Nordische und deutsche Kirchen im 20. Jahrhundert: Referate auf der Internationalen Arbeitstagung in Sandbjerg/Dänemark 1981 9783666557132, 3525557132, 9783525557136


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German Pages [364] Year 1982

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Nordische und deutsche Kirchen im 20. Jahrhundert: Referate auf der Internationalen Arbeitstagung in Sandbjerg/Dänemark 1981
 9783666557132, 3525557132, 9783525557136

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ARBEITEN ZUR KIRCHLICHEN ZEITGESCHICHTE REIHE B: DARSTELLUNGEN · BAND 13

ARBEITEN ZUR KIRCHLICHEN ZEITGESCHICHTE Herausgegeben im Auftrag der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für kirchliche Zeitgeschichte von Georg Kretschmar und Klaus Scholder

REIHE B: DARSTELLUNGEN

Band 13

Carsten Nicolaisen (Hg.) Nordische und deutsche Kirchen im 20. Jahrhundert

GÖTTINGEN · VANDENHOECK & RUPRECHT · 1982

Nordische und deutsche Kirchen im 20. Jahrhundert Referate auf der Internationalen Arbeitstagung in Sandbjerg/Dänemark 1981 herausgegeben von Carsten Nicolaisen

GÖTTINGEN · VANDENHOECK & RUPRECHT · 1982

Redaktionelle Betreuung dieses Bandes: Hannelore Braun und Carsten Nicolaisen

CIP-Kurztitelaufiiahme der Deutschen Bibliothek Nordische und deutsche Kirchen im 20. [zwanzigsten] Jahrhundert: Referate auf d. internat. Arbeitstagung in Sandbjerg/Dänemark 1981 / hrsg. von Carsten Nicolaisen. - Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1982. (Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte: Reihe B, Darst.; Bd. 13) ISBN 3-525-55713-2 NE: Nicolaisen, Carsten [Hrsg.]; Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte / Β

® Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1982. - Printed in Germany Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. - Satz: DörlemannSatz, Lemförde. - Druck und Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

7

Abkürzungen

9

JAKOB L . BALLING:

Hal Koch als dänischer Historiker in der

Okkupationszeit

13

Der Dienst der dänischen Kirche an den deutschen Flüchtlingen in Dänemark 1945-1948

27

Zur Frage der theologischen Legitimierung der Volkskirchen in Norwegen

36

Anders Nygren und die gesellschaftspolitischen Fragen der nationalsozialistischen Zeit

42

Zur Bedeutung Martin Luthers auf den Konferenzen der Hochschultheologen der Ostseeländer von 1961 bis 1980

58

English Reactions on the Situation of the Churches in Finland and Scandinavia 1940-1941

75

Die Zeitung „Kotimaa" und das neuvolkskirchliche Tätigkeitsprogramm in Finnland 1940-1975 . . .

79

H E I N Z BOBERACH:

PETER WILHELM BOOKMAN:

INGMAR BROHED:

GERT HAENDLER:

HANNU HEIKKILÄ:

MARKKU HEIKKILÄ:

FINN RIBER JENSEN:

Zur heutigen Situation der Volkskirche in

Dänemark

86

Die Ev.-Luth. Landeskirche Schleswig-Holsteins in der Herausforderung des schleswigschen Grenzlandes (mit einem Kommentar von Troels Fink und einer Entgegnung Kurt Jürgensens)

91

Die „Vergangenheitsbewältigung" in den deutschen Kirchen nach 1945

122

KURT JÜRGENSEN:

GEORG KRETSCHMAR:

6

Inhalt

INGE LONNING:

Das nordische Luthertum

150

Die zeitgeschichtliche Bedeutung volkskirchlicher Konzeptionen im deutschen Protestantismus zwischen 1918 und 1945 165

KURT MEIER:

INGUN MONTGOMERY:

Politische Parteien und Kirche in Schwe-

den E I N O MURTORINNE:

198 Die nordischen Kirchen im zweiten Welt-

krieg

212

Kirche und Widerstand gegen den Nationalsozialismus 1933-1945 in Deutschland 228

KURT NOWAK:

ANDERS PONTOPPIDAN THYSSEN:

Die volkskirchliche Tradition

in Skandinavien TRUTZ RENDTORFF:

271 Volkskirche in Deutschland

290

VON THADDEN: Kirchenpolitische Programme der deutschen Parteien seit 1918 und die Reaktionen der Kirche 318

RUDOLF

CHRISTIAN WALTHER:

Politischer Protest und kirchliche Einheit

336

Die Autoren

343

Index

345

Vorwort Vom 9. bis 13. Juni 1981 fand auf Schloß Sandbjerg bei Sonderborg (Sonderburg) in Dänemark eine Internationale Arbeitstagung mit über 50 Teilnehmern statt, die gemeinsam von der Theologischen Fakultät der Universität Aarhus und der Ev. Arbeitsgemeinschaft für kirchliche Zeitgeschichte veranstaltet wurde. Diese Tagung war das erste größere Treffen zwischen kirchlichen Zeitgeschichtlern aus den nordischen Ländern und den beiden deutschen Staaten überhaupt. Sie stand unter dem Generalthema „Nordische und deutsche Kirchen im 20. Jahrhundert"; das Generalthema war unterteilt in die Tagesthemen „Volkskirche", „Staat und Kirche", „Kirche und Krieg". Zu jedem Tagesthema waren von einigen der Teilnehmer Kurzreferate (Kommunikationen) eingereicht worden, die - neben den Hauptreferaten - auf der Tagung vorgetragen und diskutiert wurden. Der vorliegende Band enthält alle Beiträge der Sandbjerger Tagung in alphabetischer Reihenfolge der Autoren (dabei ist dem Herausgeber ein Versehen unterlaufen, das auf seine leider nur oberflächliche Kenntnis des Dänischen zurückzuführen ist: der Aufsatz von A. Pontoppidan Thyssen hätte unter dem Nachnamen und nicht unter dem Mittelnamen eingeordnet werden müssen!). Mit aufgenommen wurde auch der instruktive Bericht über die volkskirchliche Situation in Dänemark, mit dem F. Riber Jensen die Tagungsteilnehmer auf ihrer Exkursion in Ribe (Ripen) begrüßte. Alle Beiträge dieses Bandes kommen, teils an zentraler Stelle, teils mehr beiläufig, immer wieder auf ein Stichwort zurück, das für manchen den Charakter eines Reizwortes besitzt: „Volkskirche". Als eines der wesentlichsten Ergebnisse der Sandbjerger Tagung und der jetzt vorliegenden Aufsätze muß wohl festgehalten werden, daß sich gerade durch die Gegenüberstellung der nordischen und der deutschen Stimmen zum Thema „Volkskirche" - die ja im Norden weitgehend Staatskirche ist und darum einen anderen Charakter hat als in Deutschland - neue Zugänge zur Wirklichkeit der Volkskirche, vielleicht auch zur Problematik der Kirche als Volkskirche eröffnen. Die Ev. Arbeitsgemeinschaft für kirchliche Zeitgeschichte und der Herausgeber danken den Autoren, daß sie ihre Beiträge für diesen Sammelband zur Verfügung gestellt, ζ. T. für den Druck noch über-

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Vorwort

arbeitet und Angaben zu den auftretenden Personen beigesteuert haben. Besonders zu danken ist K. Jürgensen für seine Bereitschaft, auch die Kontroverse mit T. Fink mit zu veröffentlichen, die sich an seinen Kurzbeitrag in Sandbjerg anschloß. Ein weiterer Dank gilt Dr. Jens Holger Schjorring in Aarhus, der nicht nur die Tagung in Sandbjerg mit vorbereitet und organisiert hat, sondern auch die Drucklegung dieses Bandes immer wieder mit Rat und Tat begleitete. Frau Hannelore Braun danke ich dafür, daß sie die nicht immer ganz problemlose redaktionelle Betreuung einzelner Beiträge übernommen hat, und schließlich meiner Frau und stud, theol. Armin Wouters für die tatkräftige Mithilfe bei der Arbeit am Index. Weilheim, Oktober 1982

Carsten Nicolaisen

Abkürzungen a. D. AGK AKiZ Anm. ao. Apk. APU Art. Aufl. AVELKD Bd. bes. BK Bl. bzw. ca. CDU CW D. DC D. D. DDP DDR DEK DEKA Ders. d. h. Diss. DNVP Dr. DVP ebd. EKD EKL epd etc. ev., evang. EvTh EZA FDP

außer Dienst Arbeiten zur Geschichte des Kirchenkampfes Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte Anmerkung außerordentlich Apokalypse Altpreußische Union Artikel Auflage Archiv der VELKD (Hannover) Band besonders Bekennende Kirche Blatt beziehungsweise circa Christlich-Demokratische Union Die Christliche Welt Dr. (theol. h. c.) Deutsche Christen Doctor of Divinity Deutsche Demokratische Partei Deutsche Demokratische Republik Deutsche Evangelische Kirche Deutscher Evangelischer Kirchenausschuß Derselbe das heißt Dissertation Deutschnationale Volkspartei Doktor Deutsche Volkspartei ebenda Evangelische Kirche in Deutschland Evangelisches Kirchenlexikon Evangelischer Pressedienst et cetera evangelisch Evangelische Theologie Evangelisches Zentralarchiv (Berlin) Freie Demokratische Partei

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geb. gest. ggf. GTB GWU h.c. Hg., hg. HZ i. R. Jg. JK KJ KPD KZG LDPD lie. Lit. LKA luth. LW(B) m.a.W. MdEP m. W. NF NPL NS NSDAP NZSTh o. P. Pfr. phil. Prof. Rev. RGG S. SA s. E. sog. Sp. SPD SS SSV SSW Sup. SvTK TEH

Abkürzungen

geboren gestorben gegebenenfalls Gütersloher Taschenbuch Geschichte in Wissenschaft und Unterricht honoris causa Herausgeber, herausgegeben Historische Zeitschrift im Ruhestand Jahrgang Junge Kirche Kirchliches Jahrbuch Kommunistische Partei Deutschlands Kirchliche Zeitgeschichte Liberaldemokratische Partei Deutschlands Licentiat Literatur Landeskirchliches Archiv lutherisch Lutherischer Weltbund mit anderen Worten Mitglied des Europaparlaments meines Wissens Neue Folge Neue Politische Literatur nationalsozialistisch, Nationalsozialismus Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Neue Zeitschrift für Systematische Theologie ordentlich Pastor Pfarrer philosophisch Professor Reverend Religion in Geschichte und Gegenwart Seite Sturmabteilung seines Erachtens sogenannt Spalte Sozialdemokratische Partei Deutschlands Schutzstaffel Südschleswigscher Verein Südschleswigscher Wählerverband Superintendent Svensk Teologisk Kvartalsskrift Theologische Existenz heute

Abkürzungen

theol. ThLZ ThR u.a. u.E. u.ö. USPD usw. u.U. u.W. VELKD vgl. VKL VKZG Vol. VZG WS WuPKG z.B. ZEvKR zit. ZSTh z.T. ZThK ZZ

theologisch Theologische Literaturzeitung •Theologische Rundschau unter anderem, und andere unseres Erachtens und öfter Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands und so weiter unter Umständen unseres Wissens Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands vergleiche Vorläufige Kirchenleitung Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte Volume Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Wintersemester Wissenschaft und Praxis in Kirche und Gesellschaft zum Beispiel Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht zitiert Zeitschrift für Systematische Theologie zum Teil Zeitschrift für Theologie und Kirche Zwischen den Zeiten

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JAKOB L . BALLING

Hal Koch als dänischer Historiker in der Okkupationszeit Die mir gestellte Aufgabe versuche ich im Folgenden so zu erfüllen, daß ich auf ein doppeltes Ziel hinstrebe: 1. die besondere Leistung dieses Mannes in der dänischen Okkupationszeit in ihren Grundzügen darzustellen; 2. zu bestimmen, welche Rolle es für die Ausformung dieser Leistung gespielt hat, daß Hai Koch ein dänischer Historiker und Theologe war. Zuerst aber ein kurzer Aufriß seines Lebenslaufes bis zum Jahr 1940: Hai Koch wurde 1904 in Kopenhagen geboren, mütterlicherseits als Nachkomme von Kopenhagener Geschäftsleuten, väterlicherseits als Nachkomme einer langen Reihe von Pfarrern. Er genoß eine solide philologische und theologische Ausbildung und trat als sehr frühreifer Gelehrter mit einer Untersuchung über das Verhältnis des Orígenes zum Piatonismus hervor („Pronoia und Paideusis". 1932), die noch nach 50 Jahren zu den bahnbrechenden Leistungen auf ihrem Gebiet gerechnet wird. Er beschäftigte sich danach mit dänischer Kirchengeschichte des frühen Hochmittelalters (»Danmarks Kirke i den begyndende Hojmiddelalder" Bd. 1-2. 1936) und verfaßte im Rahmen eines weltgeschichtlichen Sammelwerkes eine große Synthese der alten und mittelalterlichen Kirchengeschichte sowie der allgemeinen Geschichte der Völkerwanderungszeit. Theologisch und kirchlich war er in seiner späten Jugend weitgehend von der dialektischen Theologie beeinflußt, und politisch war er - teilweise aufgrund persönlicher Kenntnisnahme auf Reisen in Deutschland und Italien - ein früher und entschiedener Gegner der totalitären Bewegungen. Er sah sich selbst aber vor allem als akademischen Historiker und Theologen an, und als er 1937 zum ordentlichen Professor für Kirchengeschichte an der Universität Kopenhagen ernannt wurde, schien sich ihm eine rein wissenschaftliche Laufbahn abzuzeichnen. Die Ereignisse von 1940 führten ihn jedoch - obwohl er bis zu seinem Tode 1963 an der Universität weiterwirkte - in eine sehr andersartige Bahn hinein, und er wurde vor ganz unvorhergese-

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Jacob L. Balling

hene Aufgaben gestellt, zuerst in der Okkupationszeit, nachher auch in der Nachkriegszeit. Seine Leistung während der (ersten Jahre der) Okkupationszeit lief - sehr kurz gesagt - darauf hinaus, die nationale Erweckungsbewegung im Sinne demokratischer Politisierung zu formen. Das ist aber rein formelhaft gesprochen. Wenn die Sache zur Klarheit gelangen soll, dann muß die Leistung, so weit es der Raum erlaubt, auf ihrem geschichtlichen Hintergrund gesehen werden, ihre Entfaltung und ihre Probleme müssen dargestellt oder angedeutet werden, und es muß - was uns ja nicht zuletzt interessiert - die Frage erwogen werden, in welchem Sinne eine Theologen- und Historikererfahrung hier zum Ausdruck kommt. Der Hintergrund, die Ausgangslage, ist entscheidend bestimmt durch die Erschütterung des dänischen nationalen Bewußtseins infolge der Ereignisse des 9. April 1940. Als die Regierung zu Beginn der deutschen Okkupation die vollzogene Tatsache unter Protest anerkannte, als sie sich auf die Zusage der Besatzungmacht berief, als reine „Beschützermacht", ohne Einmischung in innere dänische Angelegenheiten auftreten zu wollen, und als sie sich darauf einstellte, innerhalb des damit gegebenen Rahmens weiterzufunktionieren und von Fall zu Fall mit der Besatzungsmacht zu verhandeln („Forhandlingspolitik"), war diese Entscheidung von der Überzeugung bestimmt, in dieser Weise den Interessen der Bevölkerung besser dienen zu können, als wenn man sich durch eine regelrechte Kapitulation als besiegte kriegführende Macht bezeichnet hätte, mit der sich daraus ergebenden Verengung des Handlungsspielraums einer dänischen Regierung. Diese Entscheidung und die sie tragende Überzeugung wurde von der überwältigenden Mehrheit des Volkes bejaht, nicht zuletzt in der Erkenntnis der völligen Aussichtslosigkeit eines eigentlichen militärischen Widerstandes. Dies gilt wohl auch von manchen, die wie Hai Koch - am Tage des Überfalls hatten kämpfen wollen ohne Rücksicht auf die Folgen. Es war eine Sache, die Entscheidung der vom Volk gewählten Regierung in dem genannten Sinne gutzuheißen, etwas ganz anderes aber waren die Gefühle, womit man es tat, Gefühle der Demütigung und der Scham sowie der Angst und der Ratlosigkeit angesichts einer Fremdherrschaft von sehr langer Dauer mit allen ihr innewohnenden Bedrohungen für die nationale Identität und die dänischen Lebensformen. Es mischte sich übrigens in diese Gefühle bei vielen ein gut Teil innerdänischen - von den (militärpolitischen Gegensätzen der Vorkriegszeit herrührenden - Ressentiments. Auf diesem Hintergrund müssen die Bestrebungen betrachtet wer-

Hal Koch als dänischer Historiker in der Okkupationszeit

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den, die sich in spontaner und unkoordinierter Weise während der ersten Besatzungsmonate entfalteten, um darüber Klarheit zu gewinnen, wie man die nationale Identität im Lichte der neuen Lage zu verstehen hatte, und was getan werden konnte, um sie unter den neuen Bedingungen zu verteidigen und befestigen. Zwei weitere Momente machten sich geltend. Erstens waren diese Bestrebungen auch von der praktischen Bedrohung seitens gewisser Bewegungen ganz- oder halbnazistischer Art bestimmt, die nun bisher gesperrte Einflußmöglichkeiten witterten. Zweitens wurden die Bestrebungen besonders im Hinblick auf die Jugend entfaltet, welche ja, wie es zu meinen nahelag, besonders bedroht war. Hier liegt der Ursprung des Gedankens an ein organisiertes Zusammenwirken aller derjenigen freien, kulturellen, politischen, religiösen, sportlichen Jugendverbände, die ein so charakteristischer Zug im Bilde des neuzeitlichen Dänemark waren. Durch eine solche Zusammenarbeit sollte - mit Unterstützung eines Kreises älterer Leute („De vEldres Raad") - eine gegenseitige Hilfe bei Veranstaltungen geleistet werden: bei nationalen und historischen Vorträgen, Filmen, künstlerischem Auftreten usw., und damit sollte ein Beitrag geleistet werden zur gemeinsamen Stärkung nationaler Selbstbesinnung sowohl unter den vereinsmäßig organisierten Jugendlichen als auch unter den Unorganisierten, die man hoffte, einbeziehen zu können. „Dansk Ungdomssamvirke" ( = D. U.; etwa: Gemeinschaftswirken dänischer Jugend) war und blieb nichts weniger als ein straff organisiertes Unternehmen. Man legte ausdrücklich Gewicht darauf, die Selbständigkeit des einzelnen Vereins zu wahren und schlechterdings nichts von oben zu diktieren, teils weil dies dänischer Gewohnheit entsprach, teils weil es notwendig war im Hinblick auf die sehr tiefgehenden politischen, religiösen und sozialen Unterschiede zwischen den Verbänden. Überdies trat das D. U. - unter dem Eindruck einer angedrohten konkurrierenden Initiative südlich inspirierten Zuschnittes - in das Licht der Öffentlichkeit, noch bevor man das Mindestmaß an Organisation erreicht hatte, das als wünschenswert angesehen wurde. Das war die völlig offene Situation, in der man - übereinstimmend mit dem entschiedenen Willen zu politischer Neutralität - beschloß, einen Leiter von außen zu holen - eine repräsentative, sammelnde Leitfigur - und sich Hai Koch ausersah, der sich eben im frühen Herbst des Jahres 1940 einer größeren Öffentlichkeit bekannt gemacht hatte durch seine Vorlesungen über N.F.S. Grundtvig, in welchen er bei überwältigendem Zulauf von Studierenden aller Fakultäten den dänischen Dichter, Denker und Volkserwecker

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aus dem 19. Jahrhundert als Inspirator menschlicher und nationaler Selbstbesinnung darstellte. Der junge Theologieprofessor schien gut geeignet zur Führung des D. U., unbelastet, wie er außerdem von den Gegensätzen namentlich politischer Art war, worüber man bei der Gründung des D. U. nur unter Absehen von manchen Gewohnheitsvorstellungen und Uberwindung mancher Ressentiments vermocht hatte sich hinwegzusetzen. Eben dieses Konzept einer Sammlung um die nationalen und kulturellen Werte unter Ausklammerung der Politik wurde indes von Hai Koch gleich bei seinem Antritt zurückgewiesen. Sehr entschieden machte er geltend, daß man von ihm keine entpolitisierte Kulturleistung erwarten durfte. Was notwendig sei, behauptete er, sei eben eine Politisierung der Jugend, die Bewußtmachung von und Einübung in die demokratische Tradition politischen Denkens und Handelns. Seiner Meinung nach mußte jede dänische Besinnung vor allem dem Kampfe wider den Nationalsozialismus dienen, wider eine internationale Verschwörung also, die gegen sämtliche europäische Nationen, einschließlich der deutschen, gerichtet war. Eben deshalb mußte die dänische nationale Selbstbesinnung, der das D. U. dienen wollte, die demokratische Politisierung zu ihrer Losung machen. Dank seiner klaren Uberzeugung von der Notwendigkeit dieser Aufgabe, seinem überlegenen Talent für rationale Durchleuchtung eines Problems, dank der leidenschaftlichen Einsatzbereitschaft, dem Humor und der bezwingenden Rednergabe, die sich in seiner Person mit dieser kühlen Rationalität auf spannungsreiche Weise verbanden, und nicht zuletzt wohl durch seinen direkten und indirekten Nachweis der Momente, die die nationale Idee mit der demokratischen verbanden, gelang es Hai Koch mit erstaunlicher Schnelligkeit, die Bedenken des „Samvirke" zu überwinden. Die Organisation wurde damit gleich von Anbeginn in eine andere Bahn gelenkt, als man ursprünglich beabsichtigt hatte. Wie oben angedeutet, liegt in dieser Anschauung - und in den gedanklichen und praktischen Folgerungen, die er daraus zog - Hai Kochs zentrale Leistung während der Besatzungsjahre begründet. Als Idee betrachtet, ruht die Konzeption auf der fundamentalen Behauptung, daß das - im geläufigen Sinne - „Kulturelle" alles andere sei als das im eminenten Sinne Einende im dänischen Volk. Ganz im Gegenteil sei es eben etwas Trennendes; und umgekehrt berge eben das recht verstandene „Politische" die Voraussetzungen des Zusammenhaltes in sich. Wer von der Sammlung um das kulturelle Erbe redet, müsse sich die unbequeme Frage stellen, was denn eine jütländische Bauersfrau mit einer Dame des Kopenhagener

Hal Koch als dänischer Historiker in der Okkupationszeit

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Großbürgertums „kulturell" verbinde - zwei Däninnen also, die sich nur mit äußerster Mühe sprachlich untereinander verständigen können? Oder die Frage, was denn im allgemeinen solche Dänen „kulturell" verbinde, die sich auf je einer Seite der wirtschaftlichen, erziehungsmäßigen, lebensstilmäßigen Unterschiede befinden, die sich während der dreißiger Jahre zwar hinsichtlich ihrer Tiefe und ihrer Wirkungen gewissermaßen gemildert hatten, aber keineswegs aufgehoben worden waren? Mit einer stimmungsvollen Berufung auf ein vage definiertes „Kulturerbe", wie sie im Dänemark von 1940 so oft und so laut ertönte, weise man eben keinen Weg zum Überleben als dänisches Volk, damit sei eher ein Ansatz verbunden zu etwas, das von nationalsozialistischer Propaganda - ob deutsch oder dänisch ausgebeutet werden könnte. Der Feind heiße letzten Endes nicht Deutschland, sondern der Nationalsozialismus, deshalb müsse - in der Situation von 1940, unter der Perspektive einer vielleicht fünfzigjährigen Fremdherrschaft - die Verteidigung der Chancen des Uberlebens als Volk vor allem eine politische Verteidigung sein. Das Politische - die demokratische Tradition - das Hai Koch als das im eigentlichen Sinne Einende ansah, war in seinen Augen etwas anderes als parteipolitische Programme und erst recht etwas ganz anderes als ideologische Formulierungen einer „richtigen" Gesellschaftsordnung. Hai Koch „definiert" die Sache nicht, sondern nähert sich ihr auf verschiedenen Wegen. Die Demokratie ist eine Technik - so kann man anfangen, seinen Gedankengang zu resümieren - , ein Komplex von Regeln die Art und Weise betreffend, wie einfache Menschen mit verschiedenen wirtschaftlichen Interessen und divergierender kultureller Sicht gemeinsame Angelegenheiten selbständig, von unten, ordnen. Diese Regeln aber, diese Technik birgt in sich Voraussetzungen teils prinzipieller, teils geschichtlicher Natur, Voraussetzungen, ohne welche die Technik keine wahrhaft demokratische ist. Die Aussage des einen Komplexes von Voraussetzungen ist, daß Wahrheit und Recht Realitäten jenseits der Verfügung des einzelnen oder der Mehrheit oder der Minderheit sind, daß alle Ordnung menschlichen Gemeinschaftslebens diese Realitäten als Zielpunkte haben muß, daß sie aber nie besessen werden anders als in dem im geordneten Gespräch verlaufenden gemeinsamen Versuch der Annäherung dessen, was Recht ist. Demokratie ist nicht ohne weiteres Mehrheitsherrschaft. Die Mehrheitsentscheidung ist als Etappe im Gespräch eine praktische Notwendigkeit; den Lebensnerv der Demokratie macht aber das nie endende Gesprächsexperiment selber aus - der einfache Umstand also, daß einfache Menschen ohne Sachkundigenwürde die Verantwortung für ihre eigenen Angelegen-

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heiten übernehmen und diese Verantwortung mittels eines Dialogs quer über alle Gegensätze und Verschiedenheiten hinüber verwalten. Der andere Komplex von Voraussetzungen ist der geschichtliche. Dänische Demokratie ist nicht ohne weiteres gleichbedeutend mit allem, was man von den angeführten Prämissen her Demokratie nennen könnte, sondern eine in diesem Lande langsam gewachsene, von diesem Ort und seinen Menschen und ihrem Schicksal geformte und gefärbte Tradition der Verwaltung gemeinsamer Angelegenheiten auf örtlicher Ebene. Ihr Ursprung liegt in der Bauerngesellschaft des frühen Mittelalters, wo das Recht in der Thingsitzung „gefunden" wurde. Sie lebte in verkümmerter Gestalt weiter während der Jahrhunderte des Feudalismus und des Fürstenabsolutismus, und sie entfaltete sich zu neuem Leben in den Volksbewegungen des 19. Jahrhunderts, unter religiösem Vorzeichen zuerst, später auch unter politischen, wirtschaftlichen und bildungsmäßigen Vorzeichen. In der Besinnung auf dieses Gemeinsame ist nun - meint Hai Koch - die Möglichkeit für das Uberleben der Dänen als ein Volk unter einer Fremdherrschaft von unüberschaubarer Dauer bedingt. Hier - und nicht in einem Krieg zwischen Großmächten - war der Ort, wo das Schicksal der Dänen entschieden werden sollte, deshalb mußten alle Versuche einer Bestimmung dessen, was es denn heiße, ein Däne zu sein, und alle Bestrebungen, das Bewußtsein davon bei den Dänen zu vertiefen, dort und nirgendwo anders ihren Ausgangspunkt nehmen. Mit der elementaren Erkenntnis der Zugehörigkeit an einen Ort, des Gebundenseins an ihn, an seine Vergangenheit und an seine Bewohner - eine Erkenntnis, die im April 1940 diesen europäischen Intellektuellen mit einer Wucht getroffen hatte, die ihn selbst überraschte - , mit dieser Erkenntnis hängt der nüchterne, aufgeklärte Wille zum demokratischen Gespräch und zu der in ihm verlaufenden gemeinsamen Annäherung an Wahrheit und Recht unlöslich zusammen. Diese Konzeption, die 1940 - das sei ausdrücklich hervorgehoben - weit strittiger war, als sie es (nicht zuletzt eben dank der Leistung Hai Kochs) später wurde, suchte das D. U. unter seiner Leitung nun zu verwirklichen. Die Art und Weise, wie die Arbeit im allgemeinen und im einzelnen organisiert wurde, zu schildern, liegt außerhalb meiner Aufgabe. Ein fesselndes Bild davon ist von Henrik Nissen und Henning Poulsen 1 in ihrem Buch über das Samvirke gezeichnet. Unserer Themen1 Pâ dansk friheds grund. Dansk Ungdomssamvirke og De vHdres Râd 1940-45. Kübenhavn 1963. Vgl. auch KIRSTEN FREDERIKSEN: Hai Kochs forfatterskab. En bibliografi. Kebenhavn 1967.

Hal Koch als dänischer Historiker in der Okkupationszeit

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Stellung gemäß braucht hier nur erstens darauf hingewiesen zu werden, daß die historischen und politischen Vorträge, I die überall im Lande - zeitweise mehrmals in der Woche - von Hai Koch gehalten wurden, eins der Kernstücke ausmachten, um die herum die Arbeit des D. U. sich organisierte. Wie unten etwas näher zu zeigen ist, ging hier seine Historikererfahrung mit seinem „politischen" Handeln eine charakteristische Verbindung ein. Zweitens muß an die Studiengruppenarbeit erinnert werden, die jener soliden gesellschaftskundlichen Ausbildung dienen sollte, ohne die die Leitsätze von Freiheit und Recht in der leeren Luft schweben würden. Gerade die hiermit angedeutete Kombination der in geistvoller Rede umrissenen ganz großen historischen und ideenmäßigen Perspektiven einerseits und der nüchternen Studien- und Diskussionsarbeit anderseits weist auf etwas Wichtiges in der Konzeption Kochs hin. Die Idee und die Praxis, die hiermit skizziert worden sind, spielten nun natürlicherweise eine Rolle im Verhältnis zu der von „König, Regierung und Reichstag" verfolgten praktischen „Verhandlungspolitik": Erstens in dem Sinne, daß das D. U. eine Aufgabe lösen half, die in Abwesenheit einer freien öffentlichen Diskussion besonders dringend war: die Aufgabe der Kommunikation zwischen Regierung und Reichstagsparteien einerseits und der Bevölkerung anderseits. Die Aufklärungsarbeit hinsichtlich der Hintergründe der von den Politikern in dem Tauziehen mit den Deutschen getroffenen Entscheidungen wurde in vertraulichen Zusammenkünften, etwa nach den öffentlichen Veranstaltungen des D. U., geleistet, und umgekehrt konnten die leitenden D. U.-Leute die Politiker damit bekanntmachen, was sich draußen im Lande regte. Zweitens lag es in den allgemeinen Zielsetzungen des D. U. begründet, daß es nicht nur eine Verbindungsaufgabe wahrzunehmen half, sondern auch eine aktive Stütze der Bestrebungen der demokratischen Reichstagsparteien wurde. Diese Bestrebungen können in zwei Hauptpunkten resümiert werden: Erstens wollte man eine dänische Selbstverwaltung - einschließlich der jurisdiktionellen - aufrechterhalten, dabei in Kauf nehmend, daß Dänemark in die wirtschaftliche Versorgung des deutschen Kriegseinsatzes einbezogen wurde, sich aber aller Zugeständnisse enthaltend, die mit dänischen demokratischen Rechtsgewohnheiten unvereinbar waren. Zweitens beabsichtigte man, daß ein eventueller Abbruch dieser Verhandlungspolitik nur unter Umständen stattfinden dürfe, unter denen infolge des Bruches keine dänische Marionettenregierung gebildet werden könnte: ein Bruch durfte m.a.W. soweit irgend möglich nur mit einem einigen Volk im Rücken riskiert werden.

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Jacob L. Balling

Diese Zielsetzung war an sich leidlich klar. Ihre Verwirklichung durch die verantwortlichen Politiker war aber mit einer Fülle von Problemen verbunden, Problemen, die erstens eine Folge des deutschen Drucks waren (der je nach den wechselnden Machtverhältnissen zwischen konkurrierenden deutschen Instanzen und nach den Gegensätzen zwischen dem deutschen Interesse an einer stabilen Versorgungssituation einerseits und dem Interesse an einer ideologisch-politischen Durchdringung des okkupierten Landes andererseits sowie einer Einbeziehung in die „Neuordnung" Europas verschiedene Formen annahm); zweitens von dem - nicht ohne Zusammenhang mit den Ereignissen auf den Kriegsschauplätzen und der Aussicht auf ein baldiges Kriegsende - erwachenden Willen in der Bevölkerung zum bewaffneten Widerstand und zum Bruch mit der Verhandlungspolitik. In dieser nichts weniger als eindeutigen Lage, die von einer langsamen Erosion dieser Politik von zwei Seiten her gekennzeichnet war, war es für die Politiker eben ein penibles Problem, darüber ins Reine zu kommen, wo die Grenzlinie verlief, die keine demokratische dänische Regierung würde überschreiten können, und wann sich die Nation bereitfinden würde, einen Bruch und die sich daraus ergebenden Opfer solidarisch gutzuheißen. Die erzwungene Illegalisierung der kommunistischen Partei im Sommer 1941 war ohne Zweifel eine Verletzung demokratischer Rechtsstaatstradition und wurde als solche von vielen als etwas Beschämendes und Demütigendes erlebt. Ob sie aber - angesichts des Verhaltens der Kommunisten in den Jahren des Hitler-Stalin-Paktes und angesichts der Beurteilung dieses Verhaltens in der Bevölkerung - das Rhodos wäre, wo gesprungen werden sollte, das war eine Frage, die von der Mehrheit entschieden verneinend beantwortet wurde. Etwas Ahnliches (aber hier war der Widerstand größer) gilt von Dänemarks Beitritt in den Antikominternpakt, von der Einsetzung Erik Scavenius' als Ministerpräsident unter deutschem Druck und nicht zuletzt von den immer zahlreicher vorkommenden deutschen Verletzungen des dänischen Rechtsempfindens und der dänischen Rechtsprechung. Es bestand zwar Einigkeit darüber, daß Forderungen wie ζ. B. Judengesetzgebung und Todesstrafe unbedingt unannehmbar wären; sollte es aber so weit kommen, bevor man Nein sagte? Wie lange konnte anständigerweise der Kurs von 1940 fortgesetzt werden? Noch im März 1943 zeigte der Erfolg der Verhandlungsparteien bei den Reichstagswahlen, daß diese Parteien und ihre prinzipielle Haltung das Vertrauen des Volkes besaßen; dies war aber keineswegs gleichbedeutend mit einem Konsens darüber, was als das richtige Verhalten in den jeweiligen konkreten Situationen zu gelten hatte.

Hal Koch als dänischer Historiker in der Okkupationszeit

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Das D. U. und sein Vorsitzender befanden sich - nicht zuletzt wegen ihrer engen Kontakte zu leitenden Reichstagspolitikern und dank den daraus sich ergebenden Informationsmöglichkeiten - unter denjenigen, die gegenüber der offiziellen Linie eine kritischloyale Haltung einnahmen. Eine loyale, weil diese Politik auf der von „König, Regierung und Reichstag" getroffenen Entscheidung vom 9. April 1940 beruhte, ferner weil sie im März 1943 von den Wählern prinzipiell gutgeheißen worden war und letztlich, weil man eben die leitenden Politiker als anständige Leute kannte, die in einer ungemein schwierigen Lage Anspruch darauf erheben durften, nicht im Stich gelassen zu werden. Eine kritische Haltung, weil es keinem Einsichtigen verborgen bleiben konnte, daß die Unkosten der Verhandlungspolitik schon sehr hoch angestiegen waren und daß der Moment sehr nah sein könnte, wo eine Fortsetzung dieses Kurses soviel bedeuten würde wie ein glattes Dementi all des Redens von Wahrheit, Recht und freiem Gespräch. Im Spätsommer 1943 überholten indessen die Ereignisse die immer mehr auseinanderlaufenden Überlegungen innerhalb der demokratisch-national denkenden Kreise, - Überlegungen, deren innere Spannungen hier nur angedeutet werden konnten. Im August führte eine Kombination von Volksaufständen in mehreren Städten einerseits und einer Reihe unannehmbarer deutscher Forderungen anderseits zum Rücktritt der Regierung und zur Beendigung der politischen Selbstverwaltung. Damit wurde auch ein entscheidender Einschnitt in der Geschichte des D. U. markiert. Die Organisation stand und fiel allerdings nicht grundsätzlich mit dem, was am Regierungssitz passierte - ganz im Gegenteil war es ja eine wichtige Pointe, daß sie es nicht tat - , aber die allgemeinen Bedingungen der letzten anderthalb Kriegsjahre machten die bisherigen Arbeitsweisen weniger unmittelbar relevant. Für Hai Koch aber, der anläßlich der Masseninternierungen im Herbst 1943 eine Zeitlang von den Deutschen in H a f t gehalten wurde - er war übrigens Ziel nationalsozialistischer Anschläge und entkam dem letzten unmittelbar vor der Befreiung 1945 nur um ein Haar - , für Hai Koch war das Wesentliche schon passiert. Er war - und er blieb in allen späteren Debatten - der Meinung, daß die wichtigste und kritischste Periode der Okkupationszeit nicht die Periode des sog. aktiven Widerstandes gewesen sei, sondern die der Jahre 1940/41, als die Zukunft nicht die baldige Niederlage der nationalsozialistischen Verschwörung verhieß, sondern im Gegenteil ihre Beherrschung Europas auf Generationen hinaus; die Periode also, in der der Kampf dem Überleben des Volkes „als Menschen und als Dänen" galt. Wir haben oben schon mehrmals Gelegenheit gehabt, die letzte

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unserer beiden Hauptfragen zu berühren, die Frage nach der Historikererfahrung, die hinter der Leistung steckt und in ihr zum Ausdruck kommt. Darin ist nichts Merkwürdiges, denn es besteht eben - und die Formulierung meines Themas deutet es an - ein intimer und origineller Zusammenhang zwischen beiden. Der „Politiker", der handelnde Staatsbürger Hai Koch redet und handelt aus einer Erfahrung als akademischer Theologe und Historiker heraus, und umgekehrt sind die Fragen, die er als solcher an die Vergangenheit stellt, von einem Mann formuliert, den seine Gegenwartslage dazu genötigt hat. Das wird in ganz direktem Sinne klar, wenn man bedenkt, daß gerade die historischen Vorträge ein wesentliches Element in der Verwirklichung des Programms des D. U. bildeten. In diesen Vorträgen, die er allwöchentlich mehrmals hielt und womit er alle Ecken des Landes erreichte, redete Koch als Historiker insoweit, als er in ihnen eine sachliche Ausmünzung seiner Studien ζ. B. über das frühe dänische Hochmittelalter bot. Gleichzeitig aber waren die Vorträge kraft ihrer Hinweise auf die Bedrohungen der dänischen Selbständigkeit seitens des Deutschen Reiches im 12. Jahrhundert und kraft ihrer Darstellung der Ausbildung der nationalen Identität unter breiter Mitwirkung des gemeinen Volkes im eminenten Sinne gegenwartsnah. Etwas Ahnliches gilt von Kochs Umgang mit den VoiKSDewegungen des 19. Jahrhunderts und mit Grundtvig. Auch hier findet eine gegenseitige Durchdringung von historischer Arbeit und aktueller Stellungnahme statt. Schließlich könnte in diesem Zusammenhang angedeutet werden, daß Kochs Signalement des modernen Totalitarismus von seinen spätantiken Studien nicht unbeeinflußt geblieben sein dürfte. Wie oben gesagt, handelt es sich dabei um Beispiele relativ direkter Bezugnahme. In etwas indirekterem, aber schließlich wohl wichtigerem Sinne tritt der Nexus in Erscheinung, wenn man sich an sein frühestes Thema wendet: das „Harnacksche" Problem des Verhältnisses zwischen Hellenismus und Christentum. Trotz der von Koch selbst zeitlebens bedauerten Tatsache, daß er nach der Jugendarbeit über Orígenes nie mehr die Gelegenheit bekam, sich diesem Thema in totaler Konzentration zu widmen, hörte es niemals auf, ihn zu beschäftigen; er griff es immer wieder aus verschiedenen Blickwinkeln wissenschaftlich an, und es beeinflußte offen oder indirekt sein Denken und Handeln in anderen Zusammenhängen. Wenn ihn diese Konfrontation so stark in Beschlag nahm, geschah es teils kraft der elementaren Faszination, die einander in der Zeit

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begegnende und sich gegenseitig anfechtende historische Kräfte auf ihn als geborenen Historiker ausübten, teils aber, weil beide Elemente der Begegnung ihm persönliche Existenzanliegen waren, und wohlgemerkt: in profilierter und unverwässerter Gestalt. Formelhaft kann man von einer Art Symbiose zwischen einer lebenslangen Sokrates-Ergriffenheit und einer Christentumsdeutung scharf lutherischer Prägung reden. Diese beiden Elemente haben seine gegenwartspolitischen Stellungnahmen ebenso sehr wie seine historische Arbeit beeinflußt als Kräfte, die einander begegnen, sich gegenseitig bedingen und - nicht zuletzt - sich gegenseitig problematisieren. Hai Koch begegnete den Nygrenschen Distinktionen zwischen Erosreligion und Agapereligion 2 mit einer gewissen Skepsis. Nicht weil er keinen Sinn fand in der Unterscheidung zwischen den Grundanliegen des Hellenismus und denen des Christentums - im Gegenteil unterscheidet er so dezidiert wie kein zweiter - , sondern erstens, weil er als Historiker eben von den unklaren Mischerzeugnissen fasziniert war, die im konkreten ideen- und gesellschaftsgeschichtlichen Verlauf so viel Raum einnehmen im Vergleich mit den „reinen Waren", und zweitens, weil er als Theologe und als handelnder Bürger die in den konkreten Situationen sich manifestierende menschliche Kondition als etwas ansah, das in unserem Erdteil nur im Lichte dieser spannungsreichen Begegnung gedeutet werden kann. Wirklichkeit kommt zustande, wenn diese Begegnung von demjenigen von Grund auf erlebt wird, der sich nicht scheut, seine ideologische Haut zu wagen, und der sowohl von Sokrates als auch von Luther gelernt hat, daß Handeln in der Welt begrenztes und unreines Handeln ist. Mit diesen Bemerkungen über Kochs lebenslange Ergriffenheit vom Thema seiner Jugend sollte versucht werden, auf etwas hinzuweisen, wodurch eine bemerkenswerte Geschlossenheit in seine Forschung gebracht wurde - trotz des thematisch weitschweifenden Charakters dieser Forschung - , wodurch zugleich ein Zusammenhang zwischen seiner Historikererfahrung und seiner praktischen Leistung in der Okkupationszeit geknüpft wurde. Als Beispiel kann ein Hinweis auf Kochs Umgang mit der Bauern„demokratie" des frühen Mittelalters dienen, seine Schilderung des geordneten, gemeinsamen Versuches der Thingbauern also, das Recht zu „finden". Hierin findet Koch nicht nur ein charakteristisches Glied frühmittelalterlichen dänischen Lebens, sondern auch etwas Richtungweisendes für ein modernes Bestreben, in diesem Lande die Demokratie zu verstehen und zu verwirklichen. Aber da2

Vgl. hierzu den Beitrag von INGMAR BROHED in diesem Band, besonders S. 48 ff.

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mit ist der Sinn der Schilderung nicht ausgeschöpft. Sie wird erst eigentlich verstanden, wenn man sie mit einer steten Referenz zur sokratischen Dialektik liest. Sokrates ist unter den Thingbauern gegenwärtig als einer, der das geistige Universum ihres Historikers mitgeformt hat. Und von den Thingbauern wird er dann - auf sozusagen anonyme Weise - in das Schicksalsjahr 1940 hineingebracht, in den Umkreis der Versuche dieses Jahres, eine ratlose und angstvolle Lage zu bewältigen durch das im geordneten, vernünftigen Gespräch verlaufende Bestreben, das Wesen und die Bedingungen der nationalen Gemeinschaft ins Reine zu bringen. Hier steht das „hellenische" Thema unausgesprochen im Vordergrund, aber gerade das Vorkommen dieses Themas in einem „politischen" Kontext ist charakteristischer Ausdruck einer der Weisen, wie Koch die Begegnung zwischen Griechentum und Luthertum ansah. Man würde wohl seine Meinung so ausdrücken können, daß das sokratische Bemühen, die nie verfügbare Wahrheit durch die Diskussion zu finden, immer mitgedacht werden muß, wenn es gilt, Luthers Lehre von der Rolle der Vernunft im Ordnen der Angelegenheiten des weltlichen Regiments konkreten Inhalt und Farbe zu verleihen. Hai Koch war so nüchtern wie kein zweiter in seiner Bejahung der Führung des Schwertes durch die Obrigkeit - „um die Bosheit niederzuhalten"-, aber man verfehlt eine wichtige Pointe seines Denkens, wenn man daran vorbeisieht, daß authentisches lutherisches Unterscheiden nicht nur eines zwischen dem Reich der Gnade und dem der Gewalt ist, sondern auch eines zwischen dem Reich der Gnade und dem Reich des rationalen Dialogs. Hiermit ist aber auch ein Licht auf den charakteristischen Zug bei Koch geworfen, daß die Frontziehung immer gegen diejenige Verabsolutierung gerichtet ist, die jede Deutung der menschlichen Situation zu entstellen droht. Die Perversion greift das Reich der Gnade an, wenn versucht wird, die Liebe zu einem verfügbaren Instrument der sozialen Kontrolle zu machen, und sie bedroht das Reich der Vernunft, wenn das, was in sokratischer Dialektik ein Streben der suchenden Vernunft auf eine nicht verfügbare Wahrheit hin ist, zur Tyrannei des ideologischen Dogmatismus über alle menschlichen Angelegenheiten im Namen einer verfügbaren Wahrheit verwandelt wird. Und so wie Koch es als seine Historikeraufgabe ansah, Einsicht zu gewinnen in jene Begegnung und diese Tendenzen, so sah er es als seine praktische, „politische" Aufgabe an, diese Einsicht in einer undogmatischen, prüfenden Stellungnahme zu den immer sich wandelnden Situationen der aktuellen Krisis auszunützen. Hier sind wir, in notgedrungen andeutender Weise, bei der wichtigsten praktischen Konsequenz der Historikererfahrung angelangt.

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Und umgekehrt: Hier stehen wir auf einem der besten Einfallswege zum Verständnis der inneren Beweggründe für Kochs Beurteilung der Ereignisse, Richtungen und Personen in den Jahren 1940 bis 1943. Selbstsichere Ideologen und abgestumpfte Realpolitiker verfehlten - so kann man ihn interpretieren - in gleichem Maße eine Situation, in der vor allem Offenheit, Solidarität und Unterscheidungsvermögen zwischen Absolutem und Relativem vonnöten waren. Man könnte hinzufügen: Dasselbe galt von ihrem Verhalten in der Nachkriegssituation. Es liegt außerhalb meines Auftrags, Kochs Auftreten in dieser Lage darzustellen; da sie aber in sehr klarer Verlängerung seiner Leistung in der Okkupationszeit liegt, muß abschließend in aller Kürze auf zwei Dinge hingewiesen werden. Erstens, daß Koch während des Streites über das „Retsopg0r" (d. h. die „gerichtliche Auseinandersetzung" mit den Landesverrätern) als der schärfste Kritiker sowohl der heroischen Sauberkeitsfanatiker als auch der realpolitischen Opportunisten auftrat und als der schonungsloseste Entschleierer ihrer gemeinsamen Geschichtsverdrehung. Eine besonders bittere Enttäuschung hatte ihm das Verhalten der Reichstagspolitiker bereitet, deren Sache er in den Jahren 1940 bis 1943 als eine grundsätzlich anständige Sache angesehen und verteidigt hatte, denen es aber nun - mit wenigen Ausnahmen - an der nötigen Zivilcourage gebrach, sich zu ihren Taten zu bekennen, und die folglich in Kochs Augen die schwerste Verantwortung für eine tiefgehende Verunreinigung des rechtlichen und des politischen Lebens trugen. Koch war es niemals ein primäres Anliegen, seine Popularität zu pflegen, das kam ihm - wie man sich vorstellen kann jetzt zustatten. Das zweite Moment, worauf zum Schluß hingewiesen werden muß, dürfte in diesem Kreise ein besonderes Interesse beanspruchen. Es handelt sich um Kochs Bemühungen um die „deutsche Frage". Während des Krieges war er dem Ansinnen, freundschaftliche Beziehungen zu den Vergewaltigern seines Landes aufzunehmen, mit kaltem Hohn begegnet. Er fügte aber hinzu, daß gerade dies vonnöten sein würde, sobald die Niederkämpfung des Nationalsozialismus beendet wäre. Nach dem Krieg ließ er auf Worte Taten folgen, indem er, sobald es nur möglich war, eine längere Reise durch das zertrümmerte Deutschland unternahm und indem er sich in Wort und Schrift der deutschen Nachkriegssituation annahm. Sein in drei längeren Aufsätzen in der Kopenhagener Zeitung „Politiken" vom Dezember 1947 vorliegender Reisebericht ist ein bemerkenswerter Ausdruck hellsichtiger und unvoreingenommener Beurteilung der neuen Gefahren, die nun den Deutschen infolge von Entnazifizierung und materieller Not drohten.

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Hier müssen diese sehr summarischen Hinweise auf die Konsequenz, die Kochs Anschauungen und Stellungnahmen auszeichnete, genügen. Die Linie in seinen theoretischen und praktischen Nachkriegsleistungen - wo Momente seiner Leistungen in der Kriegszeit unter ständiger Neuentwicklung und nicht geringen Akzentverschiebungen fortlebten - weiter zu verfolgen, liegt außerhalb meines Auftrages.

HEINZ BOBERACH

Der Dienst der dänischen Kirche an den deutschen Flüchtlingen in Dänemark 1945-1948 1 Ungeachtet des deutsch-dänischen Nichtangriffspakts vom 31. Mai 1939 hatten deutsche Truppen am 9. April 1940 Dänemark besetzt. Bis zum Sommer 1943 hatten die deutschen Besatzungsbehörden jedoch relativ wenig in die inneren Angelegenheiten des Landes eingegriffen, die weiter bestehende parlamentarische Regierung hatte einen Mittelweg zwischen nationaler Selbstbehauptung und Kollaboration eingeschlagen. Im August 1943 widersetzte sie sich aber der deutschen Forderung, die wachsende Widerstandsbewegung gegen die Besatzung durch Ausnahmezustand und Todesstrafe zu bekämpfen, und trat zurück. Seitdem lag die vollziehende Gewalt beim deutschen Militärbefehlshaber, Armee und Polizei wurden entwaffnet - „das Land geriet in die fürchterliche Spirale gegenseitiger Übersteigerung von Terror und Gegenterror" 2 ; jede Aktion der Widerstandsbewegung sollte durch „fünf gleichwertige Terrorakte" gegen Dänen beantwortet werden, es gab Todesurteile und Deportationen in Konzentrationslager. In dieses Land kamen am 12. Februar 1945 die ersten Flüchtlinge aus den von der Roten Armee bedrohten und eroberten Ostprovinzen. Es waren etwa 4000 Personen, die in Apenrade eintrafen. Am 5. M ä r z gab es eine Besprechung im Auswärtigen Amt, an der mehrere Staatssekretäre teilnahmen. Sie verlangten, Dänemark solle mit seinen etwa 4,3 Millionen Einwohnern 1 Vt-2 Millionen Flüchtlinge aufnehmen, die in Wohnungen von Dänen eingewiesen werden 1 Die Ausführungen beruhen auf einer Dokumentation, die der Kieler Realschullehrer Peter Lehmann zwischen 1961 und 1971 über das Leben der deutschen Flüchtlinge in dänischen Lagern zusammengestellt hat und die sich im Bundesarchiv in Koblenz unter der Signatur Ost-Dok. 5 befindet. Sie umfaßt neben Berichten von Deutschen und Dänen vor allem eine große Anzahl von Kopien aus staatlichen, kirchlichen und privaten Akten. 2 WERNER RINGS: Leben mit dem Feind. Anpassung und Widerstand in Hitlers Europa 1939-1945. München 1979, S. 198ff„ 302ff.

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müßten. Der Reichsbevollmächtigte Dr. Werner Best 3 gibt an, er habe nur die Aufnahme von 10000 Flüchtlingen für möglich gehalten, die in Lagern und bei den Deutschen in Nordschleswig untergebracht werden sollten. Er will auf die Erbitterung der Dänen gegen die Deutschen verwiesen haben, die die Sicherheit der Flüchtlinge gefährde; gegen Flüchtlingstransporte seien Sprengstoffanschläge verübt worden. Die Entwicklung der militärischen Lage im Osten ging über diese Bedenken hinweg: Bis Kriegsende hatten etwa 240 000 Deutsche vorwiegend aus Ost- und Westpreußen und Pommern in Dänemark Zuflucht gefunden 4 . Sie waren auf 1100 Orte verteilt, allein 90000 befanden sich im Raum Kopenhagen; dazu kamen die internierten deutschen Soldaten und Angehörigen des Wehrmachtgefolges. Bis Oktober war die Zahl auf 200000 in 635 Orten zurückgegangen, und schließlich wurden zwölf Flüchtlingslager eingerichtet, in denen sie unter Bewachung auf engem Raum lebten. Das größte Lager mit rd. 38 000 Flüchtlingen war in Oksbol bei Esbjerg; in zehn Lagern im Raum Aalborg waren zeitweise bis zu 40 000 Menschen untergebracht. Die Mehrheit dieser Flüchtlinge war evangelisch; bei ihnen befanden sich Pfarrer, die mit ihren Gemeinden die Heimat verlassen hatten. Bereits unmittelbar nach der deutschen Kapitulation stellten sich dänische Geistliche die Frage, was sie tun müßten und könnten, diese Menschen - Angehörige eines Volkes, in dessen Namen ihr eigenes Volk noch wenige Wochen vorher unterdrückt worden war seelsorgerlich zu betreuen. Schon am 23. Mai 1945 erging eine Mitteilung über die Bildung des Kirchendienstes für internierte Flüchtlinge. Sie war unterzeichnet von Propst Halfdan Hogsbro, Rektor des Pastoralkollegs Kopenhagen 5 . Er übernahm die Leitung des Kirchendienstes, der sofort Mittel zum Besuch der Flüchtlingslager durch dänische Pastoren bereitstellte. 3 Werner Best, geb. 1903, seit 1930 Mitglied der N S D A P , SS-Obergruppenführer, 1936 Amtschef im Hauptamt Sicherheitspolizei, 1940 Chef des Verwaltungsstabes des Militärbefehlshabers Frankreich, ab 1942 in Dänemark, 1948 in Kopenhagen zum Tode verurteilt, dann zu 12 Jahren Haft, 1951 begnadigt. 4 Zahlen nach dem amtlichen Abschlußbericht FLYGTNINGE I DANMARK 1 9 4 5 - 1 9 4 9 . Kopenhagen 1950. 5 Halfdan H0gsbro, geb. 1894 in Kopenhagen, 1917 Kandidat der Theologie und Sekretär für Kriegsgefangene in Deutschland, 1 9 2 2 - 1 9 4 1 Pfarrer, Hauptpfarrer und Propst in Abild bei Tondern und Sonderburg, 1942 Rektor des Pastoralkollegs, 1 9 5 0 - 1 9 6 4 Bischof von Lolland und Falster, gest. 1976 (KJRKELIG HÄNDBOG, S. 961 f.). Zeitweise hatte Hegsbro der Oxford-Gruppenbewegung nahegestanden, in theologischen Veröffentlichungen war er von Emil Brunner beeinflußt, bereits 1933 hatte er sich in einer kleinen Schrift mit den „neuen Religionen, Kommunismus und Nazismus" auseinandergesetzt (Mitteilung von Jens Holger Schjürring).

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Von staatlicher Seite wurden die Bemühungen des Kirchendienstes für Flüchtlinge bereits am 16. Juni 1945 durch ein Rundschreiben des Kirchenministeriums an die Bischöfe über die geistliche Betreuung der Flüchtlinge sanktioniert. Es verwies auf die Bestrebungen des Ökumenischen Rates in Dänemark und nannte die Mitglieder der von Hogsbro geleiteten Kommission: ein Sparkassendirektor für die Finanzen, zwei Pfarrer, dabei der Hauptpastor an der deutschen St. Petri-Kirche in Kopenhagen, Propst Werner Görnandt, ein Professor und ein Vertreter der Freikirchen. Der Dienst an den Flüchtlingen sollte im einzelnen durch Mitteilungen des Kirchendienstes geregelt werden. Die Bischöfe wurden aufgefordert, die Aktivitäten zu fördern, alle dazu bereiten Pfarrer sollten sich beteiligen. Wörtlich hieß es: „Wie sich die Verhältnisse in der letzten Zeit geändert haben, sieht es das Ministerium für eine verdienstliche Handlung an, zu einer nach den Verhältnissen passenden kirchlichen Versorgung der Flüchtlinge beizutragen, soweit eine solche geleistet werden kann, ohne die Amtshandlungen zu beeinträchtigen". Besonderer Regelung bedurfte die Wahrnehmung standesamtlicher Funktionen, die in Dänemark den Pfarrern übertragen sind, gegenüber den Flüchtlingen. Es wurde bestimmt, Geburten und Sterbefälle nach dänischen Vorschriften zu beurkunden und in einem Zentralregister nachzuweisen. Auch diesen Dienst hat die dänische Kirche den vertriebenen Deutschen geleistet und nach der Umsiedlung das Doppel des Registers der Evangelischen Kirche in Deutschland übergeben 6 und die Gräber der Verstorbenen betreut, bis sie auf Zentralfriedhöfen zusammengefaßt wurden. Der Dienst der Pfarrer vollzog sich nicht unangefochten von Angriffen, die in der Presse gegen die Aufnahme der deutschen Flüchtlinge in Dänemark gerichtet wurden. Um so mutiger und bewundernswürdiger ist eine Erklärung, die Hogsbro und die drei anderen dänischen geistlichen Mitglieder des Kirchendienstes im Namen von etwa 60 weiteren Kopenhagener Pfarrern, die in den Lagern tätig waren, am 24. Juni 1945 in „Politiken" veröffentlichten; ihr trat auch Bischof Suhr, der apostolische Kommissar für Dänemark, bei. Es hieß darin: „Als Mitglieder desjenigen Ausschusses, dem vom Sozialministerium die Ordnung kirchlicher Bedienung für die deutschen Flüchtlinge anvertraut worden ist, wollen wir gegen die Weise, in welcher seit einiger Zeit in verschiedenen Zeitungen über die deutschen Flüchtlinge und ihre Verhältnisse geschrieben worden ist, Einsprache erheben. So kann man nur da urteilen,

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Es befindet sich jetzt im Evangelischen Zentralarchiv in Berlin.

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wo man einzelne mißlungene Elemente zu Vertretern einer ganzen Volksgruppe macht. Es ist nicht wahr, daß es sich hier um charakterlich niedrig stehende Menschen handele. Es ist überwiegend Bauernbevölkerung mit Heimatgepräge und alter christlicher Tradition. Sie wurden wider ihren Willen von ihrer Regierung gezwungen, Haus und Heimat zu verlassen; viele haben auf der Flucht ihre Nächsten sterben sehen, oder sie haben sie aus den Augen verloren und sehen einer unsicheren Z u k u n f t entgegen; trotz dieser ungeheuren seelischen Belastung kämpfen sie mit zäher Ausdauer, um sich menschlich aufrecht zu erhalten . . . Die Flüchtlinge gehören einem Volke an, mit dem wir in Krieg gewesen sind. Sie tragen, obwohl sie nicht viel gewußt haben von dem, was geschehen ist, ihren Teil an der gemeinsamen deutschen Volksschuld. Wir können ihnen nicht erlauben, frei in unserm Volk zu verkehren, sondern müssen sie unter Bewachung halten. Wir wünschen sie so bald wie möglich von unsern Schulen fort und am liebsten nach Hause geschickt oder in Lager; aber ihre menschliche Ehre dürfen wir nicht antasten, und wir unterstützen unsere Autoritäten bei jedem Bestreben, ihnen menschliche Bedingungen zu geben. Wir haben den Nationalsozialismus bekämpft, weil er nicht in dem Juden einen Mitmenschen sehen wollte, und wir wollen in gleicher Weise gegen einen neuen Nazismus kämpfen, der nicht im Deutschen einen Mitmenschen sehen will. Bei denen, die Verhältnisse und Menschen in den deutschen Flüchtlingslagern kennen, erweckt die Weise, wie an vielen Stellen über die Flüchtlinge geschrieben wird, nicht Verachtung gegen die Deutschen, sondern Empörung und Beschämung, daß Dänen dermaßen ohne Wahrheitsliebe und Mitmenschlichkeit sein können." D i e dänischen Pastoren arbeiteten e n g mit ihren deutschen Amtsbrüdern z u s a m m e n , und die Pröpste hatten den Auftrag, sich u m die Geistlichen in den Lagern z u kümmern. N u r vereinzelt gab es dänische Pfarrer wie jenen, der in einer Zeitung ein Verbot für den Besuch der Gräber v o n D e u t s c h e n durch ihre A n g e h ö r i g e n forderte, weil das für Spionage mißbraucht w e r d e n könne. W i e rasch ein gutes Verhältnis entstanden war, ergibt sich aus einem Brief, mit dem sich ein Wehrmachtspfarrer, der zeitweise in Flüchtlingslagern tätig g e w e s e n war, am 25. Juli 1945 v o n H o g s b r o verabschiedete, als er nach Deutschland entlassen wurde. Er schrieb: „. . . Leider geht die sehr dankbare Arbeit in den Flüchtlingslagern f ü r mich dem Ende entgegen. In der Zeit vom 1. 5.-24. 7. 45 habe ich 39 Gottesdienste gehalten, 50 Flüchtlinge beerdigt, 20 Kinder getauft und 26 Kinder konfirmiert. Über die Weiterführung der Arbeit habe ich mir viel Gedanken gemacht. Die Amtshandlungen wie Beerdigungen usw. werden meistens von dänischen Amtsbrüdern durchgeführt. Einige dänische Pfarrer halten auch Gottesdienste. Dabei scheint mir die eine Regelung sehr glücklich zu sein, die ein dänischer Amtsbruder vorgenommen hat. Er ist der

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deutschen Sprache nicht so mächtig, um Gottesdienste halten zu können. Er bittet daher für die 2 großen Lager in seiner Gemeinde einen gut deutsch sprechenden Kollegen um Aushilfe, wohnt aber dem Gottesdienst selbst bei und hilft das Abendmahl austeilen. So ist der Gottesdienst als eine Handlung der Kirchengemeinde auch äußerlich legitimiert und der den Gottesdienst haltende Pastor ist vor Verdächtigungen g e s c h ü t z t . . . Zum Schluß möchte ich Ihnen und allen den Herren der dänischen Kirche danken, die die Aufgabe an den Flüchtlingen erkannt und in Angriff genommen haben. Wir Christen in Deutschland haben durch die Nöte der letzten 12 Jahre klarer sehen gelernt. Wir haben viel Versagen christlicher Kreise kennengelernt. Wir sind zu einer Korrektur auch der eigenen Haltung genötigt worden. Man hat schmerzlich erkannt, daß es wirklich christliches Leben aus der Vergebung selten gibt, daß sich immer wieder eine gesetzliche Frömmigkeit unter den Menschen durchsetzt, die sehr leicht Verbindungen mit rein diesseitigen Ideologien eingeht. Es gibt keine christlichen Völker, es gibt nur Christen in den einzelnen Völkern. Auf diese christlichen Kreise in allen Ländern setze ich meine Hoffnung für die Zukunft. Möchten sich doch die wirklichen Christen in allen Völkern zusammenfinden und eine öffentliche Meinung schaffen, daß alle aus dem Haß oder dem Chauvinismus geborenen Ideologien sich nicht durchsetzen können.

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Den besonderen Einsatz von Hogsbro würdigte auch der Kieler Theologe Professor Peter Meinhold 7 , als er im Oktober 1945 wieder in Deutschland war: „Was Sie, sehr verehrter Herr Propst, in der Versehung der Kriegsgefangenen im ersten Weltkriege geleistet haben, findet in Ihrer Fürsorge für die vor dem zweiten Weltkriege Geflüchteten seine edele Fortsetzung. Die Ermöglichung und planvolle Durchführung der kirchlichen Betreuung der Flüchtlinge, wie sie von Ihnen geübt wird, hat unendlich vielen innerlich zerbrochenen Menschen einen neuen Halt für das Leben gegeben und sie durch die Befestigung in den Reichtümern des christlichen Glaubens zu neuen Menschen werden lassen. Bei dieser Gelegenheit darf ich Ihnen und allen an dieser Arbeit beteiligten dänischen Pastoren den Dank für Ihre nach allen Seiten hin schwierige, unermüdliche Arbeit zum Ausdruck bringen. Es wird bei uns unvergessen bleiben, was wir durch Sie an Teilnahme und Förderung für Herz, Seele und Geist empfangen durften. Mit diesem irdischen Dank sind wir auch des himmlischen gewiß, denn: ,Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan'."

Auf die Lebensbedingungen in den Lagern hatten Hogsbro und seine Mitarbeiter freilich kaum Einfluß. Sie hatten jedoch ein solches Vertrauen erworben, daß die Flüchtlinge von ihnen Hilfe er7

Peter Meinhold (1907-1981), Ordinarius für Kirchen- und Dogmengeschichte, war als Wehrmachtpfarrer in Kriegsgefangenschaft gewesen.

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warteten, wenn Maßnahmen der dänischen Administration sie bedrückten. So wandte sich ein Flüchtlingspfarrer in Nyborg über Hogsbro an das Sozialministerium, um im Oktober 1945 zu erreichen, daß die Beschränkung des Umfangs der Briefe, die Flüchtlinge schreiben durften, auf 25 Wörter wieder aufgehoben würde. Derartige Maßnahmen müßten zu Mißstimmung auch unter den „Stillsten und Gutwilligsten" führen, denen die Geistlichen nicht entgegenwirken könnten. Im übrigen aber hätten die Flüchtlinge Verständnis für die Bedingungen, unter denen sie leben müßten. Es heißt dann: „Entsprechend nehmen die meisten der Leute das reichlich Dargebotene mit D a n k gegen Gott und mit D a n k gegen das dänische Volk. Was Jeremía den Juden in Babylon befahl, das [geschieht] hier: ,Suchet der Stadt bestes, in der ihr weilt, und betet für sie zu Gott.' So treten wir in jedem Gottesdienst fürbittend für Land, Volk und K ö n i g der Dänen vor Gott. Dagegen höre ich jetzt keinen Widerspruch mehr in den Lagern. Wir möchten gern auch bei unseren Kindern die Dankbarkeit erwecken, daß das Wort Dänemark bei ihnen bleibe ein M o t t o für unverdiente Gastfreundschaft."

Um die Jahreswende 1945/46 hatte sich das kirchliche Leben in den Flüchtlingslagern eingespielt. Bereits im Dezember 1945 hatte in Odense eine Flüchtlingspfarrerkonferenz mit vier dänischen und vier deutschen Teilnehmern stattgefunden. Das Kirchentagebuch eines Lagers in Kopenhagen verzeichnet für Februar 1946 sonntags bis zu drei Gottesdienste, Jugendstunden, Zusammenkünfte des Frauenkreises, der Akademiker, Bibelstunden, Konfirmandenunterricht und Liederabende. Allmählich wurden auch die Kirchen in Deutschland über die Seelsorge an den deutschen Flüchtlingen informiert. Hatte Pastor Friedrich von Bodelschwingh im November 1945 in einem Brief nach Dänemark noch befürchtet, nach Heimkehr der Wehrmachtspfarrer geschehe nicht mehr genug, so lag der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland im Sommer 1946 ein umfassender Bericht von Konsistorialrat Harhausen vom 18. Juli aus Odense vor. Harhausen, Mitglied des Danziger Konsistoriums, hatte noch vor der Kapitulation begonnen, sich um die Flüchtlingsseelsorge zu kümmern, und dann mit dem dänischen Kirchendienst zusammengearbeitet. Er berichtet, bei seiner Tätigkeit seien ihm von Anfang an „dänische Geistliche trotz der schändlichen Aufführung der Gestapo während der Besatzungszeit sehr entgegengekommen, und die Stillen im Lande öffnen einem ihr H e r z ungeachtet der Verschiedenheit der Sprache und des Volkstums. Schließlich sei bemerkt, daß die evangelische Flüchtlingsseelsorge mit der katholischen manche Berührungspunkte hat, und da hierzulande viele Priester und Nonnen deutschen Blutes sind, so ist von dort

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her die caritas den armen Heimatlosen gegenüber sehr spürbar. . . . Zu Anfang unsers Aufenthalts in Dänemark starben sehr viele Flüchtlinge. In den ersten vier Monaten hatte ich durchschnittlich 25-30 Leichen wöchentlich in fremder Erde zu bestatten. Unter ihnen waren sehr oft auch Katholiken. Die Feiern waren auch deshalb sehr würdig, weil die dänische Sozialbehörde stets dafür sorgt, daß die Beerdigung auch in äußerlicher Beziehung in den besten Formen vor sich geht. . . . Neben den deutschen Geistlichen arbeiten auch deutschsprechende dänische Pastoren, unter welchen zwölf geistliche Inspektoren (Superintendenten) sind. . . . Die Durchführung unserer Aufgaben hat uns der ,Kirketjenesten' dadurch sehr erleichtert, daß er ein Liederheftchen ,Singet dem Herrn' mit 62 Liedern, den Katechismus, das Markusevangelium, das Johannesevangelium, die Apostelgeschichte, ,Der Weg der Seligkeit', ,Worte der Stärkung und des Trostes', ,Also spricht der Herr!', ,Eine wunderbare Mutter' (Bibelstunde über Hanna), ,Stille vor Gott' (Eine Hilfe für die Andacht des Einzelnen), Flüchtlingspredigten, das Kirchenblatt für Flüchtlinge 8 und die Beilage ,Kirche und Volk' zu den in Kopenhagen erscheinenden .Deutschen Nachrichten' (Zeitung für Deutsche Flüchtlinge in Dänemark) herausgab bzw. herausgibt. Infolgedessen haben wir alle Veranlassung, diesem Kirchenausschuß gegenüber sehr dankbar zu sein, und es wäre sehr gut, wenn ihm gegenüber dies in einem Schreiben aus berufener Feder in Deutschland ausgesprochen würde. Interessiert er sich doch auch für die wissenschaftliche Förderung der Geistlichen, indem er ihnen einschlägige Literatur liefert." V o n dänischer Seite liegt aus der gleichen Zeit ein ausführlicher Brief Hegsbros an den schleswig-holsteinischen Präses Wilhelm Halfmann vor; Anlaß war eine von Halfmann weitergeleitete Beschwerde der Schwester eines Flüchtlingspfarrers, die dänischen evangelischen Geistlichen kümmerten sich weniger gut um ihre deutschen Amtsbrüder als die katholischen Pfarrer. Hogsbro gibt an, daß die Arbeit der 42 deutschen evangelischen Pfarrer, Diakone und Prediger von ungefähr 150 dänischen Pastoren unterstützt worden ist. D i e Auflage der vom Kirchendienst publizierten Schriften für die deutschen Flüchtlinge lag zwischen 2 0 0 0 0 und 105000 Exemplaren. Insgesamt wende der dänische Staat ein Achtel des Etats für die Flüchtlinge auf. D a ß die katholischen Geistlichen außerhalb der Lager in Klöstern und kirchlichen Anstalten wohnten, räumt er ein, aber er ist doch allzu bescheiden, wenn er meint, daß „die hiesige katholische Kirche sich durchgehend schneller und in weitherziger Weise der deutschen Flüchtlingsseelsorge angenommen hat als die evangelische Volkskirche". Alle Leistungen, die Dänen erbracht ha8

EVANGELISCHES KIRCHENBLATT FÜR DIE DEUTSCHEN FLÜCHTLINGE IN DÄNEMARK.

Hg. von deutschen Pastoren durch Kirketjenesten for Flygtninge i Danmark ab Ostern 1946.

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ben, mißt er daran, „daß der Herr der Kirche hätte viel mehr und ganz anderes von uns unseren ehemaligen Feinden gegenüber erwarten können". Sein Bericht endet mit den Worten, daß „wir unseren Dienst an den deutschen Flüchtlingen als eine brüderliche Notarbeit für die deutsche Kirche auffassen, in solchem Geiste es gern haben tun mögen". Die Männer des Kirchendienstes legten Wert darauf, Kontakte zwischen den Flüchtlingen und den Kirchen in Deutschland und der Ökumene zu schaffen. Dazu kam es 1947. Der Sekretär der Flüchtlingskommission beim Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf besuchte die Lager und stellte am 7. April 1947 fest: „Sehr dankbar sind wir für die meist enge ökumenische Bruderschaft, die für die Zusammenarbeit zwischen dänischen und deutschen Pastoren kennzeichnend ist. Das gottesdienstliche Leben fanden wir überall außerordentlich rege. Die deutschen Pfarrer besitzen dank der Fürsprache des Kirchendienstes das Privileg freien Ausgangs und des Verkehrs mit dänischen Pfarrern, sind aber geistig isoliert. . . . Sehr erfreulich scheint das Verhältnis zu den katholischen Pfarrern - segensreicher Einfluß des ökumenisch aufgeschlossenen Bischofs Suhr in Kopenhagen."

Im selben Jahr konnten Martin Niemöller und Propst Heinrich Grüber nach Dänemark reisen und Gottesdienste halten. 1948 wurde die Rückführung der Flüchtlinge nach Deutschland verstärkt, die bis Februar 1949 dauerte. Auch dabei leisteten Hegsbro und seine Mitarbeiter Hilfe. Im Januar übermittelte Pastor Albertz 9 Klagen von heimgeführten Flüchtlingen über angeblich schlechte Lebensbedingungen in den Lagern an Bischof George Bell in Chichester, der den Kopenhagener Bischof Hans Fuglsang-Damgaard um Stellungnahme bat. Hogsbro schilderte in einem Bericht an Bell vom 26. April 1948 die Verhältnisse in den Lagern sehr eingehend, zugleich aber bat er Bell um Intervention bei der englischen Regierung, die Einreise von 14000 Frauen in die britische Zone zu erlauben, wo sich ihre Männer bereits befänden. Mit der Räumung der Lager endete auch der dänische Dienst an den Flüchtlingen. Am 24. November 1948 richtete Propst Grüber 10 als Vertreter der Evangelischen Kirche Deutschlands im ökumenischen Flüchtlingskomitee ein Schreiben an den zuständigen dänischen Minister Kjärbol. Darin dankte er allen Dänen für „ihre ' Heinrich Albertz, geb. 1915, 1948 Minister für Flüchtlingsangelegenheiten in Niedersachsen, 1966/67 Regierender Bürgermeister von Berlin. 10 Heinrich Grüber (1891-1975), seit 1937 Leiter der Hilfsstelle für evangelische Rasseverfolgte, 1940-1943 Häftling in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Dachau.

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schwere und nicht immer dankbare A u f g a b e " in den Lagern. Er fuhr fort: „Ich durfte ja als einer der ersten Deutschen die Lager in Dänemark besuchen, und ich weiß ja aus meinem eigenen schmerzhaften Erleben in der Vergangenheit, Lagerleben zu beurteilen. Darum hat es mich mit umso größerer Dankbarkeit erfüllt, was ich damals in dem Lager in Dänemark sehen durfte. Das deutsche Volk hätte an dem dänischen Volke viel wieder gutzumachen gehabt. Stattdessen hat das dänische Volk dem deutschen Volke, in Sonderheit den Menschen, die durch die Kriegsereignisse nach Dänemark verschlagen wurden, einen großen Dienst geleistet. Sie können versichert sein, daß gerade die Kreise in Deutschland, denen es auf Verständigung im Leben der Völker ankommt, dies Opfer des dänischen Volkes nicht vergessen werden. Wir sind der festen Überzeugung, daß dieses Opfer auch seinen Segen haben wird und daß es beitragen wird zur Verständigung der beiden Völker und vielleicht auch helfen wird, neue Formen für das Zusammenleben der Völker zu schaffen, um die wir ja ringen." Diesen Dank können wir 32 Jahre danach, in einer Zeit, in der sich die H o f f n u n g Grübers auf Verständigung zwischen Dänen und Deutschen erfüllt hat, nur wiederholen.

PETER WILHELM BOOKMAN

Zur Frage der theologischen Legitimierung der Volkskirche in Norwegen Mit besonderer Berücksichtigung der Gedanken und Erfahrungen Bischof Eivind Berggravs in der Zeit von 1930 bis 1945 1. Die evangelisch-lutherische Kirche Norwegens ist in außerordentlichem Grad eine Volkskirche. Seit der Einführung des Christentums um das Jahr 1000 ist die Kirche sehr eng mit dem Volk und dem „Staat" verbunden, und die Reformation hat diese Verbundenheit und die Kontinuität mit der vorangegangenen Kirchengeschichte in keiner Weise zerstört. Im Gegenteil, die Kirche Norwegens wurde nach der Reformation in ein sehr enges Staatskirchensystem eingebunden, und bis zum Jahre 1845 waren keine anderen Kirchen oder religiösen Gruppen in Norwegen zugelassen. Trotz des religiösen Pluralismus, der Liberalisierung des Staatskirchensystems und der zunehmenden Säkularisierung in den letzten 150 Jahren sind noch heute 92 % der norwegischen Bevölkerung Mitglieder der evangelisch-lutherischen Kirche. Noch wichtiger ist, daß „Die norwegische Kirche" (ihr offizieller Name) sich in ihrer Tätigkeit und in ihrem Leben dafür verantwortlich fühlt, daß sie alle Menschen und alle Bereiche des Lebens in Norwegen wirksam erreicht und sich dadurch als Volkskirche wirklich bewährt. Über die staatskirchliche Ordnung und die Formen einer revidierten Kirchenordnung gibt es heute unterschiedliche Meinungen. Die große Mehrzahl der Bevölkerung aber scheint überzeugt zu sein, daß die Kirche Norwegens ihre Verantwortlichkeit für das Volk und für ein nationales Leben nicht aufgeben kann, sondern sich als Volkskirche betätigen muß. Die Kirche Norwegens will auch in der Zukunft eine Volkskirche sein. 2. Diese starke Volkskirchlichkeit wirft die Frage der theologischen Legitimierung der Volkskirche in Norwegen auf. Geschichtliche Erfahrungen haben die Gefahren einer zu engen Verbindung mit „dem Volk" und eine zu starke Abhängigkeit vom Staat aufgezeigt, und sowohl freikirchliche Gruppen verschiedener - auch lutherischer - Konfession als auch Erweckungsbewegungen innerhalb der

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Kirche fragen kritisch, ob die Volkskirchlichkeit die Herausforderung durch das Evangelium und den persönlichen Glauben zur Seite schiebe. Obwohl praktisch durchgeführt, ist die Volkskirche in Norwegen kaum zureichend theologisch durchdacht. Natürlich gibt es allgemeine theologische Motive, die als Legitimierung der Volkskirche herangezogen werden. Das Gewicht liegt auf der objektiven Seite des Christentums und gibt wenig Anlaß dazu, nach subjektiver Glaubenshaltung zu fragen. Es f ü h r t vielmehr dazu, den allumfassenden Charakter der Kirche zu unterstreichen. Die Kindertaufe wird als hervorstechender Ausdruck des evangelischen Verständnisses von Gottes Gnaden-Initiative angesehen - und mit der Kindertaufe folgt die Volkskirche, falls man die Familien nicht zerspalten will. Praktisch-theologisch gibt die Volkskirche - und die Staatskirchenordnung - die besten Möglichkeiten für die Verkündigung des Evangeliums an alle Menschen und für den christlichen Einfluß im Leben des Volkes, in der Gesetzgebung, in der Staatsverwaltung und in der Moralhaltung der Nation. Die enge Verbindung durch 1000 Jahre zwischen Kirche und Volk wird noch als eine Verpflichtung angesehen, das Christentum als die geistige Wertgrundlage des Volkes zu bewahren zu versuchen. Dies alles spricht für die Volkskirche. 3. In den Überlegungen Bischof Eivind Berggravs1 zum Thema Volk und Kirche finden sich diese Motive wieder, aber mehr durchreflektiert auf Grund der Erfahrungen Berggravs besonders in der Okkupationszeit und in Wechselbeziehung mit seinen Bestrebungen auf den Gebieten der Kirchenverfassung und der Staatsethik. Eivind Berggrav hatte eine tiefverwurzelte Empfindung f ü r den Zusammenhang zwischen dem Völkisch-Nationalen und dem 1

Eivind Josef Berggrav (1884-1959) war der Sohn des Bischofs und ehemaligen Kirchenministers Otto Jensen (1917 hatte er den Familiennamen seiner Mutter übernommen). Nach seinen theologischen Examina war er als Lehrer tätig und hatte sich durch eine persönliche Glaubenskrise gekämpft. 1919 wurde er Pfarrer, 1928 Bischof für Nord-Norwegen mit Sitz in Tromse, 1937-50 Bischof zu Oslo. 1925 disputierte er für den theologischen Doktorgrad mit einer religionspsychologischen Arbeit, er war auch Ehrendoktor an vielen ausländischen Universitäten. Er war literarisch sehr aktiv, publizierte mehrere Bücher und war von 1909 bis 1959 Herausgeber der kirchlich-kulturellen Zeitschrift „Kirke og kultur" (Kirche und Kultur). Im Kampf der norwegischen Kirche gegen den Nationalsozialismus während der deutschen Okkupation Norwegens von 1940 bis 1945 war Berggrav der unbestrittene Kopf des Widerstandes. Er wurde 1942 verhaftet und bis Kriegsende interniert, konnte aber trotzdem in gewisser Weise seine kirchenleitenden Funktionen ausüben. Zu allen Zeiten war Berggrav in der Ökumene hoch geachtet und aktiv; von 1950 bis 1954 war er einer der Präsidenten des Ökumenischen Rates der Kirchen. 1937 wurde er Vorsitzender der Norwegischen Bibelgesellschaft, seit 1946 war er Präsident der Vereinigten Bibelgesellschaften der Welt.

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Christlichen in Norwegen. Das hängt teils mit seiner Herkunft aus alten Bauern- und Pfarrerfamilien zusammen, teils mit seinen Erfahrungen in jüngeren Jahren als Lehrer an christlich-nationalen Volkshochschulen, als führender Mitarbeiter in der sprachlich-nationalen Bewegung und als Pfarrer in einer Landgemeinde. Dieser Hintergrund wurde später noch durch die internationale Perspektive erweitert und ergänzt, blieb aber für sein ganzes Leben maßgebend und hat sich im Blick auf das Thema Volkskirche in zwei Richtungen entwickelt: a. zur Frage der Verantwortung der Volkskirche für Staatsordnung und gesellschaftliches Leben, b. zur Frage der Identität und Ordnung der Volkskirche. 4. Berggrav hob hervor, daß die Kirche Norwegens durch ihre ganze Geschichte bestimmenden Einfluß auf das staatliche Leben ausgeübt habe. Er behauptete z. B. mit Nachdruck, daß der Durchbruch des Christentums in Norwegen in Verbindung mit dem Märtyrertod des Königs Olav Haraldson („der Heilige") im Jahre 1030 eine Realität und für die nachfolgenden Generationen von entscheidender Bedeutung gewesen sei2. Und heute noch habe die Kirche „die Verantwortung dafür, daß das Wort und der Geist der Versöhnung lebeñdig wird - auch in der Politik", schreibt Berggrav am Anfang des zweiten Weltkrieges3. Er selbst versuchte sowohl auf internationaler Ebene wie innerhalb Norwegens in dieser Zeit zur Versöhnung beizutragen, dem Krieg Einhalt zu gebieten und Unglück zu verhindern - allerdings ohne großen Erfolg. Grundlage dieser Verantwortung und Aufgabe der Kirche auf dem Gebiet der Politik waren für Berggrav schöpfungstheologische Gedanken, die mit seiner Volkskirche-Vision eng verbunden waren. Entscheidend war für ihn, daß die menschliche Gesellschaft in einer absoluten Verpflichtung verankert sein muß, in etwas Heiligem, in Gott. „Ohne das gemeinsame Heilige ist alles Zusammenleben - zwischen Menschen und zwischen Nationen - in Atome gesprengt", schreibt er 1939 - beinahe prophetisch 4 . Besonders muß das Recht in der Gesellschaft in dem Heiligen, in Gott, verankert sein. „Die Unabhängigkeit, Freiheit und Reinheit des Rechts kann nur aus einer Weltanschauung, die das Absolute anerkennt, behauptet werden", schreibt er 1941, während der Okkupation. „Es ist eine tiefge2 Brytningene om Olav og Stiklestad. Momenter til et opgjer foran jubileet. Oslo 1930 - eine kleine Schrift, die zum 900jährigen Gedenken an den Märtyrertod Olavs des Heiligen erschien. 3 Nordens insats. Oslo 1939 - eine Schrift über die Verantwortung von Kirche und Staat, dem Krieg Einhalt zu gebieten. 4 Ebd.

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hende Verbindung zwischen Recht und Religion: Das Recht ist heilig. Gott ist der Heilige" 5 . Für die Kirche, die sich als Volkskirche für die Gesellschaft verantwortlich sieht, bedeutet dies sowohl die Aufgabe, das Heilige als Grundlage für Recht und Gesellschaft aufzuzeigen, wie die Notwendigkeit, das Rechtsprinzip als Kriterium der legitimen Staatsordnung zu behaupten. Diese Auffassung wurde besonders in der hauptsächlich von Berggrav während des Kirchenkampfes 1942 verfaßten Bekenntnisschrift „Grundlage der Kirche" niedergelegt, und die allzu servile Interpretation der lutherischen Staatslehre wurde dadurch wesentlich korrigiert. In seinem großen Buch „Der Staat und der Mensch", das während des Krieges geschrieben und nach dem Kriege veröffentlicht wurde, versuchte Berggrav dann aufzuzeigen wie - mit Hilfe der Volkskirche - die absolute Verpflichtung des Staates dem Heiligen gegenüber behauptet werden müsse und ein Gleichgewicht zwischen staatlicher Machtkonzentration - die er für sehr gefährlich hielt - und dezentralisierten „Mündigkeitszentren" entwickelt werden könne. Diese Gedanken wurden im Volk und in politischen Kreisen kaum aufgenommen. Die Entwicklung des Staatslebens nahm nach dem Kriege eine ganz andere Richtung, als Berggrav gewünscht und gehofft hatte. Die Verantwortung der Volkskirche für Staatsordnung und gesellschaftliches Leben mußte sich deshalb in anderen Formen, als er es vorgesehen hatte, bewähren. 5. Die Identität und Ordnung der Volkskirche war das zweite Problem, mit dem wir uns an Hand von Bischof Berggravs Gedanken befassen wollen. Für ihn war es entscheidend, daß die Volkskirche legitimer und echter Ausdruck des Evangeliums ist. Schon 1929 hatte er „eine evangelische Auseinandersetzung zwischen Sektentypos und Kirchentypos" veröffentlicht, in welcher er als die Aufgabe der Volkskirche beschrieb, die Seelen zu bewahren und dadurch Gottes Gnade zu vertreten, dem Menschen zu dienen und mit Geduld den Glaubensdurchbruch abzuwarten 6 . Die Volkskirche muß „die zarten Sprößlinge" schützen, hat er viele Jahre später gesagt 7 . Entscheidend für ihn ist auch die geschichtliche Zusammengehörigkeit von Volk und Kirche, die er als Bischof in Nord-Norwegen dem „volkskirchlichsten" Teil des Landes - stark erlebt hatte. Besons

Vgl. den stark beachteten Vortrag „Religion og rett" (Religion und Recht) von 1941, der später mehrmals gedruckt wurde, u.a. als Anhang des 1945 erschienenen Buches „Staten og mennesket" (1950 deutsch: Der Staat und der Mensch). 6 Vgl. die Sammlung von Essays „Spadestikk i kirkegrunn og kulturmark". Oslo 1929. 7 Vgl. den Aufsatz in: Kirke og kultur 1954.

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ders wurde diese Zusammengehörigkeit in den schweren Jahren der Okkupation und des Kirchenkampfes für ihn lebendig. „Kirche und Volk bildeten zusammen eine Front", schrieb-er damals. „Die Kirche hat gleichzeitig für ihr eigenes und des Volkes Recht gekämpft. . . . Nicht gegen das Volk, sondern mit dem Volk wird die Kirche hier in Norwegen richtig Kirche" 8 . Die Frage erhebt sich, ob eine so eng mit dem Volk verbundene Volkskirche dann nicht ohne weiteres als eine strenge Staatskirche organisiert werden muß. Berggrav hielt die Staatskirchenordnung zwar als Grundlage der Tätigkeit der Volkskirche für angemessen. Sehr früh jedoch hat er die eigenständige Identität der Kirche innerhalb einer Staatskirchenordnung behauptet. Schon 1928 unterstrich er „die geistige Freiheit der Kirche" innerhalb solch einer Ordnung 9 , und im Laufe der dreißiger Jahre wurde ihm klar, daß die Kirche als eine eigene Größe angesehen werden muß, vom Staate unterscheidbar und mit ihrer eigenen Mündigkeit. Diese Gedanken wurden zentral und entscheidend für den von Berggrav geleiteten Kirchenkampf gegen den nationalsozialistischen Staat während der Okkupation. Aus den verschiedenen, im allgemeinen von Berggrav verfaßten Erklärungen der Bischöfe der Kirche Norwegens entwickelte sich bis zu der entscheidenden Bekenntnisschrift „Grundlage der Kirche" ein Verständnis des Kirchenbegriffes, in dem Kirche als geistig selbstständige, von dem Staate unterscheidbare Größe mit eigener Ordnung, eigener Vollmacht (z. B. bei der Pfarrerweihe), eigenem Auftrag, eigener Gemeinschaft und eigenem Bekenntnis definiert wird. Der Staat steht einer Kirche mit eigener Identität und eigenem Charakter gegenüber - „die kontinuierlich wirkende christliche Kirche in dem Volke, . . . das geistige Heimatland für uns wie für die Generationen vor uns" 10 . Die Folgerungen für die Kirchenordnung, die nach dem Kriege neu zu schaffen war, mußten nach Berggravs Ansicht hauptsächlich darin bestehen, daß die Volkskirche in ihrer Ordnung eine „Behauptungs-Form" (sein Ausdruck) für ihre eigene, selbständige, vom Staate verschiedene Identität und Mündigkeit finden müsse. Eingeschlossen darin war auch, daß die Kirchenordnung den möglichen Machtübergriff des Staates der Kirche gegenüber abzuwehren habe. Berggrav fand eine freikirchliche Ordnung in dieser Hinsicht nicht besser - der totalitäre Staat könne, wie man gesehen habe, Freikir• Vgl. Kirkens ordning i Norge. Attersyn og framblikk. Oslo 1945, S. 10 (eine Untersuchung über die Ordnung der Kirche). ' Vgl. Anm. 6. 10 Der Text dieser Bekenntnisschrift ist mehrmals gedruckt worden, z. B. in der gleichnamigen Dissertation von TORLEIV AUSTAD: Kirkens Grunn. Oslo 1974.

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chen ebenso schnell unterdrücken wie Staatskirchen. Für die innere Freiheit der Kirche war nach seiner Ansicht die staatskirchliche Ordnung die beste. 6. Auch auf dem Gebiet der Kirchenordnung erlebte Berggrav mit seinen Gedanken keinen eigentlichen Durchbruch. Der von ihm von 1945 bis 1948 geleitete Ausschuß für Kirchenordnung konnte sich nur wenig durchsetzen, und die Ordnung der Kirche Norwegens blieb in den ersten Jahren nach 1945 im wesentlichen dieselbe wie vor dem Kriege. Interessant aber sind Bischof Berggravs Gedanken zur Volkskirche deswegen, weil sich hier eine starke Motivierung für die Volkskirche finden läßt. Sie ist begründet in dem geschichtlichen Zusammenwachsen von Kirche und Volk, in dem Auftrag, Gottes Gnade frei zu vermitteln und die „zarten Sprößlinge zu schützen", in der Aufgabe, für die Staatsethik und das soziale Leben des Volkes verantwortlich zu sein. Und das, obwohl diese Volkskirche nicht nur als eine „Kulturreligion", nicht nur als „geistiger Ausdruck des Volkes" angesehen wird, sondern sehr entscheidend als genuine Kirche mit eigener Identität, eigenem Charakter, eigener von Gott gegebener Mündigkeit und eigenem Auftrag. Eine Volkskirche, die auf diese Weise die beiden Seiten - die hier nur sehr kurz und skizzenhaft umrissen werden konnten - vereinigen kann, ist als Kirche legitim.

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Anders Nygren und die gesellschaftspolitischen Fragen der nationalsozialistischen Zeit* Die Zeit zwischen den Weltkriegen war in den nordischen Ländern ebenso wie im übrigen Europa eine Zeit von Krisen - von Krisen auf den unterschiedlichsten Gebieten, auf dem Gebiet der Wirtschaft, des Sozialen, des Politischen und des Ideologischen. Auch Religion, Theologie und Kirche wurden von dieser Krise berührt, da sie ja mit dem gesellschaftlichen Geschehen verbunden waren. Es ist deshalb ganz natürlich, daß von kirchengeschichtlicher Seite dem damaligen theologischen Denken und den brennenden gesellschaftspolitischen Fragen ein Interesse entgegengebracht wird. Bei der Planung für das gemeinsame kirchengeschichtliche Projekt der nordischen Länder über die Zeit zwischen den Weltkriegen „Kirken, krisen och krigen" galt ein Aspekt der Frage, wie sich drei ausgewählte Theologen des jeweiligen nordischen Landes vor dem Hintergrund ihrer theologischen Grundanschauung mit den gesellschaftspolitischen Fragen dieser Krisenzeit beschäftigten. Man bediente sich hierbei der komparativen Methode. Was nun Schweden betrifft, so wurde ziemlich schnell deutlich, daß das Denken des Theologen und Bischofs von Lund, Anders Nygren, aufgegriffen werden mußte. Dies einmal deshalb, weil er in jener Zeit der führende schwedische Theologe war, der zusammen mit seinen Fakultätskollegen Gustaf Aulén und Ragnar Bring eine theologische Schule bildete, nämlich die sogenannte „Lundenser Theologie". Zum anderen, weil man ihn bereits damals und seitdem mehr und mehr wegen angeblich fehlender „Situationsbezogenheit" kritisiert hat. Diese Kritik wurde noch dadurch verstärkt, daß man zum Vergleich andere Theologen heranzog, die aktiv am Kampf gegen den Nationalsozialismus teilgenommen hatten. Hierbei hob man vor allem Aulén und den damaligen Erzbischof von Schweden, Erling Eidem, als diejenigen Kirchenführer hervor, die am aktivsten gegen den Nationalsozialismus gekämpft hätten. Da Nygren im Stillen * Umgearbeitete Fassung meines Beitrags zu dem Sammelwerk KIRKEN, KRISEN OG KRIGEN. H g . von Stein UgelvikLarsen und Ingun Montgomery. Bergen 1982, S. 139-162.

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wirkte, war es für viele in der damaligen und späteren Zeit schwierig, seinen Einsatz zu würdigen, zumal andere kirchliche Führer und Theologen weit spektakulärer agierten.

Vorläufige Positionsbestimmung Es steht außer Zweifel, daß man von ungefähr 1930 an von einer sogenannten Lundenser Theologie sprechen kann, von ihrem spezifischen Beitrag zur Systematischen Theologie, ihrem methodologischem Programm und von ihrer Lutherforschung. Zu dieser Schule rechnet man Gustaf Aulén (1879-1977), Professor für Systematische Theologie in Lund von 1913 bis 1933, danach bis 1952 Bischof der Diözese Strängnäs, Anders Nygren (1890-1978), Professor für Systematische Theologie in Lund von 1924 bis 1948, danach bis 1958 Bischof der Diözese Lund, sowie Ragnar Bring, geboren 1895, den Nachfolger Auléns als Professor für Systematische Theologie von 1934 bis 1962. Obgleich alle Genannten sich mitunter dagegen wandten, einer bestimmten Schule zugerechnet zu werden, und ungeachtet der wichtigen Unterschiede zwischen ihnen, gibt es doch so viele gemeinsame Standpunkte, daß es berechtigt ist, sie unter der Bezeichnung „Lundenser Theologie" zusammenzufassen. Aulén verkörpert die Verbindung mit der um die Jahrhundertwende entstandenen älteren „Uppsalienser Schule", als deren bedeutendste Vertreter man Nathan Söderblom und Einar Billing bezeichnen kann. Auléns Theologie befand sich über Jahrzehnte hinweg in ständiger Veränderung und kann auch jetzt nicht als ein geschlossenes System bezeichnet werden. Nygren hingegen entwickelte sein Motivforschungsprogramm bereits in den zwanziger Jahren und dies in großer Selbständigkeit. Man kann ihn kaum als „Jünger" irgendeines schwedischen Theologen bezeichnen. Dagegen greift er gewisse Ansätze Kants, Schleiermachers und Troeltschs auf und entwickelt mit ihrer Hilfe seine eigene theologische Konzeption. Mit Ñygrens Berufung zum Professor begann eine langjährige Zusammenarbeit mit Aulén. Nygrens umfassende wissenschaftliche Produktion ist durch Einheitlichkeit und Geschlossenheit gekennzeichnet. Bring promovierte 1929 mit seiner großen Abhandlung „Dualismen hos Luther" (Der Dualismus bei Luther). Vier Jahre später erschien seine wichtige Arbeit „Den systematiska teologiens uppgift" (Die Aufgabe der systematischen Theologie). Diese Arbeit läßt Bring zu einem gleichwertigen Mitglied der Lundenser Theologengruppe werden. Ein gegenseitiges Geben und Nehmen ist deutlich. Zu Beginn der dreißiger Jahre treten Aulén, Nygren und Bring mit

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einer besonderen Schulbildung der „Lundenser Theologie" hervor. Dies beruht in erster Linie darauf, daß Nygren zu diesem Zeitpunkt sein epochales Werk „Eros und Agape" veröffentlichte. Fast gleichzeitig damit erschien Auléns Arbeit „Der christliche Versöhnungsgedanke"; kurz vorher Brings Lutherarbeit. Man begann damals von der „Lundenser Theologie" zu sprechen. Die Lundenser Theologie kann man sowohl als eine Parallele als auch als einen Kontrast zur kontinentalen Dialektischen Theologie ansehen. Die Parallelität liegt - vereinfacht gesprochen - in ihrer „anti-liberalen" und „neu-orthodoxen" Einstellung, der Kontrast in ihrer religionsphilosophischen Begründung von Religion - vor allem bei Nygren und Bring - , in ihrem Motivforschungsprogramm sowie in ihrer Bestimmung des Mittelpunktes und der Eigenart des Christentums. Vom schwedischen und Uppsalaer Standpunkt aus betrachtet, war es etwas ganz Neues, was sich hier bildete. In den Mittelpunkt von Nygrens Motivforschungsprogramm stellte man das Gegensatz-Verhältnis von Agape und Eros, den klassischen Versöhnungsgedanken mit Gott als Subjekt in Christus, einen stark theozentrischen Zug und das Hervorheben der dualistischen Perspektive. Für die Dialektische Theologie ruhte die Lundenser Theologie vor allem auf einer religionsphilosophischen Grundlage, wogegen sich die Dialektische Theologie mit Vehemenz wandte. Daneben sei ihre Methode in erster Linie historisch geprägt. Beide Urteile sind berechtigt. Sowohl von schwedischer, Uppsalaer als auch von kontinentaler, dialektisch-theologischer Seite wurde damit die Lundenser Theologie als ein besonderer und eigener Beitrag zur Systematischen Theologie und zur Lutherdeutung gewertet. Stark vereinfachend kann man vielleicht folgendes von der Lundenser Theologie sagen. Ihre Vertreter waren von dem Willen getragen, Systematische Theologie als eine Wissenschaft im strengen Sinne zu betreiben. Durch eine religionsphilosophische Grundlegung wird die Theologie in Beziehung zu den übrigen wissenschaftlichen Disziplinen gestellt. Die Absicht war, eine theologische Methode zu entwickeln, die vom wissenschaftlichen Standpunkt unanfechtbar war. Hierzu trat das Bestreben, historisch-kritische Forschung mit dem Verständnis des eigenen Glaubensinhaltes zu vereinen. Das Letztgenannte bildete das Objekt für die konkreten Untersuchungen. Die Wahrheitsfrage hingegen wurde übergangen, da sie zu beantworten mit wissenschaftlicher Methode unmöglich sei. Zur Religionsphilosophie gehört vor allem Nygrens transzendentalkritische Methode. Sie bedeutet eine Bestimmung der Religion als eine allgemeingültige Erfahrungsform und die damit verbundene

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Möglichkeit, sie wissenschaftlich-objektiv untersuchen zu können. Die Aufgabe der Theologie bestand nun darin, das Christentum als eine historisch vorfindliche Realisierung der allgemeinen Kategorie von Religion zu untersuchen. Das Objekt war, wie gesagt, das Glaubenszeugnis. Dieses habe einen inneren, organischen Zusammenhang, der auf das Zentrum gerichtet sei. Diesem wendet sich der Systematiker bei der Suche nach tragenden Motiven im Christentum zu. Durch Strukturuntersuchungen des Christentums in seinen historischen Gestalten versuchte man die Grundmotive näher zu bestimmen. Systematische Theologie wurde im großen Maße Motivforschung und vorwiegend historisch orientiert. Hierbei wurden gewisse, für das Christentum kennzeichnende Züge in den Vordergrund geschoben: theozentrisch, der klassische Versöhnungsgedanke in dualistisch-dramatischer Weise ausgedrückt, Abgrenzung gegen eine idealistische Auffassung, Konzentration auf die neutestamentliche Zeit und die Reformationszeit, auf Urchristentum und Reformation 1 . Dieses so formulierte Programm wurde in der damaligen Zeit, besonders von den Theologiestudenten, als eine Befreiung erlebt. Man glaubte wieder an die Möglichkeit, Theologie als Wissenschaft treiben zu können. Nicht zuletzt in dieser Hinsicht sah man in der Lundenser Theologie einen Neuansatz. Man entrann dem Dilemma der älteren Theologie und wagte wieder etwas. Die „Lundenser Theologie" sollte das theologische Denken der werdenden Pastoren der schwedischen Kirche, die ihre Ausbildung an der südschwedischen Universität erhielten, für Jahrzehnte bestimmen2. 1 Zu diesen vorläufigen Feststellungen vgl. NORDISK TEOLOGISK UPPSLAGBOK 2, 1955, Sp. 862 ff.; GUSTAF WINGREN: Was geschah eigentlich in Lund in den Dreißiger Jahren? In: ThLZ 97, 1972, Sp. 886ff.; GOTTFRIED HORNIG: Offenbarungstheologie und Motivforschung in Schweden. In: NZSTh 16, 1974. 2 Die Literatur über die Lundenser Theologie ist sehr umfassend. Hier einige der wichtigsten Arbeiten in chronologischer Reihenfolge: HJALMAR LINDROTH: Lutherrenässansen i nyare svensk teologi. 1941; DERS.: Anders Nygren und der Kritizismus. In: Studia Theologica 1956; DERS.: Diskussion mit Nygren. In: SvTK 1956; GUNNAR HILLERDAL: Teologisk och filosofisk etik. 1958; AXEL GYLLENKROK: Systematisk teologi och vetenskaplig metod. Med särskild hänsyn tili etiken. 1959; BERNHARD ERLING: Nature and History. A Study ie Theological Methodology with special Attention to the Method of Motif Research. 1960; W. A. JOHNSON: The Religious Apriori. A Critical Evaluation of the Philosophy of Religion of Anders Nygren. 1960; JARL HEMBERG: Religon och metafysik. 1966; NELS F. S. FEREE: Swedish Contributions to Modern Theology. 1967; THOR HALL: A Framework for Faith. Lundensian theological methodology in the thought of Ragnar Bring. 1970; CHARLES W. KEGLEY: The Philosophy and Theology of Anders Nygren. 1970 (hier auch eine Bibliographie über Nygrens Schriften); LENNART PINOMAA in: Anders Nygren, Tro och vetande. 1970; HAKAN GAR-

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Religionsphilosophie und Motivforschung Nygren entwickelte sein religionsphilosophisches Programm schon zu Beginn der zwanziger Jahre. Am wichtigsten sind seine Arbeiten aus dem Jahre 1921 „Religiöst apriori" (Das religiöse Apriori) mit seinen philosophischen und theologischen Konsequenzen und „Det religionsfilosofiska grundproblemet" (Das religionsphilosophische Grundproblem) 3 . Nygren geht hier von der Auffassung aus, daß es eine Anzahl von „Grundwerten", Erfahrungsgebieten und Sinnzusammenhängen gebe. Als Beispiel werden folgende vier genannt: die Erkenntnistheorie, die Ethik, die Ästhetik und die Religion. Dieses sind Grundwerte, die „nicht auf etwas anderes zurückgeführt werden können, von dem sie ihre Gültigkeit holen", sondern sie müssen etwas sein, das „voll und ganz in sich selbst ruht, aber auf der anderen Seite den Mittelpunkt einer autonomen Erfahrungsbildung darstellen kann, so daß alle anderen Werte, die dem gleichen Gebiet angehören, in diesem Grundwert ruhen und ihre Gültigkeit von ihm holen". Die anderen Werte werden sekundäre Werte genannt 4 . Die Religion erhebt den Anspruch, mehr sein zu wollen als eine rein subjektive Wirklichkeit. Sie erhebt einen objektiven Wirklichkeitsanspruch. Und hierin liegt das Neue in der Religionsphilosophie Nygrens, etwas Neues, das von seinen Zeitgenossen als unerhört befreiend und positiv erlebt wurde. Ein neuer Optimismus verbreitete sich. Durch die Religionsphilosophie erhielt das Christentum wieder eine neue Lebensform, und die Religionsdebatte kam in eine neue Lage. Da die Religion einen eigenen Wirklichkeitsanspruch erhob, wurde es vom religionsphilosophischen Standpunkt DAR: Situation och teologi. 1 9 7 9 ; RAGNAR BRING: Minnesord över Anders Nygren. In: Bulletin de la Société Royale des lettres de Lund 1 9 7 9 - 1 9 8 0 ; Biographie über Nygren in: LUNDS STIFTS HERDAMINNE 1 9 8 0 , S. 4 1 7 - 4 4 0 . Zu Nygrens Schleiermacherdeutung vgl. zuletzt ALEKSANDER RADLER: Religion und kirchliche Wirklichkeit. 1 9 7 7 . Zur Kritik der Theologie Nygrens durch GUSTAF WINGREN vgl. Anm. 7 . Zur Spezialliteratur weiter unten. 3 Zu Nygrens Religionsphilosophie und Religionsverständnis am ausführlichsten die in Anm. 2 genannten Titel von J . HEMBERG (S. 195ff.) und H . GARDAR (S. 40ff.). A. NYGREN veröffentlichte seine große Arbeit „Meaning and Method. Prolegomena to a Scientific Philosophy of Religion and a Scientific Philosophy of Religion and a Scientific Theology" im Jahre 1972. Dieses Buch erschien 1979 auf deutsch unter dem Titel „Sinn und Methode. Prologomena zu einer wissenschaftlichen Religionsphilosophie und einer wissenschaftlichen Theologie" (mit einem Vorwort von Ulrich Asendorf). Zu den Neuansätzen vgl. J. HEMBERGS Rezension in: SvTK 1 9 7 3 sowie R.

BRINGS Besprechung ebd. 1980.

* Det religionsfilosofiska grundproblemet, S. 57; vgl. auch Filosofi och motivforskning ( 1 9 4 0 ) , S. 4 0 ff.

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notwendig, daß man zur Gültigkeitsfrage der Religion Stellung nahm. Die Frage muß dahingehend gestellt werden, ob die Religion Momente enthält, die sie zu einer apriorischen Lebensform, zu einer notwendigen und allgemeingültigen Lebensform werden lassen. Nygren vertritt hier die Auffassung, daß die Ewigkeitskategorie die transzendentale Grundkategorie der Religion ist. Als ein Nebenresultat dieser Anschauung kann man die Auffassung verstehen, daß die Religion ein unersetzliches Element bei der Grundlegung des kulturellen Lebens darstellt 5 . Die Religionsphilosophie beweist also für Nygren den Charakter der Religion als einer notwendigen und allgemeingültigen Erfahrungsform. Und damit steht sie gleichberechtigt neben den anderen Sinnzusammenhängen und Grundwerten, sie hat die Möglichkeit des wissenschaftlichen Forschens und einen eigenen Objektivitätsanspruch. Die Erfahrungsformen sind ja „autonome Gestalten" 6 . Wenn die Religionsphilosophie auf diese Weise den Charakter der Religion als einer notwêndigen und allgemeingültigen Erfahrungsform mit Hilfe des kategorialen Ewigkeitsaspektes postuliert hat, folgt daraus das Programm der wissenschaftlichen Theologie. Ihre Aufgabe besteht darin, das Christentum als eine Realisierung der allgemeinen Kategorien der Religion zu untersuchen. Für Nygren und die anderen Lundenser Theologen ist es wichtig zu unterstreichen, daß dies eine gewisse Einheitlichkeit hat und daß es möglich ist, es letztlich auf einen Mittelpunkt oder einen organischen Zusammenhang für die Glaubensrichtung zurückzuführen 7 . An Nygrens Religionsphilosophie schließt sich deshalb ein theologisches Forschungsprogramm an. Dieses hat zum Ziel, die christliche Religion, das Christentum, als eine geschichtliche Erscheinung zu erforschen. Hierbei fragt man vor allem nach dem Mittelpunkt der Religion und nach den tragenden Motiven. Der Gedankengang ist in Kürze folgender: Alle Aussagen der Religion stehen, ebenso wie die theoretischen, ethischen und ästhetischen Urteile, in verschiedenen Sinnzusammenhängen. Außerhalb dieser Sinnzusammenhänge verlieren sie ihren ursprünglichen Inhalt. Was die religiösen, ethischen und ästhetischen (die atheorischen) Zusammen5 6

Vgl. vor allem Det bestâende i kristendomen (1922). Zur kritischen Analyse der Religionstheorie Nygrens vgl. vor allem J. HEMBERG

( A n m . 2 ) , S. 2 2 8 ; H . GARDAR (Anm. 2), S . 4 0 f f .

7 Dogmatikens vetenskapliga grundläggning (1922). Beiträge der Lundenser Theologie zu dieser Frage ζ. B. GUSTAF AULEN: Den allmänneliga kristna tron (besonders die 4. Aufl.); R. BRING: Till frâgan om den systematiska teologiens uppgift

( 1 9 3 3 ) . Z u r K r i t i k vgl. v o r allem GUSTAF WINGREN: T e o l o g i e n s m e t o d f r â g a ( 1 9 5 4 ) , S . 25 f f . ; A . GYLLENKROK (Anm. 2 ) , S. 12 f f .

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hänge angeht, so schiebt sich zwischen die allgemeine Kategorie und das einzelne Urteil eine Zwischeninstanz ein, von welcher die einzelnen Urteile ihren Sinn erhalten. Auf die kategoriale religiöse Grundfrage gibt es in den geschichtlich vorfindlichen Religionen einige wenige typische Grundantworten. Die unterschiedlichen einzelnen religiösen Urteile erhalten ihre Prägung durch diese Grundantworten. Diese Zwischeninstanz bezeichnet Nygren als Grundmotiv. Ein Grundmotiv ist diejenige Antwort, die eine Anschauung oder Religion auf eine Frage kategorialer Natur gibt. Eine Untersuchung, der es darauf ankommt, zurück zum Grundmotiv einer Anschauung zu gehen, nennt man Motivforschung. Ihrer Natur nach ist sie Strukturforschung 8 . Diese Methodologie führt, wie bereits oben erwähnt, dazu, daß der Systematiker im hohen Maße historisch orientiert arbeitet. Dies wird deutlich an Nygrens bedeutendstem theologischen Werk „Eros und Agape", dessen erster Teil 1930 und zweiter Teil 1936 erschienen. Das Buch ist in vielen Auflagen erschienen und ist in die verschiedensten Sprachen übersetzt worden. Es hat ohne Zweifel auch im internationalen Rahmen einen bedeutenden Einfluß ausgeübt'. Der Hauptgedanke ist folgender: Im Mittelpunkt stehen jene Grundmotive, die am meisten in der europäischen christlichen Tradition und Kultur bedeutet haben, nämlich Eros und Agape. Das Erosmotiv gehört zum hellenistischen Kulturkreis, in den das Christentum eintritt. Eros ist die menschliche Liebe in religiöser Sublimierung, die begehrende, nach oben gerichtete Liebe, der Weg, auf dem der Mensch zum Göttlichen aufsteigt, nicht der Weg, auf welchem die göttliche Liebe sich zum Menschlichen niedersenkt 10 . Eros ist der Ausdruck für eine egozentrische Religion, Agape hingegen für eine theozentrische u . In seinem großen Werk folgt Nygren diesen Grundmotiven und dem Kampf zwischen ihnen in einer ideengeschichtlichen Perspektive vom Neuen Testament bis zu Luther hin. Er zeigt, wie das Agapemotiv Gefahr läuft, vom platonisch-hellenistischen Erosmotiv geschluckt zu werden. Im Mittelalter wurde das Agapemotiv durch die Synthese des christlichen und griechischen Liebesgedankens in der Caritas-Anschauung Augustins verunstaltet. In seiner ursprüngli-

8 A. NYGREN: Den kristna kärlekstanken genom tiderna; Eros och Agape 1 (1930), S. 19 ff.; Filosofi och motivforskning, S. 9. Zur Rezeption bestimmter Seiten der Schleiermacherschen Theologie durch Nygren vgl. A. RADLER (Anm. 2 ) , S. 189ff. ' Zu den bibliographischen Hinweisen vgl. C H . W . KEGLEY (Anm. 2 ) , S. 379 ff. 10 Den kristna kärlekstanken 1 (1930), S. 1811. " Ebd., S. 56 ff.

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chen und reinen Gestalt tritt das Agapemotiv wieder in der Theologie Luthers hervor 12 . In dieser Arbeit Nygrens gibt es eine bestimmte Lutherdeutung, die zum Teil mit der Karl Holls übereinstimmt. Überhaupt bedeutete die Lundenser Theologie so etwas wie eine Lutherrenaissance innerhalb der schwedischen systematischen Forschung, und ihre Vertreter haben bedeutende Beiträge zur Lutherdeutung geliefert. Besonders Bring gilt als Spezialist. Das methodologische Programm Nygrens prägt auch seine Lutherforschung. In gewisser Weise kann man sagen, daß sich in „Eros und Agape" für Nygren Luthers Theologie aufs neue als das neutestamentliche Liebesmotiv in seiner Fülle und Klarheit, als amor Dei zeigt 13 .

Die Ethik Einen sachlichen Zusammenhang mit der Religionsphilosophie und der Motivforschung hat auch Nygrens Auffassung von der Ethik. Diese Grundzüge werden am deutlichsten in seinen Schriften von 1923 „Filosofisk och kristen etik" (Philosophische und christliche Ethik), von 1926 „Etiska grundfrâgor" (Ethische Grundfragen) und von 1930 „Den kristna kärlekstanken genom tiderna" (Der christliche Liebesgedanke durch die Zeiten). Gewöhnlich wird Nygrens ethische Auffassung als Agape-Ethik bezeichnet; sie ist in Schweden auf heftige Kritik gestoßen 14 . 12

Ebd., S. 500 ff. A. NYGREN hat seine Lutherdeutung in einer Anzahl von Schriften und Aufsätzen niedergelegt; vgl. vor allem Urkristendomen och reformation (1932); Eros und Agape. Eine Skizze zur Ideengeschichte des Christentums. In: ZSTh 6, 1928, S. 621-689; Eros och Pistis. In: SvTK 1933; Die kopernikanische Umwälzung Luthers. In: Zeitwende 6, 1930; Die Bedeutung Luthers für den christlichen Liebensgedanken. In: Luther-Jahrbuch 11, 1929; Den kristna kärlekstanken hos Luther. In: SvTK 1930; Försoningens gudsgärning (1932). Nygren besorgte auch eine schwedische Ubersetzung von einem von Holls Aufsätzen mit dem Titel „Luthers etiska âskâdning" (1928; vgl. KARL H O L L : Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, I, 1923). Eine der ersten Beurteilungen von Nygren als Lutherforscher findet man bei R. BRING: Den svenska lutherforskningen under de tre sista decennierna (1931), S. 72ff. sowie bei HJALMAR LINDROTH: Lutherrennässansen i nyare svensk teologi (1941). 14 Vgl. hierzu G. WINGREN (Anm. 7) sowie seine Diskussion mit Nygren in: SvTK 1956; G. HILLERDAL: Teologisk och filosofisk etik. 1958, S. 145 ff.; RAGNAR HOLTE: Etiska problem. 1970, S. 87 ff. Verschiedene Seiten der Nygrenschen Ethik werden auch von HANS NYSTEDT aufgegriffen in: Plikt och kärlek. Studier i Anders Nygrens etik. 1951; G. THOMAS: Christian Ethics and Moral Philosophy. 1955 (ein Buch, das auch von R . Holte 1970 referiert wird) und in den Aufsätzen von T H O R HALL und CHARLES W. KEGLEY in: The Philosophy and Theology of Anders Nygren. 1970, S. 13

2 6 3 f f . ; H . GARDAR ( A n m . 2 ) .

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Nygren unterscheidet zwischen philosophischer und christlicher Ethik. Die erstgenannte hat für ihn ihre Berechtigung in der Verteidigung der Selbständigkeit ethischer Urteile. Aber sie kann nicht den Anspruch erheben, konkrete Ethik zu sein. Sie kann sich nicht wissenschaftlich behaupten, wenn sie dies als ihre Aufgabe verstehen sollte; eine normative Ethik hingegen holt ihre normativen Kriterien aus der christlichen Offenbarung. Die christliche Ethik ist deshalb von der Humanethik verschieden. Der christliche Glaube wird somit eine notwendige Bedingung für eine inhaltsbestimmte Ethik, womit aber nicht gesagt ist, daß sie „normativ" ist. Die christliche Ethik ist ihrer Natur nach Agape-Ethik, d. h. Liebesethik. Das christliche Gottesverhältnis ist von Agape, der spontanen, „unmotivierten", wertindifferenten, aber wertschaffenden Liebe geprägt. Das gilt auch für das christliche ethische Verhältnis. Allein diejenige Handlung ist gut oder richtig, die ein Ausdruck der spontanen, selbstaufgebenden Liebe ist, eine Handlung, die Gottes Agape zum Vorbild und zur treibenden Kraft hat. Erst der Mensch, der Gottes Liebe erfahren hat, kann sie weiter an seine Mitmenschen geben. Die Gottesgemeinschaft wird zur Voraussetzung für die Ethik. Die Nächstenliebe ist ein Weiterreichen der Agape Gottes. Hierin liegt das normative Kriterium der christlichen Ethik, was auch dazu führt, daß sie sich von der Humanethik unterscheidet. Hinter diesen Ausführungen liegt bei Nygren der grundlegende Gedanke, daß die ethische Frage, die Frage nach der guten Gesinnung, eine allgemeinmenschliche „kategoriale" Grundfrage ist. Die christliche Agape-Ethik gibt eine Antwort auf diese kategoriale Grundfrage, und diese Antwort unterscheidet sich radikal von den anderen Formen normativer Ethik. Die Frage nach dem Verhältnis von Individual- und Sozialethik behandelt Nygren recht gedrängt in einem Artikel aus dem Jahre 1939 mit dem Titel „Die Eigenart des christlichen Ethos". Für Nygren ist das, was das christliche Ethos ausmacht, eine Gottesgemeinschaft, und als solche drückt die Liebe immer ein Verhältnis zwischen Gott, Mensch und dem Nächsten aus. Die Gemeinschaft ist gleichwohl niemals Subjekt in der Liebe, sondern dies ist der einzelne Mensch. Das Individuelle und das Soziale greifen deshalb im christlichen Ethos ineinander, ohne daß man sie zu scheiden braucht. Mit dieser Gedankenführung will Nygren eine Andeutung darüber geben, was für ihn die Anwendung der christlichen Ethik auf die gesellschaftlichen Fragen beinhaltet 15 . Die theologische Kritik an Nygrens Agape-Ethik enthält oft folgende Momente: Nygren scheide zu stark zwischen christlicher und 15

SvTK 1939, S. 299 ff.

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gewöhnlicher „natürlicher" menschlicher Liebe; seine Auffassung, daß das Objekt der Liebe wertindifferent sein sollte, führe zu Risiken im Hinblick auf den Wert des Menschen. Die Vorstellung von einem allgemeinen Wert des Menschen sei ein idealistischer Gedanke, der zurückgewiesen wird. Auch Nygrens negative Beurteilung des Altruismus ist auf Kritik gestoßen. Man hat behauptet, daß Nygrens Ethik trotz aller Kautelen im Grunde eine Individualethik sei. Agape sei ein individualistisches Prinzip. Es spreche vom H a n deln der Individuen an anderen einzelnen Individuen. Die soziale Dimension sei zurückgedrängt. Dies wird darauf zurückgeführt, daß Nygren die ganze Ethik allein aus dem Evangelium und der Agape deduziere. Die Krise innerhalb der Lundenser Theologie entstand nun auch gerade auf dem Gebiet der Ethik 1 6 , und es ist wirklich nicht zu leugnen, daß Nygrens Ethik zu einem lauen Interesse an konkreten gesellschaftlichen Fragen einlädt. Es ist auch kein Zufall, daß Nygren im Gegensatz zu anderen Theologen in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen nicht aktiv in die Gesellschafts- und Kulturdebatte der damaligen Zeit eingriff. Das Hauptproblem f ü r Nygren war vielmehr, in einem Kulturklima, das durch die offene Kritik am Christentum und an der Theologie als Wissenschaft gekennzeichnet war, mit Hilfe eines neuen methodologischen Programms der Theologie die intellektuelle Respektabilität zu bewahren. In dieser Hinsicht war Nygrens Theologie situationsbezogen 17 .

Kircbenauffassung und Ökumene Gegen Ende der dreißiger und zu Beginn der vierziger Jahre kam es im Hinblick auf das Kirchenverständnis zu einer grundlegenden Umorientierung innerhalb der exegetischen und Systematischen Theologie. Auf dem Gebiete der exegetischen Theologie war der Uppsaler Professor Anton Fridrichsen die treibende Kraft, innerhalb der Systematischen Theologie hingegen der Lundenser Professor Anders Nygren. Man knüpfte zwar an eine ältere volkskirchliche Tradition an, aber im Gefolge eines neuen Kirchenverständnisses in der neutestamentlichen Exegese und unter dem Einfluß der großen

16

Eine Zusammenfassung der Kritik vgl. R. HOLTE (Anm. 14), S. 87 ff.; H. GAR(Anm. 2). 17 Ebd., S. 105.

DAR

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ökumenischen Strömungen kam es zu großen Akzentverschiebungen. Man ging davon aus, daß der neutestamentliche Kirchengedanke in einem zentralen christlichen Motiv verankert sei. Man glaubte, direkt an den Kirchengedanken des Neuen Testamentes anzuknüpfen. Besonders hervorgehoben wurde der eschatologische und theozentrische Zug. Der Mittelpunkt lag bei der Auffassung der Kirche als Leib Christi. Damit wandte man sich gegen das in der damaligen Zeit geläufige individuelle und soziologische Kirchenverständnis, das vor allem von der schwedischen Freikirchlichkeit vertreten wurde. Das, was sich nun bildete, pflegt man in Schweden als die neue Kirchenauffassung zu bezeichnen. Sie wurde besonders deutlich in dem 1951 auch auf deutsch erschienenen Sammelband „Ein Buch von der Kirche" (1942) und in der Vortragssammlung „Das neue Kirchenverständnis" (1945)18. Im „Buch von der Kirche" berührte Nygren mit seinem Beitrag „Corpus Christi" gerade den neutestamentlichen Kirchenbegriff. Um die Auffassung von der Kirche als dem Leib Christi sollten sich auch Nygrens spätere Äußerungen zum Kirchenbegriff gruppieren. Im Zusammenhang mit seinen immer stärker werdenden ökumenischen Verpflichtungen während der fünfziger Jahre widmete Nygren einen großen Teil seiner Veröffentlichungen diesem Thema. 1955 erschien „Kristus och hans kyrka" (Christus und seine Kirche); hier hob Nygren selbst den ökumenischen Hintergrund hervor, der ihn wesentlich dazu veranlaßte, sich zu Beginn der vierziger Jahre mit dem Kirchenbegriff zu beschäftigen. Der Gedanke von der Kirche als dem corpus Christi spricht ja gerade das Moment der Einheit an 19 . Ebenso wie für die anderen Vertreter des sogenannten neuen Kirchenverständnisses dürfte auch für Nygren die ökumenische Arbeit im hohen Grade stimulierend für die Entwicklung seines eigenen Kirchenverständnisses gewesen sein. Er hatte 1927 an der Faith and Order-Konferenz in Lausanne teilgenommen. Eine aktivere Rolle spielte er 1937 auf der Life and Work-Konferenz in Oxford und auf der Faith and Order-Konferenz in Edinburgh. Aber dessen ungeachtet nahmen die ekklesiologischen Fragen bis zu Beginn der vierziger Jahre in der theologischen Konzeption Nygrens kaum einen zentra-

" Über diese Arbeiten und über den sogenannten neuen Kirchenbegriff vgl. ARNE PALMQVIST: De aktuella kyrkobegreppen i Sverige. 1964, S. 115 ff., 203 ff. 19 Kristus och hans kyrka, 1955, S. 7 ff. Zu Nygrens letzten Arbeiten siehe vor allem VILMOS VAJTA: Christ's Church and the Churches in Nygrens Theology. In: The Philosophy and Theology of Anders Nygren. 1970, S. 321 ff.

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len Platz ein. Man spricht sogar von einem „ekklesiologischen Vakuum" im Werk Nygrens bis zum Beginn der vierziger Jahre 2°. In „Corpus Christi" legt Nygren ein vollständig ausgearbeitetes Kirchenverständnis vor und grenzt seinen Kirchenbegriff von einem soziologischen Kirchenverständnis ab. Das Zentrum liegt in der Christologie, und von ihr hat Nygren auch späterhin immer seinen Ausgang genommen, wenn es darum ging, den Kirchenbegriff zu beleuchten. Die Frage von Christologie und Kirchenauffassung wird schon deutlich im genannten Aufsatz aus dem Jahre 1942, tritt aber noch deutlicher zu Tage in „Christus und seine Kirche": „Will man richtig von der Kirche sprechen können, muß man sich zuerst den Inhalt des Christusglaubens klarmachen. Die Ekklesiologie ist ein direktes Ergebnis der Christologie" (S. 14). Um den Kirchenbegriff theologisch bearbeiten zu können, darf man nach Nygren nicht davon ausgehen, daß die Kirche eine Organisation, eine menschliche Gemeinschaftsform oder eine soziologische Erscheinung sei, sondern man muß von dem Verhältnis zwischen Christus und Christi Leib ausgehen. In „Corpus Christi" werden zwei Überlegungen in den Mittelpunkt gestellt: einmal die Zusammenstellung von Adam und Christus (Römer 5 und 1. Korinther 15), zum anderen der Gedanke an Christus als das Haupt der Kirche (Epheser- und Kolosserbrief). Der tragende Gedanke ist hierbei, daß wie Adam das Haupt der natürlichen Menschheit ist, Christus das Haupt der neuen Menschheit, der Kirche ist. In keinem der beiden Fälle ist diese Betrachtung individualistisch zu verstehen. Es geht um den untrennbaren Zusammenhang und die Einheit von Leib Christi und Christus als Haupt der Kirche: „Der Leib Christi ist Christus selbst. Die Kirche ist Christus, wie er nach seiner Auferstehung unter uns gegenwärtig ist und uns hier auf Erden begegnet." 21 In seinem Römerbrief-Kommentar, der 1944, also während des Krieges, erschien, entwickelt Nygren diese Gedankengänge weiter. Er betont hier das Adam-Christus-Verhältnis in seinem Zusammenhang mit dem Gedanken von den zwei Weltaltern, den Äonen. Adam verkörpert den alten Äon, in dem die Sünde und der Tod regieren, Christus hingegen den neuen, wo Gerechtigkeit und Leben regieren. Adam ist das Haupt des alten Zeitalters, Christus das des neuen.

20 V. VAJTA (Anm. 1 5 ) . Vgl. MARTIN LIND: Kristendom och Nazism. 1 9 7 5 , S. 2 6 7 , Anm. 41. Lind betont stärker als Vajta, daß Nygren schon während der dreißiger Jahre ein festumrissenes Kirchenverständnis gehabt habe. 21

E I N BUCH VON DER KIRCHE. G ö t t i n g e n 1 9 5 1 , S . 2 2 .

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Und in diesem Zusammenhang ist die Kirche zu sehen, die Kirche als Leib Christi 22 . Wie oben erwähnt, beeinflußte Nygrens Teilnahme an der ökumenischen Arbeit seine Auffassung von der Kirche, so wie sie sich zu Beginn der vierziger Jahre ausdrückte. Daß dies während der fünfziger und sechziger Jahre noch verstärkt wurde, ist selbstverständlich, wenn man die Stellung bedenkt, die die Ekklesiologie im ökumenischen Rahmen innhatte. Hinzu tritt der Umstand, daß Nygren seit 1947 Präsident des Lutherischen Weltbundes war und 1952 den Vorsitz der Kommission „Christ and the Church" innerhalb von Faith and Order übernahm. Über die Faith and Order-Konferenz in Edinburgh im Jahre 1937 berichtete Nygren unter der Überschrift „Das Luthertum innerhalb der Kirchen". Von dieser Konferenz an dürfte Nygren auch sein ökumenisches Engagement und seine ökumenischen Zielsetzungen von einem klar ausgearbeiteten Kirchenverständnis aus formuliert haben. Eine Einigung der Kirchen kann man nicht durch die Lösung organisatorischer Fragen, sondern nur durch eine Konzentration auf das Zentrum erreichen: ,Je mehr man wirklich und mit vollem Ernst versucht, sich dem Zentrum zu nähern, desto näher kommt man den theologisch und religiös entscheidenden Fragen, desto größer sind die Möglichkeiten einer Begegnung. Daß man in den peripheren Dingen zu einer Übereinkunft kommt, ist nicht unbedingt notwendig. - Aber was die Hauptfragen des christlichen Glaubens angeht, was den zentralen Inhalt der christlichen Botschaft betrifft - da ist es notwendig, daß die Kirchen mit Ernst und Verantwortung miteinander sprechen"23. Ähnliche Gedankengänge entwickelte Nygren zu gleicher Zeit in anderen Zusammenhängen 24 . Seine Grundauffassung, am Ende der dreißiger Jahre entworfen, blieb während der Zeit seines späteren intensiven ökumenischen Engagements unverändert 25 .

