirkungen des Kurses aufzuzeigen. Einen Vorteil mag es bedeuten, dass es dieselbe Person ist, welche zuerst über ihre Eindrücke vom Kurs, nachher über dessen Folgen berichtet. Man sollte aber im Auge behalten, dass ein solcher Bericht nicht repräsentativ zu sein braucht. Ich kann mir vorstellen, dass andere Personen ganz anders geschrieben haben. Und ich erinnere mich an eine Bemerkung Jacobys, wonach er meine Aktivitäten als deutlich körperorientiert empfand, was vielleicht nicht die Regel war. Auch berücksichtigte ich nicht alle »Angebote« Jacobys: ein »Ärgerbüchlein« habe ich z.B. nie geführt. Die Auseinandersetzung mit Jacobys Angeboten erforderte eine Art des Experimentierens, die auf den Leser egozentrisch, möglicherweise narzisstisch wirken kann. Sollte der Eindruck entstehen, hier kultiviere jemand seinen eingezäunten Kleingarten, so würde dies nicht Jacobys Anliegen entsprechen. Er betrachtete die erste Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhalten als Etappe auf dem Weg zu einer Öffnung, zu Kontakt und Engagement. Wesentlich erscheint mir der Nachweis, dass es Jacoby gelang, mein Interesse zu wecken und Aktivitäten auszulösen. Letzte-

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re zielten auf den Abbau von Routinen und auf Mobilisation. Die damit einhergehende Sensibilisierung kann positiv als Erweiterung des Wahrnehmungsfeldes gesehen werden. - Offen und schwer zu quantifizieren bleibt dabei die Frage nach den langfristigen Auswirkungen dieser Versuche. Die folgenden Berichte entsprechen dem Original, d.h. sie wurden stilistisch nicht überarbeitet. Minimale Eingriffe habe ich mir erlaubt im Fall von Unklarheiten. Ferner wurden einige Kürzungen vorgenommen, dort nämlich, wo ich mich von den Kursthemen zu weit entfernte, doch kaum im Fall der zahlreiche Wiederholungen, ~e ich bewusst stehenliess, um deutlich zu machen, wie ich mich oft über längere Zeit mit dem gleichen Problem beschäftigte. Noch ein sprachlicher Hinweis: In den Berichten verwendete ich oft die Ausdrücke »Üben« und »Übungen«, was nicht Jacobys Terminologie entspricht. Denn für ihn bedeutete »Üben« ein routiniertes und beziehungsloses Wiederholen; selber sprach er lieber von »Versuchen« und von »Probieren«. Vielleicht hatte ich mir seine Ausdrücke noch nicht angeeignet, vielleicht auch wollte ich sie ihm nicht nachplappern. Jedenfalls bestand er während der Beprechungen der Berichte nie auf seinen Vokabeln; wahrscheinlich spürte er, dass eine Auseinandersetzung in seinem Sinn stattgefunden hatte. Ähnliches gilt für den Ausdruck »Entspannung«. Jacobys Anliegen war ein für die jeweilige Aufgabe angemessener Spannungszustand. Isolierte Entspannungsübungen mit ihrer Tendenz zu Erschlaffung entfernen sich von diesem Ziel. Auch hier hat Jacoby nicht kritisiert; vielleicht betrachtete er meine Versuche als Etappen, vielleicht auch spürte er mein hinreichendes Verständnis hinter dem von ihm gemiedenen Ausdruck.

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Bericht 1 (15. Mai 1951) »Versuche während des Einführungskurses«

Hören: Beim Musikhören habe ich einigemal bewusst versucht, weniger als sonst die Themen, Satzformen und Tonarten erkennen zu wollen. Manchmal mit Erfolg, d. h. mit spontanerer Beziehung zur Musik als sonst. Abhören von Fremdsprachen am Radio: Versuche, nur den Klang zu erleben, dagegen mich nicht für den Inhalt zu interessieren. Am besten geht es natürlich bei Sprachen, die ich nicht kenne.

Manchmal tagsüber Augen schliessen und auf Geräusche achten. Sehen: Versuche häufig, auf Brille zu verzichten oder mit einer schwächeren Brille auszukommen. Ich muss dabei auf viele Einzelheiten verzichten. Gelassenes Schauen geht ohne Brille besser. Kaltes Wasser: Das kalte Wasser war für mich stets unangenehm. Trotzdem habe ich morgens häufig kalt geduscht, vor allem um mich etwas aufzuwecken. Ich wusste also schon vor Beginn der Versuche, dass es mich beim Duschen schüttelt, dass mein Atem nicht normal fliesst etc. Versuche: Ich habe gefunden, dass ich sehr verschieden »disponiert« bin für das Kaltduschen. Gut durchwärmt hilft wohl, garantiert aber nicht den Erfolg. Schlecht verdaut zu haben, wirkt als Hindernis. Die ersten Schocks erhält man schon auf dem Weg zur Badewanne, vor allem durch die Kälte der Wanne selbst. Wenn die Versuche aufmerksam ausgeführt werden sollen, brauchen sie viel Zeit, einmal kam ich denn auch zu spät auf den Zug. Als ich meinen Bauch »entdeckte« (siehe später), traten die

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Versuche in ein neues Stadium. Ich besass nun ein viel empfindlicheres Reagens und glaubte, wieder von vorne beginnen zu müssen. Häufig habe ich im Anschluss an den Versuch wie früher kalt geduscht, um zu erwachen. Manchmal hätte das Duschen wieder einen Klaps bedeutet. Oft empfand ich dies als einen zu argen Widerspruch und duschte deshalb warm. Manchmal duschte ich nicht und machte keine Versuche. Einmal entdeckte ich, dass ich vor dem Versuch stets etwas Unangenehmes erwarte. Ich versuchte, mir dieses Vorurteil auszureden, d. h. unvoreingenommen zu bleiben. Heute bin ich etwa so weit, dass der Atem während des Duschens viel ruhiger geht als früher. Etwas vom Wesentlichen scheint mir auch die Einsicht, dass ich mir früher mit Duschen Schläge zugefügt habe, welche die innere Ruhe bereits am frühen Morgen zu stören anfangen. Ich fing an, auf weitere solche Schläge zu achten, z.B. auf schnelles Essen, heiss Trinken, Eilen auf den Zug, Geräusche und Schütteln im Tram, Licht anzünden etc. Tasten: Versuch, mit den Füssen einen Turm aus Holzklötzen (4 cm Kantenlänge) zu bauen (am Boden sitzend). 1. Versuch mit beiden Füssen: 10 Klötze. 2. Versuch mit rechtem Fuss: 10 Klötze. Hierauf keine weiteren Versuche mehr. Versuch, mit geschlossenen Augen auf einem Weg zu gehen. Mit den Füssen tastend erkennt man die seitliche Neigung des Weges. Der Weg war ca. 2.50 m breit, gerade, leicht ansteigend, etwa 200 m lang. Bin an mehreren Tagen die volle Länge in ordentlichem Tempo gegangen. Manche Tätigkeiten gehen mit geschlossenen Augen besser: Die dreijährige Ursula glaubt, ihre Pantoffelknöpfe nicht selbst schliessen zu können. Als meine Aufforderungen, es weiter zu versuchen, nichts nützen, rate ich ihr, es mit ge-

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schlossenen Augen zu versuchen. Da geht es wirklich. Sitzen: Versuche, die Sitzknorren zu spüren. Schwierigkeit: Welches sind die Sitzknorren? Die Versuche sind auf die Dauer sehr schmerzhaft. Doch Goetz bildete Hornhaut. Allmählich kam ich dazu, dass mir nur noch die harten Stühle behagen. Schon sehr kleine Vertiefungen in der Sitzfläche sind sehr unangenehm.

Ich versuchte, aufrecht zu sitzen. Später merkte ich, dass die aufrechte Haltung weitgehend Attrappe war, dass ich dazu noch gar nicht imstande bin. Aber ich spüre, dass ich in aufrechter Haltung viel besser und freier atmen könnte. Heute versuche ich, die Sitzknorren zu spüren und so aufrecht zu sein, als es geht ohne Mache. Beim Sitzen auf harter Unterlage hat der Bauch in aufrechter Haltung viel mehr Platz, ich empfinde das als angenehm. Vom Sitzen kam ich auf das Schreiben. Versuche, dabei lockerer zu bleiben. Versuche mit Schrägunterlage (pultähnlich). Vom Sitzen kam ich auch auf das Essen: gesammeltes Sitzen begünstigt gesammeltes Essen. Essen: Entdeckung, dass ich beim Essen unruhig bin. Versuche, still zu sein. Günstig war es z.B., vor dem Essen 10 Minuten ruhig zu liegen. Aufrechtes Sitzen. Dann kommt man mit viel weniger Speise aus, spürt besser, wann man satt ist und ist kritischer gegenüber den Speisen.

Von hier aus: Wie essen die Menschen? Wie wirken sich die einzelnen Speisen auf das Befinden aus? Gedanken über Essgewohnheiten etc. Wenn ich still sein kann, schlucke ich beim Essen und Trinken viel kleinere Mengen auf einmal; andernfalls Schmerzempfindung im Halsbereich, auf die ich früher gar nicht geachtet habe.

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Bauch: Ende Januar »entdeckte« ich meinen Bauch. Ich merkte, dass er ein ausserordentlich feiner Indikator ist. Kleinste körperliche Beanspruchungen, Töne, Nachrichten, Begegnungen etc. führen stets zu Kontraktionen, ebenso der Gedanke an etwas Unangenehmes. Ich versuche, diese Kontraktionen abklingen zu lassen. Ich könnte mir denken, dass ich hier etwas Zentrales gefunden habe, welches sich auf viele Gebiete auszuwirken vermag. Damit im Zusammenhang neues Problem: Hose und Gürtel sind vielfach zu eng, so dass ich auch hier nach Möglichkeit lockere. Liegen: Eine harte und gerade Unterlage scheint mir gute Entspannung zwar zu unterstützen, aber noch nicht zu garantieren. Ich zweifle, ob ich entspannter schlafe, aber der Bauch ist jedenfalls gestreckter. Schwierigkeiten ergeben sich aus der Hohllage des Kreuzes. »Invalidenversuche« in liegender Stellung: Langsames Heben des Kopfes oder der Beine geht fast nicht ohne Hilfe von andern Körperteilen. Bin bei solchen Versuchen ständig in Gefahr zu »schwindeln«. Ich befinde mich hier in der Situation eines Invaliden und könnte vielleicht einen Teil seiner Probleme am eigenen Leib kennenlernen. Skifahren: Ich machte einen zweistündigen Aufstieg ohne Felle, das verlangte eine besondere Technik und Aufmerksamkeit. Ich merkte, dass man dabei schon sehr viel Gleichgewicht üben kann. Ich entdeckte ferner, dass ich mein linkes Bein viel weniger belaste. - Nachträglich fand ich, dass ich beim Gehen (ohne Skis) ebenfalls das linke Bein weniger belaste. Beim Fahren interessiere ich mich vor allem für den Kontakt mit der Unterlage. Ich versuche, mein Gewicht zu spüren, im Gleichgewicht zu stehen, so dass sich die Beine nicht verkrampfen müssen. Achtung auf den Bauch, welcher sich bei jeder Gelegenheit zusammenzieht. Schwünge weniger scha-

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blonenhaft. Ich versuche zu spüren, wohin die Skis wollen etc. Es ergeben sich zahlreiche Möglichkeiten, produktiv zu üben, die ich vorher nicht sah. Interessant ist es auch, andern Skifahrern und dem Skiunterricht zuzuschauen. Versuche, mich im Schneesturm so zu verhalten, dass meine kalten Glieder warm werden (mit Erfolg). Stehen: Ausgangspunkt war u.a. das Skifahren. Belaste ich beide Beine gleichmässig? Kontakt mit dem Boden als Sport, z.B. im Tram, Autobus. Versuche, auf 1 Bein zu stehen; dabei entsteht ein Streckbedürfnis in den Hüften. Ferner entsteht dabei eine neues Problem: die Schuhe. Beobachtung der Haltung der Menschen: Nur selten ruht der Kopf über der Wirbelsäule, meist hängt er vornüber. Bei den Kindern ist die »Haltung« im allgemeinen besser. Gehen, Laufen: Beobachtung, dass z.B. Fussgelenke steif sind. Versuche, beim Gehen mein Gewicht zu spüren, die Fussgelenke locker zu lassen, allgemein locker zu bleiben, aufrecht zu bleiben. Heben von Gegenständen: Ich versuche, das Gewicht der Dinge zu spüren. Schon bei ziemlich leichten Gegenständen pflanzt sich das Gewicht fort, so dass es in den Füssen wahrgenommen werden kann. Klavierspielen: Ausgehend vom Sitzen: Ruhiges Sitzen bedeutet gesammelter sein. Bauch: Indikator für zu laute Töne, für alle Beunruhigungen etc. Allgemein: Die Einsicht, dass es offenbar ziemlich viel zu revidieren gäbe.

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Bericht2 (Anfang Oktober 1951) »Fortsetzung von Versuchen zum Einführungskurs«

Gymnastik Juni 1951: Freude an Gymnastik. Mein Rücken ist zum Sitzen viel zu schwach. Ich hoffe, dass er allmählich stärker wird, so dass der Kopf über der Wirbelsäule ruhen wird, während er jetzt, wie bei vielen Leuten, vornüberhängt. 22. Juni: Es würde mir Spass machen, viel Zeit für Gymnastik zu verwenden. Ich fange an, meine Arme und Hände zu »trainieren«, z.B. kniend auf allen Vieren, um das Gewicht immer mehr auf die Hände zu geben. Dasselbe mit dem Kopf (Kopfstand}: Gewicht immer mehr auf den Kopf geben. Wahrscheinlich sind die allerersten Stadien einer Bewegung entscheidend dafür, dass sie beziehungsvoll ausgeführt wird, aber gerade die ersten Stadien sind fast immer schon vorbei, wenn man anfängt. Sie bestehen wohl in nur ganz schwachen Muskelkontraktionen ohne sichtbare Bewegung. Entspannung: Vielleicht gilt allgemein, was ich bis jetzt beobachtete: dass die richtige Entspannung eines Körperteils (Muskelgruppe} viel besser gelingt, wenn er vorher in Aktion war. Sitzen: Obwohl ich zwischen den Beinen sitze und auch im Schneidersitz, geht es noch nicht gut. Vor allem das Sitzen mit gestreckten Beinen ist ermüdend. Hier zeigt sich die Schwäche des Rückens wohl am deutlichsten. Ich weiss nicht, welche Muskeln entwickelt werden müssen; jedenfalls fällt die Lendenpartie immer wieder zusammen. Oder ich mache ein hohles Kreuz, aber dann kann ich die Beine nicht strecken. Teils mit Absicht, teils unbewusst übe ich jetzt tagsüber kleine Aufrichtversuche: z.B. Sitzen mit gebeugtem Rücken auf Stuhl, dann Aufrichten um einige Zentimeter. 91

27. Juni: Seit einiger Zeit versuche ich den Kopfstand, den ich als kleiner Knabe nur unvollkommen beherrscht hatte und später gar nicht mehr. Methode: Gewicht spüren in Schädel und Händen. Nicht forcieren, sondern immer wieder Gewichtsversuche. Heute zum 1. Mal etwas gestanden, Beine noch ganz gewinkelt. 3. Juli: Kopfstehen = gutes Beispiel, wie man sich etwas erarbeiten kann. In der Schule kam es immer darauf an, den fertigen Kopfstand zu können. Man half sich gegenseitig durch Halten. - Jetzt mache ich Versuche mit ganz langsamen Fortschritten. Ich muss schon die tiefe Lage des Kopfes erlernen, da mir das Blut stark in den Kopf fliesst. Gewichtsverlagerung von Knien und Füssen auf Hände und Kopf. Überrollversuche, ohne dass es zu Schlägen kommt. Versuche, kurze Zeit auf dem Kopf zu stehen, jedoch ohne Schwung, immer im Gleichgewicht, bis Füsse ohne Belastung sind. Bisher noch kaum Streckversuche im Kopfstand, sondern Beine ganz tief. Dafür in dieser Stellung Lockerungsübungen: es soll gemütlich sein. Sitzen: Zwischen den Beinen und im Schneidersitz geht es jetzt schon ganz gut. Wenn ich dann aufstehen will, wollen mich die Beine kaum tragen. Die Körperübungen machen mir viel Spass. Handstand: Ich möchte ihn gerne lernen. Weiss nicht, ob das gehen wird. Ich übe nun viel Stützen, zum Teil an Tischen, Stühlen, am Boden. Langsam das Gewicht auf die Arme geben. Diese fangen schnell an zu zittern, dann entlaste ich sie, besser noch vorher. Manchmal entsteht beim schwachen Stützen eine Art stechender Schmerz im Rücken, ein Zeichen, dass ich bereits forciert habe. Kopfstand: Geht immer besser, macht mir Spass.

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13. Juli: Stehen. Ich mache viele Gleichgewichtsübungen, d.h. Gewichtsverschiebungen von einem Bein aufs andere. 31. Juli: Eines ergibt das andere. Aber sobald ich etwas kann, merke ich, wie ich mich einenge, indem ich nun gerade das Erlernte weiterüben will und alle andern Möglichkeiten vernachlässige. Das ist ja nicht nur beim Turnen der Fall. Ich fahre mit den Stützübungen fort: am Boden und auf Stühlen. Vorbereitungen für die »Waage«, welche ich in der Schule nie recht konnte. Einmal wollte ich rückwärts überrollen. Das 1. Mal ging es gut. Das 2. Mal verstreckte ich den Rücken ein wenig und merkte, dass ich »gemorkst« hatte. Die Verstreckung verschwand erst im Lauf von Tagen, und sie hinderte mich sehr, weil ich in zahlreichen Gymnastiksituationen Angst bekam. Beim Arbeiten im chemischen Laboratorium entdecke ich sehr viele »Verkrampfungen«. 13. September: Ich rechne nun auch alles normale Sich-Bewegen zum »Turnen«. Immer ist man in Gefahr, etwas zu »ma chen«. Sehr viele Leute bewegen sich unnatürlich, um Eindruck zu machen. Zum Teil stammen diese Bewegungen aus dem Militärdienst. Versucht man, etwas davon abzulegen, so besteht die Gefahr, wieder etwas zu »machen«, nämlich das. Gegenteil der flotten Haltung: die bewusst schlampige. Immer wieder ertappe ich mich, wie ich bei Kleinigkeiten ein wenig oder auch stark »krampfe« und »morkse«. Ich wusste nichts davon. Ich wusste auch nichts von sehr vielen Dauerverspannungen.

Dies ist für mich ein nachträgliches Resultat des Jacoby-Kurses: dass man ein Haus nicht mit dem Dach beginnen kann. Das gründliche Erarbeiten erfolgt bei vielen (vor allem beim Kind) unbewusst und spielend. In geeignetem Milieu wird man auf diese Weise wohl zu guten Leistungen kommen, ohne das Gefühl von »Arbeit« zu haben.

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Bei den » Turnübungen« entstand das Bedürfnis, immer mehr miteinzubeziehen: - Sitzen: Mit verschränkten Beinen, zwischen den Beinen, mit gestreckten und gespreizten Beinen (wie Kinder) Stehen: Auf den Zehen, auf den Knien, auf 1 Bein. Stärkung der Bauchmuskulatur durch Heben der Beine (liegende Stellung). Stärkung der Hüften, da eine beträchtliche Streckung möglich wäre, was freiere Atmung zur Folge hätte. Kann beim Sitzen und Stehen geübt werden. Stärkung des Fussbogens. Stärkung des Schultergürtels: im Hinblick auf die Ziele Handstand und Waage. Stärkung des Nackens: Heben des Kopfes, am Boden liegend Kopfstand: Der Bauch ist angenehm entlastet, Stärkung des Nackens. - Liegen: Auf der Matratze, die am Boden liegt. Das Kreuz ist nicht mehr so hohl wie früher, sondern beginnt aufzuliegen. Das kam, ohne dass ich viel übte.

19. September: Anwendung auf das Schreiben: Durch richtiges, d. h. zweckmässiges Sitzen sollte es möglich sein, mit unbelastetem Arm zu schreiben. Dadurch fallen verschiedene Verkrampfungen weg. Dasselbe gilt wohl auch für das Klavierspielen. Kopfstehen: Neue Variationen, z.B. Benützung der ganzen Unterarme statt nur der Hände. Kürzlich Zirkus Knie: Manches nahm ich anders wahr als früher (d.h. vor 15 Jahren). Interessant zu sehen, wie sich die Akteure bewegen, stehen etc. 2. Oktober: Gestern 4 Minuten auf dem Kopf gestanden. Beim Kopfstand kann man den Bauch entspannen, so dass ein Wohlgefühl entsteht. Zwischen den Beinen sitzen geht nun besser, z.B. auch direkt

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auf dem Holzboden. Am meisten schmerzen gewisse Fussknochen (Fortsetzung der grossen Zehe). Ich habe mit Rückwärtsbeugen begonnen. Hier ist die Verführung zum »Krampfen« besonders gross. Purzelbaum rückwärts geht nun gut. Noch ohne sichtbaren Erfolg sind bis jetzt die Übungen in liegender Stellung: Kopf heben und Füsse heben. Essen Anfang Juni: Ich habe begonnen, weniger zu essen. Es geht bis zu einem gewissen Grad. Normalerweise esse ich nämlich, ohne Hunger zu haben. Aber es ist gar nicht einfach: Unruhe verführt zum Essen. Und mit meiner Zurückhaltung beleidige ich leicht den Zubereiter der Speisen. - Esse ich weniger, so wird meine Blinddarmgegend weniger empfindlich. Normalerweise ist sie seit langem druckempfindlich (ohne im übrigen zu stören). Ich esse gelagertes Schwarzbrot, Früchte, Butter, Käse, wenig Milch, wenig Fleisch.

22. Juni: Wenn ich still bin, braucht das Essen Zeit. Kleine Bissen. Ich habe dann das Bedürfnis zu warten, bis die Bissen die Speiseröhre hinabgewandert sind. Man spürt das Wandern, ebenso Wärme und Kälte. Grosse Bissen tun beim Schluckvorgang weh. Wenn ich wenig esse, werde ich viel empfindlicher gegenüber Stimulationen wie Kaffee, Tee. Ich glaube es wenigstens. Ich stelle mir vor, dass in diesem Fall auch die Heilkräuter und der Heiltee viel wirksamer sind. Demnach wären die Heilmittel unserer Industrie viel zu schweres Geschütz, das unserer Überernährung angepasst ist. Stimmt das wohl? 27. Juni: Ich esse vermehrt Früchte, Vierkornbrot, Käse, Milch aber ziemlich wenig Fleisch. Gestern und heute Wie95

nerli: Sie schmeckten ausserordentlich scharf, während sie doch sonst eher fade bis normal anmuten. 3. Juli: Man sagt, allein zu essen verleite zu Hast. Ich bin jetzt so weit, dass ich allein ruhiger esse als in Gesellschaft. Wenn mehrere zusammen sind, achtet man nicht nur auf das Essen, sondern spricht und denkt. Allein dagegen entsteht manchmal so etwas wie eine Stille und Andacht, dass ich mir vorkomme wie ein Rastender in grosser Abgeschiedenheit. 19. Juli: In den letzten Tagen undiszipliniert gegessen, Beeren etc. Jede kleine Lockerung der Disziplin gefährdet das Erreichte. Es ist dann viel schwerer zurückzukehren. Sobald man in Gesellschaft lebt, ist die Selbstdisziplin viel schwieriger als allein (wenigstens in gewissen Bereichen).

2. Oktober: Die meisten Leute neigen sich bei jedem Bissen nach vorn. Dadurch wird jedesmal die Ruhe und die Gelöstheit gestört. Ohne Bewegung zu essen, ist viel angenehmer und genussreicher. Kaltes Wasser Anfang Juni: Versuche, im See ins Wasser zu gehen, ohne mich dabei zu überwinden. Es braucht sehr viele Versuche. Ich friere sehr schnell. Schwimmversuche ohne Bewegungen.

22. Juni: Neues Stadium der Duschversuche. Ich probiere das kalte Wasser nur kurz und setze dann aus, bis ich mich wieder richtig warm fühle. Hierauf nächster Versuch. Ich mache das in der Badewanne, bin aber in der Badeanstalt, d.h. in einer »neuen Situation« darauf gestossen. 3. Juli: Im See ganz langsam hineingegangen. Statt Schwimmen unkonventionelles Zappeln wie ein Hund.

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17. Juli: Im Wellenbad: die 3 'h jährige Ursula hat mit dem kalten Wasser etwas Mühe. Sie wollte jedoch immer wieder hinein, um dann allerdings bald wieder lachend und kreischend herauszuflüchten. Es ist auffallend, wie sie es immer und immer wieder probiert, wie sie sich das kalte Wasser im Spiel erarbeiten muss und will.

2. Oktober: Duschen scheint besser zu gehen, wenn man etwas geturnt hat vorher. Schauen

22. Juni: Mehr als vorher habe ich den Lichtschock erlebt. Der Übergang vom Dunkel ins Helle ist brutal, aber diese Brutalität ist uns selbstverständlich. Ich habe das Gefühl, durch mehrmaliges Augenverbinden und Abklingen der Schauabsicht bzw. der Unruhe während des Tages könne man sich sehr gut erholen (noch wenig ausprobiert). 27. Juni: Ich glaube bemerkt zu haben, dass sich bei gelassenem Schauen in erster Linie Gegensätze aufdrängen: eine leuchtende Farbe, ein heller Fleck etc. 3. Juli: Habe begonnen, Gegenstände mit langsam sich öffnenden Augen anzublicken. Die Konturen sind anfänglich scharf, verschwimmen aber beim weiteren Öffnen.

5. September: Ich habe mit Zeichnen begonnen (Helldunkel, Graphitpulver). Es macht Spass, besonders wenn die Leute meine Gegenstände wiedererkennen. Hären Anfang Juni: Manchmal höre ich mit verbundenen Augen Radio. Ansätze von absichtslosem Hören, aber wenig. Ich habe das Gefühl, dass ich musikalisch völlig verdorben bin.

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19. September: Manchmal spüre ich mehr als früher den Rhythmus der Musik, mache dann auch einige ungeschickte Bewegungen dazu. Auch den Stimmungsgehalt nehme ich mehr auf als früher. Mit Abscheu denke ich an die Rhythmikstunden meiner Kindheit zurück. Die Rezension eines Bruno Walter-Buches erwähnt, dass Walter I bewusst versucht, sich von Routine freizumachen, so dass jede Aufführung zu einer Art Uraufführung werde. Medizin Anfang Juni: Manchmal treten meine Handvenen stark hervor. Ich möchte das wegbringen. Es fällt mir auf, dass beide Hände ganz unterschiedliche Venen hervortreten lassen. - Bei manchen Menschen ist die linke Hand deutlich kleiner. 17. Juli: Zwischen Wetter und Blutkreislauf dürften Beziehungen bestehen, die noch wenig bekannt sind. Bei schwüler Hitze treten meine Arm- und Handvenen bedrohlich zutage, bei kühlem Wetter dagegen sind sie nicht zu sehen. Thrombosen und Embolien sollen häufiger sein bei föhnigem Wetter.

1 Bruno Walter, bekannter Dirigent.

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Bericht 3 (6. Januar 1952)

Bewegung, Haltung, Turnen, Sport Stehen: Ist mehr als früher zu einem schwierigen Problem geworden. Ich hatte als Kind Platt- oder Senkfüsse, musste Einlagen und viel hohe Schuhe (Massschuhe) tragen. Privates Turnen, Zehenstehen, Massage. Im Militärdienst machten meine Füsse jedoch keine grossen Schwierigkeiten. Ich habe festgestellt, dass bei mir beim Stehen entweder die hintere oder die vordere Partie des Fusses belastet ist, dagegen nicht der ganze Fuss gleichmässig. Ich habe das Gefühl, eigentlich sollte der ganze Fuss gleichmässig belastet sein (inklusive Zehen). Doch das schaffe ich nicht oder kaum. Kleine Schwankungen vorwärts-rückwärts: Es handelt sich nur um einige Zentimeter. Vor allem in den Oberschenkeln ist dabei die wechselnde Kontraktion und Entspannung der Muskeln gut zu spüren. Ich habe das Gefühl, dass man auf hundert verschiedene Arten stehen könne. Wahrscheinlich hat ein Fakir, der lange auf 1 Bein steht, die Möglichkeit, sich durch geringe Veränderungen der Haltung immer wieder auszuruhen. Der Laie nimmt jedoch solche Veränderungen kaum wahr. Gehen: Als Knabe, als Pfadfinder und im Militärdienst habe ich mir lange Schritte angewöhnt. Ich spüre nun, dass sie für lockeres Gehen viel zu lang sind. Ich versuche deshalb, die Konvention der langen Schritte abzulegen. Dazu Versuche, die Fussgelenke locker zu lassen, den Füssen freies Spiel zu gewähren; dabei entsteht häufig ein Einwärtsgehen (als Knabe ging ich einwärts, was stets korrigiert und kritisiert wurde). Ich muss langsam gehen, um aus meinem gewöhnlichen Gang herauszukommen. Versuche, das hintere Bein von selbst nach vorn pendeln zu lassen, statt es zu bewegen. Schuhe: Schon immer ärgerte ich mich über die Mode der zu 99

spitzen Schuhe. Aber nun habe ich das Gefühl, dass unsere Schuhe auch in anderer Hinsicht unzweckmässig sind. Aber worin die Unzweckmässigkeit hauptsächlich besteht, vermöchte ich nicht zu sagen. Sitzen: Habe noch deutlicher das Gefühl, dass durch Sitzen im Gleichgewicht jede manuelle Betätigung (z.B. Schreiben, Klavierspielen) besser wird. Ich bemerkte, dass meine Hände und Arme viel Körpergewicht zu tragen haben und sich deshalb verkrampfen. Handstand: Fortschritte äusserst langsam Skifahren: Versuche, in Kontakt mit der Unterlage zu bleiben und still zu sein, zu spüren, wohin die Skis ohne mein Zutun wollen. Es ist schwer, Gewohnheiten abzulegen. Gelegentlich bekam ich Lust zu ganz kleinen Geländesprüngen. Früher hatte ich geglaubt, sie seien eine Sache des Mutes, aber es scheint mir jetzt, dass sie von selbst kommen, falls man nur sicher auf den Brettern steht. Wiederum konnte ich beobachten, wie gutfahrende Lehrer einen ziemlich schlechten Unterricht erteilen, bei welchem es vor allem auf das Kopieren der äusseren Form ankommt. Erschlaffung, Entspannung Erschlaffung: Soviel ich weiss, hat dauernde Anspannung eine Erschlaffung zur Folge. Ich habe an mir verschiedene Erscheinungen festgestellt, welche wohl Erschlaffung sind: schwächerer Blasendruck, Erschlaffung der Haut, häufiges Hervortreten der Arm- und Handvenen, besonders in warmer Umgebung. Vielleicht gehört dazu auch die Kurzsichtigkeit, ferner eine häufige allgemeine körperliche und psychische Müdigkeit. Ich vermute, dass einige dieser Erschlaffungen mit Dauerverkrampfungen zusammenhängen könnten, welche durch gründliche Entspannung häufig gelöst werden sollten. 100

Entspannung: Entspannungsversuche beim Sitzen und Liegen. Manchmal spüre ich, wie sich die linke Schulterpartie, der Bauch und die Gesichtsmuskulatur deutlich entspannen. Das dient als Kontrolle, dass wirklich Entspannung eingetreten ist. Unter Einfluss von Alkohol kann man ebenfalls zur Entspannung kommen. Ich habe bisweilen das Gefühl, es gehe so viel gründlicher und weiter als mit bewussten Übungen. Auch werde ich dabei manchmal hellhöriger für Musik: Es kann eine Wachheit entstehen, in welcher ich kritischer bin dem Unzulänglichen gegenüber und hingebungsvoller dem Gelungenen. Würde der Alkohol mir nicht häufig körperliche Unbehaglichkeit bringen, würde ich mich wohl öfters damit »wecken«. · Strassenverkehr: Habe oft Bauchkontraktionen beim Nahen von Automobilen bemerkt. Versuche nun, auf dem Fahrrad ruhig zu bleiben und den Bauch zu spüren. Ich verzichte darauf, die Strassen zu queren, wenn Autos herannahen, um unnötige Erregungen zu vermeiden. Atmung »Unerlaubterweise« habe ich begonnen, mich für meine Atmung zu interessieren 1. Öfters vergessen Erwachsene in angestrengten Situationen zu atmen und holen dies mit einem tiefen und heftigen Atemzug nach; ich beobachtete dies auch bei mir selbst, bei Kindern kaum. Ich wollte wissen, wie meine Atmung normalerweise abläuft, ich wollte ihr gleichsam zuhören. Dabei war mir klar, dass 1 In den Kursen wurde nicht bewusst geatmet. Jacoby machte Atmen nicht zu einem Thema. Er empfahl aber, sich bei Anstrengungen gelegentlich für den Verlauf der Atmung zu interessieren. - Indessen gab es Kurse, in denen das Atmen thematisiert wurde, freilich nicht isoliert.

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dies fast unmöglich ist, weil durch die beobachtende Einstellung die Atmung schon verändert werden dürfte. Ich versuchte es trotzdem, auf dem Rücken liegend. Es ist ziemlich schwierig, diese Beobachtungen mitzuteilen. Ich versuchte, möglichst still zu sein, nie tiefer einzuatmen, als dies ohne Forcieren möglich ist. Ich hatte das Gefühl, dass sich Puls und Atmung irgendwie in die Quere kommen, dass nämlich die Herzschläge, welche bei mit sehr langsam und hart sind, die Atmung stören. Ich habe erwartet, dass sich in Kürze eine regelmässige und mitteltiefe Atmung einstellen würde. Zu meiner Überraschung entstand gewöhnlich etwas ganz Unregelmässiges. Manchmal hörte das Atmen fast auf, beschränkte sich auf kleine Züge. Dann wurden die Züge allmählich tiefer, dann folgte wieder eine flache Periode. Wie Wellen, aber unregelmässige Wellen. Da ich bei solchen Übungen eher schneller zur Entspannung komme als ohne Beobachtung der Atmung, scheint es mir, dass tatsächlich eine Art von »Zuhören« vorliegt, und dass meine Atmung trotz Beobachtung nicht gestört, sondern natürlicher wird. Durch die Beobachtung der Bauchkontraktionen und durch Beobachtung der Atmung ist bei mir wahrscheinlich die Bauchatmung ausgeprägter geworden.

Zwerchfell: Im Zusammenhang mit den feinen Reaktionen des Bauches kam mir in den Sinn, dass im Altertum die Gegend Zwerchfell/ Sonnengeflecht als Sitz der Seele galt. Als man uns dies erzählte, hatten wir nur ein mitleidiges Lächeln für solche Ansichten übrig. Von den medizinischen und psychologischen Hintergründen erfuhren wir nichts. Wahrnehmung mit Sinnen Hatte an einem optischen Apparat genaue Nonius-Ablesungen zu machen, wofür ich meine Brille benützte. Einmal hatte ich sie nicht bei mir und war gezwungen, mit blassem Auge zu

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arbeiten. Es ging fast nicht, ich war sehr unsicher, da ich die Teilstriche nicht recht unterscheiden konnte. Nachträglich zeigte sich jedoch, dass ich ohne und mit Brille praktisch dieselben Resultate erhielt. Bei Degustationen fällt mir immer wieder die rasche Ermüdung und auch Erholung der Geruchs- und Geschmacksorgane auf. Vielleicht sind auch unsere übrigen Sinne viel rascher ermüdbar, als wir es wissen. Dann wären die uns normal scheinenden Leistungen unserer Sinnesorgane nicht das Maximun1. Im Essen habe ich mich wenigstens soweit umgestellt, dass ich vor dem Essen nicht mehr rauche, weil mir das richtig zuwider geworden ist.

Lernen Bei unsern beiden Mädchen fällt mir ein Unterschied im Lernen auf. Bei der Älteren ist das Lernen viel besser beobachtbar: z.B. legte sie 20 Mal einen Gegenstand auf eine horizontale Unterlage, dann auf eine schiefe Ebene, um so gewisse Grunderfahrungen zu sammeln. Beim Sprechen-lernen zählte sie für sich selbst einmal alle Synonyme für »später« auf: nachher, bald, morgen, noch nicht. Hört sie Fremdsprachen, so ahmt sie diese übend nach, ebenso die Muttersprache und gewisse Ausdrücke derselben. - Bei der Kleinen lässt sich das Erarbeiten weniger gut verfolgen; sie kann die Dinge scheinbar plötzlich.

Religiöse Riten Man kann zahlreiche religiöse Riten und Vorschriften unter dem Gesichtspunkt betrachten, dass sie den Menschen aus der Tagesroutine herausziehen, ihn zum Stillsein und zum Sicheinstellen auf eine neue Situation bringen wollen.

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Beispiele: Gebete am Morgen, am Abend, vor dem Essen, vor dem Eintreten in ein Haus etc. - Das Fasten, die Sonntagsruhe, die kirchlichen Feiern, die Kirchen selbst. Dass aus diesen Einrichtungen wieder Konventionen wurden, ist wohl unerwünschte Folgeerscheinung.

Bericht 4 (Ende März 1952) »Januar-März 1952«

Beunruhigungen: Ich habe weitere Situationen festgestellt, in denen ziemlich regelmässig Beunruhigungen auftraten, von denen ich nichts wusste: Hunde, Katzen, die mir auf der Strasse begegnen. Beim Vorzeigen der Fahrkarte in Tram und Eisenbahn. Ferner, wenn sich mir jemand von hinten nähert oder wenn jemand mich überholt. Ferner bei Berührung von Menschen im Tram. Verkrampfung: Habe mich in vielen Situationen, welche etwas Kraft erfordern, beim Krampfen ertappt, z.B. beisse ich häufig die Zähne zusammen. Duschen: Habe die morgendlichen Kälteschock-Versuche weitgehend aufgegeben, da ich am Morgen alles tun will, um mich selbst nicht zu stören, um ruhig zu bleiben (was bei den Kaltwasserversuchen zu selten gelang). Deshalb warmes Duschen mit kühlem Ende, ev. auch Wechseltemperaturen. Kaltes Duschen führte manchmal zu ganz leichten krampfartigen Empfindungen in den Oberarmen und im Magen. Erwachen: Habe gemerkt, dass schon minimale Bewegungen der Finger und Zehen das Wachwerden begünstigen. Stram-

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peln mit den Füssen ist unnötig, ganz kleine Hebeversuche genügen.

Atmen: Ich habe den Eindruck, man könne auch die Lungen »antennig« gebrauchen. Sich ganz auf die Atmung einstellen, kann die allgemeine Entspannung stark begünstigen. Um frei atmen zu können, möchte der Bauch gestreckt sein; wenn man ihn jedoch dehnt (Aufrichten oder flache Rückenlage), geht es trotzdem nicht, sondern das Herz pocht unangenehm und störend. Deshalb mildere ich in der Rückenlage die Bauchspannung durch Anziehen der Beine. Dadurch sinkt die Tendenz zum krampfartigen Einatmen. Ich habe das Gefühl, meine inneren Organe seien so an das Gepresstsein gewöhnt, dass ihnen bei der aufgerichteten Haltung nicht wohl ist. Also muss man sich wohl auch hier Zeit lassen. Schauen: Zufällig ein Lesebüchlein für Erstklässler ( »Mutzli «) gesehen, welches schon vor 25 Jahren gebraucht wurde, als ich lesen lernte. Folgendes fiel mir sofort auf: Schreiender, beleidigender Kontrast der schwarzen Schrift zum weissen Grund; es sind grosse dicke Buchstaben und nur wenig Zwischenraum. Der Gesamteindruck wird dadurch sehr aggressiv und plump. Dem Schriftbild fehlt jede Spur von Zierlichkeit. Ich hatte sofort den Wunsch, das Papier müsste getönt und die Schrift braun sein. Sitzen (29. Februar): Seit einigen Tagen sitze ich anders, nämlich weiter vorn auf den Sitzknorren. Günstig war die nochmalige Demonstration der Beckenhaltung im Kurs, ferner die Beobachtung, dass sich beim Stützen auf die Hände sofort der Bauch versteifte, worauf ich zuwenig geachtet hatte. Es scheint mir, als ob ich bei den bisherigen Sitzversuchen die Sitzknorren forciert gespürt hätte, jetzt aber wird sich wahrscheinlich vieles entspannen (allmählich). Beim Sitzen am Boden stellte sich eine Steifheit im rechten Knie ein. Vielleicht habe ich forciert. Allerdings war mir dies

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nicht bewusst; ich hatte nie das Gefühl zu übertreiben und war deshalb sehr erstaunt über die ziemlich plötzlich eingetretene Steifheit. Ich habe vieles vom bisherigen Sitzen als teilweise Attrappe erkannt. Spüren der Knorren war zum Teil schülerhaft. Ferner war der Ehrgeiz dabei, möglichst weit zu kommen. Jetzt versuche ich mehr darauf zu achten, ob sich ein angenehmes Gefühl der Entspannung einstellt. Manchmal scheint es mir, dass das Sitzen am Boden bereits vorgegriffen sei, und dass sich meine Hüftgegend auf dem Stuhl besser entspanne. Anschliessend geht es dann auch auf dem Boden besser. Skifahren (Melchsee-Frutt}: Habe 2-3 Tage viel gepröbelt. Sehr viele Probiergelegenheiten in jeder beliebigen Situation (Stehen, Gehen auf der Ebene, bergauf, abfahren). Am gründlichsten versuchte ich den Kontakt mit dem Boden zu behalten, was bereits beim Gehen auf der Ebene und bergauf nicht leicht ist. Schon ohne abzufahren kann man so die Standsicherheit beträchtlich steigern. Immer besteht die Gefahr, die Bewegung zu übereilen. In dieser Hinsicht ist das Bergaufgehen günstig, da es ohnehin langsam abläuft. Anwendung des Gewichthebens auf das Steigen. Ich versuchte, einen längern Aufstieg ohne Ermüdung zu realisieren. Dabei wurden mir bald zahlreiche Steifheiten und manches Zerren in Bändern, Hüften und Füssen bewusst, welche ich aufzugeben versuchte. Fuss, wohin willst du? Wie muss man das Gewicht vom hinteren Fuss auf den vorderen bringen, ohne dass der Kontakt mit dem Boden verloren geht? Wesentlich war das flüssige Vorschieben der Hüften.

Abfahren ohne etwas zu erzwingen, achten auf jedes Ziehen in den Bändern. Lockerlassen der Schultern. Nach Möglichkeit Schwünge nicht mehr »machen«, sondern Gewicht verlagern und warten, was daraus resultiert. Beobachtung der Skifahrer wird interessant. -

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Es ergaben sich verschiedene Anwendungen auf das Gehen ohne Ski (z.B. auch Treppensteigen).

Stehen und Gehen: Vor allem 2 Anregungen, nämlich die Erfahrungen beim Steigen mit Ski, ferner ein Zoo-Besuch. Interessant ist das Gehen und Stehen der langbeinigen Vögel (Kraniche, Störche etc), das sichere Ruhen der Last auf einem dünnen Stengelbein, ferner das überaus tastende Aufsetzen des Fusses, das Vorgeben der Last etc. Auch das Langwerden der plumpen Beine des Bären beim Treppabgehen, ferner das Strecken und Recken eines erwachenden Vogels. Vom Skifahren her nahm ich das Wachsein bezüglich überdehnen von Bändern, bezüglich Bodenkontakt sowie Vorschieben der Hüften (letzteres dürfte eine wichtige Grundlage des Tanzes sein), ferner Lockerhalten des Bauches. Auswirkung auf Stehen und Gehen: Wahrscheinlich stehe ich mit grossem Aufwand. Kleine Kinder oft besonders selbstverständlich.- Beim Gehen viele Steifheiten. Ich erinnere mich, wie wir als Knaben und als Pfadfinder lange Schritte machen wollten wie die Grassen. Es scheint mir, dass die meisten Menschen nach einer Art Schema gehen, welches vom Militär ziemlich stark beeinflusst ist. Hohe Absätze geben harten Gang, weiche Sohlen einen flüssigen, gelösten. Ich versuche, die Hüften locker zu lassen, dabei entsteht bisweilen ein angenehmes Gefühl. Beine dorthin lassen, wo sie gerade wollen. Sehr verschiedene Neigung des Oberkörpers ist möglich. Stehen ist für mich von allen erwähnten Dingen wohl das Schwierigste. Es wird sofort leichter, wenn ich mir Schwankungen erlaube nach hinten/vorn und seitlich. Durch diese minimalen Bewegungen erlebe ich das Stehen viel deutlicher und aufschlussreicher.

Chemische Apparatur: Habe bewusst beobachtet, dass eine unübersichtliche fremde Apparatur bei der ersten Begegnung 107

Angst einjagte, später aber schnell vertraut wurde. Also auch hier die schrittweise Aneignung von Vorteil. Al/gemeine Frage: Ich habe das Gefühl, körperlich ziemlich viel »entdeckt« zu haben. Es ist mir wenig klar, wie es bei anderen Leuten steht, d. h., ob ich besonders viel zu entdecken hatte. Wenn ich mich vergleiche mit anderen, dünkt es mich, dass ich überdurchschnittlich viel zu entdecken hatte. Stimmt das? Invalide: Wenn ich auf der Strasse Invalide sehe, sehe ich sie anders an als früher. Früher getraute ich mich kaum hinzusehen. Jetzt interessiert mich die Art, wie sie ihre Situation meistern. Bei manchen hat man den Eindruck, dass sie mehr aus sich herausholen könnten. Der Weg, ihnen das mitzuteilen, ist mir noch ganz unklar. Was noch kaum gelingt: den körperlich Intakten als »Invalid« zu sehen, d.h. als einen, der sich Methoden angeeignet hat, das Leben zu meistern. Religion (Neues Testament}: Ein wesentlicher Teil des Neuen Testaments lässt sich ansehen als Anruf zum Wachsein, zum Aufgeben von Konventionen (d.h. von sinnlos Gelerntem) und Auseinandersetzung mit gewissen Grundlagen des Lebens.

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Bericht 5 (Ende Mai 1952) »April-Mai 1952«

Laufschritt: In der Schule und bei den Pfadfindern war es wahrscheinlich, wo ich mir ein regelmässiges und tiefes Atmen angewöhnt habe. Das war so üblich. Ich versuche jetzt so zu atmen, wie »es will«, d.h. manchmal schnell und flach, habe aber ziemlich Mühe, von den Gewohnheiten loszukommen. - Beim Laufschritt wurde befohlen, die Arme zu winkeln etc. Versucht man, diese Konvention durch Lockerlassen der Arme aufzugeben, so besteht folgende Schwierigkeit: Man gerät ins Schlaffwerden, dann schlottern/baumeln die Arme störend umher. Ich entdeckte, dass es auch beim Laufschritt neben Schlaffheit und Verkrampftheit eine dritte Möglichkeit gibt: eine leichte Straffung. Sie äusserte sich dadurch, dass der Oberkörper in eine Art »Mitschwingen« geriet, wobei ein sehr angenehmes Gefühl auftrat. Waage: Hier bleibe ich stecken (habe allerdings nicht mehr viel versucht). Das Prinzip scheint mir zwar klar. Ich möchte das Becken auf dem Ellbogen ruhen lassen. Dies verursacht aber bereits beim vorsichtigen Abstellen grosse Schmerzen (scharfe Knochenkanten). Der Schmerz lässt sich durch Straffung von Armmuskeln mildern, dabei geht aber das Gefühl zu ruhen verloren. Handstand: Die Versuche, die Hände zu belasten und zu entlasten, scheinen mir langwierig und erfolglos. Mehr Erfolg erwarte ich vom Gehen auf allen Vieren (erspart allfälligen Zuschauern einen Besuch im Zoo). Hitzgi (Schluckauf): Habe ihn öfters in kurzer Zeit weggebracht durch Strecken, Entspannen des Bauches und durch eine Art Sammlung, d.h. durch den Versuch, ruhig zu sein. Ging

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auch bei meiner Frau sehr gut. - Bei der 4-jährigen Ursula brachte ich den Hitzgi mehrmals schnell weg, indem ich sie aufforderte, dem Hitzgi zuzuhören, ob er vielleicht fortgehen wolle. Hohles Kreuz: Hier bin ich vermutlich auf etwas Wesentliches gestossen. Bei den Sitzknorren-Versuchen hielt ich den Rücken lange Zeit ziemlich steif. Ich habe mein Becken, ohne es zu wissen, mit viel Aufwand »aufgestellt«, mich ins hohle Kreuz gehoben. In letzter Zeit fing ich an, das Aufrichten des Beckens durch Neigen des ganzen Oberkörpers nach vorne sich vollziehen zu lassen. Ich neigte mich, soweit es eben ging, ohne vornüber zu fallen oder steif zu werden. Ich hatte dann das Gefühl, nach vorne zu lehnen; in Wirklichkeit war ich erst senkrecht. Einiges davon habe ich auf das Stehen und Gehen angewendet, von dort wirkte es wieder auf das Sitzen zurück. Ich weiss jetzt, dass ich mit stark hohlem Kreuz liege, sitze, stehe und gehe. Stammt das aus Militär, Pfadfinderzeit und Schulturnen, oder aus noch früheren Jahren? Es würde mich interessieren. Es dünkt mich, aufrechte Haltung, lockeres Becken, lockerer Bauch und spielende Atmung seien nicht gut vereinbar mit hohlem Kreuz. Ich weiss noch nicht, ob das Becken beim hohlen Kreuz nach vorn oder nach hinten neigt; vor allem neigt der Oberkörper nach hinten, der Kopf deshalb (kompensatorisch) nach vorn. Um das hohle Kreuz aufzugeben, lasse ich meinen Oberkörper mehr vornüber neigen. Beckengegend wird dadurch gelockert. Ich habe das Gefühl, kleiner zu werden. Bauch entspannt sich, Brustatmung ist etwas gehemmt. Vor allem beim Sitzen, ev. auch in Rückenlage tritt bei weitgehender Entspannung manchmal für einen Bruchteil einer Sekunde eine Art Zucken in Beinen und Beckengegend auf. Es ist verbunden mit einem Gefühl, das schwer zu beschreiben ist, halb Schmerz, halb wollüstig. Es handelt sich sicherlich um eine Spur einer Entspannung, welche jedoch noch nicht stattfinden kann. Ich erlebe also auf eine neue Art die unbe-

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wusste Dauerversteifung in der Hüftgegend. Woher stammt sie in erster Linie? Falls alle Steifheit auf Angst beruhen sollte: Welche Angst hindert mich, in der Rückenlage Kreuz und Nacken flach zu legen? Kleine Kinder können es. Im ganzen beobachte ich häufig eine Entspannung meiner ziemlich verkrampften linken Körperhälfte, besonders der Schulterpartie. Gehen-Musizieren: Nur wenn ich ganz langsam gehe, kann ich wirklich ruhig bleiben, so dass der Kontakt mit dem Boden ständig einigermassen erhalten bleibt. Beim Musizieren etwas Ähnliches: es gelingt fast nicht, eine Melodie ohne jegliche Unterbrechung mitzuerleben. Bücher lesen: Ich lege mit besserem Gewissen als früher ein angefangenes Buch wieder weg. Ich tat dies früher nicht gerne, »da man etwas Begonnenes fertig machen muss«. Produktive Unruhe: In den vergangenen Monaten war ich dreimal auswärts auf Stellensuche. Jedesmal war es so, dass sich für eine Zeitlang eine Wachheit und Klarsicht einstellte, die sonst eher selten ist. Wahrscheinlich hing das damit zusammen, dass ich vor gewissen Entscheidungen stand. Das erste Mal waren es religiöse Gedanken, das zweite Mal Einsichten über Kunst, das dritte Mal über soziale Fragen. Kunst: Im Kunstmuseum Basel kam ich darauf, die Bilder zu prüfen, ob sie sprechen wollen. Das machte mir Spass. Mein Urteil wurde schnell sicherer. Bei vielen Bildern deckte es sich mit früheren Empfindungen, aber ich spürte jetzt bewusster, weshalb. Sprechende Bilder: Das Dargestellte möchte reden, der Maler war offen für die Sprache des Objekts. Der Maler wird so zum Mittler, er macht das Objekt einer grösseren Zahl von Menschen zugänglich. 111

Auf diese Weise betrachtet werden die Bilder, welche Stille vermitteln, wertvoll. Viele Gemälde entpuppen sich als Machwerke oder als teilweise Mache. Viele sind nicht schlecht, aber zu aufdringlich (auch solche aus früheren Jahrhunderten, auch anerkannte}. Dem Betrachter wird oft eingehämmert. Manche haben zuviel Aufwand. Manche sind ohne Beteiligung hingemalt. Vielleicht lässt sich vieles davon auf andere Gebiete des Lebens übertragen. Atmen: Es besteht wohl eine Parallele vom Heben/ Senken des Sandsäckleins zum Ein- und Ausatmen. Versuche, beziehungsvoll zu atmen, beim Ausatmen nicht schlaff zusammenzuklappen etc. Kopfstand: Nicht mehr gemacht. Es ist mir jedoch klar, dass ich heute viel ausgiebigere Vorversuche anstellen würde, um die Tragfähigkeit von Kopf und Nacken zu erhöhen. Kopf tief halten: ist mir ein Problem. Schon in der Schule floss mir dabei das Blut sehr schnell in den Kopf. Ich habe bemerkt, dass Bauchverkrampfung viel dazu beiträgt. Jedoch genügt Entspannung des Bauches nicht, um den Blutandrang zu verhindern. Ich bekomme äusserst schnell rote Augen. Vielleicht spielt hier die Ernährung mit. Jedenfalls komme ich nicht weiter. Urteil meiner Frau: Sie hat das Gefühl, ich sei im Zusammenhang mit den Kursen für manches verständnisvoller geworden. Hohles Kreuz (Ergänzung): Häufige Beobachtung: Entspannung meiner linken, ziemlich verkrampften Körperhälfte, besonders der Schulterpartie. Seit ich das hohle Kreuz aufgebe, entstehen in der Beckengegend häufig angenehme Empfindungen der Lockerung, Wär-

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me und Durchströmung, welche sich ausdehnen auf Rücken und hinab bis in die Füsse. Dies beim Sitzen, Stehen und Gehen. Im Anschluss daran: Ich sehe, dass meine Sitzversuche bisher schülerhaft waren. Ich versuchte pflichtbewusst, die Knorren zu spüren. Spüren des Steissbeins war verpönt etc. Jetzt stelle ich um. Hauptsache ist: Spüren der Unterlage, des Gewichts, und möglichst grosse Bequemlichkeit: Becken braucht nicht mehr aufrecht zu stehen. Die bisherigen Versuche dagegen waren noch immer von einem mir unbekannten Aufwand begleitet (Sitzen auf Steiss mit gepresstem Bauch kann unter Umständen angenehmer sein als Askese auf den Knorren. Auswirkung auf Lastentragen: Kontakt mit Rucksack ist besser. Mit Rucksack (= ungewohnte Situation) viel mehr Beziehung zum Schwerpunkt als ohne fremde Last. Die »Entdeckung« des hohlen Kreuzes und die anschliessende Auseinandersetzung spielte sich innerhalb weniger Tage ab.

Bericht 6 (1. Juni 1953)

»l.Juni52-1.Juni

53«

Bevor ich dieses Resümee zu schreiben begann, habe ich meine früheren durchgelesen. Ich war erstaunt zu sehen, dass ein beträchtlicher Teil von dem, was ich schreiben wollte, schon dort stand. 1 1 Diese Vorbemerkung steht im Original und gibt einen Hinweis auf die Art der Auseinandersetzung. Es handelte sich offenbar nicht um eine völlig kontinuierliche Entwicklung; vielmehr geriet manches wieder in Vergessenheit und wurde bei Gelegenheit neu entdeckt.

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Skifahren: Noch mehr als früher habe ich erlebt, dass man beim Aufstieg das Wesentliche für die Abfahrt lernen kann: das richtige Stehen und das Gleichgewicht. Dass meine linke Bindung nicht richtig angepasst war, merkte ich beim Aufstieg. Viele Beobachtungen liessen sich auf das Gehen ohne Ski übertragen. Sicheres Stehen scheint mir wesentlich für die Abfahrt, die Schwünge ergeben sich dann ziemlich leicht. Die Skilehrer sehen nicht, dass viele ihrer Schüler aus Angst nicht sicher stehen können und deshalb auch die Schwünge nicht lernen. Man übt fast nur die Schwünge. Stehen: Januar 1953: Erst via Stehversuche auf den Händen wird mir bewusst: Beim Stehen auf den Händen und Füssen geht eine Aufforderung an Finger bzw. Zehen, mitzutragen. Ich habe diese Aufforderung bisher kaum beachtet und befolgt. - Ich ertappe mich jetzt beim übertriebenen Gebrauch der Zehen, statt sie nur etwas mehr einzubeziehen als bisher. Wenn man die Zehen mitbenützt, ist die Standfläche grösser, man steht fester. Man hat mehr Varianten des Stehens zur Verfügung, also auch mehr Ausruhmöglichkeiten. Der ganze Körper kann jetzt etwas mehr nach vorne neigen; dadurch verringert sich die Gefahr, rückwärts zu fallen, also können sich die Bauchmuskeln entspannen. Ich fange an, den im Kurs erwähnten Zusammenhang von Plattfuss und Verdauungsbeschwerden zu verstehen. Wie bei früheren Entdeckungen hatte ich im Moment das Gefühl, auf den zentralen Punkt gestossen zu sein, aus dem sich wesentliche Konsequenzen ergeben müssten (gelockerte Haltun, Gesundheit). Ich habe mit Interesse im Beninghoff über die Anatomie des Fusses gelesen. Ich sah im Zoo Flamingos, schlafend auf einem Bein stehend. Ein kräftiger Wind versetzte ihren Körper in eine deutliche Drehschwingung mit Standbein als Drehachse. Das Gleichgewicht war so vollkommen, dass der Schlaf dadurch nicht gestört wurde. 114

Linke Körperseite: Deutlicher als früher meine Einseitigkeit gespürt. Mache oft kleine Handgriffe in Haus und Labor mit der Linken, z.B. Schuhe schnüren, Zähne putzen. - Mein linkshändiger Bruder wurde getadelt, ich war stolz auf meine Rechtshändigkeit. Dieselbe Beobachtung beim Gehen: Die linke Körperseite ist »unterentwickelt«. Habe das Gefühl, dass sich meine Versuche bereits am Klavier auswirken: meine Linke arbeitet subtiler. Über Erschlaffung, angemessene Spannung/Entspannung: Spannung, Überspannung auf verschiedenen Gebieten Beobachtungen gemacht: meine eigenen Bewegungen, die Bewegung und Mimik der Mitmenschen, bei Tieren, am Klavier sowohl als Muskelspannung wie auch als musikalische EnergeEntspannung, tik. Beim Kegeln. Ferner: Spannung, Erschlaffung in der Handschrift (graphologisch).

Erwachen: Aufstehen geht etwas besser als früher. Ich kann mir das Aufstehen bewusst erleichtern, falls ich Zeit habe. Die Streckbewegungen sind dabei nicht der Anfang, sondern eine relativ späte Stufe. Am Anfang stehen winzige Muskelkontraktionen und Entspannungen: Zehen, Finger, Waden, Hals, Schultern, Hüften, Gesäss. Diese Kontraktionen sind äusserst schwach. Eine sichtbare Bewegung entsteht nicht. Ganz allmählich werden sie stärker, es entstehen winzige Bewegungen. Daraus dann wie von selbst Strecken, Dehnen und Gähnen. Bei den winzigen Bewegungen gab es häufig ruckartige Zuckungen, Zeichen der Ungelöstheit. Während ich solches arrangieren muss, tut meine Frau solche Dinge unbewusst beim Erwachen. Atmung: Habe nachts bemerkt, dass meine Atmung entweder Brustatmung oder Bauchatmung ist, aber nicht beides zugleich. Ich habe versucht, beides gleichzeitig zu verwirklichen,

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geht fast nicht, würde wahrscheinlich entspannen. Bin darauf gekommen, dass meine Schultern beim Liegen steif waren. Musik: Bedeutung des Sitzens für Klavierspiel: Hände, die den Oberkörper tragen müssen, sind nicht beweglich. Bewusster als bisher: Töne, die mir zu laut geraten, beruhen auf schlechter Beherrschung der Muskulatur. Erfassen des musikalischen Gehalts: Manchmal ein Gefühl des Stillstandes, dann wieder des Fortschritts, so dass ich mein ganzes Repertoire hervorhole und staune, wie ich es bis anhin spielte. Schauen: Neben der Irritation beim Anzünden habe ich eine weitere beim Auslöschen des Lichts festgestellt. Trotz häufigen bewussten Versuchen, gelassen zu schauen, nehmen meine Augen deutlich ab. Zeichnen: Es wurde mir bewusst, dass man nicht Objekt und Zeichnung gleichzeitig ansehen kann; zum Zeichnen ist also kurzes Gedächtnis nötig, ebenso für das kontrollieren. Je länger dieses Gedächtnis, desto mehr nähert man sich der auswendigen Reproduktion, ev. auch der Eidetik. Lernen: Klarer als bisher, dass es auf günstige Lernsituationen ankommt, z.B. für Autofahren zuerst Motorboot, 1. weil es einen einfachen Motor hat und 2. weil man zum Probieren sehr viel Platz und Musse hat. Ähnlich: » Veraltete« wissenschaftliche Bücher eignen sich häufig sehr gut zur Einführung, weil mehr auf die Klippen und Schwierigkeiten hingewiesen wird. Die späteren Darstellungen bemühen sich um Eleganz, Übersicht und Knappheit, und vergessen oft, die Problematik zu erwähnen. Kinder: 1. Müdigkeit scheint mir eine der häufigsten Ursachen dafür, dass unsere Kinder Schwierigkeiten bereiten. Wahrscheinlich sind auch sehr viele Erwachsene übermüdet, zum Teil, ohne es ändern zu können, zum Teil ohne es zu merken oder ohne es zuzugeben. Wahrscheinlich beruhen viele Schwierigkeiten der Erwachsenen auf Übermüdung.

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2. Marianne (2 1/i jährig) gab ein schönes Beispiel für Beseitigung von Angst durch interessiertes Verhalten: Sie hatte eine leichte Entzündung zwischen den Beinen. Man wollte mit Watte reinigen, aber sie weinte schon zuvor und verwehrte den Zugang: es tue weh. Ich forderte sie auf, darauf zu achten, ob die Watte zu heiss oder zu kalt sei. Sie liess nun alles geschehen und kommentierte die Temperatur. Also nicht Ablenkung von der Schmerzstelle, sondern Hinlenkung. 3. Ursula (4 1/z jährig) wollte einen Nagel ausziehen, nahm jedoch die Zange ganz ungeschickt in die Hatid und wusste nicht wie, obwohl sie es früher schon mit Erfolg getan. Ich legte ihr nahe, die Zange wegzulegen und es mit der Hand allein zu versuchen; nach diesem (erfolglosen) Versuch griff sie wieder zur Zange und zog den Nagel heraus. 4. Wir haben beobachtet, dass Ursula Birnen und Bananen nach ganz bestimmten, sonst nicht gebräuchlichen Regeln isst. Sie sind bis ins Detail von der Mutter »geerbt«.

Chemie: Grosse Routinegefahr. Probleme wollen in absehbarer Zeit praktisch gelöst sein. Ich arbeite verkrampft im Gebrumm von Motoren und atme nicht frei (denn die Luft ist schlecht). Trotzdem habe ich nicht die innere Ablehnung gegen die Arbeit, wie in Wädenswil. Beziehung zum Körper, Gesundheit: Für Sport bleibt mir zu wenig Zeit und Energie, obschon es wohl nötig wäre. Dafür ziemlich viel Stubengymnastik. Ich glaube, dass die Beziehung zum Körper dadurch gefördert wird, aber für gute Gesundheit scheint es mir zu wenig. Ich werde durch die Arbeit sehr müde und neige dazu, die konstitutionelle Vitalität als ziemlich wesentlich anzusehen - pardon -. 1

1 »Pardon«, weil der Berichterstatter mit Vitalität und Konstitution argumentiere, was den Auffassungen Jacobys zuwiderläuft.

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Bericht 7 (Juni 1953) »Gesamtresümee Juni 1953«

Begabungsproblem: Ich glaube, dass überdurchschnittliche Leistungen auch ohne Spezialbegabung möglich sind. Andrerseits zeigen sich bei Kindern doch ausgeprägte Neigungen, die sich mit Milieu nur dürftig erklären lassen. Vielleicht ist die Frage, ob es Begabung gibt, gar nicht entscheidend, sondern: Um sich zu entfalten und nachzuentfalten, ist notwendig anzunehmen, es gebe keine Begabung. Erst so wird man ernsthaft »probieren«. Routine: Am Beispiel der Musik ist mir klar geworden, wie schwierig Routine abzulegen ist. Von Musik ausgehend die Frage, ob wir nicht auf den meisten Gebieten ähnlich »verschult« und routiniert seien. - Zum Beispiel werde ich die routinierte Angst vor Blamage nicht los, was sich auffällig auswirkt in Unfähigkeit für Fremdsprachen. Der Weg wäre mir klar: Mit Kindern sprechen. Stolpern: Scheint mir etwas vom Schwierigsten. Zu merken, dass man gewisse Organe, z.B. die Zehen nicht oder unzweckmässig gebraucht. Hat man es gemerkt, so hat man vielleicht jahrelange mühevolle Arbeit vor sich, aber wahrscheinlich ist sie leicht im Vergleich, Stolpern zu lernen. Beziehung zum eigenen Körper: Habe etwas mehr Beziehung als früher und vor allem eine andere Einstellung gewonnen: Nicht mehr verlangen, als der Körper zu leisten vermag, statt heroisches Nichtbeachten der Signale. Von hier aus die Frage von Spannung, Entspannung, Überspannung und Erschlaffung deutlich geworden mit Anwendung auf vielen Gebieten. Von hier aus auch die Frage der »Mache« auf verschiedenen Gebieten.

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Leib-Seele-Beziehung: Ich habe mich schon vor den Kursen sehr dafür interessiert, aber sehr wenig realisieren können; ich glaubte an die Einheit Leib-Seele und merkte nicht, wie sehr ich sie spaltete. Arbeiten an sich selbst: Ich habe einen andern Begriff von »an sich arbeiten«, verglichen mit früher. Früher war »Arbeiten an sich selbst« weitgehend moralisch und bestand hauptsächlich aus Einschränkungen und Verboten. Ich sehe jetzt, dass »Arbeiten an sich selbst« ein stetes Bemühen auf sämtlichen Gebieten ist. Arbeit als Chemiker: Wahrscheinlich bin ich selbständiger und auch vertrauensvoller als früher, jedoch ohne dringende Interessen. Arbeit macht mich unverhältnismässig müde. Ich weiss nun wenigstens, dass ich verkrampft arbeite, schlecht stehe, schlecht atme. Aber dieses Wissen hat noch wenig Konsequenzen gehabt. Arbeiten, Lernen, Pädagogik: Das Vertrauensproblem ist mir ziemlich klar. Manchmal arrangiere ich mir bewusst vertrauenschaffende Erlebnisse. Ich habe mehr Vertrauen als früher, mich in ein neues Gebiet einzuarbeiten, und mehr Vertrauen, bei irgendwelchen Schwierigkeiten im Leben selbst eine Lösung zu finden. Neue Auffassung von »Lernen« und »sich etwas erarbeiten«: Es ist mir noch gegenwärtig, wie ich als Kind mehr »gefühlsmässig« lernte. Auch später, noch auf der Universität hatte ich zeitweise das Bedürfnis, mich zunächst nur ungenau »einzufühlen« (als 1. Stufe). Es wurde mir jedoch ausgetrieben. Ich glaube jetzt wieder (und sehe es bei den Kindern), dass Lernen ein allmählicher Dauervorgang ist, ein langsames Deutlicherwerden, das sich nicht erzwingen lässt. Dasselbe gilt für das Ablegen von altem und Aneignen von neuem Denken.

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Musik: Nach Urteil meiner Frau musizierte ich früher viel unbefangener, freier und spontaner. Ich selbst bin der Meinung, dass in letzter Zeit nun doch etwas in Fluss gekommen ist. Jedes Vierteljahr habe ich das Gefühl, eigentlich erst jetzt den Zugang zur Musik gefunden zu haben, aber es klappert noch häufig. Bewusster als früher: Das was durchschimmern möchte, das was »hinter den Noten« steht. Dieses auch auf andern Gebieten der Kunst. Verschiedenes: 1. Als Konsequenz sehe ich einerseits die Notwendigkeit, die Schwächen der Menschen zu entschuldigen, andrerseits sehe ich Verantwortlichkeit des Menschen an vielen Orten, wo ich sie früher nicht vermutete. 2. Ich bin mir bewusst, dass ich immer in Gefahr bin, »Kunststücke« anzustreben und ins Absonderliche abzugleiten 3. Die Kurse waren für mich eine grosse Anregung in vieler Hinsicht, wie Gymnastik, Pädagogik, Zeichnen etc., obwohl ich weiss, dass dies nicht der eigentliche Zweck war.

Bericht 8 (Dezember 1953) Im Sommer 1953 spielte ich Herrn Jacoby auf dem Klavier vor. Bemerkung über Schlaffheit. Seither zunehmendes Empfinden, dass ich »Gelassensein« mit »Schlaffsein« weitgehend identifizierte. Ich wundere mich, dass in allen Kursen, die ich mitmachte, dieses Missverständnis bestehen blieb. Ich habe mich bisher in zahlreichen Situationen absichtlich schlaff gemacht, in der guten Absicht, gelassen zu bleiben, z.B. gegenüber kalter Luft, kaltem Wasser, am Klavier, beim Skifahren, beim »Säuglingserwachen«, gegenüber Mitmenschen, gegenüber unerwarteten Ereignissen, ev. auch beim Schauen. All dies wird nun straffer.

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Beim Sitzen überblicke ich folgende Entwicklung: Im Einführungskurs folgsames schülerhaftes Geradesitzen = steif. Später die Erkenntnis, dass dies Mache ist, deshalb Aufgeben der Überspannung, Abfallen in alte Schlaffheit. Jetzt Versuch, straff zu sitzen, ohne steif zu werden. Beim Skifahren wurde mir besonders deutlich die Schlaffheit der linken Körperseite, wodurch die Standfestigkeit stark herabgesetzt wird. Ferner wurde mir die Schlaffheit der Füsse und der Zehen deutlicher. Ich habe gemerkt, dass ich viel sicherer und freier tanzen kann, wenn ich richtig stehe, d.h. beide Füsse und ferner möglichst den ganzen Fuss benütze.

Bericht 9 (August 1954) »Allgemeines Resümee«

Schlaffheit und Straffung: Vermehrtes Interesse als bisher. Scheint mir immer zentraler zu sein, für mich und für andere Leute. Steht fast immer zur Dikussion, z.B. auch bei Säuglingserwachen, bei kaltem Wasser, im Umgang mit Menschen, beim Gehen und Stehen. Auch beim Schauen habe ich bisher wahrscheinlich immer »antenniges Verhalten« mit Schlaffsein verwechselt. Mehr als bisher Beobachtungen über den seltsamen Zustand der eigenen Muskulatur: steif und schlaff zugleich. Ganz geringe Bewegungen wollen oft gar nicht fliessen, sondern setzen ruckartig ein (ev. bereits bei winzigen Kontraktionen spürbar) Das Aufstehen als Gleichgewichtsproblem erleben, falls es ohne Routine geschieht. Ebenso das Stehen.

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Juni 1954: Zunehmendes Interesse, inwiefern ich Mitmenschen schockiere, langweile oder zu interessieren vermag etc. Ferner Interesse für Schwankungen des »Bei-sich-Seins« bei den Mitmenschen, z.B. im Lauf eines Gesprächs, im Laufeines Tages etc. (als Parallele zu den Schwankungen bei Lipattis Chopin-Nocturne)

Probleme sind weiterhin: Freude an der Arbeit (Versimpeln), Müdigkeit, Verdauung, Venen, Atmung. Vielleicht ist ja alles nur ein Problem. - Atmung: Ich weiss, dass ich sehr gehemmt atme. Teilweise weil die Luft nicht gut ist, teilweise aus Steifheit. Auch hier Schlaffheit/Straffung, Lockerung. Schlaff-/Straff-Problematik auch beim eigenen Schreiben und als graphologisches Interesse bei andern Menschen. Hier ist die Gelöstheit oder das Abrupte der Muskelbewegung besonders gut festgehalten. Die Frage ist nur, ob man wirklich vom Verhalten beim Schreiben auf das Verhalten bei irgendeiner Tätigkeit schliessen darf, wie dies die Graphologie meist tut, ohne zu prüfen, mit welchem Recht.

Bericht 10 (Oktober 1955) Schlaffheit 1. Es fiel mir auf, dass ich von »Schlaffheit« eines Menschen

rede, dass dies aber unzulässig ist. Zulässig ist: schlaff gegenüber einer bestimmten Aufgabe. 2. »Säuglingserwachen« hat sich bei mir zu einer Art Gymnastik entwickelt, welche erlaubt, am Morgen besser aufzustehen. Auch häufig während des Tages, jedoch möglichst geheim, weil unanständig oder komisch. 122

3. Kaltes Wasser: Auch hier habe ich die Verwechslung von »schlapp« und »gelassen« aufgegeben. Seither besserer Kontakt mit kaltem Wasser. 4. Atmung: Allzuselten stolpere ich bzw. ertappe ich mich, dass meine Atmung sehr flach ist und parallel dazu der Schultergürtel etc. schlaff. 5. Aussprache: Weglassen der Endkonsonanten als Symptom vorzeitiger Erschlaffung. 6. Umgang mit Menschen: Wahrscheinlich bin ich früher streng oder lässig gewesen; jetzt versuche ich, meine Strenge den Erfordernissen besser anzupassen. 7. Parallele zur Musik: Es ist relativ leicht, eine Spannung beziehungsvoll zu erzeugen, aber viel schwerer, sie beziehungsvoll wieder aufzugeben, abklingen zu lassen; sowohl die Muskeln wie auch die Musik fallen dabei leicht in Erschlaffung. Musik

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Leider zu wenig Versuche mit einwandfreier und sauberer (eigener) Problemstellung gemacht. Am meisten versuchte ich, bei Literaturstücken mich von alten Gewohnheiten zu lösen. Vor allem Auseinandersetzung mit Taktstrich, Bass, Fluss. Die Lautstärke der Töne kommt beim Improvisieren viel besser heraus; aber die Improvisationen sind meistens sehr verfahren. Einige Resultate: 1. Ich ertappe mich häufiger als früher beim »Abreisen« 2 . 2. Wahrscheinlich hat sich der Bass bereits verselbständigt. Ich versuche deshalb, den Bass als wichtigen Träger des Spannungsablaufs zu erleben. Versuch, den bezifferten Bass nicht mehr als Diktat für Griffe oder Akkorde anzusehen, sondern als Abkürzungen für Klangvorstellungen und Empfindungen. 1 In der Zwischenzeit hatte ich bei Jacoby einen Musikkurs besucht. 2 »Abreisen« - Jacobys Ausdruck für »nicht bei der Sache bleiben«.

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3. Häufiger als früher ist mein Gesamtzustand beim Musizieren weniger schlaff; hier ein direkter Zusammenhang mit »Säuglingserwachen«. Besonders deutlich ist die Schlaffheit der linken Hand, wobei ich noch nicht weiss, wieweit dies einfach durch die Vernachlässigung der tiefen Töne bedingt ist. 4. Ich habe mit Akzentuierung begonnen. Die Schwierigkeit scheint mir, dass ich dadurch wieder ins laute Spielen verfalle und vom Lauschen wegkomme. 5. Die besondere Schwierigkeit, eine Spannung beziehungsvoll abklingen zu lassen, habe ich schon erwähnt.

Sitzen Im Vergleich mit früher viel weniger Ehrgeiz, es dem Inder gleichzutun. Mehr Tendenz, natürlich zu sein, bzw. zu erforschen, was natürlich wäre.

Vertrauen -

Ich benützte absichtlich Gelegenheiten, mich zu exponieren (Referate). Versuche, mitmenschliche Beziehungen als Vertrauensproblem zu verstehen.

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Bericht 11 (Ende Januar 1957)

Februar 1956: Wie jedes Jahr gibt das Skifahren die Möglichkeit, vieles auszuprobieren. Ich hatte das Gefühl, dass ich bisher das Wesentliche bereits in Erfahrung gebracht hätte: die Entdeckung, dass das linke Bein (die linke Körperseite) wenig belastet und schlaff ist, und dass ich beim Aufwärtsgehen viel re1sse. Dieses Jahr hat sich die Schlaffheit der linken Körperseite neu bestätigt (ich stehe viel weniger sicher auf dem linken Bein und ruhe weniger darauf). Neu ist folgende Erfahrung: Ich hatte früher das »Reissen« beim Aufstieg beobachtet, es als unzulänglich empfunden und versucht, es durch Ausweichen zu vermeiden. Dieses Ausweichen war weitgehend und meistens ein Schlappmachen. Diesmal habe ich versucht, eine Art »Gegenzug« zu geben; dadurch wird das Gehen viel straffer. Früher hätte ich diese neue Art Gehen als starr und krampfhaft im voraus verworfen. Aber es zeigte sich nun, dass ich weniger müde wurde. Soviel ich beurteilen kann, nähere ich mich damit der Geh-Art des »Normalen«, allerdings auf erarbeitetem Weg. Manchmal entstand ein Kraftgefühl. Kleine Schritte zu machen, war wesentlich. Gefühl, einen Wagen zu ziehen etc. Wahrscheinlich bisher Oberkörper bewegungslos, jetzt mit jedem Schritt vorneigend. Hoffnung auf Verallgemeinerung: Gefühl des Ziehens und des Widerstandes (= Kontakt) auch ohne Ski und auch im übertragenen Sinn. September 1956: - Atmung immer mehr als Straffungsproblem - Kreuz- und Halsschlaffheit: Kreuzstraffung hat Konsequenzen für die Zehen und umgekehrt. - Halsstraffung führt zu Kinnsenkung, somit zu einer veränderten Kopfhaltung.

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Bericht 12 (Dezember 1958) »Resümee für die Jahre 1957 und 1958« Musik

Ich habe mich längere Zeit bemüht, den ersten Taktteil unbetont zu lassen. Später kam die Einsicht: Ich sollte mir doch keine Vorschriften machen. Die Unbetontheit ergab sich noch nicht als Resultat einer Empfindung. Demgegenüber versuchte ich später, mehrere Takte als Auftakt zu empfinden, so dass unangebrachte Betonung des 1. Taktteils von selbst verschwindet. Dann ergibt sich, dass auch 1. Taktteile betont sein können. Analogie zwischen Taktstrich und Organisation einer Fabrik (z.B. Einhalten der Arbeitszeit etc.): beides ist überflüssig, falls genug Leben, Aktivität und Interesse vorhanden sind. Beides garantiert aber eine gewisse Ordnung (Scheinordnung), falls das Leben fehlt. Krenek hat eine »Lamentatio« ohne Taktstriche geschrieben, »um die Betonung der guten Taktteile zu vermeiden«. Beim Hören von gut interpretierter Musik empfand ich deutlicher: das Spannen und sich Dehnen (das zu einem Bedürfnis der Körperdehnung werden kann). Und negativ: Das Ausbleiben der Spannung. Ferner die Gefahr, nach Erreichen eines Höhepunktes zu Erschlaffen statt in Spannung zu bleiben und abklingen zu lassen. Ferner ein deutlicheres Gefühl für die Analogie zwischen der Bahn eines geworfenen Steins und einem musikalischen Ablauf (am einmal Begonnenen kann nichts mehr geändert werden, Zielstrebigkeit, Auftreffen).

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Ferner das Gefühl, dass die Partien in der Dominanttonart häufig einer erhöhten »Grundspannung« entsprechen (zielgerichtet), während die Subdominante häufig ein unbestimmtes Schweifen (Suchen) ausdrückt. Frage nach der Eigenart (dem Stile eines Komponisten) liesse sich wohl teilweise behandeln mit Begriffen wie: Wie erfolgt die Einführung in die Tonika? Stufenweises oder abruptes Sich-Entfernen aus der Tonika? Schnelles Lösen einer Spannung? Weitgehendes Lösen der Spannung? Überraschungen? Kontraste oder Vorbereitung des Neuen? etc.

Vorschweben: Deutlicher ist mir der Unterschied zwischen der Musik, die dem Komponisten vorschwebte, der Notierung in Noten und der Realisierung auf dem Instrument. Damit auch eine bessere Vorstellung, was eine musikalische Skizze sein könnte: Andeutung, wie etwas läuft, ob etwas Walzer oder Trauermarsch ist. Am Klavier habe ich die Aufforderung, straffer zu sein, deutlicher erlebt: Vorstellung, wie es klingen sollte, Unmöglichkeit, so zu spielen, weil zu schlaff. Entrückung durch Musik passierte mir selten. Dass wirklich gutes Musizieren selten ist, kann man eigentlich erst wissen, wenn man solches einmal erlebt hat. Terminologie Beobachtung, dass sich bei manchen Leuten eine Jacoby-ähnliche Terminologie einstellt, wenn der Standort verwandt ist (z.B. »Spannung«, »Art des Sehens«).

3. Alltag Mein Hauptproblem im Alltag ist wohl immer noch: Müdigkeit, Venen, ev. Rücken. Grosse Differenz in der körperlichen Leistungsfähigkeit in Ferien und zu Hause. 127

Biographie

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Heinrich Jacoby wurde am 3. April 1889 in Frankfurt a.M. geboren; aufgewachsen ist er im damals deutschen Strassburg. Über seine Eltern weiss man wenig 2 , seine Schwester wurde als Jüdin Opfer der Nationalsozialisten. Man hat Jacoby anscheinend einer Amme übergeben, die ihn schlecht ernährte, Rachitis war die Folge (»Ich wurde bis zu meinem vierten Jahr im Wagen gefahren«). Musikunterricht (Klavier) erhielt er erst mit zehn Jahren. Seine Versuche, nach Gehör, d.h. ohne Noten zu spielen, bewirkten Kritik von Seiten der Mutter (»Übe richtig, die Stunden sind teuer«). Jacoby besuchte die Oberrealschule und absolvierte dann unter elterlichem Druck eme kaufmännische Lehre in einem Werk der Eisenindustrie. 1907 begann Jacoby am Strassburger Konservatorium Musik zu studieren. Er wurde Schüler von Hans Pfitzner in Komposition und Dirigieren, avancierte bald zum Kapellmeister und war ausserdem Regievolontär am Stadttheater (1909-1913). Pfitzner wurde ihm zu einem Masstab für musikalische Hingabe und Erfülltheit. Hingegen wunderte er sich, wie wenig erfolgreich Pfitzner zu unterrichten wusste. Jacoby geriet damit in pädagogisches Fragen, sicher auch beeinflusst davon, dass er zuvor Krankheiten und körperliche Behinderungen aus eigener Kraft bewältigt hatte. Er gelangte zur Ansicht, Leistungsschwierigkeiten von Musikern dürften nicht voreilig als Begabungsmangel verstanden werden, da sie viel eher auf ungünstigen Verhaltensqualitäten beruhten, und diese seien

1 Dieseßiographie findet sich bereits in des Autors Buch» Unmusikalisch ... ?«, erschienen im Verlag HBS Nepomuk, Aarau. 2 Jacobys Nachlass harrt noch immer der Auswerrnng.

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massgeblich beeinflusst durch Ängste, Panik etc., aber auch durch die Art des Beibringens und nicht zuletzt durch Erfahrungen in der Kinderstube. Aufgrund solcher Interessen und damit verbundener pädagogischer Erfolge erhielt Jacoby 1913 einen Ruf als Lehrer für Harmonie- und Formenlehre an die Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze in Dresden-Hellerau, dem damals wohl modernsten Institut seiner Art. Mit Beginn des 1. Weltkriegs (1914-1918) wurde das Institut geschlossen, womit Jacoby eine Konfrontation mit Jaques-Dalcroze erspart blieb: er schätzte ihn als Mensch und Musiker, kritisierte jedoch seine Methode. Weder Rhythmik noch Gehörsübungen und Improvisation entsprachen Jacobys Erwartungen; er empfand sie weitgehend als von aussen herangetragene Ausbildung zu virtuosen Gewandtheiten. Seine eigenen Vorstellungen und seinen Werdegang hat Jacoby im Jahre 1935 zusammengefasst. Danach ging es ihm schon etwa 1915 um eine Auseinandersetzung mit Schwierigkeiten beim Sich-Äussern. Entsprechende Leistungsdefizite interpretierte er als Folgen eines auf irgend eine Art gestörten Gesamtverhaltens . Wenn es gelingt, solche Störungen bewusst werden zu lassen und sich mit ihnen produktiv auseinanderzusetzen, besteht eine Chance für positive Veränderungen. Eine Rolle spielt dabei die Art der Aufgabenstellung: Aufgaben sollten sich an den wirklichen Grundlagen orientieren und funktionelle Beziehungen berücksichtigen. Mit seinem Konzept erzielte Jacoby Erfolge nicht nur bei Menschen, die man wegen »Unbegabtheit« von der Musik ausgeschlossen hatte, sondern auch bei der Förderung von sogenannt Begabten. 1915 wurde Jacoby die Leitung der Abteilung Musik der »Neuen Schule« Hellerau übertragen. 1916/17 war er zum Kriegsdienst eing~zogen; dann siedelte er nach München über, und 1920-1922 findet man ihn als Leiter der musikalischen Erziehung an Paul Geheebs Odenwaldschule. Hier überprüfte er seine lediglich an Erwachsenen gewonnenen Resultate in 129

der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. 1923 war Jacoby nochmals in Dresden-Hellerau, ab 1924 in Berlin.

In diesen Jahren festigten sich Jacobys Ansichten zunehmend. Schon ab 1915 hatte er begonnen, seine musikalischen Erfahrungen auf andere Ausdrucksgebiete (zunächst Sprechen und Tanz) und später noch weiter (Fremdsprachen, Zeichnen, Mathematik) auszudehnen. Er spricht von einer gemeinsamen Grundlage aller menschlichen Wahrnehmungs- und Äusserungsfähigkeit, und sogar von der Existenz allgemein gültiger, objektiv und exakt kontrollierbarer gesetzmässiger Abläufe in jedem Äusserungsvorgang. Solchen Gesetzen gehorchen wir unbewusst, aber wir können sie auch unbewusst verletzen, vor allem verleitet durch Routine (Verhalten auf Vorrat), durch den Wunsch nach Wirkung, durch zweifelhafte ästhetische Vorbilder. - Die entscheidende Bedeutung des Verhaltens hat Jacoby bis etwa 1924 an über 1000 experimentellen Fällen verifiziert. In Berlin begann Jacoby mit der dokumentarischen Sicherung und wissenschaftlichen Auswertung seiner Erfahrungen und mit dem Aufbau eines Ton-Laboratoriums. Daneben entfaltete er eine ausgedehnte Vortragstätigkeit, trat auf in Improvisationskonzerten und erteilte zunehmend Kurse als Einführung in seine Denk- und Arbeitsweise ( »Arbeitsgemeinschaften«). Auf dem II. Kongress für Ästhetik und Kunstwissenschaft (Berlin 1924) gab er eine die Musik betreffende Gesamtdarstellung seiner 12-jährigen Arbeit (»Voraussetzungen und Grundlagen einer lebendigen Musikkultur«). Entscheidend für Jacobys weiteren Weg war die Begegnung mit der Gymnastikpädagogin Eisa Gindler (1885-1961), die auf dem Körpergebiet ähnliche Wege beschritten hatte. Mit dem Ziel eines ganzheitlichen Vorgehens ergab sich ab 1926 eine enge Zusammenarbeit (gemeinsame Kurse und Ferienkurse, an denen ausser Musikern Hunderte von Lehrern aller 130

Disziplinen, aller Stufen vom Kindergarten bis zur Universität, Ärzte, Heilpädagogen, Fürsorger, Ingenieure, Architekten, bildende Künstler und Schauspieler aus Europa und Übersee teilnahmen). Diese Tätigkeit wurde durch den Nationalsozialismus jäh unterbrochen. Jacoby ging in die Schweiz und lebte im Winter 1933/34 in Genf, wo er sich am Institut des Sciences de l'Education mit neuen Testverfahren beschäftigte. Im Winter 1934/35 war er beim Habimah-Theater in Tel Aviv, um Probleme des improvisatorischen Verhaltens auf der Bühne zu klären. Von 1935 an lebte er in Zürich. Etwa in diese Zeit fällt das Angebot eines Lehrauftrages von der Universität Exeter. J acoby lehnte ab (»wahrscheinlich der Fehler meines Lebens, ich könnte gut Englisch und wäre mit der ganzen Welt im Kontakt«). Der Aufenthalt in der Schweiz war nicht leicht. Es bildete sich eine »Schweizerische Vereinigung zur Förderung der Begabungsforschung«, welche ihn anstellte, um dadurch seine Stellung gegenüber der Fremdenpolizei zu stärken (Präsident Prof. Willy Tappolet, Genf). Erlaubt waren psychologische und pädagogische Kurse, für alles andere wären Spezialbewilligungen der Polizei nötig gewesen. Anfangs wurden nur Aufenthalte von 9 Monaten genehmigt, Jacoby verbrachte den Rest des Jahres in Italien. Ab 1941 musste die Aufenthaltsbewilligung halbjährlich erneuert werden, damit verbunden war die Forderung, »die Ausreise vorzubereiten«. Diese Praxis wurde erst 1947 (!) aufgehoben. 1955 wurde Jacoby Schweizerbürger. Bis zu seinem Tod hat Jacoby vor allem Kurse gegeben. Sein Gebiet hatte sich auch nach 1930 stetig verbreitert, er fühlte sich als Allgeme1npädagoge. Seine Interessen umfassten die Voraussetzungen qualifizierter Leistungen, Erziehung, Schule, Gesundheit etc. Und immer wichtiger wurden ihm gesell-

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schaftliche Fragen und Fragen des menschlichen Zusammenlebens, ein Anliegen, das auch von seinem sozialen bzw. sozialistischen Denken genährt wurde. Heinrich Jacoby starb am 25. November 1964. Eine ausführliche Gesamtdarstellung seiner Pädagogik hat er nicht geschrieben. Sein gesamter Nachlass ging testamentarisch nach Berlin und wird von der Heinrich-Jacoby/Elsa-Gindler-Stiftung verwaltet.1 Es handelt sich um eine grosse Zahl von Kursdokumenten in Form von Tonbändern, ferner um Dokumente, die die Kursteilnehmer betreffen: Eingangs-Fragebogen, Eingangsarbeiten in Zeichnen, Sprechen und Musik, sowie um Zwischenberichte und Zeichnungen der Teilnehmer.

Was für ein Mensch war Heinrich Jacoby? Er war klein, beweglich, lebte vegetarisch und wog nach eigenen Angaben nur etwa 50 kg. Er sprach leise, wirkte zurückhaltend bis verhalten, jedoch bestimmt und getragen von einer unaufdringlichen Selbstsicherheit. Die Berichte über ihn gehen weit auseinander: manche fanden sein Aussehen seltsam, Feldenkrais bezeichnete ihn als bucklig, aber andere empfanden ihn als elegant, gut aussehend und mit harmonischen Bewegungen. Die Kursteilnehmer fühlten sich von Jacoby gut und persönlich betreut, fanden menschlichen Kontakt und häufig eine warmherzige Beziehung, die sich zu dankbarer Freundschaft entwickeln konnte. Viele sagten aus, durch Jacoby sei ihr Leben verändert worden; manche zog er aus einer psychischen Krise, andern half er bei gesundheitlichen Problemen - all dies

1 Eine Auskuntstelle in der Schweiz: Jacoby/Gindler-Arbeitskreis, strasse 34, 8044 Zürich, Tel. 01 262 09 30.

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ohne Honorar. Daneben gab es auch schwierige Beziehungen, die nach einiger Zeit abgebrochen wurden. Einfach war Jacoby kaum; er hat selbst auf seinen jugendlichen Eigensinn hingewiesen; eine in relativ jungen Jahren geschlossene Ehe scheiterte früh. In Deutschland gelangte Jacoby in Kontakt mit profilierten Menschen, in Berlin z.B. mit Wilhelm Ostwald (Begründer der physikalischen Chemie und Nobelpreisträger), in Dresden mit Leuten des Bauhauses wie Hannes Meyer, Kandinsky, Laszlo Moholy-Nagy, Johannes ltten, Franz Schuster'. Jacoby kannte Alfred Adler, den Begründer der Individualpsychologie, und war mit dem Psychoanalytiker Heinrich Meng befreundet. Hingegen ist - mit Ausnahme etwa von Paul Geheeb, Franz Hilker, Paul Österreich, Elisabeth Rotten - nichts bekannt über Beziehungen zu Pädagogen wie z.B. Spranger, Nah! oder Hahn, deren Lebenszeit sich mit der von Jacoby weitgehend deckte.- In Genf traf sich Jacoby mit Piaget, in Zürich erhielt er Besuch von Feldenkrais (worüber dieser eine eingehende Darstellung gab [5]). Bücher mit persönlicher Widmung erhielt Jacoby z.B. von Karlfried Graf v. Dürckheim und vom Pianisten Edwin Fischer.

Jacobys Selbstsicherheit beruhte wohl auf dem Bewusstsein, ein paar wesentliche Entdeckungen gemacht zu haben. Man konnte spüren, dass er eine Art Botschaft für eine bessere Welt in sich trug, aber er war frei von missionarischem Gehabe. Für mich selbst war das Eindrücklichste Jacobys Präsenz im persönlichen Gespräch. Sie war so eklatant ansteckend, dass man verändert, nämlich gesammelter von ihm wegging.

1 Einflüsse aus dem Bauhaus auf Jacoby sind wahrscheinlich; z.B. waren dort Sachlichkeit, Funktionalität und Technik beliebte Themen.

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Meine erste Begegnung fand in seinem Kurs- und Arbeitsraum statt. Er war modern und ziemlich sachlich eingerichtet, aber keineswegs kalt. Bilder gab es nicht, der einzige Wandschmuck war - zuerst seltsam - die Totenmaske Pestalozzis. Über ihn sprach Jacoby in den Kursen wenig. Weshalb er Pestalozzi verehrte, war wohl dessen lebenslängliche Treue zum einmal gefassten sozialen Engagement, das getragen war von einem tiefen Einblick in die menschliche Natur und einer hohen Auffassung von menschlicher Würde.

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Nachwort Was wollte Heinrich Jacoby? Im Anfang ging es ihm um einen unverstellten Zugang zum Musizieren. Als wesentlich erkannte er den Einfluss des Zustands, des Verhaltens und der Art, wie Aufgaben gestellt werden. Da es sich um Faktoren handelt, die nicht musikspezifisch sind, übertrug er sie auf aussermusikalische Gebiete; so wurde Jacoby zum Allgemeinpädagogen. Pädagogik war für ihn vor allem Entfaltungshilfe. Nach seinen Vorstellungen wird man Pädagoge nicht durch Erlernen von Erziehungs- und Unterrichtsmethoden, sondern dadurch, dass man ein Stück Entfaltung (bzw. Nachentfaltung) an sich selbst bewusst erlebt. Das Ziel ist, aufgrund eigener Erfahrung wieder zum Autodidakten und so zum Experten zu werden. Wie soll das geschehen? Durch Auseinandersetzung mit dem eigenen Zustand bzw. Verhalten, wodurch ein »Stolpern« über eingefahrene Routinen begünstigt wird; daran soll sich autodidaktisches Erproben von Alternativen anschliessen. Es gibt Wege, die sich zum Einstieg besonders eignen; für Jacoby war es die Auseinandersetzung mit dem Körperverhalten. Man beachte die Art und Weise, wie er versuchte, seine Kursbesucher zu erreichen, sie nachdenklich zu machen, vor allem aber sie zu interessieren und zu aktivieren.

In einer Auseinandersetzung mit der eigenen Verfassung und dem Verhalten erblickte Jacoby zunehmend auch den Schlüssel für eine günstige Beeinflussung zwischenmenschlicher Beziehungen, und letztere wurden ihm im Hinblick auf ein friedliches Zusammenleben immer wichtiger. Daher weitete sich seine Perspektive nochmals und wurde zu einem gesamtmenschlichen, globalen Anliegen.

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Gibt es einen Bezug zu den aktuellen (z.B. politischen, ökonomischen, ökologischen) Problemen, die uns bedrängen? Der von Jacoby empfohlene Weg hat zum Ziel, mit den Realitäten, die uns umgeben (Menschen, Dinge, Aufgaben), in einen viel engeren, unmittelbareren Kontakt zu gelangen. Aus einer derartigen Nähe und Betroffenheit - zusammen mit Jacobys Vorschlägen, sich zu mobilisieren - ist kreatives Engagement zu erhoffen. Skeptiker könnten Jacobys Pädagogik als Utopie in Frage stellen. Er hat immerhin einen Teil seiner Einsichten experimentell verifizieren können. Und ausserdem: Jede gute Pädagogik enthält notwendigerweise auch utopische Anteile. Diese Schrift ist als Einführung in Jacobys Pädagogik zu verstehen

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Helldunkel-Versuche des Autors Die Ziele und die Verabredungen bei den Versuchen finden sich auf den Seiten 47/49 und 53/56. In Stichworten sei wiederholt: Das Zeichnen geschah zu Hause, es beruhte auf Freiwilligkeit. Die Verabredung lautete: Nur Helldunkel-Eindrücke widergeben, keine Bilder machen wollen, die eigene Verfassung berücksichtigen. Wesentlich ist nicht das erreichte Niveau, sondern die Entwicklung. - Die Versuche 1 bis 3 entstammen einer Serie im September 1951, d.h. anschliessend an den Einführungskurs. Die Beispiele 4 bis 6 entstanden zu Anfang des Fortsetzungskurses, die Beispiele 7 bis 9 gegen dessen Ende (Juni 1952). Ich fühlte mich in keiner Weise zeichnerisch begabt und war über die Resultate selbst erstaunt. - Die Wiedergaben sind stark verkleinert.

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Literatur Publikationen von und über Heinrich Jacoby Ballod, Georg: Pädagogisches Handeln und individuelle Entfaltung/ Heinrich Jacobys Bildungs- und Erziehungsverständnis im individualpädagogischen Kontext. Berg Verlag, Marnheim 1997 2. Biedermann, Walter: Heinrich Jacoby, Schweizer musikpädagog. Blätter 79 (1991) S. 214-218, ferner in Pädagogik und Schulalltag, 48 (1993) S. 35-40 (Verlag Luchterhand) 3. Biedermann, Walter: Unmusikalisch ... ? Die Musikpädagogik von Heinrich Jacoby, Verlag HBS Nepomuk, Aarau 1993 4. Bürgin, Matthias: Heinrich Jacoby, eine ca. 1-stündige Sendung in der »Aula« des Radio der Deutschen Schweiz (DRS 2) vom 24. April 1990 (als Kassette erhältlich) 5. Feldenkrais, Moshe: Die Entdeckung des Selbstverständlichen, Insel Verlag, Frankfurt a.M. 1985, S. 33-37 6. Jacoby, Heinrich: Jenseits von »Begabt« und »Unbegabt«, Christians Verlag, Hamburg 1980 7. Jacoby, Heinrich, Jenseits von »Musikalisch« und »Unmusikalisch«, Christians Verlag, Hamburg 1984 8. Jacoby, Heinrich: Musik, Gespräche, Versuche, Christians Verlag, Hamburg 1986 9. Jacoby, Heinrich: Erziehen, Unterrichten, Erarbeiten, Christians Verlag, Hamburg, 1989 10. Le Brün-Hölscher, Heike: Musikerziehung bei Heinrich Jacoby, Dissertation 1987, Lit-Verlag, Münster 11. Rauch, Maya: Heinrich Jacoby - Jenseits von »Begabt« und »Unbegabt«, Gestalttherapie 3 (1989) S. 83-84 12. Redaktionsbericht (wahrscheinlich Elisabeth Rotten): New Education Fellowship (deutschsprachiger Bericht 1.

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über die pädagogische Tagung in Jugenheim, 1950), Die Pädagogische Provinz 4 (1950) S. 513-523 13. Weber, Rudolf: Gespräch mit ehemaligen Mitarbeitern und Kursteilnehmern Heinrich Jacobys, Zeitschrift für Musikpädagogik, 8 (1983) S. 3-8 und S. 25-33

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Heinrich Jacoby (1889 - 1964), ursprünglich Musikpädagoge, weitete sich schon früh zum Allgemeinpädagogen. Er lebte bis 1933 in Deutschland, von da an in der Schweiz. Jacoby gehört zu den interessantesten Pädagogen des zwanzigsten Jahrhunderts. Wesentliches Anliegen seiner Pädagogik ist eine bewusste Nachentfaltung der Erzieher. Sie erst gibt die Gewähr für erzieherische Kompetenz. Jacoby zeigt praktikable Wege auf.

«Ich erziehe s·e nicht zu irgend etwas, und ich unterrichte Sie nicht in irgend etwas. Ich möchte, dass Sie bewusst erleben und erkennen, was Sie in sich tragen. Wenn Sie sich von mir dazu bewegen lassen, sich für die Qualität Ihres Verhaltens und für Verhaltensprobleme überhaupt in einer bestimmten Weise zu interessieren, ergibt sich daraus eine Fülle von Konsequenzen, die man nicht lehren kann und auch nicht zu lehren braucht.» Heinrich Jacoby