204 57 22MB
German Pages 287 [292] Year 1972
Mahncke · Nukleare Mitwirkung
w DE
G
Beiträge zur auswärtigen und internationalen Politik Herausgegeben von
Richard Löwenthal und Gilbert Ziebura
Band 6
Walter de Gruyter • Berlin · New York 1972
Dieter Mahncke
Nukleare Mitwirkung Die Bundesrepublik Deutschland in der atlantischen Allianz 1954—1970
"Walter de Gruyter · Berlin · New York 1972
Aus dem Englischen übertragen von Karl Römer
ISBN 3 1 1 0 0 1 8 2 0 9
©
Copyright 1972 by Walter vormals G. J . Göschen'sehe Verlagshandlung Georg Reimer 'Karl J . Trübner · Veit Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanisdien auch auszugsweise, Satz und Druck: Thormann
de Gruyter & Co., · J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung & Comp. · Printed in Germany Wiedergabe, der Herstellung von Mikrofilmen vorbehalten. & Goetsch, Berlin 44
Meiner Mutter
gewidmet
Vorwort Fast zehn Jahre lang bildete die Frage der nuklearen Mitwirkung im Rahmen der atlantischen Allianz einen der Kernpunkte westdeutscher Außenpolitik. Die Beziehungen der Bundesrepublik zu ihren wichtigsten Verbündeten — den Vereinigten Staaten, Frankreich und Großbritannien — wie zu ihrem wichtigsten Gegenspieler — der Sowjetunion — wurden zentral und zeitweise auch entscheidend von dieser Frage beeinflußt. Sein spezifisches Gewicht gewann das Problem der nuklearen Mitwirkung vor allem dadurch, daß es um Deutschland ging. Das zeigt sich bei einem Vergleich zu Frankreich, das in eben diesen Jahren — von der Mitte der fünfziger Jahre bis zur Mitte der sechziger Jahre — die entscheidenden Schritte zum Aufbau einer selbständigen nationalen Nuklearstreitmacht außerhalb des Bündnisrahmens tat. Bei der Bundesrepublik dagegen ging es lediglich um eine Form der Mitwirkung — Mitsprache wäre schon zuviel gesagt — im engen und kontrollierten Rahmen der Allianz. Dennoch führten Potential und historische Hypothek der Deutschen, zentrale Lage und ungelöste deutsche Frage, verständlicherweise zu einer Ansammlung von Mißtrauen und Abwehr von allen Seiten. Bezeichnend ist dabei vor allem die Entfaltung verschiedener Kombinationen von Mißverständnissen: Eine führende Schicht in den Vereinigten Staaten glaubte, dem deutschen Verbündeten eine Form der nuklearen Teilhabe im Bündnis anbieten zu müssen, da die Bundesrepublik sonst allein oder — was für wahrscheinlicher gehalten wurde — in Zusammenarbeit mit Frankreich nach Verfügungsgewalt über Nuklearwaffen streben würde. Für die Bundesrepublik hingegen, die die Auswirkungen ihrer Politik auch nicht immer richtig einzuschätzen verstand, war ein wesentliches Motiv für die Zustimmung zu den amerikanischen Plänen, eine als hegemonial und bündnisdestruktiv erachtete Politik Frankreichs zu konterkarieren. Die französische Führung war kategorisch gegen jede Form einer nuklearen Teilhabe für die Deutschen, während Großbritannien, gewiß eher zufällig als bewußt, in seiner Opposition einerseits gegen deutsche nukleare Teilhabe (und somit gegen die diesbezüglichen amerikanischen Pläne), andererseits gegen die anti-amerikanische Bündnispolitik Frankreichs ein Glanzstück diplomatischer Verzögerungstaktik vollbrachte. An
Vili
Vorwort
Komplexität, aber auch an Faszination gewinnt die Geschichte schließlich durch die sowjetische Komponente und damit durch die Wechselwirkungen zwischen westlicher Bündnispolitik und dem Dialog mit dem Osten (besonders in den Rüstungskontrollfragen). Zu dieser gesamten Thematik liegt nun eine erste detaillierte Studie vor. Dieter Mahncke stellt nicht nur die Ereignisse dar, sondern untersucht vor allem die Motive und Ziele der einzelnen Regierungen wie auch der verschiedenen innenpolitischen Gruppierungen. Was hatte die Deutschen bewogen, der nuklearen Frage zuerst mit Zurückhaltung und Skepsis zu begegnen, dann aber den amerikanischen Plänen mit einem allseits Mißtrauen erweckenden Eifer zuzustimmen? Welche unterschiedlichen Faktoren wirkten auf die verschiedenen amerikanischen Entscheidungsträger von Eisenhower bis Johnson ein, die mal zu energischen Vorstößen zur Realisierung der Teilhabepläne und mal zu äußerster Zurückhaltung führten? Und vor allem: Wie bewegte sich die Bundesregierung in dem für sie entscheidenden Kräftedreieck Bonn — Washington — Paris? Die jahrelange Debatte um die nukleare Mitwirkung, die in der zweiten Hälfte des Jahres 1964 mit der Fastrealisierung und unmittelbar darauf dem Scheitern der MLF ihren Höhepunkt erreichte, mündete schließlich in die Gründung der Nuklearen Planungsgruppe (NPG) der NATO. Der Autor verfolgt die Entwicklung dieser NATO-Institution bis in die jüngste Zeit hinein, wobei er darauf hinweist, daß die Bundesrepublik im Rahmen dieser Gruppe ein Maximum ihrer politischen Ambitionen und ihrer Sicherheitsinteressen realisieren konnte. Die Stille um die ehemals heiß debattierten nuklearen Fragen scheint das zu bestätigen. Aber das bedeutet keinesfalls, daß diese Fragen einund für allemal vom Tisch sind. Der Autor weist im abschließenden Kapitel darauf hin, daß sie sich im Falle eines engeren politischen Zusammenschlusses in Westeuropa, bei dem die Verteidigungspolitik nicht ausgeklammert werden könnte, erneut stellen werden. Eine westeuropäische nukleare Zusammenarbeit müßte auf der Zusammenarbeit der beiden bestehenden westeuropäischen Nuklearmächte — Großbritannien und Frankreich — aufbauen, könnte aber die Bundesrepublik als das exponierteste, bevölkerungsreichste und wirtschaftlich stärkste Land der Gemeinschaft nicht ausschließen. Sicher liegt hierin auch der wichtigste Grund für die französische Zurückhaltung in dieser Frage. Wenn auch die wiederholten Äußerungen des französischen Verteidigungsministers Debré darauf hindeuten, daß die gegenwärtige Führung in Frankreich in der Sicherheitspolitik einen Weg zwischen Isolierung und Kooperation zu suchen scheint, so wird doch nachdrücklich auf die Entscheidungs- und Aktionsfreiheit
Vorwort
IX
eines unabhängigen, nuklearbewaffneten Frankreichs hingewiesen: Nach wie vor sei jegliche Entscheidung über den Einsatz der nationalen nuklearen Waffen ebenso wie das nationale nukleare Risiko unteilbar. Nur durch die Unterordnung des Nuklearwaffeneinsatzes unter einen politischen Willen könne die nukleare Abschreckung glaubwürdig gesichert werden. Für Westeuropa käme somit eine gemeinsame nukleare Verteidigung erst dann in Frage, wenn die politische Einigung erreicht sei; das aber sei nodi lange nicht in Sicht. Trotz dieser im Grundsatz starken Zurückhaltung der Franzosen (die in bezug auf eine deutsche nukleare Mitwirkung bei den Briten sicher nicht geringer sein wird, audi wenn die Briten einer bilateralen französischbritischen nuklearen Zusammenarbeit offener gegenüberstehen als Frankreich), werden die Anzeichen stärker, daß Frankreich sich von seiner sicherheitspolitischen Isolierung abzuwenden gewillt ist. Wenn Frankreich auch auf seiner (vor allem nuklearen) Entscheidungsfreiheit bestehen müsse, so hat Verteidigungsminister Debré betont, sei eine Kooperation mit anderen westeuropäischen Staaten jedoch nicht undenkbar. Da Debré die Kooperation für den 5irafeg/sc&-nuklearen Bereich ausdrücklich ausschließt, könnte an eine Zusammenarbeit im taktisch-nuklearen Bereich gedacht sein. Dieser Gedanke ist deshalb besonders naheliegend, weil die ersten französischen taktischen Nuklearwaffen (Pluton) 1973 in Dienst gestellt werden sollen. Die sinnvolle Einsatzplanung für diese Waffen ist aber nur in Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik möglich (zur Stationierung auf deutschem Boden ist die Zustimmung der Bundesrepublik Voraussetzung). Daraus — und auch das scheint nicht mehr unmöglich — könnte sich schließlich unter Einbeziehung der anderen westeuropäischen Partner die Erarbeitung eines gemeinsamen Sicherheitskonzepts für Westeuropa ergeben. Damit aber wäre eine entscheidende Voraussetzung für die nukleare Zusammenarbeit im Zuge des politischen Einigungsprozesses geschaffen. Wie auch immer sich die Dinge im einzelnen entwickeln mögen, ein sich einigendes Westeuropa wird an der nuklearen Frage nicht vorbeigehen können, diese aber führt unweigerlich wieder zum Thema der Form deutscher Mitwirkung. Es wird gut sein, dann aus den Erfahrungen der Vergangenheit lernen zu können. Dabei dürfte die vorliegende Arbeit eine Hilfe sein. Berlin, im März 1972
Gilbert Ziebura
Inhalt Abkiirzungsverzeidinis
XV
Bemerkung zu den Quellen und zur Zitierweise
XVI
Erster Teil Die Bundesrepublik und die nukleare Mitwirkung: Möglichkeiten der deutschen Politik I. Kapitel: Die Grundlagen
3
A. Der Anfang
3
B. Die Interessen
8
1. Die Sicherheitsinteressen
9
2. Die politischen Interessen
20
Kernwaffen und Bündnispolitik
22
Kernwaffen und westeuropäische Integration
24
Kernwaffen und Wiedervereinigung
25
3. Die wirtschaftlichen Interessen C. Der Stil
30 31
II. Kapitel: Die Alternativen
36
A. Neutralität und Denuklearisierung
37
B. Eine nationale Nuklearstreitmacht
43
C. Die kollektive Alternative
48
1. Völlige Abhängigkeit
48
2. Deutsch-französische Zusammenarbeit
49
3. Eine europäische Nuklearstreitmacht
55
4. Der kollektive Weg im Rahmen der Allianz
56
Zweiter Teil Die Bundesrepublik und die nukleare Mitwirkung: Wege der deutschen Politik Erster Abschnitt: Von Mitbesitz bis Mitplanung 1957—1962 I. Kapitel: Die nukleare Frage wird akut
65
A. Eine Vertrauenskrise
65
B. Der Drude wächst
72
Inhaltsverzeichnis
XII C. Ein erster Vorschlag
D. Die Haltung der Bundesrepublik
78 83
1. Die Sicherheitsinteressen
83
2. Die politischen Interessen
86
II. Kapitel: Der Weg nach Athen
91
A. Eine Neuorientierung
91
B. Die Debatte um die Strategie: Ein beunruhigtes Europa
93
1. Die neue Strategie
93
2. Militärstrategisdie Differenzen
95
3. Politische Differenzen
99
C. Die Frage der Nuklearen Mitwirkung 1. Der Mangel an amerikanischem Interesse
107 107
2. Das Wachsen des deutschen Interesses
110
3. Die Reaktion auf die deutschen Schritte
114
4. Ein stetiger Strom von Argumenten
115
D. Der N A T O - R a t tagt in Athen 1. Die deutsche Haltung
119 119
2. Die Beschlüsse
122
3. Die Bedeutung der Beschlüsse
124
4. Die Reaktion der Bundesrepublik auf die Beschlüsse
126
Zweiter Abschnitt: Nochmals von Mitbesitz bis Mitplanung 1962—1966 I. Kapitel: Die Multilaterale Flotte
129
A. Nach Athen: Das deutsche Interesse hält an
129
B. Nach Athen: Ein Wandel in der amerikanischen Politik
130
C. Das britisch-amerikanische Treffen in Nassau
136
D. Der Plan der MLF
140
1. Zusammensetzung der Streitmacht
140
2. Die Frage der Kontrolle
141
E. Dei amerikanischen Motive
146
F. Die Zustimmung der Bundesrepublik
155
G. Die Motive der Bundesrepublik
157
1. Sicherheit
157
2. Einfluß
162
II. Kapitel: MLF — Höhepunkt und Ende A. Der Höhepunkt
170 170
Inhaltsverzeichnis 1.Die Anlaufzeit
170
2. Die MLF im Zentrum
174
B. Das Ende
179
1. Der Widerstand Großbritanniens
179
2. Der Widerstand Frankreichs 3. Der wachsende Widerstand in der Bundesrepublik 4. Die Vereinigten Staaten: MLF und ANF
183 187 196
C. Der Ausklang
200
III. Kapitel: Wandel und Ungewißheit A. B. C. D.
XIII
Die Sowjetunion und die MLF EinWechsel der amerikanisdien Prioritäten Der Ausweg: Gemeinsame nukleare Planung Deutsche Politik: Der Obergang
203 204 209 219 223
Dritter Teil Die Bundesrepublik und die nukleare Mitwirkung: Aussiditen der deutschen Politik I. Kapitel: Auftakt zu neuer Zusammenarbeit
239
A. Wandel der Allianzpolitik B. Die NPG: Aufgaben
239 242
C. Die NPG: Aussichten
248
Literaturverzeichnis
253
Personen- und Sachregister
268
Abkürzungsverzeichnis ABM ACDA BMD Bulletin DPC EA ENDC EWG FAZ ICBM IRBM MLF MRBM NATO NDAC NPG NYT NZZ SAC SACEUR SACLANT SHAPE Spiegel SZ Times Welt WEU Zeit
Anti-Ballistic Missile Arms Control and Disarmament Agency (USA) Ballistic Missile Defense Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Bonn Defense Planning Committee (NATO) Europa-Archiv, Bonn Eighteen Nation Disarmament Conference Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Frankfurter Allgemeine Zeitung Intercontinental Ballistic Missile Intermediate Range Ballistic Missile Multilateral Force Medium Range Ballistic Missile North Atlantic Treaty Organization Nuclear Defense Affairs Committee (NATO) Nuclear Planning Group (NATO) New York Times Neue Zürcher Zeitung Strategic Air Command (USA) Supreme Allied Commander, Europe (NATO) Supreme Allied Commander, Atlantic (NATO) Supreme Headquarters, Allied Powers Europe (NATO) Der Spiegel, Hamburg Süddeutsche Zeitung, München The Times, London Die Welt, Hamburg und Berlin Western European Union Die Zeit, Hamburg
Bemerkung zu den Quellen und zur Zitierweise Es wurden durchgehend öffentlich zugängliche Quellen benutzt. Darüber hinaus wurden mit vielen der an den Ereignissen maßgeblich beteiligten Personen Gespräche geführt, vor allem um Tatsachen oder Interpretationen zu überprüfen. So konnte auch manches, das in der Presse nur andeutungsweise erschien, verifiziert werden. Jeweils beim ersten Erscheinen einer Quelle in den Fußnoten wird sie mit vollem Titel zitiert, danach nur noch mit dem Namen des Autors und einem Kurztitel. Der vollständige Titel ist immer aus dem Literaturverzeichnis zu ersehen. Die Namen von Zeitungen und Zeitschriften sind teilweise abgekürzt (siehe Abkürzungsverzeichnis). Die Fußnoten sind kapitelweise durchnummeriert.
Erster Teil Die Bundesrepublik und die nukleare Mitwirkung : Möglichkeiten der deutschen Politik
I. Kapitel Die Grundlagen Α. Oer
Anfang
Seit der Niederlage im Zweiten Weltkrieg und der Teilung des Deutschen Reiches mußten die außenpolitischen Hauptziele Deutsdilands darin bestehen, seine Wiedervereinigung zu erreichen und als geachtetes und gleichberechtigtes Mitglied in die internationale Gemeinschaft zurückzukehren. Logischerweise erschien die Wiedervereinigung — bei allen damit verbundenen Unsicherheiten, Risiken und Gefahren — als das vorrangige Ziel; aber die Entwicklung verlief anders. Der größere — und freiere — westliche Teil des Landes unter der Führung von Bundeskanzler Konrad Adenauer und der Christlich-Demokratischen Union (CDU) setzte an die erste Stelle das Ziel, den Westen des Landes zu Souveränität, Ansehen und Sicherheit in der internationalen Gemeinschaft zu führen, womit die sehr attraktive Chance einer schnellen wirtschaftlichen Wiedergesundung verbunden war. Freiheit, Sidierheit und wirtschaftlicher Aufschwung für zwei Drittel der deutschen Bevölkerung waren die Ziele, welche die westdeutsche Führung den Wagnissen einer Wiedervereinigungspolitik vorzog. Denn diese barg zumindest die Möglichkeit in sich, daß Freiheit, Sicherheit und wirtschaftlicher Aufschwung für die ganze deutsche Bevölkerung unabsehbar lange auf sich warten ließen, ganz abgesehen davon, daß sie das Gespenst von Weimar heraufbeschwor.1 Freilich verschwand dadurch, daß die Wiederveinigung auf den 1
Eine
von
vielen
typischen
Illustrationen
dieser praktischen
Rangordnung
der
Ziele ist die Bemerkung von Adenauer: „Für uns Deutsche war die Frage der Sicherheit Berlins und die Frage der Wiedervereinigung unseres geteilten Vaterlandes von vorrangiger Bedeutung. Die Verantwortung für die Teilung Deutschlands und somit die Verpflichtung zur Wiedervereinigung lag bei den Alliierten. Was die Frage unserer Sicherheit anging . . ( K o n r a d Adenauer, Erinnerungen 1 9 5 3 — 1 9 5 5 , Stuttgart 1966, S. 343). Mit dem Hinweis auf die Wichtigkeit der Wiedervereinigung und die Verantwortung der Alliierten war die Frage für Adenauer anscheinend abgetan: E r fährt mit einer detaillierten Erörterung der deutschen Sicherheitsinteressen fort. Die beiden zitierten Sätze sind in der Tat die einzigen, die sich mit der Frage der l·
4
I. Kapitel. Die Grundlagen
zweiten Platz gerückt wurde, nicht der beherrschende Schatten der Teilung. Die politischen Parteien hätten ihn nur auf Kosten ihrer Wahlchancen ignorieren können. Für viele handelte es sich dabei um ein bloßes Lippenbekenntnis; doch die meisten glaubten vermutlich an die Kompromißtheorie von der Wiedervereinigung durch eine „Politik der Stärke". Nach diesem Konzept mußte der Aufbau eines starken, wirtschaftlich erholten westdeutschen Staates die Sowjetunion schließlich dahin bringen, ihren ostdeutschen Satelliten freizugeben.8 In der außenpolitischen Praxis äußerte sich dies in einer positiven Reaktion auf den Entschluß der Westalliierten, ihren Teil Deutschlands wiederzubewaffnen. Für Bonn bedeuteten militärische Streitkräfte Stärke und Sicherheit, und die Einbeziehung in den Kreis der Verbündeten brachte nicht nur mehr Sicherheit mit sich, sondern zugleich den erwünschten Wiedereintritt in die internationale Gemeinschaft.® Die deutsche Wiederbewaffnung konnte natürlich nicht unkontrolliert vonstatten gehen — schließlich lag der Krieg noch keine zehn Jahre zurück, und für viele Verbündete, namentlich Frankreich, war eine Kontrolle Deutschlands von zentralem Interesse. Die Alliierten suchten deshalb die Kontrolle über die neuen westdeutschen Verteidigungsstreitkräfte dadurch zu gewährleisten, daß sie sie straff in ihr Bündnissystem integrierten. Der erste Lösungsversuch war die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG), ein Projekt von ausgeprägt supranationalem Charakter, das 1954 allerdings am Widerstand Frankreichs scheiterte.4 Daraufhin wurden nationale deutsche Truppenverbände aufgestellt, die jedoch der Organisation des Nordatlantikpakts (NATO) zugewiesen, in sie integriert und für den Fall eines Krieges vollständig ihrem Befehl unterstellt wurden. Außerdem mußte die Bundesrepublik strenge Begrenzungen ihrer Rüstung hinnehmen (keine Raketen, keine Schiffe bestimmten Typs und über eine bestimmte Tonnage, usw.). Die wichtigste Einschränkung, die der Bundes-
2 s 4
Wiedervereinigung befassen in einem Abschnitt seiner Erinnerungen, der den Titel trägt „Souveränität für die Bundesrepublik — Sicherung Berlins — Verpflichtung der Alliierten zur Wiedervereinigung Deutschlands" (ebd., S. 341 ff.). Vgl. ebd., S. 435 f. Vgl. ebd., Kapitel IX und X, insbes. S. 352 und 361. Vgl. ebd., Kapitel VII, „Scheitern der europäischen Verteidigungsgemeinschaft", S. 270—304. Siehe auch Arnulf Baring, Außenpolitik in Adenauers Kanzlerdemokratie — Bonns Beitrag zur europäischen Verteidigungsgemeinschaft, Schriften des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Band 28, München/Wien 1969.
Α. Der Anfang
5
republik auferlegt wurde, war die Verpflichtung, keine „Atomwaffen, diemischen und biologischen Waffen in ihrem Gebiet . . . herzustellen".5 Mit der Überwachung dieser Einschränkungen wurde die erweiterte Organisation des Brüsseler Vertrags, umbenannt in Westeuropäische Union (WEU) beauftragt. Obwohl das zu dieser Zeit „weder reale Möglichkeiten abschnitt noch reale Interessen berührte"', spielte es bei den Verhandlungen eine bedeutende Rolle: Nach Adenauers Darstellung rettete es geradezu die Londoner Neun-Mächte-Konferenz im September/ Oktober 1954, auf der der deutsche Beitritt zur NATO beschlossen wurde.7 Theo Sommer schreibt: „In Deutschland begegnet man häufig der irrigen Vorstellung, die Annahme der Arrangements von 1954 durch Bonn habe einen freiwilligen Akt der Nonproliferation dargestellt. Sie war nichts dergleichen. In Wirklichkeit erkaufte die Bundesrepublik Sicherheit und Partnerschaft um den Preis institutionalisierter ausländischer Kontrolle über die Militärmadit des Landes. Deutschland, das einen von ihm angefangenen Krieg verloren hatte, konnte seine Souveränität nur unter der Bedingung wiedererlangen, daß es von vornherein auf einen Teil davon verzichtete; denn seine Verbündeten wünschten nicht nur Sicherheit für Deutschland, sondern auch Sicherheit vor Deutschland. Daher erlegten die Sieger dem Besiegten, der so plötzlich ein Verbündeter geworden war, Beschränkungen auf. Der Preis, den Deutschland für seinen neuen Status zahlen mußte, war Diskriminierung, verschleiert und gemildert durch militärische Integration."8 Viel ist über die „Hintertüren" diskutiert worden, die von dem Nuklearverzicht der Bundesrepublik offen gelassen wurden: Die Herstellung auf fremdem Boden und der Ankauf von Kernwaffen. Wenn auch die deutsche Verpflichtung in der Folge an Bedeutung gewann — und mit ihr die „Hintertüren" —, so „deutet doch alles darauf hin, . . . daß diese Hintertür nicht das Produkt listenreicher machiavellistischer Machenschaften war, sondern vielmehr das Ergebnis übereilten Formulierens und 5
Vgl. dazu Adenauer, Erinnerungen 1953—1955, a.a.O., S. 350,362 und 382—383. Die deutsche Verpflichtung — eine einseitige Erklärung Adenauers vom 3. Oktober 1954 — ist als Anlage I zu Protokoll III in die Pariser Verträge vom 23. Oktober 1954 aufgenommen worden (Protokoll III ist der WEU-Vertrag über die Rüstungskontrolle); Text in: EA 23/1954, S. 7127 ff., hier S. 7130. • Uwe Neriich, Die nuklearen Dilemmas der Bundesrepublik Deutschland, in: EA 17/ 1965, S. 637 ff., hier S. 639. 7 Adenauer, Erinnerungen 1953—1955, a.a.O., S. 346—348. 8 Theo Sommer, The Objectives of Germany, in: Alastair Buchan (Hrsg.), A World of Nuclear Powers?, Englewood Cliffs, Ν. J. 1966, S. 39—54, hier S. 40—41.
6
I. Kapitel. Die Grundlagen
diplomatischer Unüberlegtheit" — wie die Verfasser der Verpflichtung später selbst bestätigt haben.9 In späteren Jahren jedoch wurden diese Lücken bedeutsamer, weil die Möglichkeit des Erwerbs von Kernwaffen im Rahmen einer kollektiven Streitmacht eine reale Alternative wurde und weil der Erwerb von Kernwaffen durch Westdeutschland oder aber der absolute und uneinge< schränkte Verzicht auf sie größeres Gewicht als Handelsobjekt erlangte. (Die Verpflichtung von 1954 ist eine unmittelbare Verpflichtung nur gegenüber den sechs anderen WEU-Partnern; eine Verpflichtung gegenüber den Vereinigten Staaten und den übrigen NATO-Partnern ist sie nur insoweit, als der WEU-Vertrag mit dem Gefüge der NATO verflochten ist und als der Nuklearverzicht der Bundesrepublik eine Vorbedingung für ihre Aufnahme in die NATO darstellte.) Daß deutsche Politiker nicht abgeneigt waren, dies politisch und diplomatisch auszunutzen10, zeigt die Darstellung, die Adenauer später von seiner einseitigen Erklärung gab: „Als ich diese Erklärung abgegeben hatte, erhob sich Dulles von seinem Platz. Er saß auf der anderen Seite des langen Konferenztisches. Er kam zu mir und sagte mit lauter Stimme, so daß jeder im Saale es hören konnte: ,Herr Bundeskanzler, Sie haben soeben erklärt, daß die Bundesrepublik Deutschland auf die Herstellung von ABC-Waffen im eigenen Lande verzichten wolle. Sie haben diese Erklärung doch so gemeint, daß sie — wie alle völkerrechtlichen Erklärungen und Verpflichtungen — nur rebus sie stantibus gilt/ Ich gab ihm zur Antwort, ebenfalls mit lauter Stimme: ,Sie haben meine Erklärung richtig interpretiert!' Die übrigen Anwesenden schwiegen."11 Die Aufnahme der Bundesrepublik in die westliche Gemeinschaft brachte ihr Anerkennung und Souveränität, aber auch Beschränkungen, vor allem (viel wichtiger als die Rüstungsbeschränkungen und der Nuklearverzicht) die institutionalisierte Kontrolle durch die Westmächte und die mögliche Verminderung der Chancen, mit der Sowjetunion zu einer Verständigung über die Wiedervereinigung zu gelangen. Besonders diesen letzten Punkt betonten die oppositionellen Kräfte in der Bundesrepublik, • Vgl. ebd., S. 41. Sommer schreibt, die deutschen Unterhändler Grewe und Blankenborn hätten inzwischen erklärt, die Auslassungen seien „vollkommen unbeabsichtigt" gewesen. Sommer zitiert Blankenhorn: „Wir waren unter solchem Zeitdruck bei den Verhandlungen im Herbst 1954, daß diese Dinge einfach nicht berücksichtigt wurden". 10 Es hat vor allem in Verbindung mit der Frage der Wiedervereinigung eine Rolle gespielt; siehe unten S. 232 f. 11 Adenauer, Erinnerungen 1953—1955, a.a.O., S. 347.
Α. Der
Anfang
7
vor allem die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), und die Frage des NATO-Beitritts wurde zu einem Hauptthema der innenpolitischen Auseinandersetzung.12 Aber Adenauer konnte darauf verweisen, daß die Westmächte ihm gegenüber gleichfalls eine Verpflichtung eingegangen waren, nämlich erstens die Regierung der Bundesrepublik Deutschland als die einzige rechtmäßige deutsche Regierung anzuerkennen; zweitens einen Friedensvertrag mit einem geeinten Deutschland anzustreben (und diesem Friedensvertrag sollte die endgültige Regelung der Grenzfrage vorbehalten bleiben); und drittens das Ziel der Wiedervereinigung Deutschlands weiterhin zu unterstützen.15 In späteren Jahren wurde diese Verpflichtung des Westens oft in politischen Zusammenhang mit dem Verzicht der Bundesrepublik auf die Herstellung von Kernwaffen gebracht, so, als stelle das eine die Gegenleistung für das andere dar. Dieser Zusammenhang besteht insofern, als der W E U Vertrag mit dem Gefüge der N A T O verschränkt ist und als die Bundesrepublik der N A T O in der Erwägung beitrat, daß die westlichen Verbündeten die Wiedervereinigung Deutschlands unterstützen würden; aber juristisch stehen die beiden Verpflichtungen zueinander nicht im Verhältnis von Leistung und Gegenleistung. So viel ist allerdings richtig, daß die deutsche Verpflichtung wesentlich zum Erfolg der Londoner Konferenz beitrug und daß sie ein einheitliches Ganzes mit der westlichen Erklärung, dem WEU-Vertrag und dem deutschen NATO-Beitritt bildet. Der Verzicht auf die Herstellung von Kernwaffen war der erste nuklearpolitische Akt der Bundesrepublik. Allerdings war diese Frage zu der Zeit für die Bundesrepublik relativ unwichtig; es wurden damit weder reale Möglichkeiten nodi wirkliche Interessen berührt. Die Bundesrepublik hatte somit nicht das Gefühl, ein wirkliches Opfer zu bringen. Der Verzicht spielte lediglich eine politische Rolle: Es wurde eine Forderung der Verbündeten erfüllt, die dafür dem Streben nach Deutschlands Wiedervereinigung ihre politische Unterstützung versprachen. Doch auch in späteren Jahren war der Verzicht von 1954 in Bonn niemals umstritten, da die Bundesrepublik zu keinem Zeitpunkt die Herstellung von Kern12
13
Siehe dazu ebd., Kapitel XI, „Auseinandersetzung um die Pariser Vereinbarungen", S. 384—436. Siehe audi Waldemar Besson, Die Außenpolitik der Bundesrepublik, Erfahrungen und Maßstäbe, München 1970, S. 97 ff. Vgl. dazu Adenauer, Erinnerungen 1953—1955, a.a.O., S. 351—352 und 383. Die ursprüngliche Erklärung der Vereinigten Staaten, des Vereinigten Königreichs und Großbritanniens vom 29. September 1954 (Wortlaut in der Sdilußakte der Londoner Neun-Mächte-Konferenz, 2 8 . 9 . - 3 . 1 0 . 1 9 5 4 , Text in: EA 20/1954, S. 6982) wurde von den anderen Bündnispartnern übernommen (siehe Entschließung des Nordatlantik-Rats vom 22.10.1954, ebd., S. 7138).
8
I. Kapitel. Die Grundlagen
wafFen erwogen hat. Dennoch erlangten die Fragen der nuklearen Bewaffnung und der Teilnahme an der nuklearen Verteidigung für Westdeutsdhland mehr und mehr Bedeutung. Eigenständige Entwicklungen, wie der Wiederaufstieg Westeuropas, sowie politisdie, Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen veranlaßten die Bundesrepublik, den nuklearen Angelegenheiten zunehmende Aufmerksamkeit zuzuwenden.
B. Die Interessen
Der Verzicht auf die Herstellung von Kernwaffen im Jahre 1954 war als vollständiger Verzicht gemeint. Die Bundesrepublik war damals damit einverstanden, daß sie hinsichtlich ihrer nuklearen Verteidigung von den Vereinigten Staaten abhängig war und daß eine „Arbeitsteilung" bestand: Während die europäischen Partner der Allianz einen angemessenen konventionellen Beitrag zur gemeinsamen Verteidigung leisten sollten, verpflichteten sich die Vereinigten Staaten, Westeuropa im Notfall mit Kernwaffen zu verteidigen. Dieser Zustand sollte jedodi nicht lange fortbestehen. Das nächste Jahrzehnt war gekennzeichnet durch ein wachsendes Interesse der Bundesrepublik an nuklearen Angelegenheiten. Bestimmte Faktoren förderten dieses Interesse — nationale Interessen, innen- und außenpolitische Zwänge, strategische, politische und ökonomische Entwicklungen —, und eine deutsche Nuklearpolitik wurde unumgänglich.14 Der Rahmen dieser Politik läßt sidi in drei Bereichen — Sicherheit, Außenpolitik, Wirtschaft — festlegen. Bei der Bestimmung dieser Rahmenbedingungen und Interessen geht es in erster Linie um das Problem der Teilnahme an den Entscheidungen über einen möglichen Einsatz und über die Einsatzbedingungen für Kernwaffen zur Verteidigung Westeuropas. Eng damit verbunden ist allerdings die Diskussion über die Rolle von Kernwaffen in der Verteidigung Westeuropas überhaupt.
14
Wie diese deutsche Nuklearpolitik im Einzelnen gestaltet wurde, soll im zweiten Teil der vorliegenden Untersuchung analysiert werden. Hier sollen nur jene Faktoren aufgezeigt werden, die die Bundesrepublik zu einer Stellungnahme zu den nuklearen Fragen — also zu einer Nuklearpolitik — führten.
Β. Die Interessen
9
1. D i e S i c h e r h e i t s i η t e r e s s e η Die Frage der Sicherheit der Bundesrepublik — die, wie gesagt, für die Bundesregierung an erster Stelle stand 15 — wurde von Anfang an durch zwei Gesiditspunkte beherrscht, nämlich der außerordentlichen Verwundbarkeit des Landes und seiner weitgehenden Abhängigkeit von seinen Verbündeten (die sowohl politische wie militärische Gründe hatte). Hinzu kommt die politische Bedeutung des Territoriums und seine strategische Mittelpunktlage: Deutschland, ein ökonomisches, industrielles und militärisches Potential ersten Ranges, liegt am Schnittpunkt der Machtinteressen in Europa. Die deutschen Sicherheitsinteressen beziehen sich sowohl auf den Bereich der nuklearen Abschreckung wie auf den Bereich der konventionellen Verteidigung." Anfangs jedoch wurde die Verteidigung der Bundesrepublik rein konventionell, d. h. nicht-nuklear, konzipiert. Der einleuchtende Grund dafür war die primär konventionelle Bedrohung. Adenauer nahm an, daß amerikanische Kernwaffen nur im Falle eines massiven konventionellen Angriffs der Sowjetunion eingesetzt werden würden, und dann nur gegen sowjetische Ziele. Adenauer begrüßte das, da er Deutschland nicht der zerstörenden Wirkung von Kernwaffen aussetzen wollte. E r wandte sich daher auch gegen den Einsatz der sogenannten taktischen Atomwaffen und der atomaren Gefechtsfeldwaffen17, denn sie würden 15 16
17
Vgl. oben, S. 3 f. Historisch gesehen, bedeutete eine gute Verteidigungsfähigkeit gleichzeitig eine mehr oder weniger gute Abschreckungsfähigkeit. Seit der Entwicklung nuklearer Waffen ist dieser Zusammenhang jedoch komplizierter geworden. Sicher muß eine Abschrekkungsdrohung immer noch in einem angemessenen Verhältnis zum abzuschreckenden Angriff stehen (ζ. B. wären nukleare Drohungen bei einem Grenzzwischenfall wenig glaubwürdig), aber da ein Sieg über die gegnerischen Streitkräfte nicht mehr Voraussetzung ist für die Fähigkeit, der gegnerischen Bevölkerung Schaden zuzufügen, kann aus nuklearen Waffen in vielen Fällen eine Abschredkungswirkung gewonnen werden, auch wenn die eigenen Streitkräfte im Kriegsfall nidit zu einem Sieg im herkömmlichen Sinne ausreichen würden. Zu dieser Problematik vgl. Robert E. Osgood und Robert W. Tucker, Force, Order, and Justice, Baltimore 1967. Es läßt sich keine genaue Trennung zwischen taktischen Atomwaffen und atomaren Gefechtsfeldwaffen vornehmen. Entscheidend für die Definition ist — wie im Falle der Unterscheidung zwischen taktischen und strategischen Nuklearwaffen — das Ziel. Insofern ließe sich definieren, daß die Gefechtsfeldwaffen — wie schon ihr Name besagt — nur auf dem Gefechtsfeld verwendet werden, d. h. in jenem Operationsgebiet, wo direkte Begegnungen von Truppenkörpern stattfinden. Die Atomwaffen, die zu einer erweiterten aber noch nicht strategischen Anwendung kämen, ζ. B. zur Zerstörung von rückwärtigen Nachschubdepots, wären dann als taktische Atomwaffen zu bezeichnen. Das entspricht auch in etwa der Reichweite der tatsächlich
10
I. Kapitel. Die Grundlagen
vermutlich auf deutschem Boden eingesetzt werden und bargen zudem die Gefahr der nuklearen Eskalation in sich. Ein starker westdeutscher konventioneller Beitrag hingegen konnte helfen — so nahm man an — , einen möglichen Konflikt zu lokalisieren, die sowjetische konventionelle Überlegenheit in Mitteleuropa abzugleichen und die alliierte Präsenz in Westdeutschland sowie den westdeutschen Einfluß in der Allianz zu sichern. Die Bundesrepublik war also mehr an konventioneller Verteidigung als an nuklearer Abschreckung interessiert, denn die Abschreckung gegen eine größere Bedrohung schien in der zu jener Zeit noch voll glaubwürdigen amerikanischen Garantie zu liegen. Erst als diese Garantie an Glaubwürdigkeit verlor, begannen die Deutschen in der Drohung mit der Eskalation von der konventionellen zur nuklearen, und von der taktischen zur strategischen Ebene ein Element der Abschreckung zu sehen.18 Die erste große Diskussion um die Verteidigungsstrategie der N A T O ging von der Erkenntnis aus, daß eine konventionelle Verteidigung der Bundesrepublik schwierig, wenn nicht unmöglich ist. Die offenen Ebenen Norddeutschlands sind ein Terrain, das sidi nur äußerst schwer gegen moderne motorisierte und Panzerverbände verteidigen läßt — besonders angesichts der grundsätzlichen deutschen Weisung, „jeden Quadratmeter westdeutschen Territoriums vom Eisernen Vorhang an zu verteidigen" (ein Konzept, das als „Vorwärtsverteidigung", „Vorneverteidigung" oder „grenznahe Verteidigung" bekannt wurde). 1 * Zudem sind die besten Truppen, die amerikanische 7. Armee, durch die Umstände der Besatzungspolitik im südlichen Teil Deutschlands stationiert. Die einzige Alternative, so schien es, war eine bewegliche Verteidigung — aber eine solche Strategie erfordert Raum, „und Raum ist der knappste militärische Bedarfsartikel im (europäischen) Mittelabschnitt".®0
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vorhandenen Waffen: Während z. B. die „Davy Crockett" eine Reichweite von etwa 60 km hat und als Gefechtsfeldwaffe bezeichnet werden kann, hat die als taktische Atomwaffe bezeichnete „Pershing" eine Reichweite von 600 km. Die Schußweite der Artilleriegeschütze und Granatwerfer, die sowohl atomare wie herkömmliche Sprengköpfe abschießen können, ist zum Teil nidit weiter als die der herkömmlichen Artillerie. Was die Definition natürlich nicht ausschließt, ist die Verwendung von taktischen Atomwaffen entweder auf dem Gefechtsfeld oder andererseits zu einem strategischen Zweck (ebenso wie strategische Waffen taktisch angewendet werden können). Vgl. Robert E. Osgood, NATO — The Entangling Alliance, Chicago 1962, S. 1 2 8 — 130. Siehe auch unten S. 15 ff. und 95 ff. Ursprünglich aus einer Bemerkung des Verteidigungsministers Kai-Uwe von Hassel, zitiert von Wallace C. Magathan, Jr., West German Defense Policy, in: Orbis, Sommer 1964, S. 303. James E. King, Jr., Toward Stability in Central Europe, in: Arnold Wolfers (Hrsg.),
Β. Die
Interessen
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Auf Grund dieser Schwierigkeiten kam also nur eine Verteidigung in Frage, für die man eine sehr schwere Bewaffnung und sehr viele Truppen brauchte. Doch die NATO-Länder zeigten wenig Neigung, die nötigen Mannschaften und Finanzmittel zur Verfügung zu stellen. Der 1953 in den USA gemachte Vorschlag, den Streitkräften des Westens einen „New Look" zu geben, und der im Dezember 1954 gefaßte Beschluß, die Bodenverteidigung der N A T O mit taktischen Atomwaffen auszurüsten, fußten auf folgenden Faktoren: Eine konventionelle Verteidigung im Mittelabschnitt (Deutschland) war problematisch; der Gedanke, daß (nukleare) Feuerkraft Mannschaften ersetzen könne, gewann an Boden; und obwohl die moderne Unterscheidung zwischen den Begriffen Verteidigung und Abschreckung noch nicht verbreitet war, setzte sich immer mehr die Idee durch, daß bei der Vorbereitung auf einen Krieg in Mitteleuropa die Faktoren der Abschreckung stärker betont werden müßten als die der Verteidigung. Demgemäß wurde den für einen begrenzten Krieg geeigneten und notwendigen Streitkräften ein geringer Stellenwert zugemessen. Von der Annahme ausgehend, daß taktische Atomwaffen der Verteidigung den Vorteil gaben (und daß der Westen in diesen Waffen auf unabsehbare Zeit die Überlegenheit behalten werde), billigte der N A T O Rat im Dezember 1954 unter amerikanischer Führung offiziell eine Strategie, die auf dem Grundsatz beruhte, daß ein konventioneller Angriff mit taktischen Atomwaffen zu erwidern sei, um die Verteidigung Europas gegen die zahlenmäßig überlegenen sowjetischen konventionellen Kräfte zu Bedingungen zu ermöglichen, die für die Verbündeten finanziell und in bezug auf die notwendigen Truppenstärken annehmbar wären.81 In einem gemeinsamen Protokoll ermächtigte der Rat die Militärbefehlshaber der NATO, ihren Plänen den Einsatz von Kernwaffen zugrunde zu legen, gleichgültig, ob der Gegner solche Waffen einsetzen würde oder nicht. Man nahm an, daß im Kriegsfall die Landstreitkräfte, der „Schild", einen kurzen Kampf führen würden, um die Stärke des Angriffs festzustellen, woraufhin dann die strategischen Luftstreitkräfte, das „Schwert", in Aktion treten würden.*8 Die Landstreitkräfte waren mithin
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Changing East-West Relations and the Unity of the West, Baltimore 1964, S. 157. King erörtert ausführlich die westlichen Verteidigungsprobleme in Mitteleuropa. Ausführlich bei Osgood, NATO — The Entangling Alliance, a.a.O., Kapitel V : „NATO Goes Nuclear". Siehe audi James L. Richardson, Deutschland und die NATO. Strategie und Politik im Spannungsfeld zwischen Ost und West, Köln/ Opladen 1967. Genauer bei Richardson, Deutschland und die NATO, a.a.O., S. 41—42. Siehe audi Roger Hilsman, NATO: The Developing Strategic Context, in: Klaus Knorr (Hrsg.),
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als eine Art „Stolperdraht" („tripwire") gedacht, der den nuklearen Gegenangriff auslösen würde. Der Beschluß der NATO, ihre Verteidigung zu „nuklearisieren", entstammte also zu einem guten Teil den Erfordernissen der Verteidigung des deutschen Frontabschnitts. Die Deutschen selbst standen diesem Plan zunächst zögernd gegenüber, ja sie waren bestürzt, als der Eindruck entstand, daß er eine Verminderung der vorgesehenen konventionellen Streitkräfte mit sich bringen sollte.23 Aber Bundeskanzler Adenauer blieb nichts anderes übrig, als dem Plan zuzustimmen, den die ganze Allianz zu akzeptieren sich anschickte. Das geschah freilich erst nach einem unglückseligen Schauspiel. Im betreifenden Jahr 1954 war die Bundesrepublik nodi nicht Mitglied der N A T O und wurde nicht von dem Beschluß unterrichtet, das Schwergewicht von der konventionellen Verteidigung auf die taktischen Atomwaffen zu verlagern. Im Juni 1956 versuchte Adenauer vergeblich, in Washington zu erfahren, ob eine Umkehrung der Prioritäten zwischen konventionellen und nuklearen Streitkräften geplant sei. In der Annahme, das sei nidit zu erwarten, peitschte er das Wehrpflichtgesetz durch den Bundestag (gegen den heftigen Widerstand nicht nur der SPD, sondern auch vieler prominenter Verteidigungsexperten der CDU/ CSU und vieler Offiziere, die voraussahen, daß eine Ausrüstung der Bundeswehr mit taktischen Atomwaffen und atomaren Gefechtswaffen notwendig werden würde).24 Aber kaum war das geschehen, da wurde der amerikanische Plan, die konventionellen Streitkräfte um 800.000 Mann zu vermindern (was allerdings nie verwirklicht wurde) und das Verteidigungskonzept in erster Linie auf taktische Atomwaffen zu stützen, in Form des „Radford-Plans" publik. Nach einer ernsten Krise und internen Meinungsverschiedenheiten (Verteidigungsminister Theodor Blank wurde durch Franz Josef Strauß erN A T O and American Security, Princeton 1959, S. 24—29 und Osgood, N A T O — The Entangling Alliance, a.a.O., S. 102—123. ** Eine Ausnahme bildeten die meisten Militärs, die an die Notwendigkeit der Einführung taktischer Atomwaffen in Europa glaubten. Siehe dazu z. B. den Artikel von Joachim Rouff, Atomwaffeneinsatz mit Vorbehalt, in: Wehrkunde, Februar 1955, in dem ein Interesse daran geäußert wurde, daß dem NATO-Oberbefehlshaber in Europa Verfügungsgewalt über taktische Atomwaffen eingeräumt wird. Neriich meint, die führenden Offiziere der Bundeswehr hätten die Ausrüstung der Bundeswehr mit taktischen Atomwaffen immer nur als eine Frage der Zeit und der technischen Entwicklung gesehen, vgl. Nerlidi, Die nuklearen Dilemmas, a.a.O., S. 651, Anm. 5. Vgl. auch unten S. 83 ff. 24 Siehe Anm. 23; außerdem Nerlidi, Die nuklearen Dilemmas, a.a.O., S. 641 und Richardson, Deutschland und die N A T O , a.a.O., S. 40 ff.
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setzt) zog Adenauer die Konsequenzen: Er verringerte die Dienstzeit von 18 auf 12 Monate und entwickelte zusammen mit dem neuen Verteidigungsminister Strauß Pläne für den Aufbau einer Streitmacht im Einklang mit den von der N A T O aufgestellten Grundsätzen. Der Bundeskanzler schränkte seine Hoffnungen ein, der Bundesrepublik durch ihren konventionellen Beitrag politischen Einfluß verschaffen und Deutschland im Konfliktfall vor der nuklearen Zerstörung bewahren zu können. In der Folge konzentrierte er sich zunehmend auf eine nukleare Verteidigung, vor allem aber begann er, das Konzept der Abschreckung immer mehr hervorzuheben. Seit September 1956 drängten Adenauer und Strauß darauf, die Bundeswehr entsprechend den NATO-Plänen mit Trägerwaffen kürzerer Reichweite und atomaren Gefechtsfeldwaffen auszurüsten,25 wobei die nuklearen Sprengköpfe bzw. die nukleare Munition unter amerikanischer Kontrolle bleiben sollten. Adenauer sah sich also ganz eindeutig gezwungen, die „Nuklearisierung" der N A T O zu akzeptieren, denn es ist klar, daß er sie nicht mochte. Klar ist aber auch, daß er — aus Gründen der Verteidigungs-Koordinierung und um der Bundesrepublik wenigstens einen gewissen Einfluß in der Allianz zu sichern — sich nicht einer Strategie widersetzen konnte, auf die sidi die ganze Allianz stützte. So akzeptierte die Bundesrepublik 25
Ausführlich bei Osgood, NATO — The Entangling Alliance, a.a.O., S. 128—129. Verteidigungsminister Strauß erklärte das deutsche Interesse an taktischen Atomwaffen auf der Tagung des NATO-Rats im Dezember 1956; vgl. dazu Hans Speier, German Rearmament and Atomic War, Evanston, III., 1957, S. 222. Innenpolitisch erreichte die Debatte um die Frage der Ausrüstung der Bundeswehr mit taktischen Atomwaffen durch die Resolution der SPD im Bundestag vom 10. Mai 1957, in der die damalige Opposition forderte, daß weder die Bundeswehr mit Trägerwaffen für taktische Atomwaffen ausgerüstet werden sollte noch atomare Sprengköpfe unter amerikanischem Gewahrsam auf deutschem Boden stationiert werden sollten. Dieser Vorschlag wurde jedoch abgelehnt. Der CDU gelang es, die Frage über die Wahlen zum Bundestag im Herbst 1957 hinauszuschieben; die SPD konnte daraus keine Wahlvorteile gewinnen, und die CDU kehrte mit einer absoluten Mehrheit in den Bundestag zurück. Im März 1958 gab der Bundestag — gegen die starke Opposition der Sozialdemokraten, die fürchteten, daß dadurch eine Lösung der deutschen Frage behindert würde — der Bundesregierung die Vollmacht, die Bundeswehr mit Trägerwaffen für taktische Atomwaffen auszurüsten. Daraufhin starteten die Sozialdemokraten eine Kampagne unter dem Motto „Kampf dem Atomtod". Die Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen im Sommer 1958 wurden als Test des Bevölkerungswillens in dieser Frage betrachtet: Als die C D U auch hier die absolute Mehrheit gewann, schlief die Kampagne wieder ein. Vgl. hierzu Konrad Adenauer, Erinnerungen 1955—1959, Stuttgart 1967, S. 296 ff. sowie Besson, Außenpolitik der Bundesrepublik, a.a.O., S. 178 ff. und Richardson, Deutschland und die NATO, a.a.O., S. 41 ff.
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die Ausrüstung mit taktischen Atomwaffen, weil sidi die NATO für eine nukleare Verteidigung entschieden hatte — aber die NATO hatte sich für eine nukleare Verteidigung entschieden, weil die Verteidigung westdeutschen Territoriums sie erforderlich machte. Allein die militärischen Erfordernisse der Verteidigung Westdeutschlands schufen die Notwendigkeit, sich auf Kernwaffen zu stützen. Bliebe es der Bundesrepublik überlassen, ihre Verteidigungsprobleme selbst zu lösen, so stünde sie heute wie damals vor der konkreten Notwendigkeit, für irgendeine Form von nuklearem Schutz zu sorgen." Auf der anderen Seite jedoch stellt der Charakter einer solchen nuklearen Verteidigung die Bundesrepublik bis zum heutigen Tage vor ein Dilemma: Da das Territorium der Bundesrepublik mit den vorhandenen konventionellen Mitteln allein nicht zu verteidigen ist, wäre im Falle eines überlegenen konventionellen Angriffs eine Verteidigung mit Kernwaffen notwendig; aber von dem Einsatz dieser Waffen ist eine weitgehende Zerstörung ganz Deutschlands zu erwarten. Tatsächlich hatten Militärkreise die Schwierigkeiten einer konventionellen Verteidigung schon früh erkannt; für sie war die Ausrüstung der Bundeswehr mit taktischen Atomwaffen nur eine Frage der Zeit und der technischen Entwicklung.27 In den Jahren nach 1956 kamen fast alle westdeutschen Politiker zu dem gleichen Schluß,88 daß nämlich eine konventionelle Verteidigung unmöglich — und im Ergebnis ebenso verheerend wie eine taktischnukleare Verteidigung sein würde: „Im Gegensatz zu anderen NATOStaaten, die von einem kleineren, begrenzten oder örtlichen Krieg weniger betroffen sind, bedeutet für Deutschland jede Art eines heißen Krieges auf seinem Gebiet sofortige Desorganisation seines normalen Lebens, 28
Carl H. Amme vertritt die These, daß die Notwendigkeit, taktische Atomwaffen in die westliche Verteidigungslinie in Europa einzubeziehen, nach dem Auszug Frankreichs aus der militärischen Organisation des Bündnisses noch größer geworden sei; vgl. NATO without France: A Strategie Appraisal, Stanford 1967. Mehr noch trifft das aber vermutlich zu, weil die konventionellen Voraussetzungen der Strategie der angemessenen Reaktion (flexible response) bis in die jüngste Zeit nur in begrenztem Maße gegeben sind bzw. sogar wiederholt davon die Rede ist, amerikanische Truppen in Europa zu vermindern. Vgl. hierzu das Weißbuch 1970 „Zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Lage der Bundeswehr", im Auftrag der Bundesregierung herausgegeben vom Bundesminister der Verteidigung im Mai 1970. " Vgl. oben Anm. 23. 18 Vor 1956 sprachen sich neben Adenauer eine Reihe prominenter Politiker gegen die nukleare Bewaffnung der NATO-Streitkräfte und für eine rein konventionelle Verteidigung aus, darunter der erste Verteidigungsminister Theodor Blank, Georg Kliesing und Kurt Georg Kiesinger; vgl. dazu Richardson, Deutschland und die NATO, a.a.O., S. 46—49.
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weitgehende Zerstörungen, riesige Verluste an Blut und Gut, Chaos: — kurzum, eine nationale Katastrophe. Was andere sich noch leisten könnten, wäre für uns schon tödlich."" Die Deutschen suchten dem Dilemma — hier die Schwierigkeiten (und die Zerstörung) einer konventionellen Verteidigung, da die zerstörende Wirkung einer nuklearen Verteidigung — zu entgehen, indem sie den Akzent immer stärker auf die Abschreckung legten. Für den Fall eines Angriffs verlangten sie den Einsatz von taktischen Atomwaffen und atomaren Gefechtsfeldwaffen in einem frühen Stadium und betonten die daraus resultierende Gefahr der Eskalation in strategische Dimensionen: Der potentielle Angreifer müsse stets vor dem ungewissen Risiko eines nuklearen Gegenschlags stehen.30 Nur durch diese Ungewißheit — unabhängig vom Ausmaß des Angriffs — werde ein Gegner vor jeglichem, auch einem begrenzten Angriff wirksam abgeschreckt. Zu begrenzten Vorstößen könnte er sich versucht fühlen, wenn er sicher sein könnte, daß taktische Atomwaffen nur eingesetzt würden, falls der Angriff ein bestimmtes, vorher festgesetztes Ausmaß (die sogenannte „nukleare Schwelle") überschritte, und daß nur in diesem Falle eine Eskalationsgefahr gegeben sei. Der Bundesrepublik ging es also darum, daß die Waffen nicht nur vorhanden waren, sondern, wenn nötig, audi eingesetzt würden — und daß der potentielle Gegner das wußte. Der beste Weg, dies sicherzustellen —
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Bundesminister Heinrich Krone in einer Rede an der Notre Dame University, in: Heinrich Siegler, Dokumentation zur Abrüstung und Sicherheit, Bd. III, 1964—1965, Bonn/Wien/Zürich 1967, S. 160—164, hier S. 163. (Der zweite Band dieser Dokumentation, veröffentlicht im Jahr 1965, umfaßt die Periode 1960—1963; diese Bände werden fortan als Siegler II bzw. Siegler III zitiert.) Vgl. Neriich, Die nuklearen Dilemmas, a.a.O., S. 644—645 und 652, Anm. 9. Siehe auch unten S. 95· ff. Die Betonung eines gewissen Eskalationsautomatismus schuf jedoch ein neues Dilemma: Angesichts der wachsenden strategischen Verwundbarkeit der Vereinigten Staaten, wurde die amerikanische Bereitschaft, zur Verteidigung Westeuropas Nuklearwaffen einzusetzen, desto weniger glaubwürdig, je mehr der Automatismus hervorgehoben wurde. Tatsächlich wurde von den Militärs zu dieser Zeit die automatische Eskalation in privaten Gesprächen heruntergespielt. Das Dilemma besteht allerdings unvermindert fort. Dem Versuch, das Problem durch eine weitgehende Differenzierung der Strategie der kontrollierten Eskalation zu lösen — sogenannter Atomminen (Atomic Demolition Munition) und selektiver und demonstrativer Nuklearschläge — ist nur begrenzt Erfolg beschieden: Erstens ist die sinnvolle defensive Anwendung auch sehr kleiner atomarer Gefechtsfeldwaffen im dicht besiedelten Mitteleuropa äußerst fragwürdig; zudem müßten diese Mittel, um ihren Zweck zu erfüllen, bereits in einer sehr frühen Phase einer militärischen Auseinandersetzung eingesetzt werden, d. h. die nukleare Schwelle müßte schon am Anfang überschritten werden; vgl. dazu unten S. 9 7 f .
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nädist direkter Verfügungsgewalt — , bestand in der engen Integration der Streitkräfte und in einem Mitspracherecht für das potentielle Opfer, die Bundesrepublik, zwar nicht unbedingt beim unmittelbaren Einsatz der Sprengköpfe (diese konnten in amerikanischer Verwahrung bleiben), wohl aber bei der Festlegung der Bedingungen, unter denen sie eingesetzt werden sollten. Schließlich waren diese Waffen auf deutschem Boden stationiert (und waren folglich Ziele gegnerischer Waffen); sie würden von deutschem Boden abgefeuert werden, und ihre Ziele würden zu einem großen Teil auf deutschem Boden östlich der Elbe liegen. Die Bundeswehr wurde an nuklearen Trägerwaffen ausgebildet, die Sprengköpfe befördern sollten, über deren Verwahrungsort, Größe und Ziele die Bundesregierung zumindest bis 1962 so gut wie nidits wußte, geschweige denn, daß sie ein Recht zur Mitsprache über ihren Einsatz gehabt hätte: „Die Sprengköpfe wurden unter strenger amerikanischer Kontrolle gehalten, und die Formulierung der NATO-Strategie blieb im wesentlichen eine Sadie der Amerikaner. So wurde die Sicherheit Westdeutschlands immer mehr von Kernwaffen abhängig, aber Bonn war weitgehend von der Planung ihres Einsatzes ausgeschlossen und hatte lange Zeit keine Ahnung von ihrer Zahl, ihren Standorten und ihren Kampfaufträgen." 3 1 Die Bundesrepublik sah sich also aus einer Reihe von Gründen schon früh gezwungen, ein Interesse an der Nuklearpolitik der N A T O zu entwickeln: Die N A T O hatte sich für eine Strategie entschieden, die die Verteidigung Mitteleuropas in erster Linie auf taktische Atomwaffen abstellte; die Bundesrepublik, Mitglied der Allianz und von ihr abhängig, war verpflichtet, ihre anfänglichen Zweifel zu überwinden und sich dieser Strategie anzupassen. Aber auch der Bundesrepublik wurde es bald klar, daß angesichts der Schwierigkeiten, den Mittelabschnitt konventionell zu verteidigen, und angesichts der verfügbaren Truppenstärken dort ein objektiver Bedarf an taktischen Atomwaffen bestand. Das war der Fall, als die sowjetische Drohung rein konventionell war, und es galt erst recht, als die potentielle Drohung in Mitteleuropa nukleare und konventionelle Gestalt annahm. 82 Die so für die Verteidigung der Bundesrepublik erforderlichen Kernwaffen konnten natürlich auf deutschem Boden unter alleiniger amerikanischer Kontrolle stationiert werden, und die Amerikaner konnten auch das alleinige Recht behalten, über ihre Größe, ihre S1 32
Sommer, The Objectives of Germany, a.a.O., S. 43. Mit dieser Entwicklung bekam die deutsche Forderung, den Verteidiger mit den gleichen modernen Waffen auszurüsten, die der potentielle Angreifer habe, auch im nuklearen Bereich Gewicht. Vgl. dazu ζ. B. Adenauer, Erinnerungen 1955—1959, a.a.O., S. 288 ff.
Β. Die Interessen
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Standorte, ihre Ziele und die Bedingungen ihres Einsatzes zu entscheiden. Damit war man anfangs auch zufrieden, aber als die Nuklearstrategie im Laufe der Jahre an Komplexität zunahm, als es nicht mehr nur um eine, praktisch automatische amerikanische Reaktion gehen konnte, mußte das Interesse der Bundesrepublik, Einfluß auf die nukleare Strategie zu gewinnen, wachsen. Es schien logisch, daß eine verantwortliche deutsche Regierung nach Wissen über und Einfluß auf Waffen strebt, von denen die Verteidigung des Landes abhängt, an denen deutsche Soldaten ausgebildet werden und die auf deutschem Boden stationiert und auf deutsche Ziele gerichtet sind. Die Bundesrepublik liegt am Angelpunkt des nuklearen Machtgleichgewichts in Europa. Ihre Sicherheit ist dem ständigen Hin und Her von Druck und Gegendruck ausgesetzt, das dieses Gleichgewicht kennzeichnet. Häufig werden deutsche Interessen in Konflikte hineingezogen, die nichts mit deutschen Problemen zu tun haben, sich aber auf das Gleichgewicht auswirken. Jeder Konflikt zwischen den Supermächten kann die Interessen der Bundesrepublik berühren; jede noch so ferne Krise kann in Deutschland die Gefahr eines Vergeltungsschlages heraufbeschwören. Deshalb hat die Bundesrepublik ein legitimes Interesse an der Beschaffenheit und Handhabung des nuklearen Schildes, der notwendig ist, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Das bedeutet jedoch nicht, daß dieses Interesse nur durch den Besitz von Kernwaffen oder durch direkten Zugang zu ihnen befriedigt werden könnte. Es bedeutet vielmehr, daß die Bundesrepublik daran interessiert ist, den Einsatz von Kernwaffen zu gewährleisten, wenn er für die deutsche Verteidigung und Sicherheit notwendig ist, und diesen Einsatz zu verhindern, wenn er unnötig oder deutschen Interessen schädlich ist.33 Nur auf diese Weise läßt sich ein Maximum an Abschreckung, die einen Konflikt abwenden soll, kombinieren mit einem Minimum an Zerstörung, falls es nicht gelingt, den Konflikt abzuwenden. Die Abschreckung muß in der Rangordnung obenan stehen, weil jeder Krieg in Mitteleuropa, sei er konventionell oder nuklear, für Deutschland untragbare Zerstörung brächte.34 Die wirksamste Art, einen potentiellen Angreifer abzuschrecken, besteht jedoch in der Drohung, jeden Angriff mit für ihn unannehmbaren Zerstörungen in seinem eigenen Land zu beantworten. Und um eine solche Drohung möglichst glaubwürdig zu machen, muß man dafür sorgen, daß die Waffen, wenn nötig, wirklich eingesetzt werden; nur wenn das potentielle Opfer ein Mitspracherecht 88
a4
Die Verhinderung eines nuklearen Einsatzes war in der Tat das Hauptziel der Adenauersdien Politik in den ersten Jahren der NATO. Vgl. oben S. 14 f.
2 Mahndte
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bei der Festsetzung der Strafe hat, die dem potentiellen Angreifer zugemessen werden soll, kann die Abschreckung zweifelsfrei funktionieren. In einem Bündnis- oder Garantiepakt gerät diese Sicherheit ins Wanken, wenn die vom größeren Verbündeten repräsentierte nukleare Garantie aus dem einen oder anderen Grunde nicht mehr völlig glaubwürdig ist. Und dieser Faktor bildet die reale Grundlage und das auslösende Moment für das aktive deutsche Interesse an der nuklearen Mitwirkung.85 Die westeuropäische Verteidigung und Abschreckung beruht letztlich auf den strategischen Kernwaffen der Vereinigten Staaten. Die amerikanisdie Garantie war leicht aufrechtzuerhalten, solange die Sowjetunion den amerikanischen Kontinent nicht ernstlich bedrohen konnte. Mit der Entwicklung sowjetischer Interkontinentalraketen wurde das jedoch anders, und bei den Europäern regten sich Zweifel, ob ein amerikanischer Präsident die nukleare Verwüstung amerikanischer Städte riskieren würde, um Westeuropa zu verteidigen. Das Problem der Glaubwürdigkeit bestand darin, nicht nur die Europäer, sondern vor allem die Sowjetunion zu überzeugen, daß die Vereinigten Staaten Westeuropa, wenn nötig, auch mit strategischen Kernwaffen verteidigen würden. An Dringlichkeit gewann das Problem durdi die strategische Neuorientierung der Kennedy-Regierung in den Jahren 1961—62. Diese Überlegungen verfolgten zwar auf lange Sicht den Zweck, die Glaubwürdigkeit der amerikanischen Garantie zu erhöhen; aber in europäischen Augen schienen sie auf eine Herabstufung der Kernwaffen und eine Hinaufstufung der konventionellen Streitkräfte hinauszulaufen. Sie schienen, wenn nicht auf ein direktes nukleares Disengagement abzuzielen, so dodi die Möglichkeit eines langwierigen konventionellen Konflikts in Mitteleuropa in Betracht zu ziehen (und damit dessen Wahrscheinlichkeit zu erhöhen)." Es kann also gesagt werden, daß das deutsche Interesse an der nuklearen Strategie Ausdruck konkreter Sicherheitsbedürfnisse ist und nicht einfach politischen Nützlichkeitserwägungen entspringt. Allerdings: „In der Arena der Nuklearpolitik ist es schwierig, ein militärisches Objekt von einem Instrument der Politik zu unterscheiden.*"7 Gewiß haben auch die politischen Implikationen von Kernwaffen einen wichtigen Platz in der deutschen Nuklearpolitik. Hier soll nur auf das bedeutende Eigengewicht des Sicherheitselements hingewiesen werden: Die Politik der Bundesrepublik wurde stets in erster Linie an den Erfordernissen der Sicherheit orien35 38 57
Vgl. unten, S. 65 ff. Vgl. die ausführliche Erörterung dieser Frage unten, S. 93 ff. Robert E. Osgood, The Case for the MLF: A Critical Evaluation, Washington 1964, S. 2.
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tiert; wie schon angedeutet, bestand sogar die Neigung, politische Erwägungen zugunsten von Sicherheitserwägungen hintanzustellen.®8 Das soll nicht heißen, daß nicht in manchen Fällen Sicherheitserwägungen mit politischen Zielen verflochten oder gar identisch gewesen wären. So war es aus Gründen der nationalen Sicherheit für die Bundesrepublik wichtig, erstens mehr Einfluß auf die Kommandostruktur der Allianz zu gewinnen (da die Bundeswehr voll in die NATO-Struktur integriert war, war dies für die Deutschen der einzige Weg, im Kriegsfall über ihre eigenen Truppen verfügen zu können), zweitens die Allianz auf die Verteidigung Westdeutschlands festzulegen, da diese völlig von der Allianz abhängig war, und drittens sich vor einseitigen Veränderungen in der amerikanischen und damit der NATO-Strategie (wie 1956 und 1961—62) zu schützen, die sich negativ auf die Verteidigung der Bundesrepublik oder auf die Ziele der Bundeswehr auswirken konnten. Das waren Sicherheitsziele, aber es waren auch politische Ziele. Zwar waren sie nicht notwendigerweise mit der nuklearen Mitwirkung verbunden, doch wie sich zeigte, machte die Bundesrepublik zur Förderung dieser Ziele auch von der Nuklearpolitik Gebrauch. Der normale Weg, diese Ziele zu erreichen, bestand in einer Erhöhung des eigenen Einflusses, und dies konnte unter anderem durch Mitwirkung an nuklearen Angelegenheiten geschehen. Während aber Frankreich seine seit den frühen fünfziger Jahren stark verbesserte militärische und wirtschaftliche Position dadurch politisch auszunutzen suchte, daß es die Mitarbeit verweigerte oder mit ihrer Verweigerung drohte, hoffte die Bundesrepublik — die sich in abhängiger Lage befand, schon integriert war und der Rehabilitierung bedurfte — ihren Einfluß auf dem kollektiven Weg noch engerer Kooperation und Integration mehren zu können. Integration konnte Mitwirkung an nuklearen Angelegenheiten bedeuten, und derartige Mitwirkung bedeutete Einfluß — auf die Verteidigungspolitik, auf die nukleare Strategie im besonderen, auf die Truppenführung; und all das wiederum bedeutete Sicherheit. Die Entscheidung für den kollektiven Weg wurde also nicht nur von politischen Notwendigkeiten diktiert, sondern war auch militärisch und sicherheitspolitisch eine rationale Entscheidung und nicht bloß ein Versuch, auf Umwegen Zugang zu Kernwaffen zu erhalten." Sicherheitsbedürfnisse, politische Interessen und Nuklearpolitik waren stets eng miteinander verknüpft.
38 39
2*
Siehe oben, S. 1 ff. Siehe unten, S. 36 ff.
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2. D i e p o l i t i s c h e n
Interessen
Neben den Funktionen der Abschreckung und der Verteidigung werden militärische Machtmittel dazu verwendet, die Verfolgung außenpolitischer Ziele zu untermauern und zu unterstützen. Um festzustellen, in welcher Hinsicht Kernwaffen für die Bundesrepublik politisch relevant sein können, ist auf die theoretischen Aspekte von „Waffen und Einfluß" hinzuweisen. Der offenkundigste und unmittelbarste Nutzen des Besitzes militärisdier Macht liegt darin, daß man einen Gegner gewaltsam zwingen kann, etwas herzugeben — Territorium oder politische oder wirtschaftliche Vorteile. Von Hiroshima und Nagasaki abgesehen, ist dies niemals mit Kernwaffen versucht worden.40 Und tatsächlich haben die Kernwaffen eine ganz neue Dimension insofern eröffnet, als dieser Nutzen höchst fragwürdig geworden ist. Wenn nämlich der Gegner oder einer seiner Verbündeten ebenfalls Kernwaffen besitzt, kann die Vergeltung so massiv sein, daß der Angreifer kaum in den Genuß der Vorteile kommen wird, die zu erringen er sich vorgenommen hatte. Der politische Wert von Kernwaffen liegt vielmehr auf diplomatischem Gebiet: „Die Macht, Schaden zuzufügen, ist Macht am Verhandlungstisch. Sie auszunutzen, ist Diplomatie." 41 Butterfield weist darauf hin, daß Rüstung notwendig ist, nicht um Krieg zu führen, sondern um die erforderliche „diplomatische Zugkraft" zu sichern. Die dreißiger Jahre, so stellt er fest, haben gelehrt, „daß in einer Welt bewaffneter Staaten eine relativ unbewaffnete Nation nicht erwarten darf, sie könnte sich in Verhandlungen durchsetzen — so, als ob in menschlichen Dingen die Vernunft regierte". 42 Nun ist offenkundig, daß mit Kernwaffen ein besonderes diplomatisches Gewicht verbunden wird und die Meinung weit verbreitet ist, daß „eine Nuklearmacht — welcher Größe auch immer — stärkeren Einfluß hat. Seit 1945 hat sidi eine deutliche Zweiteilung der Staaten ergeben: eine ständig breiter werdende Kluft trennt nukleare und nicht-nukleare Mächte."43 Und während die Vorteile der militärischen Verwendung von Kernwaffen durch die gegnerische Vergeltung völlig aufgehoben werden können, wird die diplomatische Verwendung von Kernwaffen, d. h. der 40
41 42
43
Vgl. dazu Hans Speier, Force and Folly. Essays on Foreign Affairs and the History of Ideas, Cambridge, Mass. 1969, insbes. das Kapitel Soviet Atomic Blackmail and the Atlantic Alliance, S. 70 ff. Thomas C. Schelling, Arms and Influence, New Haven 1966, S. 2. H. Butterfield, The New Diplomacy and Historical Diplomacy in: H. Butterfield und M.Wight (Hrsg.), Diplomatic Investigations, London 1966, S. 181. Gustav Dänicker, Strategische Aspekte der Atomsperre, NZZ, 22. 3.1967.
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politische Gebrauch der Macht, Sdiaden zuzufügen, durdi die Macht des Gegners, gleichfalls Schaden zuzufügen, nicht unbedingt entwertet: „Der rein ,militärische' oder ,undiplomatische' Rückgriff auf gewaltsames Handeln hat es mit der Stärke, nicht mit den Interessen des Feindes zu tun; wer hingegen die Macht, Schaden zuzufügen, als Zwangsmittel gebraucht, nutzt unmittelbar feindliche Bedürfnisse und Befürchtungen aus. Und rohe Stärke findet ihr Maß gewöhnlich in der Stärke des Feindes, wobei die eine direkt gegen die andere steht, während die Macht, Schaden zuzufügen, durch die Macht des Feindes, ebenfalls Schaden zuzufügen, in der Regel nicht vermindert wird. Entgegenstehende Kräfte können einander aufheben, Schmerz und Leid nicht. Die Bereitschaft, Schaden zuzufügen, die Glaubwürdigkeit einer Drohung und die Fähigkeit, von jener Macht Gebrauch zu machen, hängen zwar davon ab, in welchem Maße der Gegner seinerseits Schaden zufügen kann; aber Schmerz oder Leid eines Gegners können den eigenen Schmerz und das eigene Leid wenig oder gar nicht verringern."44 Wichtig ist, daß früher zuerst die feindlichen Streitkräfte besiegt werden mußten, ehe die Macht erlangt wurde, der feindlichen Bevölkerung Schaden zuzufügen; daher war das militärische Kräfteverhältnis von entscheidender Bedeutung. Heute läßt sich der Satz umkehren: Der Bevölkerung kann Schaden zugefügt werden, noch ehe die feindlichen Streitkräfte besiegt sind; ihr kann sogar noch Schaden zugefügt werden, wenn die eigenen Streitkräfte besiegt sind.45 Wichtig ist audi der Unterschied zwischen der Macht, Schaden zuzufügen, und der Macht, etwas gewaltsam zu erobern oder festzuhalten. Hätte die Bundesrepublik zum Beispiel Zugang zu Kernwaffen, so könnte sie zwar die Sowjetunion in keiner Weise „besiegen", aber sie könnte ihr Schaden zufügen oder — im Falle eines kollektiven Arrangements — bei der Entscheidung, ihr Schaden zuzufügen, mitreden und mitwirken. Aus der Macht, mit Kernwaffen Schaden zuzufügen, kann mithin ein Staat diplomatischen Vorteil ziehen: wenn er Kernwaffen besitzt, wenn 44
45
Schelling, Arms and Influence, a.a.O., S. 3. Eine berechtigte Frage aber ist, in welchem Maße nukleare Waffen nur defensive Instrumente der Diplomatie sind und in welchem Maße sie aktiv-politisch eingesetzt werden können. Vermutlich lassen sich nukleare Waffen innerhalb eines Bündnisses gar nicht unmittelbar politisch einsetzen; sie geben dem Besitzer nur in begrenztem Maße einen höheren Status, der dann für die Erreichung politischer Ziele Vorteile bringt. Besonders deutlich wird das, wenn man den Status des nuklearen, aber wirtschaftlich zweitrangigen Frankreith mit dem Status der nichtnuklearen, aber wirtschaftlich erstrangigen Bundesrepublik vergleicht. Siehe dazu ebd., S. 21—23.
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er Einfluß auf den Einsatz von Kernwaffen hat, indem er mit dem Erwerb von Kernwaffen droht oder indem er den völligen Verzicht auf Kernwaffen als Handelsobjekt benutzt. Da der Bundesrepublik der nationale Besitz von Kernwaffen aus verschiedenen Gründen versagt ist46, muß für sie der diplomatische Wert von Kernwaffen in den zuletzt genannten Bereichen liegen. Der eine ist der Einfluß auf den Einsatz von Kernwaffen, entweder als Verfügungsgewalt, d. h. Einfluß auf den Feuerbefehl, oder als Planung, d. h. Einfluß auf die Umstände des Einsatzes (Größe, Zielräume, Bedingungen und Zeitplan).47 Der andere Bereich ist entweder die Drohung mit dem Erwerb von Kernwaffen oder umgekehrt, der diplomatische Gewinn, der aus einem endgültigen Verzicht gezogen werden könnte, d. h. aus der Aufgabe der Option, Kernwaffen zu erwerben. Für die Bundesrepublik hat das diplomatische Gewicht von Kernwaffen in der Bündnispolitik, vor allem gegenüber Frankreich und den Vereinigten Staaten, in der Frage der westeuropäischen Einigung und in der Frage der deutschen Wiedervereinigung eine Rolle gespielt. Kernwaffen und Bündnispolitik Mindestens bis Mitte der sechziger Jahre befand sich die Bundesrepublik in der N A T O in einer Position der Diskriminierung. Viel wichtiger als die ihr von der WEU auferlegten militärischen Einschränkungen war die politisch schwache Position der Bundesrepublik (die in der Tat eine militärische Gleichstellung verhinderte). Von Anfang an waren sämtliche Truppen der Bundesrepublik der N A T O voll assigniert; dabei hatten deutsche Offiziere nur wenige hohe Kommandoposten inne, und in der wichtigen „Standing Group" (Ständige Gruppe des Militärausschusses) war die Bundesrepublik überhaupt nicht vertreten. Diese Tatsachen als solche hatten mit Nuklearpolitik nichts zu tun. Die Probleme hätten sich durch die Politik der Integration lösen lassen, und diesen Weg schlug die Bundesrepublik denn auch ein. Aber auf zweierlei Weise wurden die Probleme mit der Nuklearpolitik verquickt. Zum einen: Der Entschluß Frankreichs, eine nationale Nuklearstreitmacht aufzubauen und sich mit Hilfe seines nuklearen Status eine Hegemonialposition in Westeuropa — besonders gegenüber der Bundesrepublik — zu sichern48, zeigte der Bundesrepublik, daß die Nuklearpolitik als ein zusätzliches Mittel dienen konnte, die Bundesrepublik zu diskriminieren 46 47 48
Vgl. unten, S. 43 ff. Vgl. unten, S. 57 ff. Vgl. Neriich, Die nuklearen Dilemmas, a.a.O., passim.
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und ihre schwache politische Position zu zementieren. Der Auszug Frankreichs aus der integrierten Organisation der Allianz steigerte zeitweilig sogar diese Befürchtung. Im Februar 1966 äußerte Bundeskanzler Erhard: „Der Gedanke, daß sich die NATO-Integration nur auf deutsches Gebiet beschränken soll, ist unannehmbar." 4 ' Der zweite Faktor, der die Nuklearpolitik und die politischen Fragen einer Allianzreform (im Sinne eines Abbaus der Diskriminierung der Bundesrepublik) miteinander verquickte, war die in den Vereinigten Staaten zwischen 1960 und 1963 zunehmende Uberzeugung, daß man der Bundesrepublik irgendeine Form von „nuklearer Teilhabe" oder Mitwirkung an nuklearen Angelegenheiten bieten müsse, um der Gefahr vorzubeugen, daß die Deutschen dem französischen Beispiel folgten.50 Gewiß, die Bundesrepublik gewann zuerst aus Sicherheitsgründen an einer nuklearen Mitwirkung Interesse. Aber die verschiedenen Formen nuklearer Mitwirkung, die in den frühen sechziger Jahren erwogen wurden, boten nicht nur eine Chance, die deutschen Sicherheitsbedürfnisse dadurch zu befriedigen, daß die amerikanische nukleare Garantie verstärkt wurde und daß die Bundesrepublik sogar ein Mitspracherecht bei der Einsatzplanung für Kernwaffen erhielt; sie boten auch eine Chance, die militärisch und politisch untergeordnete Stellung der Bundesrepublik im Bündnis anzuheben. Die Nuklearpolitik wurde so zu einem Instrument für die Bundesrepublik — einem Instrument, das ihr praktisch in die Hand gedrückt wurde, das sie aber zu benutzen gewillt war, sobald sie Klarheit über die politischen Implikationen der Kernwaffen gewonnen hatte. Das soll nicht heißen, daß die Deutschen nun anfingen, diese Waffen um ihrer selbst willen zu begehren oder etwa wegen des Prestiges, den man sich von einer nuklearen Beteiligung erhoffte; vielmehr wurde ihnen bewußt, wie Kernwaffen und die mit ihnen verbundene Politik auf sehr spezifische außen- und innenpolitische Interessen einwirken können. Eines dieser Interessen ist die Gleichheit in der innereuropäischen Politik und die Nichtdiskriminierung in der Bündnispolitik. Der Wunsch der Bundesrepublik nach Gleichheit in der innereuropäischen Politik und besonders in ihrem Verhältnis zum nuklearen Frankreich bedeutete nie — darauf hat mehr als ein Beobachter hingewiesen —, daß die Bundesrepu4'
50
Zitiert in Diane A. Kressler, Germany, N A T O and Europe, in: Orbis, Bd. X , Nr. 1, S. 230. Vgl. unten, S. 148 ff. Diese amerikanische Oberzeugung legte denn audi den Grundstein für die spätere deutsche Einstellung, daß ein endgültiger Kernwaffenverzicht erst nadi einer Lösung der nuklearen Frage im Bündnis ausgesprochen werden könnte (vgl. unten, S. 231 ff.).
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I. Kapitel.
Die
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blik Kernwaffen besitzen oder audi nur direkten Zugang zu ihnen haben müsse, sondern er bedeutete, daß die Bundesrepublik wegen ihres nichtnuklearen Status nicht zum politischen Spielball ihrer mächtigeren Bundesgenossen werden dürfe: „Dabei ist der entscheidende Punkt nicht die nukleare ,Ungleichheit' im Vergleich zu anderen mittleren Mächten, die nukleare Waffen verfügbar haben — sie könnte unter Umständen sogar durchaus im deutschen Interesse sein —, sondern daß von anderen, das heißt in erster Linie Frankreich, der Besitz von Atomwaffen maditpolitisch auf Kosten der Bundesrepublik ausgebeutet wird und der nichtnukleare Status der Bundesrepublik in diskriminierender Weise fixiert werden soll."51 Sollte dies geschehen, so fürchteten manche, könnte deutsdies Ressentiment eines Tages einer deutschen Imitation des gaullistischen Nationalismus Platz machen, mit all der Instabilität, die eine solche Entwicklung nach sidi ziehen würde. Die teilweise entgegengesetzten Kurse, die Frankreich und die Vereinigten Staaten verfolgten — Frankreich ließ keinen Zweifel daran, daß es an einem nichtnuklearen Deutschland interessiert ist52, während die USA dafür eintraten, der Bundesrepublik in der einen oder anderen Form eine nukleare Mitwirkung einzuräumen —, haben die Bundesrepublik häufig in eine schwierige Lage gebradit und sogar das Schreckgespenst einer „Wahl" zwischen Paris und Washington heraufbeschworen.5* Theoretisch hätte dies der Bundesrepublik zu größeren diplomatischen Einflußmöglichkeiten verhelfen können, aber in der Praxis verengte es ihren Spielraum nur noch mehr.54 Kernwaffen und westeuropäische Integration Die nukleare Diplomatie ist für die Bundesrepublik nicht nur in den innereuropäischen Beziehungen wichtig; sie hat auch eine Rolle im Hinblick auf das für die Bundesrepublik bedeutsame Ziel der westeuropäischen Integration gespielt. Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens brachte Frankreich selbst gelegentlich die Nuklearpolitik mit der europäischen S1 eî
85 54
Neriich, Die nuklearen Dilemmas, a.a.O., S. 650—651. In dieser Hinsidit hat Frankreich wiederholt seine Übereinstimmung mit der Sowjetunion bewiesen; so z.B. während eines Besuchs des sowjetischen Außenministers Andrej Gromyko in Paris im Sommer 1965 (vgl. Neriich, ebd.). Auch die französische Politik zur Nichtverbreitung von Kernwaffen ist konsequent von dieser Position ausgegangen. Besonders sichtbar wurde die Opposition gegen einen Zugang der Bundesrepublik zu Nuklearwaffen im November/Dezember 1964 in dem französischen Widerstand gegen die MLF (vgl. unten, S. 183 ff.). Siehe dazu ζ. B. Besson, Außenpolitik der Bundesrepublik, a.a.O., S. 310 ff. Nerlich, Die nuklearen Dilemmas, a.a.O., S. 650.
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Integration in Verbindung, indem es erklärte, weitere Fortschritte der politischen Integration hingen vom Zustandekommen einer gemeinsamen Verteidigungspolitik ab. Auf der Grundlage einer solchen gemeinsamen Verteidigungspolitik wollte sich Frankreich als einzige westeuropäische kontinentale Nuklearmacht eine permanente Hegemonialstellung sichern.5* Zweitens aber müßte die politische Integration Westeuropas letzten Endes natürlich eine Integration der Verteidigung mit sich bringen — die wiederum die nuklearen Erfordernisse nicht ignorieren könnte. In der Vergangenheit wurden diese Faktoren oft im umgekehrten Verhältnis gesehen: Man betrachtete die Erfordernisse einer gemeinsamen Verteidigungspolitik als förderlich für die schrittweise Herstellung der politischen Einheit. Bei beiden Betrachtungsweisen aber waren die Fragen der westeuropäischen Integration und der nuklearen Verteidigung eng miteinander verknüpft. Kernwaffen und Wiedervereinigung Der dritte politische Interessenbereich der Bundesrepublik, der von der Nuklearpolitik berührt wurde, ist die Frage der deutschen Wiedervereinigung. Dabei ging es um das Verhältnis zur Sowjetunion und zu Osteuropa einerseits und zu den westlichen Verbündeten andererseits. i) Die Sowjetunion und Osteuropa: Bis zum Ende der sechziger Jahre beschwor die Sowjetunion das Gespenst des deutschen Revanchismus in Verbindung mit einem deutschen Erwerb von Kernwaffen herauf, um erstens die osteuropäischen Staaten enger an die sowjetische Sicherheitsgarantie zu binden und zweitens gleichzeitig Vereinbarungen über Rüstungskontrolle mit dem Westen auf der Grundlage einer Formalisierung des politischen Status quo in Deutschland zu erreichen. Die Bundesrepublik hielt demgegenüber bis weit in die sechziger Jahre hinein daran fest, daß Abrüstungs- und Rüstungskontrollmaßnahmen in Mitteleuropa mit Fortschritten in Richtung auf die deutsche Wiedervereinigung gekoppelt sein müßten. 56 Im Hinblick auf Kernwaffen bedeutete dies, daß die Bundesrepublik den endgültigen und vollständigen Verzicht auf Kernwaffen als ein Handelsobjekt ansah, für das sie Konzessionen in der deutschen Frage beanspruchen könne: Wenn die Sowjetunion so außerordentlich daran interessiert war, die Bundesrepublik von Kernwaffen fernzuhalten, dann sollte sie für eine derartige Zusicherung eine Gegenleistung 55 56
Ebd., S. 640 und 650. Vgl. dazu Thomas Jansen, Abrüstung und Deutsdilandfrage. Die Abrüstungsfrage als Problem der deutsdien Außenpolitik, Mainz 1968.
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erbringen. So stellte ein deutscher Beobachter noch im Jahre 1965 fest, daß die Bundesrepublik Versuchen begegnen müsse, „die auf eine de facto Denuklearisierung der Bundesrepublik oder eine Formalisierung des nichtnuklearen Status der Bundesrepublik hinauslaufen und die dabei die Verbindung zwischen dem Nichtbesitz von Nuklearwaffen und der Unterstützung der Wiedervereinigungspolitik auflösen und unter Umständen sogar praktisch auf eine Formalisierung der Teilung Deutschlands hinauslaufen. Die einzige politisch akzeptable Möglidikeit für die Bundesrepublik wäre ein Abkommen, das Schritte zur Denuklearisierung mit Schritten zur Wiedervereinigung verbinden würde." 5 7 Hier wurden also die „Hintertüren" des Verzichts von 1954 5 8 sowie die latente Möglichkeit eines Kernwaffenerwerbs durdh die Bundesrepublik politisch bedeutsam. Das geschah nicht durch Forderungen nadi nationalen Kernwaffen oder durch eine Politik nationaler Nuklearisierung, sondern dadurch, daß anfangs eine nukleare Mitbestimmung im Rahmen der Allianz verlangt wurde und daß in einem späteren Stadium betont wurde, zumindest die Option einer gemeinsamen (westeuropäischen) nuklearen Streitmacht müsse offen bleiben. Zu Anfang der sechziger Jahre glaubten viele, nur der Zugang zu Kernwaffen verleihe Großmachtstatus, und nur eine Großmacht könne ihre politischen Ziele wirksam verfolgen. Für Frankreich bedeutete das nationale Nuklearisierung; für die Bundesrepublik bedeutete es — vielleicht als letzte Konsequenz der „Politik der Stärke" 5 ' — nukleare Mitbestimmung. Manche Deutsche glaubten, die Bundesrepublik brauche den Einfluß und Status einer Großmacht, um das Ziel der Wiedervereinigung mit der nötigen „diplomatischen Zugkraft" anstreben zu können. Im Juni 1965 sagte beispielsweise der damalige Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier in einer Rede im Düsseldorfer Rhein-Ruhr-Club, die Bundesrepublik brauche den gleichen Status wie Frankreich und Großbritannien. Das sei keineswegs ardiaischer Nationalismus, betonte Gerstenmaier, denn nur mit einem solchen Rang könne die Bundesrepublik einen angemessenen materiellen und geistigen Beitrag zur Sicherheit der Allianz leisten. Und nur mit dem Rang einer größeren Macht könne sie ihren Anspruch auf deutsche Wiedervereinigung wirkungsvoll vertreten. 90 Das Hauptargument gegen diesen Standpunkt lautete, ein wiedervereinigtes Deutschland mit Kernwaffen sei bestimmt weder für die Sowjet67 58 59 M
Nerlidi, Die nuklearen Dilemmas, a.a.O., S. 649. Siehe auch unten, S. 232 f. Siehe oben, S. 4 ff. Vgl. oben, S. 4. Bericht in: Die Welt, 26. Juni 1965.
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Interessen
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union nodi für die westlichen Verbündeten annehmbar. Der amerikanische Senator Frank Church drückte es so aus: „Der Preis, den das deutsche Volk für die deutsche Wiedervereinigung wird zahlen müssen, wird sicherlich den Verzicht auf Kernwaffen einschließen."'1 Diese Einschätzung muß als richtig angesehen werden, vorausgesetzt, daß die Wiedervereinigung in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren überhaupt eine realistische Option war. Hätte die Bundesrepublik Zugang zu Kernwaffen erlangt, so hätte dies nicht nur den Widerstand der Sowjetunion gegen eine Wiedervereinigung versteift, sondern auch das Widerstreben im Westen verstärkt und in Frankreich und Großbritannien sogar unverhüllte Opposition hervorgerufen. In diesem Sinne wurde argumentiert, daß ein nuklearer Mitbesitz der Bundesrepublik zwar deren politisches Gewicht erhöhen, aber noch weit mehr die einer Wiedervereinigung entgegenstehenden Hindernisse vergrößern werde. Als jedoch die Aussichten auf eine gemeinsame Nuklearstreitmacht der N A T O schwanden und die Frage der Nichtverbreitung von Kernwaffen immer mehr in den Vordergrund trat 62 , verlagerten sich die Akzente der deutschen Politik. Gegenüber dem Westen betonte man die Option einer gemeinsamen Nuklearstreitmacht, um eine Lösung der nuklearen Fragen in der N A T O voranzutreiben. Dem Osten präsentierte man die Option, die der Produktionsverzicht von 1954 offengelassen hatte — mit anderen Worten: den endgültigen und vollständigen Verzicht auf Kernwaffen —, als Tauschobjekt für sowjetische Zugeständnisse in der deutschen Frage. 63 Die „Option" für eine gemeinsame europäische oder atlantische Streitmacht vermied, so meinte man, die Nachteile eines tatsächlichen nuklearen Mitbesitzes, wahrte aber die Möglichkeit des Zugangs und damit den Tauschwert des völligen Verzichts. (Zugleich vermied sie die Konsolidierung des nichtnuklearen Status der Bundesrepublik für den Fall, daß weder die Wiedervereinigung erreicht noch die Sicherheitsbedürfnisse der Bundesrepublik in der Allianz befriedigt würden.) Natürlich war der Tauschwert der Option stets fragwürdig: Der Wert eines Versprechens, auf etwas zu verzichten, was man nicht hat und wahrscheinlich auch nicht bekommen wird, erscheint nicht sehr groß. Eine weitere Schwäche lag darin, daß — angesichts der schwachen und exponierten politischen Position der Bundesrepublik — die Betonung der Option als Bekundung einer Absicht gedeutet werden konnte. Jedenfalls wurde sie 61
62 63
Frank Churdi, United States Policy and the New Europe, in: Foreign Affairs, Oktober 1966, S. 56. Siehe unten, S. 209 ff. Ebd.; vgl. auch Nerlidi, Die nuklearen Dilemmas, a.a.O., S. 648.
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vom Osten in diesem Sinne propagandistisch ausgeschlachtet, und damit brachte sie all die Nachteile, die das Streben nach einer gemeinsamen N u klearstreitmacht auch nach sich gezogen hatte, ohne einen der erhofften Vorteile zu erbringen.' 4 ii) Die westlichen Verbündeten: Die Bundesrepublik hat stets die U n terstützung ihrer westlichen Verbündeten als Voraussetzung und Grundlage jeglicher Ostpolitik betrachtet. Bis in die sechziger Jahre bedeutete das allerdings wenig mehr als die im wesentlichen verbale Unterstützung des Ziels der deutschen staatlichen Wiedervereinigung.®* Zwischen der westlichen Unterstützung dieses Ziels und der Nuklearpolitik der Bundesrepublik bestand ein zweifacher Zusammenhang. Erstens: Der 1954 ausgesprochene Verzicht auf die Herstellung von Kernwaffen fiel zusammen mit dem Eintritt der Bundesrepublik in die N A T O und den Verpflichtungen der Verbündeten, die deutsche Wiedervereinigung zu unterstützen und die westdeutsche Regierung als die einzige rechtmäßige deutsche Regierung anzuerkennen, die legitimiert sei, in internationalen Angelegenheiten für alle Deutschen zu sprechen.88 Wie immer es damals um das genaue gegenseitige Verhältnis dieser Verpflichtungen stehen mochte, jedenfalls wurde der Nordatlantikpakt in der Folge nicht nur als Sicherheitspakt betrachtet, sondern auch als ein politisches Bündnis zum Zweck, die Kräfte des Westens für das Ziel der deutschen Wiedervereinigung einzuspannen.67 Fritz Erler formulierte prägnant: . . unsere westlichen Verbündeten müssen zur Unterstützung der Lebensinteressen Deutschlands fest an unserer Seite stehen. Tun sie das nicht, so wird das Bündnis seine Anziehungskraft für Deutschland verlieren."' 8 Ein zweiter Zusammenhang zwischen Nuklearpolitik und westlicher Unterstützung der Wiedervereinigung wurde von Frankreich hergestellt: Es machte seine Unterstützung der deutschen Wiedervereinigung davon abhängig, daß sich die Bundesrepublik der Teilnahme an militärischen nuklearen Projekten enthielt." M
Dazu Neriich, Die nuklearen Dilemmas, a.a.O., S. 649.
65
Vgl. Fritz Erler, The Alliance and the Future of Germany, in: Foreign Affairs, April 1965, S. 440. Siehe oben, S. 7.
M
"
•8 M
Dieses läßt sich deutlich aus den Tagungen des NATO-Rats erkennen: Zusätzlich zu den Sicherheitsfragen enthielt das Schlufikommuniqué viele Jahre hindurch immer einen Absatz zur Deutschland-Frage. Vgl. dazu auch Hans Speier, Deutschlands Stellung in der amerikanischen Außenpolitik, in: Wehrkunde, Februar 1966, S. 59—71. Erler, The Alliance and the Future of Germany, a.a.O., S. 446. Siehe dazu Neriich, Die nuklearen Dilemmas, a.a.O., S. 639 und 649.