Die Kirche

und der

Nationalsozialismus

So wie Nygren seine Theologie mit Hilfe der Religionsphilosophie formulierte und wie diese sich in seiner Ethik und in seinem 11 Pauli brev tili romarna. Tolkning av Anders Nygren. 1944, S. 212 ff. Zu Nygrens späterer Entwicklung des Kirchenbegriffes vgl. V. VAJTA (Anm. 19), S. 326ff. " SvTK 1937, S. 312. 24 Bekännelsetrohet och kristendomsgemenskap. In: Kristen Gemenskap 1937:1. 25

V . VAJTA ( A n m . 1 9 ) , S. 3 3 7 f f .

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Kirchenbegriff ausdrückte, gab es kaum irgendwelche konkreten Handreichungen, wie sich der einzelne gegenüber den gesellschaftlichen Fragen seiner Zeit verhalten sollte. Diese Feststellung gilt jedoch nur mit einer Ausnahme, nämlich mit seiner Haltung in der Frage des deutschen Kirchenkampfes. In der Stellungnahme Nygrens zum Kirchenkampf zeigt sich ein deutlicher Zusammenhang mit seiner theologischen Auffassung. Nygren pflegte nicht an politischen Debatten teilzunehmen. Aber die Frage des Nationalsozialismus wurde für ihn theologisch, menschlich und moralisch zu einem brennenden Problem - dies führte dazu, daß er sehr aktiv wurde. Es ist wichtig hervorzuheben, daß Nygren von Anfang an mit der Entwicklung in Deutschland sehr vertraut war. Die wissenschaftliche Orientierung an der deutschen Theologie und Philosophie weckte selbstverständlich auch sein Interesse am kulturellen und politischen Geschehen. Während eines längeren Studienaufenthaltes in Berlin im Jahre 1920 machte Nygren unter anderem auch die persönliche Bekanntschaft Ernst Troeltschs, der für seine weitere theologische Entwicklung eine große Bedeutung haben sollte. Im Sommer 1933 hielt er sich wieder zu ausgedehnten Studien und, im Zusammenhang mit einer ökumenischen Mission, für eine längere Zeit in Berlin auf und konnte hierbei die politische Entwicklung aus nächster Nähe verfolgen. Seine Beobachtungen vermittelte er im Laufe der nächsten Jahre in einer Anzahl von Artikeln, zumeist in dem konservativen „Svenska Dagbladet". Einige dieser Artikel veröffentlichte er 1934 in Buchform unter dem Titel „Den tyska Kyrkostriden" (Der deutschen Kirchenkampf). Das Buch wurde unmittelbar ins Englische übersetzt; im Jahr darauf folgte eine holländische Übersetzung. Die kritische Schilderung der Zustände im damaligen Deutschland hatte ein vierjähriges Reise- und Redeverbot in Deutschland zur Folge. Aber Nygren beeinflußte die öffentliche Meinung in Schweden, vor allem in den Universitätsstädten Lund und Uppsala, nicht nur durch seine Artikel. Er sprach auch auf großen öffentlichen Kundgebungen über die Lage in Deutschland. Im November 1933 referierte er vor einer Studentenkonferenz in Lund über den Nationalsozialismus als Ideologie sowie über den damals gerade beginnenden Kirchenkampf. Im April und Mai des folgenden Jahres hielt er in Stockholm und Uppsala Vorträge über das Thema „Worum geht es im deutschen Kirchenkampf"? Seine Darstellung gipfelte in der Feststellung, daß es hier nicht nur um einen historisch bedingten Kirchenkampf, sondern um Sein oder Nichtsein des Christentums überhaupt gehe. Der Kampf gelte der Frage: Christentum oder eine Blut-und-Boden-Religion. Im März 1938, eine Woche nach dem „Anschluß" Österreichs an das Deutsche Reich, äußerte er

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sich öffentlich in Uppsala über die kirchliche Situation in Deutschland. Nygren versuchte also schon frühzeitig, die schwedische Öffentlichkeit in Wort und Schrift über die Lage der Kirchen in Deutschland aufzuklären. Es ist schließlich wohl noch darauf hinzuweisen, daß seine 1921 mit Irmgard Brandin, der in Anklam geborenen Tochter des Superintendenten Theodor Brandin, eingegangene Ehe seine Kenntnis der deutschen Verhältnisse vertiefte 26 . Nygren war also in hohem Maße kompetent, die deutschen Verhältnisse zu beurteilen. Er zögerte keinen Augenblick, Stellung zu beziehen, und bemühte sich auf unterschiedliche Weise, die offendi-' che Meinung in Schweden zu beeinflussen. Seine Kritik an der deutschen Entwicklung beruhte auf seiner theologischen Grundanschauung, aber sie hing auch eng mit seinem ökumenischen Wirken zusammen. Sie läßt sich in Kürze wie folgt charakterisieren: Im Mittelpunkt steht die Untersuchung der inneren Entwicklung der evangelischen Kirche sowie ihr Verhältnis zu dem immer totalitärer werdenden Staat. Der Kirchenkampf selbst wird genau beobachtet. Die Schilderung der Auseinandersetzungen verbindet sich mit einer deutlichen Kritik am Nationalsozialismus, der einen religiösen Anspruch erhebt, der ihn zwangsläufig in Konflikt mit dem christlichen Glauben führt. Der Absolutheitsanspruch des Staates ist mit dem christlichen Glauben unvereinbar. Für Nygren handelte es sich weniger um die Konflikte des Individuums, sondern vielmehr um das Verhältnis zwischen den Kirchen und dem totalitären Staat. Deshalb konnte Nygren im Hinblick auf den „religiösen" Zug im Nationalsozialismus von einem „Religionskampf" sprechen. Es ging ihm nicht in erster Linie um eine Verteidigung der Menschenrechte oder um einen allgemeinen Freiheitsbegriff, auch wenn er natürlich an derartigen Argumenten nicht uninteressiert war. Er kämpfte um die Möglichkeit der Kirche, das Evangelium verkündigen zu dürfen. Der Staat müsse der Kirche ihre religiöse Bewegungsfreiheit geben 27 . Aus dieser, durch eine bestimmte Deutung der lutherischen Regimentenlehre geprägte „Kirchenzentrierung" in der Frage des Verhältnisses zum Nationalsozialismus folgt gleichwohl keine Gleich26 Vgl. A. NYGREN: Intellectuel Autobiography. In: The Philosophy and Theology of Anders Nygren. 1970, S. 19ff. 27 Vgl. dazu vor allem M . LIND (Anm. 20), besonders S . 155-163; E I N O M U R T O RINNE: Erzbischof Eidem zum deutschen Kirchenkampf. Helsinki 1968, S. 53 ff., 74 f.; NILS KARLSTRÖM: Kyrkan och nazism. Ekumeniska aktioner mot nazismen 1933-1934. Uppsala 1976, S. 139 und 159 sowie die in Anm. 2 erwähnte Biographie

N y g r e n s v o n R . BRING.

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gültigkeit politischen und ethischen Fragen gegenüber. Nygren beurteilt diese Fragen von seiner Agape-Ethik aus, was ganz und gar seiner Auffassung von der christlichen Ethik an sich entspricht. Die Agape ist der Inhalt des christlichen Ethos, und dies gilt nicht nur für den persönlichen Bereich, sondern umfaßt auch die sozialen Relationen. Das christliche Ethos muß in der Lage sein, Antwort auf die Fragen nach dem Guten und Bösen im menschlichen Dasein geben zu können. Die ethischen Fragen, die die gesellschaftlichen Fragen einschließen, müssen ihre Antworten aus dem christlichen Glauben holen. Deshalb ist das gepredigte Wort von solch einer fundamentalen Bedeutung für die Existenz der Kirche, mit deren Hilfe man von einem christlichen Standpunkt aus beurteilen kann, was in einer konkreten Krisensituation ethisch richtig ist. Der Kampf wird deshalb für Nygren nicht allein um die Freiheit der Kirche in ihrem Verhältnis zum Staate geführt, zu fragen ist vielmehr nach der Verankerung im christlichen Glauben. Es ging um die grundsätzliche Möglichkeit der Kirche zu verkündigen, die ja die Voraussetzung für eine richtige ethische Stellungnahme in den konkreten Gesellschaftsfragen bildet. Auch von den Prämissen der lutherischen Regimentenlehre her war die Freiheit der Kirche notwendig, notwendig um kundzutun, wie das weltliche Regiment nach dem Wort Gottes zu gebrauchen sei. So verstanden ist Nygrens Konzentration seiner Analyse des deutschen Kirchenkampfes in ihrer Konsequenz eine konkrete Hilfe für den einzelnen Menschen bei seinem Versuch, in dieser größten Krise der Zeit zwischen den Weltkriegen konkret ethisch Stellung zu beziehen.

GERT HAENDLER

Zur Bedeutung Martin Luthers auf den Konferenzen der Hochschultheologen der Ostseeländer von 1961 bis 1980 Die Konferenzen der Hochschultheologen der Ostseeländer begannen im Sommer 1961; sie können also auf eine Tradition von zwei Jahrzehnten zurücksehen. Die bisherigen 19 Tagungen verteilen sich auf sechs Tagungen in Greifswald (1961; 1964; 1966; 1970; 1974; 1978), sechs Tagungen in Rostock (1963; 1965; 1969; 1972; 1976; 1980), drei Tagungen in Schweden (1967; 1971; 1973), zwei Tagungen in Finnland (1968; 1975) sowie je eine Tagung in Dänemark (1977) und Norwegen (1979). An 13 Tagungen konnte ich selbst teilnehmen: sechsmal in Rostock, fünfmal in Greifswald, je einmal in Schweden und Finnland. Im folgenden soll skizziert werden, in welcher Weise bei diesen Konferenzen Martin Luther und die Reformation eine Rolle gespielt haben. Der Tatbestand als solcher ist kaum überraschend, da alle Landeskirchen, in deren Gebiet die beteiligten theologischen Ausbildungsstätten liegen, dem Lutherischen Weltbund angehören: Uppsala und Lund, Helsinki und Turku (Abo), Kopenhagen und Aarhus, Oslo, Greifswald und Rostock. Gelegentlich waren auch Vertreter der Theologischen Akademie Warschau und der Theologischen Fakultät Kiel beteiligt. Die Beziehungen zu Luther, zum Luthertum oder auch zum Lutherischen Weltbund sind häufig auf Begrüßungsreden oder in Dankesworten ausgesprochen worden, die aber nicht im Druck festgehalten wurden, so daß nur pauschal aus der Erinnerung darauf verwiesen werden kann. Es zeigt sich, daß schon 20 Jahre nach dem Beginn der Konferenzen eine historische Aufarbeitung gar nicht so einfach ist. Viele Kollegen, die die Konferenzen maßgeblich mitgestaltet haben, leben heute nicht mehr. Das gilt für den Dekan der Theologischen Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald 1960, Prof. D. Dr. Alfred Jepsen, für den Dekan der Theologischen Fakultät der Universität Rostock 1960, Prof. D. Dr. Heinrich Benckert, für den Greifswalder Systematiker Prof. Dr. Hellmut Bandt, der durch seine schwedischen Sprachkenntnisse sowie durch seine internationalen Beziehungen im Rahmen der Prager Friedens-

Zur Bedeutung Martin Luthers 1961 bis 1980

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konferenz auch für die Anfänge der hier genannten Konferenzen besonders einflußreich war. Über die Anfänge der Konferenzen berichtet das Tagebuch von Alfred Jepsen. Er war 1960 zu einer Gastvorlesung in Lund. Mit dortigen Kollegen, zumal mit dem Systematiker Gustaf Wingren, wurden Pläne für regelmäßige Konferenzen geschmiedet. Anfang 1961 kam es zu einem längeren Gespräch mit dem damaligen Dekan der Theologischen Fakultät Rostock Heinrich Benckert. Prof. Jepsen führte weitere Gespräche mit dem damaligen Staatssekretär für Kirchenfragen in der DDR, Hans Seigewasser, der inzwischen ebenfalls verstorben ist, sowie mit dem damaligen ersten Sekretär der Parteileitung im Bezirk Rostock, Harry Tisch, heute Vorsitzender des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes in der DDR. Die Rektoren der Universitäten Greifswald und Rostock stimmten zu, ebenso das Ministerium für das Hoch- und Fachschulwesen in der DDR. Die Theologenkonferenzen sollten abwechselnd in Greifswald und Rostock stattfinden, und zwar im Sommer in einer gewissen Parallele zu den Ostseewochen. Eine direkte institutionelle Verbindung mit den Ostseewochen gab es jedoch nicht. Uberhaupt sind die Konferenzen bisher von institutionellen Bindungen frei geblieben. Es gab und gibt keinen Präsidenten, keinen Vorstand, keine Satzung. Die Konferenzen werden getragen von dem gemeinsamen Willen der beteiligten Kollegen. Die jeweils amtierenden Dekane bzw. Sektionsdirektoren fühlen sich für die Fortsetzung der Konferenzen verantwortlich. Die organisatorischen und finanziellen Probleme werden von der gastgebenden Fakultät gelöst. Am Ende einer jeden Konferenz findet sich ein Kreis zusammen, der über Ort und Termin der nächsten Konferenz verhandelt; in diesem Kreis wird auch ein Thema für die folgende Konferenz anvisiert. Diese Freiheit der Konferenzen, diese mündlichen Absprachen, auf die man sich verläßt, sind freilich mit ein Grund dafür, daß der Historiker schon nach 20 Jahren einige Schwierigkeiten hat, wenn er Nachrichten über die Anfänge der Konferenzen sammeln will. Es ist offensichtlich niemals Protokoll geführt worden, es gibt auch keine schriftlichen Beschlüsse oder Grundsätze, die für die Konferenzen verbindlich wären. Die erste Konferenz fand vom 4. bis 5. Juli 1961 in Greifswald statt. Aus Skandinavien waren drei Gäste angereist: aus Schweden Prof. Ragnar Bring und Dozent Dr. Per Erik Persson, aus Dänemark Prof. Dr. Knud E. Legs trap. Aus Rostock waren die Professoren Heinrich Benckert, Gottfried Holtz und Karl-Heinz Bernhardt gekommen. In diesem kleinen Kreise trugen die Beteiligten Ergebnisse ihrer jeweiligen Forschungen vor. Von unserem Thema her ist

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es von einigem Interesse, daß der Einleitungsvortrag des Schweden Ragnar Bring das Thema hatte: „Luthers Christologie". Der erste Beitrag der gastgebenden Greifswalder Fakultät aber war ein Referat des Kirchenhistorikers Ernst Kähler über „Schrift und Tradition auf der Leipziger Disputation 1519"1. Daran schloß sich ein Referat von Dozent Persson (Lund) über Schrift und Tradition an. Als letzter Redner sprach Gottfried Holtz (Rostock) über „Die kirchliche Lage in Mecklenburg im 19. Jahrhundert". Insgesamt gab es fünf Vorträge, die untereinander nicht verbunden, auch nicht irgendwie vorher vereinbart worden waren. In zwei Vorträgen stand das Erbe Luthers ganz deutlich im Zentrum (Bring und Kähler), der Vortrag von Persson knüpfte auch an eine Fragestellung an, die stark von der Reformation her vorgegeben war. Der letzte Vortrag von Holtz erschien in der „Evangelisch-Lutherischen Kirchenzeitung" 2, so daß auch auf diese äußerliche Weise die Verbindung zum genuinen Luthertum erkennbar wird. Der Beitrag des dänischen Professors Legstrup (Aarhus) über Eschatologie und Pilgrimmythos zeigt zugleich auch, daß Bindung an das Erbe Martin Luthers keineswegs die Breite der möglichen theologischen Themen einschränken sollte oder konnte. Die zweite Konferenz war für den Sommer 1962 in Rostock geplant, sie kam jedoch zunächst nicht zustande. In den Akten des Rostocker Universitätsarchivs sind eine ganze Reihe sehr freundlicher Briefe vorhanden, in denen Kollegen aus skandinavischen Ländern ihr Bedauern darüber zum Ausdruck bringen, daß sie zu dem vorgesehenen Termin nicht kommen könnten. An diesem Punkt liegt nun ein Verdienst der Theologischen Fakultät Rostock und ihres damaligen Dekans Prof. Bernhardt, daß sie sich in dieser kritischen Phase nicht entmutigen ließ. Der Termin wurde nach mancherlei Beratung verschoben und schließlich auf Juni 1963 neu festgelegt, und nun auch mit Erfolg. Die Beteiligung aus den skandinavischen Ländern war freilich auch bei der zweiten Konferenz recht gering. Den Einleitungsvortrag hielt der finnische Lutherforscher Prof. Dr. Lennart Pinomaa. Leider ist das Thema nicht mehr feststellbar. Auf dem Programm steht nur „Luthervortrag Pinomaa", die Beteiligten erinnern sich nicht mehr, auch Pinomaa selbst kann nur noch Vermutungen anstellen3. Tatsache ist jedenfalls, daß dieser Luthervortrag von 1

In: H Ö R E N UND HANDELN. Festschrift für Ernst Wolf zum 60. Geburtstag. München 1962, S. 214-29. 2

3

14. Jg. 1961, S. 216-218.

In einem Brief vom März 1981 schrieb Pinomaa im Rückblick auf verschiedene Vorlesungen in Rostock: „Ich las über Eriksons Lutherbild, dann auch über das Thema ,Der Beitrag des nordischen Luthertums an die Ökumene' und ,Die Reforma-

Zur Bedeutung Martin Luthers 1961 bis 1980

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Pinomaa den Mitgliedern der Theologischen Fakultät Rostock sehr starken Eindruck gemacht hat, denn sie verliehen dem finnischen Kollegen 1964 die Ehrendoktorwürde. Die übrigen Themen jener zweiten Konferenz hatten keine Beziehung zu Luther. Der dänische Kollege Logstrup sprach über „Wille und Wahl", weitere vier Referate wurden von Rostocker Kollegen übernommen, die teilweise kurzfristig für absagende Kollegen einspringen mußten. Benckert sprach über ökumenische Probleme, Bernhardt über Reiseeindrücke aus dem Libanon, Holtz trug Thesen vor über das Verhältnis von Episkopoi und Diakonoi 4 , Gert Haendler referierte über „Altkirchliche Konfessionskämpfe und Germanenmission" 5 . Ein übergreifender Gedanke, der die sechs Vorträge miteinander verbunden hätte, ist nicht zu entdecken; bei der Zufälligkeit der Teilnehmer und der angemeldeten Referate war das kaum anders möglich. Auf der dritten Konferenz im Juni 1964 in Greifswald gab es deutlich spürbar das Bemühen, übergreifende Themen zu finden. Es ging um das Problem des Mythos, zu dem Prof. Dr. Helmer Ringgren (damals noch Abo) sowie Prof. Dr. Bernhardt (Rostock) sprachen. Es ging um die Gottesfrage, zu der Prof. Logstrup (Aarhus) und Prof. Benckert (Rostock) Stellung nahmen. Schließlich ging es um die Arnoldshainer Abendmahlsthesen, die von Prof. Leif Aalen (Oslo) kritisiert und von Prof. William Nagel (Greifswald) verteidigt wurden. Für beide Kontrahenten standen Worte des Neuen Testaments im Vordergrund, doch haben sie auch ausdrücklich auf Luther und seine Auslegung der Abendmahlsworte Bezug genommen. Für unsere Fragestellung am wichtigsten war ein Vortrag des finnischen Systematikers Lauri Haikola: „Luther und das Naturrecht", auf das in der Generalaussprache besonders häufig zurückgegriffen wurde. So kann man durchaus sagen, daß die Bedeutung Luthers auch auf der dritten Konferenz recht erheblich war. In der Einladung zur vierten Konferenz, die im Juni 1965 in Rostock stattfand, war angeregt worden, das Thema „Staat und Kirche" möglichst intensiv zu berücksichtigen. Zwei Aufsätze skandinavischer Kollegen wurden in der Wissenschaftlichen Zeitschrift der

tion in Finnland'. Es kann auch sein, daß mein damaliges Thema mit der Heiligenverehrung bei Luther im Zusammenhang stand. D a diese Studie über die Heiligen bei Luther so lange unvollendet blieb, ist es möglich, daß ich darüber bei Euch Vorlesung gehalten habe". 4 Die Thesen fanden ihren Niederschlag im Kommentarwerk von G. HOLTZ: Die Pastoralbriefe (Theologischer Handkommentar zum N T 13). Berlin 1964, 2. Auflage 1972. 5 In: Evangelische Missionszeitschrift 1966, S. 15-24.

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Universität Rostock gedruckt 6 ; in beiden Beiträgen spielte Luther eine gewisse Rolle. Das einleitende Referat hielt Gustaf Wingren (Lund) über „Volkskirche und Religionsfreiheit in Schweden heute". Wingren berief sich auf den Volkskirchenbegriff von Einar Billing und berichtete über neue Gesetze in Schweden im Jahr 1950, die eine gewisse Trennung der schwedischen Kirche vom Staat beabsichtigten. Bei diesem Prozeß verliert die schwedische Kirche u. a. ihr Monopol auf die Trauung. Wingren hält diese Entwicklung für gut, er beruft sich auf Luther, der die Eheschließung dem weltlichen Regiment anrechnen wollte (S. 409). Ahnlich beiläufig kommt der dänische Kirchenhistoriker Anders Pontoppidan Thyssen auf Luther zu sprechen in seinem Referat „Kirchliche Erweckung und nationale Erhebung in Schleswig-Holstein 1817-50". Pontoppidan Thyssen berichtet von Claus Harms und seinen 95 Thesen von 1817, erwähnt, daß diese Thesen „als eine Übertragung von Luthers Thesen 1517 auf das Jahr 1817" gemeint waren (S. 398), und zeigt an der These 1, wie Harms wohl Intentionen von Luther aufnahm und doch veränderte im Sinne einer „pietistisch gefärbten Neuorthodoxie" (ebd.). Erheblich deutlicher wurde die Beziehung zu Luther in dem Referat, das der polnische Theologe Woldemar Gastpary gehalten hat: „Das Verhältnis Staat-Kirche im Zeitalter der Reformation in Polen". Vier weitere Referate galten Problemen des Neuen Testaments 7. Das Programm der fünften Konferenz trug den Titel „Studientagung der Theologischen Fakultäten Rostock und Greifswald mit Kollegen nordischer theologischer Fakultäten vom 14. bis 17. Juni 1966 in Greifswald". Die Konferenz war durch ein gewisses Ubergewicht der Exegeten geprägt. Damals lehrte in Greifswald als Gastprofessor Markus Barth; außer ihm sprachen die Neutestamentier Edvin Larsson (Oslo) und Konrad Weiß (Rostock) 8 . Auch der Vortrag von Ringgren, der damals gerade nach Uppsala berufen worden war, betraf primär die Exegeten: „Bibelwissenschaft und Verkündigung". Die übrigen drei Vorträge kann man dem Stichwort Ökumene zuordnen 9 . Direkte Beziehungen zu Luther oder der Reformation sind aus dem verfügbaren Material nicht festzustellen. 6

Jg. XVII, 1968, gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 4, S. 397-404 (Pontoppidan Thyssen) und S. 405-410 (G. Wingren). 7 Sverre Aalen (Oslo): Reich Gottes bei Jesus; B. Noack (Kopenhagen): Hauptsache und Beiläufiges im Römerbrief; Ν. E. See (Kopenhagen): Zur Autorität der Bibel; E. Lövestam (Lund): Die Lästerung des Geistes (Markus 3, 28/29). ' M. Barth: Die Gerechtigkeit der Rechtfertigung; E. Larsson (Oslo): Paulus und die Theologie der hellenistischen Gemeinden; K. Weiß (Rostock): Die Integration von Juden und Heiden zum neuen Gottesvolk nach Paulus. ' W. Gastpary (Warschau): Die ökumenischen Bestrebungen der evangelischen

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Die sechste Konferenz im Juni 1967 in Lund bedeutete einen gewissen Einschnitt in die Geschichte der Konferenzen: Erstmals war eine Fakultät nördlich der Ostsee Gastgeber, und erstmals wurde konsequent ein Generalthema behandelt. Gustaf Wingren hatte als Dekan der Fakultät vor allem die Weichen gestellt. Zu dem Gesamtthema „Bibel und Reformation" referierten der Alttestamentier Bernhardt (Rostock), der Neutestamentier Birger Gerhardsson (Lund), der Lutherforscher Pinomaa (Helsinki), der Praktische Theologe Helge Nyman (Abo) und Wingren selbst als Systematiker. Luther war ständig mit im Gespräch. Der Alttestamentier suchte nach Wurzeln für Luthers Zweireichelehre, der Praktische Theologe ging auf Luthers Deutsche Messe ein. Pinomaa arbeitete heraus, daß Luther die Bibel wieder neu entdeckt habe. Wingren selbst legte vor allem Wert auf aktuelle Folgerungen aus dem Thema. Eine christliche Gemeinde muß sich zu allen Zeiten als Größe innerhalb der Gesellschaft verstehen, sie muß Mitverantwortung übernehmen, jede Distanzierung von dieser Welt ist als Mißverständnis des Christentums abzulehnen. Nach dem relativen Zurücktreten Luthers auf der vierten und fünften Konferenz brachte die sechste Konferenz in Lund eine umso stärkere Hinwendung zu ihm. Für die siebte Konferenz zeichneten die Theologische Fakultät Helsinki und die Akademie Abo gemeinsam verantwortlich. Erstmals wurde die Zählung der Konferenzen auf dem Programm deutlich: „7. Baltische Theologenkonferenz in Lärkulla/Karis - 18.-20. Juni 1968". Es gab kein Gesamtthema, historische und praktischtheologische Gesichtspunkte kamen vorwiegend zur Geltung. Ilmari Soisalon-Soininen (Helsinki) sprach über das ethische Moment in der frühisraelitischen Religion, Haendler (Rostock) über Staat und Kirche in der Vita Anscarii 10 , Bengt Sundkler (Uppsala) über Nathan Söderblom und Uppsala 1968. Zwei Praktische Theologen kamen zu Wort: William Nagel (Greifswald) behandelte das Thema „Abendmahl und Gemeindeaufbau", Georg Hoffmann (Kiel) „Die Struktur der Kirche in ihrem Spannungsgefüge". Zum Schluß referierte Bill Widén (Abo) über die Mission unter den Lappen. Es könnte so scheinen, als sei Luther kaum vorgekommen. Aber er kam täglich vor: Jeder Tag begann mit einer Morgenandacht in deutscher Sprache, in der die Teilnehmer gemeinsam Luthers Morgensegen beteten. Kirchen in Polen 1918-39; K. Skydsgaard (Kopenhagen): Offenbarung, Schrift und Tradition in der katholischen Theologie nach dem 2. Vatikanischen Konzil; E. Persson (Lund): Vaticanum II und die Ökumene. 10 Kyrkohistorisk Arsskrift 1969, S. 1-18.

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Die achte Konferenz von 14. bis 18. Juni 1969 wurde von der Theologischen Fakultät Rostock in Güstrow im „Haus der Kirche" veranstaltet im Rahmen der Feierlichkeiten zur 550-Jahrfeier der Universität Rostock. Mit 40 Teilnehmern, davon 20 Ausländern, wurde ein Höhepunkt in der Beteiligung erreicht. Ohne übergreifendes Thema werden doch zwei Schwerpunkte erkennbar. Zunächst wurden historische Themen verhandelt. Im Zusammenhang mit dem Universitätsjubiläum berichtete Gottfried Holtz über die Geschichte Güstrows und Haendler über die Geschichte der Theologischen Fakultät Rostock. Niels Knud Andersen informierte über das Kopenhagener Bekenntnis von 1530 im Vergleich zum Augsburger Bekenntnis, Gastpary über die Geschichte des Protestantismus in Polen, Ole Modalsli über Luthers ursprüngliche und neue Interpretation von Römer 1, 16-18 sowie Gotthard Nygren über die Theologie Augustins in der heutigen Ökumene. Die übrigen vier Vorträge betrafen das Gebiet der Ethik. Johan Hygen (Oslo) bot Betrachtungen über den Begriff „Wille Gottes", die in den „Zeichen der Zeit" zum Druck kamen u . Ein Höhepunkt war die Vorlesung von Wingren über das Ethos des klassischen Luthertums. Hier kam Luther reichlich zu Wort: seine Bejahung dieser Welt, seine Freude an der Schöpfung, seine Wertschätzung der beruflichen Arbeit; sehr plastisch wurde ein Lutherbild gezeichnet, mit dem moderne Menschen etwas anfangen können. Dozent Dr. Bengt J. Kilström (Uppsala) bot Lichtbilder mit Darstellungen der sieben Todsünden in der mittelalterlichen Bildkunst. Zum Abschluß sprach Bandt über „Das Gebot Gottes und die Gesetze der Gesellschaft". Die Diskussion über sein Referat führte dazu, daß man für das Jahr 1970 als Gesamtthema festlegte: „Das Gesetz und die Gesetze". Diese neunte Konferenz fand im Juni 1970 in Züssow bei Greifswald statt. Zum Generalthema sprachen der Alttestamentler Jepsen (Greifswald), der Neutestamentier Birger Gerhardsson (Lund), der Sozialwissenschaftler Ragnar Holte (Uppsala) und der Systematiker Logstrup (Aarhus). Ganz bewußt hatte man nur vier Vorträge geplant, um viel Zeit für die Diskussion zu behalten. Mehrfach kam man auf den Problemkreis „Gesetz und Evangelium" zu sprechen, mehrfach wurden Luther und andere Reformatoren ins Gespräch gebracht, - wie hätte es bei diesem Thema sonst auch sein sollen. Die zehnte Konferenz fand 1971 in Uppsala statt unter dem Gesamtthema „Tradition und Autorität". Man hatte diese Begriffe gewählt, weil sie umstritten waren und oft in einem überwiegend negativen Sinne verwendet wurden. Man wollte sich auf den positiven 11

Berlin 1970, S. 161-169.

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Sinn dieser alten Worte besinnen. Mit zehn Referaten war dazu fast eine Überfülle aufgeboten, die hier nur registriert werden soll 12 . Luther oder das Erbe der Reformation wird in keinem der zehn Referatsthemen genannt. Es wäre wohl auch schwierig gewesen, wenn man eine progressive Bewegung wie die Reformation Luthers mit den Worten Tradition und Autorität allzu eng hätte verbinden wollen. Insofern ist das Fehlen Luthers in den Referatsthemen durchaus konsequent. Es sei aber festgehalten, daß Luther in den Referaten von Bengt Hägglund und Hans-Joachim Birkner vorkam und daß er auch in den Diskussionen eine Rolle spielte. Die elfte Konferenz im Juni 1972 in Rostock stand unter dem Thema: „Die biblische Auffassung vom Menschen und Probleme der Imago-Dei-Lehre". Der Alttestamentler Jepsen (Greifswald) und der katholische Neutestamentier René Kieffer (Lund) erarbeiteten die biblischen Grundlagen, die Systematiker Wingren (Lund) und Helmuth Fritzsche (Rostock) erörterten die systematischen Aspekte des Problems. Luther spielte nur selten eine Rolle. Dafür kam die Gemeinsamkeit des lutherischen Erbes in einem Referat außerhalb des Gesamtthemas zu Wort: Haendler stellte den schwedischen Bischof Knut Henning Gezelius von Schéele in deutschsprachigen Quellen vor, der die Lutheraner nördlich und südlich der Ostsee in der Zeit um und nach 1900 stärker in Kontakt gebracht hatte und insofern als ein Ahnherr der Konferenzen betrachtet werden kann 1 3 . Die zwölfte Konferenz vom 17. bis 21. Juni 1973 in Lund erörterte das Thema „Kontinuität und Veränderlichkeit". Ringgren (Uppsala) und Jacob Jervel (Oslo) boten die biblischen Grundlagen; Carl-Gustav Andrén (Lund) sprach als Praktischer Theologe zum Thema. Die Reformation spielte eine wichtige Rolle im kirchengeschichtlichen Beitrag von Leif Grane (Kopenhagen). Gedruckt wurde der systematische Beitrag von Hellmut Bandt (Greifswald) 14 . 12 Traugott Holtz: Erwägungen zur Interpretation des AT im NT; Niels Gustav Holm (Kopenhagen): Autorität und Tradition; Paavo Kortekangas (Helsinki): Kirchensoziologische Gesichtspunkte zu Autorität und Tradition; Bengt Hägglund (Lund): Zur Begriffsgeschichte und zu den Erkenntnisgrundlagen von Autorität und Tradition; Siegfried Wagner (Greifswald): Offenbarungsphänomenologische Gesichtspunkte in den Bileamgeschichten des Numeribuches; Gösta Lindeskog (Abo): Autorität und Tradition im Neuen Testament; Helmuth Fritzsche (Rostock): Heutiger Wandel in der Auffassung von Autorität und Tradition und Grundlinien einer nichtautoritären Verkündigung; Ernst-Rüdiger Kiesow (Rostock): Autorität und Tradition als Problem für Gottesdienst und Seelsorge; Hans-Joachim Birkner (Kiel): Die Autorität der Heiligen Schrift; Bengt Sundkler (Uppsala): Tradition und Autorität als Problem der Jungen Kirchen. 13

GERT HAENDLER: Schwedisch-deutsche Kirchenbeziehungen 1901-1936. Berlin

1975, S. 1 6 - 3 3 . 14

Zuversicht und Verantwortung. Berlin 1980, S. 12-29.

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Bandt betont die Notwendigkeit beider Begriffe: Kontinuität muß gewahrt bleiben, aber zum christlichen Glauben gehört die Bereitschaft zur Veränderung. Für beide Anliegen wird Luther herangezogen. Kontinuität sah Bandt vor allem in der Bibel, für deren Verständnis Luthers Formel „Was Christum treibet" besonders hilfreich ist. Diese Formel kann immer wieder neu aktuell werden, so beispielsweise in der ersten These der Barmer Erklärung von 1934. Ebenso deutlich ist der Zusammenhang mit Luther bei dem Begriff Veränderlichkeit. Die Reformation hat Veränderungen bewirkt, seither sind weitergehende Veränderungen geschehen. Am Schluß seines Vortrages macht Bandt (S. 4) praktische Vorschläge, wie Christen heute die Kontinuität des Glaubens bewahren können bei aller Offenheit zu den Veränderungen der neusten Zeit. Bandt fordert 1: Christen müssen selbst die Botschaft verantworten, so wie einst die Propheten des Alten Testaments, wie Paulus oder wie Luther, der damit als wichtigster Zeuge aus der Kirchengeschichte genannt wird: „Luther ist zum Reformator der Kirche geworden, weil er den Mut hatte, die christliche Botschaft als viva vox evangelii für seine Welt und Zeit (gegen Papst und mittelalterliche Tradition) zu verantworten" (S. 25). Bandt fordert 2: Die christliche Botschaft muß in einer neuen Sprache gesagt werden: „Luther hat damals in der Sprache seiner Zeit gesprochen. Wir sprechen heute in der Kirche bestenfalls Luthers Sprache" (ebd.). Bandt fordert sodann ein neues Verstehen und auch (4.) ein neues Leben in unserer heutigen Welt. Als erster Zeuge für solche Möglichkeit wird Luther genannt: „Luther ist seiner Zeit diese Orientierung nicht schuldig geblieben, denken Sie nur an seine Schrift ,An den christlichen Adel' oder an seine Lehre vom Beruf. Aber in der Folgezeit ist dann das Leben der Christen immer mehr in zwei Sphären auseinandergeteilt worden, in eine persönlich-innerliche, die durch den Glauben bestimmt ist, und eine gesellschaftlich-äußere, in der man seine Pflicht tut, wie jeder andere ordentliche Bürger auch. Ich lasse es jetzt dahingestellt sein, wieweit diese Entwicklung durch Luthers Zwei-Reiche-Lehre mit veranlaßt worden ist. . ." (S. 28). Nun ist Bandt zwar durch ein gründliches Buch über Luther hervorgetreten 15 , dennoch würde man ihn gewiß nicht unter die konfessionell-lutherischen Theologen einreihen. Umso bemerkenswerter ist seine wiederholte Berufung auf Luther, der bei allem Festhalten an notwendiger Kontinuität doch offen war für Veränderungen und sich aktiv in solche hineingestellt hat, ja, sie entscheidend beeinflußt hat. Ein geschlossenes Bild bietet die dreizehnte Konferenz im Juni 15

Luthers Lehre vom verborgenen Gott. Berlin 1958.

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1974 in Greifswald. Zum Generalthema „Evangelium und Religion" wurden vier Vorträge gehalten; ähnlich wie bei der Greifswalder Tagung 1970 sollte viel Zeit zur Diskussion bleiben. Freilich sind für den Historiker nur die vier Vorträge greifbar, die in der Wissenschaftlichen Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität gedruckt wurden 16 . Die Frage nach der Rolle Luthers muß sich mit einem kärglichen Ergebnis bescheiden: Nur der Systematiker Erik Kyndal (Aarhus) ging in einer theologiegeschichtlichen Skizze auf Luther ein. Kyndal betonte die besondere Stellung Luthers, weil er „die Religion in die Perspektive der Rechtfertigungslehre rückt: Wer auf seine eigenen Werke traut oder bei Gott heimlich doch nur seine eigene Ehre oder Befriedigung sucht, der glaubt eben nicht an Gott, er betet den wahren Gott nicht an, obwohl er selbst meint, Christ zu sein . . (S. 201). Zum Schluß will Kyndal sagen, was er unter Evangelium versteht, - und dazu beruft er sich erneut auf Luther: „Das Evangelium ist kurz (mit Luther zu sprechen) eine Rede, Historia, Legenda von Christo" (S. 209). In den Diskussionen hat Luther eine größere Rolle gespielt, aber die Einzelheiten sind nicht mehr faßbar. Vor der gleichen Problematik steht der Historiker bei der vierzehnten Konferenz, die im Juni 1975 von der Theologischen Fakultät Helsinki in Järvenpää durchgeführt wurde. Die Referate sind gedruckt, das Gesamtthema „Taufe und Heiliger Geist" wurde in sechs Vorträgen behandelt 17 . Einer der Vorträge betraf Luther; Lorenz Grönvik (Helsinki) hatte sich vorher bereits durch ein gründliches Buch über diese Thematik einen Namen gemacht 18 . Luthers Bedeutung in den Diskussionen ist nicht mehr festzustellen.

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Jg. XXIV, 4, 1975, gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe: H A N S - J Ü R Der kanaanäische Hintergrund der Vorstellung vom lebendigen Gott. Jahwes Verhältnis zu El und Baal (S. 187-194); GÜNTER H A U F E (Greifswald): Evangelium und Religion nach dem Neuen Testament ( S . 195-200); ERIK KYNDAL (Aarhus): Religion und Evangelium ( S . 201-212); ERNST-RÜDIGER KIESOW (Rostock): Evangelium und Religion bei den Kasualien (S. 213-218). 17 Taufe und Heiliger Geist. Schriften der Luther-Agricola-Gesellschaft. A 18. Helsinki 1 9 7 9 . Darin: KLAUS-DIETRICH SCHUNCK (Rostock): Wesen und Wirken des Geistes nach dem Alten Testament ( S . 7—30); GÜNTER H A U F E (Greifswald): Taufe und Heiliger Geist im Urchristentum (S. 3 1 - 4 1 ) ; PENTTI LEMPIÄINEN (Helsinki): Der neue katholische Kindertaufritus (S. 4 2 - 6 0 ) ; G E R T WENDELBORN (Rostock): Taufe und Heiliger Geist bei Wiedertäufern und Baptisten ( S . 6 1 - 8 8 ) ; NILS E . BLOCH-HOELL (Oslo): Der Heilige Geist in der Pfingstbewegung und in der charismatischen Bewegung (S. 8 9 - 1 0 5 ) ; LORENZ GRÖNVIK (Helsinki): Taufe und Heiliger Geist in der Sicht der Theologie Luthers (S. 1 0 6 - 1 2 1 ) . " Die Taufe in der Theologie Martin Luthers. Abo 1968 (Acta Academiae Aboensis. Serie A. Vol. 36 Nr. 1). GEN ZOBEL:

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Die fünfzehnte Konferenz wurde von der Sektion Theologie der Wilhelm-Pieck-Universität Rostock in Tessin im Juni 1976 durchgeführt unter dem Thema „Theologie der Schöpfung". Zehn Referate wurden gehalten 19 , die Beiträge der Rostocker Referenten konnten in einem Heft gedruckt werden 20 . Luther und die Reformation spielten eine geringe Rolle. Im kirchengeschichtlichen Beitrag wird festgestellt: „Am nächsten würde es liegen, die Bedeutung der Schöpfung für Martin Luther darzustellen, dessen Erbe sich die hier versammelten Theologen aus den Ostseeländer verpflichtet wissen. Aber der schwedische Theologe Löfgren hat dieses Thema erschöpfend dargestellt in seinem Buch ,Die Theologie der Schöpfung bei Luther', 1960 . . ." (S. 33). H. Fritzsche entschuldigt in seinem Beitrag „Luthers Eintreten für das der Anschauung entgegenkommende geozentrische Weltbild" (S. 57); später bietet er ein Lutherzitat: „Man muß beten, als ob alles Arbeiten nichts nützt, und arbeiten, als ob alles Beten nichts nützt" (S. 80). Die sechzehnte Konferenz im Juni 1977 in Kopenhagen stand unter dem Thema „Die Bibel als Rahmen der theologischen Disziplinen". Es sprachen die Exegeten Hans Jürgen Zobel (Greifswald) und Hans-Friedrich Weiß (Rostock) 21 . Niels Hyldahl (Kopenhagen) erörterte das marcionitische Mißverständnis, Leif Grane (Kopenhagen) berichtete über das grundtvigianische Fragezeichen an die Schrifttheologie. Es sieht so aus, als ob man Luther ganz ausgespart hätte. Aber der Systematiker Inge Lonning (Oslo) ließ in seinem Referat „Dogmatik als Schriftauslegung" auch Luther zu Wort kommen. Am Schluß stellte Hans Hof (Uppsala) „Religionsphilosophische Fragen zur Beziehung zwischen Bibel und Gotteserfahrung" und gab damit das Stichwort für die nächste Konferenz. Die siebzehnte Konferenz fand vom 12. bis 15. Juni 1978 in Greifswald statt mit dem Thema: „Theologie und Erfahrung". Unter 19 Es sprachen die Alttestamentler Arvid Kapelrud (Oslo) und Helmer Ringgren (Uppsala), die Neutestamentier Jukka Thurén (Abo) und Hans-Friedrich Weiß (Rostock), der Kirchenhistoriker Gert Haendler (Rostock), die Systematiker Gustaf Wingren (Lund) und Helmuth Fritzsche (Rostock), der Ökumeniker Gert Wendelborn (Rostock) sowie die Praktischen Theologen Günther Kehnscherper (Greifswald) und Ernst-Rüdiger Kiesow (Rostock). 20 Beiträge zur Theologie in Geschichte und Gegenwart. Rostock 1976, mit den Beiträgen von H. F. WEiß: Schöpfung in Christus (S. 24-32); G. HAENDLER: Der Schöpfungsglaube in den Konfessionen Augustins (S. 33-41); G. WENDELBORN: Theologie der Schöpfung in ökumenischer Sicht (S. 42-53); E.-R. KIESOW: Die anthropozentrische Verengung in der Schöpfung (S. 54-59); H. FRITZSCHE: Historische und aktuelle Aspekte zum Verhältnis des Christentums zur Naturwissenschaft (S. 60-81). 21 Zobel: „Altes Testament - Literatur und heilige Schrift"; Weiß: „Grundfragen einer biblischen Theologie".

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diesem Titel konnten einige Beiträge als Sonderheft in Greifswald gedruckt werden 22 . Zwei Beiträge gingen ausführlicher auf Luther ein. Der Kirchenhistoriker Hans Günther Leder (Greifswald) bot „Aspekte des Problems der Glaubenserfahrung bei Thomas Müntzer (und Martin Luther)". Der Unterschied zwischen Müntzer und Luther wird in die Sätze gefaßt: „Der Glaube, den Luther predigte, beruht nach Müntzer auf dem fundamentalen Mißverständnis, der in seiner Bindung an die Kreatürlichkeit in eine unendlich große Distanz zu Gott geratene Mensch könne im bloßen Zugriff zum in der Schrift vorliegenden Gotteswort Gottes selber gewiß werden. Demgegenüber trat Müntzer als Anwalt eines Glaubensverständnisses auf, für das es von vornherein ausgeschlossen erschien, daß das Zum-Glauben-Kommen eine dem Menschen als solchen ohne vorhergehende tiefgreifende Wandlung zuteilwerdende Möglichkeit darstelle. Für den nicht bereits vorbereiteten' Menschen bleibt daher nach Müntzer auch die Schrift totes Wort" (S. 61). Leder sieht aber auch Gemeinsamkeiten und drückt sie so aus: „Gerade bei Müntzer und Luther ist - bei aller Unterschiedenheit ihrer Standpunkte - deutlich geworden, daß die Glaubenserfahrung letztlich der Verfügbarkeit menschlichen Zugriffe verschlossen ist, und daß sie nichts mit einem wie auch immer gearteten allgemein einsichtigen Erfahrungsbeweis für die Existenz Gottes zu tun hat" (S. 63/64). Leder zieht geistesgeschichtliche Linien von der Reformationszeit her: „Für Müntzer kann Glaube nur erfahrener Glaube sein - im Sinne geistgewirkter radikaler Existenzverwandlung des Menschen als Ermöglichung erfahrenen Glaubens; - im Pietismus und dann auch in der Erlanger Erfahrungstheologie Franks findet diese Existenzverwandlung ihren Ausdruck in der Wiedergeburtsvorstellung. Demgegenüber erscheint bei Luther die Erfahrung des Glaubens als etwas zum Glauben Hinzutretendes, als Zeugnis der Wahrheit, als subjektive Vergewisserung des Geglaubten im Sinne der Gewissenserfahrung" (S. 65). Es ist interessant, daß auf derselben Konferenz der Rostocker Praktische Theologe Ernst-Rüdiger Kiesow ebenfalls ein Thema nannte, das eine Vokabel der Reformation aufgriff: „Die Erfahrung der Rechtfertigung in der seelsorgerlichen Annahme". Kiesow wendet sich gegen ein Auseinanderreißen von göttlicher Rechtfertigung 22

Greifswald 1979, mit den Beiträgen: TIMO VEIJOLA (Helsinki): Theologische Erfahrungen ohne theologische Sprache (S. 5-28); H. G. LEDER (Greifswald): Aspekte des Problems der Glaubenserfahrung bei Thomas Müntzer (und Martin Luther) (S. 29-79); CARL-REINHOLD BRAKENHIELM (Uppsala): Theologie und Erfahrung

(S. 80-102); E.-R. KIESOW (Rostock): Die Erfahrung der Rechtfertigung in der seelsorgerlichen „Annahme" (S. 103-114).

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und menschlicher Annahme, von geglaubter Rechtfertigung und erlebter Seelsorge. Rechtfertigung ist „ein wirksames Handeln Gottes an geschichtlichen, glaubenden Menschen, das freilich oft unaufweisbar und immer unverfügbar bleibt. Der Glaube wird bei dieser Sicht nicht etwa an die zweite Stelle, hinter die Erfahrung gerückt, sondern selbst als Erfahrung qualifiziert" (S. 110). Von da aus kommt Kiesow direkt auf Luther zu sprechen: „Wir wissen mit Luther, daß Glaube bzw. der assensus Erfahrungen freisetzt, wir sehen heute aber deutlicher als frühere Generationen, daß umgekehrt auch der Glaube immer schon durch empirische Erfahrung vermittelt ist (z.B. durch »religiöse Sozialisation'). Dem widerspricht nicht die theologische Wahrheit, daß Glaube oft gegen den Augenschein, wider die äußere Erfahrung (und ,para tän doxän') steht; denn gerade das ereignet sich ja in der Annahme des menschlich und moralisch Unannehmbaren real: Dem, der sich selber für unannehmbar halten muß, wird von seinen Mitchristen wider Erwarten die menschliche Akzeptation sowie in, mit und unter ihr auch die göttliche Akzeptation zuteil" (S. 111). Gerade diese Formel „in, mit und unter" kommt ja von Luthers Abendmahlslehre her und wird hier in eine moderne Diskussion hineingebracht, - gewiß nicht zufällig und gewiß nicht zum Schaden der Sache. Kiesow kommt später noch einmal auf Luther zurück. Zum Thema „Glaube und Erfahrung" erinnert Kiesow an Luthers Beichtformular, das die Frage des Beichtvaters enthält: „Glaubst du auch, daß meine Vergebung Gottes Vergebung sei?" (ebd.). Der Sinn dieser Beichtfrage soll mit die Auffassung stützen, daß man nicht nur von einer Analogie zwischen Annahme und Rechtfertigung sprechen kann, „sondern auch davon, daß in der mitmenschlichen Akzeptation Gott selber handelt" (ebd.). Die beiden letzten Konferenzen sind für unsere Fragestellung weniger ergiebig. Die achtzehnte Konferenz in Oslo vom 17. bis 20. Juni 1979 untersuchte die Verbindung der einzelnen theologischen Fächer zur Theologie. Martin R. Hauge fragte „Was macht die alttestamentliche Wissenschaft zur Theologie?". Nach ihm stellte Günther Haufe die Frage „Was macht die neutestamentliche Wissenschaft zur Theologie?". Pontoppidan Thyssen erörterte das Thema von der Kirchengeschichte her, Fritzsche stellte sich dem Thema „Was macht die Systematische Theologie zur Theologie?", wozu Ragnar Holte (Uppsala) noch ein Korreferat bot. Schriftlich zugänglich ist mir nur der Beitrag von Fritzsche 23 , der einmal Worte aus Confessio Augustana VII zitiert, „daß das Evangelium recte docetur et recte administrantur sacramenta" (S. 791). Auch die Unter25

In: ThLZ 104, 1979, Sp. 785-795.

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Scheidung zwischen Gesetz und Evangelium spielt eine Rolle (S. 794), ohne daß dabei aber der Name Luthers genannt würde. Die neunzehnte Konferenz in Güstrow hatte eine aufschlußreiche Vorgeschichte: Es war an eine Konferenz gedacht worden, die auf das Jubiläum des Augsburger Bekenntnisses eingehen sollte. Aber es kam dann doch zu einer anderen Thematik, die nicht so sehr historische als vielmehr aktuelle Bedeutung haben sollte: „Gott und Gottessymbole". Hans Hof (Uppsala) stellte dazu religionsphilosophische Erörterungen an, Peter Heidrich (Rostock) brachte zahlreiche Beispiele aus der Fülle der Religionsgeschichte, Lars Hartmann (Uppsala) stellte Fragen nach dem Gottesbild der Johannes-Apokalypse. Der dogmengeschichtliche Beitrag von Bengt Hägglund (Lund) stellte Sprachregeln in der Gotteslehre in den Vordergrund. Ernst-Rüdiger Kiesow (Rostock) sprang für einen verhinderten Kollegen ein mit dem Thema „C. G. Jungs Antwort an Hiob als Beitrag zu unserem Gottesbild"; Gotthard Nygren (Abo) berichtete über moderne Literatur unter der Überschrift „Der abwesende Gott". Abschließend berichtete der Greifswalder Dozent für Systematik Dr. Bernd Hildebrandt umfassend über „Strukturelle und aktuelle Schwierigkeiten mit dem symbolischen Reden von Gott". Zusammenfassend kann man sagen: Von allen kirchengeschichtlichen Epochen, die auf den Konferenzen eine Rolle spielten, steht die Reformationszeit mit Abstand an erster Stelle. Von der Systematik her kamen Luther oder lutherische Bekenntnisschriften häufig zu Worte, Bemühungen um eine Aktualisierung Luthers waren mehrfach erkennbar (Wingren, Bandt). Bei den Exegeten ist es schwer feststellbar, inwieweit Luther für ihre Arbeit eine Rolle spielt. Bei der Praktischen Theologie konnte Luther mitunter überraschend aktuell sein, wie Kiesows Vortrag 1978 zeigte. Aber es sollte hier nicht um eine prozentuale Messung des Anteils gehen, den Luther auf den Konferenzen hatte. Das Bild ist auf den einzelnen Konferenzen verschieden gewesen. Insgesamt sollte sich aber doch ein deutliches Gesamtbild ergeben haben: Eine große Vielfalt, mit der man an Luther erinnert oder ihn in Anspruch nimmt, konnte nachgewiesen werden.

Konferenzen der Hochschultheologen der Ostseeländer von 1961 bis 1980 1. Greifswald, 4.-5. Juli 1961 Referenten: Ragnar Bring, Lund (Systematische Theologie); Ernst Kahler, Greifswald (Kirchengeschichte); Knud E.

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Legstrup, Aarhus (Systematische Theologie); Per Erik Persson, Lund (Systematische Theologie); Gottfried Holtz, Rostock (Praktische Theologie). 2. Rostock, 15.-17. Juni 1963 Referenten: Lennart Pinomaa, Helsinki (Kirchengeschichte); Heinrich Benckert, Rostock (Systematische Theologie); Karl-Heinz Bernhardt, Rostock (Altes Testament); Gottfried Holtz, Rostock (Praktische Theologie); Gert Haendler, Rostock (Kirchengeschichte). 3. Greifswald, 16.-18. Juni 1964 Referenten: Harry Aronson, Lund (Praktische Theologie); Helmer Ringgren, Abo (Altes Testament); Karl-Heinz Bernhardt, Rostock (Altes Testament); Knud E. Logstrup, Aarhus (Systematische Theologie); Heinrich Benckert, Rostock (Systematische Theologie); Lauri Haikola, Helsinki (Systematische Theologie); Leif Aalen, Oslo (Systematische Theologie)· 4. Rostock, 14.-17. Juni 1965 Referenten: Gustaf Wingren, Lund (Systematische Theologie); Sverre Aalen, Oslo (Neues Testament); Bent Noack, Kopenhagen (Neues Testament); Anders Pontoppidan Thyssen, Aarhus (Kirchengeschichte); Woldemar Gastpary, Warschau (Kirchengeschichte); Niels H. See, Kopenhagen (Systematische Theologie); Evald Lövestam, Lund (Neues Testament); Alfred Jepsen, Greifswald (Altes Testament). 5. Greifswald, 14.-17. Juni 1966 Referenten: Gösta Lindeskog, Abo (Neues Testament); Markus Barth, Greifswald (Neues Testament); Konrad Weiß, Rostock (Neues Testament); Edvin Larsson, Oslo (Neues Testament); Helmer Ringgren, Uppsala (Altes Testament); Kristen Skydsgaard, Kopenhagen (Systematische Theologie); Per Erik Persson, Lund (Systematische Theologie); Woldemar Gastpary, Warschau (Kirchengeschichte). 6. Lund, 5.-8. Juni 1967. Thema: Bibel und Reformation Referenten: Karl-Heinz Bernhardt, Rostock (Altes Testament); Birger Gerhardsson, Lund (Neues Testament); Lennart Pinomaa, Helsinki (Kirchengeschichte); Gustaf Wingren, Lund (Systematische Theologie); Helge Nyman, Abo (Praktische Theologie). 7. Helsinki (in Lärkulla), 18.-20. Juni 1968 Referenten: Ilmari Soisalon-Soininen, Helsinki (Altes Testament); Gert Haendler, Rostock (Kirchengeschichte); William Nagel, Greifswald (Praktische Theologie); Georg Hoffmann, Kiel (Praktische Theologie); Bengt Sundkler, Uppsala (Missionswissenschaft); Bill Widén, Abo (Kirchengeschichte).

Zur Bedeutung Martin Luthers 1961 bis 1980

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8. Rostock (in Güstrow), 14.-18. Juni 1969 Referenten: Niels Knud Andersen, Kopenhagen (Kirchengeschichte); Gottfried Holtz, Rostock (Praktische Theologie); Gert Haendler, Rostock (Kirchengeschichte); Gotthard Nygren, Abo (Systematische Theologie); Woldemar Gastpary, Warschau (Kirchengeschichte); Ole Modalsli, Oslo (Kirchengeschichte); Johan Hygen, Oslo (Systematische Theologie); Gustaf Wingren, Lund (Systematische Theologie); Bengt I. Kilström, Uppsala (Praktische Theologie); Hellmut Bandt, Greifswald (Systematische Theologie). 9. Greifswald (in Züssow), 15.-19. Juni 1970. Thema: Gesetz und Gesetze Referenten: Alfred Jepsen, Greifswald (Altes Testament); Birger Gerhardsson, Lund (Neues Testament); Ragnar Holte, Uppsala (Systematische Theologie); Knud E. L0gstrup, Aarhus (Systematische Theologie). 10. Uppsala, 22.-24. 6. 1971. Thema: Tradition und Autorität Referenten: Traugott Holtz, Greifswald (Neues Testament); Niels Gustav Holm, Kopenhagen (Systematische Theologie); Bengt Hägglund, Lund (Systematische Theologie); Siegfried Wagner, Greifswald (Altes Testament); Gösta Lindeskog, Abo (Neues Testament); Helmuth Fritzsche, Rostock (Systematische Theologie); Ernst-Rüdiger Kiesow, Rostock (Praktische Theologie); Hans-Joachim Birkner, Kiel (Systematische Theologie); Bengt Sundkler, Uppsala (Missionswissenschaft) . 11. Rostock, 26.-30. Juni 1972. Thema: Die biblische Auffassung vom Menschen Referenten: Helmuth Fritzsche, Rostock (Systematische Theologie); Alfred Jepsen, Greifswald (Altes Testament); René Kieffer, Lund (Neues Testament); Gustaf Wingren, Lund (Systematische Theologie); Gert Haendler, Rostock (Kirchengeschichte). 12. Lund, 17.-21. Juni 1973. Thema: Kontinuität und Veränderlichkeit Referenten: Helmer Ringgren, Uppsala (Altes Testament); Jacob Jervell, Oslo (Neues Testament); Leif Grane, Kopenhagen (Kirchengeschichte); Hellmut Bandt, Greifswald (Systematische Theologie); Carl-Gustav Andrén, Lund (Praktische Theologie). 13. Greifswald, 25.-27. Juni 1974. Thema: Evangelium und Religion Referenten: Hans-Jürgen Zobel, Greifswald (Altes Testament); Günter Haufe, Greifswald (Neues Testament); Erik Kyndal, Aarhus (Systematische Theologie); Ernst-Rüdiger Kiesow, Rostock (Praktische Theologie). 14. Helsinki (in Järvenpää), 23.-26. 6. 1975. Thema: Taufe und Heiliger Geist Referenten: Klaus-Dietrich Schunck, Rostock (Neues Testament);

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Gert Haendler Günter Haufe, Greifswald (Neues Testament); Gert Wendelborn, Rostock (Kirchengeschichte); Pentti Lempiäinen, Helsinki (Praktische Theologie); Nils E. Bloch-Hoell, Oslo (Kirchengeschichte); Lorenz Grönvik, Helsinki (Kirchengeschichte).

15. Rostock (in Tessin), 20.-24. Juni 1976. Thema: Theologie der Schöpfung Referenten: Arvid Kapelrud, Oslo (Altes Testament); Helmer Ringgren, Uppsala (Altes Testament); Jukka Thurén, Abo (Neues Testament); Hans-Friedrich Weiß, Rostock (Neues Testament); Gert Haendler, Rostock (Kirchengeschichte); Gert Wendelborn, Rostock (Kirchengeschichte); Gustaf Wingren, Lund (Systematische Theologie); Helmuth Fritz sche, Rostock (Systematische Theologie); Günther Kehnscherper, Greifswald (Praktische Theologie); Ernst-Rüdiger Kiesow, Rostock (Praktische Theologie). 16. Kopenhagen, 20.-22. Juni 1977. Thema: Die Bibel als Rahmen der theologischen Disziplinen Referenten: Hans-Jürgen Zobel, Greifswald (Altes Testament); HansFriedrich Weiß, Rostock (Neues Testament); Niels Hyldahl, Kopenhagen (Neues Testament); Inge Lenning, Oslo (Systematische Theologie); Leif Grane, Kopenhagen (Kirchengeschichte); Hans H o f , Uppsala (Religionswissenschaft). 17. Greifswald, 12.-15. Juni 1978. Thema: Theologie und Erfahrung Referenten: Timo Veijola, Helsinki (Altes Testament); Hans-Günther Leder, Greifswald (Kirchengeschichte); Carl-Reinhold Brâkenhielm, Uppsala (Systematische Theologie); ErnstRüdiger Kiesow, Rostock (Praktische Theologie). 18. Oslo, 17.-20. Juni 1979. Thema: Die Verbindung der theologischen Fächer zur Theologie Referenten: Martin R. Hauge, Oslo (Altes Testament); Günter Haufe, Greifswald (Neues Testament); Helmuth Fritzsche, Rostock (Systematische Theologie); Ragnar Holte, Uppsala (Systematische Theologie). 19. Rostock (in Güstrow), 15.-19. 6. 1980. Thema: Gott und Gottessymbole Referenten: Hans H o f , Uppsala (Religionswissenschaft); Peter Heidrich, Rostock (Religionswissenschaft); Lars Hartmann, Uppsala (Neues Testament); Bengt Hägglund, Lund (Systematische Theologie); Gotthard Nygren, Abo (Systematische Theologie); Bernd Hildebrandt, Greifswald (Systematische Theologie). 20. Turku, Juni 1981.

H A N N U HEIKKILÄ

English Reactions on the Situation of the Churches in Finland and Scandinavia 1940-

1941

The Second World War as a total war touched every social class in all the countries which participated in it and all the aspects of social life had to be united to accomplish the national war aims. The churches also played an active part in creating the spiritual atmosphere in every country. The Church of England was willing to act thus too. In its meeting in October 1939 The Council of Foreign Relations of the Church of England, Bishop Arthur Cayley Headlam being the chairman, discussed the significance of religious propaganda during the war. Some members of the Council wanted to influence English foreign propaganda actively. It was concluded at this meeting that the official propaganda by the state authorities was not as effective among churchmen as that produced by the interaction between the churches themselves. Representatives of the Church considered* it important to increase the activities of the Religious Division of the Ministry of Information especially in the Balkan and Scandinavian countries 1 . The Ministry for its part was very pleased with the activity of the Church since religious propaganda was held to be effective, though to be successful it had to be put into practice discretely and demanded that the church take part in spreading this propaganda 2 . In 1939 some churchmen wanted to describe the war against Nazism as a Christian war against evil, but this position had to be reversed in June 1941 when, all unexpectedly and often unwantedly, Britain found herself allied to the Soviet Union. Germany understandably took advantage of the situation in its propaganda. Within the Anglican Church, however, the post 1941 conception of the war by

1 Council of Foreign Relations of the Church of England to Ministry of Information ( = M o l ) , 20. 10. 1939 (Public Record Office [ = P R O ] I N F 1:398). 2 Memorandum on contacts with Orthodox and Old Catholic Churches, 25. 10. 1939 (ebd.).

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Hannu Heikkilä

the English political leadership was readily accepted. The war could no longer be seen as a battle between Christianity and atheism. Every nation had the right to be independent regardless of religion of the inhabitants and thus Germany's attack against the Soviet Union was to be condemned as was its attack against Catholic Poland and Protestant Norway. English alliance with the Soviet Union was aimed at defeating Hitler 3 . Although the Soviet Union's official attitude on religion was not an openly discussed matter in the relations of the Allied Countries, English propaganda authorities found this subject very problematic. Finland's reaction towards Britain's situation was exceptionally strong, but in Sweden the British alliance with the Soviet Union was also met with suspicion. Norway was a positive exception for England because the church became one of the strongest organizations opposing Germany 4 . In the United States there were grave doubts about the justification of being allied with a country which had suppressed activities of the churches for the last two decades and was very likely to continue to do so after the war. President Roosevelt took into consideration the fact that there was a possibility of the churches openly opposing the assistance shipments to the Soviet Union known as Lend-Lease program. Active measures were taken by the White House to suppress the opposition within the churches. Thus in September 1941 Rôosevelt advised Pope Pius XII that „leaders of all churches in the United States should not by their present attitude on this question directly assist Germany in her present objectives." The opposition within the American churches was never expressed forcefully, but on the other hand comments criticizing the Soviet Union didn't totally disappear 5 . In Finland the war was experienced not only as a justified battle of a small country against a super power but also as a defence of Christianity against attacks by atheism. In this situation the attitude of England roused concern. The British Ministry of Information was for its part concerned about the growing interaction between the Finnish and German Lutheran Churches. The Ministry wanted to increase its propaganda towards Finland but it didn't have the means that Germany had. External services of the BBC were the most ef-

3

Foreign Office ( = FO) to Mol 24. 6. 1941 (ebd., 790). The Question of Religion in Russia: its Bearing on Allied Propaganda 1. 10. 1941 (ebd.). 5 J O H N LEWIS G A D D I S : The United States and the Origins of the Cold War 1941-1947. Columbia University Press 1972, S.40-41. 4

English Reactions on the Situation 1940-1941

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fective media to make English views known whereas direct communication between English and Finnish Churches was not as active as that between Germany and Finland. In the spring of 1941 the Religious Division at the Ministry of Information considered its possibilities to increase propaganda in Finland. The best way to do this was to ask the Reverend Toivo Harjunpää who at the time was working in London among Finnish seamen to send material to the leading Finnish church paper „Kotimaa". In this way some satisfactory results were achieved6. When the Archbishop of Canterbury, Cosmo Gordon Lang, announced his acceptance of the co-operation between England and the Soviet Union the Finnish church leadership faced a serious dilemma. The Finnish clergy had close connections with Lutheran Germany but the churches in England were also known to hold an important position. In this situation the churches of the Nordic countries were rather reserved in their attitudes on Germany and thus the Finnish clergy was actively supported by the German Lutheran Church only. When the Archbishop of Canterbury expressed a crusade-like attitude on Nationalsocialist Germany as the Finns had on the Soviet Union the Finnish church leadership expressed its irritation because of the views of the Anglican Church. Articles condemning English attitudes continued until the end of 1941 in Finnish news papers 7 . Reactions in Finland were stronger than expected and this was the reason why the Ministry of Information wanted once more to try and change the Finnish opinion. When the diplomatic connections between England and Finland were broken the Reverend Harjunpää had to discontinue his deliveries to Finland. The situation was difficult for the Ministry, Finland being an enemy country. In September 1941, however, a message was sent to the Finnish church leadership to decrease irritation in Finland. To convey this kind of message the Ministry needed a person or organization with prestige but independent of state administration. Their choice was the Bishop of Gloucester A. C. Headlam, who was known to have personal contacts with the Archbishop of Finland, Erkki Kaila. The Ministry didn't want to take part officially in forming the message but took care of transfering it to Finland via Stockholm 8 . In his letter Headlam referred to the unfortunate development after 1939 which had caused England and Finland to go in different directions. The alliance with the So6 7 8

Mol Minute 20. 5. 1941 (PRO INF 1:772). EINO MURTORINNE: Veljeyttä viimeiseen saakka. Helsinki 1975, S. 89-101. Mol Minute 14. 9. 1941 (PRO INF 1:772).

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Hannu Heikkilä

viet Union didn't mean he said that Britain supported atheism. In fact there were changes to be seen in the Soviet church policy whereas in Germany the attitude on Christianity was definately hostile. That is why the Bishop warned Finland that after the possible victory of Germany Finland would never be allowed to follow her democratic tradition but she would become a satellite country. The Allied Countries, on the other hand, would treat Finland justly 9 . The letter by the Bishop of Gloucester had no visible effect on the Finnish church leadership. In a way the letter meant breaking off the relations between the English and Finnish churches. The only thing to be done was to wait until the war was over and hope that it would be possible to co-operate again. It is understandable that during the war Britain and the United States waited for signs of changes in the Soviet policy related to churches. In the letter by Bishop Headlam there were remarks that show the British had liked to notice a positive change of attitude in the Soviet Union as early as in September 1941. The anti-religious propaganda in the Soviet Union ceased when the war broke out but otherwise the situation remained as before. The Ministry of Information was not at all pleased with the situation and expected to see more visible changes. The idea of trying to influence the Soviet leaders' attitudes on church policies was often expressed. The Anglican Church also suggested that the Soviet Union should openly be advised to allow her churches to operate freely. According to the English policy, however, all the factors that could disturb the co-operation between England and the Soviet Union were to be avoided. Because there was the possibility that the British attempts to increase interaction between the churches could be interpreted by Moscow as a hostile act against the Soviet system no such initiatives were taken in London. It was not until autumn of 1942 that the Soviets first attempted to use interaction between the Anglican and Orthodox Churches in the allied propaganda. Among other things this led to the visit of the representatives of the Anglican Church to the Soviet Union.

' Headlam to Kaila 17. 9. 1941 (ebd.).

M A R K K U HEIKKILÄ

Die Zeitung „Kotimaa" und das neuvolkskirchliche Programm in Finnland 1940-1975 Untersuchungen von Presseorganen haben in den letzten Jahren in Finnland im Rahmen der profanen Geschichtsschreibung einen beachtlichen Stellenwert gewonnen. Die gesamte Presselandschaft war Gegenstand eines umfassenden Forschungsprojekts. Die dabei entwickelten Methoden wurden auch zur Untersuchung der 1905 gegründeten Zeitung „Kotimaa" angewandt. Das finnische Wort „kotimaa" bedeutet „Heimatland", einerseits das irdische und nationale, andererseits das himmlische. In diesem Beitrag werden einige Ergebnisse der auf die Jahre 1940 bis 1975 beschränkten Untersuchung der Leitartikel von „Kotimaa" vorgelegt. Die Leitartikel sind zwar nur ein kleiner Teil einer Zeitung (vgl. Tabelle 1), aber sie spiegeln ausdrücklich die Linie der Redaktion wider. Zunächst ein paar Worte zu dem Begriff „Neuvolkskirchlichkeit", der in Finnland in bestimmten Zusammenhängen gebraucht wird. Mit dem Begriff „Volkskirche" sollte Anfang dieses Jahrhunderts in Finnland die nationale Einheit betont werden; die Kirche sollte dabei das ethisch-moralische Rückgrat der Nation sein. Dieses Programm wurde wiederbelebt durch die Erfahrungen, die die Feldgeistlichen in den Kriegsjahren 1939/40 und 1941-1944 machten. Sie erlebten das Handwerk des Soldaten an der Front hautnah mit und begannen nun nach dem Krieg das Gespräch über die soziale Verantwortung der Christenheit. Die Kirche und ihre Arbeit in den verschiedenen Bereichen sollte unter das Volk gebracht werden. Hinter diesem Programm standen auch die meisten Erwekkungsbewegungen des 19. Jahrhunderts. Die „Kotimaa"-Gründer waren bestrebt, eine christlich-soziale Zeitung zu schaffen, die die Gesellschaft des sich im Umbruch befindenden finnischen Christenvolkes repräsentieren sollte. Das dänische „Kristelig Dagblad" war eines der internationalen Vorbilder der ersten Jahre. „Kotimaa" erschien anfangs dreitägig, und es war beab-

Markku Heikkilä

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Tabelle 1: Inhalt von „Kotimaa" 1930, 1940, 1950 und 1960 Krieg

Anzeigen

Unterhaltung Leserbriefe Reportagen

Kolumnen

Artikel Ausland (Nachrichten) Heimat

Leitartikel 1930

1940

1950

1960

sichtigt, sie zu einer öfter erscheinenden christlichen Tageszeitung zu entwickeln. Das Ziel, sie häufiger erscheinen zu lassen, ließ sich jedoch nicht realisieren. Während das Blatt in den Jahren um 1910 Überlegungen über die einzuschlagende Richtung anstellte, mußte es auch konstatieren, daß die wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine Expansion nicht ausreichten. Bereits in der Zeit zwischen den Weltkriegen stabilisierte sich die Position des Blattes, doch gleichzeitig wandelte es sich inhaltlich und wurde eine spezifisch kirchliche Zeitung. Dennoch blieb „Kotimaa" der Arbeitsauffassung der ersten Jahre treu: sie strebte danach, außer Fragen kirchlichen und theologischen Inhalts auch dem Geschehen im Inland und in der Welt Beachtung zu schenken. Die Zeitung stellte noch Anfang der vierziger Jahre ein Organ des Kirchenvolkes dar. Ohne aktive Christen, die sich ihrer Verantwortung bewußt waren, war die Existenz der Zeitung nicht gesichert, sie genügte dennoch vielen Lesern als einzige Zeitung. Gegen Ende der vierziger Jahre erhöhten die wichtigsten Tageszeitungen durch intensive Anzeigenwerbung die Voraussetzungen

Die Zeitung „Kotimaa" 1940-1975

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für ihre größere Verbreitung. „Kotimaa" wurde dadurch endgültig gezwungen, ihre Funktion als eine kirchlich orientierte Zeitung mit einem besonderen Auftrag zu überprüfen. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten hat „Kotimaa" jedoch weiterhin den Plan verfolgt, neben der kirchlich-theologischen Entwicklung auch die Wandlungstendenzen der Gesellschaft und das aktuelle Geschehen im Inland wie im Ausland zu beobachten. Bei der Klassifizierung aller Leitartikel wurde besonders auf zwei grundlegende Blickwinkel und deren Verhältnis zueinander geachtet. Die durch das erste Schaubild verlaufende fette, gebrochene Linie teilt die Leitartikel einerseits in theologisch-kirchliche und andererseits in gesellschaftliche Artikel. Anhand der Variationen dieser zwei Grundperspektiven allein können schon einige interessante Beobachtungen gemacht werden. Während der gesamten dreißiger Jahre war der Anteil gesellschaftlicher Themen verhältnismäßig hoch gewesen; er umfaßte etwa 50 % aller Leitartikel. In den Jahren des zweiten Weltkrieges verfolgte „Kotimaa" auf recht breiter Ebene das Kriegsgeschehen und auch die Weltsituation. Dies hat jedoch nicht dazu geführt, daß der Anteil gesellschaftlicher Themen während der Kriegsjahre zugenommen hätte - im Gegenteil, eine geringe Abnahme zeigte sich an, wie die erste Säule des Schaubildes deutlich macht. Dies beruht wenigstens zum Teil darauf, daß die Schicksalsfragen der Nation auch die Kirche veranlaßten, ihr eigenes Tun abzuwägen und ihre Einstellung gegenüber allen an der Front wie auch an der Heimatfront einzuschätzen. Dies prägte die Behandlung sowohl gesellschaftlicher als auch kirchlich-theologischer Themen in den Leitartikeln. Der Anteil der gesellschaftlichen Themen sank wieder etwas gegen Ende der vierziger Jahre, doch erst Anfang der fünfziger Jahre war die Abnahme deutlich, als der Anteil der gesellschaftlichen Themen auf etwas über 30 % abfiel. Natürlich kann man fragen, welche Wirkung der 1948 stattgefundene Wechsel von Chefredakteuren auf den Inhalt des Blattes hatte. Nach dem Ausscheiden von Prof. Martti Ruuth 1943 teilten sich Prof. Yrjö J. E. Alanen und Pfarrer Toivo Laitinen die redaktionellen Aufgaben. Nach ihnen wurde 1948 als erster hauptberuflicher Chefredakteur Pfarrer Armo Nokkala, später Dr. theol., angestellt. Nokkala war ein eifriger Anhänger der oben erwähnten Interpretation des Begriffes Volkskirche, die sich in den Kriegsjahren herauskristallisiert hatte. Der frühere Chefredakteur Laitinen hatte auch schon diese Linie vertreten. Offensichtlich beruhte die Abnahme der gesellschaftlichen Themen vor allem auf der Wandlung der gesellschaftlichen Stellung der Kirche, die zu einer Änderung der Betrachtungsweise in den Stel-

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Markku Heikkilä

lungnahmen von „Kotimaa" geführt hatte. Seit Ende der vierziger Jahre erlebte die Kirche aufgrund der innenpolitischen Situation Finnlands eine recht selbständige und ruhige Arbeitsphase: die allgemeine politische Diskussion war hauptsächlich auf viele andere Fragen des gesellschaftlichen Wiederaufbaus und der Lösung von wirtschaftlichen und sozialen Problemen gerichtet. Zu Beginn der sechziger Jahre änderte sich die Situation jedoch. Die Kriegsreparationen waren abgeleistet worden, und die Aufmerksamkeit wurde bewußter auf die wirtschaftliche und sozialpolitische Entwicklung sowie auf die Behandlung internationaler Probleme gerichtet. Die Debatte spitzte sich besonders seit der Mitte der sechziger Jahre zu, als sich das Fernsehen gewaltig verbreitete und neben den herkömmlichen Medien ein neues Diskussionsforum und zugleich ein Mittel zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung bot. Charakteristisch für diese Unruhephase war die Kritik an herkömmlichen Institutionen wie Armee, Schule und Kirche sowie die Forderung, neben nationalen Vorteilen auch internationale Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Diese Wandlung in der grundsätzlichen Einstellung wurde auch in der Direktion von „Kotimaa" wahrgenommen, die sich im Jahr 1964 anschickte, für Prof. Aarre Lauha einen Nachfolger als Chefredakteur zu ernennen. Man wollte damals für diese Aufgabe eine hauptberuflich tätige Persönlichkeit einstellen, die ausreichende theologische Fachkenntnisse und kirchliche Autorität besaß. Darüber hinaus erhoffte man sich einen Chefredakteur, der sich aktiv in die interne kirchliche, aber auch in die allgemeine gesellschaftliche Diskussion einschalten könnte. Aus diesen Beweggründen heraus entschied man sich für die Wahl von Pastor Simo Talvitie. Wie das Schaubild offenbart, hat sich die mit dem Ende der Chefredakteursära Lauhas begonnene Linie während der Zeit Talvities und, seit 1969, unter Chefredakteur theol. lie. Leino Hassinen kräftig fortgesetzt: der Anteil des allgemeinen gesellschaftbezogenen Stoffes expandierte bis in die erste Hälfte der siebziger Jahre fortlaufend. Zwischen 1970 und 1975 betrug sein Anteil bereits rund 60%. Tabelle 2 gibt graphisch die verschiedenen in den Leitartikeln angesprochenen Themenkreise wieder, wie sie in der Untersuchung herausgefunden wurden. Obwohl der zeitliche Abstand zum vorliegenden Material kurz ist und fehlende allgemeingeschichtliche Darstellungen endgültige Auswertungen unmöglich machen, können jedoch anhand der Verschiebungen in den einzelnen Themenklassen viele interessante Hinweise gemacht werden. Im Rahmen dieses Beitrages kann die Aufmerksamkeit nur auf eine der inhaltlichen Kategorien, nämlich kirchliche Aufgabenbereiche, gerichtet werden.

Die Zeitung „Kotimaa" 1940-1975

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„Kirchliche Aufgabenbereiche" zeigt sich als das meistbehandelte kirchlich-theologische Thema an, welches sich in interessanter Weise den Veränderungen der Stellung der Kirche und der gesellschaftlichen Entwicklung anpaßte. In der Zeit zwischen den Weltkriegen war derselbe Themenkreis mit besonderem Nachdruck behandelt worden. In der gesellschaftlichen Krisenzeit wurden die Aktivitäten und Arbeitsbereiche der Kirche weniger berücksichtigt. Dies zeigt die erste Säule des Schaubildes und ganz besonders die Situation Ende der dreißiger Jahre an. Bereits sofort nach dem Kriegsende begann man sich in den kirchlichen Kreisen einerseits Formen der Aktivität u. a. im Bereich der Jugendarbeit und der Diakonie zu bedienen. Andererseits wurden ganz neue Aufgabenbereiche wie z.B. Familienberatung erschlossen. Diesen Aktivitäten lag der Gedanke zugrunde, durch diese sog. soziale Christlichkeit Bevölkerungsteile zu erreichen, die bis jetzt außerhalb der Kirche geblieben waren. Die nach der Unabhängigkeitserklärung Finnlands (1917) immer stärker gewordene Interpretation von Volkskirche war nämlich stark national geprägt und appellierte daher vor allem an die bürgerlichen Bevölkerungskreise. „Kotimaa" hat diese Entwicklung in ihren Leitartikeln wie auch in den anderen Beiträgen sehr genau verfolgt. Anhand des dem Schaubild zugrundeliegenden Materials kann man jedoch feststellen, daß das Jahr 1948 den eigentlichen Durchbruch für die Behandlung der kirchlichen Aufgabenbereiche bedeutete. Dies bestätigt den schon zuvor erwähnten Einfluß des Chefredakteurwechsels; kirchliche Aufgabenbereiche, denen gleich nach dem Krieg viel Beachtung geschenkt worden war, machten in der ganzen Chefredakteurszeit von Nokkala - bis 1958 - den meistbehandelten Themenkreis aus. Somit wurden die Aufgabenbereiche der Kirche von den „Gefahrenjahren" der Nation bis Ende der fünfziger Jahre in der entstandenen innenpolitischen Situation, die der Kirche einen relativ großen Arbeitsfrieden sicherte, sehr stark behandelt. Die kirchlichen Arbeitsmöglichkeiten konnten sich zu dieser Zeit relativ autonom entwickeln. Dies offenbart sich auch in den Leitartikeln „Kotimaa" aus dieser Zeit: Arbeitsformen, die Erfolge zu verzeichnen hatten, wurden leicht zu Indikatoren des gesellschaftlichen Einflusses der Kirche gestempelt. Die Zeitung war bestrebt - genau wie die Vertreter der Neuvolkskirchlichkeit - , in diesen Jahren herauszubekommen, „ob die Kirche in der finnischen Gesellschaft sichtbar ist". Rein quantitativ war die Jugendarbeit die während dieser Zeit am meisten behandelte Arbeitsform. In der Behandlung kirchlicher Aufgabenbereiche vollzog sich jedoch gegen Ende dieser Phase eine entscheidene Änderung. Bereits

Die Zeitung „Kotimaa" 1940-1975

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zu Beginn der sechziger Jahre zeichnete sich eine Abnahme der Themen ab, die sich direkt mit kirchlichen Aufgabenbereichen befaßten; diese Tendenz wurde seit 1964 zunehmend stärker. Von 1970 bis 1975 betrug der Anteil dieser Inhalte nur noch ca. 3% aller Leitartikel. Die Änderung kann natürlich wiederum mit der Sicht des Verfassers begründet werden. Darüber hinaus ist sie jedoch verknüpft mit dem oben erwähnten gesellschaftlichen Umbruch, der Mitte und Ende der sechziger Jahre stattfand: die Herausforderungen, die sowohl von außen als auch von innen an die Kirche gerichtet wurden, erzwangen eine Änderung des Blickwinkels. Die kirchlichen Aufgabenbereiche als autonome Einheiten wurden in den Hintergrund geschoben. Stattdessen wollte man in den leitenden Stellungnahmen klarlegen, wie die Kirche und ihre Organe/Teilgruppen bereits traditionell inländische oder weltweite Probleme angesprochen hatten und auch weiterhin in ihre Tätigkeit einbeziehen würden. Andererseits wurde zugegeben, daß die Tätigkeit und die Organisation der Kirche viele Fehler aufwiesen, die ihnen von außerhalb sowie von innerhalb der Kirche nachgesagt wurden. In der Praxis führte die Diskussion in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre zur Einleitung und teilweisen Realisierung vieler legislativen und kirchenorganisatorischen Erneuerungen. Somit geschah die Reduzierung der Themen, die kirchliche Aufgabenbereiche behandelten, in den zwei letzten Säulen der Tabelle vor allem zu Gunsten der „kirchlichen Verwaltung", der „Sitten, Normen, Werte" und der „Tagespolitik".

F I N N RIBER JENSEN

Zur heutigen Situation der Volkskirche in Dänemark Zu meinen Aufgaben als Propst gehört es u. a., die Jahresrechnungen und Voranschläge der zu meinem Gebiet gehörenden Kirchengemeinden zu prüfen und gutzuheißen. Unter den vielen Posten ist einer, der - obwohl nicht groß - von besonderer Bedeutung ist. Es geht um den sogenannten Verfügungsbetrag. - Ein Kirchengemeinderat hat das Recht, von den Kirchensteuern, je nach Größe der Gemeinde, einen Betrag von 10-50.000 Kronen jährlich zur Förderung des kirchlichen Lebens in der Gemeinde zu verwenden. Die in Frage kommenden Zwecke sind jedoch beschränkt. Es heißt in der ministeriellen Verordnung, daß die in Betracht kommenden Aufgaben von allgemein volkskirchlicher Art sein müssen, und es muß angestrebt werden, daß Pfarrer und Gemeinderat bei der Lösung dieser Aufgaben zusammenarbeiten. Hingegen dürfen die Kirchensteuergelder nicht als Zuschüsse an die privaten christlichen Verbände für ihre soziale, humanitäre und Verkündigungsarbeit gegeben werden und auch nicht an die einzelnen Parteien oder Gruppierungen innerhalb der Gemeinde. Dies ist natürlich nur ein winziger Ausschnitt des dänischen Kirchenlebens. Er wird jedoch in kirchlichen und kirchenpolitischen Kreisen lebhaft diskutiert. Und diese Bestimmungen für den Verfügungsbetrag dürften im Grunde ein gutes Beispiel dessen sein, was die grundlegenden Probleme einer Volkskirche sind, und wie man auf dänischem Boden versucht, dieselben zu lösen. Es gibt Kirchengemeinderäte, die sagen, es sei untragbare Regiererei, wenn so straffe Verordnungen sich von oben in das Selbstbestimmungsrecht der lokalen Gremien hineinmischen, die Räte seien nach demokratischem Vorgang gewählt, sie verwalteten mit Verantwortung den Wählern gegenüber die anvertrauten Mittel, und wenn sie zu viel Geld ausgäben und für unvernünftige Aufgaben, dann hätten sie nach der Wahlperiode für ihre Handlungen Rechenschaft abzulegen; - warum redeten Parlament und Regierung hinein, wenn die Sache viel besser lokal gelöst werden kann? Nun, so einfach ist die Sache jedoch nicht. Es geht hier nicht um

Zur heutigen Situation der Volkskirche in Dänemark

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die Überwachung einer sparsamen Verwaltung, sondern um die Tatsache, daß Demokratie und Freisinn nicht ohne weiteres identische Begriffe sind. Eine demokratische Entscheidung, das heißt eine Entscheidung der Mehrheit, bietet nicht automatisch Gewähr dafür, daß auch die Minderheit berücksichtigt wird oder daß die freie geistige Auseinandersetzung gesichert ist. Freiheit in einer Volkskirche heißt, daß auch den anderen ein Platz eingeräumt wird. Eine Volkskirche fordert oft Verzicht-leisten als Mehrheit der Minderheit zuliebe. In diesem Zusammenhang muß die ministerielle Einschränkung der lokalen Verfügung über die Steuergelder beurteilt werden. Ein zweites, ganz anderes und viel tiefgreifenderes Beispiel von Konfliktflächen in der Volkskirche erlebten wir ein paar Mal in den siebziger Jahren, als zwei oder drei Pfarrer unter speziellen Umständen die Kindertaufe verweigerten, obwohl die Eltern Kirchenmitglieder waren. Ihre Begründung für die Weigerung war die immer mehr zunehmende Gleichgültigkeit der Eltern: die Taufe sei schlechthin eine Zeremonie, eine leere Gewohnheit geworden. Die Eltern müßten durch regelmäßigen Gottesdienstbesuch oder durch Teilnahme an einem Taufunterricht ihre aufrichtige Absicht bezeugen. In Zweifelsfällen wollten die Pfarrer sich vorbehalten, die Taufe zu verweigern oder mindestens aufzuschieben. Die ersten zwei dieser Pfarrer ließen jedoch ihr Vorhaben fallen, als die Gemeinden beim Bischof und beim Ministerium klagten und der Bischof ihnen die Tragweite ihrer selbsterfundenen Bedingungen klar machte. In einem einzelnen Fall jedoch wurde der die Taufe verweigernde Pfarrer entlassen. Pfarrer Ruben Jörgensen, Pastor in einer nordjütländischen Landgemeinde, hatte im Juli 1975 in seinem Kirchenblatt geschrieben, er wolle die Kinder nur dann taufen, wenn die Eltern vorher an fünf Unterrichtslektionen im Pfarrhaus teilgenommen und das Versprechen abgegeben hätten, dem Gottesdienst regelmäßig beizuwohnen. Es heißt in seinem Aufsatz: „In der Volkskirche kann man die Taufhandlung fordern, wenn man nur seine Kirchensteuer bezahlt, auch wenn man weder das Gebot Gottes, noch die Bibel, noch Jesus ernst nimmt." Pfarrer Jörgensen gab zu, daß diese Praxis gegen die volkskirchlichen Gesetze verstieß, aber trotzdem war er der Meinung, er könne sein Pfarramt behalten. Der Kirchengemeinderat reagierte sofort und reichte eine Klage an den Bischof ein. Diesem gelang es aber nicht, in seinen Gesprächen mit Pfarrer Jörgensen seine theologische Auffassung und angekündigte Praxis zu ändern, wobei sich auch herausstellte, daß die Haltung des Pfarrers so rigoros war, daß er auch bei einer Nottaufe in der Klinik dieselben Bedingungen wollte gelten lassen.

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Finn Riber Jensen

Zum Schluß blieb dem Bischof keine andere Wahl, als dem Kirchenminister mitzuteilen: „ D a die Verweigerung der Taufe ausschließlich den vom Pfarrer eigenmächtig aufgestellten Bedingungen zuzuschreiben ist, ist die Verweigerung als Amtspflichtsverletzung zu bezeichnen, - da Pfarrer Jörgensen Taufhandlungen, die unter anderen Voraussetzungen ausgeführt worden sind, nicht anerkennen will, hat er sich einer erheblichen Kompetenzüberschreitung schuldig gemacht, - und da er die Nottaufe verweigert, hat er seine Amtspflicht grob vernachlässigt." Der Kirchenminister suspendierte den Pfarrer von seinem Amt, während die vorgeschriebene dienstliche Untersuchung stattfand. Diese zog sich aus verschiedenen Gründen in die Länge, konnte aber nur die schon festgestellten Tatbestände bestätigen, und im Herbst 1976 erfolgte dann die endgültige Entlassung des Pfarrers aus seinem Amt. Seither hat Ruben Jörgensen eine freie Kirche - Exodus genannt gegründet, die jedoch zahlenmäßig ohne Bedeutung ist. Während und nach dieser Entwicklung der Dinge wurden in der Öffentlichkeit vor allem zwei Fragen lebhaft diskutiert. Erstens: Ist das Problem einer Taufpflicht (Pflicht des Pfarrers und Recht der Eltern) ein theologisches oder ein juristisches Problem? - Und zweitens: Mußte Ruben Jörgensen entlassen werden, oder ist die Volkskirche so „geräumig" und kann eine solche Spannweite haben, daß er als Pfarrer hätte bleiben können? Was die erste Frage betrifft - Theologie oder Verwaltungsrecht - , muß angenommen werden, daß der Bischof und der Pfarrer sich in erster Linie theologisch miteinander unterhalten haben. Sie haben ohne Zweifel Baptismus und Luthertum diskutiert, haben sich vielleicht sogar eine Predigt von Luther vorgenommen, in der er sagt: „Daß ich getauft bin, ist nicht mein eigenes Werk, auch nicht des Pfarrers Werk, der mir die Taufe gegeben hat. Die Taufe ist weder vom Pfarrer noch von irgendeinem Menschen, sondern ist die Taufe Christi, meines Herrn. Die Taufe des Herrn braucht weder deine noch meine Reinheit oder Heiligkeit. Deshalb ruht meine Taufe nicht auf meinem Glauben, sondern umgekehrt: mein Glaube ruht auf meiner Taufe." Als nun aber der Bischof mit dem Gespräch zu Ende war, wandte er sich an den Kirchenminister nicht mit theologischen Schlußfolgerungen, sondern als Aufsichtsbeamter in der kirchlichen Verwaltung mit Ausdrücken wie: klare Amtspflichtsverletzung - wesentliche Kompetenzüberschreitung, und mit dieser Begründung erfolgte die Entlassung. Man kann - scheint es mir - aus diesem Sachverhalt zwei Folgerungen ziehen. Erstens: Die Volkskirche ist nicht eine bloße Reli-

Zur heutigen Situation der Volkskirche in Dänemark

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gionsanstalt, wo alle religiösen Meinungen zu Wort kommen können. In zugespitzten Fällen erhebt sich die Frage: Ist das wirklich Christentum, was wir in Dänemark in evangelisch-lutherischer Gestalt übernommen und in uns aufgenommen haben? - Die Frage wird in der Gemeinde gestellt, vielleicht nicht bei jeder Verkündigung von der Kanzel ( - hier ist die Spannweite tatsächlich unerhört groß - ) , aber jedenfalls, wenn die Verkündigung zu objektiv feststellbaren Veränderungen führt, wie ζ. B. bei der Verweigerung der Taufe (oder wer weiß, des Abendmahls) oder der kirchlichen Trauung, oder wenn katholisierende Bräuche in den Gottesdienst eingeführt werden oder Ahnliches. Und die zweite Folgerung: Obwohl eine Frage theologischer Natur ist, interessiert sich der Staat nur für die gesetzlichen und verwaltungsmäßigen Implikationen und entscheidet nicht nach theologischen, sondern nach juristischen Überlegungen. Vom Staat aus gesehen geht es also nicht um Bekenntnistreue, sondern um Amtspflicht. Das zweite Problem, das lebhaft diskutiert wurde, war - wie gesagt - die Notwendigkeit der Entlassung. Wenn diese Diskussion überhaupt sinnvoll war, dann deshalb, weil in der dänischen volkskirchlichen Ordnung gewisse Möglichkeiten bestehen, auch markante Gegensätze zu entspannen, so daß nicht der eine den anderen unterdrückt, geschweige denn aus der Gemeinschaft stößt. Ein Gemeindeglied kann sich ζ. B. dazu entschließen, nicht die kirchlichen Dienste seines Gemeindepfarrers anzunehmen, sondern es kann sich dafür einem Pfarrer in einer anderen Gemeinde zuwenden, der sich bereiterklärt, es kirchlich zu betreuen. - Es besteht auch die Möglichkeit, daß eine Anzahl von Familien in der Gemeinde das Recht hat, den Kirchenapparat für sich zu beanspruchen, wenn sie einen anderen Pfarrer der Volkskirche zu regelmäßigen Gottesdiensten einlädt. Dieses freie Wahlverhältnis zwischen Pfarrer und Gemeinde hätte man - so wurde behauptet - im Falle Ruben Jörgensen anwenden sollen, dann wären kein Zwang und keine Entlassung nötig gewesen. Es wäre dann ausschließlich auf die geistige Kraft der Verkündigung angekommen, ob diese neue Taufpraxis sich durchzusetzen vermöchte. Dieser Ausweg wurde also nicht aktuell und ohne Zweifel deswegen nicht, weil es die vorherrschende Auffassung war, daß man theologisch die Grenze der lutherischen Konzeption des Christentums überschritten hatte - und weil (trotz aller Wahlmöglichkeiten) das Verbleiben des Pfarrers im Amt das Gedeihen der Gemeinde beeinträchtigen würde.

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Finn Riber Jensen

Nun, ein solcher konkreter Fall zeigt uns, daß die volkskirchliche Ordnung in Dänemark sich nicht durch Konsequenz und Klarheit auszeichnet, und daß dieser Mangel an Konsequenz und Klarheit daher rührt, daß die historische Entwicklung der Beziehung zwischen Volk und Kirche und Volk und Staat einen größeren Einfluß als die grundsätzlichen Überlegungen gehabt hat.

K U R T JÜRGENSEN

Die Ev.-Luth. Landeskirche Schleswig-Holsteins in der Herausforderung des schleswigschen Grenzlandes * (während der unmittelbaren Nachkriegszeit)

Mit den folgenden Ausführungen möchte ich für die Arbeitstagung der Ev. Arbeitsgemeinschaft für kirchliche Zeitgeschichte einen Beitrag vorlegen, in den zum Teil auch die Geschichte des Raumes hineinspielt, in dem die Tagung stattfindet. Denn diese Gegend am Alsensund gehört zum ehemaligen Herzogtum Schleswig, das in seiner Ausdehnung von der Eider bis zur Königsau als altes dänisches Lehnsgebiet gleichwohl eine gesonderte Rechtsstellung im Königreich Dänemark besaß; es war vielfältig mit dem Herzogtum Holstein verknüpft, nicht zuletzt durch den dänischen König als gemeinsamen Herzog für Schleswig und Holstein. Die nationale Bewegung des 19. Jahrhunderts stellte den dänischen Gesamtstaat in Frage und löste den Kampf um das volklich und sprachlich gemischte Herzogtum Schleswig aus. 1864 führte der Kampf aufgrund der kriegerischen preußisch-österreichischen Intervention zur Herauslösung des ganzen Herzogtums Schleswig aus Dänemark, und zwei Jahre später gab das Ergebnis des Deutschen Krieges von 1866 Bismarck freie Hand, um das ganze Herzogtum Schleswig zusammen mit dem Herzogtum Holstein als Provinz in Preußen einzugliedern. Die schon damals versprochene Volksabstimmung in den nördlichen Teilen Schleswigs wurde erst unter den völlig veränderten Bedingungen des Versailler Friedensvertrags, also nach Ende des ersten Weltkriegs, durchgeführt. Gemäß dem Abstimmungsergebnis - große dänische Mehrheit in der I. Zone, große deutsche Mehrheit in der II. Zone - vollzog König Christian X . am 10. Juli 1920 offi* Die allgemeinen Zusammenhänge der kirchlichen Neuordnung in SchleswigHolstein nach 1945 sind dargestellt in meinem Buch: „Die Stunde der Kirche" - die Ev.-Luth. Landeskirche Schleswig-Holstein in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Neumünster 1976. Hier habe ich im Anhang als Dokument Nr. 18 (S. 312-317) die unten S. 107 ff. wiedergegebene Ausarbeitung Halfmanns veröffentlicht.

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ziell die „Genforening", also „Wiedervereinigung", des nördlichen Schleswig mit Dänemark. Doch die Teilung Schleswigs führte nicht sogleich auch zu der von vielen erhofften Befriedung im Grenzland. Und als der zweite Weltkrieg Not und Elend über Deutschland gebracht hatte, setzten viele Schleswiger nach 1945 ihre Hoffnung auf Ruhe, Frieden und ein gesichertes Dasein in einen engen Rückhalt, ja Anschluß an Dänemark, zu dem das Land bis 1864 gehört hatte. Dieser „Herausforderung des schleswigschen Grenzlandes" sah sich auch die Ev.-Luth. Landeskirche gegenüber; davon handelt der folgende Beitrag.

Im Juli 1946 sandte Präses Wilhelm Halfmann, der Vorsitzende der Kirchenleitung der Ev.-Luth. Landeskirche Schleswig-Holsteins, eine der üblichen Rundverfügungen des Landeskirchenamtes an Pastoren und hauptamtliche Mitarbeiter der Landeskirche. In diesem Falle handelte es sich um etwas Besonderes, nämlich um seine eigene Ausarbeitung zum Thema: „Die Schleswig-Frage geschichtstheologisch gesehen". In einer grundsätzlichen „geschichtstheologischen" Betrachtung versuchte Präses Halfmann damit, der Herausforderung des schleswigschen Grenzlandes zu begegnen. Bevor ich darauf eingehe, ist zu fragen, welcher Art diese Herausforderung eigentlich war. Gehen wir vom Zusammenbruch des Deutschen Reiches im Mai 1945 aus! Dieser Zusammenbruch hatte eine Umkehrung der nationalpolitischen Verhältnisse im Grenzland zur Folge. Die aufgrund der Volksabstimmungen in Nord- und Mittelschleswig gezogene Grenze, die mit der heutigen Staatsgrenze zwischen Dänemark und der Bundesrepublik Deutschland identisch ist, wurde in der Zeit zwischen den Weltkriegen von deutscher Seite und nach dem zweiten Weltkrieg von dänischer Seite in Frage gestellt. Der wohl vielen bekannte Grundriß zur Geschichte SchleswigHolsteins von O. Brandt, der 1925 in erster Auflage erschien und dessen achte Auflage gegenwärtig von Wilhelm Klüver herausgebracht wird 1 , endete in allen drei in der Zwischenkriegszeit erschienenen Editionen mit einem „Protest" gegen die Grenzziehung von 1920, und dieser „Protest" - so heißt es in der Schlußbetrachtung des Buches - habe fortzudauern, „bis eine Revision der jetzigen Grenze erfolgt ist". Die deutschgesinnte Slesvigsk Parti führte im Frühjahr 1939 den Wahlkampf zum dänischen Folketing unter der O T T O BRANDT: Geschichte Schleswig-Holsteins. Ein Grundriß. Kiel Auflage). Die 8. Auflage ist inzwischen bei Miihlau (Kiel) erscheinen. 1

1925 ( =

1.

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Parole „Wir wollen heim ins Reich"; doch die Slesvigsk Parti erreichte nur eine mäßige Steigerung ihres Stimmenanteils um 0,3% auf 15,9% (was einem Zuwachs von 2600 Stimmen entsprach, der für das erhoffte zweite Mandat im Folketing nicht ausreichte). Am 9. Mai 1945 sprach der dänische Staatsminister Vilhelm Buhl in einer Thronrede zwar davon, die dänische Regierung sei der Auffassung, „at Danmarks Graense ligger fast" (also daß Dänemarks Grenze festliege); indes machte er zugleich das nationale Selbstbestimmungsrecht geltend und hielt eine Uberprüfung der Rechtsstellung der Minderheiten nördlich und südlich der Grenze für geboten 2 . Das-hatte Auswirkungen für Nordschleswig. Trotz Verfolgung, Ächtung und mangelnder schulischer und kirchlicher Versorgung - alle Pastoren der „Nordschleswigschen Gemeinde", die der schleswig-holsteinischen Landeskirche angeschlossen war, gehörten zu den etwa 3000 kurz- oder längerfristig inhaftierten deutschen Nordschleswigern; alle deutschen Schulen wurden 1945 vorläufig geschlossen - fanden sich beherzte Männer und Frauen bereit, als neue Organisation der deutschen Minderheit einen zur Loyalität gegenüber dem dänischen König und Königreich bereiten „Bund deutscher Nordschleswiger" zu bilden. Südlich der Grenze löste der Zusammenbruch des Deutschen Reiches, der eine ungeheure materielle und seelische Notlage zur Folge hatte, eine starke prodänische Bewegung aus. Binnen kurzer Zeit stieg die Mitgliederzahl der dänisch-orientierten „Südschleswigschen Vereinigung" von etwa 2500 im Mai 1945 auf 66000 bis Ende 1946. Bei den Landtagswahlen im April 1947 vereinigten die dänisch-gesinnten Kandidaten 99500 Stimmen auf sich, d. h. ein Drittel aller Stimmen, was wohl einem Stimmenanteil von gut 50% unter der einheimischen südschleswigschen Bevölkerung entsprach. In Flensburg und in Schleswig war die Stadtführung - entsprechend den dänischen Mehrheiten in den Stadtparlamenten - dänisch. Innerhalb der zwei ersten Nachkriegsj'ahre wuchs die Zahl der dänischen Schulen von 9 (mit ca. 500 Schülern) auf 50 (mit ca. 12 500 Schülern). Mit Erlaubnis der britischen Militärregierung kamen auch reichsdänische Pastoren nach Südschleswig, so daß ihre Zahl bis 1947 von 2 (in Flensburg) auf 17, bis 1950 auf 21 stieg. Sie betreuten eine wachsende Zahl dänischer Gemeinden; bis 1948 waren es 53. Ihre Gemeindeglieder gehörten formell der Ev.-Luth. Landeskirche Schleswig-Holsteins an, aber sie ließen sich kirchlich betreuen von der Dansk Kirke i Udlandet. 2 SYDSLESVIGSK DAGBOG, udgivet af Graenseforeningen, under Redaktion af Knud Kretzschmer. 2 Bände. Kopenhagen 1947-48; hier: Band 1, S. 9.

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Der dänische Forstepraest in Flensburg, H . F. Petersen, meinte damals, daß das „neu erwachte dänische Kirchenleben" seine Grundlagen in der dänischen Kirche im alten Herzogtum Schleswig habe, wo nach der preußischen Eroberung 1864 eine Zeit der Unterdrückung begonnen habe 3 . Die dänischen Bischöfe teilten diese Auffassung und wandten sich am 9. November 1945 an die zwei Tage zuvor gebildete neue dänische Regierung des Staatsministers Knud Kristensen (Venstre), und zwar mit der dringenden Bitte, bei den britischen Militärbehörden auf Erfüllung aller Wünsche zur Entfaltung des kirchlichen und schulischen Lebens unter den dänischen Südschleswigern zu drängen. Man habe zwar, so hieß es, keinen politischen Rat zu erteilen, aber man würde versagen, träte man nicht dafür ein, daß die den Dänen (mit der Beendigung der deutschen Besetzung) wiedergeschenkte Freiheit auch „unseren hartgeprüften Landsleuten in Südschleswig zugute komme". Wörtlich heißt es weiter: „ R e t f a e r d i g h e d krasver, at d e , s o m t r o d s trekvart A a r h u n d r e d e s A d s k i l lelse fra D a n m a r k har bevaret deres K a e r l i g h e d til F o l k o g F a e d r e l a n d u s v a e k k e t , v e d e n k o m m e n d e Fredstraktat faar tilsekret R e t t e n til et frit f o l k e l i g t Liv i d e n g a m i e B o s t a v n . " 4

Diese Aussage könnte mißverstanden werden. Auch in der NSZeit gab es in Südschleswig eine dänische Minderheit, die ihre Sprache und Kultur pflegen konnte. So erschien beispielsweise in Flensburg die traditionsreiche dänische Zeitung „Flensborg Avis", und die Duborg Skole war dort ein Mittelpunkt des dänischen Schullebens. Doch dieses - gemessen an der nationalsozialistischen Zwangsherrschaft - relativ „freie volkliche Leben in der alten Heimat" war im wesentlichen beschränkt auf das Abstimmungsgebiet der II. Zone, die sich bei der Volksabstimmung am 14. März 1920 mit großer Mehrheit für Deutschland entschieden hatte. Die pro-dänische Bewegung erfaßte nach 1945 das ganze Gebiet von Mittel- und Südschleswig, indes von Nord nach Süd mit abnehmender Intensität. Troels Fink hat Recht, wenn er von einer geradezu „erdrutschartigen Verlagerung" in der nationalen Einstellung der Bevölkerung des schleswigschen Grenzlandes spricht und 1 H. F. PETERSEN: Det kirkelige Liv i Sydslesvig gennem 1100 Aar, o . O . , o . J . (Flensburg 1948). 4 SYDSLESVIGSK DAGBOG, Band 1, S. 113. Übersetzung: „Die Gerechtigkeit verlangt, daß diejenigen, die trotz drei Viertel Jahrhundert der Abtrennung von Dänemark ihre Liebe zu Volk und Vaterland ungeschwächt bewahrt haben, bei einem kommenden Friedensvertrag das Recht auf freies volkliches Leben in der alten Heimat zugesichert erhalten."

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erklärend hinzufügt: „An ihr läßt sich die Tiefe des deutschen Zusammenbruchs ermessen." 5 Dabei schließt Troels Fink nicht aus, daß schon unter der NS-Diktatur und insbesondere in der letzten Phase des Krieges manchen Stidschleswigern das alte Zugehörigkeitsverhältnis ihres Landes zu Dänemark wieder zu lebendigem Bewußtsein gekommen sei. Auch hierzu ist eine kritische Bemerkung zu machen. Die Erforschung der Motive für den Wechsel in der nationalen Gesinnung ist schwer. Daß die Masse der „Neu"-Dänen der deutschen Not entfliehen wollte, scheint mir außer Zweifel zu stehen. Aber die Tatsache, daß die dänische Volksgruppe in Südschleswig in unserer Zeit, in der die materielle Not behoben ist, im Vergleich zu den Jahren zwischen den Weltkriegen etwa fünfmal so stark ist, zeigt doch an, daß es schleswigsche Menschen gibt, die nach 1945 auch eine innere Bindung an den dänischen Kulturkreis eingegangen sind. Aber das war in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht mit Sicherheit feststellbar, und so zögerte auch die Regierung des Staatsministers Knud Kristensen - so sehr ihr auch die Unterstützung der pro-dänischen Bewegung am Herzen lag (nicht zuletzt auch durch materielle Hilfeleistungen) - vor endgültigen Entscheidungen zurück. In Beantwortung einer Anfrage der britischen Regierung teilte die dänische Staatsregierung in einem Memorandum vom 19. Oktober 1946 6 mit, daß erst im Laufe einer längeren Zeitspanne deutlich werden könne, ob der bei vielen Südschleswigern eingetretene Gesinnungswandel von Dauer sei; man habe derzeitig keine Vorschläge für eine Änderung der staatlichen Zugehörigkeit von Südschleswig zu machen. Aber es war offenkundig, daß Knud Kristensen die für Dänemark günstigen Voraussetzungen für eine etwaige spätere Grenzrevision schaffen wollte. Allen Einheimischen in Südschleswig sei, so sagte Kristensen am 6. Juni 1946 in Toftlund 7 , die Freiheit des nationalen und volklichen Wirkens zu geben, den Flüchtlingen dürfe in Südschleswig kein Wohnrecht gegeben werden, und ferner müsse, so erklärte Außenminister Gustav Rasmussen am 9. Juli 1946 im Folketing, die Verwaltung von Holstein und Schleswig getrennt werden; denn: „ D e r er til denne D a g vaesentlige Forskelle mellem Slesvig o g Holsten i

5

TROELS FINK: Geschichte des Schleswigschen Grenzlandes. Kopenhagen 1958, S.

325. 6

V e r ö f f e n t l i c h t u . a . i n : SYDSLESVIGSK DAGBOG, B a n d 1, S. 3 9 0 - 3 9 4 .

7

Ebd., S. 320.

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Befolkningernes Afstamning, Karakter o g Saedvaner og i Indstillingen over f o r Slesvigs gamie Moderland, D a n m a r k . " 8

Für den Sozialdemokraten Hans Hedtoft, der in der anschließenden Reichstagsdebatte der nationalen Entscheidung von 1920 einen hohen Rang zumaß, habe sie doch „Danmarks Stilling som en ren Nationalstat" ermöglicht, stand der überwiegend deutsche Charakter Südschleswigs außer Frage; aber auch er trat für die Ausübung aller politischen und kulturellen Rechte der dänischen Bevölkerungsgruppe in Südschleswig ein, und zwar dem Grundsatz folgend, „at ingen med Hensyn til Sydslesvig ter bygge paa andet end den nationale Selvbestemmelseret" ! 9 Im Grunde genommen war die Entwicklung in Südschleswig offen, zumal sich auch die britische Regierung und die von ihr instruierte britische Control Commission for Germany nach der dänischen Antwortnote vom 19. Oktober 1946 auf eine abwartende Haltung einließen, ohne dabei jedoch die dänischen Wünsche hinsichtlich der Verwaltungstrennung und Aussiedlung der Flüchtlinge zu erfüllen. Hinsichtlich der kulturellen Entfaltung der dänischgesinnten Bevölkerung Südschleswigs, gerade auch in ihrer kirchlichen und schulischen Betreuung, setzten die britische Regierung und entsprechend die Besatzungsbehörden in Schleswig-Holstein keinerlei Schranken. Dadurch fühlte sich die Ev.-Luth. Landeskirche Schleswig-Holsteins, die schon im August 1945 auf einer Vorläufigen Gesamtsynode in Rendsburg ihre Rechtsverhältnisse und personellen Spitzenbesetzungen neu geordnet hatte, herausgefordert. Der Präses der Vorläufigen Kirchenleitung, Wilhelm Halfmann, war als Pastor der St. Marien-Gemeinde in Flensburg unmittelbarer Zeuge der anschwellenden prodänischen Bewegung. Er fragte sich - wie auch der Flensburger Propst Karl Hasselmann in einem Bericht vom 14. Januar 1947 an die Kirchenkanzlei der E K D in Schwäbisch Gmünd - , ob die zahlreichen Klagen, die dänischen Pastoren täten ihre Arbeit „nur als Vortrupp des dänischen Anliegens", nicht zu Recht bestünden, auch wenn die dänischen Pastoren solche Vorwürfe für ungerechtfertigt hielten und behaupteten, nur das Evangelium zu verkünden 10 . 8 Ebd., S. 258. Übersetzung: „Bis zu diesem Tage gibt es wesentliche Unterschiede zwischen Schleswig und Holstein in der Abstammung, im Charakter und in den Sitten und in der Einstellung der Bevölkerung gegenüber Schleswigs altem Mutterland Dänemark." ' Ebd., S. 270. Übersetzung: „Niemand darf betreffs Schleswigs auf etwas anderes bauen als auf das nationale Selbstbestimmungsrecht." 10

E Z A BERLIN, E K D 1/134.

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Halfmann befürchtete nicht eine akute Änderung der grenzpolitischen Lage, etwa eine Grenzänderung. Sein am 1. Juni 1946 an Hans Asmussen, den Präsidenten der Kirchenkanzlei der EKD, mitgeteilter Eindruck, man habe nicht die Empfindung, als ob die Dänen von den Briten sehr gefördert werden, erweist sich im Lichte der britischen Akten des Foreign Office als völlig richtig 11 . Aber nach Halfmanns Auffassung ging doch eine latente Gefahr von dem starken Nationalismus der von Grundtvig ("f"l 872) geprägten dänischen Volkskirche aus; sie sei geradezu einem „DC-Rausch" hingegeben. Dies war ohne Frage ein überzogener Vergleich, weil das „Deutsche Christentum" im Dritten Reich und der sog. Grundtvigianismus im dänischen Königreich völlig entgegengesetzten gesellschaftlichen Vorstellungen und staatlichen Ordnungen zuzuordnen sind. Aus Sorge um seine schleswigsche Heimat und um die dort lebenden Menschen wandte sich Asmussen an den Erzbischof von Canterbury. Er schrieb „Der Nationalismus feiert dort [in Südschleswig], besonders von dänischer Seite, offensichtlich Triumphe, und es wäre doch an der Zeit, daß wir endlich über die nationalistische Fragestellung des 19. Jahrhunderts hinauswachsen." 12 Asmussen hatte sehr wohl erkannt, wie auch diese Worte zeigen, daß dem dänischen Nationalismus in gewissen deutschen Kreisen zum Teil auch unter kirchlichem Vorzeichen - mit einem überholten Nationalismus begegnet wurde. Der frühere Bischof von Schleswig, D. Eduard Völkel, Mitglied der Vorläufigen Kirchenleitung, hatte dafür eine vermeintliche Rechtfertigung zur Hand. In einer Ausarbeitung „Kirche und Grenze" 1 3 ermahnte er die Ev.-Luth. Landeskirche, sich als eine „deutsche Kirche" zu bewähren. So wie es der Kirche zum Ruhme gereicht habe, 1848 und 1864 bei der Auseinandersetzung um das Herzogtum Schleswig „stets in vorderster Front gestanden zu haben", müsse sie nun zum Abwehrkampf an der Grenze bereit sein, getreu den geschichtlich gewachsenen Bindungen der Kirche an Volk und Vaterland. Denn „zum Wesen der protestantischen Kirche gehört weiterhin eine starke und deutliche Bindung an das eigene Volkstum" behauptete Völkel, der daraus die 11 Ebd. Zu den britischen Akten, mit denen ich mich gegenwärtig in meiner wissenschaftlichen Arbeit beschäftige, vgl. als erste Veröffentlichung meinen Aufsatz: Elemente britischer Deutschland-Politik: Political Re-education, Responsible Government, Federation of Germany. In: Die Deutschlandpolitik Großbritanniens und die Britische Zone. Hg. von Claus Scharf und Hans-Jürgen Schröder. Wiesbaden 1979 (Veröffentlichung des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung Universalgeschichte). 12 Vgl. Anm. 10. 13 Maschinenschriftliche Ausarbeitung vom Juni 1946 für die Kirchenleitung der Ev.-Luth. Landeskirche Schleswig-Holsteins (Nachlaß Völkel; LKA K I E L ) .

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Folgerung zog: „Eine deutsche Kirche, die deutsche Gemeindeglieder den Dänen überläßt, verstößt nicht gegen eines, sie verstößt gegen alle zehn Gebote, angefangen bei dem ersten Gebot." Es ist erstaunlich, mit welcher Unbefangenheit Völkel den dänischen Pastoren die ausgesprochen national-dänische Gesinnung als „engste Verbindung von christlicher Verkündigung und nationaler Propaganda" vorwarf und zugleich die Angehörigen der Ev.-Luth. Kirche im eigenen Lande dazu anhielt, „im Kampf für Volkstum und Vaterland führend und tragend" zu sein. Dabei war für Völkel der nationalistisch gesinnte Flensburger Hauptpastor Heinrich Kähler ein Vorbild in der gleichzeitigen Hingabe an Staat und Nation und an das Reich Gottes. Völkel erinnerte damit an einen Mann, der schon 1941 verstorben, aber für ihn zeitlebens geradezu die sinnbildliche Verkörperung von Kirche, Volk und Vaterland gewesen war 14 . Asmussen hatte Recht, wenn er den „übersteigerten Nationalismus, durch den die Seele meines Volkes vergiftet wird", grundsätzlich verurteilte15. Halfmänn, der von August 1945 bis September 1946 als Präses und nach Umbildung der Kirchenleitung und gemäß Wahlentscheidung der Gesamtsynode vom 5. September 1946 als Bischof für Holstein die Geschicke der Ev.-Luth. Landeskirche Schleswig-Holsteins leitete, teilte Asmussens Auffassung: Die Kirche, so sagte Halfmann, müsse aus eigener Vollmacht reden und dürfe nicht zu einer „politischen Partei" werden. Am 1. Juni 1946 schrieb er an Asmussen: „Ich suche nach einem Wort der Gewissensschärfung für die Deutschen und des Tadels der Gesinnungslumperei, ohne daß es politisch mißbraucht werden kann. Es kann nur ein christliches Wort sein, kein blau-weiß-rotes. Es muß aber gesagt werden, wenn wir nicht unsere seelsorgerliche Pflicht vernachlässigen." 1 6

Das Ergebnis der Überlegungen war die „geschichtstheologische" Betrachtung der Schleswig-Frage. Es ging Halfmann darum, „aus christlicher Verantwortung vor Gott" die „sittliche Berechtigung" der auf den Erwerb Schleswigs gerichteten dänischen Politik kritisch zu untersuchen. Man mag die Betrachtung unten S. 107 ff. lesen, um zu erkennen, 14 Zu Kähler vgl. die Auswertung seines aufschlußreichen Vortrags vom 11. Oktober 1914 „Ursache und Ziel des jetzigen Krieges. Eine deutsch-germanische Betrachtung" in meinem Aufsatz: Deutsche Abende - Flensburg 1914. Ein Beitrag zum Verhältnis von Volk, Staat und evangelischer Kirche nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Januar 1969. 15 Brief vom 10. 1. 1947 an den Erzbischof von Canterbury (vgl. Anm. 10). " Ebd.

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ob Anspruch und Ergebnis übereinstimmen. Wir erfahren aus Halfmanns Überlegungen, daß von dänischer Seite ein sittlich gerechtfertigter Anspruch auf Schleswig weder mit historischen noch volklichen Argumenten abgeleitet werden könne. Halfmann sprach von einem „völkisch-biologischen Denken", das er zur nationalsozialistischen Ideologie in Beziehung setzte. Dies ist jedoch ein schiefer Vergleich, wenn man bedenkt - und 1946 mußte das doch jedem klar sein - , daß die nationalsozialistische Rassenlehre den Führungsanspruch der arischen Rasse durchsetzen wollte und zu millionenfachem Mord an der jüdischen Rasse geführt hatte. Auch den „Willen der Bevölkerung", also die persönliche Entscheidung der Menschen nach ihrem Wollen, ließ Halfmann „aus sittlichen Gründen" nicht gelten; denn Deutscher zu sein, das sei nun einmal „Gottes Schicksal und Satzung", und die „Flucht aus der angestammten Nationalität" sei, so Halfmann, „der offenbarende letzte Akt der Treulosigkeit gegen Gott". Auch hier mag man sich fragen, ob nicht weniger auf der Grundlage einer christlichen Moral oder gar „Geschichtstheologie" Halfmann definierte diesen Begriff nicht - und mehr auf der Grundlage von Johann Gottfried Herders Wertvorstellungen über Volkstum und Sprache argumentiert wurde. Gegen Herder lassen sich aber die von Ernest Renan am 11. März 1882 in seiner berühmt gewordenen Pariser Vorlesung vorgetragenen Überlegungen zur Frage „ Qu'est-ce qu'une Nation?" vorbringen: Das Zusammenleben in einer Nation sei, so Renan, an die täglich wiederholte Zustimmung der Menschen gebunden, die das in der Vergangenheit begonnene gemeinsame Leben auch gegenwärtig und künftig fortsetzen wollen. Demgemäß definierte Ernest Renan die Nation als ein „plébiscite de tous les jours" 1 7 . Die Wertvorstellungen, die Halfmann entwickelte und die von vielen geteilt wurden, ließen es nicht zu, von einem „nationalen Erwachen" zu sprechen; was als solches fälschlicherweise angesehen werde, sei s.E. eine Folge der „Flucht aus der Weltgeschichte", d.h. des Versuchs, sich von dem Schicksal des eigenen Volkes abzuwenden, und überdies die Auswirkung eines fragwürdigen missionarischen Eifers, mit dem dänische Pastoren und dänische Lehrer über die Grenze kämen, um Gottesdienst abzuhalten und Unterricht zu geben, und dies meist in deutscher Sprache - das Dänische werde ja kaum verstanden! Die eigentlich „geschichtstheologischen" Gedanken, die auch in 17 Teilveröffentlichung in deutscher Sprache in: HANS KOHN: Von Machiavelli zu Nehru. Zur Problemgeschichte des Nationalismus (Herder-Bücherei. 185). Freiburg/Br. 1964.

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Halfmanns Ausarbeitung enthalten waren, hatten zweifelsohne ihr Gewicht, und damit meine ich: das Gebot der Reinhaltung des Evangeliums von nationalen Einflüssen, das Gebot der Nächstenliebe, das zur Hilfe gegenüber den Flüchtlingen und Vertriebenen verpflichtete, und das Gebot, vor allem anderen nach dem Reiche Gottes zu trachten. Als Vorsitzender der Kirchenleitung hat Halfmann versucht, die von ihm entwickelten Grundsätze in praktische Kirchenpolitik umzusetzen. Ich nenne vier Punkte: 1. Unter aktiver Mitarbeit der Pröpste Karl Hasselmann (Flensburg), Eduard Juhl (Südtondern), Johann Lorentzen (Kiel) und von Pastor Dr. Rudolf Muuß (Südtondern) verabschiedete die Gesamtsynode am 4. September 1946 eine Resolution, in der zur Treue gegenüber der „deutschen Art" aufgefordert wurde. Denn: „Wenn Gott uns als Deutsche geschaffen hat, so ist damit unser Schicksal bestimmt. Wenn Gott uns mit unserem Volk auf rauhe Wege führt und wir wollen fliehen, wäre das eine Flucht vor Gottes Ratschluß." 18 2. Der dänischen Gemeindearbeit in Südschleswig, für die die Dansk Kirke i Udlandet die Verantwortung hatte, sollte nur bei Beachtung der Grundsätze der Verfassung der Ev.-Luth. Landeskirche Schleswig-Holsteins vom September 1922 Hilfe zuteil werden 19 . Deshalb wurde nur elf dänischen Pastoren (von ca. 20), die von der Dansk Kirke i Udlandet besoldet wurden, die rechtliche Gleichstellung mit den Pastoren der Landeskirche zuerkannt, und zwar in der Erwartung, daß sie die Dimissorialien einholen würden, also kirchliche Amtshandlungen nur auf der Grundlage eines jeweils vom Gemeindeglied bei seinem regulären Pastor (ggf. auch Propst) einzuho18 BERICHTE über die drei Tagungen der Vorläufigen Gesamtsynode in den Jahren 1945-46 und die Tagung der 5. ord. Landessynode der Ev.-Luth. Landeskirche Schleswig-Holsteins vom 13.-17. Okt. 1947 in Rendsburg. Hg. von Richard Quasebarth. Neumünster 1958, S. 40, und KIRCHLICHES G E S E T Z - U N D VERORDNUNGSBLATT, Jg. 1946, Stück 5, S. 38. 19 Grundsätze niedergelegt in den §§ 60-62 und 65 der VERFASSUNG DER E V . - L U T H . LANDESKIRCHE SCHLESWIG-HOLSTEINS (Hg. mit geschichtlicher Einleitung und Einführung in die Verfassung von D. Dr. Freiherr von Heintze. Bordesholm 1928). Diese aus dem Jahr 1922 stammende Verfassung wurde nach 1945 in ihrer bis 1933 gültigen Form wieder in Kraft gesetzt, soweit nicht die Vorläufige Gesamtsynode der Jahre 1945—46 gewisse Abänderungen vornahm (vor allem bezüglich des Wahlverfahrens für kirchliche Organe: sog. „Stufenwahl" statt allgemeiner direkter Wahl). An die Stelle der Verfassung von 1922 trat 1958 die Rechtsordnung der Ev.-Luth. Landeskirche Schleswig-Holsteins, die bis zum Inkrafttreten der gegenwärtigen Verfassung der Nordelbischen Ev.-Luth. Kirche am 1. Januar 1977 Gültigkeit hatte.

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lenden „Abmeldescheins" durchführen würden. Dies unterblieb jedoch oft, was beispielsweise die ordnungsgemäße Führung der Kirchenbücher unmöglich machte. Bischof Reinhard Wester, der ab April 1947 als Bischofsvikar und ab Oktober 1947 als gewählter Bischof für Schleswig besonders häufig mit der Arbeit der Dansk Kirke i Udlandet in Berührung kam, beschrieb die Folgen wie folgt: „Unsere Gemeinden [haben] die dänische kirchliche Arbeit in zunehmendem Maße als Störung des Gemeindelebens und als eine Verwirrung der kirchlichen Ordnung empfunden." 2 0 3. Am 17. August 1946 beschloß die Kirchenleitung, „daß eine Kirche für dänische Minderheitsgottesdienste nur noch dann überlassen werden darf, wenn der Gottesdient ausschließlich in dänischer Sprache gehalten wird" 2 1 . Dieser Beschluß führte seitens der Minderheit zu heftigen Klagen; denn er hatte zur Folge, daß oft auf Schulen und in Einzelfällen gar auf völlig ungeeignete Räume wie Kinosäle ausgewichen werden mußte. Die britische Control Commission, die als eine ihrer zentralen Unterbehörden auch eine Religious Affairs Branch unterhielt (Sitz in Bünde), wurde ebenso wie der Erzbischof von Canterbury um Vermittlung in Streitigkeiten um Benutzung kirchlicher Gebäude für die dänische Gemeindearbeit gebeten; aber man wollte sich nicht einmischen, mahnte jedoch - so schrieb Mr. Gwynne, der Leiter der Religious Äff airs Branch, am 3. September 1947 an Asmussen auch im Namen des Erzbischofs von Canterbury 22 - zu einem „peaceful outcome". 4. Um zu einem gewissen Ausgleich zu gelangen, woran doch sehr vielen gelegen war, stand der Kirche ein Mittel zu Gebote, das Halfmann wie auch andere bewußt einsetzten: das persönliche Gespräch, die bewußte Hinwendung zur ökumenischen Brüderlichkeit, um Gegensätze zu überbrücken. Als Halfmann am 19. Mai 1946 zur 25-Jahr-Feier der dänischen Heiligengeist-Gemeinde in Flensburg ein Grußwort sprach, war das für ihn, wie er selber sagte, „eine vortreffliche Gelegenheit, den ökumenischen Gedanken über den nationalen zu stellen" 23; er fühlte sich wenigstens von dem auch anwesenden Bischof Carl Wulff Noack aus Hadersleben verstanden, und dieser hatte als Vorsitzender der Dansk Kirke i Udlandet eine einflußreiche Stellung inne. Propst Hasselmann wußte im Januar 1947 von dem in allen per20

Reinhard Wester: Die Kirche an der Grenze. Ausarbeitung zur Information der Teilnehmer der Generalsynode der VELKD im April 1952 in Flensburg (AVELKD, Akte 21241 „Generalsynode Flensburg"). 21 Rundverfügung vom 19. 8. 1946 (LKA KIEL, Sammlung für 1946). 22

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23

Brief Halfmanns vom 1. 6. 1946 an Asmussen (vgl. Anm. 10).

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sönlichen Belangen guten Verhältnis zu den dänischen Amtsbrüdern zu berichten 24. Er nahm auch gerne zur Kenntnis, daß die dänischen Pastoren zumindest in ihrem Selbstverständnis „keine Strebepfeiler im nationalen Kampf" sein wollten, wie Forstepraest Hans Friedrich Petersen (Flensburg) versicherte. Die Wende zu einer befriedeten Lage im Grenzland trat im Oktober 1948 ein, als sich auch mit der vier Monate zuvor durchgeführten Währungsreform die wirtschaftlichen Verhältnisse zu bessern begannen. Am 18. Oktober 1948 empfing der britische Unterstaatssekretär Lord Henderson eine gemischte Delegation aus Mitgliedern der neuen Regierung des Staatsministers Hans Hedtoft und des dänischen Reichstags. Ihr wurde klar gemacht, daß die britische Regierung nicht bereit sei, sich auf eine Verwaltungstrennung in Schleswig-Holstein einzulassen, und daß sie für eine teilweise Umsiedlung von Flüchtlingen allenfalls längerfristige Lösungsmöglichkeiten sehe, wenn die kommende westdeutsche Bundesregierung gebildet sei; die britische Regierung sei aber bereit, auf direkte Verhandlungen zwischen der schleswig-holsteinischen Landesregierung und Vertretern der dänischen Minderheitsorganisation, dem SSV (Südschleswigscher Verein), ggf. unter dem Patronat der britischen Militärregierung, einzuwirken, und zwar mit der Zielsetzung, in bilateralen Verhandlungen zu einem verbesserten politischen und kulturellen Minderheitenschutz zu gelangen. Die Gespräche liefen tatsächlich im Frühjahr 1949 an und führten mit der sog. „Kieler Erklärung" vom September 1949 zu einem erfolgreichen Abschluß 25 . Einen vergleichbaren Weg gingen sowohl aus eigenem Antriebe als auch auf Anraten des Weltkirchenrates in Genf verantwortliche Kirchenführer auf deutscher wie auf dänischer Seite. Zu verantwortlichen Gesprächen von Kirchenmännern war es erstmals schon im Dezember 1947 gekommen, als im dänischen Ansgar-Gemeindehaus in Flensburg Bischof Reinhard Wester, alle schleswigschen Pröpste und je ein Pastor aus den schleswigschen Propsteien mit allen derzeitig 15 dänischen Pastoren in Südschleswig zusammentrafen 26 . In der fast siebenstündigen Aussprache trat Wester für eine grundsätzliche „politische Askese" deutscher wie 24

Brief Hasselmanns vom 14. 1. 1947 an Asmussen (ebd.). Diesbezügliche Auswertung britischer Akten des Foreign Office (Public Record Office London, Abt. F. O. 371) in meinem Aufsatz: Das Werden des neuen Schleswig-Holstein und seine Bedeutung für Nordschleswig. In: Grenzfriedenshefte, Heft 4/1979. 26 SYDSLESVIGSK D A G B O G , Bd. 2, S . 463-464; vgl. auch K. JÜRGENSEN: „Die Stunde der Kirche" (richtig: 1947; nicht: 1948). 25

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dänischer Pastoren ein. Forstepraest Petersen ging hierauf ein: Man sei auf Veranlassung von Dansk Kirke i Udlandet, die dänische Gemeinden in vielen Teilen der Welt betreue, nach Südschleswig gekommen, und dies nicht mit einem politischen, sondern mit einem biblischen und seelsorgerlichen Auftrag. Eine bedeutendere Begegnung fand vom 1. bis zum 5. November 1948 in Snoghoy bei Fredericia statt, wo 15 dänische Kirchenführer und 15 führende Geistliche der schleswig-holsteinischen Landeskirche zusammentrafen, um in gemeinsamer Arbeit am Philipper-Brief des Apostels Paulus und an Schriften von Luther und Grundtvig Grundfragen des Verhältnisses von Kirche und Volkstum zu klären 27 . Bei der mehrtägigen Begegnung wurde man sich über den Grundsatz einig, daß beide Minderheiten - die dänische südlich der Grenze so wie die deutsche nördlich der Grenze - die Möglichkeit haben sollten, ihr kirchliches Eigenleben innerhalb der schleswigholsteinischen Landeskirche bzw. innerhalb der dänischen Volkskirche frei zu entfalten. Die Klärung der damit verbundenen kirchenrechtlichen Fragen (Entscheidung zwischen sog. Freigemeinde-Ordnung oder sog. Wahlgemeinde-Ordnung) sollte einer späteren Entscheidung im Einvernehmen mit den betroffenen Gemeinden vorbehalten sein. Da die schleswig-holsteinische Landeskirche und die dänische Volkskirche wie auch die von ihr getragene Dansk Kirke i Udlandet evangelisch-lutherische Kirchen sind, konnte es vom Bekenntnis her keine Schwierigkeiten der Zusammenarbeit geben. Aus den Ausführungen von Bischof Halfmann, der wenige Tage später, nämlich am 9. November 1948, der außerordentlichen Landessynode über die Arbeit der Kirchenleitung und so auch über die Zusammenkunft in Snoghoy Bericht erstattete, geht hervor, daß zwischen der Landeskirche und der Dansk Kirke i Udlandet weitere Verhandlungen auf Anregung des dänischen Generalkonsuls in Flensburg und auch auf Initiative der britischen Militärregierung stattgefunden haben 28 . Des weiteren erfährt man, daß die Verbindung der schleswig-holsteinischen Landeskirche zur Ökumene Gele"

B e r i c h t d e r K i r c h e n l e i t u n g v o m 9 . 1 1 . 1 9 4 8 . I n : BERICHT ÜBER DIE VERHANDLUN-

GEN DER AUßERORDENTLICHEN LANDESSYNODE der Ev.-Luth. Landeskirche SchleswigHolsteins vom 9.-12. 11. 1948 in Rendsburg, S. 13. 28 Asmussen erhielt auf seine briefliche Mitteilung vom 21. 7. 1947, es gebe keinen bekenntnismäßigen Grund für dänische Gemeinde-Gottesdienste in deutscher Sprache, am 29. 7. 1947 von Rev. Wilson, Religious Affairs Branch, Blinde, die bezeichnende Antwort: „The matter is one which would best be dealt with by discussion between responsible German and Danish clergy, and in informal circumstances" (vgl. Anm. 2 2 ) .

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genheit zu fruchtbaren Kontakten gegeben hat. Halfmann konnte am 9. November 1948 davon berichten 29 , daß von der großen Versammlung des Lutherischen Weltbundes in Lund/Schweden, die schon 1947 stattgefunden hatte, und von der Weltkirchenkonferenz des Jahres 1948 in Amsterdam Anregungen zu Besuchen, nämlich zu Begegnungen in der Landeskirche und zu Einladungen an Angehörige der Landeskirche zu Reisen ins Ausland, ausgegangen waren. So war beispielsweise das bedeutende Treffen in Snoghoy zwischen dänischen und schleswig-holsteinischen Kirchenführern vom dänischen Propst Halfdan Hogsbro als dem Beauftragten des Weltkirchenrates in Genf für Deutschland vermittelt worden. Auch konnte Bischof Wester in Dänemark die Nordschleswigsche Gemeinde der schleswig-holsteinischen Landeskirche besuchen und im Oktober 1948 in Lügumkloster einen ersten deutschen Pastor in ihren Dienst berufen. Die 1948 sowohl im politischen wie im kirchlichen Bereich angebahnte Wendung trug im folgenden Jahre, als die Verhandlungen des dänischen SSV mit der schleswig-holsteinischen Landesregierung zum erfolgreichen Abschluß kamen, ihre Früchte. Am 26. September 1949 verabschiedete der schleswig-holsteinische Landtag die Kieler Erklärung 30 . Sie legte fest, daß es dem einzelnen völlig freistand, seiner inneren Einstellung folgend sich zur nationalen Minderheit zu bekennen, ohne daß seine Gewissensentscheidung von Amts wegen nachgeprüft oder bestritten werden durfte. Somit waren Volkstum und Sprache nicht als äußere Kriterien für die Zugehörigkeit zur nationalen Minderheit heranzuziehen; einzig und allein galt das Gesinnungsprinzip. Dem mußte auch die Landeskirche Rechnung tragen, und sie konnte nicht mehr den dänisch-gesinnten Gemeindegliedern die Benutzung landeskirchlicher Räume nur unter der Bedingung gestatten, daß ihre eigenen Gottesdienste auch in dänischer Sprache stattfänden. So entspannte sich die Lage im Grenzland, und dies um so mehr, weil nachfolgend auch die im Januar 1950 in Kraft getretene Landessatzung den Grundsatz des freien Bekenntnisses zur nationalen Minderheit festlegte (im Artikel 5) 31 und· weil im März 1955 die Bonn-Kopenhagener Erklärungen den beid" Vgl. Anm. 27. 30 Wortprotokoll der Sitzung des 1. gewählten Schleswig-Holsteinischen Landtags vom 26. 9. 1949, Kiel. 31 KARL O T T O MEYER: Artikel 5 - Modell für nationale Minderheiten. In: 30 Jahre Landessatzung 1949-1979. Festschrift zum 30. Jahrestag der Verabschiedung der Landessatzung für Schleswig-Holstein. Hg. von Uwe Barschel. Neumünster 1979 (Der Autor des Aufsatzes ist Chefredakteur von „Flensborg Avis" und als gewählter Vertreter des dänisch-orientierten SSW Mitglied des Landtags).

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seitigen Minderheiten südlich wie auch nördlich der Grenze eine gesicherte Rechtsstellung gaben 32 . Im Grunde genommen ist es so: Die eine Minderheit „schützt" die andere. Seit 1949 gibt es in politischer und seit 1955 auch in rechtlicher Hinsicht ein Gleichgewichtsverhältnis, das bis heute den oft als vorbildlich bezeichneten Minderheitenschutz trägt und sicherlich auch künftighin tragen wird. Latente Spannungen bestanden fort, und sie gibt es auch gegenwärtig. Aber sie gefährden nicht das friedliche Zusammenleben im Grenzland. Auf der 7. ordentlichen Landessynode, die Anfang Februar 1951 in Rendsburg stattfand, charakterisierte Bischof Halfmann das Verhältnis der Landeskirche zu den dänischen Gemeinden im Grenzland mit den Worten: es bestünde „eine distanzierte Freundlichkeit" 33 . Das war damals treffend formuliert. Mit Distanz begegnete man vor allem dem seit 1950 in Flensburg wirkenden Forstepraest Anton Westergaard-Jacobsen, der - anders als sein Vorgänger seine kirchliche Arbeit ganz bewußt als Teil der volklichen und nationalen Aufgabe verstand. Er wollte den in der „nationalen Umsinnung" befindlichen Südschleswigern „zur endgültigen Heimfindung" verhelfen. Hierüber berichtete Halfmann der Synode Anfang Februar 1951 mit großer Sorge 34 . Nachdem auf derselben Synodaltagung der Kieler Synodale Dr. Danielsen die in Südschleswig tätigen 21 dänischen Pastoren und ihre 95 Predigtstellen (diese befanden sich zum Teil in neuen, von der Dansk Kirke i Udlandet gebauten Kirchen und Gemeindehäusern) in grober Vereinfachung als Träger einer dänischen „Kulturoffensive" bezeichnet hatte, beschwor er die Synodalen, dieser angeblichen Offensive Einhalt zu gebieten und den „mit dem ökumenischen Geist der Kirche" nicht zu vereinbarenden „nationalen Bestrebungen" ein Ende zu machen. Aus diesen Ausführungen und aus ergänzenden Äußerungen von Bischof Wester glaubte der Syn" Eine (durchweg positive) Bilanz der Minderheiten-Vereinbarungen vom März 1955 zogen auf einer Festveranstaltung der Hermann-Ehlers-Akademie in Kiel am 15. 3. 1980 Ministerpräsident a.D. und Bundestagspräsident a.D. Kai Uwe von Hassel, MdEP, Ministerpräsident Dr. Gerhard Stoltenberg, Folketing-Präsident Knud Berge Andersen, Peter Iver Johannsen als Generalsekretär des Bundes deutscher Nordschleswiger und Paul Otto Hertrampf als Landessekretär des Südschleswigschen Wählerverbandes (SSW). Veröffentlichung der Reden in: 1955-1980. 25 Jahre BonnKopenhagener Minderheitenerklärungen (Schriften der Hermann-Ehlers-Akademie. 11). Kiel 1980. 33 Bericht der Kirchenleitung vom 6 . 2 . 1 9 5 1 , In: BERICHT ÜBER DIE VERHANDLUNGEN der 7. ordentlichen Landessynode der Ev.-Luth. Landeskirche Schleswig-Holsteins vom 6.-9. Februar 1951 zu Rendsburg. » Ebd., S. 23.

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odale Propst Peter Hansen-Petersen eine Folgerung ziehen zu müssen: Er stellte den Antrag, den elf (von insgesamt 21) den landeskirchlichen Pastoren in ihrer Amtsführung gleichgestellten Pastoren die von der schleswig-holsteinischen Kirchenleitung erteilte Gleichberechtigung wieder zu entziehen (außer dem Pastor der Heiligengeist-Gemeinde in Flensburg) 35 . Der Antrag hätte ohne Frage bei einer etwaigen Annahme die dänische Gemeindearbeit in Südschleswig in ihren Grundlagen erschüttert. Aber Bischof Wester warnte eindringlich vor übereilten Schritten und empfahl, die Sachlage in kleinem Kreise zusammen mit dem zweiten Pastor, den die deutsche Nordschleswigsche Gemeinde 1949 in Dienst genommen hatte, nämlich Pastor Friedrich Jessen-Tingleff, zu besprechen. Es sei zu erwarten, so Bischof Wester, daß eine solche schwerwiegende Entscheidung, wie sie Propst Hansen-Petersen der Synode als Antrag vorlegte, „rückstrahlende Wirkung auf die Arbeit der Nordschleswigschen Gemeinde" haben müsse. Und von der Nordschleswigschen Gemeinde hatte Bischof Halfmann gerade in seinem Geschäftsbericht gesagt, sie sei „aus innerer Depression zu neuem Leben erwacht"; sie erwarte für das Jahr 1951 die Amtsübernahme ihres dritten Pastors. Mit den vier deutschen Pastoren, die in städtischen Gemeinden der dänischen Volkskirche angehörten, würde es damit in Nordschleswig sieben deutsche Pfarrstellen geben 36 . Propst Hansen-Petersen zog seinen Antrag zurück, und die schleswig-holsteinische Kirchenleitung war darauf bedacht, die dänische Gemeindearbeit nicht zu erschweren. Im Gegenteil, sie förderte diese Arbeit, und zwar auch finanziell; dies geschah in gleicher Weise, wie auch der deutschen Gemeindearbeit in Nordschleswig Hilfe von dänischer Seite zuteil wurde. Ziehen wir das Fazit, so können wir uns der Worte des dänischen Historikers Lorenz Rerups, eines gebürtigen Flensburgers, heute Lehrstuhlinhaber an der Universität in Roskilde, bedienen: In Südschleswig sei ein Weg zurückgelegt worden „fra graensekamp til sameksistens", aber das schließe da, wo zwei oder mehr Nationalitäten in einem gemeinsamen Landesteil zusammenstoßen, so Rerup, einen „kulturellen Wettstreit" nicht aus 37 . In der Tat: Die heutige deutsch-dänische Grenze, die aufgrund Bericht vom 4. Verhandlungstag (9. 2. 1951; ebd., S. 14-15). Ebd., S. 15, und Bericht der Kirchenleitung (6. 2. 1951). 37 LORENZ RERUP: Graensen. Fra graensekamp til sameksistens. Albertslund 1969, S. 154. 35

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der Volksabstimmung des Jahres 1920 festgelegt wurde und beiderseits der Grenze Volksgruppen jeweils anderer Nationalität belassen hat, und ihre gleichartig gesicherte Rechtsstellung schaffen ein Gleichgewicht. Es erlaubt im ganzen gesehen - mit Troels Finks Worten 3 8 - „ein harmonisches, aber innerlich spannungsreiches Alltagsleben", an dem auch die evangelische Kirche, so möchte man hinzufügen, Anteil hat. U n d dies in einer besonderen Verantwortung! D e n n die Kirche Christi ist von ihrer Grundlage her gesehen, nämlich von der biblischen Botschaft, auf den Geist des Verstehens und der Versöhnung verpflichtet.

Wilhelm Halfmann: D i e Schleswigfrage geschichtstheologisch gesehen I. Wir wollen versuchen, die Schleswigfrage des Jahres 1946 aus unserer christlichen Verantwortung vor Gott zu betrachten. Dabei können wir den geschichtlichen Standort nicht verleugnen, der uns mit unserm Stand in der deutschen evangelischen Kirche in Schleswig-Holstein angewiesen ist. Wir hoffen, daß diese Bindung keine entwertende Einschränkung bedeute, sondern vielmehr wesentliche Gesichtspunkte zu einer tieferen Erfassung des Problems erschließe. Die nachfolgende Betrachtung möge das erweisen. Wenn das Ziel der dänischen Politik in bezug auf Schleswig darin besteht, das Land bis zur Schlei oder gar bis zur Eider für Dänemark zu gewinnen, erheben wir die Frage: Warum wollen die Dänen Schleswig besitzen? Indem wir diese Frage als Christen stellen, fragen wir nach der sittlichen Berechtigung dieser Politik. Die Dänen glauben, ein geschichtliches Recht auf Schleswig zu haben und setzen das geschichtliche Recht dem moralischen gleich. Als geschichtlichen Rechtsgrund stellen sie die These auf: Schleswig habe während der 1000 Jahre vom Beginn der dänischen Nationalgeschichte bis 1864 unter der dänischen Krone gestanden. Dieser Satz ist richtig und kein Deutscher kann ihn bestreiten. Aber der Deutsche wendet ein: Die Verbindung mit der dänischen Krone bedeutete nicht, daß Schleswig dänisch war. Es habe in jahrhundertelanger komplizierter Geschichtsentwicklung sich immer enger dem deutschen Holstein angeschlossen, so daß, als im 19. Jahrhundert die dynastische Bindung durch die völkische verdrängt wurde, die Entscheidung für den Süden als legitime Frucht der geschichtlichen Entwicklung gereift sei. -

38 TROELS FINK: Deutschland als Problem Dänemarks. Die geschichtlichen Voraussetzungen der dänischen Außenpolitik (d + d-Taschenbuch. 2). Flensburg 1968, S. 125.

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Indem also beide Seiten ihren Anspruch aus der Geschichte mit gleichem Recht belegen können, zeigt es sich, daß die geschichtliche Begründung der Tendenz eines politischen Willens unterliegt, der auch ohne diese Begründüng besteht. Mit geschichtlichen Gründen bewiesen die Deutschen im Jahre 1939, daß Krakau eine uralte deutsche Stadt sei, und beweisen die Polen heute, daß die Oder ein polnischer Fluß sei. Aus den Wechselfällen tausendjähriger Geschichtsverläufe läßt sich mit einigem Geschick alles Wünschenswerte beweisen. Hier ist kein verläßlicher Boden, kein festes Maß für ein moralisch haltbares Urteil zu gewinnen. So wird denn auch die geschichtliche Begründung durch die biologische ergänzt. Jakob Kronika formulierte sie am 23. Juni 1946 in Flensburg mit klassischer Einfachheit: Unsere Motive sind kurz gesagt: „Dieses Land, unsere Heimat, hat eine dänische Vergangenheit; die Bevölkerung hat dänisches Blut in den Adern; deshalb sind wir dänisch". Dies ist die wohlbekannte Formel von Blut und Boden; die nationalsozialistische Ideologie muß sich eben einstellen, wenn man völkisch-biologisch denkt. Es laufen Fäden vom dänisch-völkischen Denken zum Nationalsozialismus hinüber, hat doch der genannte Jakob Kronika in seinen Berliner Erinnerungen erzählt, daß Alfred Rosenberg in seinem Reisegepäck einige Bücher über Grundtvig mit sich zu führen pflegte. Wir Christen in Deutschland sind mißtrauisch gegenüber dem völkischen Mythos geworden, in welcher Gestalt er uns auch begegne. Eine sittliche Rechtfertigung von diesem Grunde her vermögen wir nicht anzuerkennen. Was bleibt denn übrig? Sittlich in der Politik ist das, was sachdienlich ist zur Erfüllung der geschichtlichen Berufung eines Volks. So ist die Frage die: Braucht Dänemark dieses Land etwa um seines „Lebensraums" willen, oder auch nur zu einer notwendigen Machtverstärkung? Die Frage stellen, heißt sie verneinen. Dänemark hat so viele Einwohner wie die Stadt Berlin, und sein Land ist ein Garten Gottes, das von Nahrungsmitteln überquillt. Machtverstärkung? Würde der Besitz Schleswigs an der politischen Stellung Dänemarks auch nur ein Jota ändern? Nein, Schleswig ist keine Lebensfrage für Dänemark, darum fehlt dem Verlangen nach Schleswig die drängende Notwendigkeit, die ihm ein sittliches Recht gäbe, so wahr die Art des Sittlichen in seiner heiligen Unbedingtheit liegt. Wer würde es verantwortlich zu verkündigen wagen, daß Gott Schleswig für Dänemark fordere? II. Nun führen aber die Dänen noch einen anderen Grund ins Feld: den Willen der Bevölkerung. Durch Südschleswig gehe eine Bewegung nationalen Erwachens und wolle heim zur Mutter Dänemark, und die Mutter sei verpflichtet, auf den Ruf ihrer unglücklichen Kinder im Süden zu hören. Denn diese seufzen unter der preußisch-deutschen Obrigkeit, die ihnen nur Blut und Eisen beschert habe, und wollen los vom Nazismus und von der Katastrophe und von ihren Folgen, und los vom drohenden Bolschewismus und überhaupt von den Gefahren der Weltpolitik. - Es ist eine Tatsache, daß diese Bewegung da ist; aber sehen wir genauer hin, was lebt in ihr? Manche

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sagen, es handle sich um nichts anderes als um einen Hungermarsch zur Grenze, womit sie zweifellos einen wesentlichen Zug in der Sache treffen. Aber es ist doch bei sehr vielen mehr als eine Magenfrage, es ist eine Frage der Seele, es ist eine Art Flucht ins Friedensreich, das man in Dänemark zu finden hofft, in „Flensborg Avis" kam dies am 3. Juli 1945 einfältig und echt zum Ausdruck: „Et eneste faelles 0nske har vi alle mellem Krusaaen og Slien: Endelig og omsider at faa Fred og Ro !" Desgleichen der Schulrat Johannsen in Schleswig am 23. Juni 1946 im Anschluß an die Bernstorffsche Formel von der „Ruhe im Norden": „Auch wir wünschen Ruhe und Frieden, Glück und Wohlfahrt für uns und für unsere Kinder". Es handelt sich um eine Flucht aus der Weltgeschichte. Wer spürte nicht solchen Zug in der eignen Seele, nach allem, was über uns dahingegangen ist! Frank Thieß schreibt in seinem Buch „Das Reich der Dämonen" (S. 215): „Die Weltgeschichte ist eine Schreckenskammer, ein Meer von Blut und Tränen, in dem die wenigen ruhigen und friedlichen Zeiten wie einsame Inseln schwimmen; gegenseitiger Haß, Verfolgung Unschuldiger, Unterdrückung, Versklavung und Triumph roher Gewalt geben ihr ein höllisches Gepräge". Dieser Satz entspricht dem Urteil der Bibel und Luthers: der Fürst dieser Welt hat groß Macht und viel List, und die ganze Welt liegt im Argen! Aber die Bibel bezeugt auch, daß der Sohn Gottes erschienen ist, um die Werke des Teufels zu zerstören, wodurch die Weltgeschichte ihre verborgene Mitte und ihre Gerichtetheit bekommen hat. Durch Christus ist der Weltverlauf qualifizierte Weltgeschichte geworden, ihr Sinn ist nunmehr der Kampf zwischen Glauben und Unglauben, zwischen Reich Gottes und seinem Widerspiel. Und so ist auch von Christus her die Völkergeschichte fortschreitend zu einer einheitlichen Weltgeschichte geworden, die, von den getauften Völkern angetrieben, nunmehr die ganze Welt umspannt. Vokabeln, die noch vor zweihundert Jahren unbekannt waren, bezeichnen Tatbestände, die heute dem Mann auf der Straße geläufig sind: Weltkrieg, Weltfrieden, Weltpolitik, Welthandel, Weltwirtschaft usw. Aus dieser Ansicht der Weltgeschichte ergeben sich dem Christen gewisse Anhaltspunkte und Richtlinien für seine Entscheidungen und Antworten auf seine Fragen. Bei unserm Gegenstand geht es zunächst um die Doppelfrage: Gibt es eine Flucht aus der Weltgeschichte, und wenn schon eine Möglichkeit dafür gegeben wäre: Darf sie es geben? Gibt es eine Flucht aus der Weltgeschichte? Der moderne Krieg ist im intensiven wie im extensiven Sinn total geworden. Ebenso ist nach Gründung der „Vereinten Nationen" der Frieden total geworden. Es gibt heute nur noch eine totale Weltsicherheit oder eine totale Weltunsicherheit. H a t schon im vergangenen Krieg Dänemark seine Neutralität nicht retten können, wie will es das in einem künftigen Konflikt tun? Nicht nur in der Außenpolitik, auch in der Innenpolitik gibt es keine Isolierung mehr. Der Kampf der demokratischen, faschistischen und bolschewistischen Elemente respektiert nicht die „Ruhe im Norden". Ebenso geht auch die religiöse Auseinandersetzung zwischen einer bekennenden und einer nationalisierten Kirche durch die Welt, und es wird gerade die dänische Kirche sein, die allen Anlaß hat, sich ernsthaft die Frage vorzulegen, ob sie nicht in Gefahr stehe, zweien

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Herren zu dienen statt dem Einen! Nein, es gibt keine Flucht aus der Weltgeschichte, auch nicht für das Ländchen Schleswig! Es darf aber auch keine Flucht aus der Weltgeschichte geben, weil sie Ungehorsam wäre gegen Gott, ein Nicht-laufenwollen durch Geduld in dem Kampf der uns verordnet ist, ein Erwählen der Freude statt des Kreuzes. Es ist jetzt ein Kreuz, Deutscher zu sein, den Haß der Welt zu tragen und viel Ungemach zu leiden. Es schämen sich darum viele, Deutsche zu sein. Wer sich aber dessen schämt, der murrt ja wider Gott, sowahr es Gottes Schicksal und Satzung ist, daß ich Deutscher bin. Nicht daß ich Deutscher bin, wohl aber, daß ich ein schlechter Deutscher gewesen bin - dessen soll ich mich schämen. Daß wir das gute deutsche Wesen verfallen ließen, daß wir Gottes Gaben und Aufgaben untreu wurden, daß wir gottlose Deutsche waren, das ist's, was uns Schande macht. Die Flucht davon in eine andere Nationalität hinein wäre der offenbarende letzte Akt der Treulosigkeit gegen Gott und das Siegel auf den moralischen Verfall, der daraus resultiert. Flucht aus der Weltgeschichte ist Flucht vor Gott, Flucht vor der Wahrheit und der Schuld und der Verantwortung! Der Redner Johannsen in Schleswig am 23. Juni stellte die Frage, ob „wir" (die Schleswiger) mit Schuld trügen an all dem Unglück um uns her, und antwortete selbst: „Wir sagen nein und nochmals nein! Wir tragen nicht Schuld daran! Wir waren ein dänischer Landesteil in tausend Jahren . . . " Mit geradezu peinlicher Deutlichkeit enthüllt sich hier die Flucht aus der Weltgeschichte als Flucht vor der Verantwortung und der Mitschuld. Es mag wahr sein, was viele sagen, daß sie nichts gewußt hätten - aber zuletzt kommt es ja nicht auf das Wissen an; auch die „unerkannte Sünde" ist Sünde vor Gottes Angesicht. Es ist unchristlich, die Schuldsolidarität zu leugnen, ach, es ist einfach unwahrhaftig. Warum redet ihr so laut, daß ihr nicht mitschuldig wäret — ihr die ihr einst mit uns das Schleswig-Holstein-Lied gesungen habt, und ihr, die ihr oft gegen uns Heil Hitler gerufen habt, bis zuletzt? Wenn ihr doch schwieget, ihr würdet glaubwürdiger sein! Flucht aus der Weltgeschichte ist Flucht vor Gottes Gericht. Jetzt ist das große Unheil da, und es ist verständlich, wenn die Menschen von Schrecken gepackt davon fliehen und sich nach einem Ausweg umtun; aber wer flieht, entflieht dem Ruf Gottes: Adam, wo bist du? Wer flieht, glaubt nicht, denn er glaubt nicht an den Gott, der schlägt um zu verbinden, der tötet um lebendig zu machen; er glaubt nur an seine Schlauheit. Wer aber an den gegenwärtigen Gott glaubt, der bleibt und nimmt sein Kreuz auf sich und traut dem Wort: Wer sein Leben verliert, der wird es gewinnen. Jesus ist nicht geflohen; ob er wohl hätte mögen Freude haben, duldete er das Kreuz. Er ist Vorbild für jeden, dem der Name Christus noch etwas gilt. III. Wenn wir als evangelische Christen über die Schleswigfrage Besinnung suchen, müssen wir diese Frage auch in Zusammenhang bringen mit der Lage des ganzen deutschen Protestantismus und auch der dänischen Kirche. Im deutschen Protestantismus stehen wir vor der in ihrer furchtbaren Größe

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noch unbegriffenen Tatsache einer Zerstörung ohne geschichtlichen Vorgang. In den weiten Räumen zwischen Stettin und Riga, zwischen der Ostsee und den Karpaten hat die evangelische Kirche fast zu bestehen aufgehört; was zur Zeit dort noch ist, sind sterbende Reste. Die Pastoren sind zu Tausenden vertrieben, geflüchtet, verschleppt oder umgekommen; die Gemeinden haben aufgehört, ihre Überreste sind als Flüchtlingsmasse in den westlichen Provinzen zusammengedrängt, die Stimme des Evangeliums ist fast verstummt, ein christliches Evangelisationswerk von 8 Jahrhunderten ist vernichtet. Das ist das grauenvoll unbegreifliche Schicksal der Evangelischen Kirche im Osten, eine Folge des Untergangs des größten evangelischen Staatswesens Europas, des Preußischen Staates, der die Wacht im Osten hielt. Was dieses in Dänemark und nun in Schleswig so verschriene Preußen war, an dessen Leiche jetzt die schnellgewandten kleinen und großen Propheten der neuesten Geschichtsansicht ihre Ressentiments abreagieren - das merken wir jetzt im Norden ! Nun pflanzt sich ungehemmt der ungeheure Druck vom Osten wie durch kommunizierende Röhren fort bis in die letzten Winkel der Nordmark und macht es jedem handgreiflich fühlbar, daß die abendländische Sendung Preußens beendet ist. Eine Katastrophe dieses Ausmaßes richtet Schaden in der Nachbarschaft an; darum wirkt es angesichts der tragischen Größe dieses Ereignisses so töricht, kleinlich und philiströs, wenn die Nachbarsleute schreien: Wir haben keine Schuld daran und wollen nicht damit behelligt werden. Hier aber handelt es sich um ein gemeineuropäisches Schicksal, das von Schleswig und Dänemark so gut getragen werden muß wie von den anderen Ländern des Westens. Als Christen sollten wir wissen von dem Gesetz des Leibes Christi: ,,So ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit". Welche Leiden sind über die G l i e der des Leibes Christi in der Evangelischen Kirche des Ostens hereingebrochen! Mord und Sterben, Schändung und Raub, Verschleppung und Plünderung, abenteuerliche Fluchten, Verlust aller Habe und Familienglieder, hoffnungsloses Flüchtlingsdasein und in alledem viel echtes Glaubensmartyrium - das steht auf der einen Seite. Und auf der andern Seite? Soweit es sich um die Bewegung handelt, die wir hier betrachten: egoistisches Unverständnis, Weigerung des Mittragens, Flucht in ein nordisches Friedensidyll, der Versuch einer Lösung Schleswigs aus der Gemeinschaft der Leiden und eben damit ein Raub am Letzten, was den evangelischen Glaubensgenossen verblieben, an ihrer Zufluchtstätte. Mitnichten handelt es sich bei der Entscheidung über Schleswig um eine religiös neutrale Frage; es geht auch hier um eine Entscheidung des Glaubens: Glauben wir noch an die Wirklichkeit des Leibes Christi? Soll es wahr bleiben, daß wo ein Glied leidet, auch die andern mitleiden müssen? Sind wir nicht abtrünnig, wenn wir das Kreuz fliehen, an dem heute wieder der blutende Leib Christi hängt? Fragt uns nicht der gekreuzigte Herr: Wollet ihr auch weggehen? Sollen die Worte des Galaterbriefs nicht mehr gelten: Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen? Tut Gutes jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen? Wie kann man es vor dem Gesetz Christi verantworten, die Flüchtlinge von der Schwelle zu verjagen und die heimatlosen Massen in einen nochmals verkleinerten Volksraum zusammen zu pressen?

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Das ist auch eine Frage an die dänische Kirche. Sie sind begeistert und gerührt in Dänemark über das angebliche nationale Erwachen in Südschleswig; sie hoffen, wie Jakob Kronika am 23. Juni sagte, daß die nationale Umkehr gleichzeitig eine Hinkehr bedeuten möge zu dem Lebenssinn, der sich ausdrücke in dem Kreuz ohne Haken, in dem Kreuz in der Flagge des Nordens. Aber unter diesem Kreuz sollen die evangelischen Glaubensgenossen, die aus dem großen Leiden im Osten gekommen sind, keine Zuflucht haben! Was ist das für ein Kreuz? Was ist das für ein Christentum? Mit missionarischem Eifer strömen die dänischen Pastoren und Lehrer über die Grenze und richten einen dänischen Gottesdienst und eine dänische Schule nach der anderen ein - in deutscher Sprache, da ja kaum jemand dänisch versteht - und meinen, die Saat des Evangeliums auf einen bereiten Boden auszustreuen, der gute Frucht bringen soll; welche Frucht? Daß das Land dänisch werde ! Was hier geschieht, ist die Vermischung von Nationalismus und Evangelium, die die evangelische Kirche Deutschlands nach 1933 zu verderben drohte. Man sollte in der dänischen Kirche den Ruf „Seid nüchtern und wachet" hören und sich fürchten, daß nicht der Herr verleugnet werde. Vor ihrer Tür liegt der arme Lazarus, und es ist Jesu Gebot, daß wir uns des Nächstliegenden annehmen, der uns vor die Füße gelegt ist. Schwer will es uns in den Sinn, daß man Evangelium predigen und gleichzeitig den armen Lazarus verjagen will. Wo ist der Leib Christi über die Volkstumsgrenzen hinweg? Wie lieben es die Dänen und die dänischen Geistlichen, Preußen mit einem wahrhaft pharisäerhaft guten Gewissen zu verleumden; wer von ihnen denkt daran, was in Preußen an evangelischen Flüchtlingen getan worden ist, an den vertriebenen Hugenotten und Salzburgern, und welche Glaubensfreiheit und Sprachenpflege hier den Polen, Masuren, Litauern, Kassuben, Wenden und nicht zuletzt den dänischen Nordschleswigern gewährt worden ist? Ach, jetzt dürfte es in der dänischen Kirche nicht die Stunde des Erwachens für den nationalen Ruf sein, sondern für den christlichen Ruf! Der Herr ruft zur echten Gliedschaft am Leibe Christi; die christlichen Partikularkirchen müssen heute auf das Ökumenische hinstreben, um ihrer Berufung gerecht zu werden. IV. Warum muß heute das Ökumenische gelten? Die weltgeschichtliche Situation fordert die Überwindung des Nationalismus. Eine Politik, die im Erwerb von Landesteilen, in der Neuziehung von Grenzen, in der Umnationalisierung von Bevölkerungen ihre höchsten Anliegen sieht, wirkt seltsam altertümlich. Europäische Völker müssen heute den Untergang geliebtester Heimaten erleben, darin ihre schönsten Lieder und ehrwürdigsten Denkmäler entstanden und ihre größten Menschen wurzelten und begraben liegen; wie kann man solchen Untergang beschweigen, ja wohl rechtfertigen, zugleich aber um ein Ländchen wie Schleswig mit moralischem Geschrei laut eifern? Wie ist das moralische Gewand des Nationalismus löcherig geworden, seine Zielsetzungen im Zeitalter der Weltpolitik und Welttechnik veraltet, seine Methoden durch Hitler und seine Nachahmer demaskiert und

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kompromittiert als Greuel und Götzenherrschaft, die zu überwinden die Kirche Christi als erste berufen ist. Schon längst haben Stimmen in der Welt nach Befreiung gerufen, aber die Befreiung von diesem Götzen kann nur so geschehen, wie Götter überwunden werden: durch Bekehrung zu dem wahren Gott, der sich im Worte offenbart, das der Kirche zur Verwaltung gegeben ist. Die Kirche hat heute zur Erlösung ihrer Völker von diesem Götzen zu helfen, das ist ihre Aufgabe. Sie ist nicht leicht zu lösen, denn es darf beileibe nicht der eine Götze durch den andern, der Nationalismus durch den Internationalismus ersetzt werden. Es wird Mühe kosten, die gottgegebenen Eigentümlichkeiten der Völker mit der übergreifenden Größe des Leibes Christi zu versöhnen, aber es muß geschehen! Wenn es für die Völker des Abendlandes, aber auch der Welt, ein Miteinander geben soll, das nicht auf Sklaverei beruht, dann nur im Zeichen des Kreuzes der Versöhnung, unter dem Stab des Völkerhirten Jesus Christus. Es geht darum, daß die Völker wieder das Sakrament der Gegenwart Gottes in seiner Kirche spüren und den Gral in ihrer Mitte wieder ehren und fromm werden vor ihm. Aber ist das nicht hoffnungslose Romantik? Ist nicht die Idee des christlichen Abendlandes längst zerbrochen unter den Bannflüchen der Massenpäpste, der Marx, Lenin, Hitler usw. und der Propheten der antichristlichen Religionen, der Feuerbach, Nietzsche, Haeckel, Spengler usw.? Selig sind, die nicht sehen und doch glauben! Wir haben einen Gott, der da hilft, und den Herrn, der vom Tode errettet. Gott kann Europa noch einmal christlich machen. Aber er kann es auch nicht tun. Er kann den Säkularismus und Nihilismus sich immer stärker ausreifen lassen. Er kann es fügen, daß die Atombombe noch einmal zum kriegerischen Einsatz kommt. Aber auch dann würde das erste Gebot gelten, auch dann müßte noch gepredigt und bezeugt werden: Es ist in keinem andern Heil als in dem Namen Christus ! Aber dann wäre wohl freilich der Christenheit ihre Welt- und Kulturaufgabe abgenommen, die Endzeit wäre da, in der die Kirche nur noch die kleine Herde ist, die auf ihre Erlösung wartet. Was wir als Christen in Deutschland und in Dänemark zu tun haben, gleich ob Gott uns noch einmal Zeit geben oder das Ende beschleunigen wolle - was wir zu tun haben, ist klar. Es ist unter allen Umständen etwas Wichtigeres als der Streit um ein Land, es ist das Trachten nach dem Reich Gottes vor allem andern, das Beten und Arbeiten dafür, daß Sein Reich komme.

Troels Fink: Kommentar zu den Ausführungen von Professor Kurt Jiirgensen Die von Professor Kurt Jürgensen erwähnte Rundverfügung vom Juli 1946, durch die Präses Wilhelm Halfmann zur Schleswig-Frage Stellung nahm, trägt die Uberschrift „Die Schleswigfrage ge-

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Kurt Jürgensen

schichtstheologisch gesehen". Der Begriff „Geschichtstheologie" ist also der Ausgangspunkt für die von Professor Jürgensen durchgeführte Analyse dieser Rundverfügung. Eine prinzipielle Auseinandersetzung mit diesem Begriff wäre aber sehr erwünschenswert gewesen. Eine wissenschaftliche Begründung für einen solchen Begriff ist kaum zu erstellen, und in politischer Hinsicht ist das Ergebnis eigentlich ein erneutes „Gott mit uns". Gewiß nimmt Professor Jürgensen in einzelnen Punkten von den von Präses Halfmann verwendeten Formulierungen Abstand. Er kommt aber zu der folgenden Konklusion: „Die eigentlichen ,geschichtstheologischen' Gedanken, die auch in Halfmanns Ausarbeitung enthalten waren, hatten zweifelsohne ihr Gewicht, und damit meine ich: das Gebot der Reinhaltung des Evangeliums von nationalen Einflüssen, das Gebot der Nächstenliebe, das zur Hilfe gegenüber den Flüchtlingen und Vertriebenen verpflichtete, das Gebot, vor allem anderen nach dem Reiche Gottes zu trachten". Diese Betrachtung kann man kaum anders auffassen als eine Art Anerkennung des Begriffes „Geschichtstheologie". Das heißt in diesem Zusammenhang, daß die dänischen Pastoren in Südschleswig nach 1945 in Wirklichkeit ein nationalistisches Ziel verfolgten. Sieht man genau hin, ist Professor Jürgensen der Meinung, daß diese Pastoren die Auslegung des Evangeliums durch nationalistische Betrachtungen beschmutzt haben, daß sie dem Gebot der Nächstenliebe im Verhältnis zu den Vertriebenen nicht nachgekommen sind und daß sie nicht in erster Linie nach dem Reich Gottes getrachtet haben. Nach meiner Auffassung wäre es dann eine natürliche Aufgabe für Professor Jürgensen gewesen zu untersuchen, ob die dänischen Pastoren sich wirklich gegen diese Grundsätze verstoßen haben. Das tut er nicht, und direkt kommen die dänischen Pastoren nirgends zu Worte. Ihre Auffassung wird nur durch ausgewählte Zitate aus deutschen Quellen belegt. Besonders dem Propst Westergaard-Jacobsen geschieht Unrecht. Professor Jürgensen hat den Weg gewählt, eine Übersicht über die kirchenpolitischen Maßnahmen der Kirchenleitung zu geben, und zwar in vier Punkte gegliedert. Der erste Punkt bezieht sich auf die Resolution vom 4. September 1946, worin es unter anderem heißt: „Wenn Gott uns als Deutsche geschaffen hat, so ist damit unser Schicksal bestimmt. Wenn Gott uns mit unserem Volk auf rauhe Wege führt und wir wollen fliehen, wäre das eine Flucht vor Gottes Ratschluß." Mit solchen Argumenten kann man im schleswigschen Grenzlande wenig anfangen. Dazu sind Verschiebungen in der nationalen

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Haltung, und zwar nach beiden Seiten, zu oft vor sich gegangen. Professor Jürgensen meint, daß Halfmanns Auffassung vielleicht auch durch Herders Wertvorstellungen bedingt sind, und er hat sich vorsichtig verwahrt, indem er sich auf Ernest Renan beruft, der die Nation als ein „plebiscite des tous les jours" definiert. Diese Idee kann aber viel näher mit den Gegebenheiten im alten Herzogtum Schleswig in Verbindung gesetzt werden, denn in dem preußischen Schulerlaß vom 9. Februar 1929 heißt es: „Das Bekenntnis, zur Minderheit zu gehören, darf weder nachgeprüft noch bestritten werden". Dieser Erlaß war 1945 noch geltendes Recht, obwohl das Naziregime sich in mannigfaltiger Weise dagegen verstoßen hatte. Ich finde, daß eine ganz entschiedene Abstandnahme von der Geschichtsauffassung Präses Halfmanns heutzutage notwendig ist. Der zweite Punkt gilt den Bestrebungen der Kirchenleitung, die kirchliche Arbeit innerhalb der dänischgesinnten Bevölkerung zu erschweren. Um den Hintergrund verständlicher zu machen, sei es hier angebracht, etwas über die Organisation des Kirchenlebens der beiden Minderheiten vor und nach 1945 zu berichten. In Nordschleswig wurden im Jahr 1920 nach der Wiedervereinigung mit Dänemark in den Städten Hadersleben, Sonderburg, Apenrade und Tondern die Gemeinden in deutsche und dänische geteilt; beide Gemeinden gehörten jedoch zur dänischen Volkskirche, und die vier deutschen Pastoren werden seitdem von der dänischen Volkskirche besoldet. In den ländlichen Gebieten waren die Deutschgesinnten mit der angebotenen offiziellen Regelung nicht einverstanden, und man benutzte die Möglichkeit, Freigemeinden zu gründen. In der Tat waren diese Freigemeinden Teile der schleswig-holsteinischen Landeskirche. Bis 1945 wirkten in diesen Gemeinden sieben Pastoren; sie haben sich fast alle durch ihr politisches Verhalten in der Nazizeit kompromittiert und wurden, soweit sie deutsche Staatsbürger waren, ausgewiesen. Die vier deutschen, zur Volkskirche gehörenden Pastoren vermochten in den bösen Jahren 1933-45 eine selbständige Haltung zu bewahren. Als 1943 die dänischen Bischöfe einen Hirtenbrief gegen die Ubergriffe gegen die dänischen Juden erließen, haben einige von diesen Pastoren den Hirtenbrief von der Kanzel verlesen. Nach 1945 blieben sie alle im Amt. Nach und nach wurden die Freigemeinden seit 1950 wieder aktiviert, und heute sind wieder, sieben deutsche Pastoren in diesen Gemeinden tätig. Das kirchliche Leben entfaltet sich heutzutage sehr harmonisch. Südlich der Grenze waren vor 1945 drei dänische Pastoren tätig. Die große Umwälzung nach 1945 führte dazu, daß die Zahl der Ge-

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meindeglieder mehrfach vergrößert wurde. Nach und nach sind 25 dänische Pastoren angestellt worden. Die meisten der Gemeindeglieder, die sich um diese Pastoren sammelten, blieben Glieder der schleswig-holsteinischen Landeskirche. Wie es im dritten Punkt der Ausführungen von Professor Jürgensen heißt, beschloß die Kirchenleitung im Jahre 1946, daß die Kirchengebäude der Landeskirche nur dann den dänischen Gemeinden offenstünden, wenn der Gottesdienst ausschließlich in dänischer Sprache durchgeführt würde. An und für sich klingt diese Regelung ganz einfach. In Wirklichkeit bedeutete sie unter den damals gegebenen Umständen eine Zutrittsverweigerung zu den Kirchengebäuden. Das hängt mit den komplizierten sprachlichen Verhältnissen im Grenzraum zusammen. Die Mitglieder der dänischen Minderheit südlich der Grenze benutzen weitgehend die deutsche Sprache, und die deutsche Minderheit in Nordschleswig entsprechend die dänische. Es kann sich auch so verhalten, daß z. B. durch Heiraten die Familienmitglieder nicht alle dieselben sprachlichen Voraussetzungen besitzen. Was die kirchliche Arbeit in den Minderheiten angeht, kann man sich nicht mit einer Sprache begnügen. Die verschiedenen Regelungen in den folgenden Jahren waren alle sehr restriktiv, und deshalb haben die dänischen Gemeinden eigene kirchliche Räumlichkeiten gefunden. Auch nachdem die Gegensätze abgebaut sind, werden diese Räume für kirchliche Zwecke verwendet. Nur ganz wenige dänische Kirchen sind neu gebaut worden. In dem vierten und letzten Punkt behandelt Professor Jürgensen die Bestrebungen, durch persönliche Gespräche zwischen Persönlichkeiten auf beiden Seiten der Grenze zu einer Klärung zu gelangen, durch „bewußte Hinwendung zur ökumenischen Brüderlichkeit", wie es heißt. Ungeachtet solcher Gespräche verschärften sich um 1950 die Gegensätze; man kann nicht von einer Entspannung reden, wie Professor Jürgensen es tut. Auch nicht, als im Jahre 1955 von außen ein Anstoß kam, das Verhältnis zwischen den Kirchen zu befrieden. Der Anlaß waren die zwischen den beiden Regierungen vereinbarten sogenannten Minderheiten-Erklärungen. Diese Erklärungen hatten den Zweck, die Rahmen für die Betätigung der Minderheiten festzulegen; die Regierungen wünschten, ein friedliches und harmonisches Zusammenleben der beiden Volksteile im schleswigschen Raum zu fördern. Die Erklärungen sind nicht rechtlich bindend, enthalten aber eine moralische Verpflichtung den Minderheiten gegenüber, die eher stärker ist als eine rechtliche. Bei den Verhandlungen wurden auch die kirchlichen Probleme angeschnitten. Die schleswig-holsteinische Landesregierung konnte aber nur der Landeskirche empfehlen, eine bessere Regelung durch-

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zuführen. Die Kirchenleitung fand sich jedoch nicht veranlaßt, mit der dänischen Seite zu verhandeln, erließ aber eine Regelung über die Verwendung der Kirchengebäude für die dänischen Gemeinden. Außerdem wurde ein kompliziertes Anerkennungsverfahren für dänische Pastoren festgelegt. Der Erlaß war jedoch ohne jede praktische Bedeutung, es dauerte 13 Jahre, bis endlich nach gegenseitigen Verhandlungen ein gutes nachbarliches Verhältnis erreicht wurde. Am 15. November 1968 erließ die Kirchenleitung ein „Gesetz zur Regelung der Zusammenarbeit mit der Dansk Kirke i Sydslesvig". Das Anerkennungsverfahren wurde sehr vereinfacht; neue Pastoren sollten sich bei dem Bischof in Schleswig vorstellen, was von allen Seiten als höflich und natürlich betrachtet wurde. Die sprachlichen Beschränkungen waren aufgegeben worden, und die Bedingungen für die Verwendung der Kirchengebäude wurde in liberaler Weise gehandhabt. Als jährlichen Zuschuß gibt die Landeskirche den Gegenwert der Besoldung von vier Pastoren in der Landeskirche. Man hat über die Grenze geguckt, wo, wie erwähnt, vier deutsche Pastoren von der dänischen Volkskirche besoldet werden. Die innere Organisation der „Dansk Kirke i Sydslesvig" hat sich im Laufe der Jahre gefestigt. Ein „Kirchentag" ist das oberste beschließende Organ; ein Propst steht an der Spitze von 20 bis 25 Pastoren. Die Zahl der Gemeindemitglieder liegt um 6000. „Dansk Kirke i Sydslesvig" ist durch „Dansk Kirke i Udlandet" mit der dänischen Volkskirche verbunden. Die Entwicklung ist alles in allem eine gute gewesen. Professor Jürgensen hat darauf hingewiesen, daß Präses Halfmann in Abschnitt IV der Rundverfügung sich auch gegen den Nationalismus im eigenen Lager gewendet hat (vgl. S. 112). Dies ist schwer zu ersehen. Denn in diesem Abschnitt stellt Halfmann den Nationalismus im Gegensatz zur Weltpolitik und Welttechnik, und er sieht die kirchliche Problematik auf dem Hintergrund des Säkularismus und des Nihilismus. Für Halfmann ist die Schleswig-Frage nur von geringfügigem Ausmaß. Er fragt, wie man um ein Ländchen wie Schleswig mit moralischem Geschrei laut eifern kann, wenn europäische Völker „heute den Untergang geliebtester Heimaten erleben, darin ihre schönsten Lieder und ehrwürdigsten Denkmäler und ihre größten Menschen wurzelten und begraben" sind. Hier könnte Präses Halfmann ruhig das Wort „europäisch" mit „deutsch" ersetzt haben. Denn er denkt natürlich an die verlorenen Ostgebiete. Diese Tendenz, „europäisch" zu sagen und „deutsch" zu meinen, war in der damaligen Zeit nicht ungewöhnlich. Die von Präses Halfmann entwickelten Ideen wurden nach meiner Auffassung weder der damaligen Zeit noch der fortschreitenden Entwicklung gerecht.

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Wenn er, ohne sich wirklich mit der dänischen Betrachtungsweise vertraut zu machen, diese als töricht, kleinlich und philiströs kennzeichnet, dann finde ich eigentlich, daß seine Betrachtungsweise, auf die schleswigschen Verhältnisse bezogen, sich nicht über dieses Niveau wesentlich erhebt trotz aller großen Worte über „Flucht aus der Weltgeschichte" und „Treulosigkeit gegen Gott". Auf diesem Hintergrund ist es erfreulich, feststellen zu können, daß die Verhältnisse, auch auf kirchlichem Gebiet, jetzt so gefestigt sind, daß Deutsche und Dänen in gutem nachbarschaftlichen Einvernehmen miteinander leben können. Präses Halfmann hat nicht dazu beigetragen.

Kurt Jürgensen: Entgegnung auf den Kommentar von Professor Troels Fink Für den Leser ist es sicherlich reizvoll, meinen Beitrag über die Schleswig-Frage nach 1945 in Verbindung mit der Stellungnahme von Professor Dr. Troels Fink lesen zu können. Solche Möglichkeit bringt dem Leser nur Gewinn; die kritische Einstellung, die grundsätzlich gegenüber Forschungsergebnissen in der Geschichtswissenschaft geboten ist, wird so geschärft. Aber es fällt auf, daß nur meine Ausführungen „kommentiert" werden. Dies hat sicherlich etwas mit dem besonderen Charakter meines Themas zu tun, hatte ich mir doch vorgenommen, auf der Tagung in Sandbjerg ein Stück der kontrovers beurteilten jüngsten Geschichte des Raumes vorzutragen, in welchem die Tagung stattfand. Dies war für die dänische Seite eine Herausforderung; aber sie war im guten Sinne gemeint, nämlich im Bemühen um Wahrheitsfindung. Der angesehene dänische Historiker Professor Troels Fink hat diese Herausforderung angenommen, und dafür bin ich ihm dankbar; auch ihm geht es um Wahrheitsfindung. Auf uns beide trifft in diesem Bemühen das Wort von Reinhard Wittram zu, daß wir - „von erlebter Geschichte umgetrieben" - „die Gegenwart als Geschichte, die Geschichte als Gegenwart" erfahren haben und immer wieder erfahren. Als Hans Rothfels 1953 die „Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte" begründete, verwies er zu Recht auf das Phänomen, dem man in der Zeitgeschichte besonders häufig begegnet, das indes im Schleswiger Land auch schon für das ganze 19. Jahrhundert gilt: Ich meine das „Betroffensein durch die Geschichte" 1

Beide Aussagen (von Wittram und Rothfels) in: REINHARD WITTRAM: Das Interesse an der Geschichte - Zwölf Vorlesungen über Fragen des zeitgenössischen Ge-

Entgegnung

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Dies trifft auf Troels Fink und mich gleichermaßen zu. Wir beide sind nämlich durch unsere jeweilige Herkunft als Däne bzw. als Deutscher und durch unsere Familien ganz eng mit Sonderjylland/ Schleswig verbunden. Für Troels Fink kommt hinzu, daß er als Angehöriger der älteren Generation - er hat am 18. April 1982 das 70. Lebensjahr vollendet - schon in der Nachkriegszeit, um die es hier geht, in verantwortlicher Position gestanden hat; hierzu gehört auch die Beratung der dänischen Regierung in der Grenzlandfrage. Troels Fink hat sich in seiner wissenschaftlichen Arbeit als Geschichtsprofessor in Aarhus schwerpunktmäßig mit dem Herzogtum Schleswig beschäftigt. Zu seinem Werk gehören die beiden Bücher: „Rids af Sonderjyllands Historie" und „Sonderjylland siden Genforeningen i 1920", die 1946 bzw. 1955 in Kopenhagen erschienen sind 2 . Als langjähriger dänischer Generalkonsul in meiner Heimatstadt Flensburg hat Troels Fink auch in einer herausragenden politischen Verantwortung gestanden. Abgesehen von ganz wenigen Neuformulierungen, die der sachlichen Einzelkorrektur und der stilistischen Verbesserung dienten, entspricht mein Beitrag genau der Fassung, wie sie den Teilnehmern der Tagung in Sandbjerg vorgelegen hat. Dies erschien mir ein Gebot der Fairness gegenüber dem Leser und natürlich auch gegenüber Troels Fink. Denn bei einer Neufassung hätte Troels Finks Stellungnahme ja keinen direkten Bezug mehr zu meinen Ausführungen gehabt. Doch gestehe ich, daß ich sehr in Versuchung gewesen bin, den Mónita von Troels Fink durch weitere Quellenarbeit nachzugehen. Ich habe davon aber aus zeitlichen und sachlichen Erwägungen Abstand genommen. Ich zögere, mich als Nichttheologe eingehender mit dem Begriff „Geschichtstheologie" auseinanderzusetzen, als es ansatzweise geschehen ist. Ich meine, nicht in Zweifel gezogen zu haben, daß die dänischen Pastoren gemäß ihrem Selbstverständnis Gottes Wort dienen wollten und dies auch getan haben. Aber viele von ihnen waren doch aus deutscher Sicht - meines Erachtens zu Recht - dem Vorwurf ausgesetzt, daß sie mit Verkündigung und Seelsorge auch (ich betone: auch) einen dänisch orientierten kulturpolitischen Auftrag versehen wollten. Und dies war für die Pastoren, die in der Tradition Nicolai schichtsverständnisses; 1. Vorlesung (Kleine Vandenhoeck-Reihe. 69-61). Göttingen 1963, S. 7. 2 Beide Bücher sind in der deutschen Ausgabe zusammengefaßt: Geschichte des schleswigschen Grenzlandes, ins Deutsche übertragen von Erik Bernstoff. Kebenhavn (Munksgaard) 1958.

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F. S. Grundtvigs standen, durchaus kein Widerspruch, im Gegenteil: beides ging für sie konform. Troels Finks Kommentar zu meinen Ausführungen, ich unterstellte den dänischen Pastoren eine ausschließliche bzw. vorrangige nationalistische Zielsetzung, hat keine Grundlage in dem, was ich gesagt und gemeint habe. Natürlich wäre über die Arbeit der dänischen Pastoren aufgrund eingehender Untersuchungen mehr zu sagen gewesen, als dies im Rahmen eines Kurzbeitrags geschehen konnte. Mich wundert, daß Troels Fink die „Verschiebungen in der nationalen Haltung" der Menschen des Grenzlands als einen normalen Vorgang hinstellt, bei dem die konkrete Zeitlage keiner näheren Prüfung zu bedürfen scheint. Das aber kann er nicht gemeint haben; er hat an anderer Stelle (nicht in seinem Kommentar zu meinen Ausführungen) zutreffend von der notbedingten „erdrutschartigen Verlagerung" im nationalen Empfinden der Schleswiger gesprochen, und daran lasse sich - wie ich in meinem Beitrag zitiert habe - „die Tiefe des deutschen Zusammenbruchs ermessen" 3 . Ich habe Troels Finks Ausführungen zur Kirchenorganisation im Bereich der beiden Minderheiten nördlich und südlich der Grenze als eine für den Leser wertvolle und hilfreiche Ergänzung empfunden. Ich begrüße auch sehr, daß Troels Fink den schwierigen und keineswegs geradlinigen Weg zum friedlichen Ausgleich im Grenzland bis zum Kirchengesetz vom 15. November 1968 betreffs der Zusammenarbeit der Ev.-Luth. Landeskirche mit der Dansk Kirke i Sydslesvig weitergeführt hat. Gern hätte ich jedoch erfahren, wie Troels Fink die Schwierigkeiten auf dem Wege dorthin beurteilt, soweit sie sich aus der häufigen Nichtbeachtung der Verfassung (von 1922) bzw. der Rechtsordnung der Ev.-Luth. Landeskirche Schleswig-Holsteins (von 1958) durch dänische Pastoren bei der Wahrnehmung von Amtshandlungen ergaben. Mir kam es bei meinem Beitrag darauf an zu zeigen, daß am Anfang des Weges, der letztendlich zu einer befriedeten Lage geführt hat, auch das aufrichtige Bemühen von Präses bzw. Bischof D. Wilhelm Halfmann und anderer Kirchenführer (wie P. Hans Asmussen D. D. und Bischof D. Wester) gestanden hat, den Nationalismus im kirchlichen Raum zu überwinden und den ökumenischen Gedanken im Verhältnis der Kirchen zueinander zur Geltung zu bringen. Hierüber gibt der Schriftwechsel zwischen Halfmann und Asmussen (im Ev. Zentralarchiv in Berlin) näheren Aufschluß. Ich glaube nicht, daß Troels Fink der Persönlichkeit von Bischof D. Halfmann gerecht wird. Mir erscheint der Satz, mit dem er seine 3

Vgl. oben S. 95 mit Anm. 5.

Entgegnung

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Stellungnahme zu meinem Beitrag abschließt, unhaltbar. Fink verkennt wohl auch in Halfmann den aufrechten Diener des Wortes Gottes, der schon im Juni 1935 mit seiner aufsehenerregenden Predigt auf der Ersten Bekenntnissynode der Ev.-Luth. Landeskirche Schleswig-Holsteins in Kiel gemäß Apostelgeschichte 4, 19 einen Maßstab gesetzt hat: „Richtet ihr selbst, ob es vor Gott recht sei". Diesem Maßstab hat sich Halfmann zeitlebens verpflichtet gefühlt, und er hat ihn bewußt zur Grundlage der kirchlichen Neuordnung in Schleswig-Holstein nach 1945 gemacht 4 . Ich kenne und achte Troels Fink seit vielen Jahren, und ich messe seinem wissenschaftlichen Werk einen hohen Rang zu. Was die Geschichte des schleswigschen Grenzlandes angeht, so wissen wir beide - ich sage es mit Troels Finks eigenen Worten - , daß „bei dem besten Willen zur Objektivität. . . aber die Gesichtspunkte dennoch verschieden [bleiben], ob man die Geschichte des alten Grenzlandes von Norden oder von Süden her betrachtet" 5 . Es ist viel erreicht, wenn die historischen Fakten gemeinsam gesehen werden und wenn man darüber hinaus die Gesichtspunkte, aufgrund derer der jeweils andere die Fakten interpretiert, wechselseitig zu verstehen trachtet.

4 5

Näheres in meinem Buch „Die Stunde der Kirche", S. 62. Vorwort zur „Geschichte des schleswigschen Grenzlandes", S. 5.

G E O R G KRETSCHMAR

Die „Vergangenheitsbewältigung" in den deutschen Kirchen nach 1945 1. Umgang mit der Vergangenheit als bleibende Aufgabe Daß der Mensch seine eigene Geschichte verarbeiten und insofern annehmen müsse, ist Denkform und Sprache der Psychotherapie. Man mag dies auch „Vergangenheitsbewältigung" nennen. Der Historiker und Theologe wird seine Schwierigkeiten haben, dies medizinale Konzept unbesehen zu übernehmen, um geschichtliche Vorgänge zu beschreiben. Gerade die Unschärfe des Wortes „Vergangenheitsbewältigung" weist ja darauf hin, daß die Sache, um die es gehen soll und um die es in dem hier ins Auge gefaßten Zeitabschnitt ging, nicht deutlich war und bis heute umstritten blieb, ja heute wieder neu im Streit steht. Die Rückfrage nach den ersten Jahren des Wiederaufbaus oder Neuaufbaus in Gesellschaft und Staat nach 1945 ist heute in der Bundesrepublik Deutschland kaum primär von akademischen Interessen gesteuert. Mit Grund könnte man eher von verdeckt theologischer Motivation sprechen. Gewiß wirkt es sich aus, daß seit einigen Jahren Archive zugänglich werden und deshalb auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit jener Epoche begonnen hat. Aber sehr viel elementarer drängt sich uns heute die Einsicht auf, in welchem Maße die gesellschaftlichen, politischen und auch kirchlichen Gegebenheiten der Gegenwart durch Entscheidungen geprägt wurden, die damals getroffen wurden - wobei im Rückblick manches als bewußte Entscheidung erscheint, was in jener Zeit im Zusammenspiel verschiedener Kräfte fast selbstverständlich sich durchgesetzt hat. Aber es ist unbestreitbar, daß sich unsere Möglichkeiten, unsere Erwartungen, eben die Selbstverständlichkeiten der Gegenwart in hohem Maße nur aus den Willensbildungen jener Jahre her begreifen lassen. Das gilt gerade dann, wenn wir - wie ein großer Teil unserer jungen Leute - solche „Selbstverständlichkeiten" kritisch werten und unsere Entscheidungsmöglichkeiten auszuweiten versuchen. Das ist nun eine Rückfrage an die Epoche damals, von heute her. Aber sie ist aufs engste verbunden mit der neuen Diskussion dar-

Die „Vergangenheitsbewältigung" in den deutschen Kirchen

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über, ob in jenen Jahren, eben „damals" die Trennung von der Vergangenheit scharf genug gezogen worden sei. Die Schrift Hermann Diems von 1946 „Restauration oder Neuanfang in der evangelischen Kirche" 1 hat in den ersten Worten ihres Titels neue Aktualität gewonnen. Allerdings ist es kein primär kirchliches Problem, das heute in der Regel vor Augen steht, wenn konstatiert wird, daß eben doch die Restauration statt des Neuanfangs gewählt worden sei. N u n wird man diese neuen bohrenden Fragen wohl im Zusammenhang einer spezifisch abendländischen Weise sehen müssen, mit Geschichte umzugehen, die vielleicht bei Deutschen besonders ausgeprägt ist, genauer im deutschen Protestantismus: Geschichte wird so sehr von der immer neuen Aufgabe der Reform oder Reformation begriffen, daß „Bewältigung" von Vergangenheit nur im radikalen Bruch zu gelingen scheint. So haben schon die angelsächsischen Missionare und Reformer um Winfrid-Bonifatius ihre Aufgabe gesehen; so hat die Reformbewegung um Gregor VII. im 11. Jahrhundert mit der überlieferten Reichskirche abgerechnet. In der Neuzeit auch nach der Reformation hat noch fast jede Generation nur in der Kritik an den Vätern zu sich selbst gefunden, ob es Dialektische Theologie, Deutsche Christen oder Bekennende Kirche waren - um Beispiele aus unserem Jahrhundert zu wählen. Dies setzt sich fort. Davon wird zu berichten sein. Aber dies alles ist doch nicht ein innerkirchliches Glasperlenspiel; es geht um Dienst und Sendung der Kirche in dem Lebensraum, der in den nordischen Ländern unbefangen als „Volk" bezeichnet wird, insofern gewiß um Authentizität und Identität der Kirche, doch dann zugleich um die Identität deutscher Geschichte. Von diesen etwas pathetischen Worten haben wir uns zu den Realitäten der Jahre um 1945 zu wenden. Ich tue es zunächst unter der Uberschrift:

2. Der Mythos der „Stunde Null" und das unbewältigte Erbe des „Kirchenkampfes " a. Wenn wir präziser nach dem Neuanfang in den deutschen Kirchen fragen, werden wir schnell zu Differenzierungen genötigt. Im Blick auf die katholischen Diözesen Westdeutschlands könnte schon die Beschreibung „Neuanfang" als unangemessen erscheinen, jedenfalls wenn man damit auch die Vorstellung einer Neuordnung 1 Hermann Diem: Restauration oder Neuanfang in der evangelischen Kirche? Stuttgart 1946.

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verbindet. Die Einbeziehung von Diözesen wie Breslau, Ermland, Danzig, auch Berlin, würde allerdings schnell zeigen, daß auch hier bis in die Wurzel reichende Verschiebungen stattfanden. Schon aus kirchenrechtlich verankerten Gründen ist hier die Anpassung an die Folgen des Kriegsausganges ein auch heute nicht abgeschlossener Prozeß 2 . Schauen wir auf den evangelischen Bereich, so drängt sich die Frage auf, was wir mit „Kirchen" meinen - den unscharfen Ausdruck „deutscher Protestantismus" suche ich zu vermeiden, ich gehe ausschließlich von dem sich in evangelischen Landeskirchen darstellenden Kirchentum aus und beziehe weder die Altlutheraner noch Methodisten, „Freikirchler" oder andere Gruppen und Gestaltungen der in der Regel zum Protestantismus gerechneten Teile der Christenheit ein. Lassen Sie mich mit einer zugespitzten These beginnen: Jene Jahre sind charakterisiert durch ein eigentümliches Auseinandergehen in Erfahrungen und Fragestellungen zwischen den kirchlichen Verantwortungsträgern auf hoher Ebene und den Gemeinden; ein Auseinandertreten, das die Wirklichkeit von Kirche in unserem Lande so tief bestimmt hat und weiter bestimmt, daß ich geneigt bin, hierin eine der Ursachen dafür zu sehen, wie in der folgenden Generation die seit dem Frühmittelalter gewiß nie problemlose, aber doch Geschichte bestimmende Weitergabe des Evangeliums in der Form einer das ganze Volk einbeziehenden Vermittlung christlicher Tradition in eine so tiefe Krise geriet. In dieser Form gilt dies wohl nur für Westdeutschland. Und gewiß ist diese Krise nirgends das Ergebnis jener Jahre allein, aber in der Geschichte dieses Kontinuitätsabrisses spielen sie eine wichtige Rolle 3 . 2 Als Beispiel sei auf WERNER MARSCHALL: Die Geschichte des Bistums Breslau, Stuttgart 1980, hingewiesen, besonders das Kapitel: Das Ende des deutschen Bistums (1945 bis 1972), S. 175-203. 3 Diese Behauptung eines Kontinuitätsabrisses bedürfte selbst einer genaueren Begründung. Im Zusammenhang mit den Ergebnissen demoskopischer Befragungen ist mehrfach herausgestellt worden, daß das Bewußtsein der Zugehörigkeit zur Kirche oder zu christlicher Tradition viel stärker verankert sei, als kritische Analytiker und Prognostiker immer wieder behauptet hätten; vgl. dazu etwa WERNER HARENBERG (Hg.): Was glauben die Deutschen? Die Emnid-Umfrage. Ergebnisse und Kommentare. München und Mainz 1969; HELMUT HILD (Hg.): Wie stabil ist die Kirche? Bestand und Erneuerung. Gelnhausen-Berlin 1974; GERHARD SCHMIDTCHEN: Gottesdienst in einer rationalen Welt. Religionssoziologische Untersuchungen im Bereich

d e r V E L K D . Stuttgart und Freiburg 1973; d a z u : MANFRED SEITZ - LUTZ MOHAUPT

(Hg.): Gottesdienst und öffentliche Meinung. Kommentare und Untersuchungen zur Gottesdienstumfrage der VELKD. Stuttgart und Freiburg 1977. - Besonders der bewußt provozierend gewählte Titel „Wie stabil ist die Kirche?" hat heftige Kontroversen heraufbeschworen. Wenn ich von Kontinuitätsabbruch rede, meine ich nicht eine

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Ich bin mir bewußt, daß diese Sätze so verallgemeinernd formuliert sind, daß sie schon aus methodischen Gründen fragwürdig, vielleicht unzulässig sein können. Aber um einer deutlichen Akzentuierung willen erlaube ich mir doch solche Zuspitzungen. b. Als Einstieg wähle ich ein Stichwort, das in Wort und Schrift immer wieder aufgegriffen wurde: „Der Ertrag des Kirchenkampfes". So lautete der Titel eines Büchleins von Edmund Schlink aus dem Jahre 1947 4 . Trotz der genannten Verbreitung dieser Fragestellung wird man im Rückblick sehr nüchtern zu konstatieren haben, daß es faktisch um das Thema einer relativ genau umschreibbaren Gruppe innerhalb der Kirche ging, eben jener, die den „Kirchenkampf" bewußt erlebt und mitgetragen hatte. Diese Feststellung soll weder das Recht der Frage noch das Gewicht der Antworten im geringsten einschränken. Aber das Stichwort „Kirchenkampf" war selbst eben längst nicht mehr eindeutig. Von Anfang an, seit das Wort aufkam, ging es um das Überleben der Kirche als Kirche, in Treue zu ihrem Auftrag, wovon ihr Dienst am Volk - wie man damals sagte, heute würden wir von gesellschaftlicher Verantwortung und Weltverantwortung reden - nicht abgelöst werden kann. Bekanntlich sah die Bekennende Kirche diese Identität der Kirche in den Jahren 1933/34 primär durch Kräfte gefährdet, die den geforderten Dienst anders bestimmten, die es als Gebot der Stunde und damit Gottes ansahen, sich voll in den nationalsozialistischen Aufbruch und die von ihm geprägte angebliche Erneuerung des Volkes hineinzustellen - nicht zuletzt um die Entfremdung zwischen Kirche und Volk zu überwinden, die in der Weimarer Zeit so offenkundig geworden sei. Kirchenkampf war also zunächst ein Ringen unter Christen - vorsichtiger: Leuten, die sich als Christen verstanden - , für Außenstehende also eine innerkirchliche Angelegenheit. Träger dieses Kampfes auf der einen Seite war die „Bekennende Kirche", als ihren Gegner sah sie die „Deutschen Christen". In welchem Sinne die Bekennende Kirche auch eine politische Oppositionsbewegung war, läßt sich in differenzierter Weise im Rückblick schon beantworohne weiteres meßbare Instabilität der Kirche, sondern das unbestreitbare Faktum, daß die alten Institutionen der Traditionsweitergabe, Elternhaus, Religionsunterricht in der Schule, Konfirmandenunterricht der Gemeinde in ihrem Zusammenspiel weder informativ noch bewußtseinsprägend heute das bewirken, was früher weithin als selbstverständlich vorausgesetzt wurde. Junge Menschen diskutieren heute vielleicht engagierter über die Gebote, insbesondere das 5. Gebot, als ihre Eltern und Großeltern; aber in der Regel haben sie die 10 Gebote nie gelernt und könnten sie auch kaum ohne weiteres „aufsagen". Diese natürlich nur als Beispiel herausgegriffene Beobachtung soll die Ambivalenz der Situation zeigen. 4 EDMUND SCHLINK: Der Ertrag des Kirchenkampfes. Gütersloh 1947; vgl. auch DERS.: Die Gnade in Gottes Gericht. Gütersloh 1946.

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ten 5 , aber damals hat sie sich leidenschaftlich und nicht nur aus Opportunitätsgründen dagegen gewehrt, als Widerstandsgruppe gegen diesen Staat eingestuft zu werden. In manchen Gegenden Deutschlands war dieser Kirchenkampf in den Gemeinden geführt und die „Bekennende Kirche" von Gemeinden getragen worden; gewiß war sie eine Erneuerungsbewegung. Aber am Ende der Zeit nationalsozialistischer Herrschaft in Deutschland hatte sich das Bild stark verschoben. Man wird hierfür drei Gründe nennen können: 1. Trotz des von Hitler 1939 angeordneten Burgfriedens war die Christentums- und kirchenfeindliche Ideologie des Regimes in Maßnahmen praktischer Politik so eklatant herausgetreten, daß in den Kampf um das Uberleben, nun in einem ganz anderen Sinn als 1933, schließlich jeder verflochten war, der sich für christliche Verkündigung, für evangelischen Glauben, für die Kirche verantwortlich wußte. Das wäre etwa an der Haltung deutsch-christlicher oder ursprünglich deutsch-christlicher Bischöfe aufzuweisen. Zumindest im Bereich der „Bekennenden Kirche" hatte zaghaft, unter Schmerzen und Konflikten, darüber hinaus der Lernprozeß eingesetzt, daß Kirche sich nicht nur auf Wahrung der rechten Lehre und Verteidigung ihrer Glieder beschränken dürfe, sondern Anwalt der Entrechteten und Unterdrückten überhaupt zu sein habe. Passive Resistenz gegen das nationalsozialistische Regime hatten nun sehr viele geleistet oder meinten zumindest, es getan zu haben. Die Anlässe wie Themen solchen Sich-widersetzens hatten sich gegenüber 1933/34 stark verschoben. Viele Gemeinden fragten längst nicht mehr danach, wo ihr Pastor in den Anfangsjahren des Kirchenkampfes gestanden hatte oder zu welcher kirchenpolitischen Gruppierung er sich zählte. 2. Wichtiger scheint mir an dieser Stelle noch eine andere Feststellung: Der Kampf der „Bekennenden Kirche" in den Jahren 1933/34 hatte sich bei den Einsichtigen im Rückblick so weitgehend als notwendig erwiesen, die „Deutschen Christen" hatten sich andererseits so eindeutig dekuvriert und hatten versagt, daß sie zur Randgruppe geworden waren, auch wenn sie mancherorts wie in Bremen, Thüringen, Mecklenburg, Sachsen noch den Machtapparat in der Hand hatten. Das hieß aber umgekehrt: Treue zum Evangelium, Sammlung um das Bekenntnis und Mitgliedschaft in der „Be5 Vgl. dazu etwa einerseits ERNST WOLF: Kirche im Widerstand? München 1965, andererseits HEINZ BRUNOTTE: Kirchenkampf als „Widerstand". In: Reformatio und Confessio. Festschrift Wilhelm Maurer, hg. von Friedrich Wilhelm Kantzenbach und Gerhard Müller. Berlin-Hamburg 1965, S. 315-324, und jetzt die differenzierten Ausführungen von KURT NOWAK (vgl. S. 228 ff. in diesem Band).

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kennenden Kirche" als einer etwa durch die „rote Karte" ausgewiesenen Gruppe deckten sich einfach nicht mehr 6 . 3. Und schließlich hatte sich auch die „Bekennende Kirche" der Frühzeit selbst seit 1935/36 gespalten, an der alten Nahtstelle zwischen den „Dahlemern" und den „intakten" lutherischen Kirchen die ebenfalls „intakt" gebliebenen reformierten Landeskirchen hatten niemals in derselben Weise zu den Trägern der „Bekennenden Kirche" gehört wie insbesondere Bayern und Württemberg. Der Riß zwischen dem „Reichsbruderrat" und dem „Rat der Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands" war bekanntlich bis Kriegsende nicht geheilt worden. Die Frage nach dem Ertrag des Kirchenkampfes Schloß nun 1945 ganz elementar auch die Abklärung dessen ein, was die „Bekennende Kirche" sei, auch was „Lutherische Kirche Deutschlands" sei. Beides ist, um es im Vorgriff zu sagen, nie wirklich zum Ziel gelangt. Im Sinne unseres Gesamtthemas heißt dies doch, daß ein Stück „Vergangenheitsbewältigung" nicht gelang. Doch ist es für diese Feststellung eigentlich noch zu früh. Vertreter aller Gruppen pflegten damals bei den Überlegungen zur Neuordnung des evangelischen Kirchentums in Deutschland zu betonen, daß es noch keinen Zeitpunkt gegeben habe, in dem die Kirche so frei gewesen sei, sich die Verfassung zu geben, die sie wolle, und die ihrer Selbständigkeit entspricht, wie jetzt. Ich bin hier ein wenig skeptisch, ob nicht doch der Wunsch der Vater des Gedankens, ja der Uberzeugung war; immerhin hatten sich auch 1933 die Väter der Verfassung der „Deutschen Evangelischen Kirche" freier gefühlt, als man es nun im Rückblick wahrhaben wollte, da diese Verfassung mißbraucht worden und gescheitert war. Aber jedenfalls begann der Neuaufbau in den Landeskirchen wie auf der - staatlich abgesehen vom Alliierten Kontrollrat nicht mehr existenten - gesamtdeutschen Ebene nicht in einer Stunde Null, sondern unter dem Auftrag und der Last, das Erbe des Kirchenkampfes und der „Bekennenden Kirche" verarbeiten zu dürfen und zu müssen. Damit waren aber auch alle ungelösten Fragen und alle Kontroversen jener 12 Jahre auf dem Tisch. Es waren nicht viele Gruppen verblieben; die persönlichen Kontakte untereinander hatten sich vor allem in der Kriegszeit immer schwieriger aufrechterhalten lassen 7 . Andererseits sahen diese Grup6

Ich greife damit auf eine These zurück, die ich schon früher entwickelt habe: Die Auseinandersetzung der Bekennenden Kirche mit den Deutschen Christen. In: KIRCHE U N D NATIONALSOZIALISMUS. Zur Geschichte des Kirchenkampfes, hg. von Johannes Strauß (Tutzinger Texte. Sonderband 1). München 1969, S. 117-148. 7 Altpräses Joachim Beckmann hat - mündlich - vor einer Überschätzung dieser Beobachtung gewarnt; bei den verschiedensten Anlässen und in den verschiedensten

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pen sich gegenseitig bisweilen weiter mit den Augen der Konflikte von 1933/34 oder 1935/36, sich selbst begriffen sie aber unter Einbeziehung der Erfahrungen der dazwischenliegenden Zeit. Der Kirchenkampf hatte als ein innerkirchlicher Streit begonnen und er sollte nun als ein innerkirchlicher Streit enden, allerdings unter ganz anderen Kontrahenten, doch mit Motivation und Pathos der vergangenen 12 Jahre. c. Das Gesagte ließe sich konkretisieren an einer Kontroverse zwischen Hans Asmussen und Karl Barth, für die einleitend nur daran zu erinnern ist, daß Asmussen Mitglied des Reichsbruderrates war, sich 1936 eindeutig gegen eine Zusammenarbeit mit den von Minister Kerrl ins Leben gerufenen Kirchenausschüssen gewandt hatte, also nicht zur Gruppe des Lutherrates gehörte 8 . Inzwischen war er Präsident der Kirchenkanzlei der im Aufbau befindlichen Evangelischen Kirche in Deutschland. In einer Flugschrift, auch aus dem Jahre 1947, faßt er einen Aspekt der Kritik Barths an der Evangelischen Kirche in Deutschland so zusammen: „Karl Barth sieht es als besonderen Fehler an, daß die BK nach dem Zusammenbruch mit denen zusammengegangen ist, die nicht Deutsche Christen und zur Zusammenarbeit mit der BK bereit waren. Seine besondere Aversion - das ist ein milder Ausdruck! - gilt dabei den Bischöfen Wurm und Meiser, in denen er offenbar die kirchliche Restauration besonders verkörpert sieht" 9 . Wobei anzumerken ist, daß sich Wurm und Meiser natürlich zur „Bekennenden Kirche" rechneten, wenn auch nicht zum Bruderratsflügel. Das geistliche Recht, ja die Notwendigkeit solcher Zusammenarbeit habe ich vorhin andeutend begründet: Das Gremien hätten sich doch die gleichen Leute immer wieder getroffen. Dem kann ich natürlich nicht widersprechen. Aber offenbar haben diese Begegnungen nicht Raum geboten, über die alten Kontroversen hinauszukommen. Um es in einem gewiß unangemessenen Bild zu sagen: Weithin sah man sich trotz dieser Begegnungen auch 1945 noch in den gegeneinander errichteten Schützengräben und wagte es nur selten, aus dem eigenen Graben herauszusteigen. Für die Kirchengeschichtsschreibung wird es aber ein dringendes Desiderat, diese verschiedenen Gremien der Jahre 1936/45 in ihrer Herkunft, Zusammensetzung und Aktivität genauer zu erfassen. Zum Teil wird dies im Rahmen der Edition der Aufzeichnungen geschehen, die Landesbischof Hans Meiser von den Sitzungen angefertigt hat, an denen er selbst teilnahm. Diese Edition wird von der Ev. Arbeitsgemeinschaft für kirchliche Zeitgeschichte vorbereitet (Bearbeiter: Hannelore Braun und Carsten Nicolaisen); der erste Band soll 1983 erscheinen. Ferner hat Helmut Baier die Edition der Protokolle aller dieser Gremien angekündigt. Beiden Projekten kommt ein hoher Stellenwert für die Durchleuchtung dieser Epoche zu. 8 Zu Hans Asmussen vgl. jetzt die Kieler theol. Dissertation von E N N O K O N U K I E wrrz: Hans Asmussen. Ein Lutheraner im Kirchenkampf (1982). ' H A N S ASMUSSEN: Antwort an Karl Barth (Schriftendienst der Kanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland. 7). Schwäbisch Gmünd 1947, S. 2.

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J a oder Nein zur Mitgliedschaft in der „Bekennenden Kirche" oder gar nur einer bestimmten Richtung in ihr konnte für sich genommen nicht die unterscheidende und scheidende Kraft des Evangeliums haben, jedenfalls nicht mehr 1945/47. Inhaltlich wäre dies am Weg des Einigungswerkes Theophil Wurms aus den letzten Kriegsjahren zu erläutern 10 . Der Rahmen dieser Sammlungsbewegung und damit auch der künftigen Evangelischen Kirche in Deutschland war weiter gespannt als die „Bekennende Kirche" mit allen ihren Flügeln. Dennoch blieben die Konflikte um die künftige Gestalt evangelischer Kirche in Deutschland Auseinandersetzungen fast ausschließlich unter Männern, die sich dem Erbe der „Bekennenden Kirche" verpflichtet wußten - mit sachlichem Recht. Das gilt auch dann, wenn man neben Bruderrat und Lutherrat als dritte Gruppierung den „Detmolder Kreis" stellt, der sich zunächst als Korrektiv zum Lutherrat begriff - er wollte Stimme der Lutheraner in Unionskirchen und außerhalb jener Landeskirchen sein, die sich anschickten, die „Vereinigte EvangelischLutherische Kirche Deutschlands" zu gründen. Die meisten seiner Mitglieder von Hans Asmussen bis Hermann Kunst kamen aber gleichfalls aus der „Bekennenden Kirche" n . Diese Gruppierungen hatten einen unterschiedlichen Weg hinter sich. Der Lutherrat, dem ja nicht nur intakte Landeskirchen angehörten 1 2 , konnte seit 1936 in relativer Kontinuität arbeiten und verfügte 1945 über klare, wenn auch noch nicht ausgereifte Pläne für die Gestalt der Lutherischen Kirche Deutschlands und ihren Zusammenhang mit den anderen Konfessionskirchen des deutschen Protestantismus. Dem Reichsbruderrat war es seit 1937 nicht mehr möglich gewesen zusammenzutreten. Dieser Teil der „Bekennenden Kirche" mußte sich 1945 eigentlich erst neu sammeln und eigene Konzeptionen entwickeln, dies ist ihm nie ganz gelungen. Nur die altpreußische Bekennende Kirche hat bis 1943 noch Synoden gehalten und darüber hinaus Arbeitsaufträge erteilt. Ein kleiner Sonderausschuß hatte sich noch Anfang 1945 auf eine Denkschrift „Von rechter Kirchenordnung" verständigt 1 3 . 10 Vgl. hierzu JÖRG THIERFELDER: Das kirchliche Einigungswerk des württembergischen Landesbischofs Theophil Wurm (AKiZ. Β 2). Göttingen 1975. " Eine Ausnahme war Wilhelm Stählin, der ebenfalls im „Detmolder Kreis" mitarbeitete. Diese Gruppierung verdiente eine genauere Untersuchung; vgl. jetzt schon

ANNEMARIE SMITH-VON OSTEN: Von Treysa 1945 bis Eisenach 1948. Zur Geschichte

der Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland (AKiZ. Β 9). Göttingen 1980, S. 263 f.; 2 7 0 - 7 2 ; 3 4 1 - 3 5 3 .

12 Z.B. Sachsen, aber auch Christophori-Synode Schlesiens und die Landesbruderräte in einigen der „zerstörten" Kirchen. 15 Die Denkschrift des altpreußischen Bruderrates „Von rechter Kirchenordnung". Ein Dokument zur Rechtsgeschichte des Kirchenkampfes, hg. und eingeleitet von AL-

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Schubladenvorlagen gab es also - die Freude, dies endlich verwirklichen zu können, mag bisweilen zu der Euphorie beigetragen haben, daß jetzt die Stunde gekommen sei, in der die Kirche ihre Neuordnung selbst in die Hand nehmen könne. Allerdings ist zu beachten, daß derartige Konzeptionen für die Ausformung und öffentlich-rechtliche Ordnung der lutherischen Kirche und der zu selbständigen (Landes-)kirchen werdenden Provinzialkirchen der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union vorlagen, nicht für eine Nachfolgeinstitution der Deutschen Evangelischen Kirche, obgleich es nirgends bestritten war, daß auch hier eine Neuordnung unabdingbar sein würde. Ich möchte die verschiedenen Konzeptionen nicht im einzelnen entfalten, aber sie gingen jeweils davon aus, daß Vorhandenes, als geistliche Wirklichkeit mit volkskirchlichem Charakter Vorhandenes, neu zu ordnen sei. Das eine der genannten Gremien nannte sich eben seit seiner Konstituierung „Rat der Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands" (Lutherrat). In dem Briefwechsel der Jahre 1945/48 haben Männer wie Hans Meiser fast stets von der „lutherischen Kirche", nicht von „lutherischen Kirchen" in der Mehrzahl gesprochen. Diese eine lutherische Kirche war nicht neu zu kreieren, es ging allein darum, die vorhandene Wirklichkeit in angemessener Weise auch in Kirchenordnung in Erscheinung treten zu lassen. Daß dies dennoch keine klare Rede war, ergibt sich aus der simplen Rückfrage, wohin die Lutheraner in den unierten Kirchen gehören. Hier sollte der „Detmolder Kreis" als ad hoc-Gründung einsetzen mit dem Versuch, das Luthertum des Lutherrates und in den unierten Kirchen zusammenzuhalten und damit auch der werdenden Evangelischen Kirche in Deutschland aus der Spannung zwischen den Fronten herauszuhelfen. Auch die Pläne des altpreußischen Bruderrates gehen von geistlichen Realitäten aus, den Provinzialkirchen als Ansatz der Erneuerung. Die Frage nach Einheitsinstitutionen zwischen diesen Kirchen oder gar aller von Schrift und Bekenntnis sich erneuernden evangelischen Kirchen in Deutschland verschwindet demgegenüber am Horizont. Was aus diesen Konzeptionen auf dem Wege von Treysa 1945 bis zur Verabschiedung der Verfassung der Vereinigten EvangelischLutherischen Kirche Deutschlands und der Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland in Eisenach 1948 geworden ist, hat inzwischen Frau Smith-von Osten engagiert dargestellt mit klaren Wertungen, die ihrerseits Rückfragen wecken 14 . Es standen BERT STEIN. In: Zur Geschichte des Kirchenkampfes. Gesammelte Aufsätze II (AGK. 2 6 ) . G ö t t i n g e n 1 9 7 1 , S. 1 6 4 - 1 9 6 . 14

Vgl. Anm. 11.

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vor allem drei Modellvorstellungen nebeneinander: Im Umkreis des Lutherrates sah man in den vorhandenen Konfessionen den gegebenen, notwendigen Ansatzpunkt für die Neuordnung. Da sich im Grunde doch niemand vorstellen konnte, daß die Unionsbildungen des 19. Jahrhunderts rückgängig gemacht werden könnten, schälte sich bei Paul Fleisch und Georg Merz eine Drei-Säulen-Theorie heraus, als Kooperation von Lutheranern, Reformierten und Unierten 15 . Dem Detmolder Kreis und der württembergischen Landeskirche schwebte eine großlutherische Kirche mit klarem Eigenraum für die Reformierten vor. Im Auftrag des Reichsbruderrates entwickelte Erik Wolf einen Plan zum Aufbau der Evangelischen Kirche in Deutschland von den Gemeinden selbst her; anders orientiert und doch in derselben Linie lagen Vorstellungen der württembergischen Sozietät, des Bruderrats-Flügels innerhalb der sich als Ganze zur „Bekennenden Kirche" zählenden evangelischen Landeskirche in Württemberg 16 . Ich möchte hier nur auf zwei Punkte hinweisen: 1. Alle diese Gruppen wollten Neues, sie wollten nicht nur an die Stelle der gescheiterten Deutschen Evangelischen Kirche von 1933 etwas Besseres setzen, sondern auch Strukturen ändern, die seit Jahrhunderten gewachsen waren. Das wird Martin Niemöller und dem Reichsbruderrat niemand bestreiten; es gilt auch für die Wortführer des Detmolder Kreises, ob man hier an Hans Asmussen oder an Wilhelm Stählin denkt. Aber auch der Plan einer einheitlichen lutherischen Kirche war doch nicht restaurativ, sondern stellte ein Ziel auf, für das es in der Geschichte seit der Reformation kein Vorbild gab. „Restaurativ" war diese Konzeption nur, wenn man den Rückgriff auf das reformatorische Bekenntnis selbst für Restauration hielt. Doch dies hätte ja den ganzen Ansatz der „Bekennenden Kirche" durchgestrichen. Der Konflikt spitzte sich dann scheinbar auf die Frage zu, welches Bekenntnis Grundlage der Kirche sein sollte, die reformatorischen Bekenntnisse im Plural, entsprechend 15 EBD., S. 239f.; 331 f. Die Wertung: „Diesem Entwurf Fleischs fehlt jede geistliche Dimension" ist nicht unberechtigt; für einen Mann wie Paul Fleisch war eben die werdende VELKD Kirche und eine geistliche Größe, die werdende E K D nicht. Damit war er aber doch Sprecher nur einer kleinen Minderheit. 16 Als ihre Programmschrift kann man die in Anm. 1 genannte Arbeit von HERMANN DIEM verstehen; sie enthielt den „Entwurf einer Ordnung für die Evangelische Landeskirche Württembergs" (S. 58-80). Zu deren Vorgeschichte vgl. nun die Autobiographie von HERMANN DIEM: Ja oder Nein. 50 Jahre Theologie in Kirche und Staat. Stuttgart-Berlin 1974. Aufschluß über die Sozietät gibt auch der Tagungsbericht EVANGELISCHE SELBSTPRÜFUNG. Beiträge und Berichte von der gemeinsamen Arbeitstagung der Kirchlich-Theologischen Sozietät in Württemberg und der Gesellschaft für Evangelische Theologie Sektion Süddeutschland im Kurhaus Bad Boll vom 12. bis 16. Oktober 1946, hg. von Paul Schempp. Stutgart 1947.

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der Sicht der werdenden VELKD, etwa das Apostolikum nach einem Vorschlag von Erik Wolf, oder etwa gar, wie einige nun meinten, die Barmer Theologische Erklärung als das gemeinsame Band der „Bekennenden Kirche". Tatsächlich wäre es aber unsinnig gewesen, diese Vorschläge gegeneinander auszuspielen. Wo hätte man ernsthaft daran denken können, die reformatorischen Bekenntnisse etwa durch das Apostolikum zu ersetzen! Eher könnte man versuchen, die Unterschiede daran aufzuzeigen, wie diese gemeinsam bejahten Lehraussagen der Alten Kirche, der Reformation und der Gegenwart zueinander in Beziehung gesetzt wurden. Allerdings träten die Differenzen auch dann nur in Nuancen heraus. Charakteristisch ist etwa die Beschreibung der Bekenntnisgrundlage in dem Verfassungsentwurf der genannten württembergischen Sozietät. Er beginnt mit dem Satz: „Die württembergische Landeskirche steht durch ihre Geschichte in der Einheit mit der Kirche der Apostel", daraus wird die Bindung an das Wort Gottes im Zeugnis der Heiligen Schrift als der alleinigen Richtschnur und Norm für die Verkündigung entfaltet. Der Text fährt fort: „Gemeinsam mit der alten Kirche bezeugt sie ihren Glauben durch das Apostolicum, Nicänum und Athanasianum. Mit der Confessio Augustana und der Confessio Virtembergica bekennt sie sich zu dem Weg, auf dem die Väter der Reformation das Evangelium in der Kirche wieder auf den Leuchter stellten. Mit dieser Kirchenordnung macht die württembergische Landeskirche einen neuen Anfang nach Jahren schwerer Zerstörung . . . 1 7 . Sie bekennt sich dabei dankbar zu der ,Theologischen Erklärung von Barmen' als dem der bedrängten Kirche in rechter Auslegung der Schrift und der reformatorischen Bekenntnisse geschenkten Wort zur Abwehr der Irrtümer unserer Zeit und weiß sich für ihre Verkündigung und Ordnung an dieser Erklärung gebunden". So sehr die Sprecher dieser Gruppe als Außenseiter galten, die Aufzählung hätte so ähnlich auch von den anderen Richtungen übernommen werden können 18 . Die Besonderheit zeigt sich eher darin, daß ein 17 Restauration oder Neuanfang S. 61. Der gedruckte Text weist dort, wo ich eine Auslassung durch Punkte angedeutet habe, einen sinnstörenden Satzfehler auf („. . . und Verkündigung ihrer Ordnung . . ."). 18 Auch der folgende Satz war eigentlich nur bedingt strittig: „Mit der Evangelischen Reformierten Gemeinde Stuttgart steht die württembergische Landeskirche in der Gemeinschaft der Kirche Christi". Paul Fleisch hätte nicht zugestimmt; umstritten war in der Regel aber nur, welcher Art diese Gemeinschaft sein könne; die Lutheraner der künftigen VELKD waren überzeugt, daß volle Kirchengemeinschaft, die Abendmahlsgemeinschaft ermöglichen würde, eine verbindliche Klärung der strittigen Fragen der Abendmahlslehre voraussetze - und dies sahen sie eben durch die Ergebnisse der Synode von Halle 1937 noch nicht gegeben. Daß in die Verfassung der V E L K D dann die Theologische Erklärung von Barmen nur in ihren Verwerfungen

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landeskirchliches Proprium - die Confessio Virtembergica von 1543 - festgeschrieben wird, und in dem sich besonders ungebrochen zeigenden neuen Selbstbewußtsein, aus dem heraus die Freikirchen zum Anschluß an die Landeskirche aufgefordert werden konnten, und das Thema einer - noch nicht möglichen - Kirchengemeinschaft mit der römisch-katholischen Kirche ausdrücklich genannt ist 19 . 2. Dies führt auf die zweite Beobachtung, die in dem Gesagten schon impliziert ist: Im Rückblick gesehen sind sich die Träger dieser verschiedenen Konzeptionen in einer fast unglaublichen Weise nahe gewesen. Fast allen ging es um die Überwindung des Landeskirchentums herkömmlicher Art. Martin Niemöller sprach gelegentlich von Diözesen einer Kirche; für die Cheftheologen des Lutherrates Schloß eben die Bildung einer Lutherischen Kirche Deutschlands die Uberleitung aus den traditionellen Landeskirchen ein; im Dethineinkam, ist sicher Hinweis auf den unabgeschlossenen Streit darüber, ob Barmen die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium bestritte und jede Form einer „Natürlichen Theologie" abgewiesen habe - zu dieser Sachfrage vgl. einerseits EDMUND SCHLINK: Die Verborgenheit Gottes des Schöpfers nach lutherischer Lehre. In: Theologische Aufsätze Karl Barth zum 50. Geburtstag, hg. von Ernst Wolf, München 1 9 3 6 , S. 2 0 2 - 2 2 1 , andererseits etwa CHRISTIAN STOLL: Die Theologische Erklärung von Barmen im Urteil des lutherischen Bekenntnisses (Kirchlich-Theologische Hefte. 2 ) . München 1 9 4 6 ; zum Ganzen ERNST WOLF: Barmen. Kirche zwischen Versuchung und Gnade. München 1 9 5 7 , 2 . Aufl. 1 9 7 0 , S. 9 2 - 1 1 2 . Heute stellen sich die verbliebenen Konfliktpunkte vor allem im Verständnis der 2 . These, vgl.: Z U M POLITISCHEN AUFTRAG DER CHRISTLICHEN GEMEINDE. Barmen II. Votum des Theologischen Ausschusses der Evangelischen Kirche der Union, hg. von Alfred Burgsmüller. Gütersloh 1974. Gerade diese Konflikte werden sich aber nur schwer zwischen Lutheranern und Unierten oder gar Calvinisten aufteilen lassen. Vor allem ist diese Zurückhaltung der Verfassung der VELKD gegenüber der Theologischen Erklärung von Barmen aber eine Reaktion auf die damals so intensiv diskutierte angebliche Überbewertung Barmens als möglicher Basis einer Union; vgl. dazu jetzt A. SMITH-VON OSTEN (Anm. 1 1 ) , S. 2 6 5 ff. " Der Text ist so charakteristisch und doch wenig bekannt, daß ich zitieren möchte: „Sie [die württembergische Landeskirche] weiß sich in dem Augenblick, in dem sie selbst einen neuen Anfang macht, in besonderer Weise verpflichtet, die Freikirchen und Sekten, die sich von den Reformationskirchen getrennt haben, zur Einheit der Kirche Christi zurückzurufen. Sie fordert diese auf, ihre Lehre neu an den reformatorischen Erkenntnissen und Bekenntnissen zu prüfen und dort, wo keine Irrlehren sie daran hindern, eine unecht gewordene Entscheidung rückgängig zu machen - trotz aller Verbundenheit im Glauben und Handeln zwischen evangelischen und katholischen Christen und der Gemeinsamkeit im Leiden und in der Abwehr der Irrtümer unserer Zeit ist eine Kirchengemeinschaft mit der römisch-katholischen Kirche solange nicht möglich, als diese bei der Verwerfung der reformatorischen Gnadenlehre durch die Beschlüsse des Konzils von Trient verharrt und sich dadurch selbst den Rückweg in die Eine Kirche Christi verschlossen hält" (S. 61 f.). Was immer von dieser stolzen Sprache zu halten sein mag, gegenüber der römisch-katholischen Kirche war sie offener, als es damals üblich war, und in ihrer frohgemuten Selbstgewißheit unterschied sie sich kaum vom Reformwillen der VELKD-Lutheraner.

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molder Kreis wollte man die Unionskirchen so stark vom Bekenntnis her durchformen, daß sie im Ergebnis auch eine tiefgreifend veränderte Struktur erhalten hätten. Etwas andere Töne werden eigentlich nur eben in Württemberg laut. In der Forderung eines bekenntnisbestimmten Kirchenregimentes bestand ebenfalls breiter Konsens. Wenn man die Berichte über die Sitzungen des Vorläufigen Rates der EKD von 1945 bis 1948 liest, ist es immer neu faszinierend, wie weitgehend etwa Heinrich Held, der Präses der rheinischen Kirche, und Hans Meiser, der bayerische Landesbischof, übereinstimmten. Für beide war die werdende EKD ein Bund bekenntnis-bestimmter Kirchen, für beide war Barmen gültige Autorität - auch wenn sie daraus nicht die gleichen Konsequenzen zogen. Aber auch Heinrich Held wies es weit von sich, in der „Theologischen Erklärung von Barmen" ein für sich stehendes Bekenntnis zu sehen, das Grundlage einer Unionskirche sein könnte 2 0 . Die Ubereinstimmungen werden noch viel tiefer, wenn man die Beschlüsse der altpreußischen Synoden der Bekennenden Kirche während des Krieges mit dem vergleicht, was dann ansatzweise von der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands realisiert wurde und deshalb schnell als lutherisches Proprium oder gar Allotria galt. Hans Asmussen hatte in der schon genannten Antwort an Karl Barth von 1947 weithin recht, wenn er Bereiche wie Gebet, Gottesdienst der Gemeinde, geistliche Leitung, Seelsorge als die gemeinsam erkannten Schwerpunkte nannte 21 . Am stärksten tritt dies wohl an der Tagesordnung und den Entscheidungen der letzten Synode des altpreußischen Bruderrates am 16./17. Oktober 1943 in Breslau heraus. Die kritische Bestandsaufnahme in dem Bericht „Die Aufgabe unserer Kirche in ihrer gegenwärtigen Lage" wendet sich gegen die faktische „Kasernierung" der Kirche, d. h. ihre Gettoexistenz; gegen die Armut des Gottesdienstes - in der Einsicht, daß der Gottesdienst der Gemeinde Quellort christlichen Lebens für ihre Glieder ist und „im Wiederfinden und Wiederbeleben der gottesdienstlichen Formen, in denen die evangelische Kirche ihr Leben vor Zeiten gefunden hat", wird „Kasernierung der Kirche ihr Segen" - ; gegen die Zerstörung der Wurzeln der Volkskirche - diese Wurzeln sind die Kindertaufe und die christliche Erziehung durch das Elternhaus - ; gegen die Verweltlichung des geistlichen Amtes, die als „Verbürgerlichung" charakterisiert wird „dem geistlichen Stande unserer Kirche fehlt eine gemeinsame Ordnung des geistlichen Lebens" - ; gegen das Fehlen geistlicher Lei20 21

Vgl. Aufzeichnung Meisers vom Vgl. Anm. 9.

22.

6. 1946 (LKA

NÜRNBERG,

Nachlaß Meiser).

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tung. Im Zusammenhang damit steht Kritik an den festgewurzelten konfessionellen Abgrenzungen und Sprachregelungen: „Die Gemeinden diesen Weg der Buße und reformatorischen Neubesinnung zu führen, wird nur gelingen, wenn die Begriffe ,evangelisch' und .protestantisch', ,katholisch' und ,römisch' recht unterschieden und recht miteinander verbunden werden . . . »Evangelische' Gebundenheit und ,katholische', d. h. allgemein christliche Überlieferung müssen sich neu begegnen, soll unsere Kirche wirklich Kirche sein". Diese Konzentration auf die Mitte Schloß aber gerade nicht aus, daß die Synode Weltverantwortung in dem Maße wahrnahm, wie es ihr möglich war; sie hat eine großartige Handreichung zum Verstehen des 5. Gebotes verabschiedet. Dies schien erforderlich schon im Blick auf Groß-Rosen, die Außenstelle eines Konzentrationslagers in der Nähe von Breslau 22 . Die Breslauer Synode hat noch den Arbeitsauftrag erteilt, daß der Ordinationsausschuß baldmöglichst „Richtlinien für eine evangelische Ordnung der Kirche" vorlegen solle. Diese Denkschrift „Von rechter Kirchenordnung" ist noch Anfang 1945 fertiggestellt worden. Sie stellt Grundsätze für eine Verfassung auf, die diesen Einsichten über das, was das Leben der Kirche trägt, entspricht. Das Gegenüber von Amt und Gemeinde in der beide umgreifenden und verbindenden Ausrichtung auf die Verkündigung des Evangeliums wird von der Gemeinde mit ihren Ältesten und ihrem Pastor über den Kirchenkreis mit Kreissynode und Superintendenten zur Provinzialkirche mit Provinzialsynode und Bischof durchgehalten. Die selbständig gewordenen Provinzialkirchen der Ev. Kirche der altpreußischen Union schließen sich zu einer Gesamtkirche innerhalb der Deutschen Evangelischen Kirche zusammen, mit eigener Generalsynode. Dieser Zusammenschluß steht anderen Kirchen zum Beitritt offen 2 3 . - Abgesehen davon, daß über den Leitenden Bischof nicht gesprochen wird oder er nicht vorkommt, ist das eigentlich das Modell der künftigen VELKD - mit der Differenz, daß die Amtsträger auf die lutherischen bzw. - d.h. oder - die reformierten Bekenntnisschriften verpflichtet sind; ein uniertes Bekenntnis gibt es nicht; während die V E L K D naturgemäß von der Bindung an das Bekenntnis der Wittenberger Reformation ausgeht. Wenn man verstehen will, warum solche Gemeinsamkeiten jetzt, 1945-1948, nicht mehr trugen, ja weithin fortgeweht zu sein schienen, darf man allerdings nicht nur von Karl Barth reden, wie es As2 2 WILHELM NIESEL (Hg.): U m Verkündigung und Ordnung der Kirche. Die Bekenntnissynoden der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union 1 9 3 4 - 1 9 4 3 . Bielefeld 1949, S. 9 9 - 1 1 1 . 2 3 Vgl. Anm. 13.

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müssen tat und wie es in dem Feindbild nun vieler im lutherischen Lager einschließlich des Detmolder Kreises üblich wurde, sondern muß vor allem bedenken, daß dies, aufs Ganze gesehen, zunächst die Erfahrung eines kleinen Kreises „in der Kasernierung" gewesen war, hinter der nur an wenigen Stelleij eine überzeugte Pfarrerschaft oder gar aktive Gemeinden standen. Aber eine geschlossene Gruppe mit nun hoher Autorität hätte predigend, werbend, überzeugend viel bewirken können, wenn sich die Reformbewegungen nicht gegenseitig diffamiert und damit schließlich beide lahmgelegt hätten. So führten sie aus der Sicht der sich nun herausbildenden demokratischen Öffentlichkeit ein Glasperlenspiel auf, und am Ende blieb das überlieferte Landeskirchentum, das alle - genauer: fast alle - abschaffen oder zumindest reformieren wollten, als einzige tragfähige Basis f ü r kirchliche Ordnung zurück. Dies ist nicht eine resignierende Wertung, sondern zunächst als Beschreibung eines Vorganges gemeint. Sicher kann man auch davon sprechen, daß schließlich die Kirche in die antirevolutionäre, konservative Linie der deutschen Gesellschaft der Nachkriegszeit eingerückt sei. Aber es wäre falsch, dies nur negativ zu bewerten. Gerade in der Krise jener Jahre erwiesen sich die allseitig kritisierten Landeskirchen als geschichtlich vorgegebener Rahmen und gültiger Ansatz f ü r Kontinuität und Erneuerung 2 4 ; dies ließ sich gerade am Beispiel Württembergs studieren, das schon aus Rücksicht auf die kirchentreuen Gemeinden wenig zu Experimenten geneigt war, aber auch an den westdeutschen Provinzialkirchen der ehemaligen altpreußischen Union, die nun zu eigenständigen Landeskirchen werden und dabei sehr schnell eben auch „landeskirchliches" Selbstbewußtsein entwickeln sollten. Hier ging es um mehr als darum, daß sich die vorhandenen Verwaltungsstrukturen leicht übernehmen und ausbauen ließen.

3. Die neue Situation und die alten Realitäten a. Damit wird es Zeit, die Isolierung des Blickes auf diese sachlich zentralen, aber doch als innerkirchlich, ja innerprotestantisch erscheinenden Konflikte zu beenden. Die Rahmenbedingungen jener Jahre hat Martin Greschat einmal sehr genau bezeichnet, wenn er in einer Buchbesprechung von der „außerordentlichen geistigen, politischen und gesellschaftlichen Bedeutung" beider Kirchen in der 24

Diesen Aspekt habe ich unterstrichen in: Kirchengemeinschaft in Deutschland. In: ZEvKR 22, 1977, S. 225-254.

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Nachkriegszeit schrieb: „Denn allein die kirchliche Organisation hatte sowohl die politische Gleichschaltung als auch den totalen Krieg im wesentlichen unbeschadet überstanden und zudem durch Ansätze eines Widerstandes gegen die NS-Diktatur gewisse Sympathien bei den Alliierten, insbesondere natürlich bei den Westmächten gewonnen. So vermochten die Kirchen nach 1945 zunächst einmal einen Einfluß auszuüben, der alle ihre früheren Möglichkeiten weit übertraf. Umgekehrt suchten viele jetzt wieder die Verbindung zur Kirche, die sie in den vorangegangenen Jahren verlassen hatten" 25 . Das heißt aber, die Volkskirche lebte. Die Situation von 1933 schien unter völlig anderem Vorzeichen wiedergekommen zu sein. Hatte man damals allerdings das Hereinströmen unkirchlicher Massen zu fürchten gelernt, so erfuhren viele unter uns die neue Situation als Bewährung der Wirklichkeit von Volkskirche. Konnten jetzt aber die zuvor erarbeiteten Modelle für eine Kirche „in der Kasernierung" noch taugen? Wie waren die theologischen Einsichten, von denen man eben erst gesprochen hatte, jetzt zu bewahren? Und schließlich: Was bedeutete es, daß eben die so kritisierten alten Strukturen jetzt eine ungeahnte Autorität ausstrahlten? b. Im Vordergrund des Denkens der Menschen standen Hunger, Demontage, die Hoffnung auf die Heimkehr der Gefangenen, die Problematik der Entnazifizierung. Die alten oder neuen Kirchenleitungen waren schnell und selbstverständlich zu den einzigen als möglicherweise legitimiert geltenden Sprechern der Bevölkerung geworden; ihre Proteste bei den Besatzungsmächten gegen deren Politik brachten bald das gute Klima des Anfangs zum Schwinden. Daß die Besatzungsmächte mit den deutschen Kirchenführern anders verfuhren als mit Politikern wie dem aufmüpfigen Wirtschaftsdirektor der „Bizone", Dr. Semler, und trotz aller Konflikte weiter mit ihnen verhandelten, verdankten sie wohl doch wesentlich der Stützung von außen, einerseits dem Vatikan, andererseits der werdenden Ökumene und damit letztlich der öffentlichen Meinung in den Heimatländern der westlichen Militärregierungen 26 . Das Pathos der kirchlichen Proteste auf evangelischer Seite, bei Martin Niemöller nicht anders als bei Theophil Wurm, läßt sich übrigens auch nur auf einem psychologischen Hintergrund verstehen, der doch zugleich die Differenz zwischen den Kirchenführern und den Gemeinden 25

In: WuPKG 76, 1978, S. 438. Zu dieser Gesamtthematik vgl. FREDERIC SPOTTS: Kirchen und Politik in Deutschland. Stuttgart 1976, und den Sammelband: KIRCHEN IN DER NACHKRIEGSZEIT. Vier zeitgeschichtliche Beiträge (AKiZ. Β 8). Göttingen 1979, hier besonders den Beitrag von ARMIN BOYENS: Die Kirchenpolitik der amerikanischen Besatzungsmacht in Deutschland von 1944 bis 1946 (S. 1-99). 26

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noch einmal aufleuchten läßt: Die alten und die neuen Verantwortungsträger der evangelischen Kirchen fühlten sich - im Unterschied zu den katholischen Bischöfen - wirklich befreit, - die Gemeinden erlebten sich trotz der Freude über das Ende des Krieges als Besiegte. Man wird diesen Unterschied mit zu registrieren haben, wenn man nach den Anfängen der Enttäuschungserlebnisse sucht, die für die folgenden Jahre charakteristisch werden sollten. Die Diskrepanz läßt sich auch noch an einer anderen Stelle erkennen: In jenen Jahren gelangten zwei Männer zu Ansehen und wurden für sehr viele evangelische Christen Repräsentanten ihrer Kirche, vor der sie Respekt hatten, die nur dünne oder gar keine Beziehungen zum neuen Kirchenregiment hatten, im Gegenteil deren Namen im Rat der EKD fast nur kritisch genannt wurden, Theodor Heckel und Eugen Gerstenmaier. Bischof Heckel war als Leiter des Kirchlichen Außenamtes der letzte Repräsentant der zerbrochenen Reichskirche gewesen; 1939 hatte er das Ev. Hilfswerk für Kriegsgefangene und Internierte gegründet, als dessen Leiter galt er nun als Bischof der Kriegsgefangenen. Verrat am Evangelium konnte ihm niemand vorwerfen; aber Widerstandskämpfer wie etwa Dietrich Bonhoeffer war er gewiß nicht gewesen - ein überzeugendes Bild dieses Mannes, das die unterschiedlichen Aspekte seiner Tätigkeiten aufnimmt, ist bis heute nicht gezeichnet 27 . Eugen Gerstenmaier kam aus dem Kirchlichen Außenamt Heckeis und war unbestreitbar ein Mann des Widerstandes, aber in seiner Theologie stand er der Bekennenden Kirche fern; er blieb ein Mann der Ökumene, aber in anderer Weise, als sie im neuen Kirchlichen Außenamt gepflegt wurde, und baute das „Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland" auf, im Auftrag des Rates der EKD, aber doch in Distanz zu ihm 28 . Der Rat mochte seine guten Gründe zur Zurückhaltung haben; dennoch waren Heckel wie Gerstenmaier Männer mit politischem Gespür und darin sicher vielen Männern des Rates überlegen, auch Männern mit geistlichem Profil, die so bald gerade nicht zuletzt über politischen Fragen auseinandergehen sollten. 27

Bis jetzt muß hier ebenfalls auf Arbeiten von ARMIN BOYENS verwiesen werden: Kirchenkampf und Ökumene 1933-39. Darstellung und Dokumentation. München 1969; Kirchenkampf und Ökumene 1939-45. Darstellung und Dokumentation. München 1973. Boyens stellt Sicht und Wertung der Vorgänge vor allem von der Genfer Zentrale des im Aufbau befindlichen Ökumenischen Rates der Kirchen her dar. Aus Deutschland, Skandinavien, Südosteuropa würden sich noch andere Akzente ergeben. 28 Seine eigene Darstellung jetzt in: E U G E N GERSTENMAIER: Streit und Friede hat seine Zeit. Ein Lebensbericht. Stuttgart 1981, besonders S. 119-259. Über das Hilfswerk der EKD ist demnächst eine Berliner Dissertation aus der Feder von MICHAEL W I S C H N A T H zu erwarten.

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c. Auf die Dauer gesehen am wichtigsten war aber wohl die neue Aufgabe, Flüchtlinge und Vertriebene aus Ostdeutschland und Osteuropa einzugliedern. Vielleicht sind gerade hieran die Reformvisionen von 1945/48 gescheitert 29 . Das Modell bekenntnisbestimmter Kirchen, die Konzeptionen eines Neuaufbaus von den Gemeinden aus, hatten immer die Situation bis 1945 vorausgesetzt. Durch den Zustrom von Millionen, die eine völlige Umschichtung der Gesamtbevölkerung und ihrer konfessionellen Traditionen heraufführten, verschob sich die Ausgangsstellung. Die für die Zukunft wichtigste Entscheidung hat der noch provisorische Rat des EKD faktisch schon 1946 getroffen 3 0 , als er festlegte, daß nur für außerdeutsche Flüchtlinge Exilkirchen anerkannt werden könnten, also etwa für die baltischen Esten und Letten; Deutsche und deutschstämmige Vertriebene oder Flüchtlinge wurden in die Landeskirchen eingegliedert. Konkret hatte also die lettische Kirche im Exil auf deutschem Boden einen eigenen Erzbischof, aber die schlesische Kirche lebte wie etwa die Kirche der Vertriebenen aus Jugoslawien oder der Umsiedler aus Bessarabien in der Gestalt von Hilfskomitees fort. Für diese Entscheidung waren kaum politische Gründe maßgebend, auch nicht Auflagen der Alliierten, sondern das alte deutsche Kirchenrecht. Es war immer üblich gewesen, daß die Übersiedlung aus der einen in die andere Landeskirche auch einen Wechsel der Kirchenmitgliedschaft einschloß. Im Zusammenhang der Frage nach der konfessionellen Struktur der EKD oft als „Möbelwagen-Konversion" verspottet, wurde diese, für Umzüge gedachte, Regelung nun auf eine gänzlich andere Situation angewandt und brachte notwendigerweise eine so nicht programmierte Aufwertung der Landeskirchen mit sich in einer Zeit, die Millionen erstmalig wirkliche Erfahrungen konfessioneller Verschiedenheiten aufzwang. Lutherische Schlesier wurden in reformierten Gebieten angesiedelt, aber auch im lutherischen Bayern, wo sie als „Unierte" Verlegenheiten bereiteten. Evangelische Diasporagemeinden vervielfachten sich der Zahl nach, Flüchtlinge wurden schnell - trotz der anderen Traditionen, die sie repräsentierten - zu Trägern des kirchlichen Lebens in den Landeskirchen der verschiedenen Besatzungsgebiete. Man wird nur mit Dank und Respekt von der Leistung der Landeskirchen und der werdenden Evangelischen Kirche in Deutschland reden können, daß sie diese Aufgabe der Eingliederung in hohem Maße bewältigt haben. Aber unbestreitbar lief dies völlig an allen Reformkonzepten vorbei. " Vgl. demnächst HARTMUT RUDOLPH: Evangelische Kirche und Vertriebene I (AKiZ. Β 11). Göttingen 1983. 30 Ebd., S. 67 u . ö .

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Daß, wie eben gesagt, gerade Vertriebene in einzelnen Gemeinden zu Trägern von kirchlicher Erneuerung werden konnten, ist unbestreitbar, aber dies geschah ohne jede Steuerung von „oben", ob Lutherrat, ob Bruderrat, ob Rat der EKD. Diese Bevölkerungsumschichtung hat auch einen Ausgleich im kirchlichen Brauchtum der Landeskirchen untereinander gebracht, der das bisherige „Profil" in vieler Hinsicht abgeschliffen hat. Gleichzeitig wuchs ein neues Verhältnis der Großkonfessionen zueinander, das aller Theologie noch weit vorauslief. Es ist klar, daß alle diese Erfahrungen das überlieferte Selbstverständnis der Landeskirchen und das Geschichtsbild des deutschen Protestantismus in Frage stellten.

4. Das Aufarbeiten von Geschichte

a. Es mag sehr akademisch klingen, das Thema politische Verantwortung der Kirche unter dieser Uberschrift anzuschneiden. Aber eigentlich war es von Anfang an um solches Aufarbeiten von Geschichte gegangen. Triebkraft der Bekennenden Kirche war doch die Neuentdeckung der Aktualität der Reformation gewesen. Hieraus war die Fähigkeit zum Handeln, zu Widerstand und Innovation erwachsen. Die Verschärfung des konfessionellen Problems war die Kehrseite der Entdeckung von Brüdern anderer Geschichte. Unter den neuen Chiffren „Zwei-Reiche-Lehre" und „Königsherrschaft Jesu Christi" prallten verschiedene, erst jetzt ins Bewußtsein getretene kirchliche Traditionen aufeinander. Immer bedrängender wurde es aber auch notwendig, den Weg deutscher Geschichte zu verstehen. 1933 hatten es nur wenige als peinlich empfunden, wenn Linien von Luther zu Bismarck und dann zu Adolf Hitler gezogen wurden. Jetzt mußte neu bedacht werden, wie der Weg in die NSHerrschaft und den Krieg zu verstehen sei, wie das Abreißen jahrhundertealter Traditionen durch das Zusammenstreichen des Siedlungsraumes der Deutschen, nicht nur von Grenzveränderungen wie 1918, wie die sich anbahnende Teilung Restdeutschlands zu bewältigen sei. Doch möchte ich nicht bei allgemeinen Betrachtungen einsetzen, sondern bei der Erklärung des Rates der EKD vom 19. Oktober 1945, die als das Stuttgarter Schuldbekenntnis bekanntgeworden ist 31 . Der einmütig verabschiedete Text geht auf einen Entwurf von 51 Vgl. HARTMUT LUDWIG: Karl Barths Dienst an der Versöhnung. Zur Geschichte des Stuttgarter Schuldbekenntnisses. In: Zur Geschichte des Kirchenkampfes. Gesam-

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Otto Dibelius zurück; es ist an ihm noch viel korrigiert worden, das läßt auf eine intensive Diskussion schließen. Die entscheidenden Sätze lauten: „Mit großem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus: Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, daß wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben. Nun soll in unseren Kirchen ein neuer Anfang gemacht werden . . .". Der Anlaß dieser Erklärung gehört als Kontext zu seinem Verständnis hinzu; ein unerwarteter Besuch ökumenischer Kirchenführer 3 2 zwang kurzfristig dazu, Einsichten auszusprechen, die wohl lange gereift waren, deren gemeinsame Formulierung aber nicht vorbereitet werden konnte. Was in dieser Erklärung geschehen war, geriet bald in Streit, auch unter den Unterzeichnern selbst; aber keiner der Anwesenden ist von dem Vorgang selbst und dem Text abgerückt. Auch wenn dies später bestritten wurde, war er natürlich für eine Öffentlichkeit bestimmt, die der ökumenischen Christenheit, und deshalb auch zur Veröffentlichung. Und sicher war er auch ein politisches Wort - wie immer man hier den Sprachgebrauch im einzelnen präzisieren mag; denn es war ein Wort zu politischen Fakten von Kirche, im Namen der Kirche, aufgrund des Gewissens ihrer Bischöfe. Es war ein kirchliches Wort, das sich mit dem Weg der eigenen Nation identifizierte und zugleich von ihm distanzierte. Diese Ambivalenz ist sofort kritisch vermerkt worden 3 3 ;

melte Aufsätze II. (AGK. 26). Göttingen 1971, S. 265-326 (mit wichtigem Dokumentenanhang) und jetzt MARTIN GRESCHAT (Hg.): Die Schuld der Kirche. Dokumente und Reflexionen zur Stuttgarter Schulderklärung vom 18./19. Oktober 1945 (Studienbücher zur kirchlichen Zeitgeschichte. 4). München 1982. 32 Hans Meiser nannte sie in seinen Aufzeichnungen einmal „Oekumeniker", ein Hinweis darauf, wie neu die Sache und wie wenig festgelegt der Sprachgebrauch noch war (vgl. oben Anm. 20, Aufzeichnung vom 19. 10. 1945). 35 In dieser Richtung auch heute lesenswert ist die Kontroverse zwischen E. Gross und H. Asmussen, die in einem der charaktervollsten Nachkriegs-Periodica ausgetragen wurde: ERWIN GROSS: Die Schuld der Kirche. Fragen an die Bekenner und Bekämpfer des Stuttgarter Schuldbekenntnisses. In: Die Wandlung, Jg. 2, 1947, S. 133-145; HANS ASMUSSEN: Die Stuttgarter Erklärung. Ebd., Jg. 3, 1947, S. 17-27; ERWIN GROSS: Die unbekannte Schuld der Kirche. Ebd., S. 28-39; diese Erwiderung von E. Gross war eingeleitet durch den Text des Gleichnisses vom Pharisäer und Zöllner. Die Redaktion bemerkte am Ende des Jahrgangs, wenn sie „den Lesern etwas raten darf, so wäre es dies: daß die einen sich bei der Lektüre nicht zu rasch entrüsten, die anderen nicht zu rasch frohlocken möchten" (S. 756).

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sie war gewiß nicht Heuchelei oder Unentschiedenheit, sondern weist auf ein Sachproblem. Deutlicher waren die Proteste derer, die diese Aussage als nationalen Verrat werteten. Man wird derartige Reaktionen gerade im Rückblick nur als normal einstufen können, sie weisen aber auf die damals zwingend gestellte Aufgabe, die Gemeinden für dies Bekenntnis zu gewinnen. Man wird nüchtern konstatieren müssen, daß der Rat des EKD und die ihn tragende Bekennende Kirche hieran gescheitert sind; im kirchenpolitischen Streit auch um das Verstehen dieser Aussage ist vieles zerrieben worden. Und dennoch war es ein großes und sachgerechtes Wort, in dem Identität der Kirche im Bekenntnis festgehalten wird, gewiß einem Bekenntnis anderer Art als im Streit um die Konfessionen, aber doch so, daß die Treue zum Vorgegebenen und das Bekennen heute zusammenfielen. Insofern ist hier Geschichte aufgenommen worden; es wurde nicht aufgerechnet, sondern ein neuer Anfang gemacht. Und dennoch bleiben Fragen, zumindest drei: 1. Was geschieht mit einem solchen Schuldbekenntnis? Das „Darmstädter Wort", auf das noch zurückzukommen sein wird, formuliert zwei Jahre später: „Indem wir das erkennen und bekennen, wissen wir uns als Gemeinde Jesu Christi freigesprochen zu einem neuen besseren Dienst zur Ehre Gottes und zum ewigen und zeitlichen Heil der Menschen" 34 . Das ist im Vergleich zur Stuttgarter Rede ein schwülstiger Stil, man wird auch von einer unausgegorenen Theologie sprechen müssen; denn wo hätte sonst in der Kirche gegolten, daß Schuldige sich im Bekennen bereits freigesprochen wissen und zudem gleich selbst in neuen Dienst gestellt? Gerade ein entscheidender Aspekt des Stuttgarter Wortes ist hier ausgeblendet, das konkrete Gegenüber zu anderen Menschen, Christen, die das Bekenntnis hören. Aber es war nun auch eine andere Situation, dem Darmstädter Wort fehlte dieser Partner. Doch wird aus diesem Vergleich wohl die bohrende, bleibende Frage Hans Asmussens verständlich, wer denn nun das Absolutionswort gesprochen habe oder von wem es zu erwarten sei, das Gottes Antwort auf das Bekenntnis der Schuld wäre. 2. Ein weiteres Problem ist, wie sich politische und kirchliche Aussage in der Stuttgarter Erklärung zueinander verhalten. Jorgen Glenthoj meinte Ende der 60er Jahre: „Karl Barths Wünsche sind al34

Zitiert nach: DIETER SCHELLONG: Versöhnung und Politik. Zur Aktualität des Darmstädter Wortes. In: Karl-Gerhard Steck/Dieter Schellong: Umstrittene Versöhnung (TEH 196). München 1977, S. 35-66; Text des „Darmstädter Wortes" ebd., S. 37 f.

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lerdings mit der Stuttgarter Schulderklärung nicht erfüllt worden . . . Karl Barth hatte eine innerdeutsche tagespolitische Verantwortung im Sinn, während Martin Niemöller die Buße als Weg ins Freie predigte" 35 . Niemöller hat diese Unterscheidung mit Recht abgelehnt, wenn auch die Wendung „tagespolitisch" in jedem Fall unpassend war. Dennoch weist Glenthojs Vermutung auf den Kern künftiger Konflikte. Daß es einen politischen Auftrag der Kirche und deshalb politische Verantwortung in der Gesellschaft gibt, war seit 1932 und erst recht im Jahre 1945 in der Bekennenden Kirche unbestritten 36 . Streit brach an der Frage auf, wie solcher Auftrag wahrgenommen wird. Wahrscheinlich hätte noch Ubereinstimmung darin bestanden, daß ein Schuldbekenntnis etwas anderes ist als ein tagespolitischer Ratschlag. Gewiß gibt es auch gute Stellungnahmen im tagespolitischen Streit - aber dann muß bei These und Gegenthese nicht immer gleich das Evangelium auf dem Spiel stehen, und dann ist Kirche schlecht beraten, wenn sie empfindlich darauf reagieren sollte, daß andere andere Meinungen vortragen. Doch das ist dann nicht die Situation des Oktobers 1945. 3. Doch wer sind denn die „wir", die in dieser Ratserklärung das Wort nehmen? „Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gekommen", so lautet die Aussage. Man wird im Grundsatz dieselbe Frage gegenüber der Erklärung erheben müssen, die zum 1. September 1979, 40 Jahre nach Kriegsbeginn, im gleichen Wortlaut von der Evangelischen Kirche in Deutschland im Bereich der Bundesrepublik und Westberlins und vom Bund der Kirchen in der D D R veröffentlicht worden ist 37 . In beiden Fällen geht es um Identifizierung mit der Nation im Bekenntnis vor Gott und zugleich um Differenzierung als Kirche. Wir stehen wieder vor dem Thema 35

N a c h H . LUDWIG ( A n m . 3 1 ) , S . 2 9 9 .

36

Das Jahr 1932 soll auf das „Altonaer Bekenntnis" verweisen, das zwar das Datum des 11. Januar 1933 trägt, aber Reaktion auf den sogenannten „Altonaer Blutsonntag" am 17. Juli 1932, an dem bei einem Zusammenstoß aller bewaffneten Verbände der rivalisierenden Parteien, SA und SS, Stahlhelm, Kommunisten und SPD 17 Menschen durch Schüsse getötet wurden. HANS ASMUSSEN, der zu den Autoren gehört, hat den Text seinem autobiographischen Rechenschaftsbericht angefügt: Zur jüngsten Kirchengeschichte. Anmerkungen und Folgerungen. Stuttgart 1961, S. 126-134. Zu den Vorgängen vgl. jetzt KLAUS SCHOLDER: Die Kirchen und das Dritte Reich I. Frankfurt-Berlin-Wien 1977, S. 226ff.; 233-238. Der Text war bereits überschrieben: „Das Wort und Bekenntnis Altonaer Pastoren in der N o t der Verwirrung des öffentlichen Lebens". Die Rede vom „Bekenntnis" begann bereits vor der Machtübernahme Hitlers gegenüber einer anscheinend auf Bürgerkrieg zusteuernden Situation, also in einem politischen Kontext - als Wort vom Wesen und der Sendung der Kirche, im bewußten Rückgriff auf die Konkordienformel, also die lutherischen Bekenntnisschriften. 37

Text in: EPD-DOKUMENTATION Nr. 37a/1979.

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Volkskirche, wenn auch in neuer Weise. Ein Vergleich mit der Situation nach 1918 macht das Besondere deutlich: Damals fühlten sich alle evangelischen Theologen und Kirchenführer bei internationalen Konferenzen im Gewissen verpflichtet, gegen die angebliche „Kriegsschuldlüge" zu protestieren. Auch dies war Solidarität mit der Nation, aber in der Abwehr eines Schuldvorwurfes, der als ungerechtfertigt empfunden wurde und deshalb in der Tat die Gewissen verletzte. Jetzt identifizieren sich Christen im kirchenleitenden Amt mit der Nation in der Gewißheit gemeinsam zu verantwortender Schuld. Es ist gewiß kein Einwand gegen die Stuttgarter Erklärung, daß sie nicht deutlich genug gewesen sei - vom Holocaust war noch wenig bekannt, Nürnberger Prozesse haben erst später konkreteres Material auf den Tisch gelegt. Dagegen wird man sagen können, daß sich die Erfahrung des Kirchenkampfes bestätigte und wiederholte: Aus der Konzentration auf das Evangelium erwuchs, bisweilen erst in einem langen geschichtlichen Weg, die Vollmacht zum öffentlichen Reden. Auch jetzt wurde das Bekenntnis der Schuld vor Gott und den Brüdern zur Voraussetzung der geistlichen Freiheit, auch Anwalt der Nation gegenüber den Besatzungsmächten zu sein. Es sind solche geistlichen Erfahrungen, die heute den Kirchen in Deutschland es nahelegen, auf Selbständigkeit gegenüber dem Volk, der Nation, dem Staat zu bestehen. Nicht als Staatskirche, geschweige denn als Kirche der Besatzungsmacht, sondern als bis in ihre Rechtsordnung hinein freie und eigenständige Kirche war, wenn es überhaupt geschehen ist, Identifikation mit dem Volk möglich. Aber es liegt kein Grund vor, von diesen Geschehnissen mit Euphorie zu sprechen; denn die Wiedergewinnung von Identität mit der Nation war zunächst eine theologische Behauptung, damals bis heute nicht einfach geschichtliche Erfahrung. Hier bleibt es bei dem Auseinanderklaffen zwischen dem großen neuen Aufbruch von Volkskirche in jenen Jahren und der Unfähigkeit, in ihn die neuen Einsichten der Jahre seit 1933 einzubringen. b. Aus dieser Verlegenheit hat auch das Darmstädter Wort des Reichsbruderrates vom 8. August 1947 3 8 nicht herausgeführt, das seit einigen Jahren aus der Vergessenheit, in die es versunken war, herausgezogen worden ist und seitdem neu im Streit steht. Bei allen Differenzen der Auslegung hat die Stuttgarter Ratserklärung die Bekennende Kirche zusammengeführt und zusammengehalten, auch in 38 Vgl. Anm. 34; zur Geschichte der Erklärung jetzt HERMANN DIEM: Ja oder Nein (Anm. 16), S. 200; vgl. ferner ERWIN WILKENS: Zum „Darmstädter Wort" vom 8. August 1947. In: Zukunft aus dem Wort. Helmut Claß zum 65. Geburtstag. Hg. von Günther Metzger. Stuttgart 1978, S. 151-169.

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der neuen Situation. Das Darmstädter Wort hat dagegen von Anfang an tiefe Polarisierungen heraufgeführt, innerhalb der Bekennenden Kirche, auch innerhalb des Reichsbruderrates. Das hängt zunächst mit dem Zustandekommen der Erklärung zusammen; es war doch der Handstreich einer Gruppe, die schon innerhalb des Bruderrates keine klare Mehrheit für sich hatte. Erwin Wilkens schrieb im Rückblick in kaum überbietbarer Härte: „Nach allem wird man das Darmstädter Wort kaum anders als die Privatarbeit einer Minderheit bezeichnen können, die ohne ein Einvernehmen mit dem Rat der EKD und ohne Bemühungen um einen Konsensus in den eigenen Reihen sich des Bruderrates der EKD und seines Ansehens als Verwalter des Ertrages des Kirchenkampfes bediente, um für die evangelische Kirche zu sprechen. Auf keinen Fall gehört das Wort an die Seite von Barmen 1934 und Stuttgart 1945. Es ist weder ein Dokument der Bekennenden Kirche noch der werdenden EKD. Wenn der Bruderrat über eine funktionierende Geschäftsordnung verfügt hätte, wäre es nie zu diesem Wort gekommen" 39 . Die Schärfe dieser Auseinandersetzung nach 30 Jahren ist erstaunlich, vor allem wenn man das Wort selbst zur Hand nimmt; denn es ist eigentlich eine gute Erklärung. Auch hier ging es um Schuld, nach Überzeugung der Verfasser wurde sie konkreter angesprochen als in Stuttgart: „Wir sind in die Irre gegangen, als wir begannen, den Traum einer besonderen deutschen Sendung zu träumen . . . wir sind in die Irre gegangen, als wir begannen, eine ,christliche Front' aufzurichten gegenüber notwendig gewordenen Neuordnungen im gesellschaftlichen Leben der Menschen . . . wir sind in die Irre gegangen, als wir meinten, eine Front der Guten gegen die Bösen, des Lichtes gegen die Finsternis, der Gerechten gegen die Ungerechten im politischen Leben mit politischen Mitteln bilden zu müssen . . . wir sind in die Irre gegangen, als wir übersahen, daß der ökonomische Materialismus der marxistischen Lehre die Kirche an den Auftrag und die Verheißung der Gemeinde für das Leben und Zusammenleben der Menschen im Diesseits hätte gemahnen müssen". Dann folgt die schon zitierte Sentenz „Indem wir das erkennen und bekennen, wissen wir uns . . . freigesprochen". Solche Aussagen wollten gewiß ein prophetischer Bußruf an die Nation sein, oder besser an die Christen in der Nation. Es waren auch unwiderlegbare Einsichten, die in ihm ihren Ausdruck fanden; noch einmal stoßen wir hier auf die Spuren Hermann Diems. Doch gerade mit diesem Willen zur Konkretisierung hängt das Scheitern der Erklärung zusammen. Gerade die Einsichten griffen den Verstehensmöglichkei" EBD., S. 159.

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ten der meisten Zeitgenossen, auch der Christen unter ihnen, weit voraus. Hinzu kommt, daß Thesen in Form eines Schuldbekenntnisses vorgetragen werden, die man später im Stil einer Denkschrift erörtert hätte. Die Frage nach dem „wir" der hier Redenden stellte sich ungleich schärfer als bei der Stuttgarter Erklärung. Und bei aller Anerkennung für die in dieser Erklärung ausgesprochenen Einsichten wird man auch im Rückblick den Verdacht nicht los, daß die Autoren, obgleich sie mit dem Wort von der Versöhnung der Welt mit Gott in Christus einsetzten, innerkirchlich gesehen jedenfalls nicht auf Versöhnung aus waren, sondern auf Widerlegung und Entlarvung von Gegnern. Faktisch richteten sie eine neue „Front der Guten gegen die Bösen, des Lichtes gegen die Finsternis, der Gerechten gegen die Ungerechten im politischen Leben" auf. Deshalb wurde diese Erklärung nicht zum lösenden Wort. Und dennoch bleibt das Recht des in ihr Ausgesagten bestehen. Die Geschichte unserer Generation seit 1945, ja der Generationen seit 1933 kann ich nur als einen Lernprozeß begreifen, demgegenüber sich auch gutgemeinte, selbst gute kirchliche Worte bisweilen als kurzatmig erwiesen haben. Die Jahre von 1933 bis 1945 waren eine Zeit, in der nicht nur die Bekennende Kirche, sondern die ganze Christenheit in Deutschland neue Einsichten gewonnen hat. Es war ein schmerzliches Lernen im Versagen und in neuen Aufbrüchen. Von einem Lernprozeß 40 zu sprechen hebt nicht auf, daß es Verhalten gibt - in Entscheidungen und im Nichtwiderstehen, im Treibenlassen - , das auch im Rückblick schuldhaft genannt werden muß. Aber es wird dann einerseits unmöglich, alle Einsichten, die am Ende dieses Weges gewonnen waren, bereits als selbstverständlichen kritischen Maßstab für die Jahre 1933/34 oder 1935/37 einzubringen und andererseits die Handlungen oder Reden einzelner Personen in der Zeit der Euphorie am Anfang des „Dritten Reiches" als alleinigen Gradmesser ihrer geschichtlichen Bewährung gelten zu lassen. Das Menschenalter seit 1945 schließt wieder derartige Lernprozesse ein. Wir sehen das konfessionelle Problem heute schon deshalb anders, weil wir Ökumene nicht nur als den Vorgang inner40 Die Jahre 1945 bis zur Gegenwart werden hier als Lernprozeß charakterisiert im Blick auf die Bewußtseinslage und die Maßstäbe der das kirchliche Leben tragenden Christen; im Blick auf die Gesellschaft als Ganze schrieb TRUTZ RENDTORFF kürzlich: „Die Geschichte der Bundesrepublik ist ein noch offenes und unabgeschlossenes Kapitel ihrer eigenen Religionsgeschichte. Im Blick auf die Zukunft stehen wir vor der Frage: Welche Freiheit meinen wir?" Aus: 30 Jahre Bundesrepublik - ein Kapitel Religionsgeschichte? In: Walter Scheel (Hg.): Die andere deutsche Frage. Kultur und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland nach 30 Jahren. Stuttgart 1981, S. 153-167; das Zitat sind die Schlußsätze des Beitrages.

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protestantischer Selbstfindu.ng erfahren. Es gibt einen Weg, der von den „Arnoldshainer Thesen", die den innerdeutschen Streit um das Abendmahl schlichten sollten, zur „Leuenberger Konkordie europäischer Kirchen" und zu dem Lehrtext „Das Herrenmahl" führt, in dem beauftragte Vertreter des römisch-katholischen Einheitssekretariats und des Lutherischen Weltbundes gemeinsam vom Sakrament des Altars sprechen. Zur Ökumene gehört für uns die Entdeckung der Mitverantwortung für die Kirchen in Afrika und Asien. Das Thema des Verhältnisses von Kirche und Israel, des neuen zum alten Gottesvolk, ist unter uns gewiß noch nicht abgeklärt, wenn dies je gelingen sollte. Aber es ist uns anders gestellt als 1945. Auch im Bereich der politischen Verantwortung der Christenheit und der kirchenleitenden Ämter und Dienste haben wir gegenüber damals neue Erfahrungen gesammelt. Doch gibt uns dies kein Recht, diese unsere Einsichten unbefangen als Meßlatten nun an die Entscheidungen und Kontroversen von 1945/48 anzulegen. Natürlich ist Geschichte kritisch aufzuarbeiten. Aber alles Wachsen braucht auch Zeit zur Reife. Und eben damit wachsen unsere Chancen, über alte Kontroversen hinauszukommen, nicht indem wir den Streit von damals neu beginnen, sondern indem wir die offen gebliebenen Fragen als unsere eigenen Themen begreifen. c. Gestaltung der Gegenwart ist immer nur möglich im Aufnehmen und Weiterführen von Vergangenem und im Sich-davon-Abstoßen. Daß die Ansätze zur Reform nach 1945 nur partiell gelungen sind - manche würden von einem Scheitern sprechen - , ist betrüblich, vielleicht erschreckend; es gibt Lähmungen nach vielen Richtungen hin, die als Folge bis in unsere Tage reichen. Aber die 1948 entstandenen Strukturen des Nebeneinander und Ineinander von „Evangelische Kirche in Deutschland" und „Vereinigte EvangelischLutherische Kirche Deutschlands" als Kirchen - wenn dies Wort auch auf beide Zusammenschlüsse bezogen nicht völlig gleichsinnig ist - haben sich doch als durchaus praktikabel erwiesen. Wenn es heute Konflikte gibt, sind sie in der Regel das Ergebnis von Verhärtungen seit 1948, eines Auseinanderdriftens, wie es damals niemand gewollt hat und niemand vorhersehen konnte. Aber hier ist auch manches zu verbessern. Ordnungsstrukturen können in der Regel nicht einfacher und durchsichtiger sein als die Verhältnisse, die sich in ihnen spiegeln. Sehr viel schwerwiegender und folgenreicher war es, daß die verantwortlichen Männer der evangelischen Christenheit in Deutschland bei der Aufgabe gescheitert sind, die Einsichten des Stuttgarter Schuldbekenntnisses damals den Gemeinden wirklich nahezubringen. Dies hat zu jenem Generationskonflikt entscheidend beigetra-

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gen, der sich darin zeigt, daß nach 40 Jahren Fragen wie neu aufbrechen können, für die in der Kirche doch seit 1945 Antworten bereit gelegen haben. Sicher muß eine neue Generation sich ihre Antwort auf Geschichte wieder neu erkämpfen. Aber daß diese neue Generation oft meint, sich gegen ein restauratives Verschweigen aufbäumen zu müssen, ist eben doch die Konsequenz daraus, daß damals Gesagtes weithin verhallt ist. Geschichtlich gesehen ist dieses Mißlingen durchaus begreiflich, und ob eine in sich einige Evangelische Kirche in Deutschland, eine in ihren leitenden Männern einige EKD mehr hätte bewirken können, bleibt unbeantwortbar. Auch hier kann es nicht darum gehen, Schuld zuzuweisen weder an Karl Barth noch an den Reichsbruderrat, aber auch nicht an die werdende VELKD, wo man nur das in Kirchenordnung umzusetzen unternahm, worüber faktisch ja ein breiter Konsens innerhalb der Bekennenden Kirche bestand. Es geht andererseits auch nicht darum abzustreiten, daß wir im „Aufarbeiten von Geschichte" versagt haben. Gewiß hat Wahrheit nie die Verheißung, daß sie auch gehört wird. Aber um dieses Ineinander von nichtkommunizierbarer Einsicht und nicht zum Hören bereiter Enttäuschung zu verstehen, wird man doch noch an einen Aspekt der Erfahrung der Bekennenden Kirche erinnern müssen: Sie hatte es in den Jahren zwischen 1933 und 1945 gelernt und gelehrt, daß das Evangelium zu verkünden sei „gelegen oder ungelegen". Die Symbolgestalt gerade für diese Treue zum Auftrag und die daraus erwachsene Souveränität war Martin Niemöller geworden. Das mußte sicher auch jetzt nach 1945 gelten. Aber im Corpus der Paulusbriefe findet sich auch das Wort vom άληθεύειν έν άγάπη, daß die Wahrheit in Liebe zu sagen sei (Epheser 4,15). Es war gewiß notwendig, Buße zu predigen, Umkehr. Aber diese Verkündigung hat auch deshalb solchen Widerstand geweckt, weil das Pathos des Bekennens sich nicht auf die neue Situation umschalten ließ, in der um das gleiche Evangelium bei Menschen geworben werden mußte oder wieder frei geworben werden durfte, die auf den Trost des Evangeliums warteten. . Die Stuttgarter Erklärung enthielt auch den Satz: „Nun soll in unseren Kirchen ein neuer Anfang gemacht werden". Die Entdeckung der politischen Verantwortung der Kirche, nicht nur des einzelnen Christen, ist ein gemeinsames Erbe des Kirchenkampfes. Auch dies ist eine Form der Vergangenheitsbewältigung. Alles Gelungene, vorsichtiger wohl alles partiell gelungene Reden und Handeln der evangelischen Christenheit Deutschlands im Bereich der Verantwortung für die Gesellschaft, für die Nation läßt sich hier anschließen; man mag die sogenannte „Ostdenkschrift"

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von 1965 hier nennen, die Verarbeitung des sich immer mehr verhärtenden Faktums der deutschen Teilung, die Stellungnahme der VELKD im Rahmen des Lutherischen Weltbundes zu den Konflikten um die Apartheid im südlichen Afrika. Dies ist hier nicht auszuführen. Vielleicht könnte man allerdings die Beobachtung anführen, daß die Struktur solchen kirchlichen Redens wohl doch seit 1945 vorgezeichnet war; die Spannung zwischen der Einsicht der Redenden und dem Zweifel der Gemeinden hat sich immer neu wiederholt. Im Blick auf eine demokratische Gesellschaft mag dies ja ganz angemessen sein; im Blick auf die Kirche ergeben sich Probleme. Es wäre auch heute fraglich, das Geschehen der Konsensbildung nur so zu beschreiben, daß die geistliche Leitung der Kirche in ihren Bischöfen und Synoden die Gemeinden zu gewinnen habe. Es geht um ein Wechselverhältnis zwischen Amt und Gemeinde, weil sie beide von dem einen Evangelium, von dem einen Herrn der Kirche herkommen. Ob in diesen Spannungen die Struktur der Volkskirche sich bewähren wird oder zerbricht, ist nicht in unsere Hand gegeben. Volkskirche ist in Deutschland wohl gefährdeter als in Skandinavien, aber gerade in diesen Spannungen ist sie auch uns ein kostbares Erbe, das uns aus der Hand geschlagen werden kann, das wir aber von uns aus nicht preisgeben dürfen.

INGE LONNING

Das nordische Luthertum Vorbemerkungen Das Thema dieser ersten Sitzung unserer Arbeitstagung eröffnet uns ein sehr weites - man darf wohl sagen: ein nahezu unbegrenztes - Feld. Außer der geographischen Fixierung zum nordischen Raum ist uns mit der Formel „das nordische Luthertum" keinerlei Begrenzung auferlegt worden. Wer weiß, - wenn es dazu gekommen ist, daß man gemeint hat, dieses Thema einem Systematiker anvertrauen zu müssen, so vielleicht, weil es sogar als eine offene Frage angesehen werden darf, ob es die Größe „das nordische Luthertum" überhaupt gibt. Dann würde es jedenfalls eines Vertreters der Systematischen Theologie bedürfen, um davon mit der erforderlichen Tiefsinnigkeit reden zu können. Vielleicht wird auch jemand, wenn wir mit dem Thema zu Ende sind, denken, wir hätten mit unseren Ausführungen gar die Tiefe der wittgensteinschen Weisheit erreicht und die Anweisung praktiziert: Wovon man nicht reden kann, kann man schweigen. Nun ist die Theologie in allen ihren Disziplinen eine menschliche, d. h. eine zeitbedingte und zeitgebundene Aktivität, wenn es auch, wie Ernst Käsemann im Vorwort zu seiner Streitschrift „Der Ruf der Freiheit" bemerkt 1 , bei einigen Dogmatikern den Anschein hat, als gäbe es als eine besondere Ausnahme-Ordnung für Theologen sowohl die Zeitlosigkeit als auch die Ubiquität. An Zeit und Ort sind wir gebunden, und das heißt auch: an die Frage, was gerade hier und gerade jetzt - Sandbjerg 1981 - zum Thema nicht nur gesagt werden kann, sondern was gesagt werden darf. Denn alles hat, wie geschrieben steht, seine Zeit. So gibt es für sachliche Information, für historisch-analytische Kleinarbeit, für irenische Theologie, für Kontroverstheologie, für prophetische Rede - sei es als Verkündigung des androhenden Gerichts, sei es als Versprechen der zukunftseröffnenden Gnade - eine Zeit, gewiß auch in bezug auf unser Thema. Was ich wählen möchte, ist die provokatorische Rede, weil ich vermute, daß eben solches Reden an der Zeit ist, sowohl in bezug auf das Lu1

E.

KÄSEMANN:

Der Ruf der Freiheit. Vorwort zur 3. Aufl. Tübingen 1968.

Das nordische Luthertum

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thertum im allgemeinen - das nordische Luthertum ist ja sowieso nichts anderes als ein Appendix zum deutschen - als in bezug auf das nordische Luthertum ganz besonders. Wenn ich nun ganz bewußt den Weg der Provokationen einschlage, dann auch auf Grund einer Erinnerung aus meiner Tübinger Studienzeit, aus dem neutestamentlichen Seminar Ernst Käsemanns. Er war gerade überraschenderweise als Gastvorleser nach Heidelberg eingeladen worden und teilte uns mit, er habe seine Vorlesung nach dem Prinzip eines aktuellen schwedischen Filmtitels vorbereitet: „Man tanzt nur einmal". Für einen Systematiker unter Kirchenhistorikern dürfte es ratsam sein, seinen Ausführungen dasselbe Prinzip zu Grunde zu legen. Zur Sache. Ich greife das Thema so auf, daß ich versuche, einige Grundzüge einer Morphologie des nordischen Luthertums zu zeichnen. Dabei werden natürlich keinerlei Ansprüche auf Vollständigkeit erhoben. Das Gewicht wird vor allem auf die gemeinsamen Züge gelegt, die das nordische Gebiet zu einer konfessionellen Einheit machen, und wiederum vor allem auf das, was das nordische Luthertum von seinem deutschen Ursprung und auch von anderen Verzweigungen der lutherischen Tradition verhältnismäßig deutlich unterscheidet. Charakteristische Züge und Entwicklungslinien werden vorwiegend an Hand der akademischen Theologie aufgezeigt, weil die Lage der Theologie für das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft als symptomatisch gelten darf.

Die

These

Ich werde in diesem Vortrag eigentlich nur eine einzige These vertreten, jedoch in zwei Ausführungen, eine positive und eine negative. Zuerst die negative. a. Als eine Einheit läßt sich das nordische Luthertum theologisch und kirchlich nicht definieren Das nordische Luthertum läßt sich theologisch und kirchlich nicht definieren. Ein gemeinsames theologisches und kirchliches Profil läßt sich gar nicht aufzeigen, - ich würde behaupten: heute weniger als je. Warum das so ist und warum die Entwicklung in den letzten 30 Jahren scheinbar eindeutig und mit zunehmender Schnelligkeit in Richtung auf eine Lockerung und Auflösung der früheren nordischen Einheitsbande läuft, läßt sich von der Theologie allein oder von der inneren Kirchlichkeit her nicht befriedigend erklären, son-

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dem ist mit den unterschiedlichen soziopolitischen Entwicklungslinien der nordischen Länder unlöslich verbunden. Was sich aber ganz einfach feststellen läßt, ist die Tatsache, daß ζ. B. in den dreißiger Jahren - zur Zeit der dialektischen Theologie, der Neo-Orthodoxie und der Lundenser Theologie, um die damalige Lage innerhalb der nordischen Theologie ganz pauschal zu charakterisieren - die nordischen theologischen Fakultäten sehr viel lebhaftere Beziehungen zueinander pflegten, als wir es heute tun. So war es ζ. B. nahezu eine Selbstverständlichkeit, daß Theologiestudenten eine Zeitlang an anderen nordischen Fakultäten studierten, ebenso wie es unter den Dozenten allerlei persönliche und z.T. auch organisatorische Verbindungen gab. Bis zum Ende der sechziger Jahre veranstalteten die theologischen Fakultäten regelmäßig gemeinsame Konferenzen. Wenn sich diese Tradition nicht mehr aufrechterhalten ließ, so nicht nur wegen der Umstrukturierung der alten Fakultäten in neue, demokratisch zersplitterte Lehrkörper, sondern vor allem weil die ideologische Entwicklung solchen Veranstaltungen jeden Sinn geraubt hat. Diese Entwicklung läßt sich sehr genau an Hand des Schicksals der gemeinsamen Zeitschrift der nordischen Fakultäten, „Studia Theologica", ablesen. Die Zeitschrift wurde 1947 gegründet, um den nordischen Theologen den Weg aus der innernordischen Sprachisolation in die internationale theologische Diskussion zu eröffnen. Das ist ein so formidabler Erfolg gewesen, daß sich die Zeitschrift heute allmählich in eine internationale Spezialzeitschrift der exegetischen Disziplinen umfunktioniert, die sich von den anderen europäischen Zeitschriften nur darin unterscheidet, daß sie von nordischen Forschungsgremien finanziell unterstützt wird - und daß Aufsätze von nordischen Theologen noch seltener vorkommen als anderswo. - Vielleicht mag auch ein sehr einfaches Beispiel aus dem alltäglichen Leben in meiner eigenen Osloer Fakultät 1981 etwas von derselben Entwicklung erzählen. Wir haben zur Zeit zwischen 5 und 10 Studenten aus der Bundesrepublik Deutschland und der Schweiz, aus den anderen nordischen Ländern m. W. nicht einen einzigen Studenten. Etwas zugespitzt könnte man die aktuelle Lage vielleicht so umschreiben, daß wir zwischen den nordischen theologischen Fakultäten heute nur mehr diejenigen diplomatischen Verbindungen aufrechterhalten, die aus praktischen Gründen unumgänglich notwendig sind, vor allem, weil sonst in der Welt kaum Leute zu finden sind, die überhaupt im Stande sind, Arbeiten, die in einer skandinavischen Sprache geschrieben sind, zu lesen. So sind wir in den rituellen Angelegenheiten des akademischen Betriebes - Fachgutachten

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und desgleichen - noch voneinander gegenseitig abhängig und aufeinander angewiesen. Sonst nicht. Die sprachliche Gemeinschaft haben wir zwar intakt, machen jedoch im allgemeinen nur dann davon Gebrauch, wenn es unseres gemeinsamen Sprachprovinzialismus wegen keine andere Möglichkeit gibt. Nun haben wir damit nur die Außenseite dieser Entwicklung gekennzeichnet. Inhaltlich hängt sie wohl irgendwie mit der tiefgehenden Legitimations-Krise der Theologie zusammen, die wir in den nordischen Ländern in verschiedener Weise in den letzten 30 Jahren erfahren haben. Genauer noch: mit den unterschiedlichen Wegen, die wir theologisch eingeschlagen haben, um diese Krise zu bewältigen. Dadurch haben sich die Entwicklungslinien der akademischen Theologie nicht nur in verschiedene, sondern z.T. auch in entgegengesetzte Richtungen bewegt. Gerade angesichts der gemeinsamen konfessionellen Einheitstradition treten die Unterschiede deutlich zu Tage. Nun müssen wir in diesem Zusammenhang, um eine Analyse der unterschiedlichen modernen Entwicklungslinien einigermaßen sachgerecht durchführen zu können, eben auch den Hintergrund und Ursprung, die gemeinsame konfessionelle Einheitstradition der nordischen Länder kritisch befragen. Auf dem Fünften internationalen Kongreß für Lutherforschung in Lund 1977 hat der Aarhuser Kirchenhistoriker Poul Georg Lindhardt über das Thema „Luther und Skandinavien" referiert. Dabei hat er die scharf profilierte These vertreten, Luther sei für die Reformation in den nordischen Ländern - von der Symbolfunktion seines Namens abgesehen - ohne Bedeutung gewesen, praktisch nicht gelesen, noch weniger verstanden und zu keiner späteren Zeit bis auf den heutigen Tag - mit einer möglichen Ausnahme für die Periode der dialektischen Theologie - wirklich ernst genommen. So konsequent wird die These in ihrer Schroffheit durchgehalten, daß es sich lohnen mag, sich der Herausforderung, die in der Konklusion Lindhardts steckt, zu stellen: „Luthers Bedeutung für die Reformation in den nordischen Ländern ist nicht groß. Er war ein Name, ein Symbol, eine Fahne. Viel gelesen wurde er, vom Kleinen Katechismus und einigen Psalmen abgesehen, zu keiner Zeit; verstanden wurde er noch weniger. Das gilt bis heute, oder jedenfalls bis zu der Zeit der dialektischen Theologie. Orthodoxie, Pietismus, Aufklärung, vor allem die Erweckungsbestrebungen des 19. Jahrhunderts: Alle haben sie sich auf seinen hochgeschätzten Namen berufen und denselben Namen für ihre eigenen Ziele verwandt. Würde die Zeit reichen, so wäre es ein Leichtes zu zeigen, daß die heutigen ,evangelisch-lutherischen' Kirchen im Norden sehr bunte Erscheinungen sind. In ihrer Buntheit ist auch Luther ein Farbton; seine Auffassung von der Schrift ist aber einem schroffen Bi-

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belfundamentalismus oder einer historisch-kritischen Haltung gewichen, seine Lehre von den beiden Regimenten ist wohl viel diskutiert (besonders seit der Zeit des Nationalsozialismus), aber nie ernst genommen, und seine Verkündigung von dem unfreien Willen ist durch einen pietistischen Moralismus und eine liberale theologische Wertung der christlichen Persönlichkeit ersetzt worden." 2

Natürlich hat Lindhardt recht. Es ist ein Leichtes und wäre zu jeder Zeit ein Leichtes gewesen zu zeigen, daß die evangelisch-lutherischen Kirchen im Norden sehr bunte Erscheinungen sind. Eine solche Feststellung hat jedoch, gerade wegen ihrer unbestreitbaren Richtigkeit, eine recht problematische Funktion. Wann und wo ließe sich dasselbe nicht mit demselben Recht für das Luthertum einer evangelisch-lutherischen Kirche behaupten? Am Maßstab eines theologisch gereinigten, fast antiseptisch anmutenden Lutherbildes gemessen, gibt es wohl jedenfalls in der gesamten bisherigen evangelisch-lutherischen Tradition nichts als bunte konfessionelle MischErscheinungen. Ja, es darf vielleicht fraglich sein, ob es geschichtlich überhaupt einen echten und anerkennenswerten Luther gibt. b. Politisch und rechtlich läßt sich das nordische Luthertum sehr wohl als geschichtliche Einheit begreifen und erklären. Schlüssel: Stabilität der Staatskirchlichkeit Wir dürfen ruhig feststellen: Von der Theologie allein her läßt sich die Eigenart einer kirchlichen Gemeinschaft unter keinen Umständen adäquat bestimmen. Daß Luthers Werke sowohl im 16. als auch in den folgenden Jahrhunderten im nordischen Raum weniger bekannt waren als im deutschen Luthertum, ist zwar unbestreitbar. Aus diesem Verhältnis lassen sich jedoch die erheblichen Unterschiede, die zwischen dem deutschen Luthertum und den evangelisch-lutherischen Staatskirchensystemen der nordischen Länder von Anfang an bestehen, kaum ableiten oder nur einigermaßen überzeugend erklären. Eine erheblich größere Rolle spielen dabei vermutlich die Unterschiede in bezug auf die gesellschaftlichen Voraussetzungen, die für eine Reformation der Kirche hier und dort vorhanden waren. Vor allem bildete die fest etablierte nationalkirchliche Struktur im nordischen Raum für die konsequente Durchführung eines konfessionellen Territorialkirchensystems ganz besonders günstige Voraussetzungen. In Deutschland war die politische Bewältigung 1

P. G. LINDHARDT: Luther und Skandinavien. In: Luther und die Theologie der Gegenwart. Referate und Berichte des Fünften Internationalen Kongresses für Lutherforschung. Lund, Schweden 14.-20. August 1977. Hg. von Leif Grane und Bernhard Lohse. Göttingen 1980, S. 134-144, Zitat S. 144.

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der konfessionellen Zersplitterung eine sehr schwierige Aufgabe, die mit dem Durcheinander von katholischen und evangelischen Territorien keine definitive Lösung finden konnte. Für eine politisch stabile Einheit von Volksgemeinschaft und religiöser Gemeinschaft lagen in den nordischen Ländern ganz andere geschichtliche Voraussetzungen vor. Politisch und staatsrechtlich mußten die konfessionellen Einheitsbande von entscheidender Bedeutung werden, ganz einfach, weil sich dadurch in neuer Form die alte religiöse Einheitstradition einigermaßen ungebrochen weiterführen ließ. Ob römisch-katholisch oder evangelisch-lutherisch, - die Grenzen der Volksgemeinschaft und die Grenzen der religiösen Gemeinschaft fielen in allen Ländern im nordischen Raum verhältnismäßig unproblematisch zusammen. So wurde im nordischen Raum der konfessionelle Staat ganz einfach eine Selbstverständlichkeit. Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein blieb die gesellschaftliche Lage in den nordischen Ländern durch das Phänomen des konfessionellen Staates im eigentlichen Sinne auch gekennzeichnet. Scharf profiliert tritt das Phänomen z.B. im Zeitalter des dänisch-norwegischen Staatspietismus in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zutage, wo das gesellschaftliche Leben in allen seinen unterschiedlichen Spielarten in Richtung auf die besonderen Frömmigkeitsideale der pietistisch gefärbten lutherischen Tradition hin gelenkt wurde. Durch die Zusammenwirkung von säkularisierenden liberalen Tendenzen und völkischen religiösen Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts wird das konfessionelle Staatsideal in allen nordischen Ländern zwar allmählich modifiziert und durch die Realitäten der modernen, durch einen weitgehenden kulturellen Pluralismus gekennzeichneten Gesellschaft abgelöst. Eigenartig für den nordischen Raum ist dieser geschichtliche Entwicklungsprozeß - innerhalb der allgemeinen europäischen Entwicklungstendenzen dieser Zeit - natürlich keineswegs. Eigenartig ist dagegen die Zählebigkeit der alten konfessionellen Einrahmung des Ganzen; bisher ist das staatskirchliche Rahmenwerk des konfessionellen Einheitsstaates - in den einzelnen Ländern rechtlich zwar mehr oder weniger vollständig - intakt geblieben. Als Resultat ergibt sich ein recht widerspruchsvolles und sonst in der heutigen Welt kaum aufweisbares Ineinander von konfessioneller Einheit und kulturellem Wert-Pluralismus, das sich irgendwie durch das Rahmenwerk einer formaliter aufrechterhaltenen Staatskirchlichkeit konservieren läßt. Zwar gibt es in diesem Bilde zwischen den einzelnen Ländern erhebliche Unterschiede im Hinblick auf die politischen und rechtlichen Entwicklungslinien. Augenfälliger als die Variationen in den Ausdrucksformen der traditionellen Einheit von Kirche

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und Gesellschaft ist jedoch die gemeinsame Stabilität - man darf wohl sagen: die erstaunliche Stabilität - der nordischen Staatskirchensysteme. Diese scheinbar unerschütterliche Stabilität darf vermutlich heute mehr als je als das wirklich spezifische Profil dessen gelten, was mit Recht als „das nordische Luthertum" gelten dürfte. Das heutige Stadium dieser eigenartigen geschichtlichen Einheit läßt sich mit einfachen Formeln aus dem Vokabular der Volkskirchlichkeit natürlich nicht hinreichend beschreiben. Ein Umriß läßt sich jedoch, wenigstens versuchsweise, zeichnen. Die „typische" nordische Volkskirche befindet sich im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts in einer weithin säkularisierten Gesellschaft - ist, was die Mitgliedschaft betrifft, erstaunlicherweise zu 90 bis 95 Prozent mit dieser Gesellschaft identisch - und wird mit dieser Gesellschaft zusammen im strukturellen Rahmenwerk des konfessionellen Staates festgehalten und bewahrt. Die Komplexität dieses Konglomerats von Kirche, Staat und Gesellschaft läßt sich nur von daher erklären, daß wir in den nordischen Ländern mit unseren sich säkularisierenden und pluralisierenden Gesellschaften die erste Phase der nachreformatorischen Entwicklung Europas, das Prinzip des „cuius regio, eius religio" - inhaltlich zwar in sehr abgeblaßter Form, immerhin jedoch strukturell - bewahrt haben. Für das Selbstverständnis der Kirche entsteht dadurch ein schwieriges Dilemma: Kirche als eine eigenständige, sichtbare Korporation kann es in einem konfessionellen Staat kaum geben. Kirche als eigenständige, sichtbare Korporation, mit eigenen normativen Strukturen, muß es in einer säkularisierten Gesellschaft irgendwie geben. Wenn es um eine „Professorenkirche" geht - wie es in der Geschichte des Luthertums ja immer mit gewissem Recht behauptet wurde - , läßt sich das Dilemma am einfachsten an Hand der Lage der Theologie, genauer: der doppelten Beziehung der akademischen Theologie zu Kirche und Gesellschaft studieren. Kirchliche Lehrfragen sind nicht mehr, wie im 16. und 17. Jahrhundert, Fragen von unmittelbarer politischer Relevanz, werden vielmehr in der säkularisierten Gesellschaft als Sonderfragen lebensanschaulicher Art verharmlost. Die staatskirchliche Struktur setzt jedoch immerhin voraus, daß der Geltungsanspruch der kirchlichen Botschaft - der „evangelisch-lutherischen Religion" als „die öffentliche Religion des Staates", wie es in der norwegischen Verfassung noch heißt 3 3 „Die evangelisch-lutherische Religion verbleibt die öffentliche Religion des Staates" (Grundloven § 2). Beim 150jährigen Jubiläum der Verfassung 1964 hat das Parlament das Recht der freien Religionsausübung der konfessionellen Definition des Staates in diesem Paragraph vorangestellt. An der konfessionellen Definition hat man jedoch nichts ändern wollen.

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durch die rechtliche Autorität des Staates verbürgt und gefördert wird. Die theologische Legitimationskrise, die hier entsteht, wird notwendigerweise zuerst in der gefährdeten Stellung des traditionellen Establishments der akademischen Theologie spürbar werden. Wenn wir im folgenden die Aufmerksamkeit vor allem auf das Beispiel Schwedens konzentrieren möchten, so nicht nur, weil dadurch die problematische Stellung der Theologie zwischen Kirche und Staat innerhalb des Staatskirchensystems einer pluralistischen Gesellschaft am deutlichsten demonstriert werden kann. Unserer Wahl liegt auch andeutungsweise eine Prognose zu Grunde. Was die grundsätzlichen wirtschaftlichen und kulturellen Strukturwandlungen der Gesellschaft betrifft, war Schweden bisher das fortschrittlichste der nordischen Länder. Was sich da ereignet, tritt regelmäßig nach einigen Jahren mit charakteristischen Modifikationen auch in den anderen nordischen Ländern auf. O b das auch auf diesem Gebiet der Fall sein wird, ist zwar fraglich. D a ß die Variationen größer als sonst sein werden, ist jedenfalls wahrscheinlich. Nichtsdestoweniger läßt sich - mit diesem notwendigen Vorbehalt - die Vermutung aufstellen, daß das Beispiel Schwedens das zukünftige Dilemma des nordischen Luthertums in vorbildlicher Weise darstellt. Die kritische Frage, die dann zu formulieren wäre, ist diese: Wie verhalten sich Theologie und Kirche in einer Gesellschaft, in der die Rolle der „evangelisch-lutherischen Religion" als Einheitsband und öffentliche Religion des Staates definitiv durch die öffentliche Religion des lebensanschaulichen Pluralismus abgelöst worden ist? Die Antworten, die sich in der schwedischen Entwicklung abzeichnen, sind für den nordischen Raum zwar nicht die einzig denkbaren. Sie sind aber, was die weiteren Entwicklungsmöglichkeiten des nordischen Luthertums betrifft, durchaus lehrreich. Sollte so etwas wie ein konfessorischer Lebensanschauungs-Pluralismus das konsequente Endstadium des Staatskirchensystems sein?

Die Zukunft des nordischen Luthertums: Staatskirche als Schicksal? Als Otto Dibelius in den zwanziger Jahren das „Jahrhundert der K i r c h e " ankündigte, war der Hinweis auf Schweden für die Prognose von der kommenden Glanzzeit der evangelischen Kirche überzeugendes Beweismaterial 4 . Durch das aktuelle Beispiel der Kirche Schwedens konnte Dibelius seine These verbürgt sehen, daß sich in unserem Jahrhundert endlich einmal eine wirklich evangelische 4

O.

DIBELIUS:

Das Jahrhundert der Kirche. 6. Aufl. Berlin 1928, S. 180ff.

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Kirche realisieren lassen würde. Die eindrucksvollen ökumenischen Initiativen, die in jener Zeit von Schweden ausgingen, sind tatsächlich wohl auch als Manifestation einer mächtigen nationalkirchlichen Erneuerung zu erklären. Viele Beobachter dürfen mit Dibelius die Zeichen der Zeit dahin gedeutet haben, daß die rettende Restauration der evangelischen Kirche im 20. wie im 17. Jahrhundert aus Schweden zu erwarten wäre. Rückblickend läßt sich vermutlich ohne große Schwierigkeiten feststellen, daß die ganze Vorstellung vom , Jahrhundert der Kirche" zum größten Teil ein nostalgischer Wunschtraum zelotischer Kirchenmänner war. Die nationalkirchliche Restauration der zwanziger und dreißiger Jahre war eher eine letzte Spätblüte der kulturprotestantischen, bürgerlichen Synthese des 19. Jahrhunderts als der zukunftsträchtige Vorbote einer erneuten christlichen Einheitskultur mit der evangelischen Kirche als der zentralen Gravitationskraft. Die entscheidenden gesellschaftlichen Triebkräfte führten in ganz andere Richtungen: Urbanisierung, soziale Desintegration, politische Polarisierung und ein immer einflußreicherer Kulturradikalismus haben den Säkularisierungsprozeß kräftig beschleunigt. In dieser Lage mußte die zunehmende Konzentration der theologischen Energie um die Restauration des Kirchenbegriffs und um die Frage nach der Eigenart der Kirche 5 die gegenseitige Entfernung von Kirchen-Elite und Volk verstärken. Nun fallen ja wie bekannt - so unter Lutheranern - die Interessen des kirchlichen Establishments mit den Interessen der Universitätstheologen keineswegs immer zusammen. Nur unter ganz speziellen gesellschaftlichen Konjunkturen wird das der Fall sein. Wenn nun mit dem politisch immer einflußreicheren Kulturradikalismus ein positivistisches Wissenschaftsideal praktisch zu Alleinherrschaft gelangt, wird sich die akademische Theologie vor allem darum bemühen müssen, ihre Wissenschaftlichkeit zu verteidigen. Das läßt sich am einfachsten so tun, daß man auf den normativen Wahrheitsanspruch, den die traditionelle Verknüpfung von Theologie und der von der Kirche zu verkündigenden Frohbotschaft unumgänglich herbeiführt, bewußt verzichtet. Mit den vorherrschenden kirchlichen Interessen wird sich dieser Verzicht sehr wohl vereinigen lassen, wenn und insofern als diese vor allem eben um die Eigenart der Kirche bemüht sind. Die Aufgabe, das spezifisch Christliche mit scheinbar einwandfreien Methoden geistesgeschichtlicher Art her5

Vgl. vor allem den repräsentativen Sammelband EN BOK OM KYRKAN (1942, deutsch Göttingen 1951: „Ein Buch von der Kirche") mit Beiträgen von den einflußreichsten Vertretern der damaligen schwedischen Theologie an den beiden Fakultäten und in der Kirche.

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auszuarbeiten, wird sich der akademischen Theologie dann natürlich darbieten, wenn es darum geht, ihre beiden „ H e r r e n " - Universität und Wissenschaftsideal einerseits und der Kirche andererseits zugleich zu befriedigen. Die Grundlegung und Entwicklung der programmatischen und in mancher Hinsicht wirklich imponierenden Lundenser Motivforschung darf wohl auf diesem zeitgeschichtlichen Hintergrund gesehen werden. Der intensive Wechsel von den theologischen Lehrstühlen zu den Bischofssitzen der schwedischen Kirche gerade in dieser Periode darf wohl als Zeichen gelten, daß es weithin gelungen ist, die aktuelle Aufgabe der Legitimierung der Theologie zu lösen. N u n setzt jedoch diese friedliche Koexistenz von Theologie und kirchlichem und kulturell-gesellschaftlichem Establishment zugleich immerhin die dominante Stellung der Volkskirche in staatskirchlicher Form voraus. Die alte konfessionelle Einheit kann zwar ohne unmittelbare Konsequenzen de jure gelockert werden, - sie muß aber de facto weiterbestehen, wenn sich die kirchlich unentbehrliche Funktion der Theologie auch im Modus der neuen Wissenschaftlichkeit weiterführen lassen soll. Solange die Sonderstellung der Volkskirche als Verwalterin des traditionellen einheitsstiftenden Wahrheitsanspruches de facto weiterbesteht, wird die Theologie ihren Dienst an Lehre und Verkündigung der Kirche über den Umweg der historischen Motivforschung verhältnismäßig unproblematisch weiterführen können. Wenn sich aber gesellschaftliche Realitäten und allgemeines Bewußtsein allmählich dahin verschieben, daß die Kirche nur mehr als die Verwalterin einer spezifischen Lebensanschauung unter vielen anderen Angeboten auftritt, deren absolute Gleichstellung in bezug auf Marketing der Staat zu garantieren habe, wird eine ganz neue Dynamik in diesen ganzen Prozeß eintreten. Von so etwas wie einer besonderen (historischen) Religionswissenschaft des (oder der gesellschaftlich vorherrschenden Version des) Christentums wird die Theologie danji zwangsweise weiter in Richtung auf vergleichende Lebensanschauungswissenschaft umfunktioniert werden. Als der Lehrstuhl f ü r Dogmatik in Uppsala 1974 bei der Emeritierung Axel Gyllenkroks frei wurde, ist diese Entwicklung mit dem offiziellen Namenwechsel des Lehrstuhls von „Dogmatik" zu „Glaubens- und Lebensanschauungswissenschaft" besiegelt worden. Im Jubiläumsbericht der theologischen Fakultät anläßlich des 500jährigen Jubiläums der Universität Uppsala wird der Wechsel in dieser Weise - mit ausdrücklichem Hinweis auf die gesellschaftliche Lage begründet: „In a pluralistic society, a discipline with such a broad approach to ultimate questions of coherence, meaning and value can

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be of great importance, both for the Church and for secularized m a n " 6 . Die Voraussetzungen für diese Umfunktionierung der Systematischen Theologie waren von der theoretischen Seite her gesehen schon Ende der fünfziger Jahre durch die Arbeit Gyllenkroks zum Thema „Systematische Theologie und wissenschaftliche M e t h o d e " 7 gelegt worden. Von der praktischen Seite wurde die Entwicklung durch die ausbildungspolitischen Reformen der sechziger und siebziger Jahre ermöglicht, durch die die spezifische Verbindung von Theologiestudium und Pfarrerausbildung der Kirche aufgelöst wurde. Die ausbildungspolitische Voraussetzung darf vielleicht von größerer Tragweite sein als die wissenschaftstheoretische. Eine theologische Fakultät ist in ihrer „klassischen" Kombination von exegetischen, kirchengeschichtlichen, systematischen und praktischen Disziplinen, wenn die sachliche Beziehung auf das Pfarramt und die damit verbundenen Bedürfnisse abgeschnitten werden, kaum mehr einsichtig zu machen oder in überzeugender Weise als eine Notwendigkeit zu begründen. Wird die alte integrative Funktion der Systematischen Theologie dann von der neuen Glaubens- und Lebensanschauungswissenschaft übernommen, wird diese traditionelle Kombination immer mehr als ein zufälliges Konglomerat von religionswissenschaftlichen Sonderdisziplinen empfunden werden, das letztlich nur aus Gründen der Pietät aufrechtzuerhalten ist. Wie sieht eine solche Problemlage vom Gesichtspunkt der Kirche aus? Daß man sich nach jahrelangem Zögern dazu genötigt gesehen hat, eine eigene zusätzliche Pastorenausbildung außerhalb der Universitäten zu institutionalisieren, ist eine folgerichtige, eigenständige ausbildungspolitische Maßnahme der Kirche. Wie die beiden Pastoralinstitute in Uppsala und Lund im Gesamtbild der schwedischen Theologie ihren Platz finden werden, läßt sich heute noch nicht entscheiden. Daß die aktuellen theologischen Schwierigkeiten der Kirche dadurch nicht gelöst worden sind, ist allerdings klar. Mit der Säkularisierung einer Gesellschaft wird regelmäßig eine Klerikalisierung der Kirche Hand in Hand gehen. Und eine weitgehende volkskirchliche Anpassung an die Modernität der säkularisierten Ge6

AXEL GYLLENKROK u n d ANDERS JEFFNER: T h e o l o g i c a l a n d I d e o l o g i c a l S t u d i e s . I n :

Faculty of Theology at Uppsala University (Acta Universitatis Uppsaliensis). Uppsala University 500 Years. Vol. 1, 1976, S. 129. - Zum weiteren Zusammenhang vgl. auch meinen Aufsatz „Christliche Glaubenslehre als Möglichkeit einer vertretbaren Lebensanschauung in der pluralistischen Gesellschaft? Erwägungen zum Legitimationsproblem der akademischen Theologie in Skandinavien" In: Kerygma und Dogma, 1979, S. 198-208. 7 Systematisk teologi och vetenskaplig metod. 1959.

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sellschaft wird als Gegenpol reaktionäre ideologische Konstruktionen identitätssuchender Pastoren der jüngeren Generationen hervorrufen. Je weiter sich die grundlegende akademische Ausbildung der zukünftigen Pfarrer von der normativen Funktion der Theologie in bezug auf den Auftrag der Kirche zurückzieht, desto freizügiger und unkritischer werden vermutlich die Konstruktionen. Die zentrale - einige befürchten sogar: die kirchentrennende - Rolle, die die Frage der Frauenordination wiederum am Anfang der achtziger Jahre in der schwedischen Kirche spielt, ist kaum geeignet, eine solche Vermutung zu dementieren 8 . Die zunehmende kirchenpolitische Polarisierung und die Primitivisierung der theologischen Argumentation im kirchlichen Milieu darf wohl in den meisten westlichen Gesellschaften als eine Folgeerscheinung der zunehmenden Exklusivität der akademischen Theologie zu bewerten sein. Als Glaubens- und Lebensanschauungswissenschaft verstanden, kann sich die akademische Theologie natürlich auch im weiteren mit dem Glauben der Kirche als Gegenstand der wissenschaftlichen Erforschung (unter anderem) beschäftigen. Für den Wahrheitsanspruch dieses Glaubens kann sie aber höchstens in derjenigen Form eintreten, daß dafür gesorgt wird, daß die in den religiösen Behauptungen implizierten Wahrheitsfragen so behandelt werden, „daß sich eine religiöse Lebensanschauung für einen rationalen Menschen als mögliche lebensanschauliche Alternative ausnimmt" 9 . Soll ein Schritt weiter in Richtung auf eine aktuelle Interpretation des christlichen Glaubens gemacht werden, wird es nicht mehr als Teil der wissenschaftlichen Aufgabe des Theologen, sondern vielmehr zusätzlich auf Grund einer letzten persönlichen Wahl der christlichen Lebensanschauung von ihm getan 10 . Nun setzt diese Konzeption offensichtlich die pluralistische Gesellschaft als sinngebenden Horizont und Erbe der früheren konfessionellen Einheit des Staates voraus. Daß sich Kirche und Staat 8 Eine scharf polemische Abrechnung mit der neueren Entwicklung der schwedischen Universitätstheologie hat neuerdings GUSTAF WINGREN veröffentlicht: Tolken som tiger. Vad teologin är och vad den borde vara. Stockholm 1981. In der freikirchlichen Zeitschrift „Tro och Liv" hat sich in den beiden ersten Heften 1982 eine heftige Debatte zwischen Wingren und aktuellen Vertretern der Universitätstheologie entwickelt. ' A. JEFFNER: Kriterien christlicher Glaubenslehre (Acta Universitatis Uppsaliensis, Studia Doctrinae Uppsaliensia 15). 1976, S. 144. 10 Wie man von einem solchen Theologieverständnis her diese „zusätzliche" Aufgabe lösen kann, haben die drei Uppsalaer Theologen JARL HEMBERG (jetzt Professor

f ü r Ethik in Lund), RAGNAR HOLTE und ANDERS JEFFNER durch die gemeinsam heraus-

gegebene Arbeit „Människan och Gud. En kristen teologi", 1982 in interessanter Weise demonstriert.

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längst voneinander losgelöst haben, ist eine Vorstellung, die darin irgendwie als eine Selbstverständlichkeit mit vorausgesetzt ist. Praktisch ist das ja weithin auch der Fall. Nur bleibt das störende Faktum, daß alle Versuche, die Staatskirche durch eine andere Ordnung des Verhältnisses von Staat und Kirche zu ersetzen, bisher politisch gescheitert sind. Paradoxerweise scheint es mit der immer weiter fortschreitenden Pluralisierung der Gesellschaft immer schwieriger zu werden, die Staatskirche loszuwerden. Die Volksmeinung will keine Änderung, die politischen Parteien sehen auf diesem Gebiet durch radikale Vorschläge und Programme nichts zu gewinnen, und die Kirche wagt es nicht, ihre gesicherte Position aufzugeben. So bleibt für alle Kontrahenten die Staatskirche durch alle Wandlungen in Kirche und Gesellschaft hindurch das scheinbar unentrinnbare Schicksal. Im Rahmen des lebensanschaulichen Pluralismus als öffentliche Religion des Staates bis in unabsehbare Zukunft wohl bewahrt. Oder - ?

Staatskirche - Thema mit Variationen Die Unerschütterlichkeit der staatskirchlichen Ordnung bleibt bis heute - nach mehr als hundert Jahren Staatskirchenkritik - das gemeinsame Profil des nordischen Luthertums. Am Ende unseres kleinen Orientierungsversuches dürfen wir jedoch nochmals daran erinnern, daß die Entwicklungslinien in den einzelnen Ländern sonst in vieler Hinsicht in unterschiedliche Richtungen laufen. Dabei spielen die konstitutionellen und kirchenrechtlichen Varianten im Vergleich mit den Unterschieden hinsichtlich Kulturklima, Frömmigkeitstraditionen usw. eine verhältnismäßig geringe Rolle. Das verleiht dem gemeinsamen Thema „Staatskirche" die spannungsgeladene Vielfalt, die jede Möglichkeit einer einheitlichen und eindimensionalen Beschreibung des Phänomens „das nordische Luthertum" ausschließt. So ist es notwendig, daran zu erinnern, daß das dänische Luthertum seit den beiden schicksalhaften Gestalten Kierkegaards und Grundtvigs mit dem gemeinsamen Thema ein in der ganzen Christenheit einzigartiges demokratisch-volkskirchliches Konzept verbindet, das Christentum und Volkstum in einer Weise zusammenführt, die in einem großen Lande mit den dazugehörenden Machtambitionen vermutlich weniger harmlos wäre 11 . 11 Was die dänische Entwicklung betrifft, vgl. P. G. LINDHARDT: Danmarks kirke mod baggrund af arven fra Grundtvig og Kierkegaard. In: KIRKEN, KRISEN OG KRIGEN. Hg. von Stein Ugelvik Larsen und Ingun Montgomery. Bergen 1982, S. 16 ff.

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Notwendig ist es weiter auch, daran zu erinnern, daß das finnische und norwegische Luthertum bis heute sehr viel tiefer durch die pietistische Erweckungstradition und die eigenartige Kombination von Orthodoxie und Pietismus, die im 19. Jahrhundert entstand, geprägt ist, als es in Dänemark und Schweden der Fall ist. Das wird z.B. darin sichtbar, daß kirchlichen und theologischen Streitfragen in der Öffentlichkeit eine ganz andere Aufmerksamkeit zuteil wird, was u. a. mit der Rolle der aktiven und kirchlich und politisch einflußreichen Kreise der organisierten Erweckungstradition zusammenhängt, kurz, mit dem eigentümlichen Phänomen, das ein norwegischer Beobachter einmal auf die Formel „ein christliches Volk mit einem Christenvolk" gebracht hat 1 2 . Es hat sich in den nordischen Ländern seit 1945 vieles, z.T. in recht grundsätzlicher Weise, verändert. Von den Unterschieden, die vor allem zwischen Schweden und den anderen Ländern sichtbar geworden sind, hängen einige ganz offensichtlich mit dem Bruch, den der zweite Weltkrieg bedeutete, und den damit verbundenen Erfahrungen zusammen. Desto augenfälliger ist die gemeinsame Unerschütterlichkeit der staatskirchlichen Ordnung und das Unvermögen der nordischen Kirchen, eigene rechtliche Strukturen zu entwickeln. Daß man sich u. E. dazu mit guten Gründen kritisch verhalten mag, lassen vermutlich unsere bisherigen Ausführungen durchblicken. Doch darf man bei aller berechtigten Skepsis das Faktum nicht außer acht lassen, daß zu den nordischen Erfahrungen dieses Jahrhunderts auch die Verwirklichung eines kirchlichen Ausnahmezustands durch momentane Absage an die staatskirchliche Ordnung gehört. In einer wirklich tiefgreifenden nationalen Krise mag eine uralte staatskirchliche Tradition einem bewußten und gezielten kirchlichen Aufbruch ein besonderes Potential verleihen 13 . Vielleicht dürfen wir uns zuletzt auch daran erinnern lassen, daß man die Möglichkeit auch nicht ausschließen sollte, daß es Gott noch gefallen mag, der Kirche durch staatliche Organe die Wahrheit sagen zu lassen. Wenn es Gott gefallen kann, Propheten durch einen Esel belehren zu lassen, darf man die Möglichkeit wohl auch nicht ausschließen dürfen, daß er Theologen und Prälaten etwas durch ein Parlament des 20. Jahrhunderts zu sagen haben könnte. Darum möchte ich mit einem lehrreichen Anachronismus aus der jüngsten norwegischen Kirchengeschichte schließen: " NILS ALSTRUP DAHL: Et kristent folk - kristenfolket. In: Kirke og Kultur 1964, S. 2 5 7 - 2 7 3 . 13

Vgl. S. U. LARSEN: Kirkene under krigen. In: Kirken, krisen og krigen (Anm.

1 1 ) , S. 3 1 5 - 3 1 9 ; TORLEI AUSTAD: Fra s t a t s k i r k e til s e l v a d m i n i s t r e r t f o l k e k i r k e . E b d . , S. 342-352.

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Als in den fünfziger Jahren ein sehr heftiger Konflikt um die Lehre von den ewigen Höllenstrafen ausbrach, hat sich ein umstrittener Bischof an den König, der nach der Verfassung (§ 16) verpflichtet ist, dafür Sorge zu tragen, daß „die Lehrer der Religion den ihnen vorgeschriebenen Normen treu bleiben", mit der Forderung gewendet, seine Stellung als Bischof am Maßstab der kirchlichen Lehrnormen zu überprüfen. Nachdem sämtliche Bischöfe und die beiden theologischen Fakultäten umfangreiche Gutachten abgegeben hatten, hat das Kirchendepartement eine Resolution vorbereitet, und König und Regierung haben resolviert, daß die Pflichten eines Bischofs nicht als verletzt angesehen werden dürften. Als Klimax des ganzen Dramas wird dann die Sache - mit der dazugehörenden Dokumentation - dem Parlament vorgelegt. Nach gründlicher, halbjähriger Vorbereitung hat das Parlament dann - in einem einstimmigen Beschluß - festgestellt, daß „man vermuten darf, daß sich die Frage des ewigen Schicksals des Menschen außerhalb desjenigen Gebietes befindet, wo Mehrheitsbeschlüsse menschlicher Organe irgendwelchen Einfluß haben" 1 4 . Körnchen finden auch die blinden Hühner. Nicht nur in den nordischen Staatskirchen mag das ein erbaulicher Gedanke sein.

14

Zitiert nach ERVIND BERGGRAV: Kirkens odel. In: Kirke og Kultur 1955, S. 3 f.

KURT MEIER

Die zeitgeschichtliche Bedeutung volkskirchlicher Konzeptionen im deutschen Protestantismus zwischen 1918 und 1945 Volkskirche als „Seinsbegriff" 1 , also die empirisch-soziologische, institutionelle Gestalt des Kirchentums, war f ü r den landeskirchlichen Protestantismus seit seinen Anfängen prägend. Der Begriff „Volkskirche", der erstmals bei Schleiermacher vorkommt, hat seit Wicherns Initiativen für die Innere Mission seit 1848 als „Sollensbegriff" und Zielstellung im kirchenreformerischen Diskussions- und Aktivitätenfeld einer sehr differenzierten Volkskirchenprogrammatik zunehmend Bedeutung gewonnen 2 . Man hat sich seit Ende des 19. Jahrhunderts daran gewöhnt, unter dem Namen Volkskirche alle Gebilde des Kirchentums zu verstehen, die sich durch natürlichen Zuwachs ihrer Glieder und Kindertaufe ergänzen und aus deren Gliedschaft (ohne Ubertritt in eine andere staatlich anerkannte Religionsgemeinschaft) man sich erst seit der Kulturkampfzeit durch Austritt rechtlich lösen konnte. Dieses landeskirchlich geordnete Volkskirchentum, das trotz aller synodalen Mitbeteiligung des gemeindlichen Elements weiterhin institutionell und bewußtseinsmäßig obrigkeitskirchlich geprägt blieb, sah sich durch die Novemberrevolution 1918 in eine akute Krise gestellt, als mit dem Landesfürstentum auch der traditionelle landesfürstliche Summepiskopat verschwand und der volkspädagogisch vermittelte kirchliche Offentlichkeitseinfluß gefährdet erschien.

1. Volkskirche und Weimarer Republik Neuere kirchengeschichtliche Forschungen zur Weimarer Republik haben gezeigt, daß ideologiekritische „Schlüsselbegriffe wie Pa1

Unterscheidung von „Seinsbegriff" ( = strukturphänomenologischer Sachverhalt) und „Sollensbegriff" bei MARTIN DOERNE: Was heißt Volkskirche? (Theologia militans. 1) Leipzig 1934, S. 4. 2 Zu dem seit Wichern seit seiner Wittenberger Rede 1848 als Zielstellung vorkommenden Begriff „Volkskirche", der indes auch für die empirische Gestalt begeg-

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storennationalismus, Nationalprotestantismus, Antidemokratismus oder Krisenmentalität" allein die neue volkskirchliche Bewußtseinslage nach dem ersten Weltkrieg nicht voll erfassen. Eine „kritische Analyse des institutionellen Selbstverständnisses der Kirche sowie ihrer gesellschaftspolitischen und volkspädagogischen Ansprüche" kann als unverzichtbar gelten und muß das kirchenspezifische Interessenkalkül berücksichtigen, wie es nicht nur für die Kirchenleitungsbürokratie charakteristisch war, sondern mentalitätsprägend auch auf den Pfarrerstand einwirkte 3 . Dabei ist das Verhalten der evangelischen Kirche „nicht lediglich von statussichernder Kirchturmspolitik" her zu verstehen. Vielmehr ist über das kirchenpolitische Interesse hinaus multifaktorell zu konstatieren, daß sich „protestantischer Gouvernementalismus" auch staatspolitisch herausgefordert fühlte, zumal eine „gefühlsmäßig tiefverwurzelte Verdammung der proletarischen Revolution" die „Hinwendung zum Lager des politisch-sozialen Konservativismus und der Reaktion vorgezeichnet" hatte 4. Dabei stellte man sich - trotz Trauer über die vergangene Herrlichkeit des deutschen Kaiserreiches - „durchaus tatsachenorientiert" auf die neue Lage ein: „Im Dilemma zwischen Rätesystem und bürgerlich-parlamentarischer Demokratie wählte man das kleinere Übel" 5 . Hinzu kam, daß sich die Kirchen im religionsneutralen Weimarer Staat nicht genügend an der „geistig-moralischen Wertbildung und Wertpropagierung in Staat und Gesellschaft" beteiligt sahen. Die trotz verfassungsrechtlicher Garantien im Blick auf ein bisheriges Sekuritätsgefühl entstehende Verunsicherung wuchs sich zu einem „antidemokratischen und antirepublikanischen Syndrom" aus, an dem auch eine zeitweilige „kooperative Loyalität" vornehmlich der altpreußischen Kirchenleitung unter Hermann Kapler nichts Wesentliches zu ändern vermochte 6 . net, vgl. FRIEDRICH MAHLING: Der Wille zur Volkskirche. Leipzig 1929 (Sonderdruck aus der Reinhold-Seeberg-Festschrift. Bd. 2, S. 75-104). Dort auch sporadische Kurzorientierung über zeitgenössische Literatur und Gesprächslage seit Wichern. 3 JOCHEN JACKE: Kirche zwischen Monarchie und Republik. Der preußische Protestantismus nach dem Zusammenbruch von 1918. Hamburg 1976, S. 8 und 442, Anm. 1. 4 KURT NOWAK: Evangelische Theologen in der Weimarer Nationalversammlung. In: Zwischen Aufbruch und Beharrung. Der deutsche Protestantismus in politischen Entscheidungsprozessen. Berlin (DDR) 1978, S. 14-44, Zitat S. 17. 5 Ebd. 6 Auf die begrenzte transitorische Bedeutung eines „Vernunftrepublikanertums", wie es JONATHAN R. WRIGHT: „Über den Parteien". Die politische Haltung der evangelischen Kirchenführer (AKiZ. Β 2) Göttingen 1977, S. 235 ff., herausarbeitet, verweist auch K. NOWAK: Evangelische Kirche und Weimarer Republik. Zum politischen Weg des deutschen Protestantismus zwischen 1918 und 1932. Weimar und Göttingen 1981. Die zeitweilige „kooperative Loyalität" bestimmter Kirchenführer mit dem

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Nach traditionellem Denkmuster erschien Religion nur in volkskirchlichen Formen und in innerer Zuordnung zur staatlichen Ordnungsmacht im Sinne des „christlichen Staates" lebensfähig und wirksam. Der altpreußische geistliche Vizepräsident Julius Kaftan zeigt in seiner programmatischen Rede auf dem Stuttgarter Kirchentag im Jahre 1921, daß Kirche sich als gesellschaftliche Kraft verstand, die das christliche Volk als Voraussetzung der Volkskirche mit christlich-sittlichem Geist erfüllen müsse, „bis die Zeiten sich wieder ändern und die alte Wechselbeziehung zum christlichen Staat wiederhergestellt ist" 7 . Der als „nationaler Aufbruch" empfundene nationalistische Trend seit Anfang der dreißiger Jahre hat solche konservativ-restaurativen Hoffnungen bei allen Bedenken gegen rassistische Tendenzen im Nationalsozialismus wecken helfen. Die volkskirchliche Programmatik, wie sie sich schon seit Ende des 19. Jahrhunderts auch publizistisch verstärkt abzeichnete, war ganz allgemein durch den Säkularisierungsprozeß herausgefordert worden, dessen auch kirchliche Auswirkungen sich aus den veränderten soziopolitischen Verhältnissen der Industrialisierungsepoche und ihren emanzipatorischen Konsequenzen ergaben 8 . In der historischen Umbruchskonstellation, die sich Ende 1918 mit dem Ende des Staatskirchentums ergab, wurde die Notwendigkeit volkskirchlicher Neubesinnung und volksmissionarisch-kirchenreformerischer Aktivitäten geradezu virulent. Das allerdings relativ kurzfristige Schockerlebnis von 1918 und die durch den Wegfall des Summepiskopats bedingte Orientierungsunsicherheit des evangelischen Kirchentums hatte Volkskirchenräte, Volkskirchenbünde und Volkskirchendienste entstehen lassen, die mit unterschiedlichen Konzeptionen der Mobilisierung kirchlicher Kreise für eine zeitgemäße Kirchenreform dienen sollten. Diesen nur temporär existenten Gruppen gelang es indes nicht, „über die offizielle Kirche mit ihren rechtlich Weimarer Staat wurde durch den als „nationaler Aufbruch" verstandenen nationalistischen Trend seit 1930 indes weitgehend neutralisiert. 7

VERHANDLUNGEN DES ( Z E I T E N ) DEUTSCHEN EVANGELISCHEN KIRCHENTAGES STUTT-

GART 1 9 2 1 . B e r l i n - S t e g l i t z 1 9 2 1 , S . 1 2 6 .

* Vgl. MARTIN GRESCHAT: Das Zeitalter der Industriellen Revolution. Das Christentum vor der Moderne (Christentum und Gesellschaft. 11). Stuttgart 1980. - Zur Säkularisierungsproblematik vgl. HERMANN LÜBBE: Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs. Freiburg im Breisgau/München 1965; HERMANN ZABEL: Zum Wortgebrauch „Verweltlichen, Säkularisieren" bei Paul Yorck von Wartenburg und Richard Rothe. In: Archiv für Begriffsgeschichte. Bd. XIV. Bonn 1970, S. 69-85; REIJO E. HEINONEN: Der Säkularisierungsbegriff bei Wilhelm Stapel. Die ideenpolitische Funktion eines Modewortes um 1930. In: ebd., S. 86-104; WOLFGANG LÜCK: Das Ende der Nachkriegszeit. Eine Untersuchung zur Funktion des Begriffs Säkularisation in der „Kirchentheorie" Westdeutschlands 1945-1965 (Europäische Hochschulschriften. Reihe XXIII, Theologie, Bd. 63). Berlin und Frankfurt/Main 1976.

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gesicherten Einrichtungen und Körperschaften hinwegzuschreiten und in freien Organisationen aus eigenem Recht eine neue freie Volkskirche gründen zu können" 9 . Es blieb ihnen nur der Weg, konzeptionelle Ansätze und die Motorik ihrer Aktivitäten in die kirchenparlamentarischen Verhandlungen einzubringen und die allgemeine Diskussion zur Volkskirchenfrage zu bereichern. Auf dem vorbereitenden Dresdener Kirchentag 1919 ging schon die Vorlage des Arbeitsausschusses für Verfassungsfragen programmatisch von dem Satz aus: „ D i e evangelische Kirche muß Volkskirche bleiben und immer mehr zu einer Volkskirche umgestaltet werden. Dabei ist der Bekenntnisstand sowie die Selbständigkeit und Eigenart der einzelnen Landeskirchen aufrechtzuerhalten" 1 0 . Auf stärkere Heranziehung aller Schichten der evangelischen Bevölkerung „ohne Antastung der führenden Stellung des Dienstes am Wort" wurde besonderer Wert gelegt. Die Diskussionen des Dresdener Kirchentages zeigten Konzeptionsunterschiede, in welchem Maße sich die Kirche dem Kirchenvolk bei der Neugestaltung zu öffnen habe. Dabei trat der Aspekt der klaren Bekenntnisorientierung mit einem mehr bekenntnisoffenen evangelischen Volkskirchenprogramm in Konkurrenz, was insbesondere bei der Frage der Urwahlen in den Landeskirchen, aber auch sonst immer wieder deutlich wurde. Einerseits wurden im Interesse einer breiten volkskirchlichen Erfassung der evangelischen Bevölkerung, die stärker am kirchlichen Leben interessiert werden müsse, die kirchlichen Urwahlen auch vom Gesichtspunkt des allgemeinen Priestertums der Gläubigen gefordert. Andererseits stellten die Gegner der Urwahlen das stärker konfessionsbezogene Gemeindeprinzip heraus, das nicht gestatte, den kirchlich Uninteressierten die Klinke der kirchlichen Gesetzgebung in die Hand zu geben. Kirchenvolk seien die kirchlich Desinteressierten keinesfalls; die Kirche solle zwar allen dienen, sich aber nicht von allen beherrschen lassen, am wenigsten von ihren Feinden 1 1 . Hier zeigte sich kirchliche Überfremdungsangst vor Säkularisierungstendenzen, die sich im religionsneutralen Weimarer Staat durch pluralistische Tolerierung auch religionskritischer und kirchengegnerischer Tendenzen verstärkt geltend machten und kirchli9 Vgl. den zeitgenössischen Bericht von OTTO DIBELIUS: Volkskirchenräte, Volkskirchenbund, Volkskirchendienst. In: Friedrich Thimme und Ernst Rolffs (Hg.): Revolution und Kirche. Zur Neuordnung des Kirchenwesens im deutschen Volksstaat. Berlin 1919, S. 201-213. 10 OTTO BAUMGARTEN: Der erste Deutsche Kirchentag. In: Evangelische Freiheit. Monatsschrift für die kirchliche Praxis 20, 1920, S. 363-402, Zitat S. 375. 11 Ebd., S. 375 ff.

Volkskirchliche Konzeptionen im deutschen Protestantismus

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cherseits kritisch beargwöhnt wurden. Zeitgenössischer Betrachtung blieb es nicht verborgen, daß Volkskirche im Sinne einer kirchlichen Organisation, „die das Volksganze umfassen und christlich beeinflussen will" 1 2 , umfassenden Schwierigkeiten begegnete. Trotzdem konnte der kircheninstitutionelle Konsolidierungsprozeß seit Mitte der zwanziger Jahre als zufriedenstellend bezeichnet werden, auch wo man keine triumphalistische Erfolgsbilanz konzipierte wie „Das Jahrhundert der Kirche" von Otto Dibelius 13 . Es blieb indes die Sorge um die Vertiefung des kirchlichen Öffentlichkeitseinflusses, die den landeskirchlichen Protestantismus in der Zeit der Weimarer Republik begleitete: „Ohne die sittlich-religiösen Kräfte der neuen staatsfreien evangelischen Volkskirchen . . . wird eine Wiedergeburt des Staates und Volkes, eines großen freien starken deutschen Vaterlandes . . . nicht möglich sein", hatte es 1921 im Kirchlichen Jahrbuch geheißen 14 . Die gesellschaftlich-kulturelle Bedeutung nur in volkskirchlicher Vermittlung wirklich effektiver Breitenwirksamkeit sozialethischer Impulse des evangelischen Christentums erschien unverzichtbar. Es gehörte darum zur Signatur schon jener Frühphase kirchlicher Aktivitäten in der Weimarer Republik, daß „im Mittelpunkt aller kirchlicher Verhandlung, der praktisch-theologischen Theorie und Betätigung . . . die Frage nach Wesen und Recht der Volkskirche" stand 15 .

2. Volkskirchenkonzeptionen

in der Weimarer

Zeit

Das Volkskirchenthema ist in der Weimarer Republik zeitgeschichtlich bedingt durchaus zentral relevant geblieben, weil sich in ihm die Existenzfrage und das Einflußproblem des landeskirchlichen Protestantismus in Deutschland artikulierte. Die freie demokratische Volkskirche Innerhalb des freien Protestantismus, der im weitesten Sinne liberalen Kirchlichkeit, hat man in unverblümter analytischer Retrospektive erkannt, welchen soziopolitischen Belastungen die Kirche als Staatskirche ausgesetzt war. Das hatte auch starke mentalitätsWALTER BÜLCK: Begriff und Aufgabe der Volkskirche. Tübingen 1922, S. 1. OTTO DIBELIUS: Das Jahrhundert der Kirche. Geschichte, Betrachtung, Umschau, Ziele. Berlin 1927. 14 FRIEDRICH KOCH: Auf dem Wege zur neuen Volkskirche in Preußen. In: KJ 48, 1921, S. 2. 12

13

15

W . BÜLCK ( A n m . 1 2 ) , S. 1.

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hafte Auswirkungen. Die Kirche nahm „als vom Staat privilegiertes Institut zur Erziehung staatstreuer Untertanen, als vom Staat dotierte Bildungsstätte pietät- und loyalitätgebundener Anhänger von Thron und Altar an dem ganzen Odium teil, das in den revolutionären Schichten gegen den alten Staat, den Obrigkeits-, Zwangs- und Privilegien-, den Kapitalisten- und Ausbeuterstaat sich angesammelt hatte" 1 6 . Daher stand für die liberale Spielart des Kulturprotestantismus in Deutschland bei seiner Option für die Kirchenreform fest, „daß nur der Aufbau einer Volkskirche mit Zutritt und Anspruch des breitesten Volkes zu ihren Rechten und Veranstaltungen es verhüten kann, daß die allp Gebiete der Kultur umfassende Umschichtung des ganzen öffentlichen Lebens die religiöse Gemeinschaft völlig ausschaltet aus den das Volk mitbestimmenden Lebensgrößen und sie zu einer Winkelsache enger Kreise im Volke macht" 1 7 . Demokratische Kirchenerneuerungsprogramme sollten den Laien das Solidaritätsgefühl in der Kirche wecken helfen. Es war Leitsatz dieser liberalen Kreise, daß die Volkskirche, die allem Volke dienen solle, die entfremdeten Massen der Gebildeten, des Bürgertums und der Arbeiterschaft wieder zurückzugewinnen suchen, den Vorwurf der Rückständigkeit entkräften und sich selbst als „Kulturmacht im Volksleben" behaupten müsse. Entprivilegierte, proletariatszugewandte Volkskirche Im Unterschied zu kirchenreformerischen Demokratisierungstendenzen volkskirchlicher Art, wie sie im kulturprotestantisch-liberalen Raum vertreten wurden, stießen die Religiösen Sozialisten bei ihrem innerkirchlichen Kampf stärker in den gesellschaftspolitischen Bereich vor, in dem ihnen weitgehende Defizite volkskirchlicher Verantwortung gerade gegenüber dem Proletariat vorzuliegen schienen 1 8 . Von Demokratisierung und Parlamentarisierung der Kirche allein erhofften sie keine Wunder, doch galt ihnen fortschreitende innerkirchliche Demokratisierung durchaus als eine Voraussetzung für ein breiteres Sozialengagement der Kirchen, das für eine wirkliOTTO BAUMGARTEN: Der Aufbau der Volkskirche. Tübingen 1920, S. 7. Ebd., S. 10. " Vgl. FRIEDRICH-MARTIN BALZER: Klassengegensätze in der Kirche und der Bund der Religiösen Sozialisten Deutschlands. 2. Aufl. Köln 1975; MARTIN KUPKE: Der Klassenkampf im religiösen Sozialismus und seine Hintergründe sowie der praktische Kampf der religiösen Sozialisten Deutschlands in der Weimarer Republik. Diss, theol. Leipzig 1978; Einzelvertreter des Religiösen Sozialisten beleuchtet die Auswahldokumentation von ARNOLD PFEIFFER (Hg.): Religiöse Sozialisten (Dokumente der Weltrevolution. 6). Ölten und Freiburg im Breisgau 1976. 16

17

Volkskirchliche Konzeptionen im deutschen Protestantismus

171

che Volkskirche als konstitutiv angesehen wurde. Analysen und Anklagen soziologischer Gebundenheit evangelischen Kirchentums und Proteste gegen aktuelle Manifestationen solcher Abhängigkeit begegnen auf Schritt und Tritt in der religiös-sozialistischen Publizistik 19 . Entflechtung der Kirchen aus einseitigem Verhaftetsein an Geist und Strukturen der herrschenden Gesellschaftsmächte und deren Herrschaftsmechanismus hieß die Devise. Das die freiwillige Entprivilegisierung einschließende Volkskirchenideal der Religiösen Sozialisten war auf bewußte und wirksame Öffnung hin zum Proletariat angelegt, eine Forderung, die in einflußkräftigen kirchlichen Schichten damals befremdete. Man kann sagen, daß die auf sozialethische Verantwortung der Kirche zielende Sozialkritik der Religiösen Sozialisten und ihre Forderung nach klassenüberschreitendem kirchlichem Solidarverhalten gegenüber der proletarischen Existenz volkskirchlicher Massen die damalige kirchliche Durchschnittsmentalität des institutionellen Kirchentums faktisch überforderte. Angesichts des kirchlichen Einstellungsverhaltens, das von einer vermeintlichen Uberparteilichkeit der Kirche ausging, wurde die unterschiedlich motivierte Bejahung des proletarischen Klassenkampfes oder zumindest das weitgehende Verständnis dafür bei den Religiösen Sozialisten vom herrschenden Kirchentum meist nur aversiv und polemisch zurückgewiesen. Die kirchensoziologische Effizienz ihrer volkskirchlichen Aktivitäten, die eine proletariatszugewandte und proletarische Anliegen dominant sozialethisch integrierende Volkskirchenkonzeption zur Voraussetzung hatten, blieb darum stark eingegrenzt 20 . Der Ablehnung durch das kirchliche Establishment entsprach übrigens auch das geringe Echo innerhalb der Schichten, deren volkskirchliche Aktivierung gleichsam Modellcharakter für den religiös-sozialistischen Kirchentyp haben sollte.

" Der badische „Volkskirchenbund" war eine Wurzel der süddeutschen Religiösen Sozialisten. Vorläufer des späteren Bundesorgans „Sonntagsblatt des arbeitenden Volkes" war das „Christliche Volksblatt" in Baden. Eine organisatorische Vorstufe des Bundes der Religiösen Sozialisten Deutschlands, der „Volkskirchenbund evangelischer Sozialisten Süddeutschlands" seit 1922, trug den Volkskirchenbegriff in der Firmierung. Zur Volkskirchenproblematik der Religiösen Sozialisten vgl. die einschlägige Presse (passim). Aus der „Zeitschrift für Religion und Sozialismus", hg. von Georg Wünsch für den Bund der Religiösen Sozialisten Deutschlands, seien exemplarisch folgende Artikel erwähnt: PAUL PIECHOWSKI: Die sterbende Kirche (Jg. 1929, S. 3 - 1 3 ) ; EMIL FUCHS: K i r c h e u n d Ö f f e n t l i c h k e i t (Jg. 1931, S. 3 6 3 - 3 6 8 ) ; HEIN-

RICH DIETRICH: Die Kirche vor der Entscheidung (Jg. 1932, S. 239-242). Dietrich be-

tonte, die seit 1918 fällige Entscheidung, das Proletariat in die Kirche einzugliedern, sei noch nicht vollzogen. 20 OTTO MEIER: Partei und Kirche. Berlin (-Ost) 1947 (Rückblickendes Urteil K. Kleinschmidts).

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Volkskirche als religiös-sittliche, kulturprogrammatische hungsmacht

Erzie-

Unvergleichbar größer waren Breite und Effizienzgrad einer positiven Kirchlichkeit, die in Nachwirkung der betont kulturoffenen und biblisch-reformatorisch orientierten, auf Versittlichung der Lebensbereiche angelegten Theologie im Umkreis der Ritschlschen Schule auf religiös-ethische Kulturrelevanz des Christentums orientiert war. Schultheologische Spezifika traten dabei ebenso zurück wie Unterschiede kirchlicher Tradition sonst. Blieb also der liberale Volkskirchengedanke entsprechend der Bedeutung der ihn vertretenden kirchlichen Richtungen im ganzen doch begrenzt und war zumal der religiös-sozialistische Typ einer proletariatskonformen Volkskirchenkonzeption einflußarm und isoliert, so besaß der auf religiös-sittlichen Offentlichkeitseinfluß orientierte ekklesiologische Positivismus eine erhebliche Ausstrahlung im Kirchentum der Weimarer Zeit. Besonders ausgeprägt bei Otto Dibelius, aber auch durch andere Kirchenführer vertreten und durchaus symptomatisch für breite Kreise des Pfarrerstandes, wurde Kirche nunmehr als im Grunde obrigkeitsunabhängige, souveräne Lebensform und Lebensgemeinschaft, als ein auf Bekenntnis und Kultus gegründeter Organismus verstanden, wobei auch einer betonten Kulturprogrammatik zentrale Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Kenner der volkskirchlichen Stimmungslage empfanden schon damals die Konzeption, die Dibelius im , Jahrhundert der Kirche" vorlegte, wie trotz aller Kritik im einzelnen doch die Diskussion zeigte, die das Buch auslöste, als „symptomatisch . . . für eine weitverbreitete und einflußreiche Zeitströmung" 21 . Es wurde für unverzichtbar gehalten, nach Wegfall des Staatskirchentums im religionsneutralen, kulturell und politisch distanziert und skeptisch betrachteten Weimarer Klassenstaat bei der geistigen Wertbildung und Wertpropagierung maßgebend beteiligt zu werden, eben „Gewissen des Staates" zu sein. Selbstbewußt wurde nach dem unter kirchenpolitischem Aspekt durchaus begrüßten Wegfall des Staatskorsetts der Kirche auf das protestantische Volkskirchentum gesehen, dessen Bollwerkcharakter dem Christentum die notwendige Durchchristlichungsstrategie im modernen Geistesleben ermögliche, das durchaus defizitär beurteilt wurde. Dieser Aufgabe sei nur die Kirche gewachsen, mit kleinen Religionsgemeinschaften sei hier nichts ausgerichtet. Die Mission am einzelnen 21 W. BÜLCK: Das Kirchenproblem der Gegenwart. Sonderdruck aus Volk und Kirche. Jg. 1930, Heft 10-14 ( = Vortrag auf Theologenferienkurs in Malente Oktober 1929), S. 16ff. (Zitat S. 16); O. DIBELIUS: Das Jahrhundert der Kirche. Berlin 1927; Nachspiel. Berlin 1928.

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bleibe solange unfruchtbar, als die Atmosphäre der Gottentfremdung über dem sozialen Leben liege. Es sei eine volksumspannende Organisation nötig, die mit dem einzelnen zugleich die Gesamtheit im Auge habe. Bezeichnend für die Selbsteinschätzung war ein von der Dialektischen Theologie, besonders von Karl Barth 22 als „Angriff auf die Substanz der Kirche" beargwöhnter Triumphalismus des empirischen Kirchentums, dessen Dauerkraft und Elastizität kirchliche Repräsentanten in der zweiten Hälfte der Weimarer Republik in stolzer Rückschau auf den im ganzen zufriedenstellenden kirchlichen Konsolidierungsprozeß seit 1918 zu würdigen wußten 25 . Volkskirche als Verkündigungsanstalt Im Kontrast zu dieser kulturethischen, auf religiös-sittliche Durchdringung der Gesellschaft gerichteten, stark soziologisch geprägten Volkskirchenprogrammatik, deren Gefahr, in Konkurrenz zu anderen kulturpolitischen Interessengruppen zu geraten, schon damals gesehen und kritisch aufgewiesen wurde, sind Konzeptionen zu sehen, die Volkskirche als Verkündigungsanstalt verstanden. Der etwa in verschiedenen Publikationen des Kieler Praktischen Theologen Walter Bülck vertretene verkündigungsorientierte anstaltskirchliche Aspekt ließ die religionsneutrale Staatlichkeit des Weimarer Systems akzeptabler erscheinen, als es direkt kulturintegrative Konzeptionen vermochten, die das grundsätzliche Defizit christlicher Wertpropagierung im Weimarer Staate durch Potenzierung christlichen Offentlichkeits- und Kultureinflusses wettzumachen versuchten24. Bülcks These war es, Volkskirche könne ebensowenig von den Massen getragene Kirche wie Bekenntniskirche im altprotestantischen Sinn sein. In Abgrenzung von ekklesiologischen Konzeptionen der Vorkriegszeit, die als Ziel kirchlicher Arbeit die Erhebung der volkskirchlichen Gemeinde zum Subjekt kirchlichen Handelns ansahen (z.B. Emil Sülze), auch distanziert gegenüber pietistisch akzentuierten lutherischen Kerngemeindeprojekten (so " KARL BARTH: Quousque tandem . . .? In: ZZ 8, 1930, S. 1-6; Die Not der evangelischen Kirche. In: ZZ 9, 1931, S. 89-122. Vgl. auch O. DIBELIUS: Die Verantwortung der Kirche. Eine Antwort an Karl Barth. Berlin 1931. 23

JOHANNES SCHNEIDER: Z u r k i r c h l i c h e n Z e i t l a g e . In: KJ 5 5 , 1 9 2 8 , S.

514-584;

WALTHER WOLFF: Die Deutschen Evangelischen Kirchen nach 1919. In: Zehn Jahre d e u t s c h e G e s c h i c h t e 1 9 1 8 - 1 9 2 8 . B e r l i n 1 9 2 8 , S. 4 2 3 f f . ; MARTIN SCHIAN: E c c l e s i a m

habemus. Ein Beitrag zur Auseinandersetzung zwischen Karl Barth und Otto Dibelius. Berlin 1931. - Schian, der die scharfe kirchengeschichtliche Peripetie von 1918 bei Dibelius einschränkt, stellt sich grundsätzlich auf seine Seite. 24 W. BÜLCK: Die evangelische Gemeinde. Ihr Wesen und ihre Organisation. Tübingen 1926.

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Gerhard Hilbert und Erich Stange), zielte der institutionskirchliche Ansatz Bülcks darauf, daß die Masse der Kirchenglieder nur als Objekt kirchlichen Handelns in Betracht käme. Bei aller Betonung der volkserzieherischen Bedeutung der als Anstalt der Wortverkündigung verstandenen Kirche - wobei Kultus und Mission, Unterricht und Seelsorge, der auch die Diakonie zugeordnet war, die zentralen kirchlichen Aufgaben darstellten - konnte nach Bülck die Kirche kein soziales Programm aufstellen und durfte sich nicht einmischen in die technische Lösung sozialer Fragen. Doch wurde die durch die Verkündigung bewirkte soziale Gesinnung als Motivationshintergrund für das Sozialengagement des einzelnen evangelischen Christen in Öffentlichkeit und Beruf durchaus bejaht und gefordert. Wenn auch herkömmliches kirchenhistorisches Instrumentarium den Einflußgrad volkskirchlicher Konzeptionen in der Praxis nur unzureichend ermitteln kann und kirchensoziologische Untersuchungen in dieser Richtung fehlen, wird man neben dem im kirchlichen Bewußtsein stark verankerten volkskirchlichen Typ einer sittlich-religiös fundierten Erziehungsmacht mit kulturprogrammatisch deutlich konturierten Ansprüchen in der Öffentlichkeit auch den anstaltskirchlichen Typ nicht unterschätzen dürfen, da er zumal in lutherischen Landeskirchen ein allerdings sehr unterschiedlich akzentuiertes konfessionalistisches Grundmuster darstellte, von pietistisch-gefärbten kerngemeindlichen Verlebendigungsstrategien und Mobilisierungsprojekten in unterschiedlicher, meist doch nur begrenzter Intensität durchsetzt 2 5 . Volkskirche als konfessionsbewußte Bekenntniskirche Schließlich ist der konfessionsbewußte, bekenntniskirchliche Volkskirchentyp zu nennen, der zumal in lutherischen Landeskirchen (regional, gruppenmäßig und personell mit abgestufter Verbindlichkeit), aber auch in bekenntnislutherischen Kreisen innerhalb der unierten Kirchen und dort oft sehr bewußt und prononziert vertreten wurde. So hat der westfälische Generalsuperintendent Wilhelm Zoellner als Prototyp für diesen lutherischen Typ innerhalb des Unionskirchentums lutherisch geprägtes bekenntnisintensives Volkskirchentum, strenge Bekenntniskirchlichkeit nicht ohne antiunionistischem Akzent vertreten, dabei offen für ökumenische Haltung, die - von gelebtem Bekenntnisbewußtsein konfessionsbezo25 GERHARD HILBERT: Ecclesiola in ecclesia. Luthers Anschauungen von Volkskirche und Freiwilligkeitskirche in ihrer Bedeutung für die Gegenwart. Leipzig und Erlangen 1920; ERICH STANGE: Volkskirche als Organismus. Eine Fortsetzung der Aussprache über die kommende Kirche. Leipzig 1928.

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gen, die Landeskirchengrenzen transgrediert und - auf übergreifenden konfessionellen Zusammenschluß des Luthertums bedacht, kirchlich reformerisch wirksam wurde. Charakteristisch für diesen Volkskirchentyp war ausgeprägtes Amtsbewußtsein im Sinne geistlicher Leitung, ins Kirchenbewußtsein integrierte volksmissionarische Aktion, von innen heraus theologisch bestimmte und bekenntnisgeprägte Kirchenreform und von daher auch entsprechend kirchlichbekenntnisbewußt qualifiziertes Gemeindeprinzip, das volkskirchliche Gemeinde gleichsam als unverzichtbaren Resonanzboden einer an Amt und Verkündigung orientierten Kirchengemeinde versteht, aber dennoch die Gemeinde im engeren Sinne - auch unter kirchenrechtlichen Aspekten - von der Masse der Kirchenzugehörigen unterscheidet: ein Kirchenbegriff, der schon nach 1918 die Kritik liberaler Kreise provoziert hatte, da seine bekenntniskirchliche Konzeption strenggenommen die breite Volkskirche ausschließe, an der kirchenstrukturell auch hier gleichwohl festgehalten wurde 2 6 . Der empiriekritisch-strukturindifferente, verkündigungsautonome Kirchentyp - Volkskirche als soziologischer Außenaspekt der Kirche Gegenüber der auf empirisch-institutionelle Strukturreform zielenden Volkskirchenproblematik der zwanziger Jahre gewann die Dialektische Theologie in ihren verschiedenen Ausformungen damals eine ausgesprochen kritische Funktion. Ihr asynthetisch-diastatisches Verdikt traf nicht nur das kirchenreformerische volkskirchliche Drängen des liberalen Kulturprotestantismus wie auch religiössozialistische Leitbilder, sondern galt auch der kirchlich-positiven Reform- und Konsolidierungsprogrammatik. Mit dem Triumphalismus einer auf Offentlichkeitseinfluß und kirchenpolitisches Machtstreben bedachten Kirchenführungselite setzte sich in der Spätphase der Weimarer Republik Karl Barth geradezu invektiv auseinander. Wurde dort im Blick auf die geschichtliche Bewährungsprobe evangelischen Kirchentums nach Wegfall des Summepiskopats die Resistenzkraft der Volkskirche und ihre sittlich-religiöse Kulturrelevanz betont herausgestellt (nicht nur bei Otto Dibelius, sondern auch anderwärts häufig genug), so sprach Barth von einer „catilinarischen Verschwörung" auf die „Substanz der Kirche", der es entschieden entgegenzutreten gelte 27 . Die Not der evangelischen Kirche liege im

26 H A N S EHRENBERG (Hg.): Credo Ecclesiam. Festgabe W. Zoellner zum 70. Geburtstag. Gütersloh 1930. 27 K. BARTH: Quousque tandem? (Anm. 22), S. 2 f.; Die Not der evangelischen Kirche (ebd.), passim.

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Unterschied zum römischen Katholizismus in der Unmöglichkeit jeder Synthese. Dieser im Wesen der evangelischen Kirche begründeten Not wolle man - wie bislang in idealistischer Flucht vor der Sichtbarkeit und Betonung der „ecclesia invisibilis" - gegenwärtig durch die Flucht in eine allerdings theologisch nicht qualifizierte Sichtbarkeit entgehen. Indem das auf Grund zeitgeschichtlicher Krisensituation durchaus verständliche Sicherungsbestreben einen ekklesiologischen Realismus und Positivismus begünstige, werde vordergründig die Frage nach der Existenz der Kirche, nicht aber die einzig legitime Frage nach ihrem Wesen gestellt. Hatte sich die Theologie der Krisis in Barths Römerbriefkommentar empirischem Kirchentum gegenüber antithetisch artikuliert, so schloß auch der dialektisch vermittelte Begriff der Wort-Gottes-Theologie seit der Mitte der zwanziger Jahre aktualistisch jede Soziologie der Kirche folgerichtig aus, m.a.W.: Die konkrete Gestaltfrage erschien weitgehend aus der theologischen Erwägung herausgenommen. Für Barth war die soziologische Seite des Kirchenbegriffs also durchaus etwas Sekundäres. Daß sich „keine noch so tief gegründete christliche Gemeinschaft . . . den allgemeinen soziologischen Gesetzen entziehen" könne, stand für Barth dabei allerdings ebenso fest wie die Tatsache, daß der als „geschichtlich-soziologisch", auch als „profan" bzw. „untheologisch" benannte „Außenaspekt" des Kirchenbegriffs auf der „geschichtlich-soziologischen Ebene der Beobachtung und des Urteils notwendig, möglich und richtig und . . . indirekt auch theologisch lehrreich" sein könne 28 . Die „theologische Kehrseite" des soziologischen Außenaspektes lag indes allein in dem Sachverhalt begründet, daß Kirche als die von Gott selbst eingesetzte Gemeinschaft des von seinem Wort lebenden Glaubens und Gehorsams sündiger Menschen 29 verstanden wurde, wobei auch der hier definitorisch mitberührte anthropologische Aspekt nicht abstrahiert von der Wirklichkeit der aktualen Gott-Mensch-Beziehung im Ereignis des Wortes Gottes zu sehen war. Indes: der „Außenaspekt" der der Kultur zuzuordnenden Seite des Kirchenbegriffs (Kirchentum) galt nicht als selbständig zu erörterndes theologisches Thema. Alle nicht theozentrisch bzw. vom Ereignis des Wortes Gottes her gewonnenen ekklesiologischen Konzeptionen entbehrten für Barth letztlich theologischer Relevanz. Bei aller Neigung zum kongregationalistischen Kirchentyp entband sich Barth damals jeder Stellungnahme zu konkreten geschichtlichen Kirchenrechtsformen, wie sehr dann später

28 K. BARTH: Die Kirche und die Kultur. In: Die Theologie und die Kirche. Gesammelte Vorträge. 2. Bd. München 1928, S. 364-391, Zitat S. 386, 365. " Ebd., S. 365.

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auch christologische Analogien, also dogmatische Grundsätze, Orientierungslinien für ein der christlichen Gemeinde entsprechendes Kirchenrecht als Dienstrecht darstellten 30 . Es war für die Volkskirchenkritik Barths kennzeichnend, daß nicht die Struktur- und Formprinzipien des Kirchentums interessierten oder zur Kritik herausforderten. Seinem krisis- und worttheologischen bzw. später christologischen Ansatz erschien vielmehr der in der Volkskirchenproblematik sich darstellende Sachverhalt der Assoziation, Adaption und Synthese suspekt, der eine „Ideologie des gehobenen Mittelstandes" zur Grundlage habe und in der Verbindung von Christentum und Volkstum, evangelisch und deutsch sowie anderen Produkten eines im 19. Jahrhundert aufgekommenen kulturprotestantischen Bindestrichchristentums zum eisernen Bestand zeitgenössischer Kirchlichkeit gehöre, die Barth nur kritisch sehen konnte. Relevant wurde die Sorge Barths zu Anfang der dreißiger Jahre insbesondere auch dadurch, daß Gefahren einer ideologischen Überfremdung des aktualistischen kirchlichen Einfluß- und Machtwillens durch evangeliumsfremde Inhalte und Tendenzen, etwa aus dem Reservoir eines völkischen Christentumsverständnisses, sich geltend machen könnten 3 1 . Insofern war seine Kirchenkritik keine Volkskirchenkritik in formal-strukturellem Sinne, sondern Schloß vielmehr die zentrale inhaltliche Frage ein, wie das als soziologischgeschichtlicher Außenaspekt zweifellos vorausgesetzte Volkskirchentum die kirchliche Existenzfrage in der säkularisierten Gesellschaft theologisch legitim, durch Besinnung auf das Wesen, die Substanz der Kirche lösen und beantworten könne. Resümiert man und zieht eine Zwischenbilanz, so steht außer Frage: Der landeskirchliche Protestantismus der Weimarer Zeit hat die Notwendigkeit der Volkskirche als im Grunde alternativloses Form- und Strukturprinzip der Kirche keineswegs bestritten, sondern durchweg vorausgesetzt und bejaht. Volkskirche als Gegenstand der Kirchenreform sah sich mit verschiedenen volkskirchlichen Konzeptionen konfrontiert, die - inhaltlich unterschiedlich, ja konträr orientiert - durchweg als Mobilisierungs- und Dynamisierungsprojekte anzusprechen sind. Gegenüber der Tatsache der Volkskirche gab es eigentlich keine Alternative, da sie noch am ehesten eine Segmentierung oder gar Isolierung kirchlichen Einflusses zu verhindern vermochte. Gegenüber einer den christlichen Universalismus einschränkenden oder neutralisierenden Tendenz, wie sie 50 MARTIN HONECKER: Kirche als Gestalt und Ereignis. Die sichtbare Gestalt der Kirche als dogmatisches Problem. München 1963, S. 157 ff. 31 K. BARTH: Die Not der evangelischen Kirche (Anm. 22), S. 114.

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durch die pluralistisch-religionsneutrale Staatlichkeit der Weimarer Republik begünstigt erschien, wurden allerdings sehr unterschiedliche Leitbilder erarbeitet. Die volkskirchliche Programmatik differierte hinsichtlich der konkreten Ausformung zeitgenössischer Kirchenkritik und entsprechender Reformvorstellungen also erheblich. So wies bei allen Unterschieden im einzelnen die religiös-sozialistische Konzeption volkskirchlicher Verantwortung unter den mannigfachen Durchchristlichungsstrategien der Zeit charakteristische sozialethische und gesellschaftsanalytische Momente auf, die das volkskirchliche Durchschnittsbewußtsein transzendierten. In dialektisch-theologischer, vornehmlich von Karl Barth bestimmter Sichtweise war im Blick auf die konstruktive Seite volkskirchlicher Konzeptionen zwar jene charakteristische Zurückhaltung beobachtbar, die der Theologie der Krisis trotz aller Modifikationen und Weiterentwicklung im einzelnen damals den Anstrich einer vornehm-selbstbewußten Distanz gegenüber kirchenreformerischer Praxis vermittelte. Doch blieb die kritische Rezeption partieller Elemente einer Volkskirchenkritik nicht ausgeschlossen, wenngleich erschwert, da aus andersgearteter theologischer Position erwachsen. Diesen Selektionsvorgang, der im Geltenlassen der destruktiven Seite kritischer Volkskirchenprogrammatik bestand, ohne daß die konstruktiven Lösungsversuche Anerkennung fanden, läßt sich der kritischen Rezension Richard Karwehls und seiner Beurteilung einiger für das Kirchenproblem wichtigen Schriften von Hermann Schafft, Paul Le Seur und Erich Stange entnehmen. Wenn man der Zeit wirklich helfen wolle, müsse man erst Distanz zu ihr gewinnen, lautete hier die dialektisch-theologische Devise. In volkskirchlichen Konstruktionsplänen des weitverzweigten kirchlich-theologischen Aktivitätenfeldes sah man den Zeitgeist am Werke: auch biblische und reformatorische Terminologie und Diktion könnten das nicht verdecken. Doch gilt dabei: Das Verdikt der Dialektischen Theologie gegenüber den Volkskirchenkonzeptionen galt nicht ihren vorfindlichen Strukturformen, sondern unter diastatischer Optik ihrer zeitgeistverfallenen Synthetik, die selbst in so gegensätzlichen kirchenreformerischen Forderungen wie des kirchlichen Establishments und der kirchenoffiziell beargwöhnten und einflußmäßig isolierten Gruppierung der Religiösen Sozialisten am Werke zu sein schien. Unter dialektischtheologischer Sicht lag hier ein analoger synthetischer Ansatz vor, der als illegitim galt, wie sehr auch immer einzelne volkskirchenkritische Aspekte zutreffend erscheinen mochten 3 2 . 32

RICHARD KARWEHL: Zur Diskussion über die Kirchenfrage. In: ZZ 5, 1927, S.

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3. Volkskirchliche Konzeptionen im „Dritten Reich" Es ist eine für die Volkskirchenproblematik im Jahre 1933/34 interessante zeitgenössische Beobachtung, daß das herkömmliche Grundverständnis, die Kirche könne „nur als Volkskirche ihr Daseinsrecht für sich in Anspruch nehmen", in dem Moment in Frage gestellt wurde, als man sich zu Beginn des „Dritten Reiches" anschickte, mit ihm grundsätzlichen Ernst zu machen 33 . Dem Projekt der Reichskirche habe man grundsätzlich Verständnis entgegengebracht, erst die damit verkoppelte Frage nach der Artgemäßheit des Christentums in allen seinen Konsequenzen und der Ruf nach einer überkonfessionellen Nationalkirche hätten den bekenntniskirchlichen Widerstand ausgelöst, betonte Martin Niemöller Anfang 1935. Deutschchristliche Konzeptionen schafts- und Nationalkirche)

(Volksmissions-,

Volksgemein-

Tatsächlich gehört das Volkskirchenprinzip im Sinne einer adaptiven Volksmissionskirche bei den Deutschen Christen von Anfang an zum ekklesiologischen Programm 34 . Die etwas pauschale Formulierung Ernst Wolfs, daß die Glaubensbewegung DC eine „nationalistisch-religiöse Erweckungsbewegung" war, „ein volksmissionarisches Unternehmen, das auf Bekehrung des ganzen deutschen Volkes zum ,arteigenen Christentum'" zielte, trifft in dieser Hinsicht gleichwohl den Kern der Sache 35 . Es handelt sich konzeptionell um „die Hereinführung des Volkes in die Gemeinde" und um „das Überströmen der Gemeinde in das Volk" 36 . Die verschiedenen volksmissionarischen Aktivitäten und Konzepte der Glaubensbewegung DC wie auch der Reichsbewegung DC - wie sie sich nach 1933 nannte, bis sie Ende 1938 stark desintegriert in die arbeitsgemeinschaftlichen Bahnen der „Lutherdeutschen" einmündete - können die konzeptionellen Bemühungen im Kontext der jeweiligen kirchen- und religionspolitischen Entwicklung und ihrer situativen Mo178-196. - Vgl. auch HEINRICH FRICK: Romantik und Realismus im Kirchenbegriff. Eine theologische Auseinandersetzung mit O. Dibelius, E. Stange und E. Peterson. In: Sammlung gemeinverständlicher Vorträge aus dem Gebiet der Theologie und Religionsgeschichte. Nr. 137, Tübingen 1929. 35 MARTIN NIEMÖLLER: Dienst der Kirche am Volk. In: EvTh 2, 1935, S. 461-470, Zitat S. 462. 34 Zur Glaubensbewegung D C vgl. FRIEDRICH WIENEKE: Evangelische Volksmission im Dritten Reich. Soldin 1934. 35 ERNST WOLF: Barmen. Kirche zwischen Versuchung und Gnade. München 1957, S. 4 0 . 36

Ebd., S. 47.

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difikationsnotwendigkeiten nur exemplarisch verdeutlichen. Wichtig bleibt dabei der Hinweis, daß für die im weitesten Sinn als deutschchristlich anzusprechende Volkskirchentypik - man hat schon zeitgenössisch von Volksmissionskirche und gar Volksgemeinschaftskirche gesprochen 3 7 - nicht nur die organisationsgeschichtlichen Wurzeln der Glaubensbewegung D C ins Auge zu fassen sind. So spielt natürlich die Tatsache eine Rolle, daß die überwiegend neukonservativ orientierte christlich-deutsche Bewegung, die völkische Aufbruchsbewegung der nationalkirchlich geprägten Thüringer Deutschen Christen (Kirchenbewegung D C ) und der Bund für deutsche Kirche neben verschiedenen NS-Pfarrergemeinschaften regionaler Art ein höchst disparates ekklesiologisches Potential einbrachten und auch in der Volkskirchenfrage im einzelnen nicht homogen dachten. Daneben darf auch die Funktion zuleitender Ideenträger im publizistischen und akademischen Bereich nicht übersehen und muß die Bedeutung geprüft werden, die das weite Feld einer sehr differenziert zu betrachtenden Rezeption eines deutschen Verständnisses der Reformation und Gestalt Luthers betrifft. Insofern tritt ein antizivilisatorisches Verständnis dessen, was Volkskirche sein sollte, im übergreifenden Zusammenhang eines antimodernistischen Trends im einschlägigen Mentalitäts- und Ideologiebereich vergangenheitsbezogen und zugleich gegenwartsrelevant schon in der Weimarer Zeit entgegen und gewinnt im sogenannten „nationalen Aufbruch" der frühdreißiger Jahre einen auch politischen Stellenwert. Problematisch wurde die Ausweitung des evangelischen Volksmissionsmodells durch die Thüringer Kirchenbewegung D C , die seit 1935 ins übrige Reichsgebiet vordrang und als Nationalkirchliche Bewegung D C auch desintegrierte Teile der Reichsbewegung D C an sich zog. Die Forcierung eines überkonfessionellen Nationalkirchenmodells war freilich angesichts der Bekenntnisorientiertheit des evangelischen Landeskirchentums und vollends im Blick auf den Charakter der römisch-katholischen Kirche völlig unrealistisch. Die nach dem zweiten Weltkrieg publizierte Meinung Emanuel Hirschs, es habe den Nationalkirchlern nur ein Mann vom Schlage Grundtvigs gefehlt, übersah zumindest die objektive konfessionspolitische Lage der deutschen kirchlichen Verhältnisse 38 . Es ist hier nicht der Ort, die volkskirchlichen Leitbilder der Deutschen Christen im einzelnen vorzuführen. Ideologiestrukturell kann 37 H A N S A S M U S S E N : Grundsätzliche Erwägungen zur Volkskirche. In: J K 3, 1935, S. 288-294, Zitat S. 290. 38 E M A N U E L H I R S C H : Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens. Bd. 5. Gütersloh 1951, 4. Aufl. 1968, S. 230f., Anm. 1.

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man sie als ekklesiologische Synthesekonzeptionen verstehen, die Wesen und Auftrag der Kirche in Konformität zum Weltanschauungsanspruch des NS-Systems zu bringen versuchten. Sie berührten sich manchmal auch mit einer auf die Realdialektik von Gesetz und Evangelium verpflichteten Staatsauffassung, wobei indes deren kritische Grenzen durch eine zu Staatsvertrauen und Staatshingabe vertiefte Staatspositivität im Blick auf das NS-Regime nivelliert wurden. Die deutschchristlichen Synthesekonzeptionen schlossen den Komplettierungsaspekt ihrer volkskirchlichen Bestrebungen im „Dritten Reich" ein; bei den Nationalkirchlern zielten (später zum Teil apologetisch verstehbare) Harmonisierungstendenzen und Identifikationsversuche auf eine weltanschauungskonforme Ekklesiologie mit dem NS-System, dessen weltanschaulichen Distanzierungskräfte allerdings gerade diesen Typ Deutschen Christentums als ideologisch besonders suspekt und für ihr religionspolitisches Ausschaltungskonzept der Kirche störend betrachteten 39 . Bekenntniskirchliche Konzeptionen von Volkskirche Die durch die Kirchenwirren bedingte weitgehende Unmöglichkeit, dem Volk den unverzichtbaren kritischen kirchlichen Dienst zu leisten, wurde bedauert; kirchlicher Auftrag am Volk - in Reinheit und Freiheit erfüllt - leiste dem Volk den Dienst, es vor Hybris und Selbstvergötterung zu bewahren: Diese Überlegungen gehörten bisweilen apologetisch gefärbt - zu den Konstanten bekenntniskirchlicher Orientierung in dieser Frage. So steht fest: Der volkskirchliche Auftrag wurde bekenntniskirchlicherseits keineswegs bestritten. Es wurde nur einer volkskirchlichen Ideologie gewehrt, bei der das Volk als konstitutiver Bestandteil des Kirchenbegriffs galt oder gar Volkstums- und Rassenfragen bekenntnisintegrative Bedeutung erhielten. a. Bekenntniskirche in der Volkskirche (Gerhard Gloege) Gloege, damals Studiendirektor der Bekennenden Kirche in Naumburg am Queis, der radikalen Richtung der schlesischen Bekennenden Kirche zugehörig, charakterisierte 1935 Bekennende Kirche als den „Zusammenschluß derer, die, innerhalb der Volkskirche stehend, die rote, grüne oder graue Karte mit der Verpflichtung unterzeichnet haben, die .Heilige Schrift Alten und Neuen Testa39 Vgl. hierzu H E I N Z B O B E R A C H (Hg.): Berichte des SD und der Gestapo über Kirchen und Kirchenvolk 1934 bis 1944 (VKZG A 12). Mainz 1971, S. XLI, 556ff. u.ö.

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ments nach der Auslegung der reformatorischen Bekenntnisse als die alleinige Grundlage der Kirche und ihrer Verkündigung anzuerkennen' und demgemäß ,christlich' zu handeln" 40. Er wandte sich gegen alternative Lösungen. Die integrative Interpretation von Bekenntniskirche in der Volkskirche wurde zugleich in dialektischer Zuordnung von volkskirchlichen und freikirchlichen Aspekten gesehen. Bekenntniskirche sei „die Stätte, wo die Dialektik zwischen dem in Wort und Bekenntnis angelegten Universalismus (Volkskirche) und Personalismus (Freikirche) gesehen und verwirklicht" wird. Nach lutherischer Lehre hänge die Frage, ob unsere Volks- und Landeskirchen Kirche Jesu Christi seien, einzig und allein von lauterer Verkündigung des Wortes Gottes und rechter Sakramentsverwaltung ab. Bezeichnend für die volkskirchliche Haltung dieses theologischen Exponenten des stark bruderrätlichen Flügels der Bekennenden Kirche war der Hinweis, es sei nicht Sache lutherischen Denkens, „die Tatsache unseres heutigen konkreten Kirchentums im Strudel mehr oder minder klarer Idealbilder, Entwürfe und Planungen, wie Kirche sein müßte und sein könnte, versinken zu lassen und gegenwärtige Wirklichkeiten über zukünftige Möglichkeiten zu verlieren" 41 . Auch der reformierte Konsistorialrat D. Eberhard Baumann (Stettin) kam zu einem ähnlichen Resultat: „Wir haben uns nicht im Bann der Alternative Volks- und Freikirche zu bewegen, sondern alle Anstrengungen auf eine Bekenntniskirche im Sinne der Bekenntnisse und des Bekennens zu richten" 42 . b. Volkskirche als Zeugnisraum verkündigungsautonomer „Sammlung unter dem Wort" (Hans Asmussen) Auch Asmussens Kirchenbegriff bekennende „Sammlung unter dem Wort" überließ Kirchengestaltungsfragen der Zukunft: „Die Frage der Volkskirche ist. . . nicht eine Frage der Konstruktion, sondern eine Frage des Gehorsams Schritt für Schritt." 43 Nicht eine Leistungsbilanz rechtfertige die Gestalt der Volkskirche, sondern das Ja Gottes zu ihr. Weil im „Dritten Reich" die Volksbeeinflussung entscheidend vom NS-Regime usurpiert sei, gelte es, kirchlicherseits auf kulturpolitische Fragen zu verzichten und Kirche nur 40

GERHARD GLOEGE: Volkskirche, Freikirche oder Bekenntniskirche? In: Reformation oder Restauration. Barmen 1935, S. 50-67, Zitat S. 50. 41 Ebd., S. 67. 42 EBERHARD BAUMANN: Volkskirche, Freikirche oder Bekenntniskirche? (vgl. Anm. 40), ebd., S. 68-76, Zitat S. 68. 43

H . ASMUSSEN ( A n m . 3 7 ) , S . 2 9 2 .

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aus ihrer Verkündigungsautonomie heraus zu gestalten. Die Frage der Kirchenstruktur sei nicht bekenntnisnormiert und daher auch nicht bekenntnisrelevant: „In Christo Jesu gilt weder Volkskirche noch Freikirche, sondern der Glaube, der in der Liebe tätig ist." 44 Angesichts des hohen Stellenwerts der Volkskirchenproblematik Volkskirche gehöre zu den „magischen Worten", in deren Bann die Gegenwart stehe - insistierte Asmussen auf ein eindeutiges Verständnis des vielschichtigen Begriffs Volkskirche. Er widersetzte sich volkskirchlicher „Fälschungsversuche" am Kirchenartikel VII der Confessio Augustana 45 . Eine volkskirchliche Interpretation, die die „communio sanctorum" (Gemeinschaft der Heiligen) bzw. „Versammlung aller Gläubigen" (deutsche Fassung) als „populatio germanica" (deutsche Bevölkerung) fasse, also gleichsam die evangelische deutsche Bevölkerung zur Kirche rechne, wie auch die orthodoxe Verkehrung solcher Auffassung im Sinne von „summa baptizatorum" (Gesamtheit aller Getauften) gelte es abzuweisen, auch wenn darüber die Volkskirche zerbreche. Auch die lehrkirchliche Fälschung des Kirchenbegriffs, bei der Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung als Voraussetzung galten, daß es volksmissionarisch zu einer „communio sanctorum" einmal kommen werde, übersehe, daß die Kirche ganz wesentlich und konstitutiv „Versammlung aller Gläubigen" bzw. „communio sanctorum" sei. Trotz dieser am eigenen Bekenntnisverständnis des Kirchenartikels VII orientierten Volkskirchenkritik hat Asmussen der Frage, ob im „Dritten Reich" ein freikirchlicher Weg erstrebenswert sei, ein „kräftiges Nein" entgegengesetzt: „Die Freikirche kann nur der wollen, der von der Fiktion lebt, sie stünde uns als mögliche Form zur Verfügung" 4 6 . Asmussen setzte für freikirchliche Existenz grundsätzlich den liberalen Staat voraus. c. Volkskirche als Ausdruck eines positiven Kirche-Staat-Verhältnisses (Karl Barth) Für Karl Barth, der sich Herbst 1936 in einem in Ungarn gehaltenen, in Deutschland publizierten Vortrag zur Frage „Volkskirche, Freikirche und Bekenntniskirche" 47 geäußert hat, handelte es sich um drei grundsätzliche Formen, die die Kirche dem Staat gegenüber 44 45

Ebd., S. 293. H. ASMUSSEN: Kirche Augsburgischen Konfession (TEH 16). München 1934, S.

16 ff. 46

H . ASMUSSEN ( A n m . 3 7 ) , S . 2 9 1 .

" K. BARTH: Volkskirche, Freikirche, Bekenntniskirche. Vortrag gehalten in Sarospatak, Budapest und Papa, Oktober 1936. In: EvTh 3, 1936, S. 411-429.

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einnehmen bzw. die der Staat der Kirche einräumen könne. Für Volkskirche ist eine weitgehend kooperative und subordinative Rolle im Kirche-Staat-Verhältnis und eine positive staatliche Rezeption kirchlicher Aufgabenstellung und Öffentlichkeitsbedeutung kennzeichnend. Freikirchencharakter habe die Kirche in einer staatlicherseits tolerierten Existenz mit Vereinscharakter, Bekenntniskirche entstehe dort, wo der Staat die Kirche geradezu ablehne, förmlich unterdrücke, direkt oder indirekt umzugestalten versuche und die Kirche bedränge, aber nicht ausweichend bezeuge, daß sie da sei und wie ihr Auftrag laute. Mischformen und Ubergänge dieser drei Gestalten seien die Regel. Barth betonte: Die Kirche sei an keiner der drei Gestalten von sich aus besonders oder gar exklusiv interessiert. Kein Schriftwort verbiete, daß die Kirche nicht Volkskirche, Landeskirche, Staatskirche sein könne. Allerdings müsse die Kirche, die die volkskirchliche Gestalt akzeptiere, des Glaubens sein, daß sie es im Walten des ihr gegenüberstehenden Staates mit einem Dienst Jesu Christi hinsichtlich der weltlichen Ordnung und des menschlichen Rechts zu tun habe. Die christologische Orientierung des Barthschen Staatsbegriffs schlug hier durch. Die Bejahung der Volkskirche schließe aber auch das prophetische Gegenüber der Kirche zum Staat, wie im Alten Testament bezeugt, ein. Von da aus würde viel ungebrochene Bejahung des volkskirchlichen Systems fragwürdig. Trotzdem sah Barth grundsätzlich keinen Anlaß für die Kirche, die freikirchliche Existenz zu wünschen, obschon die neutestamentliche Kirche Ähnlichkeit mit dieser hatte. Nur die Sekte interessiere sich nicht mehr für das Volk. Eine Freikirche, die wirkliche Kirche sei und die Königsherrschaft Christi nicht verkenne, könne und dürfe eigentlich nur „freie Volkskirche" sein. Der Hinweis, daß Bekenntniskirche gegenüber dem Staat, der zur Gegenkirche wird, „nicht politisch gegen den Politiker Antichristus reagieren" 48 dürfe, mag indirekt auf Transformationen hinweisen, die sich seit 1935 in Barths Beurteilung des Nationalsozialismus abzeichnen und 1938 in der Schrift „Die Kirche und die politische Frage von heute" 49 verbo expresso als modifizierende Weiterführung der Barthschen Faschismuskritik vorliegen. Das 1938 publizistisch ausgefaltete Ergebnis der Wandlung von Barths Faschismuskritik, wonach es der „Doppelcharakter des Nationalsozialismus als politisches Experiment und als religiöse Heilsanstalt" ausschließe, „die durch ihn gestellte Frage ,nur' als politische und nicht mittelbar und unmittelbar

48

Ebd., S. 422. ' K. BARTH: Die Kirche und die politische Frage von heute (1938). In: Karl Barth: Eine Schweizer Stimme 1938 bis 1945. Zollikon-Zürich 1945, S. 69-107. 4

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zugleich als Glaubensfrage zu behandeln" 50 , stellte sich als subjektiver Erkenntnisfortschritt im Blick auf eine auch objektiv konstatierte Entwicklung des Nationalsozialismus dar, wie sie auch grundsätzlich im deutschen Bekenntnisbereich schon 1934/35 verschiedentlich aufgewiesen wurde. So hat Friedrich Delekat den Unbedingtheitsanspruch der NS-Weltanschauung als (pseudo-)religiös charakterisiert und ihn von politischer Totalität kritisch abgehoben 51 . d. Volkskirche als Rufbereich theonomer Kritik Die Entwicklung von theonomer Kritik an der speziell kirchlichzentrierten Verfälschung des Offenbarungswortes bis hin zur Infragestellung immanenter Pseudototalität im „Dritten Reich" durch die christliche Verkündigung ist ein prozessuales Geschehen, das sich in unterschiedlicher Extensität an Karl Barth und anderen Vertretern dialektisch-theologischen Denkens beobachten läßt, aber auch anderwärts sich abzeichnet. Die bewußte Betonung, daß staatliche Totalität rein politische Geltung besitzt, die am Maßstab des Humanuni sich messen lassen muß, während religiöse Transformationen des Totalitätsanspruchs abgewehrt werden, weil sie Pervertierungen darstellen, ist im Volkskirchentum der Zeit des Dritten Reiches ein verbreitetes Charakteristikum der Verkündigung und der theologisch-ethischen Argumentation. Günter Jacob, der 1935 schon verschiedentlich auf die Gefahr der pseudoreligiösen Transgredierung des NS-Totalitätsanspruches hingewiesen hat, sah im Blick auf unser Thema die Volkskirche nur dann aus der Vieldeutigkeit ihrer Begriffsbestimmungen zu theologischer Klarheit erhoben, wenn sie im Kontrast zu versucherischen Möglichkeiten eines Abfalls zum „nationalen Tempel" oder zur Sekte frommer Innerlichkeit den Anspruchscharakter des Gotteswortes zur Geltung kommen läßt 5 2 . Der Umfunktionierung von „politischer Ordnung" in „politische Religion" soll Volkskirche als Missionskirche entgegentreten, „deren Wortverkündigung auf das ganze Volk als den Rufbereich der Gottesherrschaft ausgerichtet" ist 53 . Eine apologetische Einordnung des Anliegens der Volkskirche in immanente Bereiche einer artgemäß adaptierten religiösen ImmaEbd., S. 80. FRIEDRICH DELEKAT: Die Kirche Christi und der Staat. Berlin 1933, S. 172f. " GÜNTER JACOB: Kreuz und Reich. In: ThR 7, 1935, S. 319-348; Christliche Verkündigung und politische Existenz. In: JK 2, 1934, S. 309-321; Kirche oder Sekte. Vortrag vor der vierten Bekenntnissynode der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union. Elberfeld o.J. (1937). 53 Kreuz und Reich (Anm. 52), S. 345. 50

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nenz bzw. einer pseudoreligiösen Totalität, auf die hin das NS-System ideologiekritisch interpretiert wurde, erschien hier als prinzipiell abzulehnende Form kirchlicher Existenz im „Dritten Reich": Die Ur- und Grundentscheidung im Kirchenstreit wurde darin gesehen, ob „das Politische reformatorisch - oder schwärmerisch-chiliastisch zu verstehen" sei, ob es in politische Heilsmetaphysik „sich verdichtet zum Absolutheitsanspruch einer Weltanschauung als Religion oder ob es in Beschränkung auf das Feld irdischer Werkstattarbeit die Eigenständigkeit des Offenbarungswortes respektiert". Für ein legitimes Verständnis von Volkskirche galt für Jacob „nur die Möglichkeit einer Begründung und Begrenzung aller politischen Existenz unter der Gottesbotschaft im reformatorischen Verstände"; die unausbleibliche Alternative dazu war „die Möglichkeit antichristlicher Dämonie in politischer Heilsmetaphysik... im taktisch vielleicht verschleppten, aber grundsätzlich offenbaren Zusammenprall von Wort und Weltanschauung" 54 . Die exemplarisch ausgewählten bekenntniskirchlich relevanten Volkskirchenkonzeptionen zeigen, daß auch die bekenntnissynodalbruderrätlichen Kreise der Bekennenden Kirche die Volkskirche strukturphänomenologisch als Voraussetzung kirchlicher Existenz im „Dritten Reich" gelten ließen. Gleichwohl wurde auf die theologisch-bekenntnismäßige Orientierung der Volkskirchenproblematik der entscheidende Wert gelegt. Auf die theologisch-zeugnishafte Intentionalität kam es also vorrangig an. e. Bekenntniskirchlicher Anspruch auf die Volkskirche Es hat zwar Anfang 1934 und später eine auch literarisch geführte heftige Debatte über das Für und Wider der Freikirche gegeben. Ihr Ergebnis war „ein eindeutiges Ja zur Volkskirche im Sinne einer bekennenden Kirche und ein Nein zur Freikirche" 55 . Gelegentliche " Ebd., S. 348. 55 MARTIN PERTIET: Das Ringen um Wesen und Auftrag der Kirche in der nationalsozialistischen Zeit (AGK 19). Göttingen 1968, S. 115 ff., Zitat S. 117. - Die Ende April 1934 entstandenen „10 Thesen für die Freikirche", verfaßt von Franz Hildebrandt, sind abgedruckt in: DIETRICH BONHOEFFER: Gesammelte Schriften. Band 2. München 1959, S. 167f. - GÜNTHER HARDER: Die Bedeutung der Kirchengliedschaft im Kirchenkampf. In: EvTh 20, 1960, S. 76, Anm. 7. - Gegenthesen („Leitsätze zum Thema Volkskirche") stammen von Pfr. Karl Grüneisen (Lichterfelde). Thesen und Gegenthesen bei WILHELM NIEMÖLLER: AUS dem Leben eines Bekennntnispfarrers. Bielefeld 1961, S. 82 ff. D. BONHOEFFER hat später geurteilt, der Weg in die Freikirche hätte in der Sekte und damit in Absonderung und Selbstgenügsamkeit geendet, das Dahlemer Notrecht hingegen habe „für die neugesetzte Kirchenleitung den Anspruch auf die Gesamtkirche" erhoben und sich eben dadurch allen kongregationalistisch-

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Äußerungen, notfalls bleibe der Absprang in die Freikirche 56 , hatten mehr Vergewisserungscharakter über ein verbleibendes Refugium bei kirchenpolitischen Aktionen mit ungewissem Ausgang. Auch der Gedanke, innerhalb der Volkskirche bekenntnisorientierte Kerngemeindegruppen zu sammeln, spielte vorübergehend eine Rolle. Die weitere Entwicklung verlief dann doch in Richtung auf den bekenntnissynodal proklamierten, allerdings nur partiell realisierten Ansprach, selbst die legitime Kirche in bekenntnismäßig „zerstörten" Kirchengebieten und Kirchentümern zu sein, jedenfalls dort das Kirchenregiment zu beanspruchen 57 . Das Kirchenregiment ließ sich weithin wegen seines öffentlich-rechtlichen Charakters nur in Form der geistlichen Leitung der Bekennenden Kirche wahrnehmen, wie sie allerdings dem bekenntnissynodalen Selbstverständnis, daß Trennung äußerer und innerer Aufgaben der Kirchenleitung ausschloß, nicht oder nicht voll entsprach. Zunächst hat das Braderratsmodell, das staatskirchenrechtlich und auch kirchenverfassungsmäßig kaum Legalitätscharakter besaß, auch auf die bekenntnisbestimmten Landeskirchen ausgedehnt und übertragen werden sollen, obgleich ihre Kirchenleitungen intakt geblieben waren oder wieder ihre Intaktheit gewonnen hatten. Diese Landeskirchen haben indes die Ersetzung ihrer legal-intakten Leitungsorgane durch ein lediglich bekenntnissynodal legitimiertes Braderratsregiment zurückgewiesen. Ebensowenig genügte den intakten Landeskirchen reichskirchlich eine bruderrätliche Leitung, wie die Bildung der 1. Vorläufigen Leitung der DEK am 22. November 1934 zeigte 58 . Für die Erringung einer bekenntniskirchlichen Machtposition auf reichskirchlicher Ebene hielt das intakte lutherische und reformierte Landeskirchentum nur den kirchenverfassungsmäßig legalen Wieg für gangbar. Bischof Hans Meiser hat in diesem Zusammenhang davon gesprochen, man müsse die Bekenntniskirche gleichsam in die Reichskirche hineinschiefreikirchlichen Tendenzen widersetzt (Unser Weg nach dem Zeugnis der Schrift. Oktober 1938. In: Gesammelte Schriften. Band 2, S. 330). Freikirchliche Neigungen 1933/34 (Bonhoeffer schrieb September 1933 an Karl Barth: „Mehreren unter uns liegt jetzt der Gedanke der Freikirche sehr nahe"; ebd., S. 126) haben nur ephemere Bedeutung. 56 Vgl. M. PERTIET (Anm. 55), S. 117f.; MARTIN NIEMÖLLER: Kirche? - Kirche! In: JK 2, 1934, S. 139-143; JÜRGEN G L E N T H 0 J : Hindenburg, Göring und die evangelischen Kirchenführer. In: Zur Geschichte des Kirchenkampfes. Gesammelte Aufsätze (AGK 15). Göttingen 1965, S. 61 („Absprung mit der Freikirche"). " K U R T DIETRICH SCHMIDT: Fragen zur Struktur der Bekennenden Kirche. In: ZEvKR 9, 1963, S. 201-228. WILHELM NIEMÖLLER: Von der Dahlemer Synode bis zur Gründung der ersten Vorläufigen Kirchenleitung. In: W. Niemöller: Wort und Tat im Kirchenkampf. München 1961, S. 120-145.

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ben 59 . Da ein Ausgleich des aktualen Bekenntnisverständnisses mit dem auf die reformatorischen Bekenntnisschriften bezogenen Landeskirchentum faktisch nicht gelang, blieb die Frage über Wesen und Weg der Bekennenden Kirche kontrovers. Das definitive Leitungsschisma trat auf der 4. Bekenntnissynode der DEK zu Bad Oeynhausen Februar 1936 klar hervor. Schon auf der 3. Bekenntnissynode der DEK zu Augsburg Juni 1935 war es deutlich, daß die Bekennende Kirche „organisatorisch aus zwei verschiedenen Kirchentypen zusammengesetzt" war, „einmal aus Bruderräten mit freikirchlichen Aspekten, aber mit volkskirchlichen Ansprüchen, zum anderen aus intakten Landeskirchen" 60 . Die Kennzeichnung „freikirchliche Aspekte" darf nur ganz allgemein, keinesfalls rechtsstringent benutzt werden und dient nur der Verdeutlichung ihrer nicht volkskirchlich geprägten Struktur. Denn gerade die bruderrätliche Richtung der Bekennenden Kirche insistierte darauf, daß der von ihr bekenntnissynodal erhobene Anspruch auf Leitung der Gesamtkirche auf der jeweiligen Ebene (Reichs-, Landes- und Provinzialkirche) auch staatlicherseits anerkannt werden sollte. Der Anspruch des kirchlichen Notrechts auf die Volkskirche zeigt ihren hohen Stellenwert auch in bekenntnismäßiger Hinsicht. f. Volkskirchliche Frontverbreiterungsstrategie Das breite Kräftefeld der „Mitte" im Kirchenkampf, forschungsmäßig vergleichsweise stiefmütterlich behandelt, weil als nicht geschichtsrelevant im Sinne des lange Zeit dominanten, bekenntniskonzentrativen historiographischen Interpretationstrends beurteilt 61 , läßt gleichwohl eine breite Palette von Stimmen, Konzeptionen und Aktivitäten erkennen, wie sie hier nur exemplarisch angedeutet werden können. Das in Wirklichkeit breitgestaffelte Spektrum volkskirchlichen Einstellungsverhaltens stellte je länger je mehr, insbesondere in der Kriegszeit, aber grundsätzlich auch vorher, einen das NS-System irritierenden ideologisch-soziologisch relevanten Resistenz- und Störfaktor dar, der auch in ressortpolitisch differenzierter Weise als regimeschädigend anzusprechen ist und auch so empfunden wurde. Insbesondere durch inzwischen publiziertes Quellenmaterial der Gestapo und des Sicherheitsdienstes zur S ' GERHARD NIEMÖLLER: Die erste Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche zu Barmen. I. (AGK 5), Göttingen 1959, S. 61. 60 ANNEMARIE SMITH-VON OSTEN: Von Treysa 1945 bis Eisenach 1948. Zur Geschichte der Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland (AKiZ B. 9), S. 47, Anm. 28. " W. NIEMÖLLER: Evangelische Kirche im Dritten Reich. Bielefeld 1956, S. 46 f.

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Kirchenfrage, durch eindringende Dokumentationen und analytische Studien auf regionaler Ebene eröffnet sich ein Komplex von Forschungsaufgaben, der die zunächst perspektivisch gewonnene Sicht einer realhistorisch aufweisbaren, oft nur partiellen Widerstandsrelevanz des Volkskirchentums im „Dritten Reich" fundieren, präzisieren und konkretisieren w i r d " . Die Tendenz auf volkskirchliche Breite wurde schon in der Kirchenausschußzeit der Jahre 1935 bis 1937 sichtbar, wenngleich gerade hier Machteinbußen der DC-Bewegung und ihre Desintegration einerseits, partielles Fixiertbleiben auf bekenntniskonzentrative Engführung andererseits innerkirchlich aversive Polarisationen auslösten, die die Frontverbreitungsstrategie nur partiell wirksam werden ließen und ihre „Legitimität" von verschiedenem Blickwinkel her noch suspekt erscheinen ließen. Die Kirchenausschußzeit hat indes dazu beigetragen, daß das Potential des volkskirchlich orientierten Mittelfeldes, das ohnehin mehr als die Hälfte der evangelischen Pfarrerschaft mit ihrem gemeindlichen Anhang umfaßte, durch gruppensoziologisch relevante Umschichtungsvorgänge im deutschchristlichen Organisationsbereich und dessen starken Defiziten wie auch im Kräftefeld der Bekenntniskirche sich sukzessiv verstärkte. Die zahlreichen organisierten Mittelgruppen, angefangen von dem 1936 entstandenen Wittenberger Bund, und ihre verschiedenen Verflechtungen und Zusammenschlüsse sind weniger durch die verhältnismäßig begrenzte Mitgliederstärke als vielmehr durch ihre Entpolarisierungsfunktion bedeutsam. Neben den organisierten Mittelgruppen spielte die gruppenmäßig nicht organisierte „Mitte" der Pfarrerschaft von Anfang des Kirchenkampfes an eine nach 1937 zunehmende kirchenpolitische Rolle (Initiativen der Pfarrervereine etc.). Neben den gruppenmäßig nicht erfaßten und engagierten Geistlichen, die Sympathisanten einer der verschiedenen Richtungen waren, wurden oder blieben, zeichnete sich bei der Masse der kirchenpolitisch nicht organisierten Pfarrerschaft ein gruppenindifferentes, gruppenneutrales oder auch gruppentolerantes und damit ein graduell abgestuftes unterschiedliches Verhalten ab, das auf Förderung eines volkskirchlichen Normalbewußtseins zielte. Auch innerhalb der Deutschen Christen und in der Bekennenden Kirche wirkte sich wachsende Pluriformität nicht selten in stärkerer Bündnisbereitschaft und volkskirchlicher Breite aus. Die kirchlich-theologische Prägung dieses Einstellungsverhaltens war gewiß unterschiedlich, mitunter sogar konträr. Bei Landeskir" Vgl. KURT MEIER: Der Evangelische Kirchenkampf. Gesamtdarstellung in drei Bänden. Bd. 1 und 2. Halle/S. und Göttingen 1976; hier Bd. 2, passim.

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chen, die einen bekenntnisbezogenen Mittelkurs zu steuern versuchten, fielen auch differenzierte kirchenleitungsstrategische Überlegungen ins Gewicht, die im Blick auf die Erhaltung volkskirchlicher Institutionen höchst relevant waren. Unter der Pfarrerschaft dominierten jeweils spezifisch begründete Konzeptionen, mitunter auch nur das mehr oder minder ausgeprägte Gefühl pastoraler Verantwortung für den Zusammenhalt der anvertrauten Gemeinden, bisweilen auch der realistische Blick für die Schutzfunktion kirchlicher Geschlossenheit gegenüber christentumsaversiven Tendenzen des NS-Regimes, die sich laufend verstärkten 63 . g. Zeitgenössische Plädoyers für volkskirchliche Breite (Hermann Mulert und Rudolf Hermann) Die 1936 erschienene Schrift Hermann Mulerts „Läßt sich die Volkskirche erhalten?" ist ein exemplarischer Beleg für die volkskirchliche Haltung eines stark liberal geprägten Lutheraners, der 1935 von seiner Professur in Kiel aus politischen Gründen entpflichtet worden war 64 . Er trat für die Erhaltung der Volkskirche in Deutschland ein und hat angesichts unterschwellig sich abzeichnender Entkonfessionalisierungstendenzen, die ihm angesichts der Kirchenpolitik des Reichskirchenministers Hanns Kerrl in ihrer späteren dominanten Bedeutung noch nicht voll faßbar waren, die volkskirchenschädigenden Auswirkungen des Kirchenkampfes der Jahre 1933 bis 1936 bedauert. Als Liberaler gegen eine konfessionalistische Bekenntniskirche eingestellt, befürwortete er eine „Deutsche Evangelische Kirche mit schonender Behandlung der noch lebendigen landschaftlichen und konfessionellen Besonderheiten" 65 . Mulert, auf volkskirchliche Integration möglichst breiter Teile der protestantischen Bevölkerung orientiert, um sie vor totalstaatlicher Ideologie und völkischer Programmatik zu bewahren, die dem Christen im „Dritten Reich" die vollgültige politische Existenz exklusiv bestreite, hat die Gewaltmethoden der Deutschen Christen und ihre politisierte Predigtpraxis ebenso gerügt wie die dogmatische Enge der Bekennenden Kirche bedauert: „Eine wesentlich entstaatlichte Evangelische Landeskirche oder Reichskirche würde Volkskirche eben nur dann bleiben können, wenn die in ihr vorhandenen verschiedenen Gruppen über dem Trennenden das Gemeinsame nicht vergessen, einander nicht zu vergewaltigen versuchen. Der dog" Ebd., Bd. 3 (erscheint 1983/84). " HERMANN MULERT: Läßt sich die Volkskirche erhalten? Görlitz 1936. " Ebd., S. 48.

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matische Kampfeseifer mancher namentlich jüngerer Theologen in der Bekennenden Kirche gefährdet Zukunft und Bestand unserer Volkskirche nicht weniger, als es die Gewaltsamkeit der Deutschen Christen tat."66

Im Gegensatz zu den Deutschen Christen, deren volkskirchliche Praktiken die Sache der Volkskirche schwer in Mißkredit brachten, hat Mulert der Bekennenden Kirche durchaus auch den Willen zur Volkskirche im Sinne des christlichen Universalismus zugebilligt, jedoch betont, daß ihr volkskirchlicher Anspruch leitbildhaft zu eng konzipiert sei und vielen die Teilnahme an ihrem Kampf erschwere oder unmöglich mache. Bei der Bekennenden Kirche seien mit Kampf und Leiden Nebenerscheinungen dogmatischer Verhärtung verbunden: es werde „der Bekenntniskampf in einer Weise geführt, die den Bestand unserer Volkskirche schwer gefährdet" 67 . Als exemplarischen Beleg für bewegungsimmanente Kritik am bekenntnissynodalen Kampfmodus sei Rudolf Hermann erwähnt, ein der Lutherforschung zugewandter Systematischer Theologe in Greifswald, weil „seine warnenden Fragen zum Weg der Bekennenden Kirche seit 1935 und seine Distanzierung von der synodalen Mitverantwortung für ihn eine Stimme zur Geltung" bringen, „die in der Kirchenkampfschreibung nach 1945 vielfach verschwiegen wurde, die aber dem Urteil und Verhalten vielen Glieder der Bekennenden Kirche entsprach" 68 . Hermann zeigt, daß der bekenntnissynodale Vorstoß trotz Distanzierung vom freikirchlichen Weg eben durch zu enge Maßstäbe und unnachgiebige Ansprüche volkskirchengefährdende Tendenzen einschloß: „Das Bestehen einer Volkskirche, jedenfalls auch einschließlich der Gefahren, ja der Krisen, die ein solches Bestehen mit sich bringt, ist kein Grund, eine Auswanderung zu vollziehen oder deren Notwendigwerden irgendwie indirekt, etwa durch Unnachgiebigkeit, zu befördern. So vieles man . . . an der Volkskirche auszusetzen hat, sie ist doch tiefer im Volke verwurzelt, als man oft annahm."69

Rudolf Hermann war es um „eine allgemeine christliche Front gegen christentumsfeindliche Kräfte und Tendenzen" 70 zu tun und hielt darum die zumal durch den Einfluß der Theologie Barths be" Ebd., S. 45; vgl. auch S. 40. Ebd., S. 30. " RUDOLF HERMANN: Theologische Fragen nach der Kirche. Gesammelte und nachgelassene Werke. Bd. 6. Mit einer Einleitung hg. von Gerhard Krause. Göttingen 1977. Zitat aus der Einleitung des Hg., S. 20 f. " Ebd., S. 127-132, Zitat S. 128 („Vom Wesen echter Volkskirche"). 70 Ebd., S. 132-134, Zitat S. 133 („Grundsätzliches zur theologischen und kirchlichen Besinnung"). 67

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günstigte Geschichtsschau mit ihrer Verteufelung der Zeit seit der Aufklärung für ungerecht und verfehlt. In seinen 1937 veröffentlichten „Theologischen Anliegen zur Kirchenfrage" 7 1 ging Hermann insbesondere mit der radikalen Richtung der Bekennenden Kirche ins Gericht, weil sie den Umkreis derer, gegen die sie sich richte, sehr weit ziehe. Hermann konstatierte Schwarmgeistigkeit innerhalb der Bekenntnisfront, ungeistliche drängerische Penetranz. Die Parole auf „Scheidung" von anderen kirchlichen Gruppen, gesetzlich verstanden, kirchenrechtlich apostrophiert, führe zu kontinuierlicher Radikalkritik und damit zum Bruderzwist in der Kirche und begünstige den „Mangel an Sicht für den eigentlichen Feind, für die Tendenzen, die den christlichen Glauben ersetzen und verdrängen wollen" 72 . Vergesetzlichtes Evangeliumsverständnis, ein pauschal auf Gott und zugleich auf die bruderrätliche Leitung bezogener Gehorsamsbegriff, Uberbewertung von Ordnungsfragen, die sich nicht einmal auf ohnehin unlutherische Gleichordnung von Lehre und Kirchenleitung beschränke, katholisierende Tendenzen im bekenntniskirchlichen Leitungsstil, leichtfertiger Umgang mit dem Verdikt „Irrlehre" waren für Hermann Charakteristika bruderrätlicher und bekenntnissynodaler Haltung, die bedenkliche Auswirkung auf alles „Volkskirchliche" haben müßten. Hermann plädierte demgegenüber, es sollten vom richtenden und aufrichtenden Charakter des Evangeliums her die Gruppengegensätze überwunden und einer volkskirchlichen Sammlung das Wort geredet werden. Für alle im reformatorischen Sinne kirchenbewußten Kräfte müßte „unter der Selbstzucht des Verzichts auf Macht-, Prestige- und Leitungsfragen . . . die Losung: die Kirche muß bleiben und bestehen" an die erste Stelle rücken 73 . Erneuerungs- und Umgestaltungsfragen seien demgegenüber sekundär. Im Blick auf die organisatorischen Sammlungsbewegungen der „Mitte" betonte Hermann 1937 - übrigens ähnlich wie Mulert - , hier sei schwerlich schon Endgültiges erreicht; gleichwohl sah er in einer besonnenen volkskirchlichen Haltung, die sich zentral auf reformatorisch-lutherisches Evangeliumsverständnis bezieht, die Voraussetzung für den zeitgenössischen Auftrag evangelischen Kirchentums im „Dritten Reich". Aktuelle Bewältigungsversuche der Volkskirchenfrage zeigen sich in vielen seiner damaligen Beiträge zur Kirchenfrage. Resümierend läßt sich sagen: Für die volkskirchliche Problematik des deutschen Protestantismus stellten die Jahre 1918, 1933 und 71

Ebd., S. 149-185. Ebd., S. 153. " Ebd., S. 147 f., Zitat S. 148 („Dir Kirche soll bleiben und bestehen jenseits der Losungen"). 72

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1945 wichtige Zäsuren dar. Der Sturz der Monarchien und die damit verbundene Abschaffung des landesherrlichen Kirchenregiments im Jahre 1918 haben erhebliche kirchliche Orientierungsunsicherheiten ausgelöst. Volkskirchliche Reformprogramme und Mobilisierungsstrategien, dem kirchlich-theologischen Standort entsprechend durchaus differenziert und teilweise ganz konträr, dienten dazu, die volkskirchliche Effizienz im religions- und weltanschauungsneutralen pluralistischen Gesellschaftssystem der Weimarer Republik sicherzustellen oder zu intensivieren. Die schon seit der Synodalbildungsphase im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wirksamen latenten kirchlichen Eigenständigkeitstendenzen, die die enge Staatsbindung des evangelischen Kirchentums als einengend empfanden, wurden durch den Wegfall des Staatskirchentums 1918 freigesetzt. Diese durch weitgehende Trennung von Staat und Kirche bedingte relative Staatsfreiheit des deutschen Landeskirchentums - trotz politischer Aversionen gegen die Weimarer Republik von Otto Dibelius als eigentliche Kirchwerdung der evangelischen Kirche begrüßt bot immerhin Voraussetzungen und Chancen für intensive Volkskirchenreform. Auf der Negativfolie des Weltanschauungspluralismus des Weimarer Systems wirkte sich die Kirchenreformprogrammatik weitgehend in einer kirchlichen Kulturautonomie aus, die als Uberwinterungsstrategie aufzufassen ist. Doch behauptete sich die Rahmenvorstellung Volkskirche in allen kirchlichen Lagern; das gilt sowohl auf der Ebene der Kirchenleitung wie auch auf der Ebene der kirchlichen Gruppen. Es dürfte schwerfallen, eine kirchliche Gruppe zu finden, die nicht volkskirchlichen Zielstellungen verpflichtet gewesen wäre. Es ist interessant, daß selbst bei kleinen Gruppen wie den Religiösen Sozialisten, die vom soziologischen Gruppenhabitus her zu anderen Vorstellungen hätten kommen können, die gesellschaftsumspannende Rahmenvorstellung Volkskirche weitergetragen wurde, und zwar keineswegs nur als unvermeidliches Traditionsresiduum. Vielmehr handelt es sich hier um eigengeprägte Zielvorstellungen einer die soziologische Prägung des bisherigen Kirchentums überschreitenden Volkskirchenkonzeption, die als proletariatskongruent zu bezeichnen ist. Selbst die Kirchenkritik der Dialektischen Theologie, die in der Frühphase der Weimarer Zeit der empirischen Reformprogrammatik insgemein galt und später polemisch auf die betonte Präponderanz eines kulturprogrammatisch und institutionell fixierten Kirchentums zielte, bei dem eine neorealistisch-positivistische Ekklesiologie im Vordergrund stand, hat die Volkskirche in ihrem unverzichtbar universalen Verkündigungsauftrag durchaus vorausgesetzt. Die Bedeutung der Volkskirche als (theologisch indes nur sekundär relevanter) soziologisch-geschichtli-

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cher „Außenaspekt" des Kirchenbegriffs wurde auch hier nicht prinzipiell in Abrede gestellt. Auch für die Zeit von 1933 bis 1945 wird deutlich, daß die Volkskirche als kirchliche Existenzform in allen kirchlichen Lagern des landeskirchlichen Protestantismus alternativlos durchgehalten wurde. Innerhalb der Bekennenden Kirche wurde das Problem Volkskirche sowohl unter theologischem Legitimitätsaspekt als auch im Blick auf ihre zeitgeschichtlich-kontextuale Bedeutung reflektiert. Nachdem bekenntniskirchlicherseits freikirchliche Vorstellungen und Erwägungen in der Diskussion nicht zum Zuge kamen, wurde der volkskirchliche Anspruch selbst und gerade im bekenntniskonzentrativen Gruppenbereich des radikalen bruderrätlichen Flügels der Bekennenden Kirche betont aufrechterhalten. Als illusionär hatten sich schließlich Hoffnungen der frühdreißiger Jahre erwiesen, der sogenannte „nationale Aufbruch" und das „Dritte Reich" könnten der evangelischen Kirche wieder eine zentrale Stellung im Volksganzen sichern und dem weltanschaulichen Segmentierungstrend entgegenwirken, wie ihn die Weimarer Gesellschaft durch pluralistische Tolerierung aversiver und alternativer Wertpropagierungssysteme in der Öffentlichkeit begünstigte. So wirkten sich die im „Dritten Reich" bald einsetzende weltanschauliche Distanzierung des NS-Systems von Kirche und Christentum und die zunehmenden Ausschaltungstendenzen gegenüber dem kirchlichen Öffentlichkeitseinfluß dahingehend aus, daß volkskirchliche Existenz den Stellenwert einer Defensiv- und Konkurrenzfunktion gegenüber dem Indoktrinierungs- und Restriktionstrend des NS-Regimes erhielt. Damit wurde schon die faktische Existenz von Volkskirche zu einem pluriformen und differenziert wirksamen Störfaktor im Gefüge des „Dritten Reiches". Schon die Tatsache des Kirchenkampfes an sich, wie begrenzt auch immer im Sinne eines Kampfes gegen bekenntniswidrige Überfremdung von Wesen und Auftrag der Kirche geführt, erwies sich bereits stör- und resistenzrelevant. Karl Barth hat während des zweiten Weltkrieges die bekenntniskonzentrative Frühphase und ihre partiell-intensive Resistenzform in einem auch die Kirchenkämpfe protestantischer Kirchen in von Hitlerdeutschland okkupierten Ländern berücksichtigenden Vergleich mit den ihm notwendig erscheinenden extensiven Widerstandsformen erörtert 74 . Der Affront der deutschen Bekenntniskirche hatte sich ja zunächst gegen adaptiv-synthetische Verfremdungen von Verkündigung und Ordnung der Kirche durch normative 74 KARL BARTH: Die protestantischen Kirchen in Europa - ihre Gegenwart und ihre Zukunft (1942). In: Eine Schweizer Stimme 1938-1945, S. 251-271.

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Anleihen bei Elementen des NS-Ideologiekonglomerats gerichtet. Barth meinte, das Unternehmen der Bekennenden Kirche sei der Versuch gewesen, „die christliche Substanz der kirchlichen Verkündigung und Ordnung zu verteidigen gegen den Einbruch eines fremden Glaubens, den man der Kirche aufdrängen wollte und den sie als christlich nicht konnte gelten lassen" 75 . In diesem im wesentlichen als konservativ bezeichneten Vorstoß „gegen eine bestimmte Gestalt der Religions- und Kirchenpolitik des 1933 in Deutschland an die Macht gekommenen Regimes" wurde die Bekennende Kirche bei aller Betonung der Begrenztheit ihrer widerstandsrelevanten Zielstellungen faktisch doch als die Vorhut eines umfassenderen Widerstands gewertet, der dem Hitlerismus gegenwärtig entgegengesetzt wurde 76 . Barth betonte, daß die exemplarische Bedeutung des bekenntniskirchlichen Widerstandes auch in den übrigen protestantischen Kirchen Europas als Abwehrversuch evangeliumswidriger Bedrohung durchaus verstanden, aber „umfassender und radikaler interpretiert" 77 wurde, als es im deutschen Bekenntnisbereich selbst gemeint war, ein „interessantes und fruchtbares MißVerständnis" 78 . Der Unterschied zwischen dem Kampf dieser protestantischen Auslandskirchen, deren Länder während des zweiten Weltkrieges okkupiert waren (Barth hatte hierbei besonders Holland und Norwegen im Blick), und dem Kampf der Bekennenden Kirche in Deutschland besteht darin, daß sich der außerdeutsche Kirchenkampf mit dem nationalen Befreiungskampf verbinden konnte, während die Bekennende Kirche ihrer eigenen Regierung widerstehen mußte und während des Krieges in einen zusätzlichen Konflikt zwischen notwendiger Opposition und patriotischer Pflicht geriet 79 . Ferner hätten die Auslandskirchen den Anschauungsunterricht des nur intensiv begrenzten deutschen Kirchenkampfes zur extensiven Entfaltung ihrer Resistenz nutzen können. Schließlich habe die deutsche Besatzungsmacht aufgrund der Erfahrungen des deutschen Kirchenkampfes in Holland und Norwegen den Versuch unterlassen, sich in das innere Leben der Kirchen einzumischen und ihnen häretische Lehren aufzudrängen, wie dies in Deutschland 1933 der Fall war. Insofern sei die extensive Kraft und Bedeutung des holländischen und norwegischen Kirchenkampfes von Anfang an größer als die des deutschen Kirchenkampfes, weil hier die Frage nach der Erhaltung der christlichen Substanz als beantwortet vorausgesetzt " Ebd., S. 258. " Ebd. " Ebd., S. 261. 78 Ebd., S. 261 f., Zitat S. 262. " Ebd.

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werden konnte und der Kampf sich extensiv auf das Geltendmachen christlicher Substanz auf dem Felde praktisch politischer Anwendung bezog. Ein volkskirchliches Plus kam in den okkupierten Ländern noch hinzu: Hier wurde der Kampf nicht von einer Minorität, sondern „einmütig von der überwiegenden Mehrheit der Theologen, des Kirchenvolkes und der kirchlichen Regierungen geführt und getragen" 80 . Es ging hier auch nicht lediglich um das Recht der Kirche, sondern um Wiederherstellung des durch die deutsche Invasion zerstörten allgemeinen Rechtszustandes. Barth meinte zwar, die außerdeutschen Kirchenkämpfe könnten bei aller wünschenswerten Extensität unter Umständen an geistlicher Reinheit und Tiefe verlieren. Doch blieb Barths eindeutiges Ja dazu, daß die innere Logik des christlichen Glaubens zu einem vollen und extensiv auszulegenden Nein gegen den deutschen Nationalsozialismus führen müßte. Insofern wurde für ihn ein in volkskirchlicher Breite geführter, extensiver Kirchenkampf unausweichlich und zwingend. Die von Barth 1933/1934 auch bejahte intensive, aber partielle Stoßrichtung des bekennenden Widerstandes, sein und seiner Freunde Kampf richte sich nicht gegen die nationalsozialistische Staatsordnung, sondern gelte lediglich einer bei ihr Zuflucht suchenden falschen Theologie (so Dezember 1933) 81 , hat ja tatsächlich konzentrativ-verengend gewirkt, und das Festhalten an Resistenzstrukturen dieser Frühphase hat die Bekennende Kirche teilweise noch bis in die Kriegszeit hinein an extensiver Bündnisbereitschaft und Frontverbreiterung gehindert. Die Dahlemer Beschlüsse (insbesondere III, 3) haben nicht nur viel geistliche Kraft verschlungen 82 , sondern wirkten gegenüber notwendiger Extensität des Kampfes stark retardierend. Es sind Erkenntnisfortschritte in der Faschismusinterpretation gewesen, die Teilschritte im Blick auf extensive Effizienz des Kirchenkampfes bewirkten. Im toleranten Geltenlassen verschiedener Motivationshintergründe, wie das auch für den Kampf der Kirchen in okkupierten Ländern typisch war, gewann das Grundmuster volkskirchlicher Resistenz im weitesten Sinne des Wortes während des Krieges sukzessiv eine stärkere Bedeutung. Als nach der Befreiung Deutschlands vom Hitlerregime im Jahre 1945 Restriktionen und Existenzbedrohung auch für die Kirchen wegfielen, kam es zu dem realhistorisch folgerichtigen Neuaufschwung volkskirchlicher Dynamik mit zeitlich langer NachwirEbd., S. 263. T E H , Heft 5, 1933. 82 HEINZ BRUNOTTE: Bekenntnis und Kirchenverfassung. Aufsätze zur kirchlichen Zeitgeschichte (AKiZ Β 3). Göttingen 1977, S. 178 f. 80 81

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kungsphase, konzeptionell im Blick auf die Anforderungen und Verantwortungsbezüge des spezifischen soziopolitischen Kontextes durchaus unterschiedlich in die kirchlichen Entwicklungen hineinführend, wie sie in der Bundesrepublik und in der DDR sich abzeichneten. Auf alle Fälle ist aber davon auszugehen, daß das Phänomen Volkskirche zwischen 1918 und 1945 einen für die Kirchengeschichte tragenden, geschichtsrelevanten Sachverhalt darstellt, der zentrale historiographische Beachtung verdient und konzeptionell wie methodisch für diesen Zeitraum nicht vernachlässigt werden darf.

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Politische Parteien und Kirche in Schweden Eigentlich sollte ich über „Politische Parteien und Kirche in Skandinavien" sprechen. Das hatte ich auch vor zu tun, wenigstens über Norwegen und Schweden, die zwei skandinavischen Länder, die ich am besten kenne. Aber auch dieser Bereich ist stofflich zu umfassend, obwohl die Verhältnisse und Probleme in beiden Ländern ähnlich sind. Ich konzentriere mich also auf Schweden, das wir als Beispiel für die skandinavischen Verhältnisse ansehen können. Zuerst eine Begriffsbestimmung von politischer Partei: Es handelt sich um eine Organisation von Leuten, die sich freiwillig um einer gemeinsamen Zielsetzung willen zusammengefunden haben, wie die Gesellschaft als Ganze ausgestaltet werden soll. Diese Zielsetzung will man durch eine auf demokratische Weise zustandegekommene Machtübernahme verwirklichen. Die politischen Parteien sind aber nicht nur Kanäle schon existierender Meinungen. Sie sind auch Erzeuger politischer Meinungen und sind bestrebt, mit Hilfe aller Mittel der Propaganda die Zustimmung der Wählerschaft zu erreichen. Alle Parteien wenden sich heutzutage an fast sämtliche Gruppen der Gesellschaft. Die politischen Parteien, wie sie sich heute darbieten, sind eine Erscheinung, die nicht älter als 120-130 Jahre ist, während die Kirche seit bald 2000 Jahren existiert. Die Kirche ist nie unpolitisch in dem Sinne, daß sie ihr Wort auf den privaten Bereich einer frommen Innerlichkeit beschränken könnte. Die kirchliche Predigt muß in ihrer Auseinandersetzung mit der Welt auch deren politische und gesellschaftliche Komponente mit einbeziehen. Um der Glaubwürdigkeit der Heilsverkündigung willen muß der Christ zu politischer und gesellschaftlicher Mitarbeit bereit sein, da die Glaubensentscheidungen nicht von der Lebenswirklichkeit isoliert werden können. Die Grenze zwischen dem, was zur Religion gehört, und dem, was man zur Politik rechnen muß, läßt sich nicht ohne weiteres festlegen. Erst in der Aufklärungszeit begann man zwischen Politik und Religion, und damit auch zwischen Staat und Kirche, eine Grenze zu ziehen. Bis dahin hatte man weltliche Ordnung und geistliche Ordnung als eine Einheit aufgefaßt. Die Religion war die innerste

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Grundlage und damit auch die Norm aller menschlichen Handlungen. Auch das weltliche Regiment war in diese Auffassung eingefügt insofern, als man es als einen Teil der Schöpfung Gottes betrachtete. Mit der Reformation entstanden in Skandinavien die sogenannten lutherischen Nationalkirchen. Luther hat den Staat und die Obrigkeit immer nur als weltlich bezeichnet und die Fürsten nur in besonderen Notfällen zum Schutz der christlichen Gemeinden aufgerufen, und zwar in ihrer Eigenschaft als Gemeindemitglieder. In dieser Zeit konnte man noch nicht Individuum und Staat oder Geistliches und Weltliches voneinander trennen. Die Religionsfrage wurde damals nicht als ein isoliertes theologisches Problem aufgefaßt. Ihre richtige Lösung galt vielmehr als wesentliche Voraussetzung für die Funktion eines Staates. Nur diejenige Politik war als gerecht zu betrachten, die sich auf das Recht gründete, das seinerseits durch die Religion legitimiert wurde. Und dieses Recht sollte der Fürst schützen und ausüben. Wegen des engen Zusammenhangs von Religion und Politik erhielt die Formulierung des Bekenntnisses große Bedeutung für die Politik im Reformationsjahrhundert. Ein gemeinsames Bekenntnis begründete vielfach eine gemeinsame Politik. Indem man dem Fürsten die Verantwortung für das Wohlergehen des Landes zuschrieb, glaubte dieser manchmal folgern zu dürfen, daß er damit auch die Verantwortung für die Religion habe. Staat und Fürst waren in dieser Zeit oft identisch. So entstand allmählich das Staatskirchentum, auch wenn das gegen den Willen der Kirche geschah. Im 16. und 17. Jahrhundert verbreiteten sich die naturrechtlichen Anschauungen, die den Staat allein für das Gemeinwohl verantwortlich machten. Dadurch wurde die Kirche in den privaten und individuellen Lebensbereich abgeschoben. Die Aufgabe der „wahren Kirche" wird moralisch definiert: ein gutes und liebevolles Verhältnis unter den Menschen zu schaffen. Die Festlegung des Ideengehalts der Lehre der Kirche oder die Abgrenzung ihrer Institutionen gehöre weder zum wahren Wesen der Kirche noch zu ihren primären Aufgaben. Geistliche hätten darum nichts mit Politik zu tun. Da die Ordnung der Kirche ihrer äußeren Form nach Sache des Staates war, bedeutete die Lehrverpflichtung, daß die Geistlichen es auf sich nahmen, die Wahrheit in Übereinstimmung mit den Gesetzen des Staates zu verkündigen. Im 19. Jahrhundert wird die große Debatte darüber geführt, ob politische und geistliche Probleme gleichzeitig im Staat Platz finden unter der Voraussetzung, daß auch die Geistlichkeit eine Funktion im Staatsapparat haben könne. Früher war die Repräsentation der Geistlichen im politischen Leben als ganz unproblematisch betrach-

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tet worden. Seit der Reformationszeit war es natürlich gewesen, geistliche und weltliche Aufgaben in der Schöpfungsordnung Gottes gleichzustellen. Der im 19. Jahrhundert aufkommende neue Konfessionalismus hatte nicht die gleichen Voraussetzungen wie der alte orthodoxe Konfessionalismus, nämlich einen Einheitsstaat in reiner Lehre zu erhalten, weil das Fundament der lutherischen Dreiständelehre durch das Aufkommen von Liberalismus und Industrialisierung fortgefallen war. Er mußte sich damit abfinden, daß Staat und Kirche nicht mehr automatisch zusammenfielen. Die Kirchen grenzten sich von der Gesellschaft durch die Hervorhebung ihrer ganz eigenen Sonderart ab. Deshalb läßt sich der Konfessionalismus als die Reaktion der Kirche auf die Tendenzen des Staates zur Demokratisierung des politischen Lebens und dem Heranwachsen des Parlamentarismus verstehen. Diese neue konfessionelle Auffassung der Kirche erreichte Schweden um 1835 und stand schon von Anfang an in ausgesprochenem Gegensatz zum Liberalismus. Um 1840 wurden Andreas Gottlob Rudelbachs Gedanken über eine Trennung von Kirche und Staat unter Kirchenmännern pietistisch-konfessioneller Art in den skandinavischen Ländern ernsthaft erwogen. Die Industrialisierung hat nicht nur eine neue Welt mit ganz anderen ökonomischen und sozialen Verhältnissen und Voraussetzungen geschaffen. Es sind vor allem die unablässigen Veränderungen, die die industrielle Gesellschaft so scharf von jener Welt trennen, die die früheren Generationen kannten und erlebten. Natürlich gab es Veränderungen auch in der vorindustriellen Welt, aber sie vollzogen sich langsam, niemals schnell. Im Zuge des allgemeinen Vordringens des Liberalismus und der Demokratie im öffentlichen Leben des 18. und 19. Jahrhunderts übernahmen die politischen Parteien als politische Machtfaktoren die Rolle, die früher Kirchen und religiöse Sekten gespielt hatten. Aber noch im späten 19. Jahrhundert wurden bewußte Abweichungen im religiösen Bereich als die einzige Möglichkeit für große Gruppen der Gesellschaft angesehen, ihren Protest gegen die sozialen Verhältnisse auszudrücken, unter welchen sie lebten. Logischerweise waren es auch die Randgebiete und wirtschaftlich rückständigen Regionen, wo diese religiösen Protestbewegungen zuerst aufkamen und sich am längsten hielten. Das Jahr der Repräsentationsreformen (Vertretungsreformen) 1866 ist ein bemerkenswertes Jahr in der Geschichte der Entwicklung der politischen Parteien in Schweden. In diesem Jahr wurde die Landmannspartei gegründet, was durch den Zusammenschluß des alten Standes der Bauern mit einigen adeligen Gutsbesitzern ge-

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schah. Diese Partei blieb bis zur Jahrhundertwende maßgebend für die schwedische Politik, und ihr Beispiel beeinflußte auch die späteren Parteigründungen. Sie hatte Parteiführer, einen mächtigen Vertrauensrat und regelmäßige Sitzungen. Aus dieser Partei ging später „die Rechte" (Högern), d. h. die konservative Partei hervor. Aber politische Parteien konnten auch außerhalb des Parlamentes gegründet werden. Dies gilt vor allem für die früheren sozialistischen Parteien, die in Verbindung mit den Gewerkschaftsverbänden entstanden. 1889 wurde die sozialdemokratische Arbeiterpartei Schwedens gegründet; aber erst 1897 wurde sie durch Hjalmar Branting im Reichstag vertreten. Auch die jetzige Zentrumspartei (deren Vorgängerin 1921 gegründet wurde) entstand ursprünglich außerhalb des Reichstags. Bis 1917 gab es in Schweden drei vorherrschende politische Richtungen: eine konservative, eine liberale und eine sozialdemokratische. 1909 wurde das Verhältniswahlrecht eingeführt, was das Entstehen neuer Parteien förderte. 1913 bzw. 1915 wurden die Bauernpartei und der landwirtschaftliche Reichsverband gegründet; beide entsandten nach der Wahl von 1917 Vertreter in den Reichstag. Von 1917 an kann von einem Fünfparteiensystem gesprochen werden. Außer den drei älteren Parteien trat nun der Bauernbund (Bondeförbundet) auf, der durch die die Vereinigung der beiden obengenannten Fraktionen entstand. Im selben Jahre entstand innerhalb der linkssozialistischen Fraktion eine kommunistische Partei, die sich noch 1917 von der Sozialdemokratie unabhängig machte. Das Jahr 1917 wird als Durchbruchsjahr des Parlamentarismus in Schweden bezeichnet. Im selben Jahr kam die liberal-sozialistische Koalitionsregierung unter Nils Edén und Hjalmar Branting ans Ruder, deren Hauptaufgabe es war, eine Verfassungsreform durchzuführen, die das Wahlrecht gleich und allgemein machte. Die Periode von 1920 bis 1933 ist durch eine Gleichgewichtspolitik gekennzeichnet, bei deren Durchführung sich die Regierungen nach durchschnittlich zwei Jahren ablösten. Die Jahre von 1933 bis 1936 sind die Zeit des Anbruches von etwas Neuem. Der Bauernbund fing damals an, die Sozialdemokraten zu unterstützen. Dadurch wurde ein erneuter Mehrheitsparlamentarismus vorbereitet, der endgültig 1936 zustandekam, als der Bauernbund und die Sozialdemokraten zusammen die Regierung bildeten. Während des ganzen Krieges hatte dann Schweden eine Koalitionsregierung. Zwischen 1951 und 1957 saßen der Bauernbund und die Sozialdemokraten wieder zusammen am Ruder. Danach hatte das Land eine sozialdemokratische Minderheitsregierung, in der die Stimmen der Kommunisten fiir die Sozialdemokraten und gegen die

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Bürgerlichen oft entschieden. Von 1969 bis 1970 waren die Sozialdemokraten noch einmal in der Mehrzahl, aber schon 1971 waren sie wieder gezwungen, mit der Unterstützung der Kommunisten zu rechnen, um eine Sache durchzusetzen. Obwohl die sozialdemokratische Partei in der Periode von 1920 bis 1932 die größte Einzelpartei des Reichstags war, befand sie sich, aufs Ganze gesehen, in all diesen Jahren in einer Minoritätsposition, ohne Möglichkeit, ihr Reformprogramm durchzuführen. Ideologisch gesehen waren die Sozialdemokraten auf dem Wege weg vom Marxismus zu einer mehr realpolitisch und revisionistisch geprägten Linie. Diese Entwicklung wurde durch die Abspaltung der radikalen Minorität innerhalb der Partei noch gefördert; die linkssozialistische Partei entstand, wie schon gesagt, unter dem Eindruck der russischen Revolution im Jahr 1917. Zwischen 1920 und 1932 stellten die Sozialdemokraten dreimal die Regierung. Als Folge der Depression der dreißiger Jahre gab es Schwierigkeiten, nicht nur für die Arbeiter, sondern auch für die Bauern. Diese Verhältnisse spiegelten sich in der Wahl "zur zweiten Kammer des Reichstages 1932 wider, in der die Sozialdemokraten und der Bauernbund beide großen Erfolg hatten. Eine sozialdemokratische Regierung unter Per Albin Hansson wurde gebildet. Durch Zusammenarbeit mit dem Bauernbund gelang es den Sozialdemokraten 1933, die frühere bürgerliche Front zu durchbrechen. Jetzt erst waren sie imstande, ihr soziales Wohlfahrtsprogramm nach ihren eigenen Vorstellungen durchzuführen. Diese neue Lage hat dazu beigetragen, daß die zwei liberalen Parteifraktionen, „die Freigesinnten" (Frisinnade Folkpartiet) und „die Liberalen" (Sveriges Liberala Partiet) zusammengefunden haben. Die Vereinigung geschah 1934, und es entstand die Volkspartei. Die praktische Politik dieser Partei zielte darauf hin, eine allzu nahe Zusammenarbeit zwischen dem Bauernbund und den Sozialdemokraten zu verhindern, doch in der Praxis wurde die Frontstellung gegen die Sozialdemokraten immer deutlicher. Die Volkspartei unterstrich ihre Zielsetzung, ökonomischen Liberalismus und sozialpolitischen Reformwillen zu vereinigen. Wie verhielt sich aber der Sozialismus zur Kirche und Christentum? Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands hatte 1891 auf ihrem Parteitag in Erfurt das sog. Erfurter Programm angenommen, das im Marxismus wurzelte, und ausgehend davon, daß sich die Situation der Industriearbeiter, des Industrieproletariats weiter verschlechtern würde, radikale Grundvorstellungen enthielt. Im Hinblick auf die Religionsfrage hieß es:

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„Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands kämpft also nicht für neue Klassenprivilegien und Vorrechte, sondern für die Abschaffung der Klassenherrschaft und der Klassen selbst und für gleiche Rechte und gleiche Pflichten aller ohne Unterschied des Geschlechts und der Abstammung . . . Ausgehend von diesen Grundsätzen fordert die Sozialdemokratische Partei Deutschlands zunächst:... 6. Erklärung der Religion zur Privatsache. Abschaffung aller Aufwendungen aus öffentlichen Mitteln zu kirchlichen und religiösen Zwecken. Die kirchlichen und religiösen Gemeinschaften sind als private Vereinigungen zu betrachten, welche ihre Angelegenheiten vollkommen selbständig ordnen. 7. Weltlichkeit der Schule."

Das Erfurter Programm war auch von entscheidender Bedeutung für die Ausformung der Programme der skandinavischen Arbeiterparteien. In Schweden kann man diese Abhängigkeit deutlich feststellen, was die Auffassung von Kirche und Schule betrifft, sogar noch auf dem 17. Parteikongreß von 1944. Aber schon während der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ließ der religionsfeindliche Tenor der sozialdemokratischen Agitation nach, und mit der Zeit ist er fast ganz verschwunden. Eine der Ursachen dafür mag sein, daß die Sozialdemokraten mit den „Freigesinnten" in manchen Fragen zusammenfanden, um „Teilziele", die programmatisch nicht festlagen, oder sog. Nahziele auf demokratischem Weg durchzusetzen. Die „Freigesinnten" ihrerseits waren stark von der freikirchlichen Erweckung beeinflußt. Diese Erweckung konnte auf der einen Seite sehr kirchenkritisch sein, aber gegenüber allen Versuchen, die religiösen und ethischen Normen, auf denen diese Bewegung ruhte, in Frage zu stellen, blieb sie fest. Spuren dieser Kompromißbereitschaft können wir schon im Parteiprogramm der sozialdemokratischen Partei von 1920 finden, auch wenn damals die so umstrittene Erklärung eingeführt wurde: „Die Staatskirche wird aufgehoben. Das Eigentum, das von der Kirche disponiert ist, verbleibt Eigentum des Staates" (Art. 6). Aber es war ganz klar, daß man nicht beabsichtigte, diesen Programmpunkt sofort durchzusetzen, auch wenn er bis 1960 verändert im Parteiprogramm stand. In den dreißiger Jahren wird die Haltung der Sozialdemokratie zur Kirche allmählich positiver. Diese Veränderung hat vielerlei Gründe. Generell war die Sozialdemokratie in den dreißiger Jahren mit einer aktiven Sozialreformpolitik beschäftigt, in der die rein prinzipiellen und ideologischen Aspekte nicht dominierten. Man könnte sagen, daß die bekannten Worte von P. A. Hansson über den Staat als einem Zuhause fürs ganze Volk auf der Parteitagung im Jahre 1928 eine Periode ideologischer Offenheit einleiteten: Ein Wille zur Zusammenarbeit mit anderen Parteien, die ähnlich sozialreformerisch ausgerichtet sind,

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ohne die sozialistische Ideologie anzunehmen, wird deutlich. Dieser Wille zur Zusammenarbeit verstärkte sich selbstverständlich nach dem Abkommen mit dem Bauernbund 1933 und entwickelte sich weiter in der Koalitionsregierung während der Kriegsjahre. Die feindliche Haltung gegenüber der Kirche ist dennoch formal keineswegs aufgegeben worden und konnte, wenn es paßte, jederzeit wieder hervorgeholt werden. Das sozialdemokratische Regierungsmitglied, der spätere Kirchenminister Arthur Engberg, kann als ein Beispiel für solche Gedankengänge angeführt werden. Er hatte seine Arbeit mit einer sehr kritischen Haltung gegenüber der Kirche begonnen, wollte Kirche und Staat voneinander trennen und die Kirche am liebsten zugrunde gehen lassen. Einige Jahre später wandelte er sich zu einem Verteidiger des Staatskirchensystems. 1929 trat er sogar den schwedischen Bischöfen entgegen, als sie für den freien Kirchenaustritt plädierten, mit der Begründung, daß die Kirche eine Glaubensgemeinschaft sei. Engberg sah die Kirche als eine Funktion des Staates. Eine Funktion des Staates könne man nicht ohne weiteres verlassen, aber damit brauche man nicht notwendigerweise eine positive Einstellung zu haben. Engberg wollte die Kirche als eine Ubergangserscheinung betrachten, die bald von selbst verschwinden würde. Als Engberg 1932 Kirchenminister wurde, beteiligte er sich an einer Reihe kirchlicher Reformprogramme und zeigte großes Interesse an ihnen. Seine strikte Auffassung vom Staatskirchensystem wurde gegen Ende des Jahrzehnts auch durch die Erfahrungen aus dem deutschen Kirchenkampf gemildert. Wir haben bisher von einer allmählich gemilderten Auffassung der Sozialdemokratie gesprochen; aber auch auf Seiten der kirchlichen Glaubensgemeinschaften kann man, natürlich nicht ausnahmslos, im allgemeinen eine ähnliche Entwicklung belegen. Während die älteren freikirchlichen Gemeinschaften gern soziale Probleme diskutierten und am liebsten Fragen behandelten, die das Verhältnis zwischen Christenglauben und Arbeiterbewegung betreffen, zeigten die neueren freikirchlichen Gemeinschaften, vor allem die, die der apokalyptischen Welle zuzurechnen sind, die in den dreißiger Jahren die Christenheit Schwedens erfaßt hatten, eine gleichgültigere und manchmal sogar feindliche Haltung gegenüber sozialen und politischen Reformbestrebungen. Aber, wie gesagt, die letztgenannte Richtung ist eine Ausnahme, und im allgemeinen war das Interesse, auch auf kirchlicher Seite, an sozialen Problemen während der dreißiger Jahre in Schweden groß. 1918 wurde auf Anregung von Natanael Beskow der Verein für christliches Gesellschaftsleben gegründet, und 1929 entstand der

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Verband der christlichen Sozialdemokraten Schwedens mit seinem politisch sehr bewußten Sprachrohr „Bruderschaft". Jetzt fingen auch Geistliche an, sich für die sozialdemokratische Politik zu engagieren. Am Anfang reagierte die kirchliche Presse kritisch, aber das war nur vorübergehend. Das Resultat war ein größeres Vertrauen zwischen den Repräsentanten der Kirche und den gewählten sozialdemokratischen Vertrauensmännern. In den dreißiger und vierziger Jahren waren in der schwedischen Kirche viele Richtungen vertreten. Es gab eine niederkirchliche, pietistisch gefärbte Richtung, vertreten von ζ. B. der Evangelischen Vaterlandsstiftung (Evangeliska fosterlandsstiftelsen), den Bibelfreunden (Bibeltrogna vänner) und dem Missionsverein Ost-Smälands (Ostra Smâlands missionsförening). Auch der Gedanke der Volkskirche, den Einar Billing und Nathan Söderblom entfaltet hatten und der in der Kirche das Handeln Gottes am schwedischen Volke sah, war in den dreißiger und vierziger Jahren noch sehr lebendig. An der Westküste Schwedens herrschte die im 19. Jahrhundert begründete Altkirchlichkeit vor, die auch in den Stiften von Växjö, Skara und Lund vertreten war. Allgemein verbreitete sich auch immer mehr die Hochkirchlichkeit, eine Richtung aus dem späten 19. Jahrhundert, mit neuer Lebenskraft in den Jahren um 1930. Die von der Staatskirche unabhängigen protestantischen Erwekkungsbewegungen, die dank ihrer Herkunft meist angelsächsisch orientiert waren, waren sich ihrer Sonderart bewußt und nicht zur Zusammenarbeit mit der Staatskirche bereit. Ende der dreißiger Jahre hörte die Expansion dieser Bewegungen auf, die Zahl ihrer Mitglieder blieb konstant oder ging zurück. Interne Meinungsverschiedenheiten führten außerdem zur Abspaltung der Pfingstfreunde von den Baptisten und der Philadelphiagemeinde von den Pfingstfreunden. Dem Staat gegenüber war die schwedische Kirche relativ selbständig, aber sie hatte kein Organ, sich offiziell zu äußern, abgesehen vielleicht vom Kirchentag. Der Bischofssynode kam keine offizielle Stellung zu, dennoch wurde sie praktisch zum offiziellen Sprachrohr der schwedischen Kirche. Die in der Verfassung und der Tradition begründete starke Stellung der schwedischen Bischöfe als Kirchenführer ließ natürlich von ihnen erwarten, daß sie gegen den Übergriff totalitärer Staaten in kirchliche Angelegenheiten protestierten. Dem allgemeinen schwedischen Pfarrerverein (Allmänna svenska prästföreningen = ASP) gehörten 1940 etwa 75% aller Pfarrer der schwedischen Kirche an (ca. 2400 Mitglieder). Er nahm die Rechte der Pfarrer als eine Art Berufsorganisation wahr. Die Leitung des ASP äußerte sich zu dieser Zeit altkirchlich-reaktionär und mit aus-

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gesprochenen Sympathien für Deutschland. 1938 war ASP der nordischen Vereinigung Pro Deo kollektiv beigetreten. Über den evangelischen Ausschuß war ASP außerdem an den Lutherischen Weltkonvent und den Protestantischen Weltverband angeschlossen. In den dreißiger Jahren war ASP antiökumenisch und stark auf das Luthertum konzentriert. Daß es der schwedischen Kirche mit ihrer traditionell engen Verbindung zu Deutschland schwerfiel, eine überzeugende Haltung zu den mit dem Nationalsozialismus verbundenen Geschehnissen zu finden, ist nicht ganz unverständlich. Es führte u. a. dazu, daß die schwedische Delegation des Protestanischen Weltverbandes im Oktober 1940 beschloß, die Lutherakademie in Sondershausen zu unterstützen, was heftig kritisiert wurde. Anläßlich des drohenden Konfliktes der Großmächte erwogen Erzbischof Erling Eidem und der norwegische Bischof Eivind Berggrav den Gedanken eines ökumenischen Kirchenrats aller skandinavischen Kirchen. Während des Krieges mußte die Kirche erkennen, welchen Problemen sie als ethische Autorität im Verhältnis zum Staat als politischer Korporation gegenüberstand. Bischof Gustaf Aulén wandte sich in einem Artikel 1941 gegen die Auffassung des Staates als einer über christliche Normen erhabene Schöpfungsordnung. Der Kirche wurden allgemein das Recht und die Pflicht zugesprochen, gegen einen ungerechten Staat zu protestieren. Die Zeitschrift „Christliche Gemeinschaft" (Kristen Gemenskap) nahm von Paul Althaus' politischer Luther-Deutung Abstand. Es läßt sich auch feststellen, daß man sich im Laufe der Zeit der Notwendigkeit klarer theologischer Definitionen und Stellungnahmen bewußt wurde. Ein Versuch der Aufklärung war die Publikation des Sammelwerkes „Ein Buch von der Kirche". Dieser 1942 herausgegebene Sammelband, der 1951 auch auf deutsch erschien, enthält den Versuch schwedischer Theologen, den Standpunkt der schwedischen Kirche zu den damals aktuellen Fragen festzulegen. Im vorliegenden Zusammenhang sind die Artikel des Systematikers Anders Nygren „Staat und Kirche" und von Gustaf Aulén „Kirche und Rechtsordnung" von besonderem Interesse. Beide behandeln das Problem der politisierten Theologie, die sie ablehnen. Nygren stellt in seinem Artikel eindeutig fest, daß es eine „lutherische Staatslehre" im eigentlichen Sinne nicht gibt: „Luther kannte keinen Staat in unserem Sinne." Es gibt nach Nygren keinen Teil des Daseins, in dem Gott nicht wirksam ist: „Sowohl im geistlichen wie im weltlichen Reiche, im geistlichen wie im weltlichen Regimente haben wir es mit Gott und seinem Handeln zu tun." Daraus folgt für ihn:

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„ M i t tiefer D e m u t ist hier festzustellen, welch ein schwaches und gebrechliches Gefäß die Theologie ist und wie leicht sie unter die Herrschaft fremder Anschauungen gerät, die sich jeweils in ihrer Zeit geltend machen. E s ist ja klar, daß es f ü r manchen ein äußerst lästiger G e d a n k e wäre, das weltliche, politische Leben habe sich unter einen anderen Willen, als unter Gottes Willen, zu beugen, und es ist offenbar, daß die Theorie von der politischen Eigengesetzlichkeit mit der neuzeitlichen Politik sehr viel besser übereinstimmt. D a r u m aber Luther zum Fürsprecher für den säkularisierten Gedanken der politischen Eigengesetzlichkeit zu machen, ist doch eine allzu groteske Fälschung" (S. 443). „In der Ausübung staatlicher Macht gibt es wie in jedem anderen Beruf zwei Möglichkeiten: entweder dem Fürsten dieser Welt oder Gott zu dienen. D a s erstere geschieht, wenn die Macht nur um ihrer selbst willen gebraucht wird. Es wohnt der Macht eine furchtbare Versuchung inne . . ." (S.447).

Aulén sieht in seinem Artikel die Säkularisierung als eine wichtige Ursache für die Veränderung der Rechtsbegriffe an. Das Gebot der Nächstenliebe ist die Grundlage der christlichen Lehre, und wenn es verdrängt wird, gerät das ganze Rechtssystem ins Wanken. Nach Aulén ist es daher Aufgabe der Kirche, dafür zu sorgen, daß der Staat sich an die von Gott gegebene Rechtsordnung hält, und zwar gehört das zur dienenden Funktion der Kirche: „ D i e Frage nach dem Recht und der Rechtsordnung hat in unserer Zeit eine unerhörte Aktualität gewonnen. Wir sind vor Auswüchse gestellt worden, die wir noch vor einigen Jahrzehnten kaum für möglich gehalten hätten. Wenn solche brutalen Maßnahmen im N a m e n des Rechts vorgenommen werden und somit den Anspruch erheben, in Ubereinstimmung mit der Forderung des Rechts zu stehen, dann wird die Frage nach dem Verhältnis der Rechtsordnung und des göttlichen Gesetzes brennender denn j e " (S. 455). Die Kirche „muß ihr Recht der freien Wortverkündigung verteidigen . . . Sie läßt sich nicht dadurch zum Schweigen zwingen, daß man ihr z. B. sagt, die Kirche habe mit der Politik nichts zu tun. In diesem Satz liegt gewiß ein Wahrheitsmoment, nämlich das, daß Kirche und Staat ihre eigenen, selbständigen Aufgaben haben und die Kirche also nicht die A u f g a b e des Staates übernehmen kann oder befugt wäre, Machtmittel in Anspruch zu nehmen, wie sie dem Staat zur Verfügung stehen. Der Satz, die Kirche solle keine Politik treiben, kann und darf dagegen niemals besagen, die Kirche müsse aufhören, die Sache des göttlichen Gesetzes gegenüber dem Mißbrauch der Macht von Seiten ,des weltlichen Regimentes' zu vertreten . . . Die Kirche wertet die ihr gegebene A u f g a b e in keiner Weise höher als die dem Staat übertragene. In beiden Fällen handelt es sich, christlicher Betrachtungsweise zufolge, um von Gott gegebene, wesentliche Aufgaben . . . Wenn die Kirche sich veranlaßt sieht, sich zum Widerstand gegen Verletzungen des göttlichen Gesetzes zu erheben, dann bedeutet das nichts ande-

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res, als daß die Kirche dem Staat den Dienst leistet, der ihr obliegt und der darin besteht, daß sie den Staat an seine eigene hohe Aufgabe und die sich daraus ergebenden Forderungen erinnert. Sie tut das in der Gewißheit, daß kein wesentlicherer Grundsatz für die Rechtsordnung aufgestellt werden kann als der, daß sie nach der Richtlinie gestaltet sei, die in Gottes Gesetz angegeben ist" (S. 4 6 3 - 4 6 5 ) .

Um den Druck von außen standzuhalten, verstärkte sich unter den Bedingungen des Krieges der Zusammenhalt innerhalb Schwedens. Als dieser Zwang bei Kriegsende nachließ, schien es zunächst so, als ob die Säkularisierung weiter um sich greifen würde. Über die Problematik der Säkularisierung wurde in Scheden mehr debattiert als in den anderen skandinavischen Ländern. Bischof Aulén hatte davor gewarnt, daß die Säkularisierung das Rechtsbewußtsein unterlaufen würde. Er sah in der Säkularisierung eine wichtige Ursache für die Veränderung der Rechtsbegriffe. Bischof John Cullberg sah Säkularisierung wie viele andere als eine ernsthafte Bedrohung des ganzen Kulturlebens an. Er versuchte in einem Artikel „Das Christentum und die gesellschaftlichen Probleme" herauszuarbeiten, was er für die Hauptursachen des Krieges hielt, nämlich die Säkularisierung und die sozialen Krisen. Auch Bischof Torsten Bohlin befaßte sich auf einer Tagung in Härnösand mit dem Problem der Säkularisierung. Das Verhältnis des Christentums zur politischen Demokratie war eines der Themen einer Tagung an der Volkshochschule von Sigtuna im Frühjahr 1939. Rektor Alf Ahlberg, ein bekannter Mann im Bereich des Volksbildungswesens, deutete das Christentum als normengebende Instanz gegenüber dem Staat. Bischof Cullberg wies auf die Gefahren der säkularisierten Demokratie hin, in der der Mensch sich selber als Zentrum setze. Die Kirche dürfe sich nicht an ein bestimmtes politisches System binden, die größte Gefahr bestehe für sie in der Verweltlichung; ihre Hauptaufgabe sei es, als Kirche zu fungieren. Cullbergs Grundeinstellung war konservativ; er knüpfte an jene Richtung der deutschen Theologie an, welche die Weimarer Republik abgelehnt hatte. In einem Hirtenbrief sprach John Cullberg 1940 über die Stellung des Christentums in den neuen kulturellen Zusammenhängen, die durch die weltgeschichtlichen Ereignisse entstanden waren. Auch hier greift er die beiden Hauptprobleme auf, denen wir schon bei ihm begegnet sind: das Neuheidentum und seine Verbreitung innerhalb der sog. Christenheit sowie das Verhältnis von Christentum und Demokratie. Die Zukunft der christlichen Kultur beurteilt Cullberg pessimistisch. Der totalitäre Anspruch moderner Staaten erscheint ihm als der Hauptgegner des Christentums. Daraus folgt

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nach Cullberg aber nicht, daß das Christentum sich mit der Demokratie zu identifizieren hat. Demokratie und Völkerrecht wurzeln zwar im Christentum, „aber die heutigen Demokratien haben die Verbindung mit den Kraftquellen des christlichen Lebens abgeschnitten, auf die sich ihre Existenz zu Anfang gründete". Aufgabe der Kirche sei es daher, die säkularisierte Demokratie zur Selbstbesinnung zu bewegen. Ob dies der Kirche gelingen würde, erschien Cullberg indessen zweifelhaft. Nach seiner Auffassung hatte die Demokratie das Christentum zugleich mit dem Ideal der Persönlichkeit verraten und sich einem Kollektivismus verschrieben, auf dessen Boden sich die Diktatur entfalten kann. Auch Bischof Arvid Runestam ging 1937 in einem Hirtenbrief auf das Verhältnis der Kirche zur Kultur ein. Es sei wichtig, daß die Kirche aktiv am kulturellen Leben teilnehme, nur dürfe dies nicht zum Selbstzweck f ü r die Kirche werden. In den ersten Kriegsjahren war in allen möglichen Zusammenhängen die Rede von der geistigen Einsatzbereitschaft, weshalb Bischof Runestam in einer Sonntagspredigt die Vermengung der kulturellen und der militärischen Bereitschaft kritisierte: „Wir säkularisieren das Christentum, wenn wir es absichtlich als Mittel f ü r nationale Zwecke gebrauchen", behauptete er. Am Ende des Weltkrieges befand sich Schweden im Verhältnis zu allen anderen Ländern Europas, wenigstens materiell gesehen, in einer fast unglaublich vorteilhaften Situation. Das Land brauchte nichts aufzubauen, sondern konnte für die enormen Bedürfnisse anderer Länder produzieren. Dies verschaffte Schweden ein sehr großes ökonomisches Wachstum. Die politischen Parteien sahen kaum Grenzen, um die Desiderate ihrer Programme zu realisieren. Es scheint, als ob diese Hochkonjunktur auch innerhalb der Kirche jede Diskussion zum Verstummen gebracht habe; denn durchdachte Pläne, welche Projekte in erster Linie finanziert werden sollten, wurden nicht entwickelt. Die wenigen Versuche, die gemacht wurden, um diese Investierungshysterie in einen größeren theologischen oder moralischen Zusammenhang einzubinden, wurden als reaktionär oder unzeitgemäß abgewiesen. Aber die Konflikte innerhalb der modernen Demokratie wurden wenig von religiösen Anschauungen und ihrem Widerschein in der Politik beeinflußt. Seit die Toleranz grundsätzlich gesetzlich wie praktisch anerkannt ist, haben die Kirchen sich auf eine Freiheit ohne Ausschließlichkeitsanspruch beschränken müssen, sei es, daß sie eine Sonderstellung als Staatskirche haben oder auch nicht. Es ist wahr, daß Gegensätze über Religionsfragen manchmal Konflikte ausgelöst haben, deren Ursache gar nicht in der Religion

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begründet war. Daß sich der Sozialismus, ganz besonders früher, gegen Religion und Kirche abweisend, ja sogar feindlich verhalten hat, während seine aggressivsten Gegner innerhalb des bürgerlichen Lagers als Verteidiger des Glaubens hervorgetreten sind, hat den politischen und sozialen Machtkampf ganz besonders verschärft und eine Klärung innerhalb der demokratischen Grenzen in einigen Fällen wahrscheinlich erschwert. Welchen Standpunkt nehmen heute die politischen Parteien Schwedens in der Religionsfrage ein? — Eine Uberprüfung der aktuellen Parteiprogramme mag zu unerwarteten Resultaten führen. Die kommunistische Linkspartei ist die einzige politische Partei, die die Religion nicht erwähnt. Religionsfreiheit, Toleranz, „open society", sind für alle bürgerlichen Parteien wichtige Grundsätze, während die kommunistische Partei Schwedens ganz utilistisch ist und die sozialdemokratische Partei sich so kurz faßt, daß man nach Wunsch alles hinein- oder herausinterpretieren könnte, was man möchte. 1951 wurde ein neues Gesetz über Religionsfreiheit angenommen. Damit wurden damals aktuelle Forderungen der Freikirchler erfüllt. Das Gesetz legte auch fest, daß das Wort Religionsfreiheit eine zweifache Bedeutung habe, die Freiheit von der und die Freiheit zur Religion. Das Recht, aus der Kirche auszutreten, wurde jedermann zugestanden, ohne daß man sich einer anderen Konfession anschließen müßte. 1956 wurde auf Veranlassung des Staates eine große Untersuchung über die künftige Organisation des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche begonnen. Solche Realitäten verbergen sich hinter vielen Formulierungen, denen wir in den Parteiprogrammen begegnen. Mit dieser Übersicht habe ich zeigen wollen, daß die Religion noch heute ein spezieller und wichtiger Faktor in der schwedischen Gesellschaft ist. Es wäre gefährlich für die Stabilität und Balance in unserem Gesellschaftssystem, wenn Religion und Gesellschaft die Verbindung zueinander verlören. Durch die immer mehr zunehmende Säkularisierung werden auch die alten Verbindungen zwischen Religion und Moral aufgelöst. Die Säkularisation ist eine Folge der immer größeren Technifizierung und Industrialisierung. Was an Lebensstandard und ökonomischer Geborgenheit gewonnen ist, ist oft mit geistlicher Unsicherheit bezahlt. Den Leuten, die ihre alte Umgebung verlassen haben, fällt es oft sehr schwer, sich wieder an einem neuen Wohnort einzurichten, wo ihnen Kontakte und Traditionen fehlen. In dieser neuen Situation bietet sich die Kirche an, sie geht zu den Neusiedlern und lädt sie ein, was im ersten Augenblick ganz unkompliziert und richtig

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scheint. Aber bei näherem Nachsehen zeigt sich, daß eine so scheinbar selbstverständliche Aktivität der Religion eine ganz neue Dimension gibt - sie wird eine Religion, die strebt, Mitglieder zu gewinnen, eine Religion, die man wählt. Die Religion in der modernen säkularistischen und pluralistischen Gesellschaft wird deshalb individualistisch und voluntaristisch. Warum es so geworden ist und welche Konsequenzen es haben wird, sowohl für die Kirche wie für die Gesellschaft, können wir noch nicht sagen. Eine andere Erscheinung in der heutigen Gesellschaft, die ganz deutlich hervortritt, ist, daß die Religion so passiv geworden ist. Sie soll da sein als ein Angebot, aber ohne etwas zu verlangen - das würde gegen das Grundgebot der Demokratie verstoßen. Die Leute wollen im allgemeinen gern Christen sein, aber nur, wenn es nichts kostet. Die Kirche hat Bereiche, für die sie früher verantwortlich war, wie Schule, Kranken- und Armenpflege aufgeben müssen. Die modernen Erweckungsbewegungen sind darum oftmals eine Form krampfhaften Protestes gegen eine solche Entwicklung. Sie sind eine Reaktion gegen die Passivität und dagegen, daß die Kirche ständig mehr von ihrem früheren Einfluß in der Gesellschaft verliert. Vielleicht können Gedanken wie die vorgelegten uns helfen, die Gesellschaft und Kirche in Skandinavien und ihre beiderseitigen Probleme besser zu verstehen. Denn die Kirche kann niemals vom Staat völlig getrennt werden, solange sie eine historische Realität sein will.

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Die nordischen Kirchen im zweiten Weltkrieg Bei der Untersuchung der Kirchen Skandinaviens während des zweiten Weltkrieges müssen zunächst zwei Phasen unterschieden werden. Ein erstes Stadium bildet der Abschnitt vom Ausbruch des zweiten Weltkrieges bis zum Frühjahr 1940. Während dieses Zeitraumes waren die skandinavischen Länder am Krieg unbeteiligt, mit Ausnahme Finnlands, das dreieinhalb Monate lang seinen eigenen Krieg gegen die Sowjetunion führte. Ein zweites Stadium bildet der Zeitraum vom Frühjahr 1940 bis zum Kriegsende. Den Anfang dieses Abschnittes bildet 1940 die Besetzung Dänemarks und Norwegens. Während Finnland bald darauf - seit Sommerende 1940 - begann, seinerseits Waffenbruderschaft mit Deutschland zu schließen, konnte von den skandinavischen Ländern nur Schweden während dieses Zeitraumes den Status eines am Krieg unbeteiligten Landes erhalten. Im folgenden möchte ich die skandinavischen Kirchen im Rahmen der erwähnten Zeiträume sowie zum Abschluß die allgemeinen Auswirkungen des Krieges auf diese Kirchen untersuchen.

1. Die Friedensaktion der skandinavischen Kirchen und der finnische Winterkrieg Der dem zweiten Weltkrieg unmittelbar vorausgehende Zeitraum führte in Kreisen der skandinavischen Kirchen zu einer beachtlichen Festigung des gegenseitigen Zusammengehörigkeitsgefühls. Einen wesentlichen Grund dafür bildete der deutsche Kirchenkampf und die immer schwieriger werdende Lage der evangelischen Kirche Deutschlands gegen Ende der dreißiger Jahre. Etliche skandinavische Kirchenmänner befürchteten, die Mutterkirche der Reformation würde unter dem Zugriff der nationalsozialistischen Staatsmacht etwas von ihrem kirchlichen Charakter verlieren. Deshalb sahen sich die lutherischen Kirchen Skandinaviens gezwungen, gemeinsam die Verantwortung für die Erhaltung echter evangelischer Kirchentradition in Europa zu übernehmen. Dieses trug zugleich

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entscheidend dazu bei, daß die gegenseitigen Beziehungen der skandinavischen Kirchen enger wurden. Einen zweiten gewichtigen Faktor bildete die einsetzende Neuordnung der ökumenischen Bewegung und das in diesem Zusammenhang betonte Prinzip gebietsmäßiger Zusammenarbeit. Die Kirchen Skandinaviens bildeten in dieser Hinsicht eine günstige regionale Gesamtheit. Ein sichtbares Zeichen für die diesem Boden entsprossene Zusammenarbeit war der im Frühjahr 1939 gefaßte Beschluß über die Gründung eines gesamtskandinavischen Institutes in Sigtuna in Schweden (Nordisches Ökumenisches Institut). Als ein drittes wurde das Zusammengehörigkeitsgefühl durch die als akut empfundene Drohung des Krieges bestärkt. Besonders der im August 1939 zwischen Berlin und Moskau abgeschlossene sogenannte Ribbentrop-Vertrag weckte auch bei manchen Kirchenmännern die dunkle Befürchtung, die kleinen Staaten Skandinaviens würden politisch und militärisch in eine noch ungesichertere Position als zuvor geraten. Der Ribbentrop-Pakt zerschlug endgültig die Hoffnung, daß das nationalsozialistische Deutschland dem kommunistischen Rußland einen Riegel vorschieben würde; gerade Rußland war im allgemeinen in Skandinavien für die allergrößte Bedrohung der Kirche gehalten worden. Der Ausbruch des zweiten Weltkrieges im September 1939 ließ die Länder Skandinaviens außerhalb der unmittelbaren Kriegsdrohung. Somit konnten auch die skandinavischen Kirchen ihre normale Arbeit fortsetzen. Befürchtungen über eine Ausweitung des Krieges weckten jedoch den Gedanken, daß es Pflicht der Kirchen des neutralen Nordens sei, als Vermittler zur Schaffung eines Ausgleichs zwischen Deutschland und den Westmächten zu fungieren. Als primus motor dieses Gedankens trat vor allem der Bischof von Oslo, Eivind Berggrav, auf, der zu der Zeit zweiter Vorsitzender der World-Alliance-Bewegung war. Berggrav war der Ansicht, die neutralen Staaten und Kirchen Skandinaviens müßten einen konkreten Versuch zur friedlichen Lösung des bereits siedenden Konfliktes der Großmächte unternehmen. In dieser Absicht wandte er sich schon im September 1939 an die eigene Regierung und auch an die Leiter der anderen skandinavischen Kirchen und schlug gemeinsame Maßnahmen vor. Berggravs Vermittlungspläne erhielten besonderen Auftrieb, als die Sowjetunion Anfang Oktober zu Verhandlungen einlud und zuerst an die baltischen Staaten und später auch an Finnland Gebietsforderungen stellte. Man war der Ansicht, daß bei dem anhaltenden Konflikt zwischen Deutschland und den Westmächten die skandinavischen Staaten an die Sowjetunion preisgegeben würden.

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Deshalb war das Bestreben zur Wiederherstellung des Friedens zwischen Deutschland und den Westmächten auch für die Sicherheit Skandinaviens bedeutsam. Berggravs Initiative fand bei den nordischen Kirchenführern und in gewissem Maße auch in politischen Kreisen Widerhall und führte im November 1939 zu einer in Oslo abgehaltenen Konferenz skandinavischer Kirchenführer. Diese Konferenz beschloß, ein Angebot zur Abhaltung von Beratungen einerseits zwischen Vertretern der nordischen Kirchen und Repräsentanten der Kirche Deutschlands sowie andererseits zwischen Vertretern der skandinavischen Kirchen und Repräsentanten der Kirchen Englands und Frankreichs zu machen. Es wurde beschlossen, das Verhandlungsangebot durch die Nationalkomitees der World-Alliance-Bewegung zu unterbreiten. Zugleich beschloß die Konferenz von Oslo, im Namen der Christenheit Skandinaviens ihren Gruß an die Christen der kriegführenden Länder zu senden. Die Friedensinitiative der nordischen Kirchen weckte wenigstens in gewissem Maße Neugier in den Ländern, an welche sie gerichtet war. Besonders in den Anfängen der Entwicklung zeigten sowohl das deutsche Außenministerium als auch das Kirchliche Außenamt gewisses Interesse an der Sache, und Konsistorialrat Eugen Gerstenmaier wurde aufgetragen, im September/Oktober Skandinavien zu bereisen, um sich mit der Haltung der dortigen Kirchen zu Friedensvermittlungsbemühungen vertraut zu machen. Hans Schönfeld, der Leiter der Forschungsabteilung des Ökumenischen Rates für Praktisches Christentum in Genf, folgte ihm. Der von Hitler später im Herbst gefaßte endgültige Beschluß über die Aufnahme von Kampfhandlungen mit den Westmächten bewirkte offensichtlich, daß die Haltung sowohl des Auswärtigen Amtes als auch des Kirchlichen Außenamtes im Verlauf des Herbstes höflich ablehnend wurde. Somit blieb der Plan über die Veranstaltung einer Konferenz zwischen Kirchenvertretern aus Deutschland und Skandinavien in dieser Situation eine Utopie. Wohl fand Berggrav späterhin im Januar und März 1940 auf seinen Deutschlandreisen Gelegenheit, mit dortigen Kirchenführern und Vertretern des Außenministeriums zusammenzukommen. Obgleich etliche von ihnen als Privatpersonen Interesse an den Friedensbemühungen zeigten, blieb die offizielle Haltung den Verhandlungen gegenüber höflich ablehnend. Bei den Kirchen des Westens fand das Angebot der skandinavischen Kirchen über eine mögliche Verhandlungskonferenz positive Aufnahme, obgleich die Haltung des Foreign Office von Anfang an zweifelnd war, als Berggrav seiner Angelegenheit wegen nach England kam. Im Januar 1940 konnte im holländischen Appeldoorn eine

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Konferenz abgehalten werden, an welcher neben den Vertretern sämtlicher nordischer Länder u. a. der Erzbischof von York, William Temple, Bischof George Bell von Chichester und der Präsident des protestantischen Kirchenbundes von Frankreich, Marc Boegner, teilnahmen. Obgleich die westlichen Kirchenführer im Bericht über diese Konferenz, der unverzüglich der Kirche Deutschlands zur Kenntnis gebracht wurde, recht große Friedfertigkeit Deutschland gegenüber an den Tag legten, waren die Ausgleichsbemühungen in dieser Situation zum Scheitern verurteilt. Der Krieg war ja damals bis an die Grenzen Skandinaviens vorgedrungen. Die Friedensaktion der skandinavischen Kirchen blieb allerdings der letzte, wenn auch zugleich unrealistische Versuch, eine Ausweitung des Krieges zu einem allgemeinen Weltbrand zu verhindern. Einen Beweggrund für die Friedensaktion bildete die Befürchtung, der Krieg würde auch auf das Territorium der skandinavischen Länder übergreifen. Diese Befürchtung erwies sich recht bald als berechtigt, als nämlich Finnland Ende November 1939 in den Krieg gegen die Sowjetunion geriet, nachdem es zuvor die Stützpunkts- und Gebietsforderungen der Sowjetunion abgelehnt hatte. Der Ausbruch dieses sogenannten Winterkrieges brachte die finnische Kirche naturgemäß in eine völlig neue Situation. Da es sich eindeutig um einen Verteidigungskrieg handelte, war es der Kirche leicht, den nationalen Zielen beizupflichten. Die Kirche Finnlands strengte denn auch alle ihre Kräfte an, die Kriegsbemühungen zu unterstützen und die geistige und moralische Festigkeit und Eintracht des Volkes zu bestärken. Aber der Ausbruch des finnischen Winterkrieges betraf auch indirekt die anderen Kirchen Skandinaviens. Uber ihren Versuch hinaus, die erwähnten Friedenssondierungen im Hinblick auf die Lage Finnlands auszubauen, beeilten sie sich, in verschiedener Weise ihrer Solidarität mit Finnland und seiner Kirche Ausdruck zu geben. Der Slogan „Finnlands Sache ist auch unsere Sache" wurde in den anderen skandinavischen Ländern und deren Kirchen recht landläufig. Als der Erzbischof der Kirche Finnlands, Erkki Kaila, gleich zu Beginn des Krieges einen öffentlichen Aufruf sowohl zur geistigen wie auch materiellen Hilfeleistung für Finnland an alle westlichen Kirchen richtete, zeitigte dieser starkes Echo vor allem bei den skandinavischen Kirchen. Besonders die von der Kirche Schwedens geleistete humanitäre Hilfe war recht beachtlich. Es wurde sogar von gewissen Kirchenführern anderer skandinavischer Länder versucht, die Regierung des eigenen Landes auch zur soldatischen Hilfeleistung an Finnland zu bewegen. Obgleich der finnische Winterkrieg allgemein gesehen die innere

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Solidarität der skandinavischen Kirchen festigte, trat in dieser Beziehung im Verlauf des Krieges auch ein Mißklang zutage. Einen Grund dafür bildete die Frage nach dem Vorhaben der Westmächte, militärische Einheiten durch Norwegen und Schweden zur Hilfe nach Finnland zu entsenden. Als auch manche norwegische und schwedische Kirchenführer sich dem Plan widersetzten in dem Bewußtsein, daß eine Intervention der Westmächte zu einer deutschen Invasion in Skandinavien führen würde, bewirkte dies Verbitterung bei den Finnen. Sie waren der Ansicht, hinter der Haltung der Kirchenmänner aus den anderen nordischen Ländern stecke der Wunsch, die eigene nationale Integrität abzusichern. Auch das Verhältnis der finnischen Kirche zur Kirche Deutschlands wurde im Verlauf des Winterkrieges merklich kühler. Da der Ribbentrop-Vertrag Deutschland und damit auch die Kirche in Deutschland band, sich aller Sympathiebekundungen Finnland und der finnischen Kirche gegenüber zu enthalten, führte das in Finnland und in anderen nordischen Ländern zu Verwunderung. Obgleich man vermutete, das Schweigen der Kirche Deutschlands sei auf die damalige offizielle Politik zurückzuführen, gab es doch Anlaß zu einer gewissen Verbitterung, daß bei aller Sympathiebekundung auch von Seiten entfernter Kirchen gerade die Mutterkirche der Reformation die Ereignisse in Finnland schweigend überging. In den Kreisen der finnischen Kirche selbst bewirkte der Winterkrieg neben vielen Leiden auch die Stärkung eines gewissen Selbstwertgefühls. Dieses rührte vor allem daher, daß der hoffnungslos scheinende Verteidigungskampf beim Volk eine starke religiöse Gesinnung hervorrief, die sogar zu religiösen Erweckungeii an der Front führte. So wurden die Beziehungen von Volk und Kirche enger. Die Kirche konnte ihrerseits spüren, wirklich Volkskirche zu sein, die den größten Teil des Volkes um sich scharte. Diese Erfahrung wurde besonders durch die Nivellierung politischer Gegensätze und durch die Erstarkung der Eintracht des Volkes bekräftigt, was in Kreisen der Volkskirche normalerweise für ein hohes Ideal gehalten wurde. Auf der anderen Seite wurde die Rolle der Kirche - in vielleicht negativer Weise - im Zusammenhang mit jener Kriegspropaganda hervorgekehrt, daß es sich um einen heiligen Krieg für Christentum und westliche Zivilisation gegen den antichristlichen Bolschewismus handele. Dieses Bild wurde besonders durch die von ausländischen Kirchen an Finnland gerichteten Sympathiebezeugungen bestärkt, in denen der Kampf Finnlands mit biblischen Symbolen als Kampf Davids gegen Goliath geschildert wurde.

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2. Die Phase nach der Besetzung Dänemarks und Norwegens Die Besetzung Dänemarks und Norwegens durch Deutschland im April 1940 bezeichnet den Anfang eines neuen politischen Zeitabschnitts in Skandinavien. Gleichzeitig damit, daß Dänemark und Norwegen ihre selbständige Entscheidungshoheit einbüßten (obgleich Dänemark seine innere Souveränität weitgehend erhalten konnte), gerieten die beiden anderen Staaten, nämlich Schweden und besonders Finnland, das sich ein wenig früher gerade dem Krieg hatte entziehen können, in geographische Isolation. Nach Abriegelung des Ostseekreises waren die beiden Länder deutlicher als zuvor den beiden Großmächten des Ostseeraumes, Deutschland und der Sowjetunion, ausgeliefert. Dieses Bild wurde durch die Besetzung der baltischen Länder durch die Sowjetunion im Sommer 1940 komplettiert. Für die skandinavischen Kirchen bedeutete die neue Lage vor allem, daß sie danach je ihren eigenen Weg gehen mußten. Der Kontakt zwischen den Kirchen erschwerte sich der Zensur und anderer Hindernisse wegen, und ihre geistliche Arbeit wurde entscheidend von den politischen Verhältnissen eines jeden Landes bestimmt. Deswegen ist es in diesem Stadium angebracht, jede der skandinavischen Kirchen f ü r sich zu betrachten. Die Kirche Dänemarks Bekanntlich bewahrte sich Dänemark dank seiner Politik der Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht lange Zeit seine innere Selbständigkeit, und im Sommer 1940 wurde eine Regierung auf breiter politischer Basis gebildet. Die Versuche der einheimischen Nationalsozialisten, eine Revolution herbeizuführen, wurden vereitelt. Infolgedessen vermochte auch die Kirche Dänemarks in den auf die Besetzung folgenden Jahren, bis 1943, ihre Tätigkeit recht ungestört fortzusetzen. Eine Einschränkung war natürlich, daß die Tätigkeit der Kirche sich nicht auf politisches Gebiet erstrecken durfte, vor allem nicht gegen die Besatzungsmacht. Auch die einheimische Regierung sah es in dieser Situation als ihre Aufgabe an, gegen die Besatzer gerichtete Meinungsäußerungen zum Schweigen zu bringen. Obwohl sich innerhalb der Kirche Dänemarks auch kritische Meinungen und oppositionelle Stimmungen der Besatzung gegenüber zeigten, war doch die allgemeine Haltung der Kirche zu dieser Zeit vorwiegend durch Loyalität oder kritische Loyalität geprägt. Immerhin bestand im Lande eine einheimische Regierung auf breiter Basis. Gleichzeitig entwickelte sich die Kirche auch zu einem nicht nur re-

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ligiös, sondern auch national, kulturell und teilweise auch politisch verbindenden Faktor, der Kontakte auch zu außerhalb seines normalen Gebietes liegenden Kreisen herstellte. Eines der konkreten Anzeichen davon war die im Sommer 1940 gegründete „Dänische Jugendzusammenarbeit" (Dansk Ungdomssamvirke), an der sich die Jugendorganisationen der Regierungsparteien, unpolitische Vereine und kirchliche Jugendorganisationen beteiligten. Eine führende Rolle in dieser Organisation spielte der Kirchenhistoriker Professor Hai Koch, durch dessen Einfluß der Verband außer nationaler und kultureller auch kritische politische Bedeutung erhielt. Eine wesentliche Änderung in der Haltung auch der dänischen Kirche brachten das allgemeine Erstarken der Widerstandsbewegung im Laufe des Jahres 1943 sowie die Auflösung der dänischen Regierung und das verstärkte Ubergehen der Regierungsgewalt an die Besatzungsmacht im August 1943. Obwohl der Wechsel der Regierungsmacht als solcher die Stellung der Kirche nicht berührt hatte, wurde das Vorgehen der Besatzungsmacht nun Gegenstand stärkerer Kritik als bisher. Anlaß zu einem eigentlichen Protest der Kirche wurde jedoch die Verhaftung und Massendeportation dänischer Juden im Herbst 1943. Unter Führung des Bischofs von Kopenhagen, Hans Fuglsang-Damgaard, protestierten die Bischöfe Dänemarks unverzüglich gegen die Massendeportation der Juden, und am 3. Oktober wurde der Appell der Bischöfe im Namen des dänischen und des christlichen Grundrechtes in allen Kirchen Dänemarks verlesen. Auch später, Anfang 1944, protestierten die Bischöfe der Kirche Dänemarks in einem gemeinsamen Hirtenbrief gegen die Gewalttaten, Verhaftungen und Morde - zum Beispiel an Kaj Münk - durch die Besatzungsmacht. - So rückte die Kirche immer deutlicher von einer loyalen Haltung in die Opposition. Die Proteste der Bischöfe Dänemarks bewirkten, daß die Kirche nunmehr als ein Glied in der Kette der erstarkenden Widerstandsbewegung angesehen wurde. So wurde später auch Bischof Hans 011gaard als Vertreter der Kirche in den sogenannten Freiheitsrat gewählt, der die Widerstandsbewegung leitete. Obwohl viele Kirchenglieder privat am politischen und bewaffneten Widerstand teilnahmen, beschränkte sich die Widerstandsarbeit der Kirche selbst hauptsächlich auf verbotene Informations-, Presse- und Hilfeleistungen. Zu einer breiteren geschlossenen kirchlichen Widerstandsorganisation gestaltete sich die 1943 gegründete „Inoffizielle Vereinigung der Geistlichen" (Praesternes uofficielle Forening), die einen Kirchenkampf nach dem Beispiel Norwegens zum Ziel hatte. Zu ihren zentralen Aufgaben entwickelten sich verschiedenartige Hilfeleistungen für fliehende Juden, die Anregung von Diskussionen über

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Rechtsfragen, Herstellung von Kontakten zu örtlichen Widerstandsorganisationen usw. Sie war natürlich auch ein Zeichen für die Ausbreitung der Widerstandsidee in kirchlichen Kreisen überhaupt. Die Kirche Norwegens Grundsätzlich anders als in Dänemark entwickelte sich nach der Besetzung die Situation in Norwegen, wo Vidkun Quisling, der Führer der Nationalsozialistischen Partei (Nasjonal Sämling), mit Unterstützung der Besetzer eine Schattenregierung bildete. Durch diktatorische Beschlüsse der Regierung Quisling sowie des von Hitler ernannten berüchtigten Reichskommissars Josef Terboven wurden unter anderem die übrigen Parteien Norwegens verboten, die regionale Selbstverwaltung aufgehoben, die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit eingeschränkt. Unter diesen politischen Bedingungen gestaltete sich naturgemäß auch die Stellung der Kirche Norwegens anders als beispielsweise in Dänemark, obwohl die Regierung Quisling auch nicht gerade eine Konfrontation mit der Kirche provozieren mochte. Auch die Führung der Kirche Norwegens ging nach der Besetzung davon aus, daß die Kirche sich den Besetzern gegenüber loyal verhalten müsse, solange diese die Gesetze des Landes achteten. Als jedoch die Regierung Quisling und der Reichskommissar bereits im Jahre 1940 mit Rechtsgrundsätzen in Konflikt kamen und der oberste Gerichtshof Norwegens sich dadurch veranlaßt sah zurückzutreten, gelangte auch die Kirche zu der Ansicht, daß sie nunmehr die Bevölkerung nicht mehr zum Gehorsam der Besatzungsmacht gegenüber anhalten könne. Anfang 1941 protestierten die Bischöfe Norwegens in einem an die Geistlichkeit gerichteten Hirtenbrief, der auch in den Kirchen verlesen wurde, gegen offene Rechtsbrüche. Diese offene Stellungnahme der Kirche zur Verteidigung der Rechte und des Rechtsbewußtseins der Bevölkerung war von entscheidender Bedeutung für die Natur des norwegischen Kirchenkampfes. Sie führte zu einer Verbundenheit zwischen Kirche und Volk und ließ klar werden, daß die Kirche für die Rechte des Volkes einzutreten gedachte. Die Kirchenleitung wiederum ging von einer im Glauben begründeten naturrechtlichen Auffassung aus, nach der Gott die Quelle allen Rechtes ist und jede Gesellschaftsordnung sich dem Recht dieses Souveräns zu unterwerfen hat. Auf dieser Grundlage protestierten die Bischöfe Norwegens später zum Beispiel gegen Verfügungen der Regierung, welche auf die Gründung einer Jugendorganisation und -erziehung nach dem Muster der Hitler-Jugend abzielten. Besonders stark protestierte die Kirche gegen die Verhaf-

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tung von Juden im Herbst 1942. In einem im November 1942 erlassenen Protestschreiben stellte die norwegische Kirchenleitung fest, daß die Regierung im Gegensatz zum Worte Gottes stünde, wenn sie den Juden die Menschenrechte verweigere. Neben der Verteidigung der Rechte des Volkes und der rechtsstaatlichen Grundsätze hatte die Kirche Norwegens auch um die Stellung der Kirche selbst und ihre Selbständigkeit als Glaubensgemeinschaft zu kämpfen. Dieser Streit konzentrierte sich auf die Frage, ob die Regierung und ihr Kirchenministerium auch in das Innenleben der Kirche eingreifen könnten, beispielsweise in Fragen, die den Gottesdienst betreffen. Die Bischöfe der Kirche Norwegens waren der Ansicht, daß in allen das geistliche Leben betreffenden Fragen die Kirche von den -Bischöfen vertreten werde und nicht durch das Kirchenministerium, das für Fragen der Kirchenverwaltung zuständig sei. Die schon Ende 1941 aufgetretenen Meinungsverschiedenheiten zwischen der Kirchenleitung und der Regierung gipfelten im Februar 1942 in der Entlassung des Dompropstes von Trondheim, Arne Fjellbu. Dieses Ereignis verschärfte die Beziehungen zwischen Kirche und Regierungsgewalt endgültig. Die Bischöfe der Kirche Norwegens sahen das Vorgehen der Regierung als eine Verletzung der inneren Organisation der Kirche an und beschlossen, aus Protest um die Entlassung von ihrem staatlichen Amte zu bitten. Dagegen erklärten sie, an ihrem kirchlichen Amte, das auf der Ordination beruhe, festzuhalten. Die Regierung antwortete auf den Beschluß der Bischöfe damit, sie bis auf weiteres an ihrer Amtserfüllung zu hindern, und traf Maßnahmen, die Stellen der Kirchenleitung mit Geistlichen zu besetzen, die ihr ergeben waren. Der Großteil der Geistlichen zeigte sich jedoch solidarisch mit ihren Bischöfen und Schloß sich der am Ostersonntag 1942 im Gottesdienst verlesenen kirchlichen Erklärung „Grundlage der Kirche" (Kirkens Grunn) an. Gleichzeitig erklärten die Geistlichen, dem Beispiele ihrer Bischöfe folgend, aus Gewissensgründen ihre Ämter niederzulegen, aber ihren Dienst an der Gemeinde als Nichtbeamtete fortzusetzen. Bis Ende 1942 schlossen sich volle 92 Prozent der norwegischen Geistlichkeit dieser Entscheidung an. Dieses umfangreiche Ausscheiden der Geistlichkeit aus ihren öffentlichen Ämtern lähmte naturgemäß die Verwaltung der regierungsgeführten Kirche. Indem die Geistlichkeit auch unter Verzicht auf ihre Beamtenstellung weiterhin im Gemeindedienst verblieb, entwickelte sich die Kirche Norwegens zu einer autonomen Volkskirche, zu deren Führung eine „Vorläufige Kirchenleitung" (Den Midlertidige Kirkeledelse) gebildet wurde. Eine Art bekennende Grund-

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läge war die im Frühjahr 1942 erlassene theologisch-kirchliche Erklärung „Grundlage der Kirche". Obwohl die herausragenden Führer der Vorläufigen Kirchenleitung, Eivind Berggrav und Ole Hallesby, in der Folgezeit verhaftet wurden und Berggrav lange Zeit unter Hausarrest stand, konnte dies die Arbeit der autonomen Kirche nicht unterbinden. Die Vorläufige Leitung setzte ihre Arbeit im Untergrund fort, und die Geistlichkeit wirkte trotz allen Druckes von Seiten der Regierungsgewalt weiter bis zum Ende der Besatzungszeit. Der norwegische Kirchenkampf und die Bildung der autonomen Volkskirche enthielt weitgehend ähnliche Züge wie der Kirchenkampf in Deutschland und die Entstehung der Bekennenden Kirche. Die Einflüsse waren auch offenkundig. Aber die politische Situation in Norwegen und auch die eigene innere Tradition der Kirche Norwegens bewirkten, daß die autonome Volkskirche die ziemlich ungeteilte Unterstützung der Geistlichkeit wie des Volkes genoß. Die Kirche Finnlands Der Weg der Kirche Finnlands unterschied sich in diesem Zeitraum ziemlich grundlegend von dem der oben erwähnten Kirchen. Die Besetzung Dänemarks und Norwegens im Frühjahr 1940 löste in Finnland die recht starke Befürchtung aus, daß das Land durch die Abriegelung des Ostseeraumes der Gnade des kürzlichen Feindes, der Sowjetunion, ausgeliefert sein würde. Die Folge war, daß Finnland begann, in seiner Verzweiflung die Unterstützung Deutschlands zu suchen. Als die Sowjetunion die baltischen Länder besetzte, war dies dazu angetan, diese Hilfesuche bei Deutschland noch zu stimulieren. Das betraf auch die Kirche Finnlands, in deren Kreisen damals große Furcht vor der kommunistischen Sowjetunion herrschte. Als Deutschland im Spätsommer 1940 seine Finnlandpolitik änderte und sich politisch wie militärisch an Finnland interessiert zeigte, spiegelte sich das unverzüglich auch in den kirchlichen Beziehungen wider. Das sichtbarste Anzeichen davon war der zweiwöchentliche Besuch des Auslandsbischofs Theodor Heckel in Finnland im November 1940 und die damit zusammenhängende Gründung der Luther-Agricola-Gesellschaft. Obwohl diese Gesellschaft lediglich die Aufgabe einer gemeinschaftlichen Erforschung der Reformationszeit und andere Zusammenarbeit verfolgte, symbolisierte sie in Wirklichkeit die politische und kirchliche Annäherung Finnlands und Deutschlands. Den Finnen war der Ausbau der Zusammenarbeit ein willkommenes Anzeichen eines deutschen Schutzes

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vor der Bedrohung durch die Sowjetunion. Heckel fand darin seinerseits eine willkommene Öffnung seiner Kirche nach außen inmitten ihrer eigenen Schwierigkeiten. Bereits im Winter 1941 führte diese Zusammenarbeit unter anderem zum Beginn eines Stipendiatenaustausches und zu kirchlichen Besuchen. Die schmerzlichen Verluste, die Finnland durch den Winterkrieg erlitten hatte, und die Furcht vor der Sowjetunion waren schließlich auch die Ursache dafür, daß die Kirche Finnlands weitgehend bereit war, den Gedanken der Waffenbrüderschaft zu akzeptieren, als die militärische Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Finnland im Frühjahr 1941 endgültig Gestalt annahm. Die meisten finnischen Geistlichen waren zu dieser Zeit bereit, sowohl die schlechten Erinnerungen an die Zeit des Winterkrieges als auch ihre früheren Vorbehalte gegen die nationalsozialistische Kirchenpolitik zu vergessen. So groß war die Furcht, die man vor dem Feinde der jüngst vergangenen Zeit empfand, und das Bedürfnis nach einer Wiedergutmachung des als Unrecht empfundenen Endergebnisses des Winterkrieges. Als im Sommer 1941 das Unternehmen „Barbarossa" - der Krieg Deutschlands mit der Sowjetunion - begann, waren die finnischen Geistlichen allgemein bereit, es gutzuheißen und auch teilweise die propagandistische Auffassung von dem Kriege als „Kreuzzug gegen den atheistischen Bolschewismus" zu übernehmen. Natürlich zeigte sich die ganze Zeit hindurch auch ein verborgenes Mißtrauen gegen die Zusammenarbeit mit Hitlers Diktatur und der Versuch, daher die Führung eines eigenen Sonderkrieges hervorzuheben. Diese Anschauungen verstärkten sich jedoch erst in den Jahren 1942-1943. Zur Stärkung der kritischen Einstellung trugen zu dieser Zeit außer dem allgemeinen Kriegsverlauf auch das Bekanntwerden des norwegischen Kirchenkampfes und der bedrückten Stellung der Kirche in Deutschland selbst bei. Deutschland war bis dahin für die Finnen letztlich immer das Deutschland Luthers gewesen, und die Sympathie gegen das Land währte so lange, wie diese Identifikation noch möglich erschien. Die Nachrichten über den Kirchenkampf in Norwegen kamen nach Finnland hauptsächlich durch Vermittlung der Kirche und Presse Schwedens, und trotz der Zensur fanden sie auch in gewissem Umfang Raum in den Spalten der kirchlichen Presse Finnlands. Finnische Geistliche, die sich in Deutschland aufhielten, erfuhren wiederum von den Amtsbrüdern der Bekennenden Kirche die Wahrheit über die wirkliche Haltung der nationalsozialistischen Regierung gegenüber der Kirche. Ebenso mußten die Finnen auch sehen, wie die Bemühungen Bischof Heckeis um eine Zusammenarbeit mit der Kirche Finnlands erschwert wurden, obwohl das deutsche Außenmini-

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sterium sie ihres Propagandawertes halber nicht völlig unterbinden konnte. Diese Erkenntnisse erschütterten das Vertrauen der finnischen Geistlichen in die ideologischen Ziele der Waffenbrüderschaft und des Krieges. Aus nationalen Gründen enthielt sich die Kirchenleitung aber zum Beispiel öffentlicher Proteste wegen des norwegischen Kirchenkampfes, es entstand auch keine kirchliche Oppositionsbewegung. Im Gegenteil, die Kirche zeigte den Maßnahmen der eigenen Regierung gegenüber sogar eine überbetonte Solidarität noch im Endstadium des Krieges und versuchte durch eigene Handlungen die nationale Einmütigkeit und Moral zu stärken. Dagegen begann die Kirche Finnlands in den letzten Jahren des Krieges, sich wieder nach Skandinavien auszurichten und Verbindung besonders mit der Kirche Schwedens zu suchen. Die starke Selbstidentifizierung der Kirche Finnlands mit den nationalen Zielen des Krieges und ihre aktive Anteilnahme an den Kriegshandlungen an der Front wie an der Heimatfront brachte sie andererseits dem Volke näher. Besonders die Feldgeistlichkeit an der Front kamen auch mit Personenkreisen in Berührung, die früher der Kirche entfremdet waren, und sah sich veranlaßt, ihre besondere Aufmerksamkeit unter anderem auch auf soziale Probleme zu richten. Daraus entstand in den Kreisen der finnischen Kirche ein gewisses neuvolkskirchliches Aktionsideal mit charakteristischen Zügen wie intensives Suchen nach Kontakten mit verschiedenen Bevölkerungsschichten wie z.B. zur Arbeiterschaft, Betonung sozialer Verantwortlichkeit und ein Zunehmen im Anteil der Laien an der Verwaltung und Arbeit der Kirche. Obwohl die betont nationale Haltung der Kirche in der Kriegszeit auch Kritik hervorrief, wurde die neue volkskirchliche Akzentuierung in den Nachkriegs jähren fast einhellig gutgeheißen. Die Kirche Schwedens Schweden blieb als einziger nordischer Staat von direkten Kriegshandlungen verschont. Die Abriegelung des Ostseeraumes im Frühjahr 1940 bedeutete jedoch eine verstärkte Bedrohung auch für Schweden und zwang es, sich jeglicher die Interessen Deutschlands verletzenden Handlungen zu enthalten. Die Erhaltung der staatlichen Neutralität Schwedens garantierte auch der Kirche des Landes eine selbständige und unabhängige Tätigkeit die ganzen Kriegsjahre hindurch. Als Beispiel für die Unabhängigkeit der schwedischen Kirche mag die Tatsache dienen, daß sie unter Erzbischof Erling Eidems Führung Bischof Heckeis Angebot einer Zusammenarbeit zwischen dem Kirchlichen Außenamt und

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dem Nordischen Ökumenischen Institut ablehnte, jene Zusammenarbeit, die die Kirche Finnlands kurz darauf guthieß. So konnten auch die kirchlichen Zeitungen Schwedens wie zum Beispiel die gemeinsame nordische Zeitschrift „Kristen Gemenskap" die Kriegsjahre hindurch Darstellungen des deutschen Kirchenkampfes bringen, die in den übrigen nordischen Ländern wegen Zensur und anderer Hindernisse kaum erwähnt werden konnten. Auch konnten die schwedischen Theologen in ihren Forschungen aktuelle Erscheinungen kritisch beleuchten, deren Untersuchung in den übrigen nordischen Ländern nicht möglich war. Als Kirche eines neutralen und im nordischen Bereiche zentral gelegenen Landes erwuchs der Kirche Schwedens die natürliche Aufgabe, die Vorgänge in den Kirchen der Nachbarländer zu beobachten. So unterstützte sie weitgehend vorbehaltlos den Kampf der Kirche Norwegens. Die Kirche Schwedens schenkte beispielsweise dem Protest der norwegischen Kirche gegen die Judenverfolgungen im Herbst 1942 große Aufmerksamkeit, und die Bischöfe Schwedens ließen in allen Kirchen eine eigene Erklärung zu der gleichen Frage verlesen. Auch der aus gleichem Grund erfolgte Protest der Bischöfe Dänemarks in folgenden Jahr fand starke Beachtung. Die Verschärfung des Kirchenkampfes in Norwegen und die Verhaftung Berggravs bildeten ebenso einen ständigen Anlaß zu Protesten von Seiten der schwedischen Kirche. Einige schwedische Geistliche versuchten sogar ihre finnischen Amtsbrüder zu öffentlichen Protesten gegen die Unterdrückung der Kirche Norwegens zu veranlassen. Die Haltung der schwedischen Kirche der Kirche Finnlands gegenüber gestaltete sich in diesem Zeitabschnitt in gewissem Maße kompliziert. Die Leitung der Kirche Schwedens und weite kirchliche Kreise zeigten anfangs weitgehend Verständnis für die finnische Beteiligung am Kriege an der Seite Deutschlands im Lichte der durch den Winterkrieg geschaffenen Hintergründe, und die Kirche Schwedens setzte auch ihre humanitären Hilfeleistungen fort. Aber insbesondere wegen der Ereignisse in Norwegen erwies sich die finnische Kriegsteilnahme auf der Seite eines nationalsozialistischen Deutschlands und die Beziehungen der Kirche Finnlands zu dem von Heckel geleiteten Kirchlichen Außenamt als problematisch für die Kirche Schwedens und entfremdete sie in großem Maße von der finnischen Kirche. Die Sache Finnlands war nicht mehr im gleichen Maße die „eigene Sache" der Kirche Schwedens wie in den Tagen des Winterkrieges, obwohl man dennoch bis zuletzt die Kirche Finnlands stützen wollte. Die Kirche Schwedens wuchs ihrer Lage wegen im Verlaufe des Krieges weitgehend in die Rolle des Vermittlers, Unterstützers und

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Helfers hinein. Gleichzeitig wie die Kirchen der Nachbarländer durch ihre Vermittlung Informationen aus verschiedenen Richtungen beziehen konnten, geriet sie selber in die Lage, zugunsten ihrer Nachbarn in weitem Umfang humanitäre Hilfeleistungen zu organisieren. Vor allem in den letzten Kriegsjahren bildeten Schweden und seine Kirche einen Zufluchtsort f ü r jüdische und andere Flüchtlingsgruppen. Das gerade an der Schwelle des Krieges gegründete Nordische Ökumenische Institut spielte eine eigene Rolle f ü r die zwischenkirchlichen Beziehungen in den nordischen Ländern. Die Neutralitätspolitik Schwedens in den Kriegsjahren fand verständlicherweise auch die Unterstützung der Kirche. Aus diesem Grund hat die Kriegszeit keinen Druck veranlaßt, der eine Veränderung der Beziehungen zwischen Kirche und Staat gebracht hätte. Stattdessen wurde dieser Tatsache sowie dem Problem des totalitären Staates in den damaligen Schriften schwedischer Theologen weite Aufmerksamkeit zuteil.

3. Die allgemeine Wirkung des Krieges aufdie nordischen Kirchen Bei der Untersuchung der allgemeinen Auswirkungen des Krieges auf die Kirchen Skandinaviens ist es wohl als ein erstes angebracht festzustellen, daß jener Zeitraum in gewissem Maße die Kirchen voneinander entfernt hat. Obgleich die nordischen Kirchen die ganze Zeit über danach trachteten, gegenseitige Solidarität zu bezeigen, ließ das Driften der Kirchen in verschiedene Lager und die Hervorkehrung nationaler Aspekte gewisse Spannungen zwischen ihnen aufkommen. Beispielsweise war es den Norwegern zeitweilig schwer verständlich, daß die Kirche Finnlands zu der Waffenbruderschaft mit gerade jener Staatsmacht stand, gegen die sie selbst in gewisser Weise zu kämpfen hatten. Desgleichen erwartete die Kirche Norwegens für ihren eigenen Kampf von der Kirche Schwedens noch konkretere Unterstützung, als die Kirche Finnlands während des finnischen Winterkrieges erwartet hatte. Wie bereits gezeigt, trat auch zwischen den Kirchen Schwedens und Finnlands im Verlauf des Krieges eine gewisse Entfremdung zutage. Somit stellten die Verschiedenartigkeit der Umstände und die damit verbundenen nationalen Aspekte jenes Ideal der Einheit unter den Kirchen Skandinaviens auf die Probe, an welches im Verlauf des Krieges appelliert worden war. Gleichzeitig damit, daß die ambivalenten Beziehungen zwischen den Kirchen Disharmonien aufwiesen, trat auf der anderen Seite in der vom Krieg geschaffenen Lage das Verständnis und die Zusam-

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mengehörigkeit zwischen Kirche und Volk vermehrt zutage. Dieser Zug zeigte sich besonders deutlich in jenen Ländern - nämlich in Finnland und Norwegen - welche die schwersten Heimsuchungen zu bestehen hatten. So erfuhr die Kirche Norwegens in ihrem Kampf in recht hohem Maße die bedingungslose Unterstützung des Volkes, und die in jenem Kampf entstandene „freie Volkskirche" fußte statt auf der Regierungsgewalt auf dem Volk. Die aktive Teilnahme am nationalen Kampf ließ ihrerseits in der Kirche Finnlands neue volkskirchliche Strömungen und Ideale aufkommen. Die gleichen Züge wie in Norwegen und Finnland traten auch in der Kirche Dänemarks ans Licht. Die Annäherung an das Volk bedeutete zugleich auch die Schaffung von Verbindungen zu verschiedenen Bevölkerungsgruppen und zu solchen Kreisen, die zuvor abseits der Kirche standen, und ließen so die Bedeutung der Volkskirche allgemein erstarken. Drittens zeigten sich die Auswirkungen des Krieges in der Erweiterung des Wirkungskreises der Kirche. Neben den traditionellen Arbeitsformen mußten die Kirchen schon der Umstände halber den verschiedenen Formen der sozialen Hilfeleistung mehr Aufmerksamkeit als zuvor schenken. Die Schaffung von Beziehungen zu den verschiedenen Volksschichten und die hinsichtlich des Stellenwertes der Kirche aufgetretenen Veränderungen bedingten auch einen Wandel der Aufgabenbereiche. So ließen die Hilfeleistung an die Nachbarkirchen und die Unterstützungsarbeit bei der Kirche Schwedens das Bedürfnis nach verschiedenen sozialen Betätigungsformen entstehen. Ein gleiches traf für die Kirche Finnlands zu, wo die Kriegsumstände geradezu danach verlangten, der sozialen Betätigung sowohl an der Front als auch in der Heimat mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Daß sich die „freie Volkskirche" Norwegens herausbilden konnte, setzte seinerseits neue, auf der freiwilligen Aktivität der Gemeindeglieder beruhende Unterstützungsaufgaben und ähnliches voraus. Und die Kirche Dänemarks schuf besonders auf dem Feld der Jugendarbeit neue Arbeitsbereiche. Viertens ließen die Kriegsjahre das Problem des Verhältnisses von Kirche und Staat und die Frage nach den Grenzen staatlicher Macht aufkommen. Die Frage nach der Selbständigkeit der Kirche und ihrer Beziehung zum Staat wurde in Norwegen am brennendsten, wo die Einmischung des Staates in die inneren Angelegenheiten der Kirche zu der Herausbildung der „freien Volkskirche" führte. Auch in Dänemark kam die Frage nach der Loyalität der Kirche gegenüber der Obrigkeit im Zusammenhang mit der Absetzung der nationalen Regierung auf. In Schweden wiederum führte das Problem von Kirche und Staat sowie die Frage nach dem Charakter des totalitären

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Staates vor allem aufgrund der aktuellen Anregungen aus dem Kirchenkampf in Norwegen und in Deutschland zu regen theoretischen # Diskussionen. Unter anderem richteten die damals führenden Theologen Schwedens, Gustaf Aulén und Anders Nygren, in ihren Untersuchungen ihr Augenmerk auf diesen Komplex. Eine Ausnahme bildete Finnland. D a sich die Kirche Finnlands nachdrücklich mit den Kriegszielen der Regierung identifizierte, wurde die Frage des Verhältnisses von Kirche und Staat nicht als problematisch empfunden. Fünftens ließ die Situation des Krieges das Bedürfnis nach Entwicklung und Zentralisierung der kirchlichen Selbstverwaltung aufkommen. Dieses stand teilweise mit der Zuspitzung des Verhältnisses von Kirche und Staat in Beziehung. Gerade dieser letzte Grund führte in Norwegen zur Bildung einer völlig neuen kirchlichen Zentralleitung, der Vorläufigen Kirchenleitung. Auch in der Kirche Finnlands entstand gegen Kriegsende die Ansicht, die Kirche brauche ihrer vielen zunehmenden Aufgaben wegen neben der bischöflichen Leitung ein zentralisiertes verwaltungsmäßiges Leitungsorgan. Ebenfalls setzte die neue Volkskirchenanschauung ein Leitungsorgan voraus, an dem auch Laien beteiligt sein sollten. Eine gewisse Zentralisierung der kirchlichen Leitung trat auch in anderen skandinavischen Ländern u. a. darin zutage, daß die Bischöfe sich in Abweichung vom früheren Brauch auf gemeinsame Hirtenbriefe und Kundgebungen verlegen mußten. Aufs Ganze gesehen läßt sich wohl sagen, daß die Kriegszeit eine allgemeine Erstarkung der Bedeutung der skandinavischen Volkskirchen gebracht hat. Zum Teil ist diese Zunahme wohl auf die durch den Krieg aktualisierte religiöse und ethische Problematik zurückzuführen. Inmitten dieser Problematik wurde die Kirche als noch notwendiger als zuvor empfunden. Aber zum Teil kam jene Zunahme auch daher, daß die Kirchen in der Krisensituation zu zeigen vermochten, daß sie wahrhafte Volkskirchen in des Wortes weitläufiger Bedeutung sind.

KURT NOWAK

Kirche und Widerstand gegen den Nationalsozialismus 1933-1945 in Deutschland Erwägungen zu einem Forschungsproblem der kirchlichen Zeitgeschichtsschreibung unter besonderer Berücksichtigung des Luthertums 1.

Noch immer sind mancherlei sachliche und psychologische Barrieren vorhanden, die einen allseitigen historisch-objektiven Zugang zum deutschen Protestantismus in den Jahren des „Dritten Reiches" erschweren. Wir wissen um die Schuld der Kirche während der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft. Diese Einsicht läßt uns zögern, von Widerstand zu sprechen und eine historische Widerstandsforschung für möglich zu halten, wie sie für andere Bereiche längst gang und gäbe ist. Manchem mag das Projekt einer Widerstandsforschung sogar als verfehlt erscheinen, was, nebenher gesagt, für eine eventuell doch weiterreichende Rezeption des Stuttgarter Schuldbekenntnisses sprechen könnte, als vielfach angenommen wird. Sollte der deutsche Protestantismus, von rühmlichen Einzelfällen abgesehen, tatsächlich nur der negativen Kontinuitätslinie der deutschen Geschichte 1 zuzuordnen sein? Sollte dies vor allem auch auf den lutherischen Protestantismus zutreffen, von dem es 1980 im Informationsdienst des Lutherischen Weltbundes hieß, er sei in den Jahren der NS-Diktatur „widerstandsunfähig" gewesen? 2 Den nach1

Als prinzipielle methodische Anfrage an die negative Kontinuitätsthese T H O M A S 1933 und die Kontinuität der deutschen Geschichte. In: HZ 227, 1978, S. 86-111. 1 UW-INFORMATION. Pressedienst des Lutherischen Weltbundes (Genf) vom 16.4. 1980. Zitiert wird Pfr. Dietrich Kuessner (Offleben bei Helmstedt): „Da das Luthertum den Staat als Einrichtung Gottes verstehe, der notfalls mit Gewalt Ordnung auf der Welt herzustellen habe und dem der Christ Gehorsam schuldig sei, sei die lutherische Kirche im norddeutschen Raum zur Zeit des Nationalsozialismus widerstandsunfähig' gewesen". NIPPERDEY:

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folgenden Ausführungen liegt die These zugrunde, daß trotz erheblicher Defizite im Widerstandshandeln von Kirchen und Christen sich dennoch über die ganze Breite der Kirche hinweg Aktivitäten und Konstellationen aufweisen lassen, die von unserem gängigen historischen Urteil abweichen. Wir werden die These zu verifizieren versuchen, indem wir ganz bewußt bei der problematischsten Konfessionsgruppe im deutschen Protestantismus ansetzen, dem Luthertum. Wir tun dies nicht in dem Bestreben, ein an gewiß nicht wenigen Stellen „braunes" Luthertum apologetisch umzufärben (dazu ist das Widerstandsthema entschieden zu ernst!), vielmehr in der Erwägung, unsere These dort erproben zu sollen, wo es am schwierigsten scheint. Vorab noch einige Bemerkungen zur Forschungslage, wie sie sich unserer Bewertung darbietet, um auch von daher die Notwendigkeit einer systematischen Erforschung des Widerstands im deutschen Protestantismus zu unterstreichen. Das Verhältnis der Kirchenkampfforschung zum Thema Widerstand mutet bis auf den heutigen Tag eher sporadisch an. Wahrscheinlich liegt ein Grund für diese an vielen einzelnen Punkten wie im ganzen aporetische Situation darin, daß die Themen Politik, politisches Mandat der Kirche und politischer Widerstand es generell schwer hatten, in die Optik der Kirchenkampfgeschichtsschreibung einzurücken 3 . Wo das politische Widerstandsthema nach 1945 abgehandelt wurde, geschah es zumeist im Betrachtungszirkel theologisch-ethischer und widerstandsrechtlicher Fragestellungen *. Die historische Dimension von Widerstand als ein Prozeßgeschehen innerhalb der historischen Entwicklung des „Dritten Reiches" blieb dabei oftmals unberücksichtigt. Einen stark beachteten Impuls, das politische Thema auf die Tagesordnung zu setzen, brachte der Aufsatz 3

Im übrigen begegnet man hier merkwürdigen Inkonsequenzen. Einerseits begegnete in der Nachkriegszeit der Selbsterweis des deutschen Bekenntnisprotestantismus als politische Widerstandsbewegung im Sinne alliierten Selbstverständnisses, was auch historiographisch zu Buche schlug. Andererseits wurden strikte Abgrenzungen zwischen kirchlichem und politischem Widerstand vorgenommen. Paradigmatisch BERNHARD HEINRICH FORCK: Und folget ihrem Glauben nach. Gedenkbuch für die Blutzeugen der Bekennenden Kirche. Stuttgart 1949, S. 7. Vgl. auch ERNST WOLF: Kirche im Widerstand? Protestantische Opposition in der Klammer der Zweireichelehre. München 1965, S. 33, 38. 4 Vgl. nur die einschlägigen Artikel zum Stichwort Widerstandsrecht in den lexikalischen Standardwerken: R G G 5 , V I , Sp. 1 6 8 1 - 1 6 9 2 (E. WOLF); EV. Staatslexikon 1 9 7 5 2 ; Sp. 2 8 8 1 - 2 8 8 4 (E. GERSTENMAIER); E K L III, Sp. 1 8 0 3 - 1 8 0 9 (E. FAHLBUSCH). -

Primär ethisch-theologisch und widerstandsrechtlich orientiert blieb in jüngster Zeit auch noch MAX GEIGER: Kirche, Staat, Widerstand. Historische Durchgänge und aktuelle Standortbestimmung (Theologische Studien. 124). Zürich 1978.

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E. Bethges 5 und die u. W. erstmals von Bethge konsequent durchgeführte Unterscheidung zwischen kirchlichem Widerstand als Politicum und direkt politischem Handeln von Kirchen und Christen. Bethge richtete sein Augenmerk vornehmlich auf das Versagen der Kirche. Nach den von Bethge mit großer Betroffenheit benannten Defiziten steht das politisch-humanitäre Thema endgültig an. Neben dem notwendigen und unverzichtbaren Aufweis der Defizite geht es allerdings auch darum, bislang unterschätzte oder noch gar nicht erforschte Widerstandslinien festzuhalten, um so unser historisches Bild zu ergänzen, eventuell auch zu modifizieren. Dabei wird neu zu prüfen, zu differenzieren, nach Bedingungen und Zusammenhängen zu forschen sein, um einerseits noch tiefer in die historische Situation der deutschen Gesellschaft 1933-1945 einzudringen, andererseits das protestantische Widerstandspotential genauer als bisher zu bestimmen. So darf z. B. die Kontinuitätsproblematik nicht a priori in einen Schatten getaucht werden, in dem alle Katzen grau sind. Diese Sicht mündet allzu schnell in den rigoristischen Positionen eines nachwirkenden Vansittartismus und kommt am Ende bei Tacitushypothesen an, die von der Forschung längst als unfruchtbar erkannt worden sind. Als Aufforderung zu einer möglichst differenzierten und breitflächig angelegten Widerstandsforschung mag auch die Erkenntnis verstanden werden, „daß der Widerstand in seinem vollen Umfang vom nonkonformistischen Protest bis zum aktiven Widerstand doch in breitere Schichten reicht, als bisher angenommen wurde" 6 . Hinweise auf die Breite einer nonkonformistischen Haltung fanden sich 1957 schon bei Vollmer 7 . Es bedurfte jedoch erst noch einer länge-

5 EBERHARD BETHGE: Vom Selbstverständnis der Bekennenden Kirche und seinen Auswirkungen in der Gegenwart. In: Brüderliche Kirche - menschliche Welt. Festschrift für Albrecht Schönherr. Berlin 1971, S. 33-53. Es handelt sich um eine Rückübersetzung der englischen Fassung in: F. H. Littell/H.G. Locke (Hg.): The German Church Struggle and the Holocaust. Detroit 1974. Weitere Drucke in: WuPKG 60, 1971, S. 149-171; Stimme der Gemeinde vom 15.12. 1972, S. 387-392 und bei E. BETHGE: Am gegebenen Ort. Aufsätze und Reden. München 1979, S. 103-116. 6 GER VON ROON: Widerstand im Dritten Reich. Ein Überblick. München 1979,

S. 9. 7 BERNHARD VOLLMER: Volksopposition im Polizeistaat. Gestapo- und Regierungsberichte 1934—1936 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte. 2) Stuttgart 1957, S. 7 f. In einer relativ frühen Phase machte auch KURT KLOTZBACH: Gegen den Nationalsozialismus. Widerstand und Verfolgung in Dortmund 1930-1945. Eine historisch-politische Studie (Schriftenreihe des Forschungsinstituts der Friedrich-EbertStiftung. Β: Historisch-politische Schriften). Hannover 1969, S. 9-16 auf entscheidende Perspektiwerkürzungen in der Widerstandsforschung aufmerksam. - Die in der bürgerlichen Widerstandsforschung allzu einseitige Bevorzugung der Gruppie-

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ren Phase der allgemeinen Widerstandsforschung, bis derartige Einsichten methodisch fruchtbar gemacht wurden und auch forschungsorganisatorische Konsequenzen nach sich zogen 8 . Die Hinweise auf die nationalkonservativen und nationalistischen Bindungen des deutschen Protestantismus haben kaum die Frage aufkommen lassen, ob nicht manche dieser mit Recht zu kritisierenden Leitbilder, die nach 1918 noch ungebrochen weiterlebten, unter der historischen Konstellation des NS-Systems plötzlich eine ganz andere Bedeutung gewannen und widerständige Kraft und Funktionalität besaßen - analog etwa den konservativ motivierten Widerstandsgruppierungen im Umfeld des 20. Juli 1944, aber auch anderwärts. Anderen politisch-gesellschaftlichen Leitbildern, beispielsweise im Liberalismus oder im religiösen Sozialismus, wohnte diese widerständige Qualität ohnehin inne. Eine andere Frage ist, inwieweit derartige Leitbilder die Fähigkeit entbanden, den Sprung aus der Dissensus-Qualität in die Qualität politischer Widerstand zu vollziehen. Hier wird mit vielfältigen Hemmnissen theologischer und nichttheologischer Art zu rechnen sein. Es wären aber gerade bei jenen Leitbildern, die sich zunächst nur geringfügig einer Deckungsungleichheit mit den scheinbaren oder tatsächlichen Leitbildern des Nationalsozialismus bewußt waren, die Stadien von Akklamation, Ernüchterung, Enttäuschung, Nonkonformismus bis hin zu etwaigem Widerstand um so sorgsamer zu untersuchen. Für eine differenzierte Betrachtung dieser Probleme ist der Widerstandsbegriff der älteren Forschung ungeeignet. Dieser war gekennzeichnet durch einen moralisch-ethischen Impetus („Aufstand des Gewissens"), durch Normativität und Einheitlichkeit, was den rungen des 20. Juli geht auch aus der Arbeit von REGINE BÜCHEL: Der deutsche Widerstand im Spiegel von Fachliteratur und Publizistik seit 1945 (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte. Weltkriegsbücherei Stuttgart NF 15). München 1975 hervor. Problemorientierte Forschungsberichte, die auf eine Extension der bisherigen Widerstandsforschung drängen, bieten GÜNTER PLUM: Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus als Gegenstand der zeitgeschichtlichen Forschung in Deutschland. In: Stand und Problem der Erforschung des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus. Studien und Berichte aus dem Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung. Bad Godesberg 1965, S. 20-38; REINHARD MANN: Widerstand gegen den Nationalsozialismus. In: NPL 22, 1977, S. 425-442. - Zur Materiallage RUDI GOGUEL: Antifaschistischer Widerstandskampf. Bibliographie. Berlin 1975. ' Dazu R. MANN (Anm. 7), S. 426f., 438. Wichtig in diesem Zusammenhang sind auch MARTIN BROSZAT/ELKE FRÖHLICH/FALK WIESEMANN (Hg.): Bayern in der NSZeit. Soziale Lage und politisches Verhalten im Spiegel vertraulicher Berichte. München und Wien 1977, sowie die Publikationen der Reihe „Bibliothek des Widerstandes" und einige Dokumentationen in den „Veröffentlichungen der [katholischen] Kommission für Zeitgeschichte".

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differenzierten und widersprüchlichen Bedingungen, unter denen sich der Widerstand entfaltete und verlief, nur partiell Rechnung zu tragen vermochte. In den letzten Jahren ist bei deutlich erweitertem Widerstandsbegriff, der auch konflikttheoretische Ansätze einzubeziehen versucht, eine lebhafte Methodendiskussion ausgebrochen bis hin zur Debatte um spieltheoretische Modelle 9 -, ohne daß ein befriedigender Konsens erzielt worden wäre. Angesichts dieser Lage ist es auch für die kirchengeschichtliche Forschung nicht leicht, einen hinreichend befriedigenden Widerstandsbegriff zu definieren, zumal ja auch erst die empirischen Untersuchungen weiter vorangetrieben werden müssen. Diese Unschärfe muß beim Charakter unserer Ausführungen, die ein Versuch sind, unser Problembewußtsein zu vertiefen, hingenommen werden. Ein anderes schwerwiegendes Problem für eine kirchliche Widerstandsforschung im Felde des politischen Verhaltens von Kirchen und Christen ist das spannungsreiche Zueinander von Christen, die zugleich Staatsbürger, und von Kirchen, die zugleich gesellschaftlich und damit auch politisch relevante Gruppen sind. Das Problem hat zwei grundsätzliche Aspekte. Erstens: Inhalt und Form eines allgemeinen politischen Mandats von Kirchen und Christen innerhalb eines gesellschaftlich-politischen Systems und im System des Nationalsozialismus um so mehr. Zweitens: Inhalt und Form einer „speziellen" Verantwortung von Kirchen und Christen zu Verschwörung, Staatsstreich und Tyrannenmord. Wie verhalten sich Christ und Staatsbürger sowie Kirche als creatura verbi divini, die nur die Waffe des Wortes kennt, im Extremfall von Staatsstreich und Attentat zueinander? Jede denkbare Antwort darauf setzt für die Christen und Kirchen im „Dritten Reich" historiographisch relevante Urteilsmaßstäbe. Daß Verschwörer wie Dietrich Bonhoeffer auf evangelischer, Alfred Delp auf katholischer Seite in beiden Kirchen „Außenseiter" blieben, „wird heute vielfach als ein entscheidendes Versagen ' PETER HÜTTENBERGER: V o r ü b e r l e g u n g e n

zum Widerstandsbegriff.

In:

Jürgen

Kocka (Hg.): Theorien in der Praxis des Historikers. Forschungsbeispiele und ihre Diskussion (Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft. Sonderheft 3). Göttingen 1977, S. 117-134; DERS.: Probleme des Widerstandsbegriffs. In: Beiheft GWU (32. Versammlung deutscher Historiker in Hamburg). Stuttgart 1979, S. 98 f. Im GWU-Beitrag nimmt Hüttenberger eine terminologische Spezifizierung von Widerstand vor in 1. „Sämtliche Aktivitäten . . . , die den Sturz des nationalsozialistischen Regimes betreiben, wobei der Regimebegriff weit zu definieren ist" ( = Widerstand). 2. „Aktivitäten, die lediglich den Zweck haben, bestehende, freilich vom Nationalsozialismus angegriffene soziale, politische und wirtschaftliche Positionen von Gruppen zu verteidigen" ( = Widersätzlichkeit). 3. „Von beiden sind jene Aktivitäten zu unterscheiden, die im Rahmen eines allgemeinen sozialen Drucks auf die Reichs- und Parteiführung stehen".

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gewertet" 10 . Hätten also die Kirchen einen Zugang zu Attentat und Staatsstreich zu gewinnen gehabt? Ist man geneigt, dies für den einzelnen Christen bzw. auch für Gruppen als eine vor Gott zu verantwortende Gewissensentscheidung im Sinne des „Grenzfalls" zu bejahen, so besteht demgegenüber im Blick auf die Kirchen noch immer die grundsätzliche Überzeugung, sie habe zur Bejahung eines Staatsstreiches, zum Tyrannenmord oder gar zur Teilnahme daran keine Legitimation. Im Blick auf die derzeitige Lage erscheint uns ein Neueinsatz bei einzelnen Personen sinnvoll. Prosopographische „Fallstudien" sind ein wichtiger Schritt zur Differenzierung und zur Infragestellung allzu selbstverständlich angewandter Plakettierungen. Dabei kann sich unser Augenmerk nicht auf jenen Personenkreis beschränken, den Franklin H. Littell als „heroische Minorität" charakterisierte11. Wir wählten deshalb fünf Vertreter des lutherischen Protestantismus aus, von denen nur einer im Allgemeinbewußtsein als „Mann des Widerstands" gilt. Uns soll und kann es dabei nicht auf die Erteilung von Prädikaten gehen. Es handelt sich um Stichproben, Erkundungen und Erwägungen. Bewußt wurde darauf verzichtet, bislang unbekannte Hitlergegner aufzuspüren und sie gewissermaßen mit einem Überraschungseffekt zu präsentieren. Es erschien uns methodisch fruchtbarer, bei hinlänglich bekannten Personen anzusetzen. Es geht dabei nicht, um dies noch einmal zu unterstreichen, um eine Interpretation in meliorem partem. Vielmehr soll gezeigt werden, in wie erheblichem Ausmaß unser Urteil vom jeweiligen Betrachtungsaspekt abhängt und die Wertungen nach dieser oder jener Richtung disponiert. Vorwegurteile dürfen nicht den Sieg über hochkomplexe Ereignis- und Entwicklungszusammenhänge davontragen. Unsere Auswahl, auch das muß noch hervorgehoben werden, folgt nicht der damaligen kirchenpolitisch-theologischen Gruppenzugehörigkeit (radikale und gemäßigte Bekennende Kirche, Neutrale usf.) bzw. nur insoweit, als „Deutsche Christen" außer Betracht bleiben12. Die kirchenpolitische Gruppenzugehörigkeit ist für 10

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Kirchenkampf. In: Ev. Staatslexikon 1975 , Sp. 1177ff. 1193. In: Current Study of the Church Struggle with Nazism and its significance for Church History. Hektogramm des American Committee on the History of the Church Struggle with Nazism vom 8.1. 1960. 12 Die in der Forschung gebräuchlichen Adjektive radikal, gemäßigt, neutral sind relationale Bezeichnungen, die vor allem auch aus der Optik der „dahlemitischen" Gruppen gewonnen sind und insofern Bedenken erwecken, als mit dem Adjektiv „gemäßigt" die Vorstellung kompromißlerisch verbunden wird. Dazu schon JÖRG THIERFELDER: Das Kirchliche Einigungswerk des württembergischen Landesbischofs Theophil Wurm (AKiZ B. 1). Göttingen 1975. 11

KLAUS SCHOLDER:

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das politische Widerstandsthema zwar keineswegs gleichgültig, birgt aber doch die Gefahr methodischer Engführungen. Wir ließen uns stattdessen von der weltanschaulich-politischen Prägung leiten, wie sie sich bei den fünf Vertretern vor dem Herrschaftsantritt des Nationalsozialismus historisch fixieren lassen13. Für den Altkonservatismus wählten wir Karl Koch und Theophil Wurm, für den Jungkonservatismus Hans Asmussen und Helmuth Schreiner, für den Liberalismus Hermann Mulert. Diesen Personen soll im Folgenden keine Beweislast für das ganze Luthertum oder gar den deutschen Gesamtprotestantismus aufgebürdet werden. Sie stehen nicht für das Ganze, sondern als Teil des Ganzen. Die methodischen Erwägungen zur denkbaren Wegrichtung der Widerstandsforschung im 3. Teil dieses Beitrags sind dementsprechend zu verstehen.

2.

Vertreter des Altkonservatismus Karl Koch. - Die deutschnationale Vergangenheit Kochs ist bekannt. Karl Koch wirkte von 1918/19-1933 auf Landes- und Reichsebene in der DNVP 14 . Noch am 1. Mai 1933 zeigte Koch in Bad Oeynhausen die schwarzweißrote Fahne, nicht aber die Hakenkreuzflagge. Theologisch verstand er sich „mit vollem Bewußtsein und mit innerer Bejahung [als] Lutheraner" 15 , wie auch die 16 Kirchengemeinden der Kreissynode Vlotho, der Koch von 1927 bis 1948 als Superintendent vorstand, mit einer Ausnahme lutherisch waren. Von Kochs Biographen W. Niemöller ist unterstrichen worden, daß Koch „wie seine politischen Freunde politischer Gegner der Nationalsozialisten" war. Koch nahm nach Hitlers Machtergreifung an, die neue Regierung würde sich „bald zu Ende regieren" 16 . Für 13 Erst dieser Aspekt läßt Kontinuitäten wie Diskontinuitäten im politischen Verhalten zureichend zum Vorschein kommen. Die in der Forschung als notwendig erkannte Einbettung des Kirchenkampfgeschehens in den Rahmen der Jahre 1918-1945 muß auch für die Widerstandsforschung zu Buche schlagen. Allerdings empfiehlt es sich nicht, den Widerstandsbegriff auch schon für die Zeit vor 1933 in Anwendung zu bringen (gegen K. KJLOTZBACH [Anm. 7]). Er sollte für die Auseinandersetzung mit dem etablierten Nationalsozialismus vorbehalten bleiben. 14 Geb. 1876 in Witten/Ruhr, Theologiestudium in Greifswald und Bonn. 1900 l.theol. Examen, Lehrvikar in Rehme, 1902/03 Hilfsprediger in Feudingen und Schalke, 1902 Ordination in Schalke, 1903 Pfr. in Holtrup/Weser, 1916 in Ennigloh, 1916-1945 in Bad Oeynhausen, 1927-1948 Sup. Kirchenkreis Vlotho. 15 So WILHELM NIEMÖLLER: Karl Koch. Präses der Bekenntnissynoden. Bielefeld 1956, S. 67. 16 Ebd., S. 25.

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Koch fehlte es dem „Dritten Reich" an staatsmännischer Solidität, an Tradition und an jener preußischen Bescheidenheit, die ihm aus der Linie seines Vaters, einem preußischen Beamten aus Neuruppin, vertraut sein mochte. Nach dem Zeugnis W. Nieseis hielt Koch so wenig von der Autorität Hitlers, „daß er uns schon 1934 gesagt hatte: ,Ich bete jeden Tag für den Führer: Erlöse uns von dem Übel'"17. Man muß sich fragen, warum Koch, ein Mann mit hoher politischer Aktivität in der Weimarer Republik, während der NS-Herrschaft einen so unpolitischen, ganz kirchlich-theologischen Eindruck erweckt. Es scheint, als habe er Wert darauf gelegt, seine politische Vergangenheit, die unter den Verhältnissen des „Dritten Reiches" belastend war und gelegentlich von örtlichen NSDAPKreisen in Westfalen und auch vom „Sicherheitsdienst" 18 kritisch apostrophiert wurde, gleichsam zu überspielen. Das Motiv für Kochs so unpolitischen Weg liegt für uns darin, daß Koch ein Pragmatiker mit ausgeprägtem Tatsachensinn war. Offenbar hat man in der evangelischen Kirche um diese hohe, vielleicht die eigentliche Begabung Kochs gewußt. Es ist ein erstaunliches Phänomen, daß Koch nach 1933 fast noch mehr Ämter auf sich häufte, als sie der Superintendent, Provinzialsynodalpräses, DNVP-Landesvorsitzende und Reichstagsabgeordnete vor 1933 innehatte. Nach 1933 waren es ausschließlich kirchenpolitische Ämter. Der Bogen spannt sich vom westfälischen Synodalpräses über das Präses-Amt der Bekenntnissynoden der DEK, den Vorsitz des altpreußischen Bruderrats bis zum Vorsitz des Evangelischen Presseverbandes für Westfalen und Lippe. Als Inhaber dieser Ämter stand Koch insbesondere von 1934 bis 1936 inmitten des kirchenpolitischen Geschehenskerns. Man vergißt hinter der zur Institution gewordenen Person leicht die kirchenpolitische Leistung und vor allem auch: die ihr zugrundeliegende Konzeption. Der politisch erfahrene Pragmatiker Koch, der mit den Spielregeln parlamentarischer Arbeit und dem Gang der deutschen Politik vertraut war, mußte 1933 sehen, daß die Zeit der Politik vorerst beendet war. Er begab sich auf jenes Gebiet, auf dem unter dem Druck der kirchenpolitischen Ereignisse, nunmehr in unpolitischtheologischer Perspektive, sich der Kampf um das „deutsche Schicksal" abspielte. 1932 hatte Koch an den Schluß der westfälischen Pro17 WILHELM NIESEL: Kirche unter dem Wort. Der Kampf der Bekennenden Kirche der Altpreußischen Union (AGK. Ergänzungsreihe. 11). Göttingen 1978, S. 177, Anm. 4. 18 HEINZ BOBERACH (Bearb.): Berichte des SD und der Gestapo über Kirchen und Kirchenvolk in Deutschland 1934-1944 (VKZG A. 12). Mainz 1971, S. 63 ff., 66, 81.

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vinzialsynode ein Wort gestellt, in dem es hieß: „Einig mit allen bewußten Deutschen ist sie [die Synode] tief davon überzeugt, daß die Entscheidung über das Schicksal unseres Volkes von seiner Einstellung zu Gottes Botschaft a b h ä n g t " D i e s scheint ein Schlüsselsatz zu sein. Nachdem der Parlamentarier mit der Auflösung der DNVP am 27. Juni 1933 keine politischen und kulturpolitischen Wirkungsmöglichkeiten im Sinne seines christlich-politischen Konzepts mehr sah, brachte er seine politisch-strategische Erfahrung in den „Kampf um Gottes Botschaft", d. h. um deren Wirksamkeit in der deutschen Gesellschaft der nationalsozialistischen Zeit ein. Bei diesem Kampf war die Politik prinzipiell im Hintergrund zu halten, wobei es sicher falsch wäre, bei Koch Eskapismus zu sehen. Sein Selbstverständnis als lutherischer Theologe hätte sich gegen eskapistische Veruneigentlichung des Gotteswortes zur Wehr setzen müssen. Immerhin hat Koch auch manches politische Signal gesetzt, das für einen preußischen Deutschnationalen nicht selbstverständlich war 20 , wie überhaupt die kirchenpolitische Haltung Kochs in seinen Präsides-Funktionen eine Distanzierung eigener Art vom NS-Staat bedeutete. In der Zeit der von Reichskirchenminister Hanns Kerrl eingesetzten „Kirchenausschüsse" und nach dem sogenannten Himmler-Erlaß von 1937, durch den die Lehr- und Prüfungseinrichtungen der Bekennenden Kirche verboten wurden, hat sich Koch, der eigentlich immer bestrebt war, ein Auseinanderbrechen der Bekennenden Kirche zu verhindern, vom „dahlemitischen" Weg getrennt und auf seine Legalität als Präses der alten Provinzialsynode zurückgezogen. Dieses ihm von den „Dahlemiten" verdachte Einschwenken auf eine „gemäßigte" Linie21 ist aus der besonderen kirchlichen Situation Westfalens erklärbar, wo die zerstörte Provinzialkirche faktisch „intakt" war durch das große Gewicht der Bekenntniskräfte. Kochs Linie ab 1936 (Rückzug aus dem altpreußischen Bruderratsvorsitz) bzw. 1939 (Rückzug aus dem westfälischen Bruderrat) ergab sich mit einiger Konsequenz aus dem seit Anbeginn leitenden Konzept. Am Anfang des Konzepts stand die pragmatische Entscheidung für eine unter den gegebenen Verhältnissen zu setzende Priorität, die Kirche. Sie drängte Koch in der Anfangsphase des „Dritten Rei" Zit. nach W. NIEMÖLLER (Anm. 15), S. 25. 20

Vgl. z.B. die Erklärung der 1. VKL (A. Marahrens, K. Koch, Th. Breit, P. Humburg, W. Flor) zur Frage des Beamteneides. In: KURT DIETRICH SCHMIDT (Hg.): Die Bekenntnisse und grundsätzlichen Äußerungen zur Kirchenfrage. Bd. 2: Das Jahr 1934. Göttingen 1935, S. 177. Zu den staatlichen Reaktionen CARSTEN NICOLAISEN (Bearb.): Dokumente zur Kirchenpolitik des Dritten Reiches. Bd. 2: 1934/35. München 1975. S. 2 4 0 - 2 4 3 . 21

W . NIESEL ( A n m . 17), S. 1 7 3 , 1 8 4 , 1 9 6 u . ö .

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ches" auf einen Kurs bekennenden Christentums angesichts des Einbruchs der Deutschen Christen und seit der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre auf einen Kurs volkskirchlicher Konsolidierung angesichts der christentumsrestriktiven Gesamttendenz des Nationalsozialismus. Auch Landesbischof Wurms „13 Sätze", mit denen er das „Kirchliche Einigungswerk" begründete, fanden deshalb Kochs Zustimmung. Rückhalt erhielt Koch bei westfälischen Staatsstellen (Ferdinand Freiherr von Lüninck), bei führenden Persönlichkeiten des kirchlichen Lebens in Westfalen (Friedrich von Bodelschwingh), bei vielen Pastoren sowie beim westfälischen Kirchenvolk22. Dies alles geschah bei Koch unter betonter politischer Zurückhaltung. Bezeichnend für Kochs fast schon übervorsichtige Behandlung politischer Fragen war z.B. sein Verhalten im Zusammenhang mit dem Wort der altpreußischen Bekenntnissynode in Berlin-Dahlem gegen das Neuheidentum vom 4./5. März 1935. Nach dem Gespräch mit Reichsinnenminister Wilhelm Frick (kirchliche Teilnehmer: Koch, Karl Lücking, Reinold von Thadden-Trieglaff) am 21. März 1935 wegen der politischen Implikationen des Wortes - ein erster Entwurf hatte die Überschrift getragen „Die Kirche Jesu Christi und der totale Weltanschauungsstaat" - wollte Koch von einer Verlesung absehen und war nur schwer umzustimmen 23 . Kochs Konzept, eine pragmatische Institutionserhaltungsstrategie, erlaubte in politicis nur vorsichtiges Taktieren. Kochs Konzept enthält sicher genügend Ansatzpunkte für Kritik. Es liegen politische Loyalitätsäußerungen vor, die seine national-autoritäre und auch antisemitische Traditionsverwurzelung zeigen. Dennoch weist Kochs Konzept an einem wichtigen Punkt über seine Person hinaus und gibt zu weiteren Reflexionen Anlaß. Wenn der Kampf um die Botschaft Gottes unter dem Vorzeichen von Volkskirche in der deutschen Gesellschaft des „Dritten Reiches" nicht schon im Ansatz als völlig verfehlt einzuschätzen ist, dann wäre ganz konkret zu der humanitären, weltanschaulichen und politischen Bedeutung des „evangelischen Westfalen" überzuleiten, das gerade Koch durch seinen Pragmatismus mit erhalten hat. Gegenüber B. Hey, der bei aller Bewunderung für die kirchenpolitisch-organisatorische Widerstandsleistung des evangelischen Westfalen am Ende doch die Beschränkung auf diesen Bereich bedauert 24 , wäre deshalb ein Schritt weiter zu gehen und nach der gesellschaftlich-politischen Bedeutung 22 Näheres bei B E R N D HEY: Die Kirchenprovinz Westfalen 1933 bis 1945 (Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte. 2). Bielefeld 1974. " Zum Vorgang W. N I E S E L (Anm. 17), S . 63f. 24 B. H E Y (Anm. 22), S. 350 f.

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der Erhaltung des kirchlichen Lebens im tiefgestaffelten Feld der Einstellungs- und Verhaltensweisen der dortigen evangelischen Bevölkerung während der Jahre des „Dritten Reiches" zu fragen. Im Ganren bestätigt Kochs WegnebenhereineBeobachtungH. Mommsens: Inder bürgerlich-konservativen Widerstandsbewegung waren ehemalige Berufspolitiker und Parlamentarier der Weimarer Republik stark unterrepräsentiert. Allerdings erscheinen die von Mommsen in diesem Zusammenhang konstatierten Verhaltensweisen „Resignation" und „innere Emigration" im Falle Kochs dialektisch aufgehoben in seiner volkskirchlichen Konsolidierungsstrategie 25 . Theophil Würm. - Am Entwicklungsgang T h . Wurms, der insgesamt verschlungener und komplizierter anmutet als derjenige Karl Kochs und einmal mehr die Schwierigkeiten politischer Standortfindung des konservativen Bürgertums beleuchtet, läßt sich nach deutschnationaler Parteinahme in den Anfangsjahren der Weimarer Republik 2 6 seit der Mitte der zwanziger Jahre eine Lockerung seiner DNVP-Bindung ablesen. Wurm besaß Sympathien für eine christlich-soziale Politik, die auf das pietistisch-erweckliche Element des württembergischen Luthertums zurückging, wobei jedoch auch prinzipielle theologische Vorbehalte sichtbar wurden. In der Ära der Präsidialkabinette ließ sich Wurm partiell von der Papenschen Parole vom christlichen Staat bestechen und entwickelte Affinitäten zum Ideengut des evangelischen Jungkonservatismus. Wurm lag in der Endphase der Weimarer Republik daran, die Kirche in enge Beziehung zum politischen und sozialen Geschehen zu setzen. Deshalb konnte er 1932 sagen: „Die Fehler der Kirche gegenüber dem Sozialismus sollen nicht wiederholt werden." 2 7 Andererseits legte er Wert 25 HANS MOMMSEN: Politische Perspektiven des aktiven Widerstands gegen Hitler. In: Hans Jürgen Schultz (Hg.): Der 20. Juli. Alternative zu Hitler? Stuttgart/Berlin 1974, S. 25-35, Zitat S. 28. 26 Geb. 1869 in Basel, gest. 1953 in Stuttgart. 1920 Dekan Reutlingen, 1927 Prälat Heilbronn, 1929 Kirchenpräsident, 1933 Landesbischof von Württemberg, 1945-1949 Vorsitzender des Rates der EKD. - Zur politischen Haltung Wurms in der Weimarer Republik die einschlägigen Passagen bei JONATHAN R. C. WRIGHT: „Über den Parteien". Die politische Haltung der evangelischen Kirchenführer 1918-1933 (AKiZ B. 2). Göttingen 1977; KURT NOWAK: Evangelische Kirche und Weimarer Republik. Zum politischen Weg des deutschen Protestantismus zwischen 1918 und 1932 (Arbeiten zur Kirchengeschichte. 7). Weimar und Göttingen 1981; GERHARD SCHÄFER: Die evangelische Landeskirche in Württemberg und der Nationalsozialismus. Eine Dokumentation zum Kirchenkampf. Bd. 1: Um das politische Engagement der Kirche 1932-1933. Stuttgart 1971. 17 EZA BERLIN, E K D A 2/28 (DEKA-Sitzung vom 24./25.11. 1932) und Referat Wurms vom 24.11. 1932 (EZA BERLIN, E K D A 2/479; G. SCHÄFER [Anm. 26], S. 224 ff.).

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darauf, den kirchlichen Verkündigungsraum von politischen Leidenschaften freizuhalten. Deshalb erlegte Wurm den Pastoren Württembergs strenge Restriktionen bei den Reichstagswahlen 1932 auf 28 . Am 2. März 1933 ließ Wurm verlauten, er sei dankbar dafür, daß der Nationalsozialismus „mit großen Opfern einen Terror gebrochen" habe, und ebenfalls zu diesem Zeitpunkt bemerkte er zu Ephorus Karl Frasch, er habe bei der Wahl zwischen Moskau und Hitler letzteren vorgezogen, wenn das auch nicht bequem sein werde. Wie wenig Wurm dadurch zum Nationalsozialisten geworden war, zeigte kurze Zeit später seine Ablehnung des Judenboykotts vom 1. April 1933: „Das württembergische Kirchenvolk sei mit der Boykottbewegung in keiner Weise einverstanden."29 An Wurms Weg durch das „Dritte Reich" treten zwei Aspekte besonders hervor. Politisch gesehen fiel an Wurm, dem in Basel geborenen Sohn einer schweizerischen Mutter und eines schwäbischen, als Missionspastor wirkenden Vaters, ein hoher nationaler Identifikationswille mit Deutschland auf. Kirchlich gesehen lag Wurm daran, die Volkskirche zu erhalten und ihren Bewegungsspielraum zu sichern, ohne sie dabei aus dem nationalen Leben herauszulösen. Nachdem die Strategie der alten Kirchenführerschicht, Ludwig Müller und die Deutschen Christen entweder pragmatisch auszuschalten oder zu „zähmen", gescheitert war, gab es für Wurm, der zunächst die Kandidatur Müllers für das Reichsbischofsamt mit Rücksicht auf das Votum Hitlers und die Stimmenverhältnisse in der Nationalsynode unterstützt hatte, nur den Weg in die Bekenntnisopposition. Die Bedenken in theologischer (unionistische Tendenzen, Dominanz der Theologie Karl Barths) wie institutionell-kirchlicher Hinsicht (Notrecht, Absprungstendenzen in die Freikirche) führten zur EigenforEZA BERLIN, EKD A 2 / 4 7 9 (Wurm an Kapler vom 1 9 . 1 0 . 1 9 3 2 ) . ' EZA BERLIN, EKD A 2/28 (DEKA-Sitzung vom 2./3.3. 1933); Wurm an Frasch (Schöntal) vom 7.5. 1933 (G. SCHÄFER [Anm. 26], S. 393); J. W R I G H T (Anm. 26), S. 192. - Zur zeitgenössischen, allerdings überzogen wirkenden Unterstreichung der NS-Sympathien Wurms T H E O D O R KURZ: A U S Leben und Amt. Persönliche Erinnerungen eines Jugendfreundes. In: Für Volk und Kirche. Zum 70. Geburtstag von Landesbischof D.Th. Wurm, dargeboten vom Evang. Pfarrverein in Württemberg. Stuttgart 1938, S. 6-11. Eine zu beachtende Selbstinterpretation Wurms in seinem Verhältnis zum Nationalsozialismus im Zusammenhang mit dem 30.6. 1934 bei THEOPHIL WURM: Erinnerungen aus meinem Leben. Stuttgart 1953, S. 101: „. . . daß sämtliche Mitglieder des Reichskabinetts der Legalisierung der abscheulichen Morde an politischen Gegnern durch Hitler zustimmten, das habe ich immer wieder als das Offenbarwerden eines moralischen Bankerotts der Oberschicht und als den Beginn einer Entwicklung angesehen, die zum Zusammenbruch, zu Potsdam und zu Nürnberg führen mußte". 28

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mierung des Luthertums, damit zugleich zu einem Abrücken Wurms vom Bekenntniskurs Barmens und Dahlems. Blieb bei Koch das politische und humanitäre Thema im Hintergrund, so trat es bei Wurm ab 1940 mit steigender Dringlichkeit hervor. Bis zu diesem Zeitpunkt war Wurm augenscheinlich noch geneigt, der volkskirchlichen Konzeption zuliebe keine direkte Auseinandersetzung mit den Machthabern zu führen. Erst als die Stellung des Christentums in der Gesellschaft ernsthaft und existentiell bedroht erschien, begannen politische Rücksichtnahmen zurückzutreten. Der antichristliche Charakter des Regimes und seine antihumane Politik eskalierten sich für Wurm wechselweise und formten sich mit steigender Konsequenz zu einer Protesthaltung aus, in der die politischen und humanen Leitbilder des bürgerlich-nationalen Konservatismus neu belebt wurden. Wurms Argumentationen gegen Staat und Partei trugen den Charakter eines eindringlichen Appells an Humanität und Christlichkeit und die vom bürgerlichen Konservatismus als national förderlich empfundenen Leitbilder. Unter dem Aspekt der Widerstandsforschung verdient dabei der Umstand besondere Beachtung, daß Wurm nicht lediglich als Landesbischof von Württemberg sprach, sondern als Beauftragter der Kirchenführerkonferenz und der Konferenz der Landesbruderräte. Insbesondere die Denkschrift an Hitler vom 9. Dezember 1941, das Schreiben an Reichspropagandaminister Joseph Goebbels vom 1. April 1942, das Schreiben an Hitler vom 16. Juli 1943 und das Schreiben an den Chef der Reichskanzlei, Minister Heinrich Lammers, vom 20. Dezember 1943 waren Äußerungen der ganzen Kirche 30 . Beachtlich sind die auf den Vorschlag der Kirchenführerkonferenz zurückgehenden Kontakte mit dem deutschen Episkopat im Zusammenhang mit dem evangelischen und dem katholischen Denkschriftenvorstoß bei Hitler vom 9. bzw. 10. Dezember 1941. Wurm traf in der vorbereitenden Phase mit den Bischöfen Konrad von Preysing, Wilhelm Berning und Heinrich Wienken zusammen, wobei die kompromißlose Klarsicht Preysings 31 dem evangelischen Partner bekannt gewesen sein dürfte. Die Grenze zwischen Appell und sukzessiv, dann aber endgültig gewonnenem Nein läßt sich bei Wurm schwer markieren, zumal sie verständlicherweise in seinen Eingaben an Partei- und Staatsstellen 30

Vgl. J. T H I E R F E L D E R (Anm. 12), S. 127-132 (unter Verweis auf das Wurm-Manuskript „Aus der Geschichte des Kirchenkampfes" im LKA Stuttgart, D 1/4). 31 Zur kompromißlosen NS-Gegnerschaft Preysings neuerdings das aus intimer Personen- und Lagekenntnis gespeiste Buch von WALTER A D O L P H : Geheime Aufzeichnungen aus dem nationalsozialistischen Kirchenkampf 1933-1943. Bearb. von Ulrich von Hehl (VKZG A. 28). Mainz 1979.

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nicht unbedingt deutlich wird. Eindeutig zeigte sich das Nein allerdings in Wurms Mitwisserschaft an den Staatsstreichplänen der bürgerlichen Opposition und den Kontakten dorthin 32 . In dem seit 1941 entwickelten Programm des Kirchlichen Einigungswerks hat Wurm gleichzeitig über die kirchenpolitischen Fronten hinweg eine volkskirchliche Konsolidierungsstrategie betrieben und somit auf kirchlich-theologischem Weg den Desintegrationsprozeß aus Politik und Ideologie des Nationalsozialismus mitbefördert. Der wesentliche Unterschied zwischen Koch und Wurm liegt für uns darin, daß Koch - bei antinationalsozialistischer Grundhaltung von Anfang an - das doppelte Aktionsfeld Kirche und Politik, auf dem er sich vor 1933 bewegte, nach 1933 auf das alleinige Aktionsfeld Kirche beschränkte. Demgegenüber stellte Wurm die Stimme der Kirche immer mehr für politische und humanitäre Belange zur Verfügung. Wurm erkannte der Kirche seit den Kriegsjahren in steigendem Maße eine Verantwortung in diesem Bereich zu. Das Leitbild von der Christlichkeit der Gesellschaft war für ihn keine politisch und ethisch wertneutrale Größe. Es verband sich bei Wurm mit ausgeprägten bürgerlichen Gerechtigkeits- und Ordnungsvorstellungen. In diesem Betracht flössen bei ihm Widerstand um der Sache des Christentums willen und politischer wie humanitärer Widerstand zusammen, so daß der Zusammenprall mit dem NS-System in doppelter Hinsicht für ihn unausweichlich werden mußte. An Wurms Wahrnehmung politischer und humanitärer Verantwortung als Amtsträger der Kirche zeigte sich auch, wie diese Verantwortung prinzipiell aus der Zielvorstellung Christlichkeit der Gesellschaft entschränkt und in eine allgemein-humanitäre Dimension eingeordnet wurde. Indem Wurm ζ. B. auch für die Lebensrechte der Nichtchristen eintrat (in der Judenfrage etwa ohne die kirchlich sonst weithin obligate Engführung auf die getauften Nichtarier) 33 und sich für eine humane Behandlung der von den Nationalsozialisten unterworfenen Völker unabhängig von Nation und Konfession engagierte, wurde dies sichtbar. Unter den Bedingungen des „Dritten Reiches" besaß Wurms Eintreten für Humanität und Recht Stellver32 GER VAN ROON: Neuordnung im Widerstand. Der Kreisauer Kreis innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung. München 1967, 235 ff.; EUGEN GERSTENMAIER: Streit und Friede hat seine Zeit. Ein Lebensbericht. Frankfurt-Berlin-Wien 1981; S. 149 ff. 33 KURT MEIER: Die Haltung der evangelischen Kirche zur Judenpolitik des Dritten Reiches. In: Ders.: Kirche und Judentum. Halle/S. und Göttingen 1968, S. 7 - 5 5 . Bemerkenswerte Zeugnisse für gesamthumanitäres Engagement in der Judenfrage bilden neben den Passagen der Denkschrift der 2. V K L von 1936 das Wort an die Gemeinden des Kirchentages zu Steglitz vom 1 0 . - 1 2 . 1 2 . 1938, die Bußtagspredigt Julius von Jans vom 16.11. 1938 und das Wort der 12. BK-Synode der A P U vom 1 6 . / 1 7 . 1 0 . 1943.

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tretungscharakter für alle anderen zum Schweigen verurteilten gesellschaftlichen Gruppen, was im Ausland sehr lebhaft empfunden worden ist. An Wurm und seiner stellvertretenden Sprecherrolle für weite protestantische Kreise wurde modellhaft eine Möglichkeit der Wahrnehmung politisch-humanitärer Verantwortung der Volkskirche realisiert. Es war Wurm, der auf der Sitzung des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses am 24./25. November 1932 die Beziehung von Kirche und Politik zum Gegenstand eines Referats gemacht hatte. Damals hatte er von einer vordringlich zu lösenden Aufgabe gesprochen und als materiale Kriterien Gerechtigkeit und Billigkeit genannt 34 . Zehn Jahre später erkannte er dem Kampf der norwegischen Kirche mit Bischof Eivind Berggrav eine Vorbildfunktion zu. Damals soll Wurm gesagt haben: „Dies zeigt, was getan werden kann, wenn die Kirche nur fest steht und einig bleibt. . . Hier erhalten wir zum erstenmal Anschauungsunterricht über eine kämpfende Kirche. Bisher gab es bei uns nur Debatten über Prinzipien und Theorien. Nun endlich haben wir die Wirklichkeit vor uns." 3 5 Es verdient hervorgehoben zu werden, daß viele nonkonformistische und antinationalsozialistische Lutheraner seit 1941 mit steigendem Vertrauen und Zustimmung auf Wurm als ihren vollmächtigen Sprecher blickten. Recherchen in Pfarrernachlässen zeigen, daß Wurms Eingaben eine breite illegale Verteilung fanden 3 6 , wie über34

Vgl. Anm. 27. PETER W. LUDLOW: Bischof Berggrav zum deutschen Kirchenkampf. In: Zur Geschichte des Kirchenkampfes. Gesammelte Aufsätze II (AGK 26). Göttingen 1971, S. 221-258, Zitat S. 258. - Der Entwicklungsprozeß bei Wurm im Problemkreis der politischen Verantwortung der Kirche verdiente noch eine genauere Analyse. In der Schrift: „Die evangelische Kirche im deutschen Volk" (Vortrag in der Pauluskirche in Zuffenhausen am 3. April 1938). Stuttgart 1938, bewegte sich TH. WURM noch ganz im Denkmodell der Abgrenzung des als politisch totalitär bejahten Staates und der Kirche. Allerdings waltete auch in dieser Denkform kein schroffer Dualismus im Sinne der „Eigengesetzlichkeit" des weltlichen Bereichs vor. „Sie [die Kirche] hat nicht Aufsicht zu führen über das Volk und über die, die das Volk führen, aber es ist ihr ein heiliges Anliegen, daß jeder, ob auf hohem oder niederem Posten, sich unter die Aufsicht des Herrn stellt, daß er seine Handlungen an dem Maßstab des göttlichen Gebots und Gesetzes mißt" (S. 15). - Zum theologischen Hintergrund von Wurms integrativem Kirchenverständnis vgl. TH. WURM: Recht und Grenze der Toleranz in der Kirche. Vortrag bei der kirchlichen Woche in Stuttgart am 29.7. 1939. Stuttgart 1939. 36 Im Nachlaß Sup. Johannes Francke (Pirna) f (ARCHIV KZG - Sektion Theologie Leipzig) fanden sich z.B. in Abschrift: Wurm an Muhs vom 3.7. 1943 (vgl. GERHARD SCHÄFER/RICHARD FISCHER: Landesbischof Wurm und der nationalsozialistische Staat 1940-1945. Stuttgart 1968, S. 336-338); Schreiben an die durch Fliegerangriffe 35

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haupt Forschungen auf dieser Quellenebene Dokumente zutage fördern können, die unser landläufiges Urteil berichtigen müssen37. Vertreter des Jungkonservatismus Hans Asmussen. - Der norddeutsche Pastor Hans Asmussen 37a war von deutlich anderer politischer Herkunft als Koch und Wurm. 1933 zählte er fünfunddreißig Jahre. Vor Hitlers Machtübernahme suchte Asmussen einen Weg zwischen Liberalismus und den totalitären Staatsideen der extremen Rechten. Bekanntestes historisches Dokument dafür ist das „Altonaer Bekenntnis"38. Für die Interpreschwerbetroffenen Gemeinden im Rheinland und Westfalen vom 20.6. 1943 (ebd., S. 453-456); Wurm an die Amtsbrüder in Stuttgart vom 9.8. 1943 (ebd., S. 456-459); Hirtenbrief vom 1.8. 1944 aus Großheppach (ebd., S. 461—464). In diesem Nachlaß sind weiter beachtlich eine Anzahl von abschriftlichen Rundbriefen Helmut Thielikkes aus den Jahren 1942/43 sowie eine acht-seitige (anonyme) qualifizierte theologische Ausarbeitung unter dem Titel „Die Grenzen der Fürbitte", in der es u. a. heißt: „Die Christenheit kann sich doch unmöglich dem Verdacht aussetzen, als sei ihr Fürbittengebet für die Obrigkeit bzw. die sie repräsentierenden Gestalten eine Art Loyalitätserklärung . . . Für einen umfassenden Lösungsversuch bedürfte es des Aufrisses einer ganzen Antichristologie, wie sie etwa die alte Christenheit besessen hat und in der Offenbarung Johannis auf unser Problem anwendet. Denn letzten Endes geht es ja um nichts Geringeres als um das Problem des Antichrists selber (vgl. Apk. 13), der sich der Polis zum Zweck seiner Machtausübung bedienen kann . . . " 37 Rektor Dr. Klaus Petzoldt (Diakonissenhaus Leipzig) machte mich u.a. auf Rundschreiben aufmerksam, die 1938 an Angehörige des Reichsarbeitsdienstes gingen. In ihnen wurden in kaum verhüllter Diktion scharfe Angriffe gegen Ideologie und Herrschaftsform des Nationalsozialismus vorgetragen (Sechs zweiseitige hektographierte Rundbriefe von Johannes Schöne [Leipzig] mit handschriftlichen Bemerkungen an den Empfänger Klaus Petzoldt. - Privatbesitz Dr. Petzoldt). 571 Geb. 1898 in Flensburg, gest. 1968 in Heidelberg. Theologiestudium in Tübingen und Kiel, 1923 Ordination, 1923-1925 Pastor Diakonissenanstalt Flensburg, 1925-1932 Albersdorf, 1932-1934 Altona, am 15.1. 1934 zwangsbeurlaubt, Mitarbeit in der Bekennenden Kirche (Präsidium der Bekenntnissynode der DEK, Mitglied des Reichsbruderrats, Leiter der Kirchlichen Hochschule Berlin), 1945-1948 Präsident der Kirchenkanzlei der EKD, 1949-1955 Propst in Kiel. - An biographischen Würdigungen liegen u. a. vor JOHN JAY HUGHES: Hans Asmussen. Prophet ohne Ruhm. In: Die Spur 12 (1973), S. 120-129; WILHELM HALFMANN: Hans Asmussen, eine biographische Skizze. In: Walter Bauer (Hg.): Ich glaube eine heilige Kirche. Stuttgart 1963. - Systematisch-theologische Arbeiten zu Asmussen wurden in jüngster Zeit vorgelegt von GEORG ZENK: Evangelisch in Katholizität. Ökumenische Impulse aus Dienst und Werk Hans Asmussens I—II. Frankfurt/M., Bern, Las Vegas 1977; JUHA PIKKALA: Mysterium Christi. Kirche bei Hans Asmussen seit 1945 (Schriften der Luther-AgricolaGesellschaft A. 17) Helsinki 1978; vgl. jetzt auch die Kieler theol. Dissertation von E N N O KONUKIEWTZ: Hans Asmussen. Ein Lutheraner im Kirchenkampf (1982). - Eine von F. Hübner, H . Kunst und H . Schnell hg. Ausgabe der Schriften HANS ASMUSSENS ist bislang nicht über 2 Bände hinausgekommen: Leben und Werk III, 1 (Aufsätze); IV (Kleine Schriften). Berlin und Schleswig-Holstein 1973 und 1976. 38

Abdruck bei

KURT DIETRICH SCHMIDT:

Die Bekenntnisse und grundsätzlichen

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tation des „Altonaer Bekenntnisses", das in der Kirchenkampfforschung gern etwas einseitig nach seinem theologisch-ekklesiologischen Gehalt beurteilt wird, ist es wichtig zu wissen, „daß die Dinge der Politik es waren, welche uns in einer unerwarteten Weise in die Öffentlichkeit führten. Es waren nicht theologische Motive im engeren Sinn" 39 . Das Buch „Politik und Christentum" (1933) zeigte Asmussen als einen von vitalistisch-organologischen Ideen geprägten politisch-theologischen Theoretiker, der in der Französischen Revolution „die zerstörende Ideologie der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit" walten sah 40. Asmussen betonte die schöpfungsmäßigen Gebundenheiten des Staates in seinen Vitalfunktionen bis hin zur Gemeinschaft aus dem Blut und der Stufung von Herr- und Knechtsein. In „Politik und Christentum" wurde jedoch auch unter dem Leitgedanken „Der Dienst der Kirche am Staat" eine Position markiert, die für Asmussen bald weiter an Gewicht gewinnen sollte. Die Kirche verwies den Staat in ihrer Verkündigung auf den Zusammenhang von Schöpfung und Geboten („Zurück zur Schöpfung ist die Parole der Gebote" 4 1 ) und sorgte verkündigend für die „strenge Scheidung der .beiden Schwerter'" 4 2 , wobei durch den doppelten Gebrauch des Gesetzes dafür zu sorgen war, daß die Bürger die Dinge dieser Welt mit Gott zusammenschauten und gleichzeitig in die Lösung und Bindung des Evangeliums gestellt wurden. Eine „Zusatzchristlichkeit" des Staates war für Asmussen „idealistisch" und deshalb abzulehnen. Nicht angängig war auch die politische Abgeordnetentätigkeit von Pastoren und die Inanspruchnahme des kirchlichen Handelns durch christliche Parteien. Asmussen lag an einer „sauberen" Verkündigung und an einem ,,priesterliche[n] Adel der Zurückhaltung" 4 3 . Die theologische Linie, die vor 1933 bei Asmussen in eine politische Konzeption jungkonservativer Prägung eingebettet gewesen ist, gewann nach 1933 entscheidende Bedeutung. Ganz offensichtlich war Asmussen nach 1933 kein „politischer Theologe" mehr. Politische und weltanschauliche Fragen traten zurück, während das theoÄußerungen zur Kirchenfrage des Jahres 1933. Göttingen o.J. (1933), S. 19-26. Zur zeitgeschichtlichen Einordnung unter politischem Aspekt K. N O W A K (Anm. 26), S . 225-227. " H. ASMUSSEN: Zur jüngsten Kirchengeschichte. Anmerkungen und Folgerungen. Stuttgart 1961, 28 f. 40 H . ASMUSSEN: Politik und Christentum. Hamburg 1 9 3 3 , S . 2 3 . 41 Ebd., S. 165. 42 Ebd., S. 163. 45 Ebd., S. 175.

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logische Thema fortan die Primärrolle spielte. Kennzeichnend für Asmussen war, daß er den Kirchenkampf nicht als vordergründiges kirchenpolitisches Bewährungsfeld ansah. Entscheidend für das Leben der Kirche war für ihn die Vertiefung und Bewährung der christlichen Existenz in der Gemeinde. So gab er, gemeinsam mit Rudolf Jäger, 1934 eine „Schriftenreihe zur Förderung einer Gemeindekirche" heraus, wo unter anderem zu lesen war, wie die werdende Gemeinde, „die verborgen wachsende Kirche", sich organisierte und wie sie aus den Kräften des Christus präsens lebte44. Der Wille zur Primärrolle der Theologie manifestierte sich mit großer Deutlichkeit bei Asmussen auf der Barmer Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche 1934. In der synodalen Erläuterung zu These V führte er aus: „Ich bitte die Synode davon Kenntnis zu nehmen: Es muß in dem, was die Kirche theologisch über den Staat sagt, abgesehen werden, und zwar grundsätzlich und ein für allemal davon, was die Synodalen weltanschaulich über den Staat sagen. Es gilt hier mit besonderer Sauberkeit vorzugehen. Daß weltanschaulich Sie über den Staat noch manches andere zu sagen haben als das, was Sie hier finden, ist mir ohne allen Zweifel. Aber nicht, nicht wahr, das ist die Größe der Gemeinde, daß man in ihr, abgesehen von der Weltanschauung, zu reden imstande ist, und daß die Einheit, die uns verbindet, keine weltanschauliche Einheit, sondern eine von der Schrift herkommende Einheit des Geistes ist. . . ".45

Ob Theologie, wie Asmussen es wollte, tatsächlich „abgesehen von der Weltanschauung" reden kann, mag dahingestellt bleiben. Asmussen meinte, und auch dies kam in Barmen zum Ausdruck, daß das Wort Gottes in Gesetz und Evangelium die schlechthin unüberbietbare, d.h. weltanschaulich nicht ergänzbare und nicht ergänzungsbedürftige Richtschnur für Staat und Kirche ist. „Beide, Staat und Kirche, sind Gebundene, diese im Bereich des Evangeliums, jener im Bereich des Gesetzes." 46 Wie die materielle Konkretion des usus politicus legis auszusehen hatte, ergab sich für Asmussen aus einer streng biblisch orientierten Theologie.

44 H. ASMUSSEN: Der Bischof der Gemeinde (Schriftenreihe zur Förderung einer Gemeindekirche, hg. von Hans Asmussen und Rudolf Jäger). Altona o.J. (1934), S. 3. 45 GERHARD NIEMÖLLER (Hg.): Die erste Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche in Barmen. II. Text-Dokumente-Berichte (AGK 6). Göttingen 1959, S. 141-150, Zitat S. 148. Für W. NIESEL (Von Barmen nach Stuttgart. In: 40 Jahre Barmer Theologische Erklärung. Evangelische Akademie Bad Boll. Pressestelle [Protokolldienstnummer 6/74], S. 9-12) bedeutete diese Argumentation eine Beschwichtigung der Lutheraner mit „fragwürdigen Sätzen" (S. 9). 46

G . NIEMÖLLER ( A n m . 4 5 ) , S. 4 9 - 6 6 , Z i t a t S. 6 3 .

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Die in Barmen voll ausgeprägte Position theologischen und nicht weltanschaulich-politischen Sprechens rückte für Asmussen mehr und mehr Fragen der kirchlichen Verkündigung, der Liturgie und der Sakramentsverwaltung in den Vordergrund. Diese Tendenz, die Wirklichkeit konsequent in die theologische Dimension einzustellen, findet sich auch noch in Asmussens überaus umstrittener Interpretation der deutschen Schuld vor 1945 und im Zusammenhang mit dem Stuttgarter Schuldbekenntnis vom 18./19. Oktober 194547. Sie gab seiner Person einen für manchen Zeitgenossen unerträglichen liturgischen Anstrich. In seinem für die Barth-Festschrift von 1936 vorgesehenen Beitrag „Karl Barth und die Bekennende Kirche" rückte Asmussen die These in den Mittelpunkt, daß die biblische Bindung dazu zwingt, „auf das Unsichtbare und nicht auf das Sichtbare zu sehen." Die erste und eigentliche Wirklichkeit waren Gott und sein Wort, die nicht von einer anderen Wirklichkeit bestimmt und begrenzt werden konnte. Dementsprechend galt Asmussen die Vermittlungsproblematik zwischen göttlicher und menschlicher Wirklichkeit nicht als eine menschliche Aufgabe: „Wo uns Gottes Wort nicht selbst sagt, was es bedeutet, daß das All in Christus zusammengefaßt ist, haben wir uns zu bescheiden und das Brückenbauen zwischen den beiden scheinbaren oder tatsächlichen ,Wirklichkeiten' Gott zu überlassen, der in der herrlichen Erscheinung seines Sohnes auch diese Frage für uns lösen wird" 4 8 . Asmussen mußte bei einem derartigen Verständnis von Gott, Welt und Mensch zum Theologen des Gotteswortes und zu seinem Priester, Künder und Wächter im striktesten Sinne werden. Das politische Thema wurde eingeschlossen in die Verkündigung des Gotteswortes und entband dort so viel oder so wenig Widerstand, wie auf diese Weise zu erreichen war. In dieser Hinsicht war der Lutheraner Asmussen ein strengerer „Barthianer" als Karl Barth selber, der seine Wort-Gottes-Theologie ab 1935 bzw. 1938 auch in ganz di47 ARMIN BOYENS: Das Stuttgarter Schuldbekenntnis vom 19. Oktober 1945 - Entstehung und Bedeutung. In: VZG 19, 1971, S. 374-397. - Im Dezember 1942 meinte Asmussen in einem Brief an W. A. Visser't Hooft, es sei ein „unbedingtes Erfordernis der Zukunft. . ., daß die Christen die Frage nach der Schuld so viel wie möglich der Welt entziehen, um sie mit Gott vor Gott zu regeln" (ebd., S. 376). Hier hatte nicht ein politisches Mandat, sondern das priesterliche Amt der Kirche einzutreten. - Vgl. dazu auch HARTMUT LUDWIG: Karl Barths Dienst der Versöhnung. Zur Geschichte des Stuttgarter Schuldbekenntnisses. In: Zur Geschichte des Kirchenkampfes (Anm. 35), S. 265-310. 48 Der Beitrag konnte seinerzeit nicht in der Barth-Festschrift abgedruckt werden, um deren Erscheinen nicht zu gefährden. Er wird zitiert nach H. ASMUSSEN: Aufsätze - Briefe - Reden 1927-1945. Itzehoe 1963, S. 82 ff., Zitat S. 88.

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rekte politische Konkretionen hineinführte, nachdem seine politische Ablehnung des Nationalsozialismus schon 1933 feststand. Asmussens Kritik an Theorie und Praxis des Nationalsozialismus, wie sie etwa in seiner Mitunterzeichnung der Denkschrift der 2. Vorläufigen Kirchenleitung der Bekennenden Kirche von 1936, in der Abfassung der Gebetsliturgie anläßlich der Tschechenkrise von 1938 und bei der Handreichung der 12. altpreußischen Bekenntnissynode in Breslau von 1943 über die absolute Geltung der göttlichen Gebote, für die ein Ausschuß unter Vorsitz von Joachim Beckmann, Peter Brunner, Günther Dehn und Asmussen verantwortlich war, zum Ausdruck kam, verstand sich für ihn als theologischer, nicht als politischer Akt. Die biblische Orientierung, immer verbunden mit der priesterlich-seelsorgerischen Sorge um die christliche Existenz („Betet ohne Unterlaß". „Das Gebet der Diener am göttlichen Wort". „Dienst du Gott?" 49 ) bewirkte bei Asmussen eine wohl urchristlich gemeinte Sicht des Lebens der Christen in Staat und Gesellschaft, die das prinzipielle und unaufhebbare Mißverständnis im Verhältnis Christ Staat hervorhob. Entgegen der Generalauskunft E. Käsemanns über die lutherische Interpretation von Römer 13 in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts 50 benutzte Asmussen diesen Text gerade nicht zur Fundierung einer Ordnungsmetaphysik, sondern stellte dieses Kapitel exegetisch ganz modern in den paränetischen Rahmen von Römer 12, 1 ff. und den Schluß von Kapitel 13. „Es geht um den Wandel der Christen, um ihr Opfer, um ihre Unterschiedlichkeit von der Welt, um ihr Fragen nach Gottes Willen." 51 Asmussen interpretierte 49

H. ASMUSSEN: Betet ohne Unterlaß. Von der Ordnung des Gebets. Berlin 1941; DERS.: Das Gebet der Diener am göttlichen Wort. Vom Gebetsdienst der Träger des Amtes. Berlin 1941 (In dieser wie auch in anderen Schriften jener Zeit tritt immer wieder der „ontologische Monismus" Asmussens hervor, in dem ewige und zeitliche Wirklichkeit spirituell unifiziert werden. „Denn die ewigen und zeitlichen Dinge sind für uns eigentlich nicht verbunden. Es klafft in unserem Bewußtsein zwischen ihnen eine tiefe Kluft. Nur mit einem großen Anlauf können wir über diese Kluft springen . . . Das Gebet aber, welches die einzelnen Dinge dieser Erde vor Gott erwähnt und mit Gott bespricht, überschreitet die Kluft, als wäre sie gar nicht da"); DERS.: Dienst du Gott? (Habt Glauben an Gott! 6). Berlin 1940. 50 Die These von ERNST KÄSEMANN: Römer 13, 1-7 in unserer Generation. In: ZThK 56, 1959, S. 316-367; Grundsätzliches zur Interpretation von Römer 13. In: Exegetische Versuche und Besinnungen. Berlin 1964, S. 240-258, auf der Grundlage von Römer 13 sei im konservativen Luthertum eine Theologie der ordines entwickelt worden, die spekulativ zu einer Geschichtstheologie ausgezogen worden sei, ist idealtypisch. Eine historisch-systematische Analyse der Staatsethik des Luthertums im „Dritten Reich" dürfte ihre Brauchbarkeit einschränken. 51 H . ASMUSSEN: Wiederum steht geschrieben. Röijier 13. Eine exegetische Studie. München 1939, S. 5.

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diesen Wandel als eine rätselhaft in Gott verborgene Geschichte des Leidens und Opfers: „Ein Christ kann im Verhältnis zur Obrigkeit nicht hoffen, daß ihm ein Leben gestattet werde, in dem er daran vorbeikomme, seinen Leib zum Opfer zu bringen. Es ist ihm verwehrt, nach A n der Welt zu hoffen, daß durch möglichst genaue Beschreibung der Schuldigkeiten' sein Dasein geschützt und gesichert werde. Er hat keinen Kanon, nach dem er ablesen kann, was die Obrigkeit und was er selbst ,darf' oder nicht ,darf'. Es kommt nie der Augenblick, wo er der Prüfung überhoben wird . . . Wer aber den Willen Gottes erfragt, weiß, daß diese .Klarstellungen', diese Kompetenzerklärungen nur sehr vorläufiger Natur sind und im Grunde doch nichts klären."52

An einer anderen Stelle seiner Studie explizierte Asmussen ausdrücklich die Berührung Jesu und der Apostel mit der römischen Obrigkeit noch einmal in der Kategorie des Mißverständnisses 53 . Wenn man so will, steht Asmussens Mitwisserschaft an den Umsturzaktivitäten des 20. Juli zu seiner theologischen Grundposition im dogmatischen wie spirituellen Sinn sogar in einer Spannung. Asmussen verkehrte im Kreise Karl Goerdelers, besaß durch Dietrich Bonhoeffer Kenntnis von amerikanischen kirchlichen Wiederaufbauplänen nach dem erwünschten Sturz des Regimes und segnete heimlich Widerstandskämpfer für ihr Werk ein M . Diese Spannung wird auch deutlich durch den Hinweis auf die Kontroverse mit Karl Barth nach dem Fall des „Dritten Reiches". Gegen Barth beharrte Asmussen auf der „Sauberkeit" des Wortes und wehrte sich gegen die Verknüpfung theologisch-religiöser Fragen mit bestimmten politischen Optionen. Nach wie vor gab es für ihn nur eine „Wirklichkeit". „Es liegt doch", argumentierte er in seiner „Antwort an Karl Barth", „in der Linie des Weges, den die Bekennende Kirche von Anfang an gegangen ist, daß sie das Kirchliche für das Wesentliche hält" 5 5 . „Meine .Flucht' ins Sakrament ist getragen von dem Willen, zur Wirklichkeit zu gelangen. Denn das hier gegenwärtige Kreuz und der Christus, der an diesem Kreuz hängt, ist die W i r k l i c h k e i t . . . " 5 6 Barths Geschichtsbild war für Asmussen zu flach und zu rational, es wußte nichts von „Dämonen" » Ebd., S. 33. » Ebd., S. 59ff. 54 H . ASMUSSEN: Zur jüngsten Kirchengeschichte (Anm. 39), S. 87-89; WALTER BAUER: Erinnerungen an schwere Zeit. In: W. Bauer (Anm. 37a), S. 87-92. 55 H . ASMUSSEN: Antwort an Karl Barth (Schriftendienst der Kanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland. 7), S. 13. Vgl. dazu auch DERS.: Die Ziele der Bekennenden Kirche (Die Stimme der Kirche 46/2); Die Bedeutung der Synode von Dahlem (Flugblätter der Bekennenden Kirche 46/2). " H . ASMUSSEN: Antwort (Anm. 55), S. 14.

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und ging an der „Realität" des Lebens vorbei. Der Konflikt war prinzipiell genug. Nachträglich kann kaum ein Zweifel daran bestehen, daß im Beharren auf der anderen Wirklichkeit, die für Asmussen im Nichtrealen zu versinken drohte, Karl Barth recht hatte. Es berührt merkwürdig, wie Asmussen in seltsamer Inkongruenz zur politischen Weltstunde von 1946/47, die ja doch die Hoffnung, den Willen und die Aktivitäten zu einem Neuanfang in sich trug, mit der Gebärde eines vollmächtigen Unheilspropheten auftrat 57 . Daß Asmussen im „Dritten Reich" strikt den Weg eines Verkündigungswiderstandes, zugleich den Weg des Betens und der sakramentalen Verlebendigung der christlichen Existenz ging, entsprang nicht schlechthin der Tatsache, daß er Pastor und Theologe war, sondern bezeichnet auch den politischen Orientierungsverlust des einstigen Jungkonservativen, der retrospektiv von sich sagen konnte, der Nationalsozialismus sei zwar schon 1927/28 endgültig für ihn erledigt gewesen, was ihn jedoch nicht daran gehindert habe, später nationalsozialistische Voten abzugeben: so verwirrt seien damals die Zeiten gewesen58. Unter diesen Umständen konnte jener Mann, der 1932 in ständestaatlicher Manier von Herrschaft, Priestertum und dem Wagnis des „Hartwerdens" gegenüber dem Arbeiterstand gesprochen hatte 59 , seinen Widerstandsweg nur als Hüter und Wächter des Gotteswortes finden und das Urteil über das politische Geschehen des „Dritten Reiches" in der göttlichen Dimension von Recht und Unrecht, Gut und Böse und dämonischer Verstrickung, von Leiden und Opfer halten. Der dogmatisch-spirituellen Wegrichtung entsprechend formierten sich für Asmussen in jenen Jahren auch seine kirchenpolitischen Entscheidungen. Asmussens gemeindeförmig-volkskirchliches Anliegen geriet auf Dauer mit dem „dahlemitischen" Anspruch in Konflikt. 1938 trat er, Leiter und Dozent für Praktische Theologie/ Neues Testament der Kirchlichen Hochschule Berlin, aus dem altpreußischen Bruderrat aus. Als ihm 1939 auf der sog. „Epiphaniassynode" die Wiederwahl angetragen wurde, lehnte er mit der brieflichen Begründung gegenüber W. Niesei ab, ihm sei in den letzten Monaten die Aufrichtung eines Zeichens wichtig, „daß wir die ganze Kirche und nicht nur den .radikalen' Flügel meinen" 60 . Nicht " Seid nüchtern zum Gebet! Eine politisch-christliche Bilanz. Stuttgart 1947. 58 H. ASMUSSEN: Zur jüngsten Kirchengeschichte (Anm. 39), S. 28 f. "

K . NOWAK ( A n m . 2 6 ) , S. 2 2 6 .

(Anm. 1 7 ) , S. 1 9 4 . Bezeichnend ist auch die retrospektive Meinung Asmussens zur Sammlung der Bekennenden Kirche durch die „roten Karten": „Sie konnten verstanden werden als Mitgliedskarten der Bekennenden Kirche, einer Gruppe innerhalb der Landeskirche. Man konnte in ihr aber auch die ersten Anfänge 40

W . NIESEL

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verwunderlich ist deshalb auch, daß Asmussen zum Mitträger von Wurms Sätzen über „Auftrag und Dienst der Kirche" (1943) wurde. Asmussens Weg, so darf man vielleicht urteilen, zeigt sich in einer spannungsreichen Ambivalenz. Einerseits stellte sich sein Verkündigungswiderstand, der die intensiv gelebte christliche Existenz mit umgriff, und seine Mitwisserschaft am Umsturz in objektiv-historischer Perspektive als Teil auch des politischen Widerstandspotentials dar. Andererseits ist zu sehen, wie die Vernachlässigung konkreter geschichtlich-politischer Urteilskategorien, die für das Luthertum im Sinne des Welthandelns der Vernunft unverzichtbar sind und die auch die „sauberste" theologische Verkündigung indirekt mitstrukturieren, Asmussen in ein metaphysisches Kategoriensystem überwechseln ließ, das die Gefahr einer Fluchtbewegung aus der geschichtlichen Erscheinungswelt in sich trug. Asmussens weiterer politischer Weg nach 1945 erhärtet die These R. von Thaddens, daß es nicht angängig ist, Widerstandsengagement im „Dritten Reich" linear für den Prozeß demokratischer Standortfindung nach dem Sturz des NS-Systems in Anschlag zu bringen 61 . Ebensowenig angängig ist es allerdings auch, die fragwürdige politische Position, die Asmussen vor 1933 und nach 1945 bezog, für seinen Weg zwischen 1933 und 1945 als disqualifizierendes Interpretament beizuziehen. Im übrigen gehört es zu der an Paradoxa so reichen Geschichte des Nationalsozialismus, daß Asmussen, der den Aufstand des 20. Juli 1944 „von ganzem Herzen" bejahte, „kein Haar gekrümmt" wurde. Wie vielschichtig das Problemfeld Luthertum und Widerstand ist, zeigt sich daran, daß Asmussen im gleichen Atemzug, da er seine Widerstandserfahrungen offenlegte, hinzusetzte: „ . . . aber eine Theologie des Aufstandes gegen die eigene Regierung wage ich nicht zu schreiben" 62 . Die Bekennende

einer Sammlung von Mitgliedern einer selbständigen Freikirche sehen. Meines Wissens ist es in den Bruderräten nie dazu gekommen, daß in dieser Sache eine Entscheidung fiel. Eine solche Entscheidung wäre uns auch sehr schwer gefallen. Jedenfalls habe ich selbst und eine nicht geringe Anzahl von Freunden diese ,Roten Karten' von vornherein als einen Fehlschlag ansehen müssen" (H. ASMUSSEN: Zur jüngsten Kirchengeschichte [Anm. 39], S. 28). " RUDOLF VON THADDEN: Dietrich Bonhoeffer und der deutsche Nachkriegsprotestantismus. In: Kirchen in der Nachkriegszeit. Vier zeitgeschichtliche Beiträge (AKiZ B. 8). Göttingen 1979, S. 125-138, Zitat S. 129 (Man werde „die allzu direkte Verknüpfung des gedanklichen Erbes des Widerstandes mit späteren Zeitproblemen preisgeben müssen und gerade dadurch Einsicht in die Bedeutung dieses Erbes für spätere Zeiten gewinnen"). Von Thadden sieht die Bedeutung des Widerstandes für später vor allem darin, „daß der Bann der obrigkeitlichen Tradition in Deutschland gebrochen worden ist" (ebd., S. 130). 42 H. ASMUSSEN: Zur jüngsten Kirchengeschichte (Anm. 39), S. 87.

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Kirche ist nach Asmussen von den „höchst gefährlichen Gesprächen", die dem Umsturz dienten, freigehalten worden. „Man könnte beinahe sagen, daß die Fiktion aufrechterhalten wurde, die Bekennende Kirche sei nicht gegen den Staat" 63 . An einem solchen Punkt wird noch einmal die Spannung sichtbar, in der Asmussen selber stand: die Spannung zwischen theologischem Auftrag, direkt politischem Handeln und volkskirchlicher Sicherstellung des Christentums in der Gesellschaft. Sicher wäre es nicht überflüssig, in repräsentativer Breite zu untersuchen, inwieweit der Verzicht auf die Öffentlichkeit der Verkündigung in der Volkskirche den direkt politischen Widerstandswillen stärkte und wie umgekehrt die Setzung der Priorität kirchlicher Öffentlichkeit entscheidende Konsequenzen für Art, Umfang und Beurteilung des politischen Widerstands als Möglichkeit der Kirche hatte. In diesem Bereich werden auch die jeweils unterschiedlichen Handlungsbedingungen von Personen, Gruppen und Großinstitutionen sichtbar zu machen sein. Helmuth Schreiner. - H. Schreiner, eine wichtige, unter Widerstandsaspekt noch zu wenig beachtete Theologenpersönlichkeit des deutschen Luthertums, war vor 1933 in der evangelischen Kirche durch eine Reihe von Schriften volksmissionarisch-apologetischen und sozialpolitisch-diakonischen Charakters bekannt geworden. 1931 erhielt Schreiner eine Berufung für Praktische Theologie, Kirchenverfassungslehre und praktische Exegese an die Universität Rostock 64 . Im politischen und kirchenpolitischen Geschehen der Endphase der Weimarer Republik trat Schreiner 1931 mit seiner weithin beachteten Schrift „Der Nationalsozialismus vor der Gottesfrage" hervor 65 . Sie charakterisierte Schreiner, den einstigen Freiwilligen von " Ebd., S. 88. 64 Geb. 1893 in Dillenburg (Hessen), Theologiestudium in Halle, Berlin, Bonn, Kriegsfreiwilliger, 1920 Zusatzstudium (Philosophie und Pädagogik) in Erlangen, 1921 Vorsteher Hamburger Stadtmission, 1926 Johannisstift Berlin-Spandau, 1931 Prof. in Rostock, 1937 Zwangsruhestand, 1938 Vorsteher der Diakonissenanstalt Münster, 1946 Prof. in Münster, 1957 emeritiert. - Hochschulpolitisches Material zu Schreiner bei RUTH CARLSEN: Zum Prozeß der Faschisierung und zu den Auswirkungen der faschistischen Diktatur auf die Universität Rostock (1932-1935). Diss. phil. Rostock 1965; GUDRUN MIEHE: Zur Rolle der Universität Rostock in der Zeit des Faschismus in den Jahren 1935-1945. Diss. phil. Rostock 1969; G. HEIDORN/G. HEITZ/J. KALISCH/K.-F. OLECHNOWITZ/U. SEEMANN ( H g . ) : Geschichte der Universität

Rostock. 2 Bände. Berlin 1969; NIKLOT BESTE: Der Kirchenkampf in Mecklenburg von 1933 bis 1945. Geschichte, Dokumente, Erinnerungen. Berlin 1975, S. 134-138. 65 HELMUTH SCHREINER: Der Nationalsozialismus vor der Gottesfrage. Illusion oder Evangelium? Berlin-Spandau 1931.

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Langemarck, der 1919 aus englischer Kriegsgefangenschaft als Leutnant der Reserve heimgekehrt war, in politischer Hinsicht als einen Jungkonservativen (volksorganologische Sympathien) mit deutschnationaler Grundierung. Schreiner versuchte in dieser Schrift ein prinzipielles Urteil über den Nationalsozialismus als politische, soziale und weltanschauliche Bewegung zu gewinnen. Argumentation und Diktion der Schrift zeigen, daß Schreiner damals mit dem „nationalen Aufbruchsgeschehen" stark konform ging. Das erklärte sich u.a. aus seinem Anti-Versailles-Komplex und seiner Kulturund Christentumsauffassung, die unter dem Stichwort Säkularisierung die Moderne unter verfallsgeschichtlichen Aspekten interpretierte 66 und von daher für nichtmaterialistische Weltanschauungsbewegungen besonders offen war. Allerdings war der Grundtenor von Schreiners Nationalsozialismusinterpretation deutlich kritisch. Schreiners Frage lautete, welche Folgen einträten, „wenn die Weltanschauung, an der der Nationalsozialismus" arbeite, „ein unechter Ausdruck seines inneren Kernes wird, ein Hemmnis für die Entfaltung der Freiheitsbewegung, die sein Wesen ausmacht?" Schreiners Urteil war skeptisch: „Wenn die geistige Formung, auf die die nationalsozialistische Bewegung gegenwärtig hintreibt, sich weiter so vollzieht wie sie es tut, dann sind Millionen von Menschen betrogen und verraten. Dann läuft sich die Bewegung tot. Dann wird aus ihrer Wahrheit eine Lüge." 67 Für Schreiner war der Aufbruch des Nationalsozialismus ein „Naturvorgang", geladen mit „revolutionärer Gewalt", als solcher oft „blind und besinnungslos", insofern geistfeindlich. „Er fällt die Entscheidung für das Blut und wider den Geist. Aber diese Entscheidung selbst ist Geist." 68 Schreiner unterstrich, der Glaube an den Schöpferwillen Gottes begründe wohl „völkische Verantwortung", aber „jedem Absolutsheitsanspruch irgendeiner Rasse [sei] entschlossen [zu] widerstehen." 69 In der Absolutsetzung von Blut und Rasse sah Schreiner sich ein „Nein zur .Humanität'" manifestieren 70 . Zwischen Hitler und Alfred Rosenberg glaubte Schreiner eine grundlegende Unterscheidung treffen zu können. „Hitlers religiöse Haltung ist bestimmt durch die Kategorie des Gehorsams gegenüber dem Willen Gottes. Rosenberg kennt keine Verantwortung vor Gott, 44 Zur Beurteilung von Schreiners Position KURT NOWAK: Zur protestantischen Säkularismus-Debatte um 1930. Ein begriffsgeschichtlicher Rückblick in die Prägephase einer Verdammungskategorie. In: WuPKG 69, 1980, S. 37-51. 67 Nationalsozialismus (Anm. 65), S. 9. " Ebd., S. 14. " Ebd., S. 25. 70 Ebd., S. 29.

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keinen Willen, der ihm begegnet. Seine Haltung ruht in mystischer Gleichsetzurtg von Gott und Seele." 71 Nach Schreiner pflanzte Rosenberg mit der Vergottung der Rasse einen „Giftkeim" in die NSBewegung und zerstörte ihren Lebenswillen „im innersten Mark." 7 2 Aus diesem Grunde war der Nationalsozialismus beherrscht von einer Illusion. Das völkische Ethos auf dem Boden der „Blutreligion" war in Ansatz und Konsequenz (Fanatismus, Brutalität, Ausmerzung „Minderwertiger") verfehlt 73 . Für die Zukunft sah Schreiner es als entscheidend an, ob der Nationalsozialismus seine Hinwendung zu Rosenbergs Blutreligion aufgebe oder nicht. „Tut er das nicht, dann gibt es für die Kirche und ihre Verkündigung nur die Möglichkeit, seiner weltanschaulichen Haltung unerbittlich zu widerstehen und zu bekennen: wir glauben an den heiligen Geist. Der Glaube an das heilige Blut enthält den dämonischen Versuch, mit Hilfe einer Illusion den Menschen an die Stelle Gottes zu setzen." 74 Wir sind auf diese Schrift Schreiners deshalb etwas ausführlicher eingegangen, weil aus ihr die Hauptkampflinie sichtbar wird, auf der Schreiner sich nach der NS-Machtübernahme bewegen sollte. Auch schon vor 1931 hatte Schreiner sich ähnlich geäußert, z.B. in der Schrift „Das Christentum und die völkische Frage" (1925) und in der Broschüre „Vom Recht zur Vernichtung unterwertigen Menschenlebens" (1928) 75 . Im Wintersemester 1932/33 hielt Schreiner in Rostock die Vorlesung „Gestaltungsaufgaben der Kirche (Wohlfahrtspflege, Rassenhygiene, Sozialpolitik)" 76 . Schreiners Beiträge in „Die Nation vor Gott" (1933) kreisten gleichfalls um diese Thematik 77 . Wichtig wurde nach 1933 für ihn auch der Kampf gegen die deutschgläubigen Religionsbildungen 78 . Der Weg Schreiners in den kirchenpolitischen Frontbildungen der Jahre 1933/34 ist bekannt und braucht hier nur stichwortartig resümiert zu werden: Mitbegründer der Jungreformatorischen Bewe-

71

Ebd., S. 31. Ebd., S. 32. " Ebd., S. 47. 74 Ebd., S. 51. 75 Das Christentum und die völkische Frage. Schwerin 1925; Vom Recht zur Vernichtung unterwertigen Menschenlebens. Eine sozial-ethische Studie zum Verhältnis von Euthanasie und Wohlfahrtspflege (Arzt und Seelsorger. 13). Schwerin 1928. 76 VORLESUNGSVERZEICHNIS der Universität Rostock WS 1932/33, S. 25 f. (Vorlesungen für Hörer aller Fakultäten). 77 WALTER K Ü N N E T H / H E L M U T H SCHREINER (Hg.): Die Nation vor Gott. Zur Botschaft der Kirche im Dritten Reich. Berlin 1933, S. 38-53; 56-74. 78 Vgl. dazu etwa H . SCHREINER: Ehre und Glaube. Völkischer Menschenglaube im Angriff auf die Christusbotschaft. Berlin 1934. 72

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gung, bekenntniskirchliches Engagement auf reichs- und landeskirchlicher Ebene (Mecklenburg), Engagement für die konfessionelle Identität des Luthertums 79 . Die hohe Wertschätzung, die Schreiner zu Beginn des „Dritten Reiches" im deutschen Protestantismus genoß, wird aus der Tatsache ersichtlich, daß er nach dem Scheitern der Kandidatur Friedrich von Bodelschwinghs für das Reichsbischofsamt (die er maßgeblich mit zu Wege gebracht hatte) und der Etablierung Ludwig Müllers als Alternativpersönlichkeit für dieses Amt ins Gespräch gebracht wurde. Zweifellos war Schreiners politische Haltung zu Beginn des „Dritten Reiches" mit mancherlei Unklarheiten behaftet, die sich aus seiner weltanschaulichen Grundeinstellung (Antisäkularismus) und einem lebhaften Empfinden für einen sozialen Volksstaat mit nationaler Würde ergaben. Daß Schreiner dennoch sehr früh dem Lager der NS-Gegner zugerechnet werden muß, geht daraus hervor, daß bereits am 26. September 1933 an der Rostocker Universität gegen ihn ein Disziplinarverfahren eingeleitet wurde. Man legte ihm Äußerungen zur Last, die er angeblich auf einer Sitzung der Rostocker Pfarrerschaft vom 22. April 1933 gemacht hatte: „Glauben Sie noch an das Märchen von der bolschewistischen Gefahr? und dann weiter: Dann glauben Sie wohl auch an die sogenannte Brandstiftung im Reichstagsgebäude?" Die bereits verfügte vorläufige Amtsenthebung mußte damals rückgängig gemacht, das Disziplinarverfahren niedergeschlagen werden, da die Belastungszeugen nicht ausreichten 80 . 1934/35 konnte Schreiner an der überwiegend bekenntniskirchlich orientierten Rostocker Theologischen Fakultät sogar noch Dekan werden. 1937 gelang es dem Reichsstatthalter und Gauleiter Friedrich Hildebrandt, sekundiert von dem Dermatologen Prof. Dr. med. ErnstHeinrich Brill, Vertrauensmann der Reichsleitung der NSDAP in der Medizinischen Fakultät und in der Amtsperiode 1936/37 Universitätsrektor, Schreiner mit dem Gesetzesinstrument § 6 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 („Zur Vereinfachung der Verwaltung können Beamte in den Ruhestand versetzt werden, auch wenn sie noch nicht dienstunfähig sind") per 29. Juni 1937 in den Ruhestand zu versetzen. Eine ausführliche Eingabe der Fakultät vom 30. Juli 1937 und die Interven" Schreiner gehörte zu jenen lutherischen Kräften, die bei der Formierung des Luthertums zunächst im „Lutherischen Rat" (25. August 1934), im „Lutherischen Pakt" (12. Februar 1935), dem „Deutschen Lutherischen Tag" (2./5. Juli 1935) und schließlich im „Rat der Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands" (18. März 1936) eine Rolle spielten. so

R . CARLSEN ( A n m . 6 4 ) , S . 2 5 6 f .

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tion Friedrich Brunstäds, mit dem Schreiner langjährig verbunden war, zeitigten keinen Erfolg 81 . Die Amtsentfernung Schreiners ging zurück auf dessen oppositionelle Haltung zu rassenpolitischen Fragen. Die marxistische Historikerin Ruth Carlsen urteilt, es sei „nicht zu verkennen, daß Helmuth Schreiner sich gegen die von staatlicher Seite sanktionierten Lehren und bevölkerungspolitischen Maßnahmen stellte. Daß dies zu einem Zeitpunkt geschah, da jede Kritik von akademischer Seite an der nationalsozialistischen Weltanschauung und Politik mit Sicherheit persönliche Nachteile und Verfolgungen nach sich zog, erhöht das Gewicht dieser oppositionellen Haltung Schreiners . . . " 8 2 . Schreiners Rostocker Hochschultätigkeit und ihr abruptes Ende erscheint uns als ein durchaus eigener und zu beachtender Beitrag zum Thema „Hochschule und Nationalsozialismus" nach der positiven Seite hin: „Ein Teil der Hochschulintelligenz und des akademischen Nachwuchses aus der Privatdozenten- und Studentenschaft fühlte sich von dem politischen Mißbrauch der Wissenschaft durch die Nazis, von den brutalen Überspitzungen abgestoßen. Ihr Sprecher war Helmuth Schreiner, der sich aus politischer Gegnerschaft von den Nazis distanzierte." 83 Nach der Entfernung von der Rostocker Universität übernahm Schreiner die Leitung des Diakonissenmutterhauses in Münster (Westfalen). Er setzte zugleich seine reiche publizistische Tätigkeit fort, deren Analyse geeignet wäre, wichtige Aufschlüsse über Schreiners Sicht des Verhältnisses Staat-Kirche, die Verkündigung der Kirche, des zweiten Weltkrieges u.a. zu vermitteln84. Vertreter des Liberalismus Hermann Mulert. - Einen Tag vor dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges schrieb der Verleger Leopold Klotz an den Herausgeber der „Christlichen Welt", den liberalen sächsischen Lutheraner Hermann Mulert 85 : „Es wird sich darum handeln, daß die ,Christliche Welt' eine Art Seelsorgetum betreibt, das der Größe und Tragik der erlebten Zeit gerecht wird; 81 G. M I E H E (Anm. 64), S . 124; Geschichte der Universität Rostock (Anm. 64), Bd. 1, S . 183; R. CARLSEN (Anm. 64), S . 256f. (unter Auswertung von RUA R 6 E 6; Staatsarchiv Schwerin MfU 1364. 1366. 1128. 579, Bl. 50-52). 82

83

R . CARLSEN ( A n m . 6 4 ) , S .

263.

Ebd. 84 Eine (nicht ganz vollständige) Bibliographie Schreiners bei K A R L JANSSEN (Hg.): Dienst unter dem Wort. Eine Festgabe für Prof. D. Dr. Helmuth Schreiner zum 60. Geburtstag am 2. März 1953. Gütersloh 1953, Anhang. 85 Geb. 1879 in Niederbobritzsch, gest. 1950 daselbst, Theologiestudium in Leipzig, Marburg, Berlin, Kiel, 1909 Privatdozent Halle, 1912 Berlin, 1917 ao. Prof.,

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vollkommenes Fernbleiben vom eigentlichen Gebiete der Politik, dafür Mobilisierung aller christlichen evangelischen Gedanken und Werte für die Aufrichtung und Stärkung des Volkes, der Familie, des einzelnen . . . " 8 6 Die hier zum Ausdruck kommende Entpolitisierung der „Christlichen W e l t " war durch die Umstände erzwungen und hatte ihre Vorgeschichte 8 7 . Die Existenz der Zeitschrift konnte nur durch politische Zurückhaltung gesichert werden. Mulert war sich dieser Zwangslage schmerzlich bewußt 8 8 . Wie Mulert tatsächlich über das „Dritte R e i c h " dachte, wird u. a. daraus ersichtlich, daß er am 1. Mai 1933 den Demonstrationszug boykottiert hatte. Am 11. August 1933, dem Tag der Weimarer Verfassung, hatte er in Kiel am Wohnungsfenster die schwarzrotgoldene Fahne der Republik aufgezogen. An Mulerts antinationalsozialistischer Haltung änderte sich auch in der Folgezeit nichts. Mulerts Ehefrau beteiligte sich an der illegalen Weitergabe kommunistischer Flugblätter in Verbindung mit der inhaftierten Elisabeth Kittowski (geb. Fuchs) und leistete humanitäre Hilfe für Angehörige inhaftierter N S - G e g n e r 8 9 . In den Jahren des „Dritten R e i c h e s " setzte Mulert große H o f f nungen auf die ethische und humanitäre Stimme des Protestantismus. Das Schweigen der Bekennenden Kirche an diesem Punkt war einer der Gründe, die Mulert zu seinen heftigen Attacken gegen die „Bekenntnisfront" bewogen haben. E r sah in ihr den Leitspruch fiat confessio, pereat ecclesia walten - einer ecclesia, die für Mulert immer auch Kultur- und Bildungsmacht und H o r t christlich motivierter Ethik und Humanität gewesen ist. Wie Mulert die Sachlage beurteilte, zeigt ein Brief an Wilhelm Niemöller vom 6. O k t o b e r 1936 im

1920 o. Prof. in Kiel, 1935 zwangsentpflichtet, 1948 Lehrauftrag in Leipzig. - Kurzer biographischer Abriß (nicht fehlerfrei) in: Freies Christentum 2, 1950, Sp. 1 - 3 (J. Herz); vgl. auch T h L Z 74, 1949, Sp. 50 f. (K. Heussi); T h L Z 75, 1950, Sp. 633 f. (H. Stephan). 8 6 JOHANNES RATHJE: Die Welt des freien Protestantismus. Ein Beitrag zur deutsch-evangelischen Geistesgeschichte. Dargestellt am Leben und Werk von Martin Rade. Stuttgart 1952, S. 515. 87 Dazu gehörte die Emigration des Zweitherausgebers Friedrich SiegmundSchultze 1933, die Entlassung Rades aus dem Staatsdienst am 2 4 . 1 1 . 1933, die erzwungene Selbstauflösung der „Vereinigung der Freunde", die Zwangsentpflichtung Mulerts im Zusammenhang mit der antifaschistischen Tätigkeit seines Neffen Hermann Reinmuth. - Vgl. ebd., S. 449ff.; KURT NOWAK: Hermann Reinmuth (Christ in der Welt. 45). Berlin 1978. 88 Mulert an Rade (1934): Es entspräche seinem persönlichen Empfinden mehr, „aus dieser ganzen Atmosphäre der Verlogenheit heraus mich in den sogenannten Ruhestand zu flüchten" (J. RATHJE [Anm. 86], S. 470). 89 Briefliche Mitteilung von Frau Gisela Mulert (Niederbobritzsch) vom 2 1 . 4 . 1981.

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Zusammenhang mit dessen demonstrativer Abonnementsaufkündigung der „Christlichen Welt". Mulert antwortete W. Niemöller: „Lassen Sie mich zu dem grundsätzlichen Inhalt Ihres Briefes... folgendes sagen. Da man heute von Vielem zurückhaltend reden muß und Freunde mir immer sagen, eine scharfe Sprache und ein etwaiges Verbot der CW würde nichts nützen, aber mancherlei schaden, bin ich nicht sicher, ob Sie meine persönliche Haltung kennen. Ich finde vieles Unrecht, das geschehen ist und geschieht, unerträglich, und meine alte Kritik an der BK ist die, daß sie, statt sich gegen dieses Unrecht zu wenden, allzusehr konzentriert hat auf den dogmatischen Protest gegen die in der Tat zum Teil törichten Meinungen in den Reihen der DC. Daß einige von mir sehr begrüßte Äußerungen der BK aus diesem Jahr mich zwangen, solche Kritik einzuschränken, brauche ich wohl nicht zu sagen . . ." ,0 .

Mulert sah, um der Stimme der christlichen Humanität im „Dritten Reich" Gehör und Gewicht zu verschaffen, nur einen Weg: Zusammenschluß des kirchenpolitisch fraktionierten Protestantismus in der Neuformierung der Volkskirche. Zu diesem Zweck unternahm Mulert zwei Anläufe. Der erste datiert vom 17. März 1936. Zusammen mit Hermann Schafft (Kassel) und Pfr. Dr. Hermann Wagner (Corbetha) lud Mulert zu einer Sammlung der „Mitte" ein, die die Ausgangsbasis für die neue volkskirchliche Konsolidierung bilden sollte. Für den Motivhintergrund wichtig ist Mulerts im gleichen Jahr publizierte Schrift über die Erhaltung der Volkskirche 91 . Den zweiten Anlauf unternahm Mulert mit einem Artikel in der „Christlichen Welt" von Anfang 1937 unter der Überschrift „In elfter Stunde". Mulert forderte zu einer „Volkskirchlichen Tagung" am 14./15. Februar 1937 in Frankfurt/M. auf. Die organisatorische Neuformierung der Volkskirche war dabei für Mulert eine Frage minderen Ranges: „Das zunächst Notwendige ist, daß deutsche Evangelische, die unsere Volkskirche als christliche Volkskirche erhalten helfen wollen, in letzter Stunde vor breiter Öffentlichkeit sich Gehör verschaffen". - „Unser Volk", hieß es in einem beigefügten Aufruf, „braucht die gewissenschärfende Botschaft des Christentums in ihrer ganzen Herbheit und Unerbittlichkeit. Diese Botschaft muß jedoch in einem solchen Geist und solcher Sprache verkündet werden, daß sie heute in unserem Volk gehört und wirksam wird." 9 2 90 Fotokopien des Briefwechsels wurden mir dankenswerterweise von Pfarrer i. R. D. W. Niemöller in Bielefeld zur Verfügung gestellt. " Läßt sich die Volkskirche erhalten? Görlitz 1936. n CW 51, 1937, Sp. 101 f. Unterzeichner des Aufrufs waren u.a. Carola Barth, Gustav Krüger, Johannes Herz, Leopold Klotz, Jacob Schoell, Wilhelm Schubring. Für Mulert bestand ein unlöslicher Zusammenhang zwischen religiöser Freiheit und politischer Freiheit. Insofern hatten seine Polemiken gegen „BK-Orthodoxie" auch

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Mulert sah, daß die Volkskirche nur unter bestimmten Voraussetzungen erhalten werden konnte. Neben der Zurückstellung theologisch-dogmatischer und kirchenpolitischer Gegensätze hielt er die Entpolitisierung der Volkskirche für eine conditio sine qua non ihrer Existenzsicherung. Entpolitisierung war der zu zahlende Preis für die Offentlichkeitseffizienz der christlichen Verkündigung mit ihren für Mulert unabdingbaren ethischen und humanen, zuletzt auch politischen Implikaten. Entpolitisierung bedeutete freilich zugleich auch Reinigung vom Gedankengut des Nationalsozialismus! Mulerts Grundintention war, den prinzipiellen Gegensatz NS-Staat Kirche zu unterlaufen, um auf diese Weise dem Protestantismus neue Geltung zu verschaffen 93 . Man mag über die prinzipielle und situative Reichweite von Mulerts Konzeption geteilter Meinung sein. Von einer historischen Bedeutungslosigkeit dieser Konzeption sollte dennoch nicht gesprochen werden. Das „Seelsorgetum" wie auch die „Mobilisierung aller christlichen evangelischen Gedanken und Werte" (dies nun schon jenseits aller volkskirchlichen Sammlungspläne) war ein nicht zu unterschätzendes Element im volkskirchlichen Konsolidierungsprozeß der Kriegsjahre, in denen sich eine rasche Aushöhlung des NS-Weltanschauungsmonopols vollzog. Beachtet man, daß im Lager des „freien Protestantismus" sich wesentlich breitere Schichten fanden als die immer wieder genannten Namen (Martin Rade, Wilhelm Schubring, Hans Schlemmer, Hans von Soden, Erich Foerster, Carl Mensing u.a.) nahezulegen scheinen, und daß der „freie Protestantismus" vor allem auch in der Religionslehrerschaft starke Bastionen besaß 94 , wird sich seine Wirkungsgeschichte im Feld des Gesinnungswiderstandes noch in einem anderen Licht ausnehmen. Was die Wirkungsgeschichte der wiederholt verwarnten und beschlagnahmten „Christlichen Welt" angeht, so ist wohl der Ansicht Mulerts zuzustimmen: „Gerade daß die CW immer einen weiten Horizont gehabt, auch Fragen der bildenden

einen weiten politischen Hintergrund. Besonders entschieden formuliert hat Mulert diese Auffassung in dem Manuskript „Diktatur im Staat-Autorität in der Kirche" (unvollständig, wohl um 1945 verfaßt. - Nachlaß Mulert; ARCHIV KZG). " Die Erhaltung der Volkskirche war Mulert zufolge nur dann möglich, „wenn außer dem Staate auch die übrigen das Volksleben gestaltenden Mächte: Schule, Wissenschaft, Kunstpflege, öffentliche Jugenderziehung usw. nicht im scharfen Gegensatz zum Christentum stehen" (CW 51, 1937, Sp. 222-224). 94 Dazu H. Mulert: Die Lage des freien Christentums in Deutschland (Bericht für eine Tagung des Weltbundes für freies Christentum in Cambridge 1946. Schreibmaschinenmanuskript im Nachlaß Mulert; ARCHIV KZG).

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Kunst und Literatur behandelt hatte . . . , machte die Zeitschrift f ü r den Nationalsozialismus zu einer Gefahr." 9 5

3.

Der Weg von Koch, Wurm, Asmussen, Schreiner und Mulert durch das „Dritte Reich" weist auf die Varietät auch von politischen Positionen hin, die sich hinter dem Globalbegriff Luthertum verbergen. Die Anwendung eines einheitlichen und in dieser Einheitlichkeit autonomistischen oder auch von heutigem Politikverständnis geprägten Widerstandsbegriffs ist in Anbetracht der Differenziertheit der Problemzusammenhänge schwer vorstellbar. Nähme man zu diesen relativ beliebig herausgegriffenen Personen weitere Vertreter des Luthertums hinzu, würde sich wahrscheinlich noch deutlicher zeigen lassen, welche Vielfalt das Luthertum - selbst noch bei scheinbar gleicher politischer und theologischer Bewegungsrichtung - im „Dritten Reich" tatsächlich in sich barg. Vor 1933 gewonnene politische Positionen wirkten nach der Etablierung des „Dritten Reiches" direkt und indirekt weiter fort. Der Eindruck, der mit einem moralisch-ethischen Widerstandsbegriff im Sinne eines „Aufstands des Gewissens" erzeugt wird, nämlich, daß im politischen Denken gleichsam eine tabula rasa hergestellt war, so daß Widerstand dann nur noch im vorpolitischen Gewissensbereich ansetzen konnte, bedarf auch f ü r die Kirchengeschichtsschreibung der relativierenden Korrektur. Bei prinzipiell sichergestellter Ablehnung des „Dritten Reiches" vollzog sich der Weg von Koch, Asmussen und Mulert vom Anfang bis zum Ende in einem komplexen Spannungsgefüge von faktischer und taktischer Anpassung und widerständigen Aktivitäten. Während bei Koch eine kircheninstitutionelle Sicherungsstrategie dominierte, trat bei Asmussen der Gesichtspunkt des Verkündigungswiderstandes aus dem Wort Gottes hervor, bei Mulert wiederum ein ethisches, kulturelles und religiöses Anliegen, das auf ein nicht-nationalsoziali,s H. Mulert: Die Christliche Welt (Schreibmaschinenmanuskript ebd. (wohl von 1945). - Nach dem Sturz des „Dritten Reiches" wurde Mulert, der in der Weimarer Republik zeitweilig Schriftführer des DDP-Landesverbandes Schleswig-Holstein gewesen war, Mitglied der LDPD-Ortsgruppe Niederbobritzsch im Landesverband Sachsen und Vorsitzender der Ortsgruppe (Mitgliedskarte Nr. 3 vom 30.9. 1945; ebd.). Der „homme politique" Mulert trat damit erneut in jenen Bereich staatsbürgerlicher Verantwortung ein, der ihm unter den Verhältnissen des „Dritten Reiches" nur in der Wahrnehmung eines kulturell-ethischen und religiösen Gesinnungswiderstandes zugänglich gewesen war.

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stisches Kultur- und Menschenbild zielte. Waren schon die Wege von Koch, Asmussen und Mulert mit mancherlei Irritationen verbunden, so ist der Aspekt von Klärung und Wandlung bei zunächst stärker systemkonformen Lutheranern (Wurm, partiell auch Schreiner) um so stärker in Anschlag zu bringen, um zu hinlänglich differenzierter Sicht durchzustoßen, die nicht an einem bestimmten Entwicklungspunkt statisch hängenbleibt. Die in der Forschung bevorzugten Formeln zur Charakterisierung des Widerstands der Kirche wie „Widerstandsbewegung wider Willen" (Ernst Wolf), Herausgehen im „Krebsgang" aus dem Dunkel des „Dritten Reiches" (R. v. Thadden), „Verweigerung des politischen Kampfes" (E. Bethge) oder auch die eigenwillige Interpretationsformel K. Scholders („nicht Mangel, sondern zu viel Reflexion in politicis"96) erscheinen als zu breitmaschig, um die realen historischen Sachverhalte und Bedingungen von Widerstand einzufangen. Als ebenfalls nur begrenzt brauchbar erscheinen auch die Versuche, systematisch-theologische Modelle an die geschichtliche Wirklichkeit anzulegen, wie das in der Anwendung der Zweireichelehre für die Interpretation der politischen Haltung des Luthertums im „Dritten Reich" immer wieder geschieht. Weder ist die Eigenart von personengeschichtlichen Entwicklungen noch die von Gruppen und Großinstitutionen allein von theologischen Faktoren her erklärbar. Inwieweit das theologische Modell Zweireichelehre überhaupt als Interpretament für das Luthertum im „Dritten Reich" in repräsentativer Breite geeignet ist, muß u. E. noch genauer untersucht werden. Das gilt in positiver wie in negativer Hinsicht! Die Diskussion des lutherischen Widerstandes - auch dies ergibt sich als Einsicht aus den vorgelegten Fallbeispielen - kann nicht davon absehen, daß das nie ernsthaft bestrittene primäre Orientierungsziel der Lutheraner die Volkskirche war, so unterschiedlich die jeweiligen theologischen und politischen Positionen auch sein mochten. Gemäß dieser Erkenntnis wäre das Widerstandsthema in den Rahmen der Volkskirchenproblematik einzustellen. Das bedeutet, nicht nach den politischen Einstellungs- und Verhaltensweisen „an sich" zu fragen, sondern die Fragerichtung in folgender Art zu präzisieren: 1. Inwieweit war das Leitbild Volkskirche jeweils in Beziehung gesetzt zur politischen und humanitären Verantwortung der Kirche? 2. Welche politischen, gesellschaftlichen und humanitären " E. WOLF (Anm. 3), S. 37; Zum Verhältnis der politischen und moralischen Motive in der deutschen Widerstandsbewegung. In: Walter Schmitthenner, Hans Buchheim (Hg.): Der deutsche Widerstand gegen Hitler. Köln/Berlin 1966, S. 215-255, b e s . S . 2 1 9 , 2 3 0 ; R . VON T H A D D E N ( A n m . 5 ) , S . 1 3 1 ; KLAUS S C H O L D E R : U n g e d r u c k t e s

Positionspapier. 4 Seiten Hektographie.

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wie auch theologischen Inhalte wurden beim Vorgang des In-Beziehung-Setzens jeweils transportiert? 3. Wie ist unter den Verhältnissen des „Dritten Reiches" die politische Verantwortung der Kirche in ihrer allgemeinen Form in Beziehung gesetzt worden zu einer denkbaren speziellen Verantwortung zum Staatsumsturz? Im Zusammenhang mit dem Hauptstichwort Volkskirche muß auch auf den sehr wichtigen ökumenischen Aspekt hingewiesen werden, der ein Teilgebiet des Widerstandsthemas ausmacht. Es ist bekannt, welche Schwierigkeiten Kirchenführer des Auslands wie Erling Eidem, George Bell und Eivind Berggrav mit dem exklusiven Selbstverständnis der „dahlemitisch" orientierten Bekenntniskirche hatten. Zur Position Berggravs merkte P. Ludlow an: „Berggravs Problem - die Tatsache, daß eine deutsche Kirche, die eine wirksame Rolle in nationalen und internationalen Angelegenheiten spielen konnte, ganz einfach nicht existierte - hatte viele andere ausländische Kirchenführer schon vorher in Verlegenheit gesetzt." 97 Die volkskirchlichen Integrationsbemühungen eines Koch und Wurm, aber auch eines Asmussen und Mulert erscheinen von daher in einer ganz anderen Beleuchtung. In der Frage der politischen Verantwortung der Volkskirche ist ganz gewiß mit einer erheblichen Spielbreite der Auffassungen wie auch der grundsätzlichen Motive und mancher Teilmotive zu rechnen. Die Frage der politischen Verantwortung der Kirche ist ja während der Weimarer Republik nie zur Ruhe gekommen. Eine prinzipiell-wegweisende Orientierung für das Ganze der Volkskirche war nicht zustandegekommen. Mit der Etablierung des „Dritten Reiches" 1933 blieb diese ganze Diskussion gleichsam in einem unreifen Stadium liegen und differenzierte sich von 1933 bis 1945 unter erschwerten Bedingungen über das kirchenpolitisch organisierte und nichtorganisierte Luthertum noch einmal zusätzlich aus. Immerhin sind in diesem Problembereich im Verlaufe der Geschichte des „Dritten Reiches" Teillösungen sichtbar geworden. In diesem Zusammenhang wäre nicht nur auf das Praxis-Beispiel Wurms hinzuweisen, sondern z. B. auch auf die in der Forschung bis auf den heutigen Tag noch nicht einmal in ihren markantesten Positionen analysierte Diskussion des Luthertums zur Staatsethik und Ethik des Politischen, die zwischen 1935 und 1940 in großer Breite geführt wurde , 8 . "

P . LUDLOW ( A n m . 35), S . 2 5 6 .

" Genannt seien nur GEORG WEHRUNG: Zur theologischen Begründung des Staa-

tes. In: ZSTh 12, 1935, S. 555-608; GÜNTER JACOB: Kreuz und Reich. In: T h R 7,

1935, S. 319-348; HERMANN SASSE: Kirchenregiment und weltliche Obrigkeit nach lutherischer Lehre. München 1935; PAUL ALTHAUS: Obrigkeit und Führertum. Wandlun-

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Der Punkt, auf den sich das Problem der politischen Verantwortung der Kirche in „Dritten Reich" zuspitzte, war die kirchliche Haltung zum Staatsumsturz als ultima ratio politischen Handelns. In der Frage des Staatsumsturzes, soweit sie in den Blick kam, ist kein Konsens erzielt worden - damals nicht, aber auch heute nicht. Soweit wir die Diskussionen in der deutschen lutherischen Theologieund Kirchengeschichtsschreibung überblicken, ist eine „Theologie des Staatsstreichs" nicht geschrieben worden. Es sind lediglich einige Eckwerte erarbeitet worden, die sich auf das Handeln von Einzelpersonen, auf die Kompetenz von Gruppen und auf die Gewissensentscheidung, insgesamt jedoch immer auf den nicht systematisierbaren und kontingent bleibenden „Grenzfall" beziehen. Eine eher pointillistische Betrachtung des Themas scheint damit aber noch nicht wirklich überwunden". Die Erforschung des lutherischen Widerstandes im „Dritten Reich" kann nicht den Versuch der Abwägung der Widerstandschancen aus ihrem Kalkül entlassen, so eindrucksvoll Widerstandswege, auf denen nicht nach dem Erfolg gefragt wurde, auch sind und ihre große historische Bedeutung besitzen. Wie also stand es mit den realen Widerstandschancen und der Widerstandseffizienz von Volkskirche? Offenbar stehen Großorganisationen unter anderen Handlungsgesetzen als Einzelpersonen oder Gruppen. Es wäre deshalb falsch, die Haltung einer Großorganisation mit dem Widerstand von Individuen oder Kleingruppen in eine Vergleichsrelation zu bringen und daraus entweder in polemischer Abzweckung ein „Versagen" der Großinstitution abzuleiten oder in apologetischer Abzweckung den Widerstand von Kleingrupgen des evangelischen Staatsethos. Gütersloh 1936; FRIEDRICH-WILHELM HOPF: Vom weltlichen Regiment nach evang.-luth. Lehre. München 1937; GOTTFRIED NIEMEIER: Der Kirche Recht und Pflicht zu einer theologischen Ethik des Politischen. In: EvTh 4, 1937, S. 250-254; Heiligsprechung oder Heiligung? Zur theologischen Ethik des Politischen. In: T h R 12, 1940, S. 48-72; HARALD DIEM: Luthers Lehre von den zwei Reichen, untersucht von seinem Verständnis der Bergpredigt aus. München 1938; AUREL VON JÜCHEN: Jesus und Pilatus. Eine Untersuchung über das Verhältnis Gottesreich und Weltreich. München 1941. " Pointillistisch meint die mangelnde Zuordnung von Widerstandsrecht mit einer allgemeinen politischen Verantwortung. In diesem Sinne ist M. GEIGER (Anm. 4), S. 44 beizupflichten: eine „Institutionalisierung des Widerstandsrechts im Leben und in der Ordnung der Gesamtkirche dürfte aber sinnvollerweise nur so durchzuführen sein, daß das Widerstandsrecht (im Sinne des Rechtes zu gewaltsamem Widerstand gegen den Unrechtsstaat) einem sehr viel weiter gefaßten Konzept von Widerstand integriert und damit aus seiner unbefriedigenden Isolierung und Spezialisierung befreit wird". Generell muß das Streben nach Kontrollierbarkeit und Durchschaubarkeit der Macht sowie ihre Verpflichtung auf den Dienst der „Vermenschlichung der geschichtlichen Entwicklung" als allgemeiner Bezugshorizont gelten, in den dann auch das Widerstandsrecht qua Umsturzaktivität einzubringen ist.

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pen und Individuen mit der Großorganisation zu identifizieren („Repräsentationstheorie des Widerstandes" 1 0 0 ). In dem von P. Hüttenberger vorgelegten Modell des Two-Persons-BargainingGame, dessen Kern in der differenzierten Beschreibung von Widerstandsflächen in asymmetrischen Herrschaftsbeziehungen besteht, erscheinen die Kirchen als soziale Einheiten, die außerhalb des eigentlichen Herrschaftsbereichs stehen und somit dessen Objekt sind. Aus diesem Grunde können sie von den Trägern der Herrschaft noch in einem organisierten Zustand geduldet werden. Nach Hüttenberger waren die Kirchen in ihrem geduldeten Organisationsbestand in der Lage, „Einfluß auf Teile der Bevölkerung auszuüben, freilich zugleich gezwungen, Wohlverhalten zu demonstrieren, um nicht Konflikte in die Welt zu setzen, aber andererseits sich durch Abkapselung zu schützen oder dann, wenn sie angegriffen wurden, sich auch zu wehren. Dieser Widerstand richtet sich daher nicht gegen die Herrschaft als Ganzes, sondern lediglich gegen spezielle Teilbereiche, Einzelkomponenten und bestimmte Maßnahmen, die eine Zerschlagung der jeweiligen Organisation zum Ziel haben. Er kann indes die Gesamtherrschaft schwächen, da dadurch andere soziale Einheiten eine Chance erhalten, sich ihrerseits durchzusetzen". 1 0 1 Die Demonstration von Wohlverhalten schließt Widerstand nicht aus. Diese an sich triviale Feststellung verdient deshalb unterstrichen zu werden, weil die Neigung besteht, aus der Summation von Wohlverhalten die Schlußfolgerung fehlenden Widerstandes abzuleiten. Wichtig erscheint auch ein zweiter, von Hüttenberger hervorgehobener Aspekt. Gerade bei der Eigenart von Großinstitutionen muß der Gesichtspunkt eines Widerstandes, der nicht auf das Ganze der Herrschaft, sondern „ n u r " auf Teilbereiche zielt, besonders berücksichtigt werden. Das trifft etwa zu auf einen Teilwiderstand zur Sicherung der Institution, wie wir ihn bei Koch festgestellt haben, gilt aber auch f ü r den direkt politischen Bereich. Bei politischen Widerstandsaktivitäten kann nicht generell von einem Widerstandsverhalten gegen unterschiedslos alle Aspekte der NS-Herrschaft ausgegangen werden. Widerstand gegen innenpolitische Zielsetzungen brauchte nicht Widerstand im außenpolitischen Bereich einzuschließen, eine Beobachtung, die sich besonders augenfällig in der ersten Kriegsphase demonstrieren ließe, zumal viele Christen damals noch meinten, es handele sich um einen nationalen Krieg im Stile des 19. Jahrhunderts. Humanitärer Protest, beispielsweise gegen die Gei100

P. HÜTTENBERGER: Vorüberlegungen (Anm. 9), S. 118.

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Ebd., S. 133.

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steskrankenmorde, brauchte als Teilwiderstand nicht mit innen- und außenpolitischer Verwerfung des Systems zu korrespondieren. Teilwiderstand als Interpretationskategorie in differenziert-gestufter Schichtung ist für die Analyse des Widerstandes der Kirche als Großorganisation u.E. auch deshalb von so eminenter Bedeutung, als ja die „soziale Einheit" Kirche über die ihr zugehörigen Glieder quer durch alle sozialen Einheiten hindurchging und deshalb mit zahlreichen Überschneidungen von Betroffenheiten und Motiven gerechnet werden muß. Ein namentlich für das Verständnis der protestantischen Volkskirche im „Dritten Reich" relevanter Aspekt ist auch, was von P. Bachrach und M. S. Baratz „das andere Gesicht von Herrschaft" genannt worden ist 102 . Damit ist gemeint, daß trotz tiefgreifender struktureller Interessengegensätze ein stillschweigender Konsens über oft nur halbbewußte Werthaltungen vorliegen kann, der dann als Auslesemechanismus für sämtliche Überlegungen und Planungen wirkt, die nicht in die Prämissen des Konsensus hineinzupassen scheinen. Die Realisierung von Widerstand kann dann nur durch einen Sprung über die Konsensbarriere erfolgen. In der geschichtlichen Wirklichkeit mit ihren erst im Nachhinein voll überschaubaren Konstellationen ist gerade auch in diesem Bereich mit zahlreichen Widersprüchen zu rechnen. In Hüttenbergers Modell erhält die Kirche augenscheinlich tendenziell insofern eine das Gesamtsystem destabilisierende Bedeutung zugesprochen, als durch kirchenpolitischen Teilwiderstand Kräfte der Träger des Herrschaftssystems gebunden werden, was dann wieder anderen sozialen Einheiten Chancen zum Agieren und Reagieren gibt. In der Kirchenkampfforschung ist dieser Sachverhalt mit dem Terminus „objektiver Störfaktor" beschrieben worden 103 . Man kann zusätzlich noch fragen, ob über eine solche Störfunktion hinaus nicht auch das NS-System in dem Teilbereich Weltanschauung/Ideologie ganz empfindlich und nachhaltig geschädigt worden ist, mit dann auch noch genauer zu beschreibenden politischen und sozialen Folgen für das Gesamtsystem. Man kann an die Frage der Widerstandbedeutung von Volkskirche auch mit einem Gedankenexperiment herangehen. Setzt man voraus, daß wesentliche Trägergruppen des NS-Herrschaftssystems auf eine vollständige Desaggregrierung der „sozialen Einheit" 102 Ebd., S. 125 mit Verweis auf P. Bachrach/M. Baratz: Decisions and Nondecisions. An Analytical Framework. In: R. Bell/D. V. Edwards/R. H. Wagner (Hg.): Political Power. London 1969, S. 100 ff. 105 KURT MEIER: Der Evangelische Kirchenkampf. Gesamtdarstellung in drei Bänden. Halle/S. und Göttingen 1976. Bd. 1, S. 50ff.; Bd. 2, S. 13ff. und passim.

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Volkskirche abzielten - wozu der „Modellgau Wartheland" das Anschauungsmaterial bot - also die Auflösung der Organisation und der spezifischen Normen dieser sozialen Einheit betrieben, um sie so bis auf die Ebene von Primärgruppen hinab zu isolieren, dann kann Widerstand nur noch aus individueller Nonkonformität bestehen. Eine Hintergrundverstärkung durch die soziale Einheit ist nicht mehr gegeben, wie denn auch die soziale Einheit selber, da nicht mehr existent, kein Widerstandspotential, und sei es auch nur latent, mehr verkörpert. In der Volkskirche repräsentieren sich Norm- und Wertvorstellungen in einem mehr oder minder intensiven Bezug zur gesamten Gesellschaft. In einem theologischen Modell von Volkskirche, das beispielsweise stärker von einer asynthetischen Wort-Gottes-Theologie her bestimmt ist und die kulturellen, erzieherischen und ethischen Bezüge zurückstellt, wird diese Verbindung im Sinne einer Legitimation der Gesellschaft oder gesellschaftlicher Teilprozesse lockerer sein. Umgekehrt kann ein Modell von Volkskirche unter Betonung bestimmter Verbindungselemente zwischen Christentum und Gesellschaft sich als identisch mit der Gesellschaft ausgeben und ihre religiöse Verkündigung zur civil religion denaturieren. Letzteres ist im „Dritten Reich" bei bestimmten Gruppierungen der Deutschen Christen der Fall gewesen, die ihr Selbstverständnis in der Formel „Ein Volk, ein Führer, ein Reich, eine Kirche" fanden. Für das Widerstandsthema lautete die Frage, wie hoch die religiöse Legitimationsbereitschaft des volkskirchlichen Luthertums für die Gesellschaft in der nationalsozialistischen Zeit gewesen ist. Dabei wäre es falsch, von der Vorstellung auszugehen, der Nationalsozialismus sei der deutschen Gesellschaft als ein diskontinuierlich-fremdes Element aufgestülpt worden, dem man sich nun gegenüberfand. Der Nationalsozialismus war mit vielen gesellschaftlichen Kräften eng verflochten, wenn er auch einige eigene, ihn unverwechselbar prägende Merkmale aufwies. Hinzu kam ein schwer entwirrbares Durcheinander von Interessen und politisch-ideologischen Motiven und Leitbildern. In der Anfangsphase des „Dritten Reiches", die noch vom Prozeß der stufenweisen Machtergreifung der NSDAP bestimmt gewesen ist, war der Wille von beiden Seiten, Staat und Kirche, bekanntlich stark, die christlichen Kirchen eine religiöse Legitimationsfunktion im gesellschaftlichen Gefüge einnehmen zu lassen. Dieser Wille verminderte sich schon kurze Zeit nach der Etablierung des Einparteienstaates im Zuge des Vordringens der sog. „weltanschaulichen Distanzierungskräfte" und mußte auf die Kirchen als Infragestellung und Desavouierung ihrer Legitimationsbereitschaft zurückfal-

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len. Diese Legitimationsbereitschaft meinte allerdings nicht prinzipielle Kongruenz mit sämtlichen weltanschaulichen, politischen und sozialen Zielsetzungen des Nationalsozialismus. Hier gab es von Anbeginn graduelle Abstufungen der Legitimationsbereitschaft. Mit der generellen Desavouierung der Legitimationsbereitschaft mußte die Frage dringlich werden, welche Legitimation - bei immer weiter festgehaltenem Offentlichkeitsanspruch von Kirche als Volkskirche - welcher Gesellschaft bzw. welcher gesellschaftlichen Kräfte und Teilprozesse dann tatsächlich erfolgte? Wir treffen hier auf kein einheitliches Bild. In Kochs und Wurms Volkskirchenkonzeption stand ein altkonservativ-national bestimmtes Gesellschafts- und Staatsideal im Hintergrund, wie es denn auch gewiß kein Zufall ist, daß Wurm Kontakte zur Widerstandsbewegung des 20. Juli wohl primär über die Person Goerdelers liefen. Bei Mulert stand eine liberale Gesellschaft im Hintergrund. Diese Palette ließe sich weiter ausdifferenzieren. Wichtig ist, daß hier Gegenbilder sichtbar wurden und die religiöse Legitimationsbereitschaft sich zunehmend auf sie bezog, mochte auch zum offiziellen Gesellschaftsbild des Nationalsozialismus noch mancher „halbbewußte Konsens" im Sinne des oben skizzierten anderen Gesichts von Herrschaft bestehen und irritierend einwirken. Mochten diese Gegenbilder, wie man z . T . auch aus der protestantischen Belletristik, die vielfach in Lesungen und illegaler Schriftenverbreitung wirkte, ablesen kann, sich auch nur in seltenen Fällen zu politischen Handlungsenergien bündeln, so wohnte ihnen doch systemdestabilisierende Qualität inne. Der Ausdifferenzierung des Widerstandsbegriffs in Teilwiderstand und das Fallenlassen des dichotomischen Schemas „System-Gegner des Systems" entspricht die Tendenz der neueren Forschung, weniger die monolithische Einheitlichkeit des NS-Systems zu betonen als vielmehr dessen oft gegeneinanderlaufenden politischen und weltanschaulichen Bewegungsgegensätze und die oftmals hohen Reibungsflächen auf der Herrschaftsebene selbst. In der kirchengeschichtlichen Erforschung der nationalsozialistischen Religionspolitik sind derartige Gesichtspunkte in der Beschreibung des „Dualismus" zwischen Staat und Partei zum Tragen gekommen. In der Analyse der Religionspolitik auf Länder- und Regierungsbezirks- wie Kreisebene wird dieses Grundmuster vielleicht noch weiter zu differenzieren sein und den Aspekt der Uneinheitlichkeit und damit auch der unterschiedlichen Betroffenheiten und Reaktionsweisen verstärken. Bei dieser Sachlage, die eine Sicht des NS-Systems aus den Voraussetzungen einer Totalitarismustheorie nur noch als sehr begrenzt haltbar erscheinen läßt, gewinnt der differenzierte Aufweis von Geschehensabläufen jenseits des dichotomischen Schemas neue Bedeu-

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tung auch für die Widerstandsforschung. So wie in der Beschreibung des „Dritten Reiches" die These vom monolithischen Charakter des Systems fallengelassen werden mußte, ist auch für den Widerstand der Gesichtspunkt der Komplexität und Widersprüchlichkeit ausschlaggebend. Mit der Neustrukturierung des Widerstandsverständnisses in der jüngsten Forschung wird in zunehmendem Maße auch die Zuordnung von Widerstandsverhalten und Faschismustheorie, wichtig. Schon R. Dahrendorf machte 1965, damals allerdings ohne eigenkonzeptionellen Anspruch auf eine Widerstandstheorie, deutlich, wie stark die jeweils explizit oder implizit leitenden Faschismustheorie mit der Bewertung von Widerstand korrespondiert. Versteht man, wie Dahrendorf es will, den Nationalsozialismus als Modernisierungspotential, muß Widerstand als regredierender Aufstand der Tradition, der Region, der Religion gegen die freilich gewaltsam und terroristisch in Gang gebrachte Modernisierung der deutschen Gesellschaft verstanden werden 104 . Eine antimodernistische, totalitaristische, bonapartistische, klassenkampforientierte oder auch dämonologische Faschismustheorie müßte zu ganz anderen Ergebnissen kommen. Für die Kirchengeschichtsschreibung liegen die methodischen Schwierigkeiten bei der Rezipierung von Faschismustheorien darin, daß deren Materialien sich auf Bereiche gründen, denen die Kirche in nur vermittelter Weise zugehört: den sozialen bzw. sozialökonomischen und den politischen Herrschaftsbereich. Ohne in gewaltsame Theoreme zu verfallen, kann die Kirchengeschichtsschreibung die Kirchen eigentlich nur dem Weltanschauungsbereich eines Systems zuordnen. Das schließt allerdings nicht aus, sozial-ökonomisch fundierte Faschismustheorien grundsätzlich zu rezipieren, nur wird dann deren methodische Stringenz im kirchenhistoriographischen Bezug schwer einzubringen sein. 104 RALF DAHRENDORF: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland. München 1965, S. 442: „Wenn es richtig ist, daß das Nazi-Regime aus den Erfordernissen der Etablierung seiner totalen Herrschaft heraus eine soziale Revolution bewirken mußte, dann läßt sich der Widerstand gegen das Regime als gegenrevolutionär beschreiben. Sein Inhalt liegt dann also in dem Versuch, den vorrevolutionären Zustand wiederherzustellen. W o die nationalsozialistische Revolution wider Willen Modernität hervorbrachte, strebte die Gegenrevolution nach der Erhaltung der traditionellen Bindungen von Familie und Klasse, Region und Religion. Während die soziale Revolution des Nationalsozialismus der Durchführung totalitärer Formen galt, aber damit zugleich die Grundlagen liberaler Modernität schaffen mußte, läßt die Gegenrevolution sich nur als Aufstand der Tradition, damit auch der Illiberalität und des Autoritatismus einer nachwirkenden Vergangenheit verstehen". - Auch diese Sicht weist nebenher noch ungewollt auf die einseitige Favorisierung der Bewegung des 20. Juli in der bürgerlichen Widerstandsforschung hin.

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Als besonders geeignet für die kirchengeschichtliche Arbeit und damit auch für die kirchliche Widerstandsforschung erscheinen Faschismustheorien, die zwischen Basis, Rolle und Funktion des Nationalsozialismus unterscheiden. In diesem Sinne neigen wir einer kombiniert antimodernistisch-modernistischen Faschismustheorie zu, die zwischen Modernisierungsprozessen im Basisbereich und Antimodernismus im Uberbaubereich, speziell auf dem NS-Weltanschauungssektor unterscheidet 105 . Die partielle Rezipierbarkeit anderer Faschismustheorien, die jeweils spezifischen Teilbereichen des NS-Systems u. U. besser gerecht werden können (z. B. im politischen Herrschaftsbereich eine bonapartistische Faschismustheorie), ist damit nicht negiert. Für eine integrative, die Spezifik der Kirchen- und Christentumsgeschichte berücksichtigende Faschismustheorie wird im gegenwärtigen Theoriestadium, das durch eine Vielfalt der Ansätze und oft noch kaum voll durchkonstruierte Theorien gekennzeichnet ist, ohnehin eine stärker kombinierte Methodik zu wählen sein. Eine kombiniert antimodernistisch-modernistische Faschismustheorie geht von aggressiven weltanschaulichen Reaktionen auf den beschleunigten Wandel des wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Systems aus. Die in dem Prozeß des gesellschaftlichen Wandels aufbrechenden Konflikte werden ideologisch auf innere und äußere Gegner abgeleitet und damit die Erkenntnis der Realursachen sowie die Herstellung eines adäquaten historischen Lagebewußtseins verstellt. Es erscheint vorstellbar, daß der Angriff auf den aggressiven Weltanschauungsantimodernismus des Nationalsozialismus, selbst dort noch, wo er seinerseits antimodernistisch motiviert und formuliert war, langfristig zur Herstellung eines adäquaten historischen Lagebewußtseins beigetragen hat. Das müßte sich vor allem im Bereich der politischen Herrschaftsstrukturen und deren Bewertung zeigen lassen. Es wäre für die kirchengeschichtliche Forschung eine lohnende Aufgabe, im Gegenüber zum nationalsozialistischen Herrschafts- und Politikverständnis herauszuarbeiten, wie im politisch-ethischen Entwicklungsprozeß des Luthertums durch 105 Diese etwas vereinfachende, an H. MATZERATH/H. VOLKMANN: Modernisierungstheorie und Nationalsozialismus. In: J. Kocka (Anm. 9), S. 86-102 angelehnte Bestimmung wäre in einer näheren Ausarbeitung dahingehend zu ergänzen, daß von der antimodernistischen Weltanschauungsmentalität auch Rückwirkungen auf die soziale Basis gesehen werden müssen, die die insgesamt industriegesellschaftlichen Grundlagen der NS-Gesellschaft partiell infragestellten, wie dann auch umgekehrt im antimodernistischen Weltanschauungsbereich die Elemente zu beachten sind, die das Funktionieren der industriegesellschaftlichen Prozesse gewährleisteten und vorantrieben. Diese sich teilweise durchkreuzenden Komponenten wären zudem noch auf verschiedene Trägergruppen in Wirtschaft und Politik aufzuschlüsseln.

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das „Dritte Reich" eine schrittweise Ablösung vom Gedanken des politischen Führertums, der Vorordnung der Macht vor das Recht, eines irrationalistisch aufgeladenen Politikverständnisses und eines individuellen Souveränitätsdogmas im Staatsverständnis erfolgte. Damit wäre ein Weg offen, den Widerstand in die historische Perspektive einer Entwicklung einzuordnen, die zuletzt auf Modernität zielte und ihn somit von einer bloß ethisch-moralischen Appellfunktion an die Nachgeborenen in dem Sinne zu entbinden 106 , daß sein objektiv-historischer Charakter um so deutlicher hervortritt und auf diese Weise unsere geschichtliche Existenz in der Gegenwart noch besser anleiten kann. Zusammenfassend sollen einige Gesichtspunkte hervorgehoben werden, die für die Profilierung und Wegrichtung der Forschung im Kontext der gegenwärtigen Diskussionen als besonders wichtig erscheinen. 1. Vordringlich ist eine differenzierte Bestimmung, was als politischer Widerstand von Kirchen und Christen gelten soll. Das kann nur unter Abstreifung eines normativen und dichotomischen Widerstandsbegriffs und im vertieften Eindringen in die komplexe Realität der Motivations- und Aktionsbedingungen von Kirchen und Christen geschehen. 2. Dem Gesichtspunkt der Differenzierung zwischen Institutionen, Personen und Gruppen ist dabei besondere Beachtung zu schenken, wobei diese drei Größen jedoch zugleich auch in ihrer wechselseitigen Relationalität gesehen werden müssen. Schwerpunkt auf der institutionsgeschichtlichen Ebene dürfte die Volkskirche mit ihren wiederum in sich vielschichtigen und zum Teil gegeneinanderlaufenden kirchenpolitischen, theologischen und politischen Strömungen und Kräften sein. 3. Die Vorstellung von der Eindimensionalität des Widerstandes ist zu ersetzen durch die Vorstellung einer Multidimensionalität, die 106 Im übrigen muß von strikt ethisch-moralischen Kategorien her jeder Widerstand, der sich nicht im kompromißlosen Reindestillat manifestierte, zuletzt als irrelevant erscheinen. Ein besonders plastisches Beispiel für diese Art der Urteilsbildung bietet HANNAH ARENDT: Eichmann in Jerusalem. München 1964. H . Arendt unterstreicht noch bei der Opposition des 20. Juli den Gesichtspunkt der „Komplizität" (S. 44). Der 20. Juli muß deshalb zum machiavellistischen Schachzug zur Verschaffung eines politischen Alibis werden (S. 137). Nichtteilnahme sei das einzige Kriterium, an dem Schuld und Schuldlosigkeit des einzelnen gemessen werden könne (S. 164). Eine prinzipielle Gegenposition gegen metahistorischen Rigorismus, gerade auch aus der Perspektive des Auslands, markierte schon frühzeitig die Publikation von KARL O. PAETEL: Deutsche Innere Emigration. Antinationalsozialistische Zeugnisse. Mit Originalbeiträgen von Carl Zuckmayer und Dorothy Thompson. New York 1946.

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im Begriff des Teilwiderstandes zum Ausdruck kommt. Der Fall, daß sich eine politische und humanitäre Widerstandshaltung unterschiedslos und in gleicher Intensität durch alle politischen, gesellschaftlichen, sozialen und weltanschaulichen Bereiche des NS-Systems durchhält, ist selten. Als Teilwiderstand ist dann auch der kirchenpolitisch-institutionelle und der geistlich-religiöse Widerstand zu fassen, wobei bei allen Formen von Teilwiderstand auch auf wechselseitige Durchdringung, u. U. auch partielle Austauschbarkeit zu achten ist (mehrschichtiges Beziehungsgeflecht). 4. Unter traditionsgeschichtlichem Aspekt wäre eine Widerstandsgeschichte des Protestantismus von der Reformationszeit bis in das 20. Jahrhundert nützlich, um sich auch vom Traditionsbezug her aus der Vorstellung einer Eindimensionalität von Widerstand zu lösen und die bisher noch dominierende primär theologisch-ethische und widerstandsrechtliche Betrachtung durch eine historisch komplexe Sicht zu ersetzen bzw. zu ergänzen.

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Die volkskirchliche Tradition in Skandinavien Das Thema meines Referats ist ein Wagnis, nicht nur weil es Hauptlinien in der Kirchengeschichte von allen vier skandinavischen Ländern umfassen wird, sondern auch weil der Begriff Volkskirche in diesen Ländern oft diskutiert und sehr umstritten ist. Dazu kommen die Gefahren der hier notwendigen Kürze. Die nordischen Kirchen sind aber in ihrer Entwicklung so eng miteinander verwandt, daß es an sich berechtigt ist, die volkskirchliche Tradition in Skandinavien zusammenfassend und vergleichend darzustellen zu versuchen. Das Wort Volkskirche hat mehrere Bedeutungen, wovon ich anfangs nur die grundlegende Unterscheidung zwischen einem deskriptiven und einem normativen, programmatischen Verständnis hervorheben will. Was heute Volkskirche genannt wird, hat nämlich seinen Ursprung nicht in programmatischen Ideen, sondern in der tatsächlichen Geschichte eines Volkes. Der Begriff bezeichnet in seiner deskriptiven Bedeutung eine Kirche, die ein bestimmtes Volk in seiner Ganzheit umfaßt. Der geschichtliche Ausgangspunkt ist deshalb die Reformation, durch welche die grundsätzlich internationale römisch-katholische Kirche im nördlichen Europa durch evangelische, besonders evangelisch-lutherische Landeskirchen abgelöst wurde. Zwar hatten diese Landeskirchen Vorläufer in nationalkirchlichen Tendenzen im Spätmittelalter und in staatskirchlichen Einrichtungen seit Konstantin; eine solche Landeskirche war jedoch eine Neuschöpfung als eine nur auf sich gestellte Kirche eines weltlichen Reiches. Man kann darüber diskutieren, ob diese landeskirchliche Entwicklung mit den Intentionen der Reformatoren übereinstimmte. Die Reformation begann als freie Glaubensbewegung, und in seiner Zwei-Reiche-Lehre hat Luther bekanntlich die weltliche Gewalt vom Reich Gottes, dem Reich des Wortes scharf getrennt. In Sachen der Kirche und der Reformation sollten Gewalt und Zwang demnach keinen Platz haben. Noch 1539 in seiner Schrift „Von den Konziliis und Kirchen" hat Luther Kreuz und Leiden zu den Kennzeichen der Kirche gerechnet; die wahre Kirche ist die verfolgte Kirche. In den

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evangelischen Gebieten waren es aber schon zu der Zeit die Gegner der Reformation, die verfolgt wurden. Das gilt besonders in den nordischen Ländern, wo die Reformation mit fürstlicher Gewalt sehr schnell und total durchgeführt wurde.

I. Skandinavien war damals in zwei staatliche Herrschaftgebiete geteilt: Dänemark-Norwegen, die bis 1814 gemeinsam dem dänischen Königshaus unterstanden, und Schweden-Finnland, die bis 1809 unter dem schwedischen König vereinigt waren. Die kirchliche Entwicklung in Dänemark war deshalb bestimmend für Norwegen, wie auch die Entwicklung in Schweden die in Finnland mitbestimmte. Die spätere Union zwischen Schweden und Norwegen bis 1905 war dagegen ohne kirchliche Bedeutung. In Dänemark wurde die Reformation von einem lutherisch gesinnten Thronprätendenten durchgeführt, der, von dem Adel in Jutland zum König gewählt, das Land mit einem Söldnerheer erobern mußte, um breitere und ihm feindliche, von Bürgern und Bauern unterstützte reformatorische Bewegungen zurückzudrängen. Als das Land erobert war, zog der neue König sofort den ganzen Besitz der Bischöfe ein und erließ eine reformatorische Kirchenordnung, die auch auf Norwegen ausgedehnt wurde (1536-37). Die königliche Herrschaft über die Kirche entwickelte sich danach geradlinig bis zur Einführung des Absolutismus 1660. Das erstrebte Ideal war die totale, vom König kontrollierte Uniformität. Die kirchliche Verwaltung wurde völlig zentralisiert mit der königlichen Kanzlei an der Spitze. Nur die rechte, vom König approbierte Lehre wurde geduldet und durch königlich ernannte Professoren, Bischöfe und Pastoren verbreitet und überprüft. Auch in Schweden-Finnland war die Reformation mit der Machtergreifung eines Thronprätendenten verbunden. Der Hintergrund war hier ein Aufruhr nach 1523 gegen die bisherige dänische Herrschaft, und der Führer, Gustaf Wasa, wurde zum König gewählt. Er war von reformatorischen Ideen beeinflußt, entscheidend war aber seine schwierige ökonomische Lage, die ihn nötigte, in Gemeinschaft mit dem Adel das Kirchengut zu beschlagnahmen. Die Reformation des kirchlichen Lebens überließ er vorwiegend Reichstagen, Kirchentagen und bedeutenden lutherischen Kirchenmännern. Das hatte weitreichende Folgen. Auch in Schweden erstrebten die nachfolgenden Könige maßgeblichen Einfluß auf die Kirche, und in einer kurzen Periode um 1700 gewann der König die absolute Macht. Die

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Kirche bewahrte aber eine gewisse Unabhängigkeit mit einflußreichen Bischöfen, relativ selbständigen Bistümern und korporativer Vertretung der Geistlichkeit als „consistorium regni". Auf der anderen Seite war religiöse Uniformität auch hier das erklärte Ziel für die geistliche wie auch die weltliche Obrigkeit, und der orthodoxe Eifer war im Ganzen noch strenger als in Dänemark, vor allem von Seiten der Geistlichkeit. Dazu kommt, daß die Geistlichkeit als Ständekorporation in der Tat eine weltliche Gewalt war, und ihre enge Zusammenarbeit mit der weltlichen Obrigkeit hatte zur Folge, daß Staat und Kirche auch in Schweden-Finnland als Einheit betrachtet wurden. Die Kirchen in Skandinavien waren somit schon vor 1800 Volkskirchen, in dem Sinne, daß sie die nordischen Völker in ihrer Ganzheit umfaßten. Die Bezeichnung Volkskirche wurde jedoch nicht benutzt und wäre auch nicht ganz treffend, denn in der damaligen Zeit waren die Kirchen eher Staats- und Obrigkeitskirchen. Das Volk waren damals die Einwohner eines Staates, und die Grenzen der Kirchen waren nicht nationale Grenzen, sondern staatliche Territorialgrenzen. Von oben her war das Luthertum eingeführt und verbreitet worden; alle waren evangelisch-lutherische Christen geworden als Untertanen einer christlich-patriarchalischen Obrigkeit lutherischen Sinnes. Die Pfarrer waren die nächsten Vertreter dieser Obrigkeit, die Gemeinden geographische Bezirke, in welchen die amtliche Befugnis des Pfarrers sehr weitgehend war; und alle kirchlichen Verordnungen wurden von der weltlichen Gewalt unterstützt.

II. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde aber das Verhältnis zwischen Kirche und Volk entscheidend verändert. Viele gesellschaftliche Wandlungen wirkten dabei mit, vor allem aber religiöse Erwekkungsbewegungen, die in allen nordischen Ländern weittragende Bedeutung gewannen. Die Erweckungen wirkten insgesamt als Protestbewegungen gegen die etablierten Kirchen. Merkwürdigerweise scheinen sie aber selbst eine Frucht der Lehrtätigkeit derselben Kirche zu sein, gegen die sie auftraten. Generationen hindurch war das einfache Volk nach lutherisch-orthodox-pietistischen Grundsätzen katechetisiert worden, und der Unterricht wurde durch Predigten, Kirchenlieder und Rituale gleichen Geistes ergänzt. Das traditionelle kirchliche Gedankengut, wie es in den alten kirchlichen Büchern zum Ausdruck

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kam, war jedenfalls die nächstliegende Quelle, aus der die Erweckten ihre Inspiration schöpfen konnten. Hinzu kam das persönliche Studium von Erbauungsschriften, die überwiegend von anerkannten lutherischen Autoren stammten, allen voran von Luther selber. Die Erweckungen bedeuteten in erster Linie, daß Laien-Mitglieder der Kirche sich die alte Kirchenlehre auf eine neue Art und Weise aneigneten: als selbsterlebte, durch die Anfechtungen und Glaubenserfahrungen der Bekehrung erkämpfte Wahrheiten. Das Christentum war nicht länger ein Besitz der Kirche, sondern das persönliche Eigentum der Erweckten. Sie konnten selbst über den Inhalt des Glaubens urteilen, ja sogar als Lehrer auftreten und Leben und Lehre der Pastoren und das offizielle Kirchenleben kritisieren. Daraus ergab sich ein ganz neues Verhältnis zur Kirche als Institution. Der Pietismus spielte für diese Veränderung sicherlich eine große Rolle. Eine scharfe Abgrenzung ist kaum möglich, denn auch die ältere lutherische Volkserziehung zielte mehr oder weniger auf eine persönliche Aneignung hin. Aber erst der Pietismus legte den Hauptakzent auf die Bekehrung der einzelnen zu einer bewußten, persönlichen Frömmigkeit. Die Verbindung zwischen Pietismus und Erweckung war zwar nicht ohne Brüche. In Schweden-Finnland wurden die pietistischen Tendenzen früh streng unterdrückt, insbesondere durch mehrere Konventikelverordnungen; in Dänemark-Norwegen war die Haltung für den Pietismus günstiger, jedoch nur für eine relativ kurze Zeit, und auch hier wurden die Konventikel verboten. An die Stelle des Pietismus trat eine wachsende Welle aufklärerischer Gedanken, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts das offizielle Kirchenleben in Skandinavien beherrschten. Aber der Geist des Pietismus wurde doch erhalten, insbesondere durch pietistisch-herrnhutische Prediger, herrnhutische Laienkreise und pietistisch geprägte Literatur. Auch die Aufklärung war gewissermaßen eine Voraussetzung der Erweckungen, teils positiv, weil die tolerante Haltung der Aufklärung ihr Auftreten überhaupt erst ermöglichte, teils negativ, weil die Erweckungen oft als Reaktion auf die aufklärerische Verkündigung und die Revision der kirchlichen Handbücher entstanden. Die Erweckungen begannen um 1800 als örtlich begrenzte Laienbewegungen, hauptsächlich in der Landbevölkerung. Verwandte Bewegungen entstanden aber in anderen Schichten, besonders unter jungen Theologen und Pastoren, die Verbindung mit den Laienbewegungen aufnahmen und selbst als Erweckungsprediger auftraten. In den Jahren zwischen 1820 und 1850 entwickelten sich die Erwekkungen zu umfassenden Bewegungen. Als Beispiele nenne ich aus

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Finnland die von dem Bauern Paavo Ruotsalainen (1777-1852) geprägte Erweckung in Savolax - ungefähr in der Mitte des Landes die sich teilweise mit einer von jungen Pastoren begründeten Erwekkungsbewegung vereinigte und insofern die Grundlage einer organisierten „evangelischen Richtung" in Süd- und Westfinnland wurde; aus Schweden die sogenannten „Leser"-Kreise in Nordschweden, wovon später teils eine große, von dem Pfarrer Lars Levi Laestadius (1800-1861) angeregte Bewegung in Nordschweden, Nordfinnland und Nordnorwegen hervorging, teils die sogenannte „neuevangelische Bewegung", die sich um den Laienprediger und Mitbegründer der „Evangeliska Fosterlandsstiftelsen" Carl Olof Rosenius (1816-1896) scharte und zahlreiche religiöse Vereine in Nord- und Mittelschweden gründete; aus Norwegen die weitverbreitete, nach dem Laienprediger Hans Nielsen Hauge (1771-1824) benannte haugianische Bewegung, die sich um 1850 mit einer von Prof. Gisle Johnson (1822-1892; Gründer von „Christiania Indremission" 1855; „Den norske Lutherstiftelsen" 1868) inspirierten Theologenerwekkung verband; aus Dänemark eine ebenso verbreitete Sammlungsbewegung von Laien, an die junge Pfarrer Anschluß suchten, die von dem Prediger, Dichter und Historiker Nicolai F. S. Grundtvig (1783-1872) beeinflußt waren. Den größten Zuwachs gewannen die Erweckungen aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als auch größere Teile der Stadtbevölkerung mit einbezogen wurden. In dieser Periode geschah eine zunehmende Organisierung in Vereine. Die Vereine hatten verschiedene Zwecke, jedoch vorwiegend Evangelisation durch Kolporteure und Laienprediger, wie die große schwedische Stiftung Evangeliska Fosterlandsstiftelsen (1856) und ähnliche Landesvereine in Dänemark (1861), Norwegen (1868) und Finnland (1873). In diesen Vereinen wirkten Pfarrer und Laien zusammen, obwohl nicht ohne häufige Reibungen zwischen den eher konservativen Pastoren und den oft sehr selbständigen Laienführern. In Dänemark wurde nur ein Teil der Erweckten - etwa die Hälfte - allgemein organisiert und zwar in der sogenannten „Inneren Mission"; der andere von Grundtvig beeinflußte Teil wurde eine lockere, vielseitige Bewegung, die breiten Anklang durch verschiedene Formen von volkserzieherischer Arbeit fand, ζ. B. durch Volkshochschulen, die auch in den anderen skandinavischen Ländern verbreitet wurden. Ursprünglich fühlten die Erweckten sich ganz natürlich als Angehörige der Staatskirche, in der sie aufgewachsen waren. Sie gerieten aber schon früh in Konflikt mit der kirchlichen und weltlichen Obrigkeit, die für die offizielle Kirche das Monopol des religiösen Lebens aufrechtzuerhalten suchte. Besonders viele Eingriffe sind aus

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den zwanziger und dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts bekannt: Die Versammlungen wurden polizeilich verboten und aufgelöst, hervortretende Laien unter Anklage gestellt und zu Geldstrafen, seltener zu Gefängnisstrafen verurteilt; in Schweden und Finnland wurden auch die Erweckungsprediger durch Zwangsversetzungen getroffen. Vom Jahre 1840 an milderte sich die Politik der Staatskirche in Norwegen und Dänemark, seit den fünfziger Jahren in Schweden und Finnland. In Norwegen wurde die Konventikelverordnung schon 1842 aufgehoben; in Dänemark wurde durch die liberale Staatsverfassung von 1849 Religionsfreiheit eingeführt. In Schweden wurde die alte Konventikelverordnung 1858 aufgehoben und begrenzte Dissidentenbestimmungen eingeführt. In Finnland wurde ein Dissidentenerlaß erst 1889 herausgegeben; die Konventikelverordnung war aber durch das Kirchengesetz von 1869 aufgehoben und schon vorher nicht mehr angewandt worden. Bei dieser Milderung spielten die liberalen Ideen der Zeit eine große Rolle; dazu kam wachsendes Wohlwollen bedeutender kirchlicher Kreise im Verhältnis zu den Erweckten in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Die Auseinandersetzungen zwischen Kirche und Erweckung dauerten jedoch an, weil die Kirchenleitungen die Erweckungsbewegungen zu kontrollieren versuchten, und vor allem wegen starker kirchenkritischer Kräfte innerhalb von Teilen der alten Erweckungen und wegen neuer von außen beeinflußter freikirchlicher Tendenzen. Vom Ausland, namentlich von England kamen ζ. B. Baptisten und Methodisten, die Freikirchen in den Städten gründeten. Das größte Wohlwollen fanden die Erweckungen in der norwegischen Kirche; trotzdem gab es auch hier viele mehr oder weniger freikirchlich eingestellte Kräfte in den südlichen Städten, im Westlande und in den laestadianischen Kreisen, die überall sehr selbständig auftraten. In Dänemark wurde die Bedeutung des Grundtvigianismus und der Inneren Mission immer größer, und die Grundtvigianer bildeten mehrere Freigemeinden; die konservative Kirchenleitung nahm den Kampf auf, der aber um die Jahrhundertwende mit einem fast totalen Sieg für die Erweckungsbewegungen endete. Noch stärker waren die Gegensätze in Schweden und Finnland, wo eine konservative, staatskirchliche Front gegen die selbstbewußten Laienprediger und Freikirchlichen entstand. Besonders in Schweden gewannen die Freikirchlichen großen Einfluß. Es entstanden viele selbständige Gruppierungen, darunter angelsächsisch beeinflußte Freikirchen oder Freigemeinden, aber die größte, „Svenska Missionsförbundet", war ein Ausläufer der neuevangelischen Bewe-

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gung, der zwar wünschte, innerhalb der Staatskirche zu arbeiten, jedoch eine völlig unabhängige, kirchenähnliche Organisation hatte. In Finnland wurde die Entwicklung allmählich ruhiger wegen der toleranten Kräfte der Staatskirche, und sowohl in Finnland als in Schweden übten die Ideen der Erweckungen bedeutenden Einfluß auf die offizielle Kirche aus. Die Frage ist aber hier das Verhältnis der Erweckungsbewegungen zum Begriff Volkskirche. Förderten oder hemmten sie eine volkskirchliche Entwicklung? Eindeutig kann diese Frage nicht beantwortet werden. Einerseits waren die Erweckungen alle Volksbewegungen, in die auch Geistliche mit einbezogen wurden und die eine verantwortliche Mitarbeit breiter Schichten der Bevölkerung zu christlichen Zwecken förderten. Insofern war die angestammte Obrigkeitskirche hierdurch eine Volkskirche geworden. Dazu kommt, daß die Erweckungen im Einklang mit der gesamten Gesellschaftsentwicklung standen, die von wirtschaftlichem Fortschritt, größerer Mobilität und Urbanisierung, zunehmender Volksbildung, Demokratisierung, Politisierung und wachsendem Pluralismus geprägt war, besonders nach 1850. Unzweifelhaft waren die Erweckungsbewegungen von dieser Entwicklung abhängig, wirkten aber selbst kräftig mit als eine erste breite Volksbewegung, die erste Verselbständigung des Volkes, die auch für die Moral des Volkes, die Volksbildung und teilweise politisch-wirtschaftlich wirksam war. Viele andere Bewegungen folgten, kultureller, politischer, wirtschaftlicher und gewerkschaftlicher Art, die um die Jahrhundertwende ein Merkmal der nordischen Länder waren. Durch die Erweckungen wurde auch das Christentum von freien Bewegungen übernommen, die auf dieselbe Weise wie die nichtreligiösen wirkten und insofern eine Anpassung der kirchlich-christlichen Aktivität an die neue Struktur der Gesellschaft darstellten. Eine der wichtigsten nichtreligiösen Bewegungen war der politische Liberalismus, der seit den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Verfassungsentwicklung beeinflußte und auch zunehmend Einfluß auf Teile der Geistlichkeit hatte. In Dänemark schufen die Liberalen 1849 eine demokratisch-liberale Verfassung, in welcher die evangelisch-lutherische Kirche als „die dänische Volkskirche" bezeichnet wurde. Den Hintergrund bildeten idealistisch-romantische Vorstellungen von Kirche und Volk als in Wechselwirkung stehende Organismen, aber sicherlich auch Eindrücke von und Wünsche nach einer Belebung und und Verselbständigung der Kirche als Kirche des Volkes. In Schweden verschafften liberale Kräfte der Kirche besondere kirchliche Gemeindevertretungen (1862) und eine synodale Vertretung („Kyrkomöte"), die alle fünf Jahre zusammenberufen

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wurde (1863); in Finnland ein umfassenderes Kirchengesetz, das weitgehende kirchliche Selbstverwaltung mit einer Synode sicherte (1869); schon vorher hatte der Zar, der russisch-orthodox war, der finnischen Kirche relative Selbständigkeit gewährt. In Dänemark und Norwegen begnügten sich die hier vorherrschenden Erweckungen mit ihrem religiösen Einfluß; dazu kam der bedeutende politische durch die Volksparteien, besonders in Dänemark, wo der Grundtvigianismus sozusagen die Ideologie der Liberalen Bauernpartei wurde, die immer größere Mehrheiten in der Volksvertretung gewann. Auf der anderen Seite hatten die Erweckten eigentlich gar keine Neigung zur „Volkskirchlichkeit", vielmehr standen sie der Staatskirche, dem Volke und der Kultur sehr kritisch gegenüber. Die meisten Kirchenmitglieder und Pastoren wurden als Ungläubige betrachtet; die Staatskirche konnte höchstens als Missionsfeld oder Volkserziehungsanstalt dienen, denn die wahre Kirche war die Versammlung der Bekehrten und persönlich Gläubigen. Nur Grundtvig und seine Schüler entwickelten eine positivere Beurteilung der Volkskirche. In der eigenartigen Kirchenauffassung Grundtvigs war die Kirche eine ökumenische, geschichtlich-sakramentale Realität, die aber bloß eine Minderheit umfaßte. Doch mußte sie in jedem Volk ein besonderes Gepräge annehmen und so in Dänemark ein dänisches, und sie konnte innerhalb der dänischen Volkskirche wirken, wenn diese als eine freie staatliche Religionsanstalt für die verschiedenen tatsächlichen Glaubensauffassungen des Volkes eingerichtet wurde, ohne Bekenntnis und Verfassung und vor allem ohne Herrschaft der Geistlichkeit, etwas, was Grundtvig abscheulich fand. Dadurch konnte die Volkskirche der Volksgemeinschaft dienen und bei der menschlichen und religiösen Entwicklung des Volkes mitwirken, die eine Voraussetzung für die Aneignung des Christentums war. Kirche war sie aber eigentlich nicht.

III. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts war „Volkskirche" so kein zentraler Begriff in den nordischen Kirchen. Erst dieses Jahrhundert ist hier die Zeit der bewußten Volkskirchlichkeit geworden, und zwar in dem normativen, programmatischen Verständnis. Meines Erachtens kann man hier zwischen zwei Perioden dieser Volkskirchlichkeit unterscheiden: erstens die Zeit nach etwa 1900 und zweitens die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg. Aber in beiden Fällen wurde der Begriff Volkskirche wichtig, weil die Kirchen nicht mehr

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ohne weiteres Volkskirchen waren, das heißt in der deskriptiven Bedeutung. Es galt jetzt, die Werte der herkömmlichen Volkskirche zu bedenken und aufrechtzuerhalten. Die erste Periode hatte ferner als Hintergrund eine vor allem aus Frankreich beeinflußte antiklerikale Strömung, die seit den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts wachsenden Anklang unter den Gebildeten Skandinaviens fand, gefördert von Schriftstellern, Wissenschaftlern, Kulturliteraten und zugleich von den ersten skandinavischen Sozialisten. Am bekanntesten sind literarische Namen wie z.B. die Norweger Henrik Ibsen (1828-1906) und Bjornstjerne Bjornson (1832-1910), die Dänen Georg Brandes (1842-1927) und Henrik Pontoppidan (1857-1943) und die Schweden August Strindberg (1849-1912) und Victor Rydberg (1828-1895). Damit erhob sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Kirche und Kultur, die den Nährboden für liberaltheologische Ansichten gab. Wichtiger war aber eine innerkirchliche Reaktion gegen die Erweckungsbewegungen. Diese Reaktion ist besonders deutlich in Dänemark und Schweden und zwar hier an zwei bestimmte Personen geknüpft: an den Pfarrer und Schriftsteller Morten Pontoppidan (1851-1931) in Dänemark und an den Professor für Systematische Theologie in Uppsala und späteren Bischof in Västeräs, Einar Billing (1871-1939) in Schweden. In Dänemark waren freie Gemeinden das besondere Wunschbild der Grundtvigianer geworden, und Morten Pontoppidan, Bruder des Dichters, war ursprünglich eifriger Grundtvigianer, Leiter einer Volkshochschule, Pastor einer freien Gemeinde, zugleich politisch aktiv, was ihm eine Gefängnisstrafe verschaffte und dazu auch hohes Ansehen in grundtvigianischen, politischen Kreisen. Aber 1894 überraschte er seine Freunde durch Annahme eines normalen Pfarramtes in der Staatskirche. Er hatte jetzt genug von dem exklusiven Geist der beiden dänischen Erweckungsrichtungen, die auf Trennung zwischen Lebendigen und Toten, Gläubigen und Ungläubigen bestanden und nur die ersteren als Christen und Brüder anerkannten. Nun wurde eben die Volkskirche sein Ideal, und dafür wirkte er durch zahlreiche sprachgewandte Artikel und Schriften in den folgenden Jahrzehnten. Der Kernpunkt seiner neuen Ansichten war, daß die Mitglieder der Kirche nicht nur die Erweckten sind, sondern die gesamte Bevölkerung der Gemeinde; obwohl schwach und stumpf, ist dies Volk doch die Gemeinde Gottes, solange es das Wort und die Sakramente hat. Es gibt ein ererbtes, unbewußtes Christentum im Volke, das wohl bewußt gemacht werden soll, aber nicht durch Erweckung im gewöhnlichen Sinne, sondern durch Ap-

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pell zur Treue zu der Kirche der Väter, durch regelmäßigen Kirchgang und durch demokratische Vertretung der ganzen Gemeinde. - Pontoppidan wurde auch von der liberalen Theologie und vom Sozialismus beeinflußt, betonte aber die kirchliche Einheit zwischen Liberalen und Konservativen und die soziale Verantwortung der Kirche; sollte die Kirche zu geistig werden, könnte Gott auch seinen Weg mit Hilfe von Sozialisten und Materialisten finden. Pontoppidan war lange ein Einzelgänger, jedoch nicht ohne Einfluß auf die Entwicklung der dänischen Kirchenverfassung. Als die Liberale Partei endlich 1901 die Regierung bildete, brachte sie sofort einen Vorschlag ein zu einer demokratisch gewählten Vertretung in jeder Gemeinde, die die Pfarrer wählen sollte. Diese Ordnung wurde allmählich durchgeführt und ausgebaut, besonders 1922 mit der Wahl der Bischöfe direkt durch die Gemeindevertretungen. Noch in der Zwischenkriegszeit waren die alten Erweckungsbewegungen, die Innere Mission und der Grundtvigianismus, die vorherrschenden kirchlichen Richtungen, obwohl stagnierend; und der Weiterausbau der Kirchenverfassung wurde von dem von zwei liberalen Parteien vertretenen Grundtvigianismus verhindert. Es entstanden aber zwei neue Tendenzen, die zum Teil als Weiterführung der Gedanken Pontoppidans angesehen werden können: auf der einen Seite eine verstreut auftretende Tendenz zur Betonung der gemeinsamen überlieferten Kirche als überindividuelle Einheit, auf der anderen eine scharfe Reaktion gegen das Erweckungschristentum, unter Theologiestudenten entstanden, die sich zu einer Richtung junger Pastoren entwickelte und sich seit 1926 um eine eigene Zeitschrift „Tidehverv" (Die Zeitwende) sammelte. Beeinflußt von Luther, Kierkegaard, Rudolf Bultmann u. a. richteten sie heftige Angriffe auf die Erweckungsreligiosität als religiösen Egoismus, selbstzufriedene Isolation und idealistische Weltverneinung. Dieser Gegensatz begründete bei ihnen eine gewisse Vorliebe für die Volkskirche als Kirche der Nichtbekehrten, aber ganz ohne die konziliante, praktisch-kirchliche Haltung Pontoppidans. Die Schriften Pontoppidans wurden auch in Schweden gelesen, besonders von Anhängern einer kirchlichen Jugendbewegung, die gegen 1910 von der Universitätsstadt Uppsala ausging und sogar in fast ganz Schweden „Studentenkreuzzüge" veranstaltete. In der schwedischen Kirche hatte man sich damals etwas bedrängt gefühlt, auf der einen Seite durch den Ansturm der Erweckungen, auf der anderen durch den Kulturradikalismus der Gebildeten. Es gab jedoch auch eine christlich-humane Tradition, die Raum für liberaltheologische Problemstellungen hatte, sich aber in dieser Jugendbewegung um „die Kirche der Väter" sammelte. Außerdem zog sie

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Nahrung aus der nationalen Erregung nach der dramatischen Losreißung Norwegens von Schweden 1905; das Motto der Jungkirchlichen wurde: das Volk Schwedens ein Volk Gottes. Ein typischer Vertreter dieser Bewegung war Manfred Björkquist, der eine Volkshochschule und später die Sigtunastiftung gründete, die das christlich-kulturelle Zentrum der schwedischen Kirche wurde. Der entscheidende Inspirator der neuen schwedischen Volkskirchlichkeit war aber Einar Billing. Wie sein Kollege Nathan Söderblom (1866-1931), der spätere Erzbischof, hatte er sich mit der liberaltheologischen Forschung beschäftigt, aber früh in selbständigen Darstellungen die prophetisch-messianische Linie in der Bibel hervorgehoben, und zwar als Handeln Gottes in der Geschichte, das auch in der Geschichte der Kirche weiterwirkt. Dazu kamen bedeutende Lutherstudien, durch die er zu den Hauptgedanken seiner volkskirchlichen Auffassung kam: Die universale und vorgreifende Gnade Gottes wird in der volkskirchlichen Verkündigung und Organisation widergespiegelt und objektiviert. Gerade als geographische Einheiten sind die Volkskirche und die Gemeinden religiös begründet, denn die Volkskirche will das ganze Volk einschließen, alle, die sich nicht bewußt davon getrennt haben. Sie zielt auf persönliche Aneignung und Heiligung, ist aber in sich umfassend als Abbild der Liebe Gottes zu allen; im Gegensatz dazu steht die vereinskirchliche Auffassung der Erweckten und Freikirchlichen, die die Gemeinschaft auf subjektive Heiligkeit der Mitglieder aufbauen und die Gläubigen zählen wollen. Die volkskirchliche Ordnung ist eine notwendige Folge des Evangeliums; die Verbindung von Kirche und Staat ist nicht notwendig, jedoch wertvoll, weil sie den inneren Friedensgrund des Volkes darstellt, und sie ist in Schweden möglich, da die innere Selbständigkeit der Kirche traditionell - durch Bischofsamt, Synode, Gemeindevertretungen und Wahlverfahren - gewährleistet ist. Seit den zwanziger Jahren wurde aber gerade die staatskirchliche Ordnung in Frage gestellt. Sowohl die politisch einflußreichen Freikirchlichen als auch die Liberalen und die Sozialdemokraten forderten generelle Religionsfreiheit und meistens Trennung von Staat und Kirche. Noch schlimmer war, daß maßgebende Führer der größten Partei, der Sozialdemokratie, eine radikal staatskirchliche Politik durchzuführen suchten, und zwar durch Aufhebung der Synode, direkt staatliche Ernennung der Geistlichen und Verstaatlichung des kirchlichen Eigentums. Die erklärte Absicht war, die Kirche in eine konfessionslose, allgemein kulturell-religiöse Staatsanstalt zu verwandeln und dabei Vertreter extrem liberaltheologischer Ansichten zu begünstigen. Hinzu kamen die Übergriffe gegen die Kirchen in den neuen totalitären Staaten, vor allem in Deutschland nach 1933.

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Diese Entwicklung schockierte führende Kreise der schwedischen Kirche. Billing betonte scharf, daß die Aufgabe der Kirche durchaus nicht kulturell oder sozial sei, und viele von ihm beeinflußte Theologen nahmen sich vor, die Eigenart der Kirche wissenschaftlich zu untersuchen, um ihre Selbständigkeit im Verhältnis zu jeder menschlichen Kultur nachzuweisen. Der ekklesiologische Aspekt im Neuen Testament wurde stark betont, der tiefe Gegensatz zwischen dem christlichen Agapemotiv und aller Erosfrömmigkeit durch Analyse der Kirchengeschichte herausgestellt, die echte lutherische Lehre von der Kirche, den beiden Reichen, den Sakramenten und der Bedeutung des geistlichen Amtes gründlich studiert usw., überwiegend empirisch-historisch, aber mit indirekten Spitzen gegen „die neuprotestantischen Kulturreligionen". Diese Studien, meistens von tüchtigen Theologen der Universität Lund vorgelegt, fanden breiten Anklang in der Geistlichkeit, zum Teil auch in den anderen nordischen Ländern, wo 1942 eine zusammenfassende Darstellung „En bok om kyrkan" (deutsch 1951: Ein Buch von der Kirche), besonders verbreitet wurde. Sie riefen ein neues hochkirchlich geprägtes Selbstbewußtsein hervor, das sich ζ. B. in der Wiedereinführung alter Gottesdienstformen zeigte. Der volkskirchliche Ansatz Billings trat aber dabei zurück. In Finnland zeigte sich die alte kirchliche Verwandtschaft mit Schweden besonders deutlich im Einfluß der jungkirchlichen Bewegung, die, beginnend schon um 1910, sich in der Zwischenkriegszeit vertiefte. Dabei wurde das Volkskirchenideal Billings praktischkirchlich verwirklicht, und zwar durch Entwicklung neuer nach außen gerichteter Arbeitsformen wie Stadtmission, christlicher settlements, Jugendarbeit, Volkshochschulen, diakonischer Arbeit und organisierter Zusammenarbeit der Gemeinden, alles Arbeitsformen, die die gewöhnlichen Gemeindemitglieder zu aktivieren suchten. Hinzu kamen aber zwei für Finnland eigenartige Umstände. Erstens entwickelte sich eine interessante Verbindung zwischen dem Pietismus der Erweckungsbewegungen und den volkskirchlichen Gedanken. Seit etwa 1900 hatte die Zielsetzung der Erweckungsbewegungen, die die Bedeutung der ecclesiolae betonten, allgemeine Anerkennung in der finnischen Kirche gefunden, und sie prägten in der Zwischenkriegszeit führende Kirchenmänner wie die Bischöfe Jaako Gummerus (1870-1933) und Erkki Kaila (1867-1944). Auf der anderen Seite waren eben diese Kirchenmänner Fürsprecher der Volkskirche, die der ganzen Nation dienen sollte und in ihrer Geräumigkeit ein wertvolles breites Kontaktfeld für die kirchliche Arbeit darbot. Zweitens wurde die Kirche mit der nationalen Selbständigkeitsbe-

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wegung verbunden und davon geprägt. Die heftige Kirchenkritik am Anfang des Jahrhunderts wandelte sich in Anerkennung der Kirche als Grundlage der nationalen Kultur schon in der letzten Zeit der russischen Herrschaft, insbesondere während des Bürger- oder Freiheitskrieges 1917-18 und danach in der Zwischenkriegszeit. Sowohl von außen als auch von innen wurde die Kirche als das moralische Rückgrat des Volkes betrachtet. Es entstand aber eine tiefe Kluft zwischen der Kirche und den Arbeitern, die im Bürgerkrieg unterlegen waren und die Kirche mit den verhaßten „Weißen" identifizierten. Die norwegische Kirche war in dieser Periode ein Sonderfall. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gab es kulturoffene kirchliche Kreise, die das vorherrschende Erweckungschristentum kritisierten und sich um die Zeitschrift „Kirke og Kultur" („Kirche und Kultur", von 1894 an) scharten. Diesen schlossen sich aber um die Jahrhundertwende recht radikale liberale Theologen an, und als einer von ihnen 1906 an der theologischen Fakultät angestellt wurde, entstand eine kräftige Reaktion, die sofort zur Gründung einer Gemeindefakultät führte. Die folgenden Jahrzehnte wurden von diesem Gegensatz tief geprägt. Die Entrüstung über die „Liberalen" an der Staatsfakultät wurde durch regelmäßige Evangelisationsreisen für die Gemeindefakultät lebendig erhalten und gewann die Oberhand in einem solchen Maß, daß heute 80 Prozent der Theologen an der Gemeindefakultät ausgebildet werden. In den dreißiger Jahren entstanden neue Strömungen, die von Schweden, von der Theologie Karl Barths oder von der Oxfordbewegung beeinflußt wurden. Das alte, immer weiter organisierte „Christenvolk" hielt aber Stand, und sein Führer Ole Hallesby (1879-1961), Professor an der Gemeindefakultät, war entschieden pietistisch-konfessionell und scharfer Gegner einer Zusammenarbeit mit anderen kirchlichen Kreisen. Unter diesen Umständen war kaum Platz für volkskirchliche Bestrebungen. Zwar hatten sie einen bedeutenden Befürworter in Eivind Berggrav (1884-1959), der als Herausgeber der Zeitschrift „For Kirke og Kultur" und Verfasser zahlreicher theologischer und populärer Schriften breites Ansehen genoß. Seine Ernennung zum Bischof in Oslo 1937 rief aber heftige Angriffe von Hallesby und Gleichgesinnten hervor, und seine Versuche, die norwegische Kirche wieder zu sammeln, waren vergeblich.

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IV. Wie schon gesagt, erlebte man aber nach dem zweiten Weltkrieg eine neue Welle von Volkskirchlichkeit in Skandinavien. Ihre Voraussetzung waren jetzt zum größten Teil nicht innerkirchliche Gegensätze, obwohl sie gewiß fortbestanden, sondern gesellschaftliche Faktoren, die zwar schon lange wirksam gewesen waren, jetzt aber stärker zutagetraten und eigentlich erst jetzt innerhalb der Kirchen erkannt wurden. Kurz können sie mit den Begriffen Demokratisierung und Säkularisierung bezeichnet werden. In Skandinavien war die Demokratisierung seit dem 19. Jahrhundert ununterbrochen das politische Leitbild gewesen, erst für die Liberalen, dann auch für die Sozialdemokraten, die nach etwa 1930 politisch maßgeblich wurden. Durch die Demokratisierung sollte das breite Volk den entscheidenden Einfluß gewinnen, sowohl in Staat und Kommune als auch in allen anderen Institutionen. Von dieser Zielsetzung beeinflußt, war schon vor 1945 das demokratische Vertretungsprinzip mehr oder weniger in den skandinavischen Kirchen eingeführt worden. Es war aber auch sehr lange in den christlichen Organisationen verwendet worden, und nach 1945 wurde es - trotz widerstrebender hoch- und bekenntniskirchlicher Ansichten - ein volkskirchliches Ideal, um das größtmögliche Mitwirken aller Kirchenmitglieder und die innere Verselbständigung der Kirche zu sichern. Dieses Interesse hängt mit den Säkularisierungsproblemen zusammen. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist der kirchliche Einfluß immer mehr aus dem öffentlichen Leben zurückgedrängt worden, z.B. aus der Kommunal- und der Selbstverwaltung, zum Teil auch aus dem Religionsunterricht, der in Schweden und Dänemark zur neutralen Wissensvermittlung geworden ist. Hinzu kommt die Entkirchlichung der Bevölkerung. Mehr als 90 Prozent sind noch Mitglieder der Kirchen, die durchschnittliche Teilnahme am Gottesdienst ist seit den letzten Jahrzehnten aber nur etwa 2 Prozent. Die Teilnahme an Kasualien ist noch erheblich, jedoch meistens abnehmend, besonders in den großen Städten. Die herkömmlichen, von der Kirche beeinflußten Normen sind durch die Industrialisierung, die Urbanisierung und die Massenmedien von Auflösung bedroht; vor allem die Arbeiter sind zum größten Teil kirchenfremd, und die religiösen Vorstellungen der Bevölkerung stimmen meistens mit den kirchlichen nicht überein. Diese Probleme bilden den Hintergrund der kirchlichen Arbeit in den letzten Jahrzehnten. In der volkskirchlichen Entwicklung dieser Periode hat die finnische Kirche eine führende Stellung gehabt. Während der Kriege

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1939-44 hatten die Feldprediger breiten Kontakt zum Volk gewonnen, und später wurden sie Befürworter einer neuen betont volkskirchlichen Bewegung, die durch neue, verschiedenartige Arbeitsformen die Kluft zwischen den Kirchentreuen und den Kirchenfremden, insbesondere den Arbeitern zu überbrücken wünschte. Diese Gedanken fanden Anklang, um so mehr als die Kirche ein gemeinsames nationales Symbol geworden war; und sie haben seitdem die Arbeit der Kirche geprägt. Zwar ist diese Arbeit diskutiert worden; es entstand auch nach dem Kriege eine neue, große Erweckungsbewegung, die das persönliche Glaubensleben betonte, die „Neuvolkskirchlichkeit" kritisierte und sich teilweise in eigenen Organisationen ausgesondert hat. Dazu kam in den sechziger Jahren eine weitgehende Kritik von Seiten der linksorientierten Jugend, die sich gegen die Kirche als konservativ und verbürgerlicht wandte und die Abschaffung ihrer Privilegien forderte. Die Kirche hat sich aber dazu dialogisch verhalten, ständig neue Spezialarbeitsformen entwickelt und ihre Verfassung und Ordnungen gründlich überprüft. Die Verfassungsüberlegungen, die noch nicht zu Ende geführt sind, haben auch theologischen Charakter gehabt, ökumenische und ekklesiologische Gesichtspunkte aus der schwedischen und kontinentalen Theologie sind mit einbezogen worden, und man hat sich eingehend mit dem Begriff Volkskirche beschäftigt. Die Haltung dazu ist positiv, jedoch nicht unkritisch. Es wird betont, daß die finnische Kirche nur eine Partikularkirche als Teil der universalen Kirche ist. Die alte Selbständigkeit der finnischen Kirche ist ständig weitergeführt und durch demokratische, immer differenziertere Vertretungen ausgebaut worden, ähnlich dem Aufbau der Verfassungen der deutschen evangelischen Kirchen nach 1945. Z.B. sollte die Synodaltagung ursprünglich alle zehn Jahre, seit 1934 alle fünf Jahre zusammenberufen werden, seit 1974 geschieht es aber mindestens zweimal jährlich. Sie hat jetzt gesetzgebende Gewalt in allen rein kirchlichen Angelegenheiten, und über 60 Prozent der Synodalen sind Laien, als Vertreter der Bistümer gewählt. Hinzu kommt eine ständige Kirchenregierung, die zum größten Teil von der Synode gewählt wird. In den Bistümern und Gemeinden gibt es ähnliche Vertretungen, und Bischöfe und Pfarrer werden auch in demokratischen Verfahren gewählt. Der Haushalt beruht hauptsächlich auf Kirchensteuern in den Gemeinden, wovon ein bestimmter Prozentsatz für gemeinkirchliche Zwecke verwendet wird, ζ. B. für das Forschungsinstitut der Kirche, das große Bedeutung für die Planung der Gemeindearbeit gehabt hat. Neun Zehntel der rund 15 000 kirchlich Angestellten sind Nicht-Geistliche, und dazu kommen rund 30000

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ehrenamtliche Mitarbeiter, die in Kinder- und Jugendarbeit, in Chor- und Musikgruppen, in diakonischen Aktivitäten usw. mitwirken. Nach der Kirchenstatistik hat die finnische Kirche in der Tat breitere Verbindung mit ihren Mitgliedern als die anderen nordischen Kirchen. Die nächstliegende Parallele ist die kirchliche Entwicklung in Norwegen. Die Unterschiede sollen dabei nicht verkannt werden. Auch in den letzten Jahrzehnten ist die norwegische Kirche von harten Auseinandersetzungen gekennzeichnet, wie in den früheren Jahren zwischen pietistisch-konfessionellen und „liberalen" Ansichten. Dazu kommt, daß die christlichen Organisationen zahlreicher und einflußreicher als in den anderen nordischen Ländern sind; auf der anderen Seite ist die Verwaltung der Kirche mehr staats- als volkskirchlich, vor allem in finanzieller Hinsicht und in dem Anstellungsverfahren, welches von vielen Nicht-Pietisten, ζ. B. den Arbeiterpolitikern, als notwendiger Schutz gegen einseitigen kirchlichen Konservatismus betrachtet worden ist. Es gibt aber eine Entwicklungslinie, die der Entwicklung in Finnland ähnlich ist. Schon vor 1940 waren in den Gemeinden und Bistümern demokratische Vertretungen eingeführt worden, und während des Krieges wurde die Kirche durch Nazifizierungsversuche gezwungen, sich zu sammeln und sich als freie Bekenntniskirche zu organisieren. Nach dem Kriege wurde eine Fortsetzung der kirchlichen Sammlung und Verselbständigung allgemein gewünscht, jetzt insbesondere um der zunehmenden Säkularisierung entgegenzuwirken. Ein Vorschlag dafür wurde 1948 eingebracht, aber nach sechs Jahren von Stortinget, dem Reichstag, abgelehnt. Auf diesem Hintergrund entstand eine freiwillige Reformbewegung, die vorwiegend durch jährliche inoffizielle Kirchenversammlungen wirkte. Der Pastorenverein, der die kirchlichen Gegensätze zu mildern versuchte, war dabei tätig, und es äußerte sich auch ein verbreiteter Wunsch nach Ausbau der Aktivitäten der Kirche. Das wichtigste Ergebnis war ein ausführlicher Vorschlag zur Neuordnung der Kirche nach finnischem Vorbild, der 1969 vorgelegt wurde. Dies führte wenigstens zur Errichtung eines demokratisch gewählten Kirchenrats mit 13 Mitgliedern: 8 Laien und 5 Geistlichen, der als Zentralrat der Kirche wirken soll, vorwiegend mit praktisch-kirchlichen Aufgaben. Die Diskussion über die Verfassung der Kirche wurde aber lebhaft fortgesetzt; mehrere Kommissionen haben sich damit beschäftigt, und viele ihrer geistlichen Mitglieder haben Trennung von Staat und Kirche gewünscht. Erst kürzlich (Mai 1981) haben sich die politischen Parteien durch eine Stellungnahme zu einem Stortings-Ausschußbericht geäußert, und zwar sehr

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moderat; Trennung von Staat und Kirche haben sie fast einstimmig abgelehnt, der Kirche aber ein höheres Maß an Selbstverwaltung durch die kirchlichen demokratischen Organe zugestanden. In Anbetracht der norwegischen Verhältnisse würde ich diese Haltung eine volkskirchliche nennen. Noch schärfer sind die kirchlichen Gegensätze in Schweden geworden. Viele der Geistlichen sind jetzt - in dieser jüngsten Periode nach dem zweiten Weltkrieg - von hochkirchlichen Ansichten beeinflußt und deshalb Gegner der Demokratisierung der Kirche, um so mehr als die kirchlichen Vertretungen in Schweden auch politischen Charakter haben; die Kandidaten für die kirchlichen Wahlen werden größtenteils von den politischen Parteien aufgestellt. Auf der anderen Seite gibt es noch bedeutende antiklerikale Tendenzen, und die meist sozialdemoratischen Regierungen haben eine überwiegend staatskirchliche Politik geführt. Seit den fünfziger Jahren ist dazu eine neue volkskirchliche Richtung gekommen, die sich sehr positiv zu den demokratischen Grundgedanken des Wohlfahrtsstaates verhält. Z.B. studierte ein 1956 eingesetzter Ausschuß der Hilfszentrale der Gemeinden (diakonistyrelsen) die gesellschaftliche Entwicklung und forderte die Kirche auf, Verbindung mit den Volksbewegungen einschließlich der Gewerkschaften aufzunehmen. Vor allem verschärften sich die Gegensätze, als der Reichstag zweimal - 1957 und 1958 - einen Vorschlag annahm, der die Ernennung von weiblichen Pastoren möglich machte; wie in der Kirchenverfassung vorgesehen, wurde der Vorschlag der Synode vorgelegt, die sich das erste Mal ablehnend verhielt, das zweite Mal aber dem Vorschlag mit großer Mehrheit zustimmte. Dies rief Entrüstung bei der hochkirchlichen Richtung hervor, die diesen Vorgang als Kapitulation der Kirche bezeichnete und jetzt den Begriff Volkskirche grundsätzlich in Frage stellte. So behauptete Bischof Gustaf Aulen (1879-1977), der Herausgeber von „En bok om kyrkan", daß der volkskirchliche Gedanke gröblich mißbraucht worden sei, und Dompropst Gustaf Adolf Daneil (geb. 1906), daß Volkskirche in der säkularisierten Gesellschaft überhaupt eine Fiktion sei. Charakteristisch war, daß eine Zusammenarbeit zwischen hochkirchlichen Kreisen und freikirchlichen Fundamentalisten jetzt etabliert wurde, mit dem Ziel - wie gesagt wurde - die Kirche für Bibel und Bekenntnis zurückzuerobern. Diese Reaktionsbewegung wurde aber von vielen Seiten scharf in der Öffentlichkeit angegriffen, und der Streit dauert bis jetzt immer noch an. Meines Erachtens ist es aber klar, daß die neue volkskirchliche Richtung dadurch gestärkt worden ist. Die „diakonistyrelse" ist zu einer großen Service-Institution für die Gemeinden als „Zentralrat der schwedischen Kirche" ausgebaut (seit 1966), die sich

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mit sozialethischen Fragen, Unterrichts- und Kommunikationsproblemen beschäftigt. Der Landesverband der Gemeinden (SKFP), eine sehr einflußreiche Organisation, hat sich überwiegend den volkskirchlich-demokratischen Gedanken angeschlossen. Das Verhältnis zwischen Kirche und Staat ist in mehreren Kommissionen gründlich behandelt worden; die Forderung nach Trennung von Staat und Kirche wurde aber 1973 von der Sozialdemokratie aufgegeben, und ein modifizierter, von den Bischöfen empfohlener Trennungsvorschlag 1979 von der Synode abgelehnt. Der letzte staatliche Ausschußbericht schlägt weitreichende Demokratisierung und relative Selbständigkeit der Kirche vor (Februar 1981). Der Sprecher des Ausschusses hat ausdrücklich die Umbildung der Kirche nach dem Modell der Volksbewegungen als Ziel bezeichnet. Die hochkirchlichen Geistlichen sind aber gleichzeitig im Begriff, sich halbwegs freikirchlich zu organisieren mit eigener Synode und sogenannten Dekanaten in den Bistümern. Schließlich eine kurze Charakteristik der dänischen Volkskirche in den letzten Jahrzehnten. Auch hier ist Volkskirche seit dem zweiten Weltkrieg ein zentraler Begriff geworden, inhaltlich aber zum größten Teil von der Situation des 19. Jahrhunderts und der nachfolgenden Reaktion gegen die Erweckungsbewegungen bestimmt. Die Anregungen Pontoppidans sind jetzt von vielen aufgenommen worden, noch mehr aber die Volkskirchengedanken des Grundtvigianismus. Auch die dänische Sozialdemokratie ist davon beeinflußt und verhält sich deshalb recht wohlwollend der Volkskirche gegenüber. Dementsprechend wird die Volkskirche als eine staatliche Anstalt aufgefaßt, und ihre Bekenntnisgrundlage wird sehr großzügig verstanden. Die Kirche hat keine eigene Vertretung, abgesehen von dem Kirchenministerium und der dänischen Volksvertretung, und die kirchliche neutrale Zentralverwaltung wird von vielen gelobt, auch als Vorbild der Kirchenvorstände, die in Dänemark keine eigentlich gemeindlichen Aufgaben haben. Die amtliche Befugnis der Bischöfe ist gering, und sie dürfen sich nur privat versammeln und sich nicht von Amts wegen an die Öffentlichkeit wenden. Nach alter Auffassung ist die Volkskirche nämlich nur ein Rahmen; die kirchlichen Bewegungen sollten die Träger des Kirchenlebens sein. Sie haben aber viel von ihrer früheren Dynamik verloren. Der Grundtvigianismus ist nach außen gestärkt worden; in der Zwischenkriegszeit war diese Richtung nur durch zwei Bischöfe vertreten, heute sind sechs von den zehn dänischen Bischöfen als Grundtvigianer gewählt. Kirchlich vorherrschend ist aber eine Mischung von Grundtvigianismus und der antipietistischen Pastorenrichtung der dreißiger Jahre, nach ihrer Zeitschrift „Tidehverv" genannt. Sie

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ist ausgesprochen grundtvigianisch volkskirchlich, auch in dem Sinne, daß sie die Bedeutung des „Volkslebens" unterstreicht; auf der anderen Seite darf die Kirche sich gesellschaftlich nicht geltend machen. Die Innere Mission wirkt fortwährend in ihren alten Kreisen; neue hochkirchliche und fundamentalistische Gruppen sind entstanden, vorläufig aber ohne breiten Anklang zu finden. Dazu kommt noch eine neue volkskirchliche Tendenz, ähnlich der schwedischen oder finnischen, die die alten Gruppierungen hinter sich läßt und vorwiegend praktisch-kirchlich arbeitet, sich jedoch auch mit den Problemen der modernen Gesellschaft in ihrem Verhältnis zur Kirche befaßt. Diese Tendenz ist aber in Dänemark vergleichsweise schwach. Der Begriff Volkskirche hat also in Skandinavien unterschiedliche Bedeutungsinhalte gehabt. Was ist ihnen allen gemeinsam? Man könnte darauf antworten: Der Wunsch, die Kirche offen zu halten und Kontakt mit den Außenstehenden aufzunehmen. Damit wäre aber wenig gesagt; der Inhalt der vielfachen Nuancierungen des Begriffes geht nur aus den konkreten Situationen und Problemen hervor. Diese habe ich versucht, in Umrissen zu charakterisieren und geschichtlich zu analysieren. Eine theologische Bewertung lag nicht in meiner Absicht. Ich möchte jedoch die Vermutung wagen, daß der Begriff trotz seiner Unklarheit seine Aktualität in diesen Ländern nicht verlieren wird, jedenfalls in der nächsten Zukunft nicht. Die letzte Periode der Volkskirchlichkeit in Skandinavien ist nicht zu Ende, und die geschichtlichen Wurzeln des Begriffes lassen ihn für neue Qualifizierungen offen.

TRUTZ RENDTORFF

Volkskirche in Deutschland Eine historisch-theologische Problemskizze*

I. Das Verständnis der Kirche als Volkskirche - Erneuerung und Umbildung in der Gegenwart 1. Volkskirche als Begriff der Gegenwart Volkskirche ist ein Begriff der kirchlichen Zeitgeschichte, genauer: der unmittelbaren Gegenwart in Deutschland. Volkskirche ist nicht nur ein Begriff der kirchlichen und politischen Vergangenheit mit präzise bestimmbaren Belastungen, sondern ein heute aktueller Orientierungsbegriff der Kirche der Gegenwart. Die Begriffsbildung selbst, als Neuprägung und Umprägung in der Gegenwart muß darum eine Rolle spielen, wenn klarwerden soll, was mit Begriff und Vorstellung der Volkskirche signalisiert ist. Eine auf politische Belastungen fixierte Verwendung des Begriffs Volkskirche gibt die theologische Freiheit an einem zentralen Punkte des Kirchenverständnisses der Gegenwart preis. Die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands hat im Jahre 1977 eine Studie vorgelegt mit dem Titel: „Volkskirche Kirche der Zukunft?" 1 . Deren erster Satz lautet: „Kirche als Volkskirche ist ein zentrales Thema für die Zunkunft"; und weiter heißt es: Die „Kirche muß im Blick auf die Zukunft neu entdecken, was es heißt, daß sie Kirche Jesu Christi als Volkskirche ist". Die Studie zielt unter der thetischen Zielangabe „unsere Kirche ist Volkskirche" darauf ab, „einen neuen Zugang" zur Wirklichkeit der Kirche mit dem Begriff der Volkskirche zu gewinnen. Der Untertitel der Studie lautet: „Leitlinien der Augsburgischen Konfession für das Kirchenverständnis heute." Nicht eine historische Soziologie der Kirche als Volkskirche also, sondern eine Deutung der Kirche als Volkskirche * Dem Entwurf eines Vortrages gemäß wird auf einen ausführlichen Nachweis der wissenschaftlichen Literatur verzichtet; Belege werden nur für direkte Bezugnahmen angegeben. 1 Leitlinien der Augsburgischen Konfession für das Kirchenverständnis heute. Hg. v o n WENZEL LOHFF u n d L U T Z MOHAUPT. H a m b u r g

1977.

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im Medium des Bekenntnisses ist die Absicht dieser lutherischen Studie, in der die Vermittlung von Bekenntnisaussage und gegenwärtiger kirchlicher Aufgabe unternommen werden soll. Der Gebrauch des Begriffs Volkskirche ist hier problemorientiert, d.h. er ist daran orientiert, die Probleme und Aufgaben einzufangen, die sich der Kirche im Sinne kirchenleitenden Handelns stellen und denen sie sich stellen muß. Volkskirche wird gegenwärtig mit einer Bewertung und einem Urteil über die Art der der Kirche gestellten Aufgabe verbunden, der Begriff soll zu einer problemorientierten Aufgabenbeschreibung im Lichte solcher theologischen Tradition anleiten, wie sie exemplarisch im Bekenntnis formuliert ist. Die Evangelische Kirche der Union hat in der Reihe ihrer Auslegungen der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 eine Studie vorgelegt, die gleichsam ein Gegenstück zur VELKD-Studie darstellt, mit dem Titel „Kirche als Gemeinde von Brüdern", eine Studie, die in eine andere Richtung blickt und Problemorientierung und Aufgabenbeschreibung im Medium eines anderen Bekenntnisses, „Barmen III", zu formulieren unternimmt2. Aus der Kirche in der DDR liegt, neben einer Reihe von Einzeläußerungen, die Studie des Deutschen Nationalkomitees des Lutherischen Weltbunds vor, die als Beitrag zu einem Projekt des LWB, der sogenannten Ekklesiologiestudie, konzipiert worden ist3. Sie spricht unter dem Titel „Identität und Pluralität" von den Problemen einer „Kirche im Sozialismus" als einer „kleiner werdenden Volkskirche in der Erneuerung". Die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland schließlich hat sich als Hauptthema ihrer Tagung in Freiburg 1975 das Thema „Volkskirche" gestellt und sich dabei in lebhafte Auseinandersetzungen verwickelt. Sie nahmen ihren Ausgangspunkt an dem einleitenden Satz der Vorbereitungsstudie: „Unsere Kirche ist zum Problem geworden." Im Ergebnis beschränkte sich die Synode selbst auf eine „Einladung zum Gespräch" an die Gemeinden und gab damit zu erkennen, daß sie die Kirche als Volkskirche bejaht und das Thema angenommen hat und gerade deswegen nicht in einer synodalen Entschließung definieren wollte, sondern sich selbst als Teil in den Prozeß der sich ihrer selbst bewußt werdenden Volkskirche integrieren wollte4. 2 Kirche als „Gemeinde von Brüdern" (Barmen III) Band 1. Veröffentlichung des Theologischen Ausschusses der Evangelischen Kirche der Union. Hg. von ALFRED

BURGSMÜLLER. Gütersloh 1980. 3 Diese Studie ist nur als maschinengeschriebenes Manuskript vervielfältigt zugänglich. 4 Vgl. dazu TRUTZ RENDTORFF: Erwartungen an die Volkskirche. Anmerkungen zu einer aktuellen Diskussion. In: Ev. Kommentare 9, 1976, S. 16-18.

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Dies sind signifikante Vorgänge einer neuen, gegenwärtigen und breiten Diskussion der Volkskirche in Deutschland. Sie belegen, daß der Begriff der Volkskirche wieder in neuer Bildung begriffen ist. Insofern ist „Volkskirche in Deutschland" ein Thema, das sich lebhaft in Bewegung befindet. Weder ist „Volkskirche" ein klar und abschließend definierter theologischer Begriff. W. Lohff hat zutreffend davon gesprochen, daß es an „einem theologischen Begreifen der Volkskirche" fehle 5 . Noch hat „Volkskirche" eine eindeutige historische Kontur, sondern ist gerade in der historischen Betrachtung vieldeutig und gewinnt erst dort ein bestimmtes Profil, wo in Zustimmung und Ablehnung die Frage akut wird, ob kirchliches Handeln sich an dem Problemfeld Volkskirche orientieren will oder nicht. Der Satz: „Unsere Kiche ist Volkskirche" ist offen für die Fortsetzung: „und sie will und soll es auch sein", aber auch zu der Fortsetzung: „und das muß endlich anders werden". Allerdings: historische Gründe sprechen dafür, daß solche Fortsetzungen keineswegs beliebig sind, daß es hier deutliche Gewichte gibt, die zu verschieben nicht im Belieben kirchlicher Gremien und Aktionsprogramme liegt.

2. Strukturelemente des Problembegriffs Volkskirche Begriff und Vorstellung der Volkskirche zeigen sich in der Problemgeschichte der damit verbundenen Diskussion. So ist es historisch aufschlußreich, daß die Problemgeschichte zugleich Ausdruck der Realgeschichte des protestantischen Kirchentums ist und für deren höchst komplexe und wechselnde Struktur Signalfunkton hat. Denn das hervorstechendste Merkmal dieser Problemgeschichte, wie sie sich in der ekklesiologischen, theologischen und kirchenpraktischen Literatur reflektiert, ist dieses: Zu keinem Zeitpunkt hat es eine einzelne bestimmte theologische Position oder Lehrmeinung vermocht, gleichsam das Kommando zu übernehmen und ihr Kirchenverständnis mit eindeutigem und einseitigem Erfolg der geschichtlichen Realität der Kirche aufzuzwingen. Die Geschichte wechselnder Kirchenreformen und ekklesiologischer Konzepte hat eher eine Kommentarfunktion als eine im historischen Sinne erfolgreiche präskriptive Bedeutung erlangt. Solche Konzeptionen sind immer nur im historischen und geistlichen Bezugsrahmen der Volkskirche wirksam geworden. Die Integrationskraft der Volkskirche ist 5

WENZEL LOHFF: In Schicksalsgemeinschaft mit der Gesellschaft. Zukunftsperspektiven für Kirche und Theologie. In: Ev. Kommentare 8, 1975, S. 465 f.

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ihr hervorstechendstes Merkmal. So sind auch eine Reihe von Alternativbildungen, die zum Repertoire der Problemgeschichte der Volkskirche gehören, nicht mehr unmittelbar relevant, auch wo sie immer wieder als Kommentar zur Situation der Kirche aktualisiert werden. Das gilt für die Gegensatzbildung von „Volkskirche und Freiwilligkeitskirche", sofern sie von der Annahme geleitet war, die Volkskirche bestehe kraft einer Art Zwangsmitgliedschaft, die aus der Verbindung von politischer Verordnung und gesellschaftlichem Druck herrühre und der gegenüber, wenn eines oder beides wegfiele, die Volkskirche ebenso zwangsläufig nur noch als Freiwilligkeitskirche würde bestehen können. Diese Annahme hat sich für die Gegenwart als im wesentlichen unzutreffend erwiesen. Das gilt für den Gegensatz von „Volkskirche und Bekenntniskirche", in der die Annahme aufzutreten vermochte, Volkskirche bestehe allein in unbewußt übernommener religiöser Sitte, die ununterscheidbar mit der allgemeinen Verkehrssitte in eins falle, und die wahre Kirche müsse demgegenüber sich als bewußte Bekenntniskirche gestalten, für die das „Drinnen" und „Draußen" der Kirche an der Bekenntnislinie manifest werde; denn es sind gerade Gründe des reformatorischen Bekenntnisses, die eben diesem Willen zu kirchlicher und personaler Eindeutigkeit entgegenstehen, wenn die Kirche nicht mit ihrer eigenen Verkündigung und Praxis der evangelischen Botschaft in Konflikt geraten wollte. Das gilt auch für die Annahme, Volkskirche sei erst dann zu ihrem Ziel gekommen, wenn sie sich in nahtloser Ubereinstimmung mit dem „Volk" befinde, sei es in der radikal demokratischen Übertragung der politischen These, alle Gewalt geht vom Volke aus als der Summe der Einzelwillen, auf die Kirche, sei es in der entsprechenden Gegenthese, die Bewegung des Volkes als elementarer Volksgemeinschaft sei der Wurzelgrund der Volkskirche, und was nicht völkisch deutsch sei, sei auch nicht volkskirchlich legitim; denn die Annahme solcher Eindeutigkeit von der „Basis" her ist nun gerade im Blick auf diese Basis selbst wirklichkeitsfremd und ein zwanghaftes Postulat. Das im Begriff „Volkskirche" genannte „Volk" ist eben keine einfache Realität und solange auch kein deutlicher Begriff, solange nicht der theologische und kirchlich-geistliche Sinn leitend ist, der für ihr Selbstverständnis allein maßgebend sein kann. Im übrigen wäre es eine unzulässige Kurzformel für die höchst differenzierte Realität der modernen Gesellschaft. Die Volkskirche ist das heutige Ensemble der kirchengeschichtlich wirksamen Kräfte einer jeweils zeitgemäßen Ausrichtung des kirchlichen Auftrages in der Kontinuität grundlegender kirchlicher Uberzeugungen einerseits und der Orientierung auf die biographischen

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Lebenssituationen je neuer Generationen von Menschen hin andererseits. In dieser doppelten Bestimmtheit ist die Volkskirche dann als Begriff und Vorstellung der Ort, an dem kirchenleitendes H a n deln sich über die Bedingungen seines Auftrages so Rechenschaft ablegt, daß es sich dieser doppelten Kontinuität und Bestimmtheit gemäß gestaltet. Volkskirche als Strukturbegriff der Kirche ist in diesem Sinne in Deutschland erst mit dem Jahre 1918 zu einem geschichtsmächtigen Problem geworden, d. h. dann und dort, als und wo die Kirche zum ausdrücklichen, auch empirisch selbständigen Subjekt ihres Lebens und Handelns geworden ist. Die Erneuerung und Umbildung des Verständnisses der evangelischen Kirche als Volkskirche, die f ü r die Gegenwart charakteristisch ist, muß also gesehen werden als der Prozeß einer Begriffsbildung, der sich im Blick auf die Selbständigkeit der Kirche und von ihr her vollzieht und darauf abzielt, diese Selbständigkeit als zeitgemäße Integration der historischen Kräfte und Probleme auszubilden, im Verhältnis zu denen sich die Kirche als Volkskirche zu bestimmen sucht.

3. Volkskirche in Deutschland Der andere Pol des Themas muß f ü r die Betrachtung ebenfalls eine ausdrückliche Rolle spielen: „in Deutschland". Es ist immer wieder bemerkt worden, daß Volkskirche ein spezifisch kontinentaleuropäisches und darin auch wiederum deutsches Thema und Problem sei. Dennoch wäre es unzureichend, wenn das in einem historisch-geographischen Sinne allein gelten sollte. Dagegen spräche eindeutig die Existenz und die teils ganz andere, teils aber auch identische Problemlage im lutherischen Skandinavien. Im Blick auf das Thema Volkskirche in Deutschland gilt nup insbesondere: Deutschland ist weder geographisch noch nationalgeschichtlich ein eindeutiger Begriff. Deutschland muß hier verstanden werden in einer bestimmten religionsgeschichtlichen Bedeutung, in einer kirchengeschichtlich und theologisch geprägten Fassung: Deutschland als das Land der Reformation. Denn - und das soll damit angezeigt werden - Volkskirche ist ein bestimmtes und historisch unverwechselbares Erbe der Reformation und gehört in den Folgezusammenhang der reformatorischen Bewegung des 16. Jahrhunderts, wie sie von Wittenberg ausgegangen ist. Die wesentlichen Strukturmerkmale der protestantischen Volkskirche, die bis heutigen Tages und heute erneut unübersehbar her-

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vortreten, sind ohne diesen genealogischen Zusammenhang nicht erkennbar. Die Soziologie der Volkskirche ist eine Konsequenz der theologischen Entscheidungen des 16. Jahrhunderts, die selbst bereits zutiefst im Medium ihrer sozialgeschichtlichen und politikgeschichtlichen Wirkungen rezipiert worden sind. Nur an einige wenige und auch nur ganz elementare Merkmale sei erinnert, die hier eine Rolle spielen: Die Kritik und im Erfolg auch Auflösung der römischen Hierarchie, der einheitlichen Rechtsform der Kirche hat die lutherischen Kirchen und Gemeinden in einer Weise „kontextuell" bewußt gemacht, die Form und Gestalt der Kirche auf ihren Kontext hin in spezifischer Weise geöffnet hat. In der Entdeckung der deutschen Sprache, in der pädagogischen und pragmatischen Einschätzung aller Riten und gottesdienstlichen Veranstaltungen im Sinne der traditiones humanae hat sie die formelle Einheit der Weltkirche durch die Einheit von kirchlichem und menschlichem Leben substitutiert. I n d e r A u f d e c k u n g d e r libertas

Christiana

h a t sie e i n F r e i h e i t s m o t i v

stark gemacht, das - in der Rechtfertigungslehre begründet - weit über deren theologische Fassung und die kirchlich-dogmatische Konsolidierung hinaus wirksam geblieben ist, so daß das kritische Verhältnis zur Kirche als Institution als legitimes christliches Verhältnis die Kirche als Volkskirche zu bestimmen vermag. Mit der aus der gleichen Quelle stammenden Aufwertung der Selbständigkeit der weltlichen Obrigkeit als in einer eigenen Anordnung Gottes begründet, hat sie dem Verantwortungsbewußtsein christlichen Lebens und Handelns einen über die Kompetenz der Kirche hinausweisenden Raum erschlossen. Beschaffenheit und Struktur des Politischen konnten so eine mitbestimmende Rolle für das Verständnis evangelischen Glaubens gewinnen. In diesen und anderen zu nennenden Zügen tritt hervor, daß und warum die Reformation für die geschichtsmächtige Neubestimmung des evangelischen Glaubens den Preis der formellen Selbständigkeit der Kirche zu zahlen veranlaßt war. Der besondere Charakter lutherisch bestimmter Volkskirche ist darum weder durch die äußeren Merkmale der „Zuwachskirche" als „Kindertaufkirche" noch durch die soziologischen Merkmale einer „gesichtslosen" Massenkirche erfaßt noch auch dadurch, daß sie „geschlossene" Volkskirche als Kirche eines ganzen Volkes ist. Der besondere Charakter lutherisch bestimmter Volkskirche ist, theologisch gesprochen, darin begründet, daß sie als Kirche ihr Subjektsein dem Wort des Evangeliums unterstellt, sich selbst nicht gegenüber den ihr anvertrauten Mitteln von Wort und Sakrament vordrängt, sondern sich als im Bekenntnis gegründet weiß, und daß sie

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deswegen und mit aller Konsequenz offen ist in der Gestaltung ihres Lebens und ihrer gemeinschaftlichen Realität für die Wirksamkeit Gottes und seiner Welt, von der her sie ihre durch ihren besonderen Auftrag qualifizierte empirische Realität empfängt. Insofern ist es auch historisch wie theologisch zu begreifen, daß die Kirche als Volkskirche von allen Erfahrungen und Leiden, Erfolgen und Niederlagen mitgeprägt wird, die die Geschichte der Christenheit bestimmen, und sich ihnen gegenüber nicht in vornehmer theologischer Überlegenheit abgrenzt: Als Kirche des Evangeliums, das den „Christus pro nobis" bezeugt, ist sie als Volkskirche gerade darin christlich, worin sie sich im Verhältnis zu ihrem Bekenntnis als durchaus menschlich erfährt. Volkskirche ist in dieser Hinsicht die irdisch-geschichtliche Existenzform Jesu Christi 6 . Es ist das reformatorische Verständnis der Kirche, das ihren Charakter als Volkskirche „in Deutschland" entscheidend geprägt hat und prägt. Als diese Volkskirche ihre neue äußere Selbständigkeit zu gestalten und zu verwalten, konnte und mußte darum nach 1918 nicht so sehr bedeuten, einen völlig neuen Anfang zu setzen, sondern dieser Offenheit in ihrem nunmehr selbständig zu verantwortenden Kirchesein Rechnung zu tragen und in diese neue Selbständigkeit ihre Geschichtlichkeit produktiv einzubringen. Die Erneuerung und Umbildung des Verständnisses der Kirche als Volkskirche heute ist deshalb auch ein Vorgang, in dem sich Grundmotive der reformatorischen Bewegung und des Protestantismus, des protestantischen Christentums vereinen und in dieser Verbindung das Gesicht der Kirche bestimmen.

II. Das historische Profil der Kirche als Volkskirche

heute

Die Absicht dieses II. Teils ist es, das historische Profil der Volkskirche heute zu zeichnen. Damit soll das heutige Profil der evangelischen Kirche, wie es sich in den Jahrzehnten seit dem letzten Kriege herausgebildet hat, so konkretisiert werden, daß dabei eine genauere Kontur des Begriffes und der Vorstellung von Volkskirche sich ergibt, als das Ensemble der Probleme und Aufgaben kirchlicher Existenz.

' Vgl. D I E T R I C H B O N H O E F F E R S Formel „Christus als Gemeinde existierend" (Sanctorum Communio. Eine dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche. 4. Aufl. München 1969, S. 80 u.ö.), die von Karl Barth in dem oben genannten Sinne übernommen wurde.

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Historische Dimension soll dieses Profil dadurch erhalten, daß jeweils die Linie vom Hintergrund des 19. Jahrhunderts her zu einer Haupttendenz der Zeit nach 1918 gezogen und von da aus gefragt wird, worin der erkennbare Wandel und Neuansatz nach 1945 bestanden hat und in welche Qualifikation von Volkskirche diese neue Tendenz mündet. Wandel und Erneuerung im Verhältnis zu einer problemgeschichtlichen Kontinuität der Kirche als Volkskirche sollen dabei hervortreten. Die These, die diese Skizze leitet, ist diese: Volkskirche heute heißt für die Evangelische Kirche in Deutschland ein solches Verständnis der Kirche, die ihre institutionelle Selbständigkeit als Integration der Kräfte des modernen Protestantismus realisiert und dafür ihre eigene spezifisch kirchliche Tradition neu mobilisiert. Im Verständnis der evangelischen Kirche als Volkskirche kommt insofern der Prozeß des Selbständigwerdens der Kirche, wie er seit Beginn des 19. Jahrhunderts teils als offene Forderung, teils als latente Erwartung, nach innen wie nach außen, ihr Verhältnis zu Staat, Gesellschaft und Kultur bestimmt hat, zu einer bestimmten neuen Realisierung. Diese These soll im Folgenden konkretisiert und skizzenhaft exemplarisch belegt werden. Dazu werden fünf Themenkreise bzw. Bezugsfelder der Selbständigkeit der Kirche erörtert, wobei jeweils a. der Hintergrund vom 19. Jahrhundert; b. Tendenzen in der Zeit nach 1918; c. Tendenzen in der Zeit nach 1945 erörtert werden sowie d. ein kurzes Fazit gezogen werden.

1. Das Problemfeld Kirchlichkeit - Unkirchlichkeit In diesem ersten Problemfeld ging es und geht es um die Frage, wieweit die Kirche als Volkskirche einem unaufhaltsamen und eindeutig gerichteten Prozeß der Auflösung von der Kirchlichkeit zur Unkirchlichkeit und Kirchenlosigkeit unterworfen sei. Diese Frage betrifft die Kirche als Volkskirche in ihrem ausdrücklichen Handeln in Gottesdienst und Amtshandlung und, darüber hinaus, in ihrem Mitgliederbestande. Die Deutung und die Stellungnahme dazu aber ist immer gleichbedeutend mit einer kirchlich-theologischen Stellungnahme zum Verlauf der Geschichte, eine Deutung der „Moderne" und der sie bestimmenden Zeitgeistströmungen. Insofern ist die Deutung des Problemfeldes „Kirchlichkeit - Unkirchlichkeit" auch das Medium kirchlicher Standortbestimmung und Zeitdeutung.

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a. Der Hintergrund vom 19. Jahrhundert her Parolen vom Ende des Christentums, zumal der Kirche wurden im 19. Jahrhundert vielfach ausgegeben. Am Mittagstisch des preußischen Kultusministers Karl von Altenstein wurde, so wird berichtet, kühl die Frage erörtert, ob das Christentum noch 30 oder 40 Jahre bestehen würde. Die intellektuelle und politische Religionskritik sprach sich in Prognosen eines allgemeinen Verlustes von Religiosität und Kirchlichkeit aus, die sich in den unterschiedlichen Phasen von Kirchenaustrittsbewegungen hoffnungsvoll bestätigt sahen. Sofern solche Prognosen Bestandteil eines spezifischen Neuzeitverständnisses sind, werden sie auch heute innerhalb und außerhalb der Kirche enttäuschungsresistent weitertradiert. Fragt man danach, welches genauere historische Profil sich mit ihnen gleichwohl verbinden läßt, so stößt man auf einen Prozeß zunehmender Differenzierung in der Einstellung zur Kirche und in der Wahrnehmung von Kirchlichkeit, wie sie im Spannungsbogen von Kirche und freiem Protestantismus des 19. Jahrhunderts sich ausbildet. Protestantenverein, Lichtfreunde, Protestantische Freunde und viele andere Bewegungen und Unternehmungen können dabei als Indizien f ü r ein sich verbreiterndes Auseinandertreten von Protestantismus und Barche, Christlichkeit und Kirchlichkeit in Anspruch genommen werden 7 . Dennoch muß das historische Urteil rückblickend sagen: Die tatsächliche Bedeutung der in diesem Spannungsbogen auftretenden Bewegungen liegt nicht auf der Linie einer deutlichen und realisierten Trennung, sondern in Wirkungen der Reform, der Erneuerung und vor allem der Erweiterung des Verständnisses von Lehre und Praxis der Kirche. h. Tendenzen in der Zeit nach 1918 Die rasche, obwohl lang erhoffte, so doch revolutionär erzwungene Selbständigkeit der Kirche nach 1918 gegenüber dem Staat ist auf der institutionellen Ebene der Kirchlichkeit weitgehend durch Elemente der Kontinuität bestimmt gewesen. So konnte es als richtungweisend gelten, diese neue Situation auch als eine Chance f ü r die Kirche, „die da ist" 8 , zu begreifen und mit Akzenten eines neuen Aufbruches zu verbinden. Die zeitgeschichtliche Erfahrung sprach 7 Historische Nachweise im einzelnen bei TRUTZ RENDTORFF: Art. „Christentum". In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 1. Stuttgart 1972, Sp. 772-820. 8 Vgl. OTTO DIBELIUS: Das Jahrhundert der Kirche. Geschichte, Betrachtung, Umschau und Ziele. 2. Aufl. Berlin 1927, S. 76.

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auf vielen Ebenen von Umorientierung, Umbruch und Neuorientierung. Die Zeit schien einer tiefgreifenden Gegenbewegung gegen die zerstörerischen Kräfte der unmittelbaren Vergangenheit bedürftig. So bekommt die Kirche als Volkskirche in diesem Kontext einen missionarischen Klang, Volkskirche als Veranstaltung von Volksmission. Diese Tendenz, mit der sich das theologische und kirchliche Bewußtsein in die Suche der Zeit nach Bewegungen einpaßte, verstärkte sich in ihrem volksmissionarischen Sinn dort, wo der Versuch unternommen wurde, eine ausdrückliche Verbindung mit der „Bewegung des Volkes", der Volksbewegung als völkischer Bewegung herzustellen. Die Parole: „Ein großes Volk auf dem Heimwege zu seiner Kirche"' sprach gerade in ihrer Mehrdeutigkeit auch die Kirche als Zielpunkt dieser Bewegung an. Es konnte so scheinen, als ob die Kräfte der Geschichte auch eine Trendwende in dem Gefälle von Kirchlichkeit und Unkirchlichkeit begünstigten. Die Erfahrung, daß die Kirche überall dort, wo sie auf solche Bewegungen setzte, auch ihre Selbständigkeit wieder preisgab und nicht auf eigene Weise zu verantworten vermochte, hat sich darum dem theologischen und kirchlichen Verständnis der Kirche als Volkskirche tief eingeprägt, nämlich als begründeter Vorbehalt gegenüber rechter und linker Beanspruchung der Kirche für das Geschäft des Politischen. c. Tendenzen in der Zeit nach 1945 In der evangelischen Kirche in Deutschland setzt nach 1945 eine Kirchlichkeitsdebatte ein, in deren Verlauf die Umbewertung und Neubestimmung zentraler Deutekategorien eine wichtige Rolle spielt. Sie ist zunächst von den Erfahrungen der tiefen politischen Krise bestimmt, wobei das Aufkommen und die Herrschaft des Nationalsozialismus und dessen totaler Zusammenbruch als äußere Folgen einer religiösen Krise der Neuzeit verstanden werden konnten, die als Jahrhundert ohne Gott" (Alfred Müller-Armack 10 ) den unheilvollen Konsequenzen eines tiefgreifenden Säkularisierungsprozesses ausgesetzt sei. Die Erfahrungen jedoch, daß dieser Zusammenbruch für die Kirche nicht so sehr Verlust, sondern Wiedergewinn und Stärkung von Selbständigkeit mit sich brachte, verbanden sich sodann mit einer Neueinschätzung der Säkularisierung. Dabei ' Dieser Ausspruch stammt von FRANZ TÜGEL: Mein Weg 1888-1946. Erinnerungen eines Hamburger Bischofs. Hg. von Carsten Nicolaisen. Hamburg 1972, S. 242. 10 Das Jahrhundert ohne Gott. Zur Kultursoziologie unserer Zeit. Münster-Regensburg 1948.

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spielte sowohl Dietrich Bonhoeffers Formel von der „mündigen Welt" 11 eine Rolle, wie auch die Neubestimmung der theologischen Arbeit durch Rudolf Bultmanns Programm der Entmythologisierung des Neuen Testamentes 12 . Im Zurücktreten unmittelbarer Bestandssorgen der Kirche konnte deswegen auch eine zunehmend positive Einschätzung einer distanzierten und differenzierten Kirchlichkeit Raum gewinnen, die es erlaubte, einer scheinbar eindeutigen Verlaufslinie von der Kirchlichkeit zur Unkirchlichkeit ein komplexer strukturiertes Verständnis der Kirche als Volkskirche in der modernen Gesellschaft entgegenzusetzen. „Distanzierte" Kirchlichkeit - das bedeutet im Blick auf die Kirche als Institution, daß sie ein Verhalten der distanzierten Teilnahme ermöglicht, ohne daraus eine Gefährdung der kirchlichen Institution bzw. der Zugehörigkeit zu ihr abzuleiten. Das gilt für die Konsolidierung großer institutioneller Zusammenhänge generell. Deswegen sind auch die Diskussionen über den Grad der Identifikation mit der Kirche erst dann historisch und zeitgeschichtlich aufschlußreich, wenn man die vergleichbaren Probleme und Fragen der Gewerkschaften hinsichtlich ihrer Mitglieder, der Parteien hinsichtlich ihrer Anhänger, der Schulen hinsichtlich ihrer Eltern miteinbezieht und vor allem die mit der Kirchlichkeitsdebatte in den Anfängen der Bundesrepublik ungefähr gleichlaufende Diskussion über das Verhältnis der Bürger zur Demokratie berücksichtigt. Von daher fällt auch ein bestimmtes Licht auf die zeitgeschichtliche Problematik der Kirchenaustritte. Über deren Gründe gibt es nichts Eindeutiges zu berichten, wohl aber stehen sie in einer im einzelnen schwer aufzuschließenden Korrespondenz zu Bewegungen der Einstellung gegenüber dem Gemeinwesen und seinen Institutionen insgesamt. So gibt es einen relativ deutlichen Zusammenhang zwischen überdurchschnittlichen Austrittswellen und Bewegungen im allgemeinen politischen Klima. Sehr vereinfacht ausgedrückt: Staatskritik und Kirchenaustritt hängen eng zusammen. Aus dem Staat kann man nicht austreten. Der Austritt aus der Kirche dagegen hat dann so etwas wie den Charakter einer Ersatzgeste. Sobald die Kirche anfing, sich zur genaueren Erfassung von 11 Bonhoeffer entwickelte seinen Gedanken zur „mündigen Welt'' in der Zeit seiner Gefangenschaft 1942/43 und unter den Bedingungen eines totalitären Regimes (Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Hg. von Eberhard Bethge. Neuausgabe München 1970). In gewisser Weise datiert mit ihnen, wie auch mit dem Aufsatz von RUDOLF BULTMANN (vgl. Anm. 12), theologisch bereits die Nachkriegszeit. 12 Neues Testament und Mythologie (1941). In: Kerygma und Mythos. Ein theologisches Gespräch. Hg. von Hans Werner Bartsch. 4. Aufl. Hamburg 1960, S. 15-48.

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Kirchlichkeit über die bestehenden Urteile und Vorurteile hinweg des Instrumentariums empirischer Erhebungen zu bedienen, wurde auch deutlich, daß deren empirische Befunde keineswegs so eindeutig sind, wie zunächst unterstellt, sondern eine weitreichende Interpretationsaufgabe darstellten. Dafür ist signifikant der Vergleich zwischen zwei großen empirischen Untersuchungen, der VELKDStudie „Gottesdienst in einer rationalen Welt" 13 und der EKD-Studie „Wie stabil ist die Kirche?" 14 . Die VELKD-Studie folgte einem sozialpsychologischen Ansatz, der im wesentlichen die Zustimmung zu bestimmten, als spezifisch kirchlich definierten inhaltlichen Vorgaben untersuchte und die kognitive Assonanz bzw. kognitive Dissonanz zu messen versuchte. Die EKD-Studie dagegen folgte einem struktur-funktionalistischen Ansatz und untersuchte die Einschätzung der Mitgliedschaft in der Kirche durch die Mitglieder selbst. Die Ergebnisse traten entsprechend weit auseinander. Während die VELKD-Studie stärker Elemente nachweisbarer kognitiver Dissonanzen hervorhob und damit auf soziologischem Wege den bewußtseinsmäßigen Pluralismus des Protestantismus ans Licht hob, der in anderer Weise auch das Kennzeichen kirchlicher und theologischer Diskussionen der Zeit ist, konnte die EKD-Studie ein überraschend hohes Maß an Mitgliedschaftsbindung feststellen, die den unterschiedlichen Einstellungen zur Kirche zugrunde liegt. Wie immer solche Studien im einzelnen beurteilt werden, so belegen sie die Möglichkeiten und das Repertoire differenzierter Betrachtung des Christentums innerhalb und außerhalb der Kirche und tragen zu einem neuen volkskirchlichen Bewußtsein bei. Für die Selbständigkeit der Kirche haben sie vor allem die Bedeutung, den Nachweis geführt zu haben, daß es keinen eindeutigen Trend oder gerichteten Prozeß im Verhältnis von Kirchlichkeit und Unkirchlichkeit gibt, so daß daraus um so eindeutiger eine Aufgabe des kirchlichen Handelns im Blick auf die Mehrdimensionalität der Volkskirche folgt. d.

Zusammenfassung

Im Bezugsfeld Kirchlichkeit - Unkirchlichkeit führt die neue Selbständigkeit vom Selbstverständnis der Kirche her zu einer weitreichenden Integration von Kirche und „freiem" Protestantismus. Die Volkskirche kann sich als eine Bekenntniskirche begreifen, die 13

Religionssoziologische Untersuchungen im Bereich der

HARD SCHMIDTCHEN. S t u t t g a r t / F r e i b u r g 14

VELKD.

Hg. von

GER-

1973.

Bestand und Erneuerung. Ergebnisse einer Meinungsbefragung. Hg. von HEL-

MUT HILD. Berlin 1974.

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zur empirischen Vielschichtigkeit und Differenziertheit der Religiosität in der Gesellschaft hin offen ist und ihre eigene innere Stärke in der Integration realisierter Glaubensfreiheit unter Beweis stellt. Angesichts dieser f ü r die Entwicklung der E K D typischen Grundelemente bildet sich dann eine neue Opposition aus solchen Kreisen, die Kirchlichkeit in strenger Abgrenzung nach außen vor allem durch die Formen entschiedenen Christentums und der Frömmigkeit der Kerngemeinden definiert sehen will.

2. Das Problemfeld Kirche und Staat Im Blick auf die Problemgeschichte des Verhältnisses von Kirche und Staat ist von der „Kirche im Schatten des Staates" (Rudolf von Thadden 1 5 ) gesprochen worden. Für die reformatorischen Kirchen hat der Staat eine eigentümliche Bedeutung f ü r ihr Selbstverständnis als Kirche. Denn im Staat tritt nicht nur die „Welt" der „Kirche" entgegen, sondern der Staat repräsentiert auch immer eine Regierweise Gottes in der Welt und verlangt insofern auch aus eigenen Gründen eine theologische und kirchliche Anerkennung. Insofern ist das Verhältnis der Kirche zum Staat für den Protestantismus auch nicht allein durch das Interesse die Kirche an ihrer Selbständigkeit bestimmt. Kirchenverständnis und Staatsverständnis stehen vielmehr in einem inneren Korrespondenzverhältnis. a. Die Problemlage vom 19. Jahrhundert her Die theologische Tradition erblickte im Staat den wichtigsten Repräsentanten einer von Gott geordneten weltlichen Autorität. Insofern war es konsequent, daß alle politischen Bewegungen, f ü r die politische Autonomie und Selbständigkeit des Bürgers gegenüber dem Staat eine systematisch grundlegende Rolle spielten, als ein Aufbegehren des Menschen gegen die Autorität Gottes gedeutet werden konnten. Von daher bildete sich die Kontrastellung der Kirche gegenüber der aufkommenden Demokratie. Gleichwohl muß gesehen werden, daß in diesem traditionsbestimmten Gegensatz der Staat als Rechtsstaat f ü r das Verständnis der Kirche eine eindeutig positive Rolle spielte. Denn die Bindung des Staates ans Recht konnte mit gutem Grund als die moderne Fassung des theologischen Gedankens erscheinen, daß alle Obrigkeit 15

Fragen an Preußen. Zur Geschichte eines aufgehobenen Staates. München 1981, S. 107ff.

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von Gott verordnet ist und insofern nicht alleine und nicht primär durch ihre faktische Macht und Gewalt begründet sei. Die positive Einschätzung des Rechtsstaates mußte darum auch den Gedanken einer Verfassungsbindung des Staates mit einschließen und war insofern im Prinzip auch zur verfassungsmäßigen Demokratie hin offen, auch wenn diese Offenheit sich historisch im Selbstverständnis der Kirche von 1918 kaum konstruktiv entwickelte. b. Tendenzen in der Zeit nach 1918 Der neue Staat der Weimarer Republik erschien in der ersten Phase als eine Bedrohung der Existenz der Kirche. Tatsächlich bildeten sich dann aber in der Konsequenz der Kirchenartikel der Weimarer Verfassung und im Vollzuge der tatsächlichen politischen Realitäten bereits in der Weimarer Republik die Grundzüge dessen aus, was in der späteren Epoche als „Partnerschaft von Kirche und Staat" Gestalt annehmen sollte. Dabei spielte vor allem die Haltung derjenigen Kirchenführer eine wichtige Rolle, die sich selbst als „Vernunftrepublikaner" einschätzten und ein positives Verhältnis von Kirche und Staat zu entwickeln suchten 16 . Dabei wurde allerdings ein zentrales Strukturproblem der Weimarer Republik unterlaufen: Indem die Kirche die Staatlichkeit der Demokratie bejahte, dies aber von einer Position „über den Parteien" her begründete, tat sie dies mit bewußter Umgehung der Strittigkeit des Politischen im konkreten Vollzug. Die entscheidende Frage, die dabei eine Rolle spielte, war sicher das Autoritätsproblem, d. h. die Frage, in welcher Weise ein demokratisch verfaßter Staat letztgültige Verbindlichkeit im Sinne der theologischen Tradition und der Obrigkeitslehre auszudrücken und zu repräsentieren vermochte. Die Tendenz, die deswegen für das Verständnis des Politischen in der Kirche zunehmend eine Rolle spielte, läßt sich darum durch die Formel Jenseits der Parteien" beschreiben, d. h. in der Suche nach einer Verbindlickeit des Politischen, die nicht durch die tatsächliche Verfassung der Demokratie schon zureichend beantwortet war, sondern „hinter" den lebendigen Verfassungskräften, und d. h. in erster Linie „hinter" den Parteien, die Autorität des Politischen festzumachen suchte. In diesem Sinne konnte das „Volk" als Substitut für die von Gott verordnete Verbindlichkeit der Autorität des Politischen gelten. Dabei ist festzuhalten, daß in der Frage des Verhältnisses von Kirche und Staat, vor allem aber in der neu aufgegebenen Deutung der 16 Vgl. dazu JONATHAN R. C . WRIGHT: „Über den Parteien". Die politische Haltung der evangelischen Kirchenführer 1918-1933 (AKiZ. Β 3). Göttingen 1977.

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Demokratie die Unterscheidung der beiden Regimente wie überhaupt das theologische Deutungspotential der Zweireichelehre noch so gut wie keine konstruktive Rolle zu spielen vermochte. Wenn überhaupt von dieser Unterscheidung Gebrauch gemacht wurde, dann doch nicht im Blick auf die Strukturprobleme und die Verfassungsordnung der Demokratie, sondern nur im Sinne einer groben und relativ unkonturierten Anerkennung einer Selbständigkeit des Politischen als solchen. Gleichwohl bereitet sich in dieser Zeit die Frage vor, welche orientierende Bedeutung für das Verhältnis von Kirche und Staat die lutherische Zweireichelehre haben könne. Nachdem Ernst Troeltsch mit seinen Thesen über die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt die kritische Unterscheidung von Altprotestantismus und Neuprotestantismus herausgearbeitet hatte und damit einer direkten Genealogie der modernen Welt aus der Reformation entgegengetreten war, wurde es das folgerichtige Interesse einer lutherischen Theologie, sich nunmehr an Luther selbst zu orientieren, um von ihm her einen originären Zugang zu einer Problemstellung zu gewinnen, die sich nicht mehr durch ihre historische Vermittlung in der Geschichte des Protestantismus bestimmen ließ. Die Zuwendung zur Zweireichelehre Luthers stellt insofern die Antwort auf die Frage dar, welches umfassende Deutemuster die Kirche selbst für das Verhältnis von Kirche und Staat anzubieten habe. Daß damit zugleich die Gefahr eines Rückfalls hinter die tatsächlichen Entwicklungen der politischen Wirklichkeit und der Stellung der Kirche in ihr verbunden war, ist zunächst überall dort verborgen geblieben, wo sich die theologische Ethik als unfähig erwies, sich auf die spezifischen Strukturprobleme einer modernen Demokratie einzulassen.

c. Die neue Selbständigkeit der Kirche im Verhältnis zum Staate nach 1945

In diesem Zusammenhang ist an erster Stelle die Bedeutung des Kirchenkampfes für das kirchliche Verständnis des Staates zu nennen. Die Bedeutung des Kirchenkampfes in der Zeit des Nationalsozialismus läßt sich in folgenden thetischen Sätzen zusammenfassen, jedenfalls hinsichtlich der Erfahrung, die so etwas wie eine „Lehre aus der Geschichte" darstellt: Die Erfahrung der Kirche im „Dritten Reiche" ist es geworden, daß die politische Anerkennung der Selbständigkeit der Kirche ein wesentliches Kriterium für eine gute und vernünftige politische Ord-

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nung ist; daß diese Anerkennung nicht unmittelbar über ideologisierbare Inhalte der Weltdeutung verläuft, sondern vermittelt sein muß durch verfassungsmäßig und rechtlich gesicherte und respektierte institutionelle Ordnungen (Rechtsstaatsprinzip); daß die Lebbarkeit einer politisch-gesellschaftlichen Form des Gemeinwesens nicht über die Eindeutigkeit politischer Autorität, sondern über die Pluralität von Formen gegenseitiger Anerkennung verläuft (Demokratieprinzip); daß die Kirche selbst in ihrer faktischen Existenz eine Institution der Freiheit ist, weil sie eine Grenze für jeden totalen politischen Parteiwillen darstellt. Die Ausarbeitung dieser Erfahrungen in institutioneller und praktischer Hinsicht bestimmt im wesentlichen die Geschichte des Protestantismus in der Bundesrepublik und führt zu einer neuerfaßten und differenziert ausgebauten Volkskirchlichkeit, verbunden mit einer Orientierung an den Belangen des neuen staatlichen Gemeinwesens. Zu den folgenreichen Einstellungsänderungen gegenüber dem Politischen, die in der Konsequenz der Verarbeitung des Kirchenkampfes und des politischen Totalitarismus des Nationalsozialismus gehören, ist die Anerkennung einer „Entideologisierung" des Politischen zu zählen. Nicht mehr die politisch-weltanschauliche Einschätzung des Politischen, sondern dessen angebbare politische Realfunktion führt zu einer neuen Qualität des Verhältnisses von Kirche und Staat. Diese Veränderung ist vergleichbar der neuen Einschätzung der Säkularisierung auf dem Felde der Kirchlichkeit. Die traditionelle Autoritätsfrage, die die Einstellung der Kirche gegenüber dem Staat bestimmt, wird auf eine neue Stufe gehoben durch die Anerkennung der Versöhnung der Rechtsstaatsidee mit dem Demokratieprinzip. Während die Bindung des Staates an das Recht ihm seine eigentümliche Würde verleiht, ist das Wissen um die Grenzen des Staates in Struktur und Verfassung der Demokratie präsent. Im Verhältnis beider Grundelemente zueinander bildet sich ein neues Bewußtsein für die Zustimmungsfähigkeit zu einer politischen Wirklichkeit, die gerade nicht durch eindeutige Autoritäten, sondern durch den Prozeß ihrer differenzierten Wahrnehmung und Legitimation gekennzeichnet ist. In diesen Zusammenhang gehört dann die pragmatische Entwicklung der Partnerschaft von Kirche und Staat, die mit einer positiven Anerkennung der Parteien im Rahmen der Verfassung Hand in Hand geht. Nicht mehr die Suche einer Autorität des Politischen „jenseits der Parteien", sondern die positive Kooperation mit den Parteien im Rahmen ihrer angebbaren und begrenzbaren politischen Funktion ermöglicht es der Kirche, sich mit ihrer Selbständigkeit auch für die Gestaltung des Politischen ins Spiel zu bringen.

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In diesem Kontext sind dann auch die Bemühungen um eine Umbestimmung der Zweireichelehre zu sehen, die den Aporien einer prinzipiellen Abgrenzung oder Nichtbeziehung von Kirche und Staat entgeht. d. Folgen für das Verständnis der Volkskirche Die Volkskirche versteht sich im Verhältnis zum Staat in der Weise der Bejahung eigener und selbständiger Mitverantwortung der Kirche im Gemeinwesen aus der Situation einer anerkannten fundamentalen Zusammengehörigkeit von Kirche und Staat heraus. Diese Mitverantwortung läuft nicht primär und speziell über das besondere Interesse der Kirche, sondern ist an den durch die Tradition geleiteten Aufgaben des gemeinsamen Lebens orientiert. Insofern gibt es eine neue selbstbewußte kirchlich-theologische Bejahung eines selbständigen politischen Amtes der Kirche, das auf jeder Stufe und in jeder Stellungnahme zugleich die Unterscheidbarkeit von kirchlicher Verantwortung und politischer Kompetenz neu thematisieren läßt. Gegenüber diesem „Ja" zur bestehenden Demokratie bildet sich dann eine Opposition innerhalb der Kirche, die durch das Interesse geleitet ist, den Grundüberzeugungen, die sich im Kirchenkampf gebildet haben, neue Nahrung zum Aufbau einer eigenen kirchlichen Widerstandstradition zuzuführen.

3. Das Problemfeld Kirche und Gesellschaft In diesem Problemfeld sollen Fragen erörtert werden, die es damit zu tun haben, inwieweit die traditionsbestimmte Kirche als Volkskirche, genauer als eine „Klassenkirche", als eine Kirche nur bestimmter sozialer Schichten zu verstehen sei, die einer traditionalen Gesellschaftsordnung im Sinne einer ständischen Gliederung verpflichtet sei. Es geht um die Frage, wie sich die Kirche als Volkskirche zu den tiefgreifenden Veränderungen der modernen Gesellschaft gestellt habe und stellen könne. a. Die Problemgeschichte vom 19. Jahrhundert her Im Vordergrund stand hier eine Problemkonstellation, die im Zuge der Industrialisierung als „soziale Frage", d.h. als die Frage nach der Integration der neuen Arbeiterschaft in die Gesellschaft bezeichnet werden kann. Für das Verständnis der Kirche gegenüber

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der Gesellschaft ist es nun charakteristisch, daß die soziale Frage weithin als Sozialismusfrage auftrat und mit ihr identifiziert wurde. Die soziale Frage als Sozialismusfrage begreifen hieß, vor allem die organisierte Arbeiterschaft auf dem Wege zu einem radikal bestimmten Auszug aus der Kirche zu sehen und die soziale Frage darum im kirchlich-theologischen Selbstverständnis einem Kampf gegen die Religion zu subsumieren. In diesem Sinne bildete sich das Verständnis der Kirche im Widerstand gegen den so auftretenden Sozialismus, so daß Volkskirche auch als Widerstandsbewegung gegen die die Religion zerstörenden Kräfte des Sozialismus sich gestalten konnte (J. H . Wichern). Gleichwohl ist es nun wichtig zu sehen, daß trotz dieses weltanschaulich bestimmten Rahmens der Auseinandersetzung um die soziale Frage innerhalb des Protestantismus die Aufnahme von konkreten sozialen Problemen der industrialisierten Gesellschaft nachhaltig betrieben und gefördert wurde. D a f ü r stehen vor allem die aus dem liberalen Protestantismus hervorgegangene Organisation des „Evangelisch-Sozialen Kongresses" und eine Vielzahl von sozialkirchlichen Bewegungen, die bereits im 19. Jahrhundert die Wege zu bahnen suchten, um über die weltanschauliche Fixierung der sozialen Frage hinauszugelangen. Dabei ging es immer darum, die objektiven gesellschaftlichen Probleme und Aufgaben deutlich zu unterscheiden von ihrer weltanschaulichen und antireligiösen Bestimmtheit, in der sie im Tageskampf auftraten. Die Grundschwierigkeiten, die sich hier auftaten, hingen damit zusammen, daß die „soziale Frage" eben nicht eine spezifische Arbeiterfrage war, sondern die Gesamtgesellschaft, ihre Organisation und ihre Struktur, die Besitzverhältnisse und die leitenden Orientierungen insgesamt betraf. Insofern mußte die Kirche anfangen zu lernen, sich nicht nur „von innen", sondern auch „von außen" zu sehen und damit aus der unmittelbaren Identifizierung ihres Auftrages mit ihrer soziologischen Stellung in der sich verändernden Gesellschaft herauszutreten. b. Das Gesellschaftsproblem in der Zeit nach 1918 In der Weimarer Republik herrschte der Eindruck einer tiefen Zerrissenheit der Gesellschaft vor. Wohl gab es eine ganze Reihe von Bemühungen, die Ansätze einer Neuorientierung der Kirche auf die moderne Gesellschaft hin theologisch-kirchlich und praktischethisch fortzusetzen. Die Berneuchner Bewegung wie eine ganze Reihe von Unternehmungen kirchlicher Sozialarbeit sind dafür das Beispiel. Aber insgesamt dominierte doch der durch die politisch artikulierte Zerrissenheit der Gesellschaft bestimmte scharfe Gegen-

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satz der Kirche zur Sozialdemokratie und zum Kommunismus. Es fehlte der Kirche an einem differenzierten Verständnis der Gesellschaft. Statt dessen orientierte sich die Suche nach einem einheitlichen Verständnis der Gesellschaft über deren konkrete Zerrissenheit hinaus auch hier am Begriff und an der Vorstellung einer Volksgemeinschaft, wobei unverkennbar „Volksgemeinschaft" als ein antigesellschaftlicher Begriff gebildet und verstanden wurde. In dieser Beziehung konnte dann der Begriff der Volkskirche ausgesprochen ideologische Züge annehmen, insofern er als eine bestimmte Option gegen die Realitäten der modernen Gesellschaft zu fungieren vermochte. Damit würden die durch die moderne Gesellschaft gestellten Aufgaben für die Kirche in der ihnen eigenen Komplexität gerade verstellt. c. Die Entwicklung nach 1945 Die neue Selbständigkeit der Kirche in der demokratischen Gesellschaft realisierte sich in einem raschen und weitgefächerten Prozeß der Ö f f n u n g der Kirche für den gesellschaftlichen Pluralismus. Wichtigste Merkmale dabei waren, daß die alte „Arbeiterfrage" nunmehr als eine Strukturfrage der Gesellschaft insgesamt erkannt wurde. Diese Ö f f n u n g wäre aber nicht möglich gewesen, wenn nicht für die weltanschauliche Bestimmtheit des Verhältnisses von Kirche und Arbeiterschaft, wie sie sich am Gegensatz von Sozialismus und Religion festgemacht hatte, ein anderer Orientierungsrahmen gefunden werden konnte. Insofern ist die kirchliche und theologische Auseinandersetzung mit dem Sozialismus ein wichtiger Faktor innerhalb einer pragmatischen Umorientierung gewesen. D a f ü r hat vor allem diejenige Auffassung die größte Bedeutung, die den Sozialismus nicht als eine besondere gesellschaftliche Gruppenbewegung oder Partei ansah, sondern als Ausdruck einer Problemlage der entwickelten bürgerlichen Gesellschaft und deren Problem zurechnete. Man kann hier von einer gewissen „Entpersonalisierung" oder auch Entideologisierung der Auseinandersetzung sprechen, für die u. a. die Arbeiten von Paul Tillich repräsentativ sind, auch wenn die Bedeutung dieser Auseinandersetzung erst nach 1945 allgemein geworden ist. Über die Anerkennung des Sozialismus als eines Strukturelementes der Gesellschaft hat sich auch innerhalb der Kirche die grundsätzliche Bereitschaft entwickelt, mit allen Kräften der Gesellschaft zusammenzuarbeiten und diese Zusammenarbeit nicht an eine vorherige religiöse oder weltanschauliche Übereinstimmung zu binden. Dabei ging es darum, die Selbständigkeit der Kirche als Volkskirche

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in der modernen Gesellschaft so zu entwickeln, daß diese Kooperation nicht über weltanschauliche Standpunkte, sondern über die materiellen Lebensprobleme der Gesellschaft und ihrer verschiedenen Gruppen wahrgenommen wurde. In diesen Zusammenhang gehören die Konzeptionen der gesellschaftlichen Diakonie, die sich neu entwickelnde gesellschaftstheoretisch orientierte Sozialethik. In diesen Zusammenhang gehört dann auch und gerade die Neubestimmung der Volkskirche als „Kirche im Sozialismus", wie sie sich in der D D R als Formel f ü r die Standortbestimmung der Kirche in ihrem Kontext entwickelt hat und in deren inhaltlicher Entwicklung im einzelnen diese Unterscheidung zwischen Gesellschaftsstruktur und Weltanschauung zu finden ist. d. Ein Fazit zum Verhältnis von Kirche und Gesellschaft Volkskirche kann nunmehr verstanden und gestaltet werden als die verantwortliche Präsenz der Kirche in allen Lebensbereichen der Gesellschaft. Diese Präsenz ist einerseits als örtliche Präsenz zu verstehen und realisiert sich insofern in einer neuen Bejahung der parochialen Struktur der Kirche als Ortsgemeinde. Sie ist darüber hinaus als eine thematische Präsenz zu verstehen, d. h. als eine Öffnung des kirchlichen Selbstverständnisses und ihrer Verkündigung in der ganzen Variationsbreite der f ü r die gegenwärtige Gesellschaft relevanten Orientierungsthemen. Eine so auf die moderne Gesellschaft bezogene und in ihr verwirklichte Volkskirche verlangt ein differenziertes Eingehen auf den Pluralismus und zielt auf eine immer neue Verwirklichung der Volkskirche unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft. Dieser Grundeinstellung des volkskirchlichen Bewußtseins erwächst von zwei Seiten immer neue Opposition. Auf der einen Seite wird der evangelischen Kirche ein Ubermaß an Sozialethik und an gesellschaftlicher Thematik vorgeworfen, ohne daß damit eine ernsthafte Alternative zum Auftrag der Kirche verbunden wäre, überall in der ihr gemäßen Weise präsent zu sein. Auf der anderen Seite wird der Kirche ein zu starkes Eingehen auf die bestehende Gesellschaft vorgeworfen, verbunden mit der Forderung, sie solle sich vorwiegend f ü r deren Veränderung stark machen und insofern eine revolutionäre Führungskompetenz übernehmen in einer Situation, in der Veränderung zum Lebenselement der gesellschaftlichen Wirklichkeit selbst gehört.

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4. Das Problemfeld Kultur und Theologie In diesem Problemfeld soll es darum gehen, in welcher Weise sich die Kirche mit ihrer Theologie im wissenschaftlich-kulturellen Bewußtsein der Neuzeit zu vermitteln vermag und welche Fragen das für die Stellung der Theologie zur Kirche als Volkskirche hat.

a. Theologie und Wissenschaft - Probleme vom 19. Jahrhundert her Das 19. Jahrhundert gilt dem Rückblick insofern als Jahrhundert der Wissenschaft, als in dieser Epoche auf nahezu allen Lebens- und Erkenntnisbereichen neue Wege selbständiger wissenschaftlicher Forschung zum Durchbruch gekommen sind. Die daraus resultierende Fragestellung spiegelt sich in der besorgten Frage von Friedrich Schleiermacher, ob das Christentum in Zukunft mit der Barbarei, die Wissenschaft aber mit dem Unglauben gehen solle? 17 Ob Vereinbarkeit oder nicht vielmehr dezidierte Unvereinbarkeit von Wissenschaft und Religion, Wissenschaft und Theologie das Gebot der Stunde sei, hat die Theologie in allen ihren Richtungen und Lagern zutiefst bestimmt. Da der Durchbruch der positiven Wissenschaften zugleich tiefgreifende Veränderungen für die Stellung und die Relevanz der Philosophie im Verhältnis zu den Wissenschaften mit sich brachte, ist die darin aufgebrochene Grundlagendiskussion als solche auch eine Krise der abendländischen Kultur. Die besonderen Probleme, die sich für unsere Fragestellung hier bildeten, stellen sich aber vor allem dort, wo die Theologie sich, teilweise mit rückhaltloser Konsequenz, in den Verständigungszusammenhang der modernen Wissenschaften hineinbegeben hat und daraus Konsequenzen für das Selbstverständnis der Theologie als Wissenschaft gezogen hat. Das ist vor allem in zwei Hinsichten der Fall: Einmal geht es um die Aufnahme und Rezeption der spekulativen Philosophie als einer vernünftigen Durchdringung des Dogmenbestandes der kirchlichen Lehre, die dessen Normativität von der unmittelbaren kirchlichen Autorität relativ unabhängig macht und ihr einen im Verhältnis dazu selbständigen Erkenntnisstand zu gewinnen sucht. Das ist zum andern die Aufnahme und überaus fruchtbare selbständige Entwicklung der historischen Wissenschaft im Bereich der Theologie, vor allem in Anwendung auf ihre normativen Quellen und Traditionen in der historisch-kritischen Schriftforschung und 17 Das bekannte Diktum, auf das hier angespielt wird, findet sich bei FRIEDRICH SCHLEIERMACHER: Über seine Glaubenslehre, an Herrn Dr. Lücke. Zweites Sendschreiben (Sämtliche Werke. 1. Abteilung. Zur Theologie. 2. Band. Berlin 1836, S. 614).

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der kritischen Dogmengeschichtsschreibung. Wie immer im einzelnen diese Problemgeschichte zu rekonstruieren ist, so enthielt sie doch das prekäre Problem einer Auseinanderentwicklung von wissenschaftlicher und kirchlicher Theologie. Insofern stellte sich die Herausforderung der modernen Wissenschaft für die Kirche nicht allein „von außen", sondern im Zentrum des ausdrücklichen kirchlichen Selbstbewußtseins, wie es von der Theologie repräsentiert und nunmehr unter neuen Bedingungen auch verändert wurde. Dabei herrschte eine ambivalente Deutung vor, indem die Bejahung und Anerkennung der modernen wissenschaftlichen Methoden in der Theologie als Preisgabe kirchlicher Selbständigkeit gelten konnte, als eine höchst prinzipielle Abhängigkeit der Religion von der neuzeitlichen Wissenschaft, und auf der anderen Seite gerade die Öffnung der theologischen Wahrheitsfrage für die moderne Wissenschaft als ein Fortschritt echt protestantischen Geistes in der Theologie gefordert und gefeiert werden konnte, der ihr zu neuer Selbständigkeit und Geltung zu verhelfen vermochte. Die ungelöste Spannung im Verhältnis von wissenschaftlicher und kirchlicher Theologie ist dabei immer verbunden mit der Frage, welche Art von Kirchlichkeit der Theologie entspreche und welche Kirche von der Theologie darin vertreten werde. b. Theologie als „Gegenkultur" nach 1918

Die Tendenz, das Verständnis der Theologie gegenläufig zur Entwicklung der Moderne aufzubauen, hat die Theologie nach dem ersten Weltkrieg wesentlich bestimmt. Ihr Thema wurde, im historischen Kontext gesehen, die Deutung des Zusammenbruchs von 1918 als Zusammenbruch der ganzen von Menschen in autonomer Absicht errichteten Kultur. In scharfer Auseinandersetzung mit der Bejahung der empirischen Kirche hat die Dialektische Theologie darauf insistiert, aus den Folgen dieser Krise nicht das Ja herauszuhören, sondern Gottes Nein zur Kultur und Religion des Menschen überhaupt. Eine solche radikale Theologie war dann geeignet, die lange Zeit in die bedrängte Position einer Art geistiger Minderheit geratene kirchliche Theologie im Sinne der Orthodoxie als das Gebot der Stunde stark zu machen und als Bewegung einer kirchlichen Gegenkultur zu deuten. Insofern konnte gerade die Unzeitgemäßheit klassischer orthodoxer Positionen als Beweis ihrer Authentizität angesehen und darin als das spezifische theologische Merkmal für die Selbständigkeit der Kirche aufgefaßt werden. Die Selbständigkeit der Kirche trat so über die Objektivierung der Gehalte der christlichen Religion als Lehre hervor. Durch die darin bewußt in-

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szenierte Abgrenzung gegenüber den komplexen Problemen der säkularen Welt entzog die Theologie allerdings ihr Interesse und ihre Kräfte auch dem Umgang mit den zeitgenössischen Problemlagen, so daß insgesamt von seiten der neu sich bildenden und artikulierenden Theologie keine Beiträge zur inneren Stabilität und zur Überwindung der Zerrissenheit der geistigen Situation der Weimarer Republik zu erwarten waren. Im Vordergrund steht die Wirkung für die Stärkung des kirchlichen Selbstbewußtseins, die als wichtigste Voraussetzung für die theologische Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus angesehen werden kann. c. Wissenschaftliche Theologie und Kirchenleitung nach 1945 Auch im Verhältnis von wissenschaftlicher Theologie und Kirche hat die Entwicklung nach 1945 eine Umbestimmung des Verhältnisses gebracht. An die Stelle alter Gegensätze sind Prozesse weitgehender gegenseitiger Befruchtung und Anerkennung getreten. Die Verwissenschaftlichung der Theologie nach 1945 vollzog sich auch als eine Entdogmatisierung der Theologie, wie sie in der unmittelbar vorhergehenden Periode auch aus politischen Gründen das Selbstverständnis der Kirche neu zu bestimmen vermocht hatte. Die Verwissenschaftlichung der Theologie nimmt aber nunmehr auch andere Züge und andere Richtungen an. Sie ist nicht mehr allein auf die lange Zeit dominierenden Fragen des Schriftverständnisses und des historischen Umganges mit den Traditionen der Kirche beschränkt, sondern wendet sich in ganzer Breite den sogenannten Humanwissenschaften zu und tritt damit in ein neues funktionales Verhältnis zur Praxis der Kirche. Zugleich bahnt sich eine neue selbständige Beteiligung der Theologie an den wissenschaftstheoretischen Grundlagenfragen überhaupt an, die aufs Ganze gesehen durchaus als der wissenschaftliche Ausdruck einer an der volkskirchlichen Sendung orientierten Theologie begriffen werden können.

d. Die wissenschaftliche Bildung als Aufbauelement der Volkskirche Das Verhältnis der Volkskirche zur wissenschaftlichen Theologie wird in erster Instanz in der Ausbildung der Pfarrer relevant. Der Pfarrer als Amtsträger einer Kirche, die durch Offenheit und gesamt-gesellschaftlichen Bezug charakterisiert ist und ihr eigenes Bekenntnis nicht durch Grenzen der Kirche, sondern durch ihren Auftrag qualifiziert sein läßt, muß sich auf dem Wege zu seinem Beruf eine überindividuelle Identität erwerben. Er muß über seinen unmit-

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telbaren religiösen Standpunkt und seine subjektive Frömmigkeit hinaus den Blick für das Ganze der Kirche und ihrer Glieder gewinnen. Das kann er nur auf einem Wege, auf dem er eine relative Distanz zu seiner eigenen Unmittelbarkeit erwirbt. Genau dies aber ist der praktische Sinn der wissenschaftlichen Bildung. Insofern tritt die wissenschaftliche Theologie, über alle Spezialitäten ihres besonderen Wissenschaftsbetriebes hinaus, durch den Charakter der wissenschaftlichen Bildung, die sie zu vermitteln vermag, in den Dienst volkskirchlicher Praxis.

5. Das Problemfeld der Einheit der Kirche als Institution des Protestantismus a. Zur Problemgeschichte

der Einheit

der evangelischen

Kirche

Der Ruf nach einer ausdrücklichen, institutionellen Einheit der Kirche des reformatorischen Protestantismus in Deutschland begleitet die Kirchendebatte des 19. Jahrhunderts in allen ihren Phasen. Fragt man nach den Gründen, die diesem Ruf gleichwohl in Vergangenheit und Gegenwart keine volle und umfassende Erfüllung haben zuteil werden lassen, so muß man sich darüber Rechenschaft ablegen, daß eine ausdrückliche „Kirchwerdung des Protestantismus" im Sinne auch institutioneller Einheit alles das umfassen und integrieren müßte, was in den vorhergehenden Problemfeldern bereits verhandelt worden ist: Die Kirche als Kirche des Protestantismus muß der differenzierten Kirchlichkeit zu genügen vermögen, dem Verhältnis von Kirche und Staat in einer Weise entsprechen, die mit dem Verhältnis von Kirche und Gesellschaft verträglich ist und zugleich dem Pluralismus der Theologie als durchaus veränderlicher „Bewußtseinszentrale" der Kirche korrespondiert. Die Versuche darum, vom Landeskirchentum zu einer evangelischen Einheitskirche, von der Kultur der Landeskirchen und des landesherrlichen Kirchenregiments zu einer kirchlichen Einheit, die nicht die Beseitigung, sondern die Integration des Lebens der Kirche zu ihrem Inhalt hat, zu kommen, standen und stehen unter dem Anspruch, der vorhandenen, aber darin außerordentlich differenzierten Einheit von Protestantismus und Kirche in seiner geschichtlichen Existenz Genüge zu tun. Wo immer darum der Ruf nach der Einheit der Kirche mit Motiven verbunden war, die den tatsächlichen Kräften der lebendigen Kirchentümer und des vielschichtigen Protestantismus eine anders geartete, eindeutigere Einheit von Kirche entgegensetzen wollten, brach er sich darum auch in der Vielstimmigkeit theologischer und

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kirchlicher Rezeption. Ein Sollenskonzept der Einheit der Kirche, das sich mit deren Wirklichkeit nicht vermitteln konnte, hatte auch unabhängig von den politischen und gesellschaftlichen Außenfaktoren darum schon vom 19. Jahrhundert her nur eine bedingte Realisierungschance. So ist es auch durchaus begreiflich, daß die Gegenwart der Kirche als Volkskirche sich in Formen einer sehr differenzierten und auch komplizierten institutionellen Mehrdimensionalität von Einheit darstellt. b. Einheit der Kirche nach 1918 Die neugewonnene Selbständigkeit der Kirche, nämlich das Ende der Staatskirche, stellte vor die Frage, ob damit auch das Ende des Landeskirchentums angezeigt war. Die Institutionalisierung kirchlicher Einheit aber knüpfte gerade an die Kontinuität der landeskirchlichen Institutionen und ihrer Bürokratien an, die sich dabei als Brücke in der Situation des Überganges empfahlen und bewährten. Die Einheit der Kirche wird zu einem großen Thema, aber verbindet sich mit der Frage, ob sie um des „Kircheseins der Kirche" willen notwendig ist oder ob die volkskirchliche Gesamtaufgabe der Kirche nicht schon unter den Bedingungen des differenzierten Landeskirchentums hinreichend wahrgenommen werden könne. Erst im Blick auf den Einheitsgedanken des Nationalsozialismus entwickeln sich dann Schubkräfte, die von der Kirche eine der neuen staatlichen Einheit entsprechende kirchliche Einheit verlangen und denen gegenüber dann aus Gründen der kirchlichen Selbständigkeit diese Zielorientierung der Einheit der Kirche gerade auf heftige und im Ergebnis auch wirksame Opposition stoßen mußte. c. Probleme der Einheit der evangelischen Kirche nach 1945 Die sehr schwierige und komplexe Geschichte des Verhältnisses der EKD zu den Landeskirchen und innerhalb des geteilten Deutschlands kann hier nicht aufgenommen werden. Im Interesse dieser Skizze soll vielmehr ein Vorschlag gemacht werden, wie die Institutionalisierung von Einheit innerhalb der evangelischen Kirche in Deutschland auch gesehen werden kann. Es kann nämlich diese Einheit verstanden werden als Institutionalisierung des Protestantismus. Für diesen Gesichtspunkt steht weniger im Vordergrund die Einheit der ausdrücklichen kirchlichen Institutionen, sondern die Einbeziehung der Vielzahl protestantischer Aktivitäten, Handlungswege und Orientierungen in die kirchliche Institution. Dabei kann hingewiesen werden auf den Übergang der Aktivitäten des Evange-

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lisch-Sozialen Kongresses in die kirchliche Sozialarbeit, der Vereine der Inneren Mission und der Volksmission in die Verantwortung der Kirchen, auf Aufbau selbständiger kirchlicher Einrichtungen für öffentliche Verantwortung, Sozialethik, Bildung etc., Zusammenschluß und institutionelle Integration des Diakonischen Werkes und vergleichbare Prozesse. Von ihnen allen gilt, und das soll hier unterstrichen werden, daß es so etwas wie eine Institutionalisierung des Protestantismus in die Kirche gibt, im Blick auf welche auch von einem neuen Status der Einheit der Kirche als Institution in einem sehr komplexen und differenzierten Sinne gesprochen werden kann. Es ist deutlich, daß dieses Verständnis der Institutionalisierung als Integration und Vereinheitlichung auf einer anderen Ebene liegt als die Versuche, eine verfassungsmäßige Einheit der Kirche in der Summe ihrer Landeskirchen zu definieren. Es geht hier vielmehr um Einheit und Integration der lebendigen Kirche als protestantische Volkskirche und nicht um die Einheit ihrer Organe. In diesem Sinne aber kann von einer neuen zeitgemäßen Lösung des Einheitsproblems der Kirche als Volkskirche durchaus gesprochen werden. d. Die komplexe Einheit der evangelischen

Kirche

Als Fazit kann hier festgestellt werden, daß die Volkskirche in einem Prozeß der Institutionalisierung vielfältiger Aktivitäten und Lebensäußerungen des protestantischen Christentums eine komplexe Einheit darstellt, die mit Offenheit und Flexibilität verbunden ist und insofern gerade in ihrer Vieldimensionalität einen „Organismus"" lebendiger Einheit repräsentiert und nicht eine starre kirchliche Hierarchie. Es ist diese Art von Einheit, in der die Volkskirche auch in sich selbst ständig die Konflikte und Probleme lebendig hält, die ihrer auftragsgemäßen Partizipation am Leben der Christenheit adäquat ist. Allerdings kann von dem Problem der Einheit der Kirche als Einheit des Protestantismus nicht gesprochen werden, ohne zugleich von der Trennung und dem ungelösten Problem einer Wiedervereinigung Deutschlands nach 1945 zu sprechen. Die EKD, ihre Kirchentage und ihre gesamtkirchlichen Aktivitäten waren lange Zeit die einzige ausdrückliche institutionelle Verbindung, die es zwischen den beiden getrennten Teilen Deutschlands gab, und in bestimmter Weise gilt das auch für die unmittelbare Gegenwart bis auf den heutigen Tag, d. h. auch trotz der Verselbständigung der kirchlichen Institutionen in den beiden deutschen Staaten. Die Einheit der Kirche des Protestantismus hängt insofern eng mit der neuen nationalen Frage zusammen, die als gegenwärtige Grundaporie in Deutschland

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bezeichnet werden darf. Die Kirche kann sich als Volkskirche von dieser nationalen Frage nicht verabschieden. Deswegen waren es gerade Motive eines protestantischen Nationalbewußtseins höherer Ordnung, die dazu aufgerufen haben, daß sich die Deutschen mit den Folgen des verlorenen Krieges verantwortlich identifizieren sollten, d.h. nämlich auf dem Wege der Anerkennung dieser Folgen. Die Bereitschaft zur Versöhnung mit Polen, aber auch und gerade die Bereitschaft zur Anerkennung der D D R einerseits und die Existenz eines tiefen Zusammengehörigkeitsbewußtseins im deutschen Protestantismus andererseits schließen sich deswegen keineswegs aus, sondern erläutern sich gegenseitig. Neu ist in diesem Zusammenhang allerdings, daß diese differenzierte Erneuerung und Bewahrung einer „überstaatlichen" Einheit in der Situation der Trennung nicht mehr verbunden ist mit der Frage einer Sonderstellung der Deutschen in der „Welt". Insofern ist hier die andere wichtige Dimension zu erwähnen, nämlich die Einheit des Protestantismus in ökumenischer Sicht. Das neue und flexible Verständnis der Kirche als Volkskirche zeigt sich auch in der Aufnahme und Weiterführung der ökumenischen Bewegung, sowohl in der protestantischen Weltökumene wie im Verhältnis der getrennten Kirchen in Deutschland zueinander. Doch dies eröffnet ein eigenes neues gegenwartsrelevantes Kapitel der „Volkskirche in Deutschland", die gerade im Verhältnis der getrennten Kirchen zueinander und ihrer Bekenntnisse nicht mehr zureichend durch die Abgrenzung der Kirchen voneinander definiert ist, sondern von einer Einheit in der Verschiedenheit lebt und bestimmt ist, deren glaubwürdige Existenz gerade dort am stärksten hervortritt, wo sie ohne zwanghafte Konzepte formeller Einheit wahrgenommen wird. Der Leitbegriff dieser Skizze eines historischen Profils der Kirche als Volkskirche in Deutschland waren Begriff und Vorstellung der Selbständigkeit der Kirche und ihrer Verwirklichung. Dabei war es das Ziel der Skizze, den Nachweis zu führen, daß Volkskirche ein Strukturbegriff ist, der eine umfassende institutionsbezogene Integration der vom 19. Jahrhundert her im Umfeld der Selbständigkeitsfragen aufgetretenen Kräfte erfaßt und auf die Kirche selbst anwendet. Was sich historisch zeigen läßt, ist deswegen noch nicht theologisch begriffen, d. h. als für die Identität der Kirche notwendig erkannt und durchdacht. Vieles von dem, was hier nachgezeichnet worden ist, vermag darum, bei aller Evidenz der verhandelten Sachverhalte selbst, heute auch einer gegensätzlichen theologischen und kirchenpolitischen Beurteilung zu unterliegen. Auch das gehört zur Wirklichkeit der Volkskirche.

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Insgesamt führen deutliche Linien vom 19. Jahrhundert auf die Gegenwart hin, bei deren Erfassung die Zeit von 1918 bis 1945 einen Lernprozeß mit durchaus schuldhaften Schwächen und Versagen der Kirche darstellt. Wenn die heutige Volkskirche mehr und tiefer mit dem Protestantismus „außerhalb" der Kirche verbunden ist, als dies in der früheren Zeit vor Augen stand, dann ist auch dieses eine Linie der Realisierung der Volkskirche, wie sie am deutlichsten aus der Aufklärung über die Erfahrungen der Zeit nach 1933 erwachsen ist. Daraus zieht die Kirche auch immer neue Anstöße, diesen Lernprozeß weiterzuführen. Die Liberalität und bekenntnisbezogene Offenheit der Kirche verlangt nach einer höheren Eindeutigkeit, als sie auf der Ebene unmittelbarer Positionalität theologischen Denkens und kirchlichen Handelns erreicht werden kann. Insofern verlangt die Volkskirche auch nach einer neuen Art des theologischen Umganges mit der Kirche. Ob die Kirche sich als Volkskirche weiß und hält, kann darum letztlich schlüssig nicht von ihrer empirischen Integrationskraft her legitimiert und begründet werden, sondern allein von ihrem Auftrag her, den sie vom Evangelium empfangen hat und auf den sie mit ihrem Bekenntnis antwortet. Auf dieser Linie mag dann allerdings schlüssig gelten: Die Volkskirche ist die Kirche der Zukunft.

RUDOLF VON T H A D D E N

Kirchenpolitische Programme der deutschen Parteien seit 1918 und die Reaktionen der Kirche Das Thema meines Referats enthält Stoff, wenn man genau hinsieht, zu vier selbständigen Studien. Zum einen ist die Zeit „seit 1918" keineswegs so einheitlich, wie es die Formulierung suggeriert; sie zerfällt mindestens in zwei deutlich voneinander abgehobene Zeitabschnitte: die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Zum andern sind auch die kirchenpolitischen Programme der Parteien und die Reaktionen der Kirche nicht ohne weiteres in einem Atemzug zu behandeln. Sie stellen Vorgänge in zwei durchaus eigen geprägten Bereichen dar, die keineswegs vorherrschend von einer wechselseitigen Kommunikation bestimmt waren. Weder sind die kirchenpolitischen Programme der Parteien nur in sachgerechter Auseinandersetzung mit der jeweiligen kirchlichen Wirklichkeit entstanden, noch sind die Reaktionen der Kirche nur Antworten auf kirchenpolitische Herausforderungen der Parteien. Beide folgen vielmehr weite Strecken je eigenen Strukturgesetzen. Eine sorgfältige Analyse würde also eigentlich vier Referate erfordern, deren Themen ich wenigstens formal bezeichnen möchte: 1. Die kirchenpolitischen Programme der deutschen Parteien nach dem Ersten Weltkrieg, d. h. in der Zeit der Weimarer Republik. 2. Die politische Haltung der Kirchen nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs (wobei offen bliebe, wie weit die Jahre der Weimarer Republik und des hitlerschen „Dritten Reichs" zusammengezogen werden dürfen). 3. Die kirchenpolitischen Programme der deutschen Parteien nach dem Zweiten Weltkrieg (wobei zu klären wäre, wie man die Dauer der Nachkriegszeit bemessen sollte: bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten, bis zur endgültigen Eingliederung der Bundesrepublik und der DDR in die jeweiligen Paktsysteme oder bis zum Bau der Mauer in Berlin 1961 ?). 4. Die politische Haltung der Kirchen nach dem Zusammenbruch des Hitlerreichs a) in den Jahren der Besatzungsherrschaft, b) in der Bundesrepublik Deutschland, c) in der Deutschen Demokratischen Republik.

Kirchenpolitische Programme der deutschen Parteien seit 1918

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Eine solche Gliederung würde nicht nur der langen Dauer des zu behandelnden Zeitabschnitts, sondern auch dem Gewicht der zur Debatte stehenden Fragen besser Rechnung tragen können. Da dies in unserem Rahmen jedoch nicht möglich ist, möchte ich einen methodischen Ansatz wählen, der zugleich Verkürzungen erlaubt und Perspektiven eröffnet: den Ansatz eines Vergleichs der Situationen Deutschlands nach den beiden Weltkriegen. Ich möchte zunächst in einem ersten Teil die je verschiedenen Ausgangspositionen Deutschlands 1918 und 1945 erläutern, sodann in einem zweiten Teil die Kirchenpolitik der wichtigsten Parteien vergleichend darstellen und schließlich drittens die Position der Kirche - weitgehend verengt auf die der evangelischen Kirche - in den beiden Umbruchssituationen behandeln. Ich hoffe, auf diese Weise wenigstens den Kern der Problematik herausarbeiten zu können.

1. Die Ausgangspositionen Deutschlands 1918 und 1945 Wenn man die Erscheinungsbilder Europas 1918 und 1945 miteinander vergleicht, so fällt am stärksten die sehr unterschiedliche Wirkung der beiden Weltkriege auf 1 . War in beiden Fällen die Sehnsucht nach Frieden stark, so mischten sich doch 1918 viel stärker als 1945 Züge eines sozialen Veränderungswillens bei. Frieden bedeutete 1918 nicht nur Beendigung des Krieges, sondern zugleich und vor allem Bemühen um eine neue Ordnung, um Fundamentierung einer neuen sozialen Gerechtigkeit. Während 1945 ein Verlangen nach Freiheit von Tyrannis und Fremdherrschaft im Vordergrund des Friedenswillens stand, war für 1918 in weiten Teilen Europas ein Streben nach Ablösung überalteter Ordnungsmächte bezeichnend, ein Wille zur Beseitigung von Uberresten des Ancien Régime. Zwar waren auch 1918 überall konservative Kräfte wirksam, und Linien der Kontinutität fehlten auch damals in keinem Land, aber dennoch endete der Erste Weltkrieg in Mittel- und Osteuropa mit dem Sturz alter Regierungssysteme; seit 1917 stand das Thema der Revolution auf der Tagesordnung. Dies alles trifft auch und nicht zuletzt für Deutschland zu. Hier wurden allerdings durch die Niederlagen die Akzente z.T. etwas deutlicher gesetzt, aber die großen Linien der Entwicklung waren 1 Die Frage eines Vergleichs der beiden Nachkriegszeiten ist in Deutschland bislang in einer spezifischen Verengung gestellt worden: im Hinblick auf die Stabilitätsunterschiede der Republiken von Weimar und Bonn. So vor allem FITZ RENÉ ALLEMANN: Bonn ist nicht Weimar. Köln 1956.

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die gleichen wie auch sonst in Europa. Während das Land 1918 revolutionäre Leidenschaften kannte und ein relativ beachtliches Potential an gesellschaftskritischen Kräften aufzuweisen hatte, herrschte 1945 fast völlige Ruhe - die Ruhe eines ausgebrannten Kraters. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges waren die Straßen mit Menschen angefüllt, die gegen bestehende Herrschaftsstrukturen aufbegehrten und für bessere soziale Verhältnisse kämpften; nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gähnten die Straßen mit ihren endlosen Trümmerhalden die Menschen an und flößten ihnen Sehnsucht nach Ruhe und Ordnung ein. Die aus der Gefangenschaft heimkehrenden Soldaten, die ins Landesinnere strömenden Flüchtlinge aus den Ostgebieten, die Bewohner der bombenzerstörten Städte - sie alle waren von einem übermächtigen Drang nach Ruhe erfüllt, der wenig Platz für Rebellionen ließ 2 . Dies freilich ist weniger selbstverständlich, als es klingt; es kann nicht nur Ausdruck von Kriegsmüdigkeit gewesen sein, die es ja auch am Ende des Ersten Weltkriegs gegeben hat. Sehnsucht nach Frieden war auch 1918 ein starkes Motiv der heimkehrenden Soldaten gewesen, Abschied vom Kriege gehörte auch damals zu den Begehren des Tages. Was 1945 auffällt, ist jedoch mehr: das Verlangen nach Ruhe, nach mehr Sicherung des persönlichen Bereichs muß darüber hinaus eine Reaktion auf weitere Erschütterungen gewesen sein, auf zerstörerische Kräfte, die als Bedrohung des persönlichen Lebens empfunden wurden. Dies sind Vorgänge, die ohne die Wirkungen der Hitlerherrschaft nicht zu erklären sind. Der Nationalsozialismus hat nicht nur alle Belange dem Staatsinteresse untergeordnet, wie es in kriegführenden Staaten meistens der Fall ist, er hat auch alle Bereiche des menschlichen Lebens, die dem vermeintlichen Staatsinteresse hinderlich werden konnten, auszuschalten versucht und einen totalen Herrschaftsanspruch erhoben. Er hat alle Kräfte, die ihm im Wege standen, entweder unterdrückt oder zu absorbieren versucht, so daß am Schluß nur noch ein Verlangen da war: das Verlangen nach Luft zum Atmen. Die ungeheure Dynamik, mit der er seine verderblichen Ziele verfolgte, nahm nicht nur alle Kräfte in Anspruch, sie verzehrte auch alle Energien - bis hin zu den gesellschaftspolitischen Energien zur Veränderung der Verhältnisse. 1945 war Deutschland also im Unterschied zu 1918 nicht nur ein kriegsmüdes, sondern auch ein revolutionsmüdes Land. Wer 1945 mit den Parolen der heutigen jungen Generation versucht hätte, die 2

Zur Entwicklung nach 1945 neuerdings vor allem H E L G A GREBING u.a.: Die Nachkriegsentwicklung in Westdeutschland 1945-1949. 2 Bände. Stuttgart 1980.

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Strukturen der Gesellschaft von Grund auf zu verändern, wäre nicht weit gekommen 3 . Dagegen ist auch die Entwicklung im östlichen Teil Deutschlands kein Gegenargument. Was dort an sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen geschehen ist, ist vornehmlich auf administrative Maßnahmen der sowjetischen Besatzungsmacht zurückzuführen; von revolutionären Vorgängen nach Art der Ereignisse vom Frühjahr 1919 im Ruhrgebiet und in Mitteldeutschland war dort keine Rede. Man könnte die Stimmung nach 1945 in Deutschland auch restaurativ nennen und von einer Situation sprechen, die weniger dem Experiment als den Formen der Stetigkeit günstig war. Auch wenn die Literatur jener Jahre von Begriffen wie „Neuanfang" und „Erneuerung" strotzte - man sprach vielfach von einer „Stunde Null", die es zu nutzen gelte - , so kann das doch nicht darüber hinwegtäuschen, daß man im Grunde mehr auf eine Wiederherstellung alter, zerstörter Ordnungen und Wertvorstellungen als auf eine Entdekkung von Neuland bedacht war. Erneuerung hieß nicht in erster Linie soziale Neuordnung, sondern persönlicher Neuanfang und moralische Wiedergesundung. Kein neues Reich und keine neue Gesellschaft, wie es Rechte und Linke in der Weimarer Republik über den Status quo hinaus erstrebt hatten, sondern neue Existenzsicherheit und auch ein bißchen neues Glück schwebten den Menschen 1945 als Ziele vor. Aber nicht nur die Sozialrevolutionären Energien waren im Vergleich von 1918 und 1945 schwächer geworden, auch die andere bewegende Kraft des Zeitalters, der moderne Nationalismus, hatte 1945 im Vergleich zu 1918 an Macht verloren. Hatte Deutschland auf seine Niederlage im Ersten Weltkrieg noch mit verstärktem Nationalismus reagiert, so nahm es seine zweite Niederlage fast in nationaler Resignation hin und vertraute sich nicht mehr nationalistisch geprägten Parteien an. Nicht einmal in den kritischen Phasen der Teilung Deutschlands erlangten nationalistische Parolen wirkliche Macht; sogar die Berlin-Krise 1948 ließ keine nationalen Leidenschaften überhandnehmen 4 . Auch dieses Phänomen scheint mir nur durch die Wirkungen der Hitlerherrschaft erklärbar zu sein. Der Nationalsozialismus selbst hat durch seine Exzesse dazu beigetragen, daß Deutschland nach 3

Dies gegen die allzu sehr von Veränderungshoffnungen geleiteten Thesen von ULRICH HUSTER u.a.: Determinanten der westdeutschen Restauration 1945-1949. 5. Aufl. Frankfurt/M. 1977. 4 Zu dieser Problematik vgl. vor allem ALFRED GROSSER: Geschichte Deutschlands seit 1945. Eine Bilanz. 6. Aufl. München 1978.

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dem Zweiten Weltkrieg weniger widerstrebend als nach dem Ersten seine Niederlage und deren Folgen akzeptiert hat. Er hat durch seine Übersteigerung des Nationalismus diesen weitgehend ad absurdum geführt und als politische Möglichkeit diskreditiert. Er hat durch seine Negation der Demokratie diese in Deutschland tiefer zu verankern geholfen und die Vorbehalte gegen sie geschwächt. Er hat schließlich durch seine Monopolisierung aller freiheitsfeindlichen antiaufklärerischen Traditionen für Deutschland deren Wiederbelebung erschwert und anderen Kräften Auftrieb gegeben. Ich sage nicht, daß der Nationalsozialismus alle diese unguten Traditionen mit ins Grab genommen habe; aber er hat sie nachhaltig gebrochen und damit andere Traditionen freigesetzt, die bislang keine rechte Chance in Deutschland hatten. Indem er die Idee des Machtstaates auf die Spitze trieb, brach er ihr zugleich die Spitze ab und gab den Gedanken an den Staat als Diener der Gesellschaft frei. Indem er die Einheit und Geschlossenheit des Nationalstaats verabsolutierte, machte er diese fragwürdig und ermöglichte ein Denken, das auch das NichtZusammenleben einer Nation in einem Staat erträgt. Indem er einen Kampf auf Gedeih und Verderb gegen alles Demokratische führte, hinterließ er Skepsis gegen Durchsetzungsversuche auf Gedeih und Verderb und machte sensibel für demokratische Spielregeln - jedenfalls eine Generation! Die Lage nach dem Zweiten Weltkrieg unterschied sich also in wichtigen Fragen der politischen Orientierung grundlegend von der nach dem Ersten Weltkrieg. Nicht erst die divergierende Entwicklung in den beiden Nachkriegszeiten, sondern schon die Systemunterschiede während der Kriege schufen unterschiedliche Ausgangspositionen für die Ordnung von Staat und Gesellschaft und nicht zuletzt auch für die Haltung der Parteien und Kirchen. Es war ein Unterschied, ob man sich von einem monarchischen Obrigkeitsstaat mit teilweise verkrusteten Sozialstrukturen abzustoßen hatte oder ob man sich aus der Hinterlassenschaft eines totalen Unrechtsstaates herauslösen mußte, der zwar selber in vielen Traditionslinien an den alten Obrigkeitsstaat angeknüpft hatte, aber doch in wesentlichen Punkten etwas qualitativ anderes war. Wilhelm II. und Adolf Hitler schufen verschiedene Folgeprobleme! Auf diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie die Parteien und Kirchen auf die vorgefundene Situation reagiert haben. Haben sie diese richtig erkannt, oder waren sie so sehr in ihren eigenen Vorstellungswelten befangen, daß sie an den Realitäten vorbeidachten und -handelten? Waren ihre Programme und Erklärungen eher Antworten auf die Herausforderungen der neuen Lage, oder spiegelten sie einen Diskussionsstand wider, der den Erfahrungen der jeweils

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älteren Generation entsprach? Wie weit erlauben schließlich Programme und Erklärungen einen Rückschluß auf die Praxis, auf die tatsächlich eingenommene Haltung der Handelnden?

2. Die kirchenpolitischen Positionen und Programme der deutschen Parteien nach 1918 und 194 S Wenn nach den kirchenpolitischen Programmen der Parteien im 20. Jahrhundert gefragt wird, so muß zuvor eine Feststellung getroffen werden, die den Stellenwert dieser Programme im Rahmen der Parteiprogramme insgesamt betrifft: der Platz, den kirchenpolitische Aussagen in den Erklärungen der Parteien im 20. Jahrhundert einnehmen, ist vergleichsweise untergeordnet. Wenn es auch nennenswerte Unterschiede in dieser Hinsicht zwischen den einzelnen Parteien gibt, so bleibt doch die Grundtendenz, daß kirchenpolitische Aussagen hinter wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Positionen deutlich zurücktreten. In der Regel finden sie sich an 5. oder 6. Stelle, und auch dann noch häufig in umfassenderen Abschnitten über die Kulturpolitik. Keine Partei, auch nicht das katholische Zentrum, beginnt mit Erklärungen über die Haltung zur Kirche 5 . Dies hat Gründe, die mit dem Prozeß der Säkularisierung zusammenhängen und deswegen hier nicht verdeutlicht zu werden brauchen. Es bedarf aber einer Erörterung der Folgen dieses Stellenwertproblems für den Realitätsgehalt der kirchenpolitischen Aussagen der Parteien. Denn wenn der Stellenwert einer Aussage vergleichsweise gering oder jedenfalls untergeordnet eingestuft wird, dann besteht die Gefahr, daß bei Richtungskämpfen in den Parteien an dieser Stelle leichter Sachnotwendigkeiten geopfert werden. Wenn etwa die Sozialpolitik als vordringlicher empfunden wird, dann muß befürchtet werden, daß die aktiven Energien einer Partei sich vor allem diesem Gebiet zuwenden und entsprechend der geringer veranschlagten Kirchenpolitik verlorengehen. Kirchenpolitische Ausschüsse für die Großväter - das war eine Haltung, die sich in stark der Säkularisierung verhafteten Parteien sehr häufig antreffen ließ. Dazu kommt ein weiterer Faktor der Relativierung parteipolitischer Aussagen zu Kirchenfragen: das Problem der Rezeption jeweils neuer kirchen- oder theologiegeschichtlicher Vorgänge in der Welt der Politik. Wie lange hat es gebraucht, bis eine so wichtige neue Kraft wie die Dialektische Theologie ins Blickfeld von Partei5 Vgl. dazu W O L F G A N G Göttingen 1956.

TREUE:

Deutsche Parteiprogramme 1861-1956. 2. Aufl.

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Politikern getreten ist! Wie lange hat es gebraucht, bis vor allem deren neue Zuordnung von Kirche und Welt auch nur in ihren Wirkungen für den politischen Alltag verstanden worden ist! Gerade in Sachen der Kirche haben sich Klischees immer unverhältnismäßig lange gehalten. Dies wiegt umso schwerer, als auch die allgemeinen Situationsveränderungen nach den beiden Kriegen keineswegs immer voll erfaßt worden sind. So waren in der Zeit der Weimarer Republik vor allem die rechtsstehenden Parteien von der Annahme einer weitgehenden Revidierbarkeit der Vorgänge des November 1918 bestimmt; die Wert- und Ordnungsvorstellungen des Kaiserreichs blieben für sie maßgebend. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es dann eher Sozialisten, die an ältere Traditionen - vor allem der Weimarer Republik - anknüpfen wollten und die Tragweite der unter Hitler eingetretenen Veränderungen unterschätzten. Sie neigten dazu, die Situation des Jahres 1945 mit der des Jahres 1918 zu parallelisieren und den Fehlschlag der imperialistischen Politik des Reichs selbstverständlich als guten Ausgangspunkt für eine demokratische Neuordnung in ihrem Sinne zu nehmen. Die stark geminderte Bereitschaft zu sozialem Umbruch im Jahre 1945 entging ihrem Blick. Sind diese Rahmenbedingungen der parteipolitischen Aussagen und Positionen jedoch einmal erwogen, so lassen sich sehr wohl die Konturen einer Kirchenpolitik beschreiben, die man als Ausdruck eines Parteiwillens bezeichnen kann. Am leichtesten ist dies bei den Parteien möglich, die sich im Einklang mit den herrschenden Kräften der großen Kirchen glaubten: bei den Parteien, die dem Prozeß der Säkularisierung abgeneigt waren oder ihm widerstrebend folgten. Sie ließen sich unbeschadet der mit den Kriegsenden verbundenen Erschütterungen des politischen und sozialen Lebens von dem Gedanken leiten, daß die kirchlichen Positionen in Staat und Gesellschaft so weit wie möglich bewahrt werden müßten und daß vor allem der volkskirchliche Charakter der großen Konfessionskirchen nicht Schaden nehmen dürfe. Sowohl das katholische Zentrum, die konservative D N V P und die rechtsliberale D V P in der Zeit der Weimarer Republik als auch die C D U , die konservativen Regionalparteien und der rechte Flügel der F D P nach dem Zweiten Weltkrieg hielten am Prinzip der Volkskirche fest und gaben lediglich die staatskirchlichen Traditionen des alten Hohenzollernstaates preis. Kirche und Gesellschaft blieben für sie tendenziell bis zur Dekkungsgleichheit ineinander verwoben. Demgegenüber verfochten die säkularistisch geprägten Parteien das Prinzip der Trennung von Staat und Kirche, wenn sie auch angesichts der starken volkskirchlichen Tradition in Deutschland prak-

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tisch zu Kompromissen bereit waren. So haben sowohl die SPD als auch die linksliberale D D P mit Rücksicht auf ihre Koalition mit dem katholischen Zentrum in der Zeit der Weimarer Republik fast vollständig auf eine laizistische Kirchenpolitik verzichtet und die Kirche als Anstalten öffentlichen Rechts anerkannt. In ihren Parteiprogrammen blieben zwar noch die alten Trennungsformeln erhalten, in ihrer praktischen Politik akzeptierten sie jedoch eine für die Kirchen so wichtige Regelung wie die, daß die Kirchensteuern wie Staatssteuern eingezogen wurden. Lediglich die freilich nur am Anfang der Weimarer Republik bedeutsame USPD (linkssozialistisch) strebte eine radikale Trennung von Staat und Kirche an, indem sie die Kirchen als privatrechtliche Vereine betrachtet sehen wollte. Die KPD setzte diesen Kurs fort 6 . Nach dem Zweiten Weltkrieg komplizierte sich die kirchenpolitische Haltung der säkularistisch geprägten Parteien insofern, als sie nun einer Ausgangslage Rechnung zu tragen hatte, die nicht mehr von kirchenfreundlicher Politik eines ancien régime vorgezeichnet war. Während sich die laizistischen Kräfte in diesen Parteien 1918 durch ihre Opposition zum Staatskirchentum des Kaiserreichs kirchenpolitisch fortschrittlich profilieren zu können hofften, mußten sie sich 1945 von einem Hintergrund abheben, der alles andere als staatskirchlich und trotzdem in ihren Augen reaktionär geprägt war. Hitlers Kirchenpolitik hatte das herkömmliche Einordnungsschema durcheinandergebracht: sie war kirchenfeindlich, ohne vom säkularistischen Geist der europäischen Aufklärung getrieben zu sein; sie entkonfessionalisierte das Schulwesen, ohne von laizistischen Prinzipien geleitet zu sein. Die säkularistisch geprägten Kräfte des deutschen Parteiwesens standen 1945 also vor der Frage, ob sie die Hinterlassenschaft der nationalsozialistischen Kirchenpolitik akzeptieren oder revidieren sollten. Konnten sie einige Elemente wie etwa die allgemeine konfessionslose Schule ohne Schaden an Leib und Seele übernehmen, oder mußten sie Rücksicht auf die Verteidiger der Konfessionsschule nehmen, die sich nun als konsequente Gegner der nationalsozialistischen Schulpolitik profilierten? Es dauerte lange, bis diese Kräfte Wege fanden, die der veränderten Lage Rechnung trugen und mit Formeln wie der christlichen Gemeinschaftsschule Alternativen zur säkularisationsfeindlichen Konfessionsschule entwickelten. 6 Wichtiges Material zum Verhältnis der Parteien zu den Kirchen in den Jahren nach 1918 ist verarbeitet bei JOCHEN JACKE: Kirche zwischen Monarchie und Republik. Der preußische Protestantismus nach dem Zusammenbruch 1918. Hamburg 1976, S. 119 ff.

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Sehr schwer fiel es auch Kurt Schumacher, dem über die eigenen Reihen hinaus anerkannten Parteiführer der Sozialdemokraten, für das verschobene kirchenpolitische Feld Verständnis aufzubringen. In einem seinerzeit stark beachteten Aufsatz „Die Chance des Christentums" aus dem Jahre 1947 betonte er die alten freidenkerischen Vorstellungen von der Kirche als Schleppenträger des Obrigkeitsstaates, der man möglichst wenig Einfluß auf die politische Öffentlichkeit einräumen sollte. Zwar sei das Christentum als Quelle persönlicher moralischer Energien zu bejahen, in institutioneller Gestalt sei es hingegen kritisch zu betrachten und von öffentlicher Wirksamkeit fernzuhalten. Kirche als Partner der Gesellschaft im Kampf gegen lebensfeindliche Mächte welcher Herkunft auch immer war für ihn keine Perspektive 7 . Dies hing freilich nicht nur mit den laizistischen Traditionen der Sozialdemokratie zusammen, sondern auch mit einem Verständnis von Demokratie, das keinen Platz für konkurrierende Gewalten im Staat zuließ. Den deutschen Sozialdemokraten der Nachkriegszeit ging es nicht nur um die Kirchen, wenn sie politische Freiräume im Staat beargwöhnten. Ihnen war es auch darum zu tun, den Herrschaftsanspruch des demokratischen Staates gegenüber allen anderen Verbänden und korporativen Institutionen so weit wie möglich zur Geltung zu bringen, damit keine „Staaten im Staate" entstanden. „Nebenparlamente" waren ihnen von Grund auf suspekt, Interessengruppen sollten über keinen unkontrollierten Handlungsspielraum verfügen 8 . Begründet wurde diese Haltung am häufigsten mit Argumenten aus dem wirtschaftspolitischen Bereich. Weil Wirtschaftsverbände sich in den kritischen Auseinandersetzungen der Weimarer Republik allzu leicht dem politischen Einfluß des demokratischen Staates entziehen konnten, sollte ihr Spielraum nunmehr eingeengt werden. Weil die Diskrepanz zwischen demokratischer Verfassung des Staates und nicht-demokratisch strukturierter Wirtschaft wesentlich zum Sturz der Weimarer Republik und zum Aufkommen des Nationalsozialismus beigetragen habe, sollte nun keine gesellschaftliche Kraft mehr sich politisch verselbständigen und wirken können. „Wir haben nicht vergessen", so formulierte sogar der Linkskatholik Walter Dirks in der ersten Nummer der Frankfurter Hefte 1946, „daß die 7 KURT SCHUMACHER: Die Chance des Christentums. Hannover 1947. In: Turmwächter der Demokratie. Ein Lebensbild von Kurt Schumacher. Bd. 2. Reden und Schriften. Hg. von Arno Scholz und Walher Oschilewski. Berlin 1953, S. 311 f. s Vgl. dazu KARLHEINZ NICLAUB: Demokratiegründung in Westdeutschland. Die Entstehung der Bundesrepublik 1945-1949. München 1974, S. 47ff.

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Demokratie von 1918 auch deshalb machtlos war, weil sie nur den S t a a t . . . zu demokratisieren unternahm." 9 Genau umgekehrt reagierte die C D U . Sie sah im Nationalsozialismus vor allem eine Hypertrophie des Staates, eine Übersteigerung des staatlichen Machtanspruchs, der mit inner- und außerstaatlichen Gegengewichten entgegengewirkt werden müsse. Im Unterschied zu konservativen Posititionen früherer Zeiten rückte sie deutlich von etatistischen Traditionen ab und favorisierte alle möglichen Verbands- und Gruppenaktivitäten. In zahlreichen Stellungnahmen sowohl von neoliberalen als auch von christlich-sozialen und konservativen Kräften in ihrem Einzugsbereich wurde ein fortschreitender Strukturverlust der Gesellschaft beklagt, der als Hauptgrund der zum totalen Machtstaat führenden Entwicklung betrachtet wurde, der sogenannten Vermassung. Danach werde der aus seinen natürlichen Lebens- und Wirkungsgemeinschaften herausgelöste Mensch in unüberschaubaren Massenparteien und -gruppierungen zusammengefaßt, die es erschwerten, konkrete Verantwortung wahrzunehmen. Dies aber bereite den Boden für Diktaturen 1 0 . Es bedarf keiner Begründung, daß eine solche Herleitung der modernen Verantwortungsproblematik aus einem Strukturverlust der Gesellschaft das Interesse an der Gewinnung zusätzlicher Strukturen stärkte. Und dazu zählten nicht zuletzt auch die Kirchen. Sie verfügten nicht nur über eine gewachsene innere Struktur, sondern konnten darüber hinaus auch einen Beitrag zur Restrukturierung der Gesamtgesellschaft leisten: im Rahmen einer „Selbstverwaltung der Autoritäten", wie Eugen Kogon es als Anhänger einer gegliederten Demokratie formulierte 1 1 . Auch unabhängig von den niemals preisgegebenen Volkskirchenvorstellungen favorisierte die C D U also eine kirchenfreundliche Politik. Sie tat dies freilich in einer ungleich kirchenfreundlicheren Gesamtsituation, als sie die ihr entsprechenden Parteien der Rechten und der Mitte am Ende des Ersten Weltkriegs vorfanden.

3. Die Reaktionen der Kirchen (insbesondere der evangelischen) nach den beiden Weltkriegen Auch hier ist eine methodische Vorbemerkung nötig: der Begriff „Reaktionen" hat mehrere Dimensionen. E r meint keineswegs nur ' WALTER DIRKS: Die zweite Republik. In: Frankfurter Hefte 1, April 1946, S. 17. 10

V g l . d a z u K . NICLAUC ( A n m . 8 ) , S. 6 2 f f .

EUGEN KOGON: Demokratie und Föderalismus. In: Frankfurter Hefte 1, September 1946, S. 76. 11

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die Verhaltensweisen der Kirchen gegenüber den kirchenpolitischen Programmen und Positionen der einzelnen Parteien, sondern immer auch das Verhalten gegenüber der jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Gesamtsituation. Darüber hinaus enthält er Elemente einer kircheninternen Auseinandersetzung, nicht zuletzt auch einer Reaktion der Institution Kirche auf die in ihr formulierte Theologie. Die Rangordnung dieser verschiedenen Dimensionen kirchlicher Reaktionen kann wechseln; Beachtung verdient sie immer. Vergleicht man unter diesem Gesichtspunkt die Reaktionen der Kirchen nach dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg, so wird man sagen müssen, daß die parteipolitischen Programme und Positionen 1918 für sie bedeutsamer waren. 1945 war die Niederlage Deutschlands so total, daß parteipolitische Äußerungen daneben wenig wogen. Auch war nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst die Haltung der Besatzungsmächte wichtiger als diejenige deutscher Parteien. 1945 stand den deutschen Kirchen kein deutscher Staat mehr gegenüber. Von steigender Bedeutung sollten dagegen Aussagen der Theologie für sie werden. Schienen die Amtskirchen 1918 trotz des Unterganges der Monarchie noch so selbstsicher zu sein, daß sie ihren Platz im neuen Staatswesen ohne vertiefte Reflexion ihrer ekklesiologischen Grundlagen finden zu können meinten, so war 1945 davon keine Rede mehr. Nach den Barbarismen der Hitlerdiktatur, die nicht nur die Grundlagen des politischen Gemeinwesens erschüttert, sondern auch an die Fundamente kirchlicher Existenz gerührt hatten, war ein wie auch immer einzuschlagender Weg der Kirchen ohne genaue theologische Ortsbestimmung nicht mehr möglich. Nach Hitler ließ sich nicht mehr vornehmlich von Traditionen leben. Für die evangelische Kirche kam noch etwas hinzu. Sie war durch die Praxis des landesherrlichen Kirchenregiments so stark mit der Welt des monarchischen Obrigkeitsstaates verquickt gewesen, daß deren Erschütterung Rückwirkungen nicht nur auf das Verhältnis zum Staat, sondern auch auf das Selbstverständnis der Kirche hatte. Sie stand nach dem Fortfall der staatskirchlichen Bindung nicht nur vor dem Zwang, ihr Außenverhältnis neu zu regeln, sondern auch vor der Aufgabe, ihre Binnenstruktur zu überdenken. Eine Revision des Weltbezugs und eine innere Strukturreform drängten sich ihr gebündelt auf 1 2 .

12 Zur Entwicklung der evangelischen Kirche nach 1918 vgl. KURT NOWAK: Evangelische Kirche und Weimarer Republik. Zum politischen Weg des deutschen Protestantismus zwischen 1918 und 1932. Weimar und Göttingen 1981.

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Dies sollte freilich lange Fristen fordern und schon gar nicht ohne Rückstöße abgehen. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs schien es zunächst so, als wollte sich die Kirche primär auf die Defensive verlegen und die alte Obrigkeitsbindung durch ein neues politisches Rollenverständnis ersetzen: durch das Rollenverständnis der Kirche als reaktionärer „Gegenburg" gegen den neuen demokratischen Staat, um es mit den Worten von Ernst Troeltsch zu sagen 13 . Die evangelische Kirche identifizierte sich weitgehend mit den demokratiefernen Schichten Deutschlands und stellte auch dort, wo ihre Leitungsgremien sich an den republikanischen Staat anzupassen begannen, ein nach rechts verengtes Spektrum der politischen Kräfte des Landes dar 14 . Sozialgeschichtlich läßt sich dieser Prozeß am besten mit dem Begriff der „Milieuverengung" beschreiben. Was politisch in der weitgehenden Reduktion der Kirche auf das Spektrum der rechten Parteien zum Ausdruck kam, stellte sich gesellschaftlich als Verkümmerung zur Mittelstandsgemeinschaft dar, zur Mittelstandsgemeinschaft garniert mit Vertretern des Adels und alter Führungseliten des Kaiserreichs. Die Arbeiterschaft fehlte fast ganz, und auch die bäuerliche Welt war - etwa im Vergleich zu Finnland und Estland erheblich unterrepräsentiert. Die Kirche war kein Querschnitt mehr, sondern nur noch ein Ausschnitt aus der Gesellschaft. In seltsamem Kontrast zu diesem sozialen Verengungsprozeß (der übrigens schon im 19. Jahrhundert begonnen hatte) steht nun ein Prozeß der Anspruchsausweitung, der Verstärkung des Anspruchs, Volkskirche, d. h. Kirche des ganzen Volkes zu sein. Mehr als in der Zeit des Kaiserreichs, in der das Bewußtsein, Staatskirche zu sein, innere Schwächen kompensieren half, wurde nun der umfassende Anspruch, Kirche für alle zu sein, betont und z. B. auch durch einen Ausbau der Wahlmöglichkeiten zu den Synoden bekräftigt. Die Betonung des volkskirchlichen Selbstverständnisses wirkte in den zwanziger Jahren häufig wie eine Beschwörungsformel, um den wachsenden Wirklichkeitsverlust vielleicht doch noch bannen zu können 15 . Dieser Prozeß der kirchlichen Anspruchsausweitung bedarf freilich auch einer Einordnung in profangeschichtliche Zusammenhänge. Nicht nur die Kirchen besannen sich in den Jahren nach dem 13 ERNST TROELTSCH: Spektator-Briefe (10. 8. 1919). Hg. von Hans Baron. Tübingen 1 9 2 4 , S. 8 0 . 14 Vgl. dazu das kirchengeschichtliche Kapitel in meinem Buch: Fragen an Preußen. Zur Geschichte eines aufgehobenen Staates. München 1981, S. 141 f. 15 Vgl. dazu J. JACKE (Anm. 6), S. 306ff.

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Ersten Weltkrieg verstärkt auf den Universalmotor „Volk", auch zahlreiche Parteien entdeckten gerade in jener Zeit die Nützlichkeit und vielseitige Verwendbarkeit dieses kraftspendenden Begriffs. Vor allem die Parteien der politischen Rechten geilten geradezu danach, jetzt im Gewände von Volksparteien zu erscheinen und auf diese Weise die wenig volksverbundene Vergangenheit vergessen zu machen. So änderten nun - wenige Tage nach der Novemberrevolution 1918 - die Konservativen ihren Namen in Deutschnationale Volkspartei. Und auch der rechte Flügel der Liberalen hielt es für angebracht, nunmehr als Deutsche Volkspartei zu firmieren. Volkspartei war nun fast alles - bis auf die Parteien, die aus echten Volksbewegungen hervorgegangen waren oder sich demokratischen Prinzipien verpflichtet fühlten: die Sozialdemokratie und die Deutsche Demokratische Partei (der linke Flügel der Liberalen). Sie führten nur das Etikett „demokratisch" in ihrem Namen 16 ! Der volksbetonte Anspruch der alten Honoratiorenparteien hatte also manche Verwandtschaft mit dem der Kirchen. Er bot Aussichten, die eigene schwache Basis zu verbreitern oder jedenfalls Basisschwächen zu überdecken. Wenn man als Inkarnation des Volkes erschien, hatte man zudem noch einen weiteren Vorteil: man erschien nicht so sehr als „Partei", als „Fraktion"; man wirkte überparteilich - und das war in Deutschland immer gut. In diesem metaphysisch geprägten Land mußte man möglichst über den Dingen stehen; das war jedenfalls besser, als mitten in ihnen zu stehen oder zu jonglieren! Aber nicht nur dieser besonders volksbetonte und zugleich parteifeindliche Aspekt kirchlichen Selbstverständnisses fällt in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg auf; auch ein als allzu selbstverständlich betrachtetes Element der kirchlichen Entwicklung ist bemerkenswert: die verstärkte Eigenständigkeit der Kirche gegenüber dem Staat. Die Vorzüge dieser neu gewonnenen Eigenständigkeit liegen zutage; sie sind vielfältig erörtert worden. Sie haben aber auch eine Kehrseite gehabt, auf die das Augenmerk gelenkt werden muß: einen Verlust an Weltbezug der Kirche. Die evangelische Kirche hat nach dem Ersten Weltkrieg ihre Bindungen an den Staat verringert, ohne einen vollwertigen Ersatz an Weltbezug zu finden. Sie hat sich von der Welt, die ihr im alten monarchischen Staat begegnet war, zu ihrem Nutzen entfernt, aber sie hat nicht parallel zur neuen Welt der Demokratie Kontakt gefunden, die sie vor Stagnation bewahren 16 Zum Selbstverständnis der Parteien nach 1918 nach wie vor SIGMUND NEUMANN: Die Parteien der Weimarer Republik. 2. Aufl. Stuttgart 1965 (1. Aufl. 1932 unter dem Titel: Die politischen Parteien in Deutschland).

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konnte. Neue Eigenständigkeit der Kirche konnte heißen: Selbstgenügsamkeit der Kirche oder - noch bedenklicher - Kirche als Ersatzwelt. War dies „das Jahrhundert der Kirche", über dessen Anbrechen sich Otto Dibelius so offenkundig freute, obwohl er als Anhänger des preußischen Obrigkeitsstaates doch eigentlich Anlaß zur Trauer über das Ende der Monarchie gehabt hätte 1 7 ? Zum Verständnis dieses Problems bedarf es der Vergegenwärtigung eines Vorgangs: 1918 ist nicht nur die Monarchie, sondern auch der Summepiskopat der Landesherren zu Ende gegangen. Das war zweifellos notwendig. Aber mit den Königen und Fürsten waren nicht nur die obersten Bischöfe ihrer Kirchen verschwunden, auch Laien, also Exponenten der nicht-theologischen Welt, waren mit ihnen aus der Leitung der Kirche ausgeschieden. Die Folge war ein Stück Klerikalisierung der Kirche, die sich auch in der Entwicklung von Gestalten wie Otto Dibelius vom Generalsuperintendenten der Kurmark zum Bischof von Berlin-Brandenburg und - sit venia verbo Ersatzkönig von Preußen abzeichnete. Es bildete sich kein modernes Äquivalent für die verlorenen Positionen der Laien in der Kirche heraus, übrigens auch nicht auf der Ebene der Patronate, die - was das Selbstbewußtsein von Laien betrifft - nur selten in den Presbyterien und Gemeindekirchenräten einen vollwertigen Ersatz fanden. Der große französische Analytiker der politischen Welt, Alexis de Tocqueville, hat diesen scheinbar unbedeutenden Vorgang der geschichtlichen Entwicklung für wert befunden, in seinem berühmten Werk „Über die Demokratie in Amerika" in den größeren Zusammenhang einer Erörterung der Folgen der Säkularisierung zu stellen. E r stellt eine bedeutsame Verschiebung fest: „Durch ein Zusammenspiel merkwürdiger Ereignisse sieht sich die Religion jetzt unter die Mächte eingereiht, die die Demokratie stürzen, und so kommt sie oft in die Lage, gegen die Gleichheit, zu der sie neigt, anzukämpfen und die Freiheit wie einen Gegner zu verdammen, anstatt ihnen die Hand zu leihen und ihre Bemühungen zu heiligen . . . Die gläubigen Menschen bekämpfen die Freiheit, und die Freunde der Freiheit greifen die Religionen an." 1 8 Diese Deutung läuft auf das Bild von der Kirche als „Gegenburg" gegen den demokratischen Staat hinaus, das Troeltsch für die Situation nach 1918 gezeichnet hat. Sie

17 Vgl. dazu JONATHAN R. C. WRIGHT: „Über den Parteien". Die politische Haltung der evangelischen Kirchenführer 1918-1933 (AKiZ. Β 3). Göttingen 1977, S. 20 ff. 18 ALEXIS DE TOCQUEVILLE: Über die Demokratie in Amerika. Deutsche Ausgabe Stuttgart 1959, Bd. 1, S. 14 f. (Der hier gegebenen Übersetzung der zitierten Sätze bin ich nicht durchweg gefolgt).

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stellt aber darüber hinaus auch Fragen, die über die Epoche der Weimarer Republik hinausweisen. Zunächst einmal zeichneten sich jedoch andere Konstellationen ab. Die nationalsozialistische Diktatur brachte neue Komponenten in das Verhältnis von Kirche und Welt und hinterließ ein völlig verändertes Kräftefeld. 1945 fanden sich die Kirchen nach dem Zusammenbruch der staatlichen Macht in einer vergleichsweise starken Position; sie hatten die Herrschaft des Hitlerstaats überdauert. Während 1918 vor allem die evangelische Kirche im Bann der alten Staatsordnung gestanden hatte und über weniger Erneuerungskräfte verfügte als die politische Gesellschaft, konnte sie 1945 leichter Distanz zum vergangenen Régime gewinnen und einer darniederliegenden weltlichen Ordnung ohne Rückständigkeitsgefühle gegenübertreten. In der Situation des Zusammenbruchs aller Staatlichkeit schien sich die Waage zugunsten der Kirchen zu neigen. Mit Sicherheit jedoch hatten die Kirchen nun einen Vorsprung vor den Parteien, die sich erst neu bilden mußten - mit nicht unerheblichen zeitlichen Abstufungen in den einzelnen Besatzungszonen übrigens. Wenn man sich vergegenwärtigt, wie schwer es die Parteien nach dem Kriege hatten, überregionale, geschweige denn gesamtdeutsche Organisationen aufzubauen, während die Kirchen in der Regel entweder intakte oder leicht reparierbare Organisationsstrukturen besaßen, dann wird deutlich, daß sich im Verhältnis zwischen diesen beiden Faktoren des gesellschaftlichen Lebens etwas ändern mußte. Der erste Bundesparteitag der westdeutschen C D U kam beispielsweise erst 1950 in Goslar zustande! Und was die gesamtdeutsche Perspektive betrifft, so fällt der Vergleich noch härter aus: Bereits ein Jahr vor der Bildung zweier deutscher Staaten mit der Konstituierung der Bundesrepublik und der D D R 1949 gelang es der evangelischen Kirche 1948 in Eisenach, mit der Gründung der E K D eine gesamtdeutsche Ordnung zu errichten. Wenn Otto Dibelius als erster Ratsvorsitzender der E K D also Konrad Adenauer als Vorsitzendem der C D U (zunächst nur in der britischen Zone) begegnete, dann war das Gewicht der Positionen im Verhältnis zueinander anders als in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, als die Parteien uneingeschränkt über ein gesamtdeutsches Wirkungsfeld verfügten und die Kirchen — vor allem die evangelischen - Mühe hatten, sich auf die politische Welt des neuen republikanischen Staates umzustellen. Nach dem Zweiten Weltkrieg galt ein Bischof mehr als ein Parteiführer, jedenfalls in der bürgerlich und bäuerlich geprägten Welt. Dies hatte freilich nicht nur organisationspolitische Gründe. 1945 hatte der Bereich der politischen Institutionen in Deutschland nicht

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nur machtpolitisch Einbußen erlitten, er hatte auch moralische Autorität verloren. Vertrauen zu Trägern der politischen Verantwortung mußte erst neu begründet werden. Weit über ihre Anhängerschaft hinaus hatte die nationalsozialistische Gewaltherrschaft verheerend gewirkt. Sie hatte den Staat nicht nur als ordnungstiftende Macht korrumpiert; sie hatte ihn auch in seinem Anspruch als Souverän, als weltlich autonome Gewalt angeschlagen. Mit dem Staat und seinen Institutionen war ein Stück „Welt", das in der reformatorischen Lehre so stark aufgewertete Reich zur Linken, zu Schaden gekommen 19 . So führte die Darstellung Hitlers als Antichrist, wie sie in zahlreichen Schriften und Verlautbarungen der Kirchen nach dem Kriege zum Ausdruck kam, häufig zu der kurzschlüssigen Folgerung, daß die staatliche Macht möglichst weitgehend in christlichen Händen zu halten und vor verweltlichtem, nicht-christlichem Zugriff zu bewahren sei. Es schien, als sei christliche Macht weniger gefährlich als andere. Damit trübte man freilich den Blick für die Grundlagen der säkularisierten Welt. Durch die Parallelisierung von faschistischen und anderen christentumsfernen Kräften der modernen Welt verzerrte man nicht nur die politischen Perspektiven, man wies auch den Kirchen größere gesellschaftliche Verantwortung zu, als diese ihrer politischen Erfahrung nach wahrscheinlich zu tragen in der Lage waren. Langfristig mochte eine Überdehnung des kirchlichen Engagements in der modernen Industriegesellschaft eintreten, die zur Auszehrung der Substanz und zum Fall in neue Abhängigkeiten führen konnte 2 0 . Aber die Kirchen wurden nicht nur durch die äußere und innere Schwächung der staatlichen Macht in Deutschland politisch aufgeladen, sie erhielten auch durch den folgenden Prozeß der Teilung Deutschlands neuen politischen Auftrieb. Vor allem der evangelischen Kirche wuchs wegen ihrer Verwurzelung auf beiden Seiten der Zonengrenze eine bedeutsame Klammerfunktion zu, die über viele Jahre hin eine wichtige Rolle im öffentlichen Bewußtsein spielte und nicht nur kirchenpolitische Wirkungen hatte. So trugen die großen gesamtdeutschen Kirchentage Anfang der fünfziger Jahre dazu bei, daß die Kirche bisweilen den Charakter einer politischen Ersatzwelt gewann und daneben die Frage nach den eigenen Reformnotwendig19 Vgl. dazu meinen Beitrag in der Festschrift für Martin Niemöller: Kirche zwischen Restauration und Modernismus. In: Christliche Freiheit im Dienst am Menschen. Frankfurt/M. 1972, S. 238. 20 In diesem Sinne etwa das Wort der Spandauer Bekenntnissynode vom 29. bis 31. Juli 1945 (abgedruckt bei KARL KUPISCH: Quellen zur Geschichte des deutschen Protestantismus von 1945 bis zur Gegenwart, 1. Teil Hambufg 1971, S. 51).

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keiten der Kirche zu kurz kommen ließ. Bischöfe wandten sich mehr an die politische Welt, als daß sie sich von dieser kritisch nach dem Zustand der Kirche fragen ließen. Auf diesem Hintergrund ist eine Schwerpunktbildung kirchlicher Aktivität nach dem Zweiten Weltkrieg zu sehen: die viel diskutierte Öffentlichkeitsarbeit der Kirchen. In Wahrnehmung eines aus dem Öffentlichkeitsanspruch des Evangeliums abgeleiteten Öffentlichkeitsauftrags der Kirche entwickelten die Kirchen eine Praxis öffentlicher Stellungnahmen zu wichtigen Fragen des politischen und gesellschaftlichen Lebens, die einerseits dem allgemeinen Orientierungsbedürfnis einer aus den Fugen geratenen und verunsicherten politischen Welt entsprach, andererseits aber auch die Gewichte im Verhältnis von Kirche und Welt zu verschieben drohte. Es konnte bisweilen die Gefahr entstehen, daß die Kirchen in einseitigem Verständnis ihres sogenannten „Wächteramts" die säkulare Welt vornehmlich zum Adressaten von Stellungnahmen und Denkschriften machten und darüber die Einsicht zu kurz kommen ließen, daß sie selbst als Teil (und nicht nur Gegenüber) dieser Welt auch deren Befangenheiten teilten. Vor allem aber trat kaum ins Bewußtsein, daß Öffentlichkeit ursprünglich ein Kampfbegriff der für mehr Freiheit und Demokratie streitenden Welt der Moderne war, daß also nur der einen Offentlichkeitsauftrag legitimerweise für sich in Anspruch nehmen konnte, der bereit war, Öffentlichkeit im eigenen Handlungsbereich gelten zu lassen. Dem Verlangen nach mehr Offentlichkeitswirksamkeit der Kirche entsprach aber keines nach wirksamerer Öffentlichkeit in der Kirche 21 . All dies macht deutlich, daß die Position der Kirchen nach dem Zweiten Weltkrieg weniger angefochten und anlehnungsbedürftig war als nach dem Ersten. Ob man den Einsatz nach dem Zusammenbruch der staatlichen Ordnung, das Engagement angesichts der Teilung Deutschlands oder das Wächterverhalten der Öffentlichkeit gegenüber in Betracht zieht, immer zeigte sich, daß die Kirchen unmittelbar aus den gegebenen Situationen und Kräftekonstellationen heraus zu handeln und Wirksamkeit zu entfalten suchten. Sie standen den Parteien nicht einfach als reagierende Kräfte gegenüber, wie umgekehrt auch die Parteien sich nicht nur in der Rolle der ungebrochen Agierenden befanden. Im Nachkriegsdeutschland nach 1945 waren beide gezwungen, sich mehr mit der harten Wirklichkeit als mit den Vorstellungen des Gegenübers auseinanderzusetzen; Programme zählten weniger als die Realität der Kriegsfolgen.

21

Vgl. dazu

WOLFGANG HUBER:

Kirche und Öffentlichkeit. Stuttgart 1973, S. 11 ff.

Kirchenpolitische Programme der deutschen Parteien seit 1918

335

Trotzdem wird man sagen müssen, daß der im Verhältnis zur politischen Welt erweiterte Handlungsspielraum der Kirchen nicht nur auf die Angeschlagenheit der staatlichen Macht in Deutschland zurückzuführen war. Er hing auch mit dem in leidvoller Erfahrung gewachsenen Bewußtsein zusammen, daß die Auseinandersetzung mit der Welt eher in der Gemeinschaft der Kirche als in der Vereinzelung zu bestehen sei. Sowohl in der Konsequenz der Theologie Karl Barths als auch im Umkreis des konfessionellen Luthertums hatte sich die Überzeugung durchgesetzt, daß die Kirche mehr als ein externum subsidium fidei sei, mehr als eine äußerliche und daher letztlich entbehrliche Stütze des Glaubens. Als Ort nicht nur der Verkündigung, sondern auch der Erfahrung einer neuen Gemeinschaft stellte sich die Kirche nun auch im protestantischen Bereich als eine Größe dar, die aus zentralen theologischen Gründen Gewicht gewann und deswegen vor aller politischen und gesellschaftlichen Reflexion Geltung beanspruchen konnte. Fragen der Ekklesiologie zählten wieder. So wird man sagen können, daß die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht einfach nur eine vorübergehende Unterbrechung des Säkularisierungsprozesses mitbrachte, den Tocqueville in seinen Auswirkungen für das Rollenverhältnis von Kirche und Welt beschrieben hat. Vielmehr ließ sie Ansätze eines neuen kirchlichen Selbstverständnisses zur Entfaltung kommen, die über die bloße Nachkriegsära hinaus Bedeutung für das Kräftefeld zwischen Kirche und Welt gewinnen sollten. Trotz fortschreitender Säkularisierung der Welt zeichnete sich die Perspektive eines Kircheseins ab, für das politisches Reaktionsverhalten gegenüber der Welt weniger ausschlaggebend ist als in den Zeiten starker Obrigkeitsbindung der Kirche.

CHRISTIAN WALTHER

Politischer Protest und kirchliche Einheit Bemerkungen zur Lage der Volkskirche

Die nachfolgenden Bemerkungen verfolgen keine andere Absicht, als bestimmte Bewegungen und Entwicklungen seit dem Beginn der fünfziger Jahre in den protestantischen Landeskirchen in der Bundesrepublik Deutschland der Aufmerksamkeit des Zeithistorikers näherzubringen. Zur Kennzeichnung dessen, worauf das Augenmerk gelenkt werden soll, dienen hier die Begriffe politischer Protest und kirchliche Einheit. Während es kaum Schwierigkeiten bereiten dürfte, den letzteren Begriff in dem, was er umgreift, zu verstehen, könnte dies beim ersteren durchaus der Fall sein. Zumindest ist es ungewöhnlich, das Handeln der Kirche im politischen Raum auch als Protest begreifen zu wollen. Begriffe wie: öffentliche Verantwortung, seelsorgerlicher Dienst an Politikern, politische Diakonie u. a. scheinen dagegen viel angemessener zu sein. Sie haben zudem den Vorzug, theologisch hinlänglich durchreflektiert zu sein. Politischer Protest aber weist in Richtung „Straße" und „Demonstration"; mindestens legt der Begriff solche Konnotationen nahe. Darf man jedoch überhaupt die Kirche den damit verbundenen Mißverständnissen aussetzen? Allein, was hilft es, der politische Protest aus dem Raum der Kirche ist Realität! Die „Straße" - nicht mehr nur der sakrale Kirchenraum - ist zu dem Ort geworden, der für geeignet gehalten wird, Kirche zu repräsentieren, sich Gehör zu verschaffen und Forderungen an die Politik und ihre Vertreter durchzusetzen. Die Skala solcher Forderungen ist breit. Sie umfaßt z.B. kommunalpolitische, ökologische, sicherheitspolitische und rechtspolitische Desiderate. Der Zeithistoriker entdeckt hier einen neuen Zug am Leben der Kirche, der Anhaltspunkte enthält, die Lage der Volkskirche unter einem anderen als z. B. dem mit dem Begriff der Säkularisierung verbundenen, herkömmlichen Aspekt zu sehen. Das Säkularisierungstheorem geht ja von einer faktisch bereits vollzogenen Vermittlung christlicher Gehalte in die neuzeitliche Gesellschaft aus. Der politi-

Politischer Protest und kirchliche Einheit

337

sehe Protest hingegen stellt ein Bemühen dar, der Wahrheit des christlichen Glaubens überhaupt erst einen praktisch-politischen Ausdruck zu geben. Er unterstellt, daß diese Wahrheit bisher nicht angemessen praktiziert worden sei. Insoweit darin dann auch das Aussein auf eine andere, neue Gesellschaft mitschwingt, erstreckt es sich zugleich auch auf eine andere, neue Kirche, und beide: neue Gesellschaft und neue Kirche konvergieren schließlich zu einer neuen, politisch erst noch zu schaffenden Einheit. Dahinter taucht das Bild eines neuen „Corpus christianum" auf, das seine Konturen gerade daran gewinnt, daß die historisch gewordene Volkskirche, in der sich, wenn auch nicht problemlos, jene Einheit als empirische Größe noch widerspiegelt, als überholt betrachtet wird. Die Entwicklungen innerhalb des letzten Jahrzehnts erlauben dem Zeithistoriker jedenfalls durchaus, die Bildung sektenhafter Gesinnungsgemeinschaften in der traditionellen Volkskirche zu beobachten. 1. Der politische Protest, der zu den unverwechselbaren Signaturen der kirchlichen Entwicklung nach 1945 gehört, entzündet sich an den Wiederaufrüstungsplänen, die zu Beginn der fünfziger Jahre entworfen und auch unter den politischen Parteien zunächst kontrovers diskutiert werden 1 . Nach 1954 wendet er sich vehement gegen die Atomrüstung 2 . Movens des kirchlichen Engagements bildet zunächst - quer durch die gegensätzlichen Fronten - die politische Verantwortung für den neuen Staat und das Hineingenommensein der Kirche in diese Verantwortung. In den sechziger Jahren wird dieser Protest zudem von der kritischen Theorie beeinflußt, deren Kritik an der spätkapitalistischen Gesellschaft mit ihren Legitimationsproblemen tiefe Eindrücke hinterläßt 3 . In besonderer Weise wirken aber die Begegnungen mit revolutionären Bewegungen in Entwicklungsländern und die vom Ökumenischen Rat der Kirchen geförderten theoretischen Auseinandersetzungen mit Fragen politischer Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und humaner Gesellschaftsentwicklung 4 auf die inhaltliche Formung der kirchlichen Opposition 1 Diese Auseinandersetzungen sind dokumentiert und kommentiert in: WOLFWERNER RAUSCH/CHRISTIAN WALTHER (Hg.): Evangelische Kirche in Deutschland und die Wiederaufrüstungsdiskussion der Bundesrepublik 1950-1955. Gütersloh 1978 ( G T B 292); dort weitere Lit., S. 7 f f . 2 D a z u jetzt CHRISTIAN WALTHER (Hg.): Atomwaffen und Ethik. Der deutsche Protestantismus und die atomare Aufrüstung 1954-1961. Dokumente und Kommentare (Studienbücher zur kirchlichen Zeitgeschichte. 3). München 1981. 3 Vgl. dazu KURT SONTHEIMER: Das Elend unserer Intellektuellen. Hamburg 1976, bes. S. 181-238; ferner HELMUT SCHELSKY: Die Arbeit tun die anderen. Köln-Opladen 1975, z . B . S. 39ff.; S. 162ff. 4 Wertvolle Informationen enthält WALTER MÜLLER-RÖMHELD: Zueinander-Miteinander. Kirchliche Zusammenarbeit im 20. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1971, bes.

338

Christian Walther

ein. Dieser Protest stellt eine spezifische Weise dar, wie Menschen in den Kirchen die Wahrnehmung christlicher politischer Verantwortung meinen konkretisieren zu müssen. Er ist gleichsam die in demonstrativen Akten praktisch werdende politische Theologie, sofern diese sich gerade auch als Konflikttheorie begreift. Die dem Kampf gegen den Atomtod geltenden Ostermärsche, die Gründung oder Beteiligung an Bürgerinitiativen zum Umweltschutz - und nicht zuletzt die großen Friedensdemonstrationen der letzten Jahre bilden dafür ein reichhaltiges Anschauungsmaterial. 2. Theologisch findet diese Erscheinung ihren stärksten Anhalt an einer Weiterentwicklung der Lehre von der Königsherrschaft Christi und vor allem an Versuchen, die Eschatologie in ihren politischen Konsequenzen wieder sichtbar zu machen 5 . In der Entfaltung dieser Ansätze werden dann zugleich jene Kriterien ausgebildet, die nun der Beurteilung dessen dienen, was wahre und eigentliche Kirche ist bzw. nicht ist. Drei charakteristische Faktoren treten dabei in den Vordergrund: a) Die Bindung des Glaubens an die „Alleinherrschaft Christi" begründet die Freiheit gegenüber der Welt und ihren Imperativen. Sie begründet auf der anderen Seite aber auch einen unbedingten Gehorsam gegen die Imperative des Wortes Gottes 6 . In ihrer Befolgung wird die Ermöglichung gesehen, in den Verstrickungen der Welt gegen diese Verstrickungen zu kämpfen. b) Die durch die Verheißung des Reiches Gottes eröffnete Zukunft verstärkt noch einmal die Freiheit des Glaubens nach der Seite hin, daß sie zum Grund für den Entwurf humanerer und gerechterer S . 5 3 f f . u n d S . 1 3 1 f f . W e i t e r h i n v g l . HERMANN RINGELING: D a s P r o b l e m d e r M o d e r -

nität auf der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft in Genf 1966. In: HeinzDietrich Wendland (Hg.): Sozialethik im Umbruch der Gesellschaft. Göttingen 1969, S. 43 ff. Über die Weltkonferenz von 1966 selber, deren herausragende Bedeutung für die Ökumene nicht bestritten werden kann, berichtet: APPELL AN DIE KIRCHE DER WELT. Dokumente der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft. Hg. vom Ökumenischen Rat der Kirchen, Stuttgart 1967. Vgl. schließlich auch CHRISTIAN WALTHER (Hg.): Recht und sozialer Umbruch. Ein ökumenisches Symposium. Frankfurt 1971. 5 Diese Entwicklung ist besonders nachhaltig von JÜRGEN MOLTMANN beeinflußt worden; vgl. dazu: Theologie der Hoffnung. 11. Aufl. München 1980 (1. Aufl. 1964); Kirche in der Kraft des Geistes. München 1975; Trinität und Reich Gottes. München 1980. ' Der Begriff des Gehorsams erweist sich in der jüngsten Theologiegeschichte geradezu als Schlüsselbegriff. Vgl. dazu vor allem ERNST WOLF: Sozialethik. Göttingen 1975, bes. S. 290ff. Vgl. aber auch z.B. GUSTAF WINGREN: Luthers Lehre vom Beruf. München 1952, S. 128 ff.; OTTO WEBER: Grundlagen der Dogmatik I, 1. Aufl. München 1955, S. 585ff.; WERNER ELERT: Morphologie des Luthertums Bd. 2, 2. Aufl. Neukirchen 1958, S. 28; PAUL ALTHAUS: Die Ethik Martin Luthers. München 1965, S. 8 1 f. u. S. 1 2 3 ff.

Politischer Protest und kirchliche Einheit

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gesellschaftlicher Verhältnisse wird. Der Gehorsam des Glaubens als die andere Seite der Freiheit findet seinen Ausdruck im politischen Kampf gegen bestehende inhumane und ungerechte Gesellschaftsstrukturen 1 . c) In Konsequenz solcher christologischer und eschatologischer Grundlegungen muß dann die Ekklesiologie in besonderer Weise auf die Kirche als politische und soziale Kraft abheben. Als Institution des Glaubensgehorsams stellt sie jene dialektische Einheit von „Kontemplation und politischem Kampf" dar, deren Ziel die Durchsetzung der neuen Gesellschaft des Friedens, der sozialen Gerechtigkeit und der politischen Freiheit ist 8 . Der politische Protest wirft aber vor diesem Hintergrund durchaus die Frage auf, ob damit nicht unter der Hand das Verständnis der Kirche sehr viel stärker in Richtung auf eine „christliche" Partei im Konzert der politischen Kräfte entwickelt wird, als es bislang die Auslegung der für das kirchliche Selbstverständnis konstitutiven Bekenntnisse und Bekenntnisschriften als zulässig zu erkennen vermochte. Der Streit um die Frage: Wie politisch darf die Kirche sein? gehört jedenfalls seit den frühen fünfziger Jahren zu den Standardkontroversen innerhalb und außerhalb der Kirche. 3. In den oben skizzierten Charakteristika, so wird aber unterstellt, seien die Anforderungen enthalten, die an eine Kirche gestellt werden müßten, wenn sie diesen Namen am Ende des 20. Jahrhunderts noch zu Recht verdiente. Was dabei vor allem jedoch ins Auge fällt ist, daß die Qualifikationen für die Kirche der Zukunft zugleich auch die Maßstäbe bilden, an denen gegenwärtiges kirchliches Verhalten gemessen wird. Dies ist besonders wichtig für die Einschätzung der Volkskirche und ihrer Gemeinden. Darin spielt jetzt auch der in der katholischen Kirche entwickelte Begriff der Basisgemeinde eine hervorragende Rolle. Denn für die Kirche der Zukunft haben „Basisgemeinden" geradezu einen idealtypischen Charakter 9 . Damit verbindet sich zudem auch ein in gewisser Hinsicht unterschwelliges elitäres Verständnis von kirchlicher Mitgliedschaft. Aber auch nur eine Elite kann jenes hohe Maß an Gemeinsamkeit im Selbstverständnis und in der Ausrichtung auf die im bedingungslosen Glaubensgehorsam vorgezeichneten Aufgaben aufbieten, das sich aus den praktischen Forderungen der politischen Theologie ergibt. Eine solche elitäre 7

So bes. J. MOLTMANN, Kirche in der Kraft des Geistes, S. 214ff. Ebd., S. 15ff., und das mit „Messianischer Lebensstil" iiberschriebene Kapitel (ebd., S. 302 ff.). ' Dazu bes. ebd., S. 354 ff. 8

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Christian Walther

Gruppe kann dann durchaus als Gesinnungsgemeinschaft bezeichnet werden. Sie unterscheidet sich darin total von einer herkömmlichen, volkskirchlichen Gemeinde, die den organisatorischen und geographischen Rahmen für eine Vielfalt an individuellen Ausdrucksformen des Glaubens abgibt. Es ist darum auch nur folgerichtig, wenn jenes elitäre Gemeindeverständnis kritisch auf die traditionelle Volkskirche bezogen wird. Damit wird jedoch ein Boden bereitet, auf dem jetzt die in vielen anderen Zusammenhängen immer wieder vorgetragenen Anschuldigungen gegen die Kirche und ihr Versagen angesichts der großen Herausforderungen unserer Zeit erneut wachsen, können 10 . Im übrigen aber lebt in der Kritik der Volkskirche eine Tradition wieder auf, die bis in die Jugendbewegung und die von ihr inspirierte liturgische Bewegung ebenso zurückreicht wie in den Religiösen Sozialismus u . Wie tief die Differenz zwischen dieser Sicht und der positiven Einstellung zur Volkskirche ist, die vornehmlich noch in bestimmten lutherischen Kreisen anzutreffen ist, läßt sich mit Händen greifen. Denn hier wird mit dem Begriff „Volkskirche noch die lebendige Wirklichkeit unserer Kirche im Rahmen des reformatorischen Kirchenverständnisses" bezeichnet 12 . Dagegen geht es den Kritikern der Volkskirche darum, daß die Kirche überhaupt erst zu einer Volkskirche wird. In dieser Projektion ist die Einheit von Kirche und Volk als eine noch zu erfüllende Aufgabe mitgesetzt. Insofern es nicht nur aus der bestehenden Volkskirche hervorgehende Hemmungen sind, die diese Aufgabe immer wieder erschweren, sondern auch in der Gesellschaft z.B. sozialisationsbedingte Hinderungen bei der Verwirklichung des neuen Einheitskonzepts auftreten, kann jetzt auch der Gedanke vertreten werden, daß erst mit einer Veränderung der Gesellschaft und damit auch ihrer Einflüsse auf den einzelnen die intendierte Kirchwerdung realisiert werden kann 13 . 10

Eindrucksvoll in dieser Hinsicht z. B . ULRICH DUCHROW/GERTA SCHARFFENORTH

(Hg.): Konflikte zwischen Wehrdienst und Friedensdiensten (Studien zur Friedensforschung. 3). München 1970, bes. S. 111 ff. 11 Ein gutes Beispiel dafür ist HEINZ-DIETRICH WENDLAND: Die Krisis der Volkskirche - Zerfall oder Gestaltwandel? (Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften. Vorträge G 176). Köln-Opladen 1971, S. 9-69. 12 Das lutherische Verständnis von Volkskirche hat jetzt seinen Niederschlag gefunden in: VOLKSKIRCHE - KIRCHE DER ZUKUNFT? Eine Studie des Theologischen Aus-

schusses der VELKD. Hg. von Wenzel Lohff und Lutz Mohaupt (Zur Sache. 12/13). Hamburg 1977, vgl. dort S. 11 ff. 13 Diese Sicht tritt sehr schön zutage bei KARL-FRITZ DAIBER: Mission aus EKDSicht: Mit Gott und den Armen. In: Lutherische Monatshefte 12, 1980, S. 693.

Politischer Protest und kirchliche Einheit

341

4. An dem eigentümlichen Pathos, mit dem im politischen Protest aus dem Raum der evangelischen Kirchen reformistische, ja bisweilen revolutionäre Forderungen vorgetragen und diese mit der Kritik an Kirche und Gesellschaft verbunden werden, fällt der Widerstreit zwischen empirischer Gesellschaft und Kirche einerseits und einer bekenntnishaft geglaubten und erhofften neuen Gesellschaft und Kirche andererseits auf. Darin manifestiert sich durchaus eine tiefreichende Kritik an der neuzeitlichen Rationalität und ihren Erscheinungsweisen 14 . Ob aber die Ontologie des Noch-nicht-Seins faktisch an dieser Rationalität etwas ändert oder ob sie nicht nur eine sich unterschwellig vollziehende gedankliche Restituierung des mittelalterlichen Corpus-christianum-Gedankens darstellt, wäre noch eingehender zu untersuchen 15 . Immerhin ist der universelle normative Anspruch, der sich in jener Opposition und ihren Protesten äußert, nicht zu überhören. Die Art und Weise, mit der man für seine gedanklichen Konstrukte Wahrheit behauptet und daraus das Recht ableitet, politische und soziale Forderungen und deren Konsequenzen auch solchen verbindlich zumuten zu müssen, die weder an ihrem Zustandekommen beteiligt noch möglicherweise überhaupt Christen sind, bringt Theologie und Kirche in Gefahr, sich zum „praeceptor mundi" zu machen. Dies liefe aber geradezu jener dienenden Funktion zuwider, mittels derer nach dem zweiten Weltkrieg versucht wurde - etwa unter dem Stichwort: gesellschaftliche Diakonie - Ort und Aufgabe der Kirche in der modernen Gesellschaft neu zu bestimmen 16 . Zunehmend deutlicher tritt jedenfalls der Verzicht hervor, politisch gangbare Alternativen aufzuzeigen. Statt dessen wird eine Strategie pauschalierender Totalkritik eingeschlagen. Überdies wird vielfach einer „Aussteigermentalität" gehuldigt, die bisweilen schon apokalyptische Züge trägt. Darin liegt allerdings auch das Symptom einer sich konstruktiven Alternativen immer mehr verschließenden Gesellschaftsstruktur. Nicht zu übersehen ist auch der moralisierende Zug in der Kritik an Kirche, Staat und Gesellschaft. Er ist ein deutlicher Hinweis darauf, wie stark auch die Theologie gerade dort, wo sie ihre eigene Sache betreiben will, von allgemeinen Trends und Methoden beein14

Zu dieser Kritik vgl. aber auch die kritischen Anmerkungen von WALTER SCHULZ: Philosophie in der veränderten Welt. 2. Aufl. Pfullingen 1974, S. 670 ff. 15 Vgl. zu dem damit angesprochenen Problem der Utopie auch ERNST BENZ: Das verlorene und wiederersehnte Paradies. In: G. Schatz (Hg.): Abschied von Utopia? Innsbruck 1 9 7 7 , S . 2 1 1 - 2 5 0 ; T H . MOLNAR: Epistemologie und Utopie, ebd., S. 2 5 1 - 2 6 3 . 14 Zum Begriff der gesellschaftlichen Diakonie vgl. H E I N Z - D I E T R I C H Einführung in die Sozialethik. 2. Aufl. Berlin 1971, S. 50ff.

WENDLAND:

Christian Walther

342

flußt wird. Denn die Moralisierung der Politik gehört ebenfalls zu den Merkmalen des gegenwärtigen öffentlichen Lebens 17 . Dabei kann nicht übersehen werden, welch hohes Maß an Ambivalenz das die bestehende „Unmoral" entlarvende moralische Urteil selbst besitzt, und daß vor allem die „bessere Moral" gerade durch die Tat der sie Vertretenden ständig diskreditiert wird. Aber in diesem Zusammenhang gilt wohl die Auffassung, daß die eigene moralische Position Diskriminierungen legitimiert, deren mindestens aus taktischen Gründen im politischen Kampf nicht entraten werden kann. So gerät die Kritik und der Protest der politischen Opposition, der diese Bemerkungen gelten, schließlich auch immer in den Bannkreis jenes Denkmusters, das als „Selffullfilling-prophecy" bekanntgeworden ist. Gemeint ist damit ein Denken, das die Bedingungen für die Richtigkeit seiner Aussagen ständig gleich mitschafft. Dann kann die Wirklichkeit nicht anders sein, als sie in jener Sicht erscheint und vermittelt wird. Es ist letztlich der Glaube an das, was man sehen will, der diese Haltung diktiert. Ob dies aber schon ausreicht, um Kirche zu schaffen und Welt zu gestalten, muß ebenso fraglich bleiben, wie es bei dem Rat der Fall ist, die Kirche sollte wieder zur Sekte werden, um sich selbst zu finden 18 .

" Dazu jetzt C A R L F R I E D R I C H 4. Aufl. München 1977, S. 116 ff. 18

H . SCHELSKY ( A n m . 3 ) , S .

VON W E I Z S Ä C K E R :

329.

Der Garten des Menschlichen.

Autoren geb. 1 9 2 8 , Dr. theol., Prof. für alte und mittlere Kirchengeschichte an der Universität Aarhus. - Institut for kirkehistorie, Aarhus Universitetet, DK-8000 Aarhus.

JAKOB L . BALLING,

geb. 1929, Dr. phil., Leitender Archivdirektor im Bundesarchiv Koblenz. - Erfurter Str. 34, D-5400 Koblenz. H E I N Z BOBERACH,

PETER WILHELM BOOKMAN, geb. 1 9 2 7 , Prof. für Religionswissenschaft an der Universität Trondheim. - Sendre Eberg gt. 4, N - 7 0 0 0 Trondheim. INGMAR BROHED, geb. 1 9 4 0 , Dr. theol., Prof. für Kirchengeschichte an der Universität Lund. - Avdelningen för kristendomens historia, Lunds Universitetet, Finngatan 1 0 , S - 2 2 3 6 2 Lund.

geb. 1912, 1942-1959 Prof. für den Fachbereich Geschichte an der Universität Aarhus, 1959-1976 Generalkonsul für Dänemark in Flensburg, 1976-1979 Direktor des Instituts für Grenzregionsforschung in Aabenraa. - Vaegterpladsen 1, DK-6200 Aabenraa. TROELS FINK,

geb. 1 9 2 4 , Dr. theol. hábil., Prof. für Kirchengeschichte an der Universität Rostock. - Rostocker Str. 17, DDR-2560 Bad Doberan. GERT HAENDLER,

geb. 1950, Lic. phil., Forscher an der Finnischen Akademie. - Visakoivuntie 10 E 10, SF-02130 Espoo 13. HANNU HEIKKILÄ,

MARKKU HEIKKILÄ, geb. 1 9 4 5 , Dr. theol., Dozent für finnische und skandinavische Kirchengeschichte in Helsinki. - Jukolanahde 4 A 3, SF-02180 Espoo 18. FINN RIBER JENSEN, geb. 1 9 2 1 , Propst für Malt Propstei in der Diözese Ribe. -Westergade 13, DK-6670 Hoisted. KURT JÜRGENSEN, geb. 1 9 2 9 , Dr. phil., Prof. für Geschichte an der Pädagogischen Hochschule und der Universität Kiel. - Kopperpahler Allee 42, D2 3 0 0 Kronshagen/Kiel. GEORG KRETSCHMAR, geb. 1 9 2 5 , Dr. theol., Dr. h. c., Prof. für Kirchengeschichte und Neues Testament an der Universität München. - Pommernstr. 3 2 , D - 8 0 1 2 Ottobrunn.

344

Autoren

INGE LBNNING, geb. 1 9 3 8 , Dr. theol., Prof. für Systematische Theologie an der Universität Oslo. - Niels Treschows Hus, Postboks 1023, Blindem, NOslo 3. KURT MEIER, geb. 1927, Dr. theol., Prof. für Kirchengeschichte an der Universität Leipzig, Leiter des Wissenschaftsbereichs Kirchengeschichte/ Kirchliche Zeitgeschichte. - Wilhelm-Florin-Str. 4, DDR-7022 Leipzig.

geb. 1 9 3 6 , Teol. lie., Dr. phil., Prof. für Kirchengeschichte an der Universität Uppsala. - Teologiska Institutionen, Box 511, S-751 20 Uppsala. INGUN MONTGOMERY,

EINO MURTORINNE, geb. 1 9 3 0 , Dr. theol., Prof. für neueste Kirchengeschichte an der Universität Helsinki. - Temppelikatu 7 A 11, F-00100 Helsinki 10. KURT NOWAK, geb. 1 9 4 2 , Dr. theol., wissenschaftlicher Oberassistent im Wissenschaftsbereich Kirchengeschichte/Kirchliche Zeitgeschichte an der Universität Leipzig. - August-Bebel-Str. 51, DDR-7030 Leipzig.

geb. 1 9 3 1 , Dr. theol., Prof. für Systematische Theologie an der Universität München. - Linastr. 3, D-8000 München 71.

TRUTZ RENDTORFF,

geb. 1932, Dr. phil., Prof. für mittlere und neuere Geschichte an der Universität Göttingen. - Grotefendstr. 30, D-3400 Göttingen. RUDOLF VON THADDEN,

geb. 1 9 2 1 , Prof. für Kirchengeschichte an der Universität Aarhus. - Institut for kirkehistorie, Aarhus Universitetet, DK-8000 Aarhus.

ANDERS PONTOPPIDAN THYSSEN,

CHRISTIAN WALTHER, geb. 1 9 2 7 , Dr. theol., Prof. für Systematische Theologie und Sozialethik an der Hochschule der Bundeswehr Hamburg. - Herkenkrug 3 5 , D - 2 0 0 0 Hamburg 6 7 .

Herausgeber

geb. 1 9 3 4 , Dr. theol., Akademischer Oberrat am Institut für Kirchengeschichte der Universität München, Geschäftsführer der Ev. Arbeitsgemeinschaft für kirchliche Zeitgeschichte. - Simbeckstr. 12, D8120 Weilheim. CARSTEN NICOLAISEN,

Index Aalborg 28 Aalen, Leif (geb. 1906), Systematiker 61, 72 Aarhus 58, 61 Abendland 113,310 Abendmahl 31, 61, 70, 89, 132, 147 Àbo 61, 63 - vgl. auch Turku Absolutismus 18, 272 Adel 272, 329 Adenauer, Konrad (1876-1967), Bundeskanzler 332 Afrika 147 Ahlberg, Alf (geb. 1892), Rektor 208 Alanen, Yrjö J. E. (1890-1960), Theologe 81 Albertz, Heinrich (geb. 1915), Pfarrer; Staatsminister 34 Alliierte 137, 139 Alliierter Kontrollrat 127 Allmänna svenska prästföreningen 205 f. Alsensund 91 Alte Kirche 132 Altenstein, Karl von (1770-1840), preußischer Kultusminister 298 Althaus, Paul (1888-1966), Systematiker 206 Altkirchlichkeit 205 Altlutheraner 124 Altonaer Bekenntnis 143, 243 f. Altpreußen vgl. Bekennende Kirche; Bruderräte; Evangelische Kirche der (Altpreußischen) Union; Unionskirchen Altprotestantismus 304 Amerika - Kirche 76 Amsterdam - Weltkirchenkonferenz (1948) 104 Amt 134f., 149, 175, 220, 246, 312 - vgl. auch Ordination Amtshandlungen 100, 120 Ancien Régime 319, 325 Andersen, Knud Berge (geb. 1914), Folketing-Präsident 105

Andersen, Niels Knud (geb. 1916), Kirchenhistoriker 64, 73 Andrén, Carl-Gustav (geb. 1922), Praktologe 65, 73 Anglikanische Kirche 78 Anklam 56 Antiklerikalismus 279, 287 Antikominternpakt 20 Antisemitismus 237 - vgl. auch Juden(frage) Apartheid 149 Apenrade 27, 115 Apostolikum 132 Appeldoorn 215 Arbeiter, Arbeiterfrage 249, 284f., 306 ff., 329 Arendt, Hannah (1906-1975), Philosophin 269 Armenpflege 211 Arnoldshainer Thesen 61, 147 - vgl. auch Abendmahl Aronson, Harry (geb. 1926), Praktologe 72 Asien 147 Asmussen, Hans (1898-1968), Pastor 97 f., 101, 120, 128 f., 131, 134 f., 141 f., 182f., 234, 243ff., 259ff. Athanasianum 132 Atomrüstung 113, 337 f. Auferstehung 53 Aufklärung 153, 198, 274, 322 Augsburg - Bekenntnissynode der DEK (1935) 188 Augsburgische Konfession vgl. Confessio Augustana Augustinus, Aurelius (354—430), Kirchenlehrer 48 Aulén, Gustaf (1879-1977), Systematiker; Bischof 42 ff., 206 ff., 227, 287 Ausbildung 312 Auslandskirchen 195 - vgl. auch Dansk kirke i Utlandet Ausnahmezustand 27 Auswärtiges Amt 27, 214, 222 f.

346

Index

Bachrach, Peter (geb. 1918), Politologe 264 Baden - Volkskirchenbund 171 Bad Oeynhausen 234 - Bekentnissynode der DEK (1936) 188 Balkan 75 Baltikum 213 Bandt, Hellmut (1917-1976), Systematiker 58, 64 ff., 71, 73 Baptisten 88, 205, 276 Baratz, Morton Sachs (geb. 1923), Politischer Ökonom 264 Barmen - Bekenntnissynode der DEK (1934) 134, 240, 245 f. - Theologische Erklärung 66, 132, 145, 291 Barth, Carola (1879-?), Pädagogin 257 Barth, Karl (1886-1968), Systematiker 128, 134 f., 142f., 148, 173, 175ff., 183ff., 191, 194f., 239, 246, 248f., 283, 296, 335 Barth, Markus (geb. 1915), Neutestamentler 62, 72 Basisgemeinde 339 Bauernbund (Bondeförbundet) 201, 204 Bauerndemokratie 23 Bauerngesellschaft 18 Bauernpartei 201 Baumann, Eberhard (1871-1956), Konsistorialrat 182 Bayern 139 - Landeskirche 127 Beckmann, Joachim (geb. 1901), Pfarrer 127, 247 Beckow, Natanael (1865-1953), Pfarrer; Pädagoge 204 Bekehrung 274 Bekennende Kirche; Bekenntniskirche 123, 125 ff., 134, 138, 140ff., 144 ff., 148, 173f., 179, 181 ff., 190f., 194 ff., 221 f., 229, 233, 236, 239ff., 248, 250 f., 254, 256f., 261, 286, 293, 301 - vgl. auch Barmer Theologische Erklärung; Bruderräte; Kirchenkampf Bekenntnis, Bekenntnisschriften 40, 103, 126, 131 ff., 135, 139, 142 f., 168, 172, 182, 188, 199, 278, 284, 287f., 291, 295f„ 316, 339

- vgl. auch Konfessionen; Reformation Bekenntnissynoden 121, 134, 188, 235, 237, 241,247, 333 - vgl. auch Augsburg; Bad Oeynhausen; Barmen; Breslau; Dahlem; Halle; Kiel; Spandau - vgl. auch Bekennende Kirche; Bruderräte; Kirchenkampf Bell, George (1883-1958), Bischof 34, 215,261 Benckert, Heinrich (1907-1968), Systematiker 58 f., 72 Berggrav, Eivind (1884-1959), Bischof 206, 213f., 221, 224, 242, 261, 283 Berlin 55, 108, 124, 213, 318, 321 - vgl. auch Dahlem; Spandau - Kirchliche Hochschule 249 Berneuchner Bewegung 307 Bernhardt, Karl-Heinz (geb. 1927), Alttestamentler 59 ff., 63, 72 Berning, Wilhelm (1877-1955), Bischof 240 Besatzungsherrschaft, Besatzungsmächte 24, 27, 32, 93f., 96, 102f., 137, 139, 144, 195, 212, 217f„ 318, 321, 328, 332 - vgl. auch Okkupation Bessarabien 139 Best, Werner (geb. 1903), SS-Obergruppenführer 28 Bethge, Eberhard (geb. 1909), Theologe 230, 260 Bibelstunden 32 Bibeltrogna Vänner 205 Billing, Einar (1871-1939), Systematiker; Bischof 43, 62, 205, 279, 281 f. Birkner, Hans-Joachim (geb. 1931), Systematiker 65, 73 Bismarck, Otto von (1815-1898), Reichskanzler 91, 140 Bizone 137 Björkquist, Manfred (geb. 1884), Direktor der Sigtuna-Stiftung; Bischof 281 Bjernson, Bjernstjerne (1832-1910), Dichter 279 Bloch-Hoell, Nils E. (geb. 1915), Kirchenhistoriker 67, 74 Blut und Boden 55, 108 Bodelschwingh, Friedrich von (1877-1946), Pastor; Reichsbischof 32, 237, 254

Index Boegner, Marc (1881-1970), Kirchenpräsident 215 Bohlin, Torsten (1889-1950), Bischof 208 Bolschewismus 108, 222, 239 Bonapartismus 267 f. Bonhoeffer, Dietrich (1906-1945), Theologe 138, 187, 232, 248, 296, 300 Bonifatius-Winfrid (673-754), Erzbischof 123 Bonn 319 Bonn-Kopenhagener Erklärungen 104, 116 Brikenhielm, Carl-Reinhold (geb. 1945), Systematiker 69, 74 Brandes, Georg (1842-1927), Dichter 279 Brandin, Theodor (1859-1926), Superintendent 56 Brandt, Otto (1892-1935), Historiker 92 Branting, Hjalmar (1860-1925), Staatsminister 201 Breit, Thomas (1880-1966), Pfarrer 236 Bremen 126 Breslau 124, 135 - Bekenntnissynode der Ev. Kirche der APTJ (1943) 134, 241,247 Brill, Ernst-Heinrich (geb. 1892), Dermatologe; Universitätsrektor 254 Bring, Ragnar (geb. 1895), Systematiker 42ff., 49, 59f., 71 British Broadcasting Corporation (BBC) 76 Bruderräte 130, 134f., 140, 166, 187f„ 194, 235 f., 249 - vgl. auch Bekennende Kirche; Bekenntnissynoden; Reichsbruderrat Bruderschaft 205 Brunner, Emil (1889-1966), Systematiker 28 Brunner, Peter (1900-1981), Pfarrer 247 Brunstäd, Friedrich (1883-1944), Systematiker 255 Bülck, Walter (1891-1952), Praktologe 173 f. Bünde/Westfalen 101 Bürgerinitiativen 338 Bürgerkrieg (1917/18) 283 - vgl. auch Finnland Buhl, Vilhelm (1881-1954), Staatsminister 93

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Bultmann, Rudolf (1884-1976), Neutestarnender 280, 300 Bund der Ev. Kirchen in der D D R 143 Bund deutscher Nordschleswiger 93 Bund für deutsche Kirche 180 Bundesrepublik Deutschland 92, 122, 146, 152, 197, 305, 318, 332, 336 Buße 143, 145, 148 Calvinismus 133 Cambridge 258 Canterbury - Erzbischof von 97 f., 101 Caritas 48 Carlsen, Ruth (geb. 1937), Historikerin 255 Chauvinismus 31 Chichester 34 Christian X (1870-1947), König 91 Christiania Indremission 275 Christlich Demokratische Union (CDU) 324, 327, 332 Christlich-Deutsche Bewegung 180 „Christliches Volksblatt" 171 „Christliche Welt" 255 ff. Christologie 53, 177, 184 Christophori-Synode 129 Church of England - Council of the Foreign Relations 75 Confessio Augustana 70, 132, 183, 290 Confessio Virtembergica 132 f. Control Commission for Germany 96, 101 - vgl. auch Besatzungsherrschaft Corpus christianum 337, 341 cuius regio, eius religio 156 Cullberg, John (geb. 1895), Bischof 208 f. Dänemark 13ff., 2 7 f f „ 58f., 86ff., 91 ff., 109f., 155, 162f., 212, 217ff„ 224, 272ff., 288 - König 19,21,91,272 - Regierung 14, 19f., 21, 27, 86, 94, 119,218,220 - Reichstag 19, 21, 102 - vgl. auch Folketing - Sozialministerium 29, 32 - Kirchenministerium 86 f. - Kirchenverfassung 280 - Volksvertretung 288

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Index

Dahlem - Bekenntnissynode der DEK (1934) 127, 186, 196, 233, 236f., 240, 249, 261 - vgl. auch Notrecht - Bekenntnissynode der Ev. Kirche der APU (1935) 237 Dahrendorf, Ralf (geb. 1929), Politologe 267 Daneil, Gustaf Adolf (geb. 1906), Dompropst 287 Danielsen, Schulrat 105 Dansk Kirke i Sydslesvig 117, 120 Dansk Kirke i Udlandet 93, 100 f., 103, 105, 117 Dansk Ungdomssamvirke (DU) 15 ff., 218 Danzig 124 - Konsistorium 32 Darmstädter Wort 142, 144 ff. Dehn, Günther (1882-1970), Pfarrer 247 Delekat, Friedrich (1892-1970), Systematiker 185 Delp, Alfred (1907-1945), Pater 232 Demokratie 14ff., 23, 87, 136, 149, 162, 166, 198, 208 f., 250, 277, 280, 302ff., 305 ff., 322, 324, 326f., 330 f. Demokratisierung 170, 284f., 288 Denkschriften 146, 148, 334 Detmolder Kreis 129ff., 136 - vgl. auch Luthertum; Unionskirchen Deutsche Christen 97, 123, 125 ff., 179ff., 189ff., 233, 237, 239, 257, 265 - vgl. auch Kirchenkampf Deutsche Demokratische Partei (DDP) 259, 325, 330 Deutsche Demokratische Republik (DDR) 59, 197, 291, 309, 316, 318, 332 Deutsche Evangelische Kirche (DEK) 127, 130 f., 135, 245 - vgl. auch Bekennende Kirche; Kirchenkampf „Deutsche Nachrichten" 33 Deutscher Evangelischer Kirchenausschuß 242 Deutscher Lutherischer Tag 254 - vgl. auch Luthertum Deutsche Volkspartei (DVP) 324, 330 Deutschgläubigkeit 253 Deutschland vgl. Bundesrepublik; Deut-

sche Demokratische Republik; Evangelische Kirche in Deutschland Deutschnationale Volkspartei (DNVP) 234ff., 238, 324, 330 Diakonie 174, 282, 286, 336, 341 Diakonisches Werk 315 diakonistyrelsen 287 Dialektische Theologie 13, 44, 123, 152 f., 173, 175 ff., 193, 311, 323 Diasporagemeinden 139 Dibelius, Otto (1880-1967), Generalsuperintendent; Bischof 141, 157f., 169, 172, 175, 193, 298, 331 f. Diem, Hermann (1900-1975), Pfarrer 123, 145 Diktatur 327 f. - vgl. auch Drittes Reich; Nationalsozialismus; Totalitarismus Dirks, Walter (geb. 1901), Publizist 326 Dissidenten 276 Dreiständelehre 200 Dresden - Kirchentag (1919) 168 Drittes Reich 146, 179, 228 ff., 304, 318 - vgl. auch Kirchenkampf; Nationalsozialismus Edén, Nils (1871-1945), Historiker; Politiker 201 Edinburgh 52, 54 Eidem, Erling (1880-1972), Erzbischof 42, 206, 223, 261 Eider 91, 107 Eigengesetzlichkeit 207, 242 Einheitskirche 313 ff. Einheitssekreteriat 147 - vgl. auch Kirche, römisch-katholische Eisenach 130, 332 Ekklesiologie 51 ff., 292, 305 Eldres Raad 15 Engberg, Arthur E. (1888-1944), Journalist; Politiker 204 England 75 ff.,214 f., 276 - Regierung 34, 95 f., 102 - vgl. auch Foreign Office - British Ministry of Information 75 ff. - vgl. auch Militärregierung Entkirchlichung 284 Entkonfessionalisierung 325 Entmythologisierung 300 Entnazifizierung 25, 137 Entpolitisierung 258

Index Entwicklungsländer 337 Episkopat vgl. Kirche, römisch-katholische Erfahrungstheologie 69 Erfurter Programm 202 f. - vgl. auch Sozialdemokratie Erikson, Erik (geb. 1902), Psychoanalytiker 60 Erkenntnistheorie 46 Erlangen 69 Ermland 124 Erweckungsbewegungen 14, 36, 79, 153 ff., 163, 205, 211, 273 ff., 285 - vgl. auch Pietismus Esbjerg 28 Eschatologie 338 Estland 139, 329 Ethik 46, 49ff., 57, 64 - vgl. auch Sozialethik; Staatsethik Euthanasie 264 Evangelisation 111, 275, 283 Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) 29, 34, 129 ff., 139, 143, 147 f., 297, 301,314, 332 - Rat 134, 138 ff., 145 - Kirchenkanzlei 32, 96 f., 128 - Synode 291 Evangelische Kirche der (Altpreußischen) Union 130, 291 Evangelischer Presseverband für Westfalen und Lippe 235 Evangelisches Hilfswerk für Kriegsgefangene und Internierte 138 Evangelisch-Sozialer Kongreß 307, 315 Evangeliska fosterlandsstiftelsen 205, 275 Exilkirchen 139 „Exodus" 88 - vgl. auch Freikirchen Faith and Order 52, 54 - vgl. auch Ökumene Fakultäten, theologische 58 ff., 63 f., 67, 152, 160, 164, 173,283 - vgl. auch Aarhus; Abo; Greifswald; Heidelberg; Helsinki; Kiel; Kopenhagen; Lund; Oslo; Rostock; Uppsala; Warschau Faschismus 184, 196, 267f., 333 - vgl. auch Drittes Reich; Nationalsozialismus Feldprediger 285

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Feudalismus 18 Feuerbach, Ludwig (1804-1872), Philosoph 113 Fink, Troels (geb. 1910), Historiker 94 f., 107 Finnland 58, 75ff„ 79ff., 163, 212ff., 221 ff., 272ff., 282 ff., 329 Fjellin, Arne (1890-1962), Dompropst 220 Fleisch, Paul (1878-1962), Vizepräsident 131 f. „Flensborg Avis" 94, 109 Flensburg 93, 96, 101 ff., 105, 108 Flor, Wilhelm (1886-1938), Reichsgerichtsrat 236 Flüchtlinge 27, 32f„ 95f., 100, 102, l l l f . , 114, 139f., 225, 320 Foerster, Erich (1865-1945), Pfarrer 258 Folketing 92 f., 95 - vgl. auch Dänemark Foreign Office 97, 214 - vgl. auch England Forhandlingspolitik 14 - vgl. auch Besatzungsherrschaft Francke, Johannes (1904-1976), Superintendent 242 Frank, Franz Hermann Reinhold (1827-1894), Theologe 69 Frankfurt/M. 257 Frankreich 214, 279 Französische Revolution 244 Frasch, Karl (1868-1957), Pfarrer 239 Frauenkreise 32 Frauenordination 161, 287 Fredericia 103 Freiburg/Breisgau 291 Freidenker 326 Freie Demokratische Partei (FDP) 324 Freier Deutscher Gewerkschaftsbund 59 Freier Protestantismus 169, 258, 298, 301 Freiheit 56, 146, 244, 295, 305, 339 Freiheitskrieg (1917/18) 283 - vgl. auch Finnland Freikirchen 29, 36, 40, 52, 88, 115, 133, 182ff., 203 f., 210, 239, 276, 279 - vgl. auch Sekten Freiwilligkeitskirche 293 Fremdherrschaft 14 ff., 319 Frick, Wilhelm (1877-1946), Reichsinnenminister 237

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Index

Fridrichsen, Anton Johnson (1888-1953), Neutestamentler 51 Frieden 109, 319, 339 Frisinnade Folkpartiet 202 f. Fritzsche, Helmuth (geb. 1929), Systematiker 65, 68, 70, 73 f. Fürbitte 243 Fuglsang-Damgaard, Hans (1890-1979), Bischof 34, 218 Fundamentalismus 287 ff. Gastpary, Woldemar (geb. 1908), Kirchenhistoriker 62, 64, 72 f. Geheime Staatspolizei (Gestapo) 32, 188 Geiger, Max (1921-1978), Kirchenhistoriker 262 Gemeindefakultät 283 Gemeinden 138 f., 147, 149, 175, 179, 288, 309, 339f. Gemeinschaftsschule 325 Genf 34, 102,214 Gerhardsson, Birger (geb. 1926), Neutestamentler 63 f., 72f. Gerstenmaier, Eugen (geb. 1909), Konsistorialrat 138, 214 Geschichtstheologie 98, 107, 119, 247 Gesellschaft 17, 38 f., 42, 50, 55, 81, 84, 122, 143, 145, 156 ff., 160 f., 173, 198, 210 f., 219, 265 ff., 277, 293, 302, 306ff., 313, 320f., 324, 327, 332f., 336 ff. Gesetz und Evangelium 64, 71, 133, 181, 245 Gewerkschaften 201, 277, 287, 300 Glaubensfreiheit 302 Glenthej, Jorgen (geb. 1922), Pfarrer 142 f. Gloege, Gerhard (1901-1970), Systematiker 181 ff. Gnade 24, 37, 41, 133 Goebbels, Joseph (1897-1945), Reichspropagandaminister 240 Goerdeler, Karl (1884-1945), Oberbürgermeister 248, 266 Görnandt, Werner (1893-1969), Propst 29 Goslar 332 Gottesdienst 30ff., 89, 134, 220, 282 Grane, Leif (geb. 1928), Kirchenhistoriker 65, 68, 73 f. Gregor VII (1021-1085), Papst 123 Greifswald 58 ff., 61, 68, 71 ff., 191

Grenzland 91, 102, 104 f., 114, 119 - vgl. auch Schleswig-Holstein Greschat, Martin (geb. 1934), Kirchenhistoriker 136 Grönvik, Lorenz (geb. 1930), Kirchenhistoriker 67, 74 Groß, Erwin (geb. 1901), Pfarrer 141 Großmächte 18 Groß Rosen 135 Grüber, Heinrich (1891-1975), Pfarrer 34 f. Grüneisen, Karl (1871-1941), Pfarrer 186 Grundtvig, Nicolai F. S. (1783-1872), Prediger und Historiker 15, 22, 97, 103, 108, 120, 162, 180, 275f. Grundtvigianismus 278 f., 288 f. Grundwerte 46 f. Güstrow 64, 71, 73 f. Gummerus, Jaako (1870-1933), Bischof 282 Gwynne, J. N. W., Leiter der Religious Äffairs Branch 101 Gyllenkrok, Axel (geb. 1910), Systematiker 159 f. Hadersleben 115 Haeckel, Ernst (1834-1919), Zoologe 113 Hägglund, Bengt (geb. 1920), Systematiker 65, 71, 73 f. Haendler, Gert (geb. 1924), Kirchenhistoriker 61, 63, 65, 68, 72 f. Härnösand 208 Haikola, Lauri (geb. 1917), Systematiker 61,72 Halfmann, Wilhelm (1896-1964), Bischof 33, 91 f., 96ff., 103 ff., 107, 117f., 120 f. Halle - Bekenntnissynode der Ev. Kirche der APU (1937) 132 Hallesby, Ole (1879-1916), Professor 221,283 Hansen-Petersen, Peter (geb. 1900), Propst 106 Hansson, Per Albin (1885-1946), Politiker 202 f.Harhausen, Berthold (1878-1968), Konsistorialrat 32 Harjunpää, Toivo (geb. 1910), Pfarrer 77

Index H a r m s , Claus (1778-1855), Pastor 62 H a r n a c k , Adolf von (1851-1930), Kirchenhistoriker 22 H a r t m a n n , Lars (geb. 1930), Neutestamentler 71, 74 Hassel, Kai Uwe von (geb. 1913), Ministerpräsident 105 Hasselmann, Karl (1898-1975), Propst 96, 100 f f . Hassinen, Leino (geb. 1924), theol. lie. 82 H a u f e , G ü n t e r (geb. 1931), Neutestamentler 67, 70, 73 f. H a u g e , H a n s Nielsen (1771-1824), Laienprediger 275 H a u g e , Martin R. (geb. 1937), Alttestamentler 70, 74 H e a d l a m , Arthur C. (1862-1947), Bischof 75, 77 Heckel, T h e o d o r (1894-1967), Bischof 138, 221 ff. H e d t o f t , H a n s (1903-1955), Ministerpräsident 96, 102 Heidelberg 151 Heidrich, Peter (geb. 1929), Religionswissenschaftler 71, 74 Held, Heinrich (1897-1957), Präses 134 Hellenismus 22 ff., 47 Helsinki 58, 63, 67, 72 H e n d e r s o n , William Watson Lord (geb. 1891), Unterstaatssekretär 102 H e r d e r , J o h a n n Gottfried (1744-1803), Philosoph 99, 115 H e r m a n n , Rudolf (1887-1962), Systematiker 190 ff. H e r r n h u t 274 H e r t r a m p f , Paul O t t o , Landessekretär 105 H e r z , Johannes (1877-1960), Sozialpädagoge 257 H e y , Bernd (geb. 1942), Historiker 237 Hilbert, Gerhard (1868-1935), P r a k t o loge 174 Hildebrandt, Bernd (geb. 1940), Systematiker 71,74 Hildebrandt, Franz (geb. 1909), P f a r r e r 186 Hildebrandt, Friedrich (1898-1948), Gauleiter 254 Hilfskomitees 139 - vgl. auch Flüchtlinge Hilfswerk der E K D 138

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Himmler, Heinrich (1900-1945), NSFührer 236 Hirsch, Emanuel (1888-1972), Systematiker 180 Hitler, Adolf (1889-1945), NS-Parteif ü h r e r Reichskanzler 76, 112 f., 140, 143, 214, 219, 222, 234ff., 239f., 252, 318, 320ff., 325, 328, 333 Hitler-Jugend 219 Hitler-Stalin-Pakt 20 Hochkirche 205, 282, 284, 287 ff. H ö g e r n 201 H0gsbro, H a l f d a n (1894-1976), Bischof 28 ff., 104 H o f , H a n s (geb. 1922), Religionswissenschaftler 68, 71, 74 H o f f m a n n , Georg (geb. 1902), P r a k t o loge 63, 72 Hohenzollern 324 Holl, Karl (1866-1926), Kirchenhistoriker 49 Holland 195 H o l m , Niels Gustav (geb. 1943), Religionswissenschaftler 65, 73 Holocaust 144 - vgl. auch J u d e n f r a g e Holstein 95 f. - H e r z o g t u m 91 Holte, Ragnar (geb. 1927), Systematiker 64, 70, 73 f. H o l t z , Gottfried (geb. 1899), Praktologe 59 ff., 64, 72 f. H o l t z , T r a u g o t t (geb. 1931), Neutestamentler 65, 73 Hüttenberger, Peter (geb. 1938), Politologe 263 Hugenotten 112 Humanismus, H u m a n i t ä t 240 f., 252, 256f., 260, 270, 337 H u m b u r g , Paul (1878-1945), P f a r r e r 236 H y g e n , J o h a n (geb. 1911), Systematiker 64, 73 Hyldahl, Niels (geb. 1930), Neutestam e n t l e r 6 8 , 74

Ibsen, H e n r i k (1828-1906), Dichter 279 Idealismus 51, 277, 280 Ideologie 24, 31, 42, 99, 108, 126, 244, 264,308 Imperialismus 324

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Index

Industrialisierung 167, 200, 210, 268, 284, 306, 333 Innere Mission 165, 275f., 280, 289, 315 Internierungen 21 - vgl. auch Flüchtlinge Irrlehre 133 - vgl. auch Deutsche Christen Israel 147 Italien 13 Jacob, Günter (geb. 1906), Pfarrer 185 f. Jäger, Rudolf (1903-1978), Architekt 245 Järvenpää 67, 73 Jan, Julius von (1897-1964), Pfarrer 241 Jensen, Otto (1856-1918), Kirchenminister; Bischof 37 Jepsen, Alfred (1900-1979), Alttestamentler 58 f., 64 f., 72 f. Jervell, Jacob (geb. 1925), Neutestamentler 65, 73 Jessen, Friedrich (geb. 1901), Pastor 106 Jorgensen, Ruben (geb. 1943), Pastor 87 f. Johannsen, Peter Iver, Generalsekretär 105, 109 f. Johnson, Gisle (1822-1892), Theologe 275 Juden(frage) 30, 32, 99, 115, 218, 220, 224, 239, 241 Jutland 272 Jugend(arbeit) 15f., 20, 218, 226, 282, 285 f. Jugendbewegung 280, 340 Jugoslawien 139 Juhl, Eduard (1884-1975), Propst 100 Jung, Carl Gustav (1875-1961), Psychologe 71 Jungkirchliche Bewegung 282 Jungkonservativismus 234, 238, 243 ff., 252 Jungreformatorische Bewegung 253 Kähler, Ernst (geb. 1914), Kirchenhistoriker 60, 71 Kähler, Heinrich (1874-1941), Hauptpastor 98 Käsemann, Ernst (geb. 1906), Neutestamentler 150 f., 247 Kaftan, Julius (1848-1926), Generalsuperintendent 167

Kaila, Erkki (1867-1944), Bischof 77, 215, 282 Kaiserreich 166, 318, 324f., 329 Kant, Immanuel (1724-1804), Philosoph 43 Kapelrud, Arvid (geb. 1912), Neutestamentler 68, 74 Kapier, Hermann (1867-1941), Präsident des Deutschen Ev. Kirchenausschusses 166 Karpaten 111 Karwehl, Richard (1885-1979), Pfarrer 178 Kassuben 112 Kasualien 284 Katholizismus vgl. Kirche, römisch-katholische Kehnscherper, Günther (geb. 1929), Praktologe 68, 74 Kerrl, Hanns (1887-1941), Reichskirchenminister 128, 190, 236 Kieffer, René (geb. 1930), Neutestamentler 65 Kiel 58, 173 - Bekenntnissynode (1935) 121 Kieler Erklärung 102, 104 Kierkegaard, Sören (1813-1855), Philosoph 162, 280 Kiesow, Ernst-Rüdiger (geb. 1926), Praktologe 65, 67ff., 71, 73f. Kilström, Bengt I. (geb. 1922), Praktologe 64, 73 Kirche, evangelische vgl. Bekennende Kirche; Deutsche Ev. Kirche; Ev. Kirche in Deutschland; Kirchenkampf; Landeskirchen; Luthertum; Reformierte; Reichskirche; Vereinigte Ev.Luth. Kirche Deutschlands - vgl. auch Dänemark; Finnland; Norwegen; Schweden Kirche im Sozialismus 309 Kirche, römisch-katholische 32 f., 89, 123, 133, 135, 138, 155, 176, 240 Kirchenausschüsse 128, 189, 236 - vgl. auch Bekennende Kirche; Kirchenkampf Kirchenaustritte 204, 298, 300 Kirchendienst für internierte Flüchtlinge 28

Kirchenführerkonferenz 240 Kirchengemeinschaft 132 f. Kirchenkampf 39f., 55f., 123ff., 144f.,

Index 158, 188, 194, 204, 212, 218ff., 224ff., 229, 304 ff. - vgl. auch Bekennende Kirche; Deutsche Christen; Deutsche Ev. Kirche; Nationalsozialismus; Norwegen Kirchenlieder 273 Kirchenministerium - Dänemark 29, 86f., 288 - Norwegen 164, 220 Kirchenordnung 36, 40 f., 130, 135, 148 Kirchenrecht 139, 177 Kirchenreform 170, 175, 177, 292 Kirchenregiment 175, 187, 193, 285 Kirchensteuern 86f., 285 Kirchentage 315, 333 - Dresden (1919) 168 - Stuttgart (1921) 167 Kirchenverfassung 37, 127, 280 - vgl. auch Dänemark; Finnland; Norwegen; Schweden Kirche und Staat 56f., 161, 183ff., 198ff., 226f., 255, 265, 281, 286f„ 302 ff., 313, 324 f. Kirchliches Außenamt 138, 214, 223 - vgl. auch Deutsche Evangelische Kirche; Evangelische Kirche in Deutschland Kirchliches Einigungswerk 129, 237, 241,250 - vgl. auch Kirchenkampf „Kirke og kultur" 37, 283 Kittowski, Elisabeth, geb. Fuchs (1907-1939) Malerin, 256 Kjärbol, Johannes (1885-1973), Minister 34 Klassenkampf 171, 203, 267 Klerikalisierung 160 Klotz, Leopold (1878-1956), Verleger 255 Klüver, Wilhelm, Historiker 92 Koch, Hai (1904-1963), Kirchenhistoriker 13ff., 218 Koch, Karl (1876-1951), Superintendent 234ff., 241, 243, 259ff., 263, 266 Könige vgl. Dänemark; Norwegen; Schweden Königsau 91 Königsherrschaft Christi 140, 338 Kogon, Eugen (geb. 1903), Publizist 327 Kollaboration 27 Kommunismus, kommunistische Parteien 20, 201 f., 210, 308,325

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Konferenz der Landesbruderräte 240 - vgl. auch Bekennende Kirche; Bruderräte; Kirchenkampf Konfessionalismus 190, 200 Konfessionen 140, 142, 146, 151 ff. - vgl. auch Bekenntnis; Reformation Konfessionsschule 325 Konfirmandenunterricht 32 Kongregationalismus 176 Konkordienformel 143 - vgl. auch Leuenberger Konkordie Konservativismus 166, 234, 286 Konstantin (306-377), Kaiser 271 Konventikelverordnung 276 Konzentrationslager 27, 135 Konzil - Trient 133 Kopenhagen 13, 28 f., 32, 34, 58, 68, 74 Kortekangas, Paavo (geb. 1930), Bischof 65 „Kotimaa" 77, 79 ff. Krakau 108 Kriege - 1864/1866:91 - vgl. auch Nachkriegszeit; Weltkriege; Winterkrieg; Zwischenkriegszeit Kriegsschuldlüge 144 „Kristelig Dagblad" 79 „Kristen Gemenskap" 206, 224 Kristensen, Knud (1880-1962), Staatsminister 94 f. kritische Theorie 337 Kronika, Jakob (1897-1982), Journalist 108,112 Krüger, Gustav (1862-1940), Kirchenhistoriker 257 Kuessner, Dietrich (geb. 1934), Pfarrer 228 Kultur 16f., 208, 279, 310ff. Kulturkampf 165 Kulturprotestantismus 158, 170, 177 Kulturreligion 41 Kultus 172, 174 - vgl. auch Bekenntnis Kunst, Hermann (geb. 1907), Bischof 129 Kyndal, Erik (geb. 1930), Systematiker 67, 73 Kyrkomöte 277 Laestadius, Lars Levi (1800-1861), Pfarrer 275 f.

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Index

Lärkulla/Karis 63, 72 Lager 27f., 30, 34 - vgl. auch Flüchtlinge; Konzentrationslager Laien 170, 274ff., 285f., 331 Laitinen, Toivo (1905-1977), Feldbischof 81 Lammers, Heinrich (1879-1962), Chef der Reichskanzlei 240 landesherrliches Kirchenregiment 165, 313, 328 - vgl. auch Summepiskopat Landeskirchen 124, 127, 129, 133, 136, 139, 165, 168 f., 180, 184, 187ff., 193, 271, 313f., 336 Landesverband der Gemeinden 288 Landesverräter 25 Landmannspartei 200 landwirtschaftlicher Reichsverband 201 Lang, Cosmo Gordon (1864-1944), Erzbischof 77 Langemarck 252 Larsson, Edvin (geb. 1925), Neutestamentler 62, 72 Lauha, Aarre (geb. 1907), Alttestamentler 82 Lausanne 52 Lebensanschauung 156 ff., 161 - vgl. auch Weltanschauung Lebensraum 108 Leder, Hans-Günther (geb. 1930), Kirchenhistoriker 69, 74 Lehmann, Peter, Realschullehrer 27 Lempiainen, Pentti (geb. 1932), Praktologe 67, 74 Lenin, Wladimir Iljitsch (1870-1924), Politiker 113 Le Seur, Paul (1877-1963), Evangelist 178 Lettland 139 Leuenberger Konkordie 147 Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD) 259 Liberale Bauernpartei 278 Liberale Partei 280 f. Liberalismus 190, 200, 231, 234, 243, 255ff., 276ff., 281, 283 f., 286, 307 Lichtfreunde 298 Life and Work 52 - vgl. auch Ökumene Lindeskog, Gösta (geb. 1904), Neutestamentler 65, 72 f.

Lindhardt, Poul Georg (geb. 1910), Kirchenhistoriker 153 f. Lippe 235 Litauen 112 Litteil, Franklin H. (geb. 1917), Theologe 233 Liturgie 246 Liturgische Bewegung 340 Löfgren, David (geb. 1924), Systematiker 68 Logstrup, Knud Ejler (1905-1981), Systematiker 59 ff., 64, 71 ff. Lenning, Inge (geb. 1938), Systematiker 68,74 Lövestam, Evald (geb. 1921), Neutestamentler 62, 72 Lohff, Wenzel (geb. 1925), Systematiker 292 Lorentzen, Johann (1881-1949), Propst 100 Ludlow, Peter, Historiker 261 Lücking, Karl (1893-1976), Pfarrer 237 Lügumkloster 104 Lüninck, Ferdinand Freiherr von (1888-1944), Oberpräsident 237 Lund 43, 51, 55, 58 ff., 72 f., 104, 153, 159f., 205, 282 Lundenser Theologie 42ff., 152 Luther, Martin (1483-1546), Reformator 2 3 f „ 43f., 48f., 58ff., 88f., 103, 109, 140, 153 f., 180, 199, 206, 271, 274, 280, 304 Luther-Agricola-Gesellschaft 221 Lutherakademie 206 Lutherdeutsche 179 Lutherischer Pakt 254 Lutherischer Rat 254 Lutherischer Weltbund 54, 58, 104, 147, • 149,228 - Deutsches Nationalkomitee 291 Lutherischer Weltkonvent 206 Lutherrat 133, 140 - vgl. auch Rat der Ev.-Luth. Kirche Deutschlands Lutherrenaissance 49 Lutherstiftelsen 275 Luthertum 23f., 36, 39, 54, 56f., 76f., 88, 127, 130, 133, 136, 150ff., 174, 187, 206, 228ff., 273ff., 295, 304f. - vgl. auch Vereinigte Ev.-Luth. Kirche Deutschlands

Index Macchiavellismus 269 Marahrens, August (1875-1950), Landesbischof 236 Martyrium 111 Marxismus 145, 202 - vgl. auch Sozialismus; Kommunismus Marx, Karl (1818-1883), Philosoph 113 Massenmedien 284 Masuren 112 Materialismus 145 - vgl. auch Marxismus Mecklenburg - Kirche 126, 254 Meinhold, Peter (1907-1981), Kirchenhistoriker 31 Meiser, Hans (1881-1956), Landesbischof 128, 130, 134, 141, 187 Menschenrechte 56, 220 Mensing, Carl (1876-1953), Rechtsanwalt 258 Merz, Georg (1892-1959), Systematiker 131 Methodisten 124, 276 Militärregierung 93, 102f., 137 - vgl. auch Besatzungsherrschaft; England Minderheiten 87, 93, 101, 103ff., 115f. Mission 172, 174, 185 Mittelalter 13, 18, 22, 48, 124, 271 Mitteldeutschland 321 Mittelgruppen 189 ff., 257 - vgl. auch Kirchenkampf Mittelstand 177, 329 Modalsli, Ole (geb. 1903), Systematiker 64, 73 Mommsen, Hans (geb. 1930), Historiker 238 Monarchie 193, 328, 331 Monismus 247 Moral 37, 99 Moskau 78, 213 Motivforschung 43 f., 159 Müller-Armack, Alfred (1901-1978), Volkswirtschaftler 299 Müller, Ludwig (1883-1945), Reichsbischof 239, 254 Münster/Westfalen 255 Müntzer, Thomas (1490-1525), Theologe 69 Muhs, Hermann (1894-1962), Staatssekretär 242

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Mulert, Hermann (1879-1950), Systematiker 190 ff., 234, 255 ff., 266 Münk, Kaj (1898-1944), Pfarrer 218 Muuß, Rudolf (1892-1972), Propst 100 Nachkriegszeit 14, 25, 119, 136f., 229, 318 Nagel, William (geb. 1905), Praktologe 6 1 , 6 3 , 72 Nasjonal Sämling 219 Nation, Nationalismus 14, 16, 27, 95 ff., 112 ff., 117, 120, 141 ff., 166f., 315, 321 f. Nationalkirche 158, 179, 199, 271 Nationalprotestantismus 166 Nationalsozialismus 15 ff., 30, 37, 40, 42, 54ff., 75, 94f., 99, 108, 115, 125 ff., 137, 140 f., 154, 167, 181, 184, 206, 212 f., 217, 222, 228 ff., 299, 304f., 314, 320ff., 325ff., 332f. - vgl. auch Drittes Reich; Faschismus; Kirchenkampf; Totalitarismus Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) 235, 265 f. Nationalsynode 239 Natürliche Theologie 133 Naturrecht 219 Naumburg am Queis 181 Neuanfang 123, 321 Neuevangelische Bewegung 275 f. Neuheidentum 208, 237 Neuprotestantismus 304 Neuruppin 235 Neutralität 15, 109, 223 Neuvolkskirchlichkeit 79ff., 285 Neuzeit 298 f., 310 Nicänum 132 Nichtangriffspakt 27 Niederbobritzsch 259 Niemöller, Martin (geb. 1892), Pfarrer 34, 131, 133, 137, 143, 148, 179 Niemöller, Wilhelm (geb. 1898), Pfarrer 234, 256 f. Niesei, Wilhelm (geb. 1903), Pfarrer 235, 249 Nietzsche, Friedrich (1844-1900), Philosoph 113 Nihilismus 113, 117 Nissen, Henrik (geb. 1933), Historiker 18 Noack, Bent (geb. 1915), Neutestamentler 62, 72

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Index

Noack, Carl Wulff (1885-1960), Bischof 101 Nokkala, Armo (1908-1962), Pfarrer 81, 84 Nordelbische Ev.-luth. Kirche 100 Nordisches Ökumenisches Institut 213, 224 f. Nordjütland 87 N o r d m a r k 111 Nordschleswig 28, 93, 104, 106, 112, 115 ff. Norwegen 36ff., 58, 76, 155f., 163f„ 195, 198, 212, 219ff., 224ff., 242, 272, 281, 283, 285 ff. - König 164 - Regierung 164, 220 - Stortinget 285 - Parteien 219 - Kirchenverfassung 36 ff., 286 - Kirchenministerium 164, 220 - Vorläufige Kirchenleitung 220 - vgl. auch Kirchenkampf Notrecht 186, 188,239 Novemberrevolution 165, 330 Nürnberger Prozesse 144, 239 Nyborg 32 Nygren, Anders (1890-1978), Systematiker, Bischof 23, 42ff., 206f. Nygren, Gotthard (geb. 1926), Systematiker 64, 71, 73 f., 227 Nygren, Irmgard, geb. Brandin (1895-1974) 56 Nyman, Helge (geb. 1910), Praktologe 63, 72 Obrigkeit 24, 243, 248, 250, 275, 295, 3 0 2 f „ 322, 326, 328,331 - vgl. auch Kirche und Staat Odense 32 O d e r 108 Öffentlichkeit(sarbeit) 169, 334 Ökologie 336 Ökumene 51 ff., 62, 101, 105, 112, 116, 120, 137f„ 141, 146, 158,213, 261, 278, 316 Ökumenischer Rat der Kirchen (ÖRK) 29, 37, 102 ff., 138, 337 - Flüchtlingskommission 34 011gaard, Hans (1888-1979), Bischof 218

Österreich 55 Ostra Smâlands missionsförening 205

Okkupation 13ff., 37f., 40, 194ff. - vgl. auch Besatzungsherrschaft Oksb0l 28 Olav Haraldson (um 995-1030), König 38 Ordination 220 - vgl. auch Amt; Frauenordination Orígenes (185-253/54), Kirchenvater 13, 22 Orthodoxe Kirchen 78 Orthodoxie 152, 163, 273, 311 Oslo 58, 61, 70, 74, 152, 213f., 283 Ostdeutschland 139 Osten, Ostgebiete 29, 111, 320 f. Ostermarsch 338 Osteuropa 139, 319 Ostpreußen 28 Ostsee 58 ff., 111 Oxford 52 Oxforder Gruppenbewegung 28, 283 Papen, Franz von (1879-1969), Reichskanzler 238 Parlamente vgl. Dänemark; Norwegen; Schweden Parlamentarismus 170, 200 f. Parteien 19f., 162, 198, 201 f., 219, 244, 286f., 300, 305, 3 1 8 f f „ 327, 339 Pastorenverein 286 Persson, Per Erik (geb. 1923), Systematiker 59 f . , 6 3 , 72 Petersen, H a n s Friedrich (1898-1966), Ferstepräst 94, 102 f. Pfarrer 40, 160, 172, 189,312 Pfingstfreunde 205 Philadelphiagemeinde 205 Pietismus 69, 153, 155, 163, 173f., 238, 273ff., 286 - vgl. auch Erweckungsbewegungen Pinomaa, Lennart (geb. 1901), Kirchenhistoriker 60f., 63, 72 Pius XII (1876-1958), Papst 76 Piatonismus 13, 48 Pluralismus 36, 155 ff., 168, 193, 211, 277, 301, 308 f., 313 Polen 76, 108, 112, 316 Politik, politische Theologie 14ff., 38, 42, 107, 140, 143, 145, 147 f., 206, 229, 232, 235, 244, 246, 251, 259, 261 f., 269, 303 ff., 323, 336ff. „Politiken" 25, 29 Pommern 28

Index Pontoppidan, Henrik (1857-1943), Dichter 279 Pontoppidan, Morten (1851-1931), Schriftsteller 279f., 288 Potsdam 239 Poulsen, Henning (geb. 1934), Historiker 18 Praesternes uofficielle Forening 218 Prager Friedenskonferenz 58 f. Presse 205 Preußen 91, l l l f . - vgl. auch Ev. Kirche der (Altpreußischen) Union Preysing, Konrad Graf von (1880-1950), Bischof 240 Proletariat 170 f. Protestantenverein 298 Protestantische Freunde 298 Protestantischer Weltverband 206 Quisling, Vidkun (1887-1945), Politiker 219 Rade, Martin (1857-1940), Theologe 256, 258 Rätesystem 166 Rasmussen, Gustav (1895-1953), Außenminister 95 Rassenlehre 99, 181,252 f. Rat der Ev.-Luth. Kirche Deutschlands 127 ff., 254 - vgl. auch Lutherrat Reformation 36, 45, 58, 123, 131 ff., 135, 140, 153, 180, 199f., 212, 221, 270ff., 293 ff., 304, 340 Reformierte 127, 131 f., 139, 187 Regierungen vgl. Dänemark; Finnland; Norwegen; Schleswig-Holstein; Schweden Regimente Gottes vgl. Zweireichelehre Reich Gottes 98, 109, 114 Reichsbischof 239, 254 Reichsbruderrat 127 ff., 131, 144f., 148 - vgl. auch Bruderräte Reichskirche 123, 138, 179, 187, 190 Reichstag vgl. Dänemark; Schweden Reichstagsbrand (1933) 254 Reinmuth, Hermann (1902-1942), Jurist 256 Religiöser Sozialismus 170 ff., 178, 193, 231, 340 Religionsfreiheit 210, 276, 281

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Religionskritik 298 Religionslehrer 258 Religionsphilosophie 44 ff., 54 Religionsunterricht 284 - vgl. auch Schulen Religionswissenschaft 159 Religious Äff airs Branch 101 - vgl. auch Besatzungsherrschaft; Militärregierung Renan, Ernest (1823-1892), Naturforscher 99, 115 Rendsburg 96, 105 Reparationen 82 Rerup, Lorenz (geb. 1928), Historiker 106 Restauration 123, 128, 131, 148, 321 Retsopger 25 Revolution 202, 267, 319ff. Rheinland - Kirche 134 Riga 111 Ribbentrop-Vertrag 213, 216 Ringgren, Helmer (geb. 1917), Alttestamentler 61, 65, 68, 72ff. Ritsehl, Albrecht (1822-1889), Theologe 172 Roosevelt, Franklin Delano (1882-1945), Präsident 76 Rosenberg, Alfred (1893-1946), NSIdeologe 108, 252 f. Rosenius, Carl Olof (1816-1896), Laienprediger 275 Roskilde 106 Rostock 58ff., 64, 68, 7 2 f „ 251, 253f. Rote Armee 27 Rothfels, Hans (1891-1976), Historiker 118 Rudelbach, Andreas Gottlob (1792-1862), Pfarrer 200 Ruhrgebiet 321 Runestam, Arvid (1887-1962), Bischof 209 Ruotsalainen, Paavo (1777-1852), Laienprediger 275 Rußland 202,213, 283 Ruuth, Martti (1870-1962), Kirchenhistoriker 81 Rydberg, Victor (1828-1895), Dichter 279 Sachsen 259 - Kirche 126, 129 Säkularisierung 36, 158, 160f., 167f.,

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Index

207f., 210, 252, 284, 299, 305, 323f„ 331, 333 ff., 336 Säkularismus 113, 117, 156 Sakramente 147, 246, 248, 279, 282, 295 Salzburger Emigranten 112 Savolax 275 Scavenius, Erik (1877-1962), Ministerpräsident 20 Schafft, Hermann (1883-1959), Pfarrer 178, 257 Schéele, Knut Henning Gezelius von (1838-1920), Bischof 65 Schian, Martin (1869-1944), Generalsuperintendent 173 Schlei 107 Schleiermacher, Friedrich (1768-1834), Theologe; Philosoph 43, 165, 310 Schlink, Edmund (geb. 1903), Systematiker 125 Schlemmer, Hans (geb. 1885), Studienrat 258 Schlesien - Kirche 129, 139, 181 Schleswig 92ff., 95 f., 99, 107, 111, 117 - Herzogtum 91 ff., 97, 115 Schleswig-Holstein 259 - Landeskirche 91 ff. - Landesregierung 102, 104, 116 Schoell, Jakob (1866-1950), Prälat 257 Schönfeld, Hans (1900-1945), Theologe 214 Schöpfungsordnung 38, 200, 206 Scholder, Klaus (geb. 1930), Kirchenhistoriker 260 Schreiner, Helmuth (1893-1962), Praktologe 234, 251 ff., 259ff. Schubring, Wilhelm (1875-1945), Pfarrer 257 f. Schuld 30, 110, 142ff., 228, 246 - vgl. auch Stuttgarter Schuldbekenntnis Schulen 93, 203, 211, 258, 300, 325 Schumacher, Kurt (1895-1952), Parteiführer 326 Schunck, Klaus-Dietrich (geb. 1927), Alttestamentler 67, 73 Schwäbisch Gmünd 96 Schweden 42, 45, 49, 55 ff., 58 f., 76f., 157ff., 163, 198, 212, 215f., 222ff., 226, 272 ff., 281 f., 287 - König 272 - Reichstag 201, 287 - Verfassung 201

Schweiz 152 Seelsorge 32, 134, 174, 258 - vgl. auch Flüchtlinge Seigewasser, Hans (1905-1979), Staatssekretär 59 Sekten 39, 133, 184, 200 - vgl. auch Freikirchen Selbstbestimmungsrecht 96 Selbstverwaltung 19 Semler, Johannes Ferdinand (1898-1973), Wirtschaftsdirektor 137 Sicherheitsdienst 188, 235 Siegmund-Schultze, Friedrich (1885-1969), Pfarrer 256 Sigtuna 208,213 Sigtuna-Stiftung 281 Skara 205 Skydsgaard, Kristen (geb. 1902), Systematiker 63, 72 Slesvigsk Parti 92 f. Snoghoy 103 f. Soden, Hans von (1881-1945), Neutestamentler 258 Söderblom, Nathan (1866-1931), Erzbischof 43, 63, 205, 281 See, Niels H. (1895-1978), Systematiker 62, 72 Senderjylland 119 Soisalon-Soininen, Ilmari (geb. 1917), Alttestamentler 63, 72 Sokrates (470 v. Chr.-399 v. Chr.), Philosoph 23 f. Sonderburg 115 Sondershausen 206 „Sonntagsblatt des arbeitenden Volkes"^! Sowjet-Union 75 f., 212ff., 215, 221 f., 321 - vgl. auch Rußland Sozialarbeit 307, 315 Sozialdemokratie 281, 284, 287f., 308, 326, 330 sozialdemokratische Arbeiterpartei Schwedens 201 f., 210 Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) 202 f., 325 soziale Frage 171, 306f„ 319f., 323, 339 Sozialethik 309, 315 Sozialismus 202, 210, 238, 280, 307 - vgl. auch Marxismus Sozietät 131 f. - vgl. auch Bruderräte; Württemberg

Index Spätantike 22 Spandau - Bekenntnissynode (1945) 333 Spengler, Oswald (1880-1936), Kulturphilosoph 113 Spionage 30 Staat 38 f., 56, 122, 155, 245, 300, 322, 329f., 341 - vgl. auch Kirche und Staat; Obrigkeit Staatsethik 37, 41 Staatskirche 36f., 144, 154ff., 169, 172, 184, 193, 199, 203, 275ff„ 314, 325 - vgl. auch Kirche und Staat Staatsstreich 232 f.,241 Staat und Kirche vgl. Kirche und Staat Stadtmission 282 Stählin, Wilhelm (1883-1975), Bischof 129, 131 Stalin,Josef (1879-1953), Parteiführer 20 Stange, Erich (1888-1972), Reichswart des Ev. Jungmännerbundes 174, 178 Steglitz - Kirchentag 241 Stettin 111, 182 Stockholm 77 Stoltenberg, Gerhard (geb. 1928), Ministerpräsident 105 Stortinget 286 - vgl. auch Norwegen Strängnäs 43 Strindberg, August (1849-1912), Dichter 279 Studentenkreuzzüge 280 „Studia Theologica" 152 Stunde Null 123, 127, 321 Stuttgart - Ev.-Reformierte Gemeinde 132 - Kirchentag (1921) 167 Stuttgarter Schuldbekenntnis 140, 228, 246 Südafrika 149 Sudosteuropa 138 Südschleswig 94 f., 100, 102f., 105 f., 114 ff. Südschleswigsche Vereinigung 93 Südschleswigscher Verein (SSV) 102, 104 Südschleswigscher Wählerverband (SSW) 105 Suhr, Theodor (geb. 1896), Bischof; Apostolischer Kommissar 29, 34

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Sülze, Emil (1832-1914), Pfarrer 173 Summepiskopat 165, 167, 175, 331 - vgl. auch landesherrliches Kirchenregiment Sundkler, Bengt (geb. 1909), Missionswissenschaftler 63, 65, 72 f. „Svenska Dagbladet" 55 Svenska Missionsförbundet 276 Sveriges Liberala Partiet 202 Synoden 278, 281, 285, 287f. - vgl. auch Bekenntnissynoden Tacitus (ca. 55-116), Geschichtsschreiber 230 Talvitie, Simo (geb. 1927), Pastor 82 Taufe 87 ff., 134, 165 Temple, William (1881-1944), Erzbischof 215 Terboven, Josef (1898-1945), Reichskommissar für Norwegen 219 Territorialkirchensystem 154 Tessin 68 Thadden, Rudolf von (geb. 1932), Historiker 250, 260, 302 Thadden-Trieglaff, Reinold von (1891-1976), Rittergutsbesitzer 237 Thielicke, Helmut (geb. 1908), Systematiker 243 Thieß, Frank (1890-1977), Schriftsteller 109 Thingbauern 23 f. Thurén, Jukka (geb. 1930), Neutestamentler 68, 74 Thüringen 126 Thyssen, Anders Pontoppidan (geb. 1921), Kirchenhistoriker 62, 70, 72 „Tidehverv" 280, 288 Tillich, Paul (1886-1965), Systematiker 308 Tingleff 106 Tisch, Harry (geb. 1927), Gewerkschaftsführer 59 Tocqueville, Alexis de (1805-1859), Historiker; Staatsmann 331 Todesstrafe 20, 27 Toftlund 95 Tondern 115 Totalitarismus 13, 22, 40, 56, 208, 225, 242, 266 f.,281, 300, 305, 320 - vgl. auch Drittes Reich; Faschismus; Nationalsozialismus; Kommunismus; Marxismus

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Index

Tradition 124, 151 Trauung 89 Treysa 130 Trient 133 Troeltsch, Ernst (1865-1923), Systematiker 43, 55, 304, 329, 331 Tschechenkrise 247 Tügel, Franz (1888-1946), Bischof 299 Turku 58, 74 - vgl. auch Abo Tyrannenmord 232 f. Umsturz 248, 250, 261 f. Umweltschutz 338 Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) 325 Ungarn 183 Unionskirchen 129f., 133ff., 174 - vgl. auch Ev. Kirche der (Altpreußischen) Union; Detmolder Kreis United States of America (USA) - Kirche 76 Universitäten vgl. Fakultäten Unkirchlichkeit 297 f., 300 Uppsala 51, 55f., 58, 64, 73, 159f., 279f. Uppsalienser Schule 43 ff. Urbanisierung 284 Urchristentum 45 Urwahlen 168 Västeräs 279 Växjö 205 Vansittart, Robert Gilbert Lord (1881-1957), Diplomat 230 Vatikan 137 Veijola, Timo (geb. 1947), Alttestamentler 69, 74 Verband der christlichen Sozialdemokraten Schwedens 205 Vereine 275,315 Verein für christliches Gesellschaftsleben 204 Vereinigte Ev.-Luth. Kirche Deutschlands (VELKD) 129 f., 131 ff., 135, 147 f., 290 f., 301 - vgl. auch Luthertum Vereinigung Pro Deo 206 Vereinte Nationen 109 Verhältniswahl 201 Verhandlungspolitik 19 ff. Vernunftrepublikaner 166, 303

Versailles - Friedensvertrag (1919) 91, 252 Verschwörung 232 Versöhnung 146 Visser't Hooft, Willem A. (geb. 1910), Pfarrer; Generalsekretär des O R K 246 Vlotho 234 Völkel, Eduard (1878-1957), Bischof 97 f. Völkerwanderungszeit 13 Volk 123ff., 144, 158, 179, 181, 226, 273, 277, 293 ff., 303, 330 Volksabstimmung 94, 107 Volksaufstand 21 Volksbewegungen 18, 22 Volksgemeinschaft 155, 293, 308 Volkshochschulen 38, 275, 279, 281 f. Volkskirche passim Volksmission 180, 299, 315 Volkstum 97f., 103f., 162, 177, 181 Vollmer, Bernhard (1886-1958), Staatsarchivdirektor 230 Vorläufige Kirchenleitung - d e r D E K ( l . ) 187 - der D E K (2.) 241, 247 - vgl. auch Bekennende Kirche; Kirchenkampf - Norwegen 220, 227 Wächteramt 334 Wagner, Hermann (1891-1970), Pfarrer 257 Wagner, Siegfried (geb. 1930), Alttestamentler 65, 73 Warschau 58 Wartheland 265 Wasa, Gustaf (1496/97-1560), schwedischer König 272 Wehrmacht 28 Weimarer Republik 125, 165 ff., 180, 193 f., 208, 235, 238, 251, 256, 259, 261, 303, 307, 318ff., 332 Weiß, Hans-Friedrich (geb. 1929), Neutestamentler 68, 74 Weiß, Konrad (1907-1979), Neutestamentler 62, 72 Weltanschauung 245, 264, 267 ff. Weltbund für freies Christentum 258 Weltkirchenkonferenz - Amsterdam (1948) 104 Weltkirchenrat vgl. Ökumenischer Rat der Kirchen

Index Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft 338 Weltkriege - 1914-1918: 91 f., 166,319 - 1939-1945: 19f., 30f., 42, 75, 79, 81, 138, 163, 194, 201, 206, 208 f., 212ff., 222, 241, 255, 263, 278, 284f., 287f., 296, 316ff., 341 - vgl. auch Nachkriegszeit; Zwischenkriegszeit Weltverantwortung 125, 135 Wendelborn, Gert (geb. 1935), .Kirchenhistoriker 67 f., 74 Wenden 112 Westdeutschland 123 Wester, Reinhard (1902-1975), Bischof 101 f., 105 f., 120 Westergaard-Jacobsen, Anton (1895-1976), Ferstepräst 105, 114 Westfalen 235 f. Westpreußen 28 Wichern, Johann Hinrich (1808-1881), Pastor 165, 307 Widén, Bill (geb. 1932), Kirchenhistoriker 63, 72 Widerstand 14, 20, 27, 37, 125 ff., 137 f., 140, 196, 218f., 228ff. Wiederaufbau 122, 248 Wiederaufrüstung 337 Wiedervereinigung 92, 115, 315 Wienken, Heinrich (1883-1961), Bischof 240 Wilhelm II (1859-1941), deutscher Kaiser 322 Wilkens, Erwin (geb. 1914), Vizepräsident 145 Wilson, Jain, Chaplain 103 Wingren, Gustaf (geb. 1910), Systematiker 59, 62ff., 68, 71 f., 73 f., 161

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Winterkrieg (1940) 215ff., 222, 224f. - vgl. auch Finnland; Rußland; Sowjetunion Wirtschaftspolitik 326 Wittenberg 135 Wittenberger Bund 189 Wittgenstein, Ludwig (1889-1951), Philosoph 150 Wittram, Reinhard (1902-1973), Historiker 118 Wohlfahrtsstaat 287 Wolf, Erik (1902-1977), Jurist 131 f. Wolf, Ernst (1902-1971), Kirchenhistoriker 260 World-Alliance-Bewegung 213 f. Württemberg 238 - Landeskirche 127, 131 ff., 240 - Sozietät 131 f. Wurm, Theophil (1868-1953), Landesbischof 128f., 137, 234, 237f., 240, 250, 259 ff., 266

Zeitgeschichte 290, 298 „Zeitschrift für Religion und Sozialismus" 171 Zentrumspartei 201, 323 ff. Zensur 224 Zentralrat der schwedischen Kirche 287 Zobel, Hans-Jürgen (geb. 1928), Alttestamentler 67, 73 f. Zoellner, Wilhelm (1860-1937), Generalsuperintendent 174 Zonengrenze 333 Züssow 64, 73 Zweireichelehre 24, 56 f., 63, 66, 140, 154, 198, 207f., 244, 260, 271, 282, 302 ff., 333 Zwischenkriegszeit 51, 283, 288

Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte Reihe B: Darstellungen Herausgegeben im Auftrag der Evángelischen Arbeitsgemeinschaft für kirchliche Zeitgeschichte von Georg Kretschmar und Klaus Scnolder

1 Jörg Thierfelder - Das Kirchliche Einigungswerk des württembergischen Landesbischofs Theophil Wurm 1975. XVI, 311 Seiten, geb.

2 Jonathan R. Wright · „Uber den Parteien". Die Politische Haltung der evangelischen Kirchenführer 1918-1933 1977. XIV, 276 Seiten, geb.

3 Heinz Brunette - Bekenntnis und Kirchenverfassung Aufsätze zur kirchlichen Zeitgeschichte. 1977. X, 261 Seiten, geb.

4 Johanna Vogel - Kirche und Wiederbewaffnung Die Haltung der Evangelischen Kirche in Deutschland in den Auseinandersetzungen um die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik 1949-1956. 1978. 304 Seiten, geb.

5 Reijo £. Heinonen - Anpassung und Identität Theologie und Kirchenpolitik der Bremer Deutschen Christen 1933-1945. 1978. 302 Seiten, geb.

6 Martin Norberto Dreher · Kirche und Deutschtum in der Entwicklung der Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien. 1978. 259 Seiten, 4 Abb., 1 Faltkarte, geb.

7 Jens Holger Schj0rring Theologische Gewissensethik und politische Wirklichkeit Das Beispiel Eduard Geismars und Emanuel Hirschs. 1979. 354 Seiten, geb.

8 Kirchen in der Nachkriegszeit Vier zeitgeschichtliche Beiträge von Armin Boyens, Martin Greschat, Rudolf von Thadden, Paolo Pombeni. 1979. 167 Seiten, geb.

9 Annemarie Smith-von Osten · Von Treysa 1945 bis Eisenach 1948 Zur Geschichte der Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland. 1981. 400 Seiten, kart.

10 Joachim Beckmann - Hoffnung für die Kirche in dieser Zeit Beiträge zur kirchlichen Zeitgeschichte 1946-1974. 1981. XII, 420 Seiten, kart.

Hartmut Rudolph Evangelische Kirche und Vertriebene 1945 bis 1972 11 Band 1: Kirchen ohne Land Die Aufnahme von Pfarrern und Gemeinden aus dem Osten im westlichen Nachkriegsdeutschland: Nothilfe - Seelsorge - kirchliche Eingliederung. 1983. Ca. 576 Seiten, geb.

12 Band 2: Kirche in der neuen Heimat Vertriebenenseelsorge - politische Diakonie - das Erbe der „Ostkirchen". 1983. Ca. 400 Seiten, geb.

Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen und Zürich

Gerhard Besier

Krieg - Frieden - Abrüstung

Die Haltung der europäischen und amerikanischen Kirchen zur Frage der deutschen Kriegsschuld 1914—1933. Ein kirchenhistorischer Beitrag zur Friedensforschung und Friedenserziehung. 1982. 393 Seiten mit 132 Abb., kart. Das Buch zeichnet die Geschichte der kirchlichen Kriegsschulddiskussion vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zur Machtergreifung Hitlers nach, wobei die ökumenischen Auseinandersetzungen ebenso Berücksichtigung finden wie die nationalkirchlichen. Die Arbeit versteht sich nicht nur als kirchengeschichtliche Studie, sondern auch als kirchenhistorischer Beitrag zur Friedensforschung und Friedenserziehung. Der Schlußteil enthält methodologische Überlegungen, eine aktuelle Analyse sowie praktische Anregungen. Zahlreiche Fotos illustrieren die wichtigen kirchlichen, nationalstaatlichen und ökumenischen Ereignisse. Buchtext und Bilder basieren auf ausgedehnten Archivstudien in Berlin, London, Genf, Paris, Amsterdam und Uppsala.

Poul Georg Lindhardt

Skandinavische Kirchengeschichte seit dem 16. Jahrhundert (Die Kirche in ihrer Geschichte, Band 3, Lfg. M 3 ) . 1982. IV, 80 Seiten, kart. Eine Darstellung der Kirchengeschichte Skandinaviens, wie sie dieser Faszikel des Handbuchs „Die Kirche in ihrer Geschichte" bietet, gab es in deutscher Sprache bisher nicht. Der dänische Verfasser, Kirchenhistoriker an der Universität Aarhus, ist seit langem als besonderer Kenner des Themas ausgewiesen. Die neuzeitliche Kirchengeschichte der fünf Länder wird in ihrer elementaren Prägung durch das Luthertum, aber auch in ihren vielfältigen Wandlungen und Brechungen von der Reformation bis zur Gegenwart anschaulich.

Bernd Henningsen

Die Politik des Einzelnen Studien zur Genese der skandinavischen Ziviltheologie. Ludvig, Holberg, S0ren Kierkegaard, N . F . S . Grundtvig. (Studien zur Theologie und Geistesgeschichte des Neunzehnten Jahrhunderts, Band 26). 1977. 200 Seiten, kart. Anerkanntermaßen gelten die skandinavischen Länder als festverwurzelte Demokratien, deren politische Geschichte keine revolutionären oder revolutionsartigen Brüche aufweist. Auf der Suche nach den Gründen hierfür verweist Henningsen auf die geistigen Grundlagen des skandinavischen Politikverständnisses, auf die Philosophie, Theologie, Literatur, dabei insbesondere auf die common-sense-Tradition sowohl des politischen Handelns wie des politischen Denkens dieser Länder. Er belegt seine These von der wechselseitigen Beeinflussung von Handeln und Denken mit drei Repräsentanten: dem Dichter Ludvig Holberg (1684—1754), dem Philosophen S0ren Kierkegaard (1813-55) und dem Pädagogen N.F.S.Grundtvig (1783-1877). Als vorwiegend dänische Vertreter stehen sie ihm gleichwohl für einen gemeinskandinavischen politischen Habitus, den er in dem Varronisch-Augustinischen Begriff der „Ziviltheologie" faßt.

Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen und Zürich