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Darüber hinaus benutzte die Bundesrepublik viele Jahre lang die nukleare Frage als ein Instrument, um gegen ihre Diskriminierung in der Allianz anzukämpfen und ihren Einfluß innerhalb der NATO (und damit indirekt auch gegenüber der Sowjetunion) zu verstärken. Zur Zeit der Schaffung der Nordatlantikpakt-Organisation war die Macht der Vereinigten Staaten überwältigend, und die westeuropäischen Staaten waren völlig von ihnen abhängig, so daß die USA ein politisches und militärisches Übergewicht im Bündnis erlangten. Die kleineren Länder und die USA waren mit dieser Lage zufrieden; aber Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland wünschten mit zunehmender wirtschaftlicher und militärischer Stärke eine entsprechend größere politische Rolle. Doch selbst Frankreich meinte damit zunächst nicht unbedingt nukleare Rüstung. Erst als seine politischen Bestrebungen durch die eigene militärische Ohnmacht und Abhängigkeit vereitelt worden waren (wie in der Suez-Krise 1956) und erst nachdem die Vereinigten Staaten seinen Reformvorschlägen die kalte Schulter gezeigt hatten (so ζ. B. Präsident Eisenhowers Reaktion auf den französischen Vorschlag, für die NATO ein Dreier-Direktorium aus den USA, Großbritannien und Frankreich zu bilden), kam Präsident de Gaulle zu der Auffassung, daß eine französische Nuklearrüstung und die Nichtmitarbeit in der militärischen Organisation der Allianz der Weg zu Gleichheit und unabhängiger Politik seien. Viele sahen eine latente Möglichkeit, daß die Bundesrepublik aus ähnlichen Gründen danach streben könnte, sich auf eigene Faust oder in Zusammenarbeit mit Frankreich Kernwaffen zu verschaffen.70 Nicht zuletzt erblickte man hier eine Analogie zu der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen: Als der Völkerbund keine Abrüstung zuwege brachte, die den diskriminierenden und demütigenden Charakter der Deutschland auferlegten Rüstungsbeschränkungen gemildert hätte, rüstete Deutschland schließlich wieder auf. So bemühte sich die Bundesrepublik lange, mit Hilfe der Militärpolitik in Friedenszeiten politische Ziele zu erreichen, nämlich: die Diskriminierung zu vermindern, die Gleichheit zu erlangen und die deutsche Frage offenzuhalten. Im Gegensatz zu Frankreich wurde das Instrument jedoch kollektiv gehandhabt; die Bundesrepublik strebte nicht nach nationaler nuklearer Autonomie, sondern nach kollektiver nuklearer Mitbestimmung. Ein Beobachter schrieb damals: „ . . « mag es de Gaulle noch so gut gelingen, Frankreichs nukleares Programm in nationalen Einfluß und nationales Prestige umzusetzen — Deutschland könnte durch Auftrump70
Siehe unten, S. 148 ff.
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fen mit seinen Kernwaffen keine nationale Identität und keinen nationalen Status gewinnen, ohne das ganze europäische Gleichgewicht und wahrscheinlidi auch den Zusammenhalt der deutschen Gesellschaft zu zerstören. Die Deutschen sind sich dieser Zwangslage voll bewußt und ebenso besorgt darum, nicht die Schleusen ihres eigenen Nationalismus zu öffnen."71 Die deutsche Politik mußte zurückhaltend und kollektiv sein. Die Bundesrepublik wurde so zum „Vorkämpfer der Interdependenz und Integration"; sie suchte „auf kollektivem Wege jene Macht zu gewinnen, die sie auf eigene Faust nicht zu erstreben wagte"." Die Nuklearpolitik war nur eines der benutzten Instrumente; man hielt sie nicht für den einzigen Weg, politische Gleidiheit zu erreichen, manchmal allerdings für den besten. 3. D i e w i r t s c h a f t l i c h e n
Interessen
Der Vollständigkeit halber müssen hier kurz die wirtschaftlichen Faktoren erwähnt werden, die ein deutsches Interesse an nuklearen Angelegenheiten förderten. Für die militärische Problematik und die Frage der nuklearen Mitbestimmung spielten sie zwar keine direkte Rolle; doch erlangten sie ein gewisses Gewidit, als 1967 in der deutschen Politik die Auseinandersetzung um den Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen begann.7® Zwei große Interessensphären sind zu unterscheiden. Zum einen geht es um die Herstellung von Kernwaffen und das daraus resultierende „spinoff", d. h. die Methoden, Techniken, Kenntnisse und Fertigkeiten, die bei der militärischen Nuklearproduktion entwickelt werden, die auch in der 71 72 78
Osgood, MLF, a.a.O., S. 39. Ebd. Vgl. zu dieser Problematik Willy Brandt, Zum Atomsperrvertrag. Reden und Erklärungen sowie Dokumente zur Genfer Konferenz, zum NV-Vertrag und zum europäischen Sicherheitssystem, Berlin 1969; Georges Fischer, La non-prolifération des armes nucléaires, Paris 1969; Günter Howe, Kriegsverhütung und Friedensstrukturen. Eine Studie über den Vertrag zur Nichtverbreitung von Kernwaffen, Gütersloh 1968; Otto Kimminich, Völkerrecht im Atomzeitalter. Der Atomsperrvertrag und seine Folgen, Freiburg/Br. 1969; Arnold Kramish, Die Zukunft der Nichtatomaren. Zur Situation nach dem Kernwaffensperrvertrag, Opladen 1970; International Negotiations on the Treaty on the Nonproliferation of Nuclear Weapons, Washington, U. S. Arms Control and Disarmament Agency 1969; Nichtverbreitung von Kernwaffen. Ein Problem der Friedenssicherung, Witten 1968; Alexander Petri, Die Entstehung des NV-Vertrages. Die Rolle der Bundesrepublik Deutschland, Tübinger Dissertation 1970; Preventing the Spread of Nuclear Weapons, hrsg. von C. F. Barnaby (Pugwash Monograph 1), London 1969; Michael E. Sherman, Nuclear Proliferation. The Treaty and After, Toronto 1968.
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industriellen Produktion für friedliche Zwecke anwendbar sind und die einem Lande entgehen, das keine Kernwaffen herstellt. Es scheint jedoch, daß das „spin-off" mit zunehmender Differenzierung der Nuklearindustrie geringer wird. Außerdem bringt die direkte Verwendung begrenzter Ressourcen in der friedlichen nuklearen Entwicklung wahrscheinlich bessere Ergebnisse als der Umweg über eine Kernwaffenindustrie. Ein Vergleich zwischen Frankreich und Großbritannien einerseits, die beide Kernwaffenindustrien besitzen, und der Bundesrepublik andererseits scheint dies zu bestätigen: Die Bundesrepublik hat durch eine große Kraftanstrengung in kurzer Zeit eine der führenden Reaktorindustrien der Welt entwickelt, die auf gleichem Fuß nicht nur mit der französischen und britischen, sondern sogar mit der amerikanischen Reaktorindustrie konkurrieren kann. Hier nun kommt die zweite Sphäre ins Spiel. Eine nukleare Industrie, d. h. die Anwendung von Kernenergie und Kernstrahlung für friedliche Zwecke, gewinnt in einer Welt der ökonomischen Entwicklung immer größere Bedeutung; in der Tat wird in diesem Bereich eine der wesentlichen Zukunftsindustrien gesehen. Da gerade die mittleren Mächte, zu denen die Bundesrepublik zu rechnen ist, in dem Ausbau ihrer Industrie und ihres Handels den bedeutendsten Weg zu internationalem Rang und Einfluß sehen74, sind in der Vergangenheit Verbindungen zwischen wirtschaftlichen Interessen und nuklearer Politik unvermeidlich gewesen. Dieser Zusammenhang wurde während der Verhandlungen um den Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen in den Jahren 1967 bis 1970 besonders deutlich: Einerseits muß die Kontrolle bei einer hochentwickelten nuklearen Industrie für friedliche Zwecke relativ genau sein, um wirksam sein zu können, andererseits beschwört das aber die Gefahr der Industriespionage herauf.
C. Der Stil
Ein grundlegendes Merkmal der deutschen Nuklearpolitik war stets ihr passiver Charakter. Trotz der vielen Interessen, die im Spiele waren, war sie fast durchweg eine Politik der Reaktion auf Vorschläge von außen, eine Politik der Konsultation und Zusammenarbeit, nicht der eigenen Initiative. 74
Vgl. dazu Mittlere Mächte in der Außenpolitik, hrsg. vom Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Opladen 1969.
I. Kapitel. Die Grundlagen
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Dafür waren mehrere Faktoren bestimmend. In ihren ersten Jahren war die Bundesrepublik im Innern vollauf mit dem wirtschaftlichen und politischen Wiederaufbau, dem Streben nach wirtschaftlicher und politischer Stabilität beschäftigt, während die außenpolitischen Hauptziele Sicherheit und Erlangung der vollen Souveränität hießen. Solange diese grundlegenden innen- und außenpolitischen Ziele nicht erreicht waren, war kaum an irgend etwas anderes zu denken. Zudem schien die Frage der nuklearen Sicherheit, soweit sie sich damals überhaupt stellte, durch die amerikanische Garantie hinreichend geregelt. Aber auch nachdem die Alliierten 1955 dem westdeutschen Staat die volle Souveränität gewährt hatten, nachdem der wirtschaftliche Aufschwung gesichert war und die politischen Institutionen sich etabliert hatten, machten sich die Deutschen weniger Sorgen um Kernwaffen als vielmehr darum, wie sich die Wiederbewaffnung in sozialer Hinsicht und auf die Chancen für die Wiedervereinigung auswirken würde. Viele Deutsche waren gegen die Wiederaufrüstung so kurz nach einem katastrophalen Krieg, und viele — besonders in der SPD — glaubten, sie werde die Aussichten auf Wiedervereinigung schwer beeinträchtigen. Die Opposition wurde besonders heftig, als die Bundesregierung in Anpassung an die N A T O - P l ä n e die Bundeswehr mit Trägerwaffen für atomare Sprengköpfe ausrüstete und der Stationierung von alliierten Sprengköpfen auf deutschem Boden zustimmte. N u r durch geschickte taktische Manöver konnte die Regierung ihre Vorhaben im März 1958 realisieren.75 Aber die Inanspruchnahme durch innenpolitische Probleme und das Widerstreben gegen die deutsche Wiederbewaffnung waren nicht die einzigen Faktoren, die die deutsche Politik in der Kernwaffenfrage bestimmten. Lange bevor der Beschluß, die Bundeswehr mit atomaren Trägerwaffen auszurüsten, den Bundestag passiert hatte, trat ein weiterer bestimmender Faktor ins Blickfeld: die außenpolitische Umwelt. Der Gedanke, der Bundesrepublik Zugang zu Kernwaffen zu verschaffen, stieß allenthalben auf schärfste Opposition, nicht nur bei der Sowjetunion, die begonnen hatte, für den polnischen Rapacki-Plan einer neutralen und kernwaffenfreien Zone in Mitteleuropa einzutreten, sondern auch im Westen, speziell bei Großbritannien und Frankreich. Neriich schreibt: „Wiederum wurde das ,eingebaute' deutsche Dilemma offensichtlich: Es war der Bundesregierung schwergefallen, sich der neuen NATO-Strategie anzupassen und sich auf eine Ausrüstung der Bundeswehr mit Trägerwaffen umzustellen. Als dieser Schritt aber vollzogen war, wurden alle 76
Vgl. oben, S. 12 ff.
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deutschen Bemühungen, die NATO-Planungen im Bereich der Bundeswehr zu verwirklichen, von dem Mißtrauen der meisten Verbündeten begleitet und nicht selten als Versuch hingestellt, direkten Zugang zu Atomwaffen zu erreichen."7* Es ist die Kombination einer belastenden historischen Hypothek — zu der nicht nur die Niederlagen in zwei Kriegen und die Schrecken des Nationalsozialismus, sondern auch die diplomatischen Hypotheken der beiden Vorkriegsperioden gehören — mit potentieller Stärke, die ein so heftiges Mißtrauen gegen Deutschland in Ost und West erzeugte, ein Mißtrauen, das besonders akut wird, wenn es um militärische Dinge geht. Hinzu kommt, daß ein Erwerb von Kernwaffen durch die Bundesrepublik sehr reale politische Interessen in der Frage des europäischen Mäditegleichgewidits berühren würde, die auf lange Sicht noch bedeutsamer sind als jenes Mißtrauen. Der Zustand der Diskreditierung, in dem sich die Bundesrepublik befand, eine Konstellation von Kräften in Europa und Amerika, die sich fast sicher vereinigt hätten, sobald die Bundesrepublik Initiative zur Gewinnung von Zugang zu Kernwaffen entwickelt hätte, dazu die komplexen Implikationen dieser Lage für das Problem der Wiedervereinigung — das alles veranlaßte die Bundesrepublik, in allen Fragen, die Kernwaffen betrafen, nahezu immer eine sehr reservierte Haltung einzunehmen. Die Notwendigkeit, in der internationalen Gemeinschaft Ansehen und Vertrauen zurückzugewinnen77, die militärisch äußerst exponierte Lage der Bundesrepublik (mit der daraus folgenden militärischen Abhängigkeit von den Verbündeten), die Entscheidung, das Los der Bundesrepublik an die nordatlantische Allianz zu binden (mit der daraus folgenden politischen Abhängigkeit von den Verbündeten), und schließlich die weitgehende Integration der Bundesrepublik in die NATO prädisponierte die Bundesrepublik geradezu, auf dem kollektiven Weg nach militärischer Sicherheit und politischem Einfluß zu streben. Es gibt keinen Beleg dafür, daß jemals ein offizielles deutsches Interesse an selbständiger Verfügungsgewalt über Kernwaffen bestanden hätte. In den Jahren 1954 bis 1970 nahm die Bundesrepublik in der Nuklearpolitik stets eine kollektive Haltung ein: Sie befürwortete ein gemeinsames Vorgehen in der NATO oder mit einer Gruppe von NATO-Staaten, und nur in zwei vereinzelten, wenig ernstzunehmenden Fällen erklärte sie sich bereit, bilateral mit den Vereinigten Staaten bzw. mit Frankreich zusammen7,1 77
3
Neriich, Die nuklearen Dilemmas, a.a.O., S. 642. Adenauer erkannte ganz richtig, daß das die Voraussetzung jeglichen außenpolitischen Spielraums für die Bundesrepublik war. Mahndte
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zuarbeiten. 78 Und audi noch innerhalb dieser kollektiv orientierten Politik war die Haltung passiv: Fast ausnahmslos verfuhr die Bundesrepublik so, daß sie andere ermunterte, Vorschläge für kollektive Lösungen zu machen, und diese dann unterstützte. Das blieb auch so, als die internationalen Voraussetzungen einer eigenständigen Politik gegeben waren, d. h., nachdem die Bundesrepublik wirtschaftliche Stärke, politische Stabilität und einen gewissen diplomatischen und militärischen Status gewonnen hatte; es blieb sogar so, nachdem die Bundesrepublik durch die abnehmende Glaubwürdigkeit der amerikanischen Nukleargarantie und durch das Beispiel des französischen Nuklearprogramms mit seinen Implikationen für das innereuropäische Machtgleichgewicht deutliche äußere Anreize erhalten hatte, aktiver zu werden. Mißtrauen, Abhängigkeit und nicht zuletzt die aufrichtige Überzeugung von der Richtigkeit des kollektiven Wegs (der auch militärisch am sinnvollsten war) engten so die deutsche Politik ein und machten sie zu einer im großen und ganzen passiven Politik. Das soll natürlich nicht heißen, daß die Bundesrepublik nicht in einigen Fällen ihre Interessen in der Nuklearpolitik aktiv verfolgt hätte. Aber das geschah eben dergestalt, daß sie die Initiativen anderer unterstützte. Und selbst das hatte seine Schwierigkeiten. U m realen Druck ausüben zu können, hätte die Bundesrepublik über gewisse Sanktionen verfügen müssen. Was wirtschaftliche Sanktionen betraf, so waren ihre Möglichkeiten sehr begrenzt, besonders im Hinblick auf die Stationierungskosten der ausländischen Truppen auf deutschem Boden und das Interesse der Bundesrepublik an der fortdauernden Präsenz dieser Truppen. Eine politische Sanktion existierte gar nicht: Die Alternative eines „Rapallo" mit der Sowjetunion hatte Adenauer ausgeschlossen, und die Möglichkeit bilateraler Zusammenarbeit mit Frankreidi war von diesem Land verneint worden; sie war auch vom deutschen Standpunkt aus nicht wünschenswert.7* Die Sanktion eines „Alleingangs" war schwach; alle oben erwähnten Gründe — Mißtrauen, Abhängigkeit, Teilung und natürlich der Verzicht von 1954 — sprachen gegen sie. Dennoch w a r es gerade diese Alternative (neben der Möglichkeit bilateraler nuklearer Kooperation mit Frankreich), die, vor allem in der Sicht der Vereinigten Staaten, der 78
'·
Diese beiden Fälle waren der Versuch von Strauß, im Jahre 1957 eine Vereinbarung über die nukleare Zusammenarbeit mit Frankreidi zustande zu bringen, und der Vorschlag Erhards aus dem Sommer 1964, mit den Vereinigten Staaten bilateral eine nukleare Streitmacht aufzubauen; vgl. unten, S. 50 f. und S. 177 ff. Vgl. unten, S. 49 ff.
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Bundesrepublik etwas wie einen Trumpf in die Hand gab.80 Verständlicherweise mußte diese Karte äußerst bedachtsam ausgespielt werden, da das Mißtrauen gegen Deutschland mit all seinen negativen politischen Auswirkungen immer latent vorhanden war, und natürlich bestand keine Absicht und konnte keine bestehen, etwa von dem Verzidit aus dem Jahre 1954 abzurücken. Die Trumpfkarte erhielt also einerseits Gewicht durch Deutschlands Vergangenheit und durch sein Potential; auf der anderen Seite konnte sie, wenn unvorsichtig ausgespielt, aus eben diesen Gründen das Gegenteil des gewünschten Effekts erzielen. Obwohl die Bundesrepublik kein wirkliches Interesse am selbständigen Erwerb von Kernwaffen oder an der selbständigen Verfügungsgewalt über sie hatte, und obwohl sie auch keine reale Alternative zum kollektiven Weg besaß, waren derartige Befürchtungen im Westen das Hauptmotiv für die Suche nach einer kollektiven nuklearen Lösung. Und aus diesem Grunde verzichteten die Deutschen manchmal darauf, sich zu solchen Befürchtungen, wenn sie laut wurden, zu äußern. Nur Franz Josef Strauß, Bundesverteidigungsminister von 1956 bis 1962, war bereit, mit verschiedenen indirekten und mehr oder weniger subtilen Andeutungen81 noch einen Schritt weiter zu gehen. Diese Äußerungen, verbunden mit dem Eindruck seiner energischen Persönlichkeit, brachten ihn (und die Bundesrepublik) bald in den Ruf, unabhängigen Zugang zu Kernwaffen zu wünschen. Für die Bundesrepublik kann dieser Wunsch ausgeschlossen werden. Was Franz Josef Strauß betrifft, so kann er weder definitiv ausgeschlossen noch definitiv als erwiesen angenommen werden. Für beide jedoch gilt: Da einerseits das militärische und politische Gewicht der Bundesrepublik zunahm, sie aber andererseits abhängig und diskriminiert blieb, ungenügenden Einfluß in der Allianz hatte und ihren wichtigsten außenpolitischen Zielen näherkam, wuchs innerhalb einiger Jahre — etwa von 1958 bis 1965 — der Glaube an den politischen und diplomatischen Wert von Kernwaffen und der Wunsch, durch Ausnutzung dieses Wertes eine aktivere Diplomatie zu treiben.
80 81
3»
Vgl. unten, S. 146 ff. Auf diese Andeutungen wird unten an verschiedenen Stellen näher eingegangen werden. Hier mag genügen, darauf hinzuweisen, daß Strauß ausdrücklich bemerkte, Dulles selbst habe den Verzidit Adenauers unter dem Vorbehalt der clausula rebus sie stantibus verstanden (vgl. oben, S. 6); es könne sich also nicht um einen uneingeschränkten Verzicht handeln. Vgl. Franz Josef Strauß, An Alliance of Continents, in: International Affairs, April 1965, S. 200.
II. Kapitel Die Alternativen Die Nuklearpolitik der Bundesrepublik erhielt ihre Gestalt im Rahmen der oben erörterten Notwendigkeiten, Interessen und Einschränkungen. Wie erwähnt, wurde die Bundesrepublik durch die Einschränkungen, aber auch durch rationale militärische und politische Erwägungen veranlaßt, eine kollektive Politik zu betreiben. Vor der Analyse der Einzelheiten und des Verlaufs dieser Politik stellt sich jedoch die Frage nach den theoretischen und praktischen Alternativen, die sich den verantwortlichen Politikern der Bundesrepublik anboten. In allgemeinster Form lassen sich diese Alternativen wie folgt formulieren. Zunächst die beiden entgegengesetzten Enden des Spektrums: Ein Land kann entweder seine eigene unabhängige nationale Nuklearstreitmacht aufbauen, oder es kann sich dem militärisch-nuklearen „Geschäft" ganz fernhalten und als Grundlage seiner Außen- und Verteidigungspolitik die Neutralität wählen. Zwischen diesen Extremen liegen verschiedene Formen der Assoziierung mit einem nuklearen Bundesgenossen; sie reichen von völliger Abhängigkeit bis zu unterschiedlichen Graden der Beteiligung an der Planung und/oder der Verfügungsgewalt über eine Nuklearstreitmacht, die wiederum einem Bundesgenossen allein gehören oder in gemeinsamem Besitz sein kann.1 Es gibt also folgende Optionen: Erstens Neutralität, entweder unbewaffnet oder nur konventionell bewaffnet, zweitens eine unabhängige nationale Nuklearstreitmadit und drittens Bündnislösungen, die sich wiederum unterteilen lassen in a) völlige Abhängigkeit vom nuklearen Hauptverbündeten oder b) verschiedene Formen der nuklearen Mitwirkung. Diese Liste der Alternativen mag nicht erschöpfend sein, aber sie enthält die wesentlichen Optionen, die sich der Bundesrepublik darboten. Die beiden extremen Optionen einer nationalen Streitmacht und der Neutralität wurden von der Bundesregierung unter Bundeskanzler Adenauer schon früh ausgeschlossen; die Bundesrepublik suchte im Bünd1
Siehe ζ. B. Wilhelm G. Grewe, Der Atomklub wird geschlossen, in: Die Zeit, 14. Februar 1967, der die Alternativen ähnlich kategorisiert.
Α. Neutralität
und
Denuklearisterung
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nis Sicherheit, Anerkennung und Einfluß.2 Zur Zeit der Wiederbewaffnung und während des Jahrzehnts des wirtschaftlichen und politischen Wiederaufbaus, fast genau von 1950 bis 1960, war die Position der Bundesrepublik gekennzeichnet durch völlige Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten. Seit Beginn der sechziger Jahre jedoch strebte die Bundesrepublik auf verschiedenen Wegen nach Mitwirkung an den nuklearen Angelegenheiten der Allianz.
A. Neutralität
und
Denuklearisterung
Die zahlreichen Vorschläge für eine Neutralisierung Deutschlands, die verschiedenen Argumente für und gegen diese Vorschläge und ihre Aussichten auf Verwirklichung brauchen hier nicht untersucht zu werden, um feststellen zu können, daß die westdeutsche Regierung diese Alternative in allen ihren möglichen Formen schon im frühesten Entwicklungsstadium der Bundesrepublik auf das eindeutigste ablehnte. Die Gründe für diese Ablehnung und die Umstände, unter denen die Entscheidung gefällt wurde, waren kurz die folgenden. Der Zusammenhang zwischen einer Politik der Neutralität und Kernwaffen bestand darin, daß ein neutrales (und vereinigtes) Deutschland notwendig ein kernwaffenfreies Deutschland gewesen wäre. Das hätte zwar nicht auf unabsehbare Zeit so bleiben müssen, aber zunächst wäre es sicherlich zusammen mit der Neutralisierung Deutschlands so beschlossen worden. Die Entscheidung gegen die Neutralität war somit zugleich eine Entscheidung, die die nukleare Frage in der Bundesrepublik berührte — dadurch nämlich, daß sie sie offen ließ. Endgültig und formell wurde diese Entscheidung mit dem Eintritt der Bundesrepublik in die NATO getroffen. Sie fiel im Rahmen der Debatte um die — bis 1955 — wichtigste politische Streitfrage in der Bundesrepublik: die Frage, ob die Wiederbewaffnung und Eingliederung in das westliche Bündnis Vorrang haben sollte, wie die CDU-Regierung vorschlug, oder ob die Wiederbewaffnung als Tauschobjekt für ein neutrales, begrenzt gerüstetes, aber wiedervereinigtes Deutschland behandelt werden sollte, wie viele — besonders in der SPD — argumentierten.3 2 3
Siehe oben, S. 8 ff. Eine genaue Analyse dieser Debatte sowie zahlreiche bibliographische Hinweise sind zu finden bei Richardson, Deutschland und die NATO, a.a.O., S. 28 ff. Siehe audi die Analyse von Besson, Außenpolitik der Bundesrepublik, a.a.O., S. 116 ff.
38
II. Kapitel. Die
Alternativen
Den Höhepunkt der Debatte (und weitgehend audi ihre Grundlage) brachte die sowjetische Note vom 10. März 1952, die anscheinend eben dies anbot: Neutralität und militärische Beschränkungen als Gegenleistung für die Wiedervereinigung.4 Die Regierung Adenauer tat diese Note als bloßes taktisches Manöver ab, das dazu dienen solle, die Ratifizierung des Vertrags über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft und später die der Pariser Verträge zu verhindern. Daß die Regierung nicht einmal bereit war, einen Versuch zu Verhandlungen zu machen — schließlich hatte sie die Wiedervereinigung zum obersten Ziel ihrer Politik erklärt —, ließ in der Folge die These von den „versäumten Gelegenheiten" aufkommen.® Das Für und Wider dieser These braudit hier nicht erörtert zu werden." Ein Hinweis möge genügen: Weder von der CDU noch von der SPD wurde damals erkannt oder zugegeben, daß für die Bundesrepublik, d. h. für Westdeutschland, ein Konflikt zwischen dem Ziel maximaler Sicherheit und dem Ziel der Wiedervereinigung bestand; denn dem zweiten Ziel wohnten zwangsläufig Risiken inne, während das erste gleichbedeutend mit einer weitgehenden Verminderung und Vermeidung der Risiken war.7 Diese Risiken betrafen vor allem die äußere Sicherheit und die innere demokratisch-politische Stabilität der Bundesrepublik. In beiderlei Hinsicht lautete das Hauptargument Adenauers und seiner Anhänger, Neutralität werde unvermeidlich zur Herrschaft der Kommunisten über ganz Deutschland führen.8 Innenpolitisch hatte man wenig Vertrauen zur Lebensfähigkeit der neuen politisdien Institutionen für den Fall, daß sie in einen Kampf mit der hochorganisierten Kommunistischen Partei verwickelt würden. Außenpolitisch würde ein neutrales Deutschland hilflos dem militärischen Druck der Sowjetunion ausgesetzt sein. Die westlichen Waffen böten Schutz, argumentierten Adenauer und auch Franz Josef Strauß, aber nur unter der Bedingung, daß die Bundesrepublik einen Beitrag zur 4
Text der Note in: EA 7/1952, S. 4832—4833. Eine ausführliche Darstellung dieser These ist zu finden bei Paul Sethe, Zwischen Bonn und Moskau, Frankfurt 1956 und bei Klaus Erdmenger, Das folgenschwere Mißverständnis. Bonn und die sowjetische Deutschlandpolitik 1949—1955, Freiburg/ Br. 1967. Eine Gegendarstellung gibt Hans Budiheim, Die Legende von der verpaßten Gelegenheit, FAZ, 15. April 1969. ' Richardson, Deutschland und die NATO, a.a.O., analysiert diese Argumente sehr ausführlich (S. 28—40). Vgl. auch Besson, Außenpolitik der Bundesregierung, a.a.O., S. 116 ff. 7 Charakteristisch ist der CDU-Wahlslogan „Keine Experimente". 8 Vgl. die Darstellung bei Ridiardson, Deutschland und die NATO, a.a.O., S. 32 ff.
5
Α. Neutralität und Denuklearisierung
39
gemeinsamen Verteidigung leistete.9 Neutralität hingegen würde zum Abzug der amerikanischen Truppen aus Europa führen. Europa würde im Stich gelassen werden, der Plan der westeuropäischen Integration würde scheitern, und die Bundesrepublik würde „in die sowjetische Machtsphäre in der einen oder anderen Form hineingeraten".10 Hiergegen wurde ins Feld geführt, daß die Abhängigkeit gegenseitig sei und daß die deutsche Neutralität keineswegs automatisch den amerikanischen Rückzug aus Europa zur Folge haben müsse — besonders dann nicht, wenn, wie vorgeschlagen wurde, ein neutrales Deutschland in ein europäisches Sicherheitssystem eingebettet würde.11 Die Regierung, die verantwortlich für Westdeutschlands Sicherheit war, fürchtete jedoch, daß Neutralität gleichbedeutend mit amerikanischem Abzug sein könnte (und es ist nicht zu leugnen, daß zumindest diese Möglichkeit existierte); und dann wäre ganz Deutschland auf Gnade oder Ungnade der Sowjetunion ausgeliefert gewesen. Von der Regierung war es zuviel verlangt, die Substanz der westdeutschen Sicherheit und das schwer erworbene Vertrauen der Westmächte für die Unsicherheit möglicher Wiedervereinigungsgespräche aufs Spiel zu setzen, die ihrer Ansicht nach wahrscheinlich ohnehin fruchtlos sein würden und sogar ganz Deutschland gefährden konnten. Diese zweifellos existierende Gefahr stritt die SPD teilweise ab; das war ein taktischer Fehler und brachte sie häufig in eine schwierige Position. In jedem Fall wollte die SPD wenigstens versuchen zu verhandeln, um zu erkunden, ob die Sowjetunion mit ihren Angeboten nur Zeit zu gewinnen suchte oder ob sie wirklich eine ausgehandelte Lösung anstrebte.12 Die SPD unterbreitete jedoch keine konkreten Vorschläge und präsentierte keine brauchbare Alternative zur Regierungspolitik. In den Bundestagswahlen 1953 profitierte die CDU davon, daß sie den vagen Vorstellungen der SPD ihr eigenes klares Programm der Westintegration gegenüberstellen konnte. 1 ' Natürlich konnte die CDU dem Ziel der Wiedervereinigung nicht abschwören oder auch nur den ersten Platz auf der Rangliste der deut9
10 11
12 18
Siehe besonders die Rede von Franz Josef Strauß im Bundestag, Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographische Berichte, 24. Februar 1955, S. 3568—3581. Adenauer im Deutschen Bundestag, Stenographische Beridite, 9. Juli 1952, S. 9798. Vgl. ζ. B. Carlo Sdimid im Bundestag, Stenographische Beridite, 7. Oktober 1954, S. 2272 und Fritz Erler, The Struggle for German Reunification, in: Foreign Affairs, April 1956, S. 385. Vgl. Ridiardson, Deutschland und die NATO, a.a.O., S. 29—31. Eine Analyse der Wahlen ist zu finden bei W. Hirsch-Weber und K. Schütz, Wähler und Gewählte, Berlin/Frankfurt 1957, besonders S. 121—125. Vgl. audi Adenauer, Erinnerungen 1955—1959, a.a.O., S. 311 if.
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H. Kapitel. Die
Alternativen
sehen Politik aberkennen. Aber sie vertrat die These, die Wiedervereinigung sei am besten dadurch zu erreichen, daß man die Bundesrepublik in den Westen integriere, sie stärke und dann aus einer Position der Stärke verhandle.14 Diese Politik, die als „Politik der Stärke" oder „Verhandeln aus der Position der Stärke" bekannt wurde, war nicht die Triebfeder für Adenauers Handeln — diese war sein Sicherheitsbewußtsein —; „es war eher eine willkommene Rationalisierung, durch die er das Gefühl vermeiden konnte, zwischen der Integration des Westens und der deutschen Wiedervereinigung wählen zu müssen".15 Wie die Sowjetunion zum Verhandeln veranlaßt werden sollte, ist nicht klar. Am 16. März 1952 erklärte der Kanzler: „Unsere Politik muß sein, zu helfen, den Westen stark genug zu machen, um die Russen zu dem Wunsch nach einem Kompromiß zu bewegen . . . Ich glaube, die jüngsten russischen Vorschläge sind ein Beweis, daß, wenn wir auf diesem Wege fortfahren, bald der Punkt erreicht wird, wo die Russen bereit sind, vernünftig zu verhandeln."16 Später erklärte er im Bundestag: „Aber, meine Damen und Herren, es gibt keinen anderen Weg, zu Verhandlungen mit Sowjetrußland zu kommen, es gibt keinen anderen Weg, zur Wiedervereinigung in Freiheit zu kommen, als den, den Westen so stark wie möglich zu machen."17 Wenn Adenauer von diesen Argumenten überzeugt war, so war es auch die Mehrheit der westdeutschen Wählerschaft. Bemerkenswert sind allerdings die Ergebnisse der Meinungsumfragen aus diesen Jahren, nach denen sich mehr Westdeutsche (etwa vierzig Prozent) für eine Wiedervereinigung durch Neutralität aussprachen als für eine Wiedervereinigung durch Stärkung der NATO (weniger als dreißig Prozent).18 Der Grund dieses Paradoxons liegt darin, daß nach dem Kriege in Deutschland eine echte Abneigung gegen alles Militärische herrschte; die westdeutsche Bevölkerung erstrebte nicht in erster Linie die Wiedervereinigung, sondern wollte vor allem in Frieden und Sicherheit leben und so rasch wie möglich wieder zu Wohlstand kommen. Man bekannte sich zwar zur Wiedervereinigung als Ziel, aber sie sollte nicht Frieden, Sicherheit und Wohlstand bedrohen. Die CDU gab diesen Nahzielen den praktisch-politischen Vorrang, und sie gab ihnen eine konkrete 14
15 16 17 18
Vgl. Adenauer, Erinnerungen 1953—1955, a.a.O., S. 435—436 und Coral Bell, Negotiation from Strength, New York 1963, besonders S. 104. Richardson, Deutschland und die NATO, a.a.O., S. 32. Zitiert in Bell, Negotiation, a.a.O., S. 104. Bundestag, Stenographische Berichte, 19. März 1953, S. 12306. Divo Pressedienst, 1. Mai 1962, S. 7.
Α. Neutralität
und
Denuklearisierung
41
Form; zudem war sie ohnehin für viele attraktiver als die sozialistisch orientierte SPD, die zudem noch nicht frei von ideologischen Scheuklappen war. Und als erst die Resultate der CDU-Politik sichtbar wurden — Sicherheit, wirtschaftlicher Aufschwung, wachsender internationaler Respekt (vor allem für das „Wirtschaftswunder"), vielleicht sogar internationales Ansehen —, da war die Wählerschaft dankbar und wenig geneigt, all das für die immerhin verschwommenen Alternativen, die die SPD zu bieten hatte, wieder aufs Spiel zu setzen. (Nicht zufällig hieß der erfolgreichste CDU-Slogan „Keine Experimente".) Eine Politik der Wiedervereinigung hätte Risiken und Opfer bedeutet. Sie wäre eine schwierige Politik gewesen — und eine Politik mit ungewissen Erfolgsaussichten. Konrad Adenauer, der rheinische, katholische Führer der CDU, ehemals Oberbürgermeister von Köln und Beinahe-Kanzler der Weimarer Republik, ging diese Risiken nicht ein. Es wäre falsch zu sagen, er habe die deutsche Wiedervereinigung in den fünfziger Jahren „verhindert". Gewiß tat er es nicht willentlich. Aber seine Herkunft, seine Religion und seine Erfahrungen, die immer wieder das Gespenst von Weimar heraufbeschworen und ihn mit tiefem, irrationalem Argwohn gegen die Sowjetunion erfüllten, erleichterten es ihm, eine Rationalisierung zu akzeptieren, die faktisch die deutsche Einheit auf den zweiten Platz verwies und an die erste Stelle den Aufbau eines stabilen westdeutschen Staates setzte. Im Gegensatz dazu war nadi dem Ersten Weltkrieg das deutsche Hauptziel die Bewahrung der deutschen Einheit gewesen. Dieses Ziel war erreicht worden, aber politische Instabilität, Wirtschaftskrisen und internationale Feindseligkeit hatten zur Katastrophe geführt. Es war also nur ein historischer Pendelschwung zur anderen Seite, wenn Adenauer zuerst nach politischer Stabilität, wirtschaftlichem Aufschwung und internationalem Ansehen strebte — und sei es auch nur für die westlichen zwei Drittel der deutschen Bevölkerung (wobei er ja eigentlich bloß Preußen ausschloß, was ihm gefühlsmäßig nidit allzu schwer gefallen sein dürfte). Adenauer war nicht der „Bundeskanzler der Alliierten", wie ihn Kurt Schumacher einmal nannte; denn trotz der Abhängigkeit der Bundesrepublik und trotz der ihr auferlegten Beschränkungen verfolgte er den Westkurs aus eigenem, freiem Willen. Er war vielmehr „der Bundeskanzler der Westdeutschen, deren auf unpolitische Existenz erpichtes Phlegma er richtig eingeschätzt, bestärkt und manipuliert hat"." *· So Rudolf Augstein anläßlich eines Beridits über „Konard Adenauer und seine Epoche" im Spiegel, 9. Oktober 1963, S. 75—110, hier S. 85. Siehe auch Hans-Peter
42
II. Kapitel. Die
Alternativen
Adenauer fand die Entscheidung „westdeutsche Sicherheit vor Wiedervereinigung" annehmbar; die westdeutsche Bevölkerung erlaubte ihm, diese Entscheidung zu treffen; und die Westalliierten unterstützten sie.M Auch diese wollten kein Risiko eingehen, und in den Jahren 1952—55, als das Vertrauen zur Lebensfähigkeit des westdeutschen politischen Systems begreiflicherweise nodi gering war, bestand zumindest ein Risiko, daß die Kommunisten ihren Einfluß und ihre subversive Tätigkeit auf ganz Deutschland ausdehnten. (Hingegen war die äußere Bedrohung durch die Sowjetunion mehr eine Funktion der westlichen Politik, d. h. der amerikanischen Bereitschaft, sich aus Europa zurückzuziehen; sie spielte daher im Denken der Alliierten eine geringere Rolle als in dem der Deutschen.) Zwei Drittel von Deutschland, eng in das politische und Verteidigungssystem des Westens integriert, waren den Westalliierten wertvoller als ein geeintes und möglicherweise unstabiles Deutschland, das Gefahr lief, unter sowjetischen Einfluß zu geraten. Ebenso unsympathisch wie ein schwacher, neutraler, dem sowjetischen Druck ausgesetzter Staat wäre den Westmächten ein starker blockfreier Staat gewesen, der Ost und West gegeneinander hätte ausspielen können.21 Außerdem erschienen die Chancen, mit der Sowjetunion zu einer annehmbaren Einigung über Deutschland zu gelangen, zu gering, als daß man deswegen hätte riskieren können, die neue Politik im Westen — westliche Integration und amerikanisches Engagement in Europa — länger zu verzögern.
20
21
Sdiwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik. Deutschland im Widerstreit der außenpolitischen Konzeptionen in den Jahren der Besatzungsherrschaft 1945—1949, Neuwied/Berlin 1966 und Arnulf Baring, Die -westdeutsche Außenpolitik in der Ära Adenauer, in: Politische Vierteljahresschrift, März 1968, S. 45—55. Siehe die Analyse der westlichen Einstellung in Richardson, Deutschland und die NATO, a.a.O., S. 37—40. Vgl. ebd., S. 27. Noch mehr befürchteten die Westmächte ein deutsch-sowjetisches Rapprochement. Nicht zufällig wurde das Wort „Rapallo" zu einem politischen Schimpfwort im westlichen Gebrauch. Für die Sowjetunion war es dagegen genau umgekehrt: Ein vereintes, aber militärisch kontrolliertes und politisch unstabiles Deutschland, das ganz unter sowjetischer Dominanz oder als geringerer Partner einer sowjetischen Hegemonie über Europa existieren würde, war einem wiederaufgerüsteten, starken Westdeutschland innerhalb des westlichen Bündnisses vorzuziehen. Hierin lagen zweifellos die Risiken und Möglichkeiten einer Wiedervereinigungspolitik in jenen Jahren.
Β. Eine nationale
Β. Eine nationale
Nuklearstreitmacht
43
Nuklearstreitmacht
Standen Neutralisierung und Denuklearisierung an dem einen Ende des Spektrums der möglichen Alternativen für die Bundesrepublik, so befand sich am anderen Ende die nukleare Unabhängigkeit, d. h. eine nationale Nuklearstreitmacht. Die deutsche Nuklearpolitik war jedoch derartigen Einschränkungen unterworfen, daß nukleare Unabhängigkeit von Anfang an nicht in Betracht kam.22 Tatsächlich wurde diese Alternative deutscherseits offiziell niemals auch nur erwogen. Trotzdem lohnt es sich, einen kurzen Blick auf das Pro und Contra zu werfen, unabhängig von den spezifischen politischen Einschränkungen, die der Bundesrepublik auferlegt waren.® Theoretisch gibt es eine ganze Liste von Argumenten für und wider eine nationale Absdireckungsstreitmacht.24 Für die Bundesrepublik sind alle wesentlichen Argumente in erster Linie politischer Natur. Es gibt keine unüberwindlichen technischen oder wirtschaftlichen Hindernisse, die ihr den Erwerb von Kernwaffen unmöglich machen würden. Die Kosten ließen sich aufbringen, freilich um den Preis von Abstrichen an den konventionellen Streitkräften (mit den entsprechenden sicherheitspolitischen Implikationen). Was die technische Seite betrifft, so ist die Bundesrepublik eine führende zivile Nuklearmacht, und die Entwicklung der zivilen Nukleartechnik hat in den letzten Jahren solche Fortschritte gemacht, daß die militärische Verwendung der Kernenergie nur noch einen relativ kleinen zusätzlichen Schritt darstellt. Selbstverständlich gibt es auch hier wieder technische Nachteile, vor allem den, daß das wissenschaftliche und technische Personal den zivilen Programmen entzogen und vom Militär übernommen wird; sodann hat ein militärisches Programm auch nur begrenzten Wert für die zivile Entwicklung. Ferner ist für ein wirksames Waffenprogramm ein hochentwickeltes System von Trägerwaffen erforderlich. Die Bundesrepublik besitzt zwar eine Anzahl hochwertiger Trägerwaffen, aber diese wurden ihr im Rahmen der 22 25
24
Vgl. oben, S. 31 ff. Vgl. hierzu W. B. Bader, Nuclear Weapons Sharing and the .German Problem', in: Foreign Affairs, Juli 1966, S. 693 ff. und The United States and the Spread of Nuclear Weapons, New York 1968, S. 82—88; ferner Albert Legault, Atomic Weapons for Germany? in: International Journal, Herbst 1966, S. 447 ff. und Wilhelm Cornides, Eine Strategie der Geduld, in: EA 2/1963, S. 39 ff., besonders S. 49—50. Siehe dazu Osgood, NATO — The Entangling Alliance, a.a.O., S. 259—274 und Robert Strausz-Hupé, James E. Dougherty und William R. Kintner, u. a., Building the Atlantic World, New York/London 1963, S. 108 ff.
44
II. Kapitel. Die Alternativen
Allianz von den Vereinigten Staaten geliefert. In der Bundesrepublik gibt es gegenwärtig keine ausreichend ausgebaute Industrie, die mühelos und kurzfristig die benötigten Trägerwaffen allein herstellen könnte. Dodi neben diesen ökonomischen und technischen Fragen besteht das komplizierte Problem der Glaubwürdigkeit einer kleinen Abschrekkungsstreitmacht — und klein würde die der Bundesrepublik ja unvermeidlich sein. Sir John Slessor hat mit Bezug auf die britische Streitmacht gesagt: „Ich kann nicht einsehen, wieso man annehmen soll, daß Großbritannien durch die Unvermeidlichkeit der völligen Vernichtung des Vereinigten Königreichs nicht vom Einsatz seiner Nuklearstreitmacht abgeschreckt würde, daß aber Rußland durch einen längst nicht so verheerenden Schaden abgeschreckt würde. Die Glaubwürdigkeit einer selbständigen nuklearen Abschreckungsstreitmacht erfordert die Fähigkeit, dem Feind vergleichbaren, nicht relativen Schaden zuzufügen."" Die Glaubwürdigkeit einer kleinen Streitmacht kann weiter herabgesetzt werden durch die Installierung von Raketenabwehrsystemen. Diese vermindern die Brauchbarkeit einer kleinen Nuklearstreitmadit sogar für den einen Fall, in dem sie vielleicht glaubwürdig wäre: für den Fall des ersten Schlages angesichts eines unmittelbar drohenden gegnerischen Angriffs. Selbst die irrationale Drohung und der begrenzte oder selektive erste Schlag verlieren gegenüber einem Raketenabwehrsystem viel von ihrer Nützlichkeit. Der Erwerb einiger Kernwaffen läge mithin durchaus im Bereich der technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten der Bundesrepublik. Der Größe der Streitmacht wären jedoch durch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Bundesrepublik Grenzen gesetzt (wobei davon ausgegangen wird, daß ihre Technik rasch das Niveau der amerikanischen und der sowjetischen Technik erreichen könte). Dies und die Ungunst ihrer geographischen Lage würden im Falle der Bundesrepublik den wichtigsten Vorzug aufheben, den eine selbständige Nuklearstreitmacht zu bieten hat, nämlich ein starkes Element der Abschreckung und somit Sicherheit im Rahmen eines nationalen Verteidigungssystems. Reine Sicherheitserwägungen verringern also wesentlich den Wert einer kleinen nationalen Nuklearstreitmacht und damit auch den Anreiz für die Bundesrepublik, nach dem Besitz einer solchen zu streben. Politische Aspekte verkleinern diesen Anreiz noch weiter. Hätte sich die Bundesrepublik zum Erwerb von Kernwaffen entschlossen, so wären M
In: Karl H . Cerny und Henry W. Briefs, N A T O in Quest of Cohesion. A Confrontation of Viewpoints at the Center of Strategic Studies, Georgetown University, New York/Washington/London 1965, S. 39.
Β. Eine nationale
Nuklearstreitmacht
45
ernste Spannungen in Ost und West die Folge gewesen. Es ist unwahrscheinlich, daß die Bundesrepublik die Waffen von einer bestehenden Nuklearmacht hätte beziehen können; sie hätte sie selbst herstellen müssen. Auch wenn es ihr möglich gewesen wäre, sie auf fremdem Boden zu produzieren — also ohne juristisch das Verzichtsversprechen von 1954 zu brechen —, hätte sie damit doch gegen den Geist ihrer Verpflichtung verstoßen. Im westlichen Bündnis wären dadurch schwere Spannungen erzeugt worden. Die Bundesrepublik hätte nicht nur mit dem politischen Widerstand ihrer Hauptverbündeten, der USA, Großbritanniens und Frankreichs, rechnen müssen (wobei Frankreich vielleicht engere militärische und politische Bande zur Sowjetunion geknüpft hätte); wahrscheinlich wären diese Länder sogar gewaltsam gegen sie vorgegangen. Im Osten hätte sich — ganz abgesehen von der Gefahr eines Präventivschlags der Sowjetunion — der Block der kommunistischen Staaten fester gegen die Bundesrepublik zusammengeschlossen. Die Bundesrepublik hätte auf lange Zeit hinaus alle Vorteile eingebüßt, die sie durdi Entspannung und engere Zusammenarbeit mit Osteuropa und der Sowjetunion gewinnen könnte; sie hätte dann nodi viel größere Barrieren des Mißtrauens überwinden müssen als jene, die schon jetzt zu überwinden sind.2® Die Freundschaft der Bündnispartner hätte also abgenommen, die Feindseligkeit der Gegner zugenommen. Die Bedrohung der Sicherheit der Bundesrepublik wäre stärker, ihr Schutz gegen diese Drohung schwächer geworden. Die Widerstände gegen die Verwirklichung ihrer politischen Ziele hätten sich noch weiter versteift, während die alliierte Unterstützung dieser Ziele nachgelassen hätte. 27 In Deutschland gibt es aber eine auf jüngsten historischen Erfahrungen beruhende tiefe Furcht vor diplomatischer und militärischer Isolierung. Hinzu kommt die rationale Uberzeugung, daß eine wirksame moderne Verteidigung nur kollektiv organisiert werden und daß Deutschland eine politische Rolle nur im Rahmen Europas und eines Bündnisses spielen kann. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Bundesrepublik grundlegend von Frankreich. Als Frankreich den Aufbau einer nationalen Nuklearstreitmacht beM
27
Das war vor allem die französische Argumentation; vgl. Beaufre, Vorfeld und Hinterland. Frankreich und Deutschland von der Warte der Verteidigungspolitik, in: Wehrkunde, März 1966, S. 113—118. Siehe auch Bader, Nuclear Weapons Sharing, a.a.O., S. 697 ff.; Osgood, MLF, a.a.O., S. 26 und L. Beaton und J. Maddox, Die Bundesrepublik und die Frage der Atomrüstung, in: E A 21/1962, S. 732 ff. Es ist allerdings notwendig, in dieser Beurteilung zwischen kurzen und langen Zeiträumen zu differenzieren; aber sicher traf das für den Zeitraum von 1954 bis 1970 zu.
46
IL Kapitel. Die
Alternativen
Schloß, war es weder mit einer historischen Hypothek wie Deutschland belastet, noch stieß es auf die heftige Feindseligkeit im Osten (wo man vielmehr seine Bemühungen um größere Autonomie im Bündnis, die daraus resultierenden Spannungen in der NATO und den Konflikt mit den Vereinigten Staaten befriedigt zur Kenntnis nahm); und wenn sich auch im Westen die Vereinigten Staaten der französischen Nuklearisierung widersetzten, so konnte dodi Frankreich von einem reichen Vorrat amerikanischen Wohlwollens zehren. Die französische Sicherheit litt also keinen Schaden: Frankreich war nicht stärker bedroht als zuvor, und es brauchte auch nicht auf den Schutz des kollektiven Verteidigungssystems der atlantischen Allianz zu verzichten. Es konnte somit die sicherheitspolitische Seite unbesorgt vernachlässigen und sich ganz auf die politischen Motivationen für eine nationale Nuklearstreitmacht konzentrieren. Für die Bundesrepublik hingegen war Sicherheit stets das Hauptanliegen, und dieser Aspekt — von den politischen Gegengründen einmal ganz abgesehen — überschattete jene Motivationen, die für Frankreich bestimmend waren, nämlich das Streben nach größerer Autonomie und den Wunsch, das Prestige und den Einfluß zu genießen, die, wie man glaubte, der Besitz von Kernwaffen verlieh. Die Bundesrepublik hatte ihre Außenpolitik nicht auf Autonomie, sondern auf die kollektiven Instrumente der Allianz gegründet." Gewiß wünschte sie mit zunehmender wirtschaftlicher und politischer Stärke mehr Einfluß in der Gemeinschaft, aber sie suchte ihn nicht dadurch zu erlangen, daß sie mit der Einstellung der Mitarbeit drohte, sondern vielmehr durch Kooperation und Reform im Rahmen der Allianz. Die Bundesrepublik war somit auf nuklearem Gebiet niemals „ein Frankreich von morgen". Der französische Außenminister Couve de Murville soll gesagt haben, jedes Land, das Kernwaffen bauen könnte, würde es eines Tages auch tun — einschließlich der Bundesrepublik.18 Das Wort „könnte" ist hier aber nicht nur in technischem und wirtschaftlichem Sinne zu verstehen, sondern muß auch politische und sicherheitspolitische Elemente beinhalten — und die schlossen eben diese Alternative für die Bundesrepublik aus. Die Faktoren, die unter Abwägung aller Für und Wider schließlich zum Erwerb von Kernwaffen führen, sind sehr komplex. Von den Gegengründen abgesehen, die für alle nichtnuklearen Mächte gelten, war die Bundesrepublik durch ihre besonderen historischen und politischen Umstände zusätzlichen Ein18 M
Siehe oben S. 22 ff. Es wird berichtet, daß er diese Bemerkung in einem privaten Gespräch gemacht habe; vgl. Christian Science Monitor, 24. November 1965.
Β. Eine nationale
Nuklearstreitmacht
47
schränkungen unterworfen. Zwar sprachen auch gewisse Besonderheiten für den Erwerb eigener Kernwaffen, wie die militärisch exponierte geographische Lage und die hochgradige Abhängigkeit von fremdem Schutz, aber „der Saldo von Vorteilen und Risiken fiel eindeutig gegen eine solche Entscheidung aus".30 Tatsächlich hat sich die Nuklearpolitik der Bundesrepublik stets in diesem Rahmen bewegt; die Bundesrepublik hing keinen „nuklearen Träumen" nach, die sich auf nationaler Grundlage nicht verwirklichen ließen." Der Verzicht auf die Herstellung von Kernwaffen im Jahre 1954 war aufrichtig gemeint; daß dabei Lücken blieben, war nicht beabsichtigt.®2 Vertreter aller politischen Richtungen in Westdeutschland haben immer wieder erklärt, daß die Bundesrepublik an einem nationalen Zugang zu Kernwaffen nicht interessiert sein kann.®3 Es gibt keinerlei Beleg dafür, daß der Erwerb nationaler Kernwaffen jemals in der Bundesrepublik von Politikern oder politischen Kommentatoren oder in der Öffentlichkeit ernsthaft befürwortet worden wäre. Die Untersuchungen von Karl W. Deutsch, die er im Sommer 1964, d. h. auf dem Höhepunkt der Diskussion über einen deutschen Zugang zu Kernwaffen, in Form von Elite-Befragungen durchführte, bestätigen dies. Die überwältigende Mehrheit der von ihm befragten Deutschen, nämlich 95 Prozent, lehnten eine nationale nukleare Abschreckungsstreitmacht ab, weil sich der Aufwand nicht lohne.®4 Deutsch schreibt: „Der Gedanke einer nationalen nuklearen Abschreckungsstreitmacht ist in Frankreich, wo er die offizielle Regierungspolitik darstellt, bei den Eliten unpopulär, und noch unpopulärer ist er bei den Eliten in Deutschland, wo er — von außenstehenden Beobachtern — zuweilen als ein bedeutsames geheimes Wunschziel hingestellt worden ist. Nach dem vorliegenden Untersuchungsmaterial ist er nichts dergleichen."®5 Und er faßt seine Ergebnisse unzweideutig zusammen: „Soweit das Untersuchungsmaterial Aufschluß ,0
51
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Leonard Beaton, Must the Bomb Spread?, Harmondsworth 1966, S. 54; vgl. auch Bader, Nuclear Weapons Sharing, a.a.O., S. 698 und oben, S. 8 ff. So Cornides, Eine Strategie der Geduld, a.a.O., S. 50. Vgl. oben, S. 4 ff. Zahlreiche Erklärungen könnten hier genannt werden; vgl. beispielsweise die Rede Erhards vor dem Council on Foreign Relations in New York am 11. Juni 1964 (in: Siegler III, a.a.O., S. 69—70) und die Rede von Sonderminister Krone an der Notre Dame University am 23. März 1965 (Text ebd., S. 160 ff.). Siehe dazu die ausführliche Analyse von Karl W. Deutsch, Arms Control and the Atlantic Alliance: Europe faces coming policy dicisions, New York/London/Sydney 1967, hier S. 61. Vgl. audi Sommer, The Objectives of Germany, a.a.O., S. 39—40. Deutsch, Arms Control and the Atlantic Alliance, a.a.O., S. 58.
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II. Kapitel. Die
Alternativen
gibt, besteht zur Zeit kein . . . deutscher Wunsch nach nationalen Kernwaffen, weder beim Großteil der deutschen Eliten noch bei der Masse der deutschen Bevölkerung."36 Nach Deutsch gibt es audi keinen Grund zu der Annahme, daß sich daran etwas ändern werde; vielmehr findet er „einige Hinweise darauf, daß die Tendenzen wahrscheinlich in den nädisten Jahren und vielleicht während des ganzen nächsten Jahrzehnts stabil bleiben werden".87 Allerdings sah es im Sommer 1964 so aus, als sei die Bundesrepublik im Begriff, durch eine kollektive Streitmacht im Rahmen der Allianz (die MLF) viele Vorteile des Zugangs zu Kernwaffen zu erlangen, ohne die Nachteile nationaler deutscher Kernwaffen in Kauf nehmen zu müssen.88 Zweifellos konzentrierte die Bundesrepublik damals ihre Bemühungen auf diese Streitmacht. Doch inzwischen ist das Projekt der kollektiven Streitmacht gescheitert und durch ein begrenztes politisches Planungs-Arrangement im Bündnis ersetzt worden, ohne daß ein „nuklearer Nationalismus" in der Bundesrepublik entstanden wäre; die deutschen nuklearen Forderungen sind vielmehr sogar zurückhaltender geworden.8" Diese Entwicklung zeigt, daß die Gründe, die gegen einen nationalen nuklearen Kurs sprechen, in der Bundesrepublik überzeugend genug waren, um den Fehlschlag des MLF-Projekts zu überleben und auch weiterhin wirksam zu bleiben. Ob sie so überzeugend sind, daß sie auch in einer Periode schwerer politischer Frustration der Bundesrepublik wirksam bleiben würden, ist natürlich nicht beweisbar, aber einige Anzeichen sprechen dafür. Die Bundesrepublik ist, alles in allem, ein schwacher und abhängiger Staat. Weder durch ihr früheres Verhalten noch durch ihr künftiges Potential darf man sich verleiten lassen, das zu vergessen.
C. Die kollektive 1. V ö l l i g e
Alternative
Abhängigkeit
Zwischen den beiden Extremen der Denuklearisierung und der nationalen nuklearen Unabhängigkeit liegen verschiedene Wege, die politischen und sicherheitspolitischen Vorteile von Kernwaffen auf kollektive Weise zu nutzen. Am äußersten Ende — beinahe als Grenzfall — steht 38
« 38 39
Ebd., S. 61. Ebd., S. 62. Vgl. unten, S. 157 ff. Vgl. unten, S. 239 ff.
C. Die kollektive
Alternative
49
hier die völlige Abhängigkeit von einem nuklearen Bundesgenossen. Sie bestand in den ersten Jahren nach dem Kriege, als Westdeutschland und Westeuropa vollständig vom amerikanischen Schutz abhängig waren. Sie blieb auch bestehen, nachdem die Bundesrepublik konventionell bewaffnet und in die NATO aufgenommen worden war. Diese Politik wurde jedoch fragwürdig, als 1956/57 die sowjetische nukleare Bedrohung erstens Westeuropas und zweitens der Vereinigten Staaten stärker wurde, wodurch das Bedürfnis Westeuropas nach nuklearem Schutz zunahm und gleichzeitig die Glaubwürdigkeit der amerikanischen nuklearen Garantie abnahm.40 Frankreichs Antwort — die allerdings nicht allein durch diese Entwicklung motiviert war — hieß Streben nach nuklearer Unabhängigkeit. Für die Bundesrepublik kam das nicht in Frage. Ebenso unmöglich war es jedoch, die Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten durch Abhängigkeit von Frankreich zu ersetzen. Abgesehen davon, daß die kleine und in ihrer Wirkung fragwürdige force de frappe keinen Ersatz für den Schutz der amerikanisdien Streitmacht bot, widersprachen auch die französische Militärstrategie und die französischen Manöver dem Argument der Franzosen, wegen der geographischen Nachbarschaft betrachteten sie die französischen und die deutschen Sicherheitsinteressen praktisch als identisch. Darüber hinaus fürchtete die Bundesrepublik, Frankreich werde seinen nuklearen Status dazu benutzen, hegemoniale Ambitionen in Westeuropa durchzusetzen. Auf europäischer Ebene hingegen konnte dies entweder durch französisch-deutsche nukleare Zusammenarbeit oder durch die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Nuklearstreitmacht verhütet werden. 2. D e u t s c h - f r a n z ö s i s c h e
Zusammenarbeit
Die Zusammenarbeit mit Frankreich als theoretische Alternative der deutschen Politik ist nicht deshalb wichtig, weil sie sich jemals den Deutschen als eine realistische Möglichkeit dargestellt hätte, sondern deshalb, weil sie eine realisierbare Alternative hätte sein können; vor allem aber, weil die Vereinigten Staaten sie als solche betrachteten und ihre eigene Politik danach orientierten, dieser Möglichkeit zu begegnen.41 In Wirklichkeit war sie jedoch niemals eine Alternative, und zwar aus zwei Gründen. Erstens boten die Franzosen seit dem Machtantritt General de Gaulles den Deutschen niemals wirkliche nukleare Zusammenarbeit 40
« 4
Ausführlid» unten, S. 65 ff. Vgl. unten, 148 ff. Mahndte
50
II. Kapitel. Die Alternativen
an, und zweitens wünschten die sicherheitsbewußten Deutschen als „gebrannte Kinder", die zweimal in ihrer Geschichte mit nur scheinbaren Großmächten verbündet gewesen waren (Österreich-Ungarn und Italien), diesmal die Sicherheit eines Bündnisses mit einer wirklichen Großmacht: den Vereinigten Staaten. 42 Dennoch hätte ein geeintes Westeuropa mit einem integrierten Verteidigungssystem, das auf der französisch-deutschen Zusammenarbeit beruhte und auch Kernwaffen einschloß, eine Alternative sein können. Es erschien verständlich, wenn Westeuropa, das auf dem Wege zur wirtschaftlichen und politischen Einheit war, auch seine Verteidigungsinteressen zusammenlegte. Zudem schienen die Franzosen, die schon 1956 den Aufbau einer nationalen Nuklearstreitmacht beschlossen hatten, bei der Verfolgung dieses Ziels im Alleingang auf finanzielle Schwierigkeiten zu stoßen. So wurden denn im Laufe des Jahres 1957 wiederholt Gerüchte über eine geplante französisch-deutsche nukleare Zusammenarbeit laut. Die Grundlage dieser Gerüchte war ein Besuch von Strauß in Paris im Januar 1957. 4 3 Das Ergebnis von Diskussionen, die damals mit Verteidigungsminister Bourgès-Maunoury geführt wurden, war eine Reihe von Abkommen zur Förderung einer engeren französisch-deutschen Zusammenarbeit bei der Herstellung „moderner Waffen". 4 4 Wieweit dabei Kernwaffen einbezogen waren und wieweit eine deutsche Teilhabe an der Verfügungsgewalt vorgesehen war, ist nicht klar: Über die Einzelheiten dieser Diskussionen ist wenig Verläßliches bekannt. Ebensowenig weiß man über das Treffen zwischen Strauß und dem Verteidigungsminister im vorletzten Kabinett der Vierten Republik, Chaban-Delmas, das Ende 1957 stattfand. Bei diesem Treffen soll eine sehr informelle, aber streng geheime mündliche Vereinbarung getroffen worden sein, wonach die Bundesrepublik finanzielle Mittel und technische Hilfe zum Aufbau der französischen Nuklearstreitmacht beitragen und als Gegenleistung ein gewisses Maß an nuklearer Mitwirkung erhalten sollte.45 Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, daß sowohl diese Abmachung wie die frühere mit Bourgès-Maunoury exploratorischen ** Vgl. z . B . Fritz Erler, Westeuropa und die Vereinigten Staaten in der strategischen Weltsituation, in: E A 24/1963, S. 887 ff. 43
Bericht in: FAZ, 16. Januar 1957.
44
Vgl. dazu den Bericht von Edmund Taylor, The Powerhouse of German Defense, in: The Reporter, 18. April 1957, S. 25—27. C. L. Sulzberger veröffentlichte später in einer Reihe von Artikeln (NYT, 14. Oktober und 16. und 21. November 1964 und 17. November 1965) Einzelheiten der Vereinbarung zwischen Strauß und Chaban-Delmas.
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C. Die kollektive Alternative
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Charakter hatten, daß sie nur versuchsweise irgendeine Form von möglicher späterer Zusammenarbeit und Teilhabe auch auf dem Gebiet der Kernwaffen vorsahen. Die französischen Motive hierbei scheinen klar: Die Franzosen wollten sich die finanzielle und technische Hilfe der Bundesrepublik sichern; sie waren überzeugt, daß sie in einem Partnersdiaflsverhältnis den politisch eingeengten Deutschen überlegen sein würden, ja daß sie sogar die Partnerschaft als Kontrollinstrument benutzen könnten. Was die möglichen deutschen Motive betraf, so meinten die meisten ausländischen Kommentatoren, Strauß habe endlich eine „Hintertür" zur nuklearen Aufrüstung der Bundesrepublik gefunden. Soviel scheint richtig, daß Strauß zu einem frühen Zeitpunkt der Überzeugung war, letztlich seien Kernwaffen der Schlüssel zu militärischer und politischer Macht. Er wußte aber auch genau — und sagte es häufig —, daß der von Frankreich eingesdilagene Weg der nationalen Nuklearisierung für die Bundesrepublik nicht in Betracht kam. Viel wahrscheinlicher ist (und dies steht auch im Einklang mit seiner Haltung in den folgenden Jahren), daß er sich von Erwägungen wirtschaftlicher Rationalität leiten ließ und vor allem die Möglichkeit einer späteren westeuropäischen Verteidigungsproduktion im Auge hatte.4* Doch was auch der genaue Inhalt der Abmachungen gewesen sein mag, sicher ist, daß wenig dabei herauskam, jedenfalls soweit es sich um die nuklearen Komponenten handelte. Nach de Gaulies Machtantritt, im Juli 1958, schnitt Strauß das Problem bei einer Zusammenkunft mit dem neuen französischen Verteidigungsminister Guillaumat erneut an — doch jetzt waren die Franzosen nicht mehr bereit, über die früheren Angebote zu verhandeln. Zwei Jahre später trat Strauß abermals an die Regierung in Paris heran — sein Partner war jetzt Verteidigungsminister Pierre Messmer —, aber die Antwort war wiederum eindeutig negativ. Inzwischen war deutlich geworden, daß Präsident de Gaulle entschieden dagegen war, der Bundesrepublik Zugang zu Kernwaffen zu verschaffen, sei es im Rahmen einer französisch-deutschen Zusammenarbeit, 46
4*
Ebd., S. 26. Auf einer Pressekonferenz in London im Mai 1957 (Berichte in NYT, 25. Mai und NZZ, 26. Mai 1957) betonte Strauß, daß die Bundesrepublik an ihrem Produktionsverzicht festhalten werde. Er unterstrich, daß das wichtigste Ziel einer rüstungstedinisdien Zusammenarbeit mit Frankreich — ebenso wie mit Großbritannien — die Wirtschaftlichkeit der gemeinsamen Verteidigung und somit im Sinne der WüU-Aufforderung vom Februar 1957 sei, da keiner der drei Staaten sich den „Luxus" getrennter und paralleler Verteidigungsforschung und -entwicklung leisten könne. Vgl. hierzu auch das Sdilufikommumqué des Strauß-Besuchs, Text in: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung (fortan als Bulletin zitiert), Nr. 98, 28. Mai 1957, S. 878.
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II. Kapitel. Die Alternativen
sei es im Rahmen einer europäischen Nuklearstreitmacht. Für ein Land in der Lage der Bundesrepublik, argumentierte er, wäre das viel zu gefährlich. Interessanterweise gab es trotzdem audi in den frühen sechziger Jahren mehrere französische Äußerungen, sogar von de Gaulle selbst, die — gewöhnlich mit einiger Phantasie — als verhüllte Angebote zu einer französisch-deutschen nuklearen Partnerschaft interpretiert werden konnten und — vor allen Dingen — wurden. So sagte Präsident de Gaulle am 7. September 1962 in einer Rede vor der Führungsakademie der Bundeswehr: „Die Rüstung, in ihrer Planung und Gestaltung, verlangt heutzutage, um schlagkräftig zu sein, . . . daß wissenschaftliche, technische, industrielle und finanzielle Mittel und Fähigkeiten herangezogen werden, deren Grenzen jeden Tag weitergespannt sind. Frankreich und Deutschland können sidi dieser Machtmittel um so eher vergewissern, als sie ihre Möglichkeiten vereinen."47 Der Beweggrund für derartige Äußerungen — das zeigt audi eine genaue Lektüre der zitierten Sätze — war jedoch vermutlich die Berechnung, daß der Finanzbedarf des Aufbaus einer Nuklearstreitmacht die nationalen Möglichkeiten Frankreichs übersteigen könnte und der daraus resultierende Wunsch nach deutscher Finanzhilfe. Als Gegenleistung hätte die Bundesrepublik keinen Anteil an der Verfügungsgewalt über die produzierten Waffen erhalten, sondern ein gewisses Maß an technologischer Kooperation auf nuklearem Gebiet — wozu sie selbst auch einiges beizutragen hatte — und natürlich die Zusicherung des Schutzes durch französische Kernwaffen.48 Dieser Schutz, so lautete das französische Argument, würde zuverlässiger sein als die amerikanische Garantie, aus dem einfachen Gründe, weil es zwischen Frankreich und Deutschland keinen Ozean, sondern eine unmittelbare Grenze gebe und daher der Schutz Deutschlands zugleich der Schutz Frankreichs sei.4' Für die Bundesrepublik war das offensichtlich nicht genug. Bei gemeinsamer Verfügungsgewalt als Grundlage einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft wäre die französisch-deutsche Zusammenarbeit für die Bundesrepublik vielleicht eine Alternative gewesen — unter den von den Franzosen angebotenen Bedingungen war sie es nicht. Abgesehen davon, daß der Wert der französischen Abschreckungsstreitmacht zweifelhaft war, besonders im Anfangsstadium, und daß die französische «
Bulletin, Nr. 168,11. September 1962, S. 1427. Daß langfristig an ein Maß von deutscher Mitwirkung unter französischen Bedingungen gedadit war, ist sicher nidit abzuschließen. Jedenfalls wurden die wiederholten französischen Andeutungen in dieser Richtung interpretiert. 4 * Vgl. ζ. B. Beaufre, Vorfeld und Hinterland, a.a.O. 48
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Alternative
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Nuklearpolitik als eine Hegemonialpolitik erschien, war die Bundesrepublik in der deutschen Frage und in der Berlin-Frage auch politisch auf die anderen Westalliierten angewiesen, insbesondere auf die Vereinigten Staaten. Zudem wurde 1963 deutlich, daß die Amerikaner offenbar bereit waren, der Bundesrepublik ein gewisses Maß an wirklicher nuklearer Mitwirkung in Gestalt der Multilateralen Streitmacht (MLF) anzubieten.50 Auf diese amerikanische Bereitschaft reagierten die Franzosen, indem sie der Bundesrepublik im Sommer und Herbst 1964 nochmals mehrere Avancen machten. Es ging ihnen jetzt nicht mehr darum, deutsche Finanzhilfe zu erhalten, da es inzwischen möglich schien, daß Frankreich die Last allein würde tragen können; vielmehr wollten sie verhindern, daß die Bundesrepublik durch Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten Zugang zu Kernwaffen gewinnen könnte. Doch wiederum boten die Franzosen nur Zusammenarbeit in der Kernforschung und Kerntechnik, nicht Teilhabe an der Kontrolle über Kernwaffen oder der Planung für ihren Einsatz. Offenbar auf Veranlassung von Strauß schlug Bundeskanzler Erhard im Februar 1964 dem französischen Präsidenten in exploratorischer Weise nukleare Zusammenarbeit und gemeinsamen Besitz der entwickelten Kernwaffen vor.51 Präsident de Gaulle lehnte strikt ab, womit er den französischen Standpunkt klarlegte und gleichzeitig Erhard vor seiner „gaullistischen" Opposition daheim rechtfertigte. Später sdilug Erhard de Gaulle die gemeinsame Entwicklung eines Trägerwaffensystems vor; die dazugehörigen Gefechtsköpfe sollten von Frankreich geliefert werden und unter alleiniger französischer Verfügungsgewalt bleiben. Aber wieder lehnte der französische Präsident ab.52 Im Sommer 1964, als die Pläne für die MLF Gestalt annahmen, unterbreitete dann de Gaulle bei einem Bonn-Besuch anscheinend der Bundesregierung ein Angebot über französisch-deutsche technische Zusammenarbeit in der Kernforschung. Diesmal lehnte die Bundesrepublik ab.59 In den folgenden Monaten ging es mit den Plänen für die MLF zügig voran — es war sogar davon die Rede, daß die Bundesrepublik und die Vereinigten Staaten allein mit der Verwirklichung beginnen würden." 50 51
« » M
Vgl. unten, S. 130 ff. Das wurde erst einige Jahre später bekannt; vgl. den Beridit über ein Interview mit Erhard im General-Anzeiger vom 7. März 1967 sowie die Frankfurter Neue Presse vom 8. März 1967 und Die Zeit vom 10. März 1967. Ebd. Ebd. Vgl. unten, S. 177 ff.
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IL Kapitel. Die
Alternativen
Die Franzosen verstärkten jetzt ihre Bemühungen, die Deutschen von den amerikanischen Plänen abzubringen. Vor allem kamen sie häufig, wenn auch mit ungenauen Formulierungen, auf den Zusammenschluß Westeuropas zu sprechen und deuteten an, die MLF könnte diese Entwicklung, die ja auch die Bundesrepublik wünschte, aufhalten. 55 So forderte Außenminister Couve de Murville am 3. November 1964 vor der französischen Nationalversammlung ein „wahrhaft geeintes und wahrhaft europäisdies Europa"5", und Präsident de Gaulle erklärte am 22. November 1964 in seiner berühmten Straßburger Rede, die Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland sei die einzige Grundlage, auf der die Einheit Westeuropas verwirklicht werden könne.57 Sobald wie möglich, erklärte de Gaulle, müsse ein unabhängiges Europa organisiert werden — wirtschaftlich, politisch, kulturell und „vor allem auf dem Gebiet der Verteidigung". 58 Es bleibt unklar, was de Gaulle konkret damit meinte — sofern es überhaupt mehr war als ein bloßer taktischer Schachzug.5" Nur wenige Monate zuvor, auf seiner Pressekonferenz vom 23. Juli 1964, hatte de Gaulle die Schaffung einer europäischen Föderation mit gemeinsamen europäischen Organen unzweideutig abgelehnt.80 Derartige Organe könnten allenfalls Studien anstellen und debattieren: „Nur Regierungen von Nationen sind fähig, eine Politik zu machen und die Verantwortung dafür zu tragen." 61 Und der Tag einer europäischen Nation und einer europäischen Regierung sei noch nicht gekommen. Aber was auch immer de Gaulle genau gemeint haben mag, sicher ist, daß er zu keiner Zeit bereit war, der Bundesrepublik ein nennenswertes Als diese französischen Bemühungen ergebnislos blieben — die Bundesregierung hatte sich für die MLF entschieden — wurde der französische Widerstand deutlicher. Dieser Widerstand trug zu einer innenpolitischen Krise in der Bundesrepublik und somit letzten Endes auch zum Scheitern der MLF bei; vgl. unten, S. 190ff. « Deutscher Text in: EA 24/1964, S. D 608—617. 57 Ebd., S. 617—618. Vgl. audi die Interpretation dieser Rede in: Wilfrid L. Kohl, Nuclear Sharing in NATO and the Multilateral Force, in: Political Quarterly, März 1965, S. 88—109, hier S. 101—102. 5 8 EA 24/1964, S. D 618. 5® Im Herbst 1964 hatte Frankreich auch großes Interesse daran, die Bundesrepublik zu einer Verringerung des Getreidepreises innerhalb der EWG zu bewegen. Den Franzosen gelang es, ihre Ziele in den Fragen des Getreidepreises und der MLF geschickt zu verbinden: Es war nicht nur ein ironischer Zufall, daß das Scheitern der MLF und das deutsche Nachgeben in der Frage des Getreidepreises beide in den Dezember 1964 fielen. ·» Text in: EA 16/1964, S. D 403—410; siehe auch Le Monde, 25. Juli 1964. " Text in: EA 16/1964, hier S. D 405. 55
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Alternative
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Maß an nuklearer Mitwirkung anzubieten, und zwar in so konkreter Form und zu einem so frühen Zeitpunkt, daß die Bundesrepublik darin eine Alternative zu den amerikanischen Vorschlägen hätte sehen können. Vielmehr wurde in Frankreich letzten Endes immer wieder betont, nukleare Verantwortung könne nicht geteilt werden.62 Und so erklärte Bundesaußenminister Schröder denn auch am 13. November 1964 im Bundestag, die Bundesrepublik habe von Frankreich keine Einladung erhalten, sich an einer „französisch-europäischen" Nuklearstreitmacht zu ähnlichen Bedingungen zu beteiligen, wie sie für die MLF vorgesehen seien." 3. E i n e e u r o p ä i s c h e
Nuklearstreitmacht
Kam eine französisch-deutsche nukleare Zusammenarbeit als politische Alternative für die Bundesrepublik nicht in Betracht, so galt das gleiche für eine europäische Nuklearstreitmacht, die eben eine derartige Zusammenarbeit und dazu ein beträchtliches Maß an europäischer politischer Einheit erfordert hätte. Vage französische Andeutungen änderten nichts an diesen Realitäten.· 4 Davon ganz abgesehen, wurde der Schaffung einer europäischen Nuklearstreitmacht in der Bundesrepublik ohnehin niemals besondere politische Dringlichkeit beigemessen, wenn auch einige, vor allem Franz Josef Strauß, sie vielleicht als ein langfristiges Ziel betrachteten.*5 Bundesverteidigungsminister von Hassel lehnte die Idee mit der Begründung ab, sie habe eine „zersetzende Wirkung auf die atlantische Allianz" und laufe darauf hinaus, „das amerikanische Engagement in Europa zum schweren Nachteil Europas zu beschneiden"." Mit Ausnahme einiger Männer um Franz Josef Strauß und Baron Guttenberg gab es unter den
62
Siehe ζ. B. die Berichte der Welt vom 4. November oder Le Monde vom 25. November 1964. 63 Bundestag, Stenographische Berichte, 13. November 1964, S. 7233. 64 Zu dem Gedanken einer europäischen Nuklearstreitmacht vgl. ζ. B. Beaufre, Vorfeld und Hinterland, a.a.O., S. 13. ,5 Vgl. Franz Josef Strauß, Herausforderung und Antwort. Ein Programm für Europa, Stuttgart 1968, S. 186—193. Siehe auch den Vortrag von Strauß in London am 19. Mai 1969, European Identity and the Atlantic Alliance, in: Finanz-Nachrichten, hrsg. vom Bundesministerium der Finanzen, 21. Mai 1969. e " Kai-Uwe von Hassel, Organizing Western Defense und Détente through Firmness, in: Foreign Affairs, Januar 1965 bzw. Januar 1964, S. 213 bzw. S. 189.
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II. Kapitel. Die Alternativen
führenden Politikern der Bundesrepublik somit nur wenige Befürworter dieses Konzepts.*7 Eine europäische Nuklearstreitmacht wurde also allenfalls von einigen Bonner Politikern als sehr langfristige Möglichkeit ins Auge gefaßt; sie wurde aber niemals ernsthaft erwogen oder als konkrete Alternative angestrebt. Vielmehr wurde sie stets als mögliciies Ergebnis verschiedener anderer vorangegangener Schritte, z. B. der MLF, gesehen. Größere politische Bedeutung gewann die „europäische Option" jedoch, nachdem diese anderen Schritte praktisch entfallen waren. So betonte die Bundesregierung im Jahre 1967, ein Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen dürfe die Möglichkeit einer gemeinsamen europäischen Nuklearstreitmacht nicht von vornherein ausschließen.68 4. D e r k o l l e k t i v e W e g i m R a h m e n d e r
Allianz
Die einzige realistische Alternative, die der Bundesrepublik auf der Suche nach einer Lösung ihrer nuklearen Probleme und Interessen offenstand, war somit der kollektive Weg innerhalb des atlantischen Bündnisses. Dies war denn auch die offizielle Politik Bonns im untersuchten Zeitraum von 1954 bis 1970. Kernwaffen und nukleare Verteidigung beinhalten verschiedene Elemente, die in unterschiedlichem Grade alle mit dem Komplex der nuklearen Mitwirkung zusammenhängen. Diese Elemente sind: Das Eigentum und der Besitz von Kernwaffen. Wichtig ist hier der Hinweis, daß Kernwaffen, eigentlich: Kernwaffensysteme, aus zwei Elementen bestehen, nämlich aus nuklearen Sprengköpfen und aus Trägerwaffensystemen (Raketen oder Bombern), welche die Sprengköpfe an ihre Ziele befördern. Ferner das Recht der Entscheidung über den Einsatz der Waffen (hier unter dem Begriff Kontrolle zusammengefaßt) sowie die Ausarbeitung der nuklearen Strategie, d. h. der Bedingungen für den Einsatz der Waffen (hier unter dem Begriff Planung zusammengefaßt). Es gibt noch ein weiteres Element, das jedoch eine Kategorie für sich bildet: die wirtschaftliche, wissenschaftliche, technische und industrielle Grundlage. Das Vorhandensein dieser Grundlage ist zwar keine absolute Vorbedingung für die anderen Elemente (ζ. B. könnte ein Land Kernwaffen kaufen und brauchte dann nicht die wissenschaftliche, technische 67
Siehe dazu die oben (S. 47) zitierte Studie yon Karl W. Deutsch, Arms Control and the Atlantic Alliance, S. 64.
68
Vgl. unten, S. 228 ff.
C. Die kollektive Alternative
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und industrielle Grundlage; wenn es die Waffen als Geschenk erhielte, brauchte es nicht einmal die wirtschaftliche Grundlage), aber im Falle der gegenwärtig existierenden Kernwaffenstaaten war sie die notwendige Voraussetzung. Doch diese Grundlage — und ihr Ausbau zu einer leistungsfähigen zivilen Nuklearindustrie (mit den sich daraus ergebenden militärischen Alternativen) — ist schon vor der tatsächlichen H e r stellung von Kernwaffen von Bedeutung; denn die Fähigkeit zur H e r stellung von Kernwaffen wird dem Interesse eines Landes an nuklearer Mitwirkung viel mehr Gewicht verleihen, und umgekehrt wird sie das Interesse der bestehenden Kernwaffenstaaten, der Entstehung einer weiteren unabhängigen nuklearen Macht mit kollektiven Mitteln vorzubeugen, beträchtlich steigern. Die technische und wirtschaftliche Fähigkeit zur Herstellung nuklearer Waffen hat also einen gewissen diplomatischen Wert. Sie ist im Falle der Bundesrepublik vorhanden. 69 Die tatsächlichen Alternativen nuklearer Mitwirkung im militärischen Bereich konzentrieren sich jedoch auf die anderen genannten Elemente: Eigentum und Besitz, Einsatz-Entscheidung (Kontrolle) und Ausarbeitung der Strategie (Planung). Die Nuklearpolitik der Bundesrepublik ist stets eine Verbindung dieser Elemente mit den Determinanten ihrer Geschichte und ihrer politischen Situation, ihrer Interessen und der auf sie wirkenden äußeren und inneren Einflüsse gewesen. Im folgenden wird versucht, diese Elemente zu definieren: a) Eigentum und Besitz: Eigentum bedeutet hier die rechtliche Verfügungsmacht über eine Kernwaffe (Trägerwaffe und Sprengkopf) und schließt ein die Rechte auf 1. Besitz, d. h. tatsächliche physische Gewalt über die Waffe; 2. Kontrolle und 3. Planung. Ein Eigentümer von Kernwaffen kann einem anderen Staat den Besitz der Waffen übertragen, aber solange nicht bestimmte Eigentumsrechte — Kontrolle und Planung — ebenfalls übertragen (oder zumindest geteilt) werden, ist dies nicht sehr belangvoll. Durch Ausstattung der Waffen mit einer elektronischen Sperrvorrichtung, einem „Schloß", kann der Eigentümer die Kontrolle über sie behalten, auch wenn sie nicht in seinem Besitz sind: N u r wenn er es will, kann das Schloß entriegelt und damit die Waffe verfügbar gemacht werden. Besitz schließt also nicht notwendigerweise die Elemente der Kontrolle und der Planung ein. Alternativ können auch Eigentumsrechte übertragen werden, ohne daß damit notwendig ··
Das „diplomatische Gewicht" einer solchen Fähigkeit mußte — trotz der Einschränkungen, die diese Alternative für die Bundesrepublik praktisch eliminierten (vgl. oben, S. 4 ff. und 31 ff.) — solange weiterbestehen, wie andere bereit waren, eine deutsche Entscheidung in dieser Richtung für möglich zu halten.
58
II. Kapitel. Die Alternativen
der Besitz übertragen wird. Das entscheidende Element ist das Eigentum und die aus ihm entspringenden Rechte, nidit der Besitz. Gemeinsame oder geteilte Eigentums- oder Besitzrechte lassen sich unter dem Begriff der nuklearen Teilhabe zusammenfassen. Audi dabei bleiben die entscheidenden Elemente Kontrolle und Planung. b) Kontrolle: Kontrolle ist die Befugnis, die Waffen zum Abschuß bzw. Abwurf freizugeben. Sie kann in positivem und in negativem Sinne geteilt werden, d. h., ein Partner kann ein Stimmredit bei der Entscheidung über den Einsatz der Waffen haben, oder er kann ein Vetorecht gegen die Einsatzentscheidung eines anderen haben (gewöhnlich würde sich das Veto auf eine begrenzte Anzahl bestimmter Waffen beziehen). Die Kontrolle ist eines der wesentlichsten Elemente der Kernwaffenfrage, und die Anregungen hinsichtlich einer gemeinsamen Kontrolle waren dementsprechend stets ungenau. Immerhin sind mehrere Vorschläge gemacht worden. Sie reichen von verschiedenen AusschußSystemen (mit einstimmigen Beschlüssen, wo also jeder Staat ein Veto hat; mit einfachen Mehrheitsbeschlüssen ohne jedes Veto; mit abgestuftem Stimmrecht und mit Abstimmungssystemen, bei denen nur die Kernwaffenstaaten ein Veto haben) bis zum vollen Vetorecht für nichtnukleare Verbündete bei bestimmten Waffen (in der Regel bei denen, die auf Ziele auf dem Gebiet des nichtnuklearen Partners gerichtet sind oder die von seinem Gebiet aus abgefeuert werden). Geteilte Kontrolle schließt eindeutig Eigentumsrechte ein; gemeinsamer Besitz ist jedoch keine Vorbedingung. Theoretisch muß gemeinsame Kontrolle nicht gleichzeitig gemeinsame Planung bedeuten; in der Praxis wird dies aber meist der Fall sein: Ein Kernwaffenstaat wird schwerlich das Veto eines uninformierten Verbündeten gegen den Einsatz seiner Waffen riskieren, wenn er ihn für notwendig hält; er wird vielmehr versuchen, sich in Friedenszeiten mit dem Verbündeten über die Eventualitäten und Umstände des Einsatzes zu einigen. Der nichtnukleare Verbündete wird ein ähnliches Interesse haben, da ein Mitspracherecht bei einem so folgenschweren Waffeneinsatz wertlos ist, wenn die Ziele und die Zerstörungskraft der Waffen dem nichtnuklearen Verbündeten nicht bekannt sind. Das deutet auf die wichtige Tatsache hin, daß ein Großteil der Entscheidungen über den Einsatz von Kernwaffen bereits im Frieden während des Planungsprozesses getroffen wird. c) Planung: Planung ist der Prozeß, in dem festgelegt wird, unter welchen Umständen und in welcher Weise Kernwaffen eingesetzt werden sollen. Dazu gehören nicht nur die mehr technischen Aspekte der Größe und Dislozierung der einzusetzenden Waffen, sondern auch die eher
C. Die kollektive Alternative
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politischen Aspekte der Sequenz und des zeitlichen Ablaufs des Einsatzes (ζ. B., ob im Falle eines Angriffs die Eskalation schrittweise von der Grenze zwischen Bundesrepublik und DDR nach Osten voranschreiten soll, oder ob — und wie bald — selektive oder ausgedehntere nukleare Schläge gegen die Sowjetunion geführt werden sollen). Teil des Planungsprozesses ist die Beurteilung der militärischen Drohung, der begegnet werden soll; in einem weiteren Sinne berührt er audi die Entscheidungen über die Waffenausrüstung. Gemeinsame Planung ist Mitwirkung von Verbündeten am Planungsprozeß. Auseinanderzuhalten ist jedoch, ob man die nicht-nuklearen Verbündeten bloß unterrichtet (Information) und sich ihre Ansichten anhört (Konsultation; diese Ansichten können berücksichtigt werden oder nicht; auch kommt es auf Häufigkeit und Umfang der Konsultation an, ζ. B., ob die Verbündeten regelmäßig an Diskussionen teilnehmen oder nur gelegentlich eingeladen werden), oder ob man ihnen ein verbindliches Stimmrecht gibt. Es kann also unterschieden werden zwischen einer unverbindlichen nuklearen Beteiligung und nuklearer Mitbestimmung. Die erstere kann in freiwilligen Konzessionen des Kernwaffenstaates ohne Übertragung von Rechten bestehen, ζ. B. gemeinsamer Besitz ohne Eigentumsrechte im Planungs- (decision-making) oder Entscheidungsprozeß (decision-taking). Der übergeordnete Begriff wäre demnach nukleare Mitwirkung; er umfaßt sowohl Mitbesitz als auch Mitbestimmung (bei Planung und Kontrolle), ferner nukleare Information (darunter ist nicht die Übermittlung von technischen Kenntnissen zu verstehen, sondern die Unterrichtung über die strategische Planung des nuklearen Verbündeten) und nukleare Konsultation (d. h. auf der nuklearen Information beruhende Diskussionen der Bündnispartner — entweder ad, hoc oder in regelmäßigen Abständen — mit dem Ziel, sich über diejenigen nuklearen Maßnahmen der Kernwaffenpartner zu verständigen, welche die politischen und Sicherheitsinteressen der anderen Partner berühren). Alle diese Elemente können in unterschiedlichem Grade vorhanden sein; aber auch ohne Mitbesitz oder förmliche Mitbestimmung können die Nichtkernwaffenpartner durch die Informations- und Konsultationsprozesse weitgehenden faktischen Einfluß auf die Kernwaffenpartner ausüben.70 Erwähnt werden muß auch der Unterschied zwischen einer „physischen" („hardware") und einer politischen Lösung des Problems der nuklearen Mitwirkung. Die physische Lösung besteht in dem gemein70
Vgl. unten, S. 242 ff.
60
77. Kapitel. Die
Alternativen
samen Besitz nuklearer Waffen, u. U. im Aufbau einer gemeinsamen Nuklearstreitmacht, zu der die Nichtkernwaffenpartner finanzielle Beiträge, Ausrüstung und Personal beisteuern. Die Ausrüstung oder „hardware" ist in gemeinsamem Besitz (Mitbesitz); das Personal der Streitmacht kann aus international gemischten Mannschaften bestehen (mixedmanned). Wie schon bemerkt, ist gemeinsamer Besitz von Waffen keine Vorbedingung für gemeinsame Planung und gemeinsame Kontrolle der Waffen (d. h. vor allem der nuklearen Gefechtsköpfe), aber in der Praxis wird er wahrscheinlich diese Elemente einschließen (gemeinsame Kontrolle zumindest in Form eines Vetos). Die Vorzüge einer „hardwareRegelung" liegen darin, daß sie Planungs- und Kontrollrechte sichern kann, daß diese Rechte nicht so leicht widerrufbar sind wie Redite, die auf Grund administrativer Arrangements gewährt werden, und daß es für den einzelnen Partner schwerer ist, sidi aus eine soldien Regelung zurückzuziehen. Der Nachteil einer solchen Mitbesitz-Vereinbarung liegt darin, daß sie vermutlich nur einen kleinen Teil der gesamten nuklearen Kapazität der Allianz einschließen würde — die nidit zur gemeinsamen Streitmacht gehörenden Waffen des oder der nuklearen Verbündeten sind nicht Inbegriffen. In dieser Hinsicht kann eine „politische Lösung" oder ein Arrangement über gemeinsame Planung und Kontrolle vorteilhafter sein: Sie sichert zwar keinen gemeinsamen Besitz von Waffen, dafür aber wahrscheinlich die Mitwirkung am Planungsprozeß und an der Kontrolle über einen viel größeren Teil der nuklearen Kapazität des Bündnisses. Um eine weitverbreitete Unklarheit auszuräumen, muß schließlich auf das sogenannte „ Zwei-Schlüssel-System" (doublekey-system) eingegangen werden, das in der NATO für bestimmte Kernwaffensysteme in Gebrauch ist. Die Bezeichnung ist unglücklich gewählt, denn es gibt nicht „zwei Schlüssel" für die Waffen (wenn es sie gibt, sind sie beide in amerikanischen Händen). Vielmehr ist es so, daß bestimmte Verbündete in Westeuropa, darunter auch die Westdeutschen71, ein Element eines kompletten Kernwaffensystems, nämlidi die Trägerwaffe bzw. die Artillerie für den Sprengkopf, in ihrem Eigentum und Besitz haben. Der Sprengkopf selbst befindet sich in alleiniger amerikanischer Kontrolle. So hat die Bundesrepublik Trägersysteme (z. B. den Starfighter F 104-G oder die Pershing-Rakete) in ihrem Eigentum und Besitz; sie verfügt über sie und kann ihren Einsatz planen. Aber ohne die nuklearen Sprengköpfe, über welche die Amerikaner verfügen, ist die strategische 71
Die anderen sind Großbritannien, Belgien, Kanada, Griechenland, Italien, die Niederlande, die Türkei und bis 1966 audi Frankreich.
C. Die kollektive
Alternative
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nukleare Rolle der Trägerwaffen gleich Null. Insofern die Vereinigten Staaten für die Beförderung amerikanischer nuklearer Sprengköpfe zu ihren Zielen auf Trägerwaffen in Besitz eines Alliierten angewiesen sind, hat der Verbündete ein Veto über das Waffensystem. Das „ZweiSchlüssel-System" kann also dem nichtnuklearen Verbündeten eine negative Kontrolle einräumen. Es verliert aber in dem Maße an Wert, wie der nukleare Verbündete von alliierten Trägerwaffen unabhängig ist und hinreichend Sprengköpfe mit eigenen Trägerwaffen ins Ziel befördern kann. Die Nuklearpolitik der Bundesrepublik hat sich auf alle diese Elemente ausgewirkt. Eine Anzahl der in Westdeutschland gelagerten atomaren Waffen befinden sich unter dem „Zwei-Schlüssel-System", d. h. die Bundeswehr besitzt eine Anzahl Trägerwaffen bzw. Artillerie für amerikanisch kontrollierte Sprengköpfe. Die Bundesrepublik ist immer bestebt gewesen, mehr Informationen über ihre nukleare Verteidigung zu erlangen und in Fragen der nuklearen Verteidigung konsultiert zu werden. Sie hat audi ständig danach gestrebt, durdi Integration in der Allianz einen größeren faktischen Einfluß auf ihre nukleare Verteidigung zu gewinnen. In den Jahren von etwa 1960 bis 1965 bemühte sie sich um einen Mitbesitz an Nuklearwaffen in Form einer gemeinsamen Streitmacht, die die Möglichkeit gemeinsamer Planung und gemeinsamer Kontrolle beinhaltete. Seit etwa 1962 erstrebte sie in verstärktem Maße Einfluß auf den Planungsprozeß, zeitweise zusätzlich zum nuklearen Mitbesitz, zeitweise als Ersatz dafür. Im folgenden sollen diese Entwicklungen, ihre Formen und ihre Resultate sowie die Triebkräfte, die Motivationen und Zwänge, die sich auf die verschiedenen politischen Richtungen auswirkten, im einzelnen dargestellt und analysiert werden.
Zweiter Teil Die Bundesrepublik und die nukleare Mitwirkung: Wege der deutschen Politik
ERSTER ABSCHNITT: VON MITBESITZ BIS MITPLANUNG 1957—1962
I. Kapitel Die nukleare Frage wird akut A. Eine
Vertrauenskrise
Die Frage taktisdier Atomwaffen stand in der Allianz bereits seit 1954 zur Debatte.1 Je mehr in der Folgezeit Westeuropa für seine Verteidigung auf diese Waffen angewiesen war, desto stärker wurde innerhalb des Bündnisses das Mißvergnügen über das amerikanisch-britische Atommonopol. Die europäischen Verbündeten glaubten, Anspruch auf ein größeres Maß an Mitsprache bei der Planung und Entscheidung über den Einsatz der Waffen zu haben. Daraufhin ließ der amerikanische Außenminister John Foster Dulles im Juli 1957 verlauten, von den Vereinigten Staaten werde der Plan erwogen, die atomaren Waffenvorräte in Europa in die Obhut der NATO zu übergeben.2 Um diese Zeit jedoch verlagerte sich in der Frage der nuklearen Mitbestimmung der Akzent rasch aus dem taktischen in den strategischen Bereich. Das war das Resultat zweier Entwicklungen. Die eine war der rapide technisdie Fortschritt der Sowjetunion auf dem Gebiet der interkontinentalen ballistischen Raketen. Damit gelangte der amerikanische Kontinent in den Bereich sowjetischer Kernwaffen, und daraus erwuchs in der Allianz eine Vertrauenskrise im Hinblick auf die amerikanische nukleare Garantie für Europa.' Die zweite Entwicklung ergab sich zum Teil aus der ersten: Die Wahrscheinlichkeit, daß weitere Staaten in den Vgl. oben, S. 9 ff. Vgl. dazu Osgood, NATO — The Entangling Alliance, a.a.O., S. 220. * Die Frage der amerikanischen strategischen Verwundbarkeit und ihrer Konsequenzen wurde bereits im Jahre 1957 vom damaligen britischen Verteidigungsminister Duncan Sandys aufgeworfen; vgl. dazu Wilhelm Cornides, Großbritanniens Kampf um seine Weltgeltung, in: Wilhelm Cornides (Hrsg.), Die internationale Politik 1956/57, München 1961, S. 242. 1
2
5 Mahndce
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I. Kapitel.
Die nukleare
Trage wird
akut
Besitz von Kernwaffen kommen würden, schien immer größer zu werden. Zwar war das sowjetische Raketenprogramm schon seit einigen Jahren im Gange, und die wachsende Bedrohung Westeuropas durch sowjetische Mittelstreckenraketen (MRBM und IRBM) stellte bereits 1956 eine psychologische Waffe gegen jene Länder dar, die amerikanische Bomberstützpunkte beherbergten4; aber der spektakuläre Start des ersten sowjetischen Erdsatelliten „Sputnik" am 4. Oktober 1957 zeigte an, daß die Sowjetunion über Interkontinentalraketen verfügte und imstande war, mit solchen Raketen den amerikanischen Kontinent zu erreichen. Diese eindrucksvolle Demonstration verursachte im Westen eine Art Panikreaktion — für 1963 wurde eine Überlegenheit in bezug auf Interkontinentalraketen (die sogenannte „Raketenlücke") prophezeit* — und vertiefte die Vertrauenskrise. Im Unterschied zu früheren Jahren waren die Vereinigten Staaten jetzt in Reichweite sowjetischer Kernwaffen gerückt, und die Europäer fürchteten nicht mehr so sehr, die U S A könnten Europa gegen seine Interessen in einen Atomkrieg hineinziehen, als vielmehr, sie könnten die für die Verteidigung Europas notwendigen Kernwaffen nicht einsetzen, weil sie damit die Zerstörung ihrer eigenen Städte riskierten* Die Europäer waren jetzt mehr an einer Gewähr dafür interessiert, daß die U S A Kernwaffen einsetzen würden, wenn es im Interesse der europäischen Bündnismitglieder notwendig erschiene, als an der Verhütung eines vorschnellen amerikanischen Kernwaffeneinsatzes. Das heißt, ihr Interesse ging jetzt dahin, „einen Finger am Abzug zu haben" und nicht nur „einen Finger am Sicherheitsflügel", wie es vereinfachend genannt wurde. Das war nicht zuletzt ein Ergebnis der pädagogischen Bemühungen der Amerikaner, die ihren europäischen Partnern jahrelang erklärt hatten, daß ihre Verteidigungs- wie ihre Abschreckungsfähigkeit von den amerikanischen Kernwaffen abhinge. Immer mehr Beobaditer wiesen jetzt warnend darauf hin, daß die europäischen Verbündeten eine eigene nukleare Kapazität anstreben würden, wenn man ihnen nicht irgendeine Form von Mitwirkung bei der nuklearen Verteidigung der Allianz zugestehe.7 Frankreich hatte sich schon 1956 für den Aufbau 4
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• 7
Vgl. Osgood, — N A T O — The Entangling Alliance, a.a.O., S. 113 und Speier, Force and Folly, a.a.O. Die nachfolgende amerikanische „Uberreaktion" auf diese erwartete „Raketenlücke" führte schließlich, Mitte der sechziger Jahre, zu einer tatsächlichen „Raketenlüdce", allerdings auf sowjetischer Seite. Siehe die ausführliche Erörterung bei Osgood, N A T O — The Entangling Alliance, a.a.O., S. 223 ff. Vgl. oben, S. 49.
Α. Eine
Vertrauenskrise
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einer eigenen Atomstreitmacht entschieden; aber — und das war viel bedeutsamer — manche hatten den Eindruck, es sei gewillt, sein Programm gemeinsam mit der Bundesrepublik Deutschland zu verwirklichen. Obwohl objektiv vieles dagegen sprach8, blieben die Gerüchte um das Treffen zwischen Strauß und dem französischen Verteidigungsminister Bourgès-Maunoury im Januar 1957° nicht ohne Wirkung auf die verantwortlichen Politiker. Auch die Vorgänge bei der Gründung der Europäischen Atomenergie-Gemeinschaft (EURATOM) am 20. Februar 1957 schienen dem Argwohn Nahrung zu geben. Osgood schreibt dazu: „Offiziell wurde E U R A T O M zwar zur Förderung der friedlichen Nutzung des Atoms geschaffen, aber Beteiligte wie Niditbeteiligte wußten genau, daß militärische und nichtmilitärische Technologie eng miteinander verbunden sind. Zudem fußte das von den EURATOM-Mitgliedern vorgesehene industrielle Programm auf Doppelzweck-Reaktoren, die Plutonium in großen Mengen erzeugen konnten, und auf Gasdiffusionsanlagen zur Trennung von militärisch verwendbarem Material. Und einige Wochen nach Unterzeichnung des Abkommens war in einem westdeutschen Bulletin, das dessen Inhalt zusammenfaßte, zu lesen, die Bundesrepublik werde ebenso wie die anderen Mitglieder Zugang zu den militärischen Atomgeheimnissen aller ihrer Partner haben. Deutsche Sprecher stritten zu Recht ab, daß die Bundesrepublik eine Aufhebung der ihr von der W E U auferlegten Rüstungsbeschränkungen erstrebe, um eine unabhängige Atommadit zu werden. Falls aber Frankreich sich zur vollgültigen Atommacht entwickeln sollte, war damit zu rechnen, daß Westdeutschland für sich gleiche Vorrechte — sei es durch ein Konsortium, sei es unabhängig — beanspruchen würde; denn es war dabei, rasch zum militärisch und industriell stärksten Mitglied der Allianz in Europa zu werden. Die Aussicht, daß die Bundesrepublik ein nuklearer Partner Frankreichs oder eine selbständige Nuklearmacht werden könnte, war besonders beunruhigend wegen der heftigen Abwehrreaktionen, die sie nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch bei einigen Verbündeten Amerikas hervorrief, namentlich bei den Briten." 10 Die Politik, mit der die Vereinigten Staaten sowohl der Gefahr der Verbreitung von Kernwaffen wie der Vertrauenskrise entgegenzuwirken suchten, war zweigleisig und in gewissem Grade widersprüchlich. Die Gefahr der nuklearen Proliferation wollte man bannen durch strengere Vgl. oben, S. 48 ff. • Vgl. oben, S. 50. 8
10
5·
Osgood, NATO — The Entangling Alliance, a. a. O., S. 219.
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I. Kapitel. Die nukleare Frage -wird, akut
Kontrolle der (friedlichen) nuklearen Produktion einerseits und Verringerung des Anreizes zur Proliferation andererseits. Letzteres aber sollte dadurch erreicht werden, daß man die Verbündeten in größerem Maße an der fortgeschrittenen amerikanischen Kerntechnik teilhaben und sie damit praktisch zu nuklearen „Schwellenmächten" anvancieren ließ. Vorgesehen war erstens, mit dem Programm „Atome für den Frieden" (Atoms for Peace) gemeinsam die friedliche Nutzung der Kernenergie zu entwickeln und zweitens, die Bündnispartner in gewissem Umfang an der Verfügungsgewalt über jene amerikanischen Kernwaffen, die der NATO zugeteilt waren oder werden sollten, zu beteiligen. Der nuklearen Kontrolle diente einerseits das Bemühen, EURATOM relativ klein und abhängig von den USA zu halten, und andererseits die Errichtung der Internationalen Atomenergie-Behörde (IAEA) zur Kontrolle der internationalen Produktion von spaltbarem Material, die im Juli 1957 ihre Tätigkeit aufnahm.11 Beide Versuche, die Bündnispartner in dieser Weise zu kontrollieren, schlugen jedoch im großen und ganzen fehl.12 Die Folge war, daß der Akzent immer stärker auf das Konzept einer nuklearen Mitwirkung der Bündnispartner im Rahmen der Allianz gelegt wurde. Indem man den Verbündeten ein Mitspracherecht beim Einsatz der Waffen gab, von denen ihre Sicherheit abhing, hoffte man nicht nur, die „Vertrauenskrise" in der Allianz zu überwinden, sondern auch der Entwicklung weiterer nationaler Nuklearstreitkräfte vorzubeugen und vielleicht gar die Franzosen und Engländer zum Verzicht auf ihre eigenständige nukleare Waffenentwicklung und zur Beteiligung an einer kollektiven Lösung zu bewegen. Auf zweierlei ist hier jedoch hinzuweisen. Erstens gab es damals keinen konkreten Plan zur Übertragung von Verfügungsgewalt — d. h. Mitsprache bei der Entscheidung, ob Kernwaffen eingesetzt werden sollten oder nicht — an die Verbündeten. Das Element der Gemeinsamkeit bestand im wesentlichen darin, den Verbündeten nukleare Trägerwaffen zu übergeben und sie in ihrer Handhabung auszubilden. Die nuklearen Gefechtsköpfe blieben in der alleinigen Verfügungsgewalt der Amerikaner. Zweitens entsprach dieses Konzept nuklearer Mitwirkung zu jener Zeit sehr gut den amerikanischen militärischen Bedürfnissen, denn die Vereinigten Staaten glaubten, die angenommene militärische Ober11 12
Weitere Einzelheiten ebd., S. 223. Es stellte sich heraus, daß das „Atome-für-den-Frieden-Programm" für die nuklearen Verteidigungsprobleme der Allianz im wesentlichen irrelevant war; allerdings trug es zur Schaffung nuklearer Fähigkeiten bei, die später bei der Frage der Niditverbreitung von Kernwaffen wichtig sein sollten.
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legenheit der Sowjetunion (die „Raketenlücke") dadurch ausgleichen zu müssen, daß sie ihre eigenen Raketen näher zur Sowjetunion, d. h. in Westeuropa, stationierten. Dies war das Hauptmotiv für den amerikanischen Vorschlag, landgestützte Mittelstreckenraketen in Europa zu stationieren. Daneben versprach man sich davon die weiteren vorteilhaften Wirkungen einer Stärkung des Vertrauens der Verbündeten zur amerikanischen Garantie und eines Abbaus der Unzufriedenheit über das amerikanisch-britische Atommonopol. Aber ganz unabhängig vom Motiv stellte dies einen wichtigen Schritt in der Geschichte der nuklearen Mitwirkung in der Allianz dar. Das Konzept der nuklearen Mitwirkung der Verbündeten war das Resultat von Entwicklungen innerhalb des Bündnisses. In noch höherem Maße war es aber das Resultat der sowjetischen Politik — und zwar nicht nur der sowjetischen Rüstungspolitik. Denn nach den Genier Konferenzen von 1955 hatte die westliche Welt zeitweilig große Hoffnungen gehegt, daß es zur Abrüstung, zur Lockerung der Spannungen und zur Beseitigung ihrer politischen Ursachen käme (der „Geist von Genf"); diese Hoffnungen schwanden aber bald, als offenbar wurde, daß die begrenzte „Entstalinisierung" der sowjetischen Innenpolitik keinen grundlegenden Wandel der Außenpolitik zur Folge haben würde." Die Vereinigten Staaten glaubten also, daß die globale Auseinandersetzung mit der Sowjetunion weitergehen werde, und hielten es für notwendig, geeignete militärische Maßnahmen zu treffen. Damals empfanden sie dieses Bedürfnis viel stärker als ihre europäischen Verbündeten, die befürchteten, sie könnten sich die Möglichkeit zu Abrüstungsverhandlungen mit der Sowjetunion verbauen. Die Europäer waren zwar an taktischen Atomwaffen für ihre konventionellen Streitkräfte interessiert, um der sowjetischen konventionellen Überlegenheit begegnen zu können; sie hatten aber Zweifel hinsichtlich der amerikanischen Pläne: Die Vereinigten Staaten waren damals in erster Linie an einem Ausgleich des angenommenen strategischen Übergewichts interessiert und legten daher das Hauptgewicht auf die Mittelstreckenraketen, die sie in Europa zu stationieren wünschten. Diese Pläne aber behinderten in europäischer Sicht nicht nur möglicherweise weitere Verhandlungen mit der Sowjetunion, sondern machten obendrein die westeuropäischen Län15
Chruschtschow hatte in der Tat erklärt, die neue Waffe der Sowjetunion sei eine „ideologische Waffe", die nur nodi „mit Butter einzufetten" sei; vgl. Curt Gasteyger, Die Sowjetunion und die Volksdemokratien, in: Cornides, Die internationale Politik 1956/57, a.a.O., S1. 543. Die Rüstungspolitik der Sowjetunion deutete allerdings nicht darauf hin, daß sie sich nur auf eine „ideologische Waffe" verlassen wollte.
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I. Kapitel.
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der zu Zielen sowjetischer Raketen. Es ist bemerkenswert, daß Bundeskanzler Adenauer, der stets größten Wert auf die Stärkung der N A T O gelegt hatte, jetzt, wo es um die Stationierung von Kernwaffen in Westeuropa ging, keine Eile zeigte. Er machte sich sogar zum Wortführer derer, die zunächst erkunden wollten, ob die Sowjetunion zu irgendwelchen Rüstungskontrollabmachungen bereit seien.14 Das Ergebnis der NATO-Ratstagung im Dezember 1957 (eines „Gipfeltreffens", da die Regierungschefs teilnahmen) war deshalb ein Kompromiß.15 Die Vereinigten Staaten erklärten sich damit einverstanden, daß die Bemühungen, durch Verhandlungen mit der Sowjetunion einen modus vivendi in Europa zu erreichen, intensiver würden. Gleichzeitig aber würden sie in Europa (unter Kontrolle des Alliierten Oberbefehlshabers Europa [SACEUR], jedoch in seiner Eigenschaft als Oberkommandierender der amerikanischen Streitkräfte) Vorräte sowohl von taktischen wie von strategischen Kernwaffen anlegen; letztere auf der Grundlage bilateraler Vereinbarungen mit einzelnen europäischen Bündnispartnern. Dieser Plan, Mittelstreckenraketen in Westeuropa zu stationieren, wurde niemals in nennenswertem Umfang verwirklicht (jedoch bildete er die Grundlage für spätere deutsche Forderungen nach diesen Raketen). Schon auf der NATO-Ratstagung im Dezember 1957 machten Nor14
18
Vgl. Wilhelm Cornides und Hans Wolfgang Kuhn, Die Hoffnungen auf ein Disengagement und ihr Scheitern im Frühjahr 1957, in: Cornides, Die internationale Politik 1956/57, a.a.O., S. 47 ff., hier besonders S. 90 ff. Bemerkenswert ist, daß zu diesem Zeitpunkt in Westeuropa die Meinung vorherrschte, die Vereinigten Staaten seien von westeuropäischen Stützpunkten abhängig und die Europäer seien infolgedessen in einer günstigen Verhandlungsposition gegenüber den Vereinigten Staaten. Aber Westeuropa war natürlidi von den USA so abhängig wie je zuvor. Als in den darauffolgenden Jahren die Entwicklung interkontinentaler Raketen fortsdiritt und sidi die „Raketenlücke" auf amerikanischer Seite nidit realisierte, verringerte sich das amerikanische Gefühl der Abhängigkeit von überseeischen Basen wieder. Das Resultat war eine bemerkenswerte Umkehrung. Im Jahre 1957 hatten die Westeuropäer hinsichtlich der Stationierung von Mittelstreckenraketen in Europa eine deutliche Zurückhaltung bewiesen, da sie noch grundsätzliche Zweifel an dem Sinn der Nuklearisierung der Bündnisverteidigung hatten. Als die Vereinigten Staaten aber im Zuge einer strategischen Neuorientierung in den Jahren 1961/62 diese Raketen wieder zurückzogen, deuteten viele das als ein Zeichen eines amerikanischen Disengagements von Europa; vgl. dazu unten, S. 81. Vgl. Osgood, N A T O — The Entangling Alliance, a.a.O., S. 221 f.; Cornides/Kuhn, Die Hoffnungen auf ein Disengagement, a.a.O., S. 92 ff. sowie Hanson W. Baldwin in der N Y T vom 5. Januar 1958 und das Schlufikommuniqué der NATO-Ratstagung vom 16.—19. Dezember 1957, Text in: Bulletin, Nr. 237, 21. Dezember 1957, S. 2190 ff.
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wegen und Dänemark deutlich, daß sie eine Stationierung von Kernwaffen auf ihrem Boden nicht wünschten. Frankreich interessierte sich hauptsächlich für das amerikanische Angebot, den Verbündeten beim Bau eines Atom-U-Bootes zu helfen — die erforderliche Zustimmung des amerikanischen Kongresses wurde jedoch nie erteilt —, oder für Mittelstreckenraketen unter seiner eigenen Verfügungsgewalt. Die Bundesrepublik Deutschland bewahrte „taktvolles Schweigen".1' Im Endergebnis lehnten alle Länder außer Großbritannien, Italien und der Türkei das amerikanische Anerbieten ab. Das Vereinigte Königreich Schloß im Februar 1958 mit den USA ein Abkommen, das die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Großbritannien nach dem sogenannten „Zwei-Schlüssel-System" vorsah.17 Die notwendigen Abänderungen des amerikanischen Atomenergie-Gesetzes von 1954 (des „MacMahon-Act") verabschiedete der Kongreß am 2. Juli 1958. Im Laufe der Jahre 1959 und 1960 wurden vier Batterien mit insgesamt 60 Flüssigkeitsraketen vom Typ „Thor" in Großbritannien stationiert. Ähnliche Abkommen mit Italien und der Türkei im Jahre 1959 führten zur Stationierung von drei Batterien mit insgesamt 45 Raketen des Typs „Jupiter". Es handelte sich dabei um Raketen der ersten Generation: kompliziert, von geringer Reichweite und sehr empfindlich. Daher kündigten die Vereinigten Staaten schon im Oktober 1959 an, sie würden keine weiteren Mittelstreckenraketen dieser Typen in Europa installieren." Statt dessen sollten ab 1960 den Verbündeten beweglich gestützte „Polaris"-Feststoffraketen zur Verfügung gestellt werden.
16 17
18
So Osgood, N A T O — The Entangling Alliance, a.a.O., S. 222. Durch eine Reihe von Presseveröffentlichungen drangen Einzelheiten dieses Systems an die Öffentlichkeit (vgl. US News and World Report, 29. Februar 1960, S. 50—51 und Time, 8. August 1960, S. 21). Unter diesem System befinden sich die Sprengköpfe bzw. die nukleare Munition in alleiniger amerikanischer Kontrolle, während die Trägerraketen und die „dual capability" Artillerie unter der Kontrolle des jeweiligen Verbündeten steht. Somit haben die Verbündeten zwar keine „positive" Kontrolle, wohl aber ein Veto über den Einsatz jener Waffen, die nur mit Hilfe ihrer Trägerraketen oder Artillerie eingesetzt werden können. Das betrifft jedodi nur eine begrenzte Anzahl der Waffen und keine, die sich unter der alleinigen Kontrolle (Sprengköpfe und Träger) amerikanischer Streitkräfte befinden; vgl. oben, S. 60. Und im Jahre 1962 wurde mit dem Abzug jener Waffen, die bereits in Europa stationiert waren, begonnen.
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I. Kapitel. Die nukleare Frage wird akut
B. Der Druck wächst Ende 1957 waren die Fragen sowohl der taktischen wie der strategischen Kernwaffen in der Allianz umstritten. Die Auseinandersetzung um die nukleare Mitwirkung konzentrierte sich jedoch bald auf die strategischen Waffen und das Problem der Abschreckung. Bei der Debatte über die taktischen Atomwaffen drehte sich die Diskussion nicht so sehr um die Verfügungsgewalt über die Waffen — eine gemeinsame Kontrolle bestand in gewissem Umfang sdion durch das „Zwei-SchlüsselSystem", außerdem erschien dieses Problem neben dem der Verfügungsgewalt über strategische Kernwaffen als zweitrangig —, sondern mehr um die allgemeine Rolle taktischer Atomwaffen und die Bedingungen, unter denen sie einzusetzen wären, d. h., es ging um die Probleme der Verteidigung Westeuropas im allgemeinen. Freilich läßt sich die spezifische Frage der nuklearen Mitbestimmung schwer von der allgemeinen Verteidigungsproblematik trennen, und zuzeiten sind die beiden Komplexe tatsächlich untrennbar miteinander verquickt. Die allgemeine Debatte über das Wann und Wie des Einsatzes von Nuklearwaffen überhaupt und von taktischen Atomwaffen im besonderen läßt sich indessen klar unterscheiden von den spezifischen Forderungen der Verbündeten nach Mitwirkung bei der Festlegung dieser Einsatzkriterien oder nach Kontrolle des tatsächlichen Einsatzes der Waffen. Hier soll dieser zweite Aspekt untersucht werden; allerdings kann und wird die allgemeine Verteidigungsdebatte dabei nicht unberücksichtigt bleiben, besonders da, wo sie die Frage der nuklearen Mitbestimmung unmittelbar beeinflußte. Obwohl die Frage der nuklearen Mitwirkung sich Ende 1957 noch vage und undeutlich stellte, war das Problem doch bereits unverkennbar vorhanden. Die amerikanischen Vorschläge, taktische Atomwaffen in Europa zu stationieren, gingen davon aus, daß mit diesen Waffen zunächst nach dem „Zwei-Schlüssel-System" verfahren würde; d. h., die Trägerraketen sollten in die Hände der betreffenden europäischen Streitkräfte übergehen, die Sprengköpfe aber in amerikanischer Obhut bleiben. Da das aber keine ausreichende Antwort auf den europäischen Wunsch nach mehr Mitsprache beim Einsatz von Kernwaffen war, diente diese Politik auch kaum dem amerikanischen Bestreben, den weiteren Ausbau nationaler Atomstreitkräfte zu verhüten. Frankreich zum Beispiel war allenfalls bereit, die Hälfte der für Europa geplanten 300 Polaris-Raketen auf seinem Boden installieren zu lassen, und audi das
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nur, wenn es die volle Verfügungsgewalt über sie erhielte; dazu aber waren die Vereinigten Staaten nicht bereit." Die Debatte über die nukleare Mitbestimmung hatte jedoch gerade erst begonnen. Die Europäer waren, wie schon angedeutet, von widerstreitenden Motiven bewegt. Auf der einen Seite hatten die Jahre der „Politik am Rande des Krieges1' unter Außenminister Dulles in ihnen die Befürchtung geweckt, die USA könnten sie in eine atomare Katastrophe hineinziehen; auf der anderen Seite ließ die zunehmende amerikanische Verwundbarkeit durch einen sowjetischen strategischen Angriff bei ihnen die Besorgnis aufkommen, die USA würden keine Kernwaffen zur Verteidigung Europas einsetzen. Ein wirtschaftlich und militärisch erstarktes Europa wünschte zwar größere Unabhängigkeit von den Vereinigten Staaten, aber zugleich wünschten die Europäer eine Gewähr dafür, daß die amerikanische nukleare Reaktion im Falle eines Angriffs mit einem gewissen Automatismus erfolgen würde. Die amerikanische Politik ihrerseits befand sich in keinem geringeren Dilemma. Einerseits wollten die Vereinigten Staaten nicht durch eine allzu engherzige Nuklearpolitik Frankreich und andere (eines Tages auch die Bundesrepublik) zum Erwerb eigener Kernwaffen treiben; andererseits wollte die amerikanische Regierung nicht durch eine großzügigere Nuklearpolitik indirekt (über die Verbreitung von nuklearem „know-how") das gleiche Resultat herbeiführen und zugleich die Gefahr von nuklearen Zwischenfällen erhöhen, das eigene Nuklearmonopol im Bündnis abbauen und mögliche Verhandlungen mit der Sowjetunion blockieren. Die Antwort auf dieses Dilemma hofften die Vereinigten Staaten in einer gemeinsamen Atomstreitmacht der N A T O zu finden; einer Streitmacht, die die Zahl der nationalen Atommächte nicht erhöhen, wohl aber die Wünsche der Verbündeten nach mehr Verfügungsgewalt in den Fragen ihrer eigenen nuklearen Verteidigung erfüllen würde. An der Entwicklung dieser Ideen arbeiteten Amerikaner auf beiden Seiten des Atlantiks: in Europa der Alliierte Oberbefehlshaber, General Lauris Norstad, und in den Vereinigten Staaten eine Studiengruppe unter Leitung von Robert R. Bowie im State Department. Beide Seiten beeinflußten und ermunterten einander. Im Rahmen der Planung für das zweite Jahrzehnt der N A T O hatte Außenminister Christian Herter Ende 1959 eine Studiengruppe eingesetzt und zu ihrem Vorsitzenden Professor Robert R. Bowie ernannt, » Vgl. NYT, 25. Juni I960.
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den Direktor des Center for International Affairs der Harvard-Universität und früheren Chef des Planungsstabes des Außenministeriums. Die Hauptpunkte der Bowie-Studie, die dem Außenminister im Herbst 1960 vorgelegt wurde, waren folgende: a) Die Vereinigten Staaten sollten die Schaffung einer nuklearen Abschreckungsstreitmacht innerhalb der NATO und unter dem Befehl dieser Organisation unterstützen; b) als Beispiel für eine große nukleare Abschreckungsstreitmacht im atlantisdien Maßstab sollten die USA der Allianz nicht landgestützte Raketen zur Verfügung stellen, sondern eine Flotte von international bemannten Polaris-Unterseeboten; c) die bestehende Praxis, sich primär auf Kernwaffen zu verlassen, sollte geändert werden: eine Verstärkung der konventionellen Streitkräfte würde es ermöglichen, begrenzte konventionelle Angriffe mit angemessen begrenzten konventionellen Kräften zu beantworten.20 In Europa betonte General Norstad, er spreche nicht für die Regierung der Vereinigten Staaten; aber es war evident, daß es zwischen seinen Vorstellungen und denen der Bowie-Studie zumindest Parallelen gab. Norstad äußerte seine Ideen erstmals in einer Rede an der University of Southern California am 6. Dezember 1959. Er fragte: „Wie begegnen wir einem zunehmenden, aber nodi etwas undeutlichen und widersprüchlichen Verlangen unserer europäischen Bündnispartner nach stärkerer Teilhabe an der Verfügungsgewalt über Kernwaffen? Wie kann für die Allianz als Ganzes sichergestellt werden, daß ihr solche Waffen unter allen annehmbaren Umständen für ihre Verteidigung, die Verteidigung Europas, zur Verfügung stehen?"21 Unter Hinweis auf Frankreichs nukleares Unabhängigkeitsstreben und die beunruhigende Aussicht, daß andere Nationen diesem Beispiel folgen könnten, regte Norstad an, die Allianz möge die Übertragung von Verfügungsgewalt über Kernwaffen an die NATO selbst als „vierte Atommacht" erwägen (zum Unterschied von Bowie dachte er an landgestützte Raketen). Dies, meinte er, werde vielleicht „auf das Streben mancher Nationen nadi einer eigenen atomaren Rüstung keinen Einfluß haben", aber es könnte „bei anderen sehr wohl ein Gutteil der Motive, ein gleiches zu tun, beiseite räumen". 0 20 21 22
Vgl. N Y T , 14. Oktober 1960. Text in: NATO-Letter, Januar I960, S. 10. Ebd.. Siehe auch Lauris Norstad, N A T O as the Fourth Atomic Power, in: Survival, Mai/Juni 1960, S. 106—107 und die Rede Norstads in Coventry am 12. Oktober 1960 (Berichte in: N Y T und Le Monde, 14. Oktober 1960). Im Dezember 1959 hatte die WEU-Versammlung eine Resolution des britischen Labour-Mitglieds Frederick
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Der Norstad-Plan (dieser Name bürgerte sich ein) wurde im Laufe des Jahres 1960 mehrmals öffentlich dargelegt, aber stärkere internationale Beachtung fand er erst (vielleicht gefördert durch die ersten Berichte über die Bowie-Studie), als General Norstad am 21. November 1960 in Paris auf der Sechsten Jahreskonferenz der NATO-Parlamentarier sprach. Die Ereignisse, die dieser Rede vorangingen, sind bedeutsam.2' Sie reichen zurück bis zu den deutsch-französischen Diskussionen in Rambouillet im Sommer des gleichen Jahres. Hier präsentierte Präsident de Gaulle am 29. und 30. Juli 1960 dem deutschen Bundeskanzler sein Konzept für die Zukunft der N A T O und der europäischen Gemeinschaften.24 De Gaulle gab zu verstehen, daß es sein Wunsch sei, den Integrationsprozeß auf europäischer wie auf atlantischer Ebene abzubremsen und zu voller nationaler Souveränität und einer traditionellen Bündnispolitik zurückzukehren. In der Frage der EWG war Adenauer kompromißbereit (eine Yerlangsamung des EWG-Agrarprogramms kam ihm wegen der im Herbst 1961 anstehenden Bundestagswahlen gelegen), aber de Gaulles atlantische Intentionen beunruhigten ihn zutiefst. Der französische Präsident trat zwar für die Beibehaltung der atlantisdien Allianz ein, wollte aber militärische und strukturelle Veränderungen ihrer Organisation vorschlagen, die sie in eine sehr locker gefügte Gruppierung souveräner Staaten verwandeln würden. Innerhalb dieser sollte eine europäische Gruppe gebildet werden — offensichtlich unter der Führung Frankreichs. Für Adenauer war das unannehmbar. Die Sicherheit der Bundesrepublik beruhte auf der N A T O und der engen Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten. Bonn konnte sie nicht um Frankreichs willen aufs Spiel setzen. Eine Wahl zwischen Frankreich und den USA kam nicht in Frage — und wenn sie doch getroffen werden mußte, dann zugunsten der USA. Davon war Adenauer im Jahre 1960 fest überzeugt. Überdies stand für ihn fest, daß die Bundesrepublik ihren militärischen Einfluß in der N A T O — von der ihre Sicherheit abhing — nur durch verstärkte Integration steigern konnte. Hier zeigte sich klar das fundamentale deutsche Interesse an einer Politik der Inte-
23
"
Mulley angenommen mit der Empfehlung, die nukleare Frage der Allianz dadurch zu lösen, daß die WEU zu einer „vierten Atommacht" gebildet würde; vgl. Frederick Mulley, Eine europäische strategische Abschreckungsmacht, in: EA, 6/1963, S. 193— 202 und Osgood, N A T O — The Entangling Alliance, a.a.O., S. 229 f. Vgl. C. L. Sulzberger in der N Y T vom 23. November 1960. Diese Berichte werden bestätigt durch Paul-Henri Spaak, Memoiren eines Europäers, Hamburg 1969, S. 411 ff. und Dirk U. Stikker, Men of Responsibility, New York 1965, S. 327 ff. Vgl. Konrad Adenauer, Erinnerungen 1959—1963, Stuttgart 1968, S . 5 4 f f . , und Charles de Gaulle, Mémoirs d'Espoir 1958—1962, Paris 1970, S. 173 ff.
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I. Kapitel. Die nukleare Frage wird
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gration, der Festigung des Bündnisses und der Bindung der USA an Europa — Ziele, die auch die deutsche Nuklearpolitik bestimmten. Adenauer verließ Rambouillet tief beunruhigt über de Gaulles NATO-Pläne und fest entschlossen, ihre Verwirklichung zu verhindern. Den deutschen Botschafter in Paris, Herbert Blankenhorn, wies er an, engen Kontakt mit dem französischen Außenministerium zu halten und stets auf dem laufenden über französische Schritte zu bleiben. (Am 6. August schickte Adenauer den Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Hilger van Scherpenberg, nach Paris, aber der französische Außenminister Couve de Murville konnte de Gaulles Absichten nur bestätigen.) Anfang September kam Blankenhorn zur Berichterstattung in Adenauers Urlaubsort Cadenabbia am Comer See. Gleichzeitig besuchten ΝΑΊΌGeneralsekretär Paul-Henri Spaak und General Norstad den belgischen NATO-Botschafter am Lago Maggiore. Am 9. September trafen sich Spaak, Norstad und Adenauer in der Villa des niederländischen NATO-Botschafters Dirk Stikker in Menaggio am Comer See.25 Adenauer erklärte bei dieser Gelegenheit, es sei Präsident de Gaulle nicht gelungen, die Bundesrepublik von ihrer auf Festigung der NATO(und europäischen) Integration gerichteten Politik abzubringen; zugleich meinte er aber, es müsse etwas getan werden, um Frankreich zu beschwichtigen. Norstad erläuterte daraufhin seinen Plan, einige amerikanische Gefechtsköpfe der Verfügungsgewalt der Allianz zu unterstellen. Adenauer griff die Idee als Ausweg aus der Sackgasse auf, in die das amerikanisch-französische Verhältnis geraten war. Er hoffte, Frankreich werde sich dazu bringen lassen, einer solchen Ubergabe amerikanischer Kernwaffen an die NATO zuzustimmen, und erklärte sich bereit, die Franzosen zu überreden, dem Plan wenigstens keinen aktiven Widerstand entgegenzusetzen, falls die Vereinigten Staaten ihn unterstützten.2" Norstad und Spaak ihrerseits versprachen, die amerikanische Regierung zur Vorlage eines Plans im Sinne Nordstads zu bewegen.27 25 24
27
Ebd. Siehe auch Spaak, Memoiren, a.a.O., S. 411—417. In der Frage integrierter nuklearer Waffensysteme blieb das die deutsche Politik gegenüber Frankreich bis November 1964, als Frankreich seinen Widerstand gegen dieses Konzept (die MLF) deutlich verstärkte; vgl. unten, S. 183 ff. Ende 1960 war bereits ein neuer amerikanischer Präsident gewählt und alles hing davon ab, welche Einstellung er haben würde. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, daß auf der gleichen Tagung der NATO-Parlamentarier, auf der Norstad seinen Plan vorlegte, der neugewählte amerikanische Vize-Präsident Lyndon B. Johnson in erster Linie über die Notwendigkeit gemeinsamer wirtschaftlicher Anstrengungen für die Entwicklungsländer sprach und damit deutlich die damaligen Interessen der Kennedy-Regierung darlegte (vgl. NYT, 22. November 1960). In der
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Die Elemente von Norstads Konzept waren in drei Kategorien gegliedert, die er sorgfältig voneinander trennte.88 Zunächst forderte er eine Verstärkung der konventionellen NATO-Streitkräfle, um die Schwelle anzuheben, an der es notwendig werden würde, zur Verteidigung Westeuropas Kernwaffen einzusetzen. Danach wies er auf die Bedrohung Westeuropas durch sowjetische Raketen hin. Er schlug vor, dieser Bedrohung dadurch zu begegnen, daß man Mittelstreckenraketen (Reichweite 1000-1500 Seemeilen) in Europa dem Befehl von SACEUR unterstellte. Diese Idee bestand seit 1957 und war zum Teil in Gestalt der „Thor"- und „Jupiter"-Programme in Großbritannien, Italien und der Türkei verwirklicht worden.2' Die Raketen sollten eine Ergänzung zu den NATO-Bomberflugzeugen bilden, die — wie man annahm — bald durch feindliche Boden-Luft-Raketen verwundbar sein würden. Diese Flugzeuge unterstanden schon seit mehreren Jahren SACEUR; sie konnten nukleare Sprengköpfe (unter amerikanischer Verfügungsgewalt) an all die Ziele befördern, die in der Reidiweite der vorgeschlagenen Raketen lagen. Norstad betrachtete diese Neuerung somit lediglich als Modernisierungsmaßnahme und bezeichnete sie auch so.30 Weit darüber hinaus ging er jedoch mit dem Vorschlag, die USA sollten einen „dramatischen Schritt" tun und auch die Verfügungsgewalt über die nuklearen Sprengköpfe mit ihren Verbündeten teilen. Die Notwendigkeit der Raketenverteidigung wäre ein militärisches Problem; T a t war kein Mitglied der neuen Regierung auf der Tagung des N A T O - R a t s im Dezember 1960 anwesend; vgl. Bemerkungen dazu in der F A Z , 29. Dezember 1960 und unten, S. 81. 28
Vgl. N Y T und Times, 22. November und Times und N Z Z , 23. November 1960. Ursprünglich hatte Norstad seine Vorschläge in Verbindung mit der geplanten N A T O „ A C E Mobile Force" gemacht, aber diese Verbindung wurde später wieder aufgelöst, hauptsächlich aufgrund des Widerstands des Joint A t o m i c Energy C o m m i t t e e ; vgl. dazu Osgood, N A T O — The Entangling Alliance, a.a.O., S. 231 f. Norstad entschloß sich daraufhin, sein nukleares Konzept in Verbindung mit einer vollkommen neu aufzustellenden Streitmacht vorzubringen. Das lag auch im Interesse der Bundesrepublik, die ursprünglich der „ A C E Mobile Force" nicht beitreten wollte, aus der Befürchtung heraus, daß damit die weitere Integration aller NATO-Streitkräfte geschwächt werden könnte (vgl. ebd., S. 231). Als die beiden Vorschläge jedoch wieder getrennt wurden, erklärte die Bundesrepublik im Dezember 1960 ihre Bereitschaft zur Mitgliedschaft in der „Mobile Force" (vgl. F A Z , 7., 10., 14. und 16. Dezember 1960).
28
Siehe oben, S. 70 f.
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Allerdings ist eine Rakete nur zu nuklearen Zwecken verwendbar; insofern bestand gegenüber Raketen eine größere Zurückhaltung als gegenüber Flugzeugen. Vgl. Times, 23. November 1960.
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dies jedoch — die Verfügungsgewalt — ein politisches. Es würde nötig werden, eine Institution — vielleicht sogar eine hochrangige politische Instanz — zur Ausübung der nuklearen Kontrollfunktionen zu schaffen. In der Tat, erklärte General Norstad, diene sein Konzept nicht nur militärischen, sondern auch wichtigen politischen Zwecken. Unter anderem erfülle es die Forderung einiger westlicher Länder nach Teilhabe an der Verfügungsgewalt über die in Europa stationierten nuklearen Waffen. Insofern berücksichtige es das Problem der zweifachen europäischen Befürchtung: daß nämlich die USA keine Kernwaffen zur Verteidigung Europas einsetzen könnten, und umgekehrt, daß sie Europa in eine nukleare Katastrophe hineinreißen könnten. Das Konzept berücksichtige auch die spezifischen Einwände Frankreichs gegen Kernwaffen auf seinem Boden unter ausschließlicher Verfügungsgewalt der Vereinigten Staaten. Norstad deutete sogar an — freilich nicht mit großer Zuversicht —, daß sein Plan Frankreich zum Verzicht auf sein nukleares Unabhängigkeitsstreben bewegen könnte. Auf jeden Fall, meinte er, müsse das Projekt viele der anderen Verbündeten zufriedenstellen, die mehr Mitsprache beim Einsatz von Kernwaffen zur Verteidigung des NATO-Gebiets wünschten.
C. Ein erster Vorschlag Die Stoßkraft des Norstad-Plans und der Bowie-Studie faßte N A T O Generalsekretär Spaak zusammen, als er am 23. November 1960 Washington besuchte. Er erklärte Außenminister Herter und Verteidigungsminister Gates, es sei wünschenswert, daß die Vereinigten Staaten auf der Dezember-Tagung des NATO-Rates einen Plan zur nuklearen Mitbestimmung vorlegten.31 Das Resultat dieses Drängens wurde weniger als einen Monat später, am 16. Dezember 1960, in Paris sichtbar.32 In seiner Rede vor dem Rat machte Herter zwei Vorschläge: Erstens würden die USA bis 1963 der N A T O fünf Atom-U-Boote, jedes mit 16 Polaris-Raketen bestückt, assignieren; zweitens sollten die anderen NATO-Verbündeten den USA zusätzlich etwa 100—120 Raketen ab31
,2
Vgl. Spaak, Memoiren, S. 418 ff. und N Y T , 24. November, Le Monde 25. November, N Z Z 26. November und Times 9. Dezember 1960. Vgl. N Y T und N Z Z , 17. Dezember 1960 und FAZ, 21. Dezember 1960. Das geschah, obwohl der Herter-Vorschlag im amerikanischen Verteidigungsministerium auf harten Widerstand getroffen war: Bereits zu dieser Zeit sind die unterschiedlichen Auffassungen des Pentagon und des State Department sichtbar, die in den folgenden Jahren eine ständige Rolle spielten.
C. Ein erster
Vorschlag
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kaufen. Zusammengenommen könnten diese Waffen den Kern einer neuen, multilateralen Streitmacht für den Einsatz von Mittelstreckenraketen bilden; diese Streitmacht werde die Kampfkraft der Allianz erhöhen und zugleich die amerikanische Verpflichtung zur Verteidigung Westeuropas bekräftigen. Der Vorschlag fußte offenkundig auf den Ideen Norstads und Bowies; er enthielt aber audi einige neue Anregungen und Bedingungen. Neu war erstens, daß die von den Europäern zu kaufenden Raketen auf Überwasserschiffen europäischer Herkunft installiert werden sollten; sie sollten weder, wie Norstad wünschte, auf dem Festland, noch gemäß Bowies Vorschlag auf Unterseebooten aufgestellt werden. Überwasserschiffe wurden als weniger gefährlich und weniger kostspielig angesehen.33 (Hier war also schon der Grundgedanke der späteren „ M L F " zu erkennen.) Zweitens hatte Herter seine Vorschläge sichtlich auf die Erfordernisse der amerikanischen Zahlungsbilanz abgestimmt: Durch den Ankauf der Raketen sollte die Zahlungsbilanz der U S A entlastet und eine gerechtere Verteilung der Verteidigungslasten der N A T O erreicht werden. Der dritte und wichtigste Punkt aber war folgender: Sowohl Norstads wie Bowies Plan enthielten zwei Elemente, nämlich einmal die Assignierung amerikanischer Waffen an die N A T O und zum anderen die Übertragung der Verfügungsgewalt über die Sprengköpfe vom Präsidenten der U S A an den N A T O - R a t . Der Herter-Vorschlag hingegen sah für die assignierten amerikanischen Unterseeboote nur die erste Form der Übertragung vor (und selbst diese galt nur eingeschränkt, denn praktisch blieben die amerikanischen Boote unter dem Befehl jenes amerikanischen Admirals, dem sie auch vorher schon unterstanden hatten und der sowohl für die amerikanischen wie für die NATO-Seestreitkräfle im Atlantik verantwortlich war). Bei den zusätzlichen, in Amerika zu kaufenden Raketen sollte das „Zwei-Schlüssel-System" angewandt werden, bis die Europäer ein Verfahren für eine gemeinsame europäische politische Kontrolle ausgearbeitet hätten — erst dann wollten die Vereinigten Staaten eine Übertragung der politischen Verfügungsgewalt über die Sprengköpfe ins Auge fassen. Schließlich schränkte Herter diese Möglichkeit aber noch weiter durch den Hinweis ein, daß für die Verwirklichung des multilateralen Aspekts seines Vorschlags die Zustimmung des US-Kongresses erforderlich sei.34 Auch betonte er, man müsse 53
54
Es gab ein gewisses Hin und Her bei den Vorschlägen zwischen Schiffen, Unterseebooten und landgestützten Raketen bzw. verschiedenen Kombinationen dieser Elemente. Sdiließlidi entschied man sich jedoch für Oberwasserschiffe; vgl. unten, S. 140 f. Es gab Berichte, daß die Eisenhower Regierung die Unterstützung verschiedener Mit-
80
I. Kapitel.
Die nukleare
Frage wird
akut
abwarten, welchen Standpunkt die neue Regierung unter dem im Januar 1962 ins Amt eintretenden Präsidenten John F. Kennedy beziehen werde. Die Vorschläge waren also begrenzt, und feste Beschlüsse wurden auf der Tagung nicht gefaßt: Kurz, es änderte sich wenig. Wie sich zeigen sollte, waren die Vorschläge mehr eine Geste guten Willens als der Anfang realistischen Handelns. Zum Teil lag das am mangelnden Interesse der neuen amerikanischen Regierung; hauptsächlich aber daran, daß es nach wie vor schwer war, die Verfügungsgewalt über Massenvernichtungswaffen, bei deren Einsatz es um Leben und Tod von Nationen ging, an andere zu übertragen oder mit ihnen zu teilen.35 Das Schlußkommuniqué der Tagung war dementsprechend vage und unverbindlich. Es bezeichnete ein ausgewogenes Verhältnis zwischen konventionellen und nuklearen Streitkräften als erforderlich und betonte die Notwendigkeit, in den Bemühungen „für eine Verstärkung der Abschreckung und der Verteidigungskraft des Bündnisses fortzufahren". Weiter hieß es dann: „In diesem Zusammenhang schlug die Regierung der Vereinigten Staaten dem Bündnis den Gedanken einer mit Mittelstreckenraketen ausgerüsteten multilateralen Streitmacht zur Prüfung vor. Der Rat nahm den Vorschlag der Vereinigten Staaten mit großem Interesse zur Kenntnis und wies die ständigen Vertreter an, ihn und die damit zusammenhängenden Fragen ausführlich zu prüfen. Der Rat begrüßte die Zusicherung der Vereinigten Staaten, die der N A T O zur Verfügung gestellten amerikanischen Atomwaffen auch weiterhin im NATO-Gebiet zu belassen."3" So wurde auf der Pariser Tagung gründlich verwässert, was noch ein paar Wochen zuvor wie der Anfang einer neuen Ära des Bündnisses ausgesehen hatte. Norstads ursprüngliches Konzept, Kernwaffen der Verfügungsgewalt von SACEUR zu unterstellen, wurde durch das amerikanische Angebot, der N A T O Polaris-U-Boote zu assignieren, weitgehend verwischt. Praktisch änderte sich dadurch nichts. Audi gab es Andeutungen, daß die Vereinigten Staaten sich genötigt sehen könnten, Teile ihrer Streitkräfte „umzugruppieren", falls die Europäer kei-
35
3e
glieder des Joint Atomic Energy Committee für den Vorschlag gewonnen hatte; vgl. NYT, 24. November 1960. Dennoch blieb es unwahrscheinlich, daß der Kongreß wesentliche Konzessionen in bezug auf die Kontrolle der nuklearen Waffen machen würde; vgl. Osgood, NATO — The Entangling Alliance, a.a.O., S. 230—234. Der grundsätzliche Widerstand in den Vereinigten Staaten wird vom Washingtoner Korrespondenten der FAZ, Joachim Schwellen, beschrieben: FAZ, 7. Dezember 1960. Schlufikommuniqué in: EA 1/1961, S. D 15—16, hier S. 16.
C. Ein erster
Vorschlag
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nen größeren Anteil an den Verteidigungslasten übernähmen; das erschien Skeptikern unter den Europäern wie ein erster Schritt zum Disengagement." Diese Befürchtungen wurden genährt durch das offenkundige Desinteresse des neugewählten (aber nodi nicht im Amt befindlichen) Präsidenten Kennedy, der nicht einmal einen Vertreter zu der Tagung entsandt hatte. 38 Herter konnte mithin Europa nicht garantieren, daß seine Vorschläge die volle Unterstützung der neuen Regierung haben würden. Überdies war man sich im klaren, daß die Ausarbeitung eines Kontrollsystems ein langwieriger, mühseliger Prozeß sein würde, der gewiß nicht ohne amerikanische Mitwirkung vor sich gehen konnte. Die notwendige Vorsicht, mit der Herter vorging, dazu die Ungenauigkeit und Bedingtheit der Initiative, die zunächst als „Plan", dann als „Vorschlag" bezeichnet wurde (und deren Details die Europäer selbst ausarbeiten sollten) — das alles war natürlich nicht dazu angetan, die Engländer oder die Franzosen aus der Reserve zu locken. Die Unbestimmtheit des Konzepts machte es ihnen leicht, konkrete Diskussionen zu vermeiden, und das Desinteresse Kennedys ließ das Argument, man müsse erst die Stellungnahme der neuen Regierung abwarten, einleuchtend erscheinen. Großbritannien hatte seine ablehnende Haltung sofort nach Norstads Rede vor der NATO-Parlamentarier-Konferenz deutlich gemacht. Einmal sahen die Engländer keine Notwendigkeit für eine derartige Streitmacht, da sie ihre eigene Atomstreitmacht besaßen und bereits eng mit den Vereinigten Staaten zusammenarbeiteten. Sie brauchten weder Zusicherungen hinsichtlich der amerikanischen Präsenz in Europa (Sicherheit), noch wünschten sie mehr Mitsprache in nuklearen Angelegenheiten (politischer Einfluß). Vielmehr fürchteten sie sogar an politischem Status zu verlieren, wenn ihre selbständige Atomstreitmacht und ihr Sonderverhältnis zu den U S A in einer atlantischen Streitmacht aufgingen. Ferner erstrebten sie eine Ost-West-Verständigung und fürchteten die Weiterverbreitung von Kernwaffen. Ein nukleares Arrangement innerhalb der N A T O würde, so meinten sie, die Chancen eines Nichtverbreitungs-Abkommens mit der U d S S R ein für allemal zunichte machen. Weiter argumentierten sie, die nukleare Verteidigung sei unteilbar, und zwei nukleare Entscheidungszentren würden das Bündnis spalten. 39 Im übrigen seien zusätzliche Atomstreitkräfte militärisch un37 38
*·
Vgl. Bericht der N Y T , 24. Dezember 1960. Vgl. Bericht der F A Z , 29. Dezember 1960 und ebd. Siehe z. B. die Bemerkungen von John Strachey oder Sir Otho Prior-Palmer, des Vorsitzenden des NATO-Militärausschusses auf der NATO-Parlamentarierkonfe-
6 Mahntke
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I. Kapitel. Die nukleare Frage wird akut
nötig. Und schließlich würden „fünfzehn Finger am Abzug" den Entscheidungsprozeß dermaßen schwerfällig machen, daß die auf rasche Entschlüsse angewiesene Streitmacht dadurch nutzlos würde.40. Die Franzosen waren noch zurückhaltender, und weitgehend aus den gleichen Gründen. 41 Auch sie wollten eine selbständige Rolle als Atommacht spielen und waren in erster Linie daran interessiert, sich die Streitmacht zu schaffen, die sie — seit Suez — für das unerläßliche Attribut einer unabhängigen Großmacht hielten. Zwar war Couve de Murville im Dezember 1960 nicht grundsätzlich gegen die amerikanischen Vorschläge, sondern wollte erst wissen, was dahintersteckte; aber interessant wäre der Vorschlag für die Franzosen nur dann gewesen, wenn die USA, zugleich mit der Übergabe von Kernwaffen an die Verbündeten, willens gewesen wären, Frankreich Nukleargeheimnisse zu überlassen, auf diese Weise sein Kernwaffenprogramm zu beschleunigen und ihm einen Teil der finanziellen Last abzunehmen.42 Dazu aber waren die Vereinigten Staaten nicht bereit — unter Kennedy noch weniger als unter Eisenhower. Engländer und Franzosen waren indes nicht die einzigen, die Zurückhaltung an den Tag legten. Tatsächlich hatte es den Anschein, daß zwar alle Verbündeten eine Assignierung amerikanischer Kernwaffen an die N A T O begrüßen würden, daß aber die meisten eine Übertragung der Verfügungsgewalt über diese Waffen vom amerikanischen Präsidenten auf den NATO-Rat ablehnten.43 Die einzigen, die auf der Pariser NATO-Tagung im Dezember 1960 diese Übertragung der Verfügungsgewalt aktiv befürworteten, waren Generalsekretär Spaak (der abermals vom Ergebnis der Tagung enttäuscht war und eine Rückkehr in die belgische Politik erwog44) und die deutsche Delegation unter Außenminister Heinrich von Brentano und Verteidigungsminister Franz Josef Strauß. 45
40
41 42 43
44 45
renz im Konferenzprotokoll, NATO Parlamentarians' Conference, Sixth Annual Conference, Paris, 21st—26th November 1960. Vgl. Berichte und Kommentare in: Times, 20. Oktober, NZZ 21. Oktober und Times 25. November 1960. Vgl. Bericht in: NZZ, 21. Oktober 1960. Vgl. FAZ, 29. Dezember 1960. Diese Beobachtung wurde sowohl nach der NATO-Parlamentarierkonferenz als auch nach der NATO-Ratstagung gemacht; vgl. NZZ, 27. November 1960 und FAZ 29. Dezember 1960. Vgl. Spaak, Memoiren, a.a.O., S. 418—427. Siehe dazu Bericht in: FAZ, 19. Dezember 1960.
D. Die Haltung der
D. Die Haltung der
Bundesrepublik
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Bundesrepublik
1. D i e S i c h e r h e i t s i η t e r e s s e η Der Aufbau des sowjetischen Raketenpotentials in den späten f ü n f ziger und den sechziger Jahren ging stets mit doppelter Zielsetzung vor sich. Mittelstreckenraketen wurden auf Westeuropa gerichtet, Interkontinentalraketen auf die Vereinigten Staaten. Vom europäischen Standpunkt waren dabei zwei Elemente zu berücksichtigen. Erstens ein primär militärisches Problem: Die sowjetischen Mittelstreckenraketen bedrohten Westeuropa, ohne daß es ein ausreichendes militärisches Gegengewicht in Westeuropa oder unter westeuropäischer Verfügungsgewalt gab (abgesehen von einigen veralteten amerikanischen Bombern in Spanien und Großbritannien, dem britischen Bomberkommando und etwa 100 amerikanischen Mittelstreckenraketen in Großbritannien, der Türkei und Italien). 46 Zweitens: Den sowjetischen Raketen stand die Strategische Luftflotte (Strategie Air Command) der Vereinigten Staaten gegenüber, aber hier entwickelte sich infolge der zunehmenden Verwundbarkeit des amerikanischen Kontinents durch einen sowjetischen Raketenangriff das primär politische Problem der abnehmenden Glaubwürdigkeit der amerikanischen Kernwaffengarantie für Europa. Die Deutschen legten in beiderlei Hinsicht den Akzent auf das politische Problem. Im Jahre 1956 hatte sich die Bundesrepublik den NATO-Standpunkt zu eigen gemacht, wonach eine mögliche lokale konventionelle Überlegenheit der Sowjetunion in erster Linie durch taktische Atomwaffen wettgemacht werden sollte. Entsprechend dem Konzept der „Vorwärtsverteidigung", das eine Verteidigung des Bündnisgebiets möglichst dicht an der Grenze vorsah, erfüllten diese Waffen eine wichtige Verteidigungsfunktion. In deutschen Augen gewann jedoch eine andere Funktion dieser taktischen Atomwaffen immer mehr an Bedeutung, nämlich die der Abschreckung. Somit hatte die Bundesregierung f ü r das politische Problem der abnehmenden Glaubwürdigkeit wie f ü r das militärische Problem der sowjetischen konventionellen Drohung die gleiche Antwort: Es galt, die amerikanischen Truppen an Europa zu binden, d. h. ihre Präsenz zu sichern, und es galt zu gewährleisten, daß diese Truppen und ebenso die Streitkräfte der Bundesrepublik mit taktischen Atomwaffen ausgerüstet wurden. 4
® Vgl. dazu Wilhelm Cornides, Ansätze des amerikanisch-sowjetischen Bilateralismus, in: Wilhelm Cornides und Dietrich Mende (Hrsg.), Die internationale Politik 1961, München 1964, S. 28 ff., hier besonders S. 40—42.
6·
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I. Kapitel. Die nukleare Frage wird
akut
Die Ausrüstung mit taktischen Atomwaffen enthielt — so sah es die Bundesregierung — eine Eskalationsdrohung und verlieh damit der amerikanischen Garantie, daß die gesamte strategische Macht der Vereinigten Staaten im Fall eines Angriffs auf Westeuropa bereitstehe, einen gewissen Automatismus.47 Die Eskalationsdrohung war für die Deutschen eine Gewähr für den amerikanischen Abschreckungsschutz : Taktische Atomwaffen bedeuteten Eskalation, Eskalation bedeutete Drohung mit dem totalen Krieg — und das bedeutete Abschreckung. Die alte, im Verteidigungsdenken wurzelnde Besorgnis, daß die Bundesrepublik und die Allianz ohne taktische Atomwaffen einem mit überlegenen konventionellen Kräften geführten sowjetischen Angriff nicht widerstehen könnten, trat jetzt deutlich zurück gegenüber der am Abschreckungsdenken orientierten Besorgnis, das Fehlen taktischer Atomwaffen könne die Sowjetunion geradezu zum Angriff ermuntern. Die Sowjetunion mochte denken — so lautete das Argument48 —, daß die USA, nachdem sie verwundbar geworden waren, aus Furcht vor Eskalation in Europa keine taktischen Kernwaffen einsetzen würden. Ein Aggressor mochte auf diese Weise das Risiko eines konventionellen Angriffs für kalkulierbar halten und versucht sein, seine konventionelle Überlegenheit zu einem schnellen und begrenzten Vorstoß, einem fait accompli, auszunutzen.4" Die Bundesrepublik war daher nicht nur bestrebt, amerikanische Truppen in Europa zu binden; es kam ihr auch darauf an, daß diese Truppen — und ebenso die deutschen Streitkräfte — im Kriegsfall atomare Waffen zur Verfügung haben würden (wenn die deutschen Truppen im Fall eines Angriffs diese Waffen nicht bekämen, würde der Feind vermutlich dort angreifen, wo sie stünden). Ferner suchte die westdeutsche Führung die Möglichkeit eines langen, verheerenden konventionellen Krieges auszuschließen, indem sie der Bundesrepublik die Abschreckungskraft sicherte, die strategischen Kernwaffen innewohnt. Das war entweder dadurch zu erreichen, daß man taktische Atomwaffen in die konventionellen Streitkräfte integrierte und die Eskalationsdrohung in das Abschreckungspotential einbaute (und den potentiellen Gegner darüber nicht im unklaren ließ), oder dadurch, daß man ein Mitspracherecht beim Einsatz von nuklearen Waffen grö47
48 49
Der Nachdruck auf den Automatismus war jedodi geeignet, die Vereinigten Staaten eher zu größerer Zurückhaltung zu veranlassen; vgl. oben, S. 15. Vgl. Franz Josef Strauß, in: Bulletin, Nr. 68, 7. April 1962, S. 573 f. Diese Sorge wurde erhöht durch verschiedene Vorschläge, getrennte Kommandos für konventionelle und taktisch-atomare Waffen zu schaffen; vgl. unten, S. 97.
D. Die Haltung der
Bundesrepublik
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ßerer Reichweite erhielt, oder — im besten Fall — durdi beides. Denn die taktischen Atomwaffen blieben ja auch bei einer Integration in amerikanischer Verfügungsgewalt (allein die Trägerwaffen gingen in die Verfügungsgewalt des Bündnispartners über), und nur ein Mitspracherecht zumindest beim Planungsprozeß würde sicherstellen, daß der Einsatz von Kernwaffen im Bedarfsfall tatsächlich vorgesehen wurde. Wichtig waren dabei nicht allein die Festlegung der Einsatzbedingungen, sondern auch der Ziele und der zeitlichen Abfolge: Die Eskalation dürfte nicht langsam von Grenze zu Grenze voranschreiten und Mitteleuropa zerstören, während die Sowjetunion verschont bliebe, denn das könnte auf die Sowjetunion unter Umständen nicht genügend abschreckend wirken. Eine derartige nukleare Mitwirkung war erreichbar entweder durch weitergehende Integration innerhalb des Bündnisses, besonders beim Planungsprozeß, oder durch ein besonderes gemeinsames nukleares Arrangement, etwa eine gemeinsame Atomstreitmacht. In der Tat sind es diese beiden Möglichkeiten nuklearer Mitwirkung — gemeinsame nukleare Planung oder der gemeinsame Besitz nuklearer Waffen (oft im Jargon als „hardware"-Lösung bezeichnet) —, die die Bundesrepublik im ganzen hier untersuchten Zeitraum abwechselnd oder gleichzeitig anstrebte, je nachdem, welche Angebote im gegebenen Augenblick von außen kamen und welche Erfolgsaussichten sich boten. Unter diesem Gesichtspunkt läßt sich die untersuchte Periode in zwei Zyklen einteilen: 1957—1962 und 1962—1966. Jeder begann mit einem Konzept für eine gemeinsame Nuklearstreitmacht und endete mit einem Konzept für die gemeinsame Planung. Das Problem, obgleich militärischen Ursprungs, war also in erster Linie politischer Natur und konnte nur mit politischen Mitteln gelöst werden. Die spezifische sowjetische Drohung mit Mittelstreckenraketen spielte eine sekundäre Rolle. Hätte die Bundesrepublik eine weitgehende Integration und damit Einfluß auf die Festlegung der Ziele, Zeitpläne und Einsatzbedingungen der amerikanischen Kernwaffen erreicht, dann wäre in der Tat eine separate Streitmacht militärisch nicht notwendig erschienen. Aber es mußte wirklicher Einfluß sein. Wie Verteidigungsminister Strauß wiederholt erklärte, durfte der potentielle Angreifer nicht in der Lage sein, zwischen den Interessen der Verbündeten zu differenzieren. Nur dann würde ein konventioneller Vorstoß in Europa das Risiko der nuklearen Vergeltung auch gegen das Territorium des Angreifers in sich bergen, was für ihn unannehmbar sein müßte und ihn daher abschrecken würde. Nur für den Fall, daß die Bundesrepublik
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l. Kapitel. Die nukleare Frage wird
akut
diese Lösung nicht erreichen konnte, wurde die Mittelstreckenraketendrohung zu einem zusätzlichen Argument für den zweiten Weg zum gleichen politischen Ziel: Sicherung der nuklearen Garantie durch Beteiligung an einer gemeinsamen nuklearen Streitmacht. Das Argument der Amerikaner, sie hätten genügend Raketen, die gegen die sowjetischen Mittelstreckenraketen gerichtet seien, war richtig, aber es war ein militärisches Argument, und die Deutschen wünschten eine gemeinsame Streitmacht primär nicht aus militärischen, sondern aus politischen Gründen. Wenn aber eine gemeinsame Streitmacht geschaffen werden sollte, dann war es natürlich logisch, ihr als Ziele jene nuklearen Raketen zuzuweisen, die Westeuropa bedrohten.60 2. D i e p o l i t i s c h e n
Interessen
Neben den Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik wurden zunehmend auch die politisch-diplomatischen Implikationen von Kernwaffen erkannt. Mochte die Bundesrepublik auch theoretisch der amerikanischen Garantie sicher sein, so meinte man doch, durch eine Institutionalisierung dieser Garantie — mittels Integration oder Schaffung einer besonderen Streitmacht — könne die Bundesrepublik erstens absolute Sicherheit erlangen, daß die Garantie wirksam werden würde, und zweitens könne sie aufgrund des Einflusses auf die Kernwaffen der Verbündeten an politischem Gewicht gewinnen, zumindest innerhalb des Bündnisses, aber vielleicht auch gegenüber der Sowjetunion. Die Bundesrepublik hatte im Verkehr mit der Sowjetunion keinerlei Fortschritt in der deutschen Frage erzielt. Die Hoffnungen, die die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Bonn und Moskau im Jahre 1955 erweckt hatte, waren in den folgenden Jahren wieder zerstört worden. Unter diesem Eindruck hatte Adenauer seinen Standpunkt über Verhandlungen mit der UdSSR geändert. Hatte er 1956 noch für ein behutsames Vorgehen in der nuklearen Rüstung der NATO plädiert, um den Weg für Verhandlungen offenzuhalten51, so erklärte er am 60
51
Somit wären sie nach der „counterforce strategy" gezielt worden, obwohl es vom Standpunkt der Abschreckung logischer gewesen wäre, sie auf sowjetische Städte zu zielen. Allerdings muß bemerkt werden, daß, während rein strategisch gesehen die Bedrohung durch sowjetisdie Mittelstreckenraketen nur ein zusätzliches Argument für die politischen Bedürfnisse der Bundesrepublik sein konnten, diese Bedrohung dodi den politischen Wünschen Gewicht gab: Die Bundesrepublik war durch sowjetische Mittelstreckenraketen bedroht, und die Bundesrepublik wünschte eine effektive Mitwirkung bei ihrer Verteidigung gegen diese Waffen. Vgl. oben, S. 70.
D. Die Haltung der
Bundesrepublik
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31. Oktober 1960 — in einer Rede, in der er für eine nukleare Streitmacht der NATO eintrat —, daß Kernwaffen in NATO-Besitz Verhandlungen mit den Sowjets nicht erschweren würden; im Gegenteil: solange die Sowjetunion von ihrer nuklearen Überlegenheit überzeugt sei, werde sie sich jedem Fortschritt in der Abrüstungsfrage oder der deutschen Frage widersetzen. Die Vorbedingungen sowohl für eine nukleare Abrüstung als auch für eine Lösung der politischen Probleme Europas sei ein nukleares Kräftegleichgewicht zwischen Ost und West." Adenauer war von der sowjetischen Haltung enttäuscht und wandte seine Aufmerksamkeit verstärkt wieder dem Westen zu. Aber auch hier wurde es für die Bundesrepublik immer schwieriger, vom NATO-Rat jedes Jahr oder jedes halbe Jahr ein zufriedenstellendes Unterstützungsversprechen in der deutschen Frage zu erlangen. Die Bonner Führung empfand es deshalb als notwendig, den deutschen Einfluß zu verstärken und zu festigen. Die wachsende wirtschaftliche und militärische Stärke Westdeutschlands nährte dieses Bedürfnis. Aus einem besiegten, besetzten, militärisch und ökonomisch abhängigen Land war ein souveräner und bedeutender Staat in der europäischen Gemeinschaft geworden. Das dadurch gewonnene Selbstvertrauen ließ die Bundesrepublik nach größerer Unabhängigkeit streben, besonders aber nach Gleichberechtigung mit ihren Partnern. Verstärkt wurde dieser Wunsch nach Einfluß und Gleichberechtigung in der Allianz durch die Verlangsamung der europäischen Integrationsbewegung sowie durch die Bemühungen Frankreichs, eine Atommacht zu werden und die Hegemonie in Westeuropa zu erringen. Es war zu erwarten, daß die Bundesrepublik versuchen würde, diese Entwicklungen zu neutralisieren, ihnen entgegenzuwirken und den deutschen Einfluß- und Manövrierbereich zu erweitern. Zwar wurde die Gefährlichkeit des „französischen nuklearen Vorbilds" für die Bundesrepublik übertrieben,6® besonders seitens der Vereinigten Staaten, aber sicher war, daß die französische Politik zumindest der Unzufriedenheit der Bundesrepublik mit dem Status quo im Bündnis Nahrung gab. Doch weder der Erwerb von nationalen Kernwaffen noch eine Zusammenarbeit mit Frankreich — deren Möglichkeit zweimal sehr zaghaft erkundet wurde54 — waren reale politische Alternativen für die Bundesrepublik, und somit konzentrierte sie sich auf eine Bündnislösung. Die 62
53 M
Rede vor dem Internationalen Presseinstitut in Bonn; Bericht in: Bulletin, Nr. 208, 5. November I960, S. 2005; audi in NZZ, 2. November 1960. Vgl. oben, S. 31 ff. und S. 43 ff. Vgl. oben, S. 49 ff.
88
I. Kapitel.
Die nukleare Frage wird
akut
politischen Interessen geboten das gleiche wie die Sicherheitsinteressen: Der Weg zu Gleichberechtigung und Einfluß führte für die Bundesrepublik über die Integration, sei es durch eine politische Reform innerhalb der NATO, sei es durch die Schaffung einer gemeinsamen Nuklearstreitmacht, sei es durch beides. Dies kam zum Ausdruck in der am 29. November 1960 vom deutschen Botschafter in Frankreich, Herbert Blankenborn, getroffenen Feststellung, daß die Bundesrepublik den Norstad-Plan unterstütze: Es war zugleich eine Mitteilung an den französischen Präsidenten. 55 Den deutschen Standpunkt hatte Adenauer bereits vier Wochen zuvor, am 1. November 1960, in einer Rede vor dem Internationalen Presseinstitut in Bonn formuliert. 58 Die NATO, hatte er erklärt, müsse mit den gleichen Waffen ausgerüstet sein wie der potentielle Gegner. Das bedeute jedoch nicht, daß jeder Staat Kernwaffen produzieren solle. Man solle sich vielmehr um eine Lösung innerhalb der Allianz — eine Nuklearstreitmacht der N A T O — bemühen, und ein „gemeinsames Organ" solle für die Verteidigung aller NATO-Mitglieder, die einem nuklear bewaffneten Gegner gegenüberstünden, verantwortlich sein.57 Der militärpolitische Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Adelbert Weinstein, der Verteidigungsminister Strauß nahestand, faßte die deutschen Argumente schlüssig zusammen. In einem Artikel im November I96058 erklärte er, das Bündnis dürfe nicht in zwei Klassen, die Nuklearen und die Nichtnuklearen, geteilt werden — „nicht weil hierin eine Deklassierung gesehen wird, . . . sondern weil alle atlantischen Verbündeten an den weltpolitischen Entscheidungen teilzuhaben wünschen". Und im April 1961 schrieb er: „Die N A T O als vierte Atommacht wäre eine beachtliche politische und militärische Institution, mit der einen atomaren Waffenstillstand zu schließen im Interesse der Sowjetunion liegen könnte. Mit der N A T O als vierter Atommacht verteilte sich zudem die politische Verantwortung im Westen auf mehrere Schultern. Unter der Voraussetzung, daß die atlantisdie strategische Atomstreitmacht auf der See bereitgehalten würde, lockerten sich auch die Zielräume für feindliche atomare Schläge auf. Der Gegenterror würde zersplittert." 5 ' 55 58
« 58 59
Vgl. Bericht in N Y T , 30. November 1960. Vgl. Anm. 52. Ebd. Vgl. FAZ, 8. November 1960. Vgl. FAZ, 10. April 1961.
D. Die Haltung
der
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Verteidigungsminister Strauß selbst legte seine Ideen in mehreren Reden und Artikeln dar. 80 Das ursprüngliche Konzept einer Verteidigungskoalition hielt er nicht mehr für voll tauglich; seiner Meinung nadi mußte sie durch eine politische Gemeinschaft ersetzt werden, deren Mitglieder gemeinsam die Verantwortung für Entscheidungen trügen (der Akzent lag hier auf der atlantischen Gemeinschaft, verlagerte sich aber später auf die westeuropäische Gemeinschaft, die Strauß dann eher realisierbar erschien). Im einzelnen befürwortete er eine verstärkte europäische Fähigkeit zur konventionellen Kriegführung, um jede Form von Aggression zu unterbinden und um nicht gleich in jedem Falle, auch bei kleinen Vorstößen, auf die amerikanischen Kernwaffen, das „letzte Mittel", angewiesen zu sein. Eine Formel sollte allerdings gefunden werden, die gewährleisten könnte, daß die U S A ihre Kernwaffen auch einsetzen würden, wenn es für die Verteidigung Europas notwendig wäre. Eine Möglichkeit dazu war eine gemeinsame nukleare Streitmacht. (Strauß befürwortete eine mobile seegestützte Streitmacht mit PolarisRaketen, um nidit den Zielwert Westeuropas und seine Verwundbarkeit durch Überraschungsangriffe zu erhöhen.) Darüber hinaus forderte er die „gleiche Bewaffnung" für alle Verbündeten im mittleren Verteidigungsbereich, d. h. Ausrüstung der Bundeswehr mit Trägerraketen für taktische Atomwaffen. Ferner verlangte er eine Neuordnung der Finanzierung der Vertragsorganisation und parallele Neuordnung der Kommandobefugnisse (mit verstärktem Einfluß der Bundesrepublik als Konsequenz). Schließlich sprach er sich für eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit der atlantischen Partner im allgemeinen und gemeinsame Anstrengungen in Forschung, Technik und Rüstungsindustrie im besonderen aus sowie für ein NATO-Konzept der psychologischen Verteidigung, das eine gemeinsame Reaktion auf das sowjetische Propaganda-Sperrfeuer gegen die Bundesrepublik ermöglichen würde.
60
Vgl. die folgenden Äußerungen von Strauß: Zu taktischen Atomwaffen am 5. Mai 1959 (FAZ, 6. Mai 1959; auch in Karl Bauer, Deutsche Verteidigungspolitik 1945— 1963, Dokumente und Kommentare, Boppard 1964, S. 159—161); zu einer gemeinsamen Außenpolitik der westeuropäischen Staaten im Bayerischen Rundfunk am l . J u n i 1960 (in: Bauer, S. 163—165); zu Trägerwaffen für die Bundeswehr am 15. Oktober 1960 (in: Politisch-Soziale Korrespondenz, 15. Oktober 1960, S. 3; audi in: Bauer, S. 168—172); zur konventionellen und nuklearen Ausrüstung der Bundeswehr im Deutschen Bundestag am 15. März 1961 (StenographischeBerichte, 15. März 1961, S. 8630 ff.; auch in: Bauer, S. 182); zur N A T O als »vierter Atommacht" am 20. Dezember 1961 (Bulletin, N r . 239, 22. Dezember 1961, S. 2245 ff.; auch in: Bauer, S. 185—187).
90
I. Kapitel. Die nukleare Frage wird akut
Das waren die Hauptpunkte der Konzeption von Strauß, wie sie sich aus seinen verschiedenen Äußerungen erschließen lassen. In seiner Rede auf der NATO-Ratstagung im Dezember 1960, auf der der amerikanische Außenminister Herter seine Vorschläge unterbreitete, äußerte sich Strauß allerdings recht zurückhaltend." Immerhin sprach er sich gegen eine Entnuklearisierung des Bündnisses in Europa aus: „Atomwaffen sind furchtbar, aber abschreckend." E r betonte: „An der Peripherie eines Machtblocks mit expansiver Dynamik darf keine Verdünnung und kein Vakuum geschaffen werden, sondern muß eine harte Abwehrfront stehen.""® E r befürwortete den von Außenminister Herter entwickelten Plan®3 und schlug vor, bis zum Frühjahr 1961 eine Kontrollformel auszuarbeiten — „ohne perfektionistisch zu sein" — , die dann von den Regierungschefs endgültig beraten werden könne. Beachtenswert ist, daß Strauß betonte, die Ausarbeitung einer Kontrollformel solle parallel mit etwaigen amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen vorgenommen werden. Hier zeigte sich schon deutlich eines der Leitmotive der deutschen Nuklearpolitik: die Furcht vor einer Einigung „über die Köpfe der Deutschen hinweg" und — nicht zuletzt hierdurch motiviert — das Streben, den deutschen Einfluß zu erhöhen, d. h. sicherzustellen, daß bei einer sowjetisch-amerikanischen Übereinkunft die deutsche Stimme Gehör finden mußte. Indem er einen „Zeitplan" für die Nuklearstreitmacht durchzusetzen suchte, wollte Strauß die neue Kennedy-Regierung nötigen, den NATO-Angelegenheiten mindestens ebensoviel Aufmerksamkeit zu widmen wie den Verhandlungen mit der UdSSR, an denen Kennedy sich damals vorrangig interessiert zeigte. Das war jedoch schwierig. Strauß wurde zwar von Griechenland und Kanada unterstützt, doch gelang es ihm nicht, Einvernehmen über ein NATO-Gipfeltreffen im Frühjahr 1961 herbeizuführen. Herter konnte für die Regierung Kennedy keine bindenden Zusagen machen.64 Aus diesem Grund blieb auch die deutsche Regierung insgesamt zurückhaltend und wartete auf den neuen amerikanisdien Präsidenten. In einem Fernsehinterview im Dezember 1960 erklärte Außenminister Heinrich von Brentano schließlich, die Bundesrepublik werde nicht auf die Ausarbeitung einer Kontrollformel bis zum Frühjahr 1961 drängen.· 5
"
Vgl. Text in: FAZ, 21. Dezember 1960. Ebd. ·* Vgl. oben, S. 78 ff. 64 Vgl. FAZ, 19. Dezember 1960. •5 Abgedruckt in: Bulletin, Nr. 238, 21. Dezember 1960, S. 2306. 82
Π. Kapitel Der "Weg nach Athen A. Eine
Neuorientierung
In den ersten beiden Jahren der Regierung Kennedy verstärkten sich die deutschen Befürchtungen in der nuklearen Frage; zugleich aber wurden jene Maßnahmen verschleppt, die diesen Befürchtungen entgegenwirken sollten. Als Kennedy im Januar 1961 sein Amt antrat, wurde all das offizielle Politik, was sich in den Monaten zuvor schon angedeutet hatte: sein Interesse an Verhandlungen mit der Sowjetunion, seine Hinwendung zu den Entwicklungsländern und vor allem sein relatives Desinteresse an der NATO. In seiner ersten „Botschaft zur Lage der Nation" am 30. Januar 1961 kam er auf Europa ganz zuletzt zu sprechen — nach Asien, Afrika und Lateinamerika — und auch dann noch mit deutlicher Reserve.1 Dieser Eindruck wurde durch die Sonderbotschaft an den Kongreß „über dringende nationale Erfordernisse" vom 25. Mai 1961 bestätigt. Der Präsident nannte darin Asien, Lateinamerika, Afrika und den Nahen Osten das „große Schlachtfeld für die Verteidigung und Ausbreitung der Freiheit in der heutigen Zeit". 2 Und selbst innerhalb der N A T O galt Kennedys Interesse in erster Linie Asien, Afrika und Lateinamerika: In seiner ersten Note an den NATORat forderte er vor allem gemeinsame wirtschaftliche Bemühungen für die Entwicklungsländer dieser Kontinente.® Gleichzeitig war Kennedy an Verhandlungen mit der Sowjetunion interessiert — aus politischen und militärischen Gründen: weil er einen 1
2
s
Text in: Richard P. Stebbins (Hrsg.), Documents on American Foreign Relations 1961, New York 1962, S. 16—26; deutscher Text in: EA 4/1961, S. D 101—111. Text in: Stebbins, Documents 1961, a.a.O., S. 70—88. Vgl. audi die Analyse von Wilhelm Cornides, Der Grand Design der atlantisdien Partnerschaft, in: Cornides. Mende, Die internationale Politik 1961, a.a.O., 76 ff., besonders S. 80. Text in: EA 9/1961, S. D 179—187. In gewisser Weise war dies Kennedys Antwort auf Chrustsdiows „ideologische Waffe", vgl. oben, S. 69. Audi die Rede des Vizepräsidenten Johnson zum zehnjährigen Bestehen von SHAPE befaßte sich hauptsächlich mit den Problemen der Entwicklungsländer; vgl. Text in: EA 9/1961, S. D 283—· 286.
92
II. Kapitel.
Der Weg nach Athen
Atomsperrvertrag und andere Rüstungskontrollmaßnahmen anstrebte und weil er sich vorrangig mit dem Problem eines unbeabsichtigten nuklearen „Zufallskrieges" (accidental war) beschäftigte. Diese Kontakte wollte er nicht durch Maßnahmen im Bündnis gefährden, die er f ü r sicherheitspolitisch unnötig hielt und die von der Sowjetunion erklärtermaßen abgelehnt wurden. Die Prioritäten der Politik des neuen Präsidenten zu diesem Zeitpunkt waren also offenkundig: Die globalen Aspekte der nuklearen Abschreckung standen im Vordergrund und die strukturellen und politischen Probleme der Allianz rückten demgegenüber auf den zweiten Platz; mit anderen Worten, die ungelösten Probleme Mitteleuropas wurden zugunsten der Stabilität im Weltmaßstab vernachlässigt. 4 Am deutlichsten wurde diese Rangordnung Ende 1961 demonstriert. Am 13. August war in Berlin die Mauer gebaut worden, ohne daß die Vereinigten Staaten mit mehr als einem Protest reagiert hätten. Am 30. August nahm die Sowjetunion ihre Kernwaffenversuche wieder auf und brach damit das dreijährige Moratorium. Aber am 6. September schon begannen John McCloy und Valerian Sorin in N e w York eine neue Runde der Rüstungskontroll Verhandlungen, die am 29. Juli unterbrochen worden waren. Dazu schreibt Cornides: „Diese Wiederaufnahme der am Höhepunkt der Berlin-Krise abgebrochenen Verhandlungen war f ü r Europa eine Entscheidung von erheblicher grundsätzlicher Bedeutung. Sie demonstrierte f ü r alle Welt die Priorität der weltweiten Sicherheitsverhandlungen der beiden Hauptmächte vor allen örtlichen oder regionalen Krisen, wobei das Deutschland- und Berlin-Problem nunmehr unter den regionalen europäischen Problemen rangierte." 5 Gewiß waren die Vereinigten Staaten zu Konzessionen ζ. B. in der Berlin-Frage nur bereit, wenn als Gegenleistung die Freiheit WestBerlins garantiert wurde; aber die bilateralen Abrüstungsverhandlungen hatten jetzt einen exklusiven Charakter angenommen, der auf den globalen Interessen der beiden Supermächte beruhte. Das war der Beginn eines neuen Dualismus, der mit Unterbrechungen anhielt, einen Höhepunkt erreichte, als im Sommer 1968 der Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen unterschrieben wurde, und der schließlich im
4 5
Vgl. dazu auch Cornides, Der Grand Design, Wilhelm Cornides, Chruschtschows Einbruch Cornides/Mende, Die internationale Politik Vgl. audi Documents on Disarmament 1961, mament Agency Publication N o . 50, S. 360.
a.a.O., S. 94. in die Friedensstrategie Kennedys, in: 1961, a.a.O., S. 54 fï., hier S. 69—70. Washington, Arms Control and Disar-
Β. Die Debatte um die Strategie: Ein beunruhigtes Europa
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Jahre 1970 zum Beginn der Gesprädie über eine Beschränkung der strategischen Rüstungen (Strategie Arms Limitation Talks: SALT) führte.' B. Die Debatte um die Strategie: Ein beunruhigtes
Europa
1. D i e n e u e S t r a t e g i e Die Unruhe in den europäisch-amerikanischen und insbesondere in den deutsch-amerikanisdien Beziehungen wurde wesentlich gesteigert durch die Neubestimmung der amerikanischen Militärstrategie in den Jahren 1961 und 1962.7 Die Strategie wurde nacii dem neuen Verteidigungsminister Robert S. McNamara anfangs als „McNamara-Strategie" bekannt; richtiger wird sie — nach einer Formulierung des früheren Heeresstabschefs General Maxwell Taylor, der in diesen Jahren einflußreicher militärischer Berater des neuen Präsidenten war — als Strategie der flexiblen oder angemessenen Antwort (flexible response) bezeichnet.® * Zum Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen vgl. Anm. 73 auf S. 30; zu den amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen über die Begrenzung der strategischen Rüstung vgl. Harlan Cleveland, N A T O — The Transatlantic Bargain, New York/Evanston/London 1970, S. 70—76 und François Duchêne, SALT, die Ostpolitik und die Liquidierung des Kalten Krieges, in: EA 17/1970, S. 639—653. 7 Nadi einer Reihe von Vorstudien legte Präsident Kennedy die neue Konzeption am 28. März 1961 dem Kongreß vor; vgl. Text der Botsdiaft an den Kongreß in: Stebbins, Documents 1961, a.a.O., S. 51—66. Deutscher Text der Botschaft in: EA 8/1961, S. D 252—264. Ausführlich wurde die neue Strategie dargelegt von Verteidigungsminister Robert McNamara in einer Rede in Ann Arbor, Michigan, am 16. Juni 1962, deutscher Text der Rede in: EA 14/1962, S. 363—371; ferner in einer Rede vor der American Bar Foundation in Chicago am 17. Februar 1962, Department of Defense, Office of Public Affairs, News Release No. 239—262, S. 6—7 und bei den Anhörungen im Kongreß im Jahre 1964: Hearings, Department of Defense, Appropriations for 1965, House Appropriations Subcommittee (88th Congr., 2nd sess., 1964, Part 4), S. 27—28. Vgl. audi Robert S. McNamara, The Essence of Security. Reflections in Office, New York/London 1968. Analysen und Darstellungen der neuen Strategie sind zu finden bei Leonard Beaton, The Western Alliance and the McNamara Doctrine, London 1964; Manfred Dormann, Demokratische Militärpolitik. Die alliierte Militärstrategie als Thema deutscher Politik 1949—1968, Freiburg/Br. 1970, S. 240—250; William W. Kaufmann, The McNamara Strategy, New York/Evanston/London 1964, Henry A. Kissinger, The Troubled Partnership, New York/London/Toronto 1965, S. 91—125; Robert Ν . Ginsburgh, United States Military Strategy in the Sixties, New York 1965; Harlan Cleveland, NATO — The Transantlantic Bargain, a.a.O., S. 77—99 und Wilhelm Cornides, Die Überprüfung der amerikanischen Strategie und die Reformen McNamaras, in: Cornides/Mende, Die internationale Politik 1961, a.a.O., S. 44 ff. 8 Vgl. Maxwell D. Taylor, The Uncertain Trumpet, London 1959.
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Sie widerspiegelte die zunehmende strategische Verwundbarkeit der Vereinigten Staaten und suchte ihren möglichen Auswirkungen zu begegnen. Vor allem sollten die Vereinigten Staaten sich nicht mehr vorrangig auf Kernwaffen verlassen, da damit audi im Fall einer begrenzten Aggression in Europa ein großer Nuklearkrieg — und somit die Zerstörung der Vereinigten Staaten — heraufbeschworen würde. Durch die Schaffung verschiedener — d. h. in erster Linie konventioneller — Optionen wollten die Vereinigten Staaten dem nuklearen Automatismus sowie der Alternative Kapitulation oder Nuklearkrieg entweichen. D a — angesichts der Verwundbarkeit des amerikanischen Kontinents — eine sofortige nukleare Reaktion durch die Vereinigten Staaten vor allem bei einem begrenzten Angriff in Europa sowieso kaum glaubwürdig schien, hoffte die amerikanische Führung, in dieser Weise auch die Glaubwürdigkeit der amerikanischen Verteidigungsgarantie in Europa zu bestätigen. Würde die Abschreckung aber dodi einmal durchbrochen, so sollte audi ein Nuklearkrieg kein unkontrollierter „Spasmus" sein, sondern eine streng kontrollierte, Schritt für Schritt vorschreitende — und somit wieder anzuhaltende — Eskalation von demonstrativen bzw. selektiven Schlägen über ausgedehnte Angriffe gegen militärische Ziele bis zu demonstrativen und dann ausgedehnten Angriffen auf Bevölkerungszentren. Das erforderte eine klare und zentralisierte Befehlsstruktur (wodurch auch die Gefahr von Fehlern, d. h. des „accidentai", des unbeabsichtigten Krieges vermindert werden sollte). Die Intention war, die Schäden dadurch in Grenzen zu halten, daß man zunächst gegen die Streitkräfte und die Industriezentren des Gegners vorging, nicht gegen seine Bevölkerungszentren. (Dies war die sogenannte „counterforce strategy", die in der Hoffnung entwickelt wurde, den Gegner zu einem gleichen Verhalten zu veranlassen; zweifelhaft war dabei immer, inwiefern sich in dichtbesiedelten Gebieten zwischen militärischen und zivilen Zielen unterscheiden lassen würde.) Schließlich sollten alle Raketenabsdiußbasen verbunkert („gehärtet") oder Raketen auf See installiert werden, um die Fähigkeit zum Gegenschlag auch nach einem erfolgten gegnerischen Angriff zu gewährleisten („second strike capability"). Damit würde die „counterforce strategy" glaubwürdig, vor allem aber würden die Vorteile eines Überraschungsangriffs vermindert. Unter militärstrategischen Gesichtspunkten und vom Standpunkt der Vereinigten Staaten schien dieses Konzept durchaus sinnvoll zu sein: Der Nuklearkrieg, falls es dazu kommen sollte, würde für die Vereinigten Staaten „kontrollierbar" und die nukleare Garantie in West-
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europa würde — dadurch, daß der nuklearen Reaktion der Automatismus genommen wäre — tragbar. Die USA strebten also nach einem „Disengagement" nicht in dem Sinne, daß sie versucht hätten, sich von ihren Verpflichtungen gegenüber Europa freizumachen; vielmehr waren sie bemüht, sich dem Automatismus der nuklearen Eskalation zu entziehen und es unmöglich zu machen, daß sie gegen ihren Willen von den Europäern in einen Nuklearkrieg verwickelt würden. In der Bundesrepublik wie in Frankreich wurde die neue Strategie allerdings als ein Abbau der amerikanischen Verpflichtungen gegenüber Europa intepretiert; viele sahen darin das Zeichen einer mangelnden Bereitschaft seitens der Vereinigten Staaten, Westeuropa nuklear zu verteidigen — und somit einen Rückzug der schützenden Abschreckungsmacht. Frankreich fühlte sich durch diese Interpretation in seinem Streben nach nuklearer Selbständigkeit bestätigt. Für die Bundesrepublik hingegen setzte eine langwierige Phase kritischer Auseinandersetzung mit der neuen Strategie und ihren Vertretern in den Vereinigten Staaten ein.® Die Differenzen lassen sich grob in einen überwiegend militärstrategischen und in einen primär politischen Bereich einteilen: Während im ersteren ein Gutteil der Meinungsunterschiede auf MißVerständnissen oder zwar unterschiedlichen aber nicht unvereinbaren Einschätzungen beruhte, lag im zweiten Bereich die Wurzel des „nuklearen Problems" der Allianz. 2. M i l i t ä r s t r a t e g i s c h e D i f f e r e n z e n Im militärstrategischen Bereich waren die westdeutschen Sorgen in erster Linie auf die neue Betonung der konventionellen Bewaffnung zurückzuführen, die auf Kosten der nuklearen Verteidigungsbereitschaft • Weitere Äußerungen zur deutschen Verteidigungspolitik in diesen Jahren (neben den bereits erwähnten; vgl. oben, Anm. 60 auf S. 89): Interview mit Franz Josef Strauß, FAZ, 13. Mai 1961; Fernsehinterview mit Strauß „Unter uns gesagt", vom 7. Mai 1962, in: Bulletin, Nr. 87, 11. Mai 1962, S. 733 f.; Strauß-Interview mit dem Bayerischen Rundfunk am 25. Juli 1962, in: Bulletin, Nr. 136, 27. Juli 1962, S. 1169 f. und die Erklärungen der Sprecher der Regierung und des Verteidigungsministeriums vom 10. August 1962, in: Bulletin, Nr. 148, 14. August 1962, S. 1264 und 1265. Ausführliche Erörterungen des deutschen Standpunkts sind zu finden bei: Dormann, Demokratische Militärpolitik, a.a.O., S. 240 ff.; Alastair Buchan und Philip Windsor, Eine Strategie für Europa. Bericht über eine britisch-französisch-deutsche Untersuchung der Rüstungspolitik und Stabilität in Europa, Frankfurt/Main 1963; Richardson, Deutschland und die N A T O , a.a.O., S. 73—81, und Cornides, Die Oberprüfung der amerikanischen Strategie, a.a.O.
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II. Kapitel. Der Weg nach Athen
zu gehen schien. Es war ein amerikanischer Entschluß zur „Nuklearisierung" der NATO-Verteidigung gewesen, dem die Bundesrepublik 1956/57 schweren Herzens und mit großer innenpolitischer Beunruhigung gefolgt war.10 Nachdem die Umorientierung aber vollzogen war, wurde die amerikanische Strategie bewußt akzeptiert:" Man hatte sich überzeugen lassen, daß eine konventionelle Verteidigung Westeuropas nicht möglich war und daß infolgedessen die Verteidigung bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt nach einem gegnerischen Angriff taktische Atomwaffen würde einsetzen müssen. Darüber hinaus aber wurde das Abschreckungselement in zunehmendem Maße hervorgehoben: Da ein mit modernen Waffen ausgetragener konventioneller Krieg in Mitteleuropa ebenso wie ein nuklearer Krieg eine totale Zerstörung Deutschlands mit sich bringen würde, ersdiien es notwendig, den ganzen Nachdruck nicht auf die Verteidigung, sondern auf die Abschreckung zu legen. Es ging nicht primär darum, die Bundesrepublik nach Ausbruch eines Konflikts zu verteidigen, sondern darum, jeglichen Angriff von vornherein abzuschrecken. Die Abschreckung aber beruhte nach westdeutscher Auffassung auf der Gefahr eines nuklearen Schlages der Vereinigten Staaten gegen den potentiellen Angreifer: Diese Gefahr müsse dem potentiellen Angreifer immer vor Augen sein, und zwar am sichersten dadurch, daß er bei jedem Angriff auf nuklear bewaffnete Truppen stoßen und bereits in einem frühen Stadium seines Angriffs mit nuklearen Schlägen zu rechnen haben würde. Die Präsenz amerikanischer Truppen und die Bewaffnung mit taktischen Atomwaffen gewährleisteten in deutschen Augen nicht nur, daß die Vereinigten Staaten im Falle eines Angriffs in Mitteleuropa unmittelbar betroffen sein würden, sondern auch, daß ihre nukleare Bewaffnung über die Eskalationsleiter bis zum großen strategischen Arsenal involviert wäre. Die Betonung der konventionellen Streitkräfte durdi die USA schien nun aber einen Rückzug des amerikanischen nuklearen „Abschreckungsschirms" anzuzeigen, ein Hinweis darauf, daß sich die Vereinigten Staaten in Europa auf unter Umständen rein konventionelle oder lokale „taktisch-nukleare" Auseinandersetzungen einrichteten (eine Interpretation, die durch eine Reihe amerikanischer Ungeschicklichkeiten bestätigt zu werden schien12). In diese Richtung schienen auch die zunehmenden 10 11
12
Vgl. oben, S. 12 ff. Soweit man in der Bundesrepublik nicht bereits vorher von der Richtigkeit der Konzeption überzeugt war; vgl. oben, Anm. 23, S. 12. Der Abzug (veralteter) amerikanischer Bomber und Raketen aus Europa schien die amerikanischen Intentionen zu bestätigen (obwohl Kennedy die Notwendigkeit die-
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Spekulationen über getrennte Kommandos für strategisch-nukleare, taktisch-nukleare und konventionelle Streitkräfte zu weisen. Diese Erwägungen entstammten dem Denken einiger Reformer im amerikanischen Verteidigungsministerium, die die Streitkräfte von Heer, Marine und Luftwaffe im nuklearen Bereich unter zwei Kommandos, einem strategischen und einem taktischen, zusammenfassen wollten. Die Trennung von taktischen Atomwaffen und konventionellen Streitkräften in Westeuropa hätte die amerikanische Kontrolle über die Atomwaffen weiter gefestigt und in den klaren Rahmen eines einzigen Befehlsstrangs gebracht, ein Gedanke, der im Einklang zu stehen schien mit dem Bemühen McNamaras, die Kontrolle zu straffen und das Risiko, durch Zufall oder durch einen Verbündeten in einen Nuklearkrieg verwickelt zu werden, zu vermindern. Für die Deutschen jedoch bedeuteten separate Einheiten für taktische Atomwaffen in Europa, daß die Amerikaner die „nuklearen Ritter" sein würden, sie selbst aber das „konventionelle Fußvolk". Abgesehen davon, daß die Bundesrepublik dann noch weniger Einfluß auf taktische Atomwaffen gehabt hätte als unter dem „ZweiSchlüssel-System"13 und daß sich jeder Angriff vermutlich gegen die Stelle richten würde, wo die nuklear unbewaffneten deutschen Verbände stünden, schien eine solche Neuerung die Eskalationsleiter organisatorisch zu durchbrechen, damit das nukleare Risiko eines Angriffs kalkulierbarer zu machen und die Abschreckung zu verringern. Aber selbst wenn die Vereinigten Staaten ihre nuklearen Verpflichtungen aufrechterhalten wollten — von amerikanischer Seite wurde wiederholt betont, die nukleare Bewaffnung in Westeuropa würde sogar ständig verstärkt —, schien die neue Strategie des „Anhebens der nuklearen Schwelle", der „Pause" (zwischen einer konventionellen und der nuklearen Auseinandersetzung) und die Theorie der „kontrollierten Eskalation" zumindest die Risiken kalkulierbarer als zuvor zu machen. Zwar konnte ein potentieller Angreifer immer noch nicht genau wissen, in welchem Augenblick Kernwaffen eingesetzt würden, aber er konnte doch mit einer gewissen Sicherheit annehmen, daß sie nicht sofort eingesetzt würden: Das könnte ihn zu einem schnellen „Zugriff", einem
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ses Abzugs bereits im Jahre 1959 als Senator vorausgesehen hatte; vgl. Strategy for Peace, hrsg. von Allan Nevins, New York 1960, S. 216). Ferner erzeugte eine Indiskretion bezüglich eines Berichts von Außenminister Dean Rusk Unruhe, demzufolge er empfohlen haben soll, daß die Vereinigten Staaten Kernwaffen nur zur eigenen unmittelbaren Verteidigung einsetzen, Westeuropa aber mit konventionellen Waffen verteidigen sollten; vgl. Cornides, Die Uberprüfung der amerikanischen Strategie, a.a.O., S. 47—48. Der Einfluß mittels dieses Systems war sowieso minimal; vgl. oben S. 60 f. Mahmfce
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fait accompli ermuntern. 14 Und ferner konnte er annehmen: Selbst wenn taktische Atomwaffen eingesetzt würden, müßte das nicht unvermeidlich die Eskalation zum totalen Krieg bedeuten, sondern könnte sich auf einen begrenzten Nuklearkrieg in Mitteleuropa beschränken, der zwar für die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten nodi taktisch, aber für Deutschland und Europa bereits strategisch wäre. Genau das, was das nukleare „commitment" der Amerikaner in Europa trotz ihrer eigenen Verwundbarkeit wieder tragbar — und infolgedessen glaubwürdig — machte, nämlich die angestrebte Rationalität und Kontrollierbarkeit, machte es in den Augen der Bundesrepublik zweifelhaft. Für die Bundesrepublik bedeutete der Terror, der in der Irrationalität und Unberechenbarkeit lag, Abschreckung. Für die Vereinigten Staaten aber war dieser irrationale Terror, zumindest im Falle eines begrenzten Angriffs in Europa, sowohl unakzeptabel wie unglaubwürdig. Im Verlauf der Debatte in den Jahren 1961 und 1962 wurde allmählich klar, daß die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik, wenigstens im militärstrategischen Bereich, doch nicht unüberwindbar waren. Die Bundesrepublik wünschte sicher zu sein, daß die Eskalationsdrohung zur Abschreckungsstrategie gehörte, daß die Eskalationsleiter ein gleichmäßiges Voranschreiten von konventionellen zu nuklearen Waffen darstellte, daß die „Schwelle" nicht von vornherein festgelegt wäre, damit das Risiko für den Angreifer unkalkulierbar bliebe; kurz, sie wollte die Gewißheit haben, daß die Nuklearwaffen zur Stelle wären und daß sie, wenn notwendig, zu ihrer Verteidigung eingesetzt würden. Das amerikanische Konzept einer flexiblen Antwort verfolgte im Grunde keine anderen Ziele: Beabsichtigt war nur, jenen Zustand zu beseitigen, daß man sich zur Verteidigung Westeuropas primär auf nukleare Waffen verließ; außerdem sollte die Glaubwürdigkeit der amerikanischen Garantie dadurch erhöht werden, daß geeignete und angemessene Verteidigungsinstrumente gegen Angriffe aller Abstufungen zur Verfügung gestellt wurden. Der Hauptunterschied lag vielleicht im Begriff der nuklearen „Schwelle". Die Bundesrepublik wollte sicher sein, daß es für einen potentiellen Angreifer nicht voraussehbar wäre, wann und in welchem Umfang Nuklearwaffen gegen ihn eingesetzt würden, und sie befürchtete, eine zu klare Formulierung des amerikanischen Konzepts werde ihr diese Sicherheit und 14
Um genau dieser Gefahr zu begegnen, forderten die USA eine Erhöhung der konventionellen Streitkräfte.
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damit ein Gutteil des Absclireckungsschutzes nehmen. Auch hielt sie eine niedrigere Schwelle für erforderlich als die Vereinigten Staaten, denn sie rechnete nicht mit einer Verstärkung der westeuropäischen konventionellen Streitkräfte, die ausreichen würde, einen relativ frühen Nuklearwaffeneinsatz überflüssig zu machen.15 3. P o l i t i s c h e D i f f e r e n z e n Aber während sich im militärstrategischen Bereich die Meinungsunterschiede abflachten, blieben sie im politischen Bereich bestehen. Hier ging es einmal darum, die mögliche Fragwürdigkeit der nuklearen Verteidigungsbereitschaft durch eine stärkere Mitwirkung des potentiellen Opfers bei den nuklearen Entscheidungen zu beseitigen: Der potentielle Angreifer sollte wissen, daß, wenn die Bundesrepublik angegriffen würde, sie auch bei der Entscheidung mitwirken würde, ob und welche nuklearen Gegenmaßnahmen zu ergreifen wären. Die Interessen der Verbündeten in dieser Frage sollten nicht „auseinanderzudi vidieren" sein. Darüber hinaus ging es aber auch um eine Mitwirkung bei der Festlegung der präzisen Bedingungen — der Waffen, Ziele und zeitlichen Reihenfolge —, unter welchen nukleare Waffen einzusetzen wären. Die neue Strategie war äußerst komplex, und sowohl die Elemente der „counterforce"-Verteidigung wie der kontrollierten Eskalation erforderten eine klare und zentralisierte Befehlsstruktur. Unter dem Schlagwort „command and control" wurde das auch energisch von McNamara gefordert. Allerdings wünschten die Vereinigten Staaten sowohl die zentrale und ausschließliche Kontrolle über alle nuklearen Waffen wie eine absolute Handlungsfreiheit im Kriegsfalle. Das war für Frankreich wie für die Bundesrepublik unakzeptabel. Solange die Strategie der N A T O als Antwort auf einen Angriff nur den einen Fall einer frühen und relativ automatischen nuklearen Reaktion der Vereinigten Staaten vorgesehen hatte, hatten die europäischen NATO-Partner die amerikanische Hegemonialposition akzeptieren können: Es war der Preis, den sie für die Sicherheit des amerikanischen nuklearen Engagements zu zahlen bereit waren. Die Strategie der „flexiblen Antwort" und die Eskalationstheorie aber sahen vor, daß die nuklearen Reaktionen der 15
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Diese Ansicht sollte sich als richtig erweisen. So wurde die Strategie der „flexiblen Antwort" zwar offiziell von der NATO im Jahre 1967 angenommen, aber ohne daß die konventionellen Voraussetzungen der Strategie in ihrer ursprünglich verlangten Form verwirklicht wurden; vgl. dazu auch Buchan/Windsor, Eine Strategie für Europa, a.a.O., S. 73 ff.
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USA im Falle eines Angriffs und dann im Verlauf eines Konflikts nicht festgelegt waren, sondern von den jeweiligen Umständen abhängig gemacht werden sollten. Für die europäischen Partner entstand damit die Frage, wie die amerikanische nukleare Verteidigungsbereitschaft unter den jeweiligen Umständen zu sehen sein würde, ζ. B. im Falle eines sehr schnellen und begrenzten konventionellen Angriffs, der — nach Schaffung eines fait accompli — mit einem „großzügigen" Verhandlungsangebot gekoppelt wäre. Die neue Strategie machte die nuklearen Entscheidungen sehr viel differenzierter: Die Frage, welche Waffen wann und wo eingesetzt würden, mußte ständig neu überprüft werden. Das hieß, daß die nukleare Sicherheit Westeuropas nun von sehr viel komplexeren und unbestimmteren Sachverhalten abhing — und darauf wünschten die europäischen NATO-Partner, in erster Linie die Bundesrepublik, einen Einfluß zu háben: auf die Bestimmung, unter weldien Umständen und in welcher Weise nukleare Waffen zu ihrer Verteidigung eingesetzt würden.16 Hier liegt die Basis der Forderung nach nuklearer Mitwirkung. Von der Regierung Kennedy und ihrem Verteidigungsminister McNamara, die effektiv eine totale nukleare Abstinenz der westeuropäischen Staaten forderten, wurde seitens der europäischen Partner nur verlangt, daß die Vereinigten Staaten ein wenig von der Handlungsfreiheit im politischen Bereich aufgäben, dessen Aufgabe im militärischen Bereidi sie von ihren europäischen Partnern verlangten." Der Politik der Bundesrepublik ging es im militärstrategischen Bereich also darum, zu sichern, daß, im Falle eines Angriffs auf die Bundesrepublik, taktische Atomwaffen in Europa vorhanden sein und allen Verbündeten zur Verfügung stehen würden. Darüber hinaus ging es ihr darum, auf die viel differenziertere neue Nuklearstrategie, von der die Sicherheit der Bundesrepublik abhing, Einfluß zu gewinnen. Die Bundesrepublik strebte ein nukleares Arrangement an, daß ihr ein Mitspracherecht bei der Festlegung der Bedingungen des Einsatzes nuklearer Waffen zu ihrer Verteidigung gäbe. Damit sollte sowohl die Abschreckung gefestigt als auch gewährleistet werden, daß spezifisch deutsche Interessen le
Zudem wünschten sie ein System, an das nicht nur der gegenwärtige amerikanische Präsident gebunden sein würde, sondern auch seine Nachfolger. Die Franzosen vertraten hier allerdings die Ansicht, daß kein amerikanischer Präsident ausreichend zu binden sei und daß sich Frankreich infolgedessen nur auf eine eigenständige nukleare Streitmacht verlassen könne; vgl. hierzu Stikker, Men of Responsibility, a.a.O., S. 375 f.
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Vgl. Cleveland, N A T O — The Transatlantic Bargain, a.a.O., S. 55, und Kissinger, The Troubled Partnership, a . a . O , S. 127 ff.
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berücksichtigt würden (ζ. B. ein möglichst geringes Maß an Zerstörung deutschen Territoriums, kein Ausfechten eines konventionellen oder „taktischen" Atomkrieges in Mitteleuropa, usw.). Aber zudem, so hoffte man, könnte ein solches Arrangement zu einer Festigung des amerikanischen Engagements und einer Erhöhung des politischen Einflusses der Bundesrepublik im Bündnis führen. Im Prinzip hätte natürlich eine Bekräftigung der amerikanischen Garantien genügt (d. h., wenn auch der potentielle Angreifer sie für glaubwürdig hielte), aber sie hätte der Bundesrepublik weder die gleiche Gewißheit noch den gleichen politischen Einfluß verschafft. Vor allem hoffte man durch die Institutionalisierung der nuklearen Mitwirkung eine gewisse Stabilität und Dauerhaftigkeit zu erreichen, eine Dauerhaftigkeit, von der man glaubte, daß sie in höherem Maße gewährleistet sein würde, wenn die gemeinsame Planung durch einen gemeinsamen Besitz von nuklearen Waffensystemen in Form einer nuklearen Bündnisstreitmacht untermauert wäre.18 Der Prozeß des strategischen Umdenkens in den Vereinigten Staaten und damit die europäisch-amerikanische Krise erreichten ihren Höhepunkt im Sommer 1962 mit der ausführlichen Darlegung des amerikanischen Konzepts durch Verteidigungsminister McNamara in seiner berühmten Rede am 16. Juni in Ann Arbor, Michigan," und einen Monat später mit der Ernennung des pensionierten Generals und Kennedy-Beraters Maxwell D. Taylor zum neuen Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs (Joint Chiefs of Staff). Vor allem in der Bundesrepublik stieß diese Ernennung auf scharfe Kritik, nicht zuletzt weil sie einherging mit dem überraschenden Rücktritt des Generals Norstad vom Posten des Alliierten Oberbefehlshabers in Europa: An seine Stelle trat der damalige Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs, General Lyman L. Lemnitzer. Die amerikanische Regierung ließ dazu zwar erklären, Norstads Rücktritt sei schon länger geplant gewesen, und es handle sich um eine routinemäßige Neubesetzung, doch die Form ließ erkennen, daß dies nicht der Fall war: Norstad hatte sich zwar mit Rücktrittsabsichten getragen, doch erst für 1963 20 ; zudem konnte schwerlich von „Routine" die Rede sein, wenn ein pensionierter General auf den höchsten militä18 18 M
Vgl. unten, S. 225. Text in: E A 14/1962, S. D 363—371. Laut N Y T vom 30. Juli 1962 hatte Norstad angedeutet, er wolle 1963 zurücktreten, nachdem er auf der Ratstagung im Dezember 1962 seinen Standpunkt zur westeuropäischen Verteidigung und zu einer gemeinsamen nuklearen Streitmacht vorgetragen hatte.
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rischen Posten berufen wurde. Tatsächlich war deutlich, daß Lemnitzer nur eine Nebenrolle spielte; Norstad wurde vor allem deshalb zu einem schnellen Rücktritt gedrängt, um Lemnitzer von dem Posten wegversetzen zu können, den Taylor bekommen sollte. Die amerikanische Regierung aber hielt an der Legende fest, daß sich nichts geändert habe und daß die Neubesetzungen in Washington und Rocquencourt reine Routine seien. Die Bundesrepublik indes war, wie die New York Times schrieb, „deutlich — wenn auch diskret — beunruhigt".21 Einmal bedauerte man in Bonn, Norstad zu verlieren, zu dem ein besonders gutes Verhältnis bestanden hatte. Seit jenem privaten Treffen Adenauers mit Norstad sowie Spaak und Stikker (dem damaligen und dem künftigen NATO-Generalsekretär) im September 1960 am Comer See22 hatte die Bundesrepublik eng mit SHAPE und SACEUR zusammengearbeitet, nicht zuletzt am Projekt einer gemeinsamen Atomstreitmacht für die Allianz. Norstad und die Bundesregierung hatten weitgehend die gleichen Ansichten vertreten. Norstad befürwortete zwar die Verstärkung der konventionellen Streitkräfte, meinte aber, seine Regierung überschätze ihren Wert und unterschätze die Bedeutung der taktischen Atomwaffen und Mittelstreckenraketen für Westeuropa. Somit war er stets für die Ausrüstung der verbündeten Truppen mit taktischen Atomwaffen und die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Westeuropa eingetreten. Wie Strauß schien er der Meinung zu sein, daß damit in der Beurteilung der Erfolgschancen durch potentielle Angreifer nützliche Zweifel geweckt würden. Und ebenso wie die politische Führung in Bonn widersetzte er sich dem damals bei vielen Militärs in Washington beliebten Gedanken, alle taktischen Atomwaffen — von kleinkalibrigen Haubitzen bis zu Jagdbombern — in besondere, von den konventionellen Verbänden getrennte Einheiten zusammenzufassen.2® In Norstad sah die damalige Bundesregierung einen Gleichgesinnten, über Lemnitzer war man sich nicht ganz im klaren, aber Taylor begegnete man mit ausgesprochenem Mißtrauen. Abgesehen davon, daß Taylor einer der stärksten Befürworter der neuen Strategie war — hatte er doch wesentlich an ihrer Formulierung mitgewirkt —, trug dazu in nicht geringem Maße sein im Jahre 1959 erschienenes Buch The Uncertain Trumpet bei.24 Darin hatte Taylor erklärt, die nukleare VerNYT, 30. Juli 1962. Vgl. oben, S. 76. s » Vgl. oben, S. 97. ** A.a.O. (Anm. 8). 21
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geltungsmacht der Vereinigten Staaten dürfe nur eingesetzt werden, um die „nationale Existenz" der USA zu sichern. Ein „klarer" Fall der Bedrohung dieser Existenz sei aber nur gegeben, wenn ein nuklearer Angriff auf das amerikanische Festland erfolge oder wenn „unbestreitbare Beweise" für das Bevorstehen eines solchen Angriffs vorlägen. Einen Angriff auf Westeuropa betrachtete Taylor lediglich als einen dritten „möglichen" Fall.25 Sobald die Ernennung Taylors bekannt wurde, legte Verteidigungsminister Strauß die Auffassung der Bundesregierung noch einmal in einer Rede an der Universität in Bonn dar. Er hob hervor, daß erstens das Risiko für den potentiellen Angreifer „total" sein müsse, daß zweitens der potentielle Angreifer nicht in der Lage sein dürfe, zwischen den Interessen der verschiedenen Bündnispartner zu differenzieren, daß drittens die Allianz ihren Daseinszweck darin habe, jeden Krieg unmöglich zu machen, und daß sie niemals einen konventionellen Krieg auf europäischem Boden zulassen dürfe. Die Abschreckung, sdiloß Strauß, sei die Grundlage des Vertrauens zum Bündnis; ohne sie müsse die Allianz ihren Sinn verlieren.26 Die deutschen Besorgnisse zusammen mit den französischen Andeutungen, es zeige sich hier deutlich, daß Europa sich in bezug auf seine nukleare Verteidigung nidit auf die Vereinigten Staaten verlassen könne, schufen Spannungen, die nur langsam gemildert wurden. Am 1. August erklärte Präsident Kennedy auf einer Pressekonferenz, die Gerüchte, daß die Vereinigten Staaten Europa nicht mit Kernwaffen verteidigen würden, seien „völlig unbegründet" und „völlig unwahr". „Ich kann Ihnen versichern", sagte der Präsident, „daß wir unsere Verteidigung Europas fortführen. Und ich sagte vorhin schon, wir können die Verteidigung Europas nicht aufrechterhalten, ohne zugleich unsere nukleare Stärke aufrechtzuerhalten, auf welche diese Regierung bedeutende zusätzliche Mittel verwandt hat." 27 Ein Sprecher des amerikanischen Verteidigungsministeriums erklärte, die Vereinigten Staaten versuchten nicht, sich aus ihrer nuklearen Verpflichtung gegenüber Europa zu lösen. Dem widerspredie audi nicht die kürzlich getroffene Entscheidung, keine Mittelstreckenraketen in Europa zu stationieren; das sei beschlossen worden, weil Mittelstreckenraketen angesichts der Polaris25 28
27
Ebd., S. 145. Bericht in: Le Monde, 31. Juli 1962; vgl. auch Archiv der Gegenwart 1962, S. 10016 und das Interview von Strauß mit Weinstein, FAZ, 3. August 1962. N Y T , 2. August 1962.
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U-Boote und der für Europa vorgesehenen Pershing-Raketen mit einer Reichweite von 600 Kilometern unnötig seien. (Diese Entscheidung mag bei Norstads Rücktrittsentschluß audi eine Rolle gespielt haben, denn er war wiederholt für die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Europa eingetreten.) Weiter wies der Sprecher darauf hin, daß General Taylor sein Buch drei Jahre zuvor und unter anderen Verhältnissen geschrieben habe.88 Und am 9. August schließlich erklärte General Taylor selbst vor dem Senatsausschuß für die Streitkräfte: „Wenn ein Angriff auf Westeuropa kommt, müssen wir alle Waffen und Streitkräfte einsetzen, die notwendig sind, um ihn abzuschlagen."2" Diese klare amerikanische Reaktion beschwichtigte allmählich die deutschen Befürchtungen. Am 10. August bekundete ein Sprecher der Bundesregierung und des Verteidigungsministeriums „volles Vertrauen" zu den Vereinigten Staaten und begrüßte die Erklärungen des Generals Taylor, die, wie er sagte, „keinen Zweifel daran lassen, daß das Bündnisgebiet in seiner Gesamtheit mit den gleichen Waffen verteidigt wird."30 Der Sprecher wiederholte jedoch, der potentielle Angreifer müsse mit unvorhersagbaren Risiken konfrontiert werden, und suggestiv fügte er hinzu, die Bundesregierung sei mit einem ausgewogenen Verhältnis von konventionellen und nuklearen Kräften innerhalb der NATO-Streitkräfte einverstanden, „damit der Verteidiger in der Wahl der Mittel, um einem trotzdem erfolgenden Angriff zu begegnen, nicht von den einseitigen Gegebenheiten abhängig ist." Der Sprecher betonte weiter, die Bundesrepublik sei bereit, 500 000 Mann zu diesen ausgewogenen Streitkräften beizutragen, könne aber einen höheren Beitrag aus finanziellen, wirtschaftlichen und politischen Gründen nicht leisten. Richard Jaeger, der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses der WEU, hob dies in einem Interview gleichfalls hervor und erklärte: „Ich glaube nicht, daß es darum geht, diejenigen Amerikaner, die einen „New Look" in der Verteidigungspolitik vertreten, sozusagen zu bekehren. Es geht vielmehr darum, den ihren Vorstellungen zugrunde liegenden Gedanken, daß die konventionelle Rüstung verstärkt werden muß — ein Gedanke, der zweifellos richtig ist —, mit der Einsicht zu verbinden, daß Europa nur unter Mitwirkung von Kernwaffen verteidigt werden kann, daß also die Abschreckung nur » Ebd. Senate Armed Services Committee, Hearings on the Nomination of Maxwell D. Taylor and Earle G. Wheeler (87th Congr., 2nd sess.), 9.August 1962. 30 Bulletin, Nr. 148, 14. August 1962, S. 1264.
Β. Die Debatte um die Strategie: Ein beunruhigtes Europa
105
bei einem ausgewogenen Verhältnis nuklearer und konventioneller Waffen sinnvoll und glaubwürdig ist."31 In der Welt am Sonntag vom 13. August 1962 äußerte sich Strauß ähnlich. Zur Frage eines gemeinsamen nuklearen Verteidigungssystems meinte er: „Dieses Verteidigungssystem muß allen NATO-Mitgliedern nicht nur theoretisch gleiche Rechte und Pflichten zusprechen, sondern gerade auf dem lebenswichtigen Gebiet der A-Waffen ihnen nach ihrer Leistungsfähigkeit den Zustand der Partnerschaft ermöglichen. Für diese Partnerschaft gibt es verschiedene Formen, zum Beispiel eine multilaterale atlantische oder eine europäisch-amerikanische Variante."32 Sicher nicht von ungefähr kam diese Bemerkung unmittelbar anschließend an einen Abschnitt, in dem Strauß darauf hinwies, daß die Vereinigten Staaten zwar die größte, aber nicht die einzige Nuklearmacht in der NATO seien, „weil Großbritannien und Frankreich als unwandelbaren Bestandteil ihrer Verteidigungspolitik den Ausbau bzw. Aufbau einer nationalen Atommacht ausdrücklich verkündet haben. Um so notwendiger ist eine gemeinsame strategische Doktrin audi für die nuklearen Waffen, damit einerseits die Entstehung neuer A-Waffen-Mächte verhindert, andererseits alle bestehenden Atomwaffen in das Verteidigungssystem einbezogen werden."33 In dieser Passage zeigt sich einmal der Wunsch, die britischen und französischen Nuklearwaffen in ein „gemeinsames Verteidigungssystem einzubeziehen", also über den Weg der Integration den diskriminierten Status der Bundesrepublik gegenüber Frankreich und Großbritannien abzubauen; zum anderen zeigt sie aber auch, wie Strauß in mehr oder weniger subtiler Weise versuchte, aus der Möglichkeit eines selbständigen nuklearen Kurses der Bundesrepublik oder einer deutsch-französischen Kooperation — die zwar beide effektiv nicht in Betracht kamen,34 aber wiederum auch nicht völlig unglaubwürdig schienen und daher nicht ganz unwirksam waren — politisch-diplomatisches Kapital zu gewinnen. Aus den deutschen Äußerungen wird deutlich, daß, obwohl die Differenzen im rein militärstrategischen Bereich allmählich reduziert wurden, das Interesse an einer Lösung des Problems der nuklearen Mitwirkung im politischen Bereich und in wachsendem Maße in Form einer gemeinsamen nuklearen Streitmacht unvermindert war. Manche der anfänglichen MißVerständnisse in der Debatte um die Strategie mögen auf eine 81
Abgedruckt in: Bulletin, Nr. 152,18. August 1962, S. 1293 f. Abgedruckt in: Bulletin, Nr. 148,14. August 1962, S. 1265. » Ebd. 84 Vgl. oben, S. 43 ff. und 49 ff. S2
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II. Kapitel. Der Weg nach Athen
besonders ausgeprägte Eigenart des amerikanischen politischen Prozesses zurückzuführen sein, der Tatsache nämlich, daß in den USA eine neue politische oder militärstrategische Konzeption schrittweise in offener Diskussion formuliert wird, wobei die Vertreter der verschiedenen Richtungen gelegentliche Unterstützung in der Öffentlichkeit oder sogar im Ausland suchen. Solange eine Konzeption innerhalb der amerikanischen Regierung aber noch nicht erarbeitet ist, ist es schwierig, Verbündete formal in die Debatte miteinzubeziehen; andererseits läßt sich die Vertraulichkeit der Diskussion unmöglich wahren, bis ein amtliches Konzept erarbeitet worden ist. Der eine befürwortet diese, der andere jene Idee; das hatte in Europa oft Verwirrung und Mißverständnisse zur Folge. Ist aber erst einmal eine amtliche Haltung vorhanden, so ist sie oft das Resultat eines vorsichtig ausgewogenen innenpolitischen Kompromisses — und dann wiederum erscheint es politisch leichtsinnig, die mühsam erarbeitete Formel im Rahmen des Bündnisses erneut zu offener Diskussion vorzulegen.35 Doch nicht nur diese „eingebauten" Schwierigkeiten, sondern audi gewöhnliche diplomatische Formfehler und mangelndes Verständnis einer Großmacht für ihre kleineren Verbündeten riefen Fehlinterpretationen und Besorgnisse hervor. Wahr ist allerdings audi, daß die deutschen Befürchtungen und Empfindlichkeiten häufig übertrieben waren. Diese Empfindlichkeiten beruhten zu einem Großteil einfach auf einer Unkenntnis der nuklearen Zusammenhänge; sie beruhten aber auch auf dem zentralen Sidierheitsbedürfnis der Deutschen in der Bundesrepublik, das nicht nur ihrem besorgten Interesse an der Militärstrategie zugrunde lag, sondern weitgehend die politische Zielsetzung der Bundesrepublik im Hinblick auf die nukleare Mitwirkung bestimmte. Die amerikanische Regierung hingegen neigte dazu, dieses Sicherheitsbedürfnis der Bundesrepublik zu unterschätzen. Die verbale Verpflichtung, Westdeutschland zu verteidigen, erschien den Vereinigten Staaten ausreichend — nicht aber der Bundesrepublik.36 Das war in der Tat der springende Punkt: Auch hier wieder lagen die Differenzen nicht so sehr im militärischen wie im politischen Bereich. Die Vereinigten Staaten konzentrierten sich auf ihre eigene nukleare Stärke und Flexibilität und auf die verbale Verpflichtung zur Verteidigung Europas im Notfall auch 35
Vgl. zu dieser Problematik Cleveland, N A T O — The Transatlantic Bargain, a.a.O., S. 77 ff.
36
Vgl. die Pressekonferenz von Kennedy vom 1. August 1962, NYT, 2. August 1962; vgl. auch oben, S. 66 ff. und 99 ff.
C. Die Frage der nuklearen Mitwirkung
107
mit Nuklearwaffen. Die Bundesrepublik hingegen glaubte diese Verpflichtung nur dann für hinreichend gesichert und auch unter Berücksichtigung deutscher Interessen für erfüllbar, wenn sich sowohl amerikanische Atomwaffen in Westeuropa befänden als auch die Bundesrepublik bzw. die anderen westeuropäischen Partner ein Mitspracherecht bei ihrem Einsatz hätten. C. Die Frage der nuklearen
Mitwirkung
Während der ersten beiden Jahre der Regierung Kennedy war die politische Lage im Bündnis durch zwei gegensätzliche Entwicklungen gekennzeichnet: Einerseits schenkte die neue Regierung den Problemen und dem politischen Leben der Allianz keine besondere Beachtung; andererseits hatte gerade diese Haltung, verbunden mit den Ungewißheiten und Unklarheiten des strategischen Umdenkens in den Vereinigten Staaten, ein erhöhtes deutsches Interesse an der nuklearen Mitbestimmung zur Folge. 1. D e r
Mangel
an
amerikanischem
Interesse
Die Besorgnis angesichts der militärtedinischen Fortschritte in der Sowjetunion und die Unzufriedenheit mit den nuklearen Übereinkünften in der Allianz hatten zu dem Vorschlag Herters auf der N A T O Ratstagung im Dezember 1959 geführt.37 Das Gefühl, daß eine neue Form der institutionellen Bindung zwischen Westeuropa und den Vereinigten Staaten wünschenswert wäre, war zu jener Zeit weit verbreitet. Obwohl Großbritannien die Frage nicht als vordringlich ansah, erklärte Premierminister Macmillan am 7. April 1961, die Stabilität des N A T O Bündnisses hänge davon ab, ob ein Weg zur „wirklichen Einheit" in der Sphäre der konventionellen und der nuklearen Waffen gefunden werden könne.38 Anfang März spradi sich NATO-Generalsekretär Spaak für eine multilaterale Nuklearstreitmacht aus3', und wenige Tage später, am 10. März, äußerte Bundeskanzler Adenauer die Ansicht, falls keine zufriedenstellenden Abrüstungsmaßnahmen zu erreichen seien, müßte die N A T O eine „Nuklearmacht" werden, und alle Verbündeten müßten nuklear ausgerüstet werden. 40 Vgl. oben, S. 78 ff. Vgl. N Y T , 8. April 1961. 3» Vgl.NZZ, 5. März 1961. 40 Vgl. Bulletin, Nr. 50, 14. März 1961, S. 457 ff.
37
38
108
II. Kapitel. Der Weg nach Athen
Konkret wurde jedoch kaum etwas unternommen, da alles auf eine amerikanische Initiative wartete. Schließlich hatte Kennedy von der vorigen Regierung gewisse Zusagen „geerbt", die nukleare Stärke der N A T O zu erhöhen — Zusagen, in denen viele Deutsche den Ausgangspunkt für eine gemeinsame Nuklearstreitmacht der N A T O erblickten.41 Aber während die Europäer auf eine amerikanische Initiative warteten, zeigten die führenden amerikanischen Politiker nur ein geringes Interesse. Auf einer Pressekonferenz am 8. Februar 1961 sagte Präsident Kennedy, die verschiedenen Konzepte für eine NATO-Streitmacht würden geprüft werden; er habe dazu eine interministerielle Studiengruppe unter Leitung des ehemaligen Außenministers Dean Acheson ernannt. 48 Aber die Arbeit der Gruppe brachte keine wesentlichen Resultate mit sich. Sie tagte nur wenige Male, und soviel zu erfahren war, schien sie einer gemeinsamen Nuklearstreitmacht reserviert gegenüberzustehen und — im Einklang mit der Regierungspolitik — vor allem die Notwendigkeit stärkerer konventioneller Streitkräfte zu betonen.43 Auf der Frühjahrstagung des NATO-Rates wiederholte Außenminister Rusk das von Herter im Dezember 1960 unterbreitete amerikanische Angebot, der N A T O fünf Polaris-U-Boote (unter amerikanischer Kontrolle) zu überlassen44; er erneuerte jedoch nicht den Vorschlag eines Ankaufs von 100 amerikanischen Polaris-Raketen durch die westeuropäischen Verbündeten.45 Präsident Kennedy kam zwar in seiner bekannten Rede in Ottawa am 17. Mai 1961 46 auf Eisenhowers Vorschlag für eine gemeinsame Nuklearstreitmacht zurück; er hob jedoch hervor, diese könne erst dann geschaffen werden, wenn die nicht-nuklearen Ziele der Allianz (d. h. eine Verstärkung der konventionellen Streitkräfte und engere Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem Gebiet) erreicht seien und wenn die europäischen Verbündeten ein befriedigendes Kontrollsystem ausgearbeitet hätten. 41 42 43
44 45
49
Vgl. oben, S. 83 ff. und Cornides, Der Grand Design, a.a.O., S. 94. Vgl. Bericht in: N Y T , 9. Februar 1961. Vgl. NZZ, 6. April 1961. Eine Studiengruppe zur Untersuchung der strategischen Probleme des Bündnisses, die nach dem Besuch Kennedys in Paris im Juni geplant worden war, trat nie zusammen; vgl. dazu Cornides, Der Grand Design, a.a.O., S. 91. Vgl. oben, S. 78. Vgl. N Y T , 10. Mai und Times 6. Mai 1961. Zu bemerken ist jedoch, daß die Lieferung der Trägerwaffen an die Alliierten und die Lagerung nuklearer Sprengköpfe in Westeuropa unter amerikanischer Kontrolle nicht verringert wurde (vgl. ζ. B. Berichte der Times vom 27. April und der N Y T vom 4. Mai 1961). Rede vor dem kanadischen Parlament; Text in: Stebbins, Documents 1961, a.a.O., S. 272—279. Deutscher Text in: EA 11/1961, S. D 320—322 (Auszüge).
C. Die Frage der nuklearen Mitwirkung
109
Es scheint offenkundig, daß Präsident Kennedy im Frühjahr 1961 die nuklearen Wünsche der europäischen Bündnispartner bewußt übersah. Einige Gründe dafür ergaben sich aus der neuen strategischen Konzeption: Die Regierung erstrebte eine flexiblere Strategie mit Anhebung der „nuklearen Schwelle" (das bedeutete in erster Linie mehr konventionelle Streitkräfte) und eine stärkere Beteiligung der Verbündeten an den Verteidigungslasten der N A T O (das bedeutete, daß die konventionellen Streitkräfte von den Verbündeten zu stellen waren). Für die nukleare Verteidigung würden sowohl materiell wie politisch die Vereinigten Staaten sorgen, wobei die „Last der nuklearen Entscheidung" aber nidit geteilt werden, sondern in der alleinigen Kompetenz der Vereinigten Staaten bleiben sollte: um das Risiko von Fehlkalkulationen möglichst gering zu halten, um im Konfliktfall sichere und klare Befehls- und Kontrollverhältnisse zu haben — und um die Tür f ü r Verhandlungen mit der Sowjetunion nicht zuzuschlagen, denn diese war erklärtermaßen gegen eine Teilhabe verbündeter Staaten (insbesondere der Bundesrepublik) an amerikanischen Kernwaffen. Die Bedingungen der neuen Strategie, wie sie auf amerikanischer Seite interpretiert wurden, schienen in der Praxis dem Interesse an bilateralen Kontakten mit der Sowjetunion entgegenzukommen. Cornides beschreibt dieses Interesse der frühen Kennedy-Regierung an globaler Stabilität auf Kosten des Interesses an den nuklearen Problemen der Allianz folgendermaßen: „Während dieser Zeit standen f ü r Kennedy die Verhandlungen mit der Sowjetunion im Vordergrund, deren Leitidee die bipolare Stabilisierung der Abschreckung und daher die Verhinderung der Ausbreitung der Nuklearwaffen war. Eine Entscheidung für die nukleare Partnerschaft mit den europäischen Verbündeten war daher politisch inopportun: Sie hätte die Grundvoraussetzung der Bipolarität in Frage gestellt, von der Kennedy bei seinen Verhandlungen mit Chruschtschow ausging." Und Cornides fährt fort: „Es war kein Zufall, daß die Kristallisation der Partnerschaftsidee schließlich im Bereidi der Handelspolitik erfolgte. [Der Trade Expansion Act vom September 1967 und der Beginn der „Kennedy-Runde".] Die Realität des europäischen Zusammenschlusses wurde für Kennedy zuerst als gemeinsamer Markt' spürbar, dessen politische Zielsetzung er zwar bejahte, dessen logische politisch-militärische Konsequenz auf nuklearem Gebiet er jedoch ablehnen mußte, solange er mit Chruschtschow auf der Grundlage der Bipolarität verhandeln wollte." 47 47
Cornides, Der Grand Design, a.a.O., S. 91.
110
II. Kapitel. Der Weg nach Athen
Cornides ist der Meinung, daß Kennedy zu diesem Zeitpunkt die militärisch-nuklearen Implikationen seiner Idee einer amerikanischeuropäischen Partnerschaft (des „Grand Design") entweder nicht sah oder nicht sehen wollte. Kennedys Angebot in Ottawa war sehr bedingt; überdies hatte keiner der nicht-nuklearen Verbündeten Erfahrungen oder Kenntnisse in nuklearer Kommandoführung und Kontrolle, so daß von ihnen schwerlich irgendwelche Initiativen zu erwarten waren. Vielleicht hatte es der Präsident sogar darauf abgesehen, daß die Verbündeten vor den finanziellen, politischen und technischen Schwierigkeiten kapitulierten und das „nukleare Geschäft" allein den Vereinigten Staaten überließen. 2. D a s W a c h s e n
des d e u t s c h e n
Interesses
In bezug auf die nukleare Frage waren die Jahre 1961—62 für die politische Führung in Bonn eine schwierige Zeit. Die Chancen für die Verwirklichung eines gemeinsamen nuklearen Konzepts nahmen ab, während es zugleich dringender als je geboten erschien, eine Lösung des nuklearen Problems zu finden. So wurde es trotz der Zurückhaltung der Bonner Regierung immer deutlicher, daß die Deutschen an irgendeiner Form von nuklearer Mitbestimmung interessiert waren. Daß die Allianz 1961 in der nuklearen Frage keine Fortschritte machte, lag an der offenkundigen Interesselosigkeit Kennedys, am gleichfalls mangelnden Interesse Frankreichs und Großbritanniens sowie an den Rücksichten, die Bonn daran hinderten, allein die Initiative zu ergreifen.48 Die Politik der Bundesrepublik war im wesentlichen eine Politik der Reaktion, nicht der Aktion. Zum Beispiel wurde dieses Thema auf der NATO-Tagung in Oslo einfach umgangen, aber die Bundesrepublik sah sich nicht in der Lage, es von sich aus zur Diskussion zu stellen. Zudem wurde das Jahr 1961 von der Diskussion über die Erfordernisse an konventionellen Streitkräften beherrscht, und der Herbst brachte eine neue Berlin-Krise — am 13. August 1961 wurde die Mauer gebaut —, die die ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm (so auch bei Adenauers Treffen mit Kennedy in Washington im November 1961). Dennoch war es in diesem Jahr, daß die Bundesregierung die Frage der 48
Die Adieson-Studiengruppe zur Untersuchung der Probleme der Allianz (vgl. oben, S. 108) soll Kennedy in der Tat empfohlen haben, die nukleare Frage, angesichts des mangelnden Interesses in Westeuropa — mit Ausnahme der Bundesrepublik — nicht übereilt zu behandeln; vgl. NZZ, 6. April 1961.
C. Die Frage der nuklearen
Mitwirkung
111
nuklearen Mitbestimmung förmlich in den Katalog ihrer offiziellen Politik aufnahm. 49 Das geschah hauptsächlich in den letzten Monaten des Jahres, die in dieser Frage durch drei wichtige Ereignisse gekennzeichnet waren: durch eine Rede von Verteidigungsminister Strauß an der Georgetown University in Washington am 27. November, die Regierungserklärung des neugewählten Kabinetts Adenauer am 29. November und durch die NATO-Ratstagung im Dezember. In seiner Rede an der Georgetown University erklärte Verteidigungsminister Strauß, die absolute Souveränität der atlantischen Staaten sei überholt; es müsse vielmehr im militärischen und politischen Bereich ein „atlantisches Bewußtsein" geschaffen werden.50 Es sei die historische Aufgabe des Bündnisses, von der Kooperation und Koordination fortzuschreiten zur Konföderation und schließlich zu einer „Föderation partieller Art". Die atlantische Einheit, sagte Strauß, sei der europäischen Einheit nicht entgegengesetzt, sondern nur ihre logische Fortsetzung. Wahrscheinlich würden viele europäische Staaten eine atlantische Union sogar leichter und eher akzeptieren als eine europäische Union. 51 Die „Föderation partieller Art" mit einer „parlamentarisch zu kontrollierenden Spitzeninstitution" sollte folgende Aufgaben wahrnehmen: Festlegung einer gemeinsamen Strategie für die NATO, gemeinsame Kontrolle über Kernwaffen und gemeinsame Entscheidungsgewalt über ihren Einsatz, Formulierung gemeinsamer Richtlinien für Abrüstung und Rüstungskontrolle, Ausarbeitung eines gemeinsamen Standpunkts im psychologischen Kampf gegen den Kommunismus und schließlich verschiedene andere Funktionen auf den Gebieten der Wirtschaft und der Entwicklungshilfe. Es ist nicht klar, an welche Form der gemeinsamen Kontrolle und Entscheidungsgewalt für nukleare Waffen Strauß dachte. In einem Fernsehinterview am 4. Dezember 196152 erklärte er, die Entscheidung über den Abschuß von Kernwaffen müsse auf hoher politischer Ebene getroffen werden und dürfe nicht örtlichen Kommandeuren überlassen bleiben. Der Entsdieidungsprozeß für den Einsatz von Kernwaffen und die Befehlsstruktur müßten jedoch sehr einfach sein, damit im Notfall rasche 48 50 51
52
Vgl. dazu auch Cornides, Der Grand Design, a.a.O., S. 95—100. Abgedruckt im Bulletin, Nr. 22, 1. Dezember 1961, S. 2097 ff. Strauß war zu diesem Zeitpunkt nodi „Atlantiker" insofern als er zwischen einem europäischen Zusammenschluß und einem atlantisdien „Näherrücken" oder sogar einer atlantisdien Föderation keinen Widerspruch — audi was zeitliche Prioritäten betraf — sah. Bericht in: NZZ, 6. Dezember 1961.
112
II. Kapitel. Der Weg nach Athen
Entscheidungen möglich wären. Weder solle es ein Prozeß mit „fünfzehn Fingern am Abzug" sein, noch solle er eine komplizierte und langwierige Konsultation und Koordination erfordern. Der Verteidigungsminister forderte einerseits, es dürfe in der Allianz keine Mitglieder erster und zweiter Klasse geben, denn dies würde das Bündnis zerstören. Andererseits betonte er, die letzte Entscheidung müsse stets beim amerikanischen Präsidenten liegen: „Ohne oder gegen den amerikanischen Präsidenten darf ein Einsatz von Kernwaffen nicht möglich sein."53 Deutlich war jedoch, daß Strauß in Georgetown einiges aus der Regierungserklärung vorwegnahm, die das neue Kabinett Adenauer zwei Tage später vor dem Bundestag abgab. Der Kanzler nahm das Konzept einer NATO-Nuklearstreitmacht in aller Form in seine Erklärung auf und forderte, daß eine solche Streitmacht „baldmöglichst" geschaffen werde. Das sei notwendig, erklärte er, um die Verteidigung Westeuropas auf das gleiche Rüstungsniveau zu heben wie die Kräfte des potentiellen Gegners.54 Auf der Sitzung des NATO-Ministerrats am 15. Dezember 1961 erläuterte Strauß den Standpunkt der Bundesrepublik ausführlicher.65 Er betonte, daß auch die Bundesregierung gegen eine Strategie sei, die sich allein auf Kernwaffen stütze. Die Bundesrepublik habe den konventionellen Streitkräften stets Vorrang gegeben und dementsprechend gehandelt, auch in der Periode von 1956 bis 1960, in der die NATOStrategie primär auf Nuklearwaffen gestützt gewesen sei.56 Allerdings sei die Bundeswehr aufgrund der NATO-Strategie für die Verteidigung Mitteleuropas mit nuklearen Trägerwaffen ausgerüstet worden, und diese bildeten jetzt ein wesentliches Element der Verteidigung Westdeutschlands. Dennoch bestehe — angesichts der sowjetischen Mittelstreckenraketen, die jeden Teil Westeuropas erreichen könnten, eine 63 64
55
58
Ebd. Deutscher Bundestag, Stenographische Berichte, 29. November 1961, S. 32. (Die Erklärung wurde stellvertretend für den Bundeskanzler vom Vizekanzler Erhard abgegeben.) Ein weiterer Hinweis auf die Politik der Bundesregierung ist die starke Unterstützung, die sie dem NATO-Generalsekretär Dirk Stikker, der als Befürworter einer nuklearen Streitmacht für das Bündnis angesehen wurde, zukommen ließ (vgl. NZZ, 13. und 31. Januar 1962 und NYT, 7. Februar 1962). Die meisten der deutschen Argumente wurden durch Adelbert Weinstein bekannt; vgl. seine Leitartikel in der FAZ vom 5., 14., 16. und 19. Dezember 1961 sowie die Berichte von der Tagung, FAZ, 15. und 16. Dezember 1961. Eine Woche zuvor, am 8. Dezember 1961, hatte das Kabinett beschlossen, ab April 1962 den Wehrdienst von 12 auf 18 Monate zu erhöhen.
C. Die Frage der nuklearen
Mitwirkung
113
„Lücke" in der europäischen Verteidigung, die es durch ein adäquates gemeinsames System von gleicher Verteidigungskraft unter europäischer Mitwirkung zu schließen gelte. Der potentielle Aggressor müsse sich stets einem breiten Fächer von Waffen gegenübersehen, so daß er mit einem unberechenbaren Risiko konfrontiert sei und niemals wisse, welche Waffen gegen ihn eingesetzt würden. Welche Waffen tatsächlich zum Einsatz kommen sollten, müsse nach den jeweils herrschenden Umständen entschieden werden, nicht nach vorher festgelegten Plänen. Strauß wiederholte, die Bundesrepublik habe nicht den Wunsch, eine Nuklearmacht zu werden; wohl aber müsse die N A T O eine werden, damit für Westeuropa und die Bundesrepublik eine ausreichende Verteidigung und Abschreckung sichergestellt würden. Weitere Ausführungen über die Notwendigkeit einer NATO-Nuklearstreitmacht machte Adelbert Weinstein, ein Vertrauter des Verteidigungsministers, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 19. Dezember 1961. Europa brauche Verfügungsgewalt über Kernwaffen, schrieb er, um ein Teil des Abschreckungssystems zu werden. Die sowjetischen Mittelstreckenraketen könnten die USA nicht erreichen — sie seien auf die europäische „Geisel" gerichtet. Es gehe also nidit mehr allein um taktische Atomwaffen: „Westeuropa muß sich zum zweiten atlantischen Abschreckungszentrum mit eigener Verfügungsgewalt über Atombomben und entsprechende Trägerwaffen entwickeln." Das könne es nur mit Hilfe der Vereinigten Staaten erreichen. Weinstein räumte ein, daß dies für die USA aus innenpolitischen Gründen (Atomenergie-Gesetze und Opposition im Kongreß) wie aus außenpolitischen Gründen (Nonproliferation) schwierig sein möge. „Doch wenn die großen westlichen Militärmächte ihr Atommonopol nicht mit dem Bündnis teilen, kann die Allianz auseinanderbrechen." Und das, meinte er, würde nur zu nuklearer Anarchie führen.57 Es ist evident, daß die Bundesregierung das amerikanische Argument, die Allianz „habe ja schließlich Kernwaffen", in dieser Form jetzt nicht mehr als stichhaltig oder befriedigend ansah. Die Vereinigten Staaten waren NATO-Mitglied, und sie hatten Kernwaffen; nach Auffassung der Deutschen — wie auch der Franzosen und vieler anderer Westeuropäer — bedeutete dies jedoch nicht, daß die Allianz Kernwaffen hatte. Die Verteidigung, aber vor allem die Abschreckung, so lautete das 57
In seinem Fernsehinterview vom 4. Dezember 1961 (vgl. oben, S. 111 ff. und NZZ, 6. Dezember 1961) hatte Strauß die Hoffnung geäußert, daß Frankreich und Großbritannien, zusammen mit den USA, auf eine nukleare Partnerschaft in der NATO eingehen würden.
8 Mahndte
114
II. Kapitel. Der Weg nach Athen
offizielle Argument in Bonn, müßten a) mit Kernwaffen und b) unter Mitwirkung der europäischen Bündnispartner gewährleistet werden.58 Kernwaffen wären notwendig zur Abschreckung; damit aber die Abschreckung wirksam und zweifelsfrei funktionierte, brauchte das potentielle Opfer ein Mitspracherecht bei der Entscheidung über den Einsatz dieser Waffen. 3. D i e R e a k t i o n
auf die deutschen
Schritte
Die Reaktionen auf die Ausführungen von Strauß im NATO-Rat waren gemischt. Strauß hatte keine endgültigen Entscheidungen erwartet; es ging ihm in erster Linie darum, das Thema wieder auf den Tisch zu bringen und seine weitere Behandlung anzuregen. 5 ' Dies erreichte er audi; doch da eine Beschlußfassung nicht zwingend geboten war, nahmen die übrigen Verbündeten gern die Gelegenheit wahr, das unbequeme Problem noch einmal zu vertagen. Dementsprechend hieß es im Schlußkommunique der Tagung: „Die Minister nahmen ferner Kenntnis von den Fortschritten, die der Rat bei der Untersuchung der langfristigen Probleme gemacht hat, die bei den Bemühungen um die Verbesserung der Abschreckungs- und Verteidigungskraft des Bündnisses entstehen. Sie wiesen den Ständigen Rat an, die Prüfung dieser dringenden Fragen in naher Zukunft fortzusetzen.'" 0 Das Ende des Jahres 1961 brachte somit eine begrenzte deutsche Initiative, nicht im Sinne konkreter Vorschläge, sondern in Gestalt eines Versuchs, die nukleare Frage zur Diskussion zu stellen und die Vereinigten Staaten zu eigenen Vorschlägen zu ermuntern. Welche Wirkungen Strauß mit seinen Bemühungen erzielte, ist schwer zu beurteilen, weil andere Faktoren mitspielten. Sicherlich hatte seine energische Art ein gewisses Mißtrauen unter den Verbündeten erweckt; einige von ihnen glaubten zweifellos, Strauß erstrebe für die Bundesrepublik nationale Verfügungsgewalt über Kernwaffen. Cornides ist der Meinung, daß eine solche Absicht damals weder völlig ausgeschlossen noch zweifelsfrei angenommen werden konnte. 61 Wie dem auch sei, fest stand, daß die Vereinigten Staaten nicht willens waren, sich zu irgend etwas drängen zu lassen. Am 6. Dezember 1961 hielt der Berater des Präsidenten, McGeorge Bundy, vor dem Wirtschaftsklub in Chikago eine 58
Vgl. dazu audi die Analyse von Cornides, Der Grand Design, a.a.O., S. 97. Vgl. FAZ, 16. und 19. Dezember 1961. «· Text in: EA 1/1962, S. D 9—11, hier S. 11. el Cornides, Der Grand Design, a.a.O., S. 98.
59
C. Die Frage der nuklearen Mitwirkung
115
Rede*8, die als Antwort auf die Rede von Strauß an der Georgetown University gedacht war. Bundy bekräftigte die These, daß die konventionellen Streitkräfte verstärkt werden müßten und erneuerte die nukleare Verpflichtung der Vereinigten Staaten. Er erwähnte audi Kennedys Rede in Ottawa 63 und erklärte, das darin gemachte Angebot werde aufrechterhalten. Man könne der Bundesrepublik kein Vetorecht in der westlichen Politik einräumen, aber sie werde es nie zu bedauern haben, daß sie ihr Vertrauen in die Amerikaner gesetzt habe. Für eine voll ausgebildete atlantische Union, wie von Strauß vorgeschlagen, sei die amerikanische Nation allerdings vorerst weder verfassungsmäßig noch psychologisch vorbereitet. Zu entwickeln sei vielmehr eine Partnerschaft zwischen den Vereinigten Staaten und einem starken, geeinten Europa. Das erfordere „ein neues Europa mit der Wirtschaftskraft, dem militärischen Selbstvertrauen und der politisdien Einheit einer echten Großmacht.*"4 Dazu sei der deutsche Beitrag natürlich notwendig. Cornides kommentierte treffend: „Die Rede Bundys war psychologisch geschickt darauf abgestellt, Mut und Selbstvertrauen der Deutschen zu heben, die durch die Berliner Mauer und die Fortsetzung der Verhandlungen mit der Sowjetunion erschüttert waren. Sie enthielt jedoch in keinem Punkt eine konkrete Antwort auf die Fragen, die Strauß in seiner Georgetown-Rede und in seinen Gesprächen in Washington ausgesprochen hatte. Zu der für den politischen Inhalt der Partnerschaft entscheidenden Frage der nuklearen Mitbestimmung bot Bundy nur den Hinweis auf Kennedys Rede in Ottawa. Das bedeutete eine unmißverständliche Absage an den Plan Norstads, auf dem europäischen Festland eine Nuklearmacht der N A T O aufzubauen. Wenn Bundy von einer .großen europäischen Macht' und dem ,militärischen Vertrauen einer echten Großmacht' sprach, so blieb damit für die Probleme der Befehlsgewalt und der strategischen Planung der Allianz noch alles offen." 68 4. E i n s t e t i g e r S t r o m v o n
Argumenten
Waren mithin die Anfangsergebnisse der Kampagne von Strauß gering, so brachte er doch immerhin die nukleare Frage wieder ins Gespräch. In den folgenden Monaten, d. h. im ersten Drittel des Jahres •2 Text in: EA 2/1962, S. D 43—51. Vgl. audi Cornides, Der Grand Design, a.a.O., S. 98—100. » Vgl. oben, S. 108. ·* A.a.O. (Anm. 62). 65
8*
Cornides, Der Grand Design, a.a.O., S. 99—100.
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II. Kapitel. Der Weg nach Athen
1962, ließ er einen stetigen Strom von deutschen Argumenten fließen, der schließlich auf der Frühjahrstagung des NATO-Rates in Athen einen begrenzten Erfolg brachte. Verschiedene Faktoren kamen Strauß dabei zu Hilfe. Erstens kam allgemein das Gefühl auf, daß etwas getan werden müsse, um die strukturellen Probleme der Allianz (d. h. die Probleme des Einflusses und der Gleichberechtigung) zu lösen. Überdies wuchs zu dieser Zeit die Ansicht, daß eine Form von institutioneller Verbindung zwischen den USA und Westeuropa notwendig sei. Symbolisch dafür war der „Atlantische Konvent" in Paris im Januar 1962, der das von Strauß in Georgetown erwähnte Thema einer atlantischen Union aufgriff. Der ehemalige amerikanische Außenminister Herter, der zum Präsidenten des Konvents gewählt worden war, erklärte, Konsultationen genügten nicht, und eine wirkliche Gemeinschaft müsse an die Stelle der „überholten nationalen Selbstsucht" treten." Zweitens wurde das Wachstum der europäischen Volkswirtschaften sehr augenfällig (allerdings wurde es übertrieben dargestellt; die hohe jährliche Wachstumsrate Westeuropas wurde mit der relativ niedrigen Rate der Vereinigten Staaten verglichen, wobei aber außer acht gelassen wurde, daß die USA in absoluten Zahlen ihren Vorsprung nodi immer vergrößerten). Dieses Wachstum, so glaubte man, könne und werde sich in einer vergrößerten Gemeinschaft (das war vor dem französischen Veto gegen den Beitritt Großbritanniens zur EWG im Januar 1963) verstärkt fortsetzen. Die Vereinigten Staaten sahen in der Tat zum ersten Mal eine Konkurrenz dort, wo sie bisher dominiert hatten; das führte zu einer „nervösen" Reaktion und einer offensichtlichen Uberschätzung der Wirtschaftskraft Europas."7 Aber immerhin hatten die westeuropäischen Staaten sich vom Kriege erholt, und der wirtschaftliche Aufschwung gab ihnen Selbstvertrauen. Entsprechend wuchs ihr allgemeiner politischer Status, und es verbreitete sich die Uberzeugung, daß man dieser Tatsache auch auf militärischem Gebiet Rechnung tragen müsse. In der Bundesrepublik wurde diese Tendenz besonders stark empfunden: Sie befand sich auf dem Höhepunkt wirtschaftlicher M
67
Erklärung des Atlantisdien Konvents in: EA 6/1962, S. D 148—154. Vgl. audi FAZ, Times und Le Monde, 9. Januar 1962 und NYT, 9. und 20. Januar 1962. Audi im Jahre 1970/71 bestand — wiederum während der Verhandlungen um einen britischen Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften — eine ähnliche Tendenz, im Zusammenhang mit der Frage der Verteidigungslasten die westeuropäische Wirtsdiaftsmadit zu überschätzen; vgl. Präsident Nixons Botschaft an den Kongreß vom 18. Februar 1970, deutscher Text in: EA 7/1970, S. D 145 ff.
C. Die Frage der nuklearen
Mitwirkung
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Prosperität, sie hatte ihre NATO-Verpflichtung hinsichtlich der zu erreichenden Truppenstärke nahezu erfüllt"8, ihr militärischer Beitrag zum Bündnis gewann rasch an Gewicht und so wurde es ganz einfach als folgerichtig empfunden, daß ihr militärischer und politischer Einfluß entsprechend verstärkt werden müßte." Allerdings hatte das neue Bewußtsein der Stärke Westeuropas audi paradoxe Auswirkungen. Auf der einen Seite wollten die Europäer ihr neues ökonomisches und politisches Gewidit dazu benutzen, die amerikanische Führungsrolle einzuschränken; auf der anderen Seite bedienten sie sich seiner, um von ihrem Hauptverbündeten mehr zu fordern. Diese etwas widersprüchliche Haltung — einerseits Mißvergnügen über die amerikanische Vorherrschaft, andererseits Beschwerden über fehlende amerikanische Führung — hatte ihre Wurzel in der Diskrepanz zwischen dem subjektiven Gefühl neuer Stärke und dem objektiven Unterschied zwischen dieser Stärke und der Stärke der Führungsmacht im Bündnis, der Vereinigten Staaten. Doch davon abgesehen, gab es ohne Zweifel auch sehr spezifische und konkrete amerikanisch-europäische Differenzen: zwischen den USA und Frankreich über die selbständige französische Abschreckungsmacht und über die amerikanische Weigerung, Frankreich Hilfe zu leisten; zwischen den USA und Großbritannien über die Stärke der konventionellen Streitkräfte; zwischen den USA und der Bundesrepublik über die konventionellen Streitkräfte, die strategische Doktrin, die Berlin-Krise und die Furcht vor diskriminierenden amerikanisch-sowjetischen Abrüstungsmaßnahmen. 70 Unterstützt durch diese allgemeinen Entwicklungstendenzen und spezifischen Mißstimmungen, brachte Strauß unablässig seine Argumente vor.71 Er verwies auf die Verwundbarkeit der Vereinigten Staaten und betonte zugleich die westeuropäischen und deutschen Sicherheitsbedürfnisse: Gegen Westeuropa ridite sich eine spezifische nukleare Drohung, 68 69
70
71
Vgl. NYT, 22. Januar 1962. Die Forderung nach einem Abbau der Diskriminierung war stets ein zentrales Element der westdeutschen Politik im Bündnis, im nuklearen Bereich aber stand es deutlich hinter den Sicherheitserwägungen zurück. In bezug auf Berlin ging die Unzufriedenheit auf die Mauer und die kurz darauffolgende Wiederaufnahme der amerikanisch-sowjetischen Abrüstungsgespräche (vgl. oben, S. 115) zurück. Sie wurde verstärkt durch das Bekanntwerden Mitte April eines amerikanischen Plans, für die Berliner Zugangswege eine „internationale Zugangsbehörde" zu gründen unter Beteiligung sowohl der Bundesrepublik wie der D D R (vgl. Times, 2. Mai 1962; die Sowjetunion war allerdings nicht bereit, auf diese Idee einzugehen, vgl. Prawda, zitiert in: NZZ, 4. Mai 1962). Ebenso wie Adelbert Weinstein, vgl. FAZ, 4. und 30. April 1962.
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II. Kapitel. Der Weg nach Athen
es sei notwendig, dieser Drohung mit Kernwaffen zu begegnen, und Westeuropa brauche ein Mitspracherecht beim Einsatz dieser Waffen. Diese Kampagne von Strauß erreichte ihren Höhepunkt Anfang April mit einer Bundestagsrede und einem Artikel in der Politisch-Sozialen Korrespondenz.n In dem Artikel legte Strauß seine bekannten Forderungen dar; offen blieben dabei allerdings wieder die genauen Modalitäten der nuklearen Mitspradie. Strauß forderte: „Information, Garantie und ein gewisses Maß an Mitspracherecht des von einer Aggression betroffenen Landes. Jeder europäische Partner sollte schließlich darüber informiert sein, weldie atomare Kapazität auf seinem Gebiet steht, und er sollte die Garantie dafür haben, daß diese atomaren Sprengköpfe nicht ohne Wissen und Einverständnis der Regierung abgezogen, vermindert oder auf andere Weise ihrem Zweck, den Krieg zu verhindern, entzogen werden können. Unsere Verteidigung hängt ja von der Abschreckung und nicht von einem Sieg konventioneller Waffen ab. Die Formel über ein gewisses Maß an Mitspradieredit wird derzeit im NATO-Rat erörtert... sie sollte eine Form haben, die das letzte Entscheidungsrecht des amerikanischen Präsidenten klar herausstellt."75 Diese letztere, geschickt gewählte Formulierung ließ offen, ob ein gewisses Maß an gemeinsamer nuklearer Planung bereits ausreichen würde oder ob der gemeinsame Besitz nuklearer Waffen dafür notwendig sei; sie ließ ebenso offen, wie extensiv das europäische Mitspradieredit sein müßte, d. h. ob nur an ein negatives Mitspracherecht bei bestimmten Waffen (Veto-Recht) oder auch an ein positives Mitspradieredit bei der Nuklearplanung gedacht war (wobei audi noch offen blieb, ob es dabei nur um die Einsatzplanung für die in Europa stationierten Waffen oder alle zur Verteidigung Westeuropas vorgesehenen Nuklearwaffen gehen sollte). Die Forderungen, die in einem am gleichen Tag erschienenen Artikel von Adelbert Weinstein enthalten sind, sind zwar weniger verhalten, aber in den entscheidenden Fragen auch nicht viel deutlicher. Weinstein forderte, daß dem deutschen Partner im Bündnis ein Mitspradieredit bei der Anwendung nuklearer Waffen gegeben werden müsse: „Wir sollten uns in Entschlüsse einschalten können, die Tausende von Kilometern entfernt gefaßt werden und die über unser Schicksal entscheiden können. Denn auf unserem Boden ist ein großer Teil der Atomträger des Westens stationiert und sind die meisten Atomvorräte gelagert. Die Bundesn
73
Deutscher Bundestag, Stenographische Berichte, 6. April 1962, S. 933—943, bzw. Abdruck des Artikels in: Bulletin, Nr. 68, 7. April 1962, S. 573 ff. Bulletin, Nr. 68, 7. April 1962, S. 574.
D. Der NATO-Rat
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republik kann nicht ihr eigenes Gebiet als atomares Niemandsland behandelt sehen, in dem alle Rechte haben, nur die Bundesregierung nicht."74 So war es möglich, im Rahmen der Forderungen, die von Strauß als „Information, Garantie und ein gewisses Maß an Mitspracherecht" zusammengefaßt wurden, sowohl extensive wie weniger extensive Maßnahmen zur Reform des nuklearen Entscheidungsprozesses im Bündnis zu sehen. Auf jeden Fall stellten diese Forderungen die Plattform dar für die nächste Runde, die NATO-Ratstagung in Athen. D. Der NATO-Rat
tagt in Athen
Die Straußsche Initiative vom Dezember 1961 brachte zwar keine unmittelbaren Resultate, aber sie brachte Bewegung in die Diskussion. Zusammen mit dem verbreiteten Unbehagen in der Allianz und dem allgemeinen Gefühl, daß etwas geschehen müsse, bestimmten die deutschen Argumente die Atmosphäre auf der Athener NATO-Ratstagung im Mai 1962. Die nuklearen Bestrebungen der Franzosen und die kaum begründeten amerikanischen Befürchtungen, die Bundesrepublik könnte dem französischen Vorbild folgen (ein Faktor, der in der Folge noch an Bedeutung gewann), hatten den deutschen Argumenten zusätzliches Gewicht verschafft. Das wachsende deutsche Interesse an nuklearer Mitbestimmung, besonders in Form einer gemeinsamen Nuklearstreitmacht, stand aber auf der Tagung im Gegensatz zum amerikanischen Desinteresse an gemeinsamem Waffenbesitz. Das Ergebnis war, wie sich herausstellen sollte, ein für die Zukunft symptomatischer Kompromiß: Man tat die ersten Schritte auf dem Weg zu einem gewissen Maß an gemeinsamer Planung. 1. D i e d e u t s c h e
Haltung
Verteidigungsminister Strauß verfolgte in Athen keinen „harten Kurs", worauf schon die Flexibilität seiner bisherigen Erklärungen gedeutet hatte. Er trug seine Forderung nach „Information, Garantie und einem gewissen Maß an Mitspracherecht" vor und sagte, er hoffe, daß man sich über einige dieser Punkte einigen werde.75 Dabei legte er den Akzent deutlich auf die beiden ersten der drei Ziele — Information und Garantien —, und nennenswerte Fortschritte wurden dann auch 74 75
FAZ, 7. April 1962. Vgl. FAZ, 4. Mai 1962.
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II. Kapitel. Der Weg nach Athen
nur auf diesen Gebieten erzielt. Das wichtigste Ziel war jedoch das dritte: Mitspradie. Warum wurde es weniger betont als die beiden anderen? Zum einen erschien mehr Information als die erste Vorbedingung, um auf nuklearem Gebiet überhaupt etwas zu erreichen. Die Bundesregierung war damals kaum über die in Westdeutschland gelagerten nuklearen Sprengköpfe (Zahl, Größe, Standort) für Trägerwaffen der amerikanischen Truppen und der Bundeswehr informiert, ganz zu schweigen von Informationen über vorgesehene Ziele und über die Bedingungen, unter denen diese Waffen eingesetzt werden sollten.7® Unterrichtung über diese Dinge war das mindeste, was die Bundesregierung wünschte. U m aber an der nuklearen Planung teilnehmen und Vorschläge über die Form einer deutschen (und europäischen) Beteiligung machen zu können, waren noch viel umfangreichere Informationen erforderlich. Daß auf Kennedys Rede in Ottawa im Mai 1961 keine deutschen Vorschläge und Initiativen zur Frage der nuklearen Mitbestimmung gefolgt waren, lag — abgesehen von den Einschränkungen, denen die Bundesrepublik unterworfen war 77 — in nicht geringem Maße am Fehlen von Informationen, Kenntnissen und Erfahrungen auf nuklearem Gebiet. Während die Amerikaner es den Europäern überließen, sich auf eine Kontrollformel für eine mögliche gemeinsame nukleare Streitmacht der Allianz zu einigen, während die Briten keinen Eifer zeigten, ihre privilegierte nukleare Stellung einem solchen gemeinsamen System zu opfern und während die Franzosen in erster Linie an ihrer unabhängigen Nuklearstreitmacht interessiert waren, warteten die Deutschen auf eine amerikanische Initiative. 78 Die Bundesregierung wollte keine Vorschläge machen, 76 77 78
Vgl. z. B. den Kommentar dazu in: Times, 2. Februar 1962. Vgl. oben, S. 31 ff. und 43 ff. Während dieser Zeit wurden in Westeuropa manches Mal Klagen über einen „Mangel an amerikanischer Führung" laut; zwei Jahre später aber, als die U S A die M L F förderten, hörte man paradoxerweise Beschwerden über die amerikanischen „pressure tactics" (vgl. unten, Anm. 133 auf S. 202). D a s war allerdings nur ein sdieinbarer Widersprudi, der hauptsächlich aus verallgemeinernden Ansichten über die Haltung „der Europäer" stammte. Die Westdeutschen, die 1962 am stärksten nach amerikanischer Führung riefen, beklagten sich auch nicht im Jahre 1964 über den amerikanischen Drude. Die Franzosen hingegen hatten 1962 zwar amerikanische Hilfe für ihr eigenständiges Nuklearprogramm, nicht aber amerikanische Vorschläge zur Lösung des nuklearen Problems im Rahmen der Allianz verlangt. Zwei Jahre später waren es zumeist die Franzosen, die über den amerikanischen Druck auf Westeuropa in der nuklearen Frage klagten. Die Briten schließlich waren 1962 mit dem Mangel an amerikanischer Initiative verhältnismäßig zufrieden und ebenso 1964 mit der amerikanischen Initiative verhältnismäßig unzufrieden.
D. Der NATO-Rat
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weil der Bundesrepublik in dieser besonders heiklen Frage internationale politische Beschränkungen auferlegt waren79, und sie konnte keine Vorschläge machen, weil es ihr an nuklearen Informationen, Kenntnissen und Erfahrungen fehlte. Das war der wesentliche Grund, der die Deutschen bewog, das Informationsbedürfnis zu betonen und die Frage der Mitbestimmung vorläufig zurückzustellen. Es gab jedoch noch andere Faktoren, die es im Augenblick wenig nützlich erscheinen ließen, dem Thema der nuklearen Mitbestimmung und einer gemeinsamen nuklearen Streitmacht Vorrang zu geben. Aus mehreren, oben ausführlich dargelegten Gründen 80 war das Thema der nuklearen Gemeinsamkeit in der Allianz seit Präsident Kennedys Amtsantritt in den Hintergrund getreten. Die Amerikaner verhielten sich abweisend und waren nicht geneigt, die Initiative zu ergreifen. Sollte etwas geschehen, dann mußten die europäischen Bündnispartner von sich aus einen Vorschlag unterbreiten. Aber jeder Vorschlag — darauf wies die Regierung Kennedy mehrfach hin — mußte, soweit er nukleare Angelegenheiten betraf, einem in dieser Frage sehr konservativen Kongreß schmackhaft gemacht werden. Und welches Kontrollsystem die Europäer auch entwerfen mochten — die letzte Entscheidung würde immer beim amerikanischen Präsidenten liegen müssen. Somit schien der Bundesregierung ein größeres Maß an Information und vielleicht eine verstärkte Beteiligung an der Debatte um die Bündnisstrategie das im Augenblick maximal Erreichbare. Die Vereinigten Staaten waren vorerst hauptsächlich daran interessiert, ihre Verhandlungen mit der Sowjetunion nicht durch Umdispositionen im Bündnis stören zu lassen.81 Erst später, nach dem Scheitern des Versuchs, mit der Sowjetunion zu einer Einigung zu gelangen, und unter dem Einfluß der MLF-Befürworter im Außenministerium, gingen die USA dazu über, zu versuchen, zunächst die NATO-Fragen zu regeln, die Sowjetführung sich darauf einstellen zu lassen und dann in neue Verhandlungen einzutreten (ζ. B. über den Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen). 88 Und zudem war es ja allein Strauß, der auf der N A T O Ratstagung im Dezember 1961 das Problem einer NATO-Abschreckungsmacht nach Kennedys Ottawa-Rede wieder zur Sprache gebracht hatte — keiner der anderen Bündnispartner war genügend interessiert, um die Frage zu forcieren. 79 80 81 82
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
oben, S. 31 ff. und 45 ff. oben, S. 107 ff. dazu den Kommentar im Economist, 5. Mai 1962. unten, S. 131 f.
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II. Kapitel. Der Weg nach Athen
Hinzu kam schließlich, daß die Auseinandersetzung über die neue amerikanische Strategie der „flexiblen Antwort" Zweifel an den amerikanischen Zusagen gegenüber Europa erweckt hatte. 85 Der Bundesregierung erschien infolgedessen eine Bestätigung und Bekräftigung der amerikanischen Garantie oder gar eine Neuformulierung der Verpflichtung im Augenblick wichtiger als die Frage einer gemeinsamen Nuklearstreitmacht (obwohl in deutsdien Augen gerade eine solche Streitmadit der amerikanischen Verpflichtung die letzte Festigkeit verleihen konnte). Zudem war die Bundesregierung nicht allein um die Frage der Strategie besorgt; audi in Berlin beobachtete sie beunruhigt das amerikanische Verhalten. So war ihre Aufmerksamkeit bis zu einem gewissen Grad vom nuklearen Problem der Allianz abgelenkt; vor allem konnte ihr nidit daran gelegen sein, dieses Problem so in den Vordergrund zu stellen, daß dadurch unter Umständen ihre Verhandlungsposition in der Berlin-Frage innerhalb des Bündnisses geschwächt worden wäre. 2. D i e
Beschlüsse
Berlin und die Frage der konventionellen Streitkräfte waren denn auch die Hauptthemen in Athen. 84 Adenauer hatte den Ministern Schröder und Strauß die Instruktion mitgegeben, in Athen komme es vor allem darauf an, mit den Amerikanern eine Einigung über Berlin zu erzielen; dem sollten alle anderen Fragen untergeordnet werden.85 Außenminister Schröder stimmte demgemäß im Prinzip der Schaffung einer internationalen Zugangsbehörde für Berlin zu8®, vorausgesetzt, daß sie nicht zur Anerkennung der D D R führen würde. Vor einem sowjetisch-amerikanischen Abkommen sollte das westdeutsche Einverständnis eingeholt werden, und die endgültige Regelung der Berlin-Frage sollte ohnehin der Wiedervereinigung und einem Friedensvertrag vorbehalten bleiben. Was das Verhältnis zwischen konventionellen Streitkräften und Nuklearwaffen betraf, so waren Engländer und Deutsche mit den Amerikanern einer Meinung über die Wichtigkeit der ersteren. Zur Stärkung der konventionellen Streitkräfte wurde deshalb vereinbart, die
85 84
85 84
Vgl. oben, S. 93 ff. Schlufikommuniqué in: E A 11/1962, S. D 298—300. Vgl. audi die Berichte und Kommentare in: FAZ, 5. und 7. Mai und NZZ, 7. Mai 1962. Vgl. Weinstein in: FAZ, 7. Mai 1962 und Times, 2. Mai 1962. Vgl. hierzu Jack M. Schick, The Berlin Crisis 1958—1962, Philadelphia 1971.
D. Der NATO-Rat
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Zusammenarbeit in der Rüstungsforschung und -produktion auszudehnen und zu verbessern.87 Was aber waren die Resultate auf nuklearem Gebiet?88 Den Rahmen hatte der deutsche Verteidigungsminister mit seiner Erklärung abgesteckt, nötig seien „Information, Garantie und ein gewisses Maß an Mitspracherecht"89, und im Schlußkommunique vom 5. Mai kehrten — mit unterschiedlicher Betonung — eben diese drei Punkte wieder. In Absatz 5 des Kommuniques „begrüßten die Minister die Erklärung der Vereinigten Staaten, daß sie auch weiterhin die für die NATO-Verteidigung erforderlichen Kernwaffen dem Bündnis verfügbar halten werden, wobei sie sich über die diese Waffen betreffenden grundlegenden Pläne und Vorkehrungen mit ihren Verbündeten abstimmen werden. Darüber hinaus haben die Regierungen des Vereinigten Königreichs und der Vereinigten Staaten feste Zusagen gemacht, daß ihre Strategischen Streitkräfte audi weiterhin die Verteidigung gegen solche Bedrohungen der Allianz sicherstellen werden, denen zu begegnen über die Möglichkeiten der NATO-Streitkräfte hinausgeht."80 Dieser Abschnitt enthielt also eine Verpflichtung zur nuklearen Verteidigung, falls sie notwendig werden sollte. Er enthielt jedoch keine Zusage, die amerikanischen Kernwaffenvorräte in Europa nicht ohne vorherige Konsultation mit der NATO zu vermindern oder zu verlegen."1 Der nächste einschlägige Abschnitt des Kommuniques befaßte sich mit der Frage der Information: „Um allen Mitgliedstaaten eine volle Beteiligung an der Konsultation über die nukleare Verteidigungspolitik zu ermöglichen, wurde beschlossen, besondere Verfahren einzurichten, die es allen Mitgliedern des Bündnisses gestatten, Informationen über die Rolle der Kernwaffen bei der NATO-Verteidigung auszutauschen."92 Auf der Grundlage dieses Abschnitts wurde beschlossen, einen aus den ständigen Delegierten der fünfzehn Staaten bestehenden „Nuklearausschuß" einzurichten. Ihm sollten die Vereinigten Staaten Informationen über Größe und Lage der Ziele sowie über die Zerstörungskraft der Waffen geben, und ihn sollten sie wegen der Anwendung der Waffen konsultieren." Wie verlautete, gab jedoch Verteidigungsminister McNamara 87
Vgl. Schlufikommuniqué, a.a.O. (Anm. 84); vgl. audi FAZ, 8. Mai 1962. Vgl. dazu die Berichte in FAZ, NZZ und Times, alle 7. Mai 1962. 8 » Vgl. oben, S. 118 ff. Schlußkommunique, a.a.O. (Anm. 84). " Vgl. dazu Weinstein in der FAZ, 7. Mai 1962. M Sdilufikommuniqué, a.a.O., (Anm. 84). ,s So die Beschreibung durch Generalsekretär Stikker; vgl. FAZ, 7. Mai 1962. 88
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II. Kapitel. Oer Weg nach Athen
schon während der Konferenz sehr freimütige Informationen über die amerikanischen Kernwaffenvorräte.* 4 Der nächste Abschnitt des Schlußkommuniques kann am ehesten als eine Bezugnahme auf die dritte deutsche Forderung, jene nach einem „gewissen Maß an Mitspracherecht", aufgefaßt werden: „Die N A T O ist ein Verteidigungsbündnis, und es ist klar, daß sie im Falle eines Angriffs ihre Mitglieder mit allen erforderlichen Mitteln verteidigen wird. Der Rat hat sich mit den Maßnahmen befaßt, welche die Mitgliedstaaten gemeinsam und einzeln in den verschiedenen Lagen zu treffen hätten, in denen die Allianz gezwungen sein könnte, auf ihre nuklearen Verteidigungsmittel zurückzugreifen." 95 Dies war ein Hinweis auf die sogenannten „Athener Richtlinien". Dabei handelte es sich um zweierlei. Einmal zählte McNamara eine Reihe von Fällen auf, in denen die USA zur Verteidigung der Allianz Kernwaffen einsetzen würden; dieser Katalog war im wesentlichen schon vor der Tagung vom Ständigen Rat in Paris ausgearbeitet worden96 und wurde nun vom Rat gebilligt. Zum anderen sollte ein „Nuklearausschuß" die Diskussion über die EventualfallPlanung für den Kernwaffeneinsatz fortsetzen. Schließlich kündigte McNamara an, die von Eisenhower der N A T O versprochenen fünf Polaris-U-Boote (Kennedy hatte das Versprechen in Ottawa erneuert) würden SACLANT unverzüglich assigniert werden. Er ließ auch durchblicken, daß mit dem fortschreitenden Aufbau der Polaris-Flotte alle im Atlantik stationierten Unterseeboote der N A T O assigniert werden könnten. Im Kommuniqué heißt es: „Die Minister nahmen mit Befriedigung die Zuteilung von Polaris-U-Booten der Vereinigten Staaten an die N A T O zur Kenntnis."*7 3. D i e B e d e u t u n g d e r
Beschlüsse
Worin bestanden Bedeutung und Wirkung dieser Vereinbarungen? Verständlicherweise suchte die amerikanische Regierung ihre Angebote und Zugeständnisse als möglichst spektakulär hinzustellen; tatsächlich aber kam es zu keiner nennenswerten Veränderung des nuklearen Status quo in der Allianz. Die Polaris-U-Boote waren schon von der Eisen94 85 M
87
Times, 7. Mai 1962. Sdilufikommuniqué, a.a.O. (Anm. 84). Vgl. FAZ, 21. April 1962 und Times, 2. und 5. Mai 1962; zu den „Athener Richtlinien" vgl. audi Kissinger, The Troubled Partnership, a.a.O., S. 122 ff. Sdilußkommunique, a.a.O. (Anm. 84).
D. Der NATO-Rat tagt in Athen
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hower-Regierung im Dezember 1960 angeboten worden.' 8 Dieses Angebot war damals zumindest versuchsweise unter der Annahme gemacht worden, daß sich die N A T O im Lauf der Zeit zu einem politisch entscheidungsfähigen Organismus entwickeln könnte, der dann die politische Verantwortung für die Kernwaffen übernehmen würde. Die Kennedy-Regierung griff — in Ottawa im Mai 1 9 6 1 " — das Angebot wieder auf, stand aber, gemäß ihrem Konzept einer zentralisierten Kommandoführung und Kontrolle, dem Gedanken, nukleare Entscheidungen mit den Bündnispartnern zu teilen, merklich kühler, ja abweisend gegenüber; die letzte Entscheidung mußte unter allen Umständen beim amerikanischen Präsidenten verbleiben. Entscheidend blieb, daß sich durch die Zuteilung der Polaris-U-Boote an die N A T O nicht einmal das praktische Befehlsverhältnis änderte, denn der NATO-Befehlshaber, dem die Boote unterstellt wurden (SACLANT), war gleichzeitig der amerikanische Befehlshaber, dem sie in jedem Falle unterstellt worden wären. Insbesondere stellten die U-Boote nicht den ersten Schritt zu einer NATO-Nuklearstreitmacht dar — und sie sollten es auch gar nicht, wie Generalsekretär Stikker bereits auf der Tagung in Athen hervorhob. 100 Was den „Nuklearausschuß" anlangte, so stellte sich von Anfang an heraus, daß von ihm keine Neuerungen zu erwarten waren. Seine einzige Funktion, die nukleare Unterrichtung, wurde hauptsächlich bilateral oder durch bestehende Einrichtungen besorgt; dazu bedurfte es nicht der Gründung dieses Ausschusses.101 Zudem war die Vermittlung dieses Minimums an Information längst überfällig. Es war nur recht und billig, die Bundesrepublik über die auf ihrem Boden gelagerten nuklearen Sprengköpfe aufzuklären. Uber den fortlaufenden Konsultationsprozeß und die Eventual-Planung aber — dort, wo der Ausschuß eine Aufgabe gehabt hätte 102 — waren die amerikanischen Zusagen vage und ohne bindende Verpflichtung. Das Ergebnis war, daß der Ausschuß niemals in Funktion trat. Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß die amerikanischen Zusicherungen und Verpflichtungen überfällig, begrenzt und nicht bindend waren. Sie wurden mangelhaft erfüllt und änderten im Grunde nichts oder sehr wenig. Offenbar wünschten die Vereinigten Staaten noch >« Vgl. oben, S. 78 ff. 8 8 Vgl. oben, S. 108. 1 0 0 FAZ, 7. Mai 1962. 1 0 1 Vgl. unten, S. 130 1 9 1 Daß diese Aufgabe nidit erfüllt wurde sondern fortbestand, zeigen McNamaras Vorschläge und die darauffolgende Entwicklung im Jahre 1965; vgl. unten S. 219 ff.
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II. Kapitel. Der We g nach Athen
immer, freien Spielraum gegenüber der Sowjetunion zu bewahren, und vermieden deshalb jeden Hinweis auf eine Übertragung von nuklearem Mitspracherecht an die Bündnispartner. Die Gespräche über die Rüstungskontrolle und die Nichtweitergabe von Kernwaffen sollten ungestört bleiben; zudem gab es Anzeichen dafür, daß die USA sich die nukleare Frage im Bündnis als Trumpfkarte für Berlin-Verhandlungen aufheben wollten.10* So waren die Ergebnisse nur in einer Hinsicht bedeutsam: Die Information über nukleare Waffensysteme und nukleares Verteidigungsdenken, die von nun ab übermittelt wurde, bildete die Grundlage eines sich ständig ausweitenden alliierten Konsultationsprozesses und somit auch die Grundlage der späteren gemeinsamen nuklearen Planung.104 Die erste Spitze der Unzufriedenheit im Bündnis jedenfalls war abgebrochen. 4. D i e R e a k t i o n d e r B u n d e s r e p u b l i k auf die Beschlüsse Die Reaktion der Bundesrepublik auf die Athener Beschlüsse war gemischt. Einerseits traten die Deutschen in Athen mit begrenzten Zielen auf, und es war versucht worden, diesen Wünschen in gewissem Grade entgegenzukommen. Damit konnte die Bundesregierung für den Anfang zufrieden sein.105 Aber auf der anderen Seite war verhältnismäßig wenig erreicht worden. Nach Ansicht der Bundesregierung bestand das Hauptproblem darin, die Auffassungen des Staates, der von einem Angriff mit Kernwaffen oder mit erdrückend starken konventionellen Kräften bedroht wird, zu koordinieren mit dem Recht des amerikanischen Präsidenten zur letzten Entscheidung über den Einsatz von Kernwaffen. Die Tatsache, daß der amerikanische Präsident noch für lange Zeit unweigerlich die letzte Entscheidung zu treffen haben würde, widersprach nach Meinung von Verteidigungsminister Strauß nicht der Möglichkeit, die Verfügungsgewalt über Kernwaffen so zu organisieren, daß jeder potentielle Angreifer mit einer direkten Mitsprache des angegriffenen Staates beim Einsatz von amerikanischen Kernwaffen rechnen mußte. Grundlage dieser Mitsprache sollte die Unteilbarkeit der Interessen aller Part1M
Vgl. NZZ, 7. Mai 1962. »M Vgl. unten, S. 219 ff. los Vgl. NZZ, 11. Mai 1962. Hinsichtlich der Berlin-Frage bestanden die amerikanischdeutsdien Spannungen jedoch weiterhin; vor allen Dingen Adenauer verhehlte nidit seine Kritik (vgl. z. B. FAZ, 10. Mai 1962).
D. Der NATO-Rat
tagt in Athen
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ner an der Verteidigung Westeuropas sein. Nur auf diese Weise wäre ein Abschreckungsschutz für die europäischen Staaten gewährleistet.106 Die Athener Konferenz hatte die Deutschen diesem Ziel nur sehr mittelbar näher gebracht: Sie stellte bestenfalls den Anfang dar. Audi die sogenannten „Richtlinien" umfaßten nur eine begrenzte Zahl von Eventualitäten; sie behandelten zum Beispiel nicht die wichtige Frage, ob taktische Atomwaffen und atomare Gefechtsfeldwaffen unter bestimmten Bedingungen Truppenoffizieren im Feld anvertraut werden sollten.107 Strauß wies denn auch darauf hin, daß die Richtlinien begrenzt, vage und allgemein seien und im Ständigen Rat nodi konkretisiert werden müßten. Er bekundete seine Befriedigung über die Beschlüsse zur Information und über die Bekräftigung der Garantie. Er bemerkte aber, es handle sidi um eine Garantie, Kernwaffen im Bedarfsfall einzusetzen (Einsatzgarantie); die Deutschen wünschten jedoch auch die Gewißheit, daß amerikanische Kernwaffen in Europa präsent seien (Präsenzgarantie), sowie eine „Verflechtung" der Kernwaffen mit konventionellen Streitkräften, um den Absdireckungsschutz für die Bundesrepublik sicherzustellen.108 Es war daher zu erwarten, daß von deutscher Seite die Frage der nuklearen Mitwirkung in Form einer gemeinsamen Nuklearstreitmacht wieder zur Sprache gebracht werden würde — und dies tat Strauß audi.10* Während die Wünsche nach „Information und Garantie" in Athen teilweise erfüllt worden waren, bildeten die Besdilüsse über die nukleare Mitwirkung nur einen Ausgangspunkt für weitere Diskussionen über eine NATO-Streitmadit, die, wie Strauß sagte, „multilateral ist auch hinsichtlich des Eigentumsrechts, hinsichtlich der Kontrolle und hinsichtlich der personellen Aufstellung". Und in bezug auf die Allianz erklärte er: „Eine moderne Streitmacht, die keine konventionellen Waffen hat, ist hilflos, weil sie dann entweder alles hinnehmen muß oder sofort zu atomaren gefährlichen Waffen greifen muß. Wenn andererseits eine Streitmacht in der Hauptsache aber nur auf konventionelle Waffen Vgl. oben, S. 83 ff. und S. 95 ff. In einem Interview des Deutschen Fernsehens nadi der Athener Konferenz („Unter uns gesagt"; wiedergegeben in: Bulletin, Nr. 87, 11. Mai 1962, S. 733) betonte Strauß erneut, daß atomare Waffen sofort eingesetzt werden müßten, wenn der Gegner nicht grenznah aufzuhalten sei und nicht erst, wenn die Bündnistruppen zurückgeschoben wären; soldi eine Strategie könnte den Gegner ermuntern, ein konventionelles fait accompli zu erreidien. 1 M Ebd. 10 * Ebd. Das gleiche hatte Strauß bereits auf einer Pressekonferenz in Athen angedeutet; vgl. FAZ, 8. Mai 1962.
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II. Kapitel. Der Weg nach Athen
abgestützt wäre, dann würde der eigentlich abschreckende Effekt eines Verteidigungsbündnisses weitgehend verloren gehen."110 Die Bundesrepublik, fuhr Strauß fort, brauche positive und negative Mitsprache: positive (Mitentscheidung) wegen der Verflechtung von konventionellen und nuklearen Streitkräften; negative (Veto-Recht) wegen der katastrophalen Folgen, die ein Einsatz von Kernwaffen im dichtbevölkerten Deutschland haben würde.
" · „Unter uns gesagt", a.a.O. (Anm. 107), S. 733.
ZWEITER A B S C H N I T T NOCHMALS V O N MITBESITZ BIS M I T P L A N U N G 1962—1966
I. Kapitel Die Multilaterale Flotte A. Nach Athen:
Das deutsche
Interesse
hält an
Die NATO-Ratstagung in Athen bezeichnete den Abschluß des ersten Zyklus der Nuklearpolitik im Bündnis. Begonnen hatte dieser Zyklus mit dem Konzept, im Rahmen der Allianz eine Nuklearstreitmacht im gemeinsamen Besitz und möglicherweise audi unter der gemeinsamen Kontrolle der Bündnispartner zu schaffen; er endete mit einem bescheidenen Ansatz zu gemeinsamer nuklearer Planung. Aber Athen bot nur eine kurze Atempause. Der zweite Zyklus, der praktisch unmittelbar danach begann, war dem ersten sehr ähnlich, nur daß er wohl in jeder Hinsicht größere Intensität aufwies. Wieder standen deutsche Interessen im Mittelpunkt, wieder begann die Periode mit einem Konzept für eine gemeinsame Nuklearstreitmacht (es war die Weiterführung des früher verkündeten Projekts, nun aber viel konkreter ausgestaltet), und wieder endete die Periode mit einer Formel für gemeinsame nukleare Planung. Wohl einer der wichtigsten Unterschiede lag im veränderten Auftreten der Vereinigten Staaten: Hatten sie vor Athen nur vorsichtige Erkundungen angestellt und zurückhaltend geäußert, sie seien zur Prüfung europäischer Vorschläge bereit, so gingen sie nun dazu über, eigene Vorschläge zu machen und sie aktiv zu propagieren. Worin sind die Gründe für diesen Wandel zu sehen? Einer davon war das anhaltende deutsche Interesse. Bereits in Athen und danach nodi mehrfach hatte Verteidigungsminister Strauß erklärt, die Beschlüsse von Athen stellten nur den Beginn einer Lösung des nuklearen Problems in der Allianz dar, und die Frage einer gemeinsamen Nuklearstreitmacht dürfe nicht wieder von der Bildflädie verschwinden.1 Tatsächlich begann die amerikanische Marine im Frühjahr 1962 — unter dem Ansporn von 1
9
Vgl. oben, S. 126 6. Mahncke
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1. Kapitel. Die Multilaterale
Flotte
Strauß, Adenauer, Norstad und Stikker —, konkrete Pläne für eine Nuklearstreitmacht in gemeinsamem Besitz und gemeinsamer Regie der Bündnispartner zu entwickeln.* Den letzten Anstoß, aus der Phase der Erkundungen in den Bereich der aktiven Politik hinüberzuwechseln, gaben das Veto des französischen Präsidenten gegen Großbritanniens Eintritt in die europäischen Gemeinschaften und die Unterzeichnung des französisch-deutschen Vertrags über Zusammenarbeit im Januar 19633. Aber daneben spielten noch andere Faktoren mit. Einer davon war die Tatsache, daß jene multinationale Behandlung der nuklearen Frage, die man in Athen ins Auge gefaßt hatte, nicht zustande gekommen war. Der „Nuklearaussdiuß", gegründet zur Diskussion der strategischen Grundlinien, wurde niemals wirksam, während andere Bedürfnisse nach Reform und Strukturverbesserung der N A T O (ζ. B. Verlegung des Militärausschusses von Washington nach Paris, Stärkung des N A T O Sekretariats usw.) vernachlässigt wurden. Am offensten trieb Präsident de Gaulle Obstruktion; aber weder die amerikanische noch die britisdie Regierung gaben Anzeichen einer ernsthaften politischen Beschäftigung mit der Frage, wie den anderen Bündnispartnern ein gewisses Maß an Mitwirkung am nuklearen Planungs- und Entscheidungsprozeß gesichert werden könnte. Die Probleme und die deutschen Sorgen blieben also bestehen. Das multinationale Verfahren zur Behebung dieser Sorgen, das man sich in Athen ausgedadit hatte, trug wenig Früchte. 4
B. Nado Athen: Ein Wandel in der amerikanischen Politik Die nach wie vor unbefriedigende Situation im Bündnis hinsichtlich der nuklearen Frage, das anhaltende deutsche Interesse an einer baldigen Lösung dieser Probleme und nicht zuletzt der fortschreitende Aufbau einer französischen nationalen Nuklearstreitmacht bewirkten gemeinsam eine allmähliche Neuorientierung der amerikanischen Politik. Während die USA im Frühjahr 1962 die Möglichkeiten einer gemeinsamen Nuklearstreitmacht lediglich behutsam erkundet hatten, traten sie im Januar/ Februar offen für die Schaffung einer solchen Streitmacht ein. 8
s 4
Osgood, MLF, a.a.O., S. 6; vgl. audi Kissinger, The Troubled Partnership, a.a.O., S. 127 ff. Vgl. unten, S. 152 f. Vgl. Gerhard Baumann, Die Bundesrepublik als NATO-Partner, Frankfurt/Main 1966, S. 14 ff., Sommer, The Objectives of Germany, a.a.O., S. 44 und Kissinger, The Troubled Partnership, a.a.O., S. 122—125.
Β. Nach Athen: Ein Wandel in der amerikanisáen
Politik
131
Seit den Tagen der Bowie-Studie von I960 5 waren einige hohe Beamte im Washingtoner Außenministerium — hauptsächlich Männer, die entschieden für den europäischen Zusammenschluß eintraten — zu der Uberzeugung gelangt, daß der multilaterale Weg die Antwort auf die nukleare Frage sei, und sie machten sich nun daran, dieses Konzept mit viel missionarischem Eifer zu fördern. Unterstützt wurden sie dabei (und sie suchten diese Unterstützung) von den einflußreichen europäischen Mitgliedern des Aktionskomitees für ein Vereintes Europa, die in der Idee einer multilateralen Streitmacht die mögliche Grundlage einer europäischen Nuklearstreitmacht und damit — weil für die Kontrolle einer solchen Streitmacht ein hohes Maß an politischer Einheit Voraussetzung sein würde — eine treibende Kraft zur Einigung Europas erblickten.* So kam es, daß im Sommer 1962 mehrere amerikanische Emissäre die Runde durch die westeuropäischen Hauptstädte machten und eine multilaterale Nuklearstreitmacht als Antwort auf die nukleare Frage empfahlen. Die Beamten des Außenministeriums hatten gewissermaßen dem Verteidigungsministerium und den einflußreichen Mitgliedern der von Kennedy gegründeten Behörde für Rüstungskontrolle und Abrüstung (Arms Control and Disarmament Agency: ACDA) die Initiative aus der Hand genommen. Diese beiden, das Verteidigungsministerium und die ACDA, standen der Idee einer gemeinsamen Nuklearstreitmadit seit ihren ersten Anfängen im Jahre 1960, als Bowie die Frage studierte, kühl gegenüber (und es ist deshalb irreführend, von „der amerikanischen Haltung" zu sprechen).7 Die Beamten des Verteidigungsministeriums waren von jeher der Überzeugung, daß eine alliierte Nuklearstreitmadit militärisch überflüssig sei; ausschlaggebend war für sie ihr Interesse an einer zentralisierten Verfügungsgewalt der Vereinigten Staaten über die Kernwaffen. Zudem tendierte das Pentagon dazu, die französische Nuklearstreitmadit militärisch gering zu achten und ihre politischen Implikationen für die Bundesrepublik, die das State Department zu sehen glaubte, zu ignorieren oder zu bestreiten. Was die Abrüstungsbehörde betraf, so hatten für sie Verhandlungen mit der Sowjetunion unbedingten Vorrang. In beiden Behörden waren jedoch Faktoren am Werk, die die Kom5 8
7
9*
Vgl. oben, S. 73. Vgl. dazu Thomas C. Wiegele, Origins of the MLF Concept 1957—1960, in: Orbis, Summer 1968, S. 465 ff. und vor allem Alastair Buchan, The Multilateral Force. An Historical Perspective, London 1964, S. 5 f. Vgl. ζ. Β. NYT, 26. Oktober 1960.
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1. Kapitel. Die Multilaterale Flotte
promißbereitschaft in bezug auf eine gemeinsame Nuklearstreitmacht förderten. Die Verhandlungen mit der Sowjetunion hatten zu nichts geführt, während die Probleme der NATO anscheinend immer akuter wurden; vielleicht, so schien es, wäre es wirklich besser, zuerst die Probleme des Bündnisses zu regeln.8 Und da ferner die Gefahr der nuklearen Proliferation in Europa zu wachsen schien, war es vielleicht möglich, die gemeinsame Streitmacht zu einem Instrument der Nichtverbreitung einerseits und der fortbestehenden amerikanischen Verfügungsgewalt andererseits zu machen. Die Politik, die sich so herausbildete, war eine Mischung aus dem Bestreben des Außenministeriums, den Europäern eine größere strategische Rolle zu geben (und die Bundesrepublik aus dem möglichen Bann Frankreichs zu ziehen), aus dem Konzept der Abrüstungsbehörde, eine multilaterale Streitmacht zum Instrument der Nichtverbreitung zu machen, und aus dem Wunsch des Verteidigungsministeriums, die zentralisierte Verfügungsgewalt aufrechtzuerhalten. Sulzberger charakterisierte die Situation in der New York Times wie folgt: „Die USA wünschen die NATO zu kräftigen, indem sie ihr nukleare Verantwortung übertragen. Zugleich hoffen sie damit die deutschen atomaren Aspirationen zu beenden, den nationalen Fortschritt Frankreichs aufzuhalten und sich die letzte Verfügungsgewalt über die Nuklearstreitmacht des Westens zu bewahren."® Die Beamten des Außenministeriums griffen die Gedanken aus der Erklärung zur atlantischen Partnerschaft auf, die Präsident Kennedy am 4. Juli 1962 in Philadelphia abgegeben hatte.10 In dieser Rede hatte Kennedy auf der einen Seite ein geeintes Europa in Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten und mit einer angemessenen, gleichberechtigten strategischen Rolle gefordert; die Rede war somit ein Gegengewicht zu der von Verteidigungsminister McNamara ein paar Wochen vorher gelieferten Darstellung der amerikanischen Strategie, ein Versuch, die beunruhigten Europäer zu beschwichtigen.11 Darüber hinaus aber schien Kennedy zu der Ansicht gelangt zu sein, daß die „zentralisierte Kontrolle", auf der McNamara bestand, mit einer einzigen europäischen Nuklearstreitmacht wahrscheinlich leichter zu erreichen wäre als mit 8
9
10 11
Vgl. dazu J . Robert Schaetzel, The Nuclear Problem and Atlantic Interdependence, in: Atlantic Community Quarterly, Winter 1963/64, S. 568 f. N Y T , 10. Dezember 1962. Siehe audi Sulzberger, N Y T , 16. Januar 1963 und Sebastian Haffner, Welt, 8. Januar 1963. Deutscher Text in: EA 14/1962, S. D 373—376. Vgl. oben, S. 101
Β. Nach Athen: Ein Wandel in der amerikanisAen
Politik
133
mehreren nationalen nuklearen Entscheidungszentren in Europa. Dieser Gedanke hatte eine gewisse Bestätigung dadurch erfahren, daß Frankreich wenige Wochen zuvor amerikanische Vorschläge, die nationalen Nuklearstreitkräfte zu koordinieren, als „verfrüht" zurückgewiesen hatte." Aber wie es scheint, quälte den Präsidenten außerdem auch „ein privater Alpdruck der nuklearen Proliferation, der vielleicht sehr wenig mit der wissenschaftlichen Beratung zu tun hatte, die ihm zur Verfügung stand". 13 Eine Äußerung des Präsidenten in einem Fernsehinterview am 18. Dezember 1962 sdieint hierfür zu sprechen: „Wenn die Franzosen entscheiden, daß sie selbst eine Nuklearmacht werden wollen, dann ist das ihre Sache. Die Frage ist, ob die Vereinigten Staaten mithelfen sollen, Frankreich zu einer Nuklearmacht zu machen, dann Italien, dann Westdeutschland, dann Belgien. Wie erzeugt das Sicherheit, wenn man 10, 20, 30 Nuklearmächte hat, die ihre Waffen unter ganz verschiedenen Bedingungen abfeuern können?" 14 Ende September bekräftigte der Berater des Präsidenten, McGeorge Bundy, in einer wichtigen Rede in Kopenhagen die Äußerungen Kennedys vom Juli. E r erklärte, das amerikanische Widerstreben gegen nationale Nuklearstreitkräfte erstrecke sich nicht auf eine wahrhaft geeinte und multilaterale europäische Streitmacht, die in die N A T O integriert und mit den amerikanischen Streitkräften koordiniert sei.15 Dann kam im Oktober die Kuba-Krise. Alles schien dafür zu sprechen, daß die Demonstration amerikanischer Festigkeit und Entschlossenheit in dieser Krise und ihre positive Wirkung auf das amerikanische Prestige in Europa die nukleare Frage eine Zeitlang in den Hintergrund verweisen würden. Tatsächlich wurden die Amerikaner dadurch aber nur in ihrer Auffassung bestärkt, daß sie erst das Bündnis in Ordnung bringen müßten, ehe sie die Verhandlungen mit der Sowjetunion wiederaufnähmen. In Europa dagegen erhöhten die Vorgänge zwar das amerikanische Prestige — aber sie zeigten zugleich, daß die USA in einer ernsten Krise ihre Verbündeten nicht konsultiert, sondern bestenfalls nachträglich über allein getroffene Entscheidungen informiert hatten, durch die alle in einen nuklearen Krieg hätten verwickelt werden können. Die Kuba-Krise stützte also die Argumente, die für eine gemeinsame Le Monde, N Y T , 21. Juni 1962. " Budian, The Multilateral Force, a.a.O., S. 6, Anm. 6. 1 4 Zitiert ebd. 1 5 McGeorge Bundy, Building the Atlantic Partnership: Some Lessons from the Past, Rede vom 27. September 1962, abgedruckt in: Department of State Bulletin, 22. Oktober 1962, S. 604 f. 12
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I. Kapitel. Die Multilaterale
Flotte
nukleare Lösung sprachen; sie stärkte auch die Position der Befürworter eines solchen Plans. Keine drei Wochen nach dem Höhepunkt der Krise erklärte der stellvertretende Außenminister George W. Ball vor einem europäischen Publikum, er habe volles Verständnis dafür, daß „Europa in dem Maße, wie es stärker und geeinter wird, wie es ein zunehmendes Bewußtsein seiner eigenen Mission entwickelt, auch den Wunsch hat, eine größere Rolle in der nuklearen Verteidigung zu spielen. Vom streng militärischen Standpunkt gesehen, haben wir nicht den Eindruck, daß das Bündnis dringend eines europäischen nuklearen Beitrags bedarf. Sollten es aber andere NATO-Staaten wünschen, so sind wir bereit, die Schaffung einer wirklich multilateralen, mit den anderen Abschreckungskräften der Nordatlantikpakt-Organisation voll koordinierten Mittelstreckenraketen-Streitmacht ernstlich zu erwägen. Nicht uns kommt es zu — das widerspräche dem Geist der atlantischen Partnerschaft —, zu diktieren, wie eine solche Streitmacht personell ausgestattet, finanziert oder organisiert werden sollte. Aber die Vereinigten Staaten, die so viele Erfahrungen auf dem nuklearen Gebiet besitzen, haben die Pflicht, anderen unsere Kenntnisse und Gedanken über die Besonderheiten und Möglichkeiten einer multilateralen Streitmacht zugänglich zu machen. Und wir sind jetzt dabei, das zu tun." 16 So verstärkte sich denn gegen Ende des Jahres 1962 in offiziellen Kreisen Washingtons immer mehr das Gefühl, die USA müßten die Initiative ergreifen und selbst Ideen für eine gemeinsame Nuklearstreitmacht der N A T O entwickeln.17 Bisher war es die offizielle Linie gewesen, daß die USA eine solche Streitmacht unterstützen würden, wenn Europa einen Plan vorlegte. Aber die europäischen Partner, uneinig und über die technischen Probleme der Kernwaffen wenig unterrichtet, hatten sich unfähig gezeigt, einen Plan zu entwickeln oder sich über einen Plan zu einigen. So änderte sich nach und nach die amerikanische Haltung unter einem Druck, der von verschiedenen Seiten kam, nicht zuletzt von der Gruppe europäisch gesinnter Beamter im Außenministerium. Tatsächlich existierte im Außenministerium bereits ein Plan für eine gemeinsame Streitmacht. Buchan bemerkt zu der Rede des stellvertretenden amerikanischen Außenministers: „In Wirklichkeit war Mr. Ball ein bißchen zu bescheiden und nicht ganz aufrichtig: Die Vereinigten Staaten besaßen damals einen Plan für eine multilaterale Streitle
17
George W. Ball, N A T O and the Cuban Crisis, Rede vom 16. November 1962, abgedruckt in: Department of State Bulletin, 3. Dezember 1962, S. 835. Vgl. Budian, The Multilateral Force, a.a.O., S. 7 und Sulzberger, NYT, 12. Dezember 1962.
Β. Ναά Athen: Ein Wandel in der amerikanischen Politik
135
macht, und sie waren im Begriff, ihn ihren Verbündeten zur Prüfung vorzulegen. Dieser Plan wurde unmittelbar vor der Dezember-Tagung der NATO-Minister in Paris enthüllt. Er sah eine Streitmacht vor, die zum Teil aus Polaris-U-Booten bestehen sollte, zum Teil aus einer neuen mobilen landgestützten Mittelstreckenrakete, bekannt als „Rakete X", die das Pentagon in den letzten zwei Jahren etwas widerstrebend entwickelt hatte." 18 Somit traf die amerikanische Delegation zu der NATO-Ratstagung vom 13. bis zum 15. Dezember 1 9 6 2 in Paris mit einem fertigen Entwurf f ü r eine gemeinsame nukleare Streitmacht ein. 18 Außenminister Rusk und Verteidigungsminister McNamara betonten allerdings beide, daß eine multilaterale Nuklearstreitmacht f ü r die N A T O militärisch überflüssig sei: Die Vereinigten Staaten könnten eine ausreichende A b schreckung f ü r das gesamte Bündnis gewährleisten, und eine Vermehrung des nuklearen Potentials der N A T O würde nur eine Vergeudung von Mitteln darstellen, die nutzbringender auf konventionellem Gebiet eingesetzt werden könnten. Sollten die Europäer ihre Teilnahme an einer gemeinsamen Nuklearstreitmacht aber als politisch notwendig erachten, so wären die Vereinigten Staaten bereit, die Schaffung einer solchen Streitmacht zu erwägen. 20 Nach den amerikanischen Plänen sollte die Streitmacht im wesentlichen von den Europäern finanziert und personell besetzt werden. 21 Wieder blieb die Frage offen, wer die Verfügungsgewalt über die Waffen haben würde, d. h. die Befugnis, sie einzusetzen, und wer die Regeln festlegen würde, nach denen sie eingesetzt werden sollten.®2 Anscheinend ging der Plan von der Annahme aus, daß im Falle seiner Verwirklichung die britischen und französischen Nuklearstreitkräfte Teil der gemeinsamen Streitmacht werden würden, daß aber den Vereinigten 18
19 20
21 22
Budian, The Multilateral Force, a.a.O., S. 7. Die „Rakete X " wurde im August 1964 aus dem amerikanischen Programm wieder gestridien. Vgl. N Y T , 15. Dezember und NZZ, 16., 17. und 18. Dezember 1962. Bemerkenswert ist, daß McNamara — wie schon im Jahr zuvor in Athen — betonte, daß es zwei Wege zur Teilnahme an der nuklearen Verantwortung gebe: durch eine multilaterale Streitmacht oder durch Erweiterung des Informations- und Konsultationsprozesses (vgl. NZZ, 16. Dezember 1962). McNamara befürwortete immer die letztere Methode und seine zeitweilige Unterstützung des MLF-Projekts ist als Einfügung in die Politik des State Department und des Weißen Hauses zu interpretieren; im Jahre 1965 aber wurden die Ideen McNamaras endgültig in den Vordergrund gerüdtt (vgl. unten, S. 2 1 9 ff. und S. 239 ff.). Vgl. N Y T , 15. Dezember und NZZ, 18. Dezember 1962. Ebd.
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I. Kapitel. Die Multilaterale
Flotte
Staaten bis auf weiteres ein Vetorecht gegen deren Einsatz vorbehalten bliebe.2' öffentlich, d. h. im Schlußkommunique der Tagung, gab es jedoch noch keinen Hinweis auf diesen Vorschlag einer multilateralen Streitmacht für das Bündnis oder auf die amerikanische Bereitschaft, an der Schaffung einer solchen Streitmacht mitzuwirken. Die Minister nähmen lediglich Kenntnis von der in den sedis Monaten seit der Athener Tagung geleisteten Arbeit hinsichtlich des Informationsaustausches über Nuklearwaffen und des Studiums verschiedener Vorschläge für eine bessere Koordinierung der nuklearen Mittel der NATO. 24 Die ersten offiziellen Hinweise auf den amerikanischen Vorschlag kamen eine Woche später in Nassau auf den Bahamas.
C. Das britisch-amerikanische Treffen in Nassau Am 18. Dezember 1962 trafen sich Präsident Kennedy und der britische Premierminister Macmillan in Nassau auf den Bahamas. Der unmittelbare Anlaß für die Zusammenkunft war ein waffentechnisches Problem: Die Vereinigten Staaten wollten die Entwicklungsarbeiten an der „Skybolt"-Rakete einstellen, die Großbritannien als Trägerwaffe der nächsten Generation für seine Nuklearstreitmacht vorgesehen hatte. Nadi Ansicht der Amerikaner hatte sich die „Skybolt" als ein zu kompliziertes und zu kostspieliges Waffensystem erwiesen, während die „Minuteman" und die „Polaris" erfolgreiche, bessere Raketen waren und einen vollgültigen Ersatz für die „Skybolt" darstellten. Sie erboten sich allerdings, mit der Entwicklung der „Skybolt" fortzufahren, wenn ss
21
Vgl. dazu besonders Kissinger, The Troubled Partnership, a.a.O., S. 80 ff. und 127 ff.; audi Buchan, The Multilateral Force, a.a.O., S. 7. Eine genauere Untersuchung der Kontrollfrage, vgl. unten, S. 141 ff. Text des Sdilußkommuniquis in: E A 1/1963, S. D 19—21. Das Treffen war noch überschattet von der Debatte um die Strategie, vor allem der Umkehrung des „Schild und Schwert"-Konzepts: Die nuklearen Waffen sollten jetzt als das „Schild" gelten, konventionelle Waffen als das „Schwert". Das wurde zum ersten Mal in einer Rede McNamaras kurz vor Eröffnung der Ratstagung in Paris geäußert (vgl. oben, S. 151), aber dann bei dem amerikanisch-britisdien Treffen in Nassau bestätigt. Die Bundesrepublik befürchtete, daß damit die Möglichkeit eines ausgedehnten konventionellen Krieges in Mitteleuropa ins Auge gefaßt wurde; die nervöse Reaktion zeigte, daß sich an der deutschen Politik nach dem Ausscheiden von Franz Josef Strauß im November (aus innenpolitischen Gründen; sein Nachfolger wurde KaiUwe von Hassel) nichts geändert hatte. Vgl. dazu auch die Kommentare und Berichte in: N Z Z , 18. Dezember und N Y T , 22. Dezember 1962.
C. Das britisch-amerikanische
Treffen in Nassau
137
Großbritannien bereit wäre, die Entwicklungskosten zu tragen. Die Briten bevorzugten jedoch den amerikanischen Aiternati ν Vorschlag: den Verkauf amerikanischer Polaris-Raketen zur Installierung auf U-Booten aus britischer Produktion.*5 Präsident Kennedy war aber mit einem größeren Programm nach Nassau gekommen: Ihm ging es um die nuklearen Probleme der Allianz und die Möglichkeiten ihrer Lösung. Die amerikanische Regierung hatte sich mit ihren Zusagen, die Basis der Zusammenarbeit in der nuklearen Kontrolle zu verbreitern, schon zu sehr festgelegt, als daß sie jetzt noch ein nukleares Arrangement mit Großbritannien allein hätte treffen können.2" Daher enthielt die Gemeinsame Erklärung 27 in den Abschnitten 6 und 8 das britische Anerbieten, eine Anzahl von Bombern (später ausgedehnt auf das gesamte Strategische Bomberkommando von 150 VBombern), britische taktische Nuklearstreitkräfte in Europa sowie die etwaigen britischen Polaris-U-Boote „als Teil einer NATO-Nuklearstreitmacht und in Ubereinstimmung mit den NATO-Plänen" zur Verfügung zu stellen, und zwar gleichzeitig mit einem ähnlichen amerikanischen Beitrag.28 Allerdings, so scheint es, widerspiegelte das Kommunique in dem verwirrenden Gebrauch der Termini „multinational" und „multilateral" — sie wurden erst in den folgenden Monaten klar auseinandergehalten — die unterschiedlichen Interessen, die von den beiden Seiten in Nassau verfolgt wurden: Während es Großbritannien darum ging, nach Möglichkeit seine unabhängigen nationalen Streitkräfte zu erhalten, ging es den Vereinigten Staaten darum, diese Kräfte weitgehend in das Bündnis unter amerikanischer Führung zu integrieren.*9 Daher kam es — wie ein Beobachter bemerkte —, daß das Kommunique „eher zwei Monologe als eine Verständigung zum Ausdruck brachte".30 Die Briten hatten den Eindruck, die Amerikaner seien mit ihnen darin einig, daß die künftige Struktur der N A T O nicht auf einer neuen (multilateralen) Streitmacht, 25
M 27
28
M
50
Eine gute Erörterung der britischen Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten in dieser Frage ist zu finden bei Kissinger, The Troubled Partnership, a.a.O., S. 74—88. Vgl. Budian, The Multilateral Force, a.a.O., S. 7. Kommuniqué und Gemeinsame Erklärung (Abkommen von Nassau) in: EA 2/1963, S. D 30—32. In den folgenden Monaten erweiterte die britische Regierung diesen Gedanken und schlug vor, daß alle taktischen Atomwaffen und atomaren Gefechtsfeldwaffen in ein separates Befehls- und Planungssystem der NATO eingeordnet werden sollten. So auch die Interpretation von Kissinger, The Troubled Partnership, a.a.O., S. 81 ff. und S. 131. Budian, The Multilateral Force, a.a.O., S. 7.
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I. Kapitel. Die Multilaterale
Flotte
sondern auf einem engeren Zusammenschluß der bestehenden nationalen Streitkräfte (d. h. auf der multinationalen Lösung) beruhen solle. Die Tatsadie, daß die Amerikaner unmittelbar danadi audi Präsident de Gaulle Polaris-Raketen anboten, schien diese Ansicht zu bestätigen. Präsident Kennedy jedoch wollte (wie er in einem informellen Pressegespräch zwei Wochen nach Nassau klarmachte81) vorerst sowohl das multinationale wie das multilaterale Prinzip verfolgen und es der Zukunft überlassen, welches sich als erfolgreicher erwiese.32 Die Engländer interpretierten dies so, als sei die multilaterale Streitmacht für die Amerikaner nur ein Fernziel von zweitrangiger Bedeutung. Für das amerikanische Außenministerium war sie aber stets das primäre Ziel, eine Einschätzung, der sich nicht viel später auch der amerikanische Präsident anschließen sollte. Die neue Streitmacht, bestehend aus U-Booten oder Uberwasserschiffen, sollte gemeinsames Eigentum der Partnerstaaten sein und von ihnen gemeinsam finanziert werden; die nichtnuklearen Verbündeten würden sich durch ihren finanziellen Beitrag ein Mitspracherecht erwerben. In Abschnitt 7 des Nassauer Kommuniques glaubten die Amerikaner die britische Zustimmung zu diesem Konzept erlangt zu haben; es hieß dort, daß beide Seiten die Entwicklung „einer multilateralen NATO-Nuklearstreitmacht in engster Konsultation" mit anderen NATO-Verbündeten unterstützen würden.33 In Wirklichkeit wurde über die Teilnahme Großbritanniens an solch einem Projekt in Nassau keineswegs Einvernehmen erzielt; vielmehr war dies gerade einer der kritischen Punkte, an denen das Konzept einer multilateralen Streitmacht schließlidi scheiterte.34 Während also das Nassauer Abkommen, mit britischen Augen gesehen, vor allem die Möglichkeit eröffnete, eine unabhängige britische Abschreckungsmacht aufrechtzuerhalten35, enthielt es für die Amerikaner 31 32 33
34 35
Times, 2. Januar 1963. Vgl. Cleveland, NATO — The Transatlantic Bargain, a.a.O., S. 52. Dies war in der Tat eines der wichtigsten Elemente der Vereinbarung nach amerikanischer Ansicht; vgl. NYT, 21. Dezember 1962. Vgl. unten, S. 179 ff. So betonten die Briten das Recht, ihre Nuklearwaffen im „höchsten nationalen Interesse" zurückzuziehen; als Premierminister MacMillan die Abmachung am 31. Januar 1963 im britischen Unterhaus verteidigte, legte er sogar soviel Nachdruck auf die nationale nukleare Unabhängigkeit Großbritanniens, daß das multinationale Element vollkommen unterging. Kissinger erörtert die Fragwürdigkeit des Rückzugsrechts im Falle „höchster nationaler Interessen": Wenn es um einen Nuklearkrieg ginge, seien die höchsten nationalen Interessen immer betroffen; vgl. The Troubled Partnership, a.a.O., S. 82 f.
C. Das britisch-amerikanische
Treffen in Nassau
139
die Zusage Großbritanniens, sich an der Suche nach einer multilateralen Lösung für die nukleare Frage im Bündnis zu beteiligen. Diese Differenz wurde noch wichtiger, nachdem Frankreich am 14. Januar 1963 das amerikanische „Polaris"-Angebot abgelehnt hatte36. Als Gegenleistung für die Anerkennung Frankreichs als Nuklearmacht hatte das Angebot die Koordinierung der französischen Nuklearrüstung und ihre spätere Integration in die N A T O bezweckt, was eine notwendige Voraussetzung für die multinationale Lösung gewesen wäre. Die Ablehnung Frankreichs war jedoch zu erwarten gewesen, da das Angebot eine Übermittlung von Produktionsgeheimnissen — an denen Frankreich in erster Linie interessiert war — nicht vorsah und da Frankreich damals ohnehin nicht in der Lage war, die notwendigen nuklearen Sprengköpfe für die Polaris-Raketen zu produzieren. Zudem würde der Bau der als Raketenträger vorgesehenen U-Boote 7 bis 8 Jahre dauern, und die Franzosen fragten nicht ohne sarkastischen Unterton, was denn geschehen sollte, wenn sich die Amerikaner in der Zwischenzeit entschlössen, die „Polaris" aufzugeben — so, wie sie die „Skybolt" aufgegeben hatten.37 Eines der Hauptmotive der Amerikaner bei der Suche nach gemeinsamen nuklearen Arrangements in der N A T O war, die Weiterverbreitung von Kernwaffen zu vermindern oder wenigstens in Schränken zu halten.38 Als die Franzosen den multinationalen Weg zu diesem Ziel ablehnten und die Engländer die fortbestehende nationale Verfügungsgewalt über ihre Nuklearstreitkräfte so stark betonten, daß deren Übertragung an die N A T O viel von ihrer Bedeutung einbüßte39 (nicht zuletzt in deutschen Augen), da erschien der multilaterale Weg als der offenkundig aussichtsreichere. Zum erstenmal trat Präsident Kennedy jetzt aktiv für die multilaterale Idee ein, während er bisher mit Nachdruck erklärt hatte, die Vereinigten Staaten seien „bereit, europäische Initiativen in Erwägung zu ziehen". Vorschläge für eine Verbesserung des multinationalen Befehls- und Planungssystems galten nunmehr als nebensächlich oder gar als von der Hauptfrage ablenkend. Einflußreiche Emissäre wurden in die europäischen Hauptstädte entsandt und detail36
Text der Pressekonferenz (Auszüge betreffend die französische Europa- und Vertei-
37
Vgl. Le Monde, 25. Dezember 1962 und Sulzberger, N Y T , 7. Januar 1963.
38
Hinsichtlich der amerikanischen Motive siehe die gute und autoritative Darstellung
gungspolitik) in: E A 4 / 1 9 6 3 , S. D 87—94.
des damaligen stellvertretenden Außenministers George W . Ball, The Discipline of Power. Essentials of a Modern World Structure, B o s t o n / T o r o n t o 1968, S. 198 ff. 39
Vgl. Anm. 35.
140
I. Kapitel. Die Multilaterale
Flotte
lierte Pläne enthüllt. Anfang Januar 1963 reiste der stellvertretende Außenminister George W. Ball zu einer Geheimsitzung des NATO-Rats, wo er die amerikanischen Ideen vortrug.40 Im Laufe desselben Monats berief Präsident Kennedy den pensionierten Diplomaten Livingston T. Merchant und ernannte ihn zu seinem Sondervertreter für die MLF (Multilateral Force; unter diesem Namen lief das Projekt fortan). 41 Schließlich, am 27. Februar 1963, wurde dem NATO-Rat ein offizieller Plan unterbreitet.42
D. Der Plan der MLF 1. Z u s a m m e n s e t z u n g
der
Streitmacht
Der Vorschlag, der im Dezember 1962 diskutiert und Ende Februar 1963 formell den Verbündeten unterbreitet wurde, bildete während der nächsten zwei Jahre im wesentlichen die Grundlage der Verhandlungen über die nukleare Frage. 43 Das zeigt, welche enorme Stabsarbeit in aller Stille geleistet worden war, bevor das MLF-Projekt zu einem Hauptelement der amerikanischen Bündnispolitik wurde. Frühere Konzepte hatten eine U-Boot-Flotte oder eine Kombination von U-Booten und landgestützten Raketen oder von U-Booten und Überwasserschiffen vorgesehen.44 Zugunsten des endgültigen Vorschlags von 25 Uberwasserschiffen wurden die Unterseeboote hauptsächlich deswegen aufgegeben, weil Mitglieder des Joint Atomic Energy Committee des amerikanischen Kongresses sowie Offiziere der US-Kriegsmarine, besonders Admiral Rickover, der die amerikanischen atomgetriebenen Unterseeboote entwickelt hatte, sich energisch gegen eine gemeinsame Unterseebootflotte wandten: Sie wollten die Verfügungsgewalt über amerikanische AtomU-Boote nicht mit anderen teilen und machten sich Sorgen um die damit verbundenen militärischen Geheimnisse.45 Überwasserschiffe, so wurde
40
41 42 43 44 45
Vgl. Berichte in: Welt, 9. und 12. Januar, Le Monde, 12. Januar und NZZ, 13. Januar 1963. Vgl. Welt, 26. Januar 1963. Vgl. Welt, 28. Februar 1963. Vgl. Kissinger, The Troubled Partnership, a.a.O., S. 127—159. Vgl. oben, S. 73 ff. Vgl. Cleveland, NATO — The Transatlantic Bargain, a.a.O., S. 49 und NYT, Welt, 21. Februar 1962, Welt, 5. März und NZZ, 6. März 1962.
D. Der Plan der MLF
141
argumentiert 46 , würden die größeren Vorteile bieten: Sie würden bedeutend billiger als U-Boote sein, seien schnell zu bauen und könnten in europäischen Werften gebaut werden. Zum Problem der größeren Verwundbarkeit von Oberwasserschiffen erklärten die USA, diese Schiffe würden im dichten Verkehr auf See schwer zu identifizieren sein47, und zumindest würden sie einen beträchtlichen Teil der sowjetischen Streitkräfte binden. Ein weiterer Vorteil wurde darin gesehen, daß Uberwasserschiffe leichter mit Offizieren und Mannschaften aus mehreren Nationen zu bemannen seien. Die gemischte Bemannung sollte dazu dienen, einen eigenmächtigen nationalen Einsatz zu verhindern und die Vereinigten Staaten fester an eine nukleare Partnerschaft zu binden: Anders als bei den taktischen Atomwaffen sollte der Abzug nuklearer Gefechtsköpfe hier nur mit Zustimmung aller Partner möglich sein; die USA sollten sie also nicht einseitig abziehen können. Der Plan sah vor, jedes Schiff mit 8 von den USA zu liefernden Polaris-Raketen des Typs A-3 zu bestücken. Die Kosten für die gesamte Streitmacht sollten alle Partner gemeinsam tragen; es stellte sich jedoch bald heraus, daß die Vereinigten Staaten und die Bundesrepublik zusammen 75—80 Prozent der Kosten übernehmen würden.
2. D i e F r a g e d e r
Kontrolle
Die wichtigste Frage, die nach der Kontrolle über die Streitmacht (d. h. nach dem Recht, über den Einsatz der Waffen zu entscheiden), blieb im Entwurf offen und wurde auch niemals entschieden. Die meistdiskutierte Kontrollmethode (die auch von den Vereinigten Staaten befürwortet wurde) hätte darin bestanden, die Entscheidung über den Einsatz einer kleinen „Kontrollgruppe" zu übertragen, in der die Hauptpartner vertreten wären und die ihre Beschlüsse einstimmig faßte. Nach diesem System hätte jedes Mitglied das Recht gehabt, den Einsatz der Streitmacht zu verlangen oder durch sein Veto zu verhindern. Die Planung und die Festlegung der Ziele sollten alle Partner gemeinsam in enger Zusammenarbeit mit dem Strategischen Luftwaffenkommando (Strategie Air Com46
47
Vgl. Osgood, MLF, a.a.O., S. 8 und Friedrich Ruge, Politik und Strategie. Strategisches Denken und politisches Handeln, Frankfurt/Main 1967, S. 185 f. Diese Auffassung wurde allerdings von verschiedenen Seiten audi in Zweifel gezogen, vgl. z. B. Eugene Hinterhoff, MLF und ANF. Zum Problem der gemeinsamen Streitmacht, in: Außenpolitik, März 1965, S. 183.
142
I. Kapitel. Die Multilaterale
Flotte
mand: SAC) der U S A vornehmen.48 Hatte die Kontrollgruppe den Einsatz freigegeben und war von keinem anderen Partner ein Veto eingegangen, so sollte die Streitmacht dem Befehl von S A C E U R — nicht von SACL A N T (Alliierter Oberbefehlshaber Atlantik) — unterstellt werden. Dieser würde dann die Waffen auf den Schiifen mittels eines elektronisdien Schlüsselsystems („permissive action link") entriegeln und den Feuerbefehl geben können. Nach diesem weitgehenden Konzept sollte die Streitmacht also im gemeinsamen Besitz der Teilnehmer sein, alle Entscheidungen jedoch dem Vetorecht jedes einzelnen Partners unterliegen, und keinem Partner sollte es möglich sein, einseitig Verbände aus der Streitmacht abzuziehen. Die Vereinigten Staaten wären mithin an diese Streitmacht „gebunden" gewesen; aber weder hätten die anderen Partner sie zum Einsatz der Waffen zwingen, noch die Waffen gegen den amerikanischen Willen einsetzen können. Die Bundesrepublik erkannte das und akzeptierte es; Regierungssprecher von Hase erklärte ausdrücklich vor der Presse, die Bundesregierung halte „den Aufbau einer unter den Befehl des N A T O Oberbefehlshabers Europa ( S A C E U R ) gestellten multilateralen Atomstreitmacht für sinnvoll. Diese Streitmacht wird das Gleichgewicht der Kräfte in Europa wahren und damit einen Beitrag zur Erhaltung des Friedens leisten. Die geplante multilaterale Kernwaffenstreitmacht bleibt in multilateralem Besitz und unter multilateraler Kontrolle. Die Entscheidung über den Einsatz der M L F wird multilateral geregelt sein. Kein Staat, der bisher nicht über Kernwaffen verfügt, erlangt durch seine Teilnahme an der M L F eine autonome Einsatzbefugnis über solche Waffen.' Die Vereinigten Staaten sollten demnach fürs erste und auf absehbare Zeit ein Vetorecht behalten. Die Ungenauigkeit der amerikanischen Haltung in diesem Punkt sowie mehrfache irreführende Äußerungen von amerikanischer Seite schufen jedoch viel Verwirrung. So hieß es, die U S A würden vielleicht eines Tages auf ihr Vetorecht verzichten und einem Mehrheitsbeschluß zustimmen; eventuell würden sie sich sogar ganz aus der Streitmacht zurückziehen, ihren Anteil an die Europäer verkaufen und es damit ermöglichen, daß die M L F zur Grundlage einer europäischen Nuklearstreitmacht würde.5® Robert Bowie, einer der Schöp48 49 50
Vgl. Osgood, MLF, a.a.O., S. 8 und N Y T , 31. Januar und 25. und 27. Februar 1963. So am 16. September 1964; vgl. Bulletin, N r . 142, 18. September 1964, S. 1320. So hatte J. Robert Schaetzel, damals Deputy Secretary of State for Atlantic Affairs, am 27. September 1963 in Ditdiley gesagt: „Die multilaterale Streitmacht würde zweifellos die Entwicklung einer europäischen Nuklearstreitmadit erleichtern . .
D. Der Plan der MLF
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fer und einflußreicher Verteidiger der MLF, schrieb Anfang 1963, daß die M L F letzten Endes „eine integrierte NATO-Streitmacht" werden könnte, in der die Vereinigten Staaten ohne Vetorecht ein Mitglied wären, oder aber eine „integrierte europäische Streitmacht", in der die USA nicht Mitglied sein würden. 51 Sicher hätte die Situation ganz anders ausgesehen, wenn ein Maß an wirklicher politischer Einheit in Europa erreicht worden wäre. Aber diese Möglichkeit schien so fern, daß Washington von ihr ruhig eine Überprüfung des Kontrollsystems abhängig machen konnte, ohne wirklich eine Änderung der bestehenden Konzentration der nuklearen Verfügungsgewalt befürchten zu müssen. Die realen Verhältnisse im Kongreß ebenso wie die Haltung der entscheidenden amerikanischen Politiker (Präsident, Außen- und Verteidigungsminister) machten zudem eine Veränderung des Kontrollsystems und eine Einschränkung des amerikanischen Vetorechts zu einem früheren Zeitpunkt illusorisch: Die U S A konnten schwerlich zulassen, daß ein alliierter Ausschuß, der nur Bruchteile der Gesamtzahl der strategischen Waffen der Allianz kontrollierte, in die Lage versetzt wurde, die übrigen 97 oder 98 Prozent, die sich unter alleiniger amerikanischer Kontrolle befanden, in einen nuklearen Krieg hineinzuziehen. Die Logik der Macht und die Verantwortung sprachen gleicherweise gegen eine solche Möglichkeit. Die amerikanische Ungenauigkeit und die mehrdeutigen Äußerungen waren vielmehr teils ein Produkt des vielgleisigen politischen Systems der U S A (einige offizielle Vertreter sahen in der M L F wirklich die mögliche Grundlage einer späteren vollintegrierten atlantischen oder europäischen Abschreckungsstreitmacht"); teils zeugten sie
51
M
(zitiert in: Budian, The Multilateral Force, a.a.O., S. 12, Anm. 14) und wenig später schrieb er dasselbe in einem Artikel (The Nuclear Problem and Atlantic Interdependence, in: Atlantic Community Quarterly, Winter 1963/64, S. 567). Vizepräsident Johnson erklärte am 8. November 1963 in Brüssel, daß „ein vereinigtes Europa eines Tages die Kontrolle über die multilaterale Raketenflotte erreichen" könnte (Text der Rede in: Department of State Bulletin, 2. Dezember 1963, S. 853 f.). Vgl. hierzu auch die Pressekonferenz von Kennedy vom 14. Februar 1963 (deutscher Text in: E A 7/1963, S. D 168—170) und die Analyse von Kohl, Nuclear Sharing in N A T O , a.a.O., S. 98. George Ball, der damalige stellvertretende Außenminister, hat inzwischen geschrieben, daß die M L F in der Tat als möglicher Kern einer späteren unabhängigen westeuropäischen Nuklearstreitmacht angesehen wurde; vgl. The Discipline of Power, a.a.O., S. 206. Robert R. Bowie, Strategy and the Atlantic Alliance, in: International Organization, Bd. 17 (1963), S. 709—732, hier S. 728. (Dasselbe sagte Bowie am 3. Dezember 1963 vor der WEU-Versammlung; vgl. Proceedings, Assembly of Western European Union, 9th Ordinary Session, Second Part, IV, December 1963, S. 125.) So sicher Ball, Bowie und vielleicht auch Sdiaetzel; vgl. Anm. 50 und 51.
144
I. Kapitel. Die Multilaterale Flotte
ganz einfach von dem amerikanischen Bemühen, diese umstrittene Frage so lange wie möglich offen zu lassen und es weder mit den Europäern noch mit der Sowjetunion zu verderben. Allerdings genügten die ungenauen Andeutungen in einflußreichen Kreisen — ein Mehrheitsbeschluß-System wurde zumindest nicht eindeutig ausgeschlossen —, um in Bonn den Eindruck entstehen zu lassen, hier sei eine Gelegenheit für die Bundesrepublik, nicht nur eine engere Bindung an die USA und eine bessere nukleare Verteidigung zu erreichen, sondern auch viel mehr Einfluß, als man anfangs für möglich gehalten hatte. Zudem schien es nicht ausgeschlossen, daß sich sogar Frankreich in ein solches System einbeziehen ließe, womit die Grundlage für eine europäische Streitmacht geschaffen worden wäre.53 In einem System der Mehrheitsentscheidung würde die Bundesrepublik, die einen Hauptbeitrag zu der Streitmacht leisten würde, außerdem eine maßgebende Rolle spielen.54 Bundesverteidigungsminister von Hassel sprach sich denn auch sogleich öffentlich für ein derartiges System aus. Daß er dabei zumindest die Ermutigung von amerikanischer Seite bekommen hat, läßt sich daraus schließen, daß er seine Äußerungen unmittelbar nach einer Konferenz in Bonn mit den amerikanischen Botschaftern Merchant und Finletter und dem NATO-Oberbefehlshaber General Lemnitzer machte.55 In einer Pressekonferenz am 7. März 1963 teilte Hassel mit, die Bundesrepublik akzeptiere den Plan, eine nukleare Flotte von Oberwasserschiffen mit gemischter Besatzung zu schaffen. Er erklärte sich einverstanden damit, daß jeder Teilnehmer ein Vetorecht haben sollte. Doch sei dies eine befriedigende Kontrollmethode nur für die Aufbauphase; auf lange Sicht, so meinte der Verteidigungsminister, würde er die Kontrolle durch Mehrheitsentscheidung vorziehen.54 Eine Woche später, am 14. März, erschien ein Artikel des Verteidigungsministers in der Politisch-Sozialen Korrespondenz, in dem es hieß: „Da der amerikanische Kongreß vorerst sicher nicht vom Veto-Recht abgehen wird, ist es müßig, darüber hinausgehende Spekulationen anzustellen, aber andererseits m. E. ebenso falsch,
55 54
55
M
Vgl. die deutschen Motive, unten, S. 157 ff. Gerade das aber mußte soldi ein System für die anderen Verbündeten unakzeptabel machen; vgl. dazu die Erörterung in: Kissinger, The Troubled Partnership, a.a.O., S. 149 ff. Kommunique des Treffens in: Bulletin, Nr. 45, 12. März 1963, S. 405. Ball, der wiederholt zur Erörterung der MLF in Bonn war, wird seine Einstellung in dieser Frage (vgl. Anm. 50) nicht verhehlt haben. Welt, 8. März 1963.
D. Der Plan der MLF
145
deshalb diese Chance einer editen partnerschaftlichen Lösung dieses NATO-Problems nicht zu nützen. In Anbetracht der besonderen Wirkung, die zwangsläufig dem amerikanischen Veto-Recht zukommt, habe ich einen Kompromißvorschlag gemacht, der, wie ich hoffe, vertieft werden wird. Danach ist die Bundesregierung damit einverstanden, daß in der Aufbauphase der MLF jedem Partner das gleiche Veto-Recht eingeräumt wird, in der Endphase aber, wenn die multilaterale N A T O Atomstreitmacht aufgestellt ist, eine Überprüfung des Problems mit dem Ziel vorgenommen werden soll, das System der Einstimmigkeit durch das System der Mehrheitsentscheidung zu ersetzen."57 Hassel bekräftigte diese Meinung im Juni vor der Versammlung der Westeuropäischen Union, als er erklärte, daß „im Sinne der Aufrechterhaltung einer wirksamen Abschreckung das Einstimmigkeitsprinzip auf die Dauer nidit aufrechterhalten" werden könne58, eine Meinung, die er in einem Interview mit der Zeitung Christ und Welt am 23. Oktober 1963 noch einmal bestätigte. In Europa allerdings griff niemand diese Gedankengänge auf; sie mögen sogar einige der europäischen Staaten beunruhigt haben. Denn es lag auf der Hand, daß die Bundesrepublik in einer Streitmacht, zu deren Kosten sie 40 Prozent beisteuerte, auch eine entscheidende (nadi den Vereinigten Staaten die entscheidende) Stimme haben würde. Aber letzten Endes vielleicht noch wichtiger für die Zurückhaltung gegenüber diesen Gedanken mag gewesen sein, daß wohl nur wenigen außerhalb der Bundesrepublik ein System der Mehrheitsentscheidung realisierbar erschien und zudem keiner sich recht vorstellen konnte, was ein solches System implizierte. Solange die Vereinigten Staaten Mitglied einer gemeinsamen nuklearen Streitmacht gewesen wären, hätten dem System amerikanische Verfassungsvorbehalte entgegengestanden. Aber angenommen, das wäre zu überwinden gewesen, so hätte es dodi strategisch sinnlos sein müssen, wenn sich die Vereinigten Staaten, auf Mehrheitsbesdiluß ihrer Alliierten, mit nicht mehr als drei Prozent des gesamten nuklearen Potentials der Allianz auf einen nuklearen Krieg eingelassen hätten. Wenn die Vereinigten Staaten aber bereit waren, im Falle eines Mehrheitsbeschlusses in der MLF ihr gesamtes Potential der Allianz zur Verfügung zu stellen — was effektiv der Aufgabe der amerikanischen
57
58
Unter dem Titel Atlantische Partnerschaft abgedruckt in: Bulletin, Nr. 47, 14. März 1963, S. 421—422, hier S. 422. Assembly of Western European Union, Proceedings, 9th Ordinary Session, First Part, II, June 1963, S. 156.
10 Mahncke
146
I. Kapitel. Die Multilaterale
Flotte
Souveränität in der Frage von Krieg und Frieden gleichgekommen wäre —, so fragt sich, warum dazu der Weg über den Aufbau einer MLF notwendig gewesen wäre.5*
E. Die amerikanischen
Motive
Die Gründe, aus denen die Vereinigten Staaten die MLF vorschlugen und befürworteten, waren fast rein politischer Natur. Osgood schrieb 1962: „Die Verfügungsgewalt über Kernwaffen in der N A T O ist ein ernstes Problem ganz unmittelbar aus politischen Gründen und nur indirekt aus militärischen Gründen. Denn es geht hier in erster Linie darum, das gegenseitige Vertrauen zwischen Verbündeten zu wahren, lebenswichtige Interessen in Einklang zu bringen und Forderungen der nationalen Billigkeit und des nationalen Stolzes zu erfüllen. Es geht darum, diese f ü r den Zusammenhalt des Bündnisses wesentlichen politischen Ziele zu erreichen, indem man die Bedingungen der militärischen Zusammenarbeit entsprechend reguliert." 60 Nicht etwa, daß das militärische Hauptargument f ü r die MLF — ihre Rolle als Gegengewicht gegen die auf Westeuropa gerichteten sowjetischen Mittelstreckenraketen — ignoriert worden wäre; aber es diente nur als Basis oder als Ergänzung der wichtigeren politischen Argumente." 1 Nach amerikanischer Auffassung war die Streitmacht militärisch ganz gewiß überflüssig, denn die sowjetischen Raketen lagen alle im Zielbereith des Strategischen Luftwaffenkommandos (SAC). Außerdem hätten die geplanten 200 Polaris-Raketen wohl kaum ein hinlängliches Gegengewicht zu den rund 700 sowjetischen Mittelstreckenraketen gebildet, die bereits 1963/64 vorhanden waren. Die amerikanischen Hauptmotive waren also politischer Art, auch wenn sie teilweise auf Erwägungen zur europäischen Sicherheit beruhten. 59
eo
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Zur Problematik der Kontrolle vgl. die Analyse von Kissinger, The Troubled Partnership, a.a.O., S. 146 ff. und die in der folgenden Anmerkung zitierten Studien. Robert E.Osgood, Nuclear Control in NATO, Washington 1962, S. 1; vgl. auch Osgood, MLF, a.a.O., S. 3—5 ; Philip Geyelin, Lyndon B. Johnson and the World, London 1966, S. 161—165; Budian, The Multilateral Force, in: International Affairs, Oktober 1964, S. 619 und Kohl, Nuclear Sharing in NATO, a.a.O., S. 88 ff. Sich von diesen Analysen unterscheidende Ansichten sind zu finden bei Klaus Knorr, A NATO Nuclear Force: The Problem of Management, Princeton 1963 und Robert Bowie, Strategy and the Atlantic Alliance, a.a.O., besonders S. 728 f. Vgl. z.B. Bader, Nuclear Weapons Sharing, a.a.O., S. 694 und Kissinger, The Troubled Partnership, a.a.O., S. 128.
E. Die amerikanischen Motive
147
Das westliche Europa der frühen sechziger Jahre war ein neuerstandenes Europa und ein Europa, das auf dem Wege zur Einheit schien. Nach dem Empfinden vieler Amerikaner war es nur natürlich, daß dieses Westeuropa eines Tages mehr Mitbestimmung über sein eigenes militärisches Schicksal wünschen würde."2 Tatsächlich waren in Westeuropa in den letzten Jahren das Unbehagen und die Unzufriedenheit über die militärische Abhängigkeit von den USA gewachsen, besonders seitdem das amerikanische Nuklearmonopol vor der zunehmenden nuklearen Stärke der Sowjetunion dahingeschwunden war. Es erhoben sich Zweifel, ob die Vereinigten Staaten Westeuropa verteidigen und dabei ihre eigenen Städte der Vernichtungsgefahr aussetzen würden, und ob sie politische Interessen ihrer europäischen Partner, auch wenn diese nicht militärisch angegriffen wären, mit dem diplomatischen Gewicht ihrer Nuklearrüstung unterstützen würden. Frankreich hatte, besonders unter dem Eindruck der Suez-Krise von 1956 (die es zwar nicht direkt bedroht, ihm aber zu Bewußtsein gebracht hatte, daß es wegen seiner militärischen Abhängigkeit von den USA zu einer unabhängigen Politik nicht imstande war), bereits die Konsequenzen gezogen und mit dem Aufbau einer nationalen Nuklearstreitmacht begonnen. Dem standen die Vereinigten Staaten scharf ablehnend gegenüber. Neben Präsident Kennedys persönlicher Uberzeugung, daß die Weiterverbreitung von Kernwaffen verhängnisvoll für die Stabilität der Welt sei, waren dafür nodi eine Reihe anderer Gründe maßgebend: Erstens hielten die Vereinigten Staaten ihre eigenen Nuklearstreitkräfte für ausreichend, jeder möglichen Drohung zu begegnen (und sie fanden, der amerikanische nukleare Schutz sei durch die Anwesenheit amerikanischer Truppen in Europa garantiert). Zweitens schmälerten die Kosten selbständiger Nuklearstreitkräfte die verfügbaren Mittel für die konventionelle Rüstung und entwerteten damit die Strategie der „flexiblen Antwort", die eine starke konventionelle Option erforderte. Drittens könnten selbständige europäische Nuklearstreitkräfte darauf abzielen, den Einsatz der amerikanischen Waffen „auszulösen", und es könnte so weit kommen, daß sich die USA von der Pflicht zur nuklearen Verteidigung Europas freimachen müßten, um dieser Gefahr zu entgehen. Viertens machte die Existenz mehrerer unkoordinierter, gegen Bevölkerungszentren des potentiellen Gegners gerichteter Nuklearstreitmächte das amerikanische Konzept zunichte, einen kontrollierten Krieg gegen militärische Ziele zu führen — die einzige Möglichkeit, im Konfliktfall 82
10*
Vgl. Osgood, MLF, a.a.O., S. 5.
148
I. Kapitel. Die Multilaterale
Flotte
eine nukleare Weltkatastrophe zu vermeiden. Fünftens wäre die Gefahr von Fehlkalkulationen um so größer, je mehr Entscheidungszentren es gäbe. Und endlich: Je mehr Kernwaffenstaaten entstünden, desto schwieriger würden die Bemühungen um Rüstungskontrolle und Abrüstung.63 Die Vereinigten Staaten hatten also, grob gesprochen, vor allem zwei Motive, die MLF zu unterstützen: Sie wollten einerseits eine Zunahme der selbständigen Nuklearstreitkräfte in Europa verhindern oder gar, wenn möglich, die existierenden französischen und britischen Nuklearstreitkräfte in eine gemeinsame Streitmacht einmünden lassen, andererseits dem wiedererstarkten Europa entgegenkommen und die Wünsche der Verbündeten nadi einem größeren Maß an Mitsprache bei der nuklearen Verteidigung befriedigen. Die amerikanische MLF-Politik „begann mit der Annahme, daß viele Europäer eine größere Rolle bei ihrer nuklearen Verteidigung wünschten; daß es der falsche Weg zu diesem Ziel sei, wenn sich jedes NATO-Mitglied seine eigene nukleare Abschreckungsmacht errichte; und daß es für die nicht-nuklearen Nationen nur einen Weg gebe, ein stärkeres Bewußtsein der Mitsprache zu gewinnen, nämlich den gemeinsamen Besitz und die gemischte Besatzung einer MLF." 6 4 Dennoch ist es überraschend, daß die Vereinigten Staaten den MLFVorschlag Anfang 1963 so plötzlich und so dringlich vorbrachten — obwohl Kennedys „Grand Design" einer Partnerschaft zwischen den USA und einem geeinten Europa durch das Veto des französischen Staatspräsidenten zu einer erweiterten europäischen Gemeinschaft für den Augenblick weit zurückgeschlagen war, obwohl das amerikanische Prestige in Europa selten höher gewesen war als nach der Kuba-Krise und obwohl Großbritannien in Nassau eine Geste im Sinne der Bündnissolidarität gemacht hatte. Die Erklärung liegt vor allem in dem Bild, das sich die Amerikaner von der Politik der Bundesrepublik machten. Die Argumente, mit denen die Franzosen ihre nuklearen Bemühungen rechtfertigten, ließen vor den Augen der Amerikaner zwei Gefahren erstehen — Gefahren, die für sie real waren und insofern reale Wirkungen hatten, ganz gleich, in welcher Beziehung sie zur Wirklichkeit stehen mochten. Die erste Gefahr war die, daß die französischen Argumente das Veres
64
Vgl. dazu ebd., S. 22—23 und Kissinger, The Troubled Partnership, a.a.O., S. 100— 102. Zur Strategie der angemessenen Antwort vgl. oben, S. 93 ff. Geyelin, Lyndon B. Johnson, a.a.O., S. 161, und Ball, The Discipline of Power, a.a.O., S. 198 ff. Vgl. audi Kissinger, The Troubled Partnership, a.a.O., S. 140 ff., der gerade das als die „falsche Antwort auf das falsche Problem" bezeichnet.
E. Die amerikanischen
Motive
149
trauen der nicht-nuklearen NATO-Partner zur Bündnistreue der USA erschüttern könnten. Diese Befürchtung hatte eine gewisse Tatsachengrundlage. Es ist nicht zu leugnen, daß die französischen Worte in Europa Gehör fanden, zumal sie durch die strategische Debatte in den USA — schwächere Betonung der Kernwaffen, stärkere Betonung der konventionellen Streitkräfte — scheinbar gestützt wurden. Wichtiger jedoch war die zweite Gefahr, die die amerikanische Regierung wahrzunehmen glaubte: Die Gefahr nämlich, die Bundesrepublik könne sich gedrängt fühlen, dem französischen nuklearen Beispiel zu folgen, entweder allein oder, was wahrscheinlicher schien, in Zusammenarbeit mit Frankreich. Sobald die Bundesrepublik Interesse an der nuklearen Politik des Bündnisses bekundete, wurde das in Ost und West meist in diesem Sinne interpretiert (wobei die dynamische Persönlichkeit und oft energische Art von Franz Josef Strauß zweifellos eine Rolle spielten*5), obwohl die Bundesrepublik selten wichtige Schritte allein unternahm, sondern stets im Kielwasser der Vereinigten Staaten fuhr. Ein nationaler Kurs entsprach weder den politischen Zielen nodi den politischen Alternativen der Bundesrepublik, und eine französischdeutsche Zusammenarbeit war nie eine realistische Möglichkeit"; die Vereinigten Staaten aber sahen es anders, und so war die amerikanische Politik zu einem großen Teil eine Reaktion auf derartige theoretische Möglichkeiten." Beeinflußt wurde diese amerikanische Auffassung sicher in starkem Maße durch die Erfahrungen der dreißiger Jahre und das Bestreben, die Fehler jener Zeit zu vermeiden."8 Die Sieger des Ersten Weltkrieges hatten Deutschland diskriminierende Rüstungsbeschränkungen auferlegt, wobei sie voraussetzten, daß die Gleichheit später durch allgemeine Abrüstung wiederhergestellt werden würde. Das geschah jedoch nicht, und Deutschland, unbefriedigt und voller Ressentiments wegen der Diskriminierung, zerriß schließlich diese Bande und rüstete auf. Zwar lagen die Verhältnisse objektiv anders als damals — es gab ein wirtschaft65
M n
68
Das Mißtrauen gegenüber Strauß im Ausland wurde vermutlich audi durdi die manchmal extrem hart geführte innenpolitische Kampagne, z. B. durch den Spiegel, gefördert. Vgl. oben, S. 49 ff. Bei der Beurteilung der amerikanischen Motive zur Unterstützung der MLF wird diese Argumentation beispielsweise von Kissinger stark in den Vordergrund gerückt; The Troubled Partnership, a.a.O., S. 140 if. Audi Ball, The Discipline of Power, a.a.O., S. 198 ff., weist darauf hin. Vgl. Kohl, Nuclear Sharing in NATO, a.a.O., S. 92 ff.
150
I. Kapitel. Die Multilaterale
Flotte
lidi erstarktes und politisch relativ stabiles Westdeutschland, das an den Westen gebunden, vom Westen abhängig und starken außenpolitischen Beschränkungen unterworfen war" —, aber die Erinnerung an jene Vorgänge beeinflußte dennoch die Atmosphäre, in der die Politik gemacht wurde. Überdies mögen gewisse Anzeichen amerikanische Politiker zu der Annahme geführt haben, die Bundesrepublik werde letztlich nukleare Gleichheit fordern. Die Bundesrepublik war ökonomisch erstarkt; sie war eine der größten Industriemächte der Welt. Auch militärisch hatte sie an Gewicht gewonnen. Es war ein berechtigter Wunsch der Bundesrepublik, daß ihre Stärke und Bedeutung politischen Ausdruck im Bündnis fänden. Für viele amerikanische Politiker bedeutete dies letzten Endes nukleare Gleichberechtigung. Zwar behauptete niemand im Westen, daß die Bundesrepublik in jenem Augenblick Kernwaffen verlangte; man befürchtete nur, sie könne eines Tages solche wünschen, und diesem Wunsch wollte man durch eine kollektive Lösung zuvorkommen. Scheinbar gestützt wurde diese Ansicht durch die seit 1958 von der Bundesregierung erhobene Forderung, im Einklang mit der NATOStrategie müsse die Bundeswehr mit taktischen Atomwaffen ausgerüstet werden.70 Hinzu kamen das deutsche Interesse an einer Mittelstredsenrakete als Gegengewicht gegen die sowjetischen Mittelstreckenraketen sowie die Besorgnis wegen der amerikanischen Strategie der „flexiblen Antwort", die die Bundesrepublik bewog, verstärkt die Notwendigkeit von Kernwaffen für die europäische Verteidigung zu betonen. Schon auf der NATO-Ratstagung im Dezember 1962 zeigte sida, daß der Sturz von Verteidigungsminister Franz Josef Strauß keinen nennenswerten Wandel in der deutschen Verteidigungspolitik nach sich gezogen hatte. Diese Politik wurde nach wie vor von einem starken Sicherheitsinteresse bestimmt. Der mit der Vertretung des Bundesverteidigungsministers bei der NATO-Ratstagung beauftragte Hans-Joachim von Merkatz (Strauß war zurückgetreten, während sein Nachfolger Kai-Uwe von Hassel das Amt noch nicht angetreten hatte) betonte, daß die Bundesrepublik an einer „klaren Konzeption der Verteidigung der vorderen Linie" und damit auch an einer raschen Entscheidung der Frage von Mittelstreckenraketen für Europa interessiert sei. Wenn eine solche Ent«» Vgl. oben, S. 31 ff. 70 Hinterhoff, MLF oder ANF, a.a.O., Kissinger, The Troubled Partnership, a.a.O., S. 141 und Cleveland, NATO — The Transatlantic Bargain, a.a.O., S. 54 kommen zu derselben Schlußfolgerung, nämlidi daß die Forderung der Bundeswehr nach Ausrüstung mit taktischen Atomwaffenträgern fälsdilidi als ein deutscher Wunsch nach strategischen Nuklearwaffen interpretiert wurde.
E. Die amerikanischen Motive
151
Scheidung nicht getroffen werden könne, müßten Alternativen geprüft werden, „wie die für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und Europas kritischen Ziele abgedeckt werden können". 71 Diese recht drohend klingende Bemerkung war nicht als Hinweis auf eine wirkliche Alternative gemeint, sondern sollte das fortbestehende Interesse der Bundesrepublik an der Frage der nuklearen Verteidigung und Abschrekkung unterstreidien — besonders im Licht einer Rede von Verteidigungsminister McNamara, der erklärt hatte, das NATO-Konzept von „Schild und Schwert" müsse umgekehrt werden: die konventionellen Streitkräfte seien das „Schwert" (das gesdiwungen werden könne?) unter dem „Schild" der Nuklearstreitkräfte. Ein paar Tage später ließ die Bundesregierung im amtlichen Bulletin warnend erklären, die europäischen Partner könnten nicht das „konventionelle Fußvolk" des amerikanischen „nuklearen Ritters" werden.72 In amerikanischen Augen hatten demnach die Deutschen einen begründeten Wunsch nach Kernwaffen, und ihre praktische Politik schien auf die Erfüllung dieses Wunsches gerichtet zu sein. Wurde keine Lösung gefunden, um die legitimen deutschen Forderungen zu befriedigen, dann — so sah man es in Washington — würde sich die Bundesrepublik vielleicht in weniger als einem Jahrzehnt um eine eigene nukleare Verteidigung bemühen. „Der Präsident soll gesagt haben, er würde es so machen, wenn er in der Haut der Deutschen steckte", schreibt ein Beobachter über die Haltung Präsident Johnsons, und er fügt hinzu, daß die Minister McNamara und Rusk sowie der stellvertretende Außenminister Ball diese Meinung teilten.7® (Allerdings dachte McNamara mehr an eine verstärkte deutsche Teilnahme am Planungsprozeß, während Rusk und Ball damals die Lösung im gemeinsamen Besitz von „hardware" sahen.) Aber die Deutschen schienen nicht nur triftige Gründe für den Wunsch nach Mitsprache bei ihrer nuklearen Verteidigung zu haben, sondern audi eine Alternative zur Zusammenarbeit im atlantischen Rahmen — nämlich die Zusammenarbeit mit Frankreich. Zwar gaben die Vereinigten Staaten niemals ganz die Hoffnung auf, eines Tages die französische (und die britische) Nuklearstreitmacht in ein atlantisches Arran-
71 72 73
Bericht in: N Z Z , 18. Dezember 1962. Bulletin, N r . 234, 19. Dezember 1962, S. 1989—1991. Vgl. audi oben, Anm. 24. Geyelin, Lyndon B. Johnson, a.a.O., S. 168. Ball erwähnt diese Ansicht in seinem Buch, The Discipline of Power, a.a.O., allerdings nicht, was unter den veränderten Umständen jedodi verständlich erscheint.
152
I. Kapitel. Die Multilaterale
Flotte
gement einbeziehen zu können, aber die anfängliche starke Opposition der Kennedy-Regierung gegen eine selbständige französische Streitmacht war angesichts der französischen Entschlossenheit abgeflaut (durch die Nassau-Konferenz im Dezember 1962 hatte Präsident Kennedy faktisch Frankreich als Nuklearmacht anerkannt). Die amerikanische Politik richtete ihre Energie jetzt vor allem auf das Ziel, eine nukleare Zusammenarbeit der Bundesrepublik mit Frankreich zu verhindern. Das Schlüsselereignis in dieser Frage war für die Vereinigten Staaten die Unterzeichnung des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages am 22. Januar 1963.74 Obwohl dieser Vertrag in einer Periode kunstvollen deutschen Balancierens zwischen Washington und Paris zustande kam — keine zehn Tage zuvor hatte Adenauer die Teilnahme der Bundesrepublik an der MLF zugesagt75 — und obwohl er im wesentlichen das persönliche Werk Konrad Adenauers war, sahen die Amerikaner in ihm den möglichen Anfang einer französisch-deutschen Zusammenarbeit auch auf nuklearem Gebiet.7" Richtig ist, daß — was auch immer die genauen Motive Adenauers waren — sich ein gewisser Wandel in der politischen Atmosphäre zwischen Frankreich und der Bundesrepublik feststellen ließ. Nach dem Tode Dulles' und der Hinwendung Kennedys zu einer globalen Orientierung,77 war Frankreich, das die Position der Bundesrepublik gegenüber der Sowjetunion energisch unterstützte, für Bundeskanzler Adenauer angesichts des gestörten deutsch-amerikanischen Verhältnisses plötzlich ein attraktiver Partner geworden. Die MLF wurde somit für die Vereinigten Staaten ein wichtiges Instrument, die Bundesrepublik an ihre atlantische Orientierung zu halten. Der MLF-Vorschlag, der nur ein paar Wochen später offiziell unterbreitet wurde, galt als „Alternative zum Streben de Gaulies, der Führer einer auf der entstehenden französischen Nuklearstreitmacht gestützten ,dritten Kraft* Europa zu werden und als Alternative zur Möglichkeit eines künftigen französisch-deutschen nuklearen Arrangements".78 Der damalige Sonderberater Präsident Kennedys, Arthur M. Schlesinger, schreibt: „Wenn de Gaulle Westdeutschland nötigen wollte, zwischen Frankreich und den Vereinigten Staaten zu wählen, dann war die MLF in Washingtons Sicht
74 75 76
77 78
Siehe den Wortlaut des Vertrags in EA 4/1963, S. D 84—86. Vgl. unten, S. 155 ff. Vgl. Kissinger, The Troubled Partnership, a.a.O., S. 138 ff. und S. 154; ferner Ball, The Discipline of Power, a.a.O., S. 159 f. Vgl. oben, S. 91 ff. Kohl, Nuclear Sharing in NATO, a.a.O., S. 94.
E. Die amerikanischen
Motive
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der geeignete Weg, Bonn klarzumachen, daß es in der atlantisdien Bindung größere Sicherheit finden werde." 79 Die M L F wurde also einerseits als ein Mittel betrachtet, der Unzufriedenheit der Bundesrepublik mit ihrer Stellung im Bündnis entgegenzuwirken, ihr mehr Einfluß in Fragen, die ihre Sicherheit berührten, zu geben und damit der Möglichkeit einer selbständigen nuklearen Rolle der Bundesrepublik oder eines anti-amerikanischen französisch-deutschen nuklearen Zusammenschlusses vorzubeugen. Auf der anderen Seite — und dieses Argument gewann immer mehr an Bedeutung — bot die M L F dadurch, daß Frankreich (und Großbritannien) zum Beitritt veranlaßt werden sollten, vielleicht sogar eine Chance, die Ausbreitung von Kernwaffen rückgängig zu machen.80 Diese atlantische „Deproliferation" mochte ihrerseits andere potentielle Nuklearmächte vom Kernwaffenerwerb abhalten — so daß sich die M L F geradezu als ein Schritt zur Abrüstung erweisen könnte. Die Vereinigten Staaten betrachteten es als „die beste Versicherung gegen ein Wiederaufleben des deutschen Militarismus, . . . der Bundesrepublik eine geachtete, gleichberechtigte Rolle in Angelegenheiten der Allianz einzuräumen. Ein Argument lautete, eine zweitrangige Stellung werde die Deutschen nur in schärferen Nationalismus hineintreiben. Ein anderes besagte: Wenn die Vereinigten Staaten nicht irgendwie reagierten, würden nicht nur die Deutschen, sondern vielleicht auch andere Westeuropäer den unwiderstehlichen Drang fühlen, sich mit Atomwaffen auszurüsten. Das würde die Ausbreitung selbständiger nationaler Nuklearstreitkräfte in Europa und anderswo fördern und die Gefahr eines nuklearen Krieges erhöhen." 81 Somit lassen sich die amerikanischen Motive und Argumente wie folgt zusammenfassen : Erstens: Ein wiedererstandenes, wirtschaftlich starkes westliches Europa forderte eine größere, verantwortlichere Rolle in der Weltpolitik als die, die es in den fünfziger Jahren unter amerikanischer Führung » Arthur M. Schlesinger, Jr., A Thousand Days, Boston 1965, S. 744—745. Vgl. audi George W. Ball, The Discipline of Power, a.a.O., S. 206 und The Nuclear Deterrent and the Atlantic Alliance, in: Department of State Bulletin, 13. Mai 1963, S. 736— 739; Theo Sommer, For an Atlantic Future, in: Foreign Affairs, Oktober 1964, S. 124. 80 Vgl. Buchan, The Multilateral Force, a.a.O., S. 10; vgl. audi NYT, 16. März und NZZ, 20. April 1962. 8 1 Geyelin, Lyndon B. Johnson, a.a.O., S. 164; vgl. audi Ball, The Discipline of Power, a.a.O., S. 198 ff.; Kohl, Nuclear Sharing in NATO, a.a.O., S. 93 ff. und Osgood, NATO — The Entangling Alliance, a.a.O., S. 353 ff.
7
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I. Kapitel. Die Multilaterale
Flotte
gespielt hatte. Für einige europäische Staaten war das gleichbedeutend mit nationalen Kernwaffen (Frankreich); für andere (Bundesrepublik) bedeutete es eine Revision der Bündnisstruktur und die Möglichkeit der Mitsprache bei der nuklearen Verteidigung der Allianz. Zweitens: Wegen der Bedrohung Westeuropas durch sowjetische Mittelstreckenraketen und der Zweifel an der amerikanischen Nukleargarantie war die Nervosität der Europäer in Sicherheitsfragen Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre besonders stark. Hinsichtlich der Glaubwürdigkeit der amerikanischen Garantie ging es nicht nur darum, ob die Amerikaner ihre Versprechen halten würden, sondern ebensosehr oder noch mehr darum, ob die Sowjetunion an die amerikanische Garantie glaubte. Drittens: Ein gemeinsames nukleares Arrangement würde einem erstarkten und selbstbewußt gewordenen Westeuropa Genüge tun und zugleich die Glaubwürdigkeit der nuklearen Entschlossenheit des Westens dadurch erhöhen, daß es den europäischen Staaten eine Stimme in den nuklearen Angelegenheiten der Allianz gab. Ein Hauptziel der MLF war in amerikanischen Augen somit die Stärkung des Zusammenhalts unter den Verbündeten. 82 Viertens: Der Zusammenhalt des Bündnisses, ein gestärktes Vertrauen zu den USA und ein alliierter nuklearer Verbund (mit verbessertem Status und Einfluß) würden auch einem möglichen Wunsch der Deutschen zuvorkommen, dem französischen (und britischen) Kurs zu folgen. Die MLF würde der Bundesrepublik Zugang zu den komplizierten Problemen der Kernwaffen verschaffen, eine begrenzte (und kontrollierte) deutsche Teilnahme an der Nuklearpolitik fördern und schließlich die deutschen nuklearen Ambitionen vermindern und kanalisieren. Fünftens: Großbritannien (das bereits Schwierigkeiten mit seiner selbständigen Nuklearstreitmacht hatte) und Frankreich (das vielleicht auch vor den finanziellen und technischen Schwierigkeiten einer selbständigen Abschreckungsstreitmacht kapitulieren würde, wenn eine geeignete Alternative vorhanden war) könnten unter Umständen zur Teilnahme an der MLF zu bewegen sein. Dadurch würde sich die Zahl der selbständigen Nuklearmächte sogar vermindern.
8ä
Vgl. dazu die Frankfurter Rede von Rusk, 27. Oktober 1963, abgedruckt in: Department of State Bulletin, 11. November 1963, S. 730; siehe außerdem Theo Sommer, Multilaterale Atommacht — eine Klammer für das Bündnis, in: Die Zeit, 15. November 1963, S. 5 und die oben zitierten (Anm. 79) Äußerungen.
F. Die Zustimmung der Bundesrepublik F. Die Zustimmung
der
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Bundesrepublik
Trotz anfänglicher Zweifel am militärischen und politischen Wert einer multilateralen Streitmacht, wie sie von den Vereinigten Staaten entworfen worden war, zögerte die Bundesrepublik nicht lange, ehe sie ihre Zustimmung und ihre Bereitschaft zur Mitarbeit zum Ausdruck brachte. Die erste Reaktion auf das britisch-amerikanische Treffen in Nassau war allerdings vorsichtig. Die Bundesrepublik hatte Bedenken gegen die Höherbewertung der konventionellen Streitkräfte, sie war nicht sicher, was der Hinweis auf eine multilaterale Streitmacht bedeutete, und sie fürchtete, das multinationale Element des Abkommens könnte zu einer Neuauflage des Konzepts eines „nuklearen Triumvirats" zwischen den USA, Großbritannien und Frankreich führen.8* Diese Befürchtung wurde freilich rasch zerstreut: Als der stellvertretende amerikanische Außenminister Ball Anfang Januar 1963 nach Bonn kam, um den MLF-Vorschlag zu erörtern, machte er deutlich, daß dies nicht die amerikanische Absicht sei, und Präsident de Gaulle gab auf seiner Pressekonferenz am 14. Januar zu verstehen, daß er an nichts außer einer selbständigen französischen Streitmacht interessiert war. 8 4 Diese wenigen Januarwochen des Jahres 1963 zeigen anschaulich, wie die deutsch-amerikanischen und die deutsch-französischen Beziehungen miteinander verwoben waren und wie die Bundesrepublik durch Interessen und Verpflichtungen nach beiden Seiten gebunden war. A m selben Tag, an dem de Gaulle das amerikanische Angebot, an Frankreich Polaris-Raketen zu verkaufen, ablehnte, traf sich Adenauer mit Ball und gab die Zusage, daß die Bundesrepublik an der Aufstellung einer multilateralen Nuklearstreitmacht mitarbeiten werde. 85 Andererseits trugen Adenauers anfängliche Besorgnis, von einem Dreiergeschäft zwischen den USA, Großbritannien und Frankreich ausgeschlossen zu bleiben, und sein Wunsch, auch nach Ausräumung dieser Bedenken die Bindung an die U S A durch ein näheres Zusammenrücken mit Frankreich zu kompensieren, zweifellos dazu bei, daß er sein persönliches Anliegen, die deutsch-französische Freundschaft und Zusammenarbeit durch einen 85
84 85
Vgl. die Äußerungen des Regierungssprechers von Hase vor der Presse am 28. Dezember 1962 (Welt, 29. Dezember 1962) und am 14. Januar 1963 (Welt, 15. Januar 1963); vgl. audi Welt, 4., 5. und 8. Januar und NZZ, 6. Januar 1963. Vgl. Text seiner Pressekonferenz (Auszüge) in: EA 4/1963, S. 87—94. Vgl. die Äußerungen des Regierungssprechers von Hase vor der Presse am 14. Januar 1963 (Welt, 15. Januar 1963); vgl. auch Ball, The Discipline of Power, a.a.O., S. 82 und den Kommentar von Kurt Becker, Welt, 17. Januar 1963.
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I. Kapitel. Die Multilaterale
Flotte
feierlichen Vertrag zu bekräftigen, energisch vorantrieb. Dieser Vertrag, an dem seit einiger Zeit gearbeitet worden war, wurde am 22. Januar 1963 unterzeichnet.86 Er „beunruhigte die Vereinigten Staaten heftig und . . . beschwor das Gespenst einer französisch-deutschen nuklearen Zusammenarbeit herauf. In Washington wurde argumentiert, man dürfe keine Zeit verlieren und müsse Deutschland sofort eine Alternativlösung anbieten. Es könne nicht mehr die Rede davon sein, eine europäische Bitte um das Recht zur Teilnahme an der nuklearen Planung abzuwarten; die richtige Lösung müsse Europa schmackhaft gemadit werden, bevor sich der französische Einfluß ausbreitete."87 Was man in Washington nicht erkannte, war, daß sich die deutsche Antwort auf Nassau zwangsläufig von der französischen grundlegend unterschied. Für Frankreich war das Fallenlassen des „Skybolt"-Programms nur ein weiterer Beweis für die amerikanische Unzuverlässigkeit; seine Antwort hieß daher: Lockerung der Bande zu den Vereinigten Staaten und Aufbau einer eigenen Nuklearstreitmacht. Für die Deutschen hingegen lag die Lösung in einer engeren Bindung der Vereinigten Staaten an Europa und in der weiteren Integration der Allianz.88 Die Zusage der Bundesrepublik, sidi an einem nuklearen Arrangement im Rahmen des Bündnisses zu beteiligen, wurde dadurch bekräftigt, daß Adenauer sie in seine Regierungserklärung am 6. Februar 1963 aufnahm: „Wir sehen das Abkommen von Nassau als einen großen Schritt auf dem Wege zur Schaffung einer wirksamen multilateralen nuklearen Abschreckungsmacht der NATO an. Präsident Kennedy hat uns durch den Unterstaatssekretär [sic] Ball seine Ansichten hierüber erläutern lassen. Wir haben uns entschlossen, an der Verwirklichung dieser Pläne nach Kräften mitzuarbeiten. Für uns sind zwei Gesichtspunkte wesentlich: Einmal wollen wir die volle Verantwortung an einer wirksamen nuklearen Abschreckungsmacht der NATO mittragen. Zum anderen soll die Abschreckung jede Art von Krieg unmöglich machen."89 Von amerikanischer Seite wurde die Diskussion rasch intensiviert. Vom 5. bis zum 8. März 1963 waren Präsident Kennedys Sonderbotschafter Livingston T. Merchant, der amerikanische NATO-Botsthafter Thomas K. Finletter und der amerikanische Admiral John Lee in Bonn, 86 87
88
Text des deutsch-französischen Vertrags a.a.O. (Anm. 74). So die Beurteilung von Buchan, The Multilateral Force, a.a.O., S. 8 ; Ball, The Discipline of Power, a.a.O., S. 159 f., bestätigt diese Beurteilung. Vgl. Wildenmann, Perspektiven, a.a.O., S. 189 und Theo Sommer, How many fingers on how many triggers, in: Atlantic Community Quarterly, Winter 1963/64, S. 557. Deutscher Bundestag, Stenographische Berichte, 6. Februar 1963, S. 2576.
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Bundesrepublik
15 7
um mit Bundeskanzler Adenauer, Verteidigungsminister von Hassel, dem Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Karl Carstens, und dem deutschen NATO-Botschafter Wilhelm Grewe über die MLF zu sprechen. Nach den Gesprächen wurde in einer gemeinsamen Erklärung der beiden Außenministerien mitgeteilt: „Beide Regierungen vertreten die Auffassung, daß dieses Projekt für das westliche Bündnis von überragender politischer und militärischer Bedeutung ist.'" 0
G. Die Motive der Bundesrepublik Die deutschen Motive für die Unterstützung des MLF-Projekts lassen sich in zwei große Kategorien einteilen. Das primäre Ziel war, die Vereinigten Staaten an Europa zu binden und allgemein den Zusammenhalt der atlantischen Allianz zu festigen; das sekundäre Ziel war, mehr Einfluß in Washington und in den Beratungsgremien der Allianz zu gewinnen. Beide Ziele leiteten sich hauptsächlich aus Sicherheitserwägungen ab; selbst die politischen Vorteile, die von der MLF erwartet wurden — d. h. mehr Einfluß — wurden zwar nicht ausschließlich, aber doch in erster Linie unter dem Gesichtspunkt erhöhter Sicherheit gesehen. 1. S i c h e r h e i t Das nukleare Sicherheitsbedürfnis der Bundesrepublik erwuchs auf taktischer Ebene aus den Schwierigkeiten einer konventionellen Verteidigung an der deutschen Front' 1 , auf strategischer Ebene aus der Bedrohung Westeuropas durch sowjetische Mittelstreckenraketen. Die MLF war als strategische Streitmacht gedacht und sollte ein Gegengewicht zu den in den westlichen Teilen der Sowjetunion stationierten Mittelstreckenraketen darstellen. Insofern solidarisierte sich die Bundesrepublik mit einer militärischen Forderung, die schon seit mehreren Jahren von SACEUR erhoben und vom Nordatlantik-Rat gebilligt worden ,0
M
Bulletin, Nr. 45, 12. März 1963, S. 405. Hassel erklärte zu dieser Zeit, daß der Vorschlag, die MLF nur aus Oberwasserschiffen und nicht aus Unterseebooten zusammenzustellen, eine deutsche Idee sei; vgl. Hassel vor der Presse am 7. März 1963, berichtet in: Welt, 8. März und N Z Z 11. März 1963. Tatsächlich fiel die Entscheidung im amerikanischen Verteidigungsministerium (vgl. oben, S. 140 f.). Hassel, so scheint es, wollte lediglich die deutsche Kooperationsbereitschaft hervorheben; Adenauer jedoch hielt ihn zurück: Auf deutscher Seite war noch nicht endgültig entschieden, ob Überwasserschifîe die günstigste Lösung gewesen wären (vgl. Welt, 17. April 1963). Vgl. oben, S. 9 ff.
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I. Kapitel. Die Multilaterale Flotte
war, der Forderung nämlich, die veralteten Bomber der N A T O durch in Europa stationierte Mittelstreckenraketen zu ersetzen."2 Im Oktober 1964 erklärte Bundeskanzler Erhard, der Grund für die M L F sei die Drohung aus dem Osten: „Die Bundesregierung hat oft versichert, daß ihr nichts ferner liegt, als die Sowjetunion zu bedrohen. Solange uns aber umgekehrt vom Osten her sozusagen täglich der Schrecken der Atomwaffen und Raketen vor Augen geführt wird, solange ist es die Pflicht der Bundesregierung als der Sachwalterin der Lebensinteressen des deutschen Volkes und auch aus der Verantwortung für Europa, nach Mitteln und Wegen zu suchen, dieser ständigen Bedrohung im Bündnis mit der freien Welt wirksam begegnen zu können." 93 Natürlich wurden die sowjetischen Mittelstreckenraketen audi vom amerikanischen Strategischen Luftwaffenkommando (SAC) abgedeckt — und darin lag die Begründung für den wiederholten amerikanischen Hinweis, die M L F sei militärisch überflüssig94 — ; aber die unzugänglichen Pläne für diese ferne und rein amerikanische Streitmacht boten den europäischen Partnern anscheinend eben nicht das gleiche Sicherheitsgefühl wie eine Streitmacht, in der sie selbst ein Mitspracherecht haben würden und die dem Befehl von S A C E U R unterstellt sein würde. Ein amerikanischer Beobachter meinte damals, alles spreche dafür, daß die Vereinigten Staaten ihren Verpflichtungen nachkommen würden. E r räumte jedoch ein: „Niemand kann in diesem Punkt absolut sicher sein. Deshalb ist es verständlich, daß, wo so viel auf dem Spiele steht, ein Verbündeter zum Schutz seiner Lebensinteressen um jedes Plus an Abwehrmacht bemüht ist, über das er selbständig verfügen kann. Das Bemühen um eine solche Versicherung ist besonders dringend dann geboten, wenn der Bundesgenosse mit der Möglichkeit unvorhersagbarer künftiger Umstände rechnet, unter denen die Identität der Lebensinteressen Amerikas mit seinen eigenen nicht als selbstverständlich angenommen werden kann. Allein schon aus diesem Grund hat Frankreich ein berechtigtes nationales Interesse daran, nach einer selbständigen Nuklearstreitmacht zu streben. Man muß jedoch hinzufügen, daß von diesem 82
Vgl. das Interview mit Verteidigungsminister von Hassel in der Rheinischen Post, abgedruckt in: Bulletin, N r . 59, 8. April 1964, S. 513 ff. Vgl. audi Hassel, Organizing Western Defense, a.a.O., S. 212 und Heinrich Krone, Es geht um unsere Sicherheit, in: Politisch-Soziale Korrespondenz, l . J a u n a r 1965. Siehe ferner Theo Sommer, Deutsche Nuklearpolitik, in: österreichische Zeitschrift für Außenpolitik, S. 31 und Osgood, M L F , a.a.O., S. 13.
n
Bulletin, N r . 154, 16. Oktober 1964, S. 1428.
·* Vgl. oben, S. 146..
1/1967,
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159
Standpunkt aus das deutsche Interesse am Erwerb einer selbständigen Nuklearstreitmacht noch zwingender ist, da die Bundesrepublik das nächstliegende Ziel eines Angriffs ist." 95 Die amerikanische Politik verfolgte genau den Zweck, solchen Eventualitäten vorzubeugen. Sie sollte die Bundesrepublik vom Streben nach selbständiger Verfügungsgewalt über Kernwaffen abhalten, ihre Interessen befriedigen und durch Gewährung eines Plus an Einfluß im Rahmen einer kollektiven Streitmacht ihre Befürchtungen zerstreuen." Hier nun verquickte sich die Frage um eine multilaterale nukleare Streitmadit mit der gesamten Debatte um die Strategie, einschließlich der lokalen Verteidigungserfordernisse. Tatsächlich wurde die M L F auf deutscher Seite nicht nur oder nicht einmal in erster Linie als Gegengewicht gegen die Bedrohung durch die sowjetischen Mittelstreckenraketen gesehen, sondern primär als ein Instrument der Abschreckung." Die M L F als europäisch orientierte Streitmadit, an der die potentiellen Opfer eines Angriffs direkt beteiligt wären, würde die Abschreckung erhöhen und die nukleare Verteidigungsbereitschaft Westeuropas deutlich machen.88 Mehrere Jahre lang hatte die Debatte über die McNamara-Strategie der „flexiblen Antwort" selbst bei den verständnisvollsten Deutschen Zweifel erweckt. Diese Strategie verkleinerte die Rolle der Kernwaffen zu einem Zeitpunkt, da die Bundesrepublik nidit nur festgestellt hatte, daß ihre Verteidigung in hohem Maße von diesen Waffen abhing, sondern auch, daß jede Verteidigung und besonders eine nukleare Verteidigung katastrophale Folgen haben würde und daß deshalb das ganze Gewicht auf die nukleare Abschreckung gelegt werden müßte." Für viele Deutsche sah die neue amerikanische Einstellung nach einem nuklearen Disengagement aus, und deshalb waren sie daran interessiert, daß die nukleare Abschreckung aufrechterhalten wurde und sie daran teilhatten. Die M L F schien eben dies zu bieten: sie sicherte eine nukleare Verteidigung und ein deutsches Mitspracherecht bei dieser Verteidigung; sie gewährleistete, daß Kernwaffen im Bedarfsfall eingesetzt werden würden, und sie gewährleistete ferner, daß die Sowjetunion dessen sicher sein konnte, weil das potentielle Opfer bei seiner Verteidigung ein 9 5 Osgood, MLF, a.a.O., S. 22 · · Vgl. den obigen Abschnitt über die amerikanischen Motive. 97 Über die Problematik, die MLF als Gegengewicht zu den sowjetischen Mittelstreckenraketen zu sehen, vgl. Kissinger, The Troubled Partnership, a.a.O., S. 140 f. 88 Vgl. dazu Hassel, Organizing Western Defense, a.a.O., S. 213; ferner Sommer, Deutsche Nuklearpolitik, a.a.O., S. 31. · · Vgl. oben, S. 93 ff. und Osgood, Nuclear Control, a.a.O., S. 11 f.
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Mitspracherecht hatte. In deutschen Augen bot sie also eine Gewährleistung der nuklearen Abschreckung und eine Erhöhung ihrer Glaubwürdigkeit. In einem Artikel in der Politisch-Sozialen Korrespondenz schrieb Verteidigungsminister von Hassel: „Um die unveränderte westliche Strategie der Abschreckung auch künftig wirksam und glaubhaft zu erhalten, muß sie immer wieder den militärischen Gegebenheiten und der waffentechnischen Entwicklung angepaßt werden. Die von den USA vorgeschlagene NATO-Atomstreitmacht trägt dieser Tatsache Rechnung. Sie stellt eine wesentliche Ergänzung des militärisdien Instrumentariums dar, mit dem wir die Verteidigungsfähigkeit der NATO in Europa und die Glaubwürdigkeit der Abschreckung noch beweiskräftiger gestalten können. Gleichzeitig wird mit dieser militärischen Verstärkung der atomaren Verteidigungskraft der NATO in Europa das Festhalten am Prinzip der abgestuften Abschreckung durch ein ausgewogenes Maß an konventionellen und atomaren Kräften unterstrichen, zumal beim weiteren Ausbau der konventionellen Komponente wie bisher die Ausrüstung mit taktischen Schlachtfeldwafïen bei Korps und Divisionen fortgesetzt wird."100 Für Hassel war die MLF eindeutig ein Instrument zur Steigerung der Glaubwürdigkeit der westlichen Abschreckung: „Jede Anstrengung, die unternommen wird, um den Abschreckungseffekt des Nordatlantischen Bündnisses militärisch und politisch zu stärken, liegt daher im unmittelbaren Interesse der Bundesrepublik, da jeder Krieg — gleichgültig, ob er konventionell oder atomar beginnt, ob er mit einem Sieg oder einer Niederlage aufhört — für unser Land das Ende aller Dinge bedeuten würde."101 Hatte die Debatte über die Strategie der „flexiblen Antwort" die Deutschen um Abschreckung und nuklearen Schutz besorgt gemacht, so sahen sie sich durch das Manöver „Big Lift" im Sommer 1962, das die Lufttransport-Kapazität der USA demonstrieren sollte und eine mögliche Verminderung der amerikanischen Truppen in Europa implizierte, einem Trommelfeuer französischer Propaganda ausgesetzt, des Inhalts, daß die Vereinigten Staaten sich eines Tages aus Europa zurückziehen würden: entweder aufgrund einer Einigung zwischen den USA und der UdSSR, aufgrund außereuropäischer (ζ. B. asiatischer) Anforderungen an die USA oder aufgrund „neo-isolationistischer" Strömungen innerhalb der Vereinigten Staaten. Diese Sorgen waren den Deutschen nicht »o» Abgedruckt in: Bulletin, Nr. 47, 14. März 1963, S. 421—422, hier S. 421. Ebd. Vgl. audi Krone, Es geht um unsere Sicherheit, a.a.O.
101
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fremd. So erklärte Hassel: „Neben dem rein militärischen spielt der politische Beweggrund unserer Zustimmung eine mindestens ebenso wichtige, wenn nicht die entscheidende Rolle. Eine multilaterale Atomstreitmacht, in der sich die USA nicht nur initiativ, sondern mit starken Kräften engagieren, festigt vor allem auch die politische Klammer zwischen der Führungsmacht der Allianz und Europa. Dieser Festigung kann gar nidit genug Bedeutung beigemessen werden."102 Und im Juni 1963 brachte er diese Besorgnisse nodi deutlicher zum Ausdruck: „Man muß diese Atomstreitmacht aber audi politisch werten und vor allem auf die politische Bindekraft der multilateralen Atomstreitmacht verweisen. Der Angst in Europa, die Amerikaner könnten uns verlassen, oder der Angst der Amerikaner, Europa könnte sie herausdrängen, wird auf beiden Seiten am besten dadurch begegnet, daß man ein Instrument sdiafft, das einerseits eine militärisch veritable Kraft ist und andererseits eine große Verantwortung für alle Gliedstaaten, die sie tragen, bedeutet. Damit werden Amerika und Europa auf die Dauer sehr viel enger zusammengebunden."108 Aus der Sicht der Bundesrepublik war damit der Hauptvorzug des MLF-Konzepts genannt: daß es eine Bekräftigung und Erweiterung der amerikanischen Verpflichtungen verhieß.104 Für ein Land, das seine Sicherheit in erster Linie durch den amerikanischen Schutz gewährleistet sah, erschien dies besonders dringend in einem Augenblick, da das gestörte Verhältnis zwischen den USA und Frankreich die Allianz einer schweren Belastungsprobe ausgesetzt hatte. Die Bundesrepublik war aus rationalen militärischen und politischen Gründen stets für eine Politik der Integration eingetreten.105 Die MLF würde einen weiteren Schritt in dieser Riditung darstellen; zumindest würde sie der französischen Politik der Desintegration entgegenwirken. Im Juli 1963 schrieb der Bundesverteidigungsminister: „Die politische Bedeutung der multilateralen Atomstreitmacht liegt vor allem in der noch engeren politischen 102
In: Politisch-Soziale Korrespondenz, abgedruckt in: Bulletin, Nr. 47, 14. März 1963, S. 421. 103 In: Deutsches Monatsblatt, Juni 1963. Vgl. auch Hassel, Organizing Western Defense, a.a.O., S. 213; in diesem Artikel nannte er die MLF „außerordentlich wertvoll, um die engen politischen Bindungen mit Amerika, die für Europa von lebenswichtiger Bedeutung sind, zu stärken". Vgl. hierzu ferner Sommer, Deutsche Nuklearpolitik, a.a.O., S. 31; Richardson, Deutschland und die NATO, a.a.O., S. 66 ff., Osgood, MLF, a.a.O., S. 37 und Beaton, Must the Bomb Spread, a.a.O., S. 51 if. 104 Vgl. jig ähnliche Analyse in: Beaton, Must the Bomb Spread, a.a.O., S. 52 und den Kommentar in: Welt, 7. Mai 1964. 105 Vgl. oben S. 8 ff. 11 Mahndte
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1. Kapitel. Die Multilaterale Flotte
Zusammenarbeit und der völligen Integration der beteiligten militärischen Kräfte. . . . Durch eine naht- und fugenlose Verbindung zwischen Amerika und Europa würden Kreise, die befürchten, daß die Vereinigten Staaten eines Tages — vielleicht im Jahre 1970 oder 1972 — Europa verlassen und es dem Zugriff des Ostens aussetzen könnten, keinerlei Boden gewinnen können." 106 Außenminister Gerhard Schröder bezog vor der WEU-Versammlung am 4. Dezember 1963 eine ähnliche Stellung: „Die Sicherheit Europas kann nach unserer Auffassung nur durch eine gemeinsame eng integrierte NATO-Verteidigung und durch eine möglichst enge militärische und politische Verflechtung der europäischen und der nordamerikanischen NATO-Staaten gewährleistet werden. Wir dürfen daher von dem Wege der Integration, den die N A T O seit ihrer Gründung eingeschlagen hat, nicht abweichen. Ein Zurück zu einer nationalen Verteidigung wird weder der politischen noch der militärischen Aufgabenstellung gerecht. Wir brauchen ein Vorwärts zu einer noch enger integrierten gemeinsamen Verteidigung der N A T O Staaten." 107 Ein deutscher Beobachter schließlich faßte die Motive für die MLF wie folgt zusammen, wobei er gleichfalls den Integrationseffekt betonte: „Sie würde das Risiko der Weiterverbreitung vermindern, die nukleare Erziehung der Europäer fördern, Europa einen Anteil an der strategischen Planung und in Krisenzeiten eine Mitspräche beim Einsatz der Abschreckungsmacht geben; vor allem aber wäre sie ein wichtiger Schritt auf dem Wege zur Integration der amerikanischen und europäischen Streitkräfte. Ihr Hauptziel wäre demnach nicht, die Deutschen glücklich zu machen, sondern die Allianz zu festigen."108 2.
Einfluß
Die politische Führung in der Bundesrepublik sah in der MLF ein Instrument, der sowjetischen nuklearen Drohung zu begegnen und die Sowjetunion von einem Angriff abzuschrecken, sie sah in ihr ein Mittel, die amerikanische Bindung an Europa zu festigen, sie sah in ihr aber auch eine Möglichkeit, den europäischen und speziell den deutschen Einfluß auf die Vereinigten Staaten und die Politik der Allianz zu vergrößern und zu institutionalisieren. Die Debatte über die „flexible Antwort", die Furcht vor einem amerikanischen Rückzug aus Europa, die 106
107 108
Kai-Uwe von Hassel, Deutsche Sidierheitspolitik und atlantische Verteidigung, in: Wehrkunde, Juli 1963, S. 348. Wortlaut in: Bulletin, Nr. 214, 5. Dezember 1963, S. 1899—1902, hier S. 1901. Sommer, For an Atlantic Future, a.a.O., S. 123.
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Berlin-Krise und die Rüstungskontrollverhandlungen über den Teststoppvertrag, die im Sommer 1962 mit minimaler Konsultation der Bundesregierung geführt worden waren, hatten bei dieser den Wunsch erweckt, die Verbindung mit den USA zu verstärken, ein Mitspracherecht in der Strategie und Planung der Allianz zu gewinnen sowie eine engere politische und diplomatische Koordination der amerikanischen und westeuropäischen Diplomatie — mit entsprechender Einflußnahme Bonns — zu erreichen.10" Die Bundesrepublik wollte sich erstens der militärischen und diplomatischen Unterstützung der Verbündeten versichern; sie wollte zweitens Vorkehrungen gegen plötzliche, den Interessen der Bundesrepublik abträgliche militärisch-strategische und politisch-diplomatische Veränderungen treffen; sie wollte drittens eine aus der Sicht der Bundesrepublik für Deutschland ungünstige Verständigung zwischen den Großmächten verhindern. Die MLF, so meinte man in Bonn, würde Zugang zur amerikanischen Strategie und Planung bedeuten und somit auch Einfluß auf die Festlegung und Durchführung der Strategie. Am 10. Februar 1964 erklärte Livingston Merchant, die MLF stelle eine Grundlage für den Entscheidungsprozeß dar: „Denn die MLF-Mitglieder würden an jener Konsultation nicht als Zuschauer teilnehmen, sondern als verantwortliche Miteigentümer von nuklearer Macht, mit all dem Wissen und Verantwortungsgefühl, das dies mit sich bringt. Zu einer sinnvollen Konsultation wird es vermutlich eher kommen, wenn sie auf diese Weise praktische operative Bedeutung hat, als wenn sie von Ländern geleistet wird, die keinerlei Anteil an der nuklearen Abschreckung haben." 110 Aber die MLF konnte nicht nur Zugang zur amerikanischen Militärstrategie und -planung und Einfluß auf sie verschaffen; sie erschien auch als ein Mittel, eine größere und gefestigtere Rolle in der Koalitionsdiplomatie und bei den Abrüstungsverhandlungen zu erlangen.111 Osgood bemerkte dazu in seiner Analyse zur M L F : „Der Wert der MLF ios Vgl. z u m diplomatischen Konsultationsprozeß im Bündnis die ausgezeichnete Analyse von Cleveland, N A T O — The Transatlantic Bargain, a.a.O., S. 65 ff. 110
Rede vor dem British Atlantic Committee (hektographiert) ; vgl. auch die Rede von Dean Rusk vor dem Overseas Press Club in New York am 7. April 1964, abgedruckt in: Department of State Bulletin, 27. April 1964, S. 650—655. Damit wurde die deutsche Ansicht bestätigt, daß der Mitbesitz nuklearer Waffen der Mitsprache eine institutionelle Basis geben und sie somit festigen würde — obwohl Mitbesitz nicht Voraussetzung für Mitsprache war. Vgl. dazu Hassel, Organizing Western Defense, a.a.O., S. 212 und die allgemeine Analyse bei Richardson, Deutschland und die N A T O , a.a.O., S. 66 ff. Vgl. auch unten, S. 225.
111
Vgl. Buchan, The Multilateral Force, in: International Organization, a.a.O., S. 639.
11»
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als Bindeglied zu den Vereinigten Staaten . . . liegt nicht nur darin, daß sie ein Mittel ist, die Vereinigten Staaten bei ihrem Engagement für die Verteidigung Deutschlands und Europas zu halten, sondern auch ein Mittel, die Vereinigten Staaten zu beeinflussen. Erhöhter Einfluß auf die amerikanische Militärstrategie und Außenpolitik wäre die natürliche Begleiterscheinung technischen Zugangs und eines nennenswerten finanziellen Anteils an der MLF; denn die Vereinigten Staaten werden an einer fortdauernden harmonischen deutschen Mitarbeit in der Streitmacht interessiert sein, und Deutschland oder jeder andere Teilnehmer wird Anspruch auf Einfluß entsprechend seinem Beitrag haben. Ganz allgemein werden die Vereinigten Staaten auch ein Interesse haben, zu demonstrieren, daß ihre Verbündeten durch enge nukleare Koordination und Mitarbeit in einem multilateralen Rahmen mehr Einfluß auf ihre Angelegenheiten gewinnen können als durch den Besitz einer selbständigen Nuklearstreitkraft." 1 " Also ging es der Bundesrepublik nicht allein um die Zusicherung militärischer Unterstützung, sondern auch um Einflußnahme auf die Festlegung der Art und Weise dieser Unterstützung, nicht nur um politische Unterstützung, sondern um Einflußnahme auf die Allianzpolitik, um den deutschen Interessen bei der Formulierung der alliierten Politik gebührende Berücksichtigung zu sichern, ja sogar diese Politik auf die deutschen Interessen auszurichten. Für die Bundesrepublik schien die MLF einen Weg zu diesen Zielen zu eröffnen — einen Weg zur Gleichberechtigung und zu einer Rolle im Einklang mit ihrer ökonomischen und militärischen Bedeutung, einer Rolle, die der exponierten Stellung Deutschlands im Ost-West-Konflikt und dem Gewicht der deutschen Interessen angemessen war. Im Hinblick auf Westeuropa erschien die MLF als eine Möglichkeit, mit dem nuklearen Frankreich und dem nuklearen Großbritannien gleichzuziehen; sie schien sogar eine Chance zu bieten, diese beiden Nuklearmächte in eine westeuropäische oder atlantische Abschreckungsmacht einzugliedern: „In deutschen Augen ist die MLF als Instrument des Verhältnisses Deutschlands zu seinen europäischen Verbündeten nicht weniger wichtig denn als Mittel zur Festigung der amerikanischen Bindung."11® Diese deutschen Ziele konnten, so meinte man, in drei Schritten verwirklicht werden: Zunächst würde die MLF der Bundesrepublik als Mittel dienen, Gegendruck auf de Gaulle auszuüben, dann als Mittel, «2 Osgood, MLF, a.a.O., S. 37 f. und Nuclear Control, a.a.O., S. 11. Osgood, MLF, a.a.O., S 38; vgl. audi Sommer, For an Atlantic Future, a.a.O.
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einen gleichberechtigten Status neben Großbritannien und Frankreich zu erreichen, wobei man hoffte, daß diese beiden ebenfalls der MLF beitreten würden; sdiließlidi würde sie den Kern einer europäischen Abschreckungsmacht bilden.114 Tatsächlich kamen vor allem vom Bundesverteidigungsminister von Hassel wiederholte Hinweise darauf, daß als Endziel der MLF die volle supranationale Integration ins Auge zu fassen sei.115 Der Verteidigungsminister hatte unzweideutig ein nukleares Arrangement vor Augen, das nicht für alle Zeiten dem amerikanischen Veto unterworfen wäre und in dem die europäischen Partner im endgültigen Stadium einen realen Anteil an der Verfügungsgewalt besitzen würden. Ebenso entschieden war er allerdings der Meinung, daß die Amerikaner an der Streitmacht beteiligt sein müßten, solange eine wirkliche politisdie Einheit Europas noch nicht erreicht wäre: Eines der Hauptmotive für den MLF-Vorschlag war ja eben die Stärkung der europäisch-amerikanischen Verbindung; jedenfalls vorerst sollte es eine atlantische, nicht eine europäische Streitmacht sein. Das Wichtigste an der MLF, schrieb Hassel, „würde ihr politischer Aspekt sein. Sie würde eine zusätzliche politische Klammer zwischen den europäischen und den amerikanischen Bündnispartnern darstellen. Ihre enge Verflechtung mit dem nuklearen Potential der Vereinigten Staaten würde einerseits zu einer Verstärkung der Abschreckungsmacht, andererseits zur Herstellung enger Bindungen zwischen Amerika und Europa führen. Das ist ihr eindeutiger Vorzug im Vergleich mit anderen Konzepten, die eine europäische Nuklearstreitmacht vorsehen. Die Aufstellung einer europäischen Nuklearstreitmacht dieser Art wäre meiner Meinung nach eher dazu angetan, die Bindungen zwischen Europa und den Vereinigten Staaten zu lockern, als sie zu stärken. Es hat sich mit größerer Klarheit als noch vor ein paar Jahren herausgestellt, daß Westeuropa eine wahrhaft europäische Verantwortung für den Einsatz von Kernwaffen nicht übernehmen kann, solange es nicht eine politische Einheit geworden ist; mit anderen Worten, es kann diese Verantwortung erst nach der Vereinigung übernehmen, d. h. nach der sorgfältigen und schrittweisen Integration der nationalen Souveränität in eine politische Gemeinschaft."116 In seiner „atlantisdien Orientierung" wurde der Verteidigungsminister von Bundeskanzler Erhard und Außenminister Schröder unter114 115 lie
Vgl. die Analyse ebd. und oben, S. 142 ff. Vgl. oben, S. 144 ff. Hassel, Détente through Firmness, a.a.O., S. 189; vgl. audi Hassel, Organizing Western Defense, a.a.O., S. 213.
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stützt.117 Dieses Trio bildete den Kern der sogenannten „Atlantiker", denen die „Gaullisten" gegenüberstanden, die sich vor allem um den ehemaligen Verteidigungsminister Franz Josef Strauß gruppierten.118 Die „Gaullisten" sahen in der MLF und der französischen Opposition gegen den amerikanischen Plan ein Hindernis für die Schaffung einer europäischen nuklearen Abschreckungsmacht, die ihrer Meinung nach nur durch französisch-deutsche Zusammenarbeit zustande kommen konnte (wobei sie völlig ignorierten, daß Frankreich unter de Gaulle ganz andere Vorstellungen über eine solche Zusammenarbeit hatte). 11 " Die „Atlantiker" zogen im allgemeinen eine atlantische Streitmacht vor, waren jedoch nicht abgeneigt, die MLF zu einer europäischen Streitmacht werden zu lassen, wenn erst einmal eine wirkliche westeuropäische Einheit erreicht wäre (diese Option sollte durch eine „europäische Klausel" im MLF-Vertrag gesichert werden); eine solche Streitmacht würde indes auf Grund ihrer Genesis am wenigsten anti-amerikanisch sein.120 Hätte allerdings eine reale Alternative für eine europäische Streitmacht auf der Grundlage französisch-deutscher Zusammenarbeit existiert, dann hätten vielleicht auch die „Atlantiker" sie vorgezogen. 1 " Doch wie die Dinge lagen, konstatierte Schröder im Oktober 1963: „Die multilaterale Streitmacht ist im Augenblick die einzig mögliche Form, in der die atomare Mitverantwortung der europäischen Partner im atlantischen Bündnis realisiert werden kann." 122 Mit all ihren Mängeln war die MLF für die Deutschen ein erster Schritt auf dem Wege, wenigstens etwas Einfluß im nuklearen Bereich zu gewinnen. Zugleich hätte sie den Status der Bundesrepublik gegenüber Frankreich und Großbritannien angehoben; die Bundesrepublik 117 v g l .
z
3 . Erhards erste Regierungserklärung, Deutscher Bundestag, Stenographische
Berichte, 18. Oktober 1963, S. 4 1 9 6 und die Rede Schröders vor der W E U - V e r s a m m lung von Anfang Dezember; deutscher Text in: Bulletin, N r . 214, 5. Dezember 1963, insbes. S. 1900. 118
Erhard, Hassel und Schröder haben sidi sehr stark persönlich für die M L F engagiert, worin vermutlich ein Grund zu sehen ist, warum die Bundesregierung so lange an dem Plan festhielt, nachdem es offensichtlich schien, daß er überholt war. Erst mit dem Fall der Regierung Erhard wurde der Plan offiziell aufgegeben; vgl. unten, S. 230. Die Auseinandersetzung zwischen „Atlantikern" und „Gaullisten" trug wesentlich zum Aufschub und damit zum Ende des Plans bei; vgl. unten, S. 190 ff. Vgl. hierzu Besson, Die Außenpolitik der Bundesrepublik, a.a.O., S. 3 2 2 — 3 2 8 .
120 Vgl. z . B. Wilhelm Grewe, Die Zukunft der atlantischen Allianz, in: Außenpolitik, Januar 1965, S. 5 ff., insbes. S. 16. Vgl. auch unten, S. 192 ff. 121
Vgl. oben, S. 49 ff.
122
Schröder-Interview mit dem Deutsdilandfunk; abgedruckt in: Bulletin, N r . 194, 31. Oktober 1963, S. 1 7 0 1 — 1 7 0 3 , hier S. 1703.
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wäre, wenn auch in einem sehr begrenzten Sinne, eine „nukleare Macht" geworden.123 Die MLF wurde jedoch nie als möglicher erster Schritt zu einer selbständigen Verfügungsgewalt über Kernwaffen angesehen — wenn auch die entschiedene deutsche Zustimmung in Ost und West Mißtrauen erregte und Gegendruck erzeugte (ebenso wie 1961/62, als Verteidigungsminister Strauß das Konzept der N A T O als „vierte Nuklearmacht" nachdrücklich unterstützt hatte124). Für viele ausländische Beobachter bedeutete die MLF den deutschen „Finger am Abzug" und war fast gleichbedeutend mit einer selbständigen deutschen Nuklearstreitmacht. Aber Bundeskanzler Erhard erklärte demgegenüber am 22. April 1964, dem fünfzehnten Jahrestag der Gründung der NATO: „Mit dem Willen einer deutschen Beteiligung an der MLF erneuert die Bundesregierung ihren Verzicht auf eine nationale Verfügungsgewalt über atomare Waffen." 125 Der deutsche NATO-Botschafter Wilhelm Grewe erklärte, daß die Bundesrepublik mit ihrer Unterstützung der MLF nicht etwa die Absicht hätte, „damit einen ersten Schritt in Richtung auf nationale deutsche Verfügungsgewalt über Kernwaffen zu tun. Diese Verdächtigung widerspricht nicht nur der Wahrheit, sondern auch der Logik, denn es ist nicht schwer, zu erkennen, daß die MLF ein zur Erreichung dieses Zieles höchst ungeeigneter Weg, wahrscheinlich eher ein Hindernis als eine Hilfe ist."12® In der Tat war es kaum einleuchtend, daß die MLF die Bundesrepublik dem nuklearen „Abzug" ein Stück näherbringen sollte, da sie ja gerade aus den entgegengesetzten Gründen von der Vereinigten Staaten vorgeschlagen worden war: nämlich um möglichen Forderungen der Bundesrepublik nach einer selbständigen Nuklearstreitmacht zuvorzukommen.127 Im Hinblick auf diese Forderungen gelangte Karl Deutsch in seinen Elite-Interviews in der Bundesrepublik, die er im Sommer 1964, auf dem Höhepunkt der MLF-Diskussion, führte, zu einem bemerVgl. dazu ζ. B. Kurt Becker, Welt, 19. Dezember 1964 und Adelbert Weinstein, FAZ, 8. Juni 1965. 121 Vgl, oben, S. 110 ff.; vgl. audi Sommer, The Objectives of Germany, a.a.O., S. 43—45 und Osgood, Nuclear Control, a.a.O., S. 11. 1 2 5 Bulletin, Nr. 68, 22. April 1964, S. 589. Wie die Vereinigten Staaten (vgl. oben, S. 147 f.) betonte audi die Bundesrepublik, daß die MLF als Instrument der Nichtverbreitungspolitik betrachtet werden könne, was gleichzeitig als Antwort gegen jene gesehen wurde, die meinten, die MLF würde — durch den Zugang der Bundesrepublik zu Nuklearwaffen — die Wiedervereinigung behindern; vgl. dazu z. B. Sommer in: Die Zeit, 5. November 1965. 1 2 8 Grewe, Die Zukunft der Atlantisdien Allianz, a.a.O., S. 16. 1 2 7 Vgl. oben, S. 148 ff. und Osgood, MLF, a.a.O., S. 35—36. 123
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I. Kapitel. Die Multilaterale
Flotte
kenswerten Ergebnis: „Es gibt kein energisches Drängen nadi einer MLF, sondern eher die Bereitschaft, bei diesem Projekt mitzumachen, wenn Deutschlands Bündnispartner, die Vereinigten Staaten, darauf bestehen sollte."128 Nur eine „kleine Minderheit" führender deutscher Persönlichkeiten zeige „das Verlangen, die Schaffung einer multilateralen Nuklearstreitmacht innerhalb der N A T O in Gang zu bringen oder zu fordern; aber die Mehrheit möchte nicht draußen gelassen werden, falls eine solche Streitmacht verwirklicht werden sollte". 12 ' Deutsch kommt zu dem Schluß: „Man muß bedenken, daß zum Teil die definitive Zustimmung — und vermutlich audi die bedingte Zustimmung — zu dem MLF-NATO-Vorsdilag ausdrücklich mit der Begründung gegeben wurde, die deutschen Führer wünschten sich einer Initiative und einem Wunsch der Vereinigten Staaten anzuschließen."1®" Zusammenfassend lassen sich die deutschen Motive für die Zustimmung zur MLF wie folgt kategorisieren. Im militärischen Bereich wurden die Polaris-Raketen zumindest als ein begrenztes Gegengewicht gegen die sowjetischen Mittelstreckenraketen angesehen; sie kamen also in gewissem Umfang den entsprechenden deutschen Forderungen entgegen. Wichtiger war jedoch, daß durch Stärkung der europäischamerikanischen Verklammerung, durch bessere Integration und engeren Zusammenhalt der Allianz die Sicherheit ganz allgemein erhöht werden würde. Nukleare Mitwirkung und Integration würden der deutschen Stimme in der Diskussion um die Bündnisstrategie, im Planungsprozeß und bei den militärischen Entscheidungen in Krisenzeiten mehr Gewicht verleihen. Dies würde die Verteidigung der Bundesrepublik verbessern, zugleich aber — in deutschen Augen — die Abschreckung erhöhen, da durch die MLF das exponierteste Land ein Maß an Mitwirkung beim Einsatz der Abschreckungsmacht erhalten würde. Eine verbesserte militärische Stellung und ein verstärkter Einfluß auf die Strategie würden beide dazu beitragen, die westdeutsche Sicherheit zu erhöhen. Dieser Einfluß würde aber auch den Status der Bundesrepublik in der Allianz verbessern und ihn in größeren Einklang mit ihrem wirtschaftlidien und militärischen Gewicht bringen; er würde der Diskriminierung entgegenwirken, der Bundesrepublik mehr Einwirkung auf die Formulierung der Allianzpolitik und der Politik einzelner Verbündeter gestatten und sie so in den Stand setzen, deutsche Interessen Deutsch, Arms Control and the Atlantic Alliance, a.a.O., S. 65. » Ebd., S. 66. 130 Ebd., S. 64. Auch Kissinger, The Troubled Partnership, a.a.O., S. 144, kommt entschieden zu diesem Schluß.
128 12
G. Die Motive der Bundesrepublik
169
wirksamer zur Geltung zu bringen. Vielleicht würde die Bundesrepublik sogar die Gleichstellung mit Frankreich und Großbritannien erreichen: Entweder indem sie in der MLF einen gleichwertigen Status wie die unabhängigen Nuklearmächte Frankreich und Großbritannien erhielt, oder — was als nodi besser angesehen wurde — indem die MLF den Beginn einer alliierten Abschreckungsmadit unter Beteiligung dieser beiden Staaten bildete. Die Bundesrepublik stimmte der MLF aus Sicherheitserwägungen und aus politischen Gründen zu. In beiden Bereichen wurden die Mängel des Arrangements erkannt; aber es erschien als die einzige wirklich praktikable Alternative, und jedenfalls war es ein Anfang. Zudem hatten Kanzler, Außen- und Verteidigungsminister viel persönliches politisches Kapital in das MLF-Projekt investiert, und diese Rolle der MLF in der innenpolitischen Arena der Bundesrepublik trug zweifellos sehr zu der Begeisterung und Ausdauer bei, mit der das Projekt in Bonn von amtlicher Seite unterstützt wurde.
II. Kapitel MLF: Höhepunkt und Ende A. Oer 1. D i e
Höhepunkt Anlaufzeit
Obwohl das MLF-Projekt im Februar 1963 mit großer Energie gestartet wurde, kam es zunächst nicht weiter voran. Gründe dafür waren die Zweifel der Marinestäbe an seiner Durchführbarkeit, die Bedenken von Politikern wegen der ungelösten Hauptfrage — der Frage der Kontrolle — und die reservierte Haltung der meisten europäischen Staaten gegenüber dem Vorhaben. Hinzu kam aber, daß der amerikanische Präsident dem Plan nodi nicht höchsten Vorrang gegeben hatte: Der multinationale Weg sollte ebenfalls noch weiterverfolgt werden; zudem beanspruchten die Rüstungskontrollverhandlungen mit der Sowjetunion über einen Teststoppvertrag im Laufe des Jahres große Aufmerksamkeit. Die erste Reaktion in Europa zu Beginn des Jahres 1963 war kaum begeistert zu nennen; sogar die Bundesrepublik war anfangs zurückhaltend.1 Neben Frankreich hatten andere Staaten, wie Kanada, Norwegen, Dänemark und Portugal, sofort erklärt, daß sie an einer Beteiligung nicht interessiert seien. Italien und die Niederlande standen kurz vor Wahlen und waren nicht geneigt, sich vorher irgendwie festzulegen. Das wichtigste Land jedoch war Großbritannien. Schon in seiner Pressekonferenz am 22. Januar 1963 hatte Außenminister Rusk angedeutet, daß Washington bereit sei, den Plan auch ohne Frankreich zu verwirklichen, daß aber mindestens drei Hauptverbündete beteiligt sein müßten.2 Das bedeutete, daß neben den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik auch Großbritannien zur Teilnahme gewonnen werden mußte, da ohne Großbritannien mit dem Beitritt Italiens kaum zu rech1 2
Vgl. oben, S. 155. NYT, Welt, 23. Januar 1963; vgl. audi den Kommentar von Georg Schröder, Welt, 24. Juli 1963.
Α. Der
Höhepunkt
171
nen war. 3 Anfangs — am 4. März 1963 im Unterhaus — hatte der britische Verteidigungsminister Peter Thorneycroft erklärt, Großbritannien werde neben einer multinationalen Nuklearstreitmacht innerhalb der N A T O auch die amerikanischen Bemühungen unterstützen, eine multilaterale Streitmacht mit gemischter Besatzung zu schaffen4; aber diese Unterstützung wurde immer lauer, je deutlicher die Vereinigten Staaten zu verstehen gaben, daß eine britische Beteiligung wirklich erwartet wurde.5 Kein noch so kräftiger diplomatischer Druck, nicht einmal das Drängen Präsident Kennedys bei seinem Besuch in der britischen Hauptstadt im Juni, vermochte jedoch die britische Regierung zu einer klaren und positiven Entscheidung zu bewegen.6 In Nassau hatte die konservative Regierung mit Mühe erreicht, was sie wollte: Die Aufrechterhaltung einer britischen nuklearen Fähigkeit, die in das nordatlantische Bündnis integriert war, aber der eigenen Verfügungsgewalt unterstand (wobei sie freilich auf die Lieferung amerikanischer Polaris-Raketen angewiesen war). Angesichts bevorstehender Wahlen und unter dem immer heftiger werdenden Feuer der Labour-Opposition mochte die Regierung diese, wie es ihr schien, gute Wahlposition nicht aufgeben. Doch der diplomatische Druck der USA „hatte die interessante und ungewöhnliche Wirkung, in Großbritannien eine öffentliche und endemische Meinungsverschiedenheit zwischen zwei wichtigen Ministerien, dem Außen- und dem Verteidigungsministerium, hervorzurufen", wie ein Beobachter feststellte. „Das Außenministerium argumentierte, Großbritannien könne es sich nicht leisten, bei einer wichtigen Entwicklung in den Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland abseits zu stehen. Das Verteidigungsministerium wandte sich entschieden gegen die MLF, weil sie kostspielig, verwundbar, unnötig und destabilisierend sei und den Deutschen wahrscheinlich Appetit auf Kernwaffen machen werde. Die Folge dieser amtlichen Schizophrenie war eine Mitteilung des Premierministers am 1. Oktober, wonach Großbritannien an den Diskussionen teilnehmen, sich aber nicht festlegen wollte." 7 3
Das war schon früh aus dem italienischen Verhalten zu erkennen; vgl. NZZ, 28. Februar 1963, NYT, 12., 13. und 14. März und Welt 13. März 1963. Nadi den Wahlen im Frühjahr und den kommunistischen Gewinnen machte die innenpolitische Lage in Italien seine Mitwirkung an der MLF noch schwieriger.
4
Vgl. dazu Buchan, The Multilateral Force, a.a.O., S. 8.
5
Vgl. die Pressekonferenz Kennedys vom 6. März 1963, Text in: EA 7/1963, S. D 175—176, und NZZ, 28. Februar 1963, NYT, 12., 13. und 14. März und Welt, 13. März 1963.
« Vgl. NYT, Welt, 5. Juni 1963 und Welt, 26. Juni 1963. 7 Budian, The Multilateral Force, a.a.O., S. 13. Berichte über die britisdie Ankündi-
172
II. Kapitel. MLF: Höhepunkt und Ende
Aus all diesen Gründen wurde bei Kennedys London-Besuch im Juni beschlossen, die Diskussionen über die M L F vorerst zu verschieben und die ganze Aufmerksamkeit den Teststopp-Verhandlungen mit der Sowjetunion zuzuwenden, die am 15. Juli 1963 in Moskau beginnen sollten.8 Inzwischen sollte das in Athen begonnene, in Nassau bekräftigte® und vom amerikanischen Verteidigungsminister McNamara stets befürwortete multinationale Bemühen um eine Verbesserung des Informationsaustauschs und eine Stärkung der politischen Gremien weiter vorangetrieben werden. Diese Bemühungen sollten allerdings — angesichts der Priorität, die dem multilateralen Projekt in wachsendem Maße eingeräumt wurden — bald wieder versanden. Auf der N A T O Ratstagung in Ottawa im Mai 1963 standen sie jedoch noch im Vordergrund. So hieß es im Schlufikommuniqué: „Die Minister erörterten die Verteidigungspolitik der N A T O und billigten die Maßnahmen, die getroffen worden sind, um die nuklearen Streitkräfte zu organisieren, die dem Obersten Alliierten Befehlshaber Europa ( S A C E U R ) zugeteilt (assigned) sind oder zur Zuteilung (assignment) vorgesehen sind. Diese Maßnahmen umfassen vor allem: a) die Zuteilung der britischen V-Bomberflotte und von drei amerikanischen Polaris-U-Booten an S A C E U R ; b) die Einsetzung eines von S A C E U R zu bestimmenden Stellvertreters in seinem Stab, der ihm für nukleare Angelegenheiten verantwortlich ist; c) Vorkehrungen für eine erweiterte Mitwirkung von Offizieren der NATO-Mitgliedstaaten an den nuklearen Aufgaben des Alliierten Oberkommandos Europa und bei der Koordinierung der operativen Planung in Omaha; gung in: Welt, 25. September und N Y T , 2. Oktober 1963. Über die britische Diskussion sowie die Differenzen zwischen Außen- und Verteidigungsministerium wird berichtet in: N Y T , Welt, 5. Juni, Le Monde, 7. Juni, Welt 26. Juni und 14. September und NYT, 20. und 23. September 1963. Unter der Labour-Regierung wurden die Differenzen zwischen den beiden Ministerien im Jahre 1964 überwunden. Das Außenministerium erkannte, daß Großbritannien aus finanziellen Gründen in der geplanten Streitmacht nur eine kleine Rolle spielen würde; es übernahm daher die Argumentation des Verteidigungsministeriums und begann den Plan zu verzögern. Vgl. NZZ, 2. und 3. Juli 1963. Die Verhandlungen wurden erfolgreich abgeschlossen und führten am 5. August 1963 zur Unterschrift unter den Vertrag über ein Verbot der Kernwaffenversuche in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser; vgl. Text in: E A 16/1963, S. D 407—408. » Vgl. oben, S. 136 ff. 8
Α. Der
Höhepunkt
173
d) vollständigere Unterriciitung der politischen und militärischen Behörden der Mitgliedstaaten. Die Minister begrüßten diese Maßnahmen, die dazu bestimmt sind, die Wirksamkeit des dem Bündnis zur Verfügung stehenden nuklearen Potentials zu erhöhen und die Koordinierung und Kontrolle seiner nuklearen Abschreckungskräfte zu verbessern."10 Mit diesen Beschlüssen wurde die in Athen eingeleitete Politik unmittelbar fortgesetzt; d. h., es waren organisatorische Maßnahmen mit dem Ziel einer besseren Unterrichtung der Bündnispartner. Die Beschlüsse erweiterten jedoch nicht die Verantwortung für nukleare Entscheidungen — weder in bezug auf die Planung noch in bezug auf die Kontrolle. Der Stellvertreter für nukleare Angelegenheiten — ein belgischer General, der einige Monate später ernannt wurde 11 — erlangte keinerlei Bedeutung. Ebenso wirkungslos blieb die Zuteilung von Jagdbomberstaffeln aus anderen Ländern an die N A T O (aus der Bundesrepublik, Kanada, Griechenland, der Türkei, Belgien, Italien, den Niederlanden sowie der zwei französischen Staffeln, die in Westdeutschland stationiert waren"). Ein nicht zu übersehender Grund für die Bedeutungslosigkeit dieser Beschlüsse lag darin, daß Großbritannien auf die theoretische Unabhängigkeit seiner Kernwaffen weit mehr Nachdruck legte als auf ihre Zuteilung an die NATO. Selbst in Ottawa, in einer Rede vor dem Canadian Club am 21. Mai 1963, hielt es Außenminister Lord Home für nötig, die nationalen Elemente der britischen Nuklearstreitmacht nachdrücklich zu betonen. 1 ' Aber ein weiterer und wichtigerer Grund dafür, daß die NATO-Reform keine Fortschritte machte, war das abweisende Verhalten der Franzosen. Frankreich gab zu verstehen, daß es „keine Einwände gegen eine Umgruppierung der Nuklearstreitkräfte der Allianz" hatte, aber nicht bereit war, einer Umgestaltung der Bündnisorganisation im Sinne stärkerer Integration zuzustimmen.14 Während die Amerikaner die Beschlüsse von Ottawa in der Folge als einen großen Schritt auf dem Weg zu einer nuklearen Mitwirkung aller Partner im 10 11 12
ls
14
Text in: EA 11/1963, S. D 266—267. Vgl. Le Monde, 22. August 1963. Die Bereitschaft der Bundesrepublik, ihre „Starfighter" zu assignieren, war zwei Monate zuvor auf einer Pressekonferenz von Verteidigungsminister von Hassel angekündigt worden; vgl. NYT, Welt, 8. März 1963. Vgl. dazu Buchan, The Multilateral Force, a.a.O., S. 9; vgl. auch den Bericht über Homes Bemerkungen bei seiner Rückkehr nadi Großbritannien, Welt, 27. Mai 1963. Couve de Murville, Welt, Le Monde, 23. Mai 1963.
174
II. Kapitel. MLF: Höhepunkt und Ende
Bündnis bezeichneten, erklärten die Franzosen, sie hätten wenig zu bedeuten.15 Diese Differenz hatte bereits Ausdruck in einem auf der Ratstagung geschlossenen Kompromiß gefunden: Die multinationalen Assignierungen, die ursprünglich die Bezeichnung „Interalliierte Nukleare Streitmacht" (IANF: Interallied Nuclear Force) erhalten sollten, blieben namenlos, und von den Jagdbomber-Beiträgen wurde nur derjenige Großbritanniens, nicht aber die der anderen Staaten erwähnt.18 2. D i e M L F i m
Zentrum
Die Konferenz in Ottawa brachte, was die MLF betraf, keinen Fortschritt. Weder die Deutschen noch das State Department waren jedoch gewillt, es lange dabei bewenden zu lassen. Die Beschlüsse von Ottawa, so betonte Außenminister Gerhard Schröder nach dem Treffen, beeinträchtigten nicht die multilateralen Bemühungen; diese würden ungehindert fortsetzt.17 Audi das State Department blieb weiterhin aktiv (ζ. B. besuchte Admiral Claude V. Ricketts, Vize-Chef des US-Admiralstabs, im Juli 1963 London und Rom, um diese Frage zu erörtern18, und in Washington begannen informelle Gespräche zwischen den USA, der Bundesrepublik, Italien, Griechenland und der Türkei.1" Vor allem nadi dem erfolgreichen Abschluß der Teststopp-Verhandlungen im August wandten die Vereinigten Staaten ihre Aufmerksamkeit wieder stärker der MLF zu. Den ganzen September hindurch wurde auf die NATOVerbündeten diplomatischer Druck ausgeübt, um sie zur Teilnahme an den formellen Diskussionen über die MLF zu bewegen, die im darauffolgenden Monat beginnen sollten. In Großbritannien führten, wie schon erwähnt20, die Meinungsverschiedenheiten zwischen Außen- und Verteidigungsministerium zu der Ankündigung am 1. Oktober, das Vereinigte Königreich werde an den Diskussionen teilnehmen, jedodi keine Verpflichtungen eingehen. Belgien erklärte sich ebenfalls zur Teilnahme bereit, und die Niederlande schlossen sich, dem britischen Vorbild 15
Vgl. N Y T , 25. Mai 1963.
le
Vgl. den Text des Kommuniqués a.a.O. (Anm. 10). Vgl. auch Le Monde, 23. 24. und
17
Bericht in: NZZ, 27. Mai 1963. Vgl. auch die Bemerkungen von Mende und Hassel,
27. Mai und N Y T , 26. Mai 1963. Welt, 28. Mai 1963 und Hassel, Deutsche Sicherheitspolitik, a.a.O., S. 348. 18
Bericht dazu in: Welt, 23. Juli 1963.
" Berichtet in: Welt, 20. Juli 1963; vgl. auch NZZ, 15. September 1963 und Cleveland, NATO — The Transatlantic Bargain, a.a.O., S. 49. 20
Vgl. oben, S. 171.
Α. Der
Höhepunkt
175
folgend, im Januar 1964 an. Die folgenden sechs Monate wurden größtenteils mit offiziellen Diskussionen zugebracht; in Washington erörterte man die militärischen Probleme, in Paris die juristischen und in sehr begrenztem Maße audi die politischen. Uber mehrere Punkte wurde eine grundsätzliche Einigung erzielt, so z.B. über die relative Unverwundbarkeit einer seegestützten Streitmacht, über das Prinzip gemischter Besatzungen für die Schiffe und über Methoden der Finanzierung. Der erste praktische Schritt wurde im Sommer getan, als die USA ein Schiff für Versuche mit einer gemischten Mannschaft zur Verfügung stellten. Jeder der an den Diskussionen beteiligten Staaten mit Ausnahme Belgiens entsandte ein Kontingent. 21 In die etwas schleppenden Diskussionen kam ein neuer Schwung — der besonders die Aktivität der amerikanischen Diplomatie stark belebte —, als Präsident Johnson am 10. April 1964 die MLF-Pläne offiziell bekräftigte und die Ernennung von Gerard C. Smith, der lange mit den MLF-Planern im Außenministerium zusammengearbeitet hatte, zum Leiter der amerikanischen MLF-Arbeitsgruppe bekanntgab. 22 In den folgenden Monaten ließen sich nodi andere prominente Befürworter vernehmen, und es hatte den Anschein, als sei der Abschluß eines Vertrags über eine multilaterale Streitmacht auf der Prioritätenliste ein großes Stück nach oben gerüdkt.23 Alastair Buchan schreibt dazu: „Der Tag, da Mr. Ball äußern konnte, die Amerikaner würden zu dieser Idee nur dann ihren Rat leihen, wenn die europäischen Länder eine solche Streitmacht wünschten, gehörte der fernen Vergangenheit an. Aber was ein Vorschlag gewesen war, wurde jetzt zu einer Forderung. Die ungeduldigen Enthusiasten in Washington hatten von Präsident Johnson, der im wesentlichen ein Mann der Tat ist, ein Bekenntnis zur MLF erhalten, wie es ihnen sein mehr analytisch veranlagter Vorgänger nie gegeben hatte; und von dort her vernahm man, alle einschlägigen Argumente seien nun gründlich durchleuchtet worden, und jetzt sei es Zeit zum Handeln." 24 81
Es wurde ein Raketenzerstörer ausgesucht und nach dem inzwischen verstorbenen Vizechef des Admiralstabs und Mitbegründers des MLF-Plans, Claude V. Ricketts, benannt. Zur Problematik der gemischten Besatzungen vgl. Kissinger, The Troubled Partnership, a.a.O., S. 148. Er führt z. B. aus, daß internationale Besatzungen, din audi ein internationales Bewußtsein entwickelten — was ja offiziell erwünscht war —, das Problem der Kontrolle sehr erschweren könnten. 22 Berichtet in: NYT, 11. April 1964. » Vgl. NYT, 27. April und 18. November 1964. 24 Buchan, The Multilateral Force, a.a.O., S. 10. Die entscheidenden politisdien Probleme wurden allerdings nicht untersucht, nämlidi die Frage der Kontrolle und der
176
II. Kapitel. MLF: Höhepunkt und Ende
Im Frühjahr 1964 war somit offenkundig, daß die Vereinigten Staaten entschlossen waren, die Verwirklichung der M L F voranzutreiben; und es schien, daß Washington eine Einigung bis spätestens Dezember 1964 wünschte. Diese Eile hatte wahrscheinlich zwei Gründe. Der eine war, daß, wenn der MLF-Vertrag nicht Anfang 1965 dem Deutschen Bundestag vorgelegt würde, der Ratifikationsvorgang möglicherweise nicht vor den Wahlen im September 1965 abgeschlossen werden könnte. Damit würde sich die Ratifikation vielleicht bis 1966 verzögern oder, was noch bedenklicher schien, dem sich verschärfenden Streit zwischen „Atlantikern" und „Gaullisten" innerhalb der C D U / C S U zum Opfer fallen. 25 Ein Grund war, daß die Abrüstungsverhandlungen mit der Sowjetunion in der Genfer Abrüstungskonferenz (Eighteen-Nation-DisarmamentCommittee: E N D C ) vor allem deshalb stockten, weil die Sowjetunion den Standpunkt vertrat, eine multilaterale NATO-Streitmadit bedeute eine Verbreitung von Kernwaffen, und Fortschritte auf dem Weg zu einem Nichtverbreitungsvertrag seien nur zu erzielen, wenn dieser Plan aufgegeben werde." Präsident Johnson allerdings war entgegengesetzter Meinung. Seiner Überzeugung nach mußte man der Bundesrepublik irgendeine Form von nuklearer Mitwirkung gewähren, da sonst zu erwarten sei, daß sie eines Tages nach eigenen Kernwaffen streben würde. 17 Insofern betrachtete die amerikanische Regierung die M L F sogar als eine Maßnahme gegen die Verbreitung von Kernwaffen. Außerdem, so meinten die amerikanischen Befürworter des Projekts, wenn die M L F erst einmal existiere, würde die Sowjetunion sich schon mit ihr abfinden — ähnlich wie sie sich auch mit der N A T O und der E W G habe abfinden müssen. So erhielt die M L F schließlich den höchsten Vorrang in der amerikanischen Politik. Nach Erhards Besuch in Washington Anfang Juni 1964 langfristigen Entwicklung der Streitmacht; vgl. dazu Kissinger, The Troubled Partnership, a.a.O., S. 127 ff. 2 5 Die Auseinandersetzung innerhalb der CDU/CSU war in der Tat die entscheidende Auseinandersetzung; die SPD hatte sich entschlossen, die MLF als eine „zweitbeste" Lösung (nach der Mitplanung) zu unterstützen. Vgl. unten, S. 225 f.; ferner Besson, Die Außenpolitik der Bundesrepublik, a.a.O., S. 322—328. Budian weist darauf hin, daß die Vereinigten Staaten der innenpolitischen Lage in der Bundesrepublik Priorität über die Lage in Großbritannien einräumten: Eine Entscheidung bis zum Dezember 1964 hätte der zum erstenmal seit zwölf Jahren wieder regierenden Labour Party nur zwei bis drei Monate gestattet, um sich zu entschließen; Buchan, The Multilateral Force, a.a.O., S. 10. 2 6 Nach Abschluß des Teststopp-Vertrags war die Frage der Nichtverbreitung von Kernwaffen auf die Tagesordnung gesetzt worden. Vgl. die ausführliche Erörterung der sowjetischen Haltung zur MLF unten, S. 204 ff. « Vgl. oben, S. 151.
Α. Der
Höhepunkt
177
stimmten Kanzler und Präsident „darin überein, daß die geplante multilaterale Streitmacht (die) militärische und politische Stärke (des Bündnisses) bedeutend erhöhen würde und daß weiterhin alle Anstrengungen unternommen werden sollten, um zum Ende dieses Jahres ein Abkommen zur Unterzeichnung fertigzustellen." 28 Am 18. Juni wurde in Paris, wenig beachtet, von allen NATO-Mitgliedern ein „Abkommen über Zusammenarbeit auf dem Gebiet der atomaren Information" unterzeichnet.29 Dieser Vertrag enthielt sorgfältige und eindeutige Vorkehrungen gegen die Verbreitung von Informationen, die nicht-nuklearen Staaten die Entwicklung von Kernwaffen erleichtern konnten. Zugleich wurde er aber als ein Schritt auf dem Wege zur gemeinsamen Nuklearstreitmacht angesehen, da er eine stärkere Mitwirkung bei der Planung der Zielgebiete und die Ausbildung von Raketen-Bedienungsmannschaften an amerikanischen Waffensystemen ermöglichte.30 Am 2. Oktober besprach der deutsche NATO-Botschafter Wilhelm Grewe mit Außenminister Rusk in Washington Probleme der MLF. Anschließend erklärte ein Sprecher des State Department, die Vereinigten Staaten hofften zuversichtlich, daß ein Abkommen über die MLF vor Jahresende geschlossen werden könne.31 Dann, am 6. Oktober 1964, erklärte Bundeskanzler Erhard auf einer Pressekonferenz in Berlin, die Bundesrepublik sei bereit, audi mit den Vereinigten Staaten allein den Aufbau der Streitmacht in Angriff zu nehmen.32 Es ist nicht klar, wie weit es dem Einfluß der „Eiferer" 33 im State Department zuzuschreiben war, daß die Bundesregierung annehmen konnte, die USA wollten unter allen Umständen bald zu einem Vertrag über die MLF kommen und wären daher bereit, auch mit der Bundesrepublik bilateral vorzugehen.' 4 Nach offizieller Auffassung 28
Bulletin, Nr. 94,16. Juni 1964, S. 865. » Text in: EA 1/1965, S. D 18—21. 30 Vgl. den Bericht in: Welt, 1. Juli 1964. 31 Vgl. Berichte in: NZZ, 4. und 8. Oktober 1964. 32 Welt, NYT, 7. Oktober 1964; vgl. audi den Kommentar dazu von Kurt Becker, Welt, 8. Oktober 1964. 33 So nannte Sulzberger sie, vgl. ζ. B. NYT, 18. November 1964. Cleveland weist allerdings darauf hin, daß man Konzept und Politik der MLF nicht allein dieser »Clique" im State Department zuschreiben dürfe: Der Plan gehörte zur amtlichen Politik der Vereinigten Staaten; vgl. Cleveland, NATO — The Transatlantic Bargain, a.a.O., S. 48. 34 Budian (The Multilateral Force, a.a.O., S. 10) möchte diese Möglichkeit nicht ausschließen und Sulzberger (NYT, 14. Oktober 1964) meint, das Vorgehen sei beabsichtigt gewesen, um die Zusage Großbritanniens zu besdileunigen. 2
12 Mahndce
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II. Kapitel. MLF: Höhepunkt und Ende
allerdings sollte die MLF wirklich multilateral und nicht im Effekt ein bilaterales Arrangement zwischen der Bundesrepublik und den Vereinigten Staaten sein. Nodi wenige Tage zuvor war im offiziellen Kommunique zum Abschluß der Gespräche zwischen Rusk und Grewe betont worden, daß „volle Übereinstimmung zwischen der deutschen und der amerikanischen Auffassung über den multilateralen Charakter der MLF und über den Zeitplan ihrer Verwirklichung" erzielt worden sei.*5 Unter Umständen war Erhards Äußerung ein Versuchsballon angesichts des missionarischen Eifers, mit dem das Projekt im amerikanischen Außenministerium verfolgt wurde. Wahrscheinlicher ist jedoch, daß Erhard der durdi die Wahlkampagne etwas ins Stocken gekommenen amerikanischen Politik einen neuen Impuls geben wollte, indem er nachdrücklich dokumentierte, daß die Bundesrepublik an dem Projekt interessiert und zu seiner Realisierung bereit wäre. Bisher war von deutscher Seite immer betont worden, daß die MLF multilateral sein müsse, um ihre Ziele wirklich erreichen zu können." Und als sich das offizielle Washington dann der Anregung Erhards gegenüber höchst reserviert zeigte — ein Sprecher des Außenministeriums erklärte rundheraus, die Vereinigten Staaten seien im Augenblick zu einem bilateralen Vorgehen nicht bereit" —, da wiesen Regierungsvertreter in Bonn rasch darauf hin, daß die Bundesregierung die MLF als ein multilaterales Projekt betrachte.®9 Am 15. Oktober würdigte Bundeskanzler Erhard im Bundestag die Fortschritte, die in den Acht-Mächte-Diskussionen in Washington und Paris gemacht worden seien; er Schloß: „Diese Verhandlungen haben zu einer Klärung der meisten Sachfragen und zu einer weitgehenden Ubereinstimmung geführt. Der Stand der Arbeiten berechtigt zu der Hoffnung, daß bis Ende dieses Jahres ein unterschriftsreicher Vertrag über die Gründung der MLF erarbeitet werden kann." 3 "
35
Vgl. Beridite in: NZZ, 4. und 8. Oktober 1964.
" Vgl. das Interview Erhards mit CBS („Face the Nation") vom 1. November 1963, abgedruckt in: Bulletin, Nr. 195, 5. November 1963 und die Pressekonferenz Erhards vom 3. November 1963, ebd., Nr. 215, 6. Dezember 1963, S. 1909. S7
N Y T , Welt, 8. Oktober 1964; vgl. audi die Pressekonferenz von Außenminister Rusk, Welt, 9. Oktober 1964.
38
Grewe und Hassel; vgl. N Y T , 8. und 9. Oktober, Welt, 8., 9. und 10. Oktober und NZZ, 11. Oktober 1964.
89
Deutscher Bundestag, Stenographische Berichte, 15. Oktober 1964, S. 6785.
Β. Das Ende
179
Β. Das Ende Die klare deutsche Unterstützung des MLF-Projekts und besonders die Andeutung, daß ein bilaterales deutsch-amerikanisches Unternehmen nicht undenkbar sei, zielten darauf ab, andere zur Kooperation zu bewegen; sie hatten aber genau die gegenteilige Wirkung. Sie riefen jene Opposition auf den Plan, die schließlich das Projekt zu Fall brachte, nämlich den britischen, den französischen und den Widerstand innerhalb der Bundesrepublik.40 Die sowjetische Opposition, die von den allerersten Anfängen des MLF-Konzepts an eindeutig gewesen war41, spielte in diesem Stadium nur eine indirekte Rolle, nämlich insofern, als sie die Engländer beeinflußte und die Franzosen bereit waren, sidhi ihrer zu Beeinflussung der Deutschen zu bedienen. Für sich genommen, war ihre Bedeutung minimal; sie wäre damals schwerlich imstande gewesen, Washington und Bonn in der Verfolgung des MLF-Projekts aufzuhalten.42 Dadurch aber, daß die Verwirklichung der MLF durch die britische, französische und deutsche Opposition hinausgezögert wurde, erhielt der sowjetische Widerstand Gelegenheit, sich voll und direkt auch auf die Vereinigten Staaten auszuwirken. 1. D e r W i d e r s t a n d
Großbritanniens
Schon 1963, noch unter der konservativen Regierung, hatte Großbritannien ein ausgeprägtes Widerstreben gegen die MLF an den Tag gelegt.43 Die britische Politik zu jener Zeit war zweideutig: Premierminister Macmillan erklärte sich zwar zur Teilnahme an den Vorgesprächen bereit, machte aber keine Zusage in bezug auf das vorgelegte Projekt. Bereits im Sommer 1964 — die Konservativen waren noch am Ruder — kamen die ersten Andeutungen, daß Großbritannien es vorziehen würde, eine NATO-Nuklearstreitmacht auf der Basis der Langstreckenbomber und Raketen aufzubauen, die in Europa schon in Dienst 40
Diese Ereignisse zeigen beispielhaft, wie begrenzt der Spielraum der Bundesrepublik — selbst im kollektiven Rahmen — war und wie negativ sich selbst eine vorsichtige Initiative auwirken konnte. Eine „energischere" Politik, so wie sie von manchen empfohlen wurde (vgl. Lothar Ruehl, Welt, 2. September 1965) hätte große Schwierigkeiten mit sich gebracht.
41 42
Ausführlich unten, S. 2 0 4 ff. Im Oktober 1964 schrieb Buchan: „ . . . die Sowjetunion ist erst kürzlich ein Partner in der Debatte geworden und hat auch jetzt noch nicht ihr volles diplomatisches Gewicht eingesetzt." (The Multilateral Force, a.a.O., S. 13.)
43
12*
Vgl. oben, S. 170 ff.
180
II. Kapitel. MLF: Höhepunkt und Ende
gestellt oder vorgesehen waren. 44 Den Anstoß zu diesen Vorschlägen gaben hauptsächlich Militärkreise und das Verteidigungsministerium in London. Die Opposition gegen das multilaterale Projekt fußte teils auf Einwänden der Marine gegen eine große Flotte von Uberwasserschiffen45, teils auf Zweifeln, ob Großbritannien in der Lage sein würde, neben seinen eigenen Vorhaben sich in nennenswertem Umfang finanziell an der MLF zu beteiligen. Das britische Außenministerium war ursprünglich der Meinung gewesen, eine Teilnahme an der MLF sei notwendig, um Großbritannien von Anfang an eine Mitsprache zu sichern (Großbritannien wollte nicht wieder ausgeschlossen bleiben, so wie es sich von der E W G ausgeschlossen fühlte); aber nach und nach wurde klar, daß diese Mitspräche wegen der angespannten britischen Finanzlage ziemlich unbedeutend sein würde. Wenn hingegen Großbritannien seine eigenen nuklearen Luftstreitkräfte (V-Bomber und die TSR-2) und Seestreitkräfte (Polaris-U-Boote), die es ohnehin entwickelte, in eine gemeinsame Streitmacht einbrachte und damit möglicherweise die relative Bedeutung der multilateralen Komponente verringerte, konnte es seinen Einfluß ohne zusätzliche Kosten beträchtlich erhöhen. Als die Labour Party im Oktober 1964 die Wahlen gewann, hatte sie somit wohlvorbereitete Argumente zur Hand. Die Labour-Regierung (unter dem neuen Premierminister Harold Wilson) setzte jedoch den Akzent anders: Ihr ging es nicht darum, das MLF-Projekt zu modifizieren, sondern es zu Fall zu bringen. Das war schon der Wahlkampagne der Labour Party zu entnehmen, in der sie die Schaffung einer MLF unzweideutig bekämpft hatte, und zwar mit deutlichen antideutschen Tönen.46 Die Labour Party besaß einen starken Flügel, der der Bundesrepublik grundsätzlich kritisch gegenüberstand und in der MLF jene „Hintertür" zu sehen glaubte, durch die sie sich Zugang zu Kernwaffen zu verschaffen hoffte. Dem wollte sich die Partei energisch widersetzen. Daneben führte sie aber zwei andere Faktoren ins Feld: das britische Verhältnis zur Sowjetunion und die Rüstungskontrollverhandlungen einerseits und das britische Verhältnis zu den Vereinigten Staaten andererseits. Beiden Faktoren maß die Labour Party hohe Bedeutung
44
Vgl. Budian, The Multilateral Force, a.a.O., S. 10 f.; ferner die Berichte der N Y T , 23. Juni, und N Z Z , 4. Juli 1964. Der britische Bomber T S R - 2 befand sich noch in der Entwicklungsphase, was einen Grund für die deutsche Skeptik darstellte.
45
So Budian, The Multilateral Force, a.a.O., S. 11.
46
Vgl. die Beschreibungen des Labour Kongresses von 1963 und Wilsons Einstellung in: Hinterhoff, M L F oder A N F , a.a.O., S. 189.
Β. Das Ende
181
bei.47 Sie fürchtete, die sowjetische Reaktion auf die MLF könnte die Hoffnungen auf eine fortschreitende Entspannung schmälern oder zunichtemachen, ganz abgesehen davon, daß das Projekt die Verhandlungen über einen Atomsperrvertrag in Genf beeinträchtigen würde.48 Die Labour Party machte sich offensichtlich Sorgen, daß das britisdiamerikanische „special relationship" durch die Zusammenarbeit und anscheinend weitgehende Ubereinstimmung zwischen der Bundesrepublik und den USA in Sachen MLF verdrängt werden könnte. Deshalb konnte die Labour-Regierung nicht untätig einer Entwicklung zusehen, der die Vereinigten Staaten großes Gewicht beilegten; sie konnte aber aus dem gleichen Grunde die MLF auch nicht kategorisch ablehnen. Der Ausweg war ein geschicktes Manöver: Sie schlug eine Alternative vor, wodurch sich die Verwirklichung des MLF-Projekts so lange hinauszögern würde, bis es zu Fall gebracht werden konnte.49 Obwohl Regierungsvertreter in Bonn und im amerikanischen Außenministerium sofort Besorgnis über die britische Haltung zeigten, wurde dieses Manöver weithin fehlgedeutet. Vor allem in Frankreich wurde es mißverstanden, was sich als mitentscheidend für den Ausgang des Projekts erweisen sollte. Dort hielt man es für eine edite Alternative, einen Kompromiß, der Großbritannien die Teilnahme an der Streitmacht ermöglichen sollte und der daher ein nukleares Arrangement der Alliierten erleichtern konnte. Diese Interpretation ist durchaus verständlich. Zunächst einmal kann nicht gesagt werden, die britische Regierung habe ganz und gar unaufrichtig gehandelt. Ihr Alternativvorschlag sah eine gemeinsame Streitmacht vor, die aus den existierenden nuklearen Komponenten und — falls absolut nötig — aus einem stark reduzierten multilateralen Element bestehen sollte. Eine solche Streitmadit (für die sich die Bezeichnung „Atlantic Nuclear Force", ANF, einbürgerte) war für die Engländer eher annehmbar als die MLF, wenn audi Großbritannien als eine eng mit den USA verbundene Nuklearmacht im Grunde weder Bedarf nodi Interesse an ihr hatte. In einer derartigen Streitmacht konnte Großbritannien ohne Mehrkosten eine führende 47
48
Das wird deutlich aus der frühzeitigen Ernennung von Alun Gwynne-Jones, später Lord Chalfont, zum britisdien Staatsminister für Abrüstung und den Besuchen des britischen Außenministers Gordon Walker und Premierministers Wilson in Washington. Vgl. die Beschreibung Hinterhoffs über die Einstellung der Labour Party zur Sowjetunion, MLF oder A N F , a.a.O., S. 181 ff. Vgl. Buchan, The Multilateral Force, a.a.O., S. 11; ferner Theo Sommer, Sicherheit — Entspannung — Abrüstung in Europa, in: Europa und die deutsche Frage, Berlin 1966, S. 52 und Ruge, Strategie und Politik, a.a.O., S. 191—195.
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Position einnehmen (nämlich die zweite nach den Vereinigten Staaten); entsprechend weniger würden die Deutschen mitzureden haben, was sowjetischen Einwänden entgegenkäme.50 Zugleich konnte Labour damit das Wahlversprechen einlösen, das Nassauer Abkommen zu überprüfen (durch das die Konservativen die selbständige britische Abschreckungsmacht hatten aufrechterhalten wollen) und der Bundesrepublik ein möglichst geringes Maß an nuklearer Mitspradie einzuräumen.51 Es war also leicht, die Grundmotive der neuen britischen Regierung mißzuverstehen: Die A N F erfüllte tatsächlich ein Wahlversprechen, und sie war tatsächlich für Großbritannien annehmbar, falls die Vereinigten Staaten auf einem gemeinsamen nuklearen Arrangement mit der Bundesrepublik beharrten. Trotzdem war es merkwürdig, daß die Regierung nach mehreren Andeutungen über den Plan bis in den Dezember 1964 hinein über die Details ihres Alternativvorschlages diplomatisches Schweigen bewahrte.52 In dieser Zeit, von Oktober bis Dezember, legte sie den Akzent auf das multinationale Konzept, hob die Notwendigkeit eines amerikanischen und eines entsprechenden britischen Vetos hervor und griff mehrfach die MLF an.53 Und als Premierminister Wilson im Dezember schließlich die Einzelheiten des britischen ANF-Vorschlags bekanntgab — die Streitmacht sollte folgende Bestandteile umfassen: die britische V-Bomber-Flotte (außer einer ungenannten Zahl von Flugzeugen, die für außereuropäische Verpflichtungen gebraucht wurden), drei bis vier britische Polaris-U-Boote und die gleiche Zahl amerikanischer U-Boote, schließlich eine in Gemeinbesitz befindliche Komponente mit gemischter Bemannung, an der sich die nichtnuklearen Staaten beteiligen könnten — , zeigte er äußerste Reserve bezüglich des dritten, multilateralen Elements.54 Der britische Vorschlag rief zwei bedeutsame Wirkungen hervor, eine beabsichtigte und eine unvorhergesehene: E r verzögerte die Realisierung 50
51 52 53
54
Damit wären aber andere und wichtigere sowjetische Einwände nicht getroffen worden; vgl. unten, S. 208 f. Vgl. dazu Welt, 30. Oktober und NYT, 31. Oktober 1964. Vgl. dazu Welt, 7. Oktober und NYT, 24. und 25. Oktober 1964. Premierminister Wilson erklärte am 24. November 1964 vor dem britischen Unterhaus, er halte die „Europäisierung" der MLF und die Aufgabe des amerikanischen Vetos zu einem späteren Zeitpunkt für gefährlich. Das Konzept der „gemischten Mannschaften" für die MLF hielt er für wenig sinnvoll; zudem würde es die Aussichten auf Ost-West-Vereinbarungen verringern. Die politische Führung in Bonn reagierte verärgert auf diese Bemerkungen, vgl. unten, S. 188 f. Berichte über Wilsons Bekanntgabe des ANF-Plans in: N Y T und Welt, 17. Dezember 1964; vgl. dazu auch Hinterhoff, MLF oder ANF, a.a.O., S. 189.
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des MLF-Projekts, und er brachte eine vehemente französische Opposition gegen die M L F ans Tageslicht. Die USA waren bereit, eine Verzögerung in Kauf zu nehmen, wenn sich dadurch die Möglichkeit eröffnete, daß Großbritannien einem — eventuell modifizierten — nuklearen Arrangement beitrat, dem sich dann wahrscheinlich mehrere andere Staaten, wie Italien und die Niederlande, anschließen würden. Für Frankreich hingegen brachte eben diese Möglichkeit das M L F Projekt der Verwirklichung näher, an die man in Paris bisher nicht geglaubt hatte, und deshalb rief sie den energischen Widerstand der französischen Regierung wach. 2. D e r
Widerstand
Frankreichs
Als das MLF-Projekt erstmals zur Diskussion gestellt wurde, sahen die Franzosen es als eine Idee, die kaum eine Chance der Realisierung besaß.55 Es fiel ihnen daher leicht, sich so zu verhalten, wie es ein nach deutscher Meinung bestehendes „gentlemen's agreement" verlangte: Die Bundesrepublik würde die französischen Gründe für die „Force de frappe" respektieren, und Frankreich würde die für die Bundesrepublik maßgebenden anderen Verhältnisse respektieren und ihrer Zustimmung zur M L F Verständnis entgegenbringen. Auf die Frage, welchen Einfluß die Schaffung der M L F auf die französisch-deutschen Beziehungen haben werde, konnte Bundeskanzler Erhard am 4. Oktober 1964 noch antworten: „Aus deutscher Sicht und im Hinblick auf den verfolgten Verteidigungszweck vermag ich nicht zu erkennen, inwiefern die deutsche Mitwirkung an der M L F negative Auswirkungen auf das deutschfranzösische Verhältnis haben könnte. General de Gaulle hat immer anerkannt, daß die Bundesrepublik in dieser Frage von anderen Voraussetzungen ausgehen müsse als Frankreich." 58 Dann aber kam der Machtantritt der Labour Party in Großbritannien. Ihre Wahlkampagne mochte den Eindruck erweckt haben, ein LabourWahlsieg bedeute das sichere Ende der M L F . Die neue Regierung lehnte jedoch die M L F nicht rundweg ab, sondern schien vielmehr andeuten zu wollen, daß sie zur Teilnahme an einer gemeinsamen Nuklearstreitmacht bereit sei, falls bestimmte Bedingungen revidiert würden. Die Vereinigten Staaten waren damit einverstanden, die Diskussionen noch um ein paar Wochen zu verschieben, damit die neue britische Regierung 55 56
Vgl. ζ. B. die Analyse von Drew Middleton, N Y T , 11. November 1964. Interview mit der Rundschau am Sonntag, abgedruckt in: Bulletin, Nr. 150, 7. Oktober 1964, S. 1384.
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in Ruhe die Lage überprüfen konnte. Von diesem Augenblick an wurde die französische Opposition sichtbar härter. 57 In französischen Augen schien die M L F nicht nur der Verwirklichung näher denn je zuvor; in revidierter Form mochte sie sogar Großbritannien indirekten Zugang zu jenem Europa verschaffen, von dem es Präsident de Gaulle keine zwölf Monate zuvor ausgeschlossen hatte, und außerdem eine besondere Verbindung zwischen Großbritannien und der Bundesrepublik herstellen.5" Ironischerweise versteifte sich der französische Widerstand gegen die M L F wegen eines britischen Vorschlags, der in Wirklichkeit den Zweck verfolgte, das Projekt zu Fall zu bringen. So begann die französische Regierung nicht lange nach den britischen Wahlen, in Washington Einspruch gegen die M L F zu erheben, insbesondere gegen die Teilnahme der Bundesrepublik, die sich dadurch von ihren kontinentaleuropäischen Verbündeten entferne.59 Es ist nebensächlich, ob diese Proteste offiziellen Charakter hatten oder nicht; sicher ist, daß sie vorgebracht wurden. Die französische Botschaft in Washington erklärte, sie habe keinen Protest übermittelt, sondern lediglich „französische Zweifel dargelegt". 80 Auch die amerikanische Seite dementierte eine französische Demarche, jedoch wurde nicht verhehlt, daß französische Diplomaten der amerikanischen Regierung wiederholt die französische Besorgnis über die Beteiligung der Bundesrepublik dargelegt hatten. 61 Ein Hauptgrund für die verstärkte Opposition Frankreichs, so wurde aus Washington berichtet, sei darin zu sehen, daß das MLFProjekt festere Formen annehme.*2 57
58
58
Vgl. dazu z. B. den Bericht der N Y T , 16. November 1964; vgl. ferner Baumann, Die Bundesrepublik als NATO-Partner, a.a.O., S. 67. Vgl. dazu die Berichte und Kommentare der Welt, 31. Oktober und The Sunday Times, 8. November 1964; ferner Alain Jacob, L'Angleterre travailliste regrouperait volontiers autour d'elle une Europe qu'abandonnerait la France, in: Le Monde, 19. November 1964. Vgl. N Z Z , 31. Oktober 1964. Der Wechsel in der französischen Haltung wird durch zwei Bemerkungen des UNR-Generalsekretärs Jacques Baumel charakterisiert: Auf einem Treffen der W E U im Dezember 1963 nannte er die M L F „politisch unrealistisch" (Assembly of Western European Union, Proceedings, 9th Ordinary Session, Second Part, IV, Dezember 1963, S. 141), ein Jahr später nannte er sie „politisch gefährlich" (Le Monde, 17. November 1964). Eine gute Übersicht über die französische Haltung ist zu finden bei Jacques Vernant, Washington, Londres, Paris et la M L F , in: Revue de Défense Nationale, Bd. 20, S. 1981—1987.
Vgl. Bericht der Welt, 31. Oktober 1964 und die ausführliche Erörterung bei Baumann, Die Bundesrepublik als NATO-Partner, a.a.O., S. 67. " Vgl. ebd. « Vgl. ebd.
60
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Bei der Untersuchung des französischen Widerstands gegen die MLF muß unterschieden werden zwischen den Gründen für den Widerstand, den für die Öffentlichkeit bestimmten Argumenten und den Drohungen. Die beiden wichtigsten Gründe — von denen man keinen öffentlichen Gebrauch machen konnte — waren diese: Präsident de Gaulle hielt es f ü r gefährlich, wenn die Bundesrepublik Zugang zu Kernwaffen gewänne (nicht nur wegen der deutschen Vergangenheit, sondern auch wegen der Unzufriedenheit der Deutschen mit dem Status quo), und er sah darin einen Nachteil für Frankreich. Der französische Präsident wollte auf dem Kontinent keine Rivalin der französischen Nuklearstreitmacht haben, weder eine britische noch eine deutsche. Unterstützte die Bundesrepublik die MLF, weil sie in ihr eine Chance sah, die französische nationale Streitmacht zu neutralisieren und den gleichen Status wie Frankreich zu gewinnen, so war Präsident de Gaulle aus diesem Grunde gegen sie. Unterstützte die Bundesrepublik die MLF, weil sie von ihr eine Stärkung der Bande zwischen Amerika und Europa erwartete, so bekämpfte de Gaulle sie aus eben diesem Grunde. 63 In einer Rede in Straßburg am 22. November 1964 warnte de Gaulle die Bundesrepublik, sich allzu eng an Washington zu binden: Die Amerikaner seien gegenüber Europa zwar freundschaftlich gesinnt, aber sie lebten in einer anderen Welt und hätten andere Interessen. Bänden sich die Deutschen an die Vereinigten Staaten, so würden sie lediglich zu „Hilfstruppen" der Amerikaner." 4 In diesen Wochen führten französische Zeitungen und Politiker eine hektische Kampagne gegen die MLF. Die Hauptthese lautete: Die MLF würde die amerikanische Vorherrschaft in Europa sichern, während ein wahrhaft geeintes und unabhängiges Europa nur entstehen könne, wenn der amerikanische Einfluß ferngehalten werde."5 Am 2. November nannte La Nation die MLF ein „Militärbündnis Washington—Bonn" und eine von den USA gelenkte atlantische Allianz, die eine europäische Verteidigungskonzeption ausschließe. Einen Tag später forderte Premierminister Georges Pompidou eine von der amerikanischen unterschiedene europäische Verteidigungspolitik („zu einem Dialog gehören zwei, sonst ist es ein Monolog") und sagte negative Auswirkungen der MLF auf „die wahre europäische Einheit" voraus." Am 16. November forderte Jacques Baumel, der Generalsekretär der gaullistischen Partei U N R , ein «» Vgl. ebd. 64
Le Monde, 23. November 1964. ®5 Vgl. Vernant, Washington, Londres, Paris et la MLF, a.a.O. M Vgl. Berichte in: Le Monde, NYT, Welt, 4. November 1964.
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Europa mit gemeinsamer Verteidigungs-, Außen- und Wirtschaftspolitik, das nicht von außen beherrscht werde. Baumel schlug noch ein zweites Thema an, von dem er erwartete, daß die Bundesrepublik empfindlich darauf reagieren würde: Die deutsche Teilnahme an der MLF, so erklärte er, werde in der Sowjetunion und in Osteuropa so heftige Reaktionen hervorrufen, daß sich nicht nur die Sicherheit der Bundesrepublik faktisch vermindern werde, sondern Bonn auch jede Hoffnung auf Wiedervereinigung fahren lassen könne.' 7 Die Franzosen hielten auch nicht mit Andeutungen zurück, was sie tun würden, wenn es zur Gründung der MLF käme. In Ost und West, in offenen Drohungen und sorgfältig in die Welt gesetzten Gerüchten — überall spürte man die Hand Charles de Gaulles, eines Meisters in der Kunst der „Drohdiplomatie". Besonders gründlich nutzten die Franzosen den deutschen Alptraum einer französisch-sowjetischen Zusammenarbeit gegen Deutschland aus: Sie deuteten an, die gemeinsame Opposition gegen die MLF könne zu einem engeren Zusammenrücken Frankreichs und der Sowjetunion führen.*8 Ein außerordentlich herzlich gehaltenes Telegramm de Gaulles an Mikojan zum vierzigsten Jahrestag der Anerkennung des Sowjetregimes durch Frankreich erregte den Argwohn der Deutschen ebenso wie die gleichzeitige Gewährung langfristiger Kredite.8" Ob das Zusammentreffen zufällig oder beabsichtigt war, ist nicht zu sagen; jedenfalls paßte es den Franzosen in ihr Konzept, und sie nutzten die Bestürzung der Deutschen aus. Darüber hinaus drohte de Gaulle, die N A T O zu verlassen, eine Drohung, die am stärksten in amerikanischen und deutschen Militärkreisen einschlug. (Keine zwei Jahre später schied Frankreich dann — auch ohne daß die MLF zustandegekommen war — aus der militärischen Organisation der 67
68
Bericht in: Le Monde, 17. November 1964. Zwei Monate später untermauerte die Sowjetunion ihrerseits diese These: Im Kommuniquá über die Tagung des Politischen Beratenden Ausschusses des Warschauer Pakts in Warschau (19.—20. Januar 1965) wurde erklärt, daß eine Beteiligung der Bundesrepublik an der MLF die Aufgabe des Ziels der Wiedervereinigung der „beiden souveränen deutschen Staaten" bedeute; vgl. Text in: EA 5/1965, S. D 108—111. Nach Presseberichten verwies de Gaulle audi nachdrücklich auf diesen Zusammenhang anläßlich seines Treffens mit Bundeskanzler Erhard in Rambouillet; vgl. NYT, 19. Januar 1964. Vgl. zur französischen Haltung ferner W. W. Kulski, De Gaulle and the World, The Foreign Policy of the Fifth French Republic, Syracuse 1966, S. 144 ff. Vgl. Le Monde, 28. Oktober und NYT, 29. Oktober 1964, in denen über diese Gerüchte berichtet wird. Vgl. Welt, 31. Oktober und 4. November 1964; auch Le Monde, 1./2. November 1964. Der Titel des Leitartikels der Welt vom 4. November ist — fast beschwörend, so will es scheinen —: „De Gaulle plant keine Umkehr der Bündnisse".
Β. Das Ende
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N A T O aus.) D e Gaulle erklärte, der deutsch-französische Vertrag sei gefährdet, und er deutete sogar die Möglichkeit eines Austritts aus der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft an. 70 Anfang November wurde aus Paris berichtet, Präsident de Gaulle habe Regierungsstellen angewiesen, zu untersuchen, wie sich für Frankreich ein Ausscheiden aus dem nordatlantisdien Bündnis und eine inaktive Rolle im europäischen Gemeinsamen M a r k t auswirken würden. 71 Und schließlich sagte Georges Parlementaire: Pompidou in einer Rede vor der Association de la Presse „Wir gehen nicht von der Arbeitshypothese aus, das atlantische Bündnis zu verlassen . . . Wenn die multilaterale Streitmacht zur Schaffung einer erstrangigen deutsch-amerikanischen Militärallianz führen sollte, so wäre das unvereinbar mit dem französisch-deutschen Vertrag und mit der Notwendigkeit einer europäischen Verteidigungspolitik . . . Wir fragen uns, ob ein solches Projekt, eine solche multilaterale Streitmacht nicht destruktiv auf Europa und provozierend auf andere Länder wirkt und ob sie nicht letzten Endes mehr oder weniger gegen Frankreich gerichtet ist." 72 Zusammenfassend läßt sich also sagen: Die französischen Vorbehalte gegen die M L F , zunächst in die Form schweigenden Beobaditens gekleidet, wurden zu öffentlicher Opposition, als — hauptsächlich auf Grund der scheinbaren britischen Bereitschaft zu einer Kompromißlösung — der Eindruck entstand, das Projekt stehe dicht vor seiner Realisierung. Die Franzosen zögerten nicht, jedes verfügbare Argument in die Debatte zu werfen. Doch vor allem bedienten sie sich zweier Thesen: Erstens werde die M L F die amerikanische Vorherrschaft sichern und die westeuropäische Einheit verhindern; zum anderen werde sie bestimmt die Aussichten auf eine Wiedervereinigung Deutschlands zuniditemachen und vielleicht sogar Frankreich zu einer engeren Zusammenarbeit mit der Sowjetunion veranlassen. Diese beiden Thesen hatten denn auch eine durchschlagende Wirkung in Bonn. 3. D e r w a c h s e n d e Widerstand in der B u n d e s r e p u b l i k Bei der Untersuchung der deutschen Reaktionen auf die neuen britischen Vorschläge und auf die verstärkte französische Opposition ist zu 70
71 72
Vgl. Welt, 31. Oktober, Le Monde, 3. November, und N Y T , 16. November 1964; ferner HinterhofF, MLF oder ANF, a.a.O., S. 187 und Vernant, Washington, Londres, Paris et la MLF, a.a.O., S. 1987. Vgl. N Y T , 3. und 14. November 1964. Le Monde, 6. November 1964.
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unterscheiden zwischen den innenpolitischen Vorgängen in der Bundesrepublik und der offiziellen Reaktion der Bundesregierung. Die offizielle Haltung war gekennzeichnet durch eine Mischung aus ungebrochenem Optimismus und Besorgnis über die von der britischen Politik offenbar erzwungene Verzögerung.73 Offiziell wurde der Standpunkt vertreten, man müsse eine Verzögerung in den Verhandlungen in Kauf nehmen, um die britischen Vorschläge prüfen zu können.74 Dessenungeaditet betonte die Regierung, daß sie trotz der französischen Opposition am MLF-Projekt festhalte und daß der ursprüngliche Zeitplan so weit wie möglich eingehalten werden solle.75 Es wurde sogar darauf hingewiesen, daß einer modifizierten MLF gemäß den britischen Vorschlägen vielleicht auch Frankreich beitreten werde.76 Verärgert reagierte man in Bonn lediglich auf eine Rede des britischen Premierministers im Unterhaus am 23. November 1964.77 Wilson hatte die MLF mit der Bemer73 74 75
76
77
Vgl. ζ. B. die Analyse in der N Z Z , 31. Oktober 1964. Vgl. den Kommentar der NYT, 11. November 1964. Der ursprüngliche Zeitplan hatte die Vorlage eines Vertragsentwurfs bis Dezember 1964 vorgesehen; dieses Vorhaben wurde jetzt auf das Frühjahr 1965 verschoben (vgl. dazu die Bemerkungen Schröders und Hassels anläßlich ihrer Besudle in London, Welt, 12., 15., 16. und 18./19. November und NYT, 14. und 15. November 1964). Nach einem Besuch in Washington erklärte Hassel in einem Interview mit dem SAD, daß seine amerikanischen Gesprächspartner und er der übereinstimmenden Meinung seien, daß das Projekt „so bald wie möglich" verwirklicht werden sollte. Er betonte jedoch, daß diese Übereinstimmung mit den Vereinigten Staaten nicht dazu genutzt werden sollte, um Druck auf Frankreich auszuüben (in: Welt, 16. N o vember 1964). Im Schlufikommuniqué nadi den Besprechungen Schröders mit Rusk in Washington (Text in: Bulletin, Nr. 175, 1. Dezember 1964, S. 1623) stellten die beiden Minister „mit Befriedigung die Fortschritte der Arbeitsgruppe der acht Mächte in Paris bei der Ausarbeitung einer Satzung für die multilaterale Atomstreitmacht fest". Die Kontroverse um das Projekt, für das man „bald eine Einigung" erhoffte, spiegelte sich höchstens in dem Hinweis wider, daß sich „möglichst viele Bündnispartner" an dem Projekt beteiligen sollten. Auf die Angriffe des französischen Premierministers Pompidou reagierten amtlidie Stellen sowohl in Washington wie in Bonn mit der Einstellung, daß das nichts Neues sei und die amerikanische bzw. deutsche Unterstützung der MLF unvermindert fortbestehe (vgl. die Berichte der NYT, 6. und 7. November 1964). Charakteristisch für den Stand der Diskussion ist auch die „Empfehlung über die multilaterale Atomstreitmacht" der Zehnten Jahreskonferenz der NATO-Parlamentarier in Paris (16.—20. November 1964); Text in: EA 24/1964, S. D 635. Es gab jedoch Berichte, daß Verteidigungsminister von Hassel anläßlich seines Besuchs in Washington ernste Bedenken gegen den ANF-Plan geäußert hätte; vgl. Welt, 18./19. November 1964. Deutscher Text der Rede (Auszüge) in: EA 24/1964, S. D 625 f. Kurz nach dem Besuch des „pro-deutschen" Außenministers Patrick Gordon Walker schlug diese Rede natürlich besonders hart in Bonn ein.
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kung kritisiert, sie bringe „zu viele Finger an den Abzug". Darin sah die Bundesregierung den Ausdruck eines ungerechtfertigten Mißtrauens gegen die Bundesrepublik. Rainer Barzel, der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU, erklärte: „Wir sagen ganz offen, daß wir besorgt und beunruhigt sind."78 Und am 25. November sagte Regierungssprecher von Hase: „Die deutsche Presse hat die Enttäuschung über die jüngste britische Haltung zur MLF bereits durchblicken lassen. Als Sprecher der Bundesregierung sehe ich mich nicht in der Lage, diese Enttäuschung zu korrigieren." 78 Eine beschwichtigende Note von Patrick Gordon Walker, in der gesagt wurde, Wilsons Äußerung bedeute kein Abgehen von der bisherigen Politik (und das bedeutete sie ja wirklich nicht!), konnte die deutschen Sorgen nur wenig mildern.80 Nach der deutschen Auffassung, wie sie sich im Laufe des November/Dezember herausbildete81, war die ANF nur dann annehmbar, wenn — die Gesamtzahl der Raketen die gleiche wäre wie bei der vorgeschlagenen MLF (200); — der Hauptteil der Streitmacht aus OberwasserschifFen bestünde, wie es das MLF-Projekt vorsah; — das britische U-Boot-Kontingent gleichfalls eine gemischte Besatzung erhielte; — die Streitmacht dem Befehl von SACEUR unterstellt würde; — in Europa stationierte taktische Atomwaffen nicht dem nuklearen Kommando eingegliedert würden 8 '; — der Vertrag über die Schaffung der Streitmacht eine „europäische Klausel" enthielte, d. h. eine Bestimmung, wonach die Streitmacht im Falle der westeuropäischen Einigung zur Grundlage einer selbständigen europäischen Streitmacht werden könnte.83 78 n 80 81
Bericht in: Welt, 25. November 1964. Welt, 26. November 1964. Vgl. die Berichte in: N Y T und Welt, 26. November und Welt, 28. November 1964. Vgl. Welt, 11., 16., 18./19. November 1964.
82
Eine Trennung der atomaren von den konventionellen Streitkräften war für die Bundesrepublik unakzeptabel; vgl. die Rede Schröders vor dem NATO-Rat in Paris, abgedruckt in: Bulletin, Nr. 188, 19. Dezember 1964, S. 1723 ff.; vgl. auch oben, S. 97.
83
Obwohl Schröder sich nach seinem Besuch in London im Dezember optimistisch zeigte, hatte er keine substantiellen Zugeständnisse erreicht; vgl. die Berichte der N Y T und Welt, 14. Dezember und Welt, 15. Dezember 1964 und das Interview Schröders mit dem WDR, abgedruckt in: Bulletin, Nr. 186, 17. Dezember 1964, S. 1709 f. Vgl. hierzu auch das Rundfunkinterview des britischen Verteidigungsninisters vom 20. Dezember, Text (Auszüge) in: EA 3/1965, S. D 81—84.
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Mit der letzten dieser Bedingungen sollte vor allem Frankreich angesprochen werden. Die britische Initiative hatte eine Verzögerung verursacht und die Opposition Frankreichs hervorgerufen. Mit der Verzögerung fand sich die Bundesrepublik widerwillig ab — es blieb ihr nichts anderes übrig. Aber auf die französische Opposition mußte die Bundesregierung klar reagieren. Sie tat es auf dreierlei Weise. Erstens erklärte sie, das Tor für den Beitritt zu einer gemeinsamen Streitmacht müsse den Franzosen stets offengehalten werden.84 Zweitens bemühte sie sich um Einfügung einer „europäischen Klausel" in den Vertrag, wonach die MLF die Grundlage einer künftigen europäischen Streitmadit bilden konnte; damit suchte sie die MLF für Frankreich attraktiver zu machen (war doch die Notwendigkeit einer „von den USA unabhängigen europäischen Verteidigung" eines der französischen Hauptargumente gegen die MLF). Drittens wurde den Franzosen die Frage vorgelegt, welche konkreten Alternativen sie denn vorzuschlagen hätten. Wichtig ist, daß die deutsche Reaktion auf den französischen Widerstand gegen die MLF nicht nur von den französischen Argumenten bestimmt wurde, sondern in gleichem Maße von der innenpolitischen Situation der Bundesrepublik, d. h. von der Spaltung der regierenden CDU/CSU in „Atlantiker" und „Gaullisten". Natürlich hatte die französische Regierung ihre Argumente — die MLF sei gefährlich für die deutsch-französische Freundschaft (und könne eine französisch-sowjetische Entente zur Folge haben), aber diese Freundschaft sei notwendig als Grundlage für ein unabhängiges, geeintes Europa — mit Bedacht so ausgewählt, daß die Befürchtungen der „gaullistischen" Fraktion in die Höhe getrieben wurden. Diese Fraktion gruppierte sich um mehrere prominente Männer, unter ihnen vor allem der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß, der außenpolitische Sprecher der CSU, Baron Guttenberg, Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier und auch der frühere Bundeskanzler Konrad Adenauer.85 Adenauer hatte zwar im Februar 1963 die Teilnahme der Bundesrepublik an der MLF zugesichert89; als aber die französische Opposition gegen eine deutsche Mitwirkung deutlich wurde, sah er sich veranlaßt, seine Zustimmung zur MLF einzuschränken, teils, weil er nun darin eine Bedrohung seiner größten politischen Leistung, des deutsch-französischen Vertrags, erblickte, teils aus persönlicher Animosität gegen Ludwig Erhard. Bei einem Essen des Vereins der Aus84
Vgl. ζ. B. die Bemerkungen Hassels in Washington, a.a.O. (Anm. 75) und die gemeinsame Ball-Sdiröder Erklärung in Bonn (NZZ, 18. Dezember 1964). 85 Vgl. hierzu Besson, Die Außenpolitik der Bundesrepublik, a.a.O., S. 322—328. 8 « Vgl. oben, S. 155 ff.
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ländischen Presse Anfang Dezember 1964 erklärte er, es sei wichtiger, sich über eine gemeinsame atlantische Politik zu einigen, als um jeden Preis die M L F zu schaffen. 87 Für die Bundesrepublik, so erklärte er, sei es notwendig, gleich enge Verbindungen zu den U S A und zu Frankreich zu unterhalten. Die M L F müsse zudem eine klare europäische Orientierung haben. 88 Strauß, Guttenberg und — in geringerem Maße — Gerstenmaier waren dagegen entschieden gegen die M L F . Sie erklärten nachdrücklich, Westeuropa müsse langfristig eine vollkommen selbständige Abschrekkungsmacht entwickeln und lehnten die M L F ab, weil sie diesem Ziel nicht dienlich und zudem militärisch von zweifelhaftem Wert und politisch eine „Fiktion der Teilnahme" sei: Sie sichere nur die amerikanische Vorherrschaft, entfremde Frankreich von der Bundesrepublik und verhindere die Schaffung einer unabhängigen europäischen Abschreckungsmacht. 80 Wirkliche Mitbestimmung war nach Ansicht dieser Gruppe nur in einer auf französisch-deutscher Zusammenarbeit beruhenden europäischen Abschreckungsmacht zu erreichen. Die Vereinigten Staaten, behauptete Strauß, würden eher eine selbständige europäische Nuklearstreitmacht unterstützen als ihr Vetorecht in einer atlantischen Nuklearstreitmacht aufgeben. 90 Dementsprechend schlug er vor: „Die Staaten, die eine politische Föderation anstreben, sollten einen europäischen Nuklearrat schaffen, dem die Verteidigungsminister der einzelnen Länder angehören würden. Der Nuklearrat wäre das Gremium, in dem eine gemeinsame nukleare Verteidigungsstrategie festgelegt würde . . . D a r über hinaus müßte ein europäisches nukleares Arsenal auf französischem Territorium und, falls Großbritannien sich beteiligt, auch auf britischem Territorium geschaffen werden. Die Entwicklung und Herstellung europäischer Kernwaffen wäre mit wissenschaftlichen und finanziellen Bei87
Bericht in: Welt, 4. Dezember 1964. Eine Woche später empfahl Strauß vor dem-
88
Vgl. das Interview in der Welt, 10. November 1964.
selben Verein einen Aufschub der M L F ; Bericht in: N Z Z , 12. Dezember 1964. 80
Vgl. Franz Josef Strauß, Herausforderung und Antwort, a.a.O., sowie die nicht ganz identische englische Fassung The Grand Design — A European Solution to German Reunification, London 1965 und An Alliance of Continents, a.a.O., ferner Karl Theodor Freiherr von und zu Guttenberg, Auf der Suche nach einer neuen Strategie, Frankfurter Rundsdiau, 15. Dezember 1964 und die Bemerkungen Eugen Gerstenmaiers anläßlich eines Besuchs in Paris, Welt, 30. Oktober 1964. Siehe audi Adelbert Weinstein, Voraussetzungen einer gemeinsamen europäischen Verteidigungspolitik, Düsseldorf 1963; Weinstein war der Meinung, die M L F würde der Bundesrepublik zwar erweiterte Informationsmöglidikeiten, aber keinen wirklichen Einfluß bringen.
°° Vgl. Strauß, An Alliance of Continents, a.a.O., S. 196.
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trägen aus den anderen Staaten der europäischen Union zu unterstützen. Für den Anfang muß die Bestimmung gelten, daß in diesem ersten Stadium der Bildung der Gemeinschaft der Befehl zum Einsatz von Kernwaffen nur von den wirklich befugten Stellen erteilt werden darf, das heißt, von dem französischen Präsidenten und anderen Regierungschefs, auf deren Territorium Teile des nuklearen Arsenals untergebracht sind." 91 Hiernach kam also die MLF nur dann überhaupt in Betracht, wenn der Vertrag eine rechtswirksame „europäische Klausel" enthielte, d. h. die Verpflichtung der Vereinigten Staaten, ihre eigenen Rechte auf eine europäische Behörde zu übertragen, sobald eine solche existierte." Der „atlantische" Flügel der CDU, dem Bundeskanzler Erhard und Verteidigungsminister von Hassel angehörten, dessen eigentlicher Mittelpunkt aber Außenminister Gerhard Schröder war®3, reagierte auf diesen innenpolitischen Druck mit dem nachdrücklichen Hinweis, daß die Tür für Frankreichs Beitritt zur MLF stets offen bleiben müsse. Auch stimm91 w
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Ebd., S. 202. Vgl. audi Strauß, Herausforderung und Antwort, a.a.O., S. 189 f. Strauß, An Alliance of Continents, a.a.O., S. 199. In diesem selben Artikel verwarf Strauß die A N F als einen Versuch, die Schaffung einer europäischen Nuklearstreitmacht zu verhindern, Mitteleuropa zu einer kernwaffenfreien Zone zu machen und den Einfluß der Bundesrepublik zu vermindern. Strauß betonte allerdings, daß die Bundesrepublik in seinem Konzept einer westeuropäischen Nuklearstreitmacht keine unabhängige Verfügungsgewalt über Kernwaffen besitzen würde. Gerhard Schröder, oft als „anti-französisch" und wichtigster Rivale von Strauß bezeichnet, wurde zur zentralen Figur in der innerparteilichen Kontroverse der CDU/ CSU. Vor den Bundestagswahlen im September 1965 hatten Adenauer und Strauß Schröder heftig angegriffen, in der Absicht, einen Wechsel im Amt des Außenministers und somit eine aus ihrer Sidit positivere Politik gegenüber Frankreich herbeizuführen. Sie führten die Kampagne jedoch in einer Weise, die Erhard keine Wahl ließ, als Schröder wieder zu seinem Außenminister zu machen. Die Schröder/ Strauß Rivalität spielte auch bei der Bestimmung des Kanzlers zur Führung der Großen Koalition Ende 1966 eine Rolle: Innerhalb der CDU hatte Schröder die meiste Unterstützung, dodi Strauß stellte sich und die CSU hinter Kiesinger. Folgerichtig (wenn das audi nidit die alleinige Erklärung ist) wurde die MLF endgültig abgeschrieben, und Kiesinger bekundete gerade zu Beginn seiner Amtszeit wiederholt die Intention, die Beziehungen zu Frankreich zu verbessern. Bemerkt werden mag hier, daß der Begriff „Gaullisten" in der Bundesrepublik irreführend war. Die Gruppe um Strauß war „gaullistisch" nur insofern, als sie „engere" Beziehungen zu Frankreich anstrebte, aber weder ihre Ziele einer nuklearen Zusammenarbeit noch ihr „Entwurf für Europa" wurde auf französischer Seite von den Gaullisten geteilt. Ferner, während Strauß und Guttenberg im Jahre 1963 die harte Linie de Gaulles gegenüber der Sowjetunion begrüßt hatten, begegneten sie der Entspannungspolitik, die sowohl de Gaulle als auch Schröder befürworteten, mit großem Mißtrauen. Vgl. hierzu Ridiardson, Deutschland und die NATO, a.a.O., S. 70 und Besson, Die Außenpolitik der Bundesrepublik, a.a.O., S. 322—328.
Β. Das Ende
193
ten Außen- und Verteidigungsministerium mit den Kritikern darin überein, daß in den Vertrag über die Schaffung der MLF eine „europäische Klausel" aufzunehmen sei, die es den Organen eines vereinten Europa — falls ein solches zustande käme — ermöglichen würde, die volle Verfügungsgewalt über die MLF im Rahmen der N A T O zu übernehmen.94 Auf diese Weise hätte die MLF tatsächlich die Grundlage einer europäischen Streitmacht bilden und vielleicht sogar die politisdie Einigung vorantreiben können — freilich in Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten. In den beiden wichtigsten Punkten waren diese Vorschläge jedodi absichtlich vage gehalten: Weder wurden — aus Rücksicht auf Frankreich — der Charakter der geplanten europäischen Union und das ihr zugedachte Maß an Supranationalität genau erläutert, noch wurde — aus Rücksicht auf die Vereinigten Staaten — die künftige Rolle Amerikas in dieser „Partnerschaft" klargestellt. Die Deutschen wollten nicht einen Grad an Supranationalität vorschlagen, der für de Gaulle unannehmbar war (auf dem aber die Vereinigten Staaten wahrscheinlich bestehen würden), und sie waren auch trotz der verschiedenen amerikanischen Andeutungen nicht ganz sidher, ob die Vereinigten Staaten wirklich bereit waren, einen vollen Verzicht auf ihr Vetorecht ins Auge zu fassen.95 In Frankreich erweckten die von offizieller deutscher Seite vorgebrachten Ideen wenig Begeisterung: Die französische Regierung wollte ja nicht eine wirkliche europäische Abschreckungsmacht schaffen, sondern ihre eigene nationale Nuklearstreitmacht aufstellen und die Bundesrepublik von Kernwaffen fernhalten; auch glaubte sie nicht, daß die USA jemals bereit sein würden, ihr Vetorecht aufzugeben.9" In GroßVgl. die Kommentare dazu von Georg Schröder, Welt, 17. Dezember und Lothar Ruehl, Welt, 27. Oktober 1964. 8 5 Von amerikanischer Seite war verschiedentlich angedeutet worden, daß die M L F der Kern einer späteren westeuropäischen Nuklearstreitmacht werden könne (vgl. oben, S. 142, Anm. 50); Mitte Dezember 1964 wiederholte McGeorge Bundy in Washington, daß die Vereinigten Staaten das amerikanische Vetoretht überprüfen könnten, wenn Westeuropa zu einer vollen politischen Einigung käme ( N Y T , 14. Dezember 1964). Aber angesichts der Situation in Westeuropa waren diese Fragen größtenteils akademisch; auf jeden Fall war die amerikanische Regierung nicht bereit, eine bindende Verpflichtung einzugehen. · · Die Franzosen hatten stets erklärt, die MLF sei ein Instrument amerikanischer Hegemonie in Europa; der Bundesrepublik hatten sie jedoch nie — außer den Forderungen nach westeuropäischer Einigung und dem Hinweis, daß die MLF diese behindere — eine konkrete Alternative angeboten. Vgl. oben, S. 49 ff. und S. 185ff.; ferner die Haltung der Franzosen Gallois und Baumel auf der II. Internationalen Wehrkunde-Begegnung in München (5.—6. Dezember 1964; Bericht über die Begegnung
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13
Mahncke
194
II. Kapitel. MLF: Höhepunkt und Ende
britannien aber stießen die deutschen Ideen auf scharfe, offene Opposition. In einer seiner ersten außenpolitischen Erklärungen kritisierte Premierminister Wilson die Idee einer unabhängigen europäischen Streitmacht als „Separatismus". In einer nuklearen Welt, sagte er, könne das Sicherheitsproblem nur kollektiv im Rahmen eines Bündnisses gelöst werden.97 Auf einer Pressekonferenz nach seinem Treffen mit Präsident Johnson im Dezember 1964 erklärte Wilson, Großbritanniens Einstellung zu einer atlantischen Streitmacht, die eines Tages nach erfolgter Umwandlung allein auf der Grundlage eines europäischen Entschlusses eingesetzt werden könne, sei „unveränderlich ablehnend".98 Die „Atlantiker" in der Bundesrepublik fanden sich somit in einem Dilemma: Ihre Bemühungen, die „gaullistische" Fraktion zu versöhnen, schlugen fehl, weil es in Frankreich an Interesse mangelte; zugleich aber riefen sie die Opposition Großbritanniens auf den Plan. Anfangs hatte die „gaullistische" Fraktion die offizielle deutsche Verhandlungsposition gegenüber den Vereinigten Staaten indirekt gestärkt — eines der amerikanischen Hauptmotive für den MLF-Vorschlag war es ja gewesen, eine deutsch-französische nukleare Kooperation zu verhindern — ; aber der offenkundige Mangel an Interesse auf Seiten Frankreichs (der freilich die deutschen „Gaullisten" überhaupt nicht zu stören schien) und der sich ständig verschärfende Fraktionsstreit in der Regierungspartei schwächten die Position der Regierung erheblich und trugen dazu bei, daß Bundeskanzler Erhards Prestige und Autorität rapide schwanden.99 Die „Gaullisten" sorgten sich um das deutsch-französische Verhältnis, das sie als Fundament der Zukunft Europas ansahen. Sie bezweifelten den militärischen Wert der MLF, die nur einen winzigen Prozentsatz der gesamten Militärmacht des Westens ausmachen würde und in der Europa nicht viel mitzureden hätte, da sie gegen ein amerikanisches Veto nicht eingesetzt werden könne. Die „Atlantiker" ließen diese Argumente durchaus gelten. Sie wiesen aber demgegenüber darauf hin, daß es keine konin: Wehrkunde, Januar 1965, S. 1 ff.) sowie Vernant, Washington, Londres, Paris et la MLF, a.a.O. Angesichts dieser französischen Haltung war es für die „Atlantiker" leicht, auf die Abhängigkeit der Bundesrepublik von den Vereinigten Staaten zu verweisen; schwieriger wäre die Situation gewesen, wenn Frankreich ein alternatives Angebot gemacht hätte. Vgl. Bericht der Welt, 18./19. und 24. November 1964. »8 Bericht der N Y T , 10. Dezember 1964. »· Vgl. z . B . Georg Schröder, Welt, 6. November 1964; ferner N Y T , 16. November 1964. Audi in der SPD verstärkte sich der Widerstand gegen die M L F : Auf dem Parteitag in Karlsruhe wurde nur noch eine „Gemeinschaftslösung" des nuklearen Problems im Bündnis gefordert. n
Β. Das Ende
195
krete Alternative zur MLF gebe. Die MLF biete Gelegenheit, mehr Informationen und Kenntnisse über nukleare Dinge zu erwerben, sie institutionalisiere den europäischen Einfluß zumindest in gewissem Umfang und verschaffe der Bundesrepublik ein größeres Mitspracherecht; und trotz aller Mängel sei sie immerhin ein Anfang. Nach Ansicht der MLF-Verfechter kam es vor allem darauf an, erst einmal zu beginnen. Abändern und verbessern konnte man sie später immer nodi. Die deutschen Kritiker der MLF wollten sich jedoch diesen Argumenten nicht beugen, und bereits im November 1964 begann sich die französische Opposition gegen die MLF auszuwirken. Der erbitterte Streit, in den die prominentesten Mitglieder der Regierungspartei verwickelt waren — Erhard, Hassel und Schröder auf der einen Seite, Strauß, Adenauer und Gerstenmaier auf der anderen —, schwächte die Regierung und ihre Position in dieser Sacie beträchtlich. Am 11. November trat die CDU-Bundestagsfraktion in Bonn zusammen, um die Meinungsverschiedenheiten zu erörtern — nicht von ungefähr nur zwei Tage nach Adenauers Rückkehr von einem Besuch in Paris. Nach der Sitzung, in der Adenauer über seine Gespräche mit Präsident de Gaulle berichtete, wurde ein Kommunique veröffentlicht, worin es hieß, daß die Bundesregierung nach wie vor das MLF-Projekt unterstütze, daß aber „angesichts schwebender Verhandlungen in dieser Sache kein Anlaß besteht, auf eine Beschleunigung des Abschlusses entsprechender Abkommen über die MLF . . . von deutscher Seite in besonderer Weise zu drängen".100 Es war deutlich zu sehen, daß dies ein Kompromiß war, verbrämt nur durch die allgemeine Beteuerung, daß alle Fraktionsmitglieder entschlossen seien, an der „bisherigen Außenpolitik" unbeirrbar festzuhalten. In den folgenden Wochen wiesen Schröder und Hassel mit besonderem Nachdruck darauf hin, daß die deutschte Politik in der Frage der MLF „absolut unverändert" sei.101 Trotzdem reagierte man in den Vereinigten Staaten — wo das Vorgehen der CDU mehr unter außenpolitischen Gesichtspunkten als unter solchen der deutschen Innenpolitik gesehen wurde — mit Erstaunen.102 Der amerikanische Gesandte in Bonn, Martin Hillenbrand, erhielt Anweisung, den Chef des Bundeskanzleramtes, 100 101
102
13»
Welt, 12. November 1964. Bericht der N Y T , 16. November 1964. Am 13. November erklärte Außenminister Schröder im Bundestag, die Bundesregierung habe die MLF nidit unter französischem Drudi aufgeschoben; Stenographische Berichte, S. 7236 f. Abe ShabecofT, der Bonner Korrespondent der N Y T interpretierte den CDU-Beschluß als einen „Kurswechsel" ; N Y T , 12. November 1964.
II. Kapitel. MLF: Höhepunkt und Ende
196
Minister Ludger Westrick, und den amtierenden Fraktionsvorsitzenden der CDU, Rainer Barzel, aufzusuchen. In Washington erklärte der Sprecher des Außenministeriums, Robert McCloskey, die amerikanische Regierung sei „überrascht", aber wahrscheinlich nehme sich Bonn Zeit zur Prüfung der britischen Vorschläge.103 Obwohl Washington das CDUKommuniqué schließlich hinnahm — es bringe „lediglich das Einverständnis mit dem von den Vereinigten Staaten bereits vorgeschlagenen kurzen Aufschub zum Ausdruck"104 —, hinterließ es dodi einen tiefen und — wie sich herausstellen sollte — entscheidenden Eindruck: Die deutsche Zustimmung zur MLF erschien uneinheitlich und ungewiß, und die Regierung Erhard war offenbar so schwach, daß ihr möglicherweise die Autorität fehlen würde, ein MLF-Abkommen durdi den Bundestag zu bringen. Diese Eindrücke trugen maßgeblich zu Präsident Johnsons Entschluß bei, die MLF von der diplomatischen Prioritätenliste der USA abzusetzen und auf eine Einigung der Europäer zu warten. 4. D i e
Vereinigten
Staaten:
MLF
und
ANF
Zur gleichen Zeit wie in der Bundesrepublik gewann audi in den Vereinigten Staaten die innere Opposition gegen die MLF an Boden.105 Wie es scheint, kamen Zweifel aus allen Kreisen; aber besonders vernehmlich wurden sie im Kongreß geäußert. Am 8. Dezember 1964 brachten vierundzwanzig Demokraten und achtzehn Republikaner in einem Brief an den Außenminister ihre Besorgnis zum Ausdruck. Der Abgeordnete Chet Holifield, der neue Vorsitzende des wichtigen Gemeinsamen Ausschusses für Atomenergie, äußerte gleichfalls „ernste Zweifel". 10 ' Die meisten Kritiker, namentlich die aus Militärkreisen, waren vor allem beunruhigt durch die französische Drohung, die N A T O zu verlassen; sie fanden, diese Haltung Frankreichs sei mindestens teilweise veranlaßt durch den Nadidruck, mit dem die USA auf die Verwirklichung der MLF hinarbeiteten. Jack Raymond schilderte in der New York Times die Situation aus der damaligen Sicht folgendermaßen: „Daß die Vereinigten Staaten so stark auf Schaffung der multilateralen 103
Welt, 13. November 1964.
104
So die N Y T , 16. November 1964.
105
In einem vielbeaditeten Artikel des Christian Science Monitor wurde schon am 12. November 1964 erklärt, daß die amerikanische Regierung unter Umständen bereit sei, die M L F bis nach den Bundestagswahlen im September 1965 zu verschieben; hingegen hatten Hassel und Schröder immer betont, daß ein Vertrag zur M L F den Bundestag vor den Wahlen passieren müsse.
" « Bericht in: N Z Z , 10. Dezember 1964.
Β. Das Ende
197
Nuklearflotte insistieren, erregt Besorgnis bei militärischen Autoritäten des Westens, einschließlich zahlreicher hoher amerikanischer Offiziere . . . Ubermäßiges Drängen zugunsten des Projekts kann dem westlichen Verteidigungssystem Schaden z u f ü g e n . . . Ohne darauf einzugehen, ob Präsident de Gaulle mit seiner Opposition recht oder unrecht hat, haben die führenden alliierten Militärs in ihrer Mehrheit zu verstehen gegeben, daß sie die Konsequenzen fürchten, falls man sich über den französischen Führer h i n w e g s e t z t . . . Wenige Militärs in Westeuropa mit Einschluß der französischen Offiziere glauben, daß Frankreich aus dem Atlantikpakt ausscheiden würde. Sie sind aber ehrlich besorgt darüber, daß die französische Mitarbeit in einigen der hochgradig integrierten N A T O Verteidigungsprojekte eingestellt werden könnte." 107 Die französische Opposition wurde also vor allem wegen der Drohung, die Allianz zu verlassen, in den Vereinigten Staaten wirksam, zunächst bei Militärs, dann bei Politikern; und diese Opposition wurde zumindest teilweise als Resultat des amerikanischen Drängens angesehen.108 Sie wirkte sich in den Vereinigten Staaten nicht nur direkt, sondern auch indirekt aus, indem sie den Verantwortlichen ein Bild schwindender Unterstützung des Projekts in Europa bot. Die innen- und außenpolitische Szene, wie sie sich Präsident Johnson im November/Dezember 1964 präsentierte, war mithin gekennzeichnet durch eine wachsende Opposition gegen die M L F . Johnson hatte es nicht nur mit der inneramerikanischen Opposition, der französischen Opposition, dem britischen Widerstreben und der unsicheren deutschen Unterstützung zu tun (wobei ja schließlich die Unterstützung der Bundesrepublik ein Hauptargument für die M L F gewesen war); vielmehr schien die ganze Stimmung gegenüber der M L F in Europa viel kühler geworden zu sein.109 Norwegen, das stets gesagt hatte, daß es der M L F nicht beitreten werde, ging jetzt einen Schritt weiter und erklärte, das Projekt leiste der Verbreitung von Kernwaffen Vorschub.110 Dänemark erklärte ebenfalls, daß es keinen Grund für eine Änderung der nuklearen Ordnung im Bündnis sehe; es werde sich bestimmt nicht an einem der vorgeschlagenen Projekte beteiligen.111 Auch Italien und die 107
N
Y T , 12. November 1964.
ios Vgl. d a z u a u d i di e Kommentare in: Christian Science Monitor, 17. November und N Z Z , 19. November 1964. 109
Vgl. z . B . die Analyse von Don Cook, Die Kunst der Non-Proliferation, in: Der Monat, Juli 1966, S. 7—8.
110
Vgl. den Bericht der Welt, 10. Oktober 1964.
111
Erklärung des Außenministers Per Haekkerup; berichtet in: N Z Z , 27. Oktober 1964.
198
II. Kapitel. MLF: Höhepunkt und Ende
Türkei waren sehr zurückhaltend (die Türkei teilte im Januar 1965 den Vereinigten Staaten mit, daß sie an einer Teilnahme an der MLF nicht mehr interessiert sei1"). Der belgische Außenminister Paul-Henri Spaak — der als NATO-Generalsekretär 1960 einer der ersten Befürworter und Initiatoren einer gemeinsamen NATO-Streitmacht gewesen war 113 — erklärte am 26. November 1964 in Brüssel, für ein kleines Land wie Belgien würde die MLF eine zu schwere finanzielle Bürde darstellen.114 Auf der Jahreskonferenz der NATO-Parlamentarier in Paris stellte sich heraus, daß die Mehrheit der Parlamentarier — darunter auch einige aus jenen Ländern, die an den Acht-Länder-Vorgesprächen teilnahmen, besonders aus Italien und der Türkei — dafür war, das Projekt zu vertagen oder in aller Stille fallenzulassen.115 Vor derselben Konferenz erklärte der neue NATO-Generalsekretär Manlio Brosio am 16. November, die MLF könne nicht ohne Zustimmung aller Mitglieder in die Allianz integriert werden. Zur Erläuterung sagte er später inoffiziell, dies bedeute natürlich nicht, daß eine Gruppe von NATO-Staaten nicht eine gemeinsame Streitmacht bilden könne; die Integration dieser Streitmacht in die Allianz erfordere jedoch die Zustimmung aller Mitglieder. 11 ' Mit einem Überblick über diese Situation eröffnete Präsident Johnson am 29. November 1964 seine Pressekonferenz auf der LBJ-Ranch in Texas.117 Wenn es so viele Vorbehalte gäbe, meinte er, würden die Vereinigten Staaten nicht „unnachgiebig in (ihrer) Haltung" sein. Denn „das Allerwichtigste für die Verteidigung der atlantischen Gemeinschaft", so erklärte er, seien schließlich „die Festigkeit und das gegenseitige Vertrauen der Vereinigten Staaten und Europas".118 Der entscheidende Faktor jedoch war die Bundesrepublik. Johnson hatte geglaubt, daß eine nukleare Beteiligung für sie wesentlich sei.11' Jetzt aber stellte sich heraus, daß zahlreiche prominente Deutsche gegen das von den USA vorgeschlagene und geförderte Arrangement waren. Andere europäische Länder lehnten es entweder rundweg ab oder stanVgl. NYT, 14. Januar 1965; audi Cook, Die Kunst der Non-Proliferation, a.a.O., S. 7—8. 1 1 3 Vgl. oben, S. 78. 1 1 4 Welt, 27. November 1964. 1 1 5 Deutscher Text der Gemeinsamen Erklärung in: EA 24/1964, S. D 635. l l e Deutscher Text der Rede Brosios (Auszüge) ebd., S. D 630—633. 1 1 7 NYT, 30. November 1964. 1 1 8 Ebd. Siehe audi die Rede von Präsident Johnson an der Georgetown-University am 3. Dezember 1964; deutscher Text (Auszüge) in: EA 24/1964, S. D 626—628. "» Vgl. oben, S. 151. 118
Β. Das Ende
199
den dem Projekt bestenfalls mit Reserve gegenüber. Unter diesen Umständen lohnte es sich nach Johnsons Ansicht kaum, in den Vereinigten Staaten einen Kampf um die strittige Frage zu riskieren: „Er hatte in einem frühen Stadium der Diskussion eingeräumt, daß die Gefahr eines deutschen ,Minderwertigkeitskomplexes 1 bestehe und daß es wichtig sei, der Bundesrepublik wenigstens die ,Symbole' der Gleichheit zu geben. Aber er griff begierig nach jedem sich bietenden Argument dafür, daß dies vielleicht nicht sofort geschehen müsse, daß die Vereinigten Staaten nicht eigentlich dazu verpflichtet seien, daß die Briten sich widersetzen würden oder daß die Vereinigten Staaten nicht einfach die wackelige Regierung Wilson vergewaltigen könnten." 120 Schließlich sei die MLF nicht in erster Linie zum Wohle der Vereinigten Staaten erdacht worden. Wenn diejenigen, für die sie geplant worden war, sie nidit haben wollten, dann war Johnson bereit, sein Versprechen an Erhard vom vorigen Sommer ebenso zu vergessen wie ein vierjähriges Engagement der amerikanischen Regierung. So sah es denn Anfang Dezember 1964 so aus, als gehöre die MLF der Vergangenheit an.121 Tatsächlich begann die Endphase in jenem Monat mit dem Besuch von Premierminister Wilson in Washington. Die Strategie der Amerikaner bei diesem Treffen bestand darin, sich Wilsons Vorschläge mit Interesse anzuhören und dann anzuregen, er möge sie mit den Deutschen diskutieren. Mit anderen Worten: das Problem wurde wieder den Europäern zugeschoben. Konnten diese mit einem Konzept aufwarten, dem genügend europäische Staaten zustimmten, so würden die Vereinigten Staaten es bereitwillig prüfen.122 Die amerikanische Politik war also genau an dem Punkt wieder angelangt, wo sie gewesen war, ehe Präsident Kennedy im Herbst 1962 entschieden hatte, dem Konzept der gemeinsamen Streitmacht diplomatische Priorität zu geben.123 Das britisch-amerikanische Abschlußkommunique vom 9. Dezember 1964 spiegelte diese Situation akkurat wider: Johnson hatte die britischen Vorschläge zur Kenntnis genommen und Großbritannien ermuntert, sie in Europa zu erörtern. Die Vereinigten Staaten versprachen eine „sorgfältige Prüfung" der etwaigen Ergebnisse.124 „Die MLF konnte inzwischen ruhen — wiederverwendungsfähig, wenn sich eine 120 121 122
12S 124
Vgl. Geyelin, Lyndon B. Johnson, a.a.O., S. 169—174, hier S. 170. Vgl. NYT, 7. Dezember 1964. Geyelin führt diese Politik auf Außenminister Rusk zurück; Lyndon B. Johnson, a.a.O., S. 173. Vgl. oben, S. 130 ff. Text des Kommuniqués in: EA 1/1965, S. D 15—16.
200
//. Kapitel. MLF: Höhepunkt und Ende
neue Formel ergab, aber nicht mehr Kernstück der amerikanischen Nuklearpolitik für die N A T O . " 1 2 5 Johnson hatte damit das Projekt der M L F dort, wo er es haben wollte: Es stand wieder zur Diskussion als einer von vielen Vorschlägen, den die Europäer erwägen konnten. Der Stempel der amerikanischen Empfehlung war gelöscht; das Projekt konnte angenommen oder abgelehnt werden, ohne daß die Politik und das Prestige der Vereinigten Staaten dadurch Schaden erlitten. Wilson seinerseits hatte Gewißheit erhalten, daß sich Washington nicht mit der Bundesrepublik allein arrangieren würde und daß, falls es zu einem Arrangement kommen sollte, Großbritannien bei dessen Ausarbeitung ein entscheidendes Wort mitzureden hätte. 126 In der T a t sollten nun als nächster Schritt britischdeutsche Verhandlungen über die M L F - und ANF-Vorschläge stattfinden. Bei diesen Verhandlungen kam dann allerdings nicht das geringste heraus. 127 C . Der
Ausklang
Präsident Johnson hatte sich entschieden, die Frage ruhen zu lassen. U m sicherzustellen, daß sich die MLF-Befürworter im Regierungsapparat an diese Politik hielten, ordnete er die Abfassung eines Memorandums für den Nationalen Sicherheitsrat an (dessen Inhalt man an die Presse durchsickern ließ, vermutlich von der Theorie ausgehend, daß Publizität den Dingen einen definitiveren Charakter geben würde 128 ). D a s Memorandum wies alle mit der Sache befaßten Diplomaten und Militärs an, die Politik der reduzierten diplomatischen Aktivität im Hinblick auf die M L F zu befolgen und jede „private oder offizielle" Geyelin, Lyndon B. Johnson, a.a.O., S. 173—174. Vgl. Marguerite Higgins, L B J und MLF, Welt, 11. Dezember 1964 und Kurt Becker, Die M L F im neuen Gewand, ebd. 127 Uber die britisch-deutschen Differenzen zu M L F und A N F vgl. oben, S. 189. Die Verhandlungen kamen nie richtig in Gang. Noch im November 1965, als Schröder London besudite, war man über die Darstellung der gegenseitigen Standpunkte nicht hinausgekommen. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Briten der Politik der Nichtverbreitung die hödiste Priorität eingeräumt und empfahlen der Bundesrepublik, ihre nuklearen Interessen im Rahmen der Nuklearen Planungsgruppe zu verfolgen; vgl. N Z Z , 27. November 1965 und unten, S. 212, Anm. 36. las Vgl. James Reston, Johnson orders drive to reunite Western Allies, in: N Y T , 22. Dezember 1964; vgl. auch Geyelin, Lyndon Β. Johnson, a.a.O., S. 175—178 und N Y T , 23. und 28. Dezember 1964. Vgl. ferner Cleveland, N A T O — The Transatlantic Bargain, a.a.O., S. 52 f. 125 126
C. Der Ausklang
201
Äußerung zu vermeiden, die die Differenzen innerhalb der westlichen Allianz vergrößern könnte. Die Hauptpunkte des Memorandums waren folgende: Erstens sollten in der Allianz möglichst umfassende Konsultationen darüber stattfinden, wie die nukleare Verteidigung zu organisieren sei; es sollte keine „Pressionstaktik", keine „speziellen Arrangements", keine „äußersten Termine" geben. Zweitens sollte jeder Entwurf eines nuklearen Arrangements sowohl für Großbritannien wie für die Bundesrepublik annehmbar sein und mit Frankreich mindestens vorher diskutiert werden. Drittens sollte nichts in den amerikanischen Vorschlägen zur Förderung des Zusammenhalts der Allianz als Versuch hingestellt oder interpretiert werden können, Europas eigene Bemühungen um wirtschaftliche oder politische Integration zu bremsen. Dementsprechend spielte die MLF auf der NATO-Ratstagung im Dezember 1964 keine nennenswerte Rolle.12' Gleichsam als Belohnung vollzog Frankreich fast augenblicklich ein „nukleares Rapprochement" an die Vereinigten Staaten: In ihren Gesprächen in Paris einigten sich de Gaulle und Rusk darauf, die Festlegung der Zielräume für die strategischen Kernwaffen beider Länder zu koordinieren.130 Von der Atmosphäre der Dringlichkeit, die das Projekt umgeben hatte, war im Januar 1965 nichts mehr zu spüren.1®1 Im selben Monat wurde die 1963 gegründete MLF-Arbeitsgruppe aufgelöst; ihr Vorsitzender, Gerard C. Smith, Sonderberater des Außenministers, trat zurück. Vor allem aus Rücksicht auf die Deutschen erklärten amerikanische Regierungsvertreter jedoch, dies bedeute nicht, daß die Vereinigten Staaten nicht mehr an dem Projekt interessiert seien.132 Als die „Atlantiker" in Europa dennodi besorgt reagierten — vielen erschien 12» Vgl. den Bericht in: NZZ, 19. Dezember 1964. Zum ersten Mal wurde im Sdilußkommuniqué der Wunsch nach Abrüstung mit einem Hinweis auf die Nichtverbreitung von Kernwaffen verbunden; deutscher Text des Kommuniqués in: EA 1/1965, S. D 16—18. 130 131
Berichtet in: NZZ und Le Monde, 18. Dezember 1964.
Vgl. NYT, 8. Januar 1965; Joachim Schwellen, Die versenkte Flotte, in: Die Zeit, 22. Januar 1965 und Cleveland, NATO — The Transatlantic Bargain, a.a.O., S. 52 f. i3î NYT, 2. Januar 1965. Zu diesem Zeitpunkt begann der Raketenzerstörer Claude V. Ritketts eine einjährige Testfahrt mit einer Mannschaft bestehend aus Amerikanern, Briten, Italienern, Holländern, Griechen, Türken und Deutschen (vgl. oben, S. 175 und NZZ, 6. Januar 1965). Der Zweck der Testfahrt war angesichts der Ereignisse der vorangegangenen Monate allerdings überholt; die Testfahrt endete mit Erfolg aber ohne weitere politische Konsequenzen am 1. Dezember 1965 (NYT, 2. Dezember 1965).
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II. Kapitel. MLF: Höhepunkt und Ende
das Johnson-Memorandum als ein Anzeichen von Disengagement" 5 —, sah Johnson sich genötigt, seine Entscheidung jedenfalls öffentlich abzuschwächen. In seiner Pressekonferenz am 16. Januar 1965 betonte er — und das gleiche legte Außenminister Rusk in einem Telegramm an die amerikanischen Botschafter in Europa dar —, daß die Vereinigten Staaten die MLF nicht aufgegeben hätten, daß sie engen Kontakt mit den Verbündeten hielten und die Verhandlungen zwischen ihnen über die MLF mit Interesse verfolgten. Doch die Akzente wurden jetzt deutlich anders gesetzt, und die MLF war nie wieder Gegenstand ernsthafter Diskussionen. Harlan Cleveland berichtet, es sei seine erste Aufgabe als neuer amerikanischer Botschafter bei der N A T O im September 1965 gewesen, für die MLF ein „continuing committee" zu gründen, von dem nie beabsichtigt war, daß es zusammenträfe: „Die MLF wurde nicht umgebracht — kein corpus delicti, keine peinliche Beerdigung für ehemalige Befürworter. Sie wurde ganz einfach vergessen."134
133
Geyelin, Lyndon B. Johnson, a.a.O., S. 1 7 6 — 1 7 7 nennt diese „europäische" Reaktion „lächerlich" : Zuerst hätten die Europäer sich über den politischen Druck, dann über mangelnde Führung seitens der U S A beschwert. Tatsächlich ist diese Reaktion nur lächerlich, wenn man nicht erkennt, daß es die „Gaullisten" waren, die sich über den amerikanischen Druck beschwerten, während die nun enttäuschten „Atlantiker" über mangelnde amerikanische Führung klagten. Bemerkenswert ist, daß George Ball die Niederlage der M L F auf eine nicht ausreichend energische amerikanische Politik zurückführt; The Discipline of Power, a.a.O., S. 2 0 7 ff.
134
Cleveland, N A T O — The Transatlantic Bargain, a.a.O., S. 5 2 — 5 3 .
ΙΠ. Kapitel Wandel und Ungewißheit Seit 1960 hatte es in der Frage der nuklearen Mitwirkung im Bündnis abwechselnd Perioden diplomatischer Aktivität und Perioden diplomatischer Zurückhaltung gegeben. Mit Präsident Johnsons Eintreten für die MLF im April 1964 hatte eine neue Runde begonnen: Die Regierung der Vereinigten Staaten wie die der Bundesrepublik zeigten sich entschlossen, bis Dezember 1964 einen Vertrag über eine multilaterale Streitmacht unter Dach und Fach zu bringen. Die Intensivierung der deutsch-amerikanischen Zusammenarbeit, die im Laufe des Sommers sichtbar wurde, beunruhigte jedoch die Briten. Schon die konservative Regierung begann mit der Ausarbeitung möglicher Alternativen, und gegen Jahresende stellte die neue Labour-Regierung offiziell das ANFProjekt zur Diskussion. Den Engländern ging es in erster Linie darum, einen Aufschub zu erreichen; aber die Franzosen faßten den ANF-Vorschlag als einen echten Kompromiß auf und hielten ihn für realisierbar. Deshalb entfesselte Paris eine heftige Gegenkampagne, die hauptsächlich auf die Bundesrepublik zielte, wo sie zu einer ernsten Auseinandersetzung innerhalb der CDU/CSU führte. Angesichts der französischen Opposition, des britischen Widerstrebens, des deutschen Schwankens und des Widerstands im eigenen Lande entschloß sich der amerikanische Präsident, dem Druck nachzugeben und die MLF von der diplomatischen Prioritätenliste der Vereinigten Staaten wieder abzusetzen. Anfangs sah es so aus, als sei das Projekt nur aufgeschoben; wie sich jedoch herausstellte, war dem Konzept einer multilateralen Streitmacht in der N A T O damit das Todesurteil gesprochen. Die Verzögerung ermöglichte der sowjetischen Opposition gegen die MLF, sich voll auszuwirken, und zugleich brachte sie an den Tag, erstens, daß die MLF in der Bundesrepublik gar nidit so viele Anhänger hatte, sondern umstritten war, und zweitens, daß man selbst für den Fall einhelliger deutscher Zustimmung zur MLF die Macht und den Einfluß der Bundesrepublik sowie die möglichen negativen Auswirkungen deutscher Unzufriedenheit überschätzt hatte.
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III. Kapitel. Wandel und
Ungewißheit
Den Verbündeten der Bundesrepublik — auch wenn sie den sowjetischen Anschuldigungen gegenüber der Bundesrepublik nicht zustimmten — fiel es daher nicht schwer, den sowjetischen Befürchtungen Rechnung zu tragen, zumal nur wenige im Westen die MLF um ihrer selbst willen unterstützt hatten. Eine Atmosphäre der Entspannung in Europa im Verein mit dem zunehmenden amerikanischen Engagement in Vietnam nährte den Wunsch, in irgendeiner Weise zur Verständigung mit der Sowjetunion in Europa zu gelangen. Die beiden Jahre von 1965 bis 1966 waren somit durch zwei wichtige Entwicklungen gekennzeichnet: Einmal gewann die Frage der Nichtverbreitung von Kernwaffen mehr und mehr an Bedeutung, und das Interesse an einer multilateralen Nuklearstreitmacht der Allianz nahm dementsprechend ab; zum anderen legte man — als Ausgleich für den Verzicht auf eine gemeinsame Streitmacht — zunehmend Gewicht auf gemeinsame nukleare Planung. A. Die Sowjetunion und die MLF Die sowjetische Opposition gegenüber jeglicher Art von nuklearer Mitwirkung der Bundesrepublik im Rahmen der N A T O geht auf den Anfang des Problems zurück und wurde seitdem konsequent durchgehalten. Besonders deutlich und zunehmend heftig wurde sie — durch multilaterale diplomatische Kanäle — auf der Genfer Achtzehn-MächteAbrüstungskonferenz zum Ausdruck gebracht.1 Die propagandistische 1
Zu den charakteristischen sowjetischen Äußerungen gehören: die Note der sowjetischen Regierung vom 2. Februar 1963, in: Siegler II, a.a.O., S. 325—326; Note der Sowjetregierung an die Bundesregierung vom 8. April 1963, in: EA 12/1963, S. D 295—302 und die Antwort der Bundesregierung, ebd., S. D 302—304; die Erklärung der sowjetischen Nachrichtenagentur Tass vom 7. März 1964, in: EA 7/ 1964, S. D 204—210 und die Stellungnahme dazu im Bulletin der Bundesregierung, Nr. 61, S. 531—534; die Noten vom 11. Juli 1964 an die sieben Regierungen, die sidi an der Probefahrt der „Claude V. Ricketts" beteiligten, in: EA 18/1964, S. D 449— 451 und die Erklärung von Tass am 14. November 1964, Bericht in: NZZ, 16. November 1964. Vgl. auch das Schlufikommuniqué des Treffens der Warschauer PaktStaaten vom 20. Januar 1965, in: EA 5/1965, S. D 108—111. Beispielhafte Erklärungen bei den Abrüstungsverhandlungen in Genf und New Y o r k : vgl. Valerian Sorin in Genf am 2. Juli 1964 (ENDC/PV 195); Semyon Zarapkin in Genf am 13. August 1964 (ENDC/PV 207) und am 31. August und 7. September 1965 (ENDC/PV 228 und 230); Zarapkin in New York am 19. Mai 1965 (DC/PV 84) und Nicolai Federenko in New York am 24. Mai 1965 (DC/PV 8'7). Siehe hierzu auch die ausführliche Darstellung in Erhard Forndran, Probleme der internationalen Abrüstung. Die Bemühungen um Abrüstung und kooperative Rüstungssteuerung, 1962—1968, Frankfurt/Main und Berlin 1970, S. 123 ff.
Α. Die Sowjetunion und die MLF
205
Argumentation richtete sich dabei fast ausschließlich gegen die Bundesrepublik. Diese, so wurde argumentiert, würde durch eine multilaterale NATO-Streitmacht nach dem Muster der MLF/ANF-Vorschläge „Zugang" zu Kernwaffen erhalten. Ein solches Projekt bedeutete also — in sowjetischer Sicht — Zugang zu Kernwaffen für einen „militaristischen und revanchistischen" Staat, der auf den Fundamenten Hitler-Deutschlands ruhte und entschlossen war, die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges zu revidieren. Die Sowjetunion stellte nicht ohne Logik die Frage, wie die MLF deutschen nuklearen Ambitionen vorbeugen sollte, wenn die Bundesrepublik — wie der Westen behauptete — nur „einen Finger am Sicherungsflügel" erhielt, d. h. nur ein Veto, aber keinerlei positive Mitbestimmung.2 Nach sowjetischer Auffassung war es unwahrscheinlich, daß die Bundesrepublik so viel bezahlen würde (40 Prozent der Kosten), um so wenig dafür zu erhalten. Außerdem wiesen die sowjetischen Diplomaten auf Erklärungen prominenter Amerikaner hin, wonach die MLF später zum Kern einer selbständigen europäischen Streitmacht werden könnte; 3 die Bundesrepublik selbst habe ja ein System der Mehrheitsentsdieidung vorgeschlagen.4 Während auf westlicher Seite so weit gegangen worden war, die MLF als eine Form von Rüstungskontrolle, ja sogar als eine Maßnahme zur „Deproliferation" zu bezeichnen®, sah die Sowjetunion in ihr vielmehr einen Weg zur Verbreitung von Kernwaffen. Diese Frage war bedeutsam besonders im Rahmen der Genfer Abrüstungskonferenz. Die westlichen Delegationen erklärten, eine Verbreitung von Kernwaffen könne nur dann als gegeben angesehen werden, wenn die Anzahl der selbständigen nationalen nuklearen Entscheidungszentren vermehrt würde; daher könnten „Bündnislösungen" (bei denen die Zahl der selbständigen nationalen Nuklearzentren gleich bleibe oder theoretisch sogar abnehmen könne) nicht als eine Form von Verbreitung angesehen werden. Die Sowjetunion hingegen verstand unter Verbreitung jede Zunahme der Zahl von Staaten, die „Zugang" zu Kernwaffen hatten. Während der amerikanische Entwurf eines Nichtverbreitungsvertrages vom 17. August * Vgl. ebd. » Vgl. oben, S. 142 f. 4
Vgl. oben, S. 1 4 4 f . ; siehe audi Osgood, M L F , a.a.O., S. 41 und 4 9 — 5 2 .
5
Vgl. oben, S. 153. A m 15. Oktober sagte Erhard im Deutsdien Bundestag: „Die M L F basiert auf dem Grundsatz der Nichtverbreitung von Atomwaffen, nämlich einer Nichtvermehrung derjenigen Staaten, die eine eigene nationale Kontrolle über Atomwaffen ausüben." (Stenographische Berichte, S. 6785). Vgl. auch die Note der Bundesregierung vom 2. September 1964, in: Bulletin, N r . 137, 8. September 1964, S. 1279.
206
III. Kapitel. Wandel und
Ungewißheit
1965" noch ausdrücklich die Möglichkeit offenließ, daß eine oder mehrere der bestehenden Kernwaffenstaaten gemeinsam mit Nicht-Kernwaffenstaaten eine Bündnis-Streitmacht bildeten, verlangte die Sowjetunion in ihrer Antwort und in ihrem Vertragsentwurf vom 24. September 1965 ausdrücklich, daß diese Option auszuschließen sei.7 Während der Westen darauf bestand, daß man der Sowjetunion kein Mitspracherecht in inneren Angelegenheiten der westlichen Allianz einräumen könne (die schließlich als Reaktion auf den sowjetischen Expansionismus entstanden war), erklärte die Sowjetunion beharrlich und unzweideutig, ein Abkommen über die Nichtverbreitung von Kernwaffen werde nicht Zustandekommen, solange der Westen nicht das multilaterale Konzept fallenlasse. Die Vereinigten Staaten machten mehrere Versuche, den sowjetischen Besorgnissen Rechnung zu tragen. Im März 1966 erklärte der amerikanische Delegierte Adrian Fisher, die USA wollten eine Sperre errichten gegen „jede Vermehrung der Zentren nuklearer Macht — und sei es auch nur um eines —, die das Recht oder die Fähigkeit haben, einen nuklearen Krieg zu beginnen". Er wies darauf hin, daß sich alle Kernwaffen im Bündnis unter strenger Kontrolle befinden würden; im Falle multilateraler Verfügungsgewalt würden alle Nuklearmächte ein Vetorecht haben, und kein nicht-nuklearer Staat hätte „das Recht oder die Fähigkeit, Kernwaffen ohne den entsprechenden Beschluß eines bestehenden Kernwaffenstaates abzufeuern". Im Falle der Auflösung einer gemeinsamen Streitmacht würden die nuklearen Elemente wieder in amerikanisches Eigentum übergehen.8 Der sowjetische Delegierte in Genf aber entgegnete darauf, in Wirklichkeit zeige das amerikanische Veto, daß bei einer „Gemeinschaftslösung" Kernwaffenverbreitung stattfinde; denn ein Veto wäre wohl kaum notwendig, wenn die Waffen nidit verbreitet würden. Die Amerikaner, so behauptete der sowjetische Delegierte Roschtschin, versuchten lediglich, die Ausbreitung von Kernwaffen durdi Bündnisse zu legalisieren.® β
Text: ENDC/152; vgl. audb E N D C / P V 224. Deutscher Text in: EA 20/1965, S. D 511—513. 7 E N D C / / P V 224 und GAOR X X , Doc. N o . A/5976. Deutscher Text in: E A 20/1965, S. D 518—520. 8 Vgl. E N D C / P V 250, 22. März 1966; vgl. audi N Y T und NZZ, 23. März 1966 sowie Forndran, Probleme der internationalen Abrüstung, a.a.O., S. 219 ff. • Vgl. die Äußerungen des sowjetischen Delegierten in Genf am 29. März 1966, E N D C / PV 252 sowie die Äußerungen des polnischen Delegierten am 4. April 1966, E N D C / PV 254.
Α. Die Sowjetunion und die MLF
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Die sowjetische Argumentation hob also zwei Punkte hervor: Die MLF wäre für die Bundesrepublik der erste Schritt zur Erlangung selbständiger Verfügungsgewalt über Kernwaffen, und sie würde somit einen Prozeß der Kernwaffenverbreitung in Gang setzen. Im privaten Gespräch räumten sowjetische Diplomaten dem zweiten Aspekt, d. h. der Frage der Kernwaffenverbreitung an sich, die gleiche Bedeutung ein wie dem ersten; aber öffentlich und in ihrer Propaganda legten sie bis weit in das Jahr 1966 hinein das ganze Schwergewicht auf die Frage des nuklearen Zugangs für die Bundesrepublik.10 Die Frage stellt sich, inwieweit diese Setzung der Akzente durdi wirkliche Sorgen motiviert war, inwieweit die sowjetischen Angriffe lediglich rituellen Charakter hatten und inwieweit die Sowjetunion das Thema zu politisdien Zwecken manipulierte. Vermutlich handelte es sich um eine Mischung aus allen drei Elementen. Angesichts der wiederholten deutschen Behauptung, die sowjetischen Angriffe zielten nur darauf ab, die Bundesrepublik in den Augen ihrer Verbündeten herabzusetzen und die westliche Allianz zu spalten11, lohnt es sich jedoch, die Motive und die möglichen Besorgnisse der Sowjetunion genauer zu untersuchen. Wenn, wie in westlichen Kreisen oft erklärt wurde, die MLF wirklich als ein Mittel gedacht war, angenommenen oder möglichen nuklearen Ambitionen der Bundesrepublik vorzubeugen, dann mußte ihre raison d'être darin liegen, daß derartige Ambitionen andernfalls entweder national oder in Zusammenarbeit mit anderen Staaten, ζ. B. Frankreich, realisiert werden könnten. War das nicht der Fall, dann war die MLF oder ein anderes nukleares Arrangement in dieser Hinsicht tatsächlich überflüssig. Nach Ansicht der Sowjetunion gab es für deutsche nukleare Ambitionen, sofern sie existierten, nur wenige Möglichkeiten der Realisierung;12 daher schien es besser, überhaupt keine Alternative anzubieten, auch nicht eine begrenzte Kollektivlösung (die dann größere Ansprüche nach sich ziehen könnte), sondern der Bundesrepublik jeden möglichen 10
11
ls
Die Tschechoslowakei und Polen betonten vor allem den Zugang der Bundesrepublik zu Nuklearwaffen, während die Ungarn, Rumänen und Bulgaren sich zurückhaltender zeigten. Vgl. dazu auch Baumann, Die Bundesrepublik als NATO-Partner, a.a.O., S. 76—77, der meint, die sowjetische Nichtverbreitungspolitik sei in erster Linie von der sowjetischen Deutschlandpolitik bestimmt gewesen; siehe auch Zbigniew Brzezinski, Moscow and the MLF: Hostility and Ambivalence, in: Foreign Affairs, Oktober 1964. S. 126—134. Vgl. die Analyse von Baumann, Die Bundesrepublik als NATO-Partner, a.a.O., S. 76—77. Vgl. oben, S. 43 ff. Es scheint, daß die Sowjetunion das klarer erkannte als die Vereinigten Staaten.
III. Kapitel. Wandel und
208
Ungewißheit
Zugang zu Kernwaffen zu versperren. Es ist unwahrscheinlich, daß die Sowjetunion wirklich geglaubt haben könnte, die MLF würde der Bundesrepublik irgendeine reale Verfügungsgewalt über Kernwaffen verschaffen; der Sowjetführung wird schließlich nicht entgangen sein, daß es Zweck der MLF war, die Bundesrepublik unter strenge nukleare Kontrolle zu stellen und etwaige nukleare Ambitionen der Bundesrepublik innerhalb der Allianz zu kanalisieren. Andererseits bestand die theoretische Möglichkeit, daß die MLF in ihre nationalen Komponenten auseinanderfiel. Selbst wenn sich hiergegen wirksame Vorkehrungen hätten treffen lassen", so wäre immer noch die Gefahr geblieben, daß wichtige technische Informationen über Sprengköpfe und Raketensysteme allmählich in deutsche Hände übergingen und einer künftigen, nationalistisch eingestellten Bundesregierung größere Optionen eröffnet hätten.14 Am wichtigsten war jedoch: Die MLF hätte die Bundesrepublik in eine nukleare Verbindung gebracht und ihr etwas von jenem Einfluß und jenem Status verschaffen können, der, wie man glaubte, mit dem Besitz von Kernwaffen verknüpft war.15 Die Bundesrepublik hätte nicht nur mehr Einfluß auf die Vereinigten Staaten und innerhalb der Allianz gewonnen, sondern ganz allgemein im internationalen Bereich. Wie ein Beobachter feststellte, fürchtete die Sowjetunion, „daß Deutschland, sobald es durch Teilnahme an der MLF ein Mitglied des ,NuklearKlubs' geworden wäre, beträchtlichen Druck auf die Nuklearpolitik des Bündnisses ausüben könnte".16 Der britische Delegierte in Genf, Lord Chalfont, erklärte nach einem Moskau-Besuch im März 1966, die sowjetische Kampagne gegen ein nukleares Arrangement der N A T O habe ihren Ursprung nicht eigentlich in der Furcht vor einer nuklearen Rüstung Westdeutschlands, sondern verfolge vielmehr das Ziel, eine Zunahme des politischen Einflusses der Bundesrepublik in der N A T O zu verhindern." Vom sowjetischen Standpunkt aus erscheint das nicht nur 1S
Selbst wenn vereinbart wurde, daß bei einer Auflösung die nuklearen Elemente an die U S A zurückgehen würden, war es môglidi, daß die Amerikaner diese Regelung unter neuen Umständen anders beurteilen und die Sprengköpfe an die europäischen Teilnehmer verkaufen würden.
14
Vgl. dazu audi Budian, The Multilateral Force, a.a.O., S. 14.
15
Vgl. oben, S. 26 und audi die deutschen Motive für die Unterstützung der M L F , oben, S. 157 ff.
"
Vgl. Hinterhoff, M L F oder A N F , a.a.O., S. 188.
"
Berichte in: N Z Z , 28. März und Le Monde, 29. M ä r z 1966.
Β. Ein Wechsel der amerikanischen
Prioritäten
209
als ein vollkommen logisches Ziel, es deutet audi an, daß die Sowjetunion die Bedeutung der MLF absolut richtig einschätzte.18 Aber neben dem Hauptzweck, die Bundesrepublik an der Mehrung ihrer Macht und ihres Einflusses zu hindern,1' hatte die Sowjetunion vermutlich eine Reihe anderer Motive für ihre Opposition gegen nukleare Arrangements in der NATO. Eines der Ziele der MLF war es, die Unzufriedenheit im Bündnis zu vermindern und seinen Zusammenhalt zu festigen. Daran konnte die Sowjetunion kein Interesse haben." Noch weniger konnte sie an einer Europäisierung der Streitmacht interessiert sein — dies hätte bedeutet, daß ein starkes, geeintes, nuklear bewaffnetes Westeuropa mit der Bundesrepublik als einem wichtigen Mitglied an der Grenze der sowjetisdien Machtsphäre entstanden wäre.21 Und schließlich konnte die Sowjetunion nicht damit einverstanden sein, daß im Westen gemeinsamer Kernwaffenbesitz als Nichtverbreitung deklariert wurde, da sie gerade mit dem Argument der Nichtverbreitung ihr nukleares Monopol in Osteuropa zu rechtfertigen pflegte."
B. Ein Wechsel der amerikanischen
Prioritäten
In der Ära des Außenministers John Foster Dulles hatten die Vereinigten Staaten in ihrer Außenpolitik dem atlantischen Bündnis den eindeutigen Vorrang eingeräumt, demgegenüber die Frage der Nichtverbreitung von Kernwaffen aus verschiedenen Gründen nur eine geringe Rolle spielte. Vor dem Amtsantritt von Präsident John F. Kennedy im Jahre 1961 waren die politisch Verantwortlichen in den USA davon ausgegangen, daß eine internationale Kontrolle des spaltVgl. die deutschen Motive, oben, S. 157 ff. Ein größerer westdeutscher Einfluß wäre der Sowjetunion am wenigsten angenehm in Osteuropa gewesen, wo die Bundesrepublik anfing, eine aktive Politik zu verfolgen. Andererseits hätte die nukleare Beteiligung der Bundesrepublik durch das Mißtrauen in Ost und West sich auch nachteilig auswirken können. Das hätte von dem Geschick und der Zurückhaltung der deutschen Politik abgehangen; es hätte auch abgehangen von dem Ausmaß, in dem die Bundesrepublik ihre Politik unabhängig oder im Rahmen des Bündnisses verfolgt hätte. " Daß dies in der Tat das vorrangige Ziel war, zeigt sich auch in der ersten sowjetischen Reaktion auf das „McNamara Committee" (vgl. unten, S. 232); Die Sowjetunion erklärte, dieser Gedanke sei noch gefährlicher, da der Bundesrepublik damit wirklicher Einfluß eingeräumt würde. 20 Vgl. Brzezinski, Moscow and the MLF, a.a.O., S. 129. Letzten Endes wurde die Sowjetunion dann Zeuge des spaltenden Effekts der MLF. 21 Vgl. ebd. 22 Ebd., S. 131.
18
14 Mahndce
210
III. Kapitel. Wandel und
Ungewißheit
baren Materials zur Verhinderung der Verbreitung von Kernwaffen ausreiche, bis einmal ein Abkommen über die allgemeine und vollständige Abrüstung geschlossen werden könne.23 Diese indifferente Haltung der Vereinigten Staaten gegenüber einem Nichtverbreitungsvertrag und einem Verbot von Kernwaffenversuchen in den fünfziger Jahren war zu Beginn hauptsächlich zurückzuführen auf die amerikanische Einschätzung des militärischen Gleichgewichts in Europa und dann, nach dem „Sputnik-Schock" von 1957, auf das Bemühen, den angenommenen strategischen Vorsprung der Sowjetunion einzuholen. Nach 1957 gaben die Vereinigten Staaten ihrer Kernwaffen-Versuchsserie Vorrang, und durch eine Abänderung des restriktiven Atomenergie-Gesetzes (McMahon Act), die eine stärkere nukleare Zusammenarbeit mit verbündeten Ländern ermöglichte, ermunterten sie Großbritannien (und indirekt auch Frankreich) zu eigener nuklearer Entwicklung. Gleichzeitig wurden bei mehreren Verbündeten nach dem Zwei-Schlüssel-System*4 nukleare Mittelstreckenwaffen stationiert, und mehr und mehr war die Rede vom „gemeinsamen Besitz" an Kernwaffen. Was die Nichtverbreitung anlangte, so verleitete ein unangebrachtes Vertrauen zu dem Programm „Atome für den Frieden" die amerikanische Führung zu dem Glauben, der Hauptanreiz zur Entwicklung von Kernwaffen werde entfallen, wenn es gelänge, die Kernenergie allgemein der friedlichen Nutzung zugänglich zu machen.25 Gegen Ende der fünfziger Jahre begannen sich indes Zweifel an dieser Politik zu regen. Der Verdacht kam auf, die Vereinigten Staaten hätten auf den Sputnik „überreagiert". Das „Atome für den Frieden-Programm hatte Kenntnisse in der nuklearen Technologie verbreitet und dazu beigetragen, viele Staaten an die Schwelle der Fähigkeit zur Produktion von Kernwaffen zu bringen. Es hatte jedoch Frankreich nicht am Streben nach einer nationalen Nuklearstreitmacht gehindert — Frankreich hatte sogar gehofft, jene privilegierte Stellung der nuklearen Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten zu erreichen, in der sich Großbritannien nach der Abänderung des Atomenergie-Gesetzes befand. Somit begannen sich die Vereinigten Staaten schon Ende der fünfziger Jahre kategorisch gegen die Weitergabe von Kernwaffen an andere Staaten zu wenden. Aber erst seit 1961 enthielten die amerikanischen Abrüstungspläne den Vorschlag, die Verbreitung von Kernwaffen zu ** Vgl. dazu ζ. B. die von den Vereinigten Staaten vorgeschlagene United Nations General Assembly Resolution N r . 715 (VIII) vom November 1953. M Vgl. oben, S. 70 f. " Vgl. oben, S. 68.
Β. Ein Wechsel der amerikanischen
Prioritäten
211
verbieten, und erst seit 1965 strebten die Vereinigten Staaten aktiv nach einem Abkommen über Nichtverbreitung. In der Periode von 1958 bis 1965 gingen die USA zweigleisig vor: Sie verfolgten eine Politik des gemeinsamen Kernwaffenbesitzes in der Allianz und zugleich eine Politik der Nichtverbreitung, wobei sie die vorgeschlagenen Arrangements im Bündnis für Maßnahmen im Dienste der Nichtverbreitung erklärten.2' Allerdings war die Akzentsetzung in dieser Periode unterschiedlich: Zeitweise hatte die Politik der Rüstungskontrolle Vorrang, wie in den Kennedy-Jahren 1961—196227, zeitweise stand die Allianzpolitik im Vordergrund, wie in den Jahren 1963— 1964, als Präsident Johnson der MLF Priorität einräumte.28 Im ganzen kann jedoch gesagt werden, daß das Interesse an der regionalen Sidierheit und an der Regelung der Allianzprobleme größer war als an OstWest-Vereinbarungen über Rüstungskontrolle.2' Das änderte sich ab Januar 1965. Die MLF war gescheitert, und nach und nach schenkte man den Problemen der Nichtverbreitung und der Verhandlungen mit der Sowjetunion größere Aufmerksamkeit. Aber wenn es relativ leidit ist, den Beginn der Veränderung zu bezeichnen — eben das Scheitern der MLF —, so war dodi diese Veränderung weder plötzlich noch eindeutig. Es war eine Periode des Wandels, aber auch der Ungewißheit; ein Hin und Her zwischen verschiedenen Prioritäten und zwischen verschiedenen amerikanischen Ministerien und Ämtern. Die Debatte begann klarere Linien erst anzunehmen, als die Vereinigten Staaten am 17. August 1965 der Achtzehn-Mächte-Abrüstungskonferenz in Genf den Entwurf eines Nichtverbreitungsvertrages vorlegten. Aber auch dann dauerte es noch bis zum Herbst 1966, ehe die Frage der Prioritäten endgültig zugunsten der Politik der Nichtverbreitung entschieden war.' 0 Die Gründe und Bedingungen dieses Kurswechsels sind einerseits in den amerikanischen Beziehungen zu Europa, andererseits in den amerikanischen Beziehungen zur Sowjetunion zu finden. Ein Faktor von fundamentaler Bedeutung war die Atmosphäre wachsender Entspannung in Europa und das Empfinden, daß die sowjetische Bedrohung nachgelas» Vgl. oben, S. 146 ff. « Vgl. oben, S. 91 ff. 88 Vgl. oben, S. 175. 89 Vgl. Wildenmann, Perspektiven, a.a.O., S. 187. 30 Vgl. dazu Wolfgang Wagner, General-Anzeiger (Bonn), 17. Januar 1967 und Welt, 22. Januar 1967; vgl. audi Budian, The Multilateral Force, a.a.O., S. 14, Legault, Atomic Weapons for Germany?, a.a.O., S. 448—449 und Baumann, Die Bundesrepublik als NATO-Partner, a.a.O., S. 78—81. 14*
212
III. Kapitel. Wandel und Ungewißheit
sen habe.' 1 Die sowjetische Drohung hatte die Allianz zusammengeschweißt; jetzt schien die Entspannung neuen politischen Spielraum zu bringen. So konnte Präsident de Gaulle am 9. September 1965 erklären, Frankreich beabsichtige, die integrierte militärische Organisation der atlantischen Allianz zu verlassen.®2 Damit entfiel eines der wichtigsten Druckmittel, das Frankreich ein Jahr zuvor gegen die M L F verwandt hatte 85 , aber die Chancen einer Realisierung der M L F schienen ohnehin verloren zu sein. Auch Großbritannien drängte nach Rüstungskontroll- und Sicherheitsabkommen mit der Sowjetunion auf Kosten möglicher nuklearer Arrangements in der NATO. 3 4 Die britischen Prioritäten waren deutlich, wenn auch die britische Politik Zurückhaltung übte, um die britisch-deutschen Beziehungen nicht allzusehr zu belasten. 35 Bedeutsamer war dagegen der britische Wunsch, die amerikanische Regierung solle den ersten Schritt tun und die M L F auch aus dem offiziellen politischen Programm streichen. Vertraulich übten die Engländer in dieser Richtung Druck auf die Amerikaner aus; ihre öffentlichen Äußerungen waren allerdings vorsichtig und ungenau formuliert. 38 Der offizielle amerikanische Stand31
3î 35 34
35 36
Vgl. dazu z. B. James Reston, The Transformation of the Alliance, N Y T , 13. April 1965 und Pierre Hassner, Change and Security in Europa. Part I : The Background, London 1968. Le Monde, 10. September 1965. Vgl. oben, S. 186 f. Die Welt, 25. Mai 1965, kommentiert, daß die britische Politik, den Einfluß der Bundesrepublik im Bündnis einzugrenzen und ein Sicherheitsarrangement anzustreben, zu jener Zeit sichtbar wurde. Vgl. ebd.; audi NZZ, 27. November und N Y T , 2. Dezember 1965. Die ersten öffentlichen Erklärungen in dieser Riditung kamen von Außenminister Michael Stewart anläßlich eines Aufenthalts in New York (vgl. Welt, 13. Oktober 1965). Er erklärte, daß man die Frage natürlich mit der Bundesregierung besprechen müsse, doch könne er sich vorstellen, daß diese die MLF/ANF-Pläne aufgegeben habe. Eine nukleare Regelung wie die MLF könne die N A T O zwar stärken, aber es sei eine offene Frage, inwieweit. Andererseits behindere der Plan jede Vereinbarung mit der Sowjetunion. Einen Monat später schlug Stewart Schröder vor, die Aufgaben des „McNamara Committee" auszudehnen und die MLF aufzugeben (vgl. Siegler I I I , a.a.O., S. 316). Wie immer war die Bundesrepublik aus Sicherheitsgründen beunruhigt, allerdings auch aus der Befürchtung einer anglo-amerikanischen Vereinbarung mit der Sowjetunion auf Kosten deutscher Interessen. Beachtenswert ist, daß diese Ereignisse zwischen die Vorlage eines britischen Vertragsentwurfs über die Nichtverbreitung von Kernwaffen zur Diskussion im N A T O - R a t im Sommer und die erste Sitzung des McNamara Ausschusses im November 1965 fielen. Vgl. Welt, N Y T , Le Monde, 27. Juli, Welt 28. Juli und 11. und 13. Oktober 1965; auch NZZ, 23. Juli 1965.
Β. Ein Wechsel der amerikanischen
Prioritäten
213
punkt jedoch war immer noch, daß die Vereinigten Staaten bereit seien, jedes nukleare Arrangement in Erwägung zu ziehen, auf das sich Engländer und Deutsche einigen könnten. Im Dezember 1964 hatte Präsident Johnson Premierminister Wilson ja gerade empfohlen, die britischen Alternativvorsdiläge zur MLF mit den Deutschen zu diskutieren.37 Es wurde jedoch bald deutlich, daß die Engländer nicht die Absicht hatten, irgendeiner ernsthaften nuklearen Assoziierung der Bundesrepublik zuzustimmen.38 So zeigte sich denn, daß die amerikanische Entscheidung, einem Nichtverbreitungsabkommen Vorrang zu geben, nicht notwendigerweise eine Entscheidung gegen die N A T O oder auch nur gegen die damalige NATO-Politik war. Wäre der MLF-Vorschlag von genügend Verbündeten aufgegriffen worden, so ist anzunehmen, daß sich die Vereinigten Staaten auch nach dem Beschluß vom Dezember 1964 wieder beteiligt hätten. Aber wie die Dinge lagen, hatte die MLF, die doch das Bündnis festigen sollte, eher das Gegenteil bewirkt.39 Wirklich interessiert an ihr waren nur die Deutschen; aber auch hier stellte sich jetzt manches anders dar. Erstens wurde die MLF in der Bundesrepublik keineswegs bedingungslos unterstützt; sie hatte sogar viele Gegner. Zweitens stand die Bundesrepublik nicht im Begriff, dem französischen Vorbild zu folgen, und die Franzosen hatten alle Andeutungen über eine französischdeutsche nukleare Kooperation zurückgewiesen. Und drittens waren Macht und Einfluß Westdeutschlands stark überschätzt worden; die deutschen Wünsche zu ignorieren, war vielleicht gar nicht so sdiwierig oder gefährlich, wie man noch ein paar Jahre zuvor geglaubt hatte. Die Motive zur Schaffung einer multilateralen nuklearen Streitmacht waren also schwächer geworden; hingegen hatten die Argumente, die für ein Abkommen gegen die Verbreitung von Kernwaffen sprachen, an Gewicht gewonnen. In der Volksrepublik China war am 16. Oktober 1964 eine Atombombe gezündet worden. Die Vereinigten Staaten waren inzwischen in Vietnam stark engagiert; sie hielten ein Abkommen mit der Sowjetunion für wünschenswert, um die Entspannung in Europa zu konsolidieren und den regionalen Charakter des Vietnam-Konflikts zu bestätigen.40 Die Sowjetunion aber hatte mehrfach deutlich erklärt, das » Vgl. oben, S. 199 f. 38
Die Briten haben die Verhandlungen mit der Bundesrepublik nie sehr ernsthaft betrieben.
*
Vgl. audi Wolfgang Wagner, General-Anzeiger (Bonn), 18. Januar 1967.
40
Vgl. dieselbe Meinung in: N Y T , 24. Dezember 1965.
214
III. Kapitel. Wandel und Ungewißheit
größte Hindernis, das einem Nichtverbreitungsvertrag entgegenstehe, seien die Pläne für eine multilaterale Streitmacht der N A T O . Ein frühes Anzeichen für den Wechsel der Prioritäten — von einer in erster Linie an der militärischen Sicherheit der N A T O orientierten Politik zu Entspannung und Nichtverbreitung — war schon auf der NATO-Ministertagung im Dezember 1964 zu erkennen. Der übliche Ruf nach allgemeiner Abrüstung wurde hier zum ersten Mal gekoppelt mit der ausdrücklichen Forderung, die Verbreitung von Kernwaffen zu unterbinden. Sodann betonte Präsident Johnson auf einer Pressekonferenz am 16. Januar 1965 — die eigentlich der Bekräftigung des amerikanischen Eintretens für eine mögliche NATO-Streitmacht diente41 — , die M L F sei nach amerikanischer Auffassung dazu bestimmt, eine weitere Verbreitung von Kernwaffen zu verhindern. Schließlich war auch ein Hinweis darin zu erblicken, daß der amerikanische N A T O - B o t schafter Thomas Finletter, ein führender MLF-Verfechter, im Sommer 1965 von Harlan Cleveland abgelöst wurde, dem ehemaligen Leiter der Abteilung für Angelegenheiten der internationalen Organisationen im amerikanischen Außenministerium, der besondere Erfahrungen im Verhandeln mit der Sowjetunion besaß. 42 Drei Ereignisse sollten den sich anbahnenden Wandel stark beschleunigen: der Gilpatric-Bericht, eine Rede von Senator Robert Kennedy und ein Artikel von William Foster, dem Leiter der amerikanischen Abrüstungsbehörde, in der Zeitschrift Foreign Affairs. Der GilpatricBericht wurde von einer Kommission unter dem Vorsitz des früheren stellvertretenden Verteidigungsministers Roswell Gilpatric im Frühjahr 1965 vorgelegt. Diese Kommission war im Oktober 1964 nach der ersten chinesischen Atomexplosion gebildet worden, um die Probleme der Kernwaffenverbreitung zu untersuchen. Der Bericht war geheim, gelangte jedoch teilweise an die Presse.48 Sein wichtigstes Ergebnis war die Empfehlung an die amerikanische Regierung, ihre Bemühungen um die Gründung einer multilateralen NATO-Streitmacht aufzugeben, falls ein derartiges Zugeständnis zum Abschluß eines NichtverbreitungsAbkommens mit der Sowjetunion führen würde. Dieser Bericht bildete vermutlich die Grundlage für die Rede Senator Robert Kennedys am 23. Juni 1965 4 4 , ebenso wie die Argumentation sich auch in dem Artikel widerspiegelte, den William Foster im Juli in " Vgl. oben, S. 202. 4 2 Vgl. Kommentar in: Le Monde, 3. Juli 1965. 4S Vgl. z. B. N Y T , 1. Juli und Welt, 2. Juli 1965. 4 4 Text (Auszug) in: E A 15/1965, S. D 380—384.
Β. Ein Wechsel der amerikanischen
Prioritäten
215
der Zeitschrift Foreign Affairs veröffentlichte.45 Kennedy kam zu dem Schluß, ein Nichtverbreitungsabkommen sei für die Welt so lebenswichtig, daß die Vereinigten Staaten für die Sicherheitsprobleme der Allianz eine Lösung suchen müßten, die die Wünsche der Europäer befriedigte und trotzdem nicht von der Sowjetunion abgelehnt werde. E r regte an, etwas in der Art eines „Selektiven Ausschusses" für nukleare Planung zu schaffen, wie ihn Verteidigungsminister McNamara vorgeschlagen hatte.4" Auch Foster fand, daß ein Nichtverbreitungsvertrag von erstrangiger Bedeutung sei. Man solle ihn anstreben, meinte er,
obwohl er ein so hohes Maß an sowjetisch-amerikanischer Zusammenarbeit erfordern werde, daß dies zu ernsten Belastungen in der atlantischen Allianz führen könne. Diese drei Ereignisse — der Gilpatric-Bericht, die Rede Kennedys und der Artikel Fosters — verursachten in der Bundesrepublik großes Aufsehen.47 In den Vereinigten Staaten war man in Regierungskreisen geteilter Meinung; besonders beunruhigt zeigte sich die „europäische" Gruppe im State Department. Dennoch war ein klarer Trend nicht zu verkennen. Alastair Buchan schrieb bereits 1964: „Die ganze amerikanische Einstellung zur MLF beruhte auf der Kalkulation, daß der Sowjetunion eine gemäßigte deutsche Regierung mit begrenzter Verfügungsgewalt über einige Kernwaffen lieber wäre als eine — womöglich eng mit Frankreich zusammenarbeitende — radikalere deutsche Regierung und keine MLF! Erweist sich aber diese Kalkulation als falsch, so entsteht eine neue Lage; denn die Vereinigten Staaten müssen ihrem Verhältnis zur Sowjetunion eine ebenso hohe Priorität einräumen wie dem zu irgendeinem Verbündeten."48 Bemerkenswert war die Reaktion der Sowjetunion. Die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten waren Anfang 1965 gespannt. Vietnam überschattete alles, und die Moskauer Führungsspitze wollte nicht riskieren, sich von den Chinesen Kollaboration mit den Vereinigten Staaten vorwerfen zu lassen. Es schien sogar nur geringe Hoffnung zu bestehen, daß im Sommer die Genfer Konferenz 45
46
47
48
William C. Foster, New Directions in Arms Control and Disarmament, in: Foreign Affairs, Juli 1965, S. 587—601. Ausfiihrlidi unten, S. 219 ff. Vgl. audi Marguerite Higgins, Robert Kennedy und die MLF, in: Welt, 12. November 1965. Die wichtigste deutsche Reaktion war ein Interview von Außenminister Schröder, vgl. unten, S. 229 ff. Buchan, The Multilateral Force, a.a.O., S. 14; vgl. auch Alastair Budian, The Changed Setting of the Atlantic Debate, in: Foreign Affairs, Juli 1965, S. 574 ff.
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III. Kapitel. Wandel und Ungewißheit
der achtzehn Mächte wiedereröffnet werden könnte.4" Aber Mitte Juli erklärte sich die Sowjetunion überraschend damit einverstanden, die Verhandlungen der Abrüstungskonferenz wiederaufzunehmen.50 Ein Grund dafür ist sicher darin zu sehen, daß sich inzwischen die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und China soweit verschlechtert hatten, daß an eine baldige Wiederherstellung nicht zu denken war. Indem die Sowjetunion ihre Bereitschaft bekundeten, in Genf zu verhandeln, konnte sie die Chinesen moralisch diskreditieren; denn die Vollversammlung der Vereinten Nationen hatte mit 89 Stimmen und nur einer Gegenstimme die Wiederaufnahme der Verhandlungen befürwortet. Der wichtigere Grund war jedoch vermutlich der Gilpatric-Bericht: Wie es scheint, erfaßte die Sowjetunion richtig, daß sich in Genf eine Gelegenheit bot, am „Begräbnis" der multilateralen Streitmacht mitzuwirken. Allerdings wurde die Sowjetunion zu Beginn der Sitzung am 27. Juli 1965 in dieser Hoffnung dann noch einmal enttäuscht. Auf Grund der nervösen deutschen Reaktion51 hatten sich sowohl die USA als auch Großbritannien gezwungen gesehen, der Bundesrepublik zu versichern, daß das Konzept einer multilateralen Streitmacht in der Allianz keineswegs aufgegeben sei. Auf Weisung von Außenminister Gerhard Schröder sprach der Botschafter der Bundesrepublik in Washington, Heinrich Knappstein, im State Department vor, wo ihm versichert wurde, man habe das Konzept nicht fallengelassen." Gleichzeitig erklärte Außenminister Rusk, es werde in Genf kein Tauschgeschäft MLF gegen Nichtverbreitungsvertrag geben53, was kurz darauf von Botschafter Avereil Harriman in Bonn bekräftigt wurde.54 In Genf unterstrich der amerikanische Delegierte Foster am 31. August 1965 die immer noch offizielle Haltung der Vereinigten Staaten und erklärte, die nuklearen Verteidigungs-Arrangements der N A T O seien kein Verhandlungsgegenstand. Er verteidigte die Bundesrepublik gegen sowjetische Vorwürfe: Nicht die Bundesrepublik bedrohe die sowjetische Sicherheit, sagte er, sondern im Gegenteil, die Sicherheit der Bundesrepublik werde durch die zahlreichen auf Westdeutschland gerichteten sowjetischen Raketen bedroht. Der westdeutsche Wunsch nach Teil» Vgl. Welt, 6. Juli 1965. Vgl. Welt, N Z Z , 15. Juli 1965. 5 1 Vgl. unten, S. 228 ff. 5 2 Vgl. N Z Z , 15. und 16. Juli 1965 und Siegler III, S. 248. 5 3 Welt, 12. Juli 1965. 5 4 Welt, 27. Juli 1965. 4
50
Β. Ein Wechsel der amerikanischen Prioritäten
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nähme an einem nuklearen Arrangement entspringe nicht revanchistischen Gelüsten, sondern der berechtigten Sorge der Bundesrepublik um ihre Sicherheit.55 Schon vor der Eröffnung der Genfer Sitzungsperiode war diese amerikanische Politik gegenüber der Bundesrepublik in einem scharfen Prawda-Artikel als Haupthindernis für den Abschluß eines Nichtverbreitungsabkommens bezeichnet worden. 5 ' Angesichts dieser Ausgangslage war die Sitzungsperiode in Genf denn auch nur kurz; sie endete schon nach nicht mehr als sieben Wochen am 17. September 1965. Deutlich wird aus alledem, daß die amerikanische Politik in dieser Periode gekennzeichnet war durch Unbeständigkeit und Wechsel, die in erster Linie auf ein Hin und Her zwischen verschiedenen Regierungsvertretern zurückzuführen waren. Andeutungen, wonach das MLFKonzept aufgegeben werden und ein Nichtverbreitungsvertrag mit der Sowjetunion höchste Priorität erhalten sollte, wurden sogleich dementiert (allerdings bezeichnenderweise selten von der gleichen Stelle); dem folgten neue Andeutungen und neue Dementis.57 Der Hauptgrund hierfür lag darin, daß innerhalb der amerikanischen Regierungsbürokratie noch keine Übereinstimmung erzielt worden war, welcher Kurs einzuschlagen sei: Der Beschluß des Präsidenten vom Dezember 1964 blieb interpretationsfähig — schließlich war es keine eindeutige Absage an die MLF — und wurde vor allem von den Vertretern der MLF in ihrem Sinne interpretiert. Die Abrüstungsbehörde dagegen gab naturgemäß einem Abkommen über Rüstungskontrolle den Vorrang. Das Verteidigungsministerium und Militärkreise waren von jeher mißtrauisch gegen Pläne, den Besitz an amerikanischen Waffen mit anderen zu teilen; eine Einrichtung für nukleare Konsultation und Planung wäre ihnen viel lieber gewesen. Die hartnäckigsten Verfechter des MLF-Konzepts saßen vielmehr im Außenministerium, besonders in dem Kreis um den stellvertretenden Minister George Ball.58 Hier war das Konzept entstanden, und hier machte man sich auch die meisten Sorgen um die Beziehungen der Vereinigten Staaten zu Europa. Als im Herbst 1965 der Zug zu einem Nichtverbreitungsvertrag 55
ENDC/PV 228. « Vgl. Berichte in: NZZ, NYT, 28. Juli 1965. 57 Vgl. z.B. NYT, 18. Oktober 1965 und NZZ, 19. Oktober 1965; auch Marguerite Higgins, Hat die MLF noch eine Chance? in: Welt, 20. Oktober 1965. 58 Vgl. ζ. B. die Bemerkung Balls, daß die MLF nicht einfach „unter den Teppich gekehrt" werden könne (Fernsehinterview in Großbritannien, abgedruckt in: Department of State Bulletin, 25. Oktober 1965, S. 653—660. Vgl. audi NYT, 12. und 19. Oktober und NZZ, 19. Oktober 1965).
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III. Kapitel. Wandel und Ungewißheit
immer stärker wurde, äußerten viele MLF-Befürworter unter dem Eindruck des allgemeinen Trends verstärkt die Ansicht, eine multilaterale Streitmacht und ein Nichtverbreitungsabkommen schlössen einander keineswegs aus; die Sowjetunion müsse nur anerkennen, daß die multilateralen Vorschläge auch der Rüstungskontrolle dienten.5* Aber die Sowjetregierung zerstörte unerbittlich jede Hoffnung, daß ein Nichtverbreitungsvertrag mit einer multilateralen Streitmacht der N A T O vereinbar sein könne. Ein Nichtverbreitungsvertrag, so erklärte sie, biete hinreichend Sicherheit und mache zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen überflüssig.80 Unterdessen wurde die amerikanische Regierung unter ständig zunehmenden Druck gesetzt, das MLF-Projekt ein für allemal fallenzulassen. Clare Timberlake, ein amerikanischer Delegierter der Genfer Abrüstungskonferenz, erklärte in einer Rede in Köln, eine multilaterale NATO-Streitmacht und ein Nichtverbreitungsvertrag seien nicht beide zusammen realisierbar."1 Im Oktober regte Senator Robert Kennedy nochmals an, den MLF-Vorschlag neu zu durchdenken.®2 Es verbreitete sich das Gerücht, das Verteidigungsministerium habe das MLF-Konzept endgültig aufgegeben und konzentriere sich auf ein Konzept gemeinsamer Planung."3 Der einflußreiche Vorsitzende des Joint Atomic Energy Committee, der Abgeordnete Chet Holifield, kritisierte am 15. November die MLF und meinte, die Bundesrepublik solle statt dessen ein größeres Maß an politischem Mitspracherecht erhalten, und zwar im Sinne von McNamaras Vorschlägen für eine gemeinsame nukleare Planung, denen „der Kongreß sicherlich seine Zustimmung erteilen würde".° 4 So war es nur noch ein kurzes Zwischenspiel in dieser Entwicklung, daß sich der amerikanische Regierungsapparat noch einmal geschlossen Vgl. oben, S. 146 ff. Vgl. audi Rusk Pressekonferenz, berichtet in: NZZ, 14. Juli 1965 und den Artikel von Gerard C. Smith in: Sunday Star, Washington, 17. Oktober 1965. M Vgl. z. B. Äußerungen des sowjetisdien Chefdelegierten in Genf, Alexej Rosditsdiin, am 29. März 1966 (ENDC/PV 252); siehe auch Darstellung in Forndran, Probleme der internationalen Abrüstung, a.a.O., S. 219 ff. M N Y T , 10. Dezember 1965. w N Y T , 14. Oktober 1965. »» N Y T , 18. Oktober 1965. " N Y T , 16. November und NZZ, 17. November 1965; ein A E C Commissionar erklärte, die MLF sei das Haupthindernis, das es auf dem Wege zu einem Nichtverbreitungsvertrag zu überwinden gelte; vgl. NYT, 18. November 1965. Der Trend widerspiegelte sich mit zunehmender Deutlichkeit auch in der Presse: vgl. N Y T , 16./17. und 21. Oktober und Christian Science Monitor, 25. November 1965. Zu den Vorschlägen McNamaras vgl. unten, S. 219 ff. und 242 ff.
58
C. Der Ausweg: Gemeinsame nukleare
Planung
219
hinter eine offizielle Erklärung des Außenministeriums stellte, die wiederum als Reaktion auf die deutsche Nervosität erfolgte. Die Erklärung (vom 18. Oktober 1965) trug bereits deutliche Kennzeichen des Kompromisses. Sie wiederholte, daß die Vereinigten Staaten keinen der bestehenden Vorschläge abgelehnt hätten und daß sie weiterhin für Arrangements einträten, die es den nichtnuklearen Verbündeten ermöglichen würden, „an ihrer nuklearen Verteidigung mitzuwirken".95 Es ist bemerkenswert, daß trotz des deutlichen Trends zur endgültigen Aufgabe des Konzepts einer gemeinsamen nuklearen Streitmacht die amtliche Politik den Schein bis weit in das Jahr 1966 hinein aufrechterhielt. Aber abgesehen von den Meinungsverschiedenheiten im amerikanischen Regierungsapparat und der bangen Frage, ob eine endgültige und unzweideutige amerikanische Erklärung zu einer ernsten Krise in der Bundesrepublik und im atlantischen Bündnis führen würde, bestand Hoffnung, daß sich das Problem ohne ausdrückliche Erklärungen und ohne förmliches „Begräbnis" von selbst erledigen würde. Diese Hoffnung wurde besonders genährt durch den amerikanischen Vorschlag, ein gemeinsames nukleares Planungskomitee zu schaffen. Ließe sich dieser Weg erfolgreich beschreiten, so lag keine Notwendigkeit zu gemeinsamem Kern Waffenbesitz vor, und außerdem würde die Sowjetunion wahrscheinlich eher bereit sein, eine solche Lösung hinzunehmen."
C. Der Ausweg: Gemeinsame nukleare Planung Während der ganzen Periode von 1960 bis 1966 gab das amerikanische Verteidigungsministerium und (seit 1961) besonders Minister McNamara einer „politischen Lösung" der nuklearen Probleme der N A T O (d. h. mehr Information, Konsultation und gemeinsame Planung) konsequent den Vorzug vor einer „physischen Lösung" (d. h. gemeinsamer Besitz von Kernwaffen). Jedesmal, wenn Vorschläge für eine Lösung der zweiten Art Probleme aufwarfen, regte McNamara als Alternative eine verstärkte Zusammenarbeit im Konsultations- und Planungsprozeß an. Militärisch war eine multilaterale Nuklearstreitmacht immer als überflüssig angesehen worden; sie hatte jedoch eine Zeitlang als politisch „nützlich" gegolten und war deshalb vom Verteidigungsministerium unterstützt worden. McNamara hatte aber stets NYT, 19. Oktober 1965. " Vgl. dazu den Kommentar von Lothar Ruehl, Welt, 22. Dezember 1966; vgl. audi NZZ, 8. Juli 1966. 65
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III. Kapitel. Wandel und
Ungewißheit
darauf hingewiesen, daß die Vereinigten Staaten ohnehin auf europäischem Boden genügend Kernwaffen für die Verteidigung Europas stationiert hätten und diese Vorräte noch vergrößerten." Sobald also das — hauptsächlich von Beamten des Außenministeriums unterstützte — Konzept einer gemeinsamen Nuklearstreitmacht auf Hindernisse stieß, trat McNamara mit seinen Planungsvorschlägen hervor.®8 Das war 1962 der Fall gewesen; damals hatte McNamara auf der NATO-Ratstagung in Athen die nuklearen „Richtlinien" vorgeschlagen, nachdem der Norstad- bzw. der Herter-Plan im Sande verlaufen war. M Und es geschah abermals in der ersten Hälfte des Jahres 1965, nachdem das MLF/ ANF-Projekt Ende 1964 zurückgestellt worden war. Auf der Tagung der NATO-Verteidigungsminister am 31. Mai 1965 schlug McNamara vor, einen „Selektiven Ausschuß" (Select Committee) aus vier oder fünf Verteidigungsministern der verbündeten Staaten zu bilden, der untersuchen sollte, wie die Mitwirkung der Verbündeten an verschiedenen Aspekten der nuklearen Planung und Konsultation verbessert werden könnte.70 Insbesondere sollte der Ausschuß Mittel und Wege prüfen, erstens zur Erweiterung der Teilnahme der Alliierten am nuklearen Planungsprozeß (durch Einbeziehung der strategischen Streitkräfte brachte McNamara das gesamte amerikanische Raketen-Arsenal in den Zuständigkeitsbereich des Ausschusses), und zweitens zur Verbesserung der Nachrichtenverbindungen, damit interalliierte Konsultationen über den Einsatz von Kernwaffen so schnell und wirkungsvoll wie möglich durchgeführt werden könnten. Im Einklang mit der amtlichen Politik betonte McNamara, der Vorschlag sei nicht an eine Annahme oder Ablehnung der bestehenden Pläne für eine alliierte Nuklearstreitmacht durch die Vereinigten Staaten geknüpft. Vielmehr sei er als direkte Fortsetzung einer Politik anzusehen, die bis ins Jahr 1961 zurückreiche: Schon damals habe er den „berechtigten Wunsch aller NATO-Länder nach Teilnahme an der Festlegung der politischen Strategie und der Bedingungen für den Einsatz von Kernwaffen" anerkannt.71 Von 1961 bis 1966 wuchs das Arsenal amerikanischer nuklearer Sprengköpfe in Westeuropa auf 7000 an; vgl. Wehrpolitisdie Information, Köln, 7. Oktober 1966 und Cleveland, NATO — The Transatlantic Bargain, a.a.O., S. 194. 68 McNamara soll gesagt haben, wenn die Europäer nur voll unterrichtet würden, würden sie die Idee einer gemeinsamen Streitmadit schon aufgeben; Lothar Ruehl, Welt, 22. Dezember 1966. ·· Vgl. oben, S. 73 ff. und 78 ff. 70 Siehe Schlufikommuniqué in: EA 12/1965, S. D 320; vgl. auch NYT und Welt, 1. Juni 1965. 71 So die NYT, 1. Juni 1965. 67
C. Der Ausweg: Gemeinsame nukleare
Planung
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Die Kontinuität der Politik McNamaras — oder jedenfalls die Ubereinstimmung mit den Beschlüssen der NATO-Ratstagungen in Athen und Ottawa — ist tatsächlich vorhanden. Dennoch erinnerte McNamaras Vorschlag zu Beginn viele an das alliierte nukleare „Direktorium", dessen Schaffung de Gaulle am 17. September 1958 in einem Brief an Präsident Eisenhower angeregt hatte. De Gaulle hatte damals vorgeschlagen, das Direktorium solle aus drei Mitgliedern bestehen: den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich. Die Vereinigten Staaten hatten die Idee abgelehnt, weil sie darin eine Diskriminierung der übrigen Verbündeten, besonders der Bundesrepublik und Italiens, erblickten." Folgerichtig schlug McNamara jetzt einen Ausschuß mit „vier oder fünf" Mitgliedern vor, dem also augenscheinlich die Bundesrepublik und möglicherweise auch Italien angehören sollte. Überraschenderweise erklärte sich auch Frankreich bereit, den Vorschlag zu „studieren"; allerdings vermutlich weniger aus wirklichem Interesse als vielmehr, um nicht durch eine sofortige Ablehnung sichtlich unkooperativ zu erscheinen. Die bisherige Haltung Frankreichs hatte zur Genüge gezeigt, daß es gegen die Einbeziehung nicht-nuklearer Mächte war, ganz abgesehen davon, daß es die Absicht hatte, mehr und mehr eine selbständige Politik zu betreiben.7' So informierte denn die französische Regierung am 9. Juli 1965 den NATO-Rat, daß Frankreich an einer Beteiligung nicht interessiert sei.74 Auch von den anderen Verbündeten wurde der Vorschlag durchaus nicht sofort akzeptiert; im Schlußkommunique der NATO-Ratstagung vom Mai hieß es nur, daß die Idee „weiterer Erwägung" unterzogen werden solle.75 Einmal war der Vorschlag, so wie er auf der Tagung unterbreitet wurde, noch sehr vage; zum anderen war die MLF/ANF noch nicht gänzlich von der Bildfläche verschwunden. Amerikaner und Deutsche hatten sogar betont, der Ausschuß sei nicht als Ersatz für das 7ï
73 74 75
Der Briefaustausch zu dieser Frage wurde später, zusammen mit einer Erklärung des State Department, veröffentlicht. Die erste amerikanische Reaktion war demnach, Dreiergespräche nicht über nukleare, sondern über andere Fragen allgemeinen Interesses zu führen (ζ. B. militärische Probleme in Afrika), aber das lehnte Frankreich ab. Als die Vereinigten Staaten zuerst im August 1959 und dann im Juni 1961 dodi Gespräche über die Nuklearstrategie vorschlugen, schlug de Gaulle, inzwischen noch selbstbewußter, beim ersten Mal eine Gipfelkonferenz vor; das zweite Mal antwortete er gar nicht; vgl. hierzu Ball, The Discipline of Power, a.a.O., S. 128 ff. und de Gaulle, Mémoirs d'Espoir, a.a.O., S. 211 ff. Vgl. Kommentare in: Welt, 3. Juni 1965 (Lothar Ruehl) und NYT, 2. Juni 1965. NYT, 10. Juli 1965. Text in: EA 12/1965, S. D 320.
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III. Kapitel. Wandel und Ungewißheit
Konzept einer multilateralen Streitmacht zu betrachten.7® Doch je lauter die Kritik an der „hardware-Lösung" wurde, desto häufiger wurde zu beiden Seiten des Atlantiks der Gedanke geäußert, dieser Ausschuß sei vielleicht die Antwort auf die nukleare Frage im Bündnis; schließlich sei das Problem politischer, nicht militärischer Natur, und „hardware" sei deshalb nicht notwendig. 77 Im Herbst 1965 begannen die USA, in verschiedenen diplomatischen Avancen den Vorschlag zu fördern, und am 27. November trat der Aussdiuß erstmalig zusammen. E r war ohne viel Aufhebens auf zehn Mitglieder erweitert 78 und in einen „Sonderausschuß" (Special Committee) umbenannt worden (doch firmierte er eine ganze Weile unter der Bezeichnung „McNamara-Aussdiuß"). Drei Arbeitsgruppen wurden gebildet: eine für nukleare Planung, eine für Information und Datenaustausch und eine für Nachrichtenverbindungen. 7 ' Die konstituierende Sitzung des Ausschusses war für die Bundesrepublik enttäuschend. Die Tatsache, daß der Ausschuß aus zehn (später sogar zwölf) Mitgliedern bestand, schien darauf hinzudeuten, daß er keine nennenswerten Verbesserungen bringen werde, weder was den Status der Bundesrepublik noch was die Bedeutung der vorgesehenen gemeinsamen Funktionen betraf. Diese Funktionen waren in der Tat ziemlich begrenzt; sie beschränkten sich anfangs auf Unterrichtung über die bestehenden Einrichtungen und deren kritische Betrachtung, wobei man sich auf militärische Fragen konzentrierte und politische Probleme vermied.8® Auch wurde die Bundesrepublik Mitglied nur einer Arbeitsgruppe, allerdings der zweifellos wichtigsten, nämlidi der für nukleare Planung. Die Gruppe für Information und Datenaustausch war indessen nicht viel weniger wichtig, da sie sidi mit den Schätzungen über Stärke und Absichten des Feindes beschäftigen sollte. Die Bundesrepublik war auch an dieser Gruppe interessiert, erhielt aber keinen Sitz in ihr. Schließlich wurde die Bedeutung der Gruppe für nukleare Planung dadurch herabgemindert, daß auf Betreiben der Niederlande neben den 7« 77
78
79 80
Welt, 14. Oktober 1965. Vgl. oben, S. 146ff. und 157ff.; vgl. audi N Y T und Washington Post, 20. Oktober 1965 und NZZ, 22. Oktober 1965. USA, Vereinigtes Königreich, BRD, Italien, Kanada, Belgien, Niederlande, Dänemark, Griechenland und Türkei; Portugal und Norwegen traten der Gruppe 1966 bei, die im April, Juli und September in verschiedenen Hauptstädten zu offiziellen Sitzungen zusammentrat. Kommuniqué in EA 2/1966, S. D 48. Vgl. N Y T , 19./20. Februar 1966.
D. Deutsche Politik: Der
Übergang
223
Vereinigten Staaten, Großbritannien, der Bundesrepublik und Italien ein fünftes Mitglied, die Türkei, in sie aufgenommen wurde. Damit war klar, daß durch diesen Vorschlag weder der Status nodi der Einfluß der Bundesrepublik wesentlich erhöht wurden — zumindest für den Augenblick.81 Ein Jahr später jedoch wurde der Ausschuß verändert und institutionalisiert. Auf der NATO-Ratstagung im Dezember 1966 wurde ein „Defense Planning Committee" (DPC) gebildet, dem alle NATO-Mitglieder außer Frankreich angehörten. Ferner wurde ein „Nuclear Defense Affairs Committee" (NDAC) geschaffen, das aus zwölf Mitgliedern bestand (alle außer Frankreich, Island und Luxemburg). Und schließlich wurde eine „Nuclear Planning Group" (NPG) mit sieben Mitgliedern eingerichtet. Vier davon waren ständige Mitglieder: die USA, Großbritannien, die Bundesrepublik und Italien; für die übrigen drei Sitze wurde alle achtzehn Monate die Ablösung von je zwei Mitgliedern auf geographischer Grundlage vorgesehen: die Türkei und Griechenland für Südosteuropa, Belgien und die Niederlande für Westeuropa, schließlich Dänemark und Kanada. 82
D. Deutsche Politik: Der
Übergang
Obwohl McNamaras Vorschlag zur nuklearen Planung vom 31. Mai 1965 eine Fortführung der in Athen 1962 und in Ottawa 1963 entwickelten Konzepte darstellte und McNamara selbst darauf hinwies, daß damit kein Kurswechsel beabsichtigt und der Vorschlag nicht als Ersatz für die zur Debatte stehenden Mitbesitz-Vorsdiläge gemeint sei, Schloß dieser Vorschlag doch faktisch den zweiten Zyklus der atlantischen Nuklearpolitik ab.83 Ende 1959 hatte Außenminister Herter — im wesentlichen den Gedanken von General Lauris Norstad folgend — den Vorschlag gemacht, die N A T O in eine „vierte Nuklearmacht" zu verwandeln. Nadidem die Bundesrepublik, vertreten durch den damaligen Verteidigungsminister Strauß, diese Idee eine Zeitlang entschieden unterstützt hatte, zog sie sich angesichts wachsender Bedenken des Auslands bis April 1962 allmählich wieder zurück. Das Resultat der 81
M
8S
Vgl. Welt, 25. Oktober und 29. November 1966; NZZ, 28. November und N Y T 29. November 1966. Vgl. Kommuniqué in EA 2/1967, S. D 42; diese Zusammensetzung wurde später modifiziert, vgl. unten, S. 249 f. Vgl. oben, S. 85; audi Sommer, The Objectives of Germany, a.a.O., S. 43—45.
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III. Kapitel. Wandel und
Ungewißheit
NATO-Tagung in Athen war denn auch nicht mehr als eine vage Vereinbarung über verbesserte Konsultationen.84 Dieses Verfahren blieb jedoch ergebnislos; vor allem aber brachte die Debatte um die Bündnisstrategie in den Jahren 1961 und 1962 zunehmende Unsicherheit in die Fragen der nuklearen Verteidigung des Bündnisses.85 Daher wurde Ende 1963 das Konzept eines gemeinsamen nuklearen Arrangements der NATO zum zweiten Mal zur Diskussion gestellt, diesmal in Gestalt der MLF, und eine zweite Runde nuklearer Diplomatie in der Allianz begann. Wieder wurde die Verhandlungsrunde durch einen amerikanischen Vorschlag eingeleitet, wieder griff ihn die Bundesrepublik auf, wieder erweckte ihr Eifer Zweifel an der Harmlosigkeit ihrer Motive und erzeugte Gegendruck in Ost und West; und wieder wurde die „physische" Lösung schließlich vertagt und durch einen neuen „politischen" Lösungsversuch ersetzt. Der Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Runde liegt vielleicht nur darin, daß am Ende der zweiten Runde konkrete Verhandlungen stattgefunden hatten und weiter vorangekommen waren, daß die Verpflichtungen extensiver waren — und daß die Bundesrepublik einige Zeit brauchte, um den Gedanken einer gemeinsamen Nuklearstreitmacht wieder aufzugeben. Die deutsche Nuklearpolitik seit Januar 1965 ist also gekennzeichnet durch einen allmählichen, aber deutlichen Übergang vom Konzept des gemeinsamen Besitzes zum Konzept einer verstärkten Konsultation und gemeinsamen Planung. Daß die Bundesregierung den gemeinsamen Besitz und eine gemeinsame Nuklearstreitmacht vorgezogen hätte, blieb bis weit in das Jahr 1966 hinein erkennbar; aber schon gegen Ende 1965 wurde dieser Wunsch vorsichtiger formuliert. Man forderte nicht mehr, daß eine gemeinsame Nuklearstreitmacht so bald wie möglich errichtet werden müsse — wie das im Erhard-Johnson-Kommunique vom Sommer 1964 geschehen war —, sondern sprach von „einer angemessenen Rolle in der nuklearen Verteidigung" für die Bundesrepublik — so im Erhard-Johnson-Kommunique vom Dezember 1965.8" Inzwischen war auch offensichtlich, daß für das Konzept gemeinsamen Besitzes nuklearer Waffen eine Mehrheit im Bundestag nicht mehr zu finden war, und im folgenden Frühjahr war es sogar zweifelhaft, ob sich im Kabinett eine Mehrheit für ein solches Projekt finden ließe. In der Zeit vom Januar 1965 bis zum Herbst 1966 wurde in der Tat der Boden bereitet für die 84 85 89
Vgl. oben, S. 122 ff. Vgl. oben, S. 93 ff. und 159 ff. Vgl. die beiden Erhard-Johnson Kommuniqués vom 12. Juni 1964 (in: EA 13/1964, S. D 323—325) und vom 21. Dezember 1965 (in: EA 2/1966, S. D 54).
D. Deutsche Politik: Der Ubergang
225
endgültige Aufgabe des MLF-Konzepts durch die Regierung der „Großen Koalition" aus CDU/CSU und SPD, die im November 1966 gebildet wurde. In dem gemeinsamen Planungs-Arrangement sahen die USA jetzt eine Möglichkeit, die Aufrechterhaltung der bei ihnen ruhenden letzten Entscheidungsgewalt (decision-taking) zu kombinieren mit einer gewissen Mitwirkung der Verbündeten am Planungsprozeß (decision-making), die deren Befürchtungen und deren Unzufriedenheit über das amerikanische Nuklearmonopol in der Allianz mildern könnte. Auch den entschiedensten deutschen MLF-Anhängern entgingen nicht die Vorteile, die ein wirksames Planungs-Arrangement bieten konnte. Viele der nuklearen Entscheidungen, die im Kriegsfall in Betradit kommen würden, werden praktisch schon vorher im Planungsprozeß getroffen.87 Außerdem bedeutete solch ein Arrangement Mitsprache bei der Planung für einen großen Teil der westlichen Abschreckungsmacht einschließlich amerikanischer strategischer Waffen, während in der MLF nur ein geringer Teil des westlichen Potentials enthalten gewesen wäre. Allerdings schien es vielen deutschen Vertretern, daß gemeinsamer Besitz die Teilnahme am Planungsprozeß institutionalisieren würde und daß eine solche institutionalisierte Mitsprache nicht so leicht rückgängig zu machen wäre wie ein einfaches administratives Arrangement. Prägnant drückte das Hassel Ende 1965 aus: „Mitbestimmung bedeutet nicht Mitbesitz, aber Mitbesitz sichert Mitbestimmung." 88 Nach Meinung der Gruppe um Erhard, Schröder und Hassel sollte ein Planungs-Arrangement allein nur dann angestrebt werden, wenn es unmöglich wäre, irgendeine Form von gemeinsamem Besitz zu erlangen.80 Die in der Opposition stehende Sozialdemokratische Partei hatte dagegen stets die Meinung vertreten, daß die Eigentümer von Kernwaffen nicht „enteignet" werden könnten und daß es eine Illusion sei, anzunehmen, Entscheidungen von solcher Tragweite ließen sich in Ausschüssen treffen, in denen der stärkste (nukleare) Partner überstimmt werden könnte'" Außerdem repräsentiere eine gemeinsame Nuklearstreitmacht nur einen Bruchteil der gesamten Nuklearstreitkräfte des Westens, während ein Planungs-Arrangement Einfluß auf einen viel größeren Teil der Abschreckungsmacht verleihen könne. Fritz Erler, der angesehene Fraktionsführer der Partei, schrieb 1963: „Man würde sich 87 88 88 00
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
unten, S. 242 ff. Bericht der Welt, 29.11.1965. hierzu audi Cornides, Eine Strategie der Geduld, a.a.O., S. 45. Erler, Westeuropa und die Vereinigten Staaten, a.a.O., S. 893.
15 Mahndce
226
III. Kapitel. Wandel und
Ungewißbeit
jetzt wie auch für die nahe Zukunft Illusionen hingeben, wenn man glaubte, ein System ändern zu können, bei dem der Präsident der Vereinigten Staaten diese schwere Verantwortung [des nuklearen Einsatzes] für uns alle zu tragen hat. Er wird als ,Treuhänder', als Mann unseres Vertrauens, handeln. Es gilt, seine Entscheidungen so vorzubereiten, daß die europäischen Notwendigkeiten, die europäischen Vorstellungen und die europäischen Menschen in diesen Entscheidungen den gebührenden Platz erhalten."'1 Für die SPD war die Rangordnung der Ziele also umgekehrt: Wünschenswert war für sie in erster Linie eine Mitwirkung am Planungsprozeß. Trotzdem unterstützte sie zeitweilig die MLF als „zweitbeste" Lösung, die man anstreben könne, wenn eine befriedigende politische Lösung nicht zu finden sei, oder die auch als Hebel zur Herbeiführung einer solchen politischen Lösung benutzt werden könne. Im Laufe der Diskussion um die MLF reduzierte die SPD diese Position sogar nodi weiter: Sie forderte, die Regierung solle auf die MLF verzichten und als Gegenleistung nur ein Vetorecht bezüglich des Abschusses von Kernwaffen von deutschem Boden aus oder gegen Ziele auf deutschem Boden verlangen.'2 So bemerkte Herbert Wehner am 5. Oktober 1966 im Bundestag: „Wir haben erklärt, daß die Strategie des Bündnisses für uns unter allen Umständen von lebenswichtiger Bedeutung ist und daß sich daraus die Forderung auf volle Beteiligung an der Planung ergibt. Wir haben weiter erklärt, daß sidi die deutsche Beteiligung auf eine wirksame gemeinsame Planung beschränken könne, daß die Gemeinschaftslösung des nuklearen Problems auf die abrüstungspolitischen Notwendigkeiten Rücksicht nehmen müsse und daß ein deutscher Mitbesitz an Nuklearwaffen nicht erforderlich sei und audi nicht von uns gewollt werde, wenn nämlidi das andere gewährleistet sei. Sdiließlidi: die Bundesrepublik trägt besondere Verantwortung für das Überleben des " Ebd., S. 892; vgl. audi die Äußerungen von Helmut Schmidt im Bundestag (Stenographische Berichte, 30. November 1965 und 23. September 1966). M Vgl. die Debatten im Bundestag über diese Frage, 2.—29. Dezember 1965 und 23. September 1966; vgl. audi Fritz Erler, Demokratie in Deutschland, Stuttgart 1965, S. 129. Als die Große Koalition im Herbst 1966 gebildet wurde, wurde die MLF endgültig abgeschrieben; dem Gedanken eines formalisierten Vetos hingen viele jedoch weiter nach (vgl. unten, S. 230). Die Hoffnung, die sich damit verband, war nicht nur ein größerer (negativer) Einfluß auf den Einsatz nuklearer Waffen, sondern vor allem auch Einfluß auf die Planung, da die Vereinigten Staaten ein deutsches Veto über die Mehrzahl der amerikanischen nuklearen Waffen in Westeuropa nicht riskieren würden, nur weil es vorher keine ausreichende gemeinsame Planung gegeben hatte (vgl. oben, S. 58).
D. Deutsche Politik: Der Übergang
in
ganzen deutschen Volkes. Ihre Regierung muß daher ein Vetorecht ausüben können, wenn die Auslösung nuklearer Waffen verfügt werden soll, die auf deutschem Boden stehen oder gegen Ziele auf deutschem Boden gerichtet sind."'3 Die SPD zog eine Beteiligung am Planungsprozeß vor und forderte nach und nach immer offener die Aufgabe der MLF. Eine ähnliche Bewegung wurde zur gleichen Zeit in der FDP erkennbar, die der Regierungskoalition angehörte." Die „ Gaullisten " der CDU/CSU waren seit dem Aufflammen der französischen Opposition sowieso kategorisch gegen die MLF95; sie waren aber nicht gegen gemeinsame PlanungsArrangements, solange diese nicht die Entwicklung zur europäischen Einheit und zu einer unabhängigen Abschreckungsmacht behinderten." Bundesminister Heinrich Krone erklärte in einem Interview mit der Hannoverschen Allgmeinen Zeitung am 24. Juli 1965: „Im Prinzip sollte es möglich sein, das schon in bescheidenen Anfängen bestehende System einer Beteiligung der Nicht-Atommächte an der nuklearen Strategie der NATO weiter auszubauen, ohne zu diesem Zweck eine neue Atom-Streitmacht aufzubauen, deren nukleare Kapazität ohnehin nur einen sehr geringen Bestandteil der Gesamtkapazität des Westens ausmachen würde. Der Vorschlag des amerikanischen Verteidigungsministers McNamara . . . scheint mir grundsätzlich richtig zu sein." Und am 23. September 1966 sagte Kurt Birrenbach im Bundestag, die Bundesrepublik habe ein Interesse daran, an allen Phasen des nuklearen Entscheidungsprozesses beteiligt zu sein, während die letzte Entscheidung beim amerikanischen Präsidenten verbleiben müsse." ,3 94
95
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15»
Deutscher Bundestag, Stenographische Berichte, 5. Oktober 1966, S. 2952. Vgl. die Debatten im Bundestag vom 29. November bis zum 2. Dezember 1965 und insbesondere vom 23. September 1966 (Stenographische Berichte, S. 2911) und vom 5. Oktober 1966 (Stenographische Berichte, S. 2959—2960). Vgl. oben, S. 190 ff. Strauß war auch zu der Uberzeugung gekommen, daß die Verfügungsgewalt über nukleare Waffen immer beim Eigentümer ruhen würde: Eine MLF würde für die Bundesrepublik also keinen wirklichen Einfluß mit sich bringen. Frankreich hatte den Weg der nationalen Selbständigkeit gewählt. Das konnte die Bundesrepublik nicht tun: Somit sah Strauß den einzigen Weg zu einer wirklichen nuklearen Mitwirkung für die Bundesrepublik in einer selbständigen westeuropäischen Nuklearstreitmacht; vgl. ζ. B. Strauß, Herausforderung und Antwort, a.a.O. Vgl. auch oben, S. 190 ff. und Baumann, Die Bundesrepublik als NATO-Partner, a.a.O., S. 19—20 sowie die Äußerungen Guttenbergs im Deutschen Bundestag am 23. September 1966 (Stenographische Berichte, S. 2915—2916) und Barzels im Bundestag am 5. Oktober (Stenographische Berichte, S. 2944). Deutscher Bundestag, Stenographische Berichte, 23. September 1966, S. 2898 ff.
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III. Kapitel. Wandel und Ungewißheit
So nahm die Unterstützung des MLF-Konzepts bei allen politischen Richtungen der Bundesrepublik im Laufe der Jahre 1 9 6 5 / 6 6 rapide ab. Sicher war die gelockerte Einstellung zur nuklearen Frage in der N A T O nur möglich in der Atmosphäre zunehmender Entspannung in Europa, im Gefühl nachlassender akuter Bedrohung durch die Sowjetunion; zum Teil war sie sogar ein Ergebnis dieser Atmosphäre oder wurde jedenfalls durch sie gefördert. Hier lag denn audi ein tieferer Grund für den amerikanisdien Prioritätenwechsel und den anschließenden — freilich langsameren und schmerzlicheren — Wandlungsprozeß in der Bundesrepublik. Das Ineinandergreifen der verschiedenen Faktoren — Entspannung in Europa, aber wachsendes amerikanisches Engagement in Vietnam mit der nuklearen Frage in der Allianz und der weiteren Frage der Nichtverbreitung von Kernwaffen — wurde bereits spürbar auf der ersten Tagung des N A T O - R a t s nach den Ereignissen vom Dezember 1964. Die Tagung im Mai 1965 war überschattet von dem amerikanisdien Engagement in Südostasien; weder über die M L F noch über die A N F wurde offiziell diskutiert."8 Dennoch erklärte Bundesaußenminister Schröder am 11. Mai vor dem R a t : „Wenn die Allianz eine Zukunft haben soll, werden wir im Laufe der nächsten Jahre eine Reihe schwieriger Probleme lösen müssen. Dazu gehört insbesondere auch das Problem der Mitverantwortung und der Teilhabe der niditnuklearen Allianzpartner an der nuklearen Verteidigung. Wenn es im Laufe der bisherigen Bemühungen nicht gelungen ist, zu einer alle überzeugenden Lösung zu kommen, so müssen unsere Bemühungen eben weitergehen, bis wir eine befriedigende Übereinstimmung erreichen."'"1 Obwohl die Unterstützung einer NATO-Nuklearstreitmadit in allen deutschen Parteien rapide abnahm, erweckte die amtliche Politik, die von den langjährigen Vertretern des Mitbesitz-Konzepts, Schröder und Hassel — mit Bundeskanzler Erhard in ihrem Kielwasser — , bestimmt wurde, somit immer wieder den Anschein zähen Festhaltens an der bisherigen Position. 100 Es war nicht so, daß Schröder oder Hassel die Vor»8 N Y T , NZZ, Le Monde, 13. Mai und Welt, 13. und 14. Mai 1965. Le Monde spricht von einer „Détente in der NATO". Auf dieser Sitzung kam auch wieder eine gemeinsame Erklärung zur deutschen Frage zustande, was im Dezember 1964 am französischen Widerstand gescheitert war. M Pressedienst des Auswärtigen Amts, abgedruckt in Siegler III, a.a.O., S. 195. 100 Dadurch wurde vorhandenes Mißtrauen über die deutschen Motive verstärkt; andere interpretierten es als einen besonderen Hang der Deutschen, dem Verlorenen nachzujagen; vgl. Sommer, The Objectives of Germany, a.a.O., S. 45.
D. Deutsche Politik: Der Übergang
229
zíige der vorgeschlagenen gemeinsamen Planung etwa nicht erkannt hätten181; sie bestanden aber darauf, daß diese kein Ersatz für ein integriertes nukleares Waffensystem sein dürfe. In seinem berühmten Interview mit den Düsseldorfer Nachrichten vom 3. Juli 1965 sagte Schröder: „Der Vorschlag des amerikanischen Verteidigungsministers McNamara soll eine multilaterale atlantische Abschreckungsmacht nicht ersetzen. McNamara hat lediglich die Bildung eines Studienkomitees auf hoher Ebene vorgeschlagen, das die verschiedenen, sehr schwierigen Probleme der atomaren Struktur des atlantischen Bündnisses untersuchen soll. Er hat erklärt, daß er seinen Vorschlag zusätzlich zu dem Projekt der MLF mache."10* Trotz des offiziellen Beharrens auf dem Standpunkt, daß ein Planungs-Arrangement kein ausreichender Ersatz für eine gemeinsame Streitmacht sein könne103, zeigte indessen auch die amtliche deutsche Politik mit der Zeit vage, aber wahrnehmbare Modifikationen. Die Forderungen nach einer gemeinsamen Streitmacht verloren an Deutlichkeit und der Nuklearen Planungsgruppe wurde größere Aufmerksamkeit zugewandt (das war bedeutsam angesichts der Tatsache, daß sdion auf der ersten Sitzung des Sonderausschusses beschlossen worden war, die Frage des nuklearen Mitbesitzes nicht zum Diskussionsgegenstand zu machen104). Als Erhard im Dezember 1965 mit Johnson zusammentraf, gab er zwar privat zu verstehen, daß die Deutschen eine gemeinsame Streitmacht vorziehen würden, aber er mußte hinnehmen, daß im offiziellen Kommunique der Bundesrepublik lediglich „eine angemessene Rolle" in der nuklearen Verteidigung des Bündnisses zugesichert wurde.105 Der Wechsel des deutschen Standpunkts ging in der Tat sehr langsam 101
102 103
104
105
Die erste Reaktion von Verteidigungsminister von Hassel zum McNamara Vorschlag war, daß er Ausdruck der amerikanischen Politik der nuklearen Partnerschaft sei und weiter untersucht werden sollte (vgl. Bericht in Welt, 2. Juni 1965). Erhard erklärte offiziell die Bereitschaft der Bundesrepublik, zu kooperieren, in einer Rede in Hildesheim am 4. September 1965 (vgl. Siegler III, a.a.O., S. 291). Abgedruckt in: Bulletin, Nr. 117, 9. Juli 1965, S. 948—949, hier S. 949. Hassel noch im März 1966; vgl. Welt 7. März und General-Anzeiger (Bonn), 9. März 1966. Vgl. oben, S. 222 und NZZ 27. November 1965 sowie The Economist, 6. August 1966. Vgl. das Kommunique in: EA 2/1966, S. D 54. Vgl. auch Sommer, The Objectives of Germany, a.a.O., S. 46 und Geyelin, Lyndon Β Johnson, a.a.O., S. 179—180. Zu diesem Zeitpunkt war Johnson vermutlich sdion der Meinung, daß im besten Fall eine Variation der ANF Zustandekommen würde.
230
111. Kapitel. Wandel und
Ungewißheit
vonstatten: Die These, daß ein Planungs-Arrangement nur eine Zugabe zu einer gemeinsamen Streitmacht sein würde, wurde abgelöst durch immer vagere Äußerungen über nuklearen Mitbesitz und immer betontere Hinweise auf nukleare Mitplanung. Endgültig aufgegeben wurde das Konzept einer atlantisdien Streitmacht mit der Bildung der Regierung der Großen Koalition aus C D U / C S U und SPD im November 1966. Die Entscheidung wurde nach Konsultationen mit dem Außenministerium in Washington in der Koalitionsvereinbarung niedergelegt. Von nun an beschränkten sich die nuklearen Wünsche der Bundesrepublik auf Beteiligung an der Planung und dem Krisen-Management, auf ein reserviertes Interesse an einem Vetorecht (das die C D U / C S U von der SPD übernahm), auf den Wunsch nach fortgesetzter Ausrüstung mit taktischen Atomwaffen (den die SPD von der C D U / C S U übernahm) und auf eine Option für eine spätere europäische Nuklearstreitmadit. 106 Der neue Außenminister, Willy Brandt, sprach am 16. Dezember 1966 im Bundestag nur noch von einer Option für eine gemeinsame europäische Verteidigung107, während Schröder, jetzt Verteidigungsminister im Koalitionskabinett, nicht mehr nach einer gemeinsamen Streitmacht verlangte. Statt dessen forderte er, die Nukleare Planungsgruppe solle untersuchen, wie die Verbündeten enger in die gemeinsame nukleare Planung unter Einsdiluß strategischer Waffen einbezogen werden könnten; sie solle die Verfahren der gemeinsamen Konsultation verbessern, und sie solle Möglichkeiten prüfen, für die Bundesrepublik ein Vetorecht hinsichtlich derjenigen Kernwaffen einzuführen, die von deutschem Boden aus oder gegen Ziele auf deutschem Boden eingesetzt würden.108 Es bleibt nodi die Frage, warum die offizielle deutsche Politik so zäh an einem Vorschlag festhielt, als dieser nur noch wenig amerikanische (und noch weniger internationale) Unterstützung genoß, und auch in der Bundesrepublik selbst heftig umstritten war. Schließlich beharrte die Bundesregierung noch fast zwei Jahre lang auf dem MLF-Projekt, nachdem es im Dezember 1964 von den Vereinigten Staaten praktisch aufgegeben worden war. Ein Grund dafür ist bestimmt in der Tatsache zu sehen, daß Schröder, Hassel und Erhard sich persönlich sehr stark io« Vgl. dazu Theo Sommer, Bonn Changes Course, in: Foreign Affairs, April 1967, S. 477—491. 107
108
Deutsdier Bundestag, Stenographische Berichte, 16. Dezember 1966, S. 3853 ff., insbesondere S. 3855. Schröder nach dem Treffen des Special Committees und der Gründung der drei Arbeitsgruppen; vgl. SZ, 15. Dezember 1966.
D. Deutsche Politik: Der Übergang
231
engagiert hatten; aber darüber hinaus lassen sich audi eine Reihe anderer, objektiver Gründe nennen. Der wichtigste Grund war sicher die Überzeugung, daß letztlich nur der Besitz von Kernwaffen — allein oder gemeinsam mit anderen — eine Beteiligung am Planungs- und Entscheidungsprozeß garantiere. Kompromißlos und konsequent wurde diese Auffassung paradoxerweise nur von den „Gaullisten" vertreten, aber in modifizierter Form auch von Hassel, Schröder und Erhard: Ihrer Meinung nach war Mitbesitz zwar keine Vorbedingung für Mitbestimmung, aber er war notwendig, um diese zu institutionalisieren und zu sichern. So hatte Hassel festgestellt: „Mitbestimmung bedeutet nidit Mitbesitz, aber Mitbesitz sichert Mitbestimmung"10*, und Schröder hatte in seinem Interview vom Juli 1965 erklärt, die Bundesrepublik sei zwar nicht „doktrinär festgelegt", wie eine atomare Ordnung innerhalb des Bündnisses im einzelnen aussehen müsse, aber die Bundesregierung habe doch „ganz klare Vorstellungen darüber, weldie technischen und organisatorischen Mindestanforderungen an sie gestellt werden müssen, damit sie, audi was Deutschland betrifft, den eventuellen Gegner ,in glaubhafter Weise' abschrecken kann." 110 Der gemeinsame Besitz von Kernwaffen wäre institutionalisierte Mitbestimmung; er würde „einen konkreten Gegenstand für ständige Konsultation bilden, er wäre eine dauerhaftere und permanentere Lösung (weil weniger leicht aufzuheben) als ein Ausschuß, und er wäre politisch bindender, weil er auf neuen und formellen vertraglichen Verpflichtungen beruhen müßte, nicht nur auf technischen Vereinbarungen". 111 Ein zweiter Grund, die Option für eine gemeinsame Streitmacht offenzuhalten — und diese Position wurde auch von vielen unterstützt, die sonst keine MLF-Anhänger waren —, bestand darin, daß sie als Handelsobjekt zur beschleunigten Herbeiführung der integrierten Planung dienen konnte. 1 " Das eine Ziel sollte erst aufgegeben werden, so meinte man, falls und wenn das andere erreicht war. Aber der McNamara-Vorschlag bradite erst allmählich befriedigende Ergebnisse. Die ersten Resultate waren willkommen, soweit es um bessere Information ging; sie waren aber politisch enttäuschend, was wirklichen Einfluß auf den Planungsprozeß betraf.113 Nach der ersten Sitzung hatte es den 109
A.a.O. (Anm. 88). Bulletin, a.a.O. (Anm. 102), S. 949. 111 Sommer, The Objectives of Germany, a.a.O., S. 46. 112 Vgl. Schröder, Deutscher Bundestag, Stenographische Berichte, 23. September 1966, S. 2910. 113 Vgl. oben, S. 222 f. Das änderte sidi dann aber sehr bald, vgl. unten, S.. 242 ff. 110
232
III. Kapitel. Wandel und Ungewißheit
Anschein, daß der Ausschuß kaum mehr sein würde als eine Studienund Diskussionsgruppe; und Hassel erklärte, es sei mehr erforderlich als ein „Gefühl der Teilnahme".114 Ein Jahr später, nachdem der Ausschuß formell institutionalisiert worden war, schrieb Carl Amme über die Nukleare Planungsgruppe: „Diese ständige Nukleare Planungsgruppe mit sieben Mitgliedern bietet Gelegenheit zu verstärkter Koordination und verstärktem Meinungsaustausch über nukleare Strategie. Was jedodi ihre Fähigkeit betrifft, einen Beitrag zur Lösung des Problems der nuklearen Kontrolle und des nuklearen Mitbesitzes zu leisten, so kann man nicht umhin, pessimistisch zu sein."115 Und die New York Times schrieb über den Vorschlag: „Ein Zeichen für seine relative Harmlosigkeit mag sein, daß sich die Sowjetregierung ruhig mit dem Projekt abgefunden hat. Jedenfalls soll Außenminister Gromyko während seines Besuchs in den Vereinigten Staaten im Oktober 1966 diesen Standpunkt eingenommen haben." 11 ' Wie sich aber zeigen sollte, wurde das Konzept des nuklearen Mitbesitzes fallengelassen, noch bevor wirklich entscheidende Fortschritte in Richtung auf eine Planungslösung erreicht worden waren. Ein weiterer Grund für die deutsche Beharrlichkeit in der Frage des nuklearen Mitbesitzes ist im Zusammenhang mit der Frage der Nichtverbreitung von Kernwaffen zu sehen. Das amerikanische Interesse an einem Nichtverbreitungsvertrag nahm — auf Kosten der Aufmerksamkeit für NATO-Probleme — ständig zu; in Genf und New York wurden ein amerikanischer und ein sowjetischer Vertragsentwurf vorgelegt, aber die Sowjetunion bestand darauf, daß das größte Hindernis für entscheidende Fortschritte in der Nichtverbreitungsfrage die NATOPläne für ein integriertes Waffensystem seien.1" Unter diesen Umständen hoffte die Regierung Erhard, daß die offene Nuklearfrage in der N A T O wenigstens als Druckmittel dienen könne, um auf den Inhalt eines Nichtverbreitungsvertrages Einfluß zu gewinnen, oder andererseits, daß das Interesse an einer Beteiligung der Bundesrepublik am Nichtverbreitungsvertrag ausgenutzt werden könnte, um eine Lösung der Nuklearfrage im Bündnis zu fördern. In seinem Interview mit den Düsseldorfer Nachrichten im Juli 1965 stellte Außenminister Schröder eine klare Verbindung zwischen der Frage der Nichtverbreitung und den nuklearen Arrangements in der N A T O her: „Die Bundesrepublik hat 114 115 118 117
Vgl. Bericht in: Welt, 29. November 1965. Amme, NATO without France, a.a.O., S. 169. NYT, 8. Dezember 1966. Vgl. oben, S. 204 ff.
D. Deutsche Politik: Der Übergang
233
1954 auf die Herstellung von atomaren, biologischen und chemischen Waffen auf ihrem Gebiet verzichtet. Dieser Verzicht kann mit Fug und Recht als eine Vorstufe der Nichtverbreitung atomarer Waffen angesehen werden. Es ist daher kein unbilliges Verlangen, wenn wir andere Länder, die uns so gern den vollständigen atomaren Verzicht nahelegen, auffordern, ihrerseits erst einmal diese Vorstufe zu erreichen, indem sie einen gleichen Verzicht aussprechen, wie wir dies 1954 getan haben. Viele Länder . . . stellen sidi heute die Frage, wie ein nichtatomar gerüstetes Land gegen atomare Erpressung und Aggression geschützt werden kann. Als Mitglied des atlantischen Bündnisses hat Deutschland einen Anspruch, diese schicksalsschwere Frage innerhalb des Bündnisses geregelt zu sehen. Deutschland ist geographisch zu sehr exponiert und durch die auf Westeuropa gerichteten Mittelstreckenraketen der Sowjetunion zu stark bedroht, um sich an diesen Fragen desinteressieren zu können. Ich meine, daß eine Form der atomaren Organisation gefunden werden muß, die das Sicherheitsbedürfnis der nicht atomar gerüsteten NATO-Mitglieder angesichts der mehr als 700 auf Europa gerichteten sowjetischen Mittelstreckenraketen befriedigt. Wenn dies durch die Schaffung einer Multilateralen Atlantischen Abschreckungsstreitmacht oder eine gleichwertige Lösung geschehen ist, könnte Deutschland seinen Alliierten gegenüber auf den Erwerb eigener Atomwaffen verzichten. Sollte die Sowjetunion bereit sein . . . wesentlichen und unwiderruflichen Schritten zur Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit zuzustimmen, so würde s idi die Sicherheitsfrage anders stellen. Der Beitritt Gesamtdeutschlands zu einem weltweiten Abkommen würde möglidi sein.""8 Dieses Interview erregte viel Argwohn, insbesondere die Erklärung, die Bundesrepublik könne erst dann endgültig auf den nationalen Erwerb von Kernwaffen verzichten, wenn die nukleare Frage in der NATO geregelt sei. Viele (vor allem in Großbritannien, wo Premierminister Wilson und Lord Chalfont vor „gefährlichen Entwicklungen" warnten119) interpretierten dies so, daß die Bundesrepublik, falls die nukleare Frage nicht zu ihrer Zufriedenheit geregelt würde, nach Verfügungsgewalt über Kernwaffen streben werde, und zwar entweder allein oder in Zusammenarbeit mit einem anderen Staat. Demgegenüber erklärte Regierungssprecher von Hase am 12. Juli ausdrücklich, daß die Bundesregierung unvermindert an ihrem Grundsatz festhalte, nicht nach 118 118
Bulletin, a.a.O. (Anm. 102), S. 949. Vor dem Foreign Press Club; vgl. Times, 13. Juli 1965.
234
III. Kapitel. Wandel und Ungewißbeit
nationaler Verfügungsgewalt über Kernwaffen zu streben, wenn sich auch der Verzicht von 1954 nur auf die Produktion auf deutschem Boden beziehe. Die Bundesregierung sei am Erwerb von nuklearen W a f fen nicht interessiert. Sie werde jedoch einem allgemeinen Niditverbreitungsabkommen nur dann beitreten, wenn eine wirksame Abschrekkungshaltung der N A T O durch eine multilaterale Streitmacht oder durch ein gleichwertiges System gewährleistet sei.120 Schröders Interview war also nicht als ein Hinweis darauf zu verstehen, daß die Bundesrepublik irgendeine Form von nationaler Verfügungsgewalt über Kernwaffen erstrebte, sondern es sollte vielmehr mehreren anderen Zwecken dienen. Vor allem wollte Schröder das fortbestehende deutsche Interesse an einer „physischen" Lösung der nuklearen Frage in der N A T O in Erinnerung bringen, und gleichzeitig wollte er einen totalen deutschen Verzicht auf Kernwaffen als Handelsobjekt zur Herbeiführung einer solchen Lösung benutzen. (Seine Formel „Multilaterale Atlantische Abschreckungsstreitmacht oder eine gleichwertige Lösung" deutet darauf hin, daß er dabei weniger an eine Planungslösung als an Variationen in der Art der A N F dachte; denn an einer späteren Stelle im Interview sagte er deutlich, daß der McNamaraAusschuß nicht als Ersatz für ein integriertes Waffensystem betrachtet werden könne. 121 ) Das Interview war ja zum Teil eine Reaktion auf Vorgänge in den Vereinigten Staaten, besonders auf den GilpatricBericht; dieser empfahl den vorrangigen Abschluß eines Nichtverbreitungsabkommens mit der Sowjetunion auf Kosten einer Lösung der nuklearen Frage in der N A T O , die den Mitbesitz nuklearer Waffen einschließen würde. 122 Das Interview war somit eine Bekräftigung der nuklearen Interessen der Bundesregierung in der N A T O . Darüber hinaus war es aber die erste autoritative öffentliche Darlegung der deutschen Nichtverbreitungspolitik als Antwort auf die diesbezüglichen Ereignisse in Genf und New York. 1 2 3 Theo Sommer analysierte die deutsche Position wie folgt: „Das deutsche Widerstreben, einen Nichtverbreitungsvertrag zu unter120
Siegler III, a.a.O., S. 248. Andere Beobachter, einschließlich Wolfgang Wagner, der das Interview mit Schröder geführt hatte, pflichteten dem bei. Vgl. Baumann, Die Bundesrepublik als N A T O - P a r t n e r , a.a.O., S. 16 und N Z Z , 13. Juli 1965.
121
Vgl. oben, S. 229.
122
Vgl. oben, S. 214 ff.
123
Davor hatte Schröder die westdeutsche Haltung bei dem traditionellen Essen der vier Außenminister (USA, Großbirtannien, Frankreich, Bundesrepublik) vor der N A T O Ratstagung in Paris am 15. Dezember 1963 bereits dargelegt (vgl. den Bericht der Welt, 12. Juli 1965).
D. Deutsche Politik: Der Übergang
235
zeichnen, verrät nicht etwa Begierde nach dem Erwerb von Kernwaffen und ist auch nicht Ausdruck einer grundsätzlichen Ablehnung des Ziels der Nichtverbreitung. . . . Bonn möchte sicherstellen, daß ein Nichtverbreitungsvertrag nicht irgendwelche Optionen für die Bundesrepublik von vornherein ausschließt; zu den militärischen und politischen Wahlmöglichkeiten, die es unbedingt offenhalten will, gehört aber nicht die der nuklearen Unabhängigkeit."124 Es waren zunächst vor allem zwei Optionen, die die Bundesregierung nicht von vornherein versperrt sehen wollte, nämlich einmal die Möglichkeit, sich an einer alliierten (atlantischen oder europäischen) Nuklearstreitmacht zu beteiligen, und zum anderen die Chance, einen deutschen Totalverzicht auf Kernwaffen als Handelsobjekt in künftigen Verhandlungen mit der Sowjetunion über die deutsche Einheit zu benutzen. So erklärte ein Regierungssprecher am 23. August 1965, das Präsidium der CDU unter Vorsitz von Konrad Adenauer habe beschlossen, wegen der Größe des deutschen Verteidigungsbeitrages und der geographischen Lage Deutschlands dürfe die Bundesrepublik ein angemessenes Mitspracherecht in der Frage der Atomwaffen nicht vorenthalten werden; außerdem sei es unerläßlich, daß die Fragen der Abrüstung und Entspannung mit der DeutschlandFrage verbunden blieben.125 Im Laufe der Jahre 1965/66 jedoch wurden diese beiden Optionen modifiziert, teils auf Grund des sowjetischen Entwurfs eines Nichtverbreitungsvertrags vom 24. September 1965126 (der nach deutscher 124
125
128
Sommer, The Objectives of Germany, a.a.O., S. 48; vgl. audi Sommer, Sicherheit — Abrüstung — Entspannung in Europa, a.a.O., S. 51—53. Siegler III, a.a.O., S. 276—277, hier S. 277. Zu beachten ist, daß diese Erklärung des CDU-Präsidiums — unter Vorsitz von Adenauer, wie betont wurde — nach heftiger Kritik Adenauers an dem amerikanischen Entwurf vom 17. August 1965 für einen Niditverbreitungsvertrag kam (vgl. ebd. und oben, S. 205 f.). Aber obwohl der Vertrag einige beunruhigende Elemente hinsichtlich der friedlichen Entwicklung der Nuklearindustrie enthielt, und obwohl die europäischen Verbündeten kaum konsultiert worden waren (vgl. Cleveland, NATO — The Transatlantic Bargain, a.a.O., S. 67 und Ruehl, Welt, 2. September 1965), blieb die Option einer multilateralen Streitmacht unberührt, was nidit zuletzt aus der sowjetischen Reaktion hervorging (vgl. ENDC/ PV 224 und 228). Zu diesem Zeitpunkt war die offizielle amerikanische Haltung immer nodi die, daß nur die Gesamtzahl unabhängiger nuklearer Zentren nidit erweitert werden sollte (vgl. oben, S. 205 f.). So war denn die amtliche Reaktion der Bundesrepublik auch positiv: In einem Spiegel-Interview vom 6. September 1965 betonte Bundeskanzler Erhard die Notwendigkeit einer nuklearen Mitwirkung der Bundesrepublik in der Allianz und sagte, daß das durch den amerikanischen Vertragsentwurf nicht verhindert würde. Vgl. auch die Erklärung von Regierungssprecher von Hase in: Bulletin, Nr. 140, 18. August 1965, S. 1129. Vgl. oben, S. 206.
236
HI. Kapitel.
Wandel
und
Ungeivißheit
Ansicht sogar die bestehenden nuklearen Arrangements in der NATO, wie etwa das Zwei-Schlüssel-System, bedrohte und politische Arrangements ausschloß127), teils auf Grund der Tatsache, daß die Aussichten auf eine Mitbesitz-Lösung immer schlechter wurden und die Chancen einer politischen Lösung stiegen. Der Akzent wurde nun stärker auf folgende zwei Optionen gelegt: Erstens, daß die Bundesrepublik sich an einer europäischen Nuklearstreitmacht beteiligen könnte, die eventuell nach oder im Laufe der politischen Einigung Westeuropas errichtet werden würde; und zweitens, daß innerhalb der Allianz zufriedenstellende Arrangements getroffen würden, welche die Bundesrepublik in den nuklearen Planungsprozeß für die nuklearen Abschreckungsstreitkräfte des Westens einbezögen.
12V Vgl. Birrenbadi, Deutscher Bundestag, Stenographische Beridite, 23. September 1966, S. 2900 f.
Dritter Teil Die Bundesrepublik und die nukleare Mitwirkung Aussichten der deutschen Politik
aa
I. Kapitel Auftakt zu neuer Zusammenarbeit Überblickt man die Nuklearpolitik der atlantischen Allianz von 1954 bis 1970, so fällt auf, wie ruhig die Jahre nach 1966 waren, verglichen mit der Hektik und dem Eifer im Jahre 1964. War all das, was für die Bundesrepublik und für das Bündnis so wesentlich erschienen war, überschätzt worden? Hatten die Vereinigten Staaten übertrieben, ja falsch auf die Befürchtungen vor deutschen Ambitionen reagiert, die weitgehend imaginär waren? War die ganze Diskussion überhaupt überflüssig gewesen? Was ist aus den Sicherheits- und politischen Interessen der Bundesrepublik geworden — sind sie neu kanalisiert worden, oder werden sie in Zukunft, vielleicht in anderer Form, wieder auftauchen?
A. Wandel der
Allianzpolitik
Im wesentlichen waren es drei Entwicklungen, die den Wandel in der Nuklearpolitik der Allianz, gekennzeichnet durch die endgültige Aufgabe der MLF, begünstigten: Einmal das wachsende Gefühl der politischen Entspannung in Europa, das die bisherige Politik als überholt und überflüssig erscheinen ließ, zum anderen eine Neueinschätzung der Lage der Bundesrepublik, die diese Politik als verfehlt erscheinen ließ, und drittens die Gründung der Nuklearen Planungsgruppe, die der Politik eine neue und positive Wendung gab. In der aufgelockerten Atmosphäre der Entspannung erschien die Stärkung der NATO nicht mehr in dem gleichen Maße wie zuvor als ein vorrangiges Ziel. Die zunehmende Verweigerung der Bündniskooperation durch Frankreich, die bereits einige Jahre vor dem offiziellen Ausscheiden aus der NATO-Integration sichtbar geworden war, trug dazu bei, daß sich die Anstrengungen im Bündnis weniger auf neue Initiativen als auf die Erhaltung und Sicherung des Bestehenden richteten. Als die amerikanische und französische Politik des „Brückenbaus" zum Osten hin Gestalt annahm — und auch Anhänger in Bonn gewann —, erschien die Herstellung einer gewissen „Flexibilität" der
240
I. Kapitel. Auftakt zu neuer
Zusammenarbeit
Bündnisstruktur lediglich als Anpassung an eine veränderte Lage, in der das Gefühl der Bedrohung schwächer geworden war. Die Allianz fand zunehmendes Interesse als mögliches Instrument der Entspannung und des Verhandeins mit dem Osten. Die Bundesrepublik, die während des Kalten Krieges eine Schlüsselrolle gespielt hatte, trat nun mit fortschreitender Entspannung, der sie im wesentlichen aus deutschlandpolitischen Gründen nodi nicht zu folgen bereit war, etwas in den Hintergrund. 1 Die Erinnerung an ein mächtiges und militaristisches Deutschland war so lebhaft gewesen, daß man sowohl die „deutsche Gefahr" als audi die politischen Einflußmöglichkeiten der Bundesrepublik überschätzt hatte. So war die MLF als ein notwendiger „Impfstoff" der Bundesrepublik angesehen worden: Ein bescheidenes Maß an Mitwirkung an der nuklearen Verteidigung des Westens sollte die Diskriminierung vermindern, militärische Sicherheit und politischen Einfluß verleihen und damit die Westdeutschen gegen ein Wiederaufleben des Nationalismus und Militarismus „immunisieren". Diese Auffassung war freilich nie von allen geteilt worden. Manche meinten, der Impfstoff werde wahrscheinlich eher „appetitanregend" wirken; andere dagegen vertraten die Ansicht, die Gefahr eines neuen Militarismus sei so gering, daß man überhaupt nichts zu tun brauche. Wie sich zeigte, hatten die letzteren redit. Nicht nur war die Gefahr, daß nukleare Frustration zu einem Wiederaufleben des Militarismus führen könnte, tatsächlich gering; die Einschränkungen, denen die Bundesrepublik unterlag, waren auch viel größer und ihre Möglichkeiten, auf Frustration zu reagieren, viel begrenzter, als die meisten glaubten. 2 Mit der Empfehlung, die MLF zugunsten eines Nichtverbreitungsabkommens aufzugeben, drückte dies der Economist 1965 recht unverblümt aus: „Es ist eine schlichte Tatsache, daß Deutschlands Nachbarn, Freunde und Feinde gleichermaßen, in den letzten Jahren Deutschlands Einflußmöglichkeiten in der Welt so gut wie sicher überschätzt haben. Das heutige Deutschland, schuldgequält und ohne Selbstvertrauen nach dem Zusammenbruch von 1945, steht zu den Machtzentren der modernen Welt etwa in dem gleichen Verhältnis wie das Frankreich Louis Napoleons zum viktorianischen Europa. Sein wirtschaftliches Gewicht ist beträchtlich; sein politischer Einfluß ist viel geringer, als die Leute gedacht haben. Deutschland kann in spezifischen Situationen ein gewisses 1
Vgl. Waldemar Besson, Prinzipienfragen der deutschen Außenpolitik, in: Politische Vierteljahresschrift, März 1968, S. 28—44. * Vgl. oben, S. 31 ff. und 36 ff.
Α. Wandel der
Allianzpolitik
241
Gewicht einsetzen. . . . Im internationalen Kräfteverhältnis ist es wahrscheinlich kein entscheidendes Element."8 So traten die Grenzen, die der Politik der Bundesrepublik gesetzt waren, zutage, und die politische Führung in der Bundesrepublik erkannte noch klarer als zuvor, daß die Deutschen weder ihrer Vergangenheit noch den ihnen auferlegten besonderen Einschränkungen entfliehen konnten und deshalb nur eine schwache Basis hatten, um irgendwelche Forderungen im nuklearen Bereich stellen zu können. Die einzige Trumpfkarte, nämlich die Möglichkeit, daß der deutsche Verzicht auf die Herstellung von Kernwaffen widerrufen werden könnte, konnte nicht wirkungsvoll ausgespielt werden. Die deutsche Abhängigkeit und die Kräftekonstellation, die sich gegen eine nuklear bewaffnete Bundesrepublik zusammengefunden hätte, schlossen objektiv diese Alternative aus; sie blieb nur nützlich, solange andere, vor allem die Vereinigten Staaten, sie als eine glaubwürdige Alternative ansahen und solange sie äußerst behutsam gehandhabt wurde. Die Grenzen der politischen Einflußmöglichkeiten der Bundesrepublik madien deutlich, daß diese wenig oder nichts tun konnte, um die Neuorientierung der atlantischen Nuklearpolitik der Vereinigten Staaten in den Jahren 1965/66 bzw. den Wandel der Politik aus dem „physischen" (Mitbesitz) in den ausschließlich politischen (Mitplanung) Bereich zu verhindern.4 Im Gegenteil: Die Tatsache, daß in den Augen der Öffentlichkeit die MLF hauptsächlich dazu bestimmt war, deutschen Ambitionen entgegenzukommen, brachte die Bundesrepublik in eine besonders schwierige Position und nötigte sie zu äußerst zurückhaltendem Vorgehen. Die deutsche Nuklearpolitik mußte also in Rechnung stellen, daß sie ein nukleares Arrangement in der Allianz nicht erzwingen konnte. Mit der Bildung der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD im November 1966 wurde die Anpassung an diese Realitäten vollzogen: Die neue Regierung strich offiziell die Mitbesitz-Lösung der nuklearen Frage in der NATO, sprich MLF, aus dem deutschen Programm; darüber hinaus Schloß sie sich dem allgemeinen Trend an und bemühte sich um eine Entspannung gegenüber Osteuropa — eine Politik, die in der Vergangenheit oft als Widerspruch zu einer NATO-Nuklearstreitmacht erschienen war. 8 4
The Economist, 20. November 1965, S. 816—817. Einige vertraten die Ansidit, daß eine phantasievollere und bestimmtere Politik der Bundesregierung den amerikanischen Kurswechsel hätte verhindern können; vgl. Lothar Ruehl, Welt, 2. September 1965.
16 Malmcke
242
/. Kapitel. Auftakt zu neuer
Zusammenarbeit
Der entscheidende Faktor aber, der die endgültige Aufgabe der MLF als zentralem Bestandteil der atlantischen Nuklearpolitik ermöglichte und der es der Bundesrepublik erleichterte, sich diesem Wandel erfolgreich anzupassen, war die neue Richtung, die mit der Gründung der Nuklearen Planungsgruppe eingeschlagen worden war. Nachdem auf amerikanischer Seite die Entscheidung gefallen war, die europäischen Verbündeten extensiv und intensiv am nuklearen Planungsprozeß zu beteiligen5, wurde audi auf europäischer Seite sehr schnell anerkannt, daß in diesem Bereich in der Tat die größeren Möglichkeiten zur Wahrung ihrer Interessen lagen. Hier bestand die Chance, weitgehenden Einfluß bereits vor dem Ausbruch eines nuklearen Konflikts zu erlangen. Damit errangen die europäischen Bündnispartner Einfluß dort, wo es ihnen am wichtigsten erschien, nämlich bei der Abschreckung und Verhinderung eines Krieges.
B. Die NPG:
Aufgaben
Die militärische Organisationsstruktur der N A T O war im großen und ganzen festgelegt, bevor die nuklearen Fragen im Bündnis akut wurden. Diese Struktur wurde auch dann beibehalten, als die nuklearen Fragen in zunehmendem Maße auf die Beurteilung der Verteidigungsaufgaben der Allianz einwirkten. Mit Ausnahme der nicht sehr wichtigen europäischen Liaison-Offiziere beim amerikanischen Strategie Air Command und des nie aktiv gewordenen „Nuclear Deputy" von SACEUR", war die erste Reform der NATO-Struktur, die unmittelbar mit den nuklearen Problemen im Bündnis zusammenhing, die Bildung der Nuklearen Planungsgruppe. Vorher hatte man sich weder mit den nuklearen Aufgaben noch mit der Notwendigkeit einer Mitwirkung der nichtnuklearen Bündnispartner an diesen Aufgaben speziell befaßt; vielmehr waren diese Aufgaben — soweit sie nicht allein von den Vereinigten Staaten wahrgenommen wurden — in die allgemeine militä5
Bald nach Amtsantritt der neuen Regierung im Dezember 1966 und nach der endgültigen Aufgabe der MLF durch diese Regierung wurde bekannt, daß sich die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten verständigt hatten, alliierte Zusammenarbeit im Bereidi der nuklearen Planung nicht als nukleare Weiterverbreitung zu betrachten. Die Sowjetunion gab dies erstmals in einer Erklärung und in einem Rundfunkinterview mit dem Sprecher des sowjetischen Außenministeriums, Leonid Samyatin, am 22. bzw. am 26. April 1968 zu; vgl. Berichte in: Welt, 23. April 1968 und Foreign Report (London), 9. Mai 1968. « Vgl. oben, S. 172 f.
Β. Die NPG:
Aufgaben
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rische Aufgabenstellung und Organisationsstruktur integriert worden. Infolgedessen war der Grad der nuklearen Mitwirkung begrenzt geblieben; dies war jedoch weniger eine Konsequenz formaler Einschränkungen als vielmehr politischer Vorbehalte der nuklearen Partner gewesen. Somit war die Nukleare Planungsgruppe Ausdruck von zwei entscheidenden Entwicklungen: Einmal war sie der erste wesentliche Schritt, den nuklearen Verteidigungsfragen in der Allianz, die so lange umgangen worden waren, formal und organisatorisch Rechnung zu tragen; zum anderen war sie der erste wirksame Schritt zur Zusammenarbeit im nuklearen Bereich, beruhend auf der weitgehend persönlichen Entscheidung des amerikanischen Verteidigungsministers McNamara, die europäischen Verbündeten endgültig und weitgehend in den nuklearen Planungsprozeß einzubeziehen.7 Die Kohäsion der durch vielfältige bündnisinterne Krisen in den Jahren 1961—1964 getroffenen Allianz sollte gefestigt und die Qualität der gemeinsamen Planung sollte gewährleistet werden; nicht die Waffensysteme, sondern der Planungsprozeß sollte nun „gemischt bemannt" werden. Schon vor 1965 war erkannt worden, daß eine effektive Mitwirkung im nuklearen Planungsprozeß zu Friedenszeiten auch die weitgehende Mitbestimmung über den Einsatz nuklearer Waffen zu Kriegszeiten bedeutete. Zwar müßte die letzte Entscheidungsgewalt des amerikanischen Präsidenten (bzw. des britischen Premierministers), die Waffen einzusetzen, beibehalten werden, aber die Bedingungen, unter denen er sie einsetzen würde, der Rahmen seiner Entscheidung, könnte bereits im Planungsprozeß festgelegt werden: der Zweck des Einsatzes, die Ziele, die Art und Größe der Waffen sowie die zeitliche Reihenfolge. Somit war deutlich, daß eine Beteiligung am Planungsprozeß großen Einfluß gewähren könnte, die Frage blieb, ob sie es auch würde. Das hing ab von der politischen Bereitschaft der nuklearen Partner, die nicht-nuklearen Partner auch ohne den gemeinsamen Besitz von Kernwaffen wirkungsvoll am Planungsprozeß zu beteiligen; es hing ferner ab von der Fähigkeit der nicht-nuklearen Partner, diese Bereitschaft ihrerseits wirkungsvoll auszunutzen. Mit anderen Worten beruht die Wirksamkeit eines gemeinschaftlichen Konsultations- und Planungsprozesses erstens auf dem Recht der einzelnen Partner, konsultiert zu werden, zweitens auf der Fähigkeit der einzelnen Partner, nützliche Bei7
16*
Vgl. oben, S. 219 ff. und Cleveland, NATO — The Transatlantic Bargain, a.a.O., S. 54 f.
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träge zu leisten (Grundvoraussetzung hierfür ist die Information), drittens auf den technischen Einrichtungen, die dem Konsultations- und Planungsprozeß zugrundeliegen müssen und schließlich viertens auf dem Gefühl der einzelnen Partner, daß ihre Beiträge respektiert werden und ihre Stimmen Gewicht haben. Die Nukleare Planungsgruppe ist in all diesen Bereichen wirksam gewesen und hat in allen beachtliche Erfolge aufzuweisen. Die Institutionalisierung der Gruppe Ende 1965 festigte und formalisierte das Recht der einzelnen Partner, gehört zu werden. Zum Vorsitzenden der Gruppe wurde — entgegen dem ursprünglichen Wunsch von McNamara, der die Verteidigungsminister alternativ den Vorsitz führen lassen wollte — der Generalsekretär bestimmt. Diese Regelung hat sich als vorteilhaft erwiesen, da der Generalsekretär aus einer unabhängigen Position heraus die nuklearen Partner, insbesondere die Vereinigten Staaten, auf die von ihnen eingegangenen Verpflichtungen immer wieder aufmerksam machen kann. Voraussetzung einer sinnvollen gemeinschaftlichen Konsultation und Planung ist eine ausreichende Informationsbasis. Zwangsläufig hängt diese weitgehend von der Bereitschaft der Vereinigten Staaten ab, ihr Wissen und ihre Informationen mit den Verbündeten zu teilen. Daß die Vereinigten Staaten sich dazu entschlossen hatten, wurde bereits bei der Gründung der NPG durch McNamaras entschiedene und offene Mitteilungen deutlich. Hier könnte eine mögliche Schwäche der NPG liegen; aber bisher haben die Vereinigten Staaten sich als außerordentlich kooperativ erwiesen — nicht zuletzt deshalb, weil die positiven Resultate in Form des europäischen „Lernprozesses" sehr schnell sichtbar wurden und sich günstig auf die Arbeit der Planungsgruppe auswirkten. Im Jahre 1965 waren ursprünglich drei Arbeitsgruppen gegründet worden: neben der Nuklearen Planungsarbeitsgruppe auch noch eine Gruppe zur Untersuchung des NATO-Fernmeldesystems und eine Arbeitsgruppe für den Informations- und Datenaustausch.8 Aus der Arbeit dieser letzteren ist ein NATO-Informations- und Datensammlungssystem hervorgegangen, das es ermöglicht, die Informationsbasis der Verbündeten auf dem neuesten Stand zu halten. Ebenso aufgrund der Arbeit dieser Gruppe verfügt das NATO-Hauptquartier in Casteau jetzt über ein „Situation Center", das dem des Strategie Air Command ähnelt; dort werden für das Bündnis wichtige verteidigungspolitische Entwicklungen registriert, ausgewertet und gespeichert. SACEUR wie 8
Vgl. oben, S. 222.
Β. Die NPG:
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den europäischen Verbündeten steht hier zum ersten Mal eine Zentrale zur Verfügung, von der aus ein Urteil über die gesamte verteidigungspolitische Lage im NATO-Bereich-Europa möglich ist. Ähnlich erfolgreich war die Arbeit der Gruppe für die Nachrichtenverbindungen der NATO. Voraussetzung eines wirksamen Konsultationsprozesses unter geographisch weit voneinander entfernten Verbündeten — vor allem während Krisen- oder gar Kriegszeiten — ist ein effektives und unanfälliges Nachrichtensystem. Dieses System ist — erstaunlicherweise — erst in den letzten Jahren aufgrund der Tätigkeit der Arbeitsgruppe für den gesamten NATO-Bereich entwickelt worden; somit wurde die technische Grundlage des Konsultationsverfahrens geschaffen.® Nicht weniger erfolgreich ist die Arbeit der dritten, der Arbeitsgruppe für nukleare Planung verlaufen, die als èinzige der drei Gruppen als permanente Gruppe institutionalisiert wurde.10 Dabei sind zwei Bereiche zu unterscheiden, mit denen sich die Gruppe beschäftigt: einmal der Bereich der nuklearen Planung im engsten Sinne, d. h. der Festlegung der Bedingungen eines nuklearen Einsatzes im Falle eines Angriffs („wer, wo, was, wann, gegen wen"), zum anderen der Bereich der Konsultation — nicht so sehr im Planungsprozeß zu Friedenszeiten, sondern vielmehr in Krisen- und Kriegszeiten, wenn die Planung unter den nie genau vorauszusehenden Ereignissen interpretiert werden muß, und wenn die tatsächlichen Einsatzentscheidungen (bzw. Freigabeentscheidungen an die militärischen Befehlshaber) von den nuklear Verantwortlichen getroffen werden müssen. In diesen beiden Bereichen lagen denn auch die ersten — und dringlichsten — Arbeitsergebnisse der NPG. Auf der NATO-Tagung im Dezember 1969 wurden vom Defense Planning Committee (d. h. von allen Ratsmitgliedern außer Frankreich) zwei Dokumente verabschiedet, und zwar einmal die auf einer deutsch-britischen (Schröder/Healey bzw. Schmidt/Healey) Studie basierenden „Verteidigungspolitischen Richtlinien für den defensiven taktischen Ersteinsatz nuklearer Waffen durch die NATO", zum anderen die auf einer belgisch-amerikanischen Studie beruhenden „Richtlinien für das nukleare Konsultationsverfahren".11 9
10 11
Vgl. Das Fernmeldenetz der NATO wird weiter verbessert in: NATO-Brief, April 1970, S. 7 ff. Zum Leiter des Fernmeldesystems wurde ein deutscher General bestimmt. Vgl. oben, S. 223. Diese Dokumente sind streng geheim. Vgl. jedoch die Berichte zur NATO-Tagung im Spiegel, 49/1969, S. 40 f.; NYT, 4. Dezember, FAZ, 5. Dezember und NZZ,
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Auf der ersten Ministertagung der N P G in Washington im April 1967 war man zu der Überzeugung gekommen, daß die Zahl der taktischen Atomwaffen und der atomaren Gefechtsfeldwaffen in Westeuropa mit über 7000 Sprengköpfen12 ausreichend sei, diese Waffen jedodi in ihrer Dislozierung und ihren Einsatzrichtlinien einer Uberprüfung bedurften. Vor allem angesichts der neuen Strategie der flexiblen Antwort genügte es nicht, lediglich auf den Besitz von taktischen Nuklearwaffen hinzuweisen, in der Hoffnung, daß dies schon einen ausreichenden Abschreckungswert haben würde. Wenn die Strategie des Bündnisses ihr Hauptziel erreichen sollte, — nämlich die Verhütung eines Krieges —, dann mußte es audi wirksame Pläne für den Einsatz dieser Waffen im Falle eines Konflikts geben. Abschreckung ist nur glaubhaft, wenn der Gegner die Überzeugung behält, daß die N A T O bereit und entschlossen ist, diese Waffen wirklich einzusetzen, wenn es notwendig werden sollte, und daß Pläne und Verfahren für einen rechtzeitigen Einsatz vorhanden sind. Nadidem die N P G die verschiedensten Aggressionsmöglichkeiten eines Gegners untersucht und Beispiele für den Ersteinsatz von Nuklearwaffen durch die N A T O entwickelt hatte, befaßte sie sich mit der Formulierung politischer Richtlinien für den Einsatz taktischer Nuklearwaffen. Dabei galt es zu überdenken, wie im Falle eines Versagens der Abschreckung der Einsatz von taktischen Nuklearwaffen politisch und militärisdi am wirksamsten gestaltet werden könnte, ohne zu einer unaufhaltsamen Eskalation zu führen. Die N P G ging dabei nach dem System vor, daß ein bestimmtes Land aufgefordert wurde, eine spezifische Studie auszuarbeiten und als Diskussionsleiter zu fungieren, wenn das Thema von den Ministern behandelt wurde. Die Vereinigten Staaten unterbreiteten beispielsweise eine Abhandlung über den Einsatz taktischer Atomwaffen als Warnsignal. Andere Studien befaßten sich mit dem Einsatz solcher Waffen auf dem Gefechtsfeld (Bundesrepublik Deutschland), mit speziell defensiven Waffensystemen (Italien) oder mit ihrem Einsatz auf See (Großbritannien).1®
12 13
6. Dezember 1969. Text des Schlußkommuniques der Tagung in: EA 4/1970, S. D 77—79. Vgl. Cleveland, NATO — The Transatlantic Bargain, a.a.O., S. 195. Die Problematik der taktischen Atomwaffen in der westeuropäischen Verteidigung wird ausführlich erörtert von Kissinger, The Troubled Partnership, a.a.O., S. 177— 186 und Cleveland, NATO — The Transatlantic Bargain, a.a.O., S. 60 ff. Zur Rolle dieses Problems in der früheren Diskussion vgl. oben, S. 83 ff. und 95 ff.
Β. Die NPG: Aufgaben
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Großbritannien und die Bundesrepublik erhielten den Auftrag, die Richtlinien aus diesen Ausgangsstudien zusammenzufassen. Dabei ließen sich die deutschen und britischen Fachleute von zwei Kriterien leiten: Der Ersteinsatz der taktischen nuklearen Waffen sollte, wenn möglich, eine für die eigene militärische Position vorteilhafte Wirkung mit sich bringen, er sollte aber vor allem die Glaubwürdigkeit der nuklearen Abschreckung unterstreichen bzw. wiederherstellen, d. h. er sollte demonstrieren, daß der Gegner sich zurückziehen müsse, wenn er nicht Gefahr laufen wolle, daß sich die Auseinandersetzung zu einem großen Nuklearkrieg ausweite." Kritisch sind dabei besonders zwei Fragen: Einmal die Problematik, daß die Dislozierung der Streitkräfte sowie die Verwendung der Waffen, die sowohl konventionell wie nuklear eingesetzt werden können (es geht hier vor allem um die Kampfbomber), unter konventionellen Gesichtspunkten ganz anders als unter nuklearen erfolgen müßte; zum anderen natürlich die Frage, was auf einen erfolglosen Ersteinsatz geschehen müsse.15 Mit beiden Fragen hat sich die Nukleare Planungsgruppe bereits intensiv beschäftigt. Zum ersten Problem liegt seit Oktober 1970 ein Arbeitspapier vor und zwar zur Festlegung der „Rolle der strategisch einsetzbaren nuklearen Waffenträger im Rahmen der Strategie der flexible response". Das zweite Problem wurde nach Beendigung der Studie über den taktischen Ersteinsatz in Angriff genommen: Hier geht es um die so oft diskutierten Bedingungen der „kontrollierten Eskalation" 1 ' und dabei wiederum um die Frage, wie schnell und unter welchen Bedingungen defensive nukleare Einsätze auch gegen sowjetisches Territorium zu führen seien (der taktische Ersteinsatz sieht solche Schläge nicht v o r ) . " Zweifellos wird die Diskussion dieser Problematik geraume Zeit in Anspruch nehmen. Ein erstes Resultat war allerdings schon auf der Ratstagung im Dezember 1970 zu registrieren, als nach vielen Jahren unheilvoller Diskussion um die atomaren Sperrwaffen oder sogenannten „Atomminen" (Atomic Demolition Munition: A D M ) endgültig beschlossen wurde, daß diese Waffen im dichtbesiedelten Mitteleuropa zum Einsatz ungeeignet sind (sie müssen auf eigenem Territorium eingesetzt werden) und daß sie zur Verteidigung des NATO-Bereichs nur in den 11
Vgl. Dieter Schröder, Healey verteidigt NATO-Strategie, in: SZ, 6. März 1970.
15
Vgl. hierzu Kissinger, The Troubled Partnership, a.a.O., S. 161 ff.
"
Vgl. oben, S. 97 ff.
17
Vgl. die Berichte der Times, 15. Mai und 8. Juni und der N Y T , 9. Juni 1970.
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weniger diclitbesiedelten und gebirgigen Flankenregionen in Frage kommen.18
C. Die NPG: Aussichten Nach wenigen Jahren ihrer Tätigkeit kann die Nukleare Planungsgruppe eine bemerkenswert positive Bilanz ziehen: Nicht nur ist die Untersuchung einer Reihe der wichtigsten nuklearen Fragen für die Verteidigung Westeuropas erstmals in Angriff genommen worden, und nicht nur haben diese Untersuchungen bereits zu beachtenswerten Resultaten geführt, sondern sie sind audi erstmals unter der einflußreichen Beteiligung der europäischen Bündnispartner behandelt worden. Somit hat sich die NPG in zwei Bereichen der nuklearen Problematik der Allianz bewährt: Sie hat einmal zu Fortschritten in den Sachfragen der nuklearen Strategie unter wesentlicher Mitwirkung der europäischen Partner geführt; sie hat zum anderen eine Verbesserung im psychologisch-politischen Bereich dieser europäischen Mitwirkung mit sich gebracht. Im Sachbereich hat sie damit auch für die Vereinigten Staaten Vorteile aufzuweisen: Erstmals wurden die USA gezwungen, planerische Entscheidungen zu treffen, die bis dahin — aus Gründen der Flexibilität, aber auch wegen des Mangels an innenpolitischer Übereinstimmung, ζ. B. zwischen den verschiedenen Waffengattungen — immer aufgeschoben worden waren: Die im Dezember 1969 verabschiedeten Richtlinien stellten tatsächlich die erste detaillierte Ausarbeitung überhaupt dar." Ebenso eindrucksvoll sind die Fortschritte im Bereich der bündnisinternen Beziehungen. Sicher ist es richtig, daß die Bundesrepublik bis 1966 das Mißlingen des MLF-Plans erkannt hatte und sich auch ohne Ersatz damit hätte abfinden müssen; wichtig ist auch, daß ihr dieser Anpassungsprozeß durch die Schaffung einer sinnvollen Alternative erleichtert wurde. Das vorrangige Ergebnis der N P G aber ist die Erkenntnis, daß eine angemessene politische Rolle für die Bundesrepublik und die anderen westeuropäischen Verbündeten im nuklearen 18 19
Vgl. SZ, 31. Oktober, 1. November und 7. Dezember und Times, 9. Dezember 1970. Noch Anfang 1968 hatte der Stellvertreter SACEURs, der italienische General Nino Pasti, in einem Artikel darüber geklagt, daß es in der NATO keine ausreichende Konzeption für den Einsatz nuklearer Waffen in Europa gebe; vgl. Opinions on N A T O Nuclear Strategy, in: NATO's Fifteen Nations, Februar/März 1968, S. 2 0 — 24. Vgl. zu dieser Frage auch Cleveland, NATO — The Transatlantic Bargain, a.a.O., S. 55.
C. Die NPG: Aussichten
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Bereich audi ohne den Besitz oder Mitbesitz von nuklearen Waffensystemen zu erreichen ist. Die NPG zeigte, daß Einfluß nicht ausschließlich auf dem Besitz von Waffen beruht — wie man jahrelang geglaubt hatte; schließlich ging hierauf ein Gutteil der Unterstützung für die MLF zurück20 —, sondern auf der Fähigkeit, einen bedeutungsvollen Beitrag zur nuklearen Diskussion zu leisten. Und dieser Beitrag kann von westeuropäischer Seite auch geleistet werden: Die wichtigen Richtlinien für den nuklearen Ersteinsatz beispielsweise gehen auf Studien zurück, zu denen die europäischen Partner ganz zentral beigetragen haben, womit ihnen natürlich auch die Möglichkeit gegeben war, ihre besonderen Interessen darzulegen bzw. in den Prozeß „einzufüttern". Das Ausmaß und die Bedeutung der Arbeit der N P G zeigt sich nicht zuletzt an dem Interesse, das die europäischen Partner ihr auch nach der Anfangsphase — und sogar in wachsendem Maße — entgegenbringen.21 Schon im April 1968 mußte auf der Ministertagung der N P G in Den Haag entschieden werden, daß die ausscheidenden (nicht-ständigen) Mitglieder der N P G sich weiterhin an der Tätigkeit dieser Gruppe im Brüsseler Hauptquartier auf der Ebene der ständigen Vertreter und der Arbeitsstäbe in der Zeit zwischen den Ministertagungen beteiligen können. Durch diese elastischeren Vereinbarungen haben zwar nur die Vollmitglieder der Nuklearen Planungsgruppe Zugang zu den beiden Ministertagungen, die jedes Jahr abgehalten werden, jedoch können alle interessierten Länder ständig über die Tätigkeit der Gruppe informiert werden und eine wichtige Rolle bei den Vorbereitungsarbeiten spielen. Diese Regelung ging auf die Initiative Kanadas und der Niederlande zurück, die damals ihre Plätze für Dänemark und Belgien räumen mußten. Aber abgesehen von dem Interesse Kanadas und der Niederlande an der NPG, das damit deutlich wurde, war es auch eine für die Arbeit der Gruppe sinnvolle Forderung: Eine totale Trennung von der Arbeit hätte zu ständigen „Lücken" im Informationsstand und einem ständigen „Hinterherhinken" der wiedereintretenden Mitglieder geführt. (Aus dem gleichen Grunde hatten sich auch die Niederlande und einige andere Mitgliedsländer einer längeren Pause als achtzehn Monate in der Teilnahme an den Ministersitzungen widersetzt; allerdings sahen die nichtständigen Mitglieder ein, daß es sinnvoll sei, die Diskussionen auf der Ministerebene auf einen möglichst kleinen Kreis zu beschränken.) Und als im Jahre 1969 wider Erwarten auch Norwegen sein Interesse an der Gruppe anmeldete — und die Zahl der nicht-ständigen Mit20 21
Vgl. oben, S. 225. Vgl. Kissinger, The Troubled Partnership, a.a.O., S. 172 f.
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Auftakt
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glieder somit auf sieben stieg —, mußte der Kreis der Teilnehmer an den Ministertagungen von sieben auf acht erhöht werden, während auf der vorbereitenden Botschafterebene nun insgesamt elf Partner ständig teilnehmen.0 Natürlich dürfen die Grenzen der Gruppe nicht übersehen werden. Entscheidend hängt die erfolgreiche Arbeit der N P G von der amerikanischen Bereitschaft ab, die Gruppe ernsthaft an der nuklearen Planung zu beteiligen. Zwar ist die Gruppe im Bündnisrahmen institutionalisiert, und die Vereinigten Staaten sind formal gebunden — aber sie könnten, wenn sie wollten, die Gruppe „austrocknen" lassen, ähnlich wie sie die „Athener Richtlinien" und den damals geplanten „Nuklearausschuß" nie wirksam werden ließen.23 Dieses wäre mit der Grundlage eines gemeinsamen Waffensystems vielleicht schwieriger gewesen: insofern war die deutsche Position hier nicht ohne Logik." Allerdings setzt jede wirksame gemeinsame Planung eine gemeinsame politische Basis im Bündnis voraus: Ist diese nicht mehr gegeben, so bliebe der nukleare Planungsprozeß im Zusammenhang mit einer kleinen gemeinsamen Streitmacht, deren nukleare Komponente auch unter der endgültigen Kontrolle des amerikanischen Präsidenten oder des britischen Premierministers geblieben wäre, ebenso wirkungslos wie jede andere Form eines gemeinsamen Planungsprozesses, bei dem der entscheidende Verbündete nicht kooperiert. Damit ist die zweite Grenze der N P G genannt: Sie kommt nicht um die Tatsache herum, daß die letzte Verfügungsgewalt allein beim amerikanischen Präsidenten liegt (oder, für einen ganz geringen Teil der Waffen, beim britischen Premierminister). Weder können die europäischen Verbündeten einen nuklearen Einsatz erzwingen, noch können sie ihn verhindern.85 Noch können sie — und das ist eine dritte Grenze, an die die Arbeit der N P G stoßen muß — erzwingen, daß sich Präsident oder Premierminister an die erarbeiteten Richtlinien im Kriegsfalle auch tatsächlich halten. Allerdings werden diese Einschränkungen in nicht unbedeutendem Maße relativiert. Solange eine gemeinsame politische Basis in der Allianz 22
« 24 25
Ursprüngliche Zusammensetzung der G r u p p e vgl. oben, S. 223. V g l . oben, S. 123 ff. Vgl. oben, S. 225 ff. A u f deutscher Seite wurde die Forderung nach einem Vetorecht bei dem E i n s a t z von N u k l e a r w a f f e n auf deutschem Boden — auch von der S P D — nidit weiter v e r f o l g t : D e r H a u p t g r u n d d a f ü r liegt in der Erkenntnis der negativen Auswirkungen, die von solch einem Recht auf die Abschreckung ausgehen w ü r d e ; vgl. Spiegel, 49/1969, S. 40.
C. Die NPG: Aussichten
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gegeben ist — das ist die Voraussetzung, auf der alles beruht —, ist zu erwarten, daß die Vereinigten Staaten audi weiterhin kooperieren werden, nicht zuletzt angesichts der bisherigen Erfolge. Anfang 1969 hat der amerikanische Präsident sogar zugesagt, den Bereich der Zusammenarbeit auszudehnen.2® Und solange diese Kooperation gegeben ist, wird es möglidh sein, zwar nicht die letzte Entscheidungsgewalt des Präsidenten einzuengen, wohl aber den Rahmen festzulegen, in dem er seine Entscheidungen treffen wird, auch unter Berücksichtigung europäischer Interessen. Daß er von diesem Rahmen abweichen wird, ist immer möglidi, es ist aber unwahrscheinlich: Gerade in der kritischen Atmosphäre eines Krieges wird es für ihn nicht verlockend sein, von jenen Richtlinien abzuweichen, die in ruhigeren Zeiten und unter Berücksichtigung vieler Faktoren auch von seinem eigenen Verteidigungsminister gutgeheißen wurden. Sollte sich die Situation dennoch so andersgeartet darstellen, daß der Präsident sich zu einer neuen Entscheidung gezwungen sieht, so bietet ein verbessertes Konsultationsverfahren und ein gesichertes Fernmeldesystem den europäischen Partnern immer noch die gute Chance, dazu gehört zu werden. Die Qualität und die Möglichkeiten der nuklearen Mitsprache, die Chance mitzusprechen und gewichtig mitzusprechen, haben sich durch die N P G wesentlich verbessert. So bietet die Nukleare Planungsgruppe, jene Gruppe, die am Ende vieler Jahre bündnisinterner Debatten um die nukleare Frage steht, ein Bild des Erfolgs, aber auch der Grenzen. Der Erfolg ist das Resultat der politischen Gemeinsamkeiten des atlantischen Raums, die Grenzen das Resultat der Tatsache, daß die westeuropäischen Partner der atlantischen Führungsmacht entweder gar keine oder keine beachtlichen KernwafFensysteme besitzen. In diesem Rahmen — zwischen dem Erfolg der atlantischen Kooperation und dem Mangel einer europäischen Alternative — wird sich die Nuklearpolitik der Allianz und insbesondere der Bundesrepublik auch in den kommenden Jahren bewegen müssen. Sollte es einmal zu einer europäischen Alternative kommen, etwa auf der Grundlage britisch-französischer nuklearer Zusammenarbeit, so wird die N P G für 2·
Cleveland meint, in den siebziger Jahren könnte die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Rüstungskontrolle, auf das der Präsident die Kooperation ausgedehnt wissen wollte, der wichtigste Aspekt der nuklearen Mitwirkung werden (NATO — The Transatlantic Bargain, a.a.O., S. 65). Das scheint sich, angesichts der Entwicklungen bei den amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen über die Begrenzung der strategischen Rüstungen (SALT) und der Diskussion um beiderseitige, ausgewogene Truppenverminderungen (MBFR), bei denen voraussichtlich audi über die taktischen Atomwaffen in Europa gesprochen werden müßte, bereits als richtig zu erweisen.
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die nukleare Koordination im atlantischen Rahmen so notwendig wie bisher bleiben. Für den europäischen Rahmen hingegen könnte sie als ein erstes Modell für die nukleare Mitwirkung der nicht nuklear bewaffneten Partner gelten.
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Personen- ταηά Sachregister Kursiv gesetzte Seitenzahlen beziehen sich auf Fußnoten. Personennamen sind nur unter sachlidien Gesichtspunkten im Register enthalten, d. h. Adenauer zum Beispiel nur als Bundeskanzler und nicht als Autor. Die Namen von Kommentatoren wurden nicht aufgenommen. Ständig wiederkehrende Begriffe wie nukleare Mitspradie, Mitwirkung, Mitbesitz wurden nur aufgenommen, wo sie zentral behandelt werden. Abschreckung 9, 9 f., 11, 13, 15, 17 f., 44, 66, 72, 80, 83, 84 ff., 90, 92, 96 f., 109, 135, 246 f. - Betonung durch die BRD 14 ff., 96, 98 f., 100, 103 ff., 113 f., 115, 127 f., 151, 156, 159 ff., 168, 231, 242. Acheson, Dean 108, 110. Adenauer, Konrad und Adenauer-Regierung 3, 3, 5 ff., 9, 12 f., 33, 34, 33, 36, 38, 40 ff., 70, 75 f., 86 ff., 107, 110 ff., 122, 126, 130, 152, 155 ff., 137, 190, 192, 195, 235, 233. Aktionskomitee für ein Vereintes Europa 131. Allied Command Europe Mobile Force (AMF) 77. Allied Nuclear Force (ANF) 181 ff., 196, 203, 212, 221, 228, 229, 234. - Haltung der BRD 189, 192, 220. - Haltung Frankreidis 181. Arms Control and Disarmament Agency (der USA) 131, 132, 214, 217. Athener Richtlinien 124, 127, 173, 220, 250. Atlantische Union 111, 115, 116. Atomare Gefechtsfeldwaffen 9, 9, 12 f., 15, 32, 127, 137, 246. Atome für den Frieden 68, 68, 210. Atomic Demolition Munition („Atomminen") 247 f. Atomwaffen
- Besitz 17, 21, 26 f., 36, 46, 51, 56 ff., 66. - Eigentumsrechte 56 ff. - Einsatzplanung 16 f., 22, 36, 53, 56 ff., 61, 65, 72, 85, 99 ff., 118 ff., 129 f., 139, 141 f., 173, 204, 217 ff., 219 ff., 224 ff., 242 ff. - politischer Einfluß durdi 20 ff., 21, 26, 27, 35, 46, 51, 57, 86, 90, 99 ff., 105, 116, 118 ff., 151, 157 ff., 162 ff., 191, 191, 195, 208 ff., 225 ff. - Rolle in der Verteidigung Westeuropas 8 ff., 66, 72 ff., 77, 80, 91 ff., 97, 100, 104 ff., 113, 126 ff., 135, 147, 158 ff., 219, 242 ff., 249 ff. - und Sperrvorrichtungen 57, 60 f., 142. - Verfügung über 16, 33, 35, 36, 56 ff., 68, 72, 74, 77 ff., 112 f., 118, 127, 205 ff. - alleinige amerikanische Verfügung 16 f., 68, 79 f., SO, 82, 85, 112, 118, 121, 125 f., 131 ff., 140, 143 f., 165, 191, 193 f., 193, 225, 227, 243, 250. - alleinige amerikanische Verfügung und US-Kongreß 79, 79, 97, 109 f., 113, 121, 140, 143 ff., 218. - Wunsch der Westeuropäer nach Verfügungsgewalt 72, 74, 77, 83, 118 ff., 134 f., 147 f., 153 f., 158, 165, 195, 219. - und wirtschaftliche Interessen der BRD 30 f. Atomwaffen, taktische 9, 9, 11 ff., 12, 13, 14, 32, 65, 69 f., 72, 83 ff., 89, 96 ff., 102, 127, 137, 141, 189, 246 ff., 246, 231. - getrennte Verbände für 97, 102, 137, 189. Atomwaffenverzicht der BRD 4 ff., 28, 34 f., 45, 31, 67, 167, 167, 232 ff. - als diplomatisches Instrument 6 f., 22, 23, 25 ff., 34 f., 105, 232 ff., 241. - und Verpflichtungen der Westmädite 7, 28, 45, 87.
Personen- und Sachregister Ball, George W. 134, 140, 142, 144, 151, 155 f., 175, 202, 217, 217. Barzel, Rainer 189, 196. Baumel, Jacques 184, 185 f. Belgien - und MLF 174 f., 198. - und N P G 222, 223, 249. Berlin 4, 53, 92, 110, 115, 117, 117, 122, 126, 126, 163. - Internationale Zugangsbehörde 117, 122. Besatzung, gemeinsame (von nuklearen Waffensystemen) 60, 127, 141,148,171, 175, 175, 182, 189, 243. Siehe auch MLF. Big Lift 160 f. Birrenbach, Kurt 227. Blank, Theodor 12, 14. Blankenhorn, Herbert 6, 76, 88. Bourgès-Maunoury, Maurice 50, 67. Bowie, Robert 73 f., 79, 131, 142 f., 143. Bowie-Plan 73 fi., 78 f., 131. Brandt, Willy 230. Brentano, Heinrich von 82, 90. Brosio, Manlio 198. Bundesrepublik Deutschland - atlantische Bindung 75 f., 109, 111, 111, 155 ff., 165, 185, 191. - Atomwaffenbesitz 22, 23 f., 26 f., 29 f., 32ff.,43ff.,51, 66f., 8 7 f „ 113f., 148ff., 158 f., 166 f., 167, 192, 205 ff., 223 ff., 232 ff. Siehe audi Mitbesitz, MLF. - Auseinandersetzung zwischen „Atlantikern" und „Gaullisten" 165 f., 166, 176, 190 ff., 192, 193, 194 f., 201 f., 202, 203, 227. - Ausrüstung mit Trägerwaffen für taktische Atomwaffen 11 ff., 32, 69, 70, 72, 83 ff., 102, 112, 150, ISO, 160, 230. - außenpolitische Ziele 3 f., 8 ff., 20 ff., 29 f., 32, 36 ff., 75 f., 110 f., 112. - Deutsch-französischer Freundschaftsvertrag 130, 152 f., 155 f., 187, 190. - Diskriminierung 5, 16, 22 f., 24, 29 f., 35, 87, 89, 105, 107, 112, 116, 117, 149 f., 164 f., 168 f., 212, 221. - Einfluß auf die nukleare Bündnisstrategie 17, 19, 21 f., 23, 37, 61, 84 f., 99 ff., 105, 116, 118 ff., 151, 157 ff., 162 ff., 191, 191, 195, 208, 225 ff. Siehe auch MLF, Nukleare Planung, N u kleare Planungsgruppe. - Einfluß durch Atomwaffen 21, 26 f., 30, 31 ff., 57, 86, 90, 191, 191, 208 f. Siehe
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auch MLF, Nukleare Planung, Nukleare Planungsgruppe. - Einfluß in der N A T O 10, 13, 19, 23 f., 30, 33, 35, 36 f., 75, 87, 144, 157 ff., 162 ff., 192, 208, 212, 223, 239 ff., 248 f. Siehe auch MLF, Nukleare Planung, Nukleare Planungsgruppe. - einzige rechtmäßige deutsche Regierung 7, 28. - und französische Nuklearisierung 45 ff., 49 ff., 148 ff., 164 f., 213. Siehe auch Frankreich, Vereinigte Staaten von Amerika. - Integration 4 f., 16, 19, 22 f., 29 f., 33, 40, 42, 45, 61, 75 f., 77, 85 ff., 105, 150 f., 156, 161 f., 165. - Kontrolle durch die Alliierten 4 ff., 51, 208, 212. Siehe auch MLF. - konventioneller Beitrag zur Verteidigung 8, 10, 38 f., 104, 112, 117, 122 f. - Mißtrauen der Alliierten 31 ff., 45, 144, 145, 149, 167 f., 171, 180, 188 f., 209, 224, 228, 233, 241. - Mitbesitz von Atomwaffen 27, 56 ff., 85, 110 f., 112, 118 ff., 140 ff., 151, 163, 210, 219, 223 ff. Siehe auch Mitbesitz, MLF, Nukleare Planungsgruppe. - Nichtverbreitung von Kernwaffen 56, 232 ff. - Nukleare Mitsprache 118, 124 ff., 144 ff., 149 ff., 162, 163, 191, 195, 218, 223 ff. Siehe auch MLF, Nukleare Planung, Nukleare Planungsgruppe. - nukleare Zusammenarbeit mit Frankreich 29, 33 f., 34, 49 ff., 67, 87, 148 ff., 155 f., 166, 191, 207, 213, 215. Siehe auch Frankreich, Vereinigte Staaten von Amerika. - nukleare Zusammenarbeit mit den USA 33 f., 34, 53, 177 f. - Sidierheitsinteressen 3 ff., 3, 9 ff., 14 ff., 15, 17, 23, 33, 38 ff., 44 ff., 50, 75, 83 ff., 88, 106, 117 f., 117, 152 f., 155 ff., 186, 212, 216 f., 233. - Verhandlungen mit Sowjetunion 70, 86 f., 90, 235. - Verteidigung der 9ff., 19, 83f., 96, 118, 144, 151, 157 ff., 165. - Widerstand gegen MLF 187 ff., 223 ff. - Wiederbewaffnung 4, 12 ff., 32, 37. Bundy, McGeorge 114 f., 133, 193. Carstens, Karl 157. CDU/CSU 3, 12, 13, 37 ff., 38, 176, 176,
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Personen- und Sachregister
189 f., 192, 195 f., 195, 203, 225 ff., 230, 235, 235, 241. Chaban-Delmas, Jacques 50. Chalfont, Lord 181, 208, 233. China, Volksrepublik 213 ff. Chrusditsdiow, Nikita 69, 109. Churdi, Frank 27. Claude V. Ricketts (Raketenzerstörer) 175, 175, 201, 204. Cleveland, Harlan 202, 214. Counter force strategy 94, 99, 147 ff. Couve de Murville, Maurice 46, 54, 76, 82, 173. Dänemark - und MLF 170, 197. - und N P G 222, 223, 249. Defense Planning Committee (DPC) 223, 245. Dreier-Direktorium für die N A T O 29, 155, 221, 221. Dulles, John Foster 6, 35, 65, 73, 152, 209. Eighteen-Nation-Disarmament-Committee (ENDC) 176, 204 f., 211, 215 ff. Eisenhower, Dwight D. und EisenhowerRegierung 29, 79, 82, 108, 124, 221. Entspannung 211 f., 213 f., 228, 239 ff. Erhard, Ludwig und Erhard-Regierung 23, 34, 47, 53, 112, 158, 165, 166, 167, 169, 176 ff., 183, 186, 190, 192, 192, 194 ff., 199, 224 f., 228 ff., 229, 232, 235. Erler, Fritz 28, 225. Eskalation, nukleare 10, 15, 15, 59, 83, 85, 94, 96 ff., 127, 160, 246 ff. Europäische Atomenergiegemeinschaft (Euratom) 67 f. Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) 4, 38. Europäische Wirtsdiaftsgemeinsdiaft (EWG) 54, 75, 116, 130, 140, 176, 187. Fähigkeit zum zweiten Schlag (second strike capability) 94. FDP 227. Finletter, Thomas K. 144, 156, 214. Fischer, Adrian 206. Flexible response 74, 80, 89, 93 ff., 99 ff., 99, 108 f., 122 f., 147 f., 150, 159 f., 162 f., 246 ff. Foster, William C. 214 f., 216. Frankreich
- Atomwaffen für BRD 51 f., 184 f., 193. - Auszug aus der NATO-Verteidigungsorganisation 14, 19, 23, 29, 186 f., 196, 212, 239. - deutsche Wiedervereinigung 28, 186, 228. - Kontrolle der BRD 4, 51. - Niditweiterverbreitung von Kernwaffen 78. - Nuklearstatus gegenüber BRD 22, 24 ff., 34, 49, 51 ff., 67, 87, 185. - Widerstand gegen Herter-Plan 82. - Widerstand gegen MLF 24, 53 f., 54, 76, 179, 183 ff., 195, 227. - und Reaktion der Bundesrepublik 187 ff. - Zusammenspiel mit Sowjetunion 24, 45, 186, 186, 190. - Zweifel an amerikanischer Verläßlidikeit 103, 143, 148 f., 156. Gates, Thomas S. 78. Gaulle, Charles de 29, 49, 51 ff., 75 f., 130, 138, 148, 152, 155, 164, 166, 183 ff., 186, 192, 193, 195, 197, 200, 212, 221, 221. Gerstenmaier, Eugen 26, 190 f., 195. Gilpatric, Roswell 214. Gilpatric-Bericht 214 ff., 234. Grand Design 109 f., 148. Grewe, Wilhelm 6, 157, 167, 177 f., 178. Griechenland - und MLF 174 f. - und N P G 222, 223. Gromyko, Andrej 232. Großbritannien - Haltung zur MLF 136 ff., 170 ff., 177, 179 ff., 194. - und Reaktion der BRD auf britische Haltung 187 ff. - nukleare Unabhängigkeit 136 ff., 170, 173. - Verhältnis zu Vereinigten Staaten (Special relationship) 180 f. - Verhandlungen mit Sowjetunion 81, 180 f., 182, 200, 212. - Widerstand gegen Herter-Plan 81 f. Große Koalition 225, 230, 241. Guillaumat, Pierre 51. Guttenberg, Karl-Theodor Freiherr von und zu 55, 190 f., 192. Harriman, Averell 216. Hase, Karl-Günther von 142, 189, 233.
Personen- und Sachregister Hassel, Kai-Uwe von 55, 136, 144 f., 150, 157, 157, 160 f., 165, 166, 169, 173, 178, 188, 192, 195, 196, 225, 228, 229, 230 ff. Healey, Denis 245. Herter, Christian 73, 78 ff., 90, 107 f., 116, 223. Herter-Plan 78 ff., 90, 220. Hillenbrand, Martin 195. Holifield, Chet 196, 218. Home, Lord 173. Integration Westeuropas 54, 54, 75, 201. - und Atomwaffen 24 ff., 39, 50 ff., 54 ff., 185 ff., 191 ff., 192, 193, 227, 227, 230, 235 f., 235, 251 f. Interallied Nuclear Force (IANF) 174. Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) 68. Italien - und MLF 170 f., 171, 174 f., 183, 197 f. - und NPG 221, 222, 223, 246. Jaeger, Richard 104. Johnson, Lyndon B. 76, 142, 151, 175 f., 194, 196 ff., 202 f., 211, 213 f., 224, 229, 229. Joint Atomic Energy Committee 77, 79, 140, 196, 218, 218. Kanada - und MLF 170. - und NPG 222, 223, 249. Kennedy, John F. 18, 76, 80 ff., 90 f., 100 f., 103, 108 ff., 110, 110, 115, 120 f., 124 f., 132 f., 136 ff., 142, 147 f., 152, 156, 170 f., 175, 199, 209, 211. Kennedy, Robert F. 214 f., 218. Kernwaffenversuche 92. Kiesinger, Kurt-Georg 192. Knappstein, Heinrich 216. Konventionelle Verteidigung 8 ff., 12, 18, 77, 80, 93 ff., 96, 135, 147, 157 ff., 247. Krone, Heinrich 47, 227. Kuba-Krise 133 f., 148. Lee, John 156. Lemnitzer, Lyman L. 101 f., 144. Londoner Neun-Mächte-Konferenz (1954) 5 ff., 7. McCloskey, Robert 196. McCloy, John 92. MacMahon Act 71, 210.
271
MacMillan, Harold 107, 136, 138, 179. McNamara, Robert S. 93, 97, 100 f., 123, 132, 135, 135, 136, 151, 172, 215, 218 ff., 223, 227, 229, 243 f. Merchant, Livingston T. 140, 144, 156, 163. Merkatz, Hans-Joachim von 150. Messmer, Pierre 51. Mikojan, Anastas I. 186. Mitbesitz von Atomwaffen 27, 56 ff., 85, 101, 118, 130, 142, 148, 210, 219, 223 ff. Siehe auch MLF. - als Grundlage für Mitsprache 163, 150 f., 225, 231, 243, 248 f., 250. Siehe auch MLF, Nukleare Planungsgruppe. MLF (Multilateral Force). Siehe audi Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Vereinigte Staaten von Amerika. - Bindung der USA 141 ff., 155 ff., 165, 231. - Finanzierung 135, 138, 141, 175, 180. - Instrument der Nichtverbreitung von Kernwaffen 132, 139, 142, 144, 147 f., 153, 162, 176, 197, 205, 209, 211, 214 f., 217 f., 240. - Kontrollfrage 129, 135, 141 ff., 170, 175, 191, 193 f., 206. Siehe auch nukleare Kontrolle, Veto. - und Politik der Nichtverbreitung von Kernwaffen 204 ff., 209 ff., 240. Siehe audi Nichtverbreitung von Kernwaffen, Nukleare Planungsgruppe, Sowjetunion. - politischer Einfluß ihrer Mitglieder 162 ff., 191 ff., 208 f., 227. - Vorteile für BRD 48, 141, 144, 157 ff-, 195, 208 f. - und westeuropäische Nuklearstreitmacht 56, 131, 134, 142 ff., 142, 165 f., 182, 189 f., 192 f., 194, 209. - und Zusammenhalt in der NATO 154, 157 ff., 200 f., 209, 209,212. - Zusammensetzung 140 ff. Mulley, Frederick 74. Mutual and Balanced Force Reductions (MBFR) 251. NATO (North Atlantic Treaty Organization) - Assignierung von Polaris-U-Booten 74, 78 f., 82, 108, 124, 172. - Beitritt der Bundesrepublik 4 f., 7, 28, 37.
272
Personen- und
- Diskussion um die Strategie 10 ff., 18, 19, 72 ff., 93 ff., 121, 136, 159 ff. - Nachrichtenverbindungen 220, 222, 244 f., 251. - Nuklearisierung 12 ff., 14, 16 f., 32 f., 69 ff., 90, 96. - Verteilung der Verteidigungslasten 79, 80 f., 109, 116. - als „vierte Atommadit" 73 ff., 78 f., 87 ff., 89, 107 f., 113, 121, 143, 167, 223. Neutralität (der BRD) 36, 37 ff. Niditweiterverbreitung von Kernwaffen 27, 30 f., 56, 65 f., 66, 67 f., 68, 73, 91 f., 176, 176, 197, 201, 204 ff., 209 ff., 228. Siehe auch Bundesrepublik Deutschland, Frankreidi, MLF, Nukleare Planungsgruppe. - Vertrag über die 92, 121, 205 f. Niederlande - und MLF 170, 174 f., 183. - und N P G 222 f., 222, 249. Nixon, Richard M. 116. Norstad, Lauris, 73 ff., 77 ff., 77, 101 f., 104, 130, 223. Norstad-Plan 73 ff., 78 f., 88, 115, 220. Norwegen - und MLF 170, 197. - und N P G 222, 249. Nuclear Defense Affairs Committee ( N D A C ) 223. Nuklearausschuß (von Athen) 123 ff., 130, 250. Nukleare Abhängigkeit 36 ff., 48 ff., 53, 70, 99, 106. Nukleare Erpressung 233. Nukleare Garantie 7 ff., 15, 18, 23, 32, 34, 49, 52, 65, 66 ff., 73, 83 f., 86, 94 f., 97 f., 99 ff., 113, 115, 118, 122 f., 127, 154, 158 ff., 247. Siehe auch MLF, Vereinigte Staaten von Amerika, Vertrauenskrise. Nukleare Information 59, 61, 118 ff., 123 ff., 135, 136, 172 f., 177, 191, 195, 219 ff., 231, 244 f. Siehe audi Nukleare Planung, Nukleare Planungsgruppe. Nukleare Konsultation 59, 61, 123, 126, 135, 163, 163, 201, 217, 219 ff., 224, 230 f., 243 ff., 251 f. Siehe audi N u kleare Planung, Nukleare Planungsgruppe. Nukleare Kontrolle 56 ff., 61, 65, 68, 72, 78 ff., 79, 88, 90, 111 f., 118 ff., 130,
Sachregister 173, 225 f., 232. Siehe audi A N F , MLF, Nukleare Planungsgruppe. - westeuropäisches System 79, 81, 89,108, 110, 120, 121, 139. Nukleare Mitwirkung, Formen der 56 ff. Nukleare Pause 97. Nukleare Planung 56 ff., 61, 65, 72, 85, 118 ff., 129 f., 139, 141 f., 173, 204, 217 ff., 219 ff., 224 ff., 242 ff. Siehe auch Bundesrepublik Deutschland, MLF, N u kleare Planungsgruppe. - Bindung des amerikanischen Präsidenten an gemeinsame 100, 101, 243, 250 f. Nukleare Planungsgruppe: N P G (anfangs M c N a m a r a Committee bzw. Select oder Special Committee) 200, 209, 212, 215, 218, 219 ff., 223 ff., 231 f., 234, 239, 242 ff., 248 ff. - Einfluß der Bundesrepublik 209, 222 f., 225 ff., 231 f., 242. - und Mitbesitz 223 ff., 231 f., 250. - sowjetische Reaktion 232, 242. Nukleare Sdiwelle 15, 15, 97 f., 109. Option - auf eine atlantische Nuklearstreitmacht 27 f., 205 f., 231, 235. - auf eine westeuropäische Nuklearstreitmadit 56, 166, 230, 235 f., 235. Politik der Stärke 4, 26, 40. Pompidou, Georges 185, 187, 188. Portugal - und MLF 170. - und N P G 222. Radford-Plan 12 f. Rakete X 135, 135. Raketen - landgestützt in "Westeuropa 69 ff., 70, 74, 77 ff., 83, 102 ff., 134 f., 140, 150, 157 f. - seegestützt f ü r Westeuropa 80, 88 f., 134 f., 140, 150. Raketenabwehrsystem 44. Raketenlücke 66, 66, 69, 70, 210. R a p a d d - P l a n 32. Ricketts, Claude V. 174. Rickover, H y m a n George 140. Rosditsdiin, Alexej 206. Rüstungskontrolle, Verhandlungen mit der Sowjetunion 69 f., 73, 81, 131, 148, 163 f., 170, 172, 172, 174, 176, 176, 180 ff., 200, 204 ff., 209 ff., 251. Siehe
Personen- und Sachregister audi Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Großbritannien, MLF, Nichtverbreitung von Kernwaffen, Vereinigte Staaten von Amerika. Rusk, Dean 96, 108, 135, 151, 170, 177 f., 188, 199, 200, 202, 216. Sandys, Duncan 65. Schaetzel, J. Robert 142. Scherpenberg, Hilger van 76. Schmidt, Helmut 245. Schröder, Gerhard 55, 122, 162, 165 f., 166, 169, 174, 188, 189, 192, 192, 195, 195, 196, 200, 212, 216, 225, 228, 230 ff., 234, 245. Schumacher, Kurt 41. Skybolt-Rakete 136 f., 139, 156. Smith, Gerard C. 175, 201. Sorin, Valerian 92. Sowjetunion - und Atomwaffen f ü r die BRD 24, 25 f., Siehe audi Haltung zur MLF und N u kleare Planungsgruppe. - Bedrohung Westeuropas durch 10 f., 42, 49, 66, 68 f., 77, 83 ff., 112 f., 146, 150, 154, 157 ff., 211 f., 216, 228, 233, 240. - Haltung zur MLF 176, 179, 179, 181 f., 203 ff., 213 ff. - konventionelle Überlegenheit in Europa 10 f., 69, 83 f. - Widerstand gegen nukleare Arrangements der N A T O 92. Siehe audi Haltung zur MLF und Nukleare Planungsgruppe. - und Zusammenspiel mit Frankreich 24, 45, 186. Spaak, Paul-Henri 76, 78, 107, 198. SPD 7, 12, 13, 32, 37 ff., 41, 176, 194, 225 ff., 230, 241, 250. Sputnik 66, 210. Stewart, Midiael 212. Stikker, Dirk 76, 112, 125, 130. Strategie Arms Limitation Talks (SALT) 93, 251. Strauß, Franz Josef 12 f., 34, 35, 35, 38, 50 f., 51, 53, 55, 67, 82, 85, 88, 89 f., 102 f., 111 ff., 111, 126 ff., 129 f., 136, 149 ff., 149, 166 f., 190 ff., 191, 192, 195, 223, 227. Taylor, Maxwell D. 93, 101 ff., 104. Thorneycroft, Peter 171. Timberlake, Clare 218. Türkei
273
- und MLF 174 f., 198. - und N P G 222, 223. Unbeabsichtigter Nuklearkrieg (accidental war) 73, 92, 94, 148. Vereinigte Staaten von Amerika - und deutsdi-französische nukleare Zusammenarbeit 49, 66 ff., 87, 130, 148 ff., 155 f., 194, 215. - Entwicklungsländer und N A T O 91. - Führungsrolle in der N A T O 29, 117, 120, 120, 168, 202, 251. - Haltung zur MLF - Befürwortung 121, 129 ff., 138, 142 ff., 146 ff., 175 ff., 215, 217 ff., 220. - Gegnerschaft 131, 135, 135, 196 ff., 214 f., 217 ff., 220. Siehe audi Atomwaffen, alleinige amerikanische Verfügungsgewalt, Holifield, Joint Atomic Energy Committee, Nukleare Kontrolle, Veto. - Nichtverbreitung von Kernwaffen 66 ff., 72, 73 f., 91 ff., 109, 113, 121, 130, 131, 133, 139, 147, 153, 176, 204 ff., 209 ff., 228, 232. Siehe audi MLF. - nukleare Hilfe für Frankreich 71, 82, 117, 120, 133, 139, 210. - nukleare Verteidigung Westeuropas 8 ff., 15, 18, 23, 32, 49, 55, 69 ff., 79, 81, 83 f., 89, 93 ff., 97 f., 99 ff., 109, 115, 118 f., 123 f., 135, 147, 158 f., 219, 242 ff., 249 ff. Siehe audi Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Vertrauenskrise, Veto, Vietnam. - Präsenz in der BRD 10, 34, 39, 42, 55, 96, 118 f., 123. - Sorge vor nuklearer Bewaffnung der BRD 23, 45 f., 57, 87, 119, 131 f., 148 ff., 176, 198 f., 215, 239 ff. Siehe auch MLF. - Verhandlungen mit der Sowjetunion 91 ff., 109, 115, 117, 117, 121, 125 f., 131 ff., 144, 160, 163, 172, 172, 174, 176, 204 ff., 209 ff. Vertrauenskrise (in Verbindung mit nuklearer Garantie) 65, 66 ff., 73, 83 f., 94 f., 98, 103 f., 106, 133, 145, 147, 148 f., 154, 158 f. Veto, nukleares 58, 60 f., 118, 128, 136, 141 ff., 165, 182, 182, 191, 193 f., 205 f., 226 f., 226, 230, 250.
274
Personen- und Sachregister
Vietnam, amerikanisches Engagement 204, 213, 215, 228. Walker, Patrick Gordon 181, 188, 189. Wehner, Herbert 226. Westeuropäische Union (WEU) 5 fi., 22, il, 67, 74, 104, 145, 162, 184. Westmächte, Präsenz in der Bundesrepublik 10, 34. Westrick, Ludger 196. Wiedervereinigung Deutschlands 3 f., 3,
6 f., 28, 37 ff., 86 f., 122, 228, 235, 240. - und Atomwaffen 7, 22, 25 ff., 32 f., 37 ff., 167, 186, 186, 233, 235. - und Neutralität 37 ff. Wilson, Harold 180, 181, 182, 182, 188 f., 194, 199 f., 213, 233. Wirtschaftskraft Westeuropas und Atomwaffen 116 f., 153 f. Zwei-Schlüssel-System 60 f., 68, 71 f., 71, 79, 97, 210, 236.
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Zwischen Demokratie und Diktatur Verfassungspolitik und Reichsreform in der Weimarer Republik. 2 Bände. Band I : Die Periode der Konsolidierung und der Revision des Bismarcksdien Reichsaufbaus 1919—1930. Groß-Oktav. X I V , 678 Seiten. 1963. Ganzleinen D M 56,— I S B N 3 11 000115 2
Hans Delbrück
Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte 4 Teile. Groß-Oktav. Ganzleinen. 1.Teil. Das Altertum. Nachdruck der 3. Auflage. Mit einer Einleitung von Karl Christ. X X , X V I , 619 Seiten. 1964. D M 5 8 , — I S B N 3 11 000483 X 2. Teil. Die Germanen. Photomechanisdier Nachdruck der 3. Auflage. Mit einer Einleitung von Hans Kuhn und Dietrich Hoffmann. X X I V , V I I I , 508 Seiten. 1966. D M 58,— I S B N 3 11 000484 4 3. Teil. Das Mittelalter. Nachdruck der 2. Auflage. Mit einer Einleitung von Kurt-Georg Cram. X V I , V I I I , 708 Seiten. 1964. DM 64,— I S B N 3 11 000482 8 4. Teil. Neuzeit. Nachdruck der 1. Auflage. Mit einer Einleitung von Otto Haintz. X X I I , I X , 552 Seiten und Beiheft: Vorrede zur Neuausgabe der ersten vier Bände von Otto Haintz. 11 Seiten. 1962. DM 4 8 , — I S B N 3 11 000481 X (Mit Genehmigung des Verlages Georg Stilke, Berlin